Konsens und Konflikt: Demokratische Transformation in der Weimarer und Bonner Republik 3515124489, 9783515124485

Mit dem Schlagwort der "Weimarer Verhältnisse" verbindet man auch heute noch eine Zeit des Chaos und der Gewal

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Table of contents :
INHALT
VORWORT
EINLEITUNG: DIE NORMALITÄT DES KONFLIKTS (Sebastian Elsbach / Ronny Noak / Andreas Braune)
INSTITUTIONEN DER WEIMARER REPUBLIK. BRÜCHE UND KONTINUITÄTEN
(Florian J. Schreiner)
Universität und Demokratie. Revolutions- und Republikrezeption
in der Frühphase der Weimarer Republik
(Felix Selgert)
Zivilgesellschaft und Parlament in der politischen Willensbildung
der Weimarer Republik. Das Beispiel der Regulierung des Aktienrechts
(Anne Otto) Demokratie als Ziel, Mittel und Argument. Bildungsreformen in der Weimarer Republik
(Ronny Noak)
„Die Begeisterung allein macht es nicht.“
Nachwirkungen der Weimarer Schulungsarbeit
(Oliver Gaida)
Die Wohlfahrtsstadt der Weimarer Republik.
Die Bedeutung des Sozialstaates vor Ort
(Michaela Bräuninger)
Die Weimarer Republik und ihre Bedeutung für die Frauenkirchengeschichte
Schleswig-Holsteins
(Timo Leimbach)
Was blieb von Weimar?
Neubewertung und Lernprozesse der ersten deutschen Demokratie
NEUE FORSCHUNGSANSÄTZE ZUR WEIMARER REPUBLIK
(Birgit Bublies-Godau)
„Es waren die Besten ihrer Zeit, die für das Ziel einer Einigung
und Befreiung des Vaterlandes eintraten...“
Die Familie Venedey und die deutschen demokratischen Traditionen
von der Französischen Revolution 1789 bis zur Bundesrepublik 1949
(Jörn Retterath)
„Parteihader“ versus „Volksgemeinschaft“.
Kritik an Parteien und Parlamentarismus seitens
der politischen Mitte in den Anfangsjahren der Weimarer Republik
(Angela Schuberth)
Der Begriff der ‚Volksgemeinschaft‘ vor dem Nationalsozialismus.
Eine empirische Analyse des Begriffsgebrauchs in der Vossischen
Zeitung zwischen 1918 und 1933
(Sebastian Elsbach)
Gewalt, Prestige und der Schutz der Republik.
Mikrosoziologie politischer Tötungsdelikte
im Freistaat Preußen, 1924–1930
(Sebastian Gräb)
Kriegserinnerung und militaristischer Sprachgebrauch
paramilitärischer Verbände zur Zeit der Weimarer Republik
(Simon Sax)
Wahlempfehlungen in der deutsch-jüdischen Presse
vor den Reichstagswahlen im September 1930 und Juli 1932.
Eine Versicherheitlichungsanalyse
DEMOKRATIE IM SPANNUNGSFELD ZWISCHEN (LINKS-)LIBERALISMUS UND (RECHTS-)KONSERVATIVISMUS
(Alex Burkhardt)
Auf- und Abstieg der Deutschen Demokratischen Partei
in Hof an der Saale, 1918–1920
(Andreas Behnke)
Zwischen Resignation und Pragmatismus – das Verhältnis von
Konservatismus und Demokratie im Werk Georg Quabbes
(Helene Eggersdorfer)
Demokratiekritik in der Weimarer Republik.
Eine Untersuchung auf der Grundlage von Hans Kelsens
Demokratieverständnis und seiner Schrift Verteidigung der Demokratie
(Ludwig Decke)
Illiberale Demokratie avant la lettre.
Zu Carl Schmitts demokratietheoretischen Überlegungen
in der Weimar Republik
(Frank Schale)
Der Gutachterstreit in der Wehrfrage.
Ein Relikt aus Weimar?
(Sarah Langwald)
Einsatz für die Demokratie aus dem Geist von Weimar?
Kritiker der politischen Justiz in den 1950/60er Jahren in Westdeutschland
(Thomas Schubert)
Weltbürgerkrieg, Europäischer Bürgerkrieg,
Deutscher Bürgerkrieg im 20. Jahrhundert.
Zur Stellung der Weimarer Republik in deutschen Geschichtsnarrativen
AUTORINNEN UND AUTOREN
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Konsens und Konflikt: Demokratische Transformation in der Weimarer und Bonner Republik
 3515124489, 9783515124485

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weimarer schriften zur republik Herausgegeben von Michael Dreyer und Andreas Braune Wissenschaftlicher Beirat: Prof. Dr. Ursula Büttner Prof. Dr. Alexander Gallus Prof. Dr. Kathrin Groh Prof. Dr. Christoph Gusy Prof. Dr. Marcus Llanque Prof. Dr. Walter Mühlhausen Band 9

Konsens und Konflikt Demokratische Transformation in der Weimarer und Bonner Republik Herausgegeben von Sebastian Elsbach, Ronny Noak und Andreas Braune

Franz Steiner Verlag

Gedruckt aus Mitteln des Strategie- und Innovationsbudgets des Thüringer Ministeriums für Wirtschaft, Wissenschaft und Digitale Gesellschaft.

Umschlagabbildung: Wahlplakat des Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold [um 1924], © Bundesarchiv, Plak 002-004-028 / Grafiker: Hans Klaer-Gordon Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2019 Druck: Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-12448-5 (Print) ISBN 978-3-515-12449-2 (E-Book)

INHALT Vorwort .................................................................................................................. IX Sebastian Elsbach / Ronny Noak / Andreas Braune Einleitung: Die Normalität des Konflikts .............................................................. XI INSTITUTIONEN DER WEIMARER REPUBLIK. BRÜCHE UND KONTINUITÄTEN Florian J. Schreiner Universität und Demokratie. Revolutions- und Republikrezeption in der Frühphase der Weimarer Republik ................................................................ 3 Felix Selgert Zivilgesellschaft und Parlament in der politischen Willensbildung der Weimarer Republik. Das Beispiel der Regulierung des Aktienrechts ............. 15 Anne Otto Demokratie als Ziel, Mittel und Argument. Bildungsreformen in der Weimarer Republik ....................................................... 31 Ronny Noak „Die Begeisterung allein macht es nicht.“ Nachwirkungen der Weimarer Schulungsarbeit. ................................................... 47 Oliver Gaida Die Wohlfahrtsstadt der Weimarer Republik. Die Bedeutung des Sozialstaates vor Ort ............................................................... 61 Michaela Bräuninger Die Weimarer Republik und ihre Bedeutung für die Frauenkirchengeschichte Schleswig-Holsteins............................................................................................... 73 Timo Leimbach Was blieb von Weimar? Neubewertung und Lernprozesse der ersten deutschen Demokratie ..................... 91

VI

Inhalt

NEUE FORSCHUNGSANSÄTZE ZUR WEIMARER REPUBLIK Birgit Bublies-Godau „Es waren die Besten ihrer Zeit, die für das Ziel einer Einigung und Befreiung des Vaterlandes eintraten...“ Die Familie Venedey und die deutschen demokratischen Traditionen von der Französischen Revolution 1789 bis zur Bundesrepublik 1949............... 111 Jörn Retterath „Parteihader“ versus „Volksgemeinschaft“. Kritik an Parteien und Parlamentarismus seitens der politischen Mitte in den Anfangsjahren der Weimarer Republik ................. 133 Angela Schuberth Der Begriff der ‚Volksgemeinschaft‘ vor dem Nationalsozialismus. Eine empirische Analyse des Begriffsgebrauchs in der Vossischen Zeitung zwischen 1918 und 1933 ....................................................................... 153 Sebastian Elsbach Gewalt, Prestige und der Schutz der Republik. Mikrosoziologie politischer Tötungsdelikte im Freistaat Preußen, 1924–1930 ........................................................................ 171 Sebastian Gräb Kriegserinnerung und militaristischer Sprachgebrauch paramilitärischer Verbände zur Zeit der Weimarer Republik ............................. 195 Simon Sax Wahlempfehlungen in der deutsch-jüdischen Presse vor den Reichstagswahlen im September 1930 und Juli 1932. Eine Versicherheitlichungsanalyse ..................................................................... 209 DEMOKRATIE IM SPANNUNGSFELD ZWISCHEN (LINKS-)LIBERALISMUS UND (RECHTS-)KONSERVATIVISMUS Alex Burkhardt Auf- und Abstieg der Deutschen Demokratischen Partei in Hof an der Saale, 1918–1920 ........................................................................... 231 Andreas Behnke Zwischen Resignation und Pragmatismus – das Verhältnis von Konservatismus und Demokratie im Werk Georg Quabbes ............................... 247

Inhalt

VII

Helene Eggersdorfer Demokratiekritik in der Weimarer Republik. Eine Untersuchung auf der Grundlage von Hans Kelsens Demokratieverständnis und seiner Schrift Verteidigung der Demokratie ........... 263 Ludwig Decke Illiberale Demokratie avant la lettre. Zu Carl Schmitts demokratietheoretischen Überlegungen in der Weimar Republik ....................................................................................... 279 Frank Schale Der Gutachterstreit in der Wehrfrage. Ein Relikt aus Weimar? ....................................................................................... 295 Sarah Langwald Einsatz für die Demokratie aus dem Geist von Weimar? Kritiker der politischen Justiz in den 1950/60er Jahren in Westdeutschland ...... 311 Thomas Schubert Weltbürgerkrieg, Europäischer Bürgerkrieg, Deutscher Bürgerkrieg im 20. Jahrhundert. Zur Stellung der Weimarer Republik in deutschen Geschichtsnarrativen ........... 331 Autorinnen und Autoren ...................................................................................... 351

VORWORT Dieser Band basiert auf der zweiten Nachwuchstagung, die die Forschungsstelle Weimarer Republik an der Friedrich-Schiller-Universität Jena im Sommer 2017 zusammen mit dem Weimarer Republik e.V. in Weimar veranstaltet hat. Wie schon im Vorjahr (siehe Band 2 der Reihe: Republikanischer Alltag) war es das Ziel dieser Konferenz, jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern die Gelegenheit zu geben, ihre kürzlich abgeschlossenen oder laufenden Forschungsprojekte vorzustellen und sich untereinander zu vernetzen. Denn wieder wurde deutlich, wie breit die Forschung zur Weimarer Republik aufgestellt ist und wie viele neue Forschungsfelder gerade bearbeitet werden. Im zweiten Jahr wurde die Konferenz unter dem Thema „Die Weimarer Republik in der deutschen Demokratiegeschichte“ durchgeführt. Wir wollten dabei die erste deutsche Demokratie als ein Scharnier begreifen, das verschiedene Entwicklungen der Demokratiegeschichte des 19. Jahrhunderts zum Abschluss brachte, die Demokratie in Deutschland erstmals tatsächlich etablierte und damit auch wesentliche Grundsteine für die Demokratiegeschichte nach 1945 legte. Die Beiträge dieses Bandes greifen daher in manchen Fällen auch auf die Zeit vor 1918 aus, in noch mehr Fällen auf die Zeit nach 1945 und die Etablierung der Demokratie in der jungen Bundesrepublik. Bei der Zusammenstellung des Bandes wurde uns aber deutlich, dass die Klammer seiner Beiträge nicht so sehr in der Demokratiegeschichte selbst liegt, sondern darin, dass sich die demokratische Transformation der Zwischenkriegszeit im Modus der Konfliktivität vollzog, und dass die Etablierung der zweiten deutschen Demokratie in vielen Fällen von Fortwirkungen dieser Konfliktivität geprägt war. Daher auch die abweichende Wahl des Titels dieses Bandes im Vergleich zu der Tagung, die ihm zugrunde liegt. Unser Dank gilt all jenen, die die Konferenz und den Band möglich gemacht bzw. ihre Durchführung und Erstellung unterstützt haben. Das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz und das Thüringer Ministerium für Wirtschaft, Wissenschaften und Digitale Gesellschaft haben durch ihre Grundförderung des Weimarer Republik e.V. und der Forschungstelle an der FSU Jena den wichtigsten Anteil daran. Beim Weimarer Republik e.V. gilt unser Dank Stephan Zänker, Anne Meinzenbach und Markus Hünniger, an der Forschungsstelle Monika Keilich, Jonathan Overmeyer und Max Gert Streckhart für ihre Unterstützung bei der Tagung. Für beide Akteure steht Michael Dreyer, der als Vorsitzender des Weimarer Republik e.V. und als Leiter der Forschungsstelle jede freie Minute (und mehr) der Sache der Weimarer Republik widmet, und dem dafür kaum genug zu danken ist. Ohne die Autorinnen und Autoren wäre dieser facettenreiche Band nie zustande gekommen. Deshalb gilt unser Dank natürlich und ausdrücklich auch ihnen. Besonders freut uns dabei, dass mit Florian J. Schreiner, Ludwig Decke, Simon Sax und Helene Eggersdorfer alle vier Preisträger des Matthias-Erzberger-

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Vorwort

Preises der Jahre 2016, 2017 und 2018 in dem Band vertreten sind. Der Erzberger-Preis ist Teil des Forschungspreises, den der Verein und die Forschungsstelle jährlich vergeben und der dort die je besten Bachelorarbeiten des Jahres auszeichnet. Er belegt und soll Ermutigung dafür sein, dass auch mit den ersten wissenschaftlichen Qualifikationsschriften bemerkenswerte Beiträge zur Forschung geleistet werden können. Damit ihre Ergebnisse auch tatsächlich die ihnen würdige Bemerkung finden können und nicht in den Archiven der Prüfungsämter versauern, gehen sie hier in den Band mit ein. Die Forschungsstelle Weimarer Republik und der Weimarer Republik e.V. werden die Praxis fortsetzen, laufenden wissenschaftlichen Arbeiten eine Plattform zu geben: sowohl in Form der jährlichen Konferenzen für den wissenschaftlichen Nachwuchs, wie auch in den Publikationen, die daraus hervorgehen. Auch die Zentennarien verschiedener Ereignisse und Errungenschaften der Republik werden in den nächsten Jahren nicht abreißen und Anlass bieten, sich mit den vielen Facetten der ersten deutschen Demokratie neu zu beschäftigen. Für die Weimar-Forschung liegen daher – so hoffen wir – viele sehr produktive und ertragreiche Jahre vor uns. Jena im Mai 2019

die Herausgeber

EINLEITUNG: DIE NORMALITÄT DES KONFLIKTS Sebastian Elsbach / Ronny Noak / Andreas Braune Das Erinnern an die Weimarer Republik wurde lange Zeit von einem Verweis auf die vermeintliche Unvollständigkeit ihrer demokratischen Institutionen dominiert. Pünktlich zum Zentenarium ihrer Gründung erfährt Deutschlands erste Demokratie jedoch nicht nur ein gesteigertes Maß an Aufmerksamkeit, sondern auch an Anerkennung. Hierauf lassen prominente Buchtitel zur Novemberrevolution schließen, die das Ereignis als „größte aller Revolutionen“ (Robert Gerwarth) anpreisen oder ein „Lob der Revolution“ anstimmen (Sven Felix Kellerhoff).1 Diese Entwicklung in der öffentlichen Wahrnehmung der Weimarer Republik – oder zumindest ihres Beginns – ist neu. Anlässlich des Festaktes zum 100-jährigen Jubiläum des Zusammentritts der Weimarer Nationalversammlung am 6. Februar 2019 erinnerte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier daran, dass noch das 90jährige Jubiläum der Nationalversammlung kaum nationale Aufmerksamkeit genossen habe und lediglich ein Festakt von regionaler Bedeutung gewesen sei. Steinmeier fuhr fort, dass die neue Wertschätzung der Errungenschaften der Weimarer Republik –Volkssouveränität, Gleichstellung der Geschlechter, wirtschaftliche Mitbestimmung u.a. – damit zu tun haben könnte, dass diese Fundamente einer liberalen, demokratischen Ordnung heutzutage verstärkt angegriffen würden.2 Mit dieser Diagnose spricht Steinmeier durchaus zentrale Punkte an. Mit dem Schlagwort von den „Weimarer Verhältnissen“, welches ein fester Bestandteil der bundesdeutschen Debattenkultur ist, war bei den verschiedensten Gelegenheiten stets eine Warnung vor sozialem und politischem Konflikt verbunden bzw. der entsprechende Appell, diesen Konflikt abzumildern und sich entsprechend zu verhalten. Die Weimarer Republik wurde in diesem Sinne als verbales Stoppschild gebraucht, welches einen negativ empfundenen Bereich der Konflikthaftigkeit markiert. Nach dem Motto: „Bis hierhin und nicht weiter!“ Auf diese Weise wird ‚Weimar‘ wieder zum politischen Argument in einem alten Sinne, nämlich indem es jenen „Weimar-Komplex“ reaktiviert, den Sebastian Ullrich diagnostizierte.3 In Anlehnung an das Allemann-Diktum, Bonn sei nicht Weimar4, scheint sich nun auch die Berliner Republik wieder selbst vergewissern zu müs1 2 3 4

Gerwarth (2018): Revolution; Kellerhoff (2018): Lob. https://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Frank-Walter-Steinmeier/ Reden/2019/02/190206-Weimar–100-Jahre-Reichsverfassung.html. Ullrich (2009): Weimar-Komplex. Vgl. Allemann (1956): Bonn.

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Sebastian Elsbach / Ronny Noak / Andreas Braune

sen, eine stabilere Demokratie als das angeblich ‚gescheiterte‘ Experiment von Weimar zu sein. Schon allein die wissenschaftliche Neugier sollte Anlass genug sein, sich diesen geschichtspolitisch inspirierten Versuchungen des Rückfalls in alte Deutungsmuster zu widersetzen. Denn viel offener als noch vor zehn oder fünfzehn Jahren tritt heute hervor, welches wichtige Bindeglied in der Demokratiegeschichte Deutschlands die Weimarer Republik ist, indem sie die demokratischen Bewegungen des 19. Jahrhunderts zum Abschluss brachte und auch für die Bonner und Berliner Republik wichtige Grundsteine legte. Die in diesem Band versammelten Beiträge sind augenscheinlicher Beweis für das weitere Vorhandensein von wissenschaftlicher Neugier in Bezug auf die Weimarer Republik und die deutsche Demokratiegeschichte insgesamt. Alle Beiträge handeln von sozialen und politischen Konflikten und es wäre in unserem Kontext unzureichend, diese Konflikte auf einen einzigen Gegensatz wie Demokratie vs. Totalitarismus zu verkürzen oder allein nach den Faktoren für den Aufstieg des Nationalsozialismus zu fragen.5 Vielmehr handeln die Beiträge in ihrer Summe von sozialem und politischem Konflikt in der breiten Komplexität des Begriffes. Die hierin stets einbezogenen „Weimarer Verhältnisse“ werden ausgesprochen detailreich beschrieben und bieten neben so manchen Stopp- auch zahlreiche Hinweisschilder. So wird ersichtlich, dass sozialer und politischer Konflikt aus einer wissenschaftlichen Perspektive nicht als etwas Negatives abgetan werden kann, welches kategorisch zu meiden sei. Konflikthaftigkeit wird unabhängig von den jeweiligen Erklärungsversuchen als Grundkonstante moderner Gesellschaften begriffen. Konflikte sind in diesem Sinne als Ausdruck und Begleiterscheinung eines gesellschaftlichen Wandels zu verstehen.6 Zum Modernisierungsprozess gehört, die Unumgänglichkeit von Konflikthaftigkeit anzuerkennen und rational mit ihr umzugehen zu lernen. Demokratie ist dabei ein politisches Verfahren, das helfen soll, dies friedlich zu tun und das deshalb eines Grundkonsenses über Verfahren und Grundwerte bedarf. Der Politikwissenschaftler Ernst Fraenkel sprach hier von einem „nicht-kontroversen Sektor“, der es ermögliche, gesellschaftliche Kontroversen geregelt auszutragen.7 Die Weimarer Demokratie war der erste reale Versuch in Deutschland, dies zu erproben. Zentrale Hemmnisse waren dabei jedoch die mangelhafte Herausbildung jenes Grundkonsenses und die Sehnsucht vieler Akteure nach einem vor- oder nachkonflikthaften Zustand, mithin also die Weigerung, die „unaufhebbare Konflikthaftigkeit moderner Gesellschaften“8 anzuerkennen. Trotzdem standen nach der Bewältigung von Revolution und Kriegsende das Set an Institutionen und Verfahren dafür bereit, genauso wie zahlreiche Akteure, die bereit waren, sich auf diesen Weg der demokratischen Gestaltung und Bewältigung der Moderne zu begeben.9

5 6 7 8 9

Siehe etwa Dahrendorf (1992): Konflikt, S. 123 ff. Vgl. Bonacker (2008): Konflikttheorien, S. 9 f. Vgl. Fraenkel (2011): Deutschland, S. 16 ff. Vgl. Brodocz (2008): Republikanismus, S. 232. Zur theoretischen Perspektive: Rüb (1994), Institutionen, S. 115 u. 125 ff.

Einleitung: Die Normalität des Konflikts

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INSTITUTIONEN DER WEIMARER REPUBLIK. BRÜCHE UND KONTINUITÄTEN Langlebige politische Institutionen wie Schule, Kirche, Universitäten wechselten nicht über Nacht ihren Grundcharakter und auch die gesamten 14 Jahre der Weimarer Republik sind als Zeitraum zu kurz, um eine vollständige Transformation von bürokratisierten Strukturen erwarten zu können. Bedeutende Reformansätze, diese und andere Institutionen auf die Demokratie als neuer Staatsform auszurichten, gab es in der Weimarer Republik jedoch. Gleichzeitig waren solche Demokratisierungsversuche selbstverständlich nicht die einzigen Transformationsprozesse, die sich in der Weimarer Republik ereigneten. Während Universitäten für gewöhnlich die soziale Funktion von gehobenen Bildungseinrichtungen erfüllen, stellt Florian Schreiner in seinem Beitrag dar, dass Universitäten auch einem gänzlich anderen Zweck dienen können: der militärischen Mobilisierung. Die Wilhelminische Universität als ElitenInstitution war in einem gewissen Sinne prädestiniert dafür, eine antirevolutionäre Funktion in den Anfangsjahren der Weimarer Republik zu spielen. Lehrkörper und Studentenschaft erlebten in weiten Teilen die Kriegsniederlage und die anschließende Revolution als völligen Zusammenbruch ihres bisherigen Wertekosmos‘. Entsprechend groß war die Bereitschaft nicht nur der jungen, männlichen Studenten, sondern auch der universitären Gremien, sich dem Militär für innerdeutsche Einsätze zur Verfügung zu stellen. Diese Bellifizierung der Universität als eigentlich ziviler, weitgehend selbstverwalteter Institution deutet Schreiner als Teil einer Traumabewältigung. Der Kampf gegen den Linksradikalismus als inneren Feind sollte gewissermaßen die Schäden im nationalistischen Wertekosmos reparieren und gleichzeitig eine bis dato sehr unwahrscheinliche Koalitionsbildung mit den demokratischen Regierungen ermöglichen. Felix Selgert wiederum bietet einen zeitlich umfassenderen Blick auf die Entwicklung des Aktienrechtes im Kaiserreich, der Weimarer Republik und der Zeit des Nationalsozialismus bis 1937. Dies ermöglicht Selgert die Besonderheit der Weimarer Republik auf diesem eng umgrenzten Politikfeld herauszuarbeiten, an welchem die Entwicklung des organisierten Kapitalismus konkretisiert werden kann. Das Aktienrecht des Kaiserreiches stellte im Wesentlichen eine Sammlung von Aktionärsrechten dar, die hierdurch geschützt werden sollten. In der Weimarer Republik hingegen entwickelte sich erstmals ein Katalog von Offenlegungspflichten, die insbesondere durch die Finanz- und Wirtschaftskrise seit 1929 angestoßen worden waren. Selgert stellt heraus, dass dieser Reformprozess des Aktienrechtes eine Demokratisierung bedeutete, da anders als im Kaiserreich nicht nur das Parlament, sondern auch die Zivilgesellschaft in Form von Interessengruppen, Fachpresse und Juristenschaft einbezogen wurde. In diesem Sinne kam es zu einer erfolgreichen Reform des Aktienrechtes in den 1920ern, die anders als die späteren Novellen in der NS-Zeit aber keinen radikalen Bruch mit der Vergangenheit bedeuteten. Reformversuche ganz anderer Art sind Gegenstand des Beitrags von Anne Otto. So sollte in der Weimarer Republik eine „republikanische Schulkultur“

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Sebastian Elsbach / Ronny Noak / Andreas Braune

etabliert werden, was den Versuch einer fundamentalen Öffnung dieser Bildungsinstitution darstellte. Nicht mehr nur Bürokratie und Lehrerschaft sollten über die Gestaltung dieses Bildungsraumes bestimmen, so der Wunsch demokratisch orientierter Reformer. Tatsächlich nahmen nun auch Schüler*innen-, Eltern- und andere Interessenverbände in bisher nicht dagewesener Weise an den Entscheidungsprozessen teil. Ferner wurden erstmals Versuche gemacht, um Kinder aus sozial benachteiligten Gruppen der Gesellschaft zu unterstützten, ihnen Aufstiegschancen zu ermöglichen und auch eine ins Grundsätzliche gehende Debatte über die richtigen Werte der Kindererziehung wurde in diesen Jahren geführt. „Demokratie“ war hierbei keineswegs nur ein abstraktes Fernziel, sondern wurde auch als Argument und Stilmittel in den andauernden Reformdebatten gebraucht. Die Frage nach den Kontinuitätslinien zwischen der ersten und der zweiten deutschen Demokratie steht auch im Mittelpunkt des Beitrags von Ronny Noak zur politischen Schulungsarbeit von SPD und Zentrum/CDU. Bei allen organisatorischen Differenzen stellt Noak zentrale Kontinuitätslinien in Bezug auf Bildungsinhalte, -personal und -anspruch heraus. Die Weimarer Republik wurde als Zeitraum begriffen, in dem erstmals systematische Versuche zur Schulung der eigenen Parteifunktionäre gemacht wurde. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden mitunter dieselben Lehrpersonen mit mehr oder weniger denselben Konzepten in den neu aufgebauten Parteischulungseinrichtungen aktiv. Mit dem Parlament am Beispiel des thüringischen Landtages rückt im Beitrag von Timo Leimbach eine zentrale Institution des politischen Lebens in den Fokus. Leimbach versteht das Parlament als Experimentierfeld zur Erprobung und zum Einstudieren von politischen Strategien. Thüringen stellt in diesem Sinne ein sehr ereignisreiches Experimentierfeld dar, in dem sowohl linksrepublikanische als auch konservativ-völkische Koalitionsbildungen möglich waren. Dass diese von teils heftigen Konflikten begleitet wurden, ist verständlich. Leimbach betont jedoch die Deeskalationsmöglichkeiten des parlamentarischen Alltages. Die parlamentarische Kultur Thüringens war gleichzeitig von Konsens und Konflikt geprägt. Ein Wechselspiel von Integration und Desintegration, an dessen Ende keineswegs zwangsläufig die desintegrierenden Faktoren überwiegen mussten. Wie Leimbach herausstellt, waren die demokratischen Institutionen auf der Thüringer Landesebene durchaus stark genug, um selbst schwere Erschütterungen intakt zu überstehen. Konkret bedeutete dies, dass die NSDAP sich ohne äußere Einflussnahme nicht als dauerhafte Regierungspartei im Land hätte etablieren können. Die Bedeutung von sozialen Interaktionsprozessen von Person zu Person hebt auch Oliver Gaida hervor. Die Reichshauptstadt Berlin war als Metropole von Weltrang von einer enormen sozialen Stratifikation gekennzeichnet, wobei die Erfolge bei der staatlichen Bekämpfung der sozialen Auswirkungen von Armut eine wesentliche Quelle von politischer Akzeptanz darstellten. Diese Form der Akzeptanz zu generieren, war Aufgabe der Kommunen und Berlin als größte Kommune stand nicht nur vor den größten Herausforderungen, sondern zeigte auch eine besondere Innovationskraft auf dem Feld der Armenfürsorge. Am Beispiel der Berliner Jugendfürsorge kann Gaida nicht nur die Leistungsfähigkeit, sondern auch die Reformfähigkeit des Wohlfahrtsstaates zeigen. Die gleichwohl

Einleitung: Die Normalität des Konflikts

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vorhandene Diskrepanz zwischen Leistungsfähigkeit und Leistungsanspruch in Bezug auf den Wohlfahrtsstaat sollte hierbei laut Gaida nicht darüber hinwegtäuschen, dass in der Weimarer Republik eine langlebige Tradition des Sozialstaates begründet wurde. Michaela Bräuninger untersucht gleichfalls die langfristigen Wirkungen von Reformbemühungen, die in der Weimarer Republik angestoßen wurden. Ihr Beitrag handelt von der protestantischen Landeskirche in Schleswig-Holstein, deren weibliche Mitglieder kontinuierlich auf eine Stärkung ihrer Mitbestimmungsrechte innerhalb der Kirche hinarbeiteten. Wie auch in anderen Feldern des sozialen Lebens waren es der Erste Weltkrieg und die demokratische Revolution, welche den Transformationsprozess maßgeblich förderten. Die Einführung des Frauenwahlrechtes förderte die Emanzipation von Frauen auch im kirchlichen Leben, wo gleichfalls ein Frauenstimmrecht eingeführt wurde. Auch Bräuninger kann hierbei die in dieser Institution wirkenden Beharrungskräfte anschaulich machen. Erst die erneute Kriegserfahrung sorgte in der bundesrepublikanischen Nachkriegszeit für eine wirklich tiefgreifende Transformation der evangelischen Kirche durch die schrittweise Erkämpfung des Pfarrerinnenamtes, welches heutzutage als selbstverständlich angesehen wird. Die Schnittmengen der Beiträge dieses ersten Teiles sind offensichtlich auf der Ebene der Ereignisse, Personen oder verwendeter Quellen sehr gering. Gleichzeitig wird in der Gesamtschau deutlich, dass in der Weimarer Republik in den unterschiedlichsten Institutionen und Politikfeldern bedeutende Transformationsprozesse angestoßen wurden. Unabhängig von den Jahreszahlen der großen Systembrüche 1918, 1933 und 1945 haben sich in der Weimarer Republik langfristig wirkende demokratische Traditionen herausgebildet, die keineswegs als klar umrissener Block zu begreifen sind.10 Nicht nur die Kontinuitätslinien zwischen der Bonner und der Weimarer Republik, auch die relative Kontinuität zwischen der konstitutionellen Monarchie des Kaiserreiches und der ersten Republik sind hierbei bedeutend. Doch war es die Zeit der Weimarer Republik, welche einen enormen Demokratisierungsschub auf sehr unterschiedlichen Ebenen brachte.11 Die hiermit zusammenhängende Transformation gesellschaftlicher Institutionen ist gleichwohl weniger in Jahren als in Generationen zu messen, was den Mehrwert eines demokratiegeschichtlichen Ansatzes verdeutlicht, da in einer kurzfristigen Perspektive oder der Isolation des jeweiligen Fallbeispiels das große Bild leicht übersehen werden kann. In den Parteien, Parlamenten, Schulen, Kirchen und Fürsorgeeinrichtungen der Weimarer Republik wurden Konflikte ausgetragen, welche die Funktionsweise dieser Institutionen sehr grundsätzlich herausforderten und stets auf den Widerstand der alten Eliten traf. Stets ging es um

10 Nolte (2012): Demokratie; Jesse (2010): Systemwechsel. 11 Gängig ist auch die Beschreibung solcher Demokratisierungsprozesse als „Welle“, wobei – anders als in diesem Sammelband – der internationale Vergleich zentral ist (siehe Grugel (2002): Demcratization, S. 32–45). Die Weimarer Republik lässt sich als Teil der ersten Demokratisierungswelle verstehen (siehe Merkel (2010): Systemtransformation, S. 130).

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Sebastian Elsbach / Ronny Noak / Andreas Braune

die Mitbestimmungsrechte bislang ausgeschlossener gesellschaftlicher Gruppen, die Erweiterung des staatlichen Leistungsspektrums und/oder als grundlegend angesehene Werte. Der Ausgang solcher Transformationsprozesse ist prinzipiell ungewiss.12 NEUE FORSCHUNGSANSÄTZE ZUR WEIMARER REPUBLIK Die Erforschung der Demokratie in ihren historischen Erscheinungsformen ist eine komplexe wissenschaftliche Herausforderung. Um so mehr sind neue Methoden und Ansätze zu begrüßen, die einen Perspektivenwechsel ermöglichen und auch vermeintlich Bekanntes in einem neuen Licht präsentieren können. Wenn – wie oben festgestellt – die Transformation von gesellschaftlichen Institutionen eine Generationenaufgabe ist, die keineswegs in wenigen Jahren oder Jahrzehnten vollzogen wird, dann ist es sinnvoll den Zeithorizont auch der biographischen Forschung entsprechend auszuweiten. In ihrem Beitrag zur Familiengeschichte der Venedeys weist Birgit Bublies-Godau darauf hin, dass nicht nur antidemokratische Familientraditionen identifiziert werden können, wie etwa im Falle einer klassischen preußischen Offiziersdynastie, sondern gewissermaßen auch demokratische Familiendynastien existieren. Die Venedeys waren über 200 Jahre hinweg eine Familie, die eine Reihe von demokratischen Aktivisten hervorbrachte, die weit über ihr rheinisches Stammland hinaus wirkten. Dieses Schreiben von Demokratiegeschichte als Familiengeschichte verdeutlicht nicht nur die gesellschaftlichen Entwicklungstendenzen, sondern auch wie eine demokratische Traditionsbildung über Gedenkrituale und ähnliche soziale Techniken möglich ist. Jörn Retterath nimmt wiederum einen relativ kurzen Zeitausschnitt in den Fokus. In einer quantitativ-qualitativen Untersuchung der größten Tageszeitungen des demokratischen Spektrums der Weimarer Republik untersucht er die Zeit der Republikgründung. Hierbei wird deutlich, dass selbst in der die Republik politisch tragenden Schicht das Konzept des Parlamentarismus keineswegs unumstritten war. Vielmehr sind die tagespolitischen Auseinandersetzungen parteiübergreifend von parlamentarismus- und parteikritischen Narrativen geprägt, was von vielstimmigen Appellen an die Einheit des Volkes in Form einer „Volksgemeinschaft“ begleitet war. Dieser Befund verdeutlicht, dass soziale und politische Konflikte gleichermaßen von eskalierenden und deeskalierenden Faktoren geprägt werden und den Konfliktteilnehmern bei allem Abgrenzungsbedürfnissen stets auch an einer relativen Kontrolle der Auseinandersetzungen etwa in Form von Einheitsappellen gelegen ist. An eine ganz ähnliche Konfliktlage schließt der Beitrag von Angela Schuberth an. Sie geht der Verwendung des Terminus Volksgemeinschaft in der libe-

12 Siehe Bos (1994): Eliten, S. 84 u. 101.

Einleitung: Die Normalität des Konflikts

XVII

ralen Vossischen Zeitung nach. Dabei zeigt sich, dass die Begriffsverwendung von einer demokratischen Intention und einem Bezug auf das Allgemeinwohl sich hin zu einer Verteidigung des demokratischen Inhalts verschob. Eine unparteiliche Zeitschrift bezog durch die Einbindung des Begriffs Volksgemeinschaft somit zunächst Partei für die Demokratie. Dabei wurde sich vor allem bewusst mit den Kontrahenten von völkischer Seite auseinandergesetzt, die den Begriff ebenso anwandten und damit den Boden für seine Einbettung in die Ideologie des Nationalsozialismus bereiteten. Dass der Begriff in der Weimarer Zeit damit aber keinesfalls im Sinne der völkischen Ideologie sondern auch als demokratischer Konsens verstanden werden muss, wird im Beitrag hervorgehoben. Konfliktkonstellationen weit schärferer Form bilden den Gegenstand des Beitrags von Sebastian Elsbach. In einer mikrosoziologischen Untersuchung von politischen Tötungsdelikten in den mittleren Jahren der Weimarer Republik kann der konkrete Handlungsablauf der Delikte und die entsprechende Motivlage von Opfern und Tätern detailliert beschrieben werden. Selbst in dieser Extremform von interpersonellen Konflikten ist ein Zusammenspiel von eskalierenden und deeskalierenden Verhaltensweisen festzustellen. Keineswegs trachten die jeweiligen Täter danach, ihr Gegenüber um jeden Preis zu vernichten. Alle Beteiligten versuchen vielmehr ihre jeweilige Kosten-Nutzen-Bilanz des Konfliktes zu maximieren. Hinsichtlich der hauptsächlich beteiligten politischen Gruppierungen sind hierbei neben grundsätzlichen Gemeinsamkeiten auch deutliche Unterschiede in der gruppenbezogenen Gewaltstrategie auszumachen, was wiederum entsprechende Konsequenzen für die Reaktion der Staatsorgane hatte, deren Maßnahmen zum Schutz der Republik selbst in den mittleren, relativ ruhigen Jahren nicht als optimal bezeichnet werden können. Die Gewalteskalation im Zuge der Weltwirtschaftskrise von 1929 und dem simultanen Aufstieg der SA zu Beginn der 1930er brachte ein gesteigertes Bedrohungsszenario hervor, welches entsprechende Bedürfnisse nach einer Erhaltung der eigenen Sicherheit weckte. Simon Sax fragt in seinem Beitrag, inwiefern die Debatte in jüdischen Publikationen über die nationalsozialistische Bedrohung als Versicherheitlichungsdiskurs gedeutet werden kann. Anhand der Wahlempfehlungen, die konkret als Beiträge zur Bewältigung der antisemitischen Gefahr durch die NSDAP kommuniziert wurden, kann Sax zeigen, dass andere Faktoren bei den Wahlempfehlungen jüdischer Zeitungen demgegenüber zurücktraten und Kandidaten bzw. Parteien zur Wahl empfohlen wurden, von denen eine möglichst effektive Bekämpfung der NSDAP erwartet wurde. Das kommunikative Verhalten in Konfliktsituationen während der Endphase der Weimarer Republik dient auch Sebastian Gräb als Untersuchungsgegenstand seines Beitrages. In einer softwaregestützten quantitativen Untersuchung des Sprachgebrauches der paramilitärischen Kampfbünde zeigt Gräb die Militarisierung der politischen Sprache in deren Publikationen auf. Ähnlich wie oben in der vergleichenden Betrachtung von politischen Tötungsdelikten ermöglicht eine Untersuchung des Sprachgebrauches einen differenzierten Vergleich der politisch sehr heterogenen Kampfbünde vorzunehmen. Die feststellbaren semantischen Differenzen insbesondere in Bezug auf die Instrumentalisierung der Topoi

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Sebastian Elsbach / Ronny Noak / Andreas Braune

„Krieg“, „Front“ und „Kameradschaft“ deutet Gräb als Ausdruck tieferliegender politischer Differenzen. Gleichwohl zeichnete alle Kampfverbände, die sich als Gründungen von Weltkriegsteilnehmern verstanden, eine grundsätzliche Orientierung am Ersten Weltkrieg aus, sodass die politischen Auseinandersetzungen in der Endphase der Weimarer Republik gewissermaßen als Fortsetzung vergangener Konflikte dargestellt wurden. Die in diesem zweiten Teil versammelten Beiträge verdeutlichen in ihrer Summe die Position der Weimarer Republik in der deutschen Demokratiegeschichte. Ähnlich wie im weiteren zeitlichen Kontext der Märzrevolution von 1848 wurde um die Demokratie als Staatsform in einer Weise gerungen, die für andere Abschnitte der jüngeren deutschen Geschichte völlig unüblich war. Die Konfliktlinien verliefen hierbei jedoch nicht nur zwischen demokratischen und antidemokratischen Kräften, auch innerhalb des demokratischen Spektrums gab es bedeutende Differenzen über die präferierte Ausgestaltung der parlamentarischen Demokratie. Als es im Kontext der Weltwirtschaftskrise zu einer raschen Eskalation des inneren Konfliktes kam, führte dies nicht nur zu einer Verwischung der Grenzen innerhalb des demokratischen Spektrums. Die hiermit verbundene Polarisierung verdeckte die inneren Konfliktlinien im demokratischen und antidemokratischen Spektrum jedoch mehr, als dass diese wirklich verschwanden. Grundsätzliche Differenzen bezüglich der Deutung der Vergangenheit, der politischen Zukunftswünsche oder aktuellen Handlungsempfehlungen blieben bestehen. Die Vielzahl der Interpretationsmöglichkeiten in Bezug etwa auf das beliebte Sprachbild der „Volksgemeinschaft“ ist in diesem Sinne nicht nur Ausdruck von grundsätzlichen Konflikten zu verstehen, sondern zeigt auch auf, wie es den Beteiligten trotz dieser Differenzen möglich war, weiterhin die Kommunikation aufrechtzuerhalten. Die Bezugnahme auf vergleichsweise frei interpretierbare Begriffe, zu denen auch der Erste Weltkrieg als sprachliche Figur zu zählen ist, manifestierte zwar Disput, ermöglichte bei aller nicht nur verbalen Aggressivität aber auch die Fortsetzung einer Debatte. Kommuniziert wurde auch mit physischen Handlungen. Sogar Gewalt diente in diesem Sinne als Kommunikationsmittel, mit welchem soziales Prestige angesammelt werden konnte. Dies setzte bei den Beteiligten ein hohes Maß an Konfliktbereitschaft voraus, aber bezeugt auch die hohe Konfliktfähigkeit der historisch handelnden Personen. Die Ereignisse im Zuge der Errichtung der nationalsozialistischen Herrschaft sind in diesem Sinne als Auflösung eines Konfliktsystems durch die Unterwerfung, Vernichtung bzw. Flucht der nicht-nationalsozialistischen Konfliktparteien zu verstehen.13 Dass die hiermit verbundenen sozialen Kosten enorm waren, verdeutlicht wiederum, dass die 1933 beendeten Konflikte nicht rein „parasitär“ in einem systemsoziologischen Sinne waren, sondern vielmehr systemerhaltende Funktionen erfüllten.14 Konflikte – auch solche, die Beobachtern als unnötig oder exzessiv erscheinen mögen – zeugen von Interessenge13 Zur Begriffsbildung: Thiel (2003): Soziale Konflikte, S. 84 ff. 14 Luhmann (1984): Soziale Systeme, S. 529 ff.

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gensätzen, deren Kommunikation nicht per se als negativ bezeichnet werden kann, sondern unabhängig vom Ausgang Gruppenidentitäten als systemerhaltende Faktoren erzeugen.15 Gelingt es den sich entlang einer Konfliktlinie etablierenden Gruppen, die Kommunikation aufrechtzuerhalten, so sind Lerneffekte und die schließliche Erreichung eines Konsensus ein wahrscheinliches Endergebnis. Die Aussage, dass die Weimarer Republik aufgrund eines Übermaßes von Konflikten gescheitert sei, ist in diesem Sinne ohne Erklärungsgehalt. Nicht der soziale Konflikt, sondern der Abbruch und die einseitige gewaltsame Beendigung des Konfliktes bedeutete das Ende der Republik und deren Ersetzung durch ein politisches System, dessen radikale Versuche zur Unterdrückung von Widerspruch im Inneren nicht als Konfliktbereitschaft, sondern als Konfliktvermeidungsverhalten zu interpretieren ist.16 Dass die in der Weimarer Republik ausgefochtenen Auseinandersetzungen nicht ohne gesellschaftlichen Nutzen waren, wird wiederum durch die Tatsache verdeutlicht, dass ähnliche Konfliktlinien in früheren Zeitabschnitten relevant waren oder es später wieder wurden. DEMOKRATIE IM SPANNUNGSFELD ZWISCHEN (LINKS-)LIBERALISMUS UND (RECHTS-)KONSERVATIVISMUS Die Weimarer Republik war eine Zeit grundsätzlicher sozialer Spannungen und Konflikte. Es wäre gleichwohl verkürzend die Konfliktkonstellationen lediglich an den Rändern des politischen Spektrums zu suchen. Es lassen sich ohne weiteres mehrere ideengeschichtliche Hauptströmungen identifizieren, die alle gleichberechtigt in dieser Zeit und darüber hinaus wirksam waren. Die Bandbreite reichte vom Kommunismus über Sozialismus, Liberalismus und Konservativismus bis hin zum Faschismus. Konkrete Einzelpersonen oder Parteien lassen sich hierbei nicht immer leicht nur einer dieser Strömungen zuschreiben. In einer politischen Realität, die von ständigen Konflikten geprägt war, war es für alle politisch Aktiven opportun stets nach möglichen Bündnispartnern jenseits des eigenen unmittelbaren Einflusskreises Ausschau zu halten, sodass die genannten Strömungen sich in der Weimarer Zeit rege mischten und so für eine äußerst lebendige, spannungsreiche Debatte sorgten. In diesem intellektuellen Wandel lassen sich ohne weiteres die breiteren gesellschaftlichen Konfliktlinien wiederfinden. Der Profilierungsdrang von Parteien und Hochschullehrern zwingt diese zu einer Auseinandersetzung mit der Außenwelt, was wiederum einen konflikthaften intellektuellen Wettbewerb erzeugt.17

15 Coser (1965): Konflikte, S. 42 f.; Brodocz (2008): Republikanismus, S. 233. 16 Oder, wie es Lewis Coser ausdrückt: Instabile soziale Beziehungen besitzen keine Konfliktresistenz und somit weist das Vorhandensein von Konflikten auf enge, stabile Sozialstrukturen hin (vgl. Coser (1965): Konflikte, S. 102). Gleichfalls verweist Merkel auf die endogene Instabilität von Diktaturen (siehe Merkel (2010): Systemtransformationen, S. 59). 17 Collins (2012): Konflikttheorie, S. 292 f.

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So war es der Anspruch der 1918 gegründeten Deutschen Demokratischen Partei (DDP), die zentralen Werte des damals bereits klassischen Liberalismus in die neu gegründete Republik zu übertragen. Alex Burkhardt betrachtet den Gründungszeitraum der DDP in Hof an der Saale und den Einfluss der Partei auf das lokale protestantische Bürgertum dieser eher ländlich geprägten Kleinstadt. Aus dem lokalen Bürgertum erhoffte sich die DDP, die ein Bündnis mit dem gemäßigten Teil der Arbeiterschaft anstrebte, eine ihren Interessen entsprechende Mitgestaltung der neuen Republik. Während dieser Schritt von einer deutlichen Abgrenzung gegenüber dem bis dato dominanten Konservatismus der Monarchie zeugte, sorgten die gewaltsamen Konflikte im Zuge der linksradikalen Münchener Räterepublik 1919 und des Kapp-Putsches 1920 für eine relativ rasche Abkehr des Bürgertums von der DDP und einer Hinwendung zu weiter rechts stehenden Parteien. Die Veränderung politischer Einstellungen thematisiert ebenso der Beitrag von Andreas Behnke, allerdings unter umgekehrten Vorzeichen. Der Autor zeichnet anhand der Ideenwelt des Rechtsanwalts und Schriftstellers Georg Quabbe dessen Veränderung vom Monarchismus zur Demokratie nach. Zentral wird hierbei die Betrachtung des Werkes Tar a Ri, das in Anlehnung an das englische Vorbild die Verbindung des Konservatismus mit der Demokratie anstrebt und so Freiheitswerte und geänderte gesellschaftliche Verhältnisse mit einer konservativen Weltanschauung verknüpft. Mit einer umfassenden Demokratiekritik befasst sich der Beitrag von Helene Eggersdorfer. Auf der Grundlage des Demokratieverständnisses von Hans Kelsen, einem der wichtigsten demokratischen Staatsrechtslehrer der Weimarer Republik, untersucht die Autorin jene vorgetragenen Argumente der Gegner der Demokratie. Dabei wird sowohl Kritik von kommunistischer als auch von rechtskonservativer und nationalsozialistischer Seite betrachtet. Dadurch zeigt sich die gesamte Bandbreite antidemokratischen Denkens in den letzten Jahren der Republik. Durch die Einbeziehung der Schriften Kelsens wird dargestellt, dass diese Kritikpunkte häufig von den Zeitgenossen bereits entkräftet werden konnten, sodass sich die Demokratie ihrer Kritiker auch argumentativ erwehren konnte, selbst als die Abkehr von liberalen Positionen in den Jahren 1929-32 deutlich an Gewicht gewann. Das Abrücken von liberalen Positionen thematisiert auch der Beitrag von Ludwig Decke. Das staatsrechtliche Denken Carl Schmitts verortet Decke in einem Zwischenraum von Konservatismus, Faschismus und Liberalismus. So übernahm Schmitt aus den liberalen Traditionen zwar den Begriff der Demokratie als Staatsform, doch wollte er diese von ihrem parlamentarisch-liberalen Wesen trennen und das Bild einer dezidiert antiliberalen Demokratie entwickeln, die in der Lage sei, den angeblich mythischen Charakter des Politischen wiederzugeben. Dies stellte eine klare Annäherung an den Kern des Faschismus dar, also einer Mythologisierung der Nation als identitätsstiftender Kraft. Diese Idee einer unmittelbaren Demokratie war vor allem eine Absage an die Vorstellung von Nutzen und Notwendigkeit der im Parlamentarismus üblichen öffentlichen Konfliktaustragung, des Rechtsstaates oder dem Schutz von politischen Minderheiten.

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Schmitts spätere Hinwendung zum Faschismus kann vor diesem Hintergrund nicht überraschen. Nach der militärischen Niederlage des Dritten Reiches erschien die Nachkriegszeit manchen Zeitgenossen als Periode einer vermeintlich konfliktarmen Normalität. Dass die neue Normalität der Bundesrepublik jedoch ebenfalls von grundsätzlichen Konflikten geprägt wurde, kann Frank Schale anhand der staatsrechtlichen Debatte über die Wiederbewaffnung herausarbeiten. Die führend an diesem „Wehrstreit“ teilnehmenden Politiker, Juristen und akademischen Lehrer waren sämtlich bereits in der Weimarer Republik aktiv gewesen und blieben auch in der Nachkriegszeit ihrem Selbstverständnis, den Methoden und politischen Grundhaltungen treu. Dementsprechend enthält der Konflikt über die Wiederbewaffnung eine weitere Kontinuitätslinie zur Weimarer Republik, auch wenn die betreffenden Personen in einem deutlich verschiedenen Rahmen handelten. Demokratisch ausgetragene Konflikte waren wie bereits in der ersten auch in der zweiten Republik die Normalität. Die Fortsetzung von Konflikten der Weimarer Zeit in der Bundesrepublik thematisiert auch Sarah Langwald. Die Sozialdemokratie gehörte zwar zu den maßgeblichen politischen Kräften der ersten Republik, doch änderte dies wenig an der kritischen Distanz führender Sozialdemokraten gegenüber der Justiz. Während diese Institution den Übergang vom Kaiserreich zur Weimarer Republik weitgehend unverändert überlebt hatte, war auch der Justizapparat der frühen Bundesrepublik von einer hohen personellen Kontinuität zur Zeit des Nationalsozialismus und früherer Perioden geprägt. Ob diesen konservativen Charakters verwundert es nicht, dass sich die Justiz der frühen Bundesrepublik sehr rege in der Verfolgung echter oder vermeintlicher Kommunisten zeigte. Der öffentliche Protest hiergegen durch führende Rechtsexperten der SPD war dementsprechend von seit Jahrzehnten eingeübten Denk- und Verhaltensweisen geprägt. Den in der Weimarer Republik noch wenig erfolgreichen Transformationsversuchen sollte nun neuer Schwung verliehen werden. Kontinuitätslinien weit ausgreifender Art zeichnet Thomas Schubert in seinem Beitrag nach. Die hierin thematisierten Geschichtsnarrative interpretieren die Weimarer Republik als den Ausgangspunkt eines geistigen Bürgerkriegs zwischen liberalen, konservativen, kommunistischen und faschistischen Kräften um die Hoheit in Deutschland. Erst 1989 sei dieser geistige Bürgerkrieg endgültig beendet worden, nachdem bereits zuvor der Faschismus besiegt und der Konservatismus demokratisiert worden sei. Im Lichte der von Schubert aufgegriffenen geschichtsphilosophischen Positionen erhalten selbst die Gewaltexzesse dieser Jahrzehnte eine gewisse Form der Erwartbarkeit und Normalität. Es ging schließlich auch um grundsätzliche Konflikte zwischen sich gegenseitig ausschließenden Weltanschauungen. Gleichwohl plädiert Schubert dafür, nicht allein gewaltsame Konflikte als Teile eines Bürgerkriegs anzusprechen, sondern auch gewaltfreie Auseinandersetzungen als Teil eines unversöhnlichen Konfliktes zu begreifen und zu erinnern. Das angemessene Erinnern an die erste deutsche Republik ist tatsächlich vor allem wegen der in ihr ausgefochtenen und beileibe nicht zur Gänze geklärten

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Konflikte ein herausforderndes Unterfangen. Vor dem Hintergrund der in diesem Band versammelten wissenschaftlichen Beiträge wird jedoch ersichtlich, dass Konflikt zur Geschichte der Demokratie gehört. Nicht nur ihr Errichtung, sondern auch ihre Erhaltung ist ein von stetigen Auseinandersetzungen gezeichneter Prozess. Hierbei gibt es keinen Grund, lediglich Gewaltsamkeiten als Ausdruck von Konflikten zu betrachten. Die Transformation der Vielzahl von gesellschaftlich relevanten Institutionen erforderte die Arbeit von Generationen und lässt sich kaum als gewaltsamer Prozess darstellen. Gleichwohl war die Bewältigung der unüberschaubaren Vielzahl der hierzu nötigen Konflikte für die Demokratie unabdingbar. Dies bestätigt auch ein Blick auf die westdeutsche Nachkriegszeit. Deutschlands zweite Demokratie war keineswegs ein konfliktarmer Raum, sondern maßgeblich von Konfliktlinien geprägt, die ihren Ausgangspunkt in der Weimarer Republik hatten.18 „Weimarer Verhältnisse“ herrschten in diesem Sinne auch in der Bundesrepublik und es gibt keinen ersichtlichen Grund, warum man die Existenz oder Wiederkehr von selbst grundsätzlichen Konflikten fürchten sollte.19 Zu fürchten wären vielmehr gewaltsame Versuche zur Unterdrückung solcher Differenzen, denn – und auch dies kann dieser Sammelband zeigen – eine wirkliche und nicht nur vorübergehende Konfliktlösung durch Gewalt ist in einer Demokratie praktisch unmöglich. Die mit der Lösung von Konflikten verbundenen sozialen Kosten wären schlicht viel zu hoch. LITERATUR Allemann, Fritz René: Bonn ist nicht Weimar, Köln [u.a.] 1956. Bonacker, Thorsten (Hrsg.): Sozialwissenschaftliche Konflikttheorien. Eine Einführung, Wiesbaden 2008. Bos, Ellen: Die Rolle von Eliten und kollektiven Akteuren in Transitionsprozessen. In: Merkel Wolfgang (Hrsg.): Systemwechsel 1. Theorien, Ansätze und Konzeptionen, Opladen 1994, S. 81–109. Brodocz, André: Die Konflikttheorie des zivilgesellschaftlichen Republikanismus. In: Bonacker, Thorsten (Hrsg.): Sozialwissenschaftliche Konflikttheorien. Eine Einführung, Wiesbaden 2008, S. 231-248. Collins, Randall: Konflikttheorien. Ausgewählte Schriften, Wiesbaden 2012. Coser, Lewis A.: Theorie sozialer Konflikte, Berlin 1965. Dahrendorf, Ralf: Der moderne soziale Konflikt. Essay zur Politik der Freiheit, Stuttgart 1992. Fraenkel, Ernst: Deutschland und die westlichen Demokratien, Baden-Baden 2011. Gerwarth, Robert: Die größte aller Revolutionen. November 1918 und der Aufbruch in eine neue Zeit, München 2018.

18 Strote (2017): Lions and Lambs. 19 „Defekte“ im Sinne der politikwissenschaftlichen Theoriebildung hatte die Bonner wie bereits die Weimarer Republik zweifellos. Ein Desiderat wäre es daher das Konzept der „defekten Demokratie“ auf diese historischen Fallbeispiele anzuwenden, was bisher unterblieb (siehe Merkel et a. (2003): Defekte Demokratie; Merkel (2015): Demokratie).

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Grugel, Jean: Democratization. A critical introduction, Basingstoke 2002. Jesse, Eckhard: Systemwechsel in Deutschland. 1918/19 – 1933 – 1945/49 – 1989/90, Köln u.a. 2010. Kellerhof, Sven Felix: Lob der Revolution. Die Geburt der deutschen Demokratie, Darmstadt 2018. Luhmann, Niklas: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt am Main 1984. Merkel, Wolfgang / Puhle, Hans-Jürgen / Croissant, Aurel / Eicher, Claudia / Thiery, Peter: Defekte Demokratie. Band 1: Theorie, Opladen 2003. Merkel, Wolfgang: Systemtransformation. Eine Einführung in die Theorie und Empirie der Transformationsforschung, Wiesbaden 2010. Ders. (Hrsg.): Demokratie und Krise. Zum schwierigen Verhältnis von Theorie und Empirie, Wiesbaden 2015. Nolte, Paul: Was ist Demokratie? Geschichte und Gegenwart, München 2012. Rüb, Friedbert W.: Die Herausbildung politischer Institutionen in Demokratisierungsprozessen. In: Merkel, Wolfgang (Hrsg.): Systemwechsel 1. Theorien, Ansätze und Konzeptionen, Opladen 1994, S. 111–137. Strote, Noah Benezra: Lions and Lambs. Conflict in Weimar and the Creation of Post-Nazi Germany, New Haven 2017. Thiel, Ansgar: Soziale Konflikte, Bielefeld 2003. Ullrich, Sebastian: Der Weimar-Komplex. Das Scheitern der ersten deutschen Demokratie und die politische Kultur der frühen Bundesrepublik 1945–1959, Göttingen 2009.

INSTITUTIONEN DER WEIMARER REPUBLIK. BRÜCHE UND KONTINUITÄTEN

UNIVERSITÄT UND DEMOKRATIE Revolutions- und Republikrezeption in der Frühphase der Weimarer Republik Florian J. Schreiner VERGANGENHEIT: KRIEGSNIEDERLAGE ALS ZUSAMMENBRUCH DES WERTEKOSMOS „Der plötzliche, furchtbare Zusammenbruch hat eine allgemeine geistige Verwirrung herbeigeführt, die ein organisches Arbeiten so sehr erschwert, daß man fast verzweifeln möchte.“1 So eröffnete der Rektor der Universität Jena, Prorektor Wilhelm Rein, seine Festrede zum Semesterbeginn des ersten Nachkriegssemesters 1919 vor der versammelten Universität. Damit sprach er ein nationales Trauma an, von dem er glaubte, dass viele seiner anwesenden Kollegen und nicht zuletzt die Studierenden2 es ebenso mitfühlen konnten wie er. Denn zweifelsohne erlebten viele der Universitätslehrer Deutschlands das Kriegsende und die nachfolgende politische Umgestaltung des deutschen Staates als Zusammenbruch der eigenen Ideale und machten im Wesentlichen die Revolution und deren Folgen dafür verantwortlich. Bei der Auseinandersetzung mit den deutschen Universitäten in der Nachkriegszeit des Ersten Weltkriegs wird deutlich, wie sich über das Trauma der Kriegsniederlage akademische und paramilitärische Akteurswelten zu einem Instrument der Einflussnahme auf politischer Ebene im regionalen wie im überregionalen Spektrum verflochten. Diese Formierungsphase im neuen System betraf insbesondere die deutschen Hochschulen, die allein schon organisatorisch tief im untergegangenen Kaiserreich verankert waren. Als die deutschen Länder mit dem Untergang der Monarchien ihre Landesherren und die deutschen Armeen ihre Obersten Feldherren verloren, verloren die deutschen Universitäten dabei gleichermaßen ihre nominellen Rektoren.3 Der Großteil der Studierenden und Dozen-

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Ansprache des Prorektors Wilhelm Rein, gehalten bei der Immatrikulation am 15.2.1919. In: Jenaer Universitätszeitung 4 (1918/19). Im folgenden Beitrag wird der sprachlichen Gleichbehandlung der Geschlechter – wo möglich – mit der Verwendung der Partizipialform („Studierende“, „Lehrende“) Rechnung getragen. Dies bedeutet im Umkehrschluss, dass bei der Verwendung geschlechterspezifischer Sprachbilder („Studenten“, „Akademiker“) explizit die Gesamtheit männlicher Studierender gemeint ist und umgekehrt. Offiziell führten die Universitätsrektoren ihre Universität als sogenannte Prorektoren nur stellvertretend für den jeweiligen Landesherren.

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ten Deutschlands war jedoch auch mental tief im Deutschen Reich verwurzelt und erlebte mit der Kriegsniederlage von 1918 und den harten Friedensbedingungen von 1919 einen Kollaps des eigenen Wertesystems. Schon vor der für die Hochschulen identitätsstiftenden Schlacht bei Langemarck im November 1914 hatten sich die 22 Universitäten des Reiches4 mit dem Aufruf an die Kulturwelt und der Erklärung der Hochschullehrer des Deutschen Reiches mehr oder weniger bedingungslos den Prämissen des Krieges untergeordnet und dies in den vier Kriegsjahren nachhaltig untermauert.5 Insbesondere die patriotisch geprägten studentischen Korporationen förderten durch ihren außergewöhnlich hohen personellen Einsatz einen nationalen politischen Mythos, der die Universitäten und ihre Angehörigen zum „ersten geistigen Waffenplatz“ erklärte und schon während des Weltkriegs von Universität und Gesellschaft öffentlichkeitswirksam tradiert und anschließend vom Militär bereitwillig aufgenommen wurde.6 Der folgende Abriss liefert einen Erklärungsversuch für die vielschichtige Problematik der politischen und sozialen Wandlungsprozesse an der Schwelle von Kaiserreich zu Republik, denen insbesondere Massenorganisationen wie das Militär, die Universitäten aber auch Polizei und Verwaltung unterlagen. Der Fokus auf die Universität als Organisation hat mehrere Gründe: Zum einen versammeln die Universitäten traditionell junge Menschen – in der Frühphase der Weimarer Republik noch weit überwiegend Männer7 – unter ihrem Dach, die in Zukunft mit einer höheren Wahrscheinlichkeit als andere, nicht-akademische Berufsschichten zentrale Funktionen in Staat und Gesellschaft einnehmen werden, womit eine präsumtive Gestaltungskraft der Jungakademiker und – mit historisch bedingt starken Abstrichen – Jungakademikerinnen für das künftige Staatswesen angenommen wird.8 Zum anderen kommt ihr auch deshalb eine Scharnierfunktion innerhalb der sogenannten geistigen und wirtschaftlichen Elite eines Staates zu, da diese oft mittelbar über die Universitäten oder deren Vereine vernetzt ist und die daraus resultierenden Wechselwirkungen eine besondere Betrachtung rechtfertigen.9

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Berlin, Bonn, Breslau, Erlangen, Frankfurt, Freiburg, Gießen, Göttingen, Greifswald, Halle, Heidelberg, Jena, Kiel, Königsberg, Leipzig, Marburg, München, Münster, Rostock, Straßburg, Tübingen und Würzburg. Stand: Februar 1919. Wenig später kamen noch Hamburg und Köln hinzu. Die Karl-Ferdinands-Universität Prag wurde hier ausgeklammert. De facto bestand zwar in der Nachkriegszeit auch eine deutsche Universität in Prag zeitweise fort, mit der Gründung der Tschechoslowakei befand sich diese jedoch nominell nicht mehr auf deutschem Boden und wurde in lokale Übernahme- und Verdrängungskämpfe verwickelt. Vgl. Konrad (2011): Universität Prag. Vgl. Maurer (2015): Universität und Volksgemeinschaft, S. 261–296. Vgl. Weinrich (2009): Langemarck-Mythos. Vgl. Birn (2015): Frauenstudium, S. 118–124. So fanden sich viele Studierende der Weimarer Republik im Nationalsozialismus in staatlichen Funktionen wieder. Vgl. Wildt (2002): Generation des Unbedingten, S. 89–103, sowie jüngst Göllnitz (2018): Student als Führer, S. 517–539. Vgl. Ash (2006): Wissenschaftswandlungen.

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Nicht zuletzt soll die Tatsache, dass die deutschen Universitäten im Kaiserreich und in der Republik auch personell ganz besonders florierten, nicht unbeachtet bleiben.10 Um die Tendenzen, die sich an den deutschen Universitäten der Nachkriegszeit zeigten, erklären zu können wird die Organisation Universität im Folgenden also vorrangig im Hinblick auf ihre gesellschaftliche Funktion als prinzipiell eigenständig handlungsfähiger Kollektivakteur untersucht, während ihre vermeintliche Kernfunktion als Ausbildungsstätte fachlicher Spezialistinnen und Spezialisten einzelner Wissenschaftsdisziplinen in den Hintergrund tritt. Trotz der regionalen und lokalen Besonderheiten der deutschen Universitätslandschaft erhebt die vorliegende Betrachtung – nicht zuletzt über den Zugriff auf das mittels Dachverbänden gut vernetzte akademische Korporationswesen – den Anspruch, Kontinuitäten und Entwicklungslinien sichtbar zu machen, die über eine lokale Phänomenologie hinausgehen. Anhand der Betrachtungskategorien Revolution, Demokratie und Republik wird ein mentalitätsgeschichtlicher Zugang zum stark retrospektiven Selbstbild der Universitäten des Deutschen Reiches in den Nachkriegsjahren versucht und erarbeitet, welche daraus resultierenden Mechanismen ihnen eine neutrale oder gar gestalterische Rolle in einem neuen, demokratischen deutschen Staat weitestgehend verwehrten. GEGENWART: REVOLUTION, DEMOKRATIE UND REPUBLIK ALS TRAUMA Eine erste Betrachtung muss daher dem Zusammenbruch des wilhelminischen Deutschlands in der Revolution von 1918/19 gelten. Für viele Akademiker wurde bereits kurz nach den Novemberereignissen der militärische und politische Zusammenbruch des Kaiserreiches zur Folge der Revolution, nicht etwa die Revolution Folge des Zusammenbruchs. Durch diese Verkehrung von Ursache und Wirkung wurde die Umgründung des Staates11 zu einem Verstoß gegen geltendes Recht degradiert, der, wenn schon nicht mehr rückgängig zu machen, dann doch zu korrigieren sei. Jener „Rechtsbruch im November“ sei maßgeblich für die „unheilvollen Zustände – von manchen Neue Zeit genannt – die sich mehr und mehr in unserem Vaterlande entwickelt haben“12 meinte der renommierte Ägyptologe Friedrich von Bissing13 aus München zu wissen. Dementsprechend wurde auch das aus diesem

10 Vgl. Jarausch (2012): Studenten, S. 129. 11 Vgl. Braune (2016): Konstitutionalisierungsforschung, S. 24–26. 12 Brief Prof. Bissing an den Senat der Ludwig-Maximilians-Universität, 19.5.1919. UAM GXVI–5. 13 Friedrich Wilhelm von Bissing (1873–1956) lehrte ab 1901 klassische Archäologie und Ägyptologie an der Ludwig-Maximilians-Universität in München und Utrecht (ab 1922). Zeitweise gehörte er dem universitären Senat in München an. 1925 wurde er Mitglied in der

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„Rechtsbruch“ hervorgegangene politische System zum Stein des Anstoßes. Dabei wurde das Begriffspaar Demokratie und Republik, von der in aller Regel nationalkonservativen Professorenschaft nahezu synonym verwendet und negativ konnotiert. Theologieprofessor Hermann Jordan14 glaubte demgemäß „nicht, daß die Republik die Staatsform ist, mit der wir vorwärts kommen“ und empfahl, sich von „dem einseitigen demokratischen Ideal“15 loszusagen. Rektor Friedrich Brunstäd16 von der Universität Rostock galt die Demokratie im ersten Nachkriegsjahr als „ein kultureller Tiefstand […] ein grauer, individualistischer Zivilisationsbrei“17, der mit der nationalen Idee unvereinbar sei. Solche Äußerungen waren kein Einzelfall, sondern zogen sich nahezu durch die gesamte deutsche Universitätslandschaft.18 Gegenteilige Stimmen wurden häufig marginalisiert oder führten – falls ersteres nicht möglich war – zu intensiven Anfeindungen.19 Angesichts dieser düsteren Gegenwartsbeschreibungen mutierte das untergegangene Kaiserreich für viele Universitätsangehörige bald zum Sehnsuchtsort. Durch eine Flucht in das Vergangene sollte die vermeintlich trostlose Gegenwart im Schatten von Kriegsniederlage und Versailles verarbeitet werden. Oft hingen die Universitätsleitungen auch noch lange monarchistischem Gedankengut an. So wurde das Amt des Prorektors, der die Universitäten im deutschsprachigen Raum offiziell stellvertretend für den Landesfürsten führte und traditionell von diesem bestätigt wurde, auch in den ersten beiden Jahren der Weimarer Republik demonstrativ von einigen Amtsinhabern an deutschen Universitäten weitergeführt, obwohl der ehemalige König oder Landesfürst längst nicht mehr im Lande war. Dementsprechend lehnten es beispielhaft die Rektoren aller bayerischen Universitäten vorerst ab, nach der Abdankung des letzten Wittelsbacher Königs Ludwig III. den Titel des Rektors anzunehmen, da dies „den Eindruck erweckt, daß wir damit die Brücke zur Vergangenheit endgültig abbrechen.“20Auch die umbenannte Gesamtuniversität Jena nannte bis einschließlich Wintersemester 1920/21 „sei-

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NSDAP und unterhielt unter anderem Kontakte zu Rudolf Heß. 1937 wurde er aus der NSDAP aufgrund seines Engagements für die protestantische Kirche in Bayern ausgeschlossen. Seine große Privatsammlung bildet heute den Kernbestand des Staatlichen Museums Ägyptischer Kunst in München. Hermann Jordan (1878–1922) war von 1907 bis 1922 Professor für Kirchengeschichte an der protestantischen Friedrich-Alexander-Universität in Erlangen. Jordan (1919): Wie kam es?, S. 64. Friedrich Theodor Brunstäd (1883–1944) war von 1925 bis 1944 Professor für systematische Theologie in Rostock und ab 1930 Universitätsrektor. Bis 1929 führte er regelmäßig Wahlkampf für die Deutschnationale Volkspartei (DNVP). Brunstäd (1921): Völkisch-nationale Erneuerung, S. 11. Vgl. Schwarz (1971): Studenten; Töpner (1966): Zusammenbruch. So geschehen bei dem renommierten Soziologen und Nationalökonomen Max Weber (1864– 1920) in München, der öffentlich den Mord an USPD-Ministerpräsidenten Kurt Eisner und die Begnadigung von dessen Mörder kritisiert hatte. Vgl. Kaesler (2014): Weber, S. 893–895. Typoskript des Tagebuchs von Prof. Dr. Max Busch, Eintrag vom 25.1.1919. UAE G1/94 Nr. 2.

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ne königliche Hoheit Großherzog Wilhelm Ernst von Sachsen“21 als Universitätsrektor. Die retrospektive Weltsicht blieb nicht auf die Universitätsleitungen beschränkt, sondern fand vielerorts auch Einzug in den universitären Festkalender und das Universitätsleben. Im Beschluss einer Senatssitzung der kleinen fränkischen Universität Erlangen vom Januar 1919 wurde protokollarisch festgehalten: „Es wird in Aussicht genommen, am Schluß des Hochschuljahres (beim nächsten Prorektoratswechsel) dem Dank der Universität gegen den König Ludwig III. Ausdruck zu geben.“22 Dem war eine Diskussion darüber vorangegangen, ob am 18. Januar wie üblich der Tag der Reichsgründung als Festakt begangen werden sollte, was lediglich deshalb ausfiel, weil entsprechende Räumlichkeiten noch fehlten. Der Senat sprach darüber explizit sein Bedauern aus, unterstrich aber, „für die Zukunft [sei] eine solche Feier zur Bekämpfung zentrifugaler Bestrebungen und Hebung des im Schwinden begriffenen Nationalgefühls“23 durchaus angebracht. Der Großteil der Universitätsangehörigen, insbesondere die Dozenten, gehörte in der Frühphase der Weimarer Republik mithin einem national-konservativen, zum Teil anti-demokratischen oder monarchistischen politischen Milieu an.24 Die Gründe dafür sind offenkundig: Die meisten von ihnen waren zwischen 1850 und 1870 geboren und dementsprechend nahezu durchgängig im Deutschen Kaiserreich oder einem der ihm eingegliederten Teilstaaten sozialisiert worden, in dessen Staatsdienst sie in der Regel ihre gesamte berufliche Laufbahn verbracht hatten.25 Auch deshalb hatte die Kriegsniederlage und der damit einhergehende Kollaps der bisherigen politischen Ordnung die Universitätslehrer besonders hart getroffen. Die Mehrheit wählte 1919 die teils monarchistische Deutschnationale Volkspartei (DNVP) oder später die NSDAP.26 In einzelnen Fällen ging die Stimmungsmache gegen das neue System oder deren Repräsentanten sogar so weit, dass sich die Universitätsleitung dazu gezwungen sah, ihren Lehrkörper durch ein Rundschreiben darauf hinzuweisen, dass die Universität ein grundsätzlich unpolitischer Raum sei und sie „jedwede parteipolitische Agitation vom

21 Übersicht der Rektoren, Prorektoren und Dekane der Universität Jena 1918–1933. In: Bräuer/ Faludi (2013): Universität Jena, S. 419–421. Von den 21 deutschen Universitäten führten mindestens folgende den Titel des Prorektors noch bis wenigstens in das Sommersemester 1920 weiter: Universität Erlangen, Universität Jena, Universität Heidelberg, Universität Tübingen, Universität Würzburg, Universität München. 22 Senatsmissive vom 24.1.1919, Universitätsarchiv Erlangen (UAE), A1/3 Nr. 236. 23 Senatsmissive vom 23.12.1918, Ebd. 24 Vgl. Jansen (1992): Professoren, S. 143–188. 25 Vgl. für die Universitäten Gießen, Straßburg und Berlin exemplarisch Maurer (2015): Universität und Volksgemeinschaft, S. 88–130. 26 Vgl. Langewiesche (1992): Universität Tübingen; Franze (1993): Erlanger Studentenschaft, S. 48–55.

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Lehrstuhl herab missbilligt.“27 Im konkreten Fall an der Universität Jena konnte sich der später durch seine Rassenlehre bekannt gewordene Zoologe Ludwig Plate28 einen schwungvollen Antwortbrief an seinen Prorektor nicht verkneifen: 1.) Wenn ich mich [...] zur Monarchie bekannte, so ist dies mein gutes Recht, denn nach §118 der Verfassung hat jeder Deutsche das Recht seine politische Meinung öffentlich zu vertreten. 2.) Wenn ich meine Studenten zu Anfang einer Vorlesung aufgefordert habe [...] gegen die Sozialdemokratie ihre Stimme abzugeben, so ist es geschehen, weil die rote Mehrheit die Studentenschaft beschimpft und sich in vieler Hinsicht höchst unerfreulich gegen die Universität benommen hat.29

Dies macht deutlich, dass die politische Werthaltung der Professoren auch in die Hörsäle der einzelnen Fachbereiche drang und dort ihre Wirkung entfaltete. Die Jenaer Studentenschaft wandte sich in diesem Sinne im Sommersemester 1919 gar an den ehemaligen kaiserlichen Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg und betonte, nachdem sie sich für dessen außerordentliches Engagement und seine Verdienste im Weltkrieg bedankt hatte, in dessen Geiste an der Zukunft des deutschen Vaterlandes mitarbeiten zu wollen.30 Im Falle der Universitäten bedeutete diese Ablehnung von Revolution und Weimarer Republik aber nicht den Rückzug in die Hörsäle, wie die Analyse der Organisation als politischer Akteur der Nachkriegszeit zeigt. ZUKUNFT: FORTGEFÜHRTER KAMPF ALS HOFFNUNGSTRÄGER Die Akademiker verarbeiteten die mentale Katastrophe der Kriegsniederlage häufig dadurch, dass sie die andauernde Siegesabsicht auf einen innerdeutschen Kampf transponierten. Das Proletariat habe „durch den schädlichen Einfluss des Internationalismus und eine starke Beimischung slawischen Blutes die politische Gestaltungskraft verloren“31, so der evangelische Theologe Friedrich Brunstäd, woraus sich ein entsprechender Auftrag der Universitäten ableiten lasse. Diese

27 Rundschreiben des Rektors Justus Wilhelm Hedemann an alle Dozenten bezüglich der parteipolitischen Agitation von Lehrkörpern innerhalb der Universität, 12.12.1919. UAJ Best. BA, Nr. 947, Bl. 24. 28 Ludwig Plate (1862–1937) war von 1909 bis 1934 Direktor des Zoologischen Institutes in Jena. Er wurde mit seinen zahlreichen Veröffentlichungen zur Abstammungslehre und ‚Rassenhygiene‘ in den 1920er Jahren zu einem der wissenschaftlichen Wegbereiter der Rassenlehre des Nationalsozialismus. 29 Stellungnahme des Zoologen Ludwig Plate zum Rundschreiben des Rektors Julius Wilhelm Hedemann, 15.12.1919. UAJ Best. BA, Nr. 947, Bl. 29–30. 30 Vgl. Jenaer Studentenschaft an v. Hindenburg. In: Jenaer Universitätszeitung 10 (1919), S. 106 f. 31 Brief Prof. Bissing an den Senat der Ludwig-Maximilians-Universität, 19.5.1919. UAM GXVI–5.

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mentale Konstruktion schlug die Brücke vom Krieg zur Gegenwart und schuf damit explanatorisch die Grundlage für die Stellung der Universitäten zu den zahlreichen Nachkriegskämpfen der jungen Republik. Konsequenterweise stellte der Tübinger Rektor Johannes Haller im Februar 1919 fest: „Noch ist ja der Krieg gar nicht zu Ende, noch sind Deutschlands Grenzen von neuen Feinden bedroht, die es abzuwehren gilt“ und weiter: „Je mehr unser gedankenlos dahinlebendes Völkchen, von törichten und böswilligen Schwätzern verführt, sich in dem Wahne schaukelt, der Krieg sei vorbei, umso lauter müssen wir widersprechen.“32 Dazu bedienten sich viele Akademiker eines Kunstgriffes, in dem die zuvor national geprägten Feindbilder nun politisch-ideologischen Feindbildern wichen. Was vorher ‚der Franzose‘, ‚der Engländer‘ und ‚der Russe‘ war, wurde nun ‚der Bolschewist‘, ‚der Spartakist‘, ‚der Anarchist‘. Das Feindbild änderte sich also von außen nach innen, wurde von einer nationalen Ebene auf eine ideologische Ebene transferiert. Der sprachliche Duktus änderte sich derweil nicht, er folgte nach wie vor der Logik des Krieges. Weiterhin sollte ‚befreit‘, ‚verteidigt‘, für einen ‚Sieg‘ ‚gekämpft‘ und ‚geopfert‘ werden.33 „Die entscheidende Frage“ bestehe darin, „ob sich wieder große Führer deutschen Blutes finden, die die Flamme nationalen Lebens lebendig erhalten über die Jahre der Not und Armut hinweg zu besseren Zeiten.“34 So hielt Medizinprofessor Molitoris noch am Ende des ersten Friedensjahres 1919 fest: „Wohl nur die Begeisterung für die Sache und die […] Hoffnung auf den Endsieg Großdeutschlands, trotz des mir unfaßbaren Verhaltens der von jüdischem Geiste durchseuchten parlamentarischen Mehrheit einer schwächlichen Regierung, lassen mich den […] Belangen […] gerecht werden.“35 Der erwähnte Biologieprofessor Ludwig Plate sah die Funktion des modernen Zoologen 1919 darin, seine Studenten auf die grossen Sorgen und Nöte des Vaterlandes hinzuweisen denn er ist nicht bloß Lehrer einer Fachwissenschaft, sondern auch Erzieher der Jugend und soll diese zu charaktervollen, patriotischen Männern heranbilden, welche die Pflicht in sich fühlen mitzuwir36 ken an der Befreiung des Vaterlandes aus dem jetzigen Elend.

Auf wen die Dozenten in diesem Zeitenbruch die eigenen patriotischen Siegeshoffnungen projizierten lässt sich insbesondere in den Rektoratsreden der Nachkriegsjahre ablesen. So verkündete der Rektor der Ludwig-MaximiliansUniversität München zum Wintersemester 1920:

32 Haller (1919): Tod und Auferstehung, S. 5 f. 33 Auch dies ist eine Ausprägung der sog. ‚Präsenz des Krieges im Frieden‘. Vgl. Krumeich (2002): Präsenz des Krieges, S. 7–18. 34 Brunstäd (1921): Völkisch-nationale Erziehung, S. 11. 35 Eintragung ins Goldene Buch der Universität Erlangen von Prof. Hans Molitoris am 27.12.1919, UAE, Goldenes Buch, Nr. 130. Vgl. zu antisemitischen Haltungen auch Hammerstein (1995): Antisemitismus, S. 83–94. 36 Stellungnahme des Zoologen Ludwig Plate zum Rundschreiben des Rektors Julius Wilhelm Hedemann, 15.12.1919. UAJ Best. BA, Nr. 947, Bl. 29–30.

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Florian J. Schreiner In den inneren Kämpfen kann und darf uns kein Gesetz die Neutralität verbürgen. […] Wir können nur die Faust des Mannes drücken, der mit uns bereit ist, dem Vaterlande, wenn es ruft, Gut und Blut zu Opfern. Die Wirklichkeit zeigt uns nicht nur Schwäche, sondern auch Kraft. Aus hunderten klarer Jünglingsaugen blitzt Sie mir entgegen. So ist der Schmerz nicht ohne Trost. Unsere gefallenen Kommilitonen ehren wir, auf die lebenden hoffen wir. Mögen Sie und die nach Ihnen kommen, den Sang der spartanischen Epheben zu den Ihrigen ma37 chen: Helden waren unsere Väter, wir aber werden größere sein!

Auch dessen Amtskollege von der Universität Tübingen suchte seinen Trost bei der heimkehrenden Studentenschaft, während sein Greifswalder Amtskollege das Fazit zog, dass sich die Universitäten „in den politischen Kampf hineinbegeben müssen.“38 Trotz der hohen Kriegsverluste und Gefallenenzahlen39 vieler Corps, Burschenschaften und Verbindungen erhielt das Universitätsleben mit der Rückkehr der ehemals im Feld Stehenden bald neuen Aufschwung. Schon bald konnten die studentischen Korporationen wieder ihr gewohntes Verbindungsleben aufnehmen und die Ämter und Chargen, die dafür notwendig waren, durch den regen Zulauf und die Rückkehr vieler Kriegsteilnehmer neu besetzen. Dies führte dazu, dass sich auch große Teile der über die Korporationen reichsweit gut vernetzten Studierendenschaft bald zu den politischen Neuerungen positionierten. Per definitionem waren die deutschen Studentenverbindungen – mit Ausnahme der Burschenschaften – zwar unpolitisch, dennoch entwickelten viele Korporationen in den ersten beiden Nachkriegsjahren eine mindestens regionale reaktionäre bzw. konterrevolutionäre Strahlkraft. In der Konsequenz nannten viele Verbindungschroniken als „dringlichste Aufgaben“ der Korporationen in einer „Zeit, wo der Klassenkampf jede Annäherung an den Arbeiter schier unmöglich machte“ die Aufklärung über „die Gefahren des Marxismus“ und den „Kampf gegen den Bolschewismus.“40 Der dadurch fortgeführte Kampf und seine Mittel jedoch blieben im gängigen Narrativ wie in der Praxis die gleichen, was viele Angehörige der Kriegsjugendgeneration in die zahlreichen paramilitärischen Formationen der Weimarer Republik trieb. Erste Ausprägungen der Bereitschaft zu umfassender akademisch-militärischer Kooperation war die aktive Unterstützung der Freikorps und Freiwilligenformationen der Regierungen Ebert und Scheidemann bis zum Sommer 1919. Obwohl an den Hochschulen mit der allmählichen Rückkehr der zuvor im Kriegsdienst abwesenden Dozenten und Studenten die Hoffnung verbunden war, dass sich die Hörsäle wieder füllten und der akademische Alltag wieder normalisiert werden könne, fand Gustav Noskes Aufruf an die akademische Jugend Preußens zum Eintritt in Freiwilligenformationen an den Universitäten fruchtbaren Boden:

37 Rektoratsrede Prorektor Prof. Dr. Reinhard Frank, 27.11.1920, UAM Slg-XVII M-I–720. 38 PelsLeusden (1919): Festrede, S. 15. 39 Bezogen auf die Universitätsstudentenschaft etwa 25% Gefallene bei einem Gesamtdurchschnitt von circa 16 % im Deutschen Heer. Vgl. Weber (2014): Studenten, S. 911. 40 Höhne (1936): Bubenreuther, S. 85.

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Noch einmal ruft das Vaterland seine waffenfähige junge Männerschaft. Noch einmal heißt es: Freiwillige vor! Heute winken keine Siegeskränze, heute trägt euch nicht der Aufschwung eines in erster Kriegsnot geeinten Volkes. Heute reißt keine Begeisterung euch fort, noch zwingt das Gebot der Allgemeinen Wehrpflicht. Die gereifte Jugend ergreift freiwillig die Waffen, weil sie den furchtbaren Ernst unserer Lage erkennt und weiß, was die Pflicht der Selbsterhaltung von ihr fordert. Die deutsche Wehrmacht liegt in Trümmern, die Flut des Bolschewismus droht unseren Grenzwall im Osten zu durchbrechen, die Hydra der Anarchie und des Bürgerkrieges erhebt im Innern ihr Haupt. Rette dein Vaterland, deutsche Jugend! Der ganzen deutschen Jugend aller Stände gilt unser Ruf auch auf diesem ernsten Weg füh41 rend voranzugehen!

Angeführt von den oft untereinander konkurrierenden Verbindungen und in der Regel unterstützt von Rektorat und Senat fanden sich viele Studenten daher in Freikorps und anderen Freiwilligenverbänden wieder und hatten dadurch Anteil an zentralen militärischen und politischen Ereignissen der ersten Jahre des neuen Staates. Auf dieser Grundlage waren viele Studenten bereit, den Kampf erneut aufzunehmen oder fortzuführen und die Administration der Universitäten tat gleichsam ihr Möglichstes, diese Absichten zu unterstützen und zu honorieren.42 Die Zusammenarbeit zwischen Universität und Reichswehr beschränkte sich nicht auf die Entsendung von Personal, sondern betraf darüber hinaus auch Organisation und Struktur der universitären Abläufe. So wurde unter anderem der Semesterrhythmus an die politisch-militärische Lage angepasst und der Vorlesungszeitraum bei Bedarf verschoben oder gar unterbrochen.43 Die Verflechtung akademischer und militärischer Akteurswelten in der Nachkriegszeit des Ersten Weltkrieges war gleichwohl keine Kooperation auf Augenhöhe, sondern wurde stets von einem Primat des Militärs bestimmt, das sich die Universitäten selbst auferlegten. An diese von der Reichswehr außerordentlich wertgeschätzten Maßnahmen wurde insbesondere nach der Erfahrung der Niederschlagung der Rätebewegung im Frühjahr 1919 durch einen Ausbau des studentischen Freiwilligenwesens angeknüpft. Die im Zuge dessen entstandenen militärischen Universitätsverbände, die reichsweit über 10.000 Studierende umfassten und direkt an einigen Hochschulen angesiedelt wurden, stellten ein Novum in der deutschen Universitätsge-

41 Aufruf „An die akademische Jugend Preußens!“ vom 13.3.1919. GStA PK, I. HA Rep. 76 Sekt. 1 Tit. I Nr. 1, Bd. IV, Bl 156. 42 Vgl. Paletschek (2001): Universität Tübingen, S. 509–514. 43 Das Rektorat der Universität Würzburg nutzte zu folgender Mitteilung gar einen Vordruck, in den lediglich der Name des jeweiligen Freikorps eingefügt werden musste, um sich unnötige Schreibarbeit zu ersparen: „An den Herrn Kommandeur des Freikorps Bamberg. Ich ersuche, die in Ihrem Freikorps befindlichen Studenten, die im Sommer-Semester an der Universität Würzburg studieren wollen, aber bis über den 10. Juni hinaus nachweislich beim Freikorps festgehalten sind, darauf aufmerksam zu machen, daß für sie ausnahmsweise eine schriftliche Belegung der Plätze vom 10. Juni ab möglich ist. Dies hätte durch eine mit dem Dienstsiegel des Freikorps versehene Zuschrift an das betr. Institut zu geschehen. G. Rost“. Brief Rektorat Würzburg an das Freikorps Bamberg, 25.5.1919, BayHStA Abt. IV: KA, Freikorps 3, Mobiles Freikorps Bamberg.

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schichte dar.44 Diese waren ebenfalls von den akademischen Korporationen beherrscht und wurden – dort wo sie entstanden – von Universitätsleitung und Lehrkörper aktiv unterstützt. Dementsprechend vereinten sie die Werthaltungen und politischen Denkstile, die die Universitäten auch über das Kriegsende hinaus bestimmten und zu einem Spannungsverhältnis zwischen organisierter Arbeiterschaft und Bildungsbürgertum führten, das sich in den Gewalteruptionen der Märzunruhen 1920 folgenschwer entlud.45 FAZIT Die für die Akademiker im Wortsinne undenkbare Kriegsniederlage wurde im Nachkrieg in eine sinnstiftende Erzählung transferiert, in der nicht sein konnte was nicht sein durfte: Durch die Substituierung von Ursache und Wirkung wurde der militärische und politische Zusammenbruch des Systems zur Folge der Revolution und nicht umgekehrt. Dadurch erfuhr auch das neue politische System eine breite Ablehnung unter der Dozentenschaft, die monarchistische, reaktionäre und konterrevolutionäre Werthaltungen mit den Studierenden teilten. Diesem Narrativ entsprechend war auch der Kampf noch nicht beendet, er hatte sich lediglich verändert. Die alten nationenbezogenen Feindbilder der Universitätsangehörigen wichen in diesem Prozess neuen, politischen Feindbildern, die ansonsten nahtlos in den Sprach- und Verhaltenskodex des Weltkriegs eingepasst wurden. Die Siegeshoffnungen mussten dadurch nicht begraben werden, sondern hatten lediglich einen gedanklichen Transfer durchlaufen, wonach sie nun auf die innerdeutschen Verhältnisse projiziert wurden. Erst nach der gewaltsamen Niederschlagung weiterer revolutionärer Tendenzen in den Jahren 1919 bis 1921 und der Stabilisierung der innerdeutschen Verhältnisse der Folgejahre ließ die dauerhafte Präsenz des Krieges und das damit verbundene Primat des Militärs auch an den Universitäten nach, ehe dies Ende der 1920er Jahre auf eine wissenschaftliche Ebene umgemünzt wurde.46 Mit den im Zuge dessen entstehenden Wehrwissenschaften nahm eine Bellifizierung der Universität ihren Anfang, die ihren Höhepunkt im Zweiten Weltkrieg erreichte, in Teilen jedoch sogar bis in den Kalten Krieg fortbestand und ihre Wurzeln in der Selbstmobilisierung der Universitäten während und nach dem Ersten Weltkrieg hatte.

44 Vgl. Schreiner (2017): Langemarck, S. 321–323. 45 Vgl. Heither /Schulze (2015): Mechterstädt, S. 101–125. 46 Vgl. Reichherzer (2012): Wehrwissenschaften, S. 43.

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QUELLEN Ansprache des Prorektors Wilhelm Rein, gehalten bei der Immatrikulation am 15.2.1919. In: Jenaer Universitätszeitung 4 (1918/19). Aufruf „An die akademische Jugend Preußens!“ vom 13.3.1919. GStA PK, I. HA Rep. 76 Sekt. 1 Tit. I Nr. 1, Bd. IV, Bl 156. Brief Prof. Bissing an den Senat der Ludwig-Maximilians-Universität, 19.5.1919. UAM G-XVI-5. Brief Rektorat Würzburg an das Freikorps Bamberg, 25.5.1919, BayHStA Abt. IV: KA, Freikorps 3, Mobiles Freikorps Bamberg. Eintragung ins Goldene Buch der Universität Erlangen von Prof. Hans Molitoris am 27.12.1919, UAE, Goldenes Buch, Nr. 130. Jenaer Studentenschaft an v. Hindenburg. In: Jenaer Universitätszeitung 10 (1919) Rektoratsrede Prorektor Prof. Dr. Reinhard Frank, 27.11.1920, UAM Slg-XVII M-I-720. Rundschreiben des Rektors Justus Wilhelm Hedemann an alle Dozenten bezüglich der parteipolitischen Agitation von Lehrkörpern innerhalb der Universität, 12.12.1919. UAJ Best. BA, Nr. 947, Bl. 24. Senatsmissive vom 24.1.1919, Universitätsarchiv Erlangen (UAE), A1/3 Nr. 236. Stellungnahme des Zoologen Ludwig Plate zum Rundschreiben des Rektors Julius Wilhelm Hedemann, 15.12.1919. UAJ Best. BA, Nr. 947, Bl. 29–30. Typoskript des Tagebuchs von Prof. Dr. Max Busch, Eintrag vom 25.1.1919. UAE G1/94 Nr. 2.

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ZIVILGESELLSCHAFT UND PARLAMENT IN DER POLITISCHEN WILLENSBILDUNG DER WEIMARER REPUBLIK Das Beispiel der Regulierung des Aktienrechts Felix Selgert 1. EINLEITUNG Die Verfassungswirklichkeit der Weimarer Republik wies erhebliche Strukturdefizite auf, die die parlamentarische Willensbildung erschwert und letztendlich zum Scheitern der Republik beigetragen haben.1 So erlaubte die Etablierung einer präsidialen Reserveverfassung den Parteien, sich aus der Verantwortung zur politischen Willensbildung zurückzuziehen.2 Erschwert wurde die Kompromissfindung der Parteien zudem durch die enge Bindung zwischen politischen Parteien und Interessengruppen.3 In diesem Zusammenhang wird immer wieder auf die Einflussnahme der organisierten Wirtschaft auf politische Entscheidungsprozesse hingewiesen.4 Diese Vernetzung von Politik und organisierter Wirtschaft wurde von Jürgen Kocka und anderen Historikern mit dem Begriff Organisierter Kapitalismus gekennzeichnet.5 Nichtsdestotrotz sind die vierzehn Jahre der Weimarer Republik auch eine Phase, in der sich die gesellschaftliche Partizipation an politischen Entscheidungsprozessen immer weiter ausbreitete. Hier setzte sich eine Tradition fort, die bereits im Kaiserreich begann und erst mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten endete. Im Folgenden möchte ich diese These anhand der Gesetzgebung in Bezug auf den Aktionärsschutz und die Offenlegungsstandards von Aktiengesellschaften genauer skizzieren. In diesem Sinne soll im Folgenden der Frage nachgegangen werden, wie demokratisch Entscheidungsprozesse im Deutschen Kaiserreich, der Weimarer Republik und dem Dritten Reich abliefen. Dezidiert wird dabei auch auf die Bedeutung der organisierten Wirtschaft auf die politische Willensbildung eingegangen.

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Überblick bei: Kolb (2012): Weimarer Republik, S. 160–161. Zum Begriff: Schulze (1982): Weimar, S. 432; Oberreuter (1984): Norm; Stürmer (1993): Parteienstaat. Stürmer (1993): Koalition. Grübler (1982): Spitzenverbände; Neebe (1981): Großindustrie; Weisbrod (1978): Schwerindustrie. Kocka (1974): Organisierter Kapitalismus. Für die Weimarer Zeit: Maier (1974): Strukturen.

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Der Demokratiebegriff ist dabei weit gefasst, indem er nicht nur auf die Beteiligung der Parlamente am politischen Entscheidungsprozess beschränkt bleibt. Zusätzlich soll auch die Möglichkeit freier Einflussnahme möglichst vieler gesellschaftlicher Akteure auf den politischen Entscheidungsprozess unter den Demokratiebegriff fallen. Anders gewendet fällt also auch die Tatsache, inwiefern politische Entscheidungsträger wie Abgeordnete, Minister und Ministerialbeamte unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen gegenüber verantwortlich sind, ebenfalls unter den Demokratiebegriff. Die Argumentation dieses Beitrags geht auf das von der DFG geförderte Projekt „Die Beherrschung der Aktiengesellschaft“6 zurück. Das Projekt hat sich mit dem Einfluss verschiedener Akteursgruppen auf wirtschaftspolitische Entscheidungsprozesse im Bereich des Aktienrechts zwischen 1870 und 1937 auseinandergesetzt. Einige Teilergebnisse sollen an dieser Stelle thesenhaft vorgestellt werden. 2. DIE REGULIERUNG DES AKTIENRECHTS ZWISCHEN 1870 UND 1937 Die nachfolgenden Aussagen in Bezug auf die Position der Weimarer Republik in der deutschen Demokratiegeschichte zwischen 1870 und 1939 beziehen sich auf meine Analyse wirtschaftspolitischer Entscheidungsprozesse im Bereich des Aktienrechts.7 Im Untersuchungszeitraum (1870 bis 1937) unterlag das deutsche Aktienrecht einem deutlichen Wandel. Dies lässt sich insbesondere an der Entwicklung des gesetzlichen Aktionärsschutzes und der Offenlegungsvorschriften beobachten, die in Abbildung 1 schematisch dargestellt ist. Die Abkürzung SQ steht dabei für den gesetzgeberischen Status Quo, die tiefer gestellte Zahl gibt das Jahr der Gesetzesänderung an. In der Periode zwischen 1870 und 1937 ist eine deutliche Verschiebung beider Elemente zu beobachten. Während Aktionärsschutz und Offenlegungsvorschriften im Jahr 1870 noch kaum existierten, konzentrierte sich die Gesetzgebung des Kaiserreichs in den Jahren 1884 und 1897 hauptsächlichen auf den Ausbau von Aktionärsrechten. Dies beinhaltete das Recht der Generalversammlung, die Arbeit von Aufsichtsrat und Vorstand zu kontrollieren und bei Verletzungen ihrer Sorgfaltspflicht und Schädigung der Aktionäre auf Schadensersatz zu klagen. Diese Rechte standen nicht nur der Generalversammlung als Ganzes, sondern auch einer Minderheit von Aktionären zu, die 10–20% des Grundkapitals vertreten musste. Offenlegungsvorschriften machten die Aktienrechtnovellen von 1884 und 1897 dagegen kaum. Der Vorstand wurde lediglich dazu verpflichtet, einen

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BU 1805 8/1. Siehe dazu: Selgert (2019): Investorenschutz; Selgert (2018): Entscheidungsfindung. Einen Überblick über die Gesetzgebung geben auch: Schubert/Hommelhoff (1985): Modernes Aktienrecht; Schubert (1986): Quellen, Bd. 1; Schubert et al. (1986): Akademie; Schubert (1987): Aktienrechtsreform; Schubert (1999): Weimarer Republik.

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Geschäftsbericht zu ver erfassen und eine Bilanz inklusive Gewinn- und Verlustrechnung aufzustellen. Die D genauen Inhalte des Geschäftsberichts und un der Aufbau inzelnen Aktiengesellschaft jedoch freigestellt. llt. der Bilanz waren der ein

ng des deutschen Corporate Governance Systems, 1870 70–1937 Abb. 1: Entwicklung

Nach dem Ersten Weltk ltkrieg wurde das Aktienrecht zwar nicht nove velliert, jedoch uristen so weiterentwickelt, dass sich die aktienrechtliche akt durch Unternehmensjuri 20er Jahre deutlich von der Praxis der Vorkrie riegszeit unterPraxis am Ende der 1920 ehung von Mehrstimmrechts- und Vorratsakti ktien nahm der schied. Mit der Entsteh a die Geschäftspolitik der Gesellschaft mehr me und mehr Einfluss der Aktionäre auf K ab. Im Vergleich zum Kaiserreich ging in den 1920er Jahren auch die Bereitschaft ten zur freiwilligen Offenlegung von Geschäf äftsinformatioder Aktiengesellschaften nen zurück. Gegen Mitte itte der 1920er Jahre begann sich aus den Reihe ihen der Privatbanken und Aktionäre, der Handelspresse und Teilen der Juristens nschaft Widerstand gegen diese Entwic icklung zu organisieren. Den Anstoß zu einem em gesetzgebea rischen Eingriff gaben aber erst verschiedene Bilanzskandale sowie die Weltwirtschaftskrise ab dem Jahr Jah 1929. Das Scheitern der Regierung Brü rünings führte jedoch dazu, dass der schon sc sehr weit gediehene Aktienrechtsentwur urf der Weimafa rer Republik nicht mehr den Weg in die ordentliche Gesetzgebung fand. Lediglich rfs wurden im Jahre 1931 per Präsidialverordn dnung erlassen. einige Teile des Entwurf ustand des Aktionärsschutzes nichts, führte abe ber verschärfte Letztere änderte am Zus e Insbesondere machte die Verordnung det etaillierte VorOffenlegungsstandards ein. schriften über den Aufb fbau der Bilanz, der Gewinn- und Verlustrec echnung sowie über den Inhalt des Gesc schäftsberichts. Die Aktiengesetzref reform des Jahres 1937 sanktionierte schließ eßlich die Entäre zu Gunsten des Vorstands und bestätigte te die Offenlemachtung der Aktionäre

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gungsvorschriften der Präsidialverordnung von 1931.8 Für den Untersuchungszeitraum ist also eine Verschiebung des Corporate Governance Systems, von einem die Aktionärsrechte betonenden System hin zu einem auf Offenlegungsstandards fokussierenden Kontrollsystem, festzustellen, die bis in die 1990er Jahre Bestand hatte. 3. THESEN ZUR POSITION DER WEIMARER REPUBLIK IN DER DEUTSCHEN DEMOKRATIEGESCHICHTE Der im vorangegangenen Abschnitt skizzierte Gesetzgebungsprozess war in allen drei politischen Systemen (Kaiserreich, Weimarer Republik, Drittes Reich) von einer intensiven Debatte begleitet, die sowohl in der Publizistik, den Parlamentsdebatten und Ausschusssitzungen sowie in den Ministerien zahlreiche Spuren hinterlassen hat. Dadurch war es möglich, den gesetzgeberischen Verhandlungsprozess aus der Überlieferung der Reichsämter und Reichsministerien, der Länderministerien, des Reichstages und des Bundesrats sowie der zeitgenössischen Publizistik zu rekonstruieren.9 Des Weiteren erlauben die Quellen, den Einfluss unterschiedlicher politischer Institutionen, des sich verändernden makroökonomischen Umfelds sowie verschiedener Experten- und Interessengruppen auf den Gesetzgebungsprozess zu untersuchen. Neu ist diesem Ansatz dabei nicht nur das Miteinbeziehen politischer Institutionen und des wirtschaftlichen Umfelds in die Analyse, sondern auch die Tatsache, dass diese Studie versucht, den Einfluss möglichst aller sich an der politischen Debatte beteiligenden Gruppen auf den Gesetzgebungsprozess zu berücksichtigen. Hierzu zählen neben der an der Leitung von Aktiengesellschaften beteiligten Personengruppen vor allem Bankiers und Juristen, aber auch Handelsjournalisten, Arbeitervertreter und natürlich die Aktionäre selbst. Der sich so ergebende komplexe Analyserahmen lässt auch Aussagen über die Position Weimars in der deutschen Demokratiegeschichte zwischen 1870 und 1939 zu, die im Folgenden skizzenhaft präsentiert werden sollen. 1. Der Entscheidungsprozess im Kaiserreich weist deutlich demokratische Elemente auf. Dies gilt insbesondere für die Beteiligung der Parlamente, weniger

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Formal schaffte das Aktiengesetz von 1937 Mehrstimmrechtsaktien ab, ließ aber Ausnahmen zu, so dass dieser Aktientyp bis 1965 in Anwendung blieb. Siehe: Selgert (2018): Börsenzulassungsstellen. Die Überlieferung der Reichsämter- und Ministerien sowie des Reichstags befindet sich im Bundesarchiv Berlin. Die Verhandlungen innerhalb der einzelnen Landesministerien sowie des Bundesrats finden sich in den Staatsarchiven der Bundesländer. Als besonders ergiebig hat sich die Überlieferung im Preußischen Geheimen Staatsarchiv, dem Münchner Hauptstaatsarchiv und dem Staatsarchiv Hamburg erwiesen. Daneben wurde Material aus dem Badischen Generallandesarchiv, dem sächsischen Hauptstaatsarchiv und dem Württembergischen Hauptstaatsarchiv herangezogen.

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für die freie, gleichberechtigte Beteiligung gesellschaftlicher Experten- und Interessengruppen. So waren es der Reichstag und das preußische Abgeordnetenhaus, die jeweils in den Jahren 1873 und 1876 durch eine Eingabe bei der Reichleitung beziehungsweise der preußischen Regierung die Novellierung des 1870 verabschiedeten Aktiengesetzes in Gang setzten.10 Auslöser für die Eingaben des Reichstags und des preußischen Abgeordnetenhauses waren die zahlreichen Zusammenbrüche von Aktiengesellschaften in der Gründerkrise im Jahr 1873.11 Während des vorangegangenen Gründerbooms der frühen 1870er Jahren waren zahlreiche neue Aktiengesellschaften gegründet beziehungsweise bestehende Personengesellschaften in Aktiengesellschaften überführt worden. Oft wurden die einfachen Aktionäre bei diesen Gründungen übervorteilt oder betrogen. Nutznießer der Spekulation waren in der Regel die Gründer der Aktiengesellschaften und die mit ihnen verbundenen Aufsichtsräte und Vorstände der Aktiengesellschaften. Der Zusammenbruch der Spekulation im Spätsommer 1873 offenbarte diese Missstände und führte zur Etablierung einer Untersuchungskommission im preußischen Abgeordnetenhaus. Zwar beschäftigte sich diese Kommission vornehmlich mit der Spekulation in Eisenbahnaktien und der Rolle, die konservative preußische Abgeordnete dabei spielten. Die Ergebnisse der Untersuchung waren jedoch Anlass zu einer von allen Parteien unterstützen Aufforderung der preußischen Regierung, im Reich auf einen besseren Aktionärsschutz hinzuwirken. Dieser politische Druck des preußischen Abgeordnetenhauses war ein wichtiges Entscheidungskriterium für das preußische Staatsministerium gegenüber den anderen Bundesstaaten auf eine Reform des Aktienrechts zu drängen. Im weiteren Verlauf des Gesetzgebungsprozesses gelang es dann der linksliberalen Fortschrittspartei, den Gesetzentwurf von Reichsleitung und Bundesrat zu Gunsten ihrer Klientel, den Aufsichtsräten und Gründern von Aktiengesellschaften, abzuwandeln. Die Partei nutzte ihre zahlreichen Reichstagsmandate und den Druck der Reichsleitung eine Verabschiedung des Gesetzes in der bald ablaufenden Legislaturperiode zu erreichen aus, um eine Schwächung der geplanten Minderheitenrechte sowie der zivilrechtlichen Verantwortlichkeit des Aufsichtsrats durchzusetzen.12 Auch in den Verhandlungen über die Novelle des Aktienrechts im Zuge der Neuordnung des Handelsgesetzbuchs lässt sich ein klarer Einfluss des Reichstags auf die Gesetzgebung ausmachen. In den Sitzungen des zuständigen Reichstagsausschusses Anfang des Jahres 1897 setzten die Zentrumspartei und die Deutsche Reichspartei Verbesserungen beim Minderheitenschutz und eine Begrenzung der Gewinnbeteiligung des Aufsichtsrats zu Gunsten der Aktionäre durch.13 10 11 12 13

Schubert/Hommelhoff (1985): Modernes Aktienrecht, S. 8–13. Baltzer (2013): Spekulation. Selgert (2018): Entscheidungsfindung. Ebd.

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Während dem preußischen Abgeordnetenhaus und dem Reichstag eine wichtige Rolle im politischen Aushandlungsprozess um den Aktionärsschutz im Kaiserreich zukam, zeigen sich in der Dimension der gleichberechtigten Beteiligung unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen am politischen Aushandlungsprozesse die Demokratiedefizite des Kaiserreichs. So löste der Zusammenbruch zahlreicher Aktiengesellschaften um die Mitte der 1870er Jahre eine lebhafte Reformdebatte in Form zahlreicher juristischer und wirtschaftswissenschaftlicher Abhandlungen aus.14 Zudem beschäftigten sich auch der Deutsche Juristentag und der Verein für Socialpolitik mit der Reform des Aktienrechts.15 Im Großen und Ganzen setzten sich diese juristischen und wirtschaftswissenschaftlichen Experten für einen Ausbau des Aktionärsschutzes und eine größere Transparenz der Geschäftsprozesse ein. Diese aktionärsfreundlichen Positionen wurden zunächst von den für den Gesetzentwurf zuständigen Reichsämtern, dem Reichsjustizamt und dem Reichsamt des Inneren aufgenommen.16 Im weiteren Gesetzgebungsprozess gelang es Vertretern von Aktiengesellschaften allerdings, den aktionärsfreundlichen ersten Gesetzentwurf der Reichsleitung abzuschwächen. Bereits während den Verhandlungen zwischen den Reichsämtern wurde eine Expertenkommission aus Juristen und Großbankiers zu Rate gezogen. In den Kommissionsberatungen gelang es insbesondere den Bankiers, den Gesetzentwurf abzuschwächen.17 Gegenüber den Landesregierungen und dem Bundesrat waren es die Handelskammern, die die Position der Landesregierungen teilweise beträchtlich im Sinne von Vorständen und Aufsichtsräten beeinflussten. Bankiers und Handelskammern profitierten dabei von einem privilegierten Zugang zu den Reichsämtern und den Landesregierungen. Die Handelskammern dienten den Landesregierungen als offizielle Beratungsorgane in Wirtschaftsfragen. Dabei waren sie aber grade in den Industrieregionen von Bankiers, Gründern und Aufsichtsräten der Aktiengesellschaften dominiert. Im Fall der Sachverständigenkommission lagen die Dinge ähnlich. Um die Auswirkungen der Gesetzesvorlage auf das praktische Leben der Aktiengesellschaft abschätzen zu können, waren die Reichsämter auf Sachverständige aus dem der Leitung der Aktiengesellschaften selbst angewiesen. Dass diese Sachverständigen dabei eigene Interessen mit dem Gesetzentwurf verbanden, mussten die Reichsämter in Kauf nehmen. Darüber hinaus bestand eine personelle Vernetzung von Reichstagsabgeordneten und den Gründern, Aufsichtsräten und Vorständen von Aktiengesellschaften. Die reformorientierten Juristen und Wirtschaftswissenschaftler hatten dage-

14 Strombeck (1874): Votum; Gareis (1874): Börse; Hecht (1874): Credit; Perrot (1873): Aktienschwindel; Wagner (1873): Aktiengesellschaftswesen; Renaud (1875): Recht; Anonym (1876): Mahnruf; Glagau (1876): Börsen; Marcinowski (1876): Aktiengesetzgebung; Oechelhäuser (1876): Krisis; Tellkampf (1876): Vorschläge. 15 Deutscher Juristentag (1873): Verhandlungen 1873; Behrend et al. (1873): Reform; Verein für Socialpolitik (1874 (1988)): Schriften. 16 Insbesondere das Reichsamt des Inneren vertrat aktionärsfreundliche Positionen. 17 Schubert/Hommelhoff (1985): Modernes Aktienrecht, S. 28–34.

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gen weder einen privilegierten Zugang zu den Reichsämtern und Landesministerien noch besaßen sie Reichstagsmandate. Gleiches gilt für die einfachen Aktionäre, die sich kaum an der öffentlichen Reformdebatte beteiligten oder mit Eingaben an die Reichsleitung oder Landesregierungen hervortraten.18 2. Obwohl der Reichstag in der Weimarer Republik nie über ein Aktiengesetz abgestimmt hat, muss der politische Entscheidungsprozess als sehr demokratisch bezeichnet werden. Diese These lässt sich an zwei Punkten festmachen. So war es auch in den 1920er Jahren der Druck mehrerer Landesparlamente und verschiedener Reichstagsfraktionen, der die Reichsregierung zum Handeln brachte. Auslöser hierfür waren mehrere Bilanzskandale ab Mitte der 1920er Jahre, die sich mit der Weltwirtschaftskrise ab 1929 noch einmal verschärften. Hinzu kam die ab Mitte der 1920er Jahre lebhaft geführte öffentliche Debatte über eine Reform des Aktienrechts, die sich insbesondere um das Problem der Mehrstimmrechtsaktie und die damit verbundenen Vermachtungstendenzen innerhalb der Aktiengesellschaft drehte.19 Noch wichtiger als der Einfluss des Parlaments auf den Gesetzgebungsprozess war in der Weimarer Zeit jedoch die öffentlich geführte Reformdebatte. Bei der Analyse der Gesetzgebungsdebatte der zweiten Hälfte der 1920er Jahre fällt eine große Pluralität auf. Alle an der Aktiengesellschaft interessierten Gruppen waren an der Debatte beteiligt. Diese beinhalteten neben Aufsichtsräten, Vorständen, Bankiers und Juristen auch Beiträge von Aktionären, die sich nun immer häufiger in Form von Zeitungsartikeln und Schreiben an die Reichsregierung äußerten. Zudem bildete sich mit der Vereinigung für Aktienrecht ein weiteres Sprachrohr der Aktionärsinteressen, das mit Vorträgen und Buchpublikationen an die Öffentlichkeit trat. Nicht zuletzt beteiligte sich jetzt auch die Arbeiterschaft in Form der Gewerkschaften und der SPD an der Debatte um die Zukunft des Aktienrechts. Das Reichsjustizministerium förderte die Pluralität der Reformdebatte noch weiter, indem es einen umfangreichen Fragebogen mit mehr als 800 Fragen an eine Vielzahl gesellschaftlicher Akteure ausgab.20 Manche dieser Gruppen, wie etwa die Berliner Handelsredakteure oder der Deutsche Anwaltsverein veröffentlichten ihre Antworten auf diesen Fragebogen.21 Im Unterschied zum Kaiserreich konnten die Gegner der Vermachtungstendenzen im Aktiengesellschaftswesen bedeutende Erfolge erringen, obwohl sie nur lose organisiert waren. Zu nennen sind hier vor allem die in der Vereinigung für Aktienrecht organisierten Reformjuristen, die Handelspresse sowie die Privat-

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Die Arbeiterschaft spielte ebenfalls keine Rolle. Selgert (2018): Börsenzulassungsstellen. Schubert (1999): Weimarer Republik, S. 16–18. Vereinigung Berliner Handelsredakteure (1999): Antworten (1930); Deutscher Anwaltsverein (1929): Reform.

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banken, die die Reichsregierung von einer Einschränkung des Mehrstimmrechts und einem Ausbau der Offenlegungsstandards überzeugen konnten. Die Interessen der Reformgegner aus Industrie und Großbanken konnten sich dagegen kaum durchsetzen, obwohl sie wie im Kaiserreich über institutionalisierte Kanäle an die Reichsministerien herangetragen wurden. Die akute Notsituation der Bankenkrise zwang die Reichsregierung im Sommer 1931 zum schnellen Handeln auf dem Feld des Aktienrechts.22 Da verfassungsrechtliche Bedenken gegenüber einer Inkraftsetzung eines Vollgesetzes per Notverordnung bestanden, entschloss sich die Reichsregierung die ihr am wichtigsten erscheinenden Elemente des Gesetzentwurfs zu veröffentlichen. Dabei handelte es sich vor allem um die Etablierung strengerer Bilanzierungsvorschriften und Veröffentlichungsstandards sowie die Verkleinerung und Neubesetzung des Aufsichtsrats. Hätte der Aktiengesetzentwurf im Sommer 1931 dagegen seinen Weg in einen stabilen Reichstag gefunden, in dem eine von der SPD tolerierte Minderheitsregierung Brüning ohne Notverordnung ausgekommen wäre, hätten die Sozialdemokraten wahrscheinlich noch einmal Änderungen zu Gunsten von Kleinaktionären durchsetzen können. Dies lässt sich zum einen an der Reaktion der SPD-Fraktion auf die Notverordnung festmachen. Zum anderen bestand in diesen Punkten wohl auch bei der Industrie Verhandlungsbereitschaft.23 3. Gemessen an der Pluralität des politischen Entscheidungsprozesses und dem Einfluss der Parlamente auf die Gesetzgebung ist der Entscheidungsprozess im „Dritten Reich“ als undemokratisch zu bezeichnen. So spielte der Reichstag bei der Ausarbeitung des 1937 in Kraft gesetzten Aktienrechts keine Rolle und auch die Gesetzgebungsdebatte blieb auf wenige Stimmen beschränkt. Die Handelspresse, die reformorientierten Juristen sowie die Privatbanken nahmen nicht mehr an der Reformdebatte teil. Der Rückzug dieser Gruppen lässt sich einerseits auf die Pressezensur der Nationalsozialisten zurückführen. Die Verfolgung jüdischer Bürger sowie das aktive Vorgehen gegen die vielen jüdisch geführten Privatbanken trugen zudem zur Unterdrückung der öffentlichen Debatte bei. Neben den zuletzt genannten Gruppen verloren auch die Großbanken an Einfluss auf den Gesetzgebungsprozess. Dies zeigt sich besonders in der Marginalisierung der Großbankenvertreter bei den Beratungen des Ausschusses für Aktienrecht bei der Akademie für Deutsches Recht.24 Aufgabe des Aktienrechtsausschusses der Akademie für Deutsches Recht war es, die Grundlage für einen nationalsozialistisch geprägten Gesetzentwurf zu liefern. Aufgrund dieser Zielvorgaben empfahl der Ausschuss auch eine vorsichtige Umgestaltung des Ak22 Dazu: Schubert (1999): Weimarer Republik, S. 21–25. 23 Siehe dazu die Protokolle des vorläufigen Reichswirtschaftsrats, abgedruckt in: Schubert (1987): Aktienrechtsreform. 24 Die Protokolle finden sich in: Schubert et al. (1986): Akademie, S. 1–398.

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tienrechts nach nationalsozialistischen Vorstellungen.25 Radikaleren Umgestaltungsvorschlägen, die von Seiten nationalsozialistischer Ideologen wie etwa dem Wirtschaftsbeauftragten des Führers Wilhelm Keppler oder dem DAF-Vertreter Werner Bachmann geäußert wurden, erteilte der Ausschuss allerdings eine Absage.26 Das Reichsjustizministerium nahm die Umgestaltungsvorschläge des Ausschusses für Aktienrecht bei der Akademie für Deutsches Recht positiv auf und arbeitete sie in den ersten Gesetzentwurf ein. In den Verhandlungen zwischen den zuständigen Reichsministerien zeigte sich jedoch, dass das Reichswirtschaftsministerium unter dem ehemaligen Großbankier Hjalmar Schacht einer nationalsozialistischen Umgestaltung des Aktienrechts ablehnend gegenüberstand.27 Vielmehr befürwortete das Reichswirtschaftsministerium die Legalisierung des Status quo, das heißt einer Unternehmensverfassung, in der die Entscheidungskompetenz beim Vorstand konzentriert war, die Aktionäre kaum Einfluss auf die Geschäftspolitik hatten, dafür aber mit strengen Bilanzierungs- und Offenlegungsvorschriften kompensiert wurden. Diese Position, mit der sich das Reichswirtschaftsministerium letztendlich durchsetzen konnte, lässt sich auf den Einfluss konservativer Wirtschaftsvertreter aus Großbanken und Großindustrie zurückführen. 4. Fragt man nach der Stellung der Weimarer Republik in der Deutschen Demokratiegeschichte, zeigt sich eine deutliche Kontinuität zum Kaiserreich Zum einen lässt sich dies an der intensiven öffentlichen Debatte festmachen, die sowohl im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, als auch in den 1920er Jahren beobachtbar ist. Ihren Niederschlag fand diese Debatte in zahlreichen Buch- und Zeitschriftenbeiträgen, Denkschriften und Resolutionen von Vereinen und Handelskammern. Eine weitere Gemeinsamkeit zwischen dem Kaiserreich und der Weimarer Republik zeigt sich in den Trägern der Debatte. In beiden Perioden waren es hauptsächlich Bankiers und Juristen, die die Fachdiskussion bestimmten. Dies lag nicht zuletzt an der Expertise, die diese Gruppen in Bezug auf das Aktienrecht mitbrachten. Bankiers erwarben letztere vor allem über Ihre Mitgliedschaft in zahlreichen Aufsichtsräten, dem Emissionsgeschäft, der Unternehmensfinanzierung und der Vermögensverwaltung. Juristen gewannen ihre Expertise zum einen durch die theoretische Beschäftigung mit der Rechtsmaterie sowie der Lösung aktienrechtlicher Streitfälle. Immer öfter waren Juristen aber auch an der Beratung von Aktiengesellschaften beteiligt oder sie übernahmen wichtige Funktionen auf den Generalversammlungen.

25 Siehe die beiden Berichte des Vorsitzenden des Ausschusses für Aktienrecht aus dem April 1934 und 1935 in: Schubert et al. (1986): Akademie, S. 473–518. 26 Diese Forderungen reichten bis hin zu einer faktischen Abschaffung der Aktiengesellschaft. 27 Dazu Schachts Referat vor der Akademie für deutsches Recht. Schacht (1935): Aktienrechtsreform Außerdem: Schubert et al. (1986): Akademie, S. XL–L.

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Im Unterschied zum Kaiserreich war die Reformdebatte in der Weimarer Zeit jedoch noch intensiver und pluralistischer. Dies zeigt sich zum einen an der Fülle der Fachpublikationen zu Themen des Aktienrechts, zum anderen wurde die Aktienrechtsreform nun auch intensiv in der Handelspresse behandelt. Mit den Handelsredakteuren beteiligte sich nun auch eine neue gesellschaftliche Gruppe an der Reformdebatte. Im kleineren Maßstab setzte sich dies in der Teilnahme der Arbeiterschaft und der Aktionäre an der Reformdiskussion fort. Trotzdem ist auffällig, wie wenig sich Aktionäre an der öffentlichen Reformdebatte um das Aktienrecht beteiligten. Eine weitere Gemeinsamkeit zwischen dem politischen System des Kaiserreichs und der Weimarer Republik besteht dagegen wieder in der Art und Weise, wie die Ministerialbürokratie die an sie herangetragenen Informationen zu einem Gesetzentwurf verarbeitete. In beiden Fällen traten die zuständigen Reichsämter beziehungsweise Ministerien als Politikvermittler auf.28 Die Reichsämter und Ministerien versuchten also zwecks Erreichen einer bestimmten Zielvorgabe die vielversprechendsten Vorschläge auszuwählen, ohne dabei eine Interessengruppe gezielt zu bevorzugen.29 So versuchte das Reichsjustizministerium in den frühen 1930er Jahren beispielsweise die Vermachtungstendenzen in den Aktiengesellschaften zu bekämpfen, ohne dabei jedoch den Aktiengesellschaften die Möglichkeit zu nehmen sich vor feindlichen Übernahmen aus dem Ausland zu schützen. Im Ergebnis führten diese Überlegungen zu einem Gesetzentwurf, der das Mehrfachstimmrecht auf einige wenige Fälle einschränkte, aber nicht gänzlich abschaffte. Damit kam das Reichsjustizministerium sowohl den Kritikern als auch den Befürwortern dieses Aktientyps entgegen. 5. Dagegen zeigt sich ein deutlicher Bruch zum Dritten Reich Diese These lässt sich zum einen an dem oben beschriebenen Rückgang der Pluralität der Reformdebatte festmachen. Zum anderen an dem ebenfalls beschriebenen Bedeutungsverlust der Bankiers und der Juristenschaft als Expertengruppe. Die entstandene Lücke wurde von Vertretern der Industrie sowie nationalsozialistischen Ideologen gefüllt. Der Kontinuitätsbruch zur Weimarer Republik wird auch in der Position deutlich, den die zuständigen Reichsministerien in den Entwurfsverhandlungen einnahmen. Anders als im Kaiserreich und der Weimarer Zeit vertraten das Reichsjustizministerium, das Reichswirtschaftsministerium und das Ministerium des Führerstellvertreters Hess die Position bestimmter Advokatenkoalitionen.30 So

28 Siehe dazu Sabatier (1988): Advocacy coalition. 29 Eine Ausnahme machte die Hamburger Deputation für Handel und Schifffahrt, die sich ganz für die Belange der Hamburger Handelskammer aussprach. 30 Unter einer Advokatenkoalition versteht man die Gesamtheit verschiedener Gruppen, die für einen gleichlautenden beziehungsweise sehr ähnlichen Lösungsvorschlag für ein politisches Problem werben. Siehe: Sabatier (1988): Advocacy coalition.

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übernahm das Reichsjustizministerium hauptsächlich Vorschläge für eine behutsame Umgestaltung des Aktienrechts im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie. Vorgebracht wurden diese Vorschläge von AG-Vorständen, deren Ziel es war, die Position des Vorstands gegenüber Aufsichtsrat und Generalversammlung zu stärken. Dazu nutzen sie Elemente der nationalsozialistischen Ideologie, wie das Führerprinzip, um dem Streben nach einer Stärkung des Vorstands innerhalb der Aktiengesellschaft Gewicht zu verleihen. Das Reichswirtschaftsministerium wiederum unterstützte die Position konservativer Wirtschaftsvertreter und Großbankiers, die eine weitere Stärkung des Vorstands verhindern und den Status quo der 1920er Jahre bewahren wollten. Das Ministerium des Führerstellvertreters nahm schließlich radikalere Positionen nationalsozialistischer Wirtschaftsideologen auf, die das Führerprinzip unbedingt im Aktienrecht verankert sehen und die Bezüge von Aufsichtsrat und Vorstand zu Gunsten der Belegschaft begrenzen wollten. 6. Die These vom organisierten Kapitalismus im Kaiserreich und der Weimarer Republik muss für den Fall des Aktienrechts relativiert werden. Die von Jürgen Kocka und anderen Historikern zu Beginn der 1980er Jahre entwickelte These vom organisierten Kapitalismus geht zunächst von der Beobachtung aus, dass sich im Kaiserreich gesellschaftliche und wirtschaftliche Interessen immer stärker zu organisieren begangen.31 Darauf aufbauend wird in der Literatur des organisierten Kapitalismus oft argumentiert, diese im Kaiserreich neu entstandenen Interessen hätten einen erheblichen Einfluss auf den politischen Entscheidungsprozess gehabt. Im Unterschied zur Entstehung organisierter Interessengruppen32 ist dieser zweite Teil der These vom organisierten Kapitalismus jedoch weniger gut untersucht.33 Für das Politikfeld des Aktienrechts, das für die organisierte Wirtschaft unbedingt von Interesse war, muss der politische Einfluss der organisierten Wirtschaft allerdings relativiert werden. Zum einen war die Reformdebatte des Kaiserreichs und der Weimarer Republik in keiner Weise durch die organisierte Wirtschaft bestimmt. So äußerte sich der Deutsche Handelstag beispielsweise erst im Frühjahr 1884 als der Gesetzentwurf bereits im Reichstag debattiert wurde. Der Deutsche Juristentag und der Verein für Socialpolitik hatten dagegen schon 1873 zur Frage der Aktienrechtsreform Stellung bezogen. Gleiches gilt für die Weimarer Republik; auch in den 1920er Jahren hielten sich die Vertretungen der Großbanken und der Reichsverband der deutschen Industrie lange Zeit mit Stellungnahmen zurück. Die Quellen verweisen zudem auf den großen Einfluss von nicht an Unternehmen gebundene

31 Kocka (1974): Organisierter Kapitalismus. 32 Bspw. Fischer (1964): Unternehmerschaft; Kaelble (1966): Interessenpolitik; Ullmann (1976): Bund der Industriellen; Ullmann (1988): Interessenverbände. 33 Für die Zollpolitik siehe Torp (2005): Globalisierung Für die Weimarer Zeit außerdem: Neebe (1981): Großindustrie; Grübler (1982): Spitzenverbände; Wixforth (1995): Banken.

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juristische Experten sowie in den 1920er Jahren auf die Handelspresse als wichtige Ideengeber für die Gesetzgebung. Die Agendamacht lag damit bei nur lose organisierten Gruppen und nicht bei der gut organisierten Wirtschaft. Letztere befand sich sowohl im Kaiserreich als auch in der Weimarer Republik in der Defensive, indem sie sich gezwungen sah, den Status quo zu verteidigen. Dies gelang ihr jedoch nur zum Teil. Im Kampf um den Aktionärsschutz während den frühen 1880er Jahren gelang es den Interessenverbänden der Wirtschaft nur eine Einschränkung der Minderheitenrechte durchzusetzen, nicht aber ihre Abschaffung. In den frühen 1930er Jahren musste die organisierte Wirtschaft ebenfalls deutliche Einschränkungen in der Anwendung der Mehrstimmrechtsaktien akzeptieren. In der Frage der Reform des Aktienrechts scheint die organisierte Wirtschaft zudem nicht immer mit einer Stimme gesprochen zu haben. Dies zeigt sich am Beispiel des 1901 gegründeten Zentralverbands des deutschen Bank- und Bankiersgewerbe, dem reichsweiten Interessenverband der Banken. Als dieser 1929 auf den Fragebogen des Reichswirtschaftsministeriums zur Reform des Aktienrechts antwortete, gelang es ihm nicht eine einheitliche Antwort zu formulieren.34 Stattdessen gaben die Groß- und Privatbanken jeweils eigene Stellungnahmen ab, die sich teilweise deutlich unterschieden. Die Privatbanken machten sich dabei für die Interessen der einfachen Aktionäre stark, während die Großbanken die Machtkonzentration bei Vorstand und Aufsichtsrat verteidigten.35 Die Aktienrechtsnovelle von 1884 und der unvollendete Gesetzentwurf von 1931 stellten einen Kompromiss aus organisierten und nicht-organisierten Interessen dar. Die These vom Einfluss der organisierten Wirtschaft auf die Politik muss daher differenzierter betrachtet werden. Der große Einfluss nicht-organisierter Interessen auf den politischen Entscheidungsprozess kann im Fall der Reform des Aktionärsschutzes auf Umweltbedingungen zurückgeführt werden. So waren es sowohl im Kaiserreich als auch in der Weimarer Republik Wirtschaftskrisen, die die Schwächen des gesetzlichen Status quo offenbarten. Zur Behebung dieser Mängel war die Ministerialbürokratie auf die Reformvorschläge nichtorganisierter Experten wie Handelslehrer, Anwälte, Richter und Wirtschaftsredakteure angewiesen.

34 Die Antworten des Bankenverbands sind abgedruckt in: Schubert (1999): Weimarer Republik, S. 294–442. 35 Die divergierenden Standpunkte von Groß- und Privatbanken sind in den sich unterscheidenden Geschäftsfeldern der beiden Banktypen zu suchen. Während die Großbanken vor allem im Emissions-, Depot-, und Kreditgeschäft tätig waren, konzentrierten sich die Privatbanken auf die Vermögensverwaltung. Die Machtkonzentration bei Vorstand- und Aufsichtsrat führte jedoch zum Rückzug vieler Anleger aus der Aktie und schadete damit dem wichtigsten Geschäftsfeld der Privatbanken. Zur Situation der Privatbanken in der Weimarer Republik siehe: Wixforth / Ziegler (1997): Privatbanken.

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4. SCHLUSS Das Beispiel des gesetzlichen Aktionärsschutzes und der Offenlegungsvorschriften zeigt, dass die Zivilgesellschaft im Deutschen Kaiserreich und der Weimarer Republik neben den Parlamenten eine wichtige Rolle bei der Rechtsentwicklung gespielt hat. Besonders hervorzuheben ist dabei die Rolle von juristischen Experten wie Handelslehrern, Anwälten und Richtern, aber auch Journalisten. Die Bedeutung der Zivilgesellschaft nahm während der Weimarer Zeit deutlich zu, während die Parlamente eine geringere Rolle spielten. Die Unfähigkeit der Parteien maßgeblich zur politischen Willensbildung beizutragen wurde auf diese Weise zumindest in Teilen kompensiert. Dies setzte aber voraus, dass sich die Weimarer Ministerialbürokratie, die den Gesetzentwurf auszuarbeiten hatte, gegenüber der Zivilgesellschaft verantwortlich fühlte. Dies scheint im Fall des Aktienrechts der Fall gewesen zu sein. In der Tat förderte das Reichsjustizministerium die Beteiligung breiter gesellschaftlicher Gruppen an der Gesetzgebung durch die Ausgabe eines umfangreichen Fragebogens. Weimar konnte dabei auf Traditionen aus dem Kaiserreich aufbauen. Bereits vor 1919 lässt sich eine Beteiligung verschiedener an der Aktiengesellschaft interessierter Gruppen beobachten. Zudem war die Ministerialbürokratie wie in der Weimarer Republik am Gemeinwohl und nicht an der Förderung von Spezialinteressen interessiert. Allerdings existierte im Kaiserreich eine Bevorzugung der Interessen der Führungsorgane der Aktiengesellschaften durch die Ministerialbürokratie, die so für die Weimarer Zeit nicht mehr zu beobachten ist. Während der nationalsozialistischen Diktatur spielten Zivilgesellschaft und Parlament dagegen kaum noch eine Rolle für den politischen Entscheidungsprozess. Die Entscheidungsfindung verlagerte sich in den engen Beraterkreis der Akademie für Deutsches Recht und die Reichsministerien selbst. Letztere schienen nun mehr an Spezialinteressen als am Gemeinwohl interessiert gewesen zu sein. Nicht zuletzt muss auch die These vom Einfluss der Wirtschaft auf politische Entscheidungsfindungsprozesse während dem Kaiserreich und der Weimarer Republik relativiert werden. Zwar hatten die Wirtschaftsverbände Einfluss auf die Gesetzgebung, sie konkurrierten aber, zumindest im Fall des Aktienrechts, mit anderen Gruppen um diesen Einfluss. Zudem waren sie nie Agendasetzer, sondern lediglich Verteidiger des Status quo. LITERATUR Anonym: Ein Mahnruf zur Reform des Aktienrechts. Von einem praktischen Juristen, Berlin 1876. Baltzer, Markus: Spekulation als Anstoß für Kapitalmarktregulierung in Deutschland im ausgehenden 19. Jahrhundert. In: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 54 (2013), S. 95–110. Behrend, Jakob Friedrich / Goldschmidt, Levin / Wiener, Heinrich (Hrsg.): Zur Reform des Aktiengesellschaftswesens. Drei Gutachten auf Veranlassung der Eisenacher Versammlung zur Besprechung der socialen Frage, Leipzig 1873.

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Deutscher Anwaltsverein: Zur Reform des Aktienrechts. Antworten des Deutschen Anwaltvereins auf die Fragen des Reichsjustizministeriums, Leipzig 1929. Deutscher Juristentag: Verhandlungen des 11. Deutschen Juristentags (1873) Stenographische Berichte, Berlin 1873. Fischer, Wolfram: Unternehmerschaft, Selbstverwaltung und Staat. Die Handelskammern in der deutschen Wirtschafts- und Staatsverfassung des 19. Jahrhunderts, Berlin 1964. Gareis, Carl von: Die Börse und die Gründungen, nebst Vorschlägen zur Reform des Börsenrechts und der Actiengesetzgebung, Berlin 1874. Glagau, Otto: Der Börsen- und Gründungsschwindel in Berlin, Leipzig 1876. Grübler, Michael: Die Spitzenverbände der Wirtschaft und das erste Kabinett Brüning. Vom Ende der Großen Koalition 1929/30 bis zum Vorabend der Bankenkrise 1931, Düsseldorf 1982. Hecht, Felix: Die Credit-Institute auf Actien und auf Gegenseitigkeit. Bd. 1: Das Börsen- und Actienwesen der Gegenwart und die Reform des Actien-Gesellschafts-Rechts. Mannheim, Berlin, Leipzig 1874. Kaelble, Hartmut: Industrielle Interessenpolitik in der wilhelminischen Gesellschaft. Centralverband dt. Industrieller 1895–1914, Berlin 1966. Kocka, Jürgen: Organisierter Kapitalismus oder Staatsmonopolistischer Kapitalismus? Begriffliche Vorbemerkungen. In: Winkler, Heinrich August (Hrsg.): Organisierter Kapitalismus. Voraussetzungen und Anfänge, Göttingen 1974, S. 19–35. Kolb, Eberhard: Die Weimarer Republik, München 2012. Maier, Charles S.: Strukturen kapitalistischer Stabilität in den zwanziger Jahren: Errungenschaften und Defekte. In: Winkler, Heinrich August (Hrsg.): Organisierter Kapitalismus. Voraussetzungen und Anfänge, Göttingen 1974, S. 195–213. Marcinowski, Friedrich: Die Reform der Aktiengesetzgebung, Königsberg 1876. Neebe, Reinhard: Großindustrie, Staat und NSDAP 1930–1933. Paul Silverberg und der Reichsverband der Deutschen Industrie in der Krise der Weimarer Republik, Göttingen 1981. Oberreuter, Heinrich: Die Norm als Ausnahme. Zum Verfall des Weimarer Verfassungssystems. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 35 (1984), S. 299–323. Oechelhäuser, Willhelm: Die Wirtschaftliche Krisis, Berlin 1876. Perrot, Franz: Der Bank-, Börsen- und Aktienschwindel. I. Abt., Rostock 1873. Renaud, Achillis: Das Recht der Aktiengesellschaften, Leipzig 1875. Sabatier, Paul A.: An advocacy coalition framework of policy change and the role of policyoriented learning therein. In: Policy Sciences 21 (1988), S. 129–168. Schacht, Hjalmar: Die deutsche Aktienrechtsreform. Ausführungen des Reichsbankpräsidenten und beauftragten Reichswirtschaftsministers Dr. Hjalmar Schacht auf der 9. Vollsitzung der Akademie für Deutsches Recht im Rathaus zu Berlin, Berlin 1935. Schubert, Werner (Hrsg.): Quellen zum Handelsgesetzbuch von 1897. Bd. 1., Frankfurt am Main 1986. Ders. (Hrsg.): Die Aktienrechtsreform am Ende der Weimarer Republik. Die Protokolle der Verhandlungen im Aktienrechtsausschuß des Vorläufigen Reichswirtschaftsrats unter dem Vorsitz von Max Hachenburg, Berlin 1987. Ders. (Hrsg.): Quellen zur Aktienrechtsreform der Weimarer Republik. (1926–1931) Frankfurt am Main 1999. Ders. / Hommelhoff, Peter (Hrsg.): Hundert Jahre modernes Aktienrecht. Eine Sammlung von Texten und Quellen zur Aktienrechtsreform 1884 mit zwei Einführungen, New York 1985. Schubert, Werner / Schmid, Werner / Regge, Jürgen (Hrsg.): Akademie für Deutsches Recht, 1933–1945, Protokolle der Ausschüsse. Bd. 1: Ausschuß für Aktienrecht, Berlin 1986. Schulze, Hagen: Weimar. Deutschland 1917–1933, Berlin 1982. Selgert, Felix: Börsenzulassungsstellen, Reichsregierung und die (Selbst)Regulierung der Mehrstimmrechtsaktie, 1919–1937. In: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte (2018), S. 77–103. Ders.: Die politische Entscheidungsfindung im Mehrebenensystem des Deutschen Kaiserreichs. Der Fall des Aktienrechts (1873–1897) In: Ambrosius, Gerold / Henrich-Franke, Christian /

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DEMOKRATIE ALS ZIEL, MITTEL UND ARGUMENT Bildungsreformen in der Weimarer Republik Anne Otto 1. EINLEITUNG Nach dem Ersten Weltkrieg ergaben sich mit dem Übergang vom deutschen Kaiserreich zur ersten republikanischen Demokratie neue gestalterische Möglichkeiten auf zahlreichen Ebenen der Gesellschaft. Dazu zählte auch die Ebene der Schulpolitik, auf der verschiedene Akteur*innen1 die Gelegenheit zu nutzen versuchten, neue und auch alte, in der Kaiserzeit gescheiterte Reformvorhaben durchzusetzen. Die meisten der Reformideen lassen sich in zwei Kategorien unterteilen: Zum einen ging es um „Demokratie durch Bildung“, also die Idee, in der Schule zur Demokratie zu erziehen. So wurden in der Reichsverfassung nicht nur die staatliche Schulaufsicht und allgemeine Schulpflicht, sondern auch die Einführung der Staatsbürgerkunde als Lehrfach festgeschrieben.2 Darüber hinaus zielten Konzepte wie die Einrichtung von Schüler- und Elternräten auf Mitspracherechte in der Gestaltung des Schullebens ab. Zum anderen ging es um „Bildung durch Demokratie“ und damit um die Frage nach Demokratisierungs- und Emanzipationsversprechen, die mit den Bildungsreformen einhergingen. Eine wichtige Zäsur, die bis heute das deutsche Schulwesen prägt, war die Verabschiedung des Reichsgrundschulgesetzes, das die gemeinsame Unterrichtung aller schulpflichtigen Kinder in der öffentlichen Volksschule für die ersten vier Schuljahre festhielt.3 Die auf dieser Grundlage aufbauende „Einheitsschule“ (Einheitlichkeit, Weltlichkeit und Unentgeltlichkeit aller öffentlichen Schulen) wurde nicht durchgesetzt – trotzdem müssen ihre Teilaspekte in die Untersuchung demokratischer Schulreformen aufgenommen werden. Dazu zählte z. B. die Einrichtung weltlicher Klassen oder Schulen, die mit

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Ausgehend von der Überzeugung, dass geschlechtergerechte Sprache keinen negativen Einfluss auf die Verständlichkeit oder Lesbarkeit von Texten hat, ist der Beitrag bemüht, die Beteiligung aller Geschlechter an den im Folgenden nachgezeichneten Debatten sichtbar zu machen. Begriffe wie „Staatsbürgerkunde“ oder „Schülerrat“ werden allerdings, auch wenn sie konzeptuell alle Geschlechter umfassen, in Anlehnung an die Quellen nur in der männlichen Form gebraucht. Vgl. Art. 143, 144, 148 Abs. 3. In: Reichsverfassung 1919. Näher dazu vgl. Kluchert (2007): Schule der Einheit.

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der Idee der Gewissensfreiheit und der Einschränkung kirchlicher Einflussnahme auf die Schule verbunden waren. Des Weiteren schrieb die Reichsverfassung die Unentgeltlichkeit des Unterrichts und der Lehrmittel in den Volks- und Fortbildungsschulen sowie die Förderung des Zugangs von Kindern minderbemittelter Familien zum mittleren und höheren Schulwesen durch finanzielle Unterstützung fest. Für die Aufnahme eines jeden Kindes an einer bestimmten Schule sollten „seine Anlage und Neigung, nicht die wirtschaftliche und gesellschaftliche Stellung oder das Religionsbekenntnis seiner Eltern maßgebend“4 sein. In der Forschung wird der Reform- und Gestaltungswille der bildungspolitischen Akteur*innen gerade in Bezug auf die Anfangszeit der Republik positiv gewertet, die Republik teilweise sogar als „pädagogisch und schulisch hochmodern“5 bezeichnet. Zugleich wird eingeräumt, dass der Großteil der Reformen scheiterte, da strukturelle Änderungen des Bildungswesens im Allgemeinen und die Verabschiedung eines einheitlichen Reichsschulgesetzes im Besonderen ausblieben.6 Dieses „Scheitern“ der Etablierung demokratischer Grundprinzipien auf Ebene des Schulwesens reiht sich in das Bild der Weimarer Republik von einer krisenhaften, schwachen und schließlich eben scheiternden Demokratie ein, das die Forschung lange Zeit dominierte.7 Erst die jüngere Forschung ersetzt die Lesart Weimars als gescheiterter, „zwangsläufig“ im Nationalsozialismus endender Demokratieversuch durch einen Blick auf die demokratischen Potentiale. Betont werden die prinzipielle Offenheit der Republik und die Tatsache, dass die „Krise“ auch von Zeitgenoss*innen nicht ausschließlich negativ, sondern als Ausgangspunkt für Handlungs- und Gestaltungsspielräume angesehen wurde.8 Auf den Gegenstand Schule wurde dieser neue Zugang bisher kaum angewandt. Während sich die historische Bildungsforschung der 1970er Jahre noch verstärkt mit schulpolitischen und institutionsgeschichtlichen Fragen beschäftigte,9 ging das Interesse schrittweise zurück oder fokussierte sich auf die Endphase der Republik, sodass die zentrale Position, die die Schule in der politischen Diskussion der Weimarer Republik einnahm, in den Hintergrund rückte und auch in Überblicksdarstellungen zu Weimar eine untergeordnete Rolle spielte. Aktuellere Untersuchungen zu Bildung und Demokratie in Weimar setzen ihren Schwerpunkt

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Art. 146 Abs. 3. In: Reichsverfassung 1919. Geißler (2013): Schulgeschichte, S. 541. Als Ursachen dafür gelten vor allem die länderspezifischen Bestimmungen, die eine Vereinheitlichung des Bildungswesens verhinderten, sowie der Widerstand konservativer Kräfte und vor allem des politischen Katholizismus. Dieses Urteil findet sich zusammengefasst z. B. bei: Zymek (1989): Schulen, S. 161–165; Geißler (2013): Schulgeschichte, S. 542. Ein detaillierter Überblick dazu findet sich bei: Müller / Tooze (2015): Demokratie, S. 12. Vgl. u. a.: Föllmer / Graf (Hrsg.) (2005): „Krise“; Hardtwig (Hrsg.) (2005): Kulturgeschichte; Müller / Tooze (Hrsg.) (2015): Normalität und Fragilität; Dreyer / Braune (Hrsg.) (2016): Weimar als Herausforderung; Braune / Dreyer (Hrsg.) (2017): Republikanischer Alltag. Vgl. beispielsweise: Führ (1972): Schulpolitik; Müller, S. (1977): Höhere Schule; Heinemann (Hrsg.) (1977): Lehrer und Organisation; Dithmar (Hrsg.) (1993): Schule und Unterricht.

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meist auf die außerschulische (politische) Bildung der Jugend oder die Erwachsenenbildung, während Kinder und Jugendliche als Schüler*innen kaum im Fokus stehen.10 Ausgehend von diesen Beobachtungen untersucht der vorliegende Beitrag die Beziehung von Schule und Demokratie in der Weimarer Republik am Beispiel des Ruhrgebiets und beschäftigt sich mit der Frage, welchen Einfluss die Etablierung demokratischer Strukturen auf das Schulwesen der Weimarer Republik hatte.11 Die Fokussierung auf das Ruhrgebiet als Untersuchungsraum dient zum einen dazu, eine genauere Analyse der Umsetzung der Reformen in die Praxis zu ermöglichen.12 Zum anderen liegt sie in der Sozialstruktur des Ruhrgebiets begründet: Die Heranwachsenden in dem industriell geprägten Ballungsgebiet waren vornehmlich Teil des Arbeiter*innenmilieus und somit Adressat*innen eines wesentlichen Teils der Schulreformen. Durch die enge Verbindung von Schule, Demokratie und Arbeiter*innenkultur kann die Betrachtung dieses Raums den Erkenntnisgewinn im Hinblick auf die Frage nach der gesellschaftsgestalterischen Funktion der Institution Schule und der Durchsetzung demokratischer Grundprinzipien wie der „Chancengleichheit“ im Schulwesen erhöhen. Die Frage nach der Beziehung zwischen Schule und Demokratie in Weimar soll hier aus drei Blickwinkeln dargestellt werden. Sie beleuchten den Versuch der Etablierung einer „republikanischen Schulkultur“, das Engagement zur Verbesserung der Bildungschancen für Jugendliche aus minderbemittelten Familien im Ruhrgebiet sowie die innerhalb der Debatten über Schulreformen auf Seiten ihrer Gegner*innen und ihrer Befürworter*innen sichtbare argumentative Bezugnahme auf demokratische Konzepte und Ideen.

10 Vgl. z. B.: Tautz (1998): Militaristische Jugendpolitik; Krabbe (Hrsg.) (2000): Parteijugend; Ciupke u. a. (Hrsg.) (2007): Völkische und nationalkonservative Erwachsenenbildung; Ahlheim (2015): Protestantische Erwachsenenbildung. 11 Die folgende Darstellung bietet einen Einblick in ein laufendes Promotionsprojekt, das mit einem Forschungsprojekt zur Bildungsgeschichte (ehemaliger) Montanregionen verbunden ist. Die weiterführende Analyse soll sich mit der Reichweite und Repräsentativität der hier vorgestellten Befunde und darüber hinaus mit den Fragen beschäftigen, ob mit der Gründung der Republik die Vision eines neuen demokratischen Menschen verbunden war, wie genau Demokratie in diesem Kontext verstanden wurde und welche Bedeutung demokratischer Bildung für die Entwicklung der Bergbauregion zukam. Für hilfreiche Anmerkungen und Kritik zum Beitrag danke ich den Herausgebern sowie Fabian Berghoff, Sara-Marie Demiriz, Jan Kellershohn und Sandra Wenk. 12 Studien mit regionalem Bezug finden sich u. a. bei: Milberg (1970): Schulreform in Hamburg; Poste (1993): Schulreform in Sachsen; Lamberti (2004): Politics of Education. Zu kleinen qualitativen Untersuchungen einzelner Schulen vgl.: Loeffelmeier (2009): Schulkultur; Kluchert (2003): Lehrer-Schüler-Interaktion.

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2. DIE ETABLIERUNG EINER „REPUBLIKANISCHEN SCHULKULTUR“ Die Förderung der Demokratie durch (schulische) Erziehung sollte durch einen grundlegenden Wandel der „Schulkultur“13 erreicht werden. Reformideen umfassten u. a. die Einrichtung von Schüler- und Elternräten oder die Einführung des Arbeitsunterrichts und der Staatsbürgerkunde.14 Neben diesen Maßnahmen, mittels derer Schüler*innen zu selbstbestimmten, an Schule und Gesellschaft partizipierenden Individuen herangebildet werden sollten, stellte das Abhalten von Schulfeiern einen Ansatz zur Prägung der Schulkultur im republikanischen Sinne dar.15 Im Juni 1922 beispielsweise berichtete die Bochumer Ortsgruppe der DDP in einer Anfrage an den preußischen Landtag, dass konservative Jugendgruppen an einzelnen Schulen die schulinternen Gedenkfeiern für den ermordeten Reichsaußenminister Walter Rathenau (DDP) gestört hätten. Um gegen solche Vorfälle vorzugehen und die Republik insgesamt zu stärken, schlug sie vor, dass mithilfe jährlicher Schulfeiern und Vorträge am Verfassungstag „in eindrucksvoller Weise den Schülern der moderne Geist der deutschen Reichsverfassung vorgeführt“16 werden solle. Gleichzeitig versuchten auch Lehrer*innen, Eltern und Verbände, die die Republik ablehnten, Schulfeiern für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Beispielhaft kann die Feier des 50-jährigen Staatsbestehens am 18. Januar 1921 genannt werden. So warnten u. a. verschiedene Verbände davor, dass nationalistische Lehrer*innenkreise die Feiern zu missbrauchen beabsichtigten, indem sie diese „in monarchistischem, chauvinistischen, d. h. völkerverhetzende, Sinne“17 gestalten und zur „Verkündigung der versunkenen Hohenzollernherrlichkeit und [...] Hetze

13 „Schulkultur“ soll hier verstanden werden als Begriff, der verschiedene Dimensionen wie u. a. Lehrinhalte, Organisationsformen, die Gestaltung des außerunterrichtlichen Schulalltags, die Beziehungen zwischen den an Schule beteiligten Personen sowie deren Diskurse und Aushandlungsprozesse umfasst. Näher dazu und zum Ansatz, die Schulkultur zum Gegenstand der historischen Bildungsforschung zu machen, vgl.: Kluchert (2009): Schulkultur(en). 14 Auf die Ausgestaltung der Staatsbürgerkunde wird im Rahmen dieses Beitrags nicht näher eingegangen. Es sei auf Busch verwiesen, der in seinen Untersuchungen zur Staatsbürgerkunde als Unterrichtsfach und -prinzip die Konzepte politischer Bildung in Weimar herausarbeitet und dabei auch die Relevanz der Beschäftigung mit Weimar aus Sicht der Fachdidaktik unterstreicht. Vgl. Busch (2016): Staatsbürgerkunde 15 Mit den schulischen Verfassungsfeiern beschäftigt sich auch Koinzer, der in den Feiern einen Versuch der emotionalen und kognitiven Bindung an die Republik sieht. Den Fokus seiner Analyse legt er allerdings auf die zweite Hälfte der 1920er Jahre und das Ende Weimars und somit verstärkt auf das Scheitern der Ansätze. So hält er fest, dass das Bemühen der Schulbehörden in das genaue Gegenteil umgeschlagen sei und die Zurückhaltung gegenüber der Republik noch verstärkt habe. Vgl. Koinzer (2005): Die Republik feiern, S. 99f. 16 Eingabe der DDP-Ortsgruppe Bochum an den preußischen Landtag, 14. Juni 1922. In: GStA PK I. HA Rep. 76 Kultusministerium, VI Sekt. 1z Nr. 53 Bd. V, Bl. 155. 17 Eingabe der Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit, Deutscher Zweig an das Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, 31. Dezember 1920. In: GStA PK I. HA Rep. 76 Kultusministerium, VI Sekt. 1z Nr. 53 Bd. IV, Bl. 231.

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gegen Frankreich, die Revolution und die Republik“18 nutzen würden. Um dies zu vermeiden, wurden Ideen zur Gestaltung der Feier vorgeschlagen, die von ihrer Ausrichtung auf den Gedanken der Völkerversöhnung bis zu Vorträgen über die Entwicklung der deutschen Demokratiegeschichte seit 1848 reichten. Zahlreiche weitere Beispiele festigen den Eindruck, dass Schul- bzw. gerade die Verfassungsfeiern genutzt wurden, um die in der Reichsverfassung als Bildungsziel formulierte staatsbürgerliche Gesinnung zu stärken. In engem Zusammenhang damit stand die Debatte um das Tragen von Abzeichen in der Schule, die von Parteien, Vereinen, Eltern- wie Lehrer*innenverbänden immer wieder ins Ministerium und über die Presse in die Öffentlichkeit getragen wurde. Die Republikanische Beschwerdestelle (RBS) gehörte zu den beharrlichsten Akteur*innen auf diesem Feld. Sie wurde 1922 nach der Ermordung Rathenaus beim Republikanischen Jugendbund Schwarz-Rot-Gold mit dem Ziel eingerichtet, die „republikanische Gesinnung“ zu fördern sowie Verfassungsverstöße von Behörden oder Regierungen zu melden.19 In der Praxis äußerte sich ihr Einsatz z. B. darin, dass sie Meldungen über das Tragen von Bändern oder Hissen von Flaggen in den kaiserlichen Farben an Schulen sowohl unmittelbar an die Schulleiter als auch an die zuständigen Regierungen und Ministerien und die Presse schickte und zur Ahndung der Verstöße aufrief. Die Reaktionen auf die Meldungen der RBS fielen gemischt aus. In Stellungnahmen gegenüber den Behörden beschrieben die „Angeklagten“ die Verstöße meist als Lappalien oder erklärten, dass das Tragen der kaiserlichen Farben nicht mit einer Ablehnung der Republik gleichzusetzen sei. Zugleich warfen sie der RBS Denunziantentum vor und lehnten es ab, von einem privaten Verein zur Rechenschaft gezogen zu werden. In diesem Sinne äußerte sich z. B. ein Beamter des preußischen Kultusministeriums 1926, als er die häufigen Beschwerden der RBS als Reaktionen auf „unbedeutend[e] oder gleichgültig[e]“ Vorfälle bezeichnete, durch die sich die Provinzial- und Lokalbehörden „bespitzelt“ fühlten, sodass der Ansatz vielleicht gut gemeint, aber insgesamt als „die Republik geradezu schädigend“20 anzusehen sei. Der preußische Innenminister Albert Grzesinski (SPD) dagegen äußerte sich dazu kurze Zeit später mit dem Hinweis, „daß die Beschwerdestelle in sehr vielen Fällen sich um Abstellung wirklich vorhandener Mißstände bemüht, die bei manchen Dienststellen bedauerlicherweise noch immer in die Erscheinung treten“.21 Unabhängig vom Urteil der Behörden über die 18 Eingabe des Verbands sozialistischer Lehrer und Lehrerinnen von Deutschland und DeutschÖsterreich an das Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, 07. Januar 1921. In: GStA PK I. HA Rep. 76 Kultusministerium, VI Sekt. 1z Nr. 53 Bd. IV, Bl. 235. 19 Näher zur RBS und die Rechtskräftigkeit ihrer Eingaben: Vgl. Jung (1987): Verfassungsschutz privat. 20 Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung an den Ministerpräsidenten und die Staatsminister, 27. Oktober 1926. In: GStA PK Rep. 76 Kultusministerium, VI Sekt. 1cc Nr. 10, Bl. 212–214. 21 Preußischer Innenminister Grzesinski an den Ministerpräsidenten und die Staatsminister, 22. Dezember 1926. In: GStA PK Rep. 76 Kultusministerium, VI Sekt. 1cc Nr. 10, Bl. 223f.

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Rechtskräftigkeit der Eingaben ist hier festzuhalten, dass die RBS sich – nicht erst in der Endphase der Weimarer Republik – konstant dafür einsetzte, die Republik auch über die Schulkultur zu stabilisieren. Eng verknüpft mit der Frage der Förderung einer „republikanischen Gesinnung“ in der Schuljugend über Schulfeiern oder republikanische Staatssymbole war die Debatte über den Einfluss (partei-)politischer Vereine auf die Schüler*innen. Im Zuge der Vorbereitung des Erlasses zur Beteiligung der Schulen am Gesetz zum Schutz der Republik 1922 beispielsweise empfahl die preußische Unterrichtsverwaltung dem Kultusminister Otto Boelitz (DVP), den Deutschnationalen Jugendbund (DNJB) zu den Vereinen zu zählen, denen beizutreten aufgrund ihrer Ausrichtung gegen die Republik Schüler*innen verboten werden sollte.22 Die übliche Praxis, eine derartige Entscheidung nur von der Satzung eines Bundes abhängig zu machen, müsse scheitern, da Ortsvereine „unter dem Deckmantel allgemein gehaltener und bei den verschiedenen Vereinen ziemlich gleichförmigen Satzungen“23 wie im Fall des DNJB dennoch republikfeindlich wirken könnten. Den Vorschlag, dass auch die Betätigung eines Verbands in einem Verbot resultieren solle, nahm Boelitz in den Erlass auf, verzichtete jedoch auf ein generelles Verbot des DNJB. Er begründete dies im Nachhinein u. a. mit dem Hinweis, dass die Satzungen des DNJB insgesamt und auch die Betätigung zahlreicher Ortsverbände nicht anzufechten seien. Darüber hinaus äußerte er eine generelle Skepsis gegenüber der Möglichkeit der Schule, mithilfe von Verboten auf die politische Erziehung der Schüler*innen einzuwirken. Es sei, so Boelitz, nicht zu verhindern, dass Schüler*innen z. B. über ihre Eltern mit konservativmonarchischem Gedankengut in Berührung kommen, da „legitimes Werben für die Monarchie nicht unter das Gesetz zum Schutze der Republik falle.“24 Das Ziel einer Erziehung zur Demokratie in der Schule sei gemeinhin nicht erreichbar: „Überhaupt dürfe man nicht vergessen, daß es der Schule beim besten Willen nicht gelingen könne, Schüler, die seelisch anders eingestellt seien, zur republikanischen Gesinnung zu erziehen; was die Schule könne, und was von ihr verlangt werde, das sei die Erziehung zur Achtung vor der Republik.“25 Infolge des Erlasses warnten schulische wie außerschulische Verbände davor, die Meldung möglicher „staatgefährdender“ Vereine bei den Unterrichtsverwaltungen dem Lehrpersonal zu überlassen. Sie befürchteten, dass Verbote aufgrund der konservativen Gesinnung eines großen Teils des Lehrpersonals zu einseitig

22 Derartige Verbote bezogen sich vornehmlich auf Schüler*innen höherer Schulen, während der Beitritt den werktätigen Altergenoss*innen erlaubt war. 23 Votum der Unterrichtsabteilung II gegen den Entwurf von Boelitz, 22. Juli 1922. In: GStA PK Rep. 76 Kultusministerium, VI Sekt. 1z Nr. 285, Bl. 25f. 24 Bericht des Ministeriums für Wissenschaft, Kunst und Volkbildung über eine Versammlung der Vertreter der Provinzialschulkollegien in Berlin, 27. Oktober 1922. In: GStA PK Rep. 76 VI Sekt. 1z Nr. 83 Bd. VI, Bl. 299–231. 25 Ebd.

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gegen republikanisch gesinnte Vereine angewandt werden und „unter ‚patriotischer‘ oder ‚nationaler‘ Flagge auftretende Vereine der Reaktion, der Gegenrevolution, der Völker- und Rassenverhetzung“26 verschont bleiben könnten. Über diese Kritik hinaus engagierten sich linke Parteien und Verbände dafür, auch Schüler*innen die Möglichkeit einzuräumen, sich als künftige Wähler*innen inner- wie außerhalb der Schule politisch zu bilden und zu einem eigenständigen Urteil zu kommen. Die nicht nur auf Ministerialebene, sondern auch in der Öffentlichkeit ausgetragenen Auseinandersetzungen über die Mitgliedschaft der Schuljugend in außerschulischen Vereinen, die Notwendigkeit des Einverständnisses der Eltern oder die Eingriffsrechte der Lehrpersonals stellen dabei Aushandlungsprozesse über die Anerkennung von Schüler*innen als Träger*innen demokratischer Rechte dar. Im Kern zeigen die Auseinandersetzungen über Schulfeiern oder die Mitgliedschaft in Vereinen von Schüler*innen, dass die stets vorgebrachte Idee, (partei-)politische Streitigkeiten aus der Schule herauszuhalten, scheiterte. Die Schule stellte im Gegenteil als tagtäglicher Treffpunkt und sozialer Erfahrungsraum zahlreicher Jugendlicher eine zentrale Institution dar, um deren politische Ausrichtung immerzu gerungen wurde. Dass dieser Kampf seit Begründung der Republik geführt wurde, unterstreicht trotz der von Beginn an offensichtlichen Resistenz konservativen Personals und Gedankenguts die prinzipielle Offenheit seines Ausgangs. Denn zum einen treten bei der Betrachtung der Debatten die von der Forschung schon lange Zeit konstatierten Kontinuitäten konservativmonarchistischer Traditionen sowohl inner- als auch außerhalb der Schule hervor. Zum anderen – und diese Erkenntnis ist zu betonen – wird aber auch deutlich, dass Ideen und Konzepte zur Festigung der Republik in der Schule eine zentrale Rolle spielten, die sich nicht erst Anfang der 1930er Jahre durch die akute Bedrohung der Republik durch den Nationalsozialismus defensiv herauskristallisierten, sondern von Beginn an Teil der demokratischen Reformideen waren. Als Akteur*innen und Adressat*innen traten dabei bei weitem nicht nur Vertreter*innen der Ministerien oder Parteien auf Reichsebene auf, sondern auch Schüler*innen, Lehrer*innen, Eltern, Parteiortsgruppen oder schulische wie außerschulische Verbände, die sich mit ihren Anfragen an alle Verwaltungsebenen und auch an die Presse richteten und so die Debatten in die Öffentlichkeit trugen. Die Schreiben beschränkten sich dabei nicht auf die Kritik der beobachteten Missstände, sondern lieferten mit Vorschlägen zur Neuformulierung von Schulordnungen, zur Gestaltung der Schulfeiern oder auch zur Mitgliedschaft Jugendlicher in außerschulischen Verbänden stets Alternativen, mit deren Hilfe die Republik institutionell und symbolisch in der Jugend verankert werden sollte.

26 Eingabe der Deutschen Friedensgesellschaft an das Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, 29. November 1922. In: GStA PK Rep. 76 VI Sekt. 1z Nr. 83 Bd. VI, Bl. 356.

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3. DIE ERHÖHUNG DER BILDUNGSCHANCEN VON ARBEITER*INNENKINDERN IM RUHRGEBIET Neben dem Anspruch, über Bildung die Demokratie zu fördern, sollte andersherum auch die Demokratie die Bildung fördern. Bildungsideale und -chancen, die bisher vor allem auf das Bürgertum beschränkt waren, sollten von Herkunft und Vermögen losgelöst und auf alle Jugendlichen übertragen werden.27 Die Parole „Freie Bahn dem Tüchtigen!“ galt in den folgenden Jahren für fast alle Parteien und Verbände in diesem Zusammenhang als zentrales Schlagwort, wurde allerdings je nach Kontext unterschiedlich ausgelegt. Der in der Reichsverfassung geforderten Bereitstellung finanzieller Mittel durch Reich, Länder und Gemeinden, die den Zugang Minderbemittelter zu den höheren und mittleren Schulen fördern sollte, wurde beispielsweise in einer Mitteilung des Reichsinnenministeriums an die Unterrichtsverwaltungen der Länder gerade aufgrund der prekären Wirtschaftslage 1923 eine „hohe soziale Bedeutung“28 zugeschrieben. Noch in derselben Mitteilung allerdings wird dieses zunächst positive Bild eingeschränkt, als – wiederum mit Verweis auf die wirtschaftliche Lage – dazu aufgerufen wurde, nur einen kleinen Kreis Bedürftiger in Betracht zu ziehen: „Nur wirkliche Begabungen, die als solche zweifellos anerkannt sind und deren Förderung im allgemeinen Staatsinteresse liegt, werden auf Berücksichtigung rechnen können.“29 Diese Idee, minderbemittelte Schüler*innen nicht in breitem Maße, sondern auserwählte, im „allgemeinen Staatsinteresse“ liegende Begabungen zu fördern, wird im Zusammenhang mit der sogenannten Aufbauschule besonders deutlich – einer unter Hans Richert (DVP) entwickelten Schulform, die ab 1922 in Preußen eingeführt wurde. Ziel war es, begabte Schüler*innen mit mindestens siebenjähriger Volksschulbildung in sechs Jahren zur Reifeprüfung zu führen. Obwohl diese Schulform auf den ersten Blick aufgrund ihrer Grundidee, den Aufstieg für Volksschüler*innen zum höheren Bildungswesen zu ermöglichen, teilweise als erster Schritt zur Verwirklichung der Einheitsschule aufgefasst wurde, zeigen Denkschrift sowie die Praxis der Einführung der Schulform, dass sie diesem Anspruch nicht gerecht wurde. Die Losung „Freie Bahn dem Tüchtigen“ bedeutete hier keine grundlegende Demokratisierung des Bildungswesens, von der auch Kinder aus dem Arbeiter*innenmilieu profitieren sollten, sondern bezog sich explizit auf den

27 Die Zeit der Weimarer Republik ist dann auch durch eine Bildungsexpansion und eine – wenn auch begrenzte – soziale Öffnung der höheren Bildungseinrichtungen gegenüber Angehörigen der unteren sozialen Schichten gekennzeichnet, die allerdings Ender der 1920er Jahre wieder zurück ging. Zusammenfassend dazu vgl.: Kluchert (2006): Soziale Ungleichheit. 28 Mitteilung des Reichsinnenministeriums an die Unterrichtsverwaltungen, 16. Januar 1923. In: GStA PK Rep. 76 VI Sekt. 1b Nr. 30 Bd. 2, Bl. 42–44. 29 Ebd.

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Aufstieg begabter Dorf- und Kleinstadtkinder, der als kulturpolitische Notwendigkeit betrachtet wurde.30 An dieser Stelle lässt sich anknüpfen, um genauer auf den Untersuchungsraum Ruhrgebiet einzugehen. Hier kann festgestellt werden, dass Akteur*innen auf lokaler Ebene von den allgemeinen Richtlinien bzw. Debatten auf Länderoder Reichsebene teilweise abwichen und versuchten, Reformen zur Erhöhung der Bildungschancen von Arbeiter*innenkindern in breiterem Maße zu initiieren. Ein deutliches Beispiel dafür ist der Antrag auf die Errichtung einer Aufbauschule in Bochum.31 Die Initiative für die Aufbauschule ergriff ein Schuldirektor namens Petri, der wie Richert Mitglied der DVP war. In seinem Antrag 1922 erläuterte er detailliert, dass die Aufbauschule auch für eine von Bergbau, Industrie und Verwaltung geprägte Stadt wie Bochum die richtige Schulform sei, da hier ein ständiger Bedarf an gut ausbildeten Kräften bestünde. (Volksschul- ) Lehrer*innenverbände unterstützten Petri mit dem Argument, dass gerade die Kinder im Industriegebiet die nötige Tüchtigkeit und Entschlossenheit für einen derart anspruchsvollen Bildungsweg mit sich bringen würden. Dies stritt der Bochumer Philologenverband dagegen vollkommen ab. Es sei anzuzweifeln, „ob sich derartige Kräfte zur Zeit überhaupt in einer Großstadt vorfinden“ lassen würden. „Wirklich Hochbegabte“ hätten sich „auch früher durchgesetzt“ 32 und würden keine weiteren Förderungsmöglichkeiten benötigen. Unter Berufung auf die Denkschrift Richerts sprach sich der Verband daher gegen die Einrichtung der Schule aus. Infolge dieser Stellungnahme sowie der von den Behörden immer wieder vertagten Einrichtung der Aufbauschule entfachte in Bochum ein in der Presse ausgetragener Streit zwischen Eltern, Lehrer*innenverbänden, Vertreter*innen der Industrie und den Schul- und Ministerialbehörden. Unterstützer*innen der Aufbauschule sammelten Unterschriften und wiederholten ihren Antrag mit jedem beginnenden Schuljahr. Dabei klagten sie die „soziale Zerklüftung [...], das schreiende Mißverhältnis zwischen den Aufstiegsmöglichkeiten der Kinder an höheren Lehranstalten und denen in den Abschlußklassen der Volksschulen“33 und die Tatsache an, dass „die Volksschule Armeleute-Schule und Bildungssack-

30 Infolgedessen kommt auch Bracht in seiner Untersuchung der Aufbauschule in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus zu dem Schluss, dass die Schulform „auf Demokratie und soziale Chancengleichheit im Sinne der neuen Verfassung hätte abzielen können, (…) wenn sie nicht mit der dominanten Form der ländlichen Aufbauschulen bildungspolitisch (…) für eine völkisch-nationale Position instrumentalisiert“ worden wäre. Bracht (1998): Die preußische Aufbauschule, S. 688. 31 Auch Bracht erwähnt Anträge auf Aufbauschulen in städtischem Umfeld, geht aber in seiner Analyse kaum weiter darauf ein. 32 Denkschrift des Bochumer Philologenverbands zur Aufbauschule, 1. November 1922. In: StAB BO 40/118. 33 Lehrerverein Bochum an den Schulausschuss, 11. März 1924. In: StAB BO 40/118.

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gasse geblieben“34 sei. Mit ähnlichen Argumenten beantragten auch Vertreter*innen von KPD und USPD der Essener Stadtverordnetenversammlung 1923 eine städtische Aufbauschule für Arbeiter*innenkinder. Das Kultusministerium äußerte sich dazu nur mit dem Vermerk, dass die „Einrichtung einer derartigen Aufbauschule [...] aus grundsätzlichen Erwägungen nicht befürwortet werden“35 könne. Auch wenn die beiden Anträge nicht umgesetzt wurden, unterstreichen die mit ihnen verbundenen Diskussionen, dass die Schulform von der Grundidee durchaus Demokratisierungspotential innehatte. Dies wurde weniger von ihrem ursprünglichen Initiator Richert gesehen, als von lokalen Akteur*innen des Schulwesens in Städten des Ruhrgebiets, die die Aufbauschule als Instrument der Chancengleichheit und Aufstiegsmöglichkeit für Angehörige des Arbeiter*innenmilieus betrachteten. In den öffentlich geführten Debatten über die Einrichtung der Schulform ergaben sich dadurch Differenzen zur Landes- bzw. Reichslinie – selbst innerhalb der DVP. Ähnliche Tendenzen in Bezug auf die Förderung der Chancengleichheit im Bildungswesen lassen sich auch bei der Bereitstellung finanzieller Mittel zur Förderung des Zugangs Minderbemittelter zum höheren Bildungswesen feststellen. Im Rahmen einer vom Kultusministerium geforderten Rückmeldung aller höheren Lehranstalten zur Praxis der Begabtenförderung aus Reichsmitteln meldete die Stadt Dortmund, dass sie zwar auch die zuvor beschriebene Idee der „im Staatsinteresse liegenden“ Förderung Hochbegabter verfolge, es parallel aber auch für notwendig erachtete, Schüler*innen mit guten Leistungen in breiterem Maße „aus mehr sozialen Erwägungen“36 finanziell zu unterstützen. Diese punktuellen Befunde lassen zwar noch keine allgemeinen Aussagen zu, stützen aber die Annahme, dass sich auf lokaler Ebene, hier in Städten des Ruhrgebiets, durch die direkte Auseinandersetzung mit den Angehörigen aus dem Arbeiter*innenmilieu Unterschiede im Vergleich zu den auf Ministerialebene vorgegebenen Leitlinien ergaben, die sich durch eine stärkere Initiative für Arbeiter*innenkinder und eine breitere Umsetzung demokratischer Schulreformen im Sinne einer Besserung ihrer Bildungsmöglichkeiten auszeichnen.

34 „Aufbauschule in Bochum zum 2. Male abgelehnt“, Volksblatt Nr. 99, 02. Mai 1924. In: StAB BO 40/118. 35 Handschriftlicher Vermerk Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung an Provinzialschulkollegium Koblenz, Februar 1923. In: GStA PK Rep. 76 VI Sekt. 1ff. Nr. 1, Bd. I, Bl. 405. 36 Rückmeldung der Stadt Dortmund an das Provinzialschulkollegium Münster, 18. Juli 1928. In: LAV NRW W, P 101 Nr. 6426.

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4. DER ARGUMENTATIVE RÜCKGRIFF AUF DEMOKRATIE IN DEN DEBATTEN ÜBER SCHULREFORMEN Die Debatten über das Schulwesen zeigen, dass sich Befürworter*innen und Gegner*innen der Schulreformen in einer steten Auseinandersetzung um die Deutungshoheit über die Schule in der neuen Republik befanden. In ihren Argumentationen lassen sich dabei ähnliche Vorgehensweisen finden, die hier anhand zweier Beispiele – der Einrichtung von Schülerräten sowie der Rolle der Kirchen im Bildungswesen – beleuchtet werden. Die Zielrichtung der Schülerräte wurde bereits in dem im November 1918 in Preußen veröffentlichten Aufruf deutlich, der die Schüler*innen der höheren Schulen dazu aufforderte, Versammlungen zur Abstimmung über die Einrichtung der Räte und Schulgemeinden einzuberufen: Den Schüler*innen wurden die Teilhabe „an der neuen Freiheit und Selbstbestimmung unseres Volkes“, „Befreiung“ und „Hilfe zur Selbsterziehung“ versprochen, während in Bezug auf die alte Schule von „dem Ungeist der toten Unterordnung, des Mißtrauens und der Lüge“ 37 sowie von Erziehung zum Gehorsam und zur Unselbstständigkeit die Rede war. Für das neue Erziehungsideal der Selbst- und Mitbestimmung sollten Schülerräte den geeigneten Raum darstellen.38 Auch Gegner*innen der Schülerräte beriefen sich allerdings auf demokratische Rechte und Freiheiten. Dazu zählte u. a. das Provinzialschulkollegium Münster, das laut einem Bericht an das preußische Kultusministerium die generelle Richtung der Idee begrüße, aber dennoch Einwände vorzubringen habe: Es stand der Meinung, ob „14- und 15 jährige Knaben und Mädchen wirklich schon als Staatsbürger anzusehen und zu behandeln“ seien, skeptisch gegenüber und begründete seine Ablehnung darüber hinaus mit der Frage nach der Rechtskräftigkeit von Maßnahmen, die „so tief in das Leben der Familien und in ihre Erziehungsaufgabe eingreifen, ohne daß die vor kurzem erst geschaffenen Elternbeiräte auch nur das Recht erhalten, ihre Bedenken geltend zu machen.“39 Ähnlich äußerten sich Teile der Elternschaft selbst. Eine Elternversammlung aus Duisburg z. B. sprach sich in einem Schreiben an das Kultusministerium dafür aus, dass „der Geist der Zucht und des Gehorsams, der Ehrfurcht und der Bescheidenheit gegenüber den Lehrern“ erhalten bleiben solle, während die Einrichtung von Schulgemeinden und Schülerräten „eine Gefährdung der Erziehung“ darstelle. Unter Betonung ihrer „unveräußerlichen Elternrechte und Pflichten“ und

37 „An die Schüler und Schülerinnen der höheren Schulen Preußens“, 27. November 1918. In: Zentralblatt für die gesamte Unterrichtsverwaltung in Preußen 60 (1918), S. 713–16. 38 Näher zu Schülerräten unter besonderer Berücksichtigung ihrer Instrumentalisierung durch rechte Jugendliche vgl.: Donson (2011): The Teenagers’ Revolution. 39 Stellungnahme des Provinzialschulkollegiums Münster zur Einrichtung von Schülerräten an das Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, 20. Dezember 1918. In: GStA PK I. HA Rep. 76 VI Sekt. 1z Nr. 265, Bl. 123.

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der Überzeugung, dass nur sie gemeinsam mit dem Lehrpersonal „die wahren Interessen der Schüler vertreten“40 würden, lehnte sie die Einrichtung ab. Begriffe wie „Zucht, Ordnung und Gehorsam“ wurden demnach je nach Kontext positiv als Garant für eine gute Erziehung oder negativ als Unterdrückung der Selbstbestimmung der Schüler*innen konnotiert, so wie auch die Schülerräte entweder als weiterer Unruhefaktor in einer Zeit politischer Zerrissenheit oder als Ausdruck unveräußerlicher Mitspracherechte Jugendlicher in der Schule angesehen wurden. Ähnliche Argumente lassen sich in Bezug auf die Stellung der Kirchen und des Religionsunterrichts im Schulwesen nachzeichnen. So trat z.B. ein Jugendtreff weltlicher Schulen in Bockum-Hövel für eine Einschränkung des kirchlichen Einflusses auf die Schule ein und forderte, dass „im neuen republikanischen Staat auch unsere Schuljugend nicht mehr nach dem alten kirchlichen konservativen Dogma der Untertänigkeit einer privilegierten besitzenden Klasse erzogen werden“41 dürfe. Zudem beriefen sich Lehrer*innen bzw. Eltern auf ihr Recht, die Erteilung des Religionsunterrichts abzulehnen oder weltliche Schulen einzurichten. Auf der einen Seite wehrten sich beispielsweise protestantische Eltern in Dortmund gegen die Anstellung eines dissidentischen Schulaufsichtsbeamten im zuständigen Schulbezirk und legten innerhalb eines Zeitungsartikels „flammenden Protest ein gegen diese Vergewaltigung ihrer Elternrechte und ihrer Gewissensfreiheit!“42 Mit der gleichen Begründung lehnten Eltern wie Lehrer*innen in zahlreichen Eingaben die Einrichtung weltlicher Schulen ab. Im Zusammenhang mit diesen Themen, aber auch bei den erwähnten Streitigkeiten über die Schulfeiern, zeigt sich, dass sowohl Befürworter*innen als auch Gegner*innen verschiedener Reformvorhaben sich in ihrer Argumentation der gleichen Legitimationsmuster bedienten: Sie beriefen sich auf die ihnen in der Republik zugesicherten Rechte und Freiheiten und warfen den Kontrahent*innen vor, eben diese zu beschneiden, Andersdenkende zu unterdrücken und die Werte der Republik nicht angemessen zu vertreten. Somit griffen beide Seiten argumentativ auf die neuen demokratischen Ideale zurück und nutzten Ideen wie Gewissens- und Meinungsfreiheit oder Staatsbürgerrechte, um die eigene Position zu stärken.43 40 Entschließung der Elternversammlung des Städtischen Realgymnasiums mit Realschule Duisburg-Meiderich an das Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, 26. Februar 1919. In: GStA PK I. HA Rep. 76 VI Sekt. 1z Nr. 256 Beiheft, Bl. 155f. 41 „Willkommen in Bockum-Hövel“, Zeitungsartikel o. A., September 1926. In: LAV NRW W, K 201 Nr. 10234 Bd. 2. 42 „Protest gegen Vergewaltigung des Elternwillens!“, General-Anzeiger für Dortmund und Westfalen Nr. 290, 21. November 1926. In: LAV NRW W, K 101 Nr. 35129. 43 Dies bestätigt auch die diskursanalytisch angelegte Untersuchung Engelhardts, die zudem in ihrem Ausblick auf die deutlichen Ähnlichkeiten zwischen den in Weimar und der Bundesrepublik diskutierten Themen und dabei verwendeten Semantiken hinweist. Vgl. Engelhardt (2015): „Bildungskrise“, S. 337 f.

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5. SCHLUSS Insgesamt kann das ‚Scheitern‘ der Bildungsoffensiven in Weimar nicht umgeschrieben werden. Es gelang weder eine plötzliche (Um-) Erziehung sämtlicher Schüler*innen zu überzeugten Demokrat*innen noch die Herstellung von Chancengleichheit für alle Schüler*innen in Unabhängigkeit ihrer sozialen, politischen oder religiösen Herkunft. Allerdings erscheint es als zu kurz gegriffen, den Schulreformen der Weimarer Republik jegliches Demokratisierungspotential in Abrede zu stellen. Wie hier gezeigt werden konnte, erscheint die Weimarer Republik trotz ihrer kurzen Lebensdauer weniger als gescheitertes System denn als Experimentierfeld, innerhalb dessen Strukturen und Konzepte zur Etablierung einer Erziehung zur Demokratie und zur Demokratisierung des Bildungssystems entworfen, erprobt und verhandelt wurden. Die bisher starke Fokussierung auf die Krise und Endphase Weimars verstellt nicht nur den Blick auf diese Aushandlungsprozesse insgesamt, sondern reduziert auch die Befürworter*innen der Republik auf ein Bild scheiternder „Verteidiger*innen“ der Demokratie. Tatsächlich wurde aber die Idee der Förderung der „republikanischen Gesinnung“ durch die Schule in breiterem Maße diskutiert und initiiert, als bisher angenommen. Sowohl Schüler*innen, Eltern und Lehrer*innen als auch Verbände traten in diesem Kontext als Akteur*innen auf. Sie versuchten, über einen Wandel der Schulkultur republikanische Symbole und Verhaltensmuster in den Alltag von Schüler*innen zu integrieren, oder setzten sich – dies legt die bisherige Untersuchung lokaler Spezifika des Ruhrgebiets nahe – verstärkt für die Unterstützung minderbemittelter Schüler*innen im Bildungswesen ein. In den Argumentationen sowohl für als auch gegen verschiedene Reformelemente griffen die Debattierenden auf demokratisch legitimierte Werte wie Meinungs- und Gewissensfreiheit zurück. Das Ringen um die Demokratisierung des Bildungswesens in Weimar stellt daher kein Merkmal eines grundsätzlichen Versagens, sondern einen notwendigen Prozess mit dem Ziel der Normalisierung demokratischer Schulreformen dar. Dieser Prozess hält bis heute an. So beschäftigen beispielsweise Probleme der Chancenungleichheit im Bildungswesen die Bildungspolitik und die Gesellschaft weiterhin in breitem Maße. Gleiches gilt für die Erziehung zur Demokratie und die Einflussmöglichkeiten der Schule in Bezug auf die politische Bildung ihrer Schüler*innen – gerade in Zeiten, in denen sich die Demokratie durch den Rückgang der Wahlbeteiligung und den Aufstieg autoritärer Bewegungen mit neuen Herausforderungen konfrontiert sieht. In diesem Zusammenhang tritt auch das Phänomen, dass sich verschiedene politische Strömungen als ‚wahre Vertreter*innen‘ der Demokratie darstellen, immer wieder deutlich hervor, sodass Fragen der Grenzen freier Meinungsäußerung und der Toleranz gegenüber der Verletzung Andersdenkender im Rahmen von Demokratie nach wie vor austariert werden. Eine erneute Hinwendung zum Schulwesen in der Weimarer Republik erscheint somit nicht nur für eine differenziertere Analyse der demokratischen Reformen selbst, sondern auch in Hinblick auf die Geschichte der (deutschen) Demokratie insgesamt relevant und lohnenswert.

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QUELLEN Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin (GStA PK) Rep. 76 Kultusministerium Landesarchiv NRW Abteilung Westfalen (LAV NRW W) Landesarchiv NRW Abteilung Westfalen (LAV NRW W) P 101 Provinzialschulkollegium Münster K 101 Regierung Arnsberg K 201 Regierung Münster Stadtarchiv Bochum (StAB) BO 40 Schulamt Stadt Bochum

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„DIE BEGEISTERUNG ALLEIN MACHT ES NICHT“. Nachwirkungen der Weimarer Schulungsarbeit. Ronny Noak 1. DIE WEIMARER REPUBLIK ALS ERFAHRUNGSHORIZONT – PARTEISCHULUNG IN DER DEMOKRATIE In der Einladung für den 24. volkswirtschaftlichen und staatsbürgerlichen Kursus des Volksvereins für das katholische Deutschland (VVkD) hieß es: Der Kursus ist keine populärwissenschaftliche Vortragsreihe, die sich mit Vermittlung bloßer Kenntnisse begnügt. Er ist vielmehr eine Bildungsarbeitsgemeinschaft, deren Mitglieder in sich den Menschen bilden, erziehen und schulen wollen, und zwar durch das Gemeinschaftsleben und die Gemeinschaftsarbeit untereinander.“1

Diese geäußerte Aufgabe, die weit mehr umfasst als die Unterrichtung in staatsbürgerlichen Themen war innerhalb des Parteienspektrums der Weimarer Republik kein Einzelfall. Dadurch wollte hier explizit der Volksverein bei den Mitgliedern der Zentrumspartei „das staatsbürgerliche Berufsethos, politisches Verständnis und politischen Sinn“ pflegen und wecken sowie „grundlegend die Staatsbürger durch Einführung in die allgemeinen Zusammenhänge und leitenden Grundsätze der Staats- Wirtschafts- Sozial- und Kulturpolitik“2 schulen und gleichzeitig die Verbindung unter den Mitgliedern fördern. Ganz ähnlich klang es im gleichen Zeitraum bei der Sozialdemokratie: „In Wissensvermittlung und Erkenntnisschulung erschöpft sich sozialistische Erziehung nicht. Sonst ließe sich Jugendbewegung durch Einrichtung von Vortragskursen überflüssig machen. [...] [Menschliches Tun wird] vom Fühlen und Werten, Wollen und Streben, Wünschen und Sehnen genährt und getragen. Diese „irrationalen“ Regungen und Kräfte, die in ihrer Gesamtheit die Gesinnung ausmachen, formen das Leben einer Gemeinschaft und einer gesellschaftlichen Schicht mit derselben Unbeirrbarkeit, wie sie das Schicksal eines einzelnen bestimmen.“3

Sowohl der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) als auch der Zentrumspartei ging es in den Jahren der Weimarer Republik in den Fragen der Unterrichtung der eigenen Parteimitglieder demzufolge nicht ausschließlich um die Pro1 2 3

[Ankündigung] 24. Volkswirtschaftlicher und staatsbürgerlicher Kursus [des VVkD], vom 12.5.1930. In: Bundesarchiv (BA) Berlin R 8/115/I/11, Bl. 342. Hervorhebung im Original. Reichsgeneralsekretariat der Deutschen Zentrumspartei, Rundschreiben vom 30.1.1926. In: Stadtarchiv Bonn, Nachlass (NL) Johannes Henry, VIII / b2. Lepinski (1927): Jungsozialistische Bewegung, S. 32 f.

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fessionalisierung von Rednern, die Ausbildung geeigneter Parteisekretäre und die Schulung der Parteimitglieder. Vielmehr sollte auch eine Gemeinschaft zwischen den Mitgliedern geschaffen werden, welche die bestehende Verbindung durch die gemeinsamen politischen Ziele und Anschauungen noch übertraf. Diese Arbeit der Ausprägung einer nachhaltigen Verbindung wurde jedoch auf eine harte Probe gestellt. Der Nationalsozialismus (NS) beendete und verbot 1933 die Betätigung der Parteien, darunter auch die Schulungs- und Bildungsarbeit, die zuvor auch die demokratische Erziehung der Staatsbürgerinnen und Staatsbürger beinhaltet hatte.4 Denn auch sie sollte schließlich zur Schaffung einer gesamtgesellschaftlichen Gemeinschaft beitragen. Nach 1945 unternahmen einzelne Akteure, die mit eben jenen Erfahrungen der Weimarer Zeit ausgestattet waren, die Anstrengung, erneut die Parteien auf dem Gebiet der Schulungsarbeit tätig werden zu lassen. Ihr Wissen um die Bedeutung, Notwendigkeit und Ausprägung der politischen Bildungsarbeit aus den Reihen der Parteien wurde so Teil des Grundsteins für die Fortsetzung dieser Arbeit in der Gründungsphase der Bundesrepublik Deutschland (BRD). Dieser Beitrag zeigt, inwiefern diese Erfahrungen der Weimarer Parteimitglieder rezipiert, evaluiert oder übernommen wurden. Wie und an welcher Stelle knüpften die Parteien nach 1945 an die Arbeit vor 1933 an? Welche Bezüge, ob in fortführender oder abgrenzender Art, lassen sich in der Schulungsarbeit demokratischer Parteien in zwei deutschen Republiken herstellen? Hierfür werden zwei (genauer: drei) Parteien zur Untersuchung herangezogen, die sowohl in der Weimarer Republik als auch in der frühen Bundesrepublik zu den wichtigsten Akteuren gehören. Zum einen die SPD, die nicht nur namentlich, sondern teilweise auch personell und inhaltlich übereinstimmend sowohl in der Zeit der Weimarer Republik als auch in den ersten Jahren der Bundesrepublik wirkte.5 Zum anderen wird die Christlich-Demokratische Union (CDU) betrachtet. Sie gilt– insbesondere aufgrund ihres überkonfessionellen Charakters – als neugegründete Partei der Bundesrepublik. Dennoch weist sie personelle wie inhaltliche Kontinuitäten zur Zentrumspartei der Weimarer Republik auf, sodass ein Vergleich zwischen diesen zwei Parteien zielführender ist, als ein Vergleich zwischen der Zentrumspartei der Weimarer Republik und der Bundesrepublik.6 Für beide Parteien wird dabei jeweils die Frühphase der Bundesrepublik, genauer die Dekade 1945–1955, in der Frage der Kontinuität und Differenzen zur Weimarer Republik untersucht. Da anschließend die sich gründenden politischen Stiftungen 4 5

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Eine ähnliche Zielsetzung besaß auch das Vorhaben der Demokratisierung des Schulwesens zwischen 1918 und 1933. Vgl. hierzu den Beitrag von Anne Otto in diesem Band. Teile der Partei, allen voran Kurt Schumacher, wollten sich jedoch ebenso von der SPD der Weimarer Zeit abgrenzen. Vgl. Ullrich (2009): Weimar-Komplex, S. 89 f. und Grüner (2003): Weimar als Argument. In: Gusy (Hrsg.): Weimars lange Schatten, S. 230–233. Der Zentrumspartei mangelte es durch die Integration ihrer ehemaligen Mitglieder in die CDU nach 1945 an umfassender Bedeutung ebenso wie an Personal, Finanzen und Wählerzuspruch. Sie wird damit bereits nach der ersten Bundestagswahl zur Splitterpartei. Vgl. Nietfeld (1985): Zentrumspartei, S. 190–203.

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einen wesentlichen Anteil der Schulungsarbeit der Parteien übernahmen, änderten sich die Rahmenbedingungen im Vergleich zur Weimarer Republik grundlegend und bilden eine Zäsur.7 2. ZWISCHEN „ERKENNTNISSCHULUNG“ UND GEMEISNCHAFTSLEBEN. SOZIALDEMOKRATISCHE SCHULUNGSARBEIT IN DER ERSTEN UND ZWEITEN DEUTSCHEN DEMOKRATIE Nicht etwa die größere Mehrheitssozialdemokratie, sondern die Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands (USPD)8 hatte die Frage der Schulung der Parteimitglieder nach der Novemberrevolution 1918 in der Arbeiterbewegung erstmals umfassend auf einem Parteitag im Oktober 1920 in Halle erörtert: In der Organisationsarbeit bleibt ebenfalls noch viel zu tun übrig und besonders die Bildungsarbeit bedarf sehr der Steigerung. In dieser Zeit der Menschenverdrängung durch die Maschinen hat die Bildungs- und Schulungsarbeit noch eine ungleich größere Bedeutung als früher. Die Begeisterung allein macht [es] nicht. Der Einblick in die politischen und sozialen Zusammenhänge, die Dreieinigkeit von Wissen, Können und Wollen, muß erreicht werden.9

Damit war die Schulungsarbeit erstmals als wesentlich Grundlage einer sozialdemokratischen Partei in der Weimarer Republik festgeschrieben worden. Auch die Dreiteilung aus Wissen, Können und Wollen formulierte einen breiten Anspruch, gespeist aus dem Ideal der Arbeiterbildung während des Kaiserreiches. Neben dem Wissen, insbesondere war darunter die Theorie des Sozialismus gefasst worden, sollte das Können im Sinne der Umsetzung und praktischen Arbeit ebenso wie das Wollen, also Engagement und Bereitschaft für die gesamte Arbeiterbewegung als umfassender Anspruch einer Schulungsarbeit aufgegriffen. Was sich in der Programmatik als dauerhafte Unterstützung für die Schulungsarbeit auffassen ließ, war in der Praxis allerdings stärkeren Schwierigkeiten ausgesetzt. Zwar wurde die Schaffung einer zentralen Parteischule auch später in der SPD debattiert.10 Zu einer Umsetzung kam es jedoch nicht. Die Gründe für da Ausbleiben einer Institutionalisierung der Arbeit sind vielfältig. Wohl mangelte es an finanziellen Mitteln, geeigneten Lokalitäten und personeller Ausstattung. Dazu mag die relative dauerhafte Bindung der Parteikräfte durch Wahlen und Wahl-

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In diesem Zeitraum verlief die Schulungs- und Bildungsarbeit der Parteien ohne ausmachbare Reglementierung oder spezifische Förderung. Dies änderte sich zusätzlich erneut durch die ausdrückliche Aufnahme der politischen Bildung als Aufgabe der Parteien im Parteiengesetz von 1967. Vgl. Simon (1985): Politische Bildung, S. 60–62. 8 Zur politischen Verortung und Wirken der USPD in der Weimarer Republik vgl. Braune / Hesselbarth / Müller (Hrsg.) (2018): USPD. 9 Der Parteitag in Halle. Der Sitzungsbericht, Beilage zur: Freiheit, vom 13.10.1920. 10 Vgl. Sozialdemokratischer Parteitag (1927): Protokoll, S. 267. Zudem verfügte die SPD seit Mitte der 1920er-Jahre über die Wanderlehrer Albert Rudolph, Walter Fabian, Karl Schröder, Christian Döring und später Wilhelm Schack.

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kämpfe kommen. Ob möglicherweise auch die Frage nach der inhaltlichen Ausgestaltung der Parteischule eine Rolle spielte, lässt sich nicht mehr ermitteln. Dennoch, wenn auch nicht deutlich so artikuliert, besaß zumindest der linke Flügel der Partei bereits in der Heimvolkshochschule (HVH) Tinz eine Institution, die den Zweck einer Parteischule erfüllte: Schulung der Mitglieder, hier vor allem des Nachwuchses, in den Fragen der Ziele, Theorie und Geschichte der sozialistischen Bewegung. Ergänzt wurde dieser Lehrplan zusätzlich durch Fachbereiche Psychologie, Literatur, Kunst, Gesellschaftskunde, Verfassungslehre sowie Gewerkschafts- und Erziehungsfragen. Zu den Lehrern zählte neben Alfred Braunthal und Otto Jenssen auch Oskar Greiner.11 Außerdem fand sich hier auch Hermann Brill als Gastlehrer ein.12 In Tinz war dieser als Referent für öffentliches Recht zuständig, wobei er darunter auch die Betrachtung politischer Theorien fasste. So lehrte Brill neben dem Staatsrecht der Weimarer Republik, wobei er vor allem die Staatsorgane und die Grundrechte und Grundpflichten der Deutschen aufnahm, auch die weltanschaulichen Grundlagen bei Marx und Engels, den Bolschewismus, aber schließlich auch die „Wandlungen der sozialistischen Staatsanschauungen.“13 Brills Urteil über die Republik entsprach dabei der Lesart des linken sozialdemokratischen Flügels. So endete Brills Kurs zum Thema Allgemeine Staatslehre mit dem Ergebnis: Auch die Republik ist ein bürgerlich. [sic] kapitalistischer Klassenstaat. [...] Jedoch erlauben heute bereits sozialistische Faktoren in den formalen Elementen der politischen Demokratie [...] materielle Veränderungen zu Gunsten der Arbeiterklasse vorzunehmen.“14

Brill betont damit die Errungenschaften der Weimarer Republik vor allem für die Arbeiterbewegung, er sah als übergeordnetes, angestrebtes Ziel aber weiterhin die Errichtung eines sozialistischen Staates. Mit der Schließung der HVH durch die Nationalsozialisten 1933 endete auch Brills Tätigkeit vor Ort. Seine geänderte Einstellung zur Weimarer Republik wird allerdings nach 1945 schnell deutlich. Denn was Brill in Weimar begonnen hatte, führte er nun, nach seiner Ausreise aus der DDR, in der jungen Bundesrepublik fort.15 So hielt er unter anderem 1947 die Hauptrede bei einer sozialdemokrati11 Eine ausführlichere Betrachtung des Lehrplans bei Reimers (2011): Hermann Brill. In: Knigge-Tesche / Reif-Spirek (Hrsg.): Hermann Louis Brill, S. 37–55, hier S. 44 f. 12 Zur Tätigkeit Brills an der HVH Tinz vgl. ebd., S. 37–55 und Rudolph (2011): Vom Linksrepublikanischem Projekt. In: Knigge-Tesche / Reif-Spirek (Hrsg.): Hermann Louis Brill, S. 131–149. Neben Brill war unter anderem auch Ernst Fraenkel Gastdozent an der HVH. Auch dessen politische Bildungsarbeit in der Weimarer Republik prägte sein Wirken nach 1945. Vgl. Detjen (2016), Politische Erziehung, S. 207–255. 13 Vgl. Lehrplan Männerkurs 1. JH 1927. In: Thüringisches Staatsarchiv (ThStA) Greiz, Heimvolkshochschule Tinz, Nr. 59, Bl. 3 und Bl. 14 f. 14 Vgl. Brill [Manuskript]: Allgemeine Staatslehre. In: ThStA Greiz, Heimvolkshochschule Tinz, Nr. 61, Bl. 98. 15 Es fehlt hier der Raum für eine ausführlichere Betrachtung der Biographie Brills, der zunächst auf dem Gebiet der sowjetischen Besatzungszone politisch tätig war. Hierzu vgl Overesch (1992): Brill und Knigge-Tesche / Reif-Spirek (Hrsg.) (2011): Hermann Louis Brill.

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schen Revolutionsfeier, die dem Gedenken an die Revolution 1918 gewidmet war. Diese frühzeitige positive Erinnerung an die Weimarer Republik war dabei eher eine Seltenheit als weitverbreitete Erinnerungskultur.16 Als einer der ersten Schritte, nachdem Brill sich der westdeutschen Sozialdemokratie angeschlossen hatte, entwarf er aber schließlich den Plan für eine Sozialdemokratische Parteischule für Groß-Hessen. Diese orientierte sich deutlich am Lehrplan der HVH in Tinz. Brill übernahm hier nahezu identisch die Lehrgebiete Politische Ökonomie und Philosophie. Letzteres beinhaltete vorrangig den Historischen Materialismus und führte damit wiederum die Weimarer Arbeit fort. Auch Brills Lehrgebiet, die Staatsrechtslehre unter Fokussierung auf Verfassungsrecht, demokratischen Rechtsnormen und den Menschenrechten sollte hier erneut Einzug erhalten. Auf dem Feld der Geschichte lassen sich allerdings einige weitere detaillierte Parallelelen ausmachen. Auch dieses Themengebiet sollte in der Brill‘schen Schule aufgenommen werden, wobei die Weimarer Republik hier zunächst nicht als eigenes Themenfeld auftauchte. Zwischen den Lehrgebieten Erster Weltkrieg und nazistische Diktatur sind allein die Thematiken Friedensverträge und Reparationen verzeichnet. Dies bedeutet allerdings keine Negation der demokratischen Errungenschaften. Brill nahm vielmehr eine Integration der Demokratiegeschichte in die Geschichte der Sozialdemokratie vor. Unter dem Teil „Geschichte des Sozialismus“ finden sich die Themenvorschläge: die [sozialdemokratische, R.N.] Partei in der Weimarer Republik mit den Unterteilungen: Verfassungspolitik, Sozialpolitik und Äußere Politik.17 Auch wenn es keine weiteren Überlieferungen über die Parteischule gibt, ihre Realisierung blieb wohl ebenso aus, so zeigen die Vorschläge Brills, dass hier die Errungenschaften der Republik wiederum herausgestellt werden sollten und die Sozialdemokratie ein wesentliche Säule der Republik war. Neben der thematischen Fortführung ist bei den Tinzer Schülern und Lehrern aber auch in der Frage der persönlichen Verbundenheit eine Kontinuität feststellbar. Bereits in der Weimarer Republik hatte die HVH neben der eigentlichen Unterrichtung auf die Schaffung eines verknüpfenden Bandes, welches über die Anwesenheit der Schülerinnen und Schüler in Tinz hinaus entwickelt werden sollte, besonderes Augenmerk gelegt. Daher hatten auch gemeinschaftsbildenden Formen der Arbeit Eingang in den Lehrplan gefunden.18 Dieses Band hatte über die nationalsozialistische Terrorherrschaft hinaus Bestand haben können. So unterhielt der bereits erwähnte Oskar Greiner, als betagter aber rege tätiger Lehrer, noch bis zum Beginn der 1970er-Jahre Kontakt mit mindestens zwei sei-

16 Vgl. Ulrich (2009): Weimar-Komplex, S. 127. 17 Plan für eine Sozialdemokratische Parteischule für Groß-Hessen. In: BA Koblenz, NL Hermann L. Brill, N 1068/331. 18 Besonders die Form der Arbeitsgemeinschaft sollte dazu führen. Vgl. Reimers (2011): Hermann Brill. In: Knigge-Tesche / Reif-Spirek (Hrsg.): Hermann Louis Brill, S. 37–55, hier S. 45 f.

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ner ehemaligen Schüler.19 Gerade diese zeichneten sich dadurch aus, dass sie in der Bundesrepublik wichtige Positionen einnahmen. Zum einen war dies Gustav Schmidt-Küster, der sich zu den Protagonisten beim Aufbau eines sozialistisch geprägten Buchhandels zählen lässt.20 Zum anderen zählte Lotte Lemke dazu. Diese war nach ihrem Besuch der HVH Tinz bereits in der Weimarer Republik zur stellvertretenden Geschäftsführerin der Arbeiterwohlfahrt aufgestiegen, eine Arbeit die sie 1946 fortsetzte. Die Verbindung zwischen den ehemaligen Besuchern der HVH waren aber nicht nur in dieser vertikalen Ordnung von Lehrer-Schüler erhalten geblieben, sondern auch unter den Schülern selbst bildete die Erfahrung des gemeinsamen Schulbesuchs eine Kontinuitätslinie aus. Der Bedeutung dieser Verbundenheit war sich im Übrigen auch die Staatsführung der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) bewusst. Obwohl zunächst bei der Wiedereröffnung der Volkshochschule nach 1945 in Tinz „die Arbeiterschaft zu einem weltanschaulichen und allgemein wissenschaftlich gut geschultem Vortrupp zur demokratischen Erneuerung [… anknüpfend] an die bewährte und weltbekannte Tradition der Jahre 1920–33“21 erzogen werden sollte, war die Arbeit dieser Jahre später missliebig eingeordnet worden. So wurden die ehemaligen Besucher der Tinzer Schule in einer Liste verzeichnet und über den ehemaligen Leiter der Heimvolkshochschule Tinz hieß es sogar: „Diese drei Personen [ein Lehrer u.a., R.N.] sind bereits verstorben, haben aber alle Kinder im Alter von 30–40 Jahren und man muss feststellen was dieselben heute politisch machen.“22 Aus dieser Sammlung lässt sich allerdings keine gewünschtes weiteres Vorgehen ablesen. Wohl erwartete die Staatsführung politische Differenzen der Kinder der ehemaligen „Tinzianer“ gegenüber dem real existierenden Sozialismus. Kritisch wurde somit vor allem die Gemeinschaftlichkeit, die in der Weimarer Republik nahe Geras geschaffen worden war beäugt und daher beobachtet. Die Wirkung der „Parteischule“ Tinz war daher sowohl in Ost- als auch in Westdeutschland nach 1945 weiterhin präsent.

19 Vgl. Brief Gustav Schmidt-Küster an Greiner, vom 23. Oktober 1967. In: Archiv der sozialen Demokratie (AdsD) Bonn, NL Oskar Greiner, Mappe 2 und Brief an Lotte Lemke, vom 22.4.71. In: ebd. 20 Vgl. Sonnenberg (2016): Von Marx zum Maulwurf, S. 36–38. Vgl. ebd. zur Biographie Schmidt-Küsters und der Fortführung der Weimarer Tradition im Bildungswesen durch selbigen. 21 Schreiben an die Sowjetische Militäradministration. In: Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar, Land Thüringen, Ministerium für Volksbildung, Nr. 4379, Bl. 98. 22 Personenliste mit Bestimmung politischer Gesinnung. In: ThStA Rudolstadt, Erinnerungsberichte, Nr. 221 sowie Teilnehmerliste der Heimvolkshochschule Tinz Gera. Adressenverzeichnis der Teilnehmer der Frauen und Männerkurse der Heimvolkshochschule Tinz in Gera von 1920–1932. In: ebd.

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3. PERSONELLE KONTINUITÄT UND ORGANISATORISCHE DIFFERENZ. DIE CHRISTLICHE BILDUNGSARBEIT IM VERGLEICH. Verglichen mit der Sozialdemokratie ist die Fortschreibung einer christlichdemokratischen Bildungs- und Schulungsarbeit bereits namentlich wesentlich zu unterscheiden. Mit der CDU hatte sich nach dem Zusammenbruch des NSRegimes eine neue Partei gegründet. Zwar wurde auch die Zentrumspartei wiedergegründet, ein großer Teil ihrer Mitglieder hatte sich nun aber in der CDU reorganisiert.23 Im Zusammenhang mit der Schulungsarbeit ist dabei vorrangig ein Name zu nennen, der sowohl in der Weimarer Republik als auch in der jungen Bundesrepublik an der parteinahen Schulungsarbeit einen großen Anteil nahm: Heinrich Krone.24 Er war vor allem in der Gründungsphase der späteren KonradAdenauer-Stiftung, der Vorgänger unter dem Namen Gesellschaft für christlichdemokratische Bildungsarbeit ins Leben gerufen worden war, maßgeblich aktiv. Bereits in der Weimarer Republik war Krone ein rascher Aufstieg in der Zentrumspartei gelungen. 1923 beigetreten, wurde der ausgebildete Lehrer kurz darauf zum stellvertretenden Geschäftsführer ernannt. Einen großen Teil seines Schaffens widmete er jedoch der Jugendorganisation der Zentrumspartei, den Windthorstbunden. In diesen übernahm er zunächst den Posten des Geschäftsführers. Ab 1929 wurde er als Nachfolger von Joseph Joos ihr neuer „Reichsbundesführer“.25 Zudem war er 1925 für Peter Spahn in den Reichstag nachgerückt, als zu diesem Zeitpunkt jüngster Abgeordneter. In diesen Positionen war Krone aber nicht nur als Organisator, sondern gleichsam als Referent mit der politischen Schulungsarbeit in Kontakt gekommen. So hatte er 1930 beim Wochenendkursus des Provinzverbandes Ost der Windthorstbunde in Berlin über die aktuelle politische gesprochen, wenig später befasste er sich in Südwestdeutschland mit Inhalt und Wesen einer christlichen konservativen Politik im deutschen Volksstaat.26 Weitere Referate auch außerhalb der Gruppe der Windthorstbunde folgten.27 Welch grundsätzliche Bedeutung Krone der Bildungsarbeit beimaß, wird vor al-

23 Zur Zentrumspartei nach 1945 vgl. Nietfeld (1985): Zentrumspartei und Schmidt (1987): Zentrum. Zur Frage der CDU als neugegründete Partei oder Fortführung des Zentrums vgl Grüner (2003): Weimar als Argument. In: Gusy (Hrsg.): Weimars lange Schatten, S. 220– 223. 24 Eine umfassende Biographie Heinrich Krones ist, trotz Überlieferung seiner Tagebücher zwischen 1945 und 1961, ein Desiderat der Forschung. Hehl (1998): Politiker als Zeitzeuge, S. 83–104 und Abmeier (2004/2005): Heinrich Krone, S. 186–201 behandeln die Zeit vor 1945 in recht kurzen Abschnitten. 25 Vgl. Krabbe (1995): Gescheiterte Zukunft, S. 105. 26 Vgl. o.A. (1930): Aus der Bundesarbeit. In: Das junge Zentrum (DJZ),7 (1930) H. 3, S. 7 und o.A. (1930), Südwestdeutscher Schulungskursus. In: DJZ, 7 (1930) H. 4, S. 8. 27 Eine vollständige Rekonstruktion der Schulungstätigkeit Krones als Führer der Windthorstbunde ist nicht mehr durchführbar. Er sprach aber beispielswiese beim Reichsverband deutscher Zentrumsstudenten im Mai 1931. Vgl. o.A. (1931): Schulungstagung des Reichsverbandes Deutscher Zentrumsstudenten in Altenberg bei Köln. In: DJZ 8 (1931), H. 5, S. 7 f.

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lem auf seiner Rede auf der Reichstagung der Windthorstbunde 1931 in Essen deutlich. Hier beendete Krone seine Ausführungen mit den Sätzen: Unser besonderes Augenmerk müssen wir auf die politische Bildungsarbeit richten. Zu uns strömen neue junge Menschen, vom Idealismus getragen, begeistert, Menschen, denen aber noch politisches Wissen fehlt, die politische Sachkunde, das feste Fundament für ein politisches Urteil und für die Uebernahme politischer Verantwortung. Ich will, daß unser Reichsverband Menschen heranbildet, die nicht Schwätzer sind, sondern politische Charaktere und Sachkenner, Menschen, die das politische Interessententum, den Todfeind der Zentrumspartei in sich überwunden haben und sich selbstverantwortlich fühlen für das Ganze.28

Ganz im Sinne der USPD „Die Begeisterung allein macht es nicht“, warb Krone für eine sachliche Ausbildung der Parteimitglieder. Nicht Feuereifer, Idealismus und Aktivismus sollten den politisch Tätigen beseelen, sondern Rationalismus und Abwägen wurden zum Maßstab des Handelns. Dass es zur Nachhaltigkeit hierfür eine längere und umfassendere Ausbildung und Schulung benötigte, wurde ebenso betont. Daneben sollte sich durch diese Ausbildung wohl aber auch von der emotional begründeten Bewegung des NS abgegrenzt werden. Von dieser hatte er im Mai 1931 erwartet: „daß die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei vielleicht schon ihren Höhepunkt überschritten habe, daß wir aber um so mehr unser Interesse der Ideenbewegung, die ihr zu Grunde liegt, zuwenden müssen.“29 Krone gehörte 1945 dann schließlich zum engeren Führungskreis der CDU, vor allem aufgrund seiner Tätigkeit als parlamentarischer Geschäftsführer der Bundestagsfraktion seit 1951. Seine Mitwirkung bei der Schulungsarbeit der CDU baute aber auch auf den regionalen Initiativen auf. So hatte diese die Christlich Demokratische Partei des Rheinlands bereits im Oktober 1945 – damit frühzeitig nach der Erlaubnis der Zulassung der Parteien in den westlichen Besatzungszonen – durch einen Vortrag von Karl Zimmermann aufgenommen. In diesem suchte der Referent die Notwendigkeit der demokratischen und sittlichen Bildung zu vereinen. Für Zimmermann galt: „Am Ende kommt es immer auf Geist und Charakter an.“30 So sollte durch die Schulung der wahrhaft freie, soziale, zu selbstständigen Urteil fähige, gerechte und anständige Mensch geschaffen werden, der vor allem „der Mensch der Duldsamkeit [ist], der jenseits aller religiösen, politischen und rassenmäßigen Trennungen in seinem Nebenmenschen den Mitmenschen sieht.“31 Damit war das Ideal einer die gesamte Gesellschaft umfassende Gemeinschaft erneut angedacht. Zur Umsetzung beinhaltete das Programm die Themen: Verbin28 Das Programm unserer Arbeit. Dr. Krone in seiner Rede am Schluß der Generalsversammlung. In: DJZ, 8 (1931) H. 6/7, S. 1 f. 29 L.B., Nationalsozialismus. Erster Schulungsabend des Reichsfrauenbeirates der Deutschen Zentrumspartei. In: Germania, vom 7.5.1931. Auch diese Einschätzung war im Zuge der Tätigkeit Krones auf einer Schulungsveranstaltung der Zentrumspartei gefallen. 30 Karl Zimmermann, Organisation und Arbeit des Landessekretariat. Referat, gehalten auf der Arbeitstagung der Landespartei, Sonntag, den 9.9.1945 (= Rundschreiben der Christlich Demokratischen Partei des Rheinlandes Nr. 5/45). In: Historisches Archiv der Stadt Köln, Kö. S I 419, Bl. 32–35, hier Bl. 35. 31 Ebd., Bl. 34.

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dung christliche und demokratische Auffassung, die christliche Gemeinschaftsidee, das demokratische Staatswesen und Wesen und Wollen der eigenen Partei.32 So hatte sich die CDU im Rheinland besonders in einer Weise von der Zentrumspartei abgegrenzt. Sie nahm die politische Bildungsarbeit und Demokratieerziehung explizit als Gegenstand ihrer Schulungsarbeit auf. In der Weimarer Republik bestand hier eine deutlichere Trennung, wie sich im folgenden Abschnitt zeigen wird. Doch zunächst zurück zum Aufbau der Gesellschaft für christlichdemokratische Bildungsarbeit. Vorausgegangen war der Gründung dieser eine Debatte im Bundesvorstand der CDU. Als Geschäftsführer der CDU hatte hier Bruno Heck im Januar 1954, trotz der für die CDU erfolgreichen Bundestagswahl, bereits angeführt, dass eine stärkere politische Schulungs- und Bildungsarbeit notwendig sei, um „das politische Niveau dieser Parteifreunde [die in der Partei irgendeine Stelle haben, R.N.] zu heben.“33 Diesen Anstoß griff Krone auf. Im Februar 1955 wies dieser erneut auf eine fehlende vorpolitische Einrichtung zur Gewinnung und Ausbildung des Parteinachwuchses hin. Etwas, dass die Zentrumspartei der Weimarer Republik aber besessen habe. Er orientierte sich hierbei sogar namentlich am Volksverein für das Katholische Deutschland34. Dies verwundert insofern nicht, da neben Heinrich Vockel auch Krone bereits während der Weimarer Republik das Verhältnis von Volksverein und Zentrumspartei ausgelotet hatte. Beide handelten als Vertreter des Zentrums im September 1924 und verfassten, dass die Teilung der Arbeit zwischen Volksverein und Zentrumsverein […] in der Weise [erfolgt], dass dem Volksverein die grundliegende staatsbürgerliche Bildung und Schulung überwiesen wird, der Zentrumspartei demgegenüber die aus den Tagesereignissen sich ergebenden praktisch-politischen Fragen.35

32 Vgl. ebd, Bl. 35. Außerdem führte der CDU Landesverband Niedersachsen bis ca. 1950 sogenannte „Sprechabende“ durch, die ebenfalls der Vermittlung der Programmatik dienen sollten. Vgl. Fratzscher (1971): CDU in Niedersachsen, S. 59 f. Fratzschers positive Bewertung der Kurse entspringt wohl aber aus seiner persönlichen Tätigkeit als Generalsekretär der CDU Niedersachsen im betreffenden Zeitraum. 33 Protokoll des Bundesvorstands der CDU vom 19.1.1954. In: Adenauer, S. 74. Sprachlich benutzte Heck dabei das Bild der Kommunistischen Partei, die bereits während der Weimarer Republik für die Schulungsarbeit in der Partei von der Hebung des politischen oder theoretischen Niveaus sprach. So bei: o.A.(1931): Der Schulungstag. In: Der Propagandist 2 (1931), H. 6, S. 24 und Entwurf des Reichsschulungsplanes für das Jahr 1930/31. In: Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin, I. HA. Rep. 77 Ministerium des Innern, St. 18 Nr. 5, Bl. 12–20, hier Bl. 12. 34 Vgl. Protokoll des Bundesvorstands der CDU vom 5.2.1955. In: Adenauer, S. 388. Zur Arbeit des Volksverein vgl. Grothmann (1997): Verein der Vereine?. Ein Unikum der Weimarer Zeit war die vom Volksverein abgehaltene „Parlamentarierwoche“, in der Parlamentarier nicht etwa als Lehrer sondern als Lehrgangsteilnehmer angefragt wurden. Vgl. [Programm] Parlamentarierwoche. In: BA Berlin, R 8115/I/9, Bl. 90. 35 [Besprechung] am 24.9.1924. In: BA Berlin, R 8115/I/14, Bl. 85 f., hier Bl. 86.

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Eine Differenzierung, die sich nun aufgrund eines fehlenden Verbandswesens nicht mehr übernehmen ließ und damit zur wesentlich parteinäheren Schulungsarbeit überleitete. Was hierbei allerdings auffällt ist, dass Krone die Arbeit des Volksvereins nicht etwa als gescheitert bewertete. Dieser hatte durch seine volkswirtschaftlichen und staatsbürgerlichen Kurse großen Anteil an der staatsbürgerlichen bzw. politischen Bildung gehabt, auch wenn das Verhältnis von Volksverein und Partei keinesfalls immer einhellig positiv verlief. Im selben Gremium, dem CDU-Bundesvorstand, griff schließlich auch Elisabeth Pitz-Savelsberg auf die Erfahrungen der Weimarer Zeit in positiver Erinnerung zurück: „In der Weimarer Zeit hatten wir bei der Zentrumspartei in den größeren Städten des Rheinlandes Schulungseinrichtungen, in denen die jüngere Generation in die Politik hineingewachsen war.“36 Auch sie hielt diese Form der Heranführung der jüngeren Parteimitglieder als Notwendigkeit eines kontinuierlichen politischen Erfolges an und untermauerte die Notwendigkeit der Ausbildung mit Verweis auf die Ausrichtung der Arbeit in der ersten deutschen Demokratie. Wo in den Gründungsjahren der CDU „die explizite Anknüpfung an Weimar ein Tabu“37 geblieben war, schien sich dies mit fortschreitendem Zeitverlauf allmählich aufzuweichen. Aufgrund der vermehrt angeführten fehlenden Ausbildung der Parteimitglieder, kam Konrad Adenauer schließlich zu dem Vorschlag einen Ausschuss einzuberufen, der unter der Führung Krones und Tillmanns die „ideologische Fundierung und Weiterbildung“ in der Partei bearbeiten solle.38 Robert Tillmanns, stellvertretender CDU-Bundesvorsitzender, sprach diesbezüglich dann von keiner weltanschaulichen Erziehung mehr, sondern von der „Weckung der geistig-sittlichen Kräfte“39 der Partei. Der Begriff der Weckung oder Erweckung bestimmter Werte entsprang dem christlichen Verständnis der Partei und fand bereits in der Zentrumspartei unter anderem bei Erwin Niffka40 und Joseph Joos bei der Eröffnung des Politischen Seminars der Kölner Zentrumspartei seine Verwendung und war

36 Protokoll des Bundesvorstands der CDU vom 5.2.1955. In: Adenauer, S. 402. 37 Grüner (2003): Weimar als Argument. In: Gusy (Hrsg.): Weimars lange Schatten, S. 222. 38 Vgl. Protokoll des Bundesvorstands der CDU vom 5.2.1955. In: Adenauer, S. 408. Adenauer sieht hierbei aber einen verstärkten „geistige[n] Kampf gegen den Kommunismus und gegen den Bolschewismus“ als notwendigste Sache an. 39 Protokoll des Bundesvorstands der CDU vom 3.6.1955. In: Adenauer, S. 577. 40 Die politische Bildung müsse sich abheben von Propaganda, „von der reinen Agitation auf der Strasse […, denn] Agitation verhindert auch die Weckung gemeinschaftsbildender Werte.“ Niffka (1931): Bildungsarbeit. In: DJZ 8 (1931), H. 10, S. 2–4, hier S. 2. Erwin Niffka hatte sich vor allem in den Jahren 1930–33 in der Bildungsarbeit der Windthorstbunde betätigt und sollte eine Stelle als vollbeamteter Referent in der Schulungsarbeit der Bunde erhalten. Vgl. Windthorstbund-Führerbrief, Nr. 3/1933 vom 13.4.1933. In: Archiv für ChristlichDemokratische Politik St. Augustin, NL Niffka, I-034-001/1.

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eng mit der politischen Bildung zusammengedacht worden.41 Auch diese Verbindung wurde demnach nach 1945 erneut übernommen. Bruno Heck ist dann schließlich derjenige, der ein neues Statut der CDU ausarbeitet, und hier die „politische Weiterbildung so fördern [will], daß sie im Gespräch mit Andersenkenden in der Lage sind, die offizielle Politik zu vertreten.“42 Hierfür müsse eine zentrale Schulungsinstitution geschaffen werden, die die Ausbildung, Weiterbildung und Schulung der hauptamtlichen Kräfte und des politischen Nachwuchses durch Bildungskurse und überkonfessionellen Wochenendtagungen leisten sollte.43 Am Abend des 20. Dezember 1955 trafen sich hierfür unter anderem Ernst Bach, Heinrich Barth und Bruno Heck auf Einladung des aktuellen Vorsitzenden der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag, Heinrich Krone. Letzterer wurde schließlich Schriftführer in der in dieser Sitzung gegründeten Gesellschaft für christlich-demokratische Bildungsarbeit.44 Damit war der Weg zur Errichtung einer eigenen Institution der parteilichen Schulungsarbeit beschritten. Die Gesellschaft nahm in der Akademie Eichholz45 ihre Tätigkeit auf und entwickelte von dieser aus die spätere Konrad-Adenauer-Stiftung. Ein Verweis auf die Vorfeldorganisationen, die nun auch nicht mehr explizit „katholisch“ geprägt, wie dies noch beim Volksverein der Fall war, entfiel. Damit war der Partei das gelungen, was ihr in Weimar verwehrt geblieben war, die Schaffung einer zentralen Einrichtung. Die dezentralen Institutionen der Weimarer Republik bildeten in der Gründungsphase jedoch keine Negativfolie. Ihre Existenz wurde besonders in der Vorstandssitzung im Februar 1955 vermehrt positiv hervorgehoben. 4. ZWISCHEN WEIMAR UND BONN – ZWISCHEN KONTINUITÄT UND NEUANFANG Die Weimarer Republik als Ideengeber für die Bundesrepublik? Dies nicht nur als „Negativschablone“, sondern als positives Vorbild? Für die hier betrachteten Protagonisten und ihr Umfeld, in dem sie tätig waren, (beides gibt allerdings nur einen kleinen Ausschnitt der Zeitgeschehnisse wider), ist diese Sicht durchaus zutreffend. Sowohl für Hermann Brill als auch für Heinrich Krone, die beide we-

41 Joos definierte politische Bildung als „Weckung und Entfaltung der dem deutschen Menschen von heute noch innewohnenden Kräfte in Bezug auf die Staatsgestaltung.“ Joos: Eröffnungsrede. In: Kölner Lokal Anzeiger vom 27. September 1927. 42 Protokoll des Bundesvorstands der CDU vom 3.6.1955. In: Adenauer, S. 557. 43 Vgl. ebd., S. 564. 44 Vgl. ebd., S. 22. In Krones Tagebüchern finden sich trotz seiner zentralen Funktion bei der Schaffung der Gesellschaft allerdings keine Hinweise auf seine Arbeit diesbezüglich. Ende Dezember 1955 heißt es hier nur „Es wäre aus den letzten Monaten noch einiges mehr zu zitieren gewesen. Ich kam aber nicht dazu. Es wurde mir zu viel.“ Eintrag Ende Dezember. In: Heinrich Krone. Tagebücher. Erster Band: 1945–1961, Düsseldorf 1995, S. 196. 45 Zur Gründungsgeschichte der Akademie Eichholz, die hier nicht weiter verfolgt werden soll, vgl. Beaugrand (2003): Konrad-Adenauer-Stiftung.

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sentlichen Anteil an der Gründung der Bundesrepublik und der Gestaltung ihrer Politik hatten, besaß die Weimarer Republik in dem hier untersuchten Themenfeld eher Vorbildcharakter, als dass sie als fehlerbehaftet oder „gescheitert“ klassifiziert wurde. Beide beriefen sich auf die Tradition ihrer Parteien und ihrer eigenen Arbeit in der Zeit zwischen 1918 und 1933 und unternahmen den Versuch diese fortzuführen. Für beide Demokraten war die Schulungsarbeit der Parteien 1933 nicht etwa fehlgeschlagen, sondern eher unterbrochen worden. Wo Krone das Fehlen der Vorfeldorganisationen – nicht zuletzt ein Resultat der Neugründung einer christlichen Partei nach 1945 – bedauerte, versuchte Brill die Arbeit der HVH Tinz in wesentlich parteiengeren Bahnen wie Phönix aus der Asche zu erheben. Auch wenn seine Pläne keine nachweisebaren Umsetzungen erfuhren, bildeten sie doch die Grundlage seiner weiteren demokratiepädagogischen Arbeit. Der Erfahrungsschatz der Weimarer Zeit, der auch beinhaltete, dass die Parteien sich gerade nicht aus der Bildungsarbeit ausnehmen konnten, wollten sie erfolgreich im politischen Wettbewerb bestehen, wurde so unter den Bedingungen der zweiten deutschen Demokratie genutzt und überführt. Die Gründungsgeschichte der Schulungsarbeit der Parteien und der politischen Stiftungen der zweiten deutschen Demokratie ist damit ohne Berücksichtigung ihrer Vorläufer kaum schreibbar. QUELLEN Adenauer: „Wir haben wirklich etwas geschaffen.“ Die Protokolle des CDU-Bundesvorstands 1953–1957, Düsseldorf 1990. Archiv der sozialen Demokratie Bonn: NL Oskar Greiner, Mappe 2. Archiv für Christlich-Demokratische Politik St. Augustin, NL Niffka, I-034-001/1. Bundesarchiv Berlin: R 8115/I/9; 8/115/I/11; R 8115/I/14. Bundesarchiv Koblenz: NL Hermann L. Brill, N 1068/331. Das junge Zentrum. Monatsschrift des Reichsverbandes der Deutschen Windthorstbünde. Der Propagandist. Monatsschrift für Propaganda des Marxismus-Leninismus. Freiheit. Berliner Organ der unabhängigen Sozialdemokratie Deutschlands. Geheimes Staatsarchiv Preuß. Kulturbesitz: I. HA. Rep. 77 Ministerium des Innern, St. 18 Nr. 5. Germania. Zeitung für das deutsche Volk. Heinrich Krone. Tagebücher. Erster Band: 1945–1961, Düsseldorf 1995. Historisches Archiv der Stadt Köln: Kö. S I 419. Kölner Lokal Anzeiger. Lepinski, Franz: Die Jungsozialistische Bewegung, ihre Geschichte und ihre Aufgaben, Berlin 1927. Sozialdemokratischer Parteitag 1927 in Kiel. Protokoll mit dem Bericht der Frauenkonferenz, Berlin 1927. Stadtarchiv Bonn: Nachlass Johannes Henry. Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar: Land Thüringen, Ministerium für Volksbildung, Nr. 4379. Thüringisches Staatsarchiv Greiz: Heimvolkshochschule Tinz Nr. 59, Heimvolkshochschule Tinz Nr. 61. Thüringisches Staatsarchiv Rudolstadt: Erinnerungsberichte.

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LITERATUR Abmeier, Karlies: Heinrich Krone (1895–1989). In: Wichmann-Jahrbuch des Diözesangeschichtsvereins Berlin, Jg. 44/45 (2004/2005), S. 186–201. Beaugrand, Günter: Die Konrad-Adenauer-Stiftung. Eine Chronik in Berichten und Interviews mit Zeitzeugen, Sankt Augustin 2003. Braune, Andreas / Hesselbarth, Mario / Müller, Stefan (Hrsg.): Die USPD zwischen Sozialdemokratie und Kommunismus 1917–1922. Neue Wege zu Frieden, Demokratie und Sozialismus?, Stuttgart 2018. Detjen, Joachim: Politische Erziehung als Wissenschaftsaufgabe. Das Verhältnis der Gründergeneration der deutschen Politikwissenschaft zur politischen Bildung, Baden-Baden 2016. Fratzscher, Arnold: CDU in Niedersachsen. Demokratie der ersten Stunde, Uelzen 1971. Grothmann, Detlef: „Verein der Vereine“? Der Volksverein für das Katholische Deutschland im Spektrum des politischen und sozialen Katholizismus der Weimarer Republik, Köln 1997. Grüner, Stefan: Weimar als Argument in der Gründungsphase der westdeutschen Nachkriegsparteien, 1945–1949. In: Gusy, Christoph (Hrsg.): Weimars lange Schatten – „Weimar“ als Argument nach 1945, Baden-Baden 2003, S. 215–237. Hehl, Ulrich von: Der Politiker als Zeitzeuge. Heinrich Krone als Beobachter der Ära Adenauer. In: Historisch-Politische Mitteilungen, 5 (1998), S. 83–104. Krabbe, Wolfgang: Die gescheiterte Zukunft der Ersten Republik. Jugendorganisationen bürgerlicher Parteien im Weimarer Staat (1918–1933), Opladen 1995. Nietfeld, Joseph: Die Zentrumspartei. Geschichte und Struktur 1945–1958, Braunschweig 1985. Overesch, Manfred: Hermann Brill in Thüringen 1895–1946. Ein Kämpfer gegen Ulbricht und Hitler, Bonn 1992. Reimers, Bettina Irina: Hermann Brill als Wegbereiter des Fachs Rechtskunde in der Thüringer Volksbildungsarbeit der Weimarer Zeit. In: Knigge-Tesche, Renate / Reif-Spirek, Peter (Hrsg.): Hermann Louis Brill 1895–1959. Widerstandskämpfer und unbeugsamer Demokrat, Wiesbaden 2011, S. 37–55. Rudolph, Karsten: Vom linksrepublikanischem Projekt im Mitteldeutschland der Weimarer Zeit zum demokratischen Aufbau der Bundesrepublik. In: Knigge-Tesche, Renate / Reif-Spirek, Peter (Hrsg.): Hermann Louis Brill 1895–1959. Widerstandskämpfer und unbeugsamer Demokrat, Wiesbaden 2011, S. 131–149. Schmidt, Ute: Zentrum oder CDU. Politischer Katholizismus zwischen Tradition und Anpassung, Opladen 1987. Simon, Werner: Politische Bildung durch Parteien? Eine Untersuchung zur politischen Bildungsaufgabe der politischen Parteien in der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt am Main 1985. Sonnenberg, Uwe: Von Marx zum Maulwurf. Linker Buchhandel in Westdeutschland in den 1970er Jahren, Göttingen 2016. Ullrich, Sebastian: Der Weimar-Komplex. Das Scheitern der ersten deutschen Demokratie und die politische Kultur der frühen Bundesrepublik 1945–1959, Göttingen 2009.

DIE WOHLFAHRTSSTADT DER WEIMARER REPUBLIK Die Bedeutung des Sozialstaates vor Ort Oliver Gaida EINLEITUNG Im Jahr 1928 erschien das Buch „Jungen in Not“ des Autors Martin Lampel.1 Darin schildert er die schwierige Situation im Berliner Erziehungsheim Struveshof. Dieses Werk reiht sich in einen Strang zahlreicher Bücher und Zeitungsberichte zur perspektivlosen Lage gerade der jungen Generation ein. Ähnlich wie Lampel konnten auffallend viele erfolgreiche Buchautoren der Jahre eigene Erfahrungen in der Fürsorge vorweisen: Justus Ehrhardt, der den Roman von 1931 „Straße ohne Ende“ verfasste, arbeitete als Sozialpädagoge und Fürsorgebeamte.2 Albert Lamm unterrichtete Zeichnen in einem Jugenderwerbslosenheim, bevor er 1932 sein Buch „Betrogene Jugend“ vorlegte.3 Im gleichen Jahr beendete der Sozialarbeiter und Journalist Ernst Haffner sein Buch „Jugend auf der Landstraße“, was 1933 von den Nationalsozialisten verbrannt wurde.4 Theaterstücke und Filme schlossen sich diesem Trend an. Die Not, die Ungewissheit und die Rastlosigkeit der wohnungslosen Wanderer, der jungen Erwerbslosen und der Jugendlichen in Fürsorgeerziehung standen sinnbildlich für die Krise eines wohlfahrtsstaatlichen Versprechens.5 Einzelne Skandale zum Beispiel in Erziehungsheimen verstärkte das Bild noch. Die unzähligen Jugendlichen auf Arbeitssuche illustrierten die Weltwirtschaftskrise.6 Mit dem Anstieg der Massenerwerbslosigkeit über sechs Millionen im Deutschen Reich ließen die Kosten explodieren und die Arbeitslosenversicherung kollabieren. Die Wohlfahrtspflege der Gemeinden mussten die Krise auffangen und stießen dabei schnell an ihre Grenzen. Mit ihnen riss die Krise die auf wohlfahrts-

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Lampel (1928): Jugend in Not. Außerdem verfasste er ein Roman: ders. (1929): Verratene Jugend. Ehrhardt (1931): Straßen ohne Ende. Lamm (1932): Betrogene Jugend. Haffner (1932): Jugend auf der Landstraße. Vgl. Gräser (1995): Der blockierte Wohlfahrtstaat, S. 216–229. Vgl. Althammer (2017): Vagabunden, S. 36.

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staatliche Grundsätze – wie in der Weimarer Reichsverfassung festgehalten – aufgebaute Demokratie mit sich.7 Diese Krisenprozesse zu erklären, machte sich die von der Sozialgeschichte stark geprägte Geschichtswissenschaft in den 1980er und 1990er Jahren zur Aufgabe. Wie konnte es zum Scheitern der sozialen Sicherungssysteme kommen? Auf einen Prozess des Scheiterns allein lässt sich aber der Weimarer Wohlfahrtsstaat nicht reduzieren. Wo liegen also neue Fragen zur Forschung über die Sozialstaatlichkeit – nicht zuletzt auf der kommunalen Ebene, die gerade in Krisenphase für ein System der sozialen Sicherheit entscheidend wird. DER GESCHEITERTE WOHLFAHRTSSTAAT Die wichtigen und fundierten Studien der 1980er und 1990er Jahre haben erheblich zum Verständnis der Krisenprozesse beigetragen. Auf der anderen Seite spitzten die Analysen das Bild der Weimarer Republik stark auf eine Art Garantie des Scheiterns zu. Dies drückte beispielsweise Michael Stolleis in der Überblicksdarstellung „Grundlagen der Sozialpolitik“ auf die Weimarer Republik zurückblickend aus, wenn er generell von einer „politische[n] Ausweglosigkeit“8spricht. Dem wohlfahrtsstaatlichen Dilemma der Weimarer Republik widmeten sich eine ganze Reihe an Autoren: Marcus Graser beschrieb präzise, wie der sozialstaatliche Anspruch – gerade auf dem Feld der Jugendwohlfahrtspflege – nicht erfüllt werden konnte. Er sprach zusammenfassend vom „blockierten Wohlfahrtsstaat“9. Wie konflikthaft dieser in den Krisenjahren wurde, arbeitete David Crew heraus, indem er beispielsweise auf die handgreiflichen Auseinandersetzungen in Fürsorgeämtern verwies.10 Diese Fürsorge charakterisierte Detlev Peukert in seinem Werk „Die Grenzen der Sozialdisziplinierung“: Darin legte er dar, wie sich ihre für die Moderne typische Janusköpfigkeit auswirkte. Auf der einen Seite schuf der Sozialstaat neue Hilfsangebote und auf der anderen Seite verlangte er dafür eine Disziplin, die sonst mit Ausgrenzung sanktioniert wurde.11 In dieser Gemengelage konnten Reformbestrebungen sich nicht durchsetzen und waren spätestens in den Krisenjahren diskreditiert. Folglich blieb die Not der Jugend – trotz aller Bemühungen – ein ungelöstes Problem der jungen Republik, wie Elizabeth Harvey zeigte.12 Diese Debatten begleitete die Frage nach dem grundsätzli-

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Vgl. Sachße / Tennstedt (1988): Fürsorge und Wohlfahrtspflege, S. 211–217. Vgl. Stolleis (2001): Weimarer Republik, S. 283. Gräser (1995): Der blockierte Wohlfahrtstaat, S. 218. Vgl. Crew (1998): Germans on Welfare, S. 166–187. Vgl. Peukert (1986): Grenzen der Sozialdisziplinierung, S. 305–309. Vgl. Harvey (1993): Youth and the Welfare State, S. 264f. Siehe auch Hermanns (1990): Jugendarbeitslosigkeit, S. 20 f.

Wohlfahrtsstadt in der Weimarer Republik

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chen Charakter der Weimarer Republik als Wohlfahrtsstaat – mit Schwerpunkt auf den Kampf gegen die Massenerwerbslosigkeit.13 Die Grundlage für diese Studien legten maßgeblich Christoph Sachße und Florian Tennstedt: In ihrer Langezeituntersuchung der Strukturen der Armenfürsorge ordneten sie einmal den Aufbau des Wohlfahrtsstaates in die armenfürsorgerische Traditionen seit dem Spätmittelalter bis zum Ersten Weltkrieg ein und belegten die Wurzeln der autoritären und späteren völkischen Wohlfahrtspflege des Nationalsozialismus bereits in den Krisenjahren.14 Die folgende Konsequenz ergab sich aus der spezifischen Fragestellung, das Scheitern zu erklären: Schlussendlich verschwimmt die Aufbauleistung der Wohlfahrtsstaates und er erscheint mit der Weltwirtschaftskrise zerstört. Noch nicht hinreichend beantwortet sind für die kommunale und städtische Ebene folgerichtig die Fragen: Was bleibt vom Weimarer Wohlfahrtsstaat? Was überdauerte die umfassende Krise? Was wirkte nach? Welche Weichen waren langfristig gestellt? KOMMUNEN HINTER DER ZENTRALISIERUNG Die Republik baute in einem hohen Maße den Wohlfahrtsstaat aus. Allerdings mussten Ministerialstrukturen sich erst finden, um maßgebliche Impulse setzen zu können. Die Gemeinden hingegen waren in den Nachkriegs-, Inflations- und Weltwirtschaftskrise den Notlagen am nächsten und mussten reagieren. Hinzu kam, dass sie Armenfürsorge im Kaiserreich und davor ohnehin genuin die Aufgabe der Kommunen war.15 Ihr weites Aufgabenspektrum reichte von der Versorgung Erwerbsloser und Arbeitsunfähiger bis zur Familien- sowie Jugendpflege. Die Wohlfahrtsbehörden sollten den Staat und die Kommune repräsentieren, Bedürftige (materiell) versorgen, zur (Volks-)Gesundheit beitragen, Personen erziehen sowie Informationen sammeln.16 Die Verantwortung für die Situation vor Ort lag damit bei ihnen. Die Reichsregierung strebte durchgehend an, die Kompetenzen für die Sozialpolitik im Einvernehmen mit der Landeseben zu zentralisieren. Die Entwicklung setzte schon im Krieg ein: Neben der Bürokratisierung und Professionalisierung war die Zentralisierung ein weiteres Merkmal der Fürsorgeentwicklung im Kriege. Obwohl die faktische Organisation der Leis-

13 Vgl. Abelshauser (1987): Wohlfahrtsstaat, S. 9–62 oder Ritter (1989): Sozialstaat. 14 Vgl. Sachße / Tennstedt (1988): Fürsorge und Wohlfahrtspflege; Sachße / Tennstedt (1992): Der Wohlfahrtsstaat im Nationalsozialismus, S. 273–277. Außerdem liegen Studien zu Organisationen der freien und konfessionellen Wohlfahrtspflege vor. Siehe Kaiser (1989): Sozialer Protestantismus; Maurer (2008): Caritasverband. 15 Vgl. Raphael (2000): Recht und Ordnung, S. 157 f. 16 Vgl. Lohalm (2010): Völkische Wohlfahrtsdiktatur, S. 11.

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Oliver Gaida tungen und Dienste Sache der Gemeinde blieb, trat das Reich erstmals als finanzierende und 17 regulierende Instanz manifest in Erscheinung.

Die Weimarer Reichsverfassung hebt den wohlfahrtsstaatlichen Anspruch deutlich auf eine republikweite Ebene. Im Artikel 163 Abs. 2 der Weimarer Verfassung heißt es: „Jedem Deutschen soll die Möglichkeit gegeben werden, durch wirtschaftliche Arbeit seinen Unterhalt zu erwerben. Soweit ihm angemessene Arbeitsgelegenheit nicht nachgewiesen werden kann, wird für seinen notwendigen Unterhalt gesorgt. […]“18 Die großen Gesetzgebungsinitiativen suchten ebenfalls eine gemeinsame Grundlage: Das galt sowohl für das 1922 beschlossene und 1924 in Kraft getretene Reichsjugendwohlfahrtsgesetz als auch die Reichsfürsorgepflichtverordnung von 1924. Besonders deutlich machten dies die „Reichsgrundsätze über Voraussetzung, Art und Maß der öffentlichen Fürsorge" aus dem gleichen Jahr, die direkt in die Arbeit von Landes- und Gemeindeebene eingriffen. Als ein herausragendes Projekt führte die Republik 1927 die Arbeitslosenversicherung ein. Nur darf der hohe Aktivitätsgrad der Zentralinstanzen wie dem Reichsarbeitsministerium sowie dem Reichsinnenministerium nicht über die anfängliche Wirkmächtigkeit täuschen. Zwar stellten Christoph Sachße und Florian Tennstedt die Zentralisierung als wichtige Entwicklungslinie heraus, aber räumten ein, dass der zentrale Einfluss begrenzt war: Zum Beispiel ermöglichten die „Richtsätze nur sehr beschränkte Einflussnahme des Reiches“19 und es musste viel Rücksicht auf die Länder, die Spitzenverbände der freien Wohlfahrtspflege und die Kommunen nehmen. Gerade die Großstädte verfolgten eigene Handlungslinien. Sie waren in ihrer Praxis vielfach den Initiativen der Reichsebene voraus. Das durch das Reichsjugendwohlfahrtsgesetz vorgegebene Jugendamt arbeitete in den größten Städten längst routiniert. Große Städte spannen ein umfangreiches Fürsorgenetzwerk, das Wilfried Rudloff als „Wohlfahrtsstadt“ bezeichnete.20 Darin konnten sie eigenverantwortliche Aktivitäten auf dem Gebiet der allgemeinen Wohlfahrt, der Kriegshinterbliebenen und -beschädigten-Wohlfahrt, der Gesundheitsfürsorge, der Wohnungsfürsorge und vor allem auch der Jugendfürsorge entfalten. Die Jugendfürsorge hatte in den 1920er Jahren einen ausgesprochen hohen Stellenwert. Die Jugend hat sich als eigenständige Gruppe herausgebildet und wurde zu einer Zielgruppe der Fürsorge.21 Weil die junge Generation den Fortbestand der Republik sichern und die Ziele – gerade der Arbeiterbewegung – umsetzen sollte, galt ihr ein besonderes Augenmerk. Generell verlangte der Umgang mit

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Sachße / Tennstedt (1988): Fürsorge und Wohlfahrtspflege, S. 211. Art. 163 Abs. 2, Die Verfassung des Deutschen Reiches vom 11.8.1919. Sachße / Tennstedt (1988): Fürsorge und Wohlfahrtspflege, S. 182. Vgl. Rudloff (1998): Die Wohlfahrtsstadt, S. 971–982 und Rudloff (2017): The Welfare State and Poverty, S. 105–136. Zum Feld der Kommunalpolitik siehe auch Lehnert (1991): Kommunale Politik und Moser (2002): Volksgesundheit. 21 Vgl. Peukert (1986): Grenzen der Sozialdisziplinierung, S. 37–67.

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der Jugend einen erhöhten Rechtfertigungsaufwand. Neue Leitvorstellungen wie die Sozialpädagogik machten die Jugendfürsorge zu einem viel beachteten Experimentierfeld.22 Viele Jugendliche strömten auf der Suche nach einer Perspektive in die Großstädte – allen voran Berlin. Die Rolle der Hauptstadt und als drittbevölkerungsreichste Metropole der Welt brachte eine erhöhte Aufmerksamkeit mit sich. Zugleich fungierte sie als Sinnbild der Nöte der Moderne. Unter diesen Prämissen entfaltete die Stadt Groß-Berlin besondere Aktivitäten auf dem Gebiet der Jugendwohlfahrtspflege: a) Die Fürsorge expandierte massiv. „Bezogen auf die Vorkriegszeit fand der vergleichsweise stärkste Stellenausbau im Wohlfahrtssektor vermutlich auf kommunaler Ebene statt.“23 Mit ihnen entstanden zahlreiche neue Anlaufstellen und neue Ämter wie dem Jugendamt, das aber in Berlin auch schon vor dem Reichsjugendwohlfahrtsgesetz existierte und einen eigenen spezialisierten Bereich für Jugendliche schuf. Von Berlin-Prenzlauer Berg aus fanden rund um den Jugendamtsleiter und Fürsorgeexperte Walter Friedländer wegweisende Debatten um die auf Kinder und Jugendliche ausgerichtete Rolle des Jugendamtes statt.24 Zudem beförderte die hohe Dichte an Fachschulen in Berlin die Professionalisierung. Es ergab sich ein außergewöhnliches Netzt aus den Einrichtungen der Jugendfürsorge in den zwanzig Bezirken und dem Landesjugendamt. b) In den vielen erwerbslosen Jugendlichen sah der Berliner Magistrat eines der schwerwiegendsten Probleme der Metropole. Auf diesem Gebiet verfolgte die Fürsorge deshalb neue Wege. Das „Werkhaus“ zählte dazu. Elizabeth Harvey bezeichnete es als „most significant Innovation by the public youth welfare authorties in response to the problem of youth unemployment“25. In den Werkhäusern sollten junge Erwerblose, sich beschäftigen können und noch in Grundfertigkeiten ausgebildet werden. Die Erwerbsarbeit und die Sexualmoral leiteten die fürsorgerischen Maßnahmen. Die neuen Ansätze sollten Hilfsbedürftige mithilfe einer ausgebauten Bürokratie besser erfassen und erreichen.26 Der Aufbau dieser neuen Fürsorgeformen dauerte in der Regel länger. So hielt das Konzept der Familienfürsorge erst nach und nach in den Berliner Bezirken Einzug. Familien sollten feste, hauptamtliche, professionelle Fürsorgerinnen und Fürsorger an die Seite bekommen.27 Trotz der schleppenden Umsetzung etablierten sich so aber neue Abläufe im Berliner Wohlfahrtssystem. Dabei machte sich folgendes Phänomen besonders bemerkbar: Die schöpferische Kraft der ‚Außenseiter‘, etwa der Sozialhygieniker, Sexualreformer, der durch die Jugendbewegung geprägten Sozialpädagogen, konnten sich vor allem in einigen

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Vgl. Harvey (1993): Youth and the Welfare State, S. 152–185. Sachße / Tennstedt (1988): Fürsorge und Wohlfahrtspflege, S. 86. Vgl. Harvey (1993): Youth and the Welfare State, S. 226–263. Ebd., S. 128. Vgl. Luttenberger (2013): Verwaltung für den Sozialstaat, S. 211–280. Vgl. Sachße / Tennstedt (1988): Fürsorge und Wohlfahrtspflege, S. 198.

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Oliver Gaida (Groß-)Städten entwickeln. […] Hier konnten bis zur Weltwirtschaftskrise soziale und kulturelle Impulse geweckt werden, die im Rahmen der autoritären Umwelt der Kaiserzeit ausschweifend und extravagant erschienen wären und Großstädte oder Stadtbezirke zu einem Versuchsfeld für ein demokratisches und vielleicht auch sozialistisches Deutschland werden ließen – bis sie dann an den knappen ökonomischen Ressourcen sowie den konservativen und totalitären Gegenkräften scheiterten.28

c) Die bestehenden Fürsorgestrukturen und -praktiken sollten ebenfalls reformiert werden. Besonders rapide dehnte sich das Anstaltswesen aus. Zu den vielen konfessionellen Einrichtungen kamen mehr und mehr kommunale.29 Einige hatten einen Modellcharakter inne. Beispielsweise versuchte der Sozialreformer und Pädagoge Karl Wilker, im Erziehungsheim „Lindenhof“ Gemeinschaft und Selbstbestimmung der Jugendlichen zu fördern.30 Ähnlich startete auch die Berliner Anstalt Struveshof als Reformprojekt, aber stieß schnell an ihre Grenzen. Die Fürsorgeerziehung sollte reformiert und – wie die gesamte Jugendfürsorge – pädagogisiert werden. Im Gegenzug sollte der polizeiliche Einfluss zurückgedrängt werden. Daraus gingen neue Kooperationsformen hervor: So richtete das Jugendamt eine Jugendhilfestelle beim Polizeipräsidium ein, um aufgegriffene Jugendliche direkt in Obhut nehmen zu können und sie geschlechterspezifisch zu betreuen. Bei Jungen lag der Schwerpunkt auf der Erwerbslosigkeit – aber auch der Verdacht „Strichjungen“31 – und bei Mädchen vorwiegend der „sexuellen Verwahrlosung“. Die drei genannten Bereiche verdeutlichen, dass die kommunale Ebene mit erheblichem eigenen Handlungsspielraum den Kontakt und den Umgang mit den Hilfsbedürftigen organisierte. Ein Ergebnis davon war: „Die Weimarer Republik […] war eine Zeit bemerkenswerter Innovationen auch auf dem Gebiet der Jugendfürsorge. Das gilt sowohl für den organisatorisch-administrativen als auch für den sozialpädagogisch-konzeptionellen Bereich.“32 Die „Wohlfahrtsstadt“ trieb diese Entwicklung voran. Die selbstgesteckten Ziele erreichten sie nicht, wie es Detlev Peukert beschreibt und begründet: Zuwendung zu den Erziehbaren und Ausgrenzung der Unerziehbaren gemeinsam bilden das Janusgesicht der modernen Sozialpädagogik. Dabei wurde die Problematik der Ausgrenzung aber erst brennend akut, als die Sozialpädagogik aus dem Allmachtstraum der Wachstumsjahre erwachte und an ihre Grenzen stieß. An die Grenzen der Finanzierbarkeit, an die Grenzen der eigenen organisatorischen Wirksamkeit, an jene Grenzen, die Logik der kapitalistischen Marktwirtschaft den Bildungswünschen setzte, und an die Grenzen der Erziehbarkeit, die in 33 den ‚Objekten‘ der pädagogischen Anstrengungen selbst lagen.

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Ebd., S. 85. Vgl. ebd., S. 107. Vgl. Peukert (1986): Grenzen der Sozialdisziplinierung, S. 200 f. Vgl. Lücke (2008): Männlichkeit in Unordnung, S. 150–232. Sachße / Tennstedt (1988): Fürsorge und Wohlfahrtspflege, S. 114. Peukert (1986): Grenzen der Sozialdisziplinierung, S. 307.

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Die Expansion der Fürsorge, die Professionalisierung und Bürokratisierung war in den Großstädten dennoch vollzogen und kann nicht gänzlich hinter der Diskrepanz zwischen Zielen und Realität verschwinden.34 DAS FORTWIRKEN DER SOZIALSTAATLICHKEIT Die bisherigen Untersuchungen zur kommunalen Ebene der Sozialstaatlichkeit seit den 1980er Jahren endeten meist mit der Weltwirtschaftskrise. Dadurch verfestigte sich ein Bild, dass die „Wohlfahrtsstadt“-Strukturen auch mit der Krise untergingen. Es ist richtig, dass sie in der Krise handlungsunfähig wurden – aber gerade die Krise ließ Ausgaben und Anstrengungen hochhalten. Für die NS-Herrschaft nahm die Wohlfahrtspflege der kommunalen Ebene durchaus eine wichtige Rolle ein.35 Die Kommunen bauten sich eigeninitiativ zur einer „völkischen Wohlfahrtsdiktatur“36 um. Sie trieben von Anfang an Verfolgungsmaßnahmen gegen von ihnen als „asozial“ angesehenen Personen, also häufig Obdachlose und Prostituierte, voran. Zwischen den „Bettlerrazzien“ 1933 und der „Aktion Arbeitsscheu Reich“ 1938 waren sie maßgeblich, bevor sich die Reichsebene erst kurz vor dem Krieg massiv einschaltete.37 Ebenso drängten sie Jüdinnen und Juden aus den Fürsorgenetzwerken.38 Im Gegenzug sollten nur „würdige Volksgenossen“ unterstützt werden, um eine rassisch reine „Volksgemeinschaft“ zu errichten, in der „Arbeitsscheue“ und im eugenischen Sinne „Minderwertige“ keine Platz haben durften. Dementsprechend gehörten deviante Jugendliche – gerade in den Großstädten – zum Feindbild.39 Berlin war aus nationalsozialistischer Sicht ein besonderer Problemherd, weswegen die NSWohlfahrtsämter dort umfangreiche sozialbiologisch motivierte Repressionsmaßnahmen gegen deviante Personen einleiteten.40 Auf welche Aufbauleistungen der Weimarer Jahre griffen die nationalsozialistischen Fürsorgefunktionäre zurück? Grundsätzlich sind die Beharrungskräfte in den Fürsorgesystemen hoch – weswegen in der Weimarer Republik auch die Kommunen für die Wohlfahrtspflege maßgeblich blieben. Paradoxerweise waren die nationalsozialistischen Verfolgungsmaßnahmen, die sich gegen den Anspruch eines demokratischen Wohlfahrtsstaates richteten, auf sozialstaatliche Mechanismen angewiesen, um Personen auszugrenzen. 34 35 36 37

Vgl. Sachße / Tennstedt (1988): Fürsorge und Wohlfahrtspflege, S. 211–217. Vgl. Sachße / Tennstedt (1992): Der Wohlfahrtsstaat im Nationalsozialismus, S. 273–277. Lohalm (2010): Völkische Wohlfahrtsdiktatur, S. 11. Vgl. Ayaß (1995): „Asoziale“ im Nationalsozialismus, S. 138–165; Weber (2012): Die Verfolgung „Asozialer“, S. 325–342. 38 Vgl. Gruner (2002): Öffentliche Wohlfahrt und Judenverfolgung. 39 Vgl. Wildt / Kreutzmüller (2012): Berlin 1933–1945,S. 7–18. 40 Vgl. Gaida (2014): Die Formierung der ‚Asozialen‘-Verfolgung in Berlin; siehe auch ders. (2017), Zwischen Arbeitshaus und Konzentrationslager. Aktuelles Promotionsprojekt: Die Sozial- und Jugendfürsorge Berlins von 1920 bis 1961.

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Nach 1945 rückte die kommunale Sozialstaatsebene in eine Rolle mit allumfassender Zuständigkeit, um die Nachkriegsnot abzufedern, während die anderen sozialen Sicherungssysteme zusammengebrochen waren.41 Welche in den Weimarer Jahren geprägten Strukturen existierten noch? Wurden sie wieder nutzbar gemacht? Wie stark wirkte die nationalsozialistische Umformung? Die Frage stellen sich besonders zu einer Stadt wie Berlin: Dort trafen alliierte Einflüsse auf die Expertise von Expertinnen und Experten. Außerdem wirkten Fachleute aus dem Exil wieder auf die städtische Sozialpolitik. In Berlin beispielsweise der ehemalige Jugendamtsleiter aus Prenzlauer Berg, der in der Zwischenzeit zum Professor für social work in Berkley aufgestiegen ist.42 Nicht zuletzt stellt sich die Frage danach, wie stark die Weimarer Sozialstaatlichkeit in der Metropole Berlin noch nachwirkte, angesichts der konkurrierenden Ausrichtungen in Ost und West. Ellay Kay stieg nach einer Station als Bürgermeisterin im sowjetischen Sektor liegenden Bezirk Prenzlauer Berg zur West-Berliner Jugendsenatorin auf. Das Fortwirken der Weimarer Wohlfahrtsstaatlichkeit auf der kommunalen Ebene ist noch nicht hinreichend analysiert.43 Die Untersuchungen müssten dafür politische Zäsuren wie die Weltwirtschaftskrise und den Zweiten Weltkrieg überspringen. Nur so lassen sich die Aufbauleistungen der 1920er Jahre in die weiteren Entwicklungen des 20. Jahrhunderts einordnen. DAS POTENZIAL DER VERGLEICHENDEN PERSPEKTIVE Der Sozialstaatlichkeit vor Ort ist sowohl für Demokratien als auch für Diktaturen bedeutsam. Von einem modernen Wohlfahrtsstaat lässt sich für Deutschland seit der Weimarer Republik sprechen. Um die Funktionsweise von lokaler Sozialstaatlichkeit besser erschließen zu können, bietet sich die Möglichkeit einer vergleichenden Perspektive über unterschiedliche politische Rahmenbedingungen hinweg. Für dieses vergleichende Herangehen eignet sich der Blick auf die öffentliche kommunale Wohlfahrt besonders, wie bereits Wilfried Rudloff dargelegt hat. Er bezog sich dabei allerdings auf den Vergleich von Nationalsozialismus, Bundesrepublik und DDR. Aus den genannten Gründen wäre es aber ratsam, die vergleichende Untersuchung schon in der Weimarer Republik beginnen zu lassen. Als Gründe für die Vorteile des Vergleichsgegenstandes öffentliche kommunale Wohlfahrt verweist Rudloff auf folgende vier:

41 Vgl. Sachße / Tennstedt (2012): Fürsorge und Wohlfahrtspflege in der Nachkriegszeit, S. 179–185, zur DDR siehe auch Willing (2008): Sozialistische Wohlfahrt. 42 Vgl. Füssl (2004): Deutsch-amerikanischer Kulturaustausch, S. 164–168, 213 und 254–256. 43 Zu generellen Entwicklung des deutschen Sozialstaates bspw.: Dickinson (1996): German Child Welfare, Hockerts (1998): Sozialstaatlichkeit, Metzler (2003): Sozialstaat und Schönhoven / Mühlhausen (2012): Sozialstaat.

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a) „Klientelwahrnehmung und Leitbilder sind […] für normative Umdeutungen im Zeichen gesellschaftlichen Wertewandels überaus empfänglich. Das gilt erst recht für die abrupten politischen Umbrüche […].“44 Diese Annahme lässt es sinnvoll erscheinen, Sozial- und Jugendfürsorge über längere Zeiträume und dezidiert über politische Zäsuren hinweg zu untersuchen. Auch sind nicht die gesetzlichen Regelungen einer Zentralinstanz leitend, sondern die Vorstellungen der Fürsorgerinnen und Fürsorger vor Ort. Der direkte Kontakt zu den Hilfesuchenden ist damit ein wichtiges Auswahlkriterium. b) „Die Fürsorge unterscheidet sich von der eher tatbeständlichen Regulierungsweise der Sozialversicherung durch die weiter gefaßten Ermessensspielräume, die ihren Trägern in der dezentralen Umsetzung zugestanden werden.“45 Das Individualprinzip was einen Kern des Fürsorgewesens ausmacht eröffnet ganz andere Handlungsspielräume als bei einem Rechtsanspruch wie im Sozialversicherungssystem. Folglich gewinnt die unterste Akteursebene an Einfluss. c) Die öffentliche Fürsorge „verweist […] als sozialstaatliche Residualebene auf gesellschaftliche Integrationsprobleme, zugleich aber auch auf teils beabsichtigte, teils unbeabsichtigte Schwachstellen und Durchlässigkeiten des sozialen Sicherungssystems.“46 In Krisenphasen – also wenn Sozialversicherungen kollabieren – steigt dieser Faktor noch einmal an. Die Sozialfürsorge erhält gerade dann die Funktion eines letzten Auffangnetzes. d) „Die Instrumente, deren sich die Fürsorge bedient, wie auch Problemfelder, denen sie bevorzugt ihre Aufmerksamkeit schenkt, können also Aufschluß über die dominierenden gesellschaftlichen Wertbezüge geben. Dies gilt auch für die Art ihrer Trägerstruktur.“47 Generell fungiert die Sozialfürsorge als Indikator für soziale Problemlagen aller Art. Sie zu untersuchen, verspricht deshalb alltagsgeschichtliche Erkenntnisse. Über diesen Weg lassen sich auch die Ansprüche mit der Praxis abgleichen. Ein wichtiges Analyseinstrument dafür stellt das Konzept der „inkludierende Exklusion“48 dar. Fürsorgerische Systeme können trotz einem inkludierenden Anspruch – zum Beispiel in der Fürsorgeerziehung – schlussendlich ausschließen. RESÜMEE Erst eine Längsschnittuntersuchung kann die entsprechenden Erkenntnisse über die Spezifika der kommunalen Sozialstaatlichkeit der einzelnen Phase liefern. Der Ausgangspunkt sollte dabei klar in den Jahren der Weimarer Republik liegen. Vom Ersten Weltkrieg gingen entscheidende Impulse aus. Ein Wohlfahrtsstaat

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Rudloff (1998): Öffentliche Fürsorge, hier S. 191. Ebd. Ebd., S. 192. Ebd. Vgl. Raphael et al. (2013): Fremdheit und Armut, S. 123–134.

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entstand aber erst mit der Gründung der neuen Republik. Sie legte mit ihrem Wirken die Grundsteine für alle folgenden deutschen Sozialstaatsmodelle. Dabei hielten die Kommunen ihre Schlüsselrolle hoch. Sie trugen die Hauptlast, da die Reichsebene sich erst finden musste und das Subsidiaritätsprinzip galt. Gerade in der Fürsorge ist die Nähe zu den Betroffenen maßgeblich. Aus dieser Stellung entwickelten sie in den 1920er Jahren zahlreiche Innovationen. Die nachfolgende Krise und die anschließende NS-Herrschaft ließen den demokratischen Wohlfahrtsstaat verschwinden, aber fegten die Aufbauleistung dennoch nicht hinweg. Sie waren stärker als angenommen: Als Referenz, ihre Konzepte und Strukturen waren sowohl – entgegen ihrer Intention – für die nationalsozialistische Verfolgung sogenannter „Asozialer“ als auch für den Wiederaufbau nach dem Krieg relevant. Gerade die „untere“ Ebene der Sozialstaatlichkeit verfügte über elementare Funktionen, die die Weimarer Republik prägten und darüber hinaus wirkten. Folglich besteht ein Bedarf, sie zum Verständnis der Sozialstaatlichkeit im 20. Jahrhundert über einen längeren Zeitraum genauer zu untersuchen. LITERATUR Abelshauser, Werner: Die Weimarer Republik – ein Wohlfahrtsstaat. In: ders.: Die Weimarer Republik als Wohlfahrtsstaat. Zum Verhältnis von Wirtschafts- und Sozialpolitik in der Industriegesellschaft, Stuttgart 1987, S. 9–62. Althammer, Beate: Vagabunden. Eine Geschichte von Armut, Bettel und Mobilität im Zeitalter der Industrialisierung (1815–1933), Essen 2017. Ayaß, Wolfgang: „Asoziale“ im Nationalsozialismus, Stuttgart 1995. Crew, David F.: Germans on Welfare. From Weimar to Hitler, Oxford / New York 1998. Dickinson, Edward Ross: The Politics of German Child Welfare from the Empire to the Federal Republic, Cambridge u.a. 1996. Ehrhardt, Justus: Straßen ohne Ende, Berlin / Wien 1931. Füssl, Karl-Heinz: Deutsch-amerikanischer Kulturaustausch im 20. Jahrhundert. Bildung – Wissenschaft – Politik, Frankfurt / New York 2004. Gaida, Oliver: Zwischen Arbeitshaus und Konzentrationslager. Die nationalsozialistische Verfolgung von als „asozial“ Stigmatisierte 1933 bis 1937. In: Jörg Osterloh, Kim Wünschmann (Hrsg.): „…der schrankenlosesten Willkür ausgeliefert“. Häftlinge der frühen Konzentrationslager 1933–1936/37. Frankfurt am Main / New York 2017, S. 247–267. Ders.: Die Formierung der ‚Asozialen‘-Verfolgung in Berlin. Die Rolle Karl Spiewoks als Leiter des Landeswohlfahrts- und Jugendamtes, unveröffentl. MA-Arbeit, HU Berlin, 2014. Gräser, Marcus: Der blockierte Wohlfahrtstaat, Göttingen 1995. Gruner, Wolf: Öffentliche Wohlfahrt und Judenverfolgung. Wechselwirkung lokaler und zentraler Politik im NS-Staat (1933–1942), München 2002. Haffner, Ernst: Jugend auf der Landstraße, Berlin 1932. Harvey, Elizabeth: Youth and the Welfare State in Weimar Germany, New York 1993. Hermann, Manfred: Jugendarbeitslosigkeit seit der Weimarer Republik. Ein sozialgeschichtlicher und soziologischer Vergleich, Opladen 1990. Hockerts, Hans Günter: Drei Wege deutscher Sozialstaatlichkeit. NS-Diktatur, Bundesrepublik und DDR im Vergleich, München 1998. Kaiser, Jochen-Christoph: Sozialer Protestantismus im 20. Jahrhundert. Beiträge zur Geschichte der Inneren Mission 1914–1945, Oldenburg 1989. Lamm, Albert: Betrogene Jugend, Berlin 1932.

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Lampel, Martin: Verratene Jugend, Berlin 1929. Ders.: Jugend in Not, Berlin 1928. Lehnert, Detlef: Kommunale Politik, Parteiensystem und Interessenkonflikte in Berlin und Wien, 1919–1932. Wohnungs-, Verkehrs- und Finanzpolitik im Spannungsfeld von städtischer Selbstverwaltung und Verbandseinflüssen, Berlin 1991. Lohalm, Uwe: Völkische Wohlfahrtsdiktatur. Öffentliche Wohlfahrtspolitik im nationalsozialistischen Hamburg, München 2010. Lücke, Martin: Männlichkeit in Unordnung. Homosexualität und männliche Prostitution in Kaiserreich und Weimarer Republik, Frankfurt a. M. 2008. Luttenberger, Julia Alexandra: Verwaltung für den Sozialstaat – Sozialstaat durch Verwaltung? Die Arbeits- und Sozialverwaltung als politisches Problemlösungsinstrument in der Weimarer Republik, Berlin 2013. Maurer, Catherine: Der Caritasverband zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik: Zur Sozialund Mentalitätsgeschichte des caritativen Katholizismus in Deutschland, Freiburg 2008. Metzler, Gabriele: Der deutsche Sozialstaat. Vom bismarckschen Erfolgsmodell zum Pflegefall, München 2003. Moser, Gabriele: „Im Interesse der Volksgesundheit ...“. Sozialhygiene und öffentliches Gesundheitswesen in der Weimarer Republik und der frühen SBZ/DDR. Ein Beitrag zur Sozialgeschichte des deutschen Gesundheitswesens im 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2002. Peukert, Detlev: Grenzen der Sozialdisziplinierung. Aufstieg und Krise der deutschen Jugendfürsorge von 1878 bis 1932, Köln 1986. Raphael, Lutz et al. (Hrsg.): Abschlussbericht des SFB 600. Fremdheit und Armut. Wandel von Inklusions- und Exklusionsformen von der Antike bis zur Gegenwart (2013), URL: http://www.fze.uni-trier.de/sites/default/files/SFB600_Abschlussbericht1.pdf (1. März 2015). Ders.: Recht und Ordnung. Herrschaft durch Verwaltung im 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2000. Ritter, Gerhard A.: Der Sozialstaat. Entstehung und Entwicklung im internationalen Vergleich, München 1989. Rudloff, Wilfried: The Welfare State and Poverty in the Weimar Republic. In: Raphael, Lutz (Hrsg.): Poverty and Welfare in Modern German History, New York / Oxford 2017, S. 105– 136. Ders.: Öffentliche Fürsorge. In: Hockert, Hans Günter: Drei Wege deutscher Sozialstaatlichkeit, München 1998, S. 191–229. Ders.: Die Wohlfahrtsstadt. Kommunale Ernährungs-, Fürsorge- und Wohnungspolitik am Beispiel Münchens, 1910–1933, Göttingen 1998. Sachße, Christoph / Tennstedt, Florian: Fürsorge und Wohlfahrtspflege in der Nachkriegszeit 1945–1953, Bd. 4, Stuttgart u.a. 2012. Dies.: Der Wohlfahrtsstaat im Nationalsozialismus. Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland, Bd. 3, Stuttgart u.a. 1992. Dies.: Fürsorge und Wohlfahrtspflege. 1871–1929. Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland, Bd. 2, Stuttgart u.a. 1988. Schönhoven, Klaus / Mühlhausen, Walter (Hrsg.): Der deutsche Sozialstaat im 20. Jahrhundert, Bonn 2012. Stolleis, Michael: Weimarer Republik. In: Arbeit und Sozialordnung (Hrsg.): Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945. Bd. 1, Baden-Baden 2001. Weber, Elisabeth: „Berlin, die Stadt ohne Bettler“. Die Verfolgung „Asozialer“. In: Wildt, Michael / Kreutzmüller, Christoph (Hrsg.): Berlin 1933–1945. Stadt und Gesellschaft im Nationalsozialismus, München 2012, S. 325–342. Wildt, Michael / Kreutzmüller, Christoph: Berlin 1933–1945. Stadt und Gesellschaft im Nationalsozialismus. In: dies. (Hrsg.): Berlin 1933–1945. Stadt und Gesellschaft im Nationalsozialismus, München 2012, S. 7–18. Willing, Matthias: „Sozialistische Wohlfahrt“. Die staatliche Sozialfürsorge in der Sowjetischen Besatzungszone und der DDR (1945–1990), Tübingen 2008.

DIE WEIMARER REPUBLIK UND IHRE BEDEUTUNG FÜR DIE FRAUENKIRCHENGESCHICHTE SCHLESWIG-HOLSTEINS Michaela Bräuninger 1. EINFÜHRUNG Die Gründung der Weimarer Republik und das damit verbundene Ende des landesherrlichen Kirchenregiments führten bei den evangelischen Kirchen zu einer tiefen und existenziellen Krise. Die Kirchen hatten institutionelle und konzeptionelle Veränderungen kaum beschreibbaren Ausmaßes zu verkraften.1 Auch das protestantische Frauenleben erlebte eine Zäsur. Die Frauen die während des Krieges die Arbeitskraft der Männer ersetzt hatten, waren von Beginn der Weimarer Republik an den Männern zumindest politisch gleichgestellt, sie erhielten das politische und kirchliche Wahlrecht.2 Laut bürgerlich-protestantischem Frauenbild hatten Frauen ausschließlich für den Haushalt und Kinder zuständig zu sein. Die politische Meinung der Familie in der Öffentlichkeit zu vertreten, war dem Hausherrn vorbehalten.3 Zumindest für Mädchen und Frauen der bürgerlichen Mittelschicht verbesserte sich die Ausbildungssituation mit Beginn der Weimarer Republik zusehends, sie strebten in die Universitäten, erreichten zunehmend erfolgreicher das Angestelltenverhältnis. Bis in die 1920er Jahre genossen die Mädchen unterer Schichten wenigstens den Grund- und Volksschulunterricht.4 Die Protestantinnen realisierten, dass ihr (kirchen)politisches Votum gefragt war, und sie nahmen ihr Wahlrecht in großer Zahl wahr. Sie hatten zudem verstanden, dass sie Krisenzeiten größten Ausmaßes überstehen und bewältigen

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Junginger (2017): Religionsgeschichte, S. 63–122. Zur Stellung der Geschlechter in der Weimarer Verfassung siehe Artikel 109 WV: „Männer und Frauen haben grundsätzlich dieselben staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten.“ Die patriarchalen Bestimmungen der Familiengesetze im Bürgerlichen Gesetzbuch blieben unangetastet – die „grundsätzlich gleichen Rechte und Pflichten“ dienten dabei häufig als finale Argumentationshilfe. Für das kirchliche Wahlrecht, das in jeder evangelischen Landeskirche einer spezifischen Neuregelung bedurfte, erfolgt nur der Beleg für die Wahlbestimmungen in der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Schleswig-Holsteins. Verfassung der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Schleswig-Holsteins, Kiel 1922. „II. Die kirchlichen Körperschaften“, §20, §22. Praetorius (1993): Anthropologie und Frauenbild. 1908 erlangten zuletzt die Frauen in Preußen das allgemeine Studienrecht, bis 1930 waren dort 16% der Studierenden Frauen. Karsch (2016): Feminismus, S. 77.

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konnten, dieses Wissen ließ sie im Laufe der Jahrzehnte zunehmend fordernder und kompetenter gegenüber männlichen Institutionen auftreten.5 Eben benannte und bis dato nicht belegte Thesen, sollen im Weiteren exemplarisch anhand der Frauenkirchengeschichte der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Schleswig-Holsteins aufgezeigt werden. Es liegt nahe, die Bedeutung der Weimarer Republik für die Frauenkirchengeschichte genau dieser Landeskirche aufzuzeigen: Die Frauen erhielten hier bereits frühzeitig das kirchliche Stimmrecht zuerkannt. Elisabeth Haseloff, die erste deutsche Pastorin im Sinne des Gesetzes begann inmitten der Weimarer Republik ihr Theologiestudium. Während der Zeit des Nationalsozialismus diskutierten die Kirchenfrauen, NichtAkademikerinnen und Laiinnen engagiert in der Bekennenden Kirche über das „rechte Bekenntnis“. Die Kirchengemeinden akzeptierten während des Zweiten Weltkriegs kommentarlos weibliche Predigerinnen und nach einer Restaurationsphase in den fünfziger Jahren kämpften genau jene Frauen für das Predigtamt, die von den Bildungschancen profitiert hatten, die die Weimarer Republik geboten hatte. Diese Frauen ermunterten ihre Geschlechtsgenossinnen eine eigene Meinung zu haben. Sie ermunterten sie, vor der männlichen Kirchenelite offensiv für ihre Wünsche und Forderungen einzutreten. Die kirchliche Frauenbewegung entstand, die Frauen stritten für die Feministische Theologie, sie stritten dafür, in ihrer Kirche eine eigene Stimme zu bekommen. Sie wollten sich nicht mehr mitgemeint fühlen, wenn die Kirchenleitungen von einer Kirche in der alle Brüder seien, sprachen, sie suchten nach einem mütterlichen und väterlichen Gott. Die Frauen schafften sich Gehör. Und als 1992 mit Maria Jepsen dann die erste lutherische Bischöfin weltweit gewählt wurde, war aus der Landeskirche Nordelbiens – in ihr war die schleswig-holsteinische 1977 aufgegangen – eine geschwisterlichere Kirche geworden. Zugegeben, das Vorhaben politische Geschichte in Zusammenhang mit Kirchengeschichte zu untersuchen, mag auf den ersten Blick irritieren. Aber Kirchengeschichte ist ein Teil der Gesellschaftsgeschichte und als solche will die Verfasserin sie auch betrachten. Frauenkirchengeschichte ist keine Sonderform von Geschichte.6 Sie rückt einfach die Hauptakteure innerhalb der Institution Kirche in den Mittelpunkt des Interesses. Es waren (und sind) mehrheitlich Frauen, die aktiv am protestantischen Gemeindeleben teilnahmen und teilhatten, insofern ist es nur folgerichtig, wenn eine Kirchengeschichte, die sich nicht auf die Leitungsebene der Kirche bezieht, sich auf Frauen fokussiert.

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Ich danke an dieser Stelle Prof. Dr. Dr. Rainer Hering, der meine kirchengeschichtlichen Arbeiten nun Zeit meines Bachelorstudiums als Lehrer und Ratgeber begleitet. Insbesondere bei meinem Habilitationsprojekt, einer Frauenkirchengeschichte Norddeutschlands nehme ich seine Unterstützung in jeglicher Hinsicht dankbar entgegen! Gause (2016): Geschichte Evangelischer Frauen – Wahrnehmung und Perspektiven, S. 17– 42; dies. (2006): Kirchengeschichte und Genderforschung. Gause / Paulus (2000): Evangelische und katholische Gender-Forschung im Überblick, S. 5–25.

Die Frauenkirchengeschichte Schleswig-Holsteins

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Dass dies in der bisherigen Kirchengeschichtsschreibung anders gesehen wurde, belegt der bisherige, sehr überschaubare Forschungsstand: Die Historikerin Doris Kaufmann befasste sich Ende der achtziger Jahre ganz allgemein mit der Protestantischen Frauenbewegung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.7 Nachdem die Göttinger Theologin Hannelore Erhart ihr Frauenforschungsprojekt zur Geschichte der Theologinnen initiiert hatte, rückte die Frauenkirchengeschichte des Protestantismus´ erstmals in den Mittelpunkt eines größeren öffentlichen Interesses. Die Arbeiten, die aus diesem Projekt hervorgegangen sind, konzentrieren sich aber in erster Linie auf die Theologinnengeschichte.8 Die Geschichte der nordelbischen Landeskirchen des Historikers Stephan Linck – beide Bände zusammen genommen umfassen den Zeitraum der Jahre 1945 bis 1985 – bietet ein Gesamtverzeichnis von 737 dargestellten Personen, davon sind lediglich 41 Frauen.9 2016 ließ das Frauenwerk der Nordkirche eine Ausstellung zur Frauenreformationsgeschichte konzipieren, hierzu wurde auch ein Katalog erstellt, die allerdings keinen wissenschaftlichen Standards entspricht.10 Ronja Hallemanns Handreichung zur Geschichte der Frauenordination auf dem Gebiet der Nordkirche ist eher eine Zusammenstellung von Datenmaterial als eine kritisch-fundierte Reflektion des Themas.11 2. DIE EINFÜHRUNG DES KIRCHLICHEN STIMMRECHTS FÜR FRAUEN Mit dem Reichswahlgesetz des Jahres 1918 wurde den Frauen zum ersten Mal das aktive und passive Wahlrecht zugestanden. Die männliche Kirchenelite in Kiel, die der neuen Republik wenig wohlwollend gegenüberstand, nutzte die Chance

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Kaufmann (1988): Frauen zwischen Aufbruch und Reaktion. Lediglich beispielhaft: Hering (2005): Die Hamburger Theologin Katharina Gombert (1903– 1986), S. 405–427; ders. (1997): Die Theologinnen Sophie Kunert, Margarethe Braun, Margarethe Schuster; ders. (2002): Männerbund Kirche?, S. 56–72. Frauenforschungsprojekt zur Geschichte der Theologinnen, Göttingen (1994): „Darum wagt es, Schwestern...“ Zur Geschichte evangelischer Theologinnen in Deutschland. Erhart u. a. (1996): Dem Himmel so nah – dem Pfarramt so fern. Erhart u. a (1997): Der Streit um die Frauenordination in der Bekennenden Kirche. 9 Besieht man dann auch noch, welchen inhaltlichen Umfang jene im Verzeichnis aufgeführten Frauen eingenommen haben – alleine fünf davon werden im Text lediglich als RAFTerroristinnen benannt, und die Diskussionen um das weibliche Predigtamt ist dem Autor insgesamt nicht mehr als drei Textseiten wert – so entsteht der Eindruck, dass die Geschichte der Nordelbischen Kirchen eine genuin männliche gewesen sein muss. Linck (2013): Neue Anfänge?; ders. (2016): Neue Anfänge? Siehe dazu die Rezension des ersten Bandes die diesen inakzeptablen Missstand kritisiert: Hering (2015): Neue Anfänge? Anmerkungen zu einem Buch über den Umgang der Landeskirchen in Nordelbien mit der nationalsozialistischen Vergangenheit, S. 289–298. 10 Das Frauenwerk der Nordkirche / Die Schleswig-Holsteinische Landesbibliothek (2016): „…von gar nicht abschätzbarer Bedeutung“. 11 Hallemann (2016): Zusammen Wachsen.

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für eine politische Aktivierung der kirchentreuen Frauen in ihrem Sinne.12 Und das war sicherlich zielführend: Nicht nur dass man auf die weiblichen Gemeindeglieder einen wesentlich besseren Zugriff hatte, sie besuchten weitaus regelmäßiger die Gemeindeaktivitäten als dies die Männer taten13 und sie waren als Erstwählerinnen politisch noch beeinflussbar. In Zusammenarbeit mit der Frauenhilfe, einer Vereinigung, die die Frauenarbeit in den Gemeinden vor Ort regelte und des DEF bot das Evangelische Konsistorium „die Beschäftigung mit den Fragen des öffentlichen Lebens“ an.14 Man mühte sich, den Frauen bei ihrer Wahlentscheidung zu assistieren. Die Pastoren wurden angehalten den Frauen, separiert in die jeweiligen sozialen Schichten, Wahlvorträge zukommen zu lassen und sie über die Programme aller Parteien zu unterrichten.15 Den Frauen müsse deutlich werden, dass es bei der Wahl um die heiligsten Güter des deutschen Volkes gehe – Familie, Staat und Kirche. Die Seelsorger sollten ihren weiblichen Gemeindemitgliedern deutlich machen, dass ihre Wahloptionen keine beliebigen waren.16 Die Einführung des kirchlichen Stimmrechts für Frauen in der schleswigholsteinischen Kirchenverfassung von 1922 wurde von der formalen Gleichstellung der Frauen in der Weimarer Verfassung inspiriert. Dennoch erstaunt die rasche Fixierung, denn das Frauenbild der hiesigen Kirchenelite hatte sich ja ebenso wenig geändert wie die demokratiefeindliche Stimmung innerkirchlicher Kreise.17 Besieht man die Protokolle der Verfassungsgebenden Synoden, so legt sich die Irritation. Die ausnahmslos männlichen Synodalen waren nämlich nach wie vor der Überzeugung, dass es die Aufgabe der schleswig-holsteinischen Protestantinnen sei, die niedereren ehrenamtlichen Ämter zu versehen. Aber die Leitungsfunktionen auf allen kirchlichen Ebenen, das sei die Aufgabe der Männer. Der Synodale Paulsen beendete seine Ausführungen, in denen er deutlich gemacht hatte, dass er grundsätzlich gegen das Stimmrecht für Frauen sei mit: „Das Gebiet

12 Vgl. hierzu die unverzeichneten Protokollbücher der Frauenhilfen im Kirchenkreis Flensburg. Sie wurden mir von der Leiterin des Frauenwerks Flensburgs, Ute Morgenroth, als Kopie überlassen. Den Büchern ist zu entnehmen, dass die jeweiligen Pastoren den Frauen eindringlich nahelegten, bei den Reichstagswahlen „im Sinne der Kirche“ zu wählen. Zur politischen Positionierung der männlichen Kirchenelite in Kiel: Jakob (1993): Die Ev.-Luth. Landeskirche Schleswig-Holsteins in der Weimarer Republik. 13 „Aber es ist doch so, daß das sonntägliche Bild unserer Gottesdienste in vielen Stadt- und Landgemeinden dies ist: Die Frauen halten das gottesdienstliche Leben aufrecht, und ohne sie würde an manchen Orten kaum eine wirkliche Gemeinde versammelt sein, vielleicht nicht einmal ein Gottesdienst zustande kommen.“ Landeskirchliches Archiv Kiel, LKAK, 20. 03. 02 Bestand Synodenprotokolle, Nr. 21. Wortbeitrag Synodaler Eduard Völkel, 4. Sitzung der verfassungsgebenden Versammlung der Landeskirche Schleswig-Holstein. 22.6.1920. 14 Archiv der deutschen Frauenbewegung Kassel, AdF, Bestand DEF Nord, NL-K–16, Nr. 113. Rundbrief des Evangelischen Konsistoriums an die Gemeindepastoren. Undatiert. 15 Der Verfasserin ist allerdings keine Kirchengemeinde bekannt, in der die Pastoren Frauen unterer Schichten über die Wahlvorgänge informiert hatten. Die Pastoren wandten sich dabei Frauen ihrer eigenen Schicht – dem Bürgertum – zu. 16 Ebd. 17 Jakob (1993): Die Ev.-Luth. Landeskirche Schleswig-Holsteins in der Weimarer Republik.

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der Liebe soll sie [die Frau, M. B.] auch ferner behalten. Aber das Wahlrecht gehört nicht dazu.“18 Was veranlasste also die Schleswig-Holsteiner den Frauen auch das kirchliche Wahlrecht zuzugestehen? 1920 wählte sich die Kirchengemeinde Großenaspe, Nähe Neumünster, einen neuen Pastor.19 Die Frauen sahen nicht ein, warum sie hierfür nicht wahlberechtigt sein sollten. Sie meinten, da sie an den Reichstagswahlen teilgenommen hatten, seien sie nun auch berechtigt bei der Pastorenwahl ihre Stimme abzugeben. Da ihnen dies verweigert worden war, brachen Unruhen aus. Die Frauen weigerten sich das Pastorat, zugleich Wahlort, zu verlassen. So konnte der Kirchenvorstand nicht umhin die Frauen zunächst einmal als Ausnahmeregelung zur Wahl zuzulassen. Weitere Details ließen sich in den einschlägigen Quellen leider nicht ermitteln. Der Sachverhalt wurde allerdings während der Verfassungsgebenden Synode erläutert.20 So drängt sich der Verdacht auf, dass sich die Synodalen ängstigten, dass auch andere SchleswigHolsteinerinnen dem Beispiel der Frauen Großenaspes folgen könnten, dass die Frauen begriffen, dass sie Könnens waren, erfolgreich für ihre Rechte zu streiten. Nach 1918 bestand die Notwendigkeit die kirchliche Gemeindearbeit neu zu gestalten. Und so reflektierte man in den protestantischen Landeskirchen, inwiefern sogenannte theologisch vorgebildete Frauen die Pastoren in den Gemeinden entlasten konnten.21 In Schleswig-Holstein wurden derlei Diskussionen noch nicht geführt. Zu der Zeit herrschte noch kein Mangel an männlichen Arbeitskräften, dementsprechend noch keine Notwendigkeit auf die Kapazität von Frauen zurückzugreifen. Die lutherisch-männliche Kirchenelite war in Schleswig-Holstein ohnehin der Überzeugung, dass es der Stand der Frau gebiete in erster Linie treusorgende Hausfrau und Mutter zu sein.22 3. DIE ERSTEN THEOLOGINNEN VERSEHEN DAS AMT „EIGENER ART“ Doch die Zahl der Theologiestudentinnen wuchs kontinuierlich, aller innerkirchlichen Streitigkeiten um das rechte Bekenntnis zur Zeit des Nationalsozialismus zum Trotz. Die Dauer des Krieges drängte die Landeskirche dazu, die Verwen-

18 LKAK 20. 03. 02, Nr. 21. Protokoll der 4. verfassungsgebenden Sitzung am 22.6.1920. Ausführungen des Synodalen Paulsen. 19 Die Vergabe der Pfarrstellen war in der Landeskirche Schleswig-Holstein von Gemeinde zu Gemeinde verschieden geregelt. In der Kirchengemeinde Großenaspe verhielt es sich so, dass die Landeskirchenleitung drei Kandidaten zur Auswahl stellte, die sich dann jeweils mit einem Probegottesdienst der Gemeinde vorstellten. Hernach durften alle konfirmierten Mitglieder der Kirchengemeinde die älter als 21 Jahre waren, für einen der Kandidaten votieren. 20 LKAK 20. 03. 02, Nr. 21. Protokoll der 4. verfassungsgebenden Sitzung am 22.6.1920. Ausführungen des Synodalen Völkel zu den Vorgängen in Großenaspe. 21 Frauen die das Erste Theologische Examen abgelegt hatten, wurden in der Landeskirche Schleswig-Holstein bis zum ersten Theologinnengesetz (1967) als theologisch vorgebildet bezeichnet. 22 Praetorius (1993): Anthropologie und Frauenbild.

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dung von Frauen im kirchlichen Dienst zu klären. Denn die Pastoren hatten ihren Wehrdienst zu absolvieren oder waren bereits im Krieg verstorben – die Gemeinden unversorgt und verwaist. Da die Schleswig-Holsteiner und SchleswigHolsteinerinnen gerade inmitten des Krieges des Trosts und der Sinnfindung bedurften, konnte man auch auf Seiten der schleswig-holsteinischen Kirchenleitung keine Rücksicht mehr auf patriarchal-theologische Befindlichkeiten nehmen. Mit Elisabeth Haseloff wurde 1941 in Büdelsdorf die erste schleswig-holsteinische Theologin eingesegnet.23 Nicht ordiniert wie ihre Amtsbrüder, versah sie de jure ein Amt sui generis. De jure war ihr damit der Predigtdienst nicht gestattet, noch weniger das Feiern von Konfirmationen, Hochzeiten oder das Verteilen des Abendmahls. Des Weiteren war für sie kein Talar vorgesehen, sie durfte sich lediglich Pfarrvikarin, aber nicht Pastorin nennen. Und sie musste nach einer Heirat auf ihr Amt sowie auf Ruhestandsbezüge verzichten. De facto versah Elisabeth Haseloff für drei Gemeinden den vollen Gemeindedienst – im Talar.24 Ihre Gemeindemitglieder verstanden sofort, und das ist so schriftlich überliefert, dass „ihre Vikarin so viel wie drei Männer gleichzeitig“ arbeitete.25 Indes, sie bekam dafür nur 80 % des Gehalts eines Amts eines unverheirateten Pastors, so sah es das entsprechende Kirchengesetz des Jahres 1945 vor. Man machte damit deutlich, dass Theologinnen wie Haseloff lediglich ein Amt „eigener Art“ versahen, eines das weniger wert als das der Männer war, weniger arbeitsaufwendig, weniger aufreibend. Des Weiteren schrieb das Gesetz fest, dass die schleswigholsteinischen Theologinnen – bis Kriegsende waren es vier Frauen, die den voll umfänglichen Gemeindedienst versahen – ihren Dienst lediglich in Notzeiten, also

23 Elisabeth Haseloff war Vikarin in Schleswig-Holstein gewesen, bevor sie 1958 in Lübeck ordiniert wurde. Vgl. dazu die Personalakte Elisabeth Haseloffs. LKAK 42. 07 Bestand Personalakten der Pastoren und Pastorinnen der Landeskirche Lübeck, Nr. 156. Die Akte, die 1939 für die Examenskandidatin Haseloff in Kiel angelegt worden war, fiel den Bombenangriffen auf das Kieler Landeskirchenamt zu Opfer. Nach Kriegsende, das ist der eben benannten Akte zu entnehmen, wurde eine neue angefertigt, die nach Haseloffs Versetzung nach Lübeck nachgeschickt wurde. 24 Eben benannter Befund –er wird in der Gemeindechronik Büdelsdorfs immer wieder benanntist den Unterlagen des Kirchenkreisarchivs Rendsburg zweifelsfrei zu entnehmen. Archiv der Kirchengemeinde Büdelsdorf, Chronik. Ohne Archivnummer. Des Weiteren und lediglich beispielhaft: Kirchenkreisarchiv Rendsburg, Nr. 11 und Nr. 15. Korrespondenz der Pröpste über die Kirchengemeinde Büdelsdorf. 1941 bis 1960. Kirchengemeindearchiv, KG, Büdelsdorf, Nr. 31. Personalnebenakte Elisabeth Haseloff . KG Büdelsdorf, Nr. 77. Soziale Arbeit 1945 bis 1960. Zum Gesetz zur vorläufigen Regelung der Anstellung im Amt der der Vikarinnen, es wurde in Schleswig-Holstein erst 1945 erlassen: Verordnung zur vorläufigen Regelung der Anstellung im Amt der Vikarinnen. Kirchliches Gesetz-und Verordnungsblatt der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Schleswig-Holsteins, GVO 1/1945. 25 KG Büdelsdorf, Nr. 12. Korrespondenz Prof. Heinrich Rendtorff mit Bischof Wilhelm Halfmann über die „Zustände in Büdelsdorf“ Juni-August 1946. Rendtorff wurde von den Gemeindemitgliedern Büdelsdorfs gebeten, sich in Kiel für den Verbleib Haseloffs in der Gemeinde einzusetzen. Er erwähnte gegenüber Halfmann mehrfach die Lobeshymnen der Büdelsdorfer/innen.

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wenn nicht hinreichend männliche Theologen zur Verfügung stünden, ausüben durften.26 Dem war auch so. Nach Kriegsende verloren fast alle schleswigholsteinischen Theologinnen ihr Amt. Allem Protest zum Trotz. Aber sie gaben ihr Amt nicht widerspruchslos auf. Sie ersuchten Elisabeth Haseloff stellvertretend für sich und ihre Amtsschwestern die Vorläufige Kirchenleitung (VKL) in Kiel darum zu bitten, die Theologinnen im Amt zu belassen. Die Amtsschwestern ergänzten Haseloffs Schreiben an die VKL jeweils mit einem Arbeitsbericht. Diese Arbeitsberichte, jede der Vikarinnen fertigte einen eigenen an, veranschaulichten, wie sehr die Frauen während des Krieges ihren Mann gestanden hatten. Sie ergänzten ihre Schreiben jeweils mit der eindringlichen Bitte ihre Gemeinde zu visitieren. Nur so sei eine gründliche Beurteilung ihres Dienstes möglich.27 4. DIE GESCHICHTE DER THEOLOGINNEN NACH 1945 Elisabeth Haseloff war die einzige schleswig-holsteinische Theologin, die nach Kriegsende in ihrer Gemeinde verbleiben durfte. Büdelsdorf, eine Kirchengemeinde mit hohem Flüchtlingsanteil, ursprünglich sehr sozialdemokratisch geprägt, die mit der Unternehmerin Käte Ahlmann beste Erfahrungen mit weiblichen Führungsfiguren gemacht hatte, setzte sich lautstark und engagiert dafür ein, dass „ihre“ Haseloff weiter amtieren durfte. Unterstützt wurden die Büdelsdorfer und Büdelsdorferinnen dabei von Professor Heinrich Rendtorff. Der Kieler Professor für praktische Theologie war Haseloffs Konfirmator und ihr väterlicher Freund. Er visitierte die Arbeit Haseloffs und intervenierte erfolgreich im Sinne der Theologin und der Gemeinde. So konnte der zuständige Bischof nicht umhin, Elisabeth Haseloff im Amt zu belassen. Obschon es dafür keinerlei rechtliche Grundlagen gab: Sie versah weiterhin den vollen Gemeindedienst und verteilte die Sakramente.28 Elisabeth Haseloff hatte also Glück gehabt. Ihre Gemeinde stritt für 26 Das entsprechende Gesetz wurde erst im Januar 1945 erlassen, und nach Kriegsende unverändert in die neue Kirchenverfassung übernommen. Die vorherige Arbeit der schleswigholsteinischen Pastorinnen erfolgte ohne gesetzliche Grundlage. RGBL I, S. 697 §6 Verordnung zur Durchführung des Gesetzes zur Sicherung der Deutschen Evangelischen Kirche.Kirchliches Gesetz-und Verordnungsblatt der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Schleswig-Holsteins, GVO, 1/1946. Rechtsverbindliche Anordnung über die Bezüge der Vikarinnen. Sowie Verordnung zur vorläufigen Regelung der Anstellung im Amt der Vikarinnen. GVO 1/1945. 27 LKAK 20. O1, Bestand Landeskirche Schleswig-Holstein Kirchenleitung, Nr. 530. Schreiben Vikarin Lic. theol. Elisabeth Haseloff an die Vorläufige Kirchenleitung der Ev.-Luth. Landeskirche Schleswig-Holsteins. Ergänzt durch die Arbeitsberichte der Vikarinnen Rosemarie Mandel, Gertrud Schröder, Margarete Clasen, Lic. Elisabeth Haseloff. 13.9.1945. 28 Eben benannter Befund ist der Personalnebenakte Haseloffs zu entnehmen, wie auch der Chronik der Kirchengemeinde. Die Büdelsdorfer und Büdelsdorferinnen die Haseloff noch als Seelsorgerin erlebt hatten berichten auch heute noch begeistert davon, wie engagiert, ihre Vikarin, wie sie dort nach wie vor genannt wird, den Gemeindedienst versah. Kirchenge-

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sie, mit Heinrich Rendtorff hatte sie einen wortgewaltigen Unterstützer an ihrer Seite.29

Abb. 1: Pfarrvikarin Elisabeth Haseloff, vermutlich 1956 in Büdelsdorf (Quelle: privat)

Nach 1945 bedauerten die kirchenleitenden Institutionen Schleswig-Holsteins immer wieder, dass „den Walküren Tür und Tor geöffnet worden war“ – Zitat Bischof Wilhelm Halfmann – indem man während des Krieges auf den Dienst der

meindearchiv, KG, Büdelsdorf, Nr. 31. Personalnebenakte Elisabeth Haseloff. Archiv der Kirchengemeinde Büdelsdorf, Chronik. Ohne Archivnummer. 29 Rendtorff war zwischen 1930 und 1934 Bischof Mecklenburgs, er war Mitglied der Bekennenden Kirche und verfasste im November 1945 das „Wort zum Bußtag“ – eine Predigt die noch vor dem Stuttgarter Schuldbekenntnis publiziert wurde, und irrtümlicherweise dem schleswig-holsteinischen Bischof Wilhelm Halfmann zugeschrieben worden war. 1945 wurde er als Professor für Praktische Theologie nach Kiel berufen. Die Vorläufige Kirchenleitung der Landeskirche Schleswig-Holsteins konnte also nicht umhin, sich Rendtorffs Wunsch, Haseloff im Amt zu belassen, zu beugen. Zur Arbeitsbiographie Heinrich Rendtorffs: Niesel (1978): Kirche unter dem Wort. Toaspern (1963): Arbeiter in Gottes Ernte.

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Theologinnen zurückgegriffen hatte.30 Elisabeth Haseloff, eine der so bezeichneten Walküren, wusste um die Gunst ihrer Stunde. Sie stärkte die Frauen ihrer Gemeinde und sorgte sich um die abgearbeiteten Mütter. Sie veranstaltete Tagungen, in denen sich die Laiinnen vernetzten konnten.31 Obschon sich Elisabeth Haseloff bereits während des Krieges bewusst für den Aufbau der Frauenarbeit eingesetzt hatte – vor allem nachdem sich die Bevölkerungsanzahl Büdelsdorfs durch das Eintreffen der Flüchtlinge verdoppelt hatte war die Arbeit der Frauenhilfe unerlässlich – so wollte sie sich doch nie ausschließlich darauf fokussieren. Sie wünschte sich Kirche als eine geschwisterliche Gemeinschaft und nicht eine nach Geschlechtern getrennte. 1951 wurde der Schleswiger Bischof Reinhard Wester bei Elisabeth Haseloff vorstellig, zuerst persönlich, dann wiederholte er sein Anliegen schriftlich: Er sei der Überzeugung, dass es „ (…) zu der natürlichen Selbstbeschneidung der Frau gehört, dass sie, wo sie das Amt begehrt, doch in eine Beschränkung dieses Amtes einwilligt.“ Insbesondere im geistlichen Amt habe sich „die Frau als Gehilfin des Mannes zu erweisen.“ Dementsprechend erwarte er von ihr, dass sie ihr Büdelsdorfer Amt aufgebe und sich gänzlich der Leitung des Landeskirchlichen Frauenwerks widme.32 Elisabeth Haseloff sah nun nicht, warum sie sich als Gehilfin des Mannes erweisen sollte. Des Weiteren war ihr bewusst, dass sie mit Übernahme der Landeskirchlichen Frauenarbeit auf den Predigtdienst hätte verzichten müssen. Die Tätigkeit, die ihr bei ihrem Amt am meisten am Herzen lag. Sie verwehrte sich gegen Westers Ansinnen so sehr, dass sich die beiden auf einen Kompromiss einigten: Elisabeth Haseloff sollte sechs Monate lang nebenamtlich die Leitung des Frauenwerks Schleswig-Holstein übernehmen und parallel dazu weiterhin ihrer Kirchengemeinde vorstehen. Doch Haseloff dachte gar nicht daran länger als sechs Monate für das Frauenwerk zuständig zu sein. Sie erkundigte sich frühzeitig, wer statt ihrer diese Aufgabe übernehmen könnte und erkundigte sich bei ihrer Berliner Amtsschwester Annemarie Grosch, ob die sich vorstellen könne dafür nach Schleswig-Holstein zu kommen.33 Da sich Grosch diese Arbeit durchaus vorstellen konnte, wurde Haseloff mit ihrem Ansinnen bei Wester vorstellig. Der ließ sich auf die Anstellung Annemarie Groschs als hauptamtliche Leiterin des Frauenwerks ein.34

30 Gemeindearchiv Büdelsdorf, Nr. 8. Schreiben Bischof Halfmann an Propst Heinrich Abraham. 12.8.1946. 31 KG Büdelsdorf, Nr. 77. Soziale Arbeit 1945 bis 1960. 32 Die Gemeindehelferin Büdelsdorfs und enge Freundin Haseloffs, Ruth Philippzik –sie wohnte mit ihr zusammen im Pastorat, berichtete mir von den lautstarken Auseinandersetzungen zwischen Haseloff und Wester als dieser, mit Unterstützung seiner Gattin, Haseloff zunächst mündlich seine Erwartung, dass sie dem Frauenwerk als Hauptamtliche vorstehe, überbrachte. Gespräch mit Ruth Philippzik 26.6.2016. KG Büdelsdorf Nr. 77. Schreiben Bischof Reinhard Wester an Elisabeth Haseloff. 7.4.1951. 33 KG Büdelsdorf Nr. 77. Schreiben Elisabeth Haseloff an Annemarie Grosch. 17.2.1952. 34 KG Büdelsdorf Nr. 77. Schreiben Reinhard Wester an Elisabeth Haseloff 12.11.1952.

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5. DIE LANDESKIRCHLICHE FRAUENARBEIT BEKOMMT EIN GESICHT So kam es, dass Annemarie Grosch von 1953 bis 1977 der schleswig-holsteinischen Frauenarbeit „ein Gesicht gab“, wie es Bischof Reinhard Wester als Anstellungsvoraussetzung vorschwebte.35 Annemarie Grosch hatte in Berlin Theologie studiert. Da sie Mitglied der Bekennenden Kirche war, konnte sie dort lediglich ein illegales Examen ablegen. Eines das die Deutsche Reichskirche nicht anerkannte und mit dem sie nach Kriegsende in Berlin nicht mehr selbstständig amtieren konnte. Für sie galt das, was auch für andere Pfarrvikarinnen galt: Wenn sie nach Kriegsende überhaupt amtieren durften, dann lediglich als Amt sui generis, also in der Seelsorge von Kindern, Frauen oder geistig behinderten Menschen – unter Aufsicht eines Pastors.36 Das Interesse an spezifischer Frauenarbeit hielt sich bei Annemarie Grosch zunächst in engen Grenzen. Sie kam in erster Linie nach Schleswig-Holstein, um wieder selbstständig zu arbeiten.37 Aber sie, die sie wie Elisabeth Haseloff von den Bildungschancen profitiert hatte, die die Weimarer Republik Mädchen aus begütertem Hause geboten hatte, nahm die Herausforderung an. Annemarie Grosch verstand zuvörderst, dass die Arbeit der Frauenhilfen in den Gemeinden inhaltlich von den Pastoren bestimmt worden war. Der Pastor bestimmte die Thematik der Gespräche, er vermittelte den Frauen das von der Kirche gewünschte Frömmigkeitsbild. Auch die Frauen taten sich schwer mit gegenseitiger Solidarität. Verheiratete sahen bspw. auf Alleinstehende herab und letztere brachten wiederum kein Verständnis für die „Nur-Hausfrauen“ auf, die in völliger finanzieller Abhängigkeit zu ihren Männern standen. Folglich war es Groschs erstes Ziel die Frauen zu einer eigenen Meinung zu befähigen. Die Frauen sollten sich eigenständig sammeln, fernab der Männer die unterschiedlichsten Situationen im Leben der Frau diskutieren und Antworten auf ihre Lebensfragen finden.38 In einem nächsten Schritt konzipierte Grosch ein breit angelegtes Bildungsprogramm für Frauen. Sie war der festen Überzeugung, dass Frauen ihr Leben mit der „Bibel und der Zeitung in der Hand“ gestalten müssten.39 Sie initiierte staatsbürgerliche Tagungen, in den denen die Frauen über das politische Zeitgeschehen informiert wurden, und darüber diskutierten. Dabei besp-

35 Grosch/Emse (1992): Von der Bekennenden Kirche zur Feministischen Theologie, S. 40–45, 40. 36 Dass das Amt sui generis auch die Seelsorge an geistig behinderten Menschen einschließen konnte, ist nicht verschriftlicht. Die Kirchengesetze sahen das Amt der Pfarrvikarin als das an Kindern und Frauen. Die Pastorin i.R. Anke Langmaack machte mich darauf aufmerksam, dass männliche Körperbehinderte bis zu den Pastorinnengesetzen ausschließlich von Männern betreut werden durften. Geistig behinderte Menschen wiederum und zwar die beiden Geschlechts, sah man als Frauen und Kindern gleichwertig, sie durften von Pfarrvikarinnen seelsorgerlich versorgt. Gespräch mit Anke Langmaack. 11.8.2017. 37 Grosch (1984): „… der Frauenarbeit ein Gesicht geben…“, S. 75–102, hier S. 82. 38 Grosch/Emse (1992): Von der Bekennenden Kirche zur Feministischen Theologie, S. 42. 39 Ebd.

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w. bereits 1958 das Verhältnis zwischen Chr hristen und Jurachen die Frauen bspw m derlei Theden, also zu einer Zeit, in der die männliche Kirchenleitung sich mit satz auseinandersetzen mochte. Während der gesellschaftl g men noch nicht im Ansa iechziger Jahre setzten sie sich mit dem Marx arxismus auseichen Umbrüche der sec uppenleiterinnen das nötige methodische Rüs üstzeug für all nander. Damit die Grup en erhielten, bot das Frauenwerk Einführunge gen in die thejene komplexen Themen tion an. Als Frauen zunehmend in das Kirche henältestenamt menzentrierte Interaktio d Frauenwerk sie in die Rechtsordnung der Landeskirche gewählt wurden führte das e etc.40 ein, übte mit ihnen, wie man Anträge stellt, Haushaltspläne aufstellt etc., ierung Annemarie Groschs im Jahr 1977 bega egann dann der Nach der Pensionier ische Theologie. Die Frauen, Laiinnen wie auc uch TheologinStreit um die Feministisc bstbewusst und eigenständig in ihrem Denken und Handeln nen, waren nun so selbs ch den unterdrückten weiblichen Aspekten des es Gottesbildes geworden, dass sie nach te fragen konnten.41 und der biblischen Texte

onsbericht Nordelbisches Frauenwerk 1984 (Quelle: privat) pri Abb. 2: Visitation

ELOFF – DIE ERSTE DEUTSCHE PASTORIN RIN IM SINNE 6. ELISABETH HASEL DES GESETZES w vorausgegriffen. Noch einmal zurück zu Pfarrvikarin Doch dies ist zeitlich weit 1 Fr Elisabeth Haseloff, die 1953 ihr Nebenamt der Landeskirchlichen Frauenarbeit an gegeben hatte: Elisabeth Haseloff amtierte bis is 1958 weiterAnnemarie Grosch abge

Vo der Bekennenden Kirche zur Feministischen Theolo ologie, S. 43f. 40 Grosch/Emse (1992): Von eologie stieß in Schleswig-Holstein auf außerordentlich chen Widerspruch 41 Die Feministische Theol Di Diskussionen mündeten schlussendlich in einer Gaanzjahresvisitatievangelikaler Kreise. Die Da heißt, eine Abordnung der Kirchenleitung besuch chte ein Jahr lang on des Frauenwerks. Das D dann erstellte Visitationsbericht durfte hernach nie ni veröffentlicht sämtliche Aktivitäten. Der irchenleitung zu positiv ausgefallen. Dazu: Schaumbberger / Maaßen werden, er war der Kir ministische Theologie. Grundsätzlich zur Feministisc ischen Theologie: (1986): Handbuch Fem 998): Kompendium Feministische Bibelauslegung. Unnd auch die LeSchottroff/Wacker (199 grafie der späteren Bischöfin des Sprengels Holstein-Lübeck, Bärbel bens- und Arbeitsbiogra e mit der Feministischen Theologie verknüpft: Wartenberg Wa Wartenberg-Potter, ist eng -Potter eitgeschichten meines Lebens. (2013): Anfängerin. Zeit

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hin in ihrer Gemeinde Büdelsdorf. Sie versah dort das Pfarramt, kein Amt sui generis, und sie tat dies ohne dass es dafür eine kirchengesetzliche Grundlage gab. Schon allein dieser Befund wäre erstaunlich genug. Doch 1958 setzte sich sodann der Lübecker Bischof Heinrich Meyer mit seinem Hamburger Amtsbruder Pastor Rudolf Spieker auseinander: Er wünschte sich für die Frauenarbeit der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Lübeck eine zusätzliche Führungskraft und zwar die einer ordinierten Pastorin. Die Stelle sollte zudem mit der Betreuung einer Pfarrstelle in der Lübecker Innenstadtgemeinde St. Matthäi verbunden sein. Bischof Meyer hatte bereits in der Lübeckischen Kirchenleitung diskutieren lassen, ob und wie sich dafür die nötigen kirchengesetzlichen Grundlagen schaffen ließen, denn noch sahen die entsprechenden Regelungen Lübecks – ebenso wenig wie in jeder anderen Landeskirche auch – das Amt einer ordinierten Pastorin vor.42 Pastor Rudolf Spieker und Bischof Heinrich Meyer waren beide Mitglieder der Michaelsbruderschaft, einem exklusiven Männerbund der aus der Liturgischen Bewegung der frühen Weimarer Republik hervor gegangen war.43 Die Michaelsbrüder sind nun nicht gerade für ihre herausragende Frauenförderung bekannt und dennoch mühten sich die Brüder Spieker und Meyer um Fortschritte in der Theologinnenfrage. Ihr Entschluss stand auch alsbald fest: sie wollten Elisabeth Haseloff das Amt der ersten deutschen Pastorin im Sinne des Gesetzes antragen. Haseloff in ihrem Lebenslauf: „Persönlich bin ich in meiner Amtszeit sehr stark durch nahe Beziehungen zu einigen Gliedern der Michaelsbruderschaft gefördert worden. (…) Für mich selbst ist der größte Gewinn aus dieser Begegnung dadurch erwachsen, daß sie mir die Möglichkeit schenkte, daß ich mein Amt in ständiger Verantwortung und unter helfender Beratung führen durfte.“44 Woher kamen die nahen Beziehungen zu den Michaelsbrüdern? Elisabeth Haseloff stand der Schwesternschaft Ordo Pacis nahe, Rudolf Spieker war ihr Seelsorger.45 Ordo Pacis konstituierte sich zu Beginn der dreißiger Jahre in Berlin und Sachsen, wie parallel dazu auch in Hamburg. Die ersten Mitglieder der Schwestern waren im Vorfeld allesamt Mitglieder des Berneuchener Diensts gewesen.46 Aus dem Berneuchener Dienst wiederum, ebenfalls ein Beispiel für eine Liturgische Bewegung, konstituierten sich nun die Michaelsbrüder. Die war eine Gruppierung, die vereinbarte nur Männer als Mitglieder aufzunehmen und über ihr Tun Stillschweigen zu bewahren, auch gegenüber ihren Frauen. Die Ursache für die Gründung von Ordo Pacis war der Zorn der Frauen ob der Tatsache, dass ihre Gatten nun Mitglieder einer Bruderschaft waren, von der sie lediglich Kenntnis bekamen, wenn sie deren Liturgischen Gewänder zu reinigen und in Ordnung zu

42 LKAK 42. 07, Nr. 156. Schreiben Heinrich Meyer an Rudolf Spieker. 11.9.1958. LKAK 40. 01, Bestand Landeskirche Lübeck, Kirchenrat und Kirchenleitung, Nr. 705. Protokolle der Sitzungen der Kirchenleitung 1958. 43 Hering (2011): Konservative Ökumene, S.63–89. 44 LKAK 42. 07, Nr. 1956. Lebenslauf Elisabeth Haseloff. Undatiert. 45 Freundlicher Hinweis von Ruth Philippzik und Anke Langmaack. 46 Zum Berneuchener Dienst vgl. erneut Hering (2011), Konservative Moderne.

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bringen hatten. Sie waren nicht willens diesen Ausschluss aus der Gemeinschaft hinzunehmen und beschlossen die Gründung einer Schwesternschaft. In deren Gründungsakte aus dem Jahr 1953 heißt es, dass die Gründung der Schwesternschaft ein liturgischer Akt sei, ein geschichtlicher, um sich von den nationalprotestantischen Umtrieben der Kirchen in der NS-Zeit abzugrenzen, aber auch ein Akt der Emanzipation gegenüber ihren Gatten und Vätern.47 Die Michaelsbrüder Spieker und Meyer forcierten also den Weggang Haseloffs aus Schleswig-Holstein und die Installation des ersten deutschen Pastorinnengesetzes. Insbesondere Meyer war es, der die Kirchengemeinde St. Matthäi von einem weiblichen Gemeindevorstand überzeugen konnte.48 Zu Pfingsten 1959 wurde Elisabeth Haseloff in ihr Lübecker Amt eingeführt, damit dies rechtlich unstrittig war, wurden im Vorfeld noch die Kirchengesetze geändert. Elisabeth Haseloff war die erste Pastorin Deutschlands im Sinne des Gesetzes.49 Die Wirkung dieses Ereignisses auf die Theologinnengesetzgebung wie aber auch auf die Frauenarbeit an sich, kann gar nicht zu gering geschätzt werden. Elisabeth Haseloff nutzte ihre Position alsbald: Dank ihres Engagements konnte beispielsweise der Gutshof Bahrenhof erworben und zu einem Müttergenesungsheim umgebaut werden. 1964 wurde das Heim eingeweiht.50 Und mehr

47 Das Archiv der Schwesternschaft Ordo Pacis, heute in Fleestedt bei Hamburg-Harburg, ist noch unerschlossen und unverzeichnet. Ich beziehe mich in meinen Darlegungen auf die Gründungsakte der Schwesternschaft aus dem Jahr 1953. Denn obschon sich die Frauen bereits 1931 als Schwesternschaft zusammenfanden, wird die offizielle Gründung mit dem Jahr 1953 datiert. Des Weiteren beziehe ich mich auf die lebensgeschichtlichen Berichte der ersten Schwestern, die die Frauen in den siebziger Jahren anzufertigen begannen und die auch im Archiv von Ordo Pacis aufbewahrt worden sind. Und zu guter Letzt hatte ich Adresskarteien und Korrespondenzen von 1930 bis 1980 zur Verfügung. Ich bedanke mich herzlich bei den Schwestern von Ordo Pacis, dass sie mir den Einblick in ihre Unterlagen gewährt und der Arbeit ihrer Schwesternschaft berichtet hatten! Für eine Schwesternschaft, die sich zur Zeit ihrer Gründung absolute Verschwiegenheit hinsichtlich ihres Tuns auferlegt hat, ist das keine Selbstverständlichkeit! 48 LKAK 40. 01, Nr. 3501. Protokoll der Sitzung des Kirchenvorstandes von St. Matthäi. 27.10.1958. Meyer war bei dieser Sitzung zugegen, die von Pastor Richard Schröder, ebenfalls Michaelsbruder, geleitet wurde. Die Ordo Pacis Schwestern Anke Langmaack, Renate Kersten und Erika Fischer machten mich darauf aufmerksam, dass die Mehrheit der Michaelsbrüder die Frauen in ihrer traditionellen Rolle – nämlich der der Hausfrau und Mutter – und garantiert nicht als Pastorin sahen. Aber dass insbesondere Heinrich Meyer und Rudolf Spieker der Frauenfrage außerordentlich aufgeschlossen gegenüber standen. Gespräch mit Anke Langmaack. 5.8.2017. Gespräch mit Renate Kersten 25.7.2017. Gespräch mit Erika Fischer 12.9.2017. 49 „Kirchengesetz über die Errichtung der Planstelle einer Theologin für landeskirchliche Frauenarbeit.“ Kirchliches Amtsblatt der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Lübeck 3/1958. 50 Die entsprechenden Zeitungsartikel hat mir Ruth Philippzik freundlicherweise als Kopie überlassen. Frau Phlippzik berichtete, dass die Landeskirche Lübeck das Projekt Müttergenesungsheim nicht unterstützen mochte, sodass Haseloff Unterstützung bei Antonie Nopitsch suchte. Nopitsch, die Mitbegründerin des Deutschen Müttergenesungswerks, aktivierte binnen weniger Tage ihre politischen Verbindungen, und konnte dadurch das benötigte Geld

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noch: Im Bahrenhof wurden die ersten „Spezialkuren“ veranstaltet, Kuren für psychisch kranke Mütter, Kuren für Mütter mit behinderten Kindern, Kuren für Mütter mit Suchterkrankungen.51Dank Elisabeth Haseloff, die die Idee des „Weltgebetstag der Frauen“ 1947 von einem Englandaufenthalt mitbrachte und sie dann in Lübeck kultivierte, wuchs diese Gebetsgemeinschaft alsbald weit über die Grenzen der Landeskirche Lübeck hinaus.52 7. DIE AUSWIRKUNGEN DER ERSTEN FRAUENORDINATION AUF ANDERE LANDESKIRCHEN Die Ordination Haseloffs hatte Auswirkungen auf die Theologinnengesetzgebungen aller deutschen Landeskirchen. Insbesondere die lutherisch geprägten konnten nun nicht umhin, auch ihre Gesetze zu überdenken.53 Wie konnte man den Frauen auch vermitteln, dass man in der Landeskirche Lübecks der Auffassung war, dass das weibliche Predigtamt den biblischen Vorgaben nicht widersprach, aber bspw. in der Landeskirche Hannovers die Prämisse das Weib schweige in der Gemeinde zu gelten hatte? Es kann nun nicht darum gehen, die Auseinandersetzungen um die Theologinnengesetze der evangelischen Kirchen aufzuzeigen und diese waren in der Tat mitunter enorm. Es ist allerdings festzuhalten, dass das Vorpreschen Bischof Meyers in Sachen weibliches Predigtamt die Belange der Frauen erheblich beschleunigte. Die ersten Pastorinnen waren mitnichten gegenüber ihren Amtsbrüdern gleichberechtigt: Am 11. November 1966 wurde das „Kirchengesetz über den Dienst der Theologin in der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Schles-

aufbringen. Gespräch mit Ruth Philippzik. 9.6.2016. Zu Antonie Nopitsch vgl. Berger (2007): Nopitsch, Antonie, Sp. 1171–1186. 51 Die entsprechenden Unterlagen finden sich in LKAK 23. 01, Bestand Frauenwerk, Nr. 325. Ruth Philippzik erläuterte ergänzend, dass es Mitte der sechziger Jahre eben noch keine entsprechenden sozialpsychiatrischen Angebote gegeben habe, und man deshalb die Notwendigkeit sah, entsprechend auf die Not der Frauen zu reagieren. Gespräch mit Ruth Philippzik 18.2.2017. 52 Schreiben Elisabeth Haseloff an den Propst Rendsburgs mit der Bitte um Beurlaubung „da mir von der Militärregierung angeboten worden ist, an einem 6 wöchigen Kursus für deutsche Frauen in England teilzunehmen.“ 10. 6. 1947. Von Ruth Philippzik freundlicherweise als Kopie überlassen. Außerdem: Die Geschichte des Weltgebetstag 1949–1999. Zusammenstellung von Hella Fabricius. Von Ruth Philippzik freundlicherweise als Kopie überlassen. 53 In den zahlreichen Personalbögen die Elisabeth Haseloff während ihrer Amtszeit auszufüllen hatte, verwies sie stets auf ihrer diversen Tätigkeiten. LKAK 42. 07, Nr. 156. Personalakte Elisabeth Haseloff. Siehe außerdem: Die Theologin. Rundbrief des Konventes Evangelischer Theologinnen in Deutschland. In der Sondernummer des Jahres 1963 plädierte Haseloff für das gleichberechtigte Pfarramt. Haseloff (1963): Konsequenzen für das Amt der Theologin, S. 20–23. Vgl. dazu außerdem: Hummerich-Diezun (1994): Die Weiterentwicklung der Berufsgeschichte der Theologinnen nach 1945, S. 463–484. Die Autorin berichtet in ihrem Aufsatz auch über Haseloffs Engagement für das weibliche Predigtamt.

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wig-Holstein“ erlassen. Laut dessen wurden Theologinnen zwar nunmehr zu Pastorinnen ordiniert und nicht mehr bloß eingesegnet (§2,1). Es galt allerdings weiterhin die Zölibatsklausel, das heißt, wie beim Amt sui generis hatten die Frauen bei einer Heirat auf ihr Amt zu verzichten. (§5, 1).54 Eine Theologin durfte mit pfarramtlichen, unterrichtlichen und diakonischen Aufgaben betraut werden (§1) – das Recht zur Wortverkündigung und Sakramentsverwaltung wurde nicht explizit benannt. Außerdem durften Frauen nur in denjenigen Gemeinden ihr Amt antreten, in denen zusätzlich eine Pfarrstelle für einen Pastor vorgesehen war (§3, 2).55 Die Ungleichbehandlung der Geschlechter war also augenscheinlich. Erst mit dem Pfarrergesetz der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirchen Deutschlands von 1978 wurde schließlich die vollständige rechtliche Gleichstellung von Männern und Frauen im Pfarramt für fast alle lutherischen Landeskirchen, und damit auch der Schleswig-Holsteinischen, beschlossen. Die Ausnahme blieb die Evangelisch-Lutherische Landeskirche Schaumburg-Lippe, dort durften erst 1992 Pastorinnen ordiniert werden.56 8. ZUSAMMENFASSENDE GEDANKEN Die schleswig-holsteinischen Protestantinnen waren nicht nur von kirchengesetzlichen Zwängen und vom bürgerlich-traditionellen Rollenverständnis von der Frau als Hausfrau und Mutter begrenzt. Sie waren auch von gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Normen und Zwängen umgeben. Insofern hatten sich die Frauen mit den Leitbildern auseinanderzusetzen, die ihnen die männliche Kirchenelite vorgaben, aber auch mit den gesellschaftlichen Vorgaben ihrer Zeit. Und die männlichen Führungsfiguren Schleswig-Holsteins, seien es die in der Kirche oder die der Politik, taten sich eben ähnlich schwer den Frauen ein mehr an Freiräumen und Gleichberechtigung gegenüber den Männern einzuräumen. Erst 1977 waren die letzten Familienstandsgesetze derart verändert worden, dass zumindest 54 De facto wurde von dieser „Kann-Bestimmung“ allerdings keinen Gebrauch gemacht. Einschränkend ist hinzuzufügen, dass noch etliche der Pastorinnenakten der gesetzlichen Sperrfrist unterliegen, und dementsprechend auch nicht eingesehen werden konnten. 55 Gesetz- und Verordnungsblatt der Evangelisch-Lutherischen Kirche Schleswig-Holstein, GVO 4/1966. Kirchengesetz über den Dienst der Theologin in der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Schleswig-Holstein. 11.11.1966. 56 Das entsprechende Gesetz war unter anderem im Gesetz- und Verordnungsblatt der Nordelbisch-Lutherischen Kirche veröffentlicht worden. GVO 6/1979. Der Vollständigkeit halber: Zu diesem Zeitpunkt war die Landeskirche Schleswig-Holstein bereits in der Nordelbischen aufgegangen. Die Tatsache, dass in Schaumburg-Lippe erst Ende 1991 die Frauenordination beschlossen worden war, hatte der dortige Bischof Joachim Heubach zu verantworten. Er, einer der entschiedensten Gegner der Frauenordination ging 1991 in den Ruhestand, danach beschloss die Landessynode, die Ordination von Frauen zuzulassen. Das eben benannte Pfarrergesetz der VELKD sah vor, dass die Landeskirche Schaumburg-Lippe von den Regelungen bezüglich der „Rechtsstellung der Pfarrerin“ so lange befreit sei, bis diese lutherische Gliedkirche anderes für sich entscheide.

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de jure die Frauen den Männern gegenüber gleichberechtigt waren.57 Eingedenk dessen beeindruckt der Weg, den die Schleswig-Holsteinerinnen seit Einführung der Weimarer Verfassung gegangen waren, noch wesentlich mehr: Vom Ende des Ersten Weltkriegs und nach Ende des landesherrlichen Kirchenregiments an konnten sie durch ihr Wahlrecht aktiv sowohl das politische als auch das kirchliche Leben mitgestalten, ein Recht das die Frauen sogleich begeistert in Anspruch nahmen. Des Weiteren profitierten sie von den Bildungschancen die die Weimarer Republik insbesondere Mädchen aus bürgerlichen Familien geboten hatte. Während des Zweiten Weltkriegs profitierten die Frauen erneut von den Krisenzeiten, sie machten der männlichen Kirchenelite deutlich, dass sie sehr wohl Willens und Könnens waren, Leitungsaufgaben zu übernehmen. Nach den ersten restaurativen Nachkriegsjahren erinnerten sie ihre Brüder erfolgreich daran, dass die praktizierende Kirche aus Frauen bestand und dass diese Kirche gegebenenfalls ohne Männer sein könnte. Männer hingegen ohne die Frauen vor leeren Gemeinden stünden. Demokratiegeschichte bedeutete dies auch: Gleiche Rechte und Pflichten für beide Geschlechter. Insofern ist die Frauenkirchengeschichte SchleswigHolsteins ein wichtiger Aspekt der deutschen Demokratiegeschichte. QUELLEN Archiv der Deutschen Frauenbewegung Kassel (AdF): Bestand NL-K-16. DEF Nord. Unterlagen des Gemeindearchivs Büdelsdorf Unterlagen des Kirchenkreisarchivs Rendsburg Landeskirchliches Archiv Kiel (LKAK) Unterlagen der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Schleswig-Holstein: Bestand 20. 01 Kirchenleitung; Bestand 20. 03. 02 Synode; Bestand 23. 01 Frauenwerk; Bestand 98. 154 Nachlässe Unterlagen der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Lübeck: Bestand 40. 01 Kirchenrat und Kirchenleitung; Bestand 42. 07 Personalakten Pastorinnen und Pastoren Privatarchive Unterlagen des Privatarchivs Ruth Philippzik, Unterlagen des Archivs der Schwesternschaft Ordo Pacis Mündliche Auskunft von Zeitzeuginnen Erika Fischer; Renate Kersten; Anke Langmaack; Ruth Philippzik Gedruckte Quellen Gesetz- und Verordnungsblatt der Nordelbisch-Lutherischen Kirche. Gesetz- und Verordnungsblatt der Evangelisch-Lutherischen Kirche Schleswig-Holstein. Kirchliches Amtsblatt der Evangelisch- Lutherischen Landeskirche Lübeck. Grosch, Annemarie: Gott hat mir ein ganzes Land geschenkt. In: Frauenwerk Schleswig-Holstein (Hrsg.): „… der Frauenarbeit ein Gesicht geben…“ Evangelische Frauenarbeit in Schleswig-

57 Gerhard (2012): Frauenbewegung und Feminismus. Dahlmann (1994): Frauen in der „68 erBewegung“, S. 217–231.

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Holstein zwischen 1953 und heute. Festschrift für Annemarie Grosch zum 70. Geburtstag am 3. Juli 1984, Kiel 1984, S. 75–102. Haseloff, Elisabeth: Konsequenzen für das Amt der Theologin. In: Die Theologin. Rundbrief des Konventes Evangelischer Theologinnen in Deutschland (1963), S. 20–23. Verfassung der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Schleswig-Holsteins, Kiel 1922. Wartenberg-Potter, Bärbel: Anfängerin. Zeitgeschichten meines Lebens, Gütersloh 2013.

LITERATUR Berger, Manfred: Nopitsch, Antonie. In: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon (BBKL). Band 28, Nordhausen 2007, Sp. 1171–1186. Dahlmann, Anja Konstanze: Frauen in der „68 er-Bewegung“. In: Imberger, Elke (Hrsg.): "Der Stand der Frauen, wahrlich, ist ein harter Stand". Frauenleben im Spiegel der Landesgeschichte, Schleswig 1994, S. 217–231. Das Frauenwerk der Nordkirche / Die Schleswig-Holsteinische Landesbibliothek (Hrsg.): „…von gar nicht abschätzbarer Bedeutung“. Frauen schreiben Reformationsgeschichte, Kiel 2016. Erhart, Hannelore u. a (Hrsg.): Der Streit um die Frauenordination in der Bekennenden Kirche. Quellen zu ihrer Geschichte im Zweiten Weltkrieg, Neukirchen-Vluyn 1997. Dies.: Dem Himmel so nah – dem Pfarramt so fern. Erste evangelische Theologinnen im geistlichen Amt, Neukirchen-Vluyn 1996. Frauenforschungsprojekt zur Geschichte der Theologinnen, Göttingen (Hrsg.): „Darum wagt es, Schwestern...“ Zur Geschichte evangelischer Theologinnen in Deutschland, NeukirchenVluyn 1994. Gause, Ute: Geschichte Evangelischer Frauen – Wahrnehmung und Perspektiven. In: Anke RuthKlumbies / Schneider-Harpprecht, Christoph (Hrsg.): Erinnerungen und Perspektiven. Evangelische Frauen in Baden 1916-2016, Leipzig 2016, S. 17–42. Dies.: Kirchengeschichte und Genderforschung. Eine Einführung in protestantischer Perspektive, Tübingen 2006. Dies. / Paulus, Julia: Evangelische und katholische Gender-Forschung im Überblick. In: Gause, Ute / Heller, Barbara / Kaiser, Jochen Christoph (Hrsg.): Starke fromme Frauen? Eine Zwischenbilanz konfessioneller Frauenforschung heute, Hofgeismar 2000, S. 5–25. Gerhard, Ute: Frauenbewegung und Feminismus. Eine Geschichte seit 1789. 2. Aufl., München 2012. Grosch, Annemarie /Emse, Heide: Von der Bekennenden Kirche zur Feministischen Theologie. In: Leitz, Ingeborg (Hrsg.): frauen stimmen. Eine Bestandsaufnahme evangelischer Frauenarbeit. Für Hildegard Zumach, Stuttgart 1992, S. 40–45. Hallemann, Ronja: „Zusammen Wachsen. Wege zur Frauenordination auf dem Gebiet der heutigen Nordkirche“, Kiel 2016. Hering, Rainer: Neue Anfänge? Anmerkungen zu einem Buch über den Umgang der Landeskirchen in Nordelbien mit der nationalsozialistischen Vergangenheit und ihrem Verhältnis zum Judentum. In: Zeitschrift für Schleswig-Holsteinische Kirchengeschichte (2015), S. 289–298. Ders.: Konservative Ökumene. Hochkirchliche und liturgische Strömungen im deutschen Protestantismus des 20. Jahrhunderts. In: Faber, Richard /Puschner, Uwe (Hrsg.): Preußische Katholiken und katholische Preußen im 20. Jahrhundert, Würzburg 2011, S. 63–89. Ders.: Die Hamburger Theologin Katharina Gombert (1903–1986). In: Gottes Wort ins Leben verwandeln. Perspektiven der (nord)deutschen Kirchengeschichte. Festschrift für Inge Mager zum 65. Geburtstag, Hannover 2005, S. 405–427. Ders.: Männerbund Kirche? Geschlechterkonstruktionen im religiösen Raum. In: Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte. Mitteilungen 20 (2002), S. 56–72. Ders.: Die Theologinnen Sophie Kunert, Margarethe Braun, Margarethe Schuster, Hamburg 1997.

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Hummerich-Diezun, Waltraud: Die Weiterentwicklung der Berufsgeschichte der Theologinnen nach 1945 – ein Überblick. In: Frauenforschungsprojekt zur Geschichte der Theologinnen, Göttingen (Hrsg.): „Darum wagt es Schwestern… „ Zur Geschichte evangelischer Theologinnen in Deutschland, Neukirchen 1994, S. 463–484. Junginger, Horst: Religionsgeschichte Deutschlands in der Moderne, Darmstadt 2017. Karsch, Margret: Feminismus: Geschichte-Positionen, Bonn 2016. Kaufmann, Doris: Frauen zwischen Aufbruch und Reaktion. Protestantische Frauenbewegung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, München 1988. Linck, Stephan: Neue Anfänge? Der Umgang der Evangelischen Kirche mit der NSVergangenheit und ihr Verhältnis zum Judentum. Die Landeskirchen in Nordelbien. Band 1: 1945–1965. Kiel 2013. Band 2: 1965- 1985, Kiel 2016. Niesel, Wilhelm: Kirche unter dem Wort. Der Kampf der Bekennenden Kirche der altpreußischen Union 1933–1945, Göttingen 1978. Praetorius, Ina: Anthropologie und Frauenbild in der deutschsprachigen Ethik seit 1949, Gütersloh 1993. Schaumberger, Christine /Maaßen, Monika (Hrsg.): Handbuch Feministische Theologie, Münster 1986. Schottroff, Luise /Wacker, Marie-Theres : Kompendium Feministische Bibelauslegung, Gütersloh 1998. Toaspern, Paul (Hrsg.): Arbeiter in Gottes Ernte. Heinrich Rendtorff. Leben und Werk, Berlin 1963.

WAS BLIEB VON WEIMAR? Neubewertung und Lernprozesse der ersten deutschen Demokratie Timo Leimbach 1. WEIMAR IM WEICHSPÜLGANG? – PERSPEKTIVWECHSELAUF DIE ERSTE DEUTSCHE DEMOKRATIE „Weimar im Weichspülgang“ – Mit dieser polemischen Wendung apostrophierte der Historiker Manfred Kittel die um die Jahrtausendwende einsetzenden Forschungstendenzen, die sich von der dominanten Ex-post-Perspektive auf die erste deutsche Demokratie zu lösen suchten.1 Neuer Grundtenor war vielmehr, die Weimarer Republik nicht von vornherein als zwangsläufig zum Scheitern verurteilte Episode deutscher Geschichte und – in Anlehnung an die Sonderwegsthese – als reines Präludium zum Nationalsozialismus zu begreifen. Bereits in den 1980/90er Jahren hatten sich Detlev J. K. Peukert sowie der US-Historiker Peter Fritzsche gegen eine teleologisch verengte Sicht auf Weimar ausgesprochen.2 Seitdem werden immer stärker die prinzipiell offene Ausgangslage nach 1918, die Rolle der Kontingenz in der darauffolgenden Entwicklung sowie das grundsätzliche Funktionieren der politischen Institutionen der ersten deutschen Demokratie hervorgehoben.3 Vor allem der zuletzt genannte Aspekt stellt neben den dysfunktionalen Aspekten Weimars auch die zahlreichen Teilerfolge und Fortschritte in Rechnung, die zwischen 1918 und 1933 erreicht wurden. Denn bei aller Kritik an den Hypotheken und krisenhaften Begleiterscheinungen des Weimarer Parlamentarismus, die sich in der „Bonn ist nicht Weimar“-Grundhaltung der frühen Bundesrepublik ausdrückte,4 darf nicht übersehen werden, dass sich die Weimarer Parlamentarier zunächst auch in einem Lernprozess wiederfanden. Trotz der langen parlamentarischen Traditionen, die in Deutschland bis in die napoleonische Zeit zurückreichten, bedeutete die Republikanisierung nach 1918 einen gewaltigen Macht- und Bedeutungszuwachs der Volksvertretungen im Staatsgefüge. Zudem führten Revolution und Demokratisierung eine wachsende Zahl neuer, bis dato unerfahrener

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Kittel (2003): Rez. Thomas Mergel. Vgl. Peukert (1987): Weimarer Republik, S. 266; Fritzsche (1996): Did Weimar Fail? Vgl. Ziemann (2010): Weimar, S. 561f.; Hofmeister (2010), S. 464–466; Mergel (2002): Parlamentarische Kultur. Vgl. Allemann (1956): Bonn; Ullrich (2009): Weimar-Komplex.

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Kandidaten in die Parlamente.5 Zuletzt sei noch auf die tiefgreifenden weltanschaulichen Gräben der Zwischenkriegszeit gegenüber der zweiten deutschen Nachkriegszeit nach 1945 verwiesen, die eine völlig veränderte weltpolitische Lage mit sich brachte. Jene Gräben sowie die Bewältigung der Kriegsniederlage stellten ungleich höhere Herausforderungen an ein noch junges, nicht etabliertes und grundsätzlich umstrittenes Staatswesen, wie es das demokratischparlamentarische System nach 1918 darstellte. Vor diesem Hintergrund soll im Folgenden anhand eines Fallbeispiels dargelegt werden, welche Lernprozesse zwischen 1918 und 1933 angestoßen und vorangetrieben wurden, sodass der zweite Versuch, ein demokratisch-parlamentarisches System in Deutschland zu etablieren – in Form der Bundesrepublik – direkt oder indirekt daran anknüpfen konnte. Als Untersuchungsgegenstand soll dabei nicht der Berliner Reichstag, sondern vielmehr der Landtag von Thüringen fungieren. Denn obgleich die Volksvertretungen als zentrale Entscheidungsträger in allen namhaften Studien zur Zwischenkriegszeit eine prominente Rolle spielen, sind doch bisher nur wenige von ihnen monographisch untersucht worden. Neben dem Reichstag wurden von den insgesamt 18 Ländern nur Preußen und Baden eingehender untersucht, die zudem – für die Weimarer Zeit untypisch – bis 1932/33 stabile demokratische Mehrheiten besaßen.6 Im Kontrast zu diesem kann Thüringen als Enfant terrible unter den deutschen Ländern gelten, das scheinbar noch krisenhaftere Verhältnisse generierte als Berlin, die teilweise auf das gesamte Reich ausstrahlten.

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Abb.1: Das „Fürstenhaus“ zu Weimar – Sitz des Landtags von Thüringen 1920–1933.

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Vgl. Mergel (2002): Parlamentarische Kultur, S. 98–108. Vgl. Möller (1985): Parlamentarismus; Braun (2009): Landtag. Quelle: Stadtmuseum Weimar, Fotosammlung.

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2. ZWISCHEN LINKSREPUBLIKANISCHER LANDESGRÜNDUNG UND NATIONALSOZIALISTISCHEM EXPERIMENTIERFELD Das Land Thüringen zeichnete sich in der Weimarer Republik durch eine extreme politische Polarisierung zwischen Bürgertum und Arbeiterbewegung aus, die zeitweise bürgerkriegsähnliche Züge annahm. Nachdem bereits im Rahmen des Kapp-Putsches 1920 zwei von insgesamt nur vier Reichsexekutionen über Thüringen verhängt worden waren,8 intervenierte das Reich 1923 erneut in Mitteldeutschland. Anlass war die fortgesetzte Konfrontation mit den rein sozialistischen Landesregierungen in Sachsen und Thüringen. Deren Höhepunkt bildete der reichsweit einmalige Eintritt der KPD in beide Kabinette. Angesichts der rechten wie linken Putschvorbereitungen im Zuge des Deutschen Oktober 1923 entsandte Berlin schließlich die Reichswehr und läutete damit auch das Ende der kurzlebigen Arbeiterregierungen ein.9 Dem folgte jedoch kein politischer Ausgleich; vielmehr schlug das Pendel in das andere Extrem aus, in dem fortan ein Bürgerblock regierte, der sich auf die erstmals in ein deutsches Parlament gewählten völkisch-nationalsozialistischen Abgeordneten stützte. Als Gegenleistung hierfür fand 1926 in der thüringischen Landeshauptstadt Weimar der erste NSDAP-Parteitag nach Aufhebung des Parteiverbots statt.10 Nur wenige Jahre später wurde Thüringen Schauplatz einer neuen Premiere der rechtsextremen Systemgegner, als diese 1930 – nicht zuletzt durch die persönliche Verhandlungsführung Adolf Hitlers – hier erstmals als Minister in eine deutsche Landesregierung eintraten.11 Mit ihrem Wahlsieg im Juli 1932 schien Thüringen zuletzt sogar der Machtergreifung im Reich vorauszueilen.12 Dabei musste die Ausgangslage Thüringens, das erst 1920 aus dem Zusammenschluss von sieben Kleinstaaten entstanden war,13 zu Beginn der Weimarer Republik eigentlich als besonders offen gelten: Mit seinem Alleinstellungsmerkmal als Landesneugründung stellte es das einzige greifbare Ergebnis der nach 1918 einsetzenden Reichsreformdiskussion dar.14 Als größte territoriale Veränderung auf deutschem Boden seit 1866, die zudem in bis dahin einmaliger Weise auf demokratisch-parlamentarischem Wege zustande gekommen war, symbolisierte der Zusammenschluss Thüringens in der Anfangsphase Weimars erfolgreich die Modernität und Leistungsfähigkeit der noch jungen Republik.

8 Vgl. Kurz (1992): Dikatur, S. 90–94. 9 Vgl. Häupel (1995): S. 156–170; Overesch (1992), Hermann Brill, S. 126–159. 10 Vgl. Zelnhofer (1991): Reichsparteitage, S. 18–23, 57–59; Holm (2001): Weimar, S. 9, 26– 33. 11 Vgl. Dickmann (1966): Regierungsbildung, S. 454–464; Hille (1983): Beispiel Thüringen, S. 192–194. 12 Vgl. Post (1996): Vorgezogene Machtübernahme, S. 147–181. 13 Vgl. Häupel (1995): Gründung, S. 38–106. 14 Vgl. John (2001): Bundesstaat.

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Nach Kriegsniederlage, Revolution und Republikanisierung sah sich das noch junge demokratisch-parlamentarische System nicht nur im Reich, sondern auch in den Ländern enormen Herausforderungen gegenübergestellt. Diese wurden im Falle Thüringens durch die zusätzliche Aufgabe der Integration der sieben Landesteile vermehrt. Zwar war die Landesgründung selbst noch von einer breiten lagerübergreifenden Mehrheit getragen worden, doch traten beim inneren Landesaufbau unterschiedliche Ansätze zutage. Insbesondere die linksorientierte thüringische Sozialdemokratie wollte in Form von Einheitsschule und einer demokratisierten, von Selbstverwaltung und Subsidiarität geprägten Kommunalverfassung ihre Vorstellungen eines modernen republikanischen Staatsaufbaus verwirklichen.15 In der Folge zerfiel auch die legislative Leistung des Landtags von Thüringen entsprechend dem Wechsel sozialistischer und bürgerlicher Regierungen in zwei Teile: eine linke Reformphase bis 1923, gefolgt von einer vermeintlich pauschalen Revision unter rechtsbürgerlichen Vorzeichen. Rückblickend wurde jene Linksphase von konservativer Seite als „verlorene Jahre“ des Landesaufbaus16 und linksautoritärem Radikalismus gebrandmarkt.17 Erst in jüngerer Zeit wurde dieses Verdikt revidiert und die Reformansätze der sächsisch-thüringischen Linksregierungen als linksrepublikanisches Alternativmodell zum Reich und Preußen gedeutet, das durchaus das Potential besessen habe, der Demokratie ein festeres Fundament zu geben.18 Trotz seiner vermeintlichen Instabilität fügt sich die Gesetzgebungsbilanz des thüringischen Landtags in den allgemeinen Trend, wie er sich im Vergleich mit anderen Parlamenten – etwa Preußen, Baden oder dem Reichstag – zeigte: Dieser sah zunächst einen allgemeinen Anstieg des legislatorischen Outputs zur Bewältigung der Nachkriegskrise sowie zur Etablierung der neuen republikanischen Staatsordnung, dem spätestens seit Ende der Inflationskrise 1923/24 ein Abflauen folgte.19 Dabei ist zu betonen, dass gerade die Hauptlast des thüringischen Landesaufbaus in die turbulente Anfangsphase der Republik fiel und der reichsweiten Krise zum Trotz voranschritt. Dem später gezeichneten Bild von den „verlorenen Jahren“ der linken Landesaufbauphase bis 1923, die von den bürgerlichen Nachfolgeregierungen pauschal revidiert wurden, ist entgegenzuhalten, dass auf keinem linken Reformfeld einfach zum Status quo ante zurückgekehrt wurde. Als Beispiel sei die thüringische Kreiseinteilung von 1922 genannt, die nicht nur vom Bürgerblock anerkannt

15 Vgl. Häupel (1995), S. 128–136, 143–155. 16 Urheber dieser Einschätzung war der DNVP-Abgeordnete Emil Herfurth: Verhandlungen V, Abt. IV, S. 1577 (06.02.1931). 17 Vgl. Huber (1978–1984): Verfassungsgeschichte, Bd. 5, S. 1055–1058; Bd. 6, S. 812–821; Bd. 7, S. 118–122, 383–386, 465–469; Facius (1978): Geschichte, S. 455–476. 18 Vgl. Rudolph (2011): Projekt. 19 Vgl. Möller (1985): Parlamentarismus, S. 428, 432; Mergel (2002): Parlamentarische Kultur, S. 223; Braun (2009): Landtag, S. 611; Leimbach (2016): Landtag, S. 215–217.

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wurde, sondern über 1933/45 hinaus Bestand hatte.20 Aber auch Kommunalverfassung und Einheitsschule wurden zwar in erheblichem Maße umgestaltet, jedoch nicht gänzlich verworfen. Zudem räumte der ehemalige Innenminister Karl Hermann (USPD/SPD) selbst ein, dass durchaus Details seines Reformwerks verbesserungswürdig seien und sicherte im Landtag seine Mitarbeit zu.21 Prägend für die Außendarstellung und spätere Rezeption war nämlich vielmehr das Bild der beiderseitigen Propaganda, das wesentlich durch die Atmosphäre des mit militärischen Mitteln herbeigeführten Machtwechsels geprägt war. Während die Linke ihr Reformwerk pauschal verworfen und pervertiert sah, waren auch die Bürgerlichen ab 1924 um eine Inszenierung ihrer eigenen Reformen als vollständige Abkehr von der entarteten Linksphase bemüht, obgleich mehrere Neuerungen beibehalten wurden.22 Bildhafter Ausdruck dieses Anspruchs war das bürgerliche Wahlplakat vom sozialistischen Sündenbaum, der alle Reformen und Entartungen der Regierung Frölich trug. Dieser wurde nicht etwa gezielt beschnitten, sondern von zwei Waldarbeitern direkt über dem Boden gefällt. Anstelle der tatsächlich erfolgten partiellen Revision und Fortentwicklung überwog gegenüber Wählern und Öffentlichkeit die Betonung der Gegensätze und des Bruches.

Abb. 2: „Sündenbaum“ der SPD-Regierung. Antisozialistisches Wahlplakat.

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Vgl. Häupel (1995): Gründung, S. 128–136. Vgl. Verhandlungen III, Abt. IV, S. 5817–5835 (09.03.1926). Vgl. Leimbach (2016), Landtag, S. 249–269. Quelle: Der Thüringer Landbund vom 07.02.1924.

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Lässt man also die wechselseitige Propaganda beiseite, offenbart sich bei näherer Betrachtung, dass sich die wechselnden Mehrheitsverhältnisse und Akzentuierungen in der thüringischen Gesetzgebung in das für den modernen Parlamentarismus typische Spiel von Mehrheit und Opposition einordnen lässt und sich lediglich in der zugrundeliegenden bzw. begleitenden Rhetorik unterschied. Dabei war auch den Zeitgenossen durchaus bewusst, dass man sich in einem – mitunter nur langsam – voranschreitenden Lernprozess befand, wie es etwa Regierungschef August Frölich (MSPD/SPD) formulierte: Wenn der Streit über Vorlagen nicht anders entschieden werden kann, meine Herren, dann gilt eben die Majorität und darüber darf sich meiner Auffassung nach niemand beklagen. […] Nur eins könnte dabei noch herausgeschält werden […], daß wir alle noch zu junge Parlamentarier sind, daß wir es noch nicht verstehen, parlamentarisch zu arbeiten. Denn wir müssen eben dazu kommen, verstehen zu lernen, daß, wenn auch im Parlament nur eine Stimme Mehrheit vorhanden ist, letzten Endes diese eine Stimme den Ausschlag gibt. […] Wenn wir uns daran gewöhnen, dann glaube ich, wird der Kampf in Thüringen nicht mehr so scharf geführt werden, wie es heute der Fall ist.24

3. PARLAMENTARISCHE KULTUR IN THÜRINGEN: KONSENS UND INTEGRATION TROTZ POLARISIERUNG Einen weiteren Teilerfolg des parlamentarischen Systems der Zwischenkriegszeit bildete seine integrative Wirkung auf die beteiligten Parteien, die auch tiefe ideologische Gräben – wie die thüringische Lagerpolarisierung – überbrückte und eine Art parlamentarischen Grundkonsens etablierte. So herrschte jenseits parteipolitischer Konfliktlinien lagerübergreifende Einigkeit über die grundsätzlichen Umgangs- und Arbeitsformen im Parlament. Umfang und Grenzen dieses Grundkonsenses zeigten sich vor allem an jenen Stellen, wo die systemfeindlichen Flügelparteien NSDAP und KPD jene parlamentarischen Abläufe – etwa durch gezielte Tumulte – zu untergraben suchten.25 Hier tritt der qualitative Unterschied zu den übrigen Parteien zutage, die – unabhängig von ihrer demokratischen oder monarchistischen Weltanschauung – den Weimarer Parlamentarismus als Realität akzeptierten und sich nicht nur konstruktiv an ihm beteiligten, sondern den Störungen der Systemgegner gemeinsam entgegentraten. Dieses integrative Potential des Weimarer Parlamentarismus war grundsätzlich in der Lage, auch erklärte Republikgegner langfristig an diese heranzuführen und etwa die DNVP als konservative Tory-Partei zu integrieren.26 Obgleich diese These durch Thomas Mergel für den Reichstag bereits überzeugend belegt wurde, bietet ihre Anwendung auf den Landtag von Thüringen aus zwei Gründen darüber hinausgehendes Erkenntnispotential: Nicht nur zeigt sich,

24 Verhandlungen II, StB, S. 1886f. (04.04.1922). 25 Vgl. Mergel (2002): Parlamentarische Kultur, S. 167f. 26 Vgl. Mergel (2003): Scheitern.

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dass der Parlamentarismus auch hier unter noch ungünstigeren Rahmenbedingungen seine unausweichliche integrative Wirkung entfaltete, sondern diese sogar übertraf, indem auch die Systemgegner in Thüringen davon erfasst und teil- oder zeitweise näher an die Republik herangeführt wurden. Beide Thesen – sowohl der auch die thüringische Lagerspaltung überspannende parlamentarische Grundkonsens als auch die partielle Integration der Systemgegner – werden im Folgenden exemplarisch belegt. Auf den ersten Blick überwog im Landtag von Thüringen das Bild unüberwindlichen Dissenses: Im Gegensatz zum Reichstag und anderen Landesparlamenten war das eigentlich konsensuell an die stärkste Fraktion vergebene Amt des Parlamentspräsidenten politisch umkämpft. Mehrfach wurde es der SPD, die bis 1932 stärkste Fraktion war, von der rechtsbürgerlichen Mehrheit vorenthalten. Auch die neue Landtagsgeschäftsordnung von 1924 wurde gegen die Arbeiterparteien allein mit den Stimmen der Regierungsmehrheit verabschiedet. Auf dem Höhepunkt dieses Konflikts zog sich die SPD aus Protest gegen diese beiden Majorisierungen im Juli 1924 vollständig aus dem Landtagsvorstand zurück.27 Trotz dieses auch medienwirksam inszenierten Boykotts28 handelte es sich weniger um einen echten sachlichen Dissens über die parlamentarische Praxis als vielmehr um eine symbolische Ablehnung des Machtwechsels von den linken zu rein bürgerlichen Mehrheiten 1923/24. Die dadurch geprägte politische Atmosphäre belastete zwar auch die innerparlamentarische Interaktion, bildete jedoch nur eine Momentaufnahme. Bis dahin hatte den Landtag eine durchaus konsensuelle Geschäftsordnungspraxis ausgezeichnet. Noch 1919 hatten sowohl Monarchisten als auch spätere Kommunisten gemeinsam die provisorische Geschäftsordnung ausgearbeitet.29 Die wachsende Arbeitslast der Parlamente nach 1918 machte allerdings in Thüringen wie in allen übrigen deutschen Parlamenten eine stärkere Regulierung notwendig. So begann bereits vor 1924 unter der sozialistischen Mehrheit die Arbeit an einer neuen, strengeren Geschäftsordnung, die bereits sämtliche Neuerungen der 1924er Geschäftsordnung enthielt, namentlich die Begrenzung der Redezeit sowie stärkere Ordnungsmaßnahmen durch den Präsidenten.30 Dass diese neue Geschäftsordnung erst nach dem Machtwechsel verabschiedet wurde, ist auf die Vordringlichkeit anderer Landtagsarbeiten sowie die turbulente Endphase der linken Regierungsphase Ende 1923 zurückzuführen. Dass die SPD 1924 als Oppositionspartei gegen die gesamte Geschäftsordnung votierte, lag folglich nicht an ihrer grundsätzlichen Ablehnung von Redezeitbegrenzung und Ordnungsmaßnahmen. Vielmehr hatte sie kein Vertrauen in

27 Vgl. Leimbach (2016): Landtag, S. 281f., 369–374. 28 Vgl. Das Volk vom 12.07.1924. 29 Dabei handelte es sich um die Geschäftsordnung des Landtags von Sachsen-WeimarEisenach, dem größten Vorgängerstaat des Landes Thüringen; vgl. Leimbach (2016): Landtag, S. 285–287. 30 Vgl. Landesarchiv Thüringen/Hauptstaatsarchiv Weimar, Landtag von Thüringen, Nr. 122, Bl. 4–16.

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eine gerechte Handhabung dieser Paragraphen durch einen bürgerlichen Landtagspräsidenten, der unmittelbar zuvor unter Missachtung ihres Vorgriffrechts als größter Fraktion gewählt worden war. Doch auch die Bürgerlichen handelten angesichts der angespannten politischen Atmosphäre 1924 aus nachvollziehbaren Motiven: Während die Linke eine willkürliche Einschränkung ihrer parlamentarischen Rechte argwöhnte, befürchte die bürgerliche Mehrheit durch die unverhältnismäßige Anwendung dieser Rechte eine Lähmung des Landtags. Somit lässt sich mit Blick auf den Höhepunkt der thüringischen Lagerkonfrontation 1923/24 in der Tat von einer erkennbaren Störung eines zuvor vorhandenen Konsenses sprechen. Dass diese allerdings keineswegs irreparabel war, sondern noch in derselben Landtagsperiode eine erneute Annäherung stattfand, belegen die beiden Geschäftsordnungsnovellen von 1926 und 1928. Zwar stimmte die SPD in der Schlussabstimmung weiterhin gegen den Gesamtentwurf. In der Einzelberatung zeigte sie sich aber ungleich konstruktiver und billigte nicht nur mehrere Punkte, so auch die Ordnungsmaßnahmen, die sie 1924 noch abgelehnt hatte; sie verteidigte diese sogar gegen den Vorstoß der Kommunisten, die Geschäftsordnung wieder auf den Stand vor 1924 zurückzusetzen.31 Die Tragfähigkeit dieses Konsenses und der thüringischen Geschäftsordnung wird ferner dadurch unterstrichen, dass der Landtag von einer weiteren Verschärfung der Ordnungsmaßnahmen, wie sie der Reichstag 1929/31 einführte, absehen konnte. Zwar wurde eine Angleichung an den Reichstag diskutiert, doch kam man letztlich zu dem Schluss, dass die vorhandenen Maßnahmen ausreichten, um die Funktionsfähigkeit des Landtags zu garantieren.32 In starkem Kontrast zu den leidenschaftlichen Auseinandersetzungen im Plenum stand die sachliche, von gegenseitiger persönlich-professioneller Wertschätzung geprägte Atmosphäre der Gremien. Diese sicherten durch ihren kleineren, informelleren wie nicht-öffentlichen Rahmen das Weitermachen der Landtagsarbeit. Damit bildeten sie einen zentralen Ort der Integration, die in Teilen sogar auf KPD und NSDAP ausgriff. So stellten auch die Systemgegner während ihrer Regierungsbeteiligung Vorsitzende in den kleineren Ausschüssen und bildeten mit der Zeit Fachexperten aus, die etwa während der alljährlichen Arbeit am Haushaltsplan regelmäßig einzelne Kapitel bearbeiteten.33 Zwar blieb diese Einbindung eher oberflächlich und eine langfristige Integration der Systemgegner in den republikanischen Parlamentarismus weiterhin fraglich. Jedoch belegt ihre begrenzte Einbindung nicht weniger als das reale Potential, das die Republik besaß, und unterstreicht die Integration der anderen Parteien umso deutlicher. Wenn sich selbst die Systemgegner dem parlamentarischen Integrationspotential nicht vollständig zu entziehen vermochten, wie viel stärker hat es dann auf die übrigen, selbst die monarchistischen Parteien gewirkt? 31 Vgl. Leimbach (2016): Landtag, S. 290–293. 32 Vgl. Mergel (2002): Parlamentarische Kultur, S. 175f.; Huber (1984): Verfassungsgeschichte, Bd. 7, S. 810–813. 33 Vgl. Leimbach (2016): Landtag, S. 319–321.

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Diese Integration setzte sich auch auf fraktioneller Ebene fort, wobei sich die kleinräumigen Verhältnisse Thüringens sowohl fördernd als auch hinderlich auswirkten: Einerseits begrenzten die geringere Größe der Fraktionen und die räumliche Nähe zum Parteikörper ein verstärktes Eigenleben der Fraktionen. Andererseits bewegte man sich in einer überschaubaren face-to-face-Gemeinschaft, in der es schwer möglich war, sich abzusondern oder nicht miteinander zu kommunizieren. In der Folge entstanden auch hier vielfältige Gelegenheiten zur inner- wie außerparlamentarischen Vergemeinschaftung. Neben gemeinsamen Besuchen im Nationaltheater oder Ausflügen gab es auch hier parlamentarische Bierabende wie etwa im Reichstag.34 Dass derartige Veranstaltungen sowie das professionelle Arbeiten miteinander geeignet waren, auch im Landtag von Thüringen einen ideologieüberbrückenden esprit de corps zu stiften, belegt am stärksten das öffentliche Gedenken verstorbener Kollegen. So erfuhren im Plenum des Landtags sowohl der verstorbene Landbündler Richard Wenzel als auch der völkische Fraktionsführer Julius Pölkow bis in die SPD hineinreichende Anerkennung, indem man vor Sitzungsbeginn gemeinsam der Verstorbenen gedachte und sich geschlossen erhob.35 Noch deutlicher tritt diese lagerübergreifende Respektsbekundung außerhalb des Landtags hervor, wo die Fraktionen aus freiem Antrieb den Beisetzungen verstorbener Kollegen beiwohnten. Prominentestes Beispiel ist der Landbund-Führer Ernst Höfer, der als Architekt des bürgerlichen Machtwechsels1924 und der NSRegierungsbeteiligung 1930 ein Hauptgegner der Linken gewesen war. Nach seinem überraschenden Tod 1931 bedachte nicht nur die SPD-Presse den jahrelang bekämpften und geschmähten Gegner mit einer differenzierten Würdigung.36 Überdies sind auf seiner Beisetzung, die mit ca. 2000 Gästen als größte in Thüringen galt, neben dem Landtagspräsidium auch Vertreter aller Fraktionen bezeugt. Ferngeblieben waren lediglich KPD und NSDAP.37 Auch wenn sich nur begrenzte Aussagen über deren tatsächliche Inanspruchnahme und Tragweite ihrer integrierenden Wirkung treffen lassen, so bezeugt die parteiübergreifende Anteilnahme an diesen Ereignissen eine von politischen Verwerfungen unabhängige Hochachtung vor dem Gegner; man respektierte sich und scheute auch nicht zurück, dies öffentlich kundzutun. Dass sich selbst Nationalsozialisten und Kommunisten der integrativen Wirkung des Parlaments nur mit Mühe entziehen konnten, belegen deren interne Memos, in denen die Teilnahme an den genannten Aktivitäten, namentlich Trauerkundgebungen, explizit untersagt werden musste. Damit auch kein Einzelner kol-

34 35 36 37

Vgl. ebd., S. 345–347, 359. Vgl. ebd., S. 347–349. Vgl. Das Volk von 16.06.1931. Manchen Presseberichten zufolge kamen sogar alle anwesenden Fraktionen inklusive der SPD zu Wort; vgl. Allgemeine Thüringische Landeszeitung Deutschland vom 18.06.1931; Jenaische Zeitung vom 18.06.1931.

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legiale Verbindungen knüpfte, verfügte die NSDAP ferner, dass ihre Abgeordneten zu gemeinsamen Sitzungen nur geschlossenen erschienen oder gingen.38

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Abb. 3: Weiblicher Tribünengast blickt in den Plenarsaal des Landtags von Thüringen.

4. DISKURS UND DELEGITIMATION DES LÄNDERPARLAMENTARISMUS Indes fanden diese parlamentarischen Integrationserfolge keine entsprechende Resonanz nach außen. Dies lag zum einen daran, dass sie zumeist im nichtöffentlichen Raum des Landtags stattfanden. Zum anderen stieß die Landtagsarbeit in der Öffentlichkeit auf abweichende, teils überzogene, teils auch in sich

38 Vgl. Leimbach (2016): Landtag, S. 341. 39 Alfred Ahner, Kreide (35 x 24,9 cm), Weimar o. J. [zwischen 1924 und 1932]. Quelle: Archiv des Thüringer Landtags Erfurt / Alfred-Ahner-Stiftung Weimar.

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widersprüchliche Erwartungen, die erheblich zur äußeren Delegitimation des Parlamentarismus beitrugen.40 Eine Schlüsselstellung nahmen die zeitgenössischen Medien ein, allen voran die Presse. Da der Landtag selbst keine eigene Öffentlichkeitsarbeit betrieb, war er in seiner öffentlichen Vermittlung einseitig von den Printmedien abhängig. Diese waren weder ein getreuer Spiegel der öffentlichen Meinung noch ein neutraler Mittler zwischen Parlament und Wähler, sondern standen ihrerseits entweder einer Partei oder wenigstens einer Weltanschauung nahe. Dies machte die Tagespresse sowohl zum Reproduzenten als auch zum Mitgestalter der dominanten Diskurse über den Parlamentarismus im Allgemeinen sowie den thüringischen Landtag im Besonderen.41 Diese Diskurse beschrieben vor allem die von außen an das Parlament herangetragenen Erwartungen. Anders als etwa in Großbritannien, wo sich die parlamentarische Demokratie allmählich durchgesetzt hatte, war sie in Deutschland im Zuge der Revolution 1918/19 schlagartig eingeführt worden. Daher fehlten vergleichbare, sukzessive erwachsene Erfahrungen; stattdessen bot sich ein Resonanzraum für eine Vielzahl unsicherer, teils überzogener, teils widersprüchlicher Erwartungshaltungen. Diese wurden noch zusätzlich dadurch gesteigert, dass sich das Deutsche Reich mit der Bewältigung der Nachkriegskrise nach 1918 umso stärkeren Herausforderungen gegenübersah. In ähnlicher Weise nährte auch die thüringische Landesgründung weitergehende Hoffnungen in die Leistungsfähigkeit dieses neuen Staatswesens und seiner Akteure. Hinzu kamen die erwähnten Widersprüche innerhalb der öffentlichen Erwartungshaltung: Einerseits forderte man von den erwählten Volksvertretern die ungeschmälerte Vertretung der eigenen Parteirichtung und schalt jeden Kompromiss als Verrat an der Sache. Andererseits wurde dem Parlament im Ganzen, wenn sich seine Fraktionen nicht rasch zu einigen vermochten, kollektives Versagen und die Vergeudung von Steuergeldern vorgeworfen. Darin spiegelte sich ein tayloristisch inspirierter Diskurs wider, der die Leistung des Parlaments nach rationalisierten Kategorien und die erzielten Ergebnisse an der dafür aufgewendeten Zeit maß. In aller Regel wurde der Redeaufwand der Abgeordneten im Vergleich zum sachlichen Output des Parlaments als ungenügend empfunden.42 Noch stärker als der Reichstag wurden die Landtage diesen strengen Kategorien unterworfen. Da die Länder im Vergleich zum Reich geringere, vornehmlich im Verwaltungsbereich angesiedelte Kompetenzen besaßen, postulierten nicht nur zeitgenössische Betrachter, sondern in Teilen auch noch die jüngere Forschung eine höhere Reibungsarmut und gesteigerte Kooperationsfähigkeit der Landespar-

40 Vgl. Mergel (2002): Parlamentarische Kultur, S. 350–352, 385–390, 399–410. 41 Vgl. Fulda (2009): Press. 42 Vgl. ebd., S. 386–389; als Beispiele aus der thüringischen Presse: Thüringer Tageszeitung vom 04.08.1920; Tribüne Erfurt vom 04.02.1928; Allgemeine Thüringische Landeszeitung Deutschland vom 12.12.1929.

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lamente.43 So konstatierte das Jenaer Volksblatt vor Zusammentritt des I. Landtags 1920, „daß die hochpolitischen Fragen in den einzelnen Ländern nicht die Rolle spielen wie im Reich. In den Landtagsverhandlungen treten die praktischen Aufgaben viel schärfer hervor und lassen ein Zusammenarbeiten leichter zu als im Reichstag, wo die grundsätzlichen Fragen der Politik die Parteien trennen“.44 Diese Einschätzung wurde jedoch bereits durch die thüringische Lagerpolarisierung und die dadurch verursachten Krisen und Differenzen über die weitere Ausgestaltung der Landesgründung als Trugschluss entlarvt. Jedoch barg das Auseinanderklaffen dieser Erwartungshaltung und der realen politischen Verwerfungen von Beginn an den Keim eines sukzessiven Vertrauensverlusts in die politische Führung und einer Delegitimation des parlamentarischen Systems in sich. Beschleunigt wurde dieser Effekt durch die Weltwirtschaftskrise ab 1928, der die Politik nur wenig entgegenzusetzen vermochte, sowie die voranschreitende Krise des parlamentarischen Systems im Reich und anderen Ländern. Zwar blieb der Landtag von Thüringen im Gegensatz zum Reichstag und mehreren anderen Landesparlamenten bis Mitte 1932 stabil, was sich in mehreren erfolgreichen Reformen und weitgehend ausgeglichenen Haushaltsplänen ausdrückte.45 Dennoch prägte der Eindruck der krisenhaften Verhältnisse in anderen Parlamenten und die dortige Machtverschiebung zugunsten der Exekutive auch den Diskurs über den thüringischen Parlamentarismus. Hinzu kam 1931 die Ausdehnung des Notverordnungsregimes des Reichspräsidenten, ungeachtet der individuellen Verhältnisse in den einzelnen Ländern.46 Folglich wurden reale Erfolge des Landtags angesichts eines davon unbeirrt vorangeschrittenen, voreingenommenen Diskurses nicht mehr als solche wahrgenommen und an die Öffentlichkeit kommuniziert. Beispielhaft sei auf den letzten republikanischen Haushaltsplan im April 1932 verwiesen, der auch von der einstmals republikfreundlichen Presse nur noch als selbstreferentielle „Kulthandlung“ rezipiert wurde: Was der thüringische Landtag heute tat, war eher eine dem Kultus des Länderparlamentarismus gewidmete Handlungen als eine vernünftige, zweckmäßige Verhandlung. […] Man hätte die sogenannte Etatrede auch mit der Post verschicken können, der Effekt wäre der gleiche gewesen. Aber man diente in feierlicher Form dem Länderparlamentarismus, man versammelte sich eigens, um zu hören, was man besser gelesen hätte.47

Dieser allen politischen wie Integrationserfolgen zum Trotz voranschreitende Ansehens- und Vertrauensverlust des Parlaments nach außen sorgte dafür, dass auch der thüringische Landtag noch vor dem Wahlsieg der NSDAP 1932 bereits totgesagt worden war. 43 44 45 46

Vgl. Kühne (1993): Parlamentarismusgeschichte, S. 332f. Jenaer Volksblatt vom 24.06.1920. Vgl. Leimbach (2016): Landtag, S. 204–206, 275–277, 471. Vgl. Huber (1984): Verfassungsgeschichte, Bd. 7, S. 863–865; Schulz (1992): Demokratie, Bd. 3, S. 387–392. 47 Jenaer Volksblatt vom 01.04.1932.

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5. WAS WÄRE WENN…?. ODER: BEINAHE-SCHEITERN DER MACHTERGREIFUNG IN THÜRINGEN Indes war die vorgezogene Machtübernahme der NSDAP in Thüringen weder eine zwangsläufige Folge noch saßen die neuen Machthaber wirklich fest im Sattel: Theoretisch hatten bereits nach dem Zerbrechen der Koalition aus Rechtsbürgerlichen und NSDAP im April 1931 Neuwahlen – mit einem für die Hitler-Partei aussichtsreichen Ergebnis – gedroht. Jedoch um gerade diese zu verhindern, stellten die beiden antagonistischen Lager aus SPD und Bürgerliche ihre Differenzen beiseite und fanden für etwas mehr als ein Jahr zu einer parlamentarischen Tolerierung zusammen.48 Diese Konstellation verabschiedete nicht nur zwei Haushaltspläne, sondern setzte überdies einen Untersuchungsausschuss ein, der die Tätigkeit der abgesetzten NS-Minister untersuchte und ihren Führer Adolf Hitler im März 1932 persönlich zur Vernehmung nach Weimar lud.49 Gerade anhand der Praxis der Untersuchungsausschüsse, die eine der verfassungsrechtlichen Innovationen nach 1918 darstellten, lässt sich ein weiteres Mal der voranschreitende Lerneffekt der Weimarer Parlamentarier aufzeigen. Gemeinhin werden Praxis und Resultate der Weimarer Untersuchungsausschüsse eher kritisch beurteilt,50 weshalb man bereits 1985 konstatierte, dass sie als Novum im Verfassungsrecht „die Prägung durch den Parlamentsbrauch gerade heraus[forderte].“51 Ebendiese Prägung gelang in Thüringen bis 1932: Waren die ersten Untersuchungsausschüsse Mitte der 1920er Jahre noch aufgrund der Unschärfe der zugrundeliegenden Verfassungsartikel, fehlender Verfahrenspraktiken sowie der Grabenkämpfe zwischen Regierung und Opposition versandet, gelangte dieser Untersuchungsausschuss als einziger zu einem positiven Abschluss.52 Dies ging nicht zuletzt auf die Leitung durch den Sozialdemokraten Hermann Louis Brill zurück, der später als erster thüringischer Nachkriegs-Regierungspräsident (1945), Leiter der Hessischen Staatskanzlei (1946–1949) und Verfassungsrechtler über die Weimarer Zeit hinausgehende Bedeutung erlangen sollte.53 Die Aufkündigung der Tolerierung der rechtsbürgerlichen Minderheitsregierung durch die SPD, der im Juli 1932 vorgezogene Neuwahlen folgten, kam indes wenig überraschend. Denn die Hauptaufgabe des Landtags, die Verabschiedung des Haushaltsplanes für 1932, war geglückt und der Landtag hätte ohnehin nur noch ein halbes Jahr – ohne nennenswerte Agenda – bis zu seinem regulären Ende 48 49 50 51 52

Vgl. Leimbach (2016): Landtag, S. 201–203, 276f. Vgl. Overesch (1992): Einbürgerung. Vgl. Steffani (1960): Untersuchungsausschüsse. Möller (1985): Parlamentarismus, S. 203. Zwar kam es nicht zu der von der SPD beantragten formellen Anklage von Ex-Minister Wilhelm Frick (NSDAP); jedoch wurde seine Tätigkeit mit den Stimmen der Bürgerlichen parlamentarisch gerügt und als unlauter bezeichnet; vgl. Leimbach (2016): Landtag, S. 321–332. 53 Vgl. Overesch (1992): Hermann Brill; Overesch (1979): Hermann Brill; Knigge-Tesche/ Reif-Spirek (2011): Hermann Louis Brill.

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getagt. Die Neuwahl ergab einen nationalsozialistischen Erdrutschsieg von 42,5%, jedoch keine absolute Mehrheit für die Hitlerpartei, die stattdessen auf eine Koalition mit dem Thüringer Landbund angewiesen war. Dieser begnügte sich im NSdominierten Kabinett bewusst mit einer Beobachterrolle ohne Ressort, um den neuen Machthabern Gelegenheit zu geben, ihre Propagandaversprechen durch Tatkraft einzulösen.54 Statt der versprochenen Notlinderung im Angesicht der Wirtschaftskrise brachte die NS-Landesregierung kaum mehr als „ein Bild rastloser Tätigkeit“ ohne inhaltliche Effekte zustande.55 In der Folge fiel der allgemeine Stimmenrückgang der NSDAP bei der Reichstagswahl am 6. November 1932 in Thüringen noch stärker aus (-6,1 %) als im Reich (-3,7 %); dieser Abwärtstrend setzte sich bei der thüringischen Kommunalwahl einen Monat später sogar noch fort.56 Gleichzeitig wuchsen die Differenzen zum Koalitionspartner, indem der Landbund zunehmend auf Distanz zum NS-Kabinett ging und angesichts einer geplanten Steuererhöhung sogar um die Jahreswende 1933 mit dem offenen Bruch und Neuwahlen drohte. Dieser wachsende Vertrauensverlust bei Landbund und Wählern wurde erst durch die Ereignisse auf Reichsebene aufgefangen: die Machtergreifung Hitlers sowie die darauffolgende Gleichschaltung der Länder im März 1933.57 Mithin entsteht also der Eindruck, dass es nur diese übergeordneten Entwicklungen waren, die die Machtübernahme der thüringischen Nationalsozialisten vor dem raschen Scheitern bewahrten. Reizvoll erscheint daher die Frage, was gewesen wäre, wenn Thüringen oder die Weimarer Republik im Ganzen etwas mehr Zeit gehabt hätte und wären es auch nur wenige Monate gewesen. 6. FAZIT: KONTINGENZ UND NORMALITÄT, FUNKTIONIEREN UND LERNPROZESS In seiner Grundprämisse schloss sich dieser Aufsatz jenen jüngeren Forschungstendenzen an, die sich von den etablierten, auf 1933 fixierten Perspektiven lösen und eine unvoreingenommenere Herangehensweise auf die Weimarer Republik suchen. Diese billigt der ersten deutschen Demokratie auf einer ersten Ebene sowohl an ihrem Beginn eine grundsätzlich offene Ausgangslage als auch darüber hinaus eine kontingente, von potentiellen Wendepunkten gekennzeichnete Geschichte zu. So ließ sich etwa am Beispiel Thüringens zeigen, dass noch um die Jahreswende 1932/33 die Chance bestand, die NS-Machthaber zu entzaubern und ihren Regierungsversuch ebenso glanzlos wie die immer kurzlebigeren Präsidial-

54 So der Landbundvorsitzende Erwin Baum auf einer Kundgebung in Hildburghausen; vgl. Der Thüringer Landbund vom 05.10.1932. 55 Schilling (2001): Die Sauckel-Marschler-Regierung, S. 92. Ähnlich äußerte sich etwa der Stahlhelm als eigentlich Verbündeter der NSDAP; vgl. Jenaer Volksblatt vom 09.11.1932. 56 Vgl. Dressel (1995): Wahlen, S. 114–132. 57 Vgl. Leimbach (2016): Landtag, S. 204–207.

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kabinette im Reich versanden zu lassen. Eine solch offenere Perspektive auf Weimar gestattet nicht nur eine unvoreingenommenere und somit potentiell gerechtere Annäherung an die erste deutsche Republik; zudem ist diese eher dazu geeignet, Weimar den ihm gebührenden Platz in der deutschen Demokratiegeschichte zuzuweisen, anstatt es allein zum gescheiterten Experiment und Vorspiel der NS-Diktatur herabzustufen. Damit einher geht auf der zweiten Ebene der Versuch, die Weimarer Republik in all ihren Facetten als Normalität zu begreifen. Dabei stehen nicht nur Hypotheken und Konflikte, Krisen und gescheiterte Projekte im Vordergrund. Vielmehr werden einerseits die – teils unter schwierigen Bedingungen – errungene Teilerfolge nicht übersehen. Andererseits werden Aushandlungspraktiken, die möglicherweise konfliktreicher anmuten als in der Gegenwart, als das für den Parlamentarismus charakteristische Wechselspiel zwischen Mehrheit und Minderheit begriffen. Als Belege sei auf Reichsebene etwa auf den Weimarer Sozialstaat als bleibende und die Bundesrepublik prägende Errungenschaft verwiesen.58 Noch deutlicher zeigt das Beispiel des neugegründeten Landes Thüringen mit seinen besonders extremen Regierungswechseln, aber auch Kurskorrekturen beim Landesausbau, dass auch eine turbulente Epoche wie die Zwischenkriegszeit geeignet war, auf demokratisch-parlamentarischem Wege ein derart großes Projekt erfolgreich umzusetzen und ihm ein festes Fundament zu geben. Denn aller zwischenzeitlichen Kritik zum Trotz, die noch bis 1930 die Lebensfähigkeit Thüringens bezweifelte und für seinen Anschluss an Preußen plädierte,59 überdauerte es die Zäsuren sowohl von 1933/45 als auch 1990 und wurde zweimal zum Wiederanknüpfungspunkt deutscher Staatlichkeit in föderaler Gestalt. Eine dritte Perspektivebene nimmt das grundsätzliche Funktionieren der Weimarer Institutionen an, anstatt allein nach ihren dysfunktionalen Aspekten sowie deren Ursachen und Folgen zu fragen. Stärkster Befund ist an dieser Stelle die kontinuierliche Arbeit der Parlamente und ihrer internen Mechanismen. Jenseits aller politischen Lagerbildungen generierten diese eine integrative Dynamik, die die Parteien von der SPD bis in das monarchistische Lager hinein erfasste. Dieser die Grundregeln parlamentarischen Arbeitens umfassende Grundkonsens sicherte das innere Funktionieren des Landtags und stiftete einen lagerübergreifenden esprit de corps auch zwischen erklärten Gegnern. In Thüringen griff dieser integrative Effekt sogar in erkennbarem Maße auf die systemfeindlichen Flügelparteien NSDAP und KPD aus – im Falle der Kommunisten nachweisbar bis beinahe zum Ende der Republik.60 Auf einer vierten Ebene muss man das Agieren der Weimarer Politiker im Allgemeinen sowie der Parlamentarier im Besonderen auch als einen prinzipiell offenen Lernprozess im Umgang mit einem ungewohnten bzw. in seinem Einfluss 58 Vgl. Schönhoven / Mühlhausen (2012): Sozialstaat. 59 Vgl. Leimbach (2016): Landtag, S. 194f. 60 Vgl. Leimbach (2018): Integration.

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gesteigerten System begreifen. Nicht nur brachte die republikanische Ära zahlreiche Novizen in die Volksvertretungen; auch deren Rolle hatte sich teils fundamental verändert. Anfangsschwierigkeiten und Hürden, die jeder Lernprozess zu meistern hat, aber auch sukzessive Erfolge und Anpassungsprozesse zeigten nicht nur erneut das Ringen um den thüringischen Landesaufbau. Auch das Interagieren der beiden antagonistischen Lager von Arbeiterbewegung und Bürgertum und insbesondere der Umgang mit dem neuartigen Instrument der Untersuchungsausschüsse zeigt das greifbare Voranschreiten dieses Lernprozesses. Auch hier darf die kontrafaktische Frage aufgeworfen werden, welches Schicksal der Republik beschieden gewesen wäre, hätten die Weimarer Parlamentarier noch eine Generation mehr Zeit gehabt, diesen Lernprozess zu kultivieren. In jedem Fall bildeten die bis 1933 in Weimar gesammelten Erfahrungen der beteiligten Akteure ebenfalls nach 1949 einen Anknüpfungspunkt auf beiden Seiten der deutsch-deutschen Grenze und fanden etwa durch die Person Hermann Louis Brills über dessen Teilnahme am Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee Eingang in das Grundgesetz.61 QUELLEN Archivalische Quellen: Landesarchiv Thüringen/Hauptstaatsarchiv Weimar, 6–31–0001: Landtag von Thüringen (1920– 1952), Nr. 122: Niederschriften des Geschäftsordnungsausschusses 1923–1924 (Mit Druckstück: Entwurf einer Geschäftsordnung). Gedruckte Quellen: Allgemeine Thüringische Landeszeitung Deutschland. Amtsblatt der Landeshauptstadt Weimar, Weimar 1921–1943. Das Volk. Thüringer Zeitung zur Wahrung der Interessen der gesamten werktätigen Bevölkerung, Jena 1921–1933. Jenaer Volksblatt. Zeitung der Deutschen Demokratischen Partei, Jena 1890–1941. Jenaische Zeitung. Amts-, Gemeinde- und Tageblatt, Jena, 1872–1945. Der Thüringer Landbund. Thüringer Bauernzeitung für die im Thüringer Landbund zusammengeschlossenen Bauernvereinigungen, Weimar 1920–1933. Thüringer Tageszeitung für deutsche Art und Arbeit in Stadt und Land. Unabhängig-nationale Zeitung für Thüringen, Weimar 1919–1923. Tribüne. Organ der Sozialdemokratischen Partei für den Regierungsbezirk Erfurt und das Land Thüringen, Erfurt 1897–1933. Verhandlungen des III. –VII. Landtags von Thüringen, Abt. I: Vorlagen, Anträge, Große Anfragen; Abt. II: Ausschußberichte; Abt. III: Beschlüsse; Abt. IV: Stenographische Berichte, Weimar 1924–1933 (in den Anmerkungen: Verhandlungen III–VII, Abt. I–IV). Verhandlungen des I.–II. Landtags von Thüringen. Stenographische Berichte & Drucksachen, Weimar o. J. (in den Anmerkungen: Verhandlungen I–II, StB bzw. Drs.).

61 Vgl. Berding (2011): Hermann Brills Rolle.

Parlamentarische Lernprozesse in Thüringen

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Timo Leimbach

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NEUE FORSCHUNGSANSÄTZE ZUR WEIMARER REPUBLIK

„ES WAREN DIE BESTEN IHRER ZEIT, DIE FÜR DAS ZIEL EINER EINIGUNG UND BEFREIUNG DES VATERLANDES EINTRATEN...“1 Die Familie Venedey und die deutschen demokratischen Traditionen von der Französischen Revolution 1789 bis zur Bundesrepublik 1949 Birgit Bublies-Godau 1. EINFÜHRUNG: ZUR FRÜHEN DEUTSCHEN DEMOKRATIEGESCHICHTE Das Fest gab den Deutschen eine Fahne, die Fahne des Aufruhrs mag sie der Fürstenknecht nennen, die Fahne der Freiheit, die Fahne Deutschlands nennt sie der deutsche Vaterlandsfreund –, um die sich, so oft sie weht, die glühendsten Vertheidiger der Volksfreiheit, des Vaterlandes reihen werden. Das Fest sprach den Namen Republik aus u. nannte die Zukunft Deutschlands u. Europas. […] Den Glauben erlangten hier die Vaterlandsfreunde wieder, die Fahne wurde hier entfaltet u. die Parole ausgetheilt, und mit diesen Schäzen zogen die Deutschen in ihre Gauen zurück, u. dort werden sie wuchern und dereinst herrliche Zinsen tragen. – Das war der Geist des Hambacher Festes.2

Und: Es war mir schon als Kind klar, daß mit dieser Fahne eine Haltung signalisiert wurde, die im Widerspruch zur damaligen […] Gesinnung stand. Das Gefühl, mit dieser Gesinnung nichts zu tun zu haben, prägte meine Kindheit. Die Tatsache, daß eine schwarz-rot-goldene Schleife von 1848/49, die am Rahmen eines großen Gemäldes meines Vaters hing und trotz GestapoHausdurchsuchung die ‚Tausend Jahre‘ überstand, vermittelte mir das Gefühl der ungebrochenen Identifikation mit dem ‚besseren Deutschland‘. […] Daß ich einen Strang der deutschen Geschichte […] an der Historie meiner Familie zu exemplifizieren versuche, mag […] etwas mit der unverdienten, gleichwohl bestehenden Genugtuung zu tun haben, mich in der Tradition aufgehoben und mich ihr gegenüber verpflichtet zu fühlen. Am Wirken der Angehörigen von vier Generationen während der letzten zwei Jahrhunderte läßt sich erkennen, welche Möglichkeiten es auch in der deutschen Geschichte gab.3

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Die Aussage stammt aus einer Rede von Martin Venedey vom 17. Januar 1918 in der Zweiten Kammer des Badischen Landtags, zit. nach: Hermann Venedey (1980): Martin Venedey, S. 42–45, hier S. 43. Jakob Venedey (1832): Reise- und Rasttage, Nr. 1–250, hier Nr. 51 RS–52 RS. Die Schreibweisen sind von Venedey selbst verwendet worden und finden sich im Original, wie angegeben, wieder. Michael Venedey (1992): 200 Jahre Familientradition, hier S. 1.

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Birgit Bublies-Godau

160 Jahre und zwei Generationen in einer Familie liegen zwischen diesen beiden Aussagen zur Deutschlandfahne. Für den Kölner Autor und Politiker Jakob Venedey (1805–1871), den Verfasser der erstgenannten Zeilen aus seinem unveröffentlichten Werk Reise- und Rasttage in Deutschland, hatte die Auseinandersetzung mit dem Hambacher Fest vom 27. Mai 1832, den dort gehaltenen Reden und Diskussionen über die politische Lage und zukünftige Gestaltung Deutschlands und Europas wie auch mit der Hissung der schwarz-rot-goldenen Fahne auf den Zinnen der Schlossruine bei Neustadt in der Haardt, dem Veranstaltungsort der Volksversammlung, noch eine aktuelle Bedeutung: Als ehemaliger Festteilnehmer und zum Zeitpunkt der Aufzeichnungen „über die Grenzen hinweg bekannte[r] Führer der deutschen demokratischen Bewegung“ verstand er die Fahne als zentrales Symbol und Zeichen des politischen Aufbruchs, aber auch als direkten Auftrag zur politischen Aktion, der in Form eines Appells an die bürgerlich-liberale und -demokratische Opposition inner- und außerhalb der deutschen Länder gerichtet war, den Kampf um Freiheit, Einheit, Demokratie, den Rechts- und Verfassungsstaat in Deutschland unbeirrt fortzusetzen.4 Hingegen hatte die Deutschlandfahne für seinen Enkel Michael Venedey (1920–2005) eine völlig andere Bedeutung, die zwar gemeinsame Wurzeln mit der Auffassung des Ahnen besaß, jedoch im Laufe der Zeit um zusätzliche weltanschauliche, familiengeschichtliche und erinnerungskulturelle Inhalte erweitert worden war. Als Venedey 1992 als Moderator der Berliner Friedenskoordination eine Rede zum Tag der deutschen Einheit unter dem Titel 200 Jahre Familientradition: Allzeit unzeitgemäße Beziehungen zum Vaterland vorbereitete, dienten ihm diese Betrachtungen der politischen Selbstvergewisserung und Standortbestimmung. In der Rede suchte er, sowohl sein Verhältnis zu der damals noch nicht lange zurückliegenden Wiedervereinigung Deutschlands als auch zu der 200 Jahre alten Familiengeschichte der Venedeys zu klären und neu auszuloten. Dabei präsentierte er bestimmte Deutungsansätze zur deutschen Geschichte seit Ende des 18. Jahrhunderts und gewährte gleichzeitig einzigartige Einblicke in das politische Tun seiner Vorfahren, die seinen Urgroßvater, einen rheinischen Jakobiner, seinen Großvater, einen Hambacher Festdemonstranten und demokratischen Paulskirchenabgeordneten, und seinen Vater, einen badischen Landespolitiker und entschiedenen Faschismusgegner, betrafen.5 Die vermittelten Sichtweisen, die nach Einschätzung einer Mitstreiterin aus seiner „humanistischen Erziehung und dem in [seiner] Familie angelegten demokratischen Bewußtsein“6 entsprungen waren, bieten auch heute noch den Einstieg in die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit einem Thema, das nichts von seiner Aktualität und Brisanz verloren hat und dem man sich von verschiedenen Seiten aus nähern kann.

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Zu Jakob Venedeys Aktivitäten beim Hambacher Fest vgl. Bublies-Godau (2017): „Das Fest“, S. 11–48, hier zit. S. 45. Zur Sicht auf die Vorväter vgl.: Michael Venedey (1992): 200 Jahre Familientradition, S. 2– 10. Zu Michael Venedey vgl.: Von Wimmersperg (1985): Lebenslauf, S. 45–48, hier S. 46.

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Gemeint ist die nach wie vor ausstehende Rekonstruktion und Darlegung der Geschichte der modernen westlichen Demokratie in Deutschland, ihrer Entstehung und Entwicklung von der Französischen Revolution 1789 bis zur Deutschen Reichsgründung 1871 und – mit Blick auf die demokratisch-republikanischen und verfassungsrechtlichen Traditionen – ihrer endgültigen Durchsetzung und Verankerung vom Deutschen Kaiserreich, über die Weimarer Republik bis zur frühen Bundesrepublik. Dabei geht es insbesondere um die systematische (Wieder-) Entdeckung und Aufarbeitung der die freiheitliche Demokratie, föderale Republik und den Rechts- und Verfassungsstaat maßgeblich vorantreibenden und kennzeichnenden historischen Akteure, Bewegungen, Institutionen, Ereignisse und Stätten, die als Wegebahner, Erinnerungsorte und Kristallisationspunkte deutscher Demokratie und Republik gelten können, über die Zeitläufte hinweg im kollektiven Gedächtnis und in der Gedenkkultur der Deutschen einen festen Platz einnahmen, in Politik und Gesellschaft identitätsstiftend und traditionsbildend wirkten und auf die sich auch die freiheitlich-demokratische Grundordnung der Bundesrepublik von 1949 berufen kann. Die Untersuchung jenes Stranges der Geschichte, den Gang der demokratischen Verfassungs- und Gesellschaftsordnung in den deutschen Einzelstaaten wie im deutschen Nationalstaat bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts genau verfolgend, erscheint in einer Zeit umso dringlicher, in der diese wieder einmal heftig umstritten ist. So stellt die Beschäftigung mit der „Existenz von Demokratie und Republik“, mit ihren Ansprüchen und Anforderungen wie mit ihren Chancen und Gefährdungen nach Ansicht von Wissenschaftlern derzeit ein „Gebot der Stunde“ dar, da sie vor dem Hintergrund „gewaltige[r] Aufgaben und Herausforderungen“ geschieht, vor die sich „offene, pluralistische und demokratisch verfasste, westliche Staaten und Gesellschaften angesichts neuartiger, zum Teil […] wiederkehrender Bedrohungen, Anfeindungen und Verwerfungen“ heute weltweit gestellt sehen.7 Schon 1974 hatte Alt-Bundespräsident Gustav Heinemann anlässlich der Einweihung der Erinnerungsstätte für die Freiheitsbewegungen in der deutschen Geschichte in Rastatt das mangelnde Interesse an den deutschen demokratischen Traditionen beklagt und die Rückeroberung und Neubewertung „halb vergessener Freiheitsbewegungen“ in der nationalen Geschichtstradition eingefordert.8 Auch der Revolutionsforscher Dieter Langewiesche verwies Anfang der 1990er auf die „Schwäche demokratisch-republikanischer Traditionen […] und deren Entwicklungsgeschichte in Deutschland“ und zeichnete den bis heute andauernden Prozess der politischen Diskreditierung der demokratischen Republik und ihrer Befürworter nach.9 Noch im Jahr 2012 konnte der Historiker Paul Nolte ein gewisses

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Bublies-Godau / Meyer-Eisenhut (2018): Verfassung, Recht, Demokratie, S. 11–63, hier S. 50. Vgl. ebenso Dreyer / Braune (2016): Vorwort, S. IX–X, hier S. IX u. Zum Umgang, S. XI–XVI, hier S. XIII. Zu Heinemanns Engagement vgl.: Rensing (1996): Geschichte und Politik, S. 116–122, hier S. 116–117. Langewiesche (1993): Republik und Republikaner, S. 11.

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Erstaunen darüber nicht verhehlen, dass „angesichts eines so wichtigen, in Wissenschaft und Öffentlichkeit gleichermaßen breit und kontrovers diskutierten Themas“ „eine Geschichte der Demokratie in letzter Zeit nur selten geschrieben“ worden sei.10 Und erst unlängst, im Juni 2018, wies der Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin, Johannes Tuchel, bei einer Tagung darauf hin, dass „in der Bundesrepublik mit den positiven Aspekten der eigenen Demokratiegeschichte bisher zu nachlässig umgegangen worden sei“. Dieses „Versäumnis sollte für die Forschung […] ein Ansporn sein“ und dringend behoben werden, nicht zuletzt weil heute „positive Anknüpfungspunkte […] für die historischpolitische Bildungsarbeit äußerst wichtig seien“.11 Das Problem der Fachliteratur ist, dass es trotz mehrerer substantieller Forschungserträge zum Deutschen Kaiserreich, zur Weimarer Republik, zur Bundesrepublik oder zur Staatenwelt des 20. Jahrhunderts derzeit einfach keine fundierte, moderne wissenschaftliche Gesamtdarstellung zur deutschen Demokratiegeschichte im 19. Jahrhundert, besonders im Zeitalter der Revolutionen und Nationalstaaten zwischen 1789 und 1871, gibt.12 Lediglich eine Sektion auf dem Hamburger Historikertag, bei der die Sonderwegsthese „als Theorie zur Erklärung der deutschen Demokratie“ für „bemerkenswert unterkomplex“ gehalten wurde, sowie einzelne Publikationen, die unter anderem „die lange währende Tradition der Demokratie in Deutschland“ frei legen wollten, widmeten sich in jüngerer Zeit der frühen deutschen Demokratiegeschichte.13 Will man nun die Geschichte der Demokratie in Deutschland im ‚langen‘ 19. Jahrhundert eingehend betrachten, dann wird man dies angesichts des aktuellen Forschungsstandes am ehesten am Beispiel historischer Persönlichkeiten und ihrer Lebensgeschichten tun können: Etwa anhand der außergewöhnlichen Geschichte der Familie Venedey, einer Familie entschiedener Demokraten, Republikaner und ihr Vaterland liebenden wie an ihm leidenden Patrioten „von Michel 1789 zu Michael 1998“14, und anhand der wechselvollen und zugleich fesselnden Biographie von Jakob Venedey. Die Erstellung multiperspektivischer individual- und kollektivbiographischer Studien zu demokratischen Persönlichkeiten des 19. Jahrhun-

10 Nolte (2012): Was ist Demokratie?, S. 24. 11 Vgl. den Tagungsbericht: Werberg et al. (2018): Das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold, unter: www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte–7821 (Zugriff am 03.09.2018). 12 Zur Forschungsentwicklung der letzten 20 Jahre über die Deutsche Staatenwelt zwischen 1806 und 1870 vgl. Jansen (2013): Geschichte, S. 107–124 u. 241–253, der die Demokratieforschung jedoch nur am Rande thematisiert. 13 Vgl. den Tagungsbericht: Möller (2016): Deutsche Demokratiegeschichte, unter: www.hsoz kult.de/conferencereport/id/tagungsberichte–6860 (Zugriff am 03.09.2018). Zu den Publikationen siehe: Richter (2017): Moderne Wahlen; Werner (2016): Umkämpfte Demokratie, S. 4. Die Studien zu den Venedeys stützen sich auf mehrere Arbeiten zur Demokratiegeschichte, hier u.a.: Conze et. al. (1972/2004): Demokratie, S. 821–899; Vorländer (2003): Demokratie; Nolte (2012): Was ist Demokratie? 14 Vgl. den Artikel über die Familiengeschichte zum Jubiläum: Hofmann (1998): Freiheit, Gleichheit – Venedey, S. 69.

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derts, ihren Identitäten, Anschauungen, Familiengeschichten, Beziehungsgeflechten und generell zu ihren ganz konkreten Lebenswelten bildet heutzutage eine Möglichkeit, die angesprochenen Forschungsdesiderate zu schließen und die demokratisch-republikanische Entwicklung mit Hilfe einer Analyse ihrer im biographischen Fall exemplarischen ideellen Grundlagen, sozialen Netzwerke, organisatorischen Einbindungen, aber auch ihrer politischen Handlungsspielräume und historischen Bedeutung zu veranschaulichen und somit die Anfänge einer uns heute vertrauten „an den Idealen der repräsentativen Demokratie ausgerichteten politischen Kultur“ in Deutschland15 aufzudecken. Unter Umständen trägt gerade die Einzel- und Familienbiographie von aus heutiger Perspektive unbekannteren Politikern, Reformern und Intellektuellen, die als politische Vordenker, Wegbereiter und Volksaufklärer gewirkt haben, eher dazu bei, ein realistischeres, ungeschönteres Bild von der Formierung und Entfaltung deutscher Demokratie zu vermitteln, als dies bei der im Nachhinein oft glorifizierten, von Mythen umrankten ‚Nabelschau großer Männer‘ möglich ist. Gerade wenn es um die „wechselnden Bezüge auf Vergangenheit“, „aktuelle Zeitgenossenschaft“ und „Fortschreibung in die Zukunft hinein“ geht, ist das Konzept von Genealogie und Generation besonders gut geeignet, um „den Wechselbezug von Geschichte und Leben“ aufzuzeigen und damit „Lebens-Geschichten, d.h. biographische Narrative zu plausibilisieren“.16 Dies gilt vor allem für Familienbiographien, da diese zum einen „ein neues Bewusstsein für die tatsächliche historische Bedeutung familiärer Verknüpfungen“ vermitteln und die zum anderen über die vermeintliche Idee individueller Größe hinaus, im Gedanken „das Individuum in der Gesellschaft zu verorten“ und es „in seine historisch vorfindbare Lebenswelt“ einzubetten, „aus dem Sachverhalt der Generationalität heraus“ besondere historische Typen entwickeln, die als „‚exemplarisch‘ für eine bestimmte Generation angenommen“ und an deren Beispiel die Identitäten der Titelfiguren offengelegt werden können.17 Des Weiteren können in einer solchen Untersuchung die Fragen geklärt werden, ob die Politikkonzepte der erfassten Demokraten potentielle Alternativen für die politische Entwicklung in Deutschland seit der Französischen Revolution 1789 hätten darstellen und welche Rolle sie in aktuellen politischen Selbstverständigungsdebatten einnehmen können. Da es bislang keine Arbeit zur Venedeyschen Familiengeschichte gibt18, seit 88 Jahren keine Biogra-

15 Best / Weege (1996): Einleitung, S. 11–50, hier S. 13. 16 Zum Konzept von Genealogie und Generation vgl.: Willer (2009): Generation, S. 87–94, hier S. 87. 17 Zu den verwendeten Arbeiten der neueren Biographik vgl. u.a.: Lässig (2009): Biographie, S. 540–553, hier S. 549 (Hervorhebung im Original); Willer (2009): Ebd., hier S. 91 u. 93; Pyta (2009): Arbeiten, S. 331–338, hier S. 333. 18 Neben dem Redemanuskript von Michael Venedey (1992): 200 Jahre Familientradition, dem Artikel von Hofmann (1998): Freiheit, Gleichheit – Venedey und einem Lexikonartikel von Bublies-Godau (2016): Venedey, S. 746–753 gibt es nur noch einen Aufsatz zu Henriette Venedeys Familie: Raab (1993): Die „revolutionären Umtriebe“, S. 481–489.

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phie zu Jakob Venedey mehr erschienen ist19 und nur wenige Studien zur Traditionsbildung von Demokratie und Republik vorliegen20, bilden diese Desiderate den Hintergrund für eine moderne wissenschaftliche Venedey-Biographie21, aber auch für Studien zur Bestimmung der deutschen demokratischen Traditionen. 2. DEMOKRATISCHE TRADITIONEN UND DIE GESCHICHTE EINER ‚FAMILIENDYNASTIE‘ IN DEUTSCHLAND Die Venedeys gehörten einer alten, bis ins 15. Jahrhundert zurückzuverfolgenden Familie aus Erkelenz und Umgebung an, einige Vorfahren zählten zu den angesehenen Bürgern in der niederrheinischen Bevölkerung. Seit der Französischen Revolution führten mehrere Angehörige das demokratische Erbe und zivilgesellschaftliche Engagement der Familie bis ins 20. Jahrhundert hinein fort, waren vor allem im Rheinland, in Baden, Hessen, der Pfalz und Berlin, aber auch auf Bundesebene politisch tätig und haben für ihre Überzeugungen und Funktionen sogar Verfolgung, Inhaftierung, Flucht und Exil in Kauf genommen. Für individual- und familienbiographische Betrachtungen bieten sich neben Jakob Venedey auch die Lebensläufe seines Vaters Michael (1770–1846) – Jakobiner, Moderateur des Kölner Konstitutionellen Zirkels von 1798, Advokat-Anwalt am Landgericht Köln und Vertreter des Rheinischen Rechts –, seiner Schwester Anna Gertrud Broicher geb. Venedey (1806–1850) – politische Ratgeberin und familiärer Fluchtpunkt für ihn während des Exils –, seiner Ehefrau Henriette Venedey geb. Obermüller (1817–1893) – badische 1848er Revolutionärin, Republikanerin, Pensionswirtin und bürgerliche Frauenrechtlerin – sowie die Lebenswege seines Sohnes Martin Georg Christoph (1860–1934) – Abgeordneter im badischen Landtag von 1891 bis 1919 und Mitglied der Deutschen Demokratischen Partei und des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold in der Republik – sowie seiner Enkel Hans Jakob (1902–1969) und Hermann Martin Venedey (1904–1980) an – Gegner und Verfolgte des NS-Regimes im Dritten Reich, Exilanten in Frankreich und der Schweiz, nach Ende des Zweiten Weltkrieges der eine 1945/46 der erste Innenminister des Landes Groß-Hessen und der andere Direktor eines Konstanzer Stadtgymnasiums.22 Damit kann die Geschichte der Familie Venedey als einer bürgerlich-demokratischen ‚Familiendynastie‘ beispielhaft für die nur unzureichend aufgearbeitete Historie jener Teile des deutschen Bürgertums stehen, die zunächst 19 Die drei existierenden Biographien zu Jakob Venedey erschienen bezeichnenderweise alle in der Weimarer Republik, siehe Bublies-Godau (2016): Venedey, S. 747–749. 20 Mit den demokratischen Traditionen in Deutschland haben sich u.a. beschäftigt: Kuhn (1973): Der schwierige Weg, S. 430–452; Langewiesche (1992): Demokratische Traditionen, S. 191– 212. 21 Die Verfasserin bereitet nach langjährigen Forschungen den Abschluss ihrer Dissertation „Für Volk, Freiheit, Menschenrecht und Vaterland – Jakob Venedey (1805–1871). Biographie eines Demokraten“ vor. 22 Zur Familiengeschichte vgl.: Bublies-Godau (2016): Venedey, S. 746–753.

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linksliberale und republikanische, später auch sozialdemokratische und pazifistische Positionen vertraten und sich bereits im Alten Reich, dann im Deutschen Bund, Deutschen Kaiserreich und in der Weimarer Republik sowie schließlich in Nachkriegsdeutschland und der frühen Bundesrepublik unablässig für die Demokratie, die Menschen- und Bürgerrechte, ein geeintes Deutschland und eine Einigung der Staaten in Europa in Frieden und Freiheit eingesetzt haben. Mit Blick auf die Venedeys, andere demokratische Familien und Einzelpersönlichkeiten sowie eingedenk der übergeordneten Problemstellung der Weitergabe politischer Denk- und Handlungsmuster in sozialen Gruppen kann vor dem Hintergrund des gegenwärtigen Untersuchungsstandes festgehalten werden, dass in Deutschland seit Ende des 18. Jahrhunderts die „Reihe der Familien, die ihr demokratisches Credo von einer Generation zur anderen übermittelten“, als recht „lang“ einzustufen ist23, es zudem „personelle Kontinuitäten“ gegeben hat, „die von den deutschen Jakobinern […] in das 19. Jahrhundert laufen“24, und nicht zuletzt Universitätsangehörige, Oppositionspolitiker und Staatstheoretiker an ihren freiheitlich-demokratischen Überzeugungen über alle politischen Umbrüche hinweg festhielten und sich als eigenständige weltanschaulich-politische Richtung, Bewegung und ‚Partei‘ verstanden, organisierten und etablierten.25 Dieser bürgerliche Demokratismus, Republikanismus und Linksliberalismus lässt sich in einer Entwicklungslinie verfolgen, die von der Mainzer Republik 1792/93 und der Cisrhenanischen Bewegung 1797/98, über das Hambacher Fest 1832, die deutsche Nationalversammlung und Reichsverfassungskampagne in der Revolution von 1848/49, die bürgerlich-demokratische Einigungsbewegung der Gründerzeit und die freisinnigen Fraktionen in den einzelstaatlichen Landtagen des Kaiserreichs bis zum linksliberal-demokratischen Öffentlichkeits- und Parteienspektrum der Weimarer Republik reichte. Damit bildete der Demokratismus eine bislang viel zu wenig beachtete politische Gegenbewegung zum eingehend erforschten deutschen Liberalismus, wobei bis heute die Geschichtsschreibung dazu neige, so der Historiker Klaus Ries, sowohl die „Spaltung, die der Liberalismus seit dem Vormärz durchlaufen hat und die auch noch seine Geschichte in der Weimarer Republik“ prägte, zu verkennen als auch „eine Vereinnahmung […] des Demokratismus durch den Liberalismus“ zu betreiben.26

23 Zum Weiterleben demokratischer Anschauungen in bestimmten Familien vgl. u.a. die Einschätzungen von: Grab (1980): Die Kontinuität, S. 439–452, hier S. 446–448, zit. S. 448; Valjavec (1978): Die Entstehung, S. 180–206, hier S. 205–206; Kuhn (1976): Jakobiner im Rheinland, hier S. 179–181. 24 Dazu insbes. Kuhn (1976): Ebd., hier S. 179. 25 Beispiele für diese Gruppe bürgerlicher Demokraten nennt auch: Bublies-Godau (2010): Adam von Itzstein, S. 303–357, bes. S. 309–310. 26 Ries (2018): Rezension, S. 1–4, hier zit. S. 2, unter: https://www.freiheit.org/sites/default/ files/upload/2018/01/16/online2–17ries/liberalismus/forschung.pdf (Zugriff am 3.9.2018).

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3. DIE WEITERGABE DES DEMOKRATISCH-REPUBLIKANISCHEN ERBES IN DER FAMILIE VENEDEY 3.1 Jakob Venedeys Demokratievorstellungen und Ordnungsentwürfe Jakob Venedey gehörte als Freiheitskämpfer, Volksvertreter, Homme de lettre, Staatstheoretiker und Geschichtsschreiber bis zum letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zu den bedeutendsten Persönlichkeiten der bürgerlichen Demokratie-, Freiheits- und Einheitsbewegung in Deutschland, dessen politischer Blick durch seine Flucht-, Exil- und Auslandserfahrungen in Frankreich, England, Irland, Belgien und der Schweiz, durch das Kennenlernen neuer politisch-rechtlicher und sozioökonomischer Verhältnisse und durch einen transnationalen Kulturaustausch – an dem er mit seinen Büchern und Korrespondenzen großen Anteil hatte – besonders geprägt und geschärft worden war. Einstmals wirklich bekannt und heutzutage fast vergessen, trat der am 24. Mai 1805 im rheinischen Köln geborene und am 8. Februar 1871 im badischen Oberweiler gestorbene Venedey für die Freiheit und das Gemeinwohl des deutschen Volkes ein, hatte zugleich die Interessen der europäischen Völkergemeinschaft vor Augen und bekannte sich, erfüllt von einem positiven Verständnis der Volksherrschaft, zu der seit den bürgerlichen Revolutionen in Frankreich und den Vereinigten Staaten verwirklichten Staats-, Verfassungs- und Regierungsform der Demokratie. Als er seine Biographien über Georg Washington und Benjamin Franklin 1861 und 1862 veröffentlichte27, zeigte er wie viele deutsche Staatstheoretiker und Oppositionspolitiker eine „überschwänglich[e]“ Begeisterung28 und ein substantielles Interesse an dem Gelingen der Revolutions- und Unabhängigkeitsbewegung und der aus der Volkssouveränität heraus geborenen Verfassungsgebung in den Vereinigten Staaten von Amerika. Für ihn als Vertreter der bürgerlichen „Gründer“, die die deutsche Politik in der nachrevolutionären Ära und Gründerzeit wesentlich mitbestimmt und zur Entstehung einer Zivilgesellschaft entscheidend beigetragen haben29, ergaben sich dadurch neue Denkanstöße und Spielräume zur Fortentwicklung seiner eigenen Modelle der Staatsordnung, Regierungsform und Nationalstaatsbildung. Demgemäß zielte er mit beiden Werken auf die innerdeutsche Situation zu Beginn der 1860er Jahre ab, als eine Phase der politischen Öffnung vorherrschte, die er nutzen wollte, um die organisatorische Zusammenführung und weltanschauliche Festigung der oppositionellen Demokraten voranzutreiben. Wie Rezensenten betonen, versuchte er als „Geschichtsschreiber, dessen Vertrautheit mit englischen, irischen und amerikanischen Zuständen hin-

27 Jakob Venedey (1861): Georg Washington; ders. (1862): Benjamin Franklin. 28 Diese Einschätzung stammt von: Dippel (2015): Verfassungs- und Demokratiemodelle, hier Textabschnitt 3, Anm. 4, unter: URL: http://www.ieg-ego.eu/dippelh–2015-de (Zugriff am 17.09.2018). 29 Vgl. dazu: Jansen (2013): Geschichte, hier S. 251; ders. (2011): Gründerzeit und Nationsbildung, hier S. 11–12 u. S. 242 f.

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länglich bekannt ist“, mit dem Porträt Washingtons den „deutschen Bürger- und Freiheitssinn zu stärken“ und ein „Bildungsmittel für den politischen und patriotischen Charakter der Jugend und des Bürgerstandes“ zu bieten.30 In seiner Argumentation legt er großen Wert auf die Verfassung der Vereinigten Staaten, deren Stärke in der „wunderbare[n] Mischung von Unabhängigkeit und zugleich von Abhängigkeit der einzelnen Gewalten unter einander“ zu suchen sei. Zudem zeichne sie sich durch die besondere Stellung der richterlichen Gewalt aus, da jene „unangreifbar, unabsetzbar, unabhängig“ selbst „dem Gesetze unterthan und zugleich des Gesetzes Wächter“ dazu verpflichtet sei, „jeden Bürger in seinem gesetzlichen und verfassungsmäßigen Recht zu schützen“. Aus diesem Grunde sei das Recht in den Vereinigten Staaten „die höchste Macht, seine Vertreter, die Gerichte die höchste Gewalt, – der Rechtsstaat eine Wahrheit“.31

Abb.1: Jakob Venedey (1805–1871). Lithographie von (Valentin) Schertle (1809–1885).32

Dass Venedey ein Anhänger der Französischen Revolution und „eine[r] bürgerliche[n] Republik amerikanischen Musters“ gewesen und geblieben ist, er stets „auf ‚politischer‘ Freiheit als Voraussetzung sozialer Verbesserungen“33 beharrt hat und es somit neben dem Rechtsstaatsprinzip weitere Bausteine in seinen Verfassungsmodellen gegeben hat, manifestierte sich in Wort und Tat schon recht früh

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Jakob Venedey (1862): Benjamin Franklin, hier S. III u. VI. Jakob Venedey (1861): Georg Washington, hier S. 180 u. S. 182. Aus: Privatbesitz Birgit Bublies-Godau, M.A., Dortmund. Zu diesem Urteil: Seidel-Höppner / Höppner (2002): Bund der Geächteten, hier Teil 1, S. 60– 92, zit. S. 67–68.

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in der Vormärzepoche: Nicht nur dass er Ende Mai 1832 am Hambacher Fest teilnahm, bei den folgenden Treffen der Demokraten mitwirkte und mit der proeuropäischen Richtung innerhalb des Preß- und Vaterlandsvereins übereinstimmte. In Anlehnung an die frühneuzeitlichen Reflexionen über das gute und gerechte Regieren hatte er wie viele Akteure des Vormärz die von Niccolò Machiavelli (1469–1527) vertretene Theorie des bürgerschaftlichen Republikanismus, mithin des konstitutiven Zusammenhangs von Freiheit und Republik, Selbstregierung und Autonomie wie von öffentlichem Wohl, Bürgertugend und Vaterlandsliebe, rezipiert.34 Nun versuchte er in seiner Schrift Reise- und Rasttage in Deutschland, im August und Oktober 1832 in Mannheim und Straßburg verfasst, die seine politischen Überzeugungen zu jener Zeit widerspiegeln35, unter Berufung auf die bestehenden Republiken in der Schweiz und den Vereinigten Staaten sowie unter Bezug auf die alten deutschen Reichsstädte und oberitalienischen Stadtstaaten der Renaissance, Venedig und Genua, die Gründung von Republiken historisch zu legitimieren. Im Aufbau republikanischer Staatswesen und demokratischer Verfassungsordnungen sieht er die einzige Möglichkeit, um Politik, Wirtschaft und Gesellschaft in den einzelnen Staaten fortzuentwickeln, diese vollständig von der „Gewalt der Fürsten“ zu befreien und vor den Folgen der Anfang der 1830er Jahre europaweit einsetzenden Reaktion und Repression zu bewahren: „Nur Republiken können Europa retten!“36 Aus seiner Sicht waren schon die „kleinen deutschen Freistädte“ „glücklich, reich u. stark“ gewesen, und im Vergleich zu den in vielen europäischen Staaten herrschenden Monarchien hätten nur die Republiken in Amerika und der Schweiz ihren Bürgern in den letzten Jahrzehnten Frieden, Freiheit und Wohlstand gebracht. Wie die Schweiz so sei auch „Amerika das Land der Hoffnung für alle, die nicht den Muth der Aufopferung“ in Europa haben, und stehe „am Vorabende der Weltherrschaft durch Intelligenz, Reichthum und Kraft“.37 Welche enorme Bedeutung die politische Freiheit, der Rechtsstaat und das gesellschaftliche Gemeinwohl für Venedeys Ordnungsentwürfe und Demokratievorstellungen hatten, wie er den positiv konnotierten Begriff des Republikanismus weiterentwickelte, ihn mit einem gewandelten Demokratieverständnis verband und zu einer übergeordneten Theorie von Demokratie und Republik verdichtete, zeigen mehrere Abhandlungen, die er während des Exils in der französischen Julimonarchie von 1832 bis 1848 und im Laufe der deutschen Revolution von 1848/49 verfasste. Dabei orientierte er sich zum einen an den englischen Revolu-

34 Zum bürgerschaftlichen Republikanismus vgl. u.a.: Vorländer (2003): Demokratie, hier S. 48 und vor allem Mager (1984/2004): Republik, S. 549–651. 35 Jakob Venedey (1832): Reise- und Rasttage. Das Manuskript zum Hambacher Fest ist nach jetzigem Forschungsstand die letzte noch erhaltene, unveröffentlichte Schrift eines Teilnehmers der Demonstration. Eine Edition wird von der Verfasserin vorbereitet, seit kurzem finden sich neuedierte Auszüge in: Bublies-Godau (2017): „Das Fest“, S. 33–36. 36 Jakob Venedey (1832): Ebd., hier Nr. 47. 37 Ebd., hier Nr. 47–47 RS.

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tionären des 17. Jahrhunderts, die einem „empire of laws, and not of men“ das Wort redeten und dafür sorgten, dass „die Gewährung von Rechten zum Schutz des Einzelnen gegen die monarchische Autorität“ schriftlich verbrieft wurde.38 Zum anderen bezog er den zwischen französischer Aufklärung und Amerikanischer Revolution im politischen Diskurs aufgekommenen und von Charles-Louis de Montesquieu (1689–1755) untermauerten Grundsatz, dass „die Republik als eine gesetzmäßige Herrschaft“ zu verstehen sei, ebenso wie die von Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) vertretene Definition der Republik als einen „Staat, der durch Gesetze regiert wird“, in seine Überlegungen mit ein.39 Nach Ausbruch der Revolution kehrte Venedey Ende März 1848 aus Paris nach Köln zurück, wurde zum Vorparlament eingeladen, in den Fünfzigerausschuss delegiert und als Abgeordneter der Landgrafschaft Hessen-Homburg in die deutsche Nationalversammlung in Frankfurt gewählt.40 In der von ihm herausgegebenen Zeitschrift Die Wage41 bekannte er sich zu einer umfassenden Reform der Staats- und Gesellschaftsordnung in Deutschland, die auf einem gewaltfreien, der Rechts- und Gesetzeslage entsprechenden Weg durchgeführt werden sollte. Eine zentrale Rolle spielten dabei die neugeschaffenen parlamentarischen Repräsentationen, die „Volkshäuser“, vor allem die deutsche Nationalversammlung, die, aus einer Volkswahl hervorgegangen und durch Bundesbeschlüsse legalisiert, für die Volkssouveränität stand. Deshalb konnte seiner Ansicht nach „die Einheit, die Macht, die Freiheit, das Gesammtwohl Deutschlands […] organisch und auf friedlichem Wege nur durch das erste deutsche Parlament verwirklicht werden“.42 Gerade die Abgeordneten der demokratischen Linken hatten kein Vertrauen in die Gestaltungskraft und den Reformwillen der monarchischen Herrscher, sie glaubten von ihrem Standpunkt aus „nicht mehr an die ‚Macht‘ der Regentenhäuser gegenüber den Volkshäusern“.43 Vielmehr fühlten sich die Volksvertreter als Anhänger des „Konzept[s] der ‚gesetzlichen Revolution‘“44 dazu berechtigt, auf der Basis des in der Märzrevolution begründeten Rechtszustandes die ihnen verliehene Macht zu nutzen, um neue Verhältnisse zu schaffen, etwa eine freiheitlichdemokratische Grundordnung in einem geeinigten Nationalstaat in Form einer föderalen Republik. Oder wie Venedey es ausdrückte: „Deswegen suchen wir auch die ‚Macht‘, auf die wir die Einheit Deutschlands bauen wollen, nicht in ei-

38 Vorländer (2003): Demokratie, S. 50 (Hervorhebung im Original); Nolte (2012): Was ist Demokratie?, S. 139. 39 Nolte (2012): Ebd., S. 139. Nach Rousseau konnte „eine legitime Regierung […] eigentlich nur republikanisch sein“, dazu: Vorländer (2003): Ebd., S. 51. 40 Zu Venedeys Aktivitäten in der Revolution vgl.: Bublies-Godau (1998): Der Held des Parlaments, S. 237–248; dies. (2008): Die 1848er Revolution, S. 42–50. 41 Zur Zeitschrift: Jakob Venedey (1848/49): Die Wage. 42 Jakob Venedey (1849): Ebd., H. 5: Eine Rede Herrn Bassermann‘s, S. 3–43, hier S. 29. 43 Ebd., H. 5, hier S. 5–6. 44 Siehe auch die grundlegende Studie von Seidl (2014): „Gesetzliche Revolution“, hier S. 33.

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ner dynastisch-monarchischen Spitze, sondern in einer democratisch-republikanischen Grundlage.“45 Nach der Revolution gab er sein positives Verständnis von Demokratie und seine in jungen Jahren gewählten Strategien zur Umsetzung des Verfassungsstaates nicht auf. Im Gegenteil, den Weg, den andere politische Denker bereits beschritten hatten, ging nun auch Venedey, indem er wie jene die als geschichtliche Bewegung verstandene „Demokratie in den Gang der europäischen Geschichte“ einordnete und zugleich als einen „Endpunkt der Geschichte“ darstellte, auf den „die ‚historische Tendenz‘ seit Jahrhunderten alle Bewegungskräfte hingespannt“ habe.46 Seine Sicht auf die Herkunft der modernen Demokratie, auf ihren historischen Entwicklungsgang in der europäisch-transatlantischen Welt – gespeist aus den Ideen der italienischen Renaissance, der Französischen Revolution, des englischen Konstitutionalismus, Parlamentarismus und amerikanischen Republikanismus wie aus den Erinnerungen an die althergebrachten deutschen Freiheiten – ebenso wie seine Vorstellungen zur künftigen Gestaltung Deutschlands hatte er in seinen staatsrechtlichen und historisch-politischen Studien ausgearbeitet. Dabei ging es ihm stets darum, die von ihm rezipierte westliche Demokratietheorie und praxis mit den ihm vertrauten deutschen Modellen und Erfahrungen zu verbinden, etwa mit dem „Motiv der ‚alten deutschen Freiheit‘“ oder mit dem „Rückgriff auf die protestantische Tradition“.47 Dies gilt für die zuvor aufgeführten Werke, aber auch für seine Arbeiten über John Hampden, England und Irland von 1843, 1844 und 1845, seine Auseinandersetzung mit den Lehren von Macchiavel, Montesquieu, Rousseau von 1850, seine Geschichte des deutschen Volkes von 1853 bis 1862, seine Biographien der amerikanischen Gründerväter oder für sein letztes Buch über Die deutschen Republikaner von 1870.48 3.2 Martin und Hermann Venedeys Aktivitäten im Umfeld der Revolutionsjubiläen zu 1848/49 Wie viele seiner linksliberalen Parlamentskollegen wirkte auch Martin Venedey am 50-jährigen Revolutionsjubiläum und an den von der Obrigkeit geduldeten Gedenkveranstaltungen im Großherzogtum Baden mit, die an die Bewegung von 1848/49 und an deren Protagonisten erinnerten. Aus diesem Anlass sprach er am 6. Mai 1898 im Volksverein Karlsruhe über Das Jahr 1848 und hob dabei die Notwendigkeit des Gedenkens hervor: Die „Erinnerung an das Jahr 1848, an jene

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Jakob Venedey (1849): Die Wage, H. 5: Eine Rede Herrn Bassermann‘s, hier S. 6. Zum Hintergrund: Conze et al. (1972/2004): Demokratie, bes. S. 869–873, hier S. 869. Ebd., S. 870–872. Vgl.: Jakob Venedey (1870): Die deutschen Republikaner; ders. (1853–1862): Geschichte des deutschen Volkes; ders. (1862): Benjamin Franklin; ders. (1861): Georg Washington; ders. (1850): Macchiavel, Montesquieu, Rousseau; ders. (1845): England; ders. (1844): Irland; ders. (1843): John Hampden.

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großen Männer, die als Träger der freiheitlichen Ideen aufgetreten seien und gelitten hätten“, stelle heute geradezu eine Pflicht für alle Liberalen dar, da es „in größeren Kreisen zum Sport werde, mit einer durch Nichts zu rechtfertigenden Geringschätzung auf jene Zeit herunter zu blicken und sich in abgeschmackten Redensarten zu ergehen“; hiermit meinte er vor allem die Nationalliberale Partei, die „allerdings vom Liberalismus nicht mehr habe als den Namen“.49 In einem Artikel der jener nahestehenden Konstanzer Zeitung vom 1. Mai 1898, der sich auf eine Landtagsdebatte und die Geschichtsbilder der badischen Regierung und demokratisch-freisinnigen Opposition bezog, wurde Venedey direkt angegriffen: Jener sei wie andere „verbissene Partikularisten“ „in seinen geschichtlichen und politischen Ansichten so rückständig und sein Horizont […] so eng“, während anderen Demokraten darin sogar vorgeworfen wurde, dass sie sich „in dem radikalen Programm von 1848, dem die Geschichte längst Unrecht gab, […] geistlos festgerannt“ hätten und ihnen der „Blick für das wahrhaft Große u. für das wirkliche Leben […] abhanden gekommen“ sei. So würden „radikale Dutzendgrößen à la Hecker u. Pfau […] von ihnen verhimmelt, hingegen glänzende Helden der Umsicht u. der That“, gemeint sind Otto von Bismarck (1815–1898) und Kaiser Wilhelm I. (1797–1888), nur „mit Spott und Verachtung bedacht“.50

Abb. 2: Martin Venedey (1860–1934). Öl auf Leinwand.51

49 Zu der Rede vgl.: Bräunche (1998): Die Gegenwart, S. 86. 50 Vgl. aus dem Familienbesitz: Demokratenstreiche. In: Konstanzer Zeitung (1. Mai 1898), 1. Blatt, S. 2 u. 3. Blatt, S. 1. 51 Privatbesitz Familie Venedey, Konstanz/ Berlin. Fotografie des Gemäldes: Birgit BubliesGodau, M.A., Dortmund.

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Venedey hatte durch seine Eltern Jakob und Henriette Venedey eine positive Haltung zu den in Deutschland und Europa seit der Französischen Revolution und der Achtundvierzigerrevolution sich ausbreitenden freiheitlich-demokratischen Ideen ebenso wie zu den jene aufgreifenden politisch-sozialen Bewegungen vermittelt bekommen. In seinem Denken und Handeln lassen sich Anhaltspunkte finden, die nicht nur für die Überlieferung bestimmter Denkhaltungen aus einem politischen Lager sprechen, sondern die auch auf die Verbindung zweier zentraler, aus Sicht der älteren Historik kaum miteinander zu vereinbarender, deshalb von jener zumeist strikt getrennt betrachteter Stränge der Revolution hinweisen und die sich „verkürzt auf die Formel Barrikadenkämpfe contra Paulskirche bringen“52 lassen. Das Revolutionsgedenken in diesem Sinne hatte gerade die offizielle Geschichtsschreibung im Kaiserreich geprägt, die darauf ausgerichtet gewesen war, eine „Erfolgsgeschichte des Jahres 1871 zu schreiben“. Die Ereignisse von 1848/49 konnten da „allenfalls zur Vorgeschichte der Reichsgründung“ mutieren53 und dem widersprechende „Demokratengrößen“ wie Martin Venedey oder Oskar Muser (1850–1935) – die erklärt hatten, dass „er [Venedey, Anm. BBG] Bücher mit dem Titel ‚Wilhelm der Große‘ überhaupt nicht lese, weil sie stets eine bewußte oder unbewußte Geschichtsfälschung enthalten zum Vortheil Kaiser Wilhelms I. und seines Handlangers Bismarck“54, und dass, so Muser, das Jahr 1871 nicht erfüllt habe, „was die Besten im Jahr 1848 erstrebten“55 – mussten daher mit aller Vehemenz bekämpft werden. Diese unterschiedlichen Stränge der 1848er Revolution und ihre Deutung nahm Venedey in den Blick, als er anlässlich der 70. Wiederkehr der Erschießung der letzten Kämpfer der badischen Erhebung von 1849 auf den Wällen der Bundesfestung Rastatt einen Gedenkartikel Zur Erinnerung an den 20. Oktober 1849 verfasste, der – nach Gründung des Freistaats Baden im November 1918 und nach Verabschiedung der neuen badischen Verfassung vom 21. März 1919 – am 21. Oktober 1919 im Rastatter Tagblatt veröffentlicht wurde. In dem Artikel fordert er eine vorurteilsfreie Betrachtung beider Revolutionsstränge in der deutschen wie badischen Politik und Wissenschaft, ferner tritt er für deren umfassende Aufarbeitung ein und ruft schließlich dazu auf, diese jeweils als Bausteine einer neuen demokratischen Identität auf Republik- und Landesebene zu verstehen: Heute, da dieser Tag zum ersten Male im freien badischen Volksstaate wiederkehrt, ziemt es uns, in Dankbarkeit und Verehrung jener Opfer und Märtyrer für die Sache der Einheit und der Freiheit unseres deutschen Volkes zu gedenken. Das umso mehr, als gerade den Kämpfern und Blutzeugen des Jahres 1849 bisher die gebührende Anerkennung geflissentlich versagt wurde […] Lange Zeit hatten sie dieses Geschick mit ihren Brüdern aus dem Jahre 1848 geteilt, bis sich endlich aus der Unmöglichkeit, die gesamte Bewegung der Revolutionsjahre

52 Klemm (2007): Erinnert, hier S. 22 (Hervorhebung im Original). 53 Ebd., S. 23. 54 Vgl. noch einmal den Artikel: Demokratenstreiche. In: Konstanzer Zeitung (1. Mai 1898), 1. Blatt, S. 2. 55 Zu Musers Haltung erneut: Ebd. u. dazu Bräunche (1998): Die Gegenwart, S. 86.

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dauernd völlig zu verleugnen und zu verdammen, […] ein seltsamer Kompromiß entwickelte, der peinlich unterschied zwischen dem guten und achtbaren Manne des Jahres 1848 […] und dem bösen, verabscheuungswürdigen Rebellen des Jahres 1849 […] Heute ist es Zeit und Ehrenpflicht, mit diesem Vorurteil […] gründlich aufzuräumen und den Opfern des Jahres 1849 den Dank und die Anerkennung zu zollen, die sie […] im gleichen […] Maße verdienen als die Kämpfer von 1848. […] Hoffen wir, daß wir ihn [den Weg zur Freiheit, Anm. BBG] jetzt unter der alten schwarzrotgoldenen Flagge endlich gefunden haben, und schreiten wir ihn rüstig weiter im Geiste und im Andenken unserer Vorkämpfer aus den Jahren 1848 und 1849.56

Venedey selbst wurde 1923 in puncto Revolutionsgedenken wieder aktiv: So gehörte er neben den Sozialdemokraten Wilhelm Josef Blos (1849–1927) und Adolf Ernst Geck (1854–1942) dem neuformierten „Denkmalausschuß“ in Rastatt an, dessen Mitglieder eine öffentliche Gedenkfeier für die standrechtlich Erschossenen am offiziellen Denkmal in der Stadt durchführen und damit an die mit dem Gedenkstein geehrten „Kämpfer für Freiheit und Recht“ und „Opfer des Unverstandes und der Willkür“ erinnern wollten.57 Gern hätte er auch an der zentralen Gedenkfeier am 18. Mai 1923 in Frankfurt, „der größten 1848er-Feier im ganzen Reich“, teilgenommen, zu der er eingeladen worden war und deren Ausrichtung er begrüßte, da die dortigen Feierlichkeiten „sich der Stärkung der Demokratie und der Republik verschrieben hatten“ und besonderen Wert auf die „mit dem Eröffnungstag der Nationalversammlung verknüpfte Erinnerung an den parlamentarischen Zweig der Revolution“ legten.58 Zu seinem Bedauern musste er seine Teilnahme aus beruflichen Gründen absagen, in dem Schreiben hob er gleichwohl die Bedeutung der Feier, für ihn als Nachfahren eines Abgeordneten wie für alle in „den Ideen des Jahres 1848“ noch zu bildenden Staatsbürger, hervor: Möge sie dazu beitragen, in unserer heutigen, politisch so wenig geschulten […] Generation das Verständnis für die großen Ideen des Jahres 1848 und seiner damaligen Vorkämpfer zu wecken und zu vertiefen und ihr zum Bewußtsein zu bringen, daß damals das deutsche Volk auf dem richtigen Wege zur Freiheit und Einheit und zu einem seiner nationalen Eigenart im wahrsten und besten Sinne entsprechenden Entwicklung war, während das BismarckischHohenzoller’sche Großpreußen, das später an deren Stelle trat, mit seinem brutalen Kultus der Gewalt und der rücksichtslosen Mißachtung aller Rechte der Anderen nur einen verhängnisvollen Irrweg darstellte, der uns, wenn kein Wunder geschah, mit Naturnotwendigkeit dahin führen mußte, wo wir heute sind. Nur die entschlossene Abkehr von diesem Irrweg und die Rückkehr zu den Ideen des Jahres 1848, [die] die glühende Liebe zur Freiheit und zum Vaterland mit einer vornehmen Auffassung von Pflichten gegenüber dem Recht des Nebenmenschen und anderer Völker verbanden, können uns aus diesem Elend […] hinaufführen.59

Wie sein Vater engagierte sich auch Hermann Venedey in der Frage des Revolutionsgedenkens, 1948 anlässlich des Zentenariums der Revolution. Neben dem von 56 Der gesamte Artikel ist abgedr. in: Hermann Venedey (1980): Martin Venedey, S. 88–94, hier S. 88–89 u. S. 94. 57 Vgl. dazu: Bräunche (1998): Die Gegenwart, S. 94; Bultmann (2011): Rastatt, S. 231–249, hier S. 249. 58 Zum Gedenken 1923 in Frankfurt: Klemm (2007): Erinnert, S. 245–310, hier S. 245 u. 275. 59 Schreiben von Martin Venedey vom 12.05.1923, hier zit. nach: Klemm (2007): Ebd., S. 276– 277, Anm. 974.

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der französischen Besatzungsmacht und badischen Verwaltung organisierten Gedenken auf regionaler Ebene von 1947 bis 1949, mit dessen Planung Ende Juni 1947 „ein Komitee aufrichtiger Demokraten“ beauftragt wurde, dem Venedey nach seiner Berufung durch die französische Militärregierung angehörte und das Festakte „unter Würdigung ihrer Bedeutung für die Gegenwart“ in ganz Südbaden durchführte60, beteiligte er sich auch an anderen Veranstaltungen und Publikationen, die im nationalen Rahmen stattfanden oder von der Zivilgesellschaft vor Ort organisiert wurden. Als Nachfahre eines Abgeordneten war er zur Frankfurter Hundertjahrfeier eingeladen worden; im Gegensatz zu seinem Vater konnte er an der gesamten Festwoche und insbesondere am Festakt in der Paulskirche am 18. Mai 1948 teilnehmen. Über die nachdenklich stimmende Feier berichtete er am 25. Mai 1948 in einem persönlich gehaltenen Artikel in der Zeitung Südkurier.61 Darüber hinaus arbeitete er noch an einer Jubiläumsbeilage der Frankfurter Rundschau über 1848–1948 mit, in der beide Stränge der Revolution, die Parlamentsarbeit wie die Barrikadenkämpfe, erläutert wurden.62 Bereits einen Monat zuvor, am 13. April 1948, hatte er maßgeblich an der übergreifenden „48er-Erinnerungsfeier in Konstanz“ mitgewirkt, die von der Stadtverwaltung, den Parteien und dem Gewerkschaftsausschuss ausgerichtet worden war und bei der sich „zahlreiche Besucher“ und Vertreter der französischen Besatzungsmacht und badischen Behörden eingefunden hatten. Aus Sicht der Organisatoren hatte die Stadt am Bodensee „berechtigten Grund, der denkwürdigen Tage von 1848 zu gedenken“: Schließlich habe Friedrich Hecker (1811– 1881) zu Beginn des Aufstandes am 12. April 1848 vom Balkon des damaligen Stadthauses die Republik proklamiert, und „dieser Tatsache und der ganzen Bewegung des Jahres 1848 galt“ die Erinnerungsfeier, über die im Lokalblatt Südkurier ausführlich berichtet wurde.63 In seinem Vortrag 1848 und wir schildert der Historiker Venedey „die Voraussetzungen und geistesgeschichtlichen Ausmaße der Bewegung von 1848“ und betont die Dimension der Revolution, die „nicht nur ein badisches oder deutsches, sondern ein europäisches Ereignis gewesen“ sei.64 Nach einem einführenden Überblick über die politische Entwicklung in Frankreich, Italien, Deutschland und der Schweiz im Vormärz wendet er sich dem eigentlichen Revolutionsgeschehen zu. Dabei weist er auf die großen Kernfragen hin, vor die sich einst schon sein Großvater Jakob Venedey als Abgeordneter der Nationalversammlung gestellt sah und denen auch Hermann Venedey eine zentrale Bedeutung für die historische Entwicklung wie für die künftige politische Ge-

60 Vgl. dazu: Hochstuhl (2002): In Erfüllung, S. 317–326, hier S. 321. 61 Vgl. aus dem Familienbesitz: Die Jahrhundertfeier in der Paulskirche. In: Südkurier (21. Mai 1948), S. 1; Hermann Venedey: Paulskirche 1948. In: Ebd. (25. Mai 1948), S. 1 f.. 62 Zur Jubiläumsbeilage: Klemm (2007): Erinnert, S. 454. 63 Vgl. aus dem Familienbesitz: Zur Erinnerung an 1848. In: Südkurier (9. April 1948), S. 3; 48er-Erinnerungsfeier in Konstanz. In: Ebd. (16. April 1948), S. 3 (hier Zitate). 64 Zum Vortrag vgl.: Zur Erinnerung an 1848, ebd., S. 3 u. 48er-Erinnerungsfeier in Konstanz, ebd., S. 3.

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staltung Deutschlands zusprach: Sei es „der Gedanke der nationalen Einheit und gleichzeitig das Problem der Form dieser Einheit, ob Staatenbund oder Bundesstaat“; sei es die Überlegung, „nicht durch Revolution, sondern durch Evolution zu dem ersehnten Ziel zu kommen“; sei es das Ziel des Frankfurter Parlaments, „ein freies, republikanisches ‚Konföderiertes Europa‘“ zu errichten; oder sei es der Umstand gewesen, dass in Baden „der Verfassungsgedanke lebendig geblieben“ und es deshalb 1849 zur badischen Erhebung gekommen war. Jene Anliegen der Revolutionsära hätten in der Umbruchsituation der Nachkriegszeit nach 1945 wieder an Aktualität gewonnen, und aus Venedeys Sicht konnte nach 100 Jahren nur der Schluss gezogen werden: „Was uns heute aus jener Zeit als tragende Ideen lebendig bleiben müsse, sei der Gedanke eines deutschen föderalistischen Staates im Rahmen einer europäischen Union und gleichzeitig der Wille, unser ganzes öffentliches Leben mit demokratischem Geist zu durchdringen.“65 4. SCHLUSS 1797/98, 1848/49, (1818/)1918/19 und 1948/49 – 220 Jahre Cisrhenanische Bewegung und Französische Revolution am Rhein, 170 Jahre Revolution von 1848/49 in Deutschland und Europa, 100 Jahre Weimarer Republik und Badischer Freistaat sowie 70 Jahre Zentenarium der 1848er Revolution und Gründung der Bundesrepublik Deutschland: Diese „zentralen […] Grundpfeiler und Eckdaten der deutschen Verfassungs- und Demokratiegeschichte“66 spielen eine bedeutende Rolle im Leben und Wirken der in diesem Beitrag behandelten Angehörigen der Familie Venedey. Durch ihr gesellschaftspolitisches, verfassungsrechtliches, literarisch-publizistisches und kulturhistorisches Engagement in Deutschland und Europa in den vergangenen 200 Jahren sind sie mehr oder weniger direkt an den genannten Ereignissen beteiligt gewesen, haben die zeitgenössischen Demokratie-, Freiheits-, Einheits- und Emanzipationsbewegungen zumindest unterstützt, wenn nicht sogar in leitender Funktion geführt und deren Zielsetzung, Programmatik und Aktionsfelder entscheidend mitbestimmt. Damit haben einzelne Mitglieder der Familie Venedey an der Entfaltung, Durchsetzung und Verankerung der modernen westlichen Demokratie und Verfassungsstaatlichkeit in Deutschland zwischen 1789 und 1949 in erheblichem Maße mitgewirkt und so einen besonde-

65 Dazu: 48er-Erinnerungsfeier in Konstanz, ebd., S. 3. 66 Bublies-Godau / Meyer-Eisenhut: Verfassung, Recht, Demokratie, S. 50. Während die Cisrhenanische Bewegung momentan nicht auf ein öffentliches Gedenkinteresse stößt, widmeten sich den Jubiläen der 1848er Revolution und der Badischen Staatsgründungen und Verfassungen 2018 gleich zwei Ausstellungen mit aussagekräftigen Katalogen, vgl.: Exner (2018): Baden 1818–1919; Kuckenberg et al. (2018): Tübinger Revolten. Im Hinblick auf das Jubiläum der Weimarer Republik vgl. vorerst Rößner (2015): Demokratie aus Weimar sowie die Beiträge in dem Band: Dreyer / Braune (2016): Weimar als Herausforderung, hier S. 205– 292.

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ren Beitrag zur deutschen Demokratiegeschichte, Staatswerdung und Traditionsbildung geleistet. Fasst man die vorliegenden Ausführungen und Erkenntnisse zusammen, so lässt sich festhalten, dass in diesem Beitrag sowohl erste Ansätze für eine individual- und familienbiographisch ausgerichtete, ideen-, politik-, sozial- und kulturhistorisch orientierte Studie zur Geschichte der modernen Demokratie in Deutschland im ‚langen‘ 19. Jahrhundert und darüber hinaus bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts präsentiert als auch erste Konturen für eine memorialgeschichtliche Untersuchung der Mechanismen und Verfahren zur Überlieferung besonderer politischer Bewusstseinslagen und zur Weitergabe demokratischer Denkhaltungen innerhalb einer Familie aufgezeigt werden konnten. Dies erfolgte zum einen durch die exemplarische Darlegung einzelner Demokratievorstellungen und Ordnungsentwürfe von Jakob Venedey, die er in seinen staatstheoretischen, tagesaktuellen und historisch-politischen Werken zwischen den 1830er und 1860er Jahren entwickelt hatte, und zum anderen durch die Schilderung verschiedener geschichtspolitischer Maßnahmen und Initiativen, die Martin und Hermann Venedey im Umfeld der Revolutionsjubiläen und Gedenktage von 1898, 1919, 1923 und 1948 ergriffen hatten. Jene Annäherungen bieten ausreichend Substanz und Potential, um zukünftig die eingangs erwähnten Desiderate zu schließen und eine wissenschaftliche Gesamtdarstellung zu der seit den Zeitläuften der Französischen Revolution sich in Deutschland ausbildenden und allmählich durchsetzenden eigenständigen politischen Richtung, Bewegung und ‚Partei‘ des bürgerlichen Demokratismus und Republikanismus anzugehen und für den Zeitraum von 1789 bis 1949 zu verfassen. Letztlich kann damit ein Prozess eingeleitet werden, der erste Aufschlüsse über deutsche Wegbereiter, Leitideen und Assoziationsformen von Demokratie und Republik aus den letzten zwei Jahrhunderten gibt und der jene – bei gleichzeitiger Anerkennung der katastrophalen Umwege in der deutschen Geschichte – als mögliche Anknüpfungs- und Orientierungspunkte für die deutsche Demokratiegeschichte, für eine allen Deutschen gemeinsame, fortschrittliche demokratische Kultur und als Teil eines positiv besetzten nationalen wie europäischen Gründungsmythos‘ ausweist, um auf diese Weise das Europa der Freiheit und der Menschenrechte, der Demokratie und der Republiken, des Rechtsstaats und des Gemeinwohls, von „Virtus und Staatsbürgertum“67 wieder einmal neu zu begründen. QUELLEN Konstanzer Zeitung, Südkurier: Verschiedene Ausgaben von Februar bis Juni 1898 und von April/ Mai 1948 mit Berichten zum 50-jährigen Jubiläum und zum Zentenarium der Revolution von 1848/49. In: Privatbesitz Familie Venedey, Konstanz/ Berlin.

67 Dazu: Hermann Venedey (o.J.): Michel Venedey, S. 36. So lautet die Einschätzung des Enkels und Historikers über den Urgroßvater und „Zeitgenosse[n] der Französischen Republik“.

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Venedey, Jakob: Reise- und Rasttage in Deutschland. Ein Büchlein der Liebe. Erster und zweiter Theil. Hd.Ms., Mannheim / Straßburg, August / Oktober 1832. In: Bundesarchiv Berlin, Nachlass Jakob Venedey, N 2316/78, Nr. 1–250.

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Die Familie Venedey und demokratische Traditionen

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„PARTEIHADER“ VERSUS „VOLKSGEMEINSCHAFT“ Kritik an Parteien und Parlamentarismus seitens der politischen Mitte in den Anfangsjahren der Weimarer Republik Jörn Retterath In den Augen vieler Zeitgenossen litt die Gesellschaft der Weimarer Republik an einer starken politischen und sozialen Zersplitterung. Die Auseinandersetzungen zwischen Kommunisten, Republikanern, Monarchisten und Nationalisten schufen bereits in den Anfangsjahren ein Klima, in dem Gewalt zum Alltag gehörte.1 Politik erschien in dieser polarisierten Atmosphäre nicht selten als elementarer Kampf, der Anhänger anderer Parteien von Gegnern zu Feinden mutieren ließ. Gleichzeitig sah sich der junge Staat mit diversen sozialen und politischen Herausforderungen, Krisen und Konflikten konfrontiert. Eine häufige Reaktion war der Ruf nach Einheit und einem gemeinsamen Vorgehen aller Kräfte. Die Kritik richtete sich gegen die Parteien sowie das parlamentarische System insgesamt. Entsprechende Äußerungen waren nicht nur bei den Republikfeinden auf der extremen Rechten und Linken zu hören, auch in der politischen Mitte2 – in den Milieus, die den Parteien der Großen Koalition nahestanden (also (M)SPD, DDP, Zentrum und DVP) – waren solche Semantiken mitunter sag- sowie druckbar.3 Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich mit der Frage, wie zwischen 1918 und 1924 in der politischen Mitte über Parteien und Parlamentarismus gesprochen und welche Ideen zur Reform des politischen Systems artikuliert wurden. Zur Beantwortung sollen nicht die Äußerungen der intellektuellen Eliten, die in ihrer Reichweite vielfach sehr begrenzt waren, herangezogen werden, sondern die Diskurse, die sich in den zeitgenössischen Leitartikeln sowie in politischen Reden

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Vgl. Jones (2017): Anfang; Traverso (2008): Bann; Schumann (2001): Gewalt; Wirsching (1999): Weltkrieg. Unter „politische Mitte“ soll im vorliegenden Aufsatz das breite Spektrum derjenigen Parteien (und ihrer Anhängerschaften) subsumiert werden, die der Weimarer Republik nicht gänzlich ablehnend gegenüberstanden und die Regierungsverantwortung übernahmen. Dabei orientiert sich der Terminus an der Definition von Andreas Hillgruber, der hiermit die Parteien „von SPD über Zentrum und Deutsche Demokratische Partei bis zur Deutschen Volkspartei einschließlich der ihnen zuzurechnenden gesellschaftlichen Kräfte“ bezeichnet hat. Hillgruber (1980): Kräfte, S. 156. Zum Begriff des „Sagbaren“ vgl. Landwehr (2008): Diskursanalyse, S. 21; Steinmetz (1993): Sagbare.

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niederschlugen.4 Ihre Inhalte waren zwar häufig tagespolitisch imprägniert, entfalteten aber durch ihre hohe Auflage beziehungsweise ihre mediale Streuung eine Breitenwirkung. Letztlich geben sie Auskunft über Themen, Stimmungen sowie die „Grenzen des Sagbaren“ in den jeweiligen Milieus. 1. DIE DEUTSCHE ERBSÜNDE DES „PARTEIGEISTS“ – DIE PARTEIEN IN DER KRITIK Parteien waren während der Weimarer Republik vielfachen Anfeindungen ausgesetzt.5 Ihr öffentliches Ansehen und ihre staatsrechtliche Stellung auf der einen Seite sowie ihre reale Bedeutung im politischen System auf der anderen Seite klafften stark auseinander: Einerseits verfügten sie in der öffentlichen Meinung zumeist über eine schlechte Reputation und fanden in der Verfassung nur ein einziges Mal Erwähnung (bezeichnenderweise in der Negativbestimmung, dass Beamte „Diener der Gesamtheit, nicht einer Partei“6 seien), andererseits fiel ihnen eine unverzichtbare Stellung als intermediäre Trägerinnen des politischen Systems zu. Parteien schlugen Kandidaten zu Wahlen vor, sie vertraten politische Programme in der Öffentlichkeit, sie trugen zur Integration der Angehörigen der von ihnen vertretenen sozial-moralischen Milieus in den neuen Staat bei und sie einigten sich auf Koalitionen, Kabinette und Gesetze – kurzum: Ohne ihre Tätigkeit war das Funktionieren der parlamentarischen Demokratie schlechterdings nicht vorstellbar. Auch wenn eingestanden werden muss, dass die Parteien in ihren Strukturen, ihrem Mitgliederbestand sowie ihrem Selbstverständnis vielfach verkrustet waren und den Wechsel von der konstitutionellen Monarchie zur parlamentarischen Demokratie, letztendlich also auch zur potenziellen Regierungsverantwortung häufig noch nicht gänzlich vollzogen hatten,7 waren sie aus dem poli-

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Ausgewertet wurden Leitartikel aus den für ihr jeweiliges politisches Milieu als Leitmedien fungierenden Tageszeitungen Vorwärts (Sozialdemokratie), Germania (politischer Katholizismus), Berliner Tageblatt (Linksliberalismus), Vossische Zeitung (Linksliberalismus) und Kölnische Zeitung (Nationalliberalismus). Ferner fanden parlamentarische Reden zu politischen Schlüsselereignissen und Regierungserklärungen sowie weiteres politisches Schriftgut (Parteitagsreden, Flugblätter, Plakate etc.) Eingang in die Untersuchung. Der vorliegende Aufsatz knüpft dabei an die Dissertation des Verfassers an, greift aber auf eine im Hinblick auf die hier behandelte Fragestellung erweiterte Quellenbasis zurück. Retterath (2016): Volk. Allgemein zur Parteienkritik in der Weimarer Republik vgl. Raithel (2005): Spiel, S. 86–100; Mergel (2005): Kultur, S. 399–410; Grüner (2002): Einheitssehnsucht; Sontheimer (1993): Denken, S. 155–165; Sontheimer (1962): Parteienkritik. Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919, Art. 130 I. Entsprechende Kritik wurde mitunter bereits von den Zeitgenossen geübt. So konstatierte Julius Elbau im Januar 1920 in der Vossischen Zeitung: „Im Grund besteht noch unverändert das alte Gefühl des Innerlichunbeteiligtseins bei den Regierten. Die Opposition hat nicht den ingrimmigen Wunsch, es endlich besser machen zu dürfen, sondern die kindliche Freude, durch Fehler der Regierung neuen Agitationsstoff zu gewinnen. Diese ganze Generation von

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tischen System der Weimarer Republik doch kaum wegzudenken. Viele Kritiker, auch aus dem Spektrum der politischen Mitte, ignorierten diese Tatsache, stellten die Parteien unter Generalverdacht oder machten sie für alle möglichen realen oder vermeintlichen Missstände verantwortlich. Bewusst oder unbewusst knüpften sie damit an die Etymologie des Parteienbegriffs an. Dieser war in Deutschland „ungewöhnlich lange ‚negativ besetzt‘“ gewesen. Erst seit dem 18. Jahrhundert wurde er zunehmend positiv konnotiert verwendet, „und zwar in Korrelation zum Entwicklungsstand parlamentarischer Systeme“.8 Diese Entwicklung war mit den demokratischen Schlüsselereignissen der Jahre 1848/49 und 1918/19 keineswegs abgeschlossen. Vielmehr schwangen negative Vorstellungen, die schon im 18. und 19.Jahrhundert verbreitet waren, auch noch im politischen Diskurs der Weimarer Republik mit. Entsprechendes Gedankengut manifestierte sich etwa in den Behauptungen, Parteien stünden im Gegensatz zum Volk als Ganzem, sie seien nur Teile beziehungsweise Abspaltungen des Volkes, in ihnen käme die „Zersplitterung“ der Nation zum Ausdruck. „Parteienzerrissenheit“ wurde milieuübergreifend beklagt. So schrieb etwa das sozialdemokratische Leitmedium Vorwärts im Mai 1924: „Ein paar Dutzend Parteien, Parteichen, Gruppen und Grüppchen werben um die Gunst der Wähler. An dieser Zersplitterung und Verwirrung droht alles zugrunde zu gehen.“9 Im Topos der „Zerrissenheit“ schwang die Vorstellung mit, dass es zu viele Parteien geben würde und die Gegensätze zwischen ihnen künstlich beziehungsweise aufgebauscht seien. Entsprechend häufig wurde der Ruf nach „Sammlung“ laut. Reichsarbeitsminister Heinrich Brauns konstatierte etwa im Juli 1922 in der Germania: „Wir müssen endlich den Mut haben uns einzugestehen, daß der tiefere Grund all dieses Elends [gemeint ist: die innenpolitische Zersplitterung und die Schwäche der Regierung] bei den Parteien liegt.“10 Eine Lösung sah Brauns in der „Vereinfachung und Vereinheitlichung unseres Parteiwesens“, durch die „zwei starke Parteigebilde, eins auf sozialistischer und eins auf bürgerlicher Seite“, entstehen könnten.11 Bereits wenige Monate zuvor hatte sein Zentrumskollege Adam Stegerwald behauptet, die Parteien zwischen MSPD und DNVP würden „ziemlich ein und dasselbe wollen“, seien jedoch in ihren „Parteischranken“ gefangen. Dabei verwies der vormalige preußische Minister für Volkswohlfahrt darauf, dass sich die Aufgaben der Parteien mit der Ausrufung der Republik gewandelt hätten: „Früher waren sie meist Kontrollorgane über die Regierung und Staatsanwälte gegen die Regierung, heute sind die politischen Parteien Gestalter des Staatswillens.“12 Der daraus erwachsenden Verantwortung würden sie jedoch nicht gerecht

Politikern und Wähler wird den Untertanenrespekt nicht los“. Elbau (23.1.1920): Partei, S. 2. Ähnliche Kritik vgl. Elbau (29.1.1921): Parlament; Stegerwald (1.4.1922): Programm, S. 1. 8 Beyme (1978): Partei, S. 677. 9 (3.5.1924): Eine gegen Sechzehn! 10 Brauns (16.7.1922): Elend, S. 1. 11 Ebd., S. 2. 12 Stegerwald (1.4.1922): Programm, S. 1.

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werden. Statt zum Wohle des Staates zusammenzuarbeiten, würden angebliche Unterschiede betont, so Stegerwalds Vorwurf. Die Sehnsucht nach einer „Einheitspartei“ war auch im liberalen Lager verbreitet. Damit konnte einerseits das Zusammengehen einzelner Strömungen (etwa die Vereinigung von DDP und DVP) gemeint sein, andererseits die Gründung einer völlig neuen Partei, die mehrere politische Lager repräsentieren sollte. Dass ein solcher Zusammenschluss angesichts der unterschiedlichen zu vertretenden sozialen Milieus und angesichts konträrer Interessenlagen sowie divergierender inhaltlicher Positionen zum einen irreal, zum anderen aus Gründen der demokratischen Pluralität nicht erstrebenswert gewesen wäre, sahen die wenigsten Sprecher. Vielmehr überwog die Hoffnung auf eine „Vereinheitlichung und Vereinfachung unseres Parteiwesens mit dem Ziele der Bildung einer zusammenfassenden republikanischen Verfassungspartei“, wie sie etwa Hugo Preuß hegte.13 Innerhalb des bürgerlichen Lagers gab es dabei durchaus unterschiedliche Nuancierungen: Favorisierten einige Linksliberale wie beispielsweise Preuß eine Partei, die auch offen für sozialdemokratische Positionen war, strebten manche Nationalliberale den „Zusammenschluß aller national denkenden Parteien zu gemeinsamer Arbeit auf nationalem Boden“14 an und meinten damit eine bürgerliche „Einheitsfront“ jenseits der Sozialdemokratie. Dass sich weder eine „Sammelpartei“ noch eine „bürgerliche Arbeitsgemeinschaft“ auf Dauer realisieren ließ, wurde in nationalliberalen Medien heftig kritisiert und auf einen „Mangel an Gesinnungsdemokratie“ und fehlendes „Staats- und Gemeinschaftsethos“ zurückgeführt15 – Vorwürfe, aus denen ein hohes Maß an Enttäuschung spricht. Zugleich lassen diese Aussagen die große Sehnsucht und die Verzweiflung der Zeitgenossen erkennen. In der als krisenhaft und chaotisch empfundenen Gegenwart ruhte die letzte Hoffnung auf Werten wie „Einheit“, „Gemeinschaft“ und „Harmonie“. Eine Ursache für die Missstände der Weimarer Republik lag nach Ansicht vieler Zeitgenossen in den Parteien und in ihrem angeblich verantwortungslosen Verhalten begründet. „Parteigeschäfte“ seien der „Krebsschade[n] der deutschen Einheit, der nationalen Gesundung und Kräftigung Deutschlands“, schrieb im Februar 1919 ein Kommentator in der Kölnischen Zeitung.16 Auch in der Folge wurde gerade in nationalliberalen Kreisen immer wieder fundamentale Kritik am Parteienwesen laut: Statt zum Wohl der Nation zu wirken, werde „auf Kosten des Landes“ der „alte Parteihader“ gepflegt,17 der „Parteigeist“ sei eine „deutsche Erbsünde“18 und der „Staatsgedanke“ müsse endlich über den „Klassengedanken“

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Preuß (23.7.1922): Elend, S. 2. Rauch (8.3.1920): Zukunft. Joos (18.1.1924): Zentrumsgedanke, S. 2. (22.2.1919): Ein eindrucksvoller Tag in Weimar. (30.6.1920): Die Partei über alles. (28.9.1921): Die Koalition der Mitte.

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sowie das „Parteiinteresse“ siegen,19 so Äußerungen verschiedener nationalliberaler Kommentatoren. Häufig wurden die Parteien zu Sündenböcken für einen generell wahrgenommenen Mangel an Einheitlichkeit und Führungsstärke gemacht. Nicht selten schwang in der Kritik die Unterstellung mit, Parteien seien undeutsch und das westliche liberal-parlamentarische System sei den Deutschen nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg übergestülpt worden. In der von der Tagespresse in Bezug auf Parteien verwendeten Wortwahl zeigte sich zum einen das fehlende Verständnis für die Aufgaben, die Parteien zu erfüllen hatten, zum anderen wurden darin die an sie gerichteten übersteigerten Erwartungen manifest. Die allgemeine Parteienkritik schlug sich in diversen negativen Komposita nieder: Die politischen Auseinandersetzungen im Parlament wurden als „widerwärtige[s] Parteigezänk“20 und „wüsteste[r] Parteihader“21 betrachtet. Auch Wörter wie „Parteiabgeordnete und Parteiminister“,22 „Parteigeschäfte“,23 „Parteihaß und Parteihader“,24 „kleinliches Parteiinteresse“,25 „Parteikampf“,26 „Parteimeierei“,27 „Parteiprestige“,28 „Parteischacher“,29 „Parteisüppchen“,30 „Parteitaktik“31 oder „Parteizank“32 fanden Eingang in die Kommentarspalten. Solche Komposita spiegelten das Unverständnis und Misstrauen, ja sogar den Hass und die Verachtung gegenüber den intermediären Trägerinnen des politischen Systems wider. Einen Höhepunkt erreichte die Parteienkritik schließlich in der Endphase der Weimarer Republik. Ab circa 1927 hielt mit „Parteiismus“ gar ein neues Wort zur Bezeichnung des „Parteiunwesens“ Einzug in den politischen Diskurs.33 Während der Anfangsjahre des neuen Staates waren die negativen „Partei“Komposita innerhalb der politischen Mitte vor allem im nationalliberalen Milieu anzutreffen. Aber auch in anderen Lagern gab es Parteienkritik. Auffallend ist, dass vehemente Vorwürfe gegen die politischen Gegner zumeist mit dem Lob der dem eigenen Milieu nahestehenden Partei einhergingen. So verkündete etwa der Generalsekretär des Zentrums, Hermann Katzenberger, im Februar 1922: „Die höchste Aufgabe einer Partei heißt: Dienst am Volk, Dienst für das Volk. Die 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33

Campe (27.3.1924): Volksgemeinschaft. (28.4.1921): Das Parteigezänk im Reichstag. (11.11.1921): Die Richtlinien des guten Willens. (22.2.1919): Ein eindrucksvoller Tag in Weimar. Ebd. (7.9.1921): Zur politischen Lage, S. 2. (5.3.1922): Umschau und Ausschau. (22.2.1919): Ein eindrucksvoller Tag in Weimar. (18.5.1924): Umschau und Ausschau. W[olff] (20.11.1922), S. 2. (20.11.1919): Das „Werturteil“. (6.6.1920): Umschau und Ausschau. (24.6.1919): Der Tragödie Ende. (31.10.1922): Eine weltumfassende Interessengemeinschaft, S. 1. Mahraun (1927): Manifest, S. 75; (29.4.1929): Parteivorsitzender Koch-Weser über die Ziele der Partei. Zum Begriff „Parteiismus“ vgl. auch Mergel (2005): Kultur, S. 400f.

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Zentrumspartei hat den Nachweis erbracht, daß sie ohne Rücksicht auf eine etwaige Einbuße an Popularität stets nur dem Volkswohl diente.“34 Auch Ernst Feder attestierte seiner DDP: „Die demokratische Partei hat seit dem Tag ihrer Gründung das nationale Interesse über das Parteiinteresse gesetzt.“35 Aus der Kritik am allgegenwärtigen „Parteiegoismus“36 erwuchs nicht selten die Notwendigkeit, die eigene Partei und ihre Haltung zu rechtfertigen. Auch waren die Vertreter einzelner Parteien davon überzeugt, dass allein die von ihnen verfochtenen Positionen dem „Volkswohl“ entsprächen. Eine Reflexion darüber, dass das „Volkswohl“ nicht abstrakt definierbar war und es je nach gesellschaftlichem Stand unterschiedliche Interessen gab, fand nicht statt. Insgesamt musste die permanente Parteienkritik bei gleichzeitiger Beteuerung, die eigene Partei sei anders, unglaubwürdig wirken. Dies und die durch hohe Erwartungen entstandene Enttäuschung unterhöhlten letztlich das Fundament, auf dem sich auch das eigene politische Lager befand. Verständnis für die Notwendigkeit des Pluralismus war allenfalls schwach ausgeprägt. Entsprechend fanden sich auch nur wenige Stimmen, die die Parteien verteidigten. So weit wie der liberale Staatsrechtler Richard Thoma, der im Vielparteiensystem „gerade die Rettung von Staat und Gesellschaft“ erblickte,37 ging kaum jemand. Aber zumindest wurde von der DDP hervorgehoben, dass Parteien „im parlamentarischen Staat das notwendige Instrument der Volksregierung“38 seien. Und auch Theodor Heuss würdigte 1920 in seiner Schrift Die neue Demokratie ausdrücklich die „unentbehrliche Mittlerrolle“ der Parteien und ihre Aufgabe, „Kanal für die politische Willensbildung des Volkes“ zu sein.39 Meist ging die Zustimmung zu Parteien nicht über das Eingeständnis hinaus, dass ihre Existenz notwendig sei. So äußerte sich Conrad Beyerle in der Germania mit den Worten: „Daß die Politik heute nur von großen Parteien, d. h. möglichst geschlossenen Gesinnungsverbänden geführt werden kann, steht außer Zweifel. Parteien sind nicht zu entbehren“ und mahnte im nächsten Satz, dass ihr „Parteiegoismus“ eingehegt werden und sich auf das „Gesamtwohl der Nation“ beziehen müsse.40 Allgemein vorherrschend war Skepsis und Kritik gegenüber den Parteien sowie ein generelles Unsicherheitsgefühl. Julius Elbau etwa berichtete im Dezember 1919 in der Vossischen Zeitung, dass den Leipziger Parteitag der DDP „die unausgesprochene Uebereinstimmung“ geprägt habe, „daß alles im Fluß ist und daß die heutigen Parteien, ob sie neu oder alt sind, den Todeskeim in sich tragen“.41 Ähnlich schätzte ein halbes Jahr später, im Juni 1920, die Kölnische Zei-

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Katzenberger (2.2.1922): Geist. Feder (16.4.1924): Ziel, S. 2. (28.4.1921): Das Parteigezänk im Reichstag; Beyerle (16.9.1921): System, S. 1. Schönberger (2000): Elitenherrschaft, S. 168. BArch [wohl 3/1922]: Staatsbürger. Heuß (1920): Demokratie, S. 64, S. 59 Beyerle (16.9.1921): System, S. 1. Elbau (16.12.1919): Parteiendämmerung, S. 2.

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tung die Situation ein: „Unser Parteiwesen ist in der Auflösung und in einer Umgestaltung begriffen, deren Ergebnis noch nicht absehbar ist. Gewiß werden die Extreme gewinnen.“42 Der in diesen Prophezeiungen zum Ausdruck kommende Pessimismus gründete auf der Ungewissheit angesichts der schwierigen politischen und wirtschaftlichen Lage. Zukunftsprognosen oder gar ein zuversichtlicher Blick nach vorne waren in einer solchen Situation kaum möglich. In der Frühphase der Weimarer Republik wurden die Parteien häufig in einen Gegensatz zum „Volk“ gestellt. Die Kritik an ihnen war vielfach mit dem Wunsch nach „Überparteilichkeit“, teilweise gar mit der gänzlichen Ablehnung des politischen Richtungsstreits verbunden. Solche Ideen hatten bereits im Kaiserreich hoch im Kurs gestanden. Entsprechende Vorstellungen gingen mit der Forderung nach „Einheit“ und starker Führung einher. Zudem waren sie eng mit dem utopischen Ideal einer am „Volkswohl“ ausgerichteten konfliktfreien Politik verknüpft. Forderungen wie diese standen diametral zum parlamentarischen System der Gegenwart. Die Verhandlungen des Reichstags wurden in einem solchen Denken als paradigmatisch für die Unzulänglichkeiten und das Versagen Weimars angesehen. 2. ZU VIEL MASSE, ZU WENIG PERSÖNLICHKEIT – DER PARLAMENTARISMUS IN DER KRITIK Mit der Kritik an den Parteien ging die Kritik am parlamentarischen System einher.43 Durch die parteipolitische Bindung der Abgeordneten und durch ihren Zusammenschluss in Fraktionen sei der „Parteien-“ beziehungsweise „Fraktionsstreit“44 im Reichstag allgegenwärtig, so die verbreitete Meinung. Heftige Kontroversen wurden als etwas Negatives wahrgenommen. In „keinem Volke“, kommentierte die Germania im Juli 1919, sei der „parteipolitische Streit […] so ausgeprägt wie bei uns Deutschen“.45 Den Parlamentariern wurde unterstellt, sie folgten allein dem „Parteiinteresse“, nicht ihrem Gewissen oder dem „Wohl des Volkes“. So konstatierte Hans Zehrer im Oktober 1923 in der Vossischen Zeitung eine „Krisis des Parlamentarismus“: „Die beginnende Skepsis gegen das System findet ihre stärkste Stütze im System selber, und zwar in der Parteiabhängigkeit der parlamentarischen Führer.“ Der 24-jährige Journalist monierte die fehlende Emanzipation der Politiker von ihren Parteien: „Der heutige Parlamentarier hält drei Viertel seiner Person der

42 (6.6.1920): Umschau und Ausschau. 43 Allgemein zur Parlamentarismuskritik in der Weimarer Republik vgl. Raithel (2005): Spiel, S. 86–100; Mergel (2005): Kultur, S. 362–410; Grüner (2002): Einheitssehnsucht; Jahr (1999): Antiparlamentarismus; Durner (1997): Antiparlamentarismus, S. 92–127; Gangl (1993): Parlamentarismuskritik; Sontheimer (1993): Denken, S. 147–155, S. 215–217; Faulenbach (1980): Ideologie, S. 257–265; Wasser (1974): Parlamentarismuskritik, S. 71–107. 44 Bernhard (10.2.1919): Einheit, S. 2. 45 (25.7.1919): Berlin, 24. Juli.

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Partei zugewandt.“46 Mit seiner Kritik stieß Zehrer ins gleiche Horn wie etwa Richard Moeller, ein ebenfalls relativ junger DDP-Politiker aus Mecklenburg. Dieser hatte wenige Monate zuvor in der Vossischen Zeitung geschrieben: „[Die Jugend] will nicht Erneuerung des Parteigeistes, sondern den Führer mit politischem Willen, und, hinter ihm, die Erneuerung des Volkes wie der Parteien.“ Am „Unglück unseres politischen Lebens“ sei der Mangel an „Willensbildung“ in den Parteien und im Volk schuld, die „Zersplitterung in Parteien“ sei ein Symptom davon. Den Parlamentarismus sah der Landtagsabgeordnete kritisch: „Was bei Parteien bei Parteiherrschaft herauskommt, das haben wir jahrelang schaudernd erlebt!“47 Auch im katholischen Milieu waren solche Ansichten verbreitet. Zwar erwarte man keine „politische[n] Genies“, wohl aber Parlamentarier, die „innerlich aufgeschlossen bleiben für das Ganze des kulturellen und wirtschaftlichen Lebens in und außer [sic!] unserem Volke“, stellte die Germania im Dezember 1923 heraus.48 Den Volksvertretern wurde attestiert, sie seien „Ausdruck eines mechanischen Querschnittes vo[n] mittelmäßige[m] Niveau“.49 Des Weiteren wurde ihnen „Volksferne“ unterstellt. Sie seien nicht tatkräftige, „reale Nationalpolitiker“, sondern „weltentrückte Idealisten, […] Interessentenvertreter und Klassenhetzer“.50 Erwartet wurden Staatsmänner, die „vom Demos kommen“, die „dessen Not und Seele“ kennen und zugleich „Aristokraten“ des Geistes seien, so Johannes Dierkes in der Germania im Juli 1924.51 Ein solches Anforderungsprofil ließ sich allerdings kaum erfüllen. Zudem war die Einschätzung, ob die genannten Ideale erreicht seien, höchst subjektiv. Eine Verteidigung des Parlamentarismus fand sich im katholischen Spektrum nur vereinzelt.52 Vor allem in Krisensituationen, wie im Jahr 1923, nahm die Unzufriedenheit mit der Legislative breiten Raum ein. Vielen Sprechern aus dem katholischen Milieu ging der Einfluss der „Massen“ auf den Reichstag zu weit, sie wünschten sich mehr „Führer“. So schrieb die Zentrumspolitikerin Helene Wessel im Sommer 1924: „Unser Parlamentarismus krankt daran, daß er so stark durch die Masse und so wenig durch die Persönlichkeit beherrscht wird. Die Parteien tragen den Todeskeim in sich, wenn sie über die Standes- und Berufsgruppen nicht den Weg zur Gemeinschaft finden.“53 In solchen Worte wurde der „Massengesellschaft“ der Gegenwart einer ganzheitlich gedachten „Gemeinschaft“ gegenübergestellt – Vorstellungen, die an das viel rezipierte Werk Ferdinand Tönnies’ anknüpften.54 46 47 48 49 50 51 52 53 54

Zehrer (12.10.1923): Krisis, S. 1. Moeller (5.8.1923): Parteierneuerung. (16.12.1923): Eine Lebensfrage unseres Parlamentarismus, S. 1. Ebd., S. 2. (23.9.1923): Mehr Solidarität!, S. 2. Dierkes (17.7.1924): Volk, S. 1f. Vgl. Beyerle (16.9.1921): System. Wessel (26.7.1924): Fulda, S. 2. Tönnies (1887): Gemeinschaft. Zu dessen Rezeption und den Gemeinschaftsvorstellungen in der Weimarer Republik vgl. Lepsius (1994): Begriffsbildung, S. 49–62.

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Unzufriedenheit mit den Abgeordneten und ihrer Arbeit war auch in anderen Lagern verbreitet. So fühlte sich etwa die Kölnische Zeitung im Februar 1919 mit Blick auf das Verhalten der „Mehrheitsparteien der Nationalversammlung“ an einen „Debattierklub eines fortschrittlichen Bezirksvereins“ erinnert55 – eine Aussage, in der die tiefe Verachtung für die Uneinigkeit der Parteien sowie der Vorwurf der Mittelmäßigkeit und Provinzialität deutlich zutage traten. Dass das Bedürfnis nach Spiegelbildlichkeit des „Volkes“ und seiner Schichten auf der einen und der Wunsch nach herausragenden Staatsmännern, die zu den Besten des „Volkes“ gehören sollten, auf der anderen Seite, nicht miteinander in Einklang zu bringen war, blieb unbeachtet. Neben der Kritik an fehlenden Politikerpersönlichkeiten beziehungsweise deren Einhegung durch die Parteien56 gab es aber auch grundsätzlich negative Einschätzungen des Weimarer Systems: Die parlamentarische Regierungsform sei in einer „Spanne des Niedergangs“57 und das „parlamentarische Unwesen“ treibe „Raubbau mit Geld, Zeit und Nerven“.58 Als Ausweg galt ohne sich inhaltlich festzulegen eine „grundlegende Reform des Parlamentarismus an Haupt und Gliedern“.59 Zudem wurde im Nationalliberalismus gelegentlich der angeblich „undeutsche“ Charakter der parlamentarischen Demokratie kritisiert. So wünschte sich im März 1920 der DVP-Abgeordnete Karl Rudolf Heinze ein „organische[s] Gebilde“, das sich „in unseren Staatsorganismus“ einreihe.60 Die Weimarer Ordnung sei nur eine „formale Demokratie“.61 Und in einem Wahlaufruf zur thüringischen Landtagswahl beschrieb die DVP im selben Jahr ihr Verhältnis zur Staatsordnung mit den Worten: „Die Deutsche Volkspartei vertritt als liberale Partei den wahren und gesunden demokratischen Gedanken der volkstümlichen Ausgestaltung unseres Staatswesens, einer organisch gegliederten, weitgehenden Beteiligung des Volkes an der Regierung, Rechtsprechung und Gesetzgebung“62 – ein Bekenntnis zur Demokratie unter der Prämisse, dass diese „gesund“, „volkstümlich“, „organisch“ und „weitgehend“ sei. Mit solchen Vorbehalten ließ sich die Partei genügend Hintertüren offen, um im Zweifel gegen die existierende Staatsordnung argumentieren zu können. Und auch im katholischen Milieu hatte man durchaus Vorbehalte gegen eine zu starke Stellung des Parlaments. So attestierte die Germania dem Zentrum, „entschlossenen Widerstand“ gegen das Bestreben geleistet zu haben, „das Volk dem Absolutismus einer parlamentarischen Mehrheitsherrschaft auszuliefern“.63 Die herausragende Position des Parlaments im

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(22.2.1919): Ein eindrucksvoller Tag in Weimar. Vgl. hierzu auch Mergel (2005): Kultur, S. 362–374. (25.5.1924): Umschau und Ausschau. (25.3.1923): Umschau und Ausschau. (31.10.1922): Eine weltumfassende Interessengemeinschaft, S. 1. (29.3.1920): Verhandlungen, S. 4970. Ebd., S. 4968. IfZ [vor dem 20.6.1920]: Deutsche Volkspartei. (1.2.1921): Die preußische Zentrumspartei an ihre Wähler.

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neuen Staat stieß im politischen Katholizismus und im Nationalliberalismus auf nicht uneingeschränkte Akzeptanz. Vom linksliberalen und sozialdemokratischen Milieu wurden die Errungenschaften der Reichsverfassung hingegen zumeist verteidigt. Der Vorwärts nannte die „Erhaltung der parlamentarischen Demokratie“ eine „nationale Lebensnotwendigkeit“.64 Und Paul Nathan schrieb im linksliberalen Berliner Tageblatt: Der Parlamentarismus sei zwar nicht fehlerfrei, aber gleichwohl die „Organisation“, „die das Gesamtinteresse des Staates und aller Bevölkerungsschichten allein zu vertreten“ vermöge.65 Im linksliberalen Spektrum konnte aber auch die prinzipielle Reformoffenheit der Republik herausgestellt werden. So betonte Georg Bernhard im April 1920, dass „der Parlamentarismus doch nur eine politische Ausdrucksform der Demokratie“ sei und dass der „demokratische Gedanke und die demokratische Praxis […] entwicklungsfähig“ seien.66 Begeisterung für die in Weimar praktizierte Form der Volksherrschaft klang anders. Vom fehlenden Verantwortungsbewusstsein einzelner Politiker im Reichstag sowie vom häufigen Changieren der Parteien zwischen Regierung und Opposition würden selbst bisherige „Anhänger des parlamentarischen Systems“ enttäuscht werden, stellte die Vossische Zeitung im Januar 1921 resigniert fest. Doch, so Julius Elbau weiter, stehe dies nicht für das Versagen der Parlamentarismus als solchem, sondern sei Ausdruck davon, „daß bis jetzt der deutsche Reichstag noch immer nicht weiß, was er soll und was er kann“. Man solle nun nicht „resigniert die Flinte ins Korn zu werfen“, sondern Veränderungen an der Ausgestaltung des Parlamentarismus vornehmen. So plädierte Elbau etwa für eine Reform der Geschäftsordnung des Reichstags und dafür, die Debatten durch Zwischenfragen und Aktuelle Stunden lebhafter zu gestalten.67 Die Parlamentarismuskritik konnte somit entweder auf eine Reform des Reichstags innerhalb des Verfassungsrahmens oder auf die radikale Änderung seiner Stellung beziehungsweise Zusammensetzung mittels Überwindung der Konstitution abzielen. Im Diskurs ging das eine mitunter in das andere über. Vielfach brachte die Unzufriedenheit mit dem Reichstag die Akteure dazu, nach Alternativen zu der auf Parteien aufgebauten parlamentarischen Demokratie zu suchen.

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(7.11.1923): Das Versagen der Mitte, S. 2. Nathan (14.1.1921): 1 mehr als 4, S. 2 (Hervorhebung im Original). Bernhard (8.4.1920): Demokratie, S. 1 (Hervorhebung im Original). Elbau (29.1.1921): Parlament, S. 1; ähnlich: E[lbau] (17.1.1922): Regierung.

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3. EINE VERMEINTLICHE ALTERNATIVE: ÜBERWINDUNG VON KLASSENKAMPF, PARTEIEN UND PARLAMENTARISMUS IN DER HARMONISCHEN „VOLKSGEMEINSCHAFT“ Was setzten die Kritiker den Parteien und dem Parlamentarismus Weimarer Prägung entgegen? Zum einen dachten sie darüber nach, die Stellung von Reichstag und Parteien durch Stärkung des Souveräns zu schwächen, beispielsweise durch Ausweitung der direkten Demokratie oder durch eine Reform der Listenwahl, zum anderen sollten herausragende Führerpersönlichkeiten an die Stelle der angeblich mittelmäßigen und willfährigen Parteipolitiker treten. Ferner wurden immer wieder Rufe nach einer Abkehr von der bestehenden Staats- oder Regierungsform laut. Diese Forderungen basierten allerdings auf allenfalls vagen Konzepten.68 Den negativ assoziierten Begriffen „Partei“ und „Parlament“ wurden des Weiteren positiv konnotierte Wörter und Werte wie „Volk“, „Gemeinschaft“ oder „Einheit“ gegenübergestellt. Ein Kompositum, in dem sich solche Vorstellungen kulminierten, war der Terminus „Volksgemeinschaft“. Unter diesem Schlagwort firmierten verschiedenste Inhalte. Kleinster gemeinsamer Nenner war der Wunsch nach einer inneren „nationalen Einheit“ sowie die Hoffnung auf eine harmonische Überwindung der Klassengegensätze. Je nach politischer Position des Sprechers konnte mal die nationale, mal die antimarxistische, mal die sozial-harmonische Komponente betont werden. Die unter dem Begriff „Volksgemeinschaft“ subsumierten Ideen reichten vom breiten Konsens auf Grundlage der Weimarer Verfassungsordnung über eine Entpolitisierung von Interessengegensätzen mittels berufsständischer Entscheidungsgremien bis hin zur Überwindung der Republik durch einen autoritären Staat. Das Wort wurde von fast allen politischen Lagern in einem zustimmenden Sinne verwendet.69 Im katholischen Milieu wurde unter dem Begriff eine innerlich geeinte, harmonische Gemeinschaft verstanden. In ihm schwangen mystische, organische und holistische Ideen mit. August Pieper etwa, ein einflussreicher Verbandsfunktionär, bezeichnete im Jahr 1920 „Volksgemeinschaft“ als eine „organische, vom Schöpfer gewollte Lebensgemeinschaft und Schicksalsverbundenheit“.70 Für den Zentrumspolitiker Adam Stegerwald hatte die „deutsche Volksgemeinschaft“ das Ergebnis einer wahrhaft „deutschen, christlichen, demokratischen und sozialen“ Politik zu sein. In seiner Essener Rede vom November 1920 forderte er die Über-

68 Zum Diskurs um die Republik und zu den genannten Vorstellungen vgl. Retterath (2016): Volk, S. 393–403; Eitz (2015): Reich; Wildt (2010): Volksgemeinschaft; Mergel (2005): Kultur, S. 399–409; Mergel (2005): Führer; Schreiner (1991): Messianismus; Sontheimer (1993): Denken, S. 192–222. 69 Zu den Volksgemeinschaftsvorstellungen in der Weimarer Republik vgl. Wildt (2017): Volk, S. 51–67; Retterath (2016): Volk, S. 272–327; Wildt (2010): Volksgemeinschaft; Mai (1994): Verteidigungskrieg. 70 Zitiert nach Baumgartner (1987): Sehnsucht, S. 95.

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windung des gegenwärtigen Parteiensystems und verlieh seiner Hoffnung Ausdruck, die verschiedenen politischen Positionen unter dem Dach der „Volksgemeinschaft“ miteinander verbinden zu können.71 Bei einer Tagung des Windthorstbundes, der Jugendorganisation der Zentrumspartei, erklärte 1922 ein Redner den „Gedanke[n] der Volksgemeinschaft“ gar zur „neue[n] nationale[n] Idee“ und glaubte, darin Anknüpfungsmöglichkeiten zu Liberalen, Mehrheitssozialdemokraten und zur „deutsch-völkischen Bewegung“ erkennen zu können. Dafür erhielt er „brausende[n] Beifall“.72 In der Frage der Staatsform verhielten sich führende Köpfe der Jugendorganisation wie etwa Helene Wessel leidenschaftslos. Diese schrieb im Juli 1924 in der Germania: „Ob in der Form der Republik oder Monarchie des Volkes Wohlfahrt erreicht wird, ist das Sekundäre. Die Hauptsache ist, daß das Volk aus der inneren Zerspaltung und Zerklüftung den Weg zum Aufstieg und zum deutschen Volksstaat findet.“73 Die Zentrumsjugend maß der Verwirklichung des Volksgemeinschaftsgedankens, der hier unter dem Begriff „Volksstaat“ in den harmonisch gedachten Staat eingebunden wurde, unbedingte Priorität bei. Des Weiteren wurde mit „Volksgemeinschaft“ teilweise die Idee einer korporatistischen Staats- und Gesellschaftsordnung propagiert. Ein solches ständestaatliches Denken stand im Gegensatz zum sozialistischen Klassenkampfmodell und war insbesondere innerhalb der Christlichen Gewerkschaften verbreitet.74 Ebenfalls stark gegen den Klassenkampf gerichtet war das Volksgemeinschaftsdenken im nationalliberalen Milieu. Ihrem Selbstbild nach verstanden sich die Nationalliberalen als die Verfechter der „Volksgemeinschaft“. Den Weg zur Überwindung des Klassenkampfs glaubte die DVP-Fraktion 1919 durch die Entpolitisierung der „wirtschafts- und sozialpolitischen Fragen“ beschreiten zu können. Statt des Parlaments müssten sich „Arbeitsgemeinschaften“, die sich aus Vertretern der „gewerblichen und beruflichen Organisationen“ zusammensetzen sollten, mit den entsprechenden Politikfeldern beschäftigen und Entscheidungen im Konsens treffen. Das Modell berufsständisch verfasster „Arbeitsgemeinschaften“ wurde als eine Übergangsstufe auf dem Weg von der „mechanische[n] Demokratie hinweg zu einer organischen Volksgemeinschaft“ begriffen.75 Die im Nationalliberalismus propagierte Volksgemeinschaftsidee stand in erster Linie für die Aufhebung des Klassenkampfs sowie für die Zurückdrängung von Parteien und Parlamentarismus durch den Aufbau von vorgeblich unpolitischen Expertengremien. Die Teilnahme an der „Volksgemeinschaft“ machten Kommentatoren in der Kölnischen Zeitung von „Arbeitswillen“, „Verständigkeit“ und „Vaterlandsliebe“ abhängig76 – also höchst subjektiven Kriterien. Mit dem Attribut „organisch“ haftete dem Konzept im Unterschied zur Weimarer Verfassungsordnung das Güte-

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Sasse (2009): Deutsch, S. 195. (22.6.1922): Zweite Reichstagung der Windthorstbunde. Der Schlußbericht. Wessel (26.7.1924): Fulda, S. 2. Vgl. Seefried (2008): Verfassungspragmatismus, S. 77. BArch (21.8.1919): Fraktion. Vgl. (6.9.1920): Möglichkeiten; (18.7.1920): Umschau und Ausschau.

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siegel der Naturhaftigkeit an. Im Gegensatz zu den bisher vorherrschenden „engen Bezirken der Partei[en]“ biete die „wahre Volksgemeinschaft“ einen weiten Raum, in dem sich „alle nationalen Kräfte“ entfalten könnten, so Max Neumann im März 1921.77 Pragmatisch gewendet wurde diese Ansicht von Gustav Stresemann. Er erblickt in einer „Zusammenfassung aller Kräfte von rechts bis zu den staatsbejahenden Sozialdemokraten“ einen Schritt auf dem Weg zur Errichtung der „Volksgemeinschaft“.78 Als ein entsprechendes Regierungsbündnis nicht zustande kam, waren im nationalliberalen Lager Enttäuschung, Resignation und Wut über den politischen Gegner groß. Während im politischen Katholizismus und im Nationalliberalismus „Volksgemeinschaft“ häufig auf die Modifizierung beziehungsweise Überwindung des bestehenden Parteiensystems (und mitunter gar auf die des Weimarer Parlamentarismus) abzielte, stand der Terminus bei den Linksliberalen zumeist im Einklang mit der existierenden Ordnung. Er bezeichnete den Konsens der verschiedenen Kräfte auf Basis der in der Konstitution kodifizierten Werte. Der politische Streit zwischen den Parteien um die richtigen Konzepte sollte in der „Volksgemeinschaft“ keineswegs überwunden sein, betonte Hugo Preuß im Januar 1924 im Berliner Tageblatt.79 Vielmehr, so die Überzeugung von Sprechern aus dem linksliberalen Lager, sollten „Einzelinteressen“ mit dem „großen Ganzen der Volksgemeinschaft“ verflochten und verwoben werden.80 Der Begriff stand hier für die Sehnsucht nach einer einträchtigen, verantwortungsbewussten Gemeinschaft sowie nach Beendigung des Klassenkampfs. Erst in der Endphase der Weimarer Republik, als die DDP mit dem Jungdeutschen Orden zur Deutsche Staatspartei fusionierte, erhielt der Volksgemeinschaftsbegriff im linksliberalen Milieu eine deutlich gegen die konstitutionelle Ordnung gerichtete Konnotation,81 die seiner vorherigen pluralistischen Bedeutung entgegenstand. Im sozialdemokratischen Lager wurde das Wort „Volksgemeinschaft“ ähnlich wie bei den Linksliberalen verwendet – allerdings bei Weitem nicht so häufig. Durch Zusätze wie „republikanisch“82 wurde oftmals herausgestellt, dass die „Volksgemeinschaft“ nach sozialdemokratischer Überzeugung auf der Grundlage der Reichsverfassung aufbauen müsse. Der Begriff wurde zumeist im Sinne eines notwendigen staatspolitischen Grundkonsenses zwischen den unterschiedlichen Parteien gebraucht und konnte angesichts der schwierigen zeitgenössischen politischen Situation als Argument für die Bildung einer Koalitionsregierung mit Zentrum, DDP und DVP herangezogen werden. Die Vorstellung, das Parteiensystem und den Parlamentarismus mittels „Volksgemeinschaft“ zu überwinden, war

77 Neumann (5.3.1921): Einheitsfront. 78 So Gustav Stresemann bei einer Rede am 30.3.1924 in Hannover. Zitiert nach: (31.3.1924): Stresemanns Sieg. 79 Vgl. Preuß (1.1.1924): Volksgemeinschaft, S. 2. 80 (30.8.1921): Notwehr, S. 2. 81 Gutleben (1988): Volksgemeinschaft, S. 264, S. 274. 82 Vgl. Scherer (8.10.1921): Reichswehr, S. 1.

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Sprechern aus dem sozialdemokratischen Milieu fremd. Und auch fehlte der sozialdemokratischen Verwendungsweise die im katholischen und (national-)liberalen Milieu verbreitete antiklassenkämpferische Bedeutung des Begriffs. Mehr noch: Eine solche wurde strikt abgelehnt; einigen sozialdemokratischen Autoren gingen sogar so weit und vermieden den Volksgemeinschaftsbegriff, weil er dem Bürgertum dazu diene, die Klassengegensätze zu überdecken.83 Der Begriff „Volksgemeinschaft“ war also mit unterschiedlichen Inhalten aufgeladen. In ihm schwang die Vorstellung von einer harmonischen Gesellschaft mit gleichen Interessen mit. Während im sozialdemokratischen und linksliberalen Spektrum unter „Volksgemeinschaft“ zumeist ein auf der Konstitution aufbauender Konsens verstanden wurde, diente sie im nationalliberalen und katholischen Milieu als utopischer Gegenentwurf zur Realität des Weimarer Parlamentarismus und Parteienwesens. Wie in einer modernen, ausdifferenzierten Gesellschaft solch eine „Volksgemeinschaft“ verwirklicht werden könne, blieb dabei offen. Das Auftreten und die Konjunktur des Volksgemeinschaftskonzepts können als Indikatoren für das gefühlte Defizit an „nationaler Einheit“ sowie für die Unzufriedenheit mit der politischen Gegenwart interpretiert werden. 4. FAZIT Die Kritik an den Parteien und am Parlamentarismus war kein Spezifikum Weimars. Bereits im Kaiserreich verfügten Parteien und Politiker über ein geringes Ansehen. Vielfach wurde ihnen unterstellt, nur ihre eigenen Interessen zu vertreten. Schon damals machten Kritiker den Reichstag etwa als „Schwatzbude“ verächtlich und kritisierten den Parlamentarismus als „künstlich“.84 Neu war die geänderte Stellung des Parlaments im politischen System. Die übermäßige Kritik an den realen oder vermeintlichen Missständen – nicht nur die auf eine Systemüberwindung zielende Semantik gegen Parteien und das Parlament – untergrub beziehungsweise verhinderte das Vertrauen in die nach der Revolution etablierte Ordnung. Die zitierten Äußerungen aus dem Spektrum der politischen Mitte waren Wasser auf die Mühlen all jener, die die parlamentarische Demokratie und ihre Politiker kriminalisierten und sie durch ein autoritäres System abgelöst sehen wollten. Das Verständnis für die Bedeutsamkeit von Pluralismus und Diversität in einer parlamentarischen Demokratie sowie für die Notwendigkeit von Parteien waren während der Weimarer Republik nur schwach ausgeprägt. Die Flucht in scheinbar entpolitisierte Sehnsuchtsorte wie die „Volksgemeinschaft“ zeugte vom Verlangen nach Harmonie und der fehlenden Akzeptanz der parlamentarischpluralistische Ordnung. Die Parteien wurden für die (angeblichen und realen) De83 Vgl. Mühlenberg (1932): Volks-Wörterbuch, S. 379. 84 Pracht (1990): Parlamentarismus, S. 99–164; Schönberger (1997): Parlament, S. 282–300. Vgl. des Weiteren zur Parlamentskritik im Kaiserreich: Wasser (1974): Parlamentarismuskritik, S. 23–64; Durner (1997): Antiparlamentarismus, S. 56–91; Jung (2018): Feind.

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fizite des gegenwärtigen Staates verantwortlich gemacht. Sie wurden auch deshalb zu Zielscheiben der Kritik, weil sie mit ihren unterschiedlichen Positionen dem utopischen Konzept einer konfliktfreien Politik diametral entgegenstanden. Der normativ und emotional aufgeladene Volksgemeinschaftsbegriff überdeckte, dass die mit ihm verbundenen Vorstellungen höchst unterschiedlich waren und es keine ausgearbeiteten und umsetzbaren Alternativen zum existierenden System gab. Die Kritik am Parteien- und Parlamentswesen war vor allem eines: destruktiv. So waren auch die von Conrad Beyerle in der Germania aufgeworfenen rhetorischen Fragen: „Bringt uns etwa die Beseitigung des Parlaments und seines verfassungsmäßigen Einflusses dem Ideal eines wahren Volksstaates mit Vertretung aller Stände bei der Bildung des Staatswesens näher? Wo ist ein anderer, besserer, ausführbarerer Vorschlag gemacht worden?“85 mehr als berechtigt. Allerdings wurden die Kritiker viel zu selten mit der Frage nach (realistischen) Alternativen konfrontiert. So kam es, dass Vorstellungen wie die von der „Volksgemeinschaft“ weitgehend ungestört verbreitet und als schillernde Visionen gegen das wenig glänzende parlamentarische System der Gegenwart und seine Parteien ins Feld geführt werden konnten. QUELLEN Archiv des Instituts für Zeitgeschichte München–Berlin, München (IfZ): Deutsche Volkspartei: Deutsche Volkspartei und Landtagswahlen [undat. Flugblatt, wohl vor dem 20.6.1920]. In: ZG e070. Bundesarchiv (BArch): Der Staatsbürger im Volksstaat [undat. Flugblatt der DDP, wohl 3/1922]. In: R 45-III/45, fol. 79. Fraktion der DVP in der Nationalversammlung: Aufruf zum Arbeitsfrieden! An das deutsche Volk! (21.8.1919). In: R 45-II/362, fol. 63.

LITERATUR Baumgartner, Alois: Sehnsucht nach Gemeinschaft. Ideen und Strömungen im Sozialkatholizismus der Weimarer Republik, Paderborn 1987. Berlin, 24. Juli. In: Germania 49 (25.7.1919), Nr. 333, S. 1. Bernhard, Georg: Einheit oder Untergang. In: Vossische Zeitung (10.2.1919), Nr. 74, S. 1f. Ders.: Demokratie. In: Vossische Zeitung (8.4.1920), Nr. 180, S. 1f. Beyerle, Conrad: Parlamentarisches System – oder was sonst? In: Germania 51 (16.9.1921), Nr. 569, S. 1f. Beyme, Klaus von: Partei, Fraktion. In: Brunner, Otto et al. (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Bd. 4: Mi–Pre, Stuttgart 1978, S. 677–733.

85 Beyerle (16.9.1921): System, S. 2.

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Jörn Retterath

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„Parteihader“ versus „Volksgemeinschaft“

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DER BEGRIFF DER ‚VOLKSGEMEINSCHAFT‘ VOR DEM NATIONALSOZIALISMUS Eine empirische Analyse des Begriffsgebrauchs in der Vossischen Zeitung zwischen 1918 und 1933 Angela Schuberth 1. TAGESPRESSE ALS QUELLE FÜR EINE WECHSELVOLLE BEGRIFFSGESCHICHTE ‚Volksgemeinschaft‘– ein unheilvoller Begriff aus der deutschen Geschichte und vielleicht eines der zentralsten Konzepte der nationalsozialistischen Propaganda.1 Aber das Wort ist nicht erst im Januar 1933 erfunden worden. Als die NSDAP die Volksgemeinschaft 1932 zur zentralen Wahlkampfparole erklärte, hatte der Begriff (nicht nur) im bürgerlich-liberalen Milieu bereits eine wechselvolle und aufschlussreiche Geschichte hinter sich. Um diese nachzuzeichnen, untersucht der Beitrag, in welchen Kontexten der Begriff in einer der einflussreichsten bürgerlich-liberalen Medien der Weimarer Republik der Vossische Zeitung, verwendet wurde. Die Anschlussfähigkeit des Begriffs der Volksgemeinschaft an das Ideologiekonglomerat der Nationalsozialisten kann nicht bestritten werden. Allerdings ist der Prozess der entsprechenden Monosemierung des Begriffs in der Zeit vor 1933 bislang in der Forschung nicht ausreichend untersucht worden. Denn vorwiegend basiert die Begriffsgeschichte der Volksgemeinschaft auf einem Quellenkorpus, der aus parteipolitischen Schriften besteht. Ohnehin wird die bisherige Forschung zum Thema des medialen Kommunikationsraums der Weimarer Republik, der sich unter anderem durch seine vielfältige Debattenkultur auszeichnete, nicht gerecht. In der Weimarer Republik erschienen zwischenzeitlich bis zu 4000 Tageszeitungen regelmäßig, von denen etwa die Hälfte parteipolitisch gebunden waren.2 Gerade die parteipolitisch ungebundenen Zeitungen sind bislang noch kaum inhaltlich untersucht worden.3

1 2 3

Vgl. für eine kritische Revision des Konzepts z.B. Kershaw (2011): „Volksgemeinschaft“, S. 1–17 und die Replik bei Wildt (2011): „Volksgemeinschaft“, S. 102–109. Vgl. Eitz (2009): Konzept, S. 10. Vgl. Dussel (2011): Deutsche Tagespresse, S. 130.

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Angela Schuberth

Weil sich Veränderungen im Sprachgebrauch aufgrund der periodisch in kurzen Intervallen erscheinenden Zeitungen schnell abzeichnen, kann der Begriffsgebrauch hier vor dem Hintergrund der synchronen Geschehnisse analysiert werden. Der öffentliche Sprachgebrauch in der Weimarer Republik war generell ideologisch aufgeladen und gab sich emotiv und umkämpft.4 Bernhard Fulda behauptet sogar, dass „die politische Tagespresse den Meinungskampf deutlich intensiver austrug als das Parlament selber.“5 Der Grund hierfür lag sicherlich auch in dem Konkurrenzdruck, der sich vor dem Hintergrund der Etablierung der Massenmedien und ihrer Kommerzialisierung einstellte. Als Quelle zur Analyse des Begriffs der Volksgemeinschaft in der Weimarer Republik habe ich die parteiisch ungebundene6 Vossische Zeitung untersucht. Die Vossische Zeitung ist für den Zeitraum von Januar 1918 bis März 1934 vollständig digitalisiert und kann textbasiert durchsucht werden. Der Begriff der Volksgemeinschaft wurde in der Vossischen Zeitung zwischen dem 1. Januar 1918 und dem 31. März 1934 1086 Mal verwendet.7 Die Vossische Zeitung richtete sich an das liberale Bürgertum. Im Vormärz konstituiert, war dieses Printmedium „durch sein Eintreten für eine Verfassung, für Meinungsfreiheit und religiöse Toleranz zum Organ einer liberalen Opposition “8 geworden. Den Titelzusatz „Königlich privilegierte“ entfernten die Verantwortlichen nur folgerichtig bereits zum 12. November 1918.9 Das eindeutige Bekenntnis zur Republik erfolgte unmittelbar darauf: Georg Bernhard, der Chefredakteur der Vossischen Zeitung – später selbst Reichstagsabgeordneter der DDP – erklärte sofort nach der Ausrufung der Republik in einem Leitartikel daß die Vossische Zeitung selbstverständlich die Umwälzung zu einer neuen Staatsform als vollzogene Sache betrachtet und die deutsche Republik mit allen Mitteln wirksam fördern und unterstützen wird.10

Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten, deren ‚Gleichschaltung‘ der Presse sowie dem Schriftleitergesetz vom 4. Oktober 1933 verlor die Vossische Zeitung schließlich viele ihrer Journalisten und stellte im März 1934 den Betrieb ein. Damals hatte die Zeitung noch eine Auflage von 41.500 Exemplaren.11

4 5 6 7 8 9 10 11

Vgl. Eitz / Engelhardt (2015): Diskursgeschichte, S. 22. Fulda (2006): Die Politik der „Unpolitischen“, S. 48. Vgl. Eitz (2009): Konzept, S. 10. Zugang zu den Digitalisaten über http://db.saur.de/VOSS/basicSearch.jsf. Bender (1972): Vossische Zeitung, S. 35. Vgl. Ubbens (2009): Moritz Goldstein-Inquit, S. 87. Bernhard, Georg: Demokratie. In: Vossische Zeitung (VZ) vom 13.11.1918, S. 1. Vgl. Bender (1972): Vossische Zeitung, S. 39.

„Volksgemeinschaft“ in der Vossischen Zeitung

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2. VOLKSGEMEINSCHAFT IN DER VOSSISCHEN ZEITUNG ZWISCHEN 1918 UND 1923 Nach der Ausrufung der Weimarer Republik erschütterte nach dem Ende des ersten Weltkriegs eine Vielzahl an innen- und außenpolitischen Ereignisse die Menschen und stellte die sich gerade konsolidierende Republik immer wieder auf die Probe. Trotz dieser widrigen Umstände waren die Implikationen der Volksgemeinschaft zu Beginn der ersten deutschen Demokratie nicht von extremistischen Positionen geprägt. Der Begriff kam zu diesem Zeitpunkt ohne völkische Implikationen der Exklusion, die die Ungleichheit des menschlichen Lebens proklamierten, aus. Dass beispielsweise der bereits erwähnte überzeugte Republikaner und zeitweiliger Chefredakteur Georg Bernhard den Begriff der Volksgemeinschaft in der Anfangsphase der Weimarer Republik gelegentlich in seinen Texten nutzte, bekräftigt die These, dass zunächst eine antipluralistische oder antidemokratische Konnotation des Terminus überhaupt nicht vorausgesetzt wurde. Was die Volksgemeinschaft jedoch sei, wie sie definiert werden könnte – dies wurdein der Vossischen Zeitung zu diesem Zeitpunkt noch kaum thematisiert. Die Begriffsverwendung knüpfte sich stattdessen an die Hoffnung auf einen Zielzustand, der für die Bevölkerung nach ihrer Revolution zu einem selbstbeschreibenden Gesellschaftsbegriff werden sollte. Dieser utopische Status würde zukünftig, so die Hoffnung, einen Gegenpol zu der aus dem Krieg resultierten prekären Lage darstellen, zukünftige Konflikte verhindern und die verschiedenen Bevölkerungsgruppen integrieren, insbesondere wo dies aus wirtschaftlichen Gründen notwendig wäre. Diese Auffassung zeigt sich in mehreren Bedeutungskontexten. Zunächst ist hierbei der Topos der „Erziehung zur Volksgemeinschaft“ zu erwähnen, der insbesondere in der Anfangsphase der Weimarer Republik sehr oft beschworen wurde. Bildungsreformer der Weimarer Republik erhofften sich laut einem weit verbreiteten Konzept, durch die „Erziehungsgemeinschaft zur Volksund Kulturgemeinschaft“12 zu gelangen. Generell ist der Begriff der Volksgemeinschaft in Artikeln über das Bildungswesen in der Vossischen Zeitung sehr prominent. Es liegt eine signifikante Korrelation von Volksgemeinschaft mit dem Wort Erziehung vor: In den insgesamt 1086 Fundstellen zwischen 1918 und 1934 lassen sich ganze 112 Kookkurrenzen der beiden Begriffe auffinden. In der Anfangsphase der Weimarer Republik sind dabei mehrere Topoi immer wieder mit der Volksgemeinschaft verknüpft: Die Universitäten müssten die Studenten so ausbilden, dass sie sich in die „wahrhaft nationale[…] Volksgemeinschaft“ einfügten, „über die Gunst der Parteien und die Tagesmeinung hinweg“;13 Schulen müssten ebenfalls nach diesem Ziel 12 Roemhild (1974): Demokratie ohne Chance, S. 77 Vgl. auch Wildt (2014): Modern Perspective, S. 47. 13 Schröder, Friedrich Wilhelm: Erziehung des Studentennachwuchses. In: VZ vom 2.11.1920, S. 1.

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streben,14 die zukünftige Generation müsste die Volksgemeinschaft verwirklichen, wobei die natürliche Form einer Volksgemeinschaft durch die passende „Entwicklungsförderung“ zu einer „wirkliche[n] Volksgemeinschaft im höheren Sinne des Wortes“ ausgebaut werden sollte;15 Akademiker sollten im Zuge der Sicherung der Mittelschicht eine Berufsberatung erhalten, um „Dienst am Menschen, an der Volksgemeinschaft, am Staat“16 in organisierte Wege zu leiten. Dass der Begriff der Volksgemeinschaft in Artikeln über das Bildungswesen häufig verwendet wurde, mag auch an der Vorliebe für die Begriffsverwendung in der deutschen Jugendbewegung liegen. 17 So sprach sich Wilhelm Mommsen im Jahr 1919 mit pathetischen Worten für eine „deutsche Jugendgemeinschaft“ aus, allerdings entging ihm in seinem Bericht über den damals stattfindenden Deutschen Jugendtag nicht, dass – um einen harmonischen Verlauf dieser Tagung zu sichern – die Veranstalter „das Deutsch sein und deutsch Denken auf einen bestimmten, sehr kleinen Teil der Volksgemeinschaft beschränken zu müssen glaubten.“18 Hier wird die Anlage zur Exklusion im Begriff deutlich angesprochen, jedoch letztendlich nicht der Begriff als solcher vermieden, sondern eine Besetzungsstrategie verwendet, welche die exkludierende Gemeinschaftsgedanken durch eine offenere Begriffsauffassung ersetzen sollte: Was gerade die Besten der Jugend heute eint [...] das ist das Gefühl, daß eine bessere Zukunft und eine neue nationale Einheit nur zu erreichen ist, wenn an die Stelle der Verhetzung Versöhnung und gegenseitiges Verstehen tritt, und daß es Aufgabe der Jugend ist, die alte Anschauung des Klassenkampfes und die Ansicht, die im Andersdenkenden einen Vaterlandsverräter oder einen Dummkopf sieht, zu überwinden.19

Auch im Mai 1923 bescheinigte ein Verfasser der deutschen Jugend „Sehnsucht und Wille zur Verwirklichung in der Volksgemeinschaft“20 und während er sich über die „glatte, geleckte Form der Gesellschaft“ und die Parteipolitik beklagte, sprach er sich für einen „im Ganzen zusammengeschlossenen Volksorganismus“ aus. Dass er solche Gedankengänge nicht mit der völkischen Bewegung in Verbindung bringen mochte, wird an seinem abschließendem Appell „Volkisch ist nicht völkisch“21 deutlich. Auch an diesem Beispiel zeigt sich, dass die tendenziell eher demokratischen Strategen der Begriffsbesetzung zu diesem Zeitpunkt noch recht selbstbewusst agierten, um ihre Prägung der Volksgemeinschaft vor einem radikaleren Konzept zu schützen.

14 Vgl. Die Zukunft der Berliner Schule. In: VZ vom 2.3.1921, S. 1 oder Hildebrandt, Paul: Preußisches Bildungswesen. In: VZ vom 4.12.1923, S. 3 f. 15 Vgl. Die Aufgabe der Universitäten. In: VZ vom 2.11.1921, S. 3. 16 Reinhardt, A.: Die Berufsberatung der Akademiker. In: VZ vom 19.4.1921, S. 1. 17 Vgl. Götz (2001): Ungleiche Geschwister, S. 103. 18 Mommsen, Wilhelm: Die Sehnsucht der Jugend. In: VZ vom 8.9.1919, S. 1. 19 Ebd. 20 Berning, August: Jugendbewegung und Katholizismus. In: VZ vom 8.5.1923, S. 1. 21 Ebd.

„Volksgemeinschaft“ in der Vossischen Zeitung

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Ein Konnex zwischen der Volksgemeinschaft und biologisch aufgefassten Organismusdenken war in der Vossischen Zeitung eine Selbstverständlichkeit. Seinen Hintergrund hat dieser Zusammenhang geistesgeschichtlich in der deutschen Romantik,22 womit diese Denktradition nicht lediglich mit einem modernen sozialdarwinistisch grundierten Gedanken eines „Volkskörpers“ zu verknüpfen ist, wenn er auch unbestreitbar die notwendige Anschlussfähigkeit dazu hatte. Aber die „Überzeugung der Romantik, daß die Gemeinschaft mehr ist als die Addition ihrer Individuen“23 reicherte den Begriff der Volksgemeinschaft zusätzlich um eine weitere Implikation an, die auf die erhofften oder erwarteten Synergien der Bevölkerung angesichts der Notlage nach dem Krieg verwies. Gleichzeitig relativierte eine solche Deutung immer die Verantwortung und die Bedeutsamkeit des Einzelnen in einer kollektiven Formation, wie sie in einer Volksgemeinschaft imaginiert wird. Das Bürgertum selbst sah sich als Bestandteil einer Volksgemeinschaft und machte sich die entsprechende Rhetorik im vagen Bewusstsein, dass die Ausrufung der Republik die eigenen Privilegien gefährdet hatte, auch zur Sicherung der eigenen Hegemonie zunutze. So hieß es in einem Artikel, der an den Wahlgang von Frauen appellierte, wer an „überlebten Vorurteilen“[festhalte versündigt] sich an der künftigen Volksgemeinschaft und innerhalb derselben an der Zukunft des Bürgertums.“24 Hauptsächlich sollte jedoch mit der Rhetorik der Volksgemeinschaft ein Appell an die bedingungslose Unterordnung der Arbeitskräfte unter die Unternehmerinteressen erzielt werden. Denn der Zusammenhang der Wirtschaftskraft – gerade im Sinne der zukünftigen Verbesserung einer von materiellen Entbehrungen geprägten Zeit – und des Zustands der Volksgemeinschaft wurde in der Vossischen Zeitung in den Anfangsjahren der Weimarer Republik immer wieder thematisiert. So schrieb der Verfasser eines Artikels zur Einberufung der Nationalversammlung im Dezember 1918: Die ‚ Vossische Zeitung ‘ ist für die sofortige Einberufung einer Nationalversammlung für alle Gebietsteile, die zum ‚ Deutschen Reich ‘ oder besser gesagt zu ‚ Deutschland ‘ gehören, bereits vor der Revolution eingetreten, nicht aus irgend einem Sonderinteresse, sondern aus der felsenfesten Ueberzeugung, daß die deutsche Volksgemeinschaft – und damit die Grundlage unserer Wirtschaft, gleichviel wie diese eingerichtet werden mag, einer neuen sicheren Verantwortung bedürfe, um den schweren Sturm zu bestehen.25

In diesem Zusammenhang operierte man auch mit dem Begriff der „Gemeinwirtschaft“, beispielsweise wenn davon die Rede war, dass diese „das Wohl der Gesamtheit höher stellt als das Wohl einzelner, innerhalb der Volksgemeinschaft.“26

22 Vgl. Baumgartner (1977): Sehnsucht, S. 25 f. 23 Ebd., S. 26. 24 Weinberg, Margarete: Frauenstimmrecht ist Frauenstimmpflicht. In: VZ vom 16.11.1918, S. 2. 25 Die A.-u. S.-Räte über die Nationalversammlung. In: VZ vom 19.12.1918, S. 1. Hervorhebung im Original. 26 Bernhard, Georg: Maifeier.In: VZ vom 1.5.1919, S. 1.

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An anderer Stelle betont ein Verfasser, dass durch den Krieg irreversible Umstellungen in der Wirtschaft erfolgt seien; die „Willkür des Unternehmers“ müsste deswegen durch die „Verantwortlichkeit gegenüber der Allgemeinheit“27 ersetzt werden. Im Zusammenhang mit der Berichterstattung über die Generalstreiks in der Konsolidierungsphase der Weimarer Republik ermahnte er die streikenden Arbeiter dann allerdings: „[D]er heute feiert, letzten Endes nicht so sehr gegen den Unternehmer, als gegen die Volksgemeinschaft, also eigentlich sich selbst, streikt.“28 Ohnehin galt der gewerkschaftlich organisierte Streik als „schärfste gewerkschaftliche Waffe gegen die staatliche Organisation der Volksgemeinschaft“29, wobei doch die Arbeitgeberverbände die zur Zeiten der Revolution getroffenen Vereinbarungen zugunsten der Arbeiter systematisch unterliefen und damit die Streiks bewusst provozierten.30 Die Unternehmer inszenierten sich jedoch als aufgrund ihrer wirtschaftlichen Potenz wesentliche Bestandteile einer Volksgemeinschaft, von dessen Funktionsfähigkeit jeder einzelne abhängig und für diese gleichzeitig auch jeder verantwortlich sei. Mit einer solchen Rhetorik bestanden sie auf ihren Privilegien, ohne dabei republikanische Verpflichtungen im Zuge eines Arbeitnehmerausgleiches anerkennen zu müssen.31 Die Vossische Zeitung verwendete diese unternehmerfreundliche Rhetorik angesichts der eigenen Leserschaft. Dass die Redaktion auch die Einsendung eines, wie es im Vorspann hieß, jungen Berliner Arbeiters veröffentlichte, der die „sinnlose individuelle Zufallswirtschaft“ mit einer „gemeinschaftlichen planmäßigen Wirtschaft“ kontrastierte, und in dem das „Licht des Gemeinschaftsgeistes“32 als wesentliche Strategie zur Konfliktlösung zwischen Arbeitern und Unternehmern proklamiert wurde, spricht ebenfalls für diese dem ersten Anschein nach harmonisierende Strategie im Bereich der Wirtschaft, die letztendlich jedoch vor allem den Interessen der Unternehmer diente. Damit korrespondiert auch der Ausspruch gegen eine Änderung des Dreiklassenwahlrechts, nachdem rhetorisch die Frage gestellt wurde, ob denn „ein Minus an politischen Rechten oder eine Beeinträchtigung unserer Wirtschaftskraft, an der mehr als je Leben und Gedeihen der Volksgemeinschaft hängt“33 für die Bevölkerung schädlicher wäre. Ohnehin ist für den Verfasser Julius Elbau insbesondere in der Anfangsphase der Weimarer Republik die „Grundlage unserer Wirtschaft“34 die Volksgemeinschaft und vice versa. Diese Sichtweise der Volksgemeinschaft war einerseits harmonisierend, verlangte sie doch angesichts der Rele-

27 28 29 30 31 32 33 34

Vernichtung und Schöpfung. In: VZ vom 2.7.1919, S. 1. Ebd. Bernhard, Georg: Streik und Regierungsbildung. In: VZ vom 5.2.1922, S. 1. Vgl. Bajohr / Wildt (2001): Einleitung In: Dies. (Hrsg.): Volksgemeinschaft S. 15. Vgl. auch Föllmer (2002), Verteidigung, S. 256. Leonhardt, Max: Das Schaffen als Lebenssinn. In: VZ vom 11.8.1921, S. 4. Elbau, Julius: Industrie und Demokratie. In: VZ vom 11. 4.1918, S. 1. Die A.-u. S.-Räte über die Nationalversammlung. In: VZ vom 19.12.1918, S. 1.

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vanz der wirtschaftlichen Entwicklung die verantwortungsvolle und kooperative Zusammenarbeit von Unternehmern und Arbeitnehmern. Gleichzeitig wurde in dieser Deutung, die die Volksgemeinschaft mit der wirtschaftlichen Entwicklung gleichsetzte, jeder, der nicht zur Volkswirtschaft beitrug zum gemeinschaftsfremden Individuum, das sich unverantwortlich der gesamten Gesellschaft gegenüber verhielt. Die dezisionistische35 Rhetorik – die das Bestehen der „Volksgemeinschaft“ zur entscheidenden Schicksalsfrage stilisierte – lud die Frage nach der (wirtschaftlichen) Überlebensfähigkeit des Volkes zusätzlich affektiv auf und unterstützte letztendlich auch faschistische Ideologeme wie die Unterordnung und die bedingungslose Leistungsbereitschaft für das Wohlergehen einer Volksgemeinschaft. Dabei gehörte die Kritik am Faschismus doch zum Programm der Vossischen Zeitung. So erschien dort Ende 1923 ein Vorabdruck aus „Il Fascio“ von Fritz Schollhöfer: Auch wiederholen die Fascisten [sic] nur echt liberale Formeln, wenn sie verlangen, daß der Staat keine Partei, sondern die Volksgemeinschaft darstelle. Man kann sich nur wundern, daß solche Selbstverständlichkeiten wie Offenbarungen eines staatsmännischen Genies hingenommen werden können. Wo man zupacken möchte, da verflüchtigt sich die Staatstheorie des Faschismus unter den Händen.36

Für Schollhöfer ist somit eine grundlegende Vorbedingung des Liberalismus die staatliche Repräsentation der Volksgemeinschaft, die jedoch nicht in den Parteien an sich stattfände, sondern durch die demokratische Wahl des Parlaments fundiert würde. Der Verfasser bemerkte gleichwohl, dass die Nationalsozialisten zu diesem Zeitpunkt Ende 1923 bereits die Volksgemeinschafts-Terminologie in ihren Parolen verwendeten und sie mit einer Kritik an dem parlamentarischen System verknüpften und hielt es daher für notwendig, den Leser hier eine andere Konnotation anzubieten, die gleichzeitig die Originalität der nationalsozialistischen Begriffsverwendung unterminierte. Derartige semantische Kämpfe wurden in den folgenden Jahren in der Vossischen Zeitung unerbittlich geführt. 3. VOLKSGEMEINSCHAFT IN DER VOSSISCHEN ZEITUNG ZWISCHEN 1924–1928 Der intellektuellen Debatte in der Weimarer Republik blieb das pathetische Verständnis einer Gesellschaftsordnung, die emphatisch den Wert einer Gemeinschaft betonte, nicht verborgen. Deutliche Kritik am Begriff der Gemeinschaft brachte Helmuth Plessner mit seinem vielbeachteten Buch Grenzen der Gemeinschaft an, 35 vgl. Sontheimer (1968), Antidemokratisches Denken, S. 263. Bei Retterath ist im selben Zusammenhang die Rede von „Semantiken des Existenziellen“, die durch das Beschwören verschiedenen Topoi wie „Schicksal“ einen Verweis auf die zeitgenössische krisenhafte Wahrnehmung der Zustände geben; vgl. Retterath (2016): „Was ist das Volk?“, S. 411. 36 Schollhöfer, Fritz: Der Staat der Faschisten. In: VZ vom 22. Dezember 1923, S. 2.

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welches im Jahr 1924 in seiner ersten Auflage erschien. Gemeinschaft bezeichnete er dort als „Idol dieses Zeitalters“37 und begründete die Beliebtheit des Begriffs als Resultat von prekären Zuständen in der Bevölkerung. Der Kritiker Siegfried Kracauer reagierte mit einer Rezension, in der er insbesondere die Haltung der „vorbehaltslosen Gemeinschaftsfanatiker“38, denen er destruktives Potential zuschrieb, kritisierte: Sie wünschten sich seiner Meinung nach, dass „Zivilisation [...] unter allen Umständen getilgt werden [müsse], wenn Gemeinschaft heraufwachsen soll.“39 Die Diskussion über das Konzept der Gemeinschaft war zu diesem Zeitpunkt bereits im Gange, und das Reizwort war keineswegs mehr frei von negativen Implikationen. Auch zu der Volksgemeinschaft finden sich seit der Mittelphase der Weimarer Republik in der Vossischen Zeitung zunehmend verschärft geführte semantische Kämpfe zum Begriffsgebrauch. War zuvor noch der harmonisierende Versöhnungsgedanke und die Vertretung der Interessen der Unternehmer beim Begriffsverbrauch zentral, so wurde die Diskussion über den Begriffsinhalt der Volksgemeinschaft nun mit deutlich spitzeren Federn geführt, was sicherlich auch an der Politisierung des Begriffs lag. Dass die DDP im Jahr 1924 den Leitbegriff Volksgemeinschaft für den Wahlkampf wählte,40 ist symptomatisch für den nun extensiveren Gebrauch des Begriffs in der politischen Rhetorik. Auch die Etablierung der Großen Koalition unter dem DVP-Politiker Stresemann, der die Volksgemeinschafts-Rhetorik oft verwendete, ist dafür ausschlaggebend. Als symptomatisch für den politischen Diskurs der enttäuschten Erwartungen im Kontext des Begriffsgebrauch der Volksgemeinschaft kann die Weimarer Diskussion zum Reichsschulgesetz gelten, an die einige Jahre später die Nationalsozialisten anknüpften und bei dem bereits zu diesem Zeitpunkt an eine begriffliche Reminiszenz aus der Anfangsjahren der Weimarer Republik angeknüpft wurde. In der öffentlichen Debatte zum Reichsschulgesetzentwurf proklamierte die DVP zu erwartende Schäden an der Volksgemeinschaft aufgrund eines Gesetzentwurfs der Zentrumspartei, in dem konfessionell getrennter Unterricht gefordert wurde. Die DVP konnte bei ihrer Argumentation für die Gemeinschaftsschulen an den bereits angesprochenen verbreiteten Topos anknüpfen, laut dem eine zukünftige Volksgemeinschaft durch die passende Erziehung der jungen Generationen als verlockende Zukunftsaussicht versprochen wurde. Konnte man 1925 schon eine gewisse Resignation feststellen, wenn es um die Hoffnung auf die Erziehung der Volksgemeinschaft ging,41 so erlebte dieses Argument seine Rückkehr in dem parteipolitischen Konflikt, der ab 1927 auch auf Reichsebene geführt wurde.42 „Volksgemeinschaft“ und „Schulgesetz“ wurden in der Vossischen Zeitung insge-

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Plessner (1924): Grenzen, S. 26. Kracauer (1924): Philosophie, S. 359.Hervorhebung im Original. Ebd. Vgl. Hardtwig (2013), Volksgemeinschaft im Übergang, S. 235. Vgl. Zum Zusammentritt der preußischen Generalsynode. In: VZ vom 4.12.1925, S. 4. Vgl. Fritz (1984), The Search, S. 262.

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samt zehnmal im selben Artikel gebraucht, davon siebenmal ab Februar 1927, letztmalig in einem Wahlaufruf im Mai 1928. So druckte die Vossische Zeitung im Oktober 1927 eine Wiedergabe einer Rede des Politikers Willy Hellpach mit dem Titel „Der Kampf um die Schule, ein Kampf für Volksgemeinschaft und Geistesfreiheit“43. Zuvor hatte ein Leitartikel dem Vorsitzenden des Deutschen Lehrervereins bereits die Gelegenheit gegeben, für das Konzept der DVP zu werben und dabei die Erziehung der Kinder durch eine passende Schulform als entscheidend für das Erreichen eines besonderen Gemeinschaftsideals zu kennzeichnen: Welche Auswirkungen muss dieser Entwurf auf unsere Volksgemeinschaft haben! Der Sinn der Staatsschule ist es, zur inneren Einheit zu erziehen und Gegensätze überbrücken zu helfen; die Vielheit der Sonderschulen müssen das Gemeinsame zurücktreten lassen und das Trennende hervorholen [...] [und] müssen die Gegensätze aufreißen und vertiefen.44

Hier wurde auch die republikanische Notwendigkeit der passenden Bildung angesprochen: Die Schule solle die Kinder „zum Staatsvolk erziehen. Oder aber wir lassen unseren Begriff des Staates nicht mehr gelten.“45 Die inzwischen geläufige Redewendung von einer „Koalition der Volksgemeinschaft“ – gelegentlich mit Anführungszeichen oder der Attributisierung „Koalition der sogenannten Volksgemeinschaft“ versehen, macht wiederum das Ausmaß deutlich, in dem der Begriff inzwischen in der politischen Sprache zu finden war. Trotz der Politisierung des Begriffs sind aber weiterhin auch zahlreiche völlige unspezifische Verwendungsweisen zu finden, beispielsweise wenn von einer „kunstliebende[n] Volksgemeinschaft“ die Rede ist.46 Dies verwässerte den Begriff zusätzlich und erschwerte es den republiktragenden Gruppen, ihn mit einer staatstreuen Semantik zu belegen. Während verschiedene Parteien offensiv mit einer Regierungspraxis im Sinne einer Volksgemeinschaft für sich warben, machten die Journalisten der Vossischen Zeitung inzwischen immer wieder darauf aufmerksam, dass dieser Anspruch die Wirklichkeit schlecht beschreibe. Der Begriff wurde allerdings nicht an sich abgelehnt. Vielmehr wies man nun immer häufiger darauf hin, wie andere Medien und Politiker eine zunehmend antirepublikanische Semantik mit diesem Begriff verknüpften. Beispielsweise zitierte der Verfasser eines Artikels mit dem Titel „Der Irrtum der Volkspartei“ aus der deutschnationalen Kreuzzeitung, wo es – aus Sicht der Delegierten der DNVP – hieß:

43 Hellpach gegen das Schulgesetz. In: VZ vom 5.10. 1927, S. 2. 44 Der Schulgesetzentwurf gegen die Gemeinschaftsschule. In: VZ vom 28.7.1927, S. 2. Hervorhebung im Original. 45 Ebd. 46 Ellas, Julius: Bodes Lebensweg. In: VZ vom 6.2.1925, S. 4.

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Angela Schuberth Die Art der Volksgemeinschaft, wie sie sich Dr. Marx denkt, lehnen wir für unseren Teil ab. Für uns kann die Zusammenarbeit mit einer nationalen und einer international eingestellten, marxistischen Partei selbstverständlich nicht in Frage kommen.47

Dem Verständnis einer Volksgemeinschaft aus der Sicht der DNVP setzte der Verfasser im Bewusstsein der unterschiedlichen geläufigen Implikationen einer Volksgemeinschaft entgegen: Man sollte meinen, es gäbe nur einen Begriff und nur eine Form der Volksgemeinschaft. Der Reichskanzler hat sie sehr zutreffend formuliert als ‚ eine Zusammenfassung aller nationalen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kräfte ‘. Darin sieht das konservative Blatt eine besondere und anscheinend auch besonders verwerfliche Art der Volksgemeinschaft, in die sich die Deutschnationalen nicht einfügen könnten.

Der Journalist Julius Elbau –der regelmäßig den Begriff der Volksgemeinschaft nutzte und dies zuvor stets ohne Anführungszeichen tat – sah sich 1924 dazu veranlasst, den Begriff in Anführungszeichen zu stellen. Während er in einem Leitartikel die „staatstragenden Maßnahmen“ der linken Partien lobte, kritisierte er die Stimmungsmache der Deutschnationalen, die demagogisch „[a]uf diese Weise die breiten Massen des Volkes offenbar für den Gedanken der ‚Volksgemeinschaft‘ “48 gewinnen wollten. Im Oktober und November 1924, also vor den Reichstagswahlen im Dezember, bei denen die radikalen Parteien Verluste erzielten, wurde der Begriff der Volksgemeinschaft nahezu täglich in der Vossischen Zeitung verwendet – auch weil sich oft Politiker mit einer entsprechenden Rhetorik zur Wort meldeten. Immer häufiger fand sich nun aber deutliche Kritik und Ironie rund um den Begriff. Die Redakteure der Vossischen Zeitung ironisierten in diesem Zeitraum das Wort Volksgemeinschaft offenbar zum einen wegen dessen unspezifischen und willkürlichen Verwendung durch politische Akteure, zum anderen aufgrund ihrer Kritik an exkludierenden Gemeinschaftskonzepten. Im Kontext mehrerer kleiner, kurioser Meldungen, die durchaus mit ironischem Unterton gelesen werden können, fand sich beispielsweise eine unkommentierte Notiz mit dem Titel „Bayerische Volksgemeinschaft“, die es dem Leser oder der Leserin erlaubte, die eigenen Schlüsse aus diesen Mitgliedschaftsbedingungen, die dem republikanischen Verständnis einer Volksgemeinschaft offenkundig widersprachen, zu ziehen: Man erzählt uns: In einem kleinen oberbayerischen Städtchen besteht ein Siedlungsverein, der nach Auffassung seines Vorsitzenden das wahre Vorbild der zukünftigen überparteilichen d e u t s c h e n V o l k s g e m e i n s c h a f t darstellt. ‚Allerdings,‘ sagte der Vorsitzende zu einem Herrn, den er für den Verein zu werben versuchte, und der schon die Feder zückte, um sich diesem Idealbild zu verschreiben: ‚Juden und Protestanten nehmen wir nicht auf, und Mitgliedschaft in der Bayerischen Volkspartei ist Vorbedingung. ‘49

47 Der Irrtum der Volkspartei. In: VZ vom 2.10.1924, S. 1. Hervorhebung im Original. 48 Deutschnationale Minister? In: VZ vom 30. August 1924, S. 1. 49 Bayerische Volksgemeinschaft. In: VZ vom 24. Juni 1925, S. 2.

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Zudem bemühte man sich bei der Vossischen Zeitung die „schlimmsten Hetzartikel [...welche] die Idee der Zusammenführung der Parteien um den Gedanken der Volksgemeinschaft als ebenso überlebt bezeichne[n], wie den Parlamentarismus“50 der nationalistischen Presse zu widerlegen. Während im Jahr 1924 mit 147 Fundstellen ein Rekord erreicht wird, sinkt der Begriffsgebrauch in den folgenden Jahren deutlich ab: Im Jahr 1927, als es unter der Einbeziehung der DNVP bereits zur zweiten Bürgerblockregierung kommt, sind nur 32 Fundstellen in der Vossischen Zeitung auszumachen. Während man sich im Jahr 1924 noch selbstbewusst mit einem eindeutig demokratischen und republikanischen Begriffsverständnis gegen den Bürgerblock durch die Volksgemeinschafts-Rhetorik aussprechen konnte, wurde diese republikanische Konnotation des Begriffs zunehmend zunächst durch einen explizit politischen Begriff ersetzt, dem viele offenbar bald aufgrund seiner unspezifischen Verwendung überdrüssig waren – was sich in der ironisierenden Verwendung des Begriffs zeigte. Die Rede von einer „wahren Volksgemeinschaft“ war plötzlich notwendig geworden, um sich eindeutig von antirepublikanischen Implikationen abzugrenzen. Gleichzeitig verstärkten derartige Attributisierungen, die das essentielle und wahrhaftige der Volksgemeinschaft betonten, die utopischen Inhalte des Konzepts und schürten damit weiterhin unerfüllbare Hoffnungen beim Rezipienten. So stellte man einem redaktionellen Beitrag als Nachbericht zu einer Veranstaltung den Hinweis voran, dass „[n]icht viele [...] in den Bürgersaal des Berliner Rathauses gekommen [waren], um sich um sich auf den Weg zur wahren Volksgemeinschaft führen zu lassen.“51 Die dies in ihrem Titel ankündigende Rede stieß offenbar auf wenig Interesse bei der Bevölkerung – möglicherweise aufgrund von Widerwillen gegen die zum politischen Schlagwort verkommene Leerformel. Der Berichterstatter lobte die betreffende Rede jedoch im folgenden ausdrücklich als „[a]bseits von jedem Schlagwort, von jeder kämpferischen Geste“, lobte die „Wärme einer Sachlichkeit, die werden will“52 und griff damit jene Punkte auf, deren Mangel in der politischen Rhetorik viele Menschen offenbar störte. 4. VOLKSGEMEINSCHAFT IN DER VOSSISCHEN ZEITUNG ZWISCHEN 1929–1933 Nachdem im Jahr 1930 mit Wilhelm Frick erstmals ein Mitglied der NSDAP Minister einer Landesregierung wurde, konnten die Reichstagswahlen vom September 1930 mit ihrem starken Stimmengewinn für die NSDAP nur noch die arglosesten Beobachter tatsächlich verwundern. Die Zielvorstellung der Volksgemeinschaft, die jahrelang als utopische Vorstellung geläufig war, wurde inzwischen 50 Die deutschnationalen Helden. In: VZ vom 25. März 1924, S. 1. 51 Der Weg zur Volksgemeinschaft. In: VZ vom 28. April 1927, S. 2. Hervorhebungen im Original. 52 Ebd.

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immer offensiver dargestellt und im Zuge einer dezisionistischen Rhetorik zum letztentscheidenden Wert, dessen baldige Verwirklichung zur Rettung der Nation unbedingt notwendig sei und auf deren Verwirklichung nun umso stärker gedrängt wurde. So hieß es programmatisch in einem Artikel aus dem Dezember 1931 mit dem Titel „1932 zur Volksgemeinschaft?“: Die Forderung einer Volksgemeinschaft wird seit Jahren von allen Seiten aus den verschiedensten Gründen gehoben. Bald ist es die soziale und wirtschaftliche Not, bald sind es die staatspolitischen Umstände, hin und wieder auf kulturpolitische Einstellungen und Beurteilungen, die diese Forderung erstehen lassen. [...] Zweifellos ist aber [...] sicher, daß die Absichten, die die verschiedenen Berufe bei der Erhebung der Forderung hegen, stark voneinander abweichen, und daß leider nur zu viele in der Volksgemeinschaft eine widerstandslose Hinnahme der Verwirklichung ihrer Absichten durch die anderen sehen möchten. Sinn und Wesen einer wahren Volksgemeinschaft haben wir doch alle erlebt in den Augusttagen 1914. Was war der Grundgedanke der damaligen Volksgemeinschaft? Reich und Heimat zu schützen!53

Karl Scharnagel, Verfasser des Artikels und zum Zeitpunkt des Erscheinens dieses Leitartikels in der Vossischen Zeitung Oberbürgermeister von München, verwies hier kritisch auf die Verknüpfung von Nationalökonomie und Arbeitnehmern zum Zwecke der Konditionierung der Arbeiter für das Wohl einer Volksgemeinschaft unter Zurückstellung eigener berechtigter Forderungen. Diese Interessenpolitik unter dem Deckmantel einer Volksgemeinschaft kritisierte er, weil dieser Topos in den letzten Jahren der Weimarer Republik offenbar eine Radikalisierung erlebt hatte. Während sich ein anderer Verfasser über die „leerlaufende Parteipolitik“54 beschwerte, behauptete er im gleichen Artikel, dass ein „großer Schmelzprozeß“ eingesetzt habe, der „an dem Wichtigsten arbeitet, das uns heute nottut: an einer neuen Volksgemeinschaft.“55 Parlamentarische Auseinandersetzung wäre damit in einer der volksgemeinschaftlichen Kommunikation untergeordneten Sphäre anzusiedeln. Wirtschaftspolitische Fragen seien für diese Entwicklung besonders entscheidend, denn „im Wirtschaftlichen, wurzelt die Not, und hier im Wirtschaftlichen ist bisher jeder Plan einer neuen Volksgemeinschaft gescheitert.“56 Der wirtschaftliche Interessenausgleich zwischen verschiedenen Gruppen unter besonderer Berücksichtigung des Mittelstands könne allerdings nur durch Volkspolitiker erfolgen, die an das große Ganze denken. Die scharfe Zuspitzung der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Gegensätze, die durch die Rechtsradikalen betrieben wird, gefährdet in allererster Linie den Mittelstand, der noch etwas zu verlieren hat, und der doch nicht genug besitzt, um beliebig lange zuzusehen, wie sich die Nation zerfleischt. [...] Wenn die Krise, die jetzt in der Partei entstanden ist, dazu führt, dem Gedanken

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Scharnagl, Karl: 1932 zur Volksgemeinschaft? In: VZ vom 31.12.1931, S. 1. Zehrer, Hans: Eine neue Partei? In: VZ vom 23.2.1929, S. 1. Ebd. Hervorhebung im Original. Zehrer, Hans: Eine neue Partei? In: VZ vom 23.2.1929, S. 2.

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der Zusammenfassung aller Kräfte der Mitte neuen Auftrieb zu geben, so wäre noch viel für den Mittelstand und die Volksgemeinschaft gutzumachen.57

Später warnte der Reichskanzler laut einer Wiedergabe eine Rundfunkrede dann sogar vor den „Parasiten der Wirtschaft“ und appellierte an das Verantwortungsbewusstsein der Unternehmer: Nicht nur ‚das Volk‘ steht an einem geistigen Wendepunkt. Auch das Unternehmertum muß erkennen, daß es nicht außerhalb der Volksgemeinschaft steht. Erst wenn es wieder lernt, die Gesetze der Masse durch ihre Individualität zu läutern, kann die Wirtschaft wieder ins Gleichgewicht kommen. In dieser Zusammenarbeit liegt seine Chance.58

Die Menschen müssten ihre wirtschaftlichen Entscheidungen an den Bedürfnissen einer Volksgemeinschaft ausrichten. Wer dies nicht konnte oder wollte, wurde gerade in Zeiten der schweren wirtschaftlichen Krise als „Parasit“ gebrandmarkt und zudem als Hinderungsgrund für die Verwirklichung der Volksgemeinschaft. Auch Karl Scharnagl suchte Schuldige für das Scheitern des Volksgemeinschaft; seiner Meinung nach habe sich die „Einstellung unseres Volkes“ zum Negativen geändert: „Der Volkskörper selbst ist nicht mehr so gesund und zwar sowohl geistig wie körperlich.“59 Zusätzlich wirkten seiner Meinung nach zudem auch die „Grenzen der Parteien“ gegen eine Volksgemeinschaft. Letzteres war ein weit verbreiteter Topos in der Endphase der Weimarer Republik. Diese „parteipolitische Vergiftung“60 galt als Gegenteil des „Geist[es] der Volksgemeinschaft“61 – und das in einer bürgerlich-liberalen Zeitung wie der Vossischen Zeitung, von der man ja durchaus Staatstreue und Unterstützung des parlamentarischen Systems erwarten durfte. Die Volksgemeinschaft galt als Lösung in Zeiten der parlamentarischen Auseinandersetzungen und Krisen, die zur Regierungsunfähigkeit der Parteien und einer allgemeinen prekären Lage führten: Unter nationaler Konzentration versteht man eine Z u s a m m e n f a s s u n g a l l e r V o l k s s c h i c h t e n und aller Parteien in einer kritischen Phase des nationalen Lebens. Das deutsche Wort dafür ist Volksgemeinschaft, jenes Ideal, das immer wieder gepredigt, dessen Verwirklichung mehrmals versucht und nie erreicht worden ist.62

Karl Scharnagl schloss mit folgendem drängendem Appell zur Verwirklichung einer Volksgemeinschaft, der die Formation der Gemeinschaft in ihrer Unterordnung unter einen Führer antizipierte: Möge das Jahr 1932 uns die Möglichkeit geben, daß diese hoffnungsvollen Erwartungen sich verstärken und daß die Volksgemeinschaft zwischen Ländern und Reich, zwischen Wirt-

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Spaltung der Wirtschaftspartei? In: VZ vom 16.1.1931, S. 3. Die letzte Chance. In: VZ vom 14.9.1932, S. 1. Scharnagl, Karl: 1932 zur Volksgemeinschaft? In: VZ vom 31.12.1931, S. 1. Vergilbte Grundsätze. In: VZ vom 21. März 1931, S. 3. Ebd. Konzentration? In: VZ vom 1.6.1932, S. 1.

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Angela Schuberth schafts- und Kulturkörpern sich immer fester gestalte, damit eine starke Führung ein einiges und geschlossenes Volk hinter sich erstehen sieht.63

Die Verschärfung des Diskurses zur Volksgemeinschaft und ihre Anschlussfähigkeit an nationalsozialistische Ideologeme zeigte sich symptomatisch auch in der nun häufiger zu beobachtenden Begriffsverwendung im Zusammenhang mit Kriminalität und insbesondere der Häftlingsverwahrung. Wenn im August 1930 unter der Überschrift „Kriminalität – ein soziales Übel“ Phrasen zu finden sind, die den „Schutz vor Gesellschaftsfeinden“ proklamierten und „die Umwandlung eines gesellschaftsfeindlichen Wesens zu einem ordentlichen Glied der Volksgemeinschaft“64 antizipierten, so drückte sich in derartigen Phrasen bereits nationalsozialistische Rhetorik an, die in dieser Form in der Vossischen Zeitung einige Jahre zuvor noch undenkbar gewesen war. Auch im Juli 1931 hieß es bezüglich der Unterbringung von Häftlingen in geschlossenen Anstalten: „Es dient dem schwer Psychopathischen, dem Bewahrungsbedürftigen, der aller Voraussicht nach die Volksgemeinschaft durch seine Veranlagung zur Kriminalität gefährden könnte.“65 Ein Element innerhalb einer als organisch verstandenen Formation, welche die Volksgemeinschaft bildete, galt hier als schädigend, und mehr noch, es galt sogar als infektiös. Deswegen wurde das Ziel des Strafvollzuges als „Wiedereingliederung des Unsozialen in den Organismus der Volksgemeinschaft“ beschrieben.66 Die weitere Radikalisierung einer solchen Begriffsverwendung mit ihren biologisch-hygienischen Implikationen ist ab 1933 auch in der Vossischen Zeitung unübersehbar. Die Verschärfung des Diskurses um die Volksgemeinschaft war jedoch vor 1933 in den völkischen Medien noch weitaus radikaler, was den Redakteuren in der Vossischen Zeitung auch nicht entging. Ein Artikel mit dem Titel „Demaskierung“ aus dem August 1929 kommentierte folgendes Zitat aus der Deutschen Zeitung: Zur wahren Volksgemeinschaft gelangen wir nur durch restlose Vernichtung und Ausrottung der roten Volksvergifter. Wer diesen den Rücken stärkt – soll auch deren unausbleibliches Schicksal teilen!67

Der redaktionelle Teil dieses Artikels machte nur einen knappen Satz aus: „Das ist die unverhüllte Ankündigung von Bürgerkriegsplänen.“68 Die Leser und Leserinnen der Vossischen Zeitung waren offenbar bereits darüber unterrichtet, welche rhetorischen Entgleisungen der extremistische politische Diskurs inzwischen nutzte, sodass weitere Erläuterungen hierzu als redundant galten.

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Scharnagl, Karl: 1932 zur Volksgemeinschaft? In: VZ vom 31.12.1931, S. 2. Kriminalität – ein soziales Übel. In: VZ vom 30.8.1930, S. 1. Lennoff, Friedrich Georg: Reform der Fürsorge-Erziehung! In: VZ vom 26.7.1931, S. 1. Vgl. Weigert, Erich: Deutsches Gefängniswesen. In: VZ vom 17.1.1929, S. 2. Demaskierung. In: VZ vom 22.8.1929, S. 2. Ebd.

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Aber die republiktreue Begriffsverwendung einer Volksgemeinschaft ist bis in die Endphase der Weimarer Republik in der Vossischen Zeitung aufzufinden. Ob dies aus Renitenz gegen die nationalsozialistische Begriffsvereinnahmung stattfand – dafür spricht beispielsweise die Tatsache, dass man von einer „falschen Volksgemeinschaft“69 spricht – oder ob man den Stellenwert des Begriffs in der nationalsozialistischen Propaganda unterschätzte, lässt sich nicht eindeutig klären. Immerhin wurde weiterhin die unspezifische Begriffsverwendung betont, beispielsweise wenn die Rede von einer „leider so sehr zur Phrase herabgewürdigte Volksgemeinschaft“70 war. Bis in die Endphase der Weimarer Republik wurde in der Vossischen Zeitung der Begriff der Volksgemeinschaft als Alternative zur nationalsozialistischen Herrschaft und zu Putschversuchen der nationalistischen Rechte verstanden. Sogar im Februar 1933 hieß es vor den Wahlen im Reich und in Preußen unter der Überschrift „Für die Sammlung der Mitte“ noch: Im Angesicht der höchsten Gefahr schwören wir das freiheitlich-nationale Bürgertum in Stadt und Land, zu seiner Pflicht zu stehen und Zeugnis abzulegen für Ordnung und Verfassung, die ganze Volksgemeinschaft im freien Deutschen Staat!71

5. DER EINFLUSS DES WAHLKAMPFES DER NSDAP AUF DEN BEGRIFFSGEBRAUCH Die Bedeutungen von Versammlungen im Wahlkampf der NSDAP in der Endphase der Weimarer Republik war groß, in ihnen „realisierte sich sichtbar die nationalsozialistische ‚Volksgemeinschaft‘.“72 Diese sinnliche Wahrnehmung der Volksgemeinschaft in den Inszenierungen der Nationalsozialisten hatte sogar Einfluss auf die Berichterstattung in der Vossischen Zeitung: Zwischen dem 9. Oktober 1921 und dem 11. Februar 1934 wird die Phrase „Erlebnis der Volksgemeinschaft“ insgesamt 20 Mal in einem Artikel verwendet, jedoch 13 Mal seit dem Jahr 1928.73 Schon nachdem in Thüringen die erste Regierung unter Beteiligung der NSDAP gebildet worden war, konnte ein Leser oder eine Leserin der Vossischen Zeitung beobachten, dass der Begriff der Volksgemeinschaft nun in einem radikalen Kontext verwendet wurde. So hieß es in einem Zitat der Landesregierung vom Innenminister Frick in Form eines Aufrufs an die Bevölkerung: Wer persönliche oder Parteiinteressen über das Wohl des Volksganzen setze, stelle sich außerhalb der Volksgemeinschaft und werde die Folgen zu tragen haben. Alle Versuche, die öf-

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Die nationalistische Presse gegen Hindenburg. In: VZ vom 17.3.1930, S. 2. Reinhold, Peter: Der Sieg der Regierung. In: VZ vom 7.12.1930, S. 2. Für die Sammlung der Mitte. In: VZ vom 2.2.1933, S. 2. Paul (1990): Aufstand, S. 127. Vgl. darüber hinaus z.B. Erlebte Volksgemeinschaft. In: VZ vom 21.5.1929, S. 3.; vgl. auch die vielen Adjektive und dynamischen Verben in: Die Republik marschiert. In: VZ vom 11.8.1929, S. 1.

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Angela Schuberth fentliche Ruhe, Ordnung und Sicherheit zu stören, würden mit rücksichtsloser Strenge unterdrückt und der Staatsautorität werde unbedingt Geltung verschafft werden.74

Zitate aus nationalsozialistischen Medien sowie Reden von Hitler wurden seit 1933 sowieso ohne berichtigenden Kommentar abgedruckt und gaben damit die nationalsozialistische Bedeutungsprägung des Begriffs der Volksgemeinschaft unverfälscht wieder.75 Der nun zum Reichsinnenminister aufgestiegene NSDAPPolitiker Wilhelm Frick versah den altbekannten Topos von der Erziehung zur Volksgemeinschaft mit einer nationalsozialistischen Prägung, die eine ‚germanische‘ Tradition mit vulgärdarwinistischer Abstammungslehre verband.76 Interessanterweise wurde aber auch im Juni 1933 noch der rigorose biologische Rassismus der Nationalsozialisten dem bürgerlichen Publikum nahe gebracht, indem man eine alternative Definition der Volksgemeinschaft andeutete. In einem Artikel mit dem Titel „Lebendiges Volk“, in dem eine „überstaatliche[…] deutsche[…] Volksgemeinschaft“ beschworen wurde, hieß es zu diesem Zeitpunkt zielgruppengerecht für das bürgerliche Publikum: Definitionen für ‚Volk ‘ gibt es mancherlei. Im neuen Deutschland ist die Begriffsbildung lediglich aus dem Blut, der Abstammung heraus üblich geworden. Uns scheint diese allzu biologische Bestimmung ersetzt werden zu müssen durch eine andere: daß die Zugehörigkeit des Einzelnen zu seinem Volk eindeutig festgelegt wird durch sprachliche Gemeinschaft, kulturelle Erziehung und vor allem durch seinen Willen zum Volk.77

Im selben Zeitraum hieß es jedoch auch bereits weitaus unumwundener, dass der Nationalsozialismus „durch seine Erziehung unbeirrbar die Ausmerzung jener Erscheinungen unseres öffentlichen Lebens betreiben, die der Volksgemeinschaft abträglich sind.“78 Dass nun die Begriffsverwendung mit nationalsozialistischen Ideologemen wie „Opferbereitschaft“ und „Kameradschaft“, mit „Disziplin, Ordnung und echter Kameradschaft“79 verknüpft wurde oder die „Schädlinge der Volksgemeinschaft“80 getadelt werden, ist nach Januar 1933 gleichfalls wenig überraschend. Der Begriff der Volksgemeinschaft hat eine wechselhafte Geschichte hinter sich. Verschiedene Interessegruppen vereinnahmten den Begriff immer wieder für unterschiedliche Zwecke. Nachdem die Nationalsozialisten die Bedeutungshoheit über den Begriff erlangt hatten, konnte er nicht mehr als selbstbeschreibender

74 Thüringen warnt. In: VZ vom 6.8.1932, S. 3. 75 Arbeiterdelegierte in der Reichskanzlei. In: VZ vom 2.5.1933, S. 1, vgl. auch Hitler über die Kultur. In: VZ vom 2.9.1933, S. 1 f., und Gegen Klassen- und Standesspaltung. In: VZ vom 2.10.1933, S. 3. 76 Vgl. Im Dienste des Volksganzen. In: VZ vom 9. Mai 1933, S. 1, vgl. zu einem ähnlichen Begriffsgebrauch auch Erziehung zur Volksgemeinschaft. In: VZ vom 25.6.1933, S. 3. 77 Philipp, Karl Wolfgang: Lebendiges Volk. In: VZ vom 3.6.1933, S. 4. 78 Gegen Klassen- und Standesspaltung. In: VZ vom 2. 10.1933, S. 3. 79 Zu Gast bei Standarte 7. In: VZ vom 2.12.1933, S. 4. 80 Strafandrohung gegen Denunzianten. In: VZ vom 6.12.1933, S. 8.

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Begriff dienen – jedenfalls nicht für eine freiheitliche Gesellschaft. Wer heute eine Umwidmung der Volksgemeinschaft fordert, handelt geschichtsvergessen. QUELLEN Vossische Zeitung Online: Berlinische Zeitung von Staats- und gelehrten Sachen. Vollständig digitalisierte Onlinedatenbank aller Ausgaben von 1918–1934. Zugang zu den einzelnen Ausgaben über http://db.saur.de/VOSS/advancedSearch.jsf?sb=issueSearch&initS=true. Kracauer, Siegfried: Philosophie der Gemeinschaft. Zuerst in: Frankfurter Zeitung, Jg. 69, Nr. 814 v. 30.10.1924; hier zitiert nach: Eßbach, Wolfgang, Fischer, Joachim, Lethen, Helmuth (Hrsg.): Plessners „Grenzen der Gemeinschaft“. Eine Debatte. Frankfurt a. M. 2002, S. 357– 362. Plessner, Helmuth: Grenzen der Gemeinschaft. 2. Auflage, Bonn 1972, zuerst 1924.

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Angela Schuberth

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GEWALT, PRESTIGE UND DER SCHUTZ DER REPUBLIK Mikrosoziologie politischer Tötungsdelikte im Freistaat Preußen, 1924–1930. Sebastian Elsbach Die Bilanz des staatlichen Republikschutzes in der Weimarer Republik wurden zwar vielfach als unzureichend bewertet1, was jedoch interessanterweise nicht für den Republikschutz im Freistaat Preußen gilt. Bereits Zeitgenossen beschrieben das bis 1932 durchweg republikanisch regierte Preußen als „Bollwerk“ gegen republikfeindliche Bestrebungen. Die preußische Schutzpolizei und auch die Politische Polizei haben neben den beiden wichtigsten Innenministern dieser Periode – Carl Severing und Albert Grzesinski – ein differenziertes Lob auch der wissenschaftlichen Nachwelt erfahren.2 Die Schupo, so stellte etwa Richard Bessel fest, war nicht nur wegen ihrer republikanischen Ausrichtung, sondern auch wegen ihrer Militarisierung ein effektives Staatsschutzinstrument, welches jegliche Aufstandsbestrebungen von privaten Gewaltakteuren rasch unterband. Eine andere Frage, die auch Bessel aufwarf, ist es, ob die Schupo in der Lage war die Vielzahl der kleinen politischen Ausschreitungen zu verhindern, die sich in den Augen vieler Zeitgenossen ab 1929 zu einem „Bürgerkrieg“ verdichteten.3 Die Wehrverbände4 als Hauptakteure dieser täglichen Kleinstkämpfe waren eine reale Herausforderung des staatlichen Gewaltmonopols. Doch wie konnte der Staat angesichts des allseitigen Zuspruches der maßgeblichen Parteien zu ihren jeweiligen Verbänden reagieren? Und insbesondere gefragt: wie konnte und sollte sie auf die Existenz des Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold reagieren, das den Republikschutz zu einer Privatangelegenheit erklärt hatte? Laut Gotthard Jasper erschwerte die Existenz des Reichsbanners den staatlichen Republikschutz, da die rechten Wehrverbände nun das Reichsbanner als Rechtfertigung für die eigene Existenz nutzen konnten.5 Hinter dieser Sichtweise steht aber die fragwürdige 1 2

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Siehe Jasper (1963): Schutz. Siehe Graf (1983): Politische Polizei, S. 4, Leßmann (1989): Schutzpolizei, S. 5ff., Alexander (1992): Severing, Albrecht (1999): Grzesinski u. Dams (2002): Staatschutz, S. 186. Jüngst beleuchtete Bergien die Kehrseite dieses „Bollwerkes“ (siehe Bergien (2012): Wehrkonsens). Siehe Bessel (1992): Handeln, S. 336ff. Dieser Begriff wird hier synonym zum ebenfalls zeitgenössischen Begriff „politische Kampfbünde“ gebraucht (siehe den Beitrag von Sebastian Gräb in diesem Band), welcher dieselbe Gruppe von Organisationen beschreibt. Siehe Jasper (1963): Schutz, S. 173f. Später wurden die Leistungen des Reichsbanners in den Vordergrund gestellt (siehe Dreyer (2009): Vorbild, S. 179f.). Die letzte umfassende Gesamt-

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Annahme, dass es abgesehen von der politischen Ausrichtung der Wehrverbände keine grundsätzlichen Unterschiede in der Handlungsweise von deren Mitgliedern gegeben hat. Dirk Schumann stellte im Bezug auf das Reichsbanner bereits fest, dass die Republikaner einer defensiven Gewaltstrategie folgten, während die Wehrverbände der radikalen Rechten und Linken deutlich aggressiver vorgingen.6 Trotz solcher Unterschiede agierte der Staat mit seinen Maßnahmen zum Schutz der Republik mitunter pauschal gegen alle Wehrverbände, so etwa bei Verboten von öffentlichen Versammlungen, Uniformen oder politischen Abzeichen. Aus demokratischer Perspektive ist dies durchaus rechtfertigbar, auch wenn nicht alle Verantwortlichen sich an demokratischen Normen orientierten, da Gewalt als Mittel der Konfliktlösung in Demokratien geächtet bzw. tabuisiert wird und insofern jeder der Gewalt für politische Zwecke einsetzt oder eine Bereitschaft hierzu signalisiert sanktioniert werden muss. Trotz der prinzipiellen Vergleichbarkeit aller Wehrverbände, die auf einer propagandistisch-sprachlichen Ebene sicherlich gegeben war und auch für die politischen Parteien insgesamt zu beobachten ist7, darf eine erklärende Sozialwissenschaft die Unterschiede nicht aus dem Blick lassen. Auch im Hinblick auf extreme Gewaltakte gibt es bedeutende Abweichungen im Verhalten der Beteiligten, die Rückschlüsse auf grundsätzliche Differenzen zwischen den assoziierten Gruppierungen ermöglichen. Den methodischen Schlüssel hierfür bietet der mikrosoziologische Ansatz von Randall Collins, der einem radikalen Realismus folgt, d.h. die Gewalt muss ihres ideologischen Korsetts entkleidet werden, um sie analysieren zu können. Stattdessen rücken die konkreten Handlungsabläufe, Verhaltensweisen und Rechtfertigungsmuster der Beteiligten in den Fokus der Untersuchung. Die mikrosoziologische Analyse setzt die Gewalt in einem grundlegend anderen, nämlich möglichst neutralen sprachlichen Kontext, als dies gemeinhin (auch in der wissenschaftlichen Literatur) üblich ist.8 In diesem Beitrag werden politische Auseinandersetzungen mit tödlichem Ausgang im Freistaat Preußen untersucht, die sich zwischen 1924 und 1930 ereig-

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geschichte des Reichsbanner ist jedoch bereits über 50 Jahre alt, als die Frage nach den Leistungen der Republik kaum jemand stellte (siehe Rohe (1966): Reichsbanner). Siehe Schumann (2001): Gewalt, u.a. S. 213. Schumanns Befund konnte der Autor in seiner Dissertation grundsätzlich bestätigen, wobei es anders als Schumann angibt auch zu tödlichen Gewaltakten durch Reichsbannermitglieder gekommen ist. Diese Gewaltakte erfolgten ebenfalls aus einer defensiven Grundhaltung heraus, wobei hier lediglich exemplarisch auf die Fälle von der Nationalsozialisten Werner Dölle und Karl Renz verweisen wird (siehe Tab. 1), da eine detaillierte Besprechung des Verhaltens der Reichsbannermänner in tödlichen Auseinandersetzung in der Dissertation des Autors vorgenommen. Dort wird eine überregionale Perspektive gewahrt, während das Reichsbanner in prominenten Arbeiten, die sich allein mit Berlin befassen nur am Rande vorkommt (so bspw. bei Wirsching (1999): Bürgerkrieg oder Swett (2004): Neighbors), was daran liegt, dass das Reichsbanner in Berlin tatsächlich weniger stark in die politische Gewalt verwickelt war als im Reichsdurchschnitt. Siehe erneut den Beitrag von Gräb, sowie den Beitrag von Jörn Retterath in diesem Band. Siehe Collins (2008): Violence, S. 1–35, sowie Collins (2009): Conflict, S. 1–12 u. 274ff.

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neten. Der regionale Radius ist somit bewusst größer angelegt als in bisherigen Studien zur politischen Gewalt, die meist nur einzelne Regionen und insbesondere die Stadt Berlin in den Blick nehmen.9 Die mittleren, ‚ruhigeren‘ Jahre der Republik sind ebenfalls repräsentativer für den Gesamtzeitraum als die Anfangs- und die Endphase, die gleichermaßen als „Bürgerkrieg“ beschrieben wurden, was für die mittleren Jahre nicht üblich ist, die somit eine Zeit relativer Normalität waren.10 Anhand der folgenden 24 Fallbeispiele lassen sich alle relevanten Gruppen gleichwertig untersuchen.11 Hier soll der Fokus jedoch auf die Differenzen zwischen den drei offensiv vorgehenden Gruppen (Sturmabteilung (SA)/Nationalsozialismus(NS), Rotfrontkämpferbund (RFB) und Stahlhelm (SH)) gelegt werden, da diese Tendenzen vornehmlich das Ziel staatlicher Republikschutzmaßnahmen waren und weniger das defensive Reichsbanner. Die Tabelle fasst die verwendeten Fallbeispiele zusammen und unterstützt bereits durch die bloße Auflistung der Urteile die These, dass Linksradikale mit höheren Strafen rechnen mussten als Rechtsradikale.12 Dieser justizgeschichtliche Aspekt kann uns im Folgenden aber nicht näher interessieren, auch wenn die insgesamt geringe Verurteilungsquote auf frappierende Weise klar macht, warum die Zeitgenossen kein besonders großes Vertrauen in ihre Justiz hatten.13 In 17 von 24 Fallbeispielen kam es nämlich entweder zu keiner Anklage wegen einem Tötungsdelikt oder es erfolgte ein Freispruch. In den übrigen Fällen wurden insgesamt Haftstrafen von 35 Jahren ausgesprochen, wobei hiervon wiederum nur ein kleiner Teil tatsächlich verbüßt wurde. Somit hatten die Gewalttäter – egal welcher politischen Ausrichtung – nur ein minimales Maß an juristischen Konsequenzen zu befürchten.

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Fallbeispiele aus anderen Teilstaaten müssen jedoch gleichfalls ausgeklammert werden. Siehe zur politischen Gewalt in Bayern, Baden und Württemberg, sowie Sachsen: Longerich (1989): Bataillone, S. 94ff., Böhles (2016): Südwesten, S. 84ff. u. 284–291, sowie Voigt (2009): Kampfbünde, S. 361–412. Dagegen konstatiert Wirsching eine „zumindest latente Bürgerkriegsspannung“ für die mittleren Jahre Weimars (vgl. Wirsching (1999): Bürgerkrieg, S. 553). Die Ausweitung der Untersuchung auf die Jahre 1929 und 1930 erlaubt in diesem Sinne auch das Bürgerkriegsnarrativ auf seine Stichhaltigkeit hin zu untersuchen. Es wurden ausschließlich Fallbeispiele aufgenommen, deren Handlungsabläufe sich aus staatlichen Quellen rekonstruieren lassen, da insbesondere Zeitungsartikel nur in sehr eingeschränktem Maße einen realitätsnahen Blick auf das Geschehen bieten. Die Fallbeispiele stammen fast alle aus einem Archivbestand im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (GStA PK) und Ergänzungen aus den Akten des Reichsinnenministeriums im Bundesarchiv (BArch), wobei dies alle Fälle aus dem gewählten Zeitraum in Preußen sind, zu denen staatliches Aktenmaterial gefunden werden konnte. Es wird hier also nur ein Sample untersucht, welches jedoch nicht zurechtgeschnitten werden musste, um es handhabbar zu machen. Siehe u.a. Rasehorn (1988): Rechtsprechung. Siehe Siemens (2005): Vertrauenskrise. Zur späteren Justizkritik im Geiste Weimars siehe den Beitrag von Sarah Langwald in diesem Band.

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Name Emil Krell Rudolf von Henke Georg Stolzmann Erich Volkmann Hans Pietrzak Werner Dölle14 Hans Klaffert 15

Karl Renz

Mitglied KPD NS Arbeiter RB SH NS KPD NS

Peter Lohmar KPD Felix Doktor

RB

Peter Erdmann Karl Tietze

RB RB

Richard Wol- RB lank Heinrich RB Koch Heinrich Schmidt

RB

Datum/Ort

Verantwortung

Urteil

13.5.1924 in Delitzsch 1.7.1924 in Hindenburg 9.5.1925 in Oberberg 9.5.1925 in Oberberg 17.5.1925 in Halle 9.8.1925 in Berlin 27.1.1926 in Berlin 21.2.1926 in Altlandsberg 20.6.1926 in Siegburg 29.6.1926 in Breslau 28.7.1926 in Düsseldorf 25.6.1927 in Arensdorf

Unbekannt, SH oder NS KPD, unbekannt

Täter nicht ermittelt

20.7.1927 in Arensdorf 27.4.1929 in Frankfurt am Main 27.4.1929 in Frankfurt am Main

SH, Bruno Tietz u. Gustav A. Tietze SH, Bruno Tietz u. Gustav A. Tietze KPD, Karl Ulbrich RB, Rudolf Schnapp Unbekannt, NS oder KPD Unbekannt, RB oder NS SH, Leo Bergheim

Täter nicht ermittelt Freispruch, Notwehr Wie Stolzmann Körperverletzung mit Todesfolge, 4 Jahre Freispruch, Notwehr Freispruch für Viktor Schierbaum, NS Ermittlungen ohne Ergebnis Freispruch, Notwehr

SH, Paul Magiera

Freispruch, Notwehr

SH, Josef Vobis und Genossen SH, August Schmelzer

Körperverletzung, 2,5 Jahre (insgesamt) Totschlag, 5 Jahre davon 1,5 Jahre abgesessen Wie Tietze

SH, August Schmelzer NS, wa. Albert Schütz NS, wa. Albert Schütz

Freispruch mangels Beweisen Wie Koch

14 Schnapp hatte erfolglos versucht einen Angriff von Nationalsozialisten auf einen Umzug des Reichsbanners abzuwehren und auf der Flucht auf seine Verfolger geschossen (siehe GStA PK, I. HA, Rep. 84a, Nr. 54954 u. 54955). 15 Renz starb beim Überfall eines SA-Trupps auf eine private Versammlung von Reichsbannermitgliedern, wobei es möglich ist, dass er von den eigenen Leuten erschossen wurde. Es erfolgte keine Anklage gegen Reichsbannermitglieder (siehe den Bericht des Polizeipräsidenten von Berlin an den Reichskommissar zur Überwachung der öffentlichen Ordnung vom 2.3.26 (gez. Grzesinski), in: BArch R1507/3066, Bl. 43f.).

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Name Heinrich Bauschen Karl Kubow

Albert Selenowski Erich Schumann Ehrenfried Jopp Rüdiger von Massow Wilhelm Kropp Heinz Oetting Philipp Breitenbach

Mitglied NS RB

KPD KPD KPD SH SPD NS KPD

Datum/Ort

Verantwortung

Urteil

18.10.1929 in Duisburg 5.3.1930 in Berlin

KPD, unbekannt

Täter nicht ermittelt

NS, Erich Markwardt und Genossen

17.5.1930 in Berlin 17.5.1930 in Berlin 27.5.1930 in Fürstenwalde 29.5.1930 in Fürstenwalde 30.8.1930 in Bramsche 10.9.1930 in Essen 20.10.1930 in Frankfurt am Main

NS, Edgar Meier und Genossen NS, Edgar Meier und Genossen Unbekannt, NS oder SH KPD, Max Behnke

Gemeinschaftliche Körperverletzung mit Todesfolge, 16 Jahre (insgesamt) Raufhandel, 6 Jahre (insgesamt) Wie Selenowski

NS, Hermann Schmidt KPD, unbekannt NS, Hermann Seipel und Genossen

Täter nicht ermittelt Körperverletzung mit Todesfolge, 5 Jahre Körperverletzung mit Todesfolge, 2,5 Jahre 2. Urteil erst im Okt. 1933 Raufhandel, 2 Jahre (insgesamt)

Tab. 1: Fallbeispiele politischer Tötungsdelikte, 1924–30

KOMMUNISTEN – IN GRUPPEN STARK Es gab offenkundig zahlreiche Fälle von tödlicher politischer Gewalt, in denen die Polizei keinen Täter identifizieren oder nicht einwandfrei feststellen konnte von welcher Seite die Gewaltsamkeiten ausgingen. Diese Frage, wer zuerst zuschlug, zustach etc., ist aus einer mikrosoziologischen Perspektive aber nicht notwendigerweise zentral. Wichtiger sind andere Verhaltensmuster der Beteiligten. Kommunistische Gewalttäter fallen durch ihre Aggressivität auf, die sich oftmals aus großen Menschenansammlungen von über 20 Personen heraus äußert, aber auch von Einzelpersonen und kleinen Gruppen unter 10 Personen ausgehen kann. So etwa im Fall des Nationalsozialisten Rudolf von Henke. Mit zwei weiteren Nationalsozialisten, die durch ihre Kleidung als solche zu erkennen waren, befand sich von Henke am späten Abend des 29. Juni 1924 auf dem Heimweg von Hindenburg nach Biskupitz, als ihm drei junge Kommunisten (um die 20 Jahre) entgegenkamen. Offenbar ohne größeres Vorgeplänkel in Form von Anpöbelungen oder dergleichen versuchte einer der Männer v. Henke die Hitlermütze zu entwenden, woraufhin dieser einen Schritt zurück machte. Der Angreifer zog daraufhin eine Pistole und gab zwei Schüsse auf v. Henke, der bald darauf verstarb. Die

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drei Kommunisten wie auch die beiden Begleiter v. Henkes entfernten sich schnell vom Tatort in unterschiedliche Richtungen, sodass der Vorfall nach wenigen Sekunden wieder beendet war. Da nicht geklärt wurde, welcher der drei Kommunisten den Schuss abgegeben hatte, erfolgte keine Verurteilung.16 So eine rasche Eskalation tödlicher Gewalt ist nicht ungewöhnlich, sondern im Gegenteil die Norm. Kämpfe sind für die Beteiligten mit enormen Stress und Angst verbunden, da es anders als mitunter behauptet wird nicht in der menschlichen Natur liegt anderen Menschen Gewalt anzutun. Vielmehr wird Gewalt gegen Andere auch vom Täter als höchst unangenehm empfunden und professionelle wie weniger professionelle Gewalttäter müssen sich soziale Techniken zur Angstbewältigung aneignen, welche ihnen überhaupt erst die wiederholte Gewaltausübung ermöglichen. Dies sind immer gruppenbezogene Techniken, sodass (für die Täter) erfolgreiche Gewaltausübung vorwiegend aus Menschenansammlungen heraus erfolgt, wie Demonstrationen, Jagdgesellschaften oder Armeeeinheiten. Auch die wesentlich selteneren Einzeltäter wie bspw. professionelle Mörder oder Scharfschützen handeln im Wissen, dass ihre Gewalt einer größeren Gruppe dient.17 Dieses Erlernen gruppenbezogener Sozialtechniken braucht Zeit und Wiederholung, sodass der Fall v. Henkes exemplarisch zeigt, dass bereits 1924 ein hohes Maß an Einübung bei den Beteiligten vorhanden war und nicht erst 1929 oder 1930.18 Schon das Tragen einer bestimmten Kopfbedeckung ist oberflächlich betrachtet für die kommunistischen Täter ausreichend gewesen, um die tödliche Eskalation zu suchen. Die Logik hinter dem schnellen Handeln der Männer wird jedoch aus unserer theoriegeleiteten Perspektive verständlicher. So waren die sich zufällig treffenden Gruppen gleich groß und die Kommunisten konnten nicht ausschließen, dass die Nationalsozialisten nicht ebenfalls bewaffnet waren, weswegen die Konfrontation ein großes Risiko für die Angreifer barg. Daher auch das plötzliche Vorgehen, welches die Nationalsozialisten offenbar völlig überraschte und das rasche Wegrennen nach der Tat. Beide Verhaltensweisen boten für die Angreifer einen Vorteil hinsichtlich des Ausganges der prinzipiell ausgeglichenen Konfrontation. Aufgrund dieser Ungewissheit ist es den Kommunisten nicht möglich ihren Überraschungserfolg auszukosten. Sie entfernen sich ebenso rasch vom Tatort wie die unterlegenen Nationalsozialisten, um etwaige Repressalien zu ver16 Vgl. GStA PK, I. HA, Rep. 84a, Nr. 52001, Bl. 63ff. 17 Siehe Collins (2008): Violence, S. 53ff., 381ff. u. 430ff. Eines von Collins Lieblingsbeispielen ist die antike Phalanx-Formation, welche dazu diente Verluste in den eigenen Reihen und interessanterweise auch beim Gegner zu minimieren, sowie die eigenen Truppen im Kampf zu halten, was bei einer losen Formation über einen längeren Zeitraum kaum möglich ist. 18 Zu den gewaltsamen Konflikten der Periode 1921–23: Schumann (2001): Gewalt, S. 143–202 u. Büttner (2008): Republik, S. 182–206. Retterath betont ebenfalls das hohe Maß der Polarisierung, welche bereits 1924 erreicht worden war (siehe seinen Beitrag in diesem Band) und Wirsching bietet eine detaillierte Auseinandersetzung mit der Ideologie hinter (aus unserer Perspektive: nach) solchen Gewalttaten (siehe Wirsching (1999): Bürgerkrieg, S. 299–360, 461ff. u. 506–574).

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meiden und da sie nicht einwandfrei identifiziert wurden, ist dieses Vorgehen ebenfalls erfolgreich.19 Ein solches Vorgehen zur Risikominderung war durchaus zweckrational, wie die Gegenprobe anhand des Falles von Hans Pietrzak zeigt. Am Abend des 16. Mai 1925 trafen in Halle zwei ebenfalls gleichgroße Kleingruppen von Stahlhelmern und Mitgliedern des Rotfrontkämpferbundes aufeinander. Doch anders als im Fall v. Henkes kam es in Halle zunächst zu einem ausgedehnten Austausch von Drohungen, wobei sich die Beteiligten gegenseitig aufschaukelten. Zu Tätlichkeiten kam es aber erst, als die Stahlhelmer versuchten sich vom Ort des Geschehens zu entfernen, da sich eine größere Menschenmenge angesammelt hatte, die mehrheitlich die Kommunisten unterstützte. Dies machte die temporäre Überlegenheit der Rotfrontkämpfer offensichtlich. Der Arbeiter Karl Ulbrich (*1903) verfolgte die Stahlhelmer und schlug einen von ihnen mit einem harten Gegenstand nieder. Aus Sicht der sich rasch vergrößernden Zuschauermenge war die Konfrontation damit zugunsten der Kommunisten entschieden. Der verletzte Stahlhelmer wurde von mehreren Passanten weggeführt. Für Ulbrich war die Bühne jedoch weiterhin bereitet und er begann einen weiteren Streit mit dem bislang unbeteiligten Pietrzak, der offenbar für die Stahlhelmer Partei ergriffen hatte. Pietrzak war nicht an einer Konfrontation interessiert und versuchte beschwichtigend aufzutreten. Ulbrich schlug ihn trotzdem nieder, sodass Pietrzak bewusstlos auf das Straßenpflaster aufprallte und sich einen Schädelbruch zuzog, infolgedessen er am nächsten Tag verstarb.20 Dieser Fall macht die dynamische Rolle des Publikums deutlich, dessen Anwesenheit die Konfrontation wesentlich verlängerte und eskalierende Folgen hatte. So wurde die ursprüngliche Konfrontation zwischen den verfeindeten Gruppen zwar durch die Unterstützung des Publikums für eine der beiden Seiten entschieden und zunächst nicht durch Gewalt. Aber im Zuge des Triumphes versuchte der Kommunist Ulbrich seine Dominanz weiter zu demonstrieren und attackierte nach dem Abzug der eigentlichen Kämpfer einen ihrer Unterstützer.21 Die grundsätzlich hohe Gewaltbereitschaft der Kommunisten, die in solchen Fällen offensichtlich wird, muss sich keineswegs immer in Form eines Angriffs auf einen unterlegenen Gegner äußern, aber dies ist wie gesagt die Norm.

19 Dies ähnelt einem zentralen Merkmal der US-amerikanischen Bandenkämpfe, wo sog. driveby shootings und andere hit-and-run Taktiken die häufigste Form der Gewalt darstellen. Hierbei ist prinzipiell jedes Mitglied der verfeindeten Gruppe ein legitimes Ziel (siehe Collins (2008): Violence, S. 60). Swett spricht für Berlin ebenfalls von „drive-by shootings“ (Swett (2004): Neighbors, S. 241). 20 Vgl. GStA PK, I. HA, Rep. 84a, Nr. 52298, Bl. 14ff. 21 Entscheidend ist hierbei neben den Anfeuerungsrufen des Publikums zugunsten von Ulbrich auch die hohe Anzahl der Menschen. Beide Faktoren führen mit jeweils sehr hohen Wahrscheinlichkeiten zu einem längeren, schweren Konflikt (siehe Collins (2008): Violence, S. 203f.). Wichtig für das Verständnis des Fallbeispiels ist zudem die von Collins beobachtete Regel des One-Fight-Per-Venue bei inszenierten Kämpfen (siehe ebd., S. 270ff.).

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So kam es am Abend des 18. Oktober 1929 in Duisburg aufgrund einer öffentlichen Veranstaltung des Stahlhelms, auf welcher der 2. Bundesführer Theodor Duesterberg sprach, zu einer größeren Ansammlung von Mitgliedern des Frontsoldatenbundes in der Innenstadt. Die Stahlhelmer zogen singend in geschlossenen Formationen durch eine als kommunistisch bekannte Gegend und wurden hierbei aus Fenstern mit Gegenständen beworfen. Als sich die Rechtsradikalen einzeln oder in kleinen Gruppen wieder auf den Heimweg machten, entstanden Wortgefechte mit den Anwohnern, welche wiederum weitere Stahlhelmer und auch Nationalsozialisten aus dem Umkreis anlockten. Bei einer folgenden Schlägerei wurde der Nationalsozialist Heinrich Bauschen durch einen Messerstich getötet. Gerichtlich konnte nicht einwandfrei festgestellt werden, welche Seite zuerst tätlich geworden war.22 Die Gruppe der kommunistischen Gewalttäter handelte in diesem Fall offenbar aus der Überzahl heraus und zur Verteidigung des eigenen „turf“. Entscheidend ist hierbei die situative Überlegenheit der Gewalttäter, die sehr schnell entstehen aber auch wieder zusammenbrechen kann, wenn weitere Gegner hinzukommen. Das Jahr 1930 liefert zwei weitere Fallbeispiele von kommunistischen Gewalttätern. So im Falle des Nationalsozialisten Heinz Oetting, der am Abend des 10. September in Essen mit seinem Bruder von einer größeren Menschenmenge durch die Straßen gejagt wurde. Die beiden Männer waren auf dem Heimweg, nachdem sie an einer Versammlung der NSDAP teilgenommen hatten und von Kommunisten als Gegner erkannt worden waren. Aus der Menschenmenge heraus wurden sie bedroht und geschlagen, bis sich schließlich ein Mann aus der Menge löste und Heinz Oetting einen tödlichen Messerstich versetzte. Zentral ist hierbei das in der Anklageschrift genannte, durch Zurufe ausgedrückte Motiv der Menschenmenge, welche Rache für jüngste Gewalttaten von Nationalsozialisten gefordert hatte.23 Dieses Rache-Motiv wurde auch im Fall Rüdiger von Massows genannt. In Fürstenwalde war am 27. Mai 1930 der Kommunist Ehrenfried Jopp bei einer Auseinandersetzung mit Stahlhelmern und Nationalsozialisten getötet worden, wobei der spätere Hauptangeklagte Max Behnke (*1890) den Tod Jopps aus nächster Nähe miterlebt hatte. Wenige Tage darauf am 29. Mai veranstaltete der Stahlhelm in der Nähe ein Sportfest, welches auch Anhänger des Bundes von außerhalb anlockte. Behnke überfiel mit einer kleinen Gruppe von gleichgesinnten Kommunisten einen solchen Fahrradzug auf einer Landstraße. Die Stahlhelmer 22 Vgl. GStA PK, I. HA, Rep. 84a, Nr. 52286, Bl. 38ff. Genaue Größenangaben zu den beteiligten Gruppen werden nicht gemacht. Die Gruppe um Bauschen soll aus fünf Mann bestanden haben, während die Kommunisten mindestens zu acht waren. Laut der Tatbeschreibung bei Swett stellte der Tod des Nationalsozialisten Herbert Norkus 1931 einen vergleichbaren Fall einer „turf violation“ dar (siehe Swett (2004): Neighbors, S. 249ff.) 23 Vgl. GStA PK, I. HA, Rep. 84a, Nr. 51899, Bl. 67ff. Ein Täter konnte zunächst nicht ermittelt werden (siehe GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 4043, Nr. 120, Bl. 338). Erst im Oktober 1933 wurde ein Kommunist zu 15 Jahren wegen Totschlags verurteilt, wobei dieses Urteil offenkundig zweifelhaft war.

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wurden ähnlich wie im Falle v. Henkes von dem Angriff völlig überrascht und leisteten keine organisierte Gegenwehr. Benke erstach schließlich v. Massow und entfernte sich mit seiner Gruppe vom Tatort. Laut Zeugenberichten übte sich die Gruppe auf dem Nachhauseweg in gegenseitigen verbalen Bestätigungsritualen.24 In diesen drei Fällen trägt das Vorgehen der Kommunisten den Charakter einer Vorwärtspanik im Sinne Collins. Zunächst erschien den Anwohnern im Fall Bauschen die Bedrohung durch die gesammelten Rechtsradikalen übermächtig zu sein. Ähnlich war es durch die große Versammlung von Nationalsozialisten und Stahlhelmern in Essen und Fürstenwalde zu einem lokalen Bedrohungsszenario gekommen. Als nun in den jeweiligen Mikrosituationen eine Überzahl für die Kommunisten entstand, also eine situative Überlegenheit, entlud sich die zuvor aufgestaute Furcht bzw. Konfrontationsanspannung in tödlichen Gewaltakten. Markant für eine Vorwärtspanik ist die völlige Dominanz der Kommunisten im Fall Oetting, aber auch die Beschreibung des Verhaltens der Stahlhelmer im Fall v. Massow, die überrascht, unkoordiniert und paralysiert auf den plötzlichen Gewalteinbruch reagierten, passt zu den Merkmalen einer Vorwärtspanik. Die in der Urteilsbegründung beschriebenen Bestätigungsrituale der Sieger sind hierbei Teil eines geteilten emotionalen Erfahrungsraumes, welcher den Beteiligten die Situation trotz ihrer ursprünglichen Angst als positiv und sogar spaßig erscheinen lässt.25 NATIONALSOZIALISTEN – INKOMPETENTE SCHÜTZEN Die Ziele nationalsozialistischer Gewalt waren von Einzelfällen abgesehen stets die Anhänger der Arbeiterparteien und der mit diesen verbundenen Wehrverbände. Mit dem Stahlhelm als größtem Wehrverband der Rechten versuchten die SAMänner hingegen mitunter gemeinsam gegen die Linken vorzugehen, wie oben am Beispiel von Bauschen gesehen. Umgekehrt ist eine solche ‚Einheitsfront von unten’, die keineswegs dazu führe musste, dass auf den oberen Führungsebenen der Wehrverbände Kontakte gesucht wurden, bereits vielfach für die Anhänger der linken Wehrverbände beobachtet worden.26

24 Vgl. GStA PK, I. HA, Rep. 84a, Nr. 52252. 25 Siehe Collins (2008): Violence, S. 115–121. Collins unterstreicht, dass die jeweiligen Opfer in solchen Situationen den Tätern durch ihre Gruppenzugehörigkeit als allgemein stark und furchteinflößend erscheinen und es ihre temporäre, situative Unterlegenheit ist, welche sie angreifbar macht. 26 Siehe Wirsching (1999): Bürgerkrieg, u.a. S. 550f. Die Harzburger Front als recht erfolgloser Versuch einer rechten ‚Einheitsfront von oben’ wurde ebenfalls oft thematisiert (siehe etwa Schumann (2001): Gewalt, S. 227f.), was für die hier beobachteten Ansätze einer rechten ‚Einheitsfront von unten’ nicht gilt.

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So im Falle des Kommunisten Hans Klafferts, dessen Tod von linken Kommentatoren dazu genutzt wurde für eine „rote Einheitsfront“ zu werben.27 Am Abend des 27. Januar 1926 hatten die NSDAP, die KPD und das Reichsbanner parallele Veranstaltung in Berlin-Charlottenburg durchgeführt, sodass nicht überraschen konnte, dass einzelne Gruppen der Teilnehmer nach dem Ende der Veranstaltungen auf den Straßen aufeinandertrafen. Laut den gerichtlichen Feststellungen grüßten sich die getrennt marschierenden Züge des Reichsbanners und des RFB. Später mischten sich Mitglieder beider Bünde unter die Menge. Als nun eine größere Gruppe der SA erschien, wurde diese aus der Menge heraus angepöbelt und attackiert. Hierbei wurden von mehreren Personen Schüsse abgegeben, durch die Klaffert getötet wurde. Der zunächst stark tatverdächtige Nationalsozialist Viktor Schierbaum (*1904) wurde durch ein ballistisches Gutachten entlastet. Wer stattdessen die tödlichen Schüsse abgegeben hatte, blieb unbekannt.28 Dass die SA-Männer eine hohe Gewaltbereitschaft an den Tag legten, ist aufgrund des sie umgebenden Mythos selbst Laien wohlbekannt. Aber wie genau verhielten sich die Nationalsozialisten in Auseinandersetzungen mit tödlichem Ausgang? Ein zentrales Charakteristikum ist, wie auch bei den Kommunisten, das Vorgehen in Gruppen. Es lässt sich zusätzlich als Norm feststellen, dass in solchen gewaltübenden Gruppen mehrere SA-Männer mit Schusswaffen ausgerüstet waren und diese auch nutzten. Die Fälle Karl Kubows, Albert Selenowskis und Erich Schumanns illustrieren dies. So hatte sich am 5. März 1930 ein SA-Zug vor einem Lokal des Reichsbanners in Röntgental bei Berlin in einer Linie aufgestellt. Auf Befehl des Unterführers Erich Markwardt (*1909) wurde zeitgleich das Feuer auf das Lokal eröffnet, wobei Kubow tödlich getroffen und drei andere Anwesende schwer verletzt wurden. Hierbei handelte es sich um einen Racheakt der SA, die am selben Tag und Ort bei einer kleinen Auseinandersetzung mit Reichsbannermitgliedern unterlegen war und für die Vergeltung eigens Verstärkung herbeigeholt hatte.29 Die Schusswaffen und ihr Gebrauch sind hierbei integrale Bestandteile des Auftretens der SA-Männer. Offensichtlich verleiht ihnen die Schusswaffe eine besondere Macht und einen Vorteil gegenüber ihren Gegnern, aber als Amateure können sie diese Waffen nicht professionell handhaben. Die Schüsse sind wenig zielgerichtet. Die Schützen agieren in nur lose koordinierten Gruppen und setzen

27 Siehe „Reichsbanner und Roter Frontkämpferbund“ von Franz Leschnitzer, in: Die Weltbühne Nr. 13/1926 vom 30.3. 28 Vgl. GStA PK, I. HA, Rep. 84a, Nr. 51585. In ähnlicher Weise blieb der genaue Tathergang im Falle der Reichsbannermänner Koch und Schmidt unbekannt, die im April 1929 in Frankfurt am Main bei einer Auseinandersetzung mit Nationalsozialisten getötet wurden, wobei ebenfalls einzelne RFB-Mitglieder auf Seiten des Reichsbanner aktiv waren (siehe ebd., Nr. 52887). 29 Vgl. GStA PK, I. HA, Rep. 77, St. 18, Nr. 287, Bl. 59ff. Zum Prozess ferner: Fülberth (2011): Brachialgewalt, S. 56ff.

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ihre Waffen meist sehr spontan ein.30 So wenige Wochen später in einem anderen Stadtteil Berlins, wo am 17. Mai bei einer nächtlichen Auseinandersetzung zwischen mehreren SA-Männern und Kommunisten die erwähnten Selenowski und Schumann getötet wurden. Eine Gruppe der Kommunisten hatte sich den Nationalsozialisten auf drohende Weise genähert und war auch nach Zurufen und Warnschüssen zweier SA-Männer nicht zurückgewichen. Schusswaffen hatten sie allerdings nicht gezogen, während die SA-Männer unmittelbar nach den Anpöbeleien ihre Waffen gezückt hatten und diese in der folgenden Schlägerei auch gebrauchten, wobei ihnen das Gericht später Putativnotwehr zubilligte.31 Gänzlich anders gelagert, aber für eine mikrosoziologische Betrachtung sehr interessant, waren die Fälle des Sozialdemokraten Wilhelm Kropp und des Kommunisten Philipp Breitenbach. Diese Fälle illustrieren bestens die Verschränkungen der verschiedenen Sozialmilieus, die es in der Weimarer Republik trotz der prominenten These von der starken Milieuabschottung gegeben hat.32 So hatte die Streitigkeit, welche zum Tode von Kropp führen sollte, ihren Ausgangspunkt bei den Vorbereitungen für eine Hochzeitsfeier. Hierzu hatten sich am Nachmittag des 30. August 1930 in Bramsche ein halbes Duzend Nachbarn und Freunde der Familie der Braut versammelt, um den Festort auszuschmücken. Einige von diesen Personen waren Anhänger der Sozialdemokratie, während sich der spätere Angeklagte Hermann Schmidt (*1905) zur NSDAP bekannte. Dies war allen klar und dennoch wurde bei der Zusammenkunft rege über Sport und Politik diskutiert. Auch einzelne abfällige Bemerkungen Schmidts über die SPD führten weder zu größeren Streitigkeiten noch zu Tätlichkeiten. Erst später am Abend kam es nach gemeinsamen Alkoholgenuss, wodurch die Beteiligten aber nicht betrunken sondern nur angeheitert waren, zum Streit und zwar aufgrund der Liederwahl. Schmidt hatte zunächst mit den anderen Beteiligten das Arbeiterlied „Zur Sonne, zur Freiheit“ gesungen und dazu auf seiner Mundharmonika gespielt. Als er jedoch aus eigener Initiative das Sturmlied der SA anstimmte, sangen die Anderen nicht mit. Der folgende Streit eskalierte als weitere Personen durch die lauten Schimpfworte und den weiteren Gesang Schmids angelockt wurden. Kropp, der in einem nahen Haus wohnte und allen als Sozialdemokrat bekannt war, stieß hinzu und bat Schmid in ruhiger Weise die Beschimpfungen zu unterlassen. Dieser fühlte sich provoziert. Nach einer Rangelei, bei der niemand verletzt wurde, wurden 30 Collins nennt diese Form der Schusswaffengewalt durch amateurhafte Täter „leap-frogescalation“, da sie wie Frösche höchst nervös auf kleinste oder auch unechte Bedrohungen mit einer harten Eskalation antworten. Als Amateure ist es ihnen trotz ihrer überlegenen Bewaffnung nicht möglich die Konfliktsituation völlig souverän zu kontrollieren. Gleichwohl gewinnen sie durch den Besitz einer Schusswaffe als einem „sacred object“ (Collins spricht auch von einem „gun cult“) an sozialem Prestige, welches sie aufgrund ihres Amateurstatus sonst nicht hätten (siehe Collins (2008): Violence, S. 223–229). 31 Vgl. GStA PK, I. HA, Rep. 84a, Nr. 53075, Bl. 45ff. Zu Ermittlungen und Prozess ausführlich: Fülberth (2011): Brachialgewalt, S. 58ff. 32 Swett macht für Berlin dieselbe Beobachtung einer überraschend starken Verschränkung der Sozialmilieus (siehe Swett (2004): Neighbors, S. 207–213).

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Kropp und Schmid zunächst voneinander getrennt. Schmid zückte jedoch ein Messer und stach Kropp zweimal in den Brustkorb, sodass dieser bald darauf verblutete.33 Singen als gemeinschaftsstiftende Tätigkeit wurde hier zum Auslöser eines letztlich tödlichen Streits. Die Weigerung von Schmids sozialdemokratischen Bekannten ein NS-Lied zu singen wurde von ihm als Affront aufgefasst. Dass er mit Kropp einen eigentlich Unbeteiligten attackierte, erinnert stark an den oben besprochenen Fall Pietrzaks. Schmids Handeln lässt sich anders als der Fall Pietrzaks allerdings als Vorwärtspanik interpretieren, d.h. er suchte die Konfrontation mit Kropp, welchem er überlegen war, um den weiteren Konflikt mit seinen ihm allein zahlenmäßig überlegenen Bekannten zu vermeiden. Er erzeugte im Moment seiner Unterlegenheit in einem ersten Streit eine zweite Auseinandersetzung mit einem Mitglied des gegnerischen Publikums, welches wie Pietrzak auf diese Eskalation nicht vorbereitet war. Eine in manchen Aspekten ähnliche Dynamik entwickelte sich in der Nacht vom 19. auf den 20. Oktober 1930 in Frankfurt am Main. Der erwähnte Breitenbach und rund ein Duzend weitere Kommunisten beschlossen nach einem gemeinsamen Werbeumzug samt anschließendem Wirtshausbesuch in ein ihnen bekanntes NS-Sturmlokal zu wechseln. Auch wenn es vorher Diskussionen hierüber gab. Anders als man ob der obigen Ausführungen über die hohe Aggressivität der Kommunisten annehmen könnte, betraten die Kommunisten das Lokal aber nicht mit gezücktem Revolver. Stattdessen legten sie ein geradezu verspieltes Verhalten an den Tag. Beim Eintritt grüßten sie die anwesenden Gäste mit „Rot Front“, dann besetzten sie den größten und zentralsten Tisch und begannen kommunistische Kampflieder zu singen. Abgesehen von dem Personal und kleineren Gruppen von Gästen waren nur eine Handvoll Mitglieder der SA im Lokal anwesend, die sich betont unprovoziert verhielten. Auch als einer der Kommunisten anfing eine Rede zu halten, Hoch-Rufe auf die Arbeiterwehr von FrankfurtHöchst aussprach und daraufhin mit einer Sammelbüchse für den „Kampfschatz“ umherging, kam es zu keinen gewalttätigen Reaktionen. Im Gegenteil erhielt er sogar vom Wirt und einzelnen Gästen ein paar Münzen. Selbst als ein Begleiter der Kommunisten, der stark betrunken war, anfing ein antinationalsozialistisches Spottlied zu singen und abwechselnd laut „Heil Moskau“ und „Heil Hitler“ rief, reagierten die SA-Männer nicht. Lediglich der spätere Hauptangeklagte Hermann Seipel (*1897), der vor seiner Zeit bei der SA der KPD angehört hatte, bat bei einem Toilettengang einen der Kommunisten, den er von früher kannte, mäßigend auf seine Freunde einzuwirken und möglichst bald das Lokal zu verlassen. Diese Bitte wurde zwar nicht ignoriert, aber nur sehr halbherzig befolgt. Zur Eskalation sollte es erst kommen, nachdem die Tochter des Wirtes per Telefon und aus eigener Initiative heraus weitere SA-Männer in das Lokal herbeigerufen hatte. Sie hatte berichtet, dass Kommunisten im Lokal seien und man Hilfe brauche. Hie-

33 Vgl. GStA PK, I. HA, Rep. 84a, Nr. 52839, Bl. 17ff.

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raufhin machten sich von mehreren Standorten aus insgesamt 24–30 SA-Männer auf den Weg zum Lokal. In der folgenden Schlägerei wurde Breitenbach durch Schläge und Tritte so schwer verletzt, dass er auf dem Weg ins Krankenhaus verstarb. Seipel hatte während der Schlägerei eine Pistole gezogen und mehrfach in die Decke gefeuert. Hierdurch war ein vor dem Lokal patrouillierender Polizist aufmerksam geworden. Er betrat das Lokal und zog seine Dienstwaffe, womit er augenblicklich die Schlägerei beendete.34 Auffällig ist, dass trotz der insgesamt etwa 40 Kombattanten keine Stich- oder Schusswaffen gegen die Gegner eingesetzt wurden, obwohl nicht nur Seipel offensichtlich die ganze Zeit über bewaffnet war. Der Grund hierfür liegt im Auftreten der Kommunisten. Sie betreten zwar als geschlossene Gruppe das Lokal einer feindlichen Organisation und zeigen dort ein provozierendes Verhalten, aber sie verstecken die hiermit verbundene Aggression in Scherzen oder anders gesagt: In einem SA-Lokal als Kommunist Lieder zu singen, eine Spendensammlung durchzuführen und „Heil Hitler“ zu brüllen ist dreist, aber nicht im eigentlichen Sinne gewalttätig. Hinzu kommt, dass sich manche der Beteiligten bekannt sind. Seipel tritt zunächst deeskalierend auf, um nach der Ankunft der Verstärkung eine Waffe zu zücken, was eine klar eskalierende Handlung darstellt. Beide Handlungen sind erfolglose Versuche die Situation zu kontrollieren. Seipel benutzt seine Waffe schließlich lediglich zur Erzeugung von Lärm und Aufmerksamkeit, was die allgemein chaotische Situation der Schlägerei aber nur noch unübersichtlicher macht. Das Auftreten des Polizisten verdeutlicht das spielerische Element der Situation. Sein drohendes Zücken der Dienstwaffe reicht aus, um die Schlägerei sofort zu beendet. Durch Breitenbachs späteren Tod erhält das Ganze jedoch eine tragikomische Wendung. Hierbei entspricht die Auseinandersetzung recht genau dem von Collins beschriebenen Schema von Kämpfen, die zu Unterhaltungszwecken inszeniert werden. Die Streit suchende Gruppe der Kommunisten ist hierarchisch gegliedert in jene, die von dem Vorhaben abraten und jenen, die sich in besonderer Weise bei den Provokationen hervortun. Der mit der SA provozierte Streit dient somit einer Art Rangkampf innerhalb der kommunistischen Gruppe. Gleichzeitig fällt es dieser Gruppe trotz der starken Provokationen recht schwer ihre Gegner von einem Kampf zu überzeugen. Es vergeht viel Zeit von ihrem Eintreffen bis zum Ausbruch der Schlägerei. Es war für alle Beteiligten offensichtlich, dass die Kommunisten sich einen Spaß auf Kosten der SA erlaubten. Es war eben nicht ihre Absicht möglichst viele ihrer Gegner zu verletzten oder gar zu töten, was von den Nationalsozialisten ebenfalls registriert wurde, da sie ihrerseits nur improvisierte Waffen wie Stuhlbeine oder Krüge einsetzten. Dieser Fall verdeutlicht somit die Bedeutung von ungeschriebenen Regeln und Verhaltensnormen, die trotz der allgemein vorhandenen Gewaltbereitschaft von beiden Seiten beachtet werden.35 34 Vgl. GStA PK, I. HA, Rep. 84a, Nr. 51829, Bl. 38ff. 35 Siehe Collins (2008): Violence, S. 274ff. Das eigentlich schwer verständliche Verhalten der Wirtstochter (warum ist sie es, die die Konfrontation eskaliert, obwohl niemand sie persön-

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Im Unterschied zu oben beschriebenen Fällen, in denen wie bei v. Henke, Klaffert, Bauschen, Oetting, sowie Selenowski und Schumann bei nächtlichen Auseinandersetzungen auf der Straße Stich- und Schusswaffen eingesetzt wurden, spielte sich der Fall Breitenbach in einem erleuchteten, klar abgegrenzten Raum ab, was die Situation für alle Beteiligten wesentlich übersichtlicher machte und überhaupt erst die Inszenierung ermöglichte. Umgekehrt erscheint es für die Beteiligten in den anderen Fällen aufgrund der hohen Unübersichtlichkeit der Situation legitim ‚schwere’ Waffen einzusetzen, um so die (für alle Beteiligten) ungewisse, höchst bedrohliche Situation für sich zu entscheiden.36 STAHLHELM – DUELLE OHNE FAIRNESS In Abgrenzung zu Nationalsozialisten und Kommunisten lassen sich einige Besonderheiten im Verhalten der Stahlhelmer in extremen Gewaltsituationen feststellen. Grundsätzlich muss jedoch zunächst konstatiert werden, dass es auch zahlreiche Gemeinsamkeiten gibt, wie sich etwa anhand des Falles von Emil Krell zeigen lässt. In der Kleinstadt Delitzsch, die damals zu Preußen und heute zu Sachsen gehört, war es im Mai 1924 wiederholt zu harten Auseinandersetzungen zwischen Kommunisten und Angehörigen der Rechtsverbände gekommen. Als die Kommunisten nun in der Nacht vom 12. auf den 13. Mai eine größere Versammlung mit etwa 60–70 Personen in einem Lokal abhielten, machte sich eine Gruppe von etwa 20 Stahlhelmern und Mitgliedern anderer Rechtsverbände auf den Weg zum Lokal. Sie hatten gerüchteweise gehört, dass einige ihrer Kameraden von den Kommunisten überfallen und in das Lokal verschleppt worden seien und hatten sich daher entschlossen die Männer zu befreien. Nun hatte es einen solchen Vorfall nicht gegeben und niemand war verschleppt worden. Im Kontext der vergangenen und noch drohenden Auseinandersetzungen wurde den Gerüchten aber Glauben geschenkt. Es kam vor dem Lokal zu Anpöbeleien, Steinwürfen und schließlich attackierten die Kommunisten aus ihrer deutlichen Überzahl heraus die Angreifer mit harten Gegenständen. Hierbei erstach einer der Stahlhelmer den Kommunisten Krell, nachdem der Stahlhelmer zur Flucht angesetzt hatte,

lich bedrohte?) wird mit Collins Perspektive ebenfalls klarer. Von ihr wird in jedem Fall keine aktive Beteiligung an physischen Kämpfen erwartet, sodass es für sie kein unmittelbares Risiko bedeutet einen solchen Kampf herbeizuführen. Aus demselben Grund fällt ihr (gewissermaßen aus der Sicherheit der „Heimatfront“) die rhetorisch-ideologische Verachtung des kommunistischen Feindes leichter als den eigentlichen Kämpfern der SA, die wie beschrieben betont gelassen reagierten (siehe ebd., S. 66f.). 36 Hinsichtlich der besonderen Bedrohungssituationen von nächtlichen Begegnungen auf der Straße bietet Collins das Fallbeispiel eines Samurais aus dem 19. Jahrhundert. Anders als den Kommunisten und SA-Männern ist es dem Samurai als professionellem Gewalttäter aber möglich, die in seiner Wahrnehmung extrem bedrohliche Konfrontation mit einem fremden Samurai äußerlich ungerührt zu überstehen, da er sich seine überlegenen Waffenfertigkeiten vergegenwärtigt und damit Selbstvertrauen erzeugt (siehe Collins (2008): Violence, S. 201f.).

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aber von mehreren Kommunisten umstellt worden war. Da seine Identität nicht ermittelt werden konnte, kam es zu keiner Verurteilung.37 Abgesehen von dem Umstand, dass von keiner Seite Schusswaffen eingesetzt wurden, erinnert der Fall stark an die Handlungsabläufe in den Fällen Klaffert, Renz oder Bauschen. Stets kam es im Kontext von nächtlichen, sehr unübersichtlichen Auseinandersetzungen zwischen größeren Gruppen zu den Gewaltakten, ohne dass konkrete Täter hätten ermittelt werden können. Auch im Fall Kubow wurde der Überfall auf das Reichsbanner-Lokal mit gleichlautenden Gerüchten motiviert, obwohl es in keinem der hier besprochenen oder dem Autor ansonsten bekannten Fälle (vor 1933!) jemals zu einer solchen Verschleppung gekommen ist. Die Gerüchte dienten denn auch lediglich dazu, das entsprechende Vorgehen zu legitimieren und wurden wahrscheinlich nicht einmal von allen Beteiligten geglaubt.38 Allerdings zeigt das Geschehen im Fall Krell nicht das Besondere am Verhalten der Stahlhelmer, was (wieder ähnlich zum Fall Bauschen) daran liegen könnte, dass an den Auseinandersetzungen nicht nur Stahlhelmer, sondern auch Mitglieder anderer Gruppierungen beteiligt waren. Das Besondere liegt hingegen darin, dass die Stahlhelmer i.d.R. nicht aus größeren Gruppen heraus extreme Gewaltakte ausführten, sondern allein oder in Paaren. Dieses Grundmuster findet sich bei fast allen nun zu besprechenden Fällen. So war es am 9. Mai 1925 im brandenburgischen Oberberg, welche regional als Arbeiterstadt bekannt war, zu vielen kleineren Auseinandersetzungen gekommen als Rechtsverbände eine Demonstration in dem Ort veranstaltet hatten und hierzu auch zahlreiche Stahlhelmer aus Nachbarorten angereist waren. Vor einer Gastwirtschaft, die mehrere Stahlhelmer beherbergte, hatte der Stahlhelmer Bruno Tietz zunächst einen jungen Mann angerempelt und ihn mit seiner Pistole gegen das Kinn geschlagen. Hieraufhin waren zahlreiche Reichsbannermitglieder herbeigeeilt und Tietz eröffnete das Feuer auf sie. Auch der Stahlhelmer Gustav Adolf Tietze, der Tietz die ganze Zeit über begleitet hatte, schoss, wodurch Erich Volkmann und Georg Stolzmann getötet und vier weitere Personen schwer verletzt wurden. Ein Gericht entschied später auf Notwehr.39 Ebenfalls auf Notwehr wurde in den Fällen von Peter Lohmar und Felix Doktor entschieden, auch wenn die jeweiligen Tathergänge sich deutlich vom eben beschriebenen Fall unterscheiden. So wurde der Stahlhelmer Leo Bergheim (*1900) in der Nacht vom 19. auf den 20. Juni 1926 auf dem Nachhauseweg von dem RFB-Führer Anton Weiss angepöbelt, weil er das Lied „Hakenkreuz am Stahlhelm“ gepfiffen hatte. Weiss rief weitere RFB-Mitglieder herbei und es be-

37 Vgl. GStA PK, I. HA, Rep. 84a, Nr. 52297, Bl. 5ff. 38 Collins beschreibt eine ähnliche Dynamik von Gruppengewalt anhand von Fällen ethnischer Ausschreitungen, die in ihren typisierten Ablauf dem eben genannten entsprechen, d.h. 1) Provokation, 2) Anspannung/Gerüchte, 3) Ausbruch der Gewalt. Phase Zwei schließt hierbei durchaus die bewusste emotionale Manipulation der eigenen Anhänger durch ihre Führer ein (siehe Collins (2008): Violence, S. 115–121). 39 Vgl. Vermerk des RKO vom Juli 1925, in: BArch R1507/3066, Bl. 142ff.

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gann eine Hetzjagd auf Bergheim. Dieser hatte seine Pistole gezückt und auf seiner Flucht wiederholt Schüsse abgegeben, was seine Verfolger aber nicht abschreckte. Als Bergheim schließlich umstellt wurde, feuerte er erneut mehrmals. Hierdurch wurde der Kommunist Lohmar tödlich getroffen. Bergheim hingegen entwendete man die Waffe, woraufhin er mit Stockschlägen stark misshandelt wurde.40 Mit gleichen juristischen Konsequenzen verlief ein Zwischenfall wenige Tage später in Breslau. Dort kam es in der Nacht vom 28. auf den 29. Juni zu einer Anpöbelei auf der Straße als Doktor und zwei weitere Reichsbannermitglieder auf die Stahlhelmer Erich Schön und Paul Magiera (*1895) trafen. Alle Männer hatten vorher Gaststätten besucht und waren auf dem Nachhauseweg. Ihre jeweilige politische Orientierung war anhand von Kleidung und Abzeichen deutlich zu erkennen. Nach einem Wortwechsel kam es zu einer Rangelei zwischen Schön und einem von Doktors Begleitern, bei der aber niemand verletzt wurde. Doktor hingegen hatte sich Magiera bis auf wenigen Schritt genähert. Dieser zog seine Pistole und schoss Doktor aus nächster Nähe in die Brust, wie ein ballistisches Gutachten feststellte.41 Ob die jeweiligen juristischen Beurteilungen nun korrekt waren oder nicht, kann hier nicht geklärt werden. Die Fälle zeigen aber ohne weiteres, dass Personen, die Notwehr für sich in Anspruch nahmen, ebenfalls provozierend und gewaltbereit auftreten konnten. Sowohl Bergheim als auch Magiera waren schwer bewaffnet gewesen. Das nächtliche Pfeifen eines rechtsradikalen Liedes in einer Arbeitergegend stellt ferner ebenso eine Provokation dar, wie ein nächtliches Wortgefecht im angetrunkenen Zustand. Wichtig ist zudem die Beobachtung, dass beide Täter nicht in größeren Gruppen gehandelt hatten, worauf noch zu sprechen sein wird. Auch der Fall des Reichsbannermannes Peter Erdmann begann mit einer nächtlichen Provokation durch Stahlhelmer, wobei diesmal die späteren Täter aus einer Gruppe von etwa 20 Stahlhelmern heraus agierten. Am Abend des 28. Juli 1926 besuchte besagte Gruppe unter der Leitung des Stahlhelmführers Hermann Krumbiegel (*1889) ihren Kameraden Wilhelm Vobis (*1908), der bei einer Schlägerei zwei Tage zuvor verletzt worden war, in dessen Haus, welches sich in einer Arbeitergegend befand. Laut späterem Bekunden der Angeklagten handelte es sich lediglich um einen Krankenbesuch Krumbiegels, welcher jedoch ob der angespannten Lage nicht allein kam. Abgesehen von ihrem Anführer trug jedoch keiner der Stahlhelmer Uniform oder Abzeichen und man sah davon ab sich in einer geschlossenen Gruppe zu bewegen, sondern ging in Gruppen zu zwei oder drei Mann. Den Anwohnern fielen die Stahlhelmer trotz dieser Maßnahmen dennoch schnell auf, da ihnen deren Gesichter nicht bekannt waren und es zuvor Gerüchte gegeben hatte, dass der Stahlhelm eine Art Racheaktion für Vobis plane. Daher hatte nicht nur das Reichsbanner, sondern auch der RFB einige Männer 40 Vgl. GStA PK, I. HA, Rep. 84a, Nr. 52277, Bl. 15ff. 41 Vgl. GStA PK, I. HA, Rep. 84a, Nr. 55134, Bl. 117ff..

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mobilisiert. Da diese herbeigerufenen Personen jedoch ebenfalls nicht alle aus der Gegend stammten und daher als Fremde auffielen, vergrößerte sich hierdurch das Bedrohungsgefühl für die Anwohner zusätzlich. Statt der tatsächlichen 20 Stahlhelmer wurde angenommen, dass bis zu 60 Mann gekommen seien, um Rache zu nehmen. Krumbiegel absolvierte seinen Krankenbesuch ohne Vorkommnisse und wartete zwecks Abreise mit zwei Begleitern an einer Straßenbahnhaltestelle. Hier entwickelte sich jedoch nach Pöbeleien eine erneut sehr unübersichtliche Massenschlägerei, bei der neben Hieb- und Stichwaffen auch Pistolen eingesetzt wurden. Das Geschehen hatte jedoch kein klares Zentrum, da sich die Stahlhelmer ja in kleinen Gruppen aufgestellt hatten. Wie Erdmann genau zu Tode kam, konnte aufgrund unvollständiger und widersprüchlicher Zeugenaussagen nicht geklärt werden. Sehr interessant war gleichwohl das Verhalten der Brüder des Verletzten Wilhelm Vobis, die nicht Teil des Stahlhelmzuges gewesen waren, sondern sich in der Familienwohnung aufgehalten hatten. Nach dem Beginn der Schlägerei nutzten die Brüder Vobis die allgemeine Unordnung offenbar, um persönliche Rechnungen mit ihren Nachbarn zu begleichen. Christian Vobis (*1905) stach zwei ihm bekannte Kommunisten nieder, mit denen er kürzlich im Streit gelegen hatte. Beide Männer, die lebensgefährlich verletzt wurden, hatten Vobis nicht bedroht und versucht sich von dem Geschehen zu entfernen. Auch der mittlere Bruder Josef Vobis (*1906) nutzte das Getümmel für denselben Zweck. Er hatte eine Pistole gezückt, vorgeblich um sich nach dem Ausbruch der Schlägerei zu verteidigen, obwohl er aus eigenem Antrieb heraus seine Wohnung verlassen hatte. Als eine mit ihm verfeindete Nachbarin ihn beschimpfte, lief er auf sie zu und schlug ihr mit der Pistole ins Gesicht. Kurz darauf wiederholte er dies mit einer zweiten Nachbarin.42 Dieser Vorfall verdeutlicht das wesentliche Motiv hinter dem allgemein zu beobachtenden Verhalten der Stahlhelmer. Das Ausüben von extremer Gewalt durch Einzelpersonen oder Zweiergruppen trägt deutliche Züge eines Duells. Was fehlt ist selbstverständlich der stark formalisierte Rahmen von Duellen zwischen Adligen oder Studenten, wie sie in den Jahrhunderten zuvor üblich waren.43 Auch wenn die Stahlhelm-Täter nicht zwingend das damals bereits antiquierte Wertemodell eines Adeligen vor Augen gehabt haben müssen und ebenfalls nicht an einem ‚fairen’ Kampf mit einem chancengleichen Gegner interessiert sind, geht es ihnen offenkundig darum, dass das Opfer weiß, wer ihm geschadet hat und das mögliche Zuschauer wissen, wer die Gewalt ausübte. Anders als SA- oder RFBMänner handeln die Stahlhelmer nicht in großen Gruppen. Dies ermöglicht zwar eine wesentlich zuverlässige Identifizierung der Täter durch Polizei und Justiz. Aber hinsichtlich des sozialen Prestiges, welches die Gewalttat für den Täter bringt, ist eine individuelle Konfrontation deutlich ertragreicher. Von Magiera ist 42 Vgl. GStA PK, I. HA, Rep. 84a, Nr. 52267, ab Bl. 73. 43 Siehe Collins (2008): Violence, S. 207–220. Diese Verhaltensform verlor durch die Demokratisierung und simultane Abwertung der Adelskultur ihren sozialen Wert bis sie schließlich durch die Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols verdrängt wurde.

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bekannt, dass er Wiederholungstäter war und auch Christian Vobis war in späteren Jahren erneut in extreme Gewalttaten verwickelt. So schoss er 1927 nach einer kurzen Hetzjagd einen Kommunisten mit den Worten nieder: „Du kennst wohl Vobis noch nicht, Du sollst Vobis kennen lernen.“44 Wie bereits im Fall Erdmann geht es Vobis im Wortsinne darum klarzustellen, dass er es ist der die Gewalt ausübt und damit Macht über eine andere Person hat. Gleichzeitig macht dieser Zusammenhang die Beschränkung dieser Gewaltstrategie deutlich, da die hohe Erkennbarkeit von Wiederholungstätern diese zu einem Ziel der Justiz und in Magieras Fall des öffentlichen Protestes macht. So war der Freispruch Magieras Anlass für größere Demonstrationen des Reichsbanners in Breslau, zu denen nicht nur Tausende Mitglieder, sondern auch ebenso viele ‚normale‘ Bürger hinzustießen.45 Dieses Duellanten-Verhalten der Stahlhelmer lässt sich abschließend am Fall der Reichsbannermänner Karl Tietze und Richard Wollank konkretisieren. Am Abend des 25. Juni 1927 durchfuhren nacheinander und in einigen zeitlichen Abständen mehrere Kraftwagen des Reichsbanners das brandenburgische Arensdorf. Die Reichsbannermänner waren auf dem Weg zu einer Gautagung im nahen Frankfurt/Oder. Die ersten Kraftwagen hatten das Dorf ohne besondere Vorkommnisse durchquert. Wiederum in kürzerem Abstand passierten nun jedoch einzelne Radfahrer des Reichsbanners das Dorf, wobei es zu Pöbeleien mit Anwohnern kam, was schließlich in eine Schlägerei umschlug. Abgesehen von leichten Verletzungen war der Vorfall glimpflich ausgegangen. Die Reichsbannermänner zogen ab. Der Stahlhelmer August Schmelzer (*1898) hatte bei der Schlägerei eine leichte, aber blutende Kopfverletzung erlitten. Er rannte in das Haus seiner Eltern, brach dort den Waffenschrank des Vaters Paul Schmelzer (*1873) auf und verfolgte die Reichsbannermänner mit einem Jagdgewehr. Hierbei bildete sich eine Menschentraube um Schmelzer, die ihn, von wenigen Ausnahmen abgesehen, anfeuerte. Auch der Vater Paul stachelte seinen Sohn wiederholt dazu an, auf die Reichsbannermänner zu schießen. Als Schmelzer in Schussreichweite war, schoss er insgesamt vier Schrotladungen auf die sich entfernenden Reichsbannermänner ab. Infolge der Schussverletzungen starben Tietze und Wollank, während weitere Mitglieder des Bundes teils schwer verletzt wurden.46 Was hier geschieht ist keine umfängliche Imitation eines Adelsduells, aber Schmelzer reagiert auf eine Ehrverletzung ebenfalls mit einer in diesem Fall tödlichen Gewalteskalation. Es fehlt insbesondere das Element der Fairness, welches

44 GStA PK, I. HA, Rep. 84a, Nr. 52269, Bl. 18. Vobis wurde wegen versuchten Totschlags zu drei Jahren und drei Monaten Haft verurteilt. 45 Siehe GStA PK, I. HA, Rep. 84a, Nr. 55134. Dort Polizeiberichte über die Demonstrationen und weitere Protestnoten des Reichsbanners an den preußischen Justizminister. 46 Vgl. GStA PK, I. HA, Rep. 84a, Nr. 52651, Bl. 71ff. Schmelzer wurde gegen Totschlags zu fünf Jahren verurteilt, aber aufgrund von Zweifeln an seiner geistigen Gesundheit schon nach kurzer Haftzeit entlassen. Tietze starb am Tag des Vorfalles, während Wollank mehrere Wochen später seinen Verletzungen erlag.

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in ausgeglichenen Duellen durch eine formalisierte Herausforderung, deren gegenseitige Akzeptanz und einen sekundierten Schlagabtausch gewährleistet wird. Stattdessen sorgen die Sekundanten in den Fällen von August Schmelzer, Magiera, Tietz und Christian Vobis (also Paul Schmelzer, Schön, Tietze und Josef Vobis) lediglich dafür, dass der Duellant ungestört in seiner Gewaltausübung bleibt. Sie halten ihnen den Rücken frei. Für die Duellanten besitzen deren jeweilige Opfer offenbar keine gleichwertige Ehre, sodass ihnen auch kein fairer Kampf gewährt werden muss. Weitere Besonderheiten der Stahlhelm-Täter sind interessant. Schmelzer, Magiera und Bergheim sind vergleichsweise alt, also Ende zwanzig / Anfang dreißig. Sie sind zudem vergleichsweise kompetente Gewalttäter und verfügen als Förster (Bergheim) oder Weltkriegsteilnehmer (Schmelzer, Magiera) über gewisse Waffenfertigkeiten. Schmelzer gelingt es unter extremen Stress in wenigen Sekunden seine Waffe viermal zielgerichtet abzufeuern und nachzuladen. Die oben erwähnten kommunistischen oder nationalsozialistischen Täter waren zum Tatzeitpunkt – soweit bekannt und lediglich mit einer Ausnahme – Anfang bis Mitte zwanzig und hatten nicht am Weltkrieg teilgenommen. Auch benutzten die hier namentlich bekannten NS- oder KPD-Täter relativ häufig ihre Fäuste oder Messer (Ulbrich, Schütz, Behnke, Schmidt), was auf eine allgemein niedrigere Gewaltkompetenz schließen lässt. Der Schusswaffengebrauch ist zudem insgesamt unprofessioneller als bei den Stahlhelmern. Es wird mit der Waffe unkontrolliert gedroht und gefuchtelt, in die Zimmerdecke oder ungefähre Richtung des Gegners gefeuert, während einzelne Stahlhelmer (Tietz, Josef Vobis) ihre Schusswaffen sogar als Schlagwerkzeuge gebrauchen, was auf eine relativ hohe Gewaltkompetenz schließen lässt. KONSEQUENZEN FÜR DEN SCHUTZ DER REPUBLIK All die oben beschriebenen Charakteristika machen eines deutlich: ein Bürgerkrieg oder auch nur die Vorstufe dazu findet im Untersuchungszeitraum nicht statt.47 Nationalsozialisten und Kommunisten sind aufgrund ihrer niedrigen Ge-

47 Anders Wirsching (1999): Bürgerkrieg, Blasius (2008): Ende u. der Beitrag von Thomas Schubert in diesem Band, wo jeweils das ideologisierte Sprechen bzw. Schreiben über Gewalt in Zeitungen, politischen Programmschriften und Philosophierstuben untersucht wird, aber diese zeitgenössische Sprache mitunter nicht ausreichend hinterfragt wird. Wirsching räumt ein, dass es in Deutschland zwar keinen „Bürgerkrieg“ im militärischen Wortsinne gegeben habe, aber das damalige allgemeine Bedrohungsgefühl gleichwohl mit diesem Begriff untersucht werden könne, wobei er sich stark auf Carl Schmitts Freund-Feind-Theorie bezieht (siehe Wirsching (1999): Bürgerkrieg, S. 22 u. 34ff.). Dass selbst Kommunisten und Nationalsozialisten aber keineswegs nach diesem Schema des rücksichtslosen Mordens statt Argumentierens und Interagierens handelten, wurde hier gezeigt. Schmitts vielzitierte Theorie ist lediglich ideologisches Sprechen über die vermeintliche Bestialität des Feindes und die dementsprechende politiktheoretisch verbrämte ‚Erkenntnis‘ keine Rücksicht auf diesen

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waltkompetenz nicht in der Lage, die Gewalttätigkeiten über einen längeren Zeitraum aufrechtzuerhalten. Die Auseinandersetzungen mit tödlichem Ausgang werden nach den ersten Opfern meist sofort abgebrochen. Die beteiligten Personen oder Gruppen fliehen, unabhängig davon, ob sie ‚siegen’ oder nicht. Dass hieraus ein Gewaltakt entsteht, der nicht nur wenige Sekunden oder Minuten, sondern Tage und Wochen oder wenigstens Stunden anhält – sprich eine Schlacht, ein Massaker oder auch nur ein zweiseitiger Schusswechsel – ist aus einer mikrosoziologischen Perspektive heraus sehr unwahrscheinlich bis unmöglich. Es handelt sich vielmehr um tödliche Konflikte, die spontan ausbrechenden Bandenkämpfen oder ethnischen Ausschreitungen im Kleinformat ähneln, wobei insbesondere die Nationalsozialisten und Kommunisten mit ihren Markierungen in Form von Abzeichen, Mützen und ähnlichem als Pseudo-Ethnien auftreten. Die individualistischeren Stahlhelmer hingegen üben tödliche Gewalt i.d.R. überhaupt nicht aus Gruppen heraus aus, da sie das soziale Prestige der Gewalttaten nicht primär von ihrem Verband einfordern, sondern von der Nachbarschaft, der Stadt- oder Dorfgemeinschaft. Ihr Elitestatus soll von der breiteren Gesellschaft anerkannt werden und nicht nur von einer Subgruppierung. Ausnahmesituationen entstehen lediglich dann, wenn es nicht gelingt die elitäre Abgrenzung zu den Nationalsozialisten aufrecht zu erhalten. Insgesamt gilt somit die Feststellung, dass eine weitere Eskalation der Gewalt auf der Mikroebene nicht ohne eine signifikante Veränderung der Rahmenbedingungen möglich erscheint. Zwar fand ab 1929 eine personelle Ausweitung der Wehrverbände und insbesondere der SA statt48, aber dies konnte nur die Anzahl der Zusammenstöße erhöhen, nicht ihre Intensität und tatsächlich hat sich erst nach der Machtergreifung durch die geänderte Rolle des Staates die Gewaltsituation grundlegend gewandelt.49 Für eine Bewertung der Reaktionen des preußischen Staates auf die politische Gewalt macht dies einen grundlegenden Unterschied. Auf einen Bürgerkrieg hätten die Verantwortlichen deutlich anders reagieren müssen, als auf die stattdessen festgestellten Gewaltformen. Das Grundproblem bei der Verhinderung solcher Kleinstkämpfe ist die personelle Polizeipräsenz. Wie gesehen reichte im Fall Breitenbachs bereits ein einzelner Polizist aus, um die Gewalttaten zwischen mehr als 40 Personen sofort abzubrechen. Auch in allen anderen Fällen, in denen die Akten das Eintreffen von Polizisten oder Überfallkommandos beschreiben, hatte die Polizeipräsenz denselben Effekt. Zur Eskalation auf der Mikroebene kommt es dann, wenn die Beteiligten sich gewissermaßen unbeobachtet von der Staatsgewalt

nehmen zu müssen, was nicht mit dem übereinstimmt wie tatsächliche Menschen einander töten. Zur Auseinandersetzung mit Schmitt ferner der Beitrag von Ludwig Decke in diesem Band . 48 Siehe Siemens (2017): Stormtroopers, S. 36ff. 49 Auch Schumann sieht eine Kontinuität zwischen der politischen Gewalt von 1924 bis zur Machtergreifung und verwirft ebenso die Bürgerkriegsthese, wobei es ihm vor allem um die absolute Zahl der tödlichen Gewalttaten geht (siehe Schumann (2001): Gewalt, S. 364ff.); also auf der Makroebene und nicht der mikrosoziologischen Ebene argumentiert wird.

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wähnen. Im Fall Kubow wurde ein involvierter Polizist später dienstlich belangt, da er sich vom zukünftigen Tatort entfernt hatte, obwohl der SA-Überfall auf das Reichsbannerlokal zu erwarten war.50 Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass wohl auch in diesem Fall die Präsenz eines einzelnen Polizisten ausgereicht hätte, um die tödliche Eskalation zu verhindern. Warum ist das der Fall? Verachteten Nationalsozialisten und Kommunisten nicht den Weimarer Staat und insbesondere das republikanische Preußen? Auf einer ideologischen Ebene trifft dies zu, aber nicht auf der Mikroebene der einzelnen Gewalttaten. Extreme Gewalt erfordert von den Beteiligten ihre vollste emotionale Aufmerksamkeit. Natürlich können Nationalsozialisten und Kommunisten auch unmittelbaren Hass gegen die Polizei im allgemeinen und konkrete Polizisten empfinden und entsprechende Gewaltakte ausführen, doch in den oben besprochenen Situationen ist nicht die preußische Polizei der Konfliktpartner. In diesen Kämpfen sind die Polizisten Außenseiter, „not part of the show, hence not socially appropiate targets“.51 Eine personelle Verstärkung der Polizei und eine dementsprechend erhöhte Polizeipräsenz insbesondere durch nächtliche Patrouillen hätte folglich die politische Gewalt deutlich eingeschränkt. Mit dem Reichsbanner als privater Republikschutzorganisation stand zudem ein Personalreservoir für die Polizei bereit. Eine ‚Verstaatlichung‘ dieses Potentials wurde von Seiten des Reichsbanners zwar angestrebt, aber insbesondere von Severing als Aufweichung des staatlichen Gewaltmonopols abgelehnt.52 Hier muss jedoch eine Doppelmoral im preußischen Republikschutz konstatiert werden. In Fragen des Grenzschutzes wurde schließlich eine umfängliche Kooperation mit dem Stahlhelm und selbst einzelnen Nationalsozialisten gesucht.53 Diese Heranziehung lässt sich angesichts des hier festgestellten Gewaltverhaltens der Stahlhelmer durchaus rechtfertigen. Ihre Beteiligung im Grenzschutz verlieh den Stahlhelmern den angestrebten Elitestatus, den sie folglich nicht über extreme Gewaltakte etablieren mussten, was in der Tat eine erfolgreiche „Zähmung“ eines rechtsradikalen Gewaltpotentials darstellt. Im starken Gegensatz hierzu stehen die Nationalsozialisten, welche aufgrund ihrer Bindung an eine bandenähnliche Organisation nicht für den Staatsdienst geeignet waren. Während somit für den Schutz gegen einen ‚äußeren Feind’ auf das Personalreservoir der Wehrverbände zurückgegriffen wurde, war der Freistaat nicht bereit oder in der Lage denselben Schritt gegen die ‚inne50 Siehe GStA PK, I. HA, Rep. 77, St. 18, Nr. 287, Bl. 42ff. 51 Collins (2008): Violence, S. 364. Dort beschreibt Collins eine Auseinandersetzung zwischen zwei Teenager-Gangs, die trotz ihrer zahlenmäßigen Stärke und schweren Bewaffnung ihre Auseinandersetzung auf einem Schulsportplatz sofort abbrechen und fliehen, als ein (völlig unbewaffneter) Hausmeister durch den Lärm aufgeschreckt wird und die Szene betritt. 52 Ausführlicher zu dieser Thematik bereits Elsbach (2017): Schwarz-Rot-Gold. 53 Siehe Bergien (2012): Wehrkonsens, insb. S. 284–301 u. 323–336. Dort fragte Bergien, ob die Beteiligung von Stahlhelmern auch pazifizierende Wirkungen gehabt haben könne (siehe ebd., S. 336), was hier – zumindest pauschal – bejaht werden kann. Zur Frage der „Zähmung“ des nationalkonservativen Lagers in der Weimarer Republik auch der Beitrag von Andreas Behnke in diesem Band.

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ren Feinde‘ der Republik zu tun. Dies zeigt den verderblichen Einfluss von Ideologien bei der Formulierung und Ausführung staatlicher Strategien zur Bekämpfung politischer Gewalt, während im Gegensatz hierzu Ideologien auf der Handlungsebene politischer Gewalt eine überraschend kleine Rolle spielen.

QUELLEN BArch, R1507, Nr. 3066. GStA PK, I. HA, Rep. 77, St. 18, Nr. 287. Rep. 77, Tit. 4043, Nr. 120. Rep. 84a, Nr. 51585, 51829, 51899, 52001, 52252, 52267, 52269, 52277, 52286, 52297, 52298, 52651, 52839, 53075, 54954, 54955, 55134.

LITERATUR Albrecht, Thomas: Für eine wehrhafte Demokratie. Albrecht Grzesinski und die preußische Politik in der Weimarer Republik, Bonn 1999. Alexander, Thomas: Carl Severing. Sozialdemokrat aus Westfalen mit preußischen Tugenden, Bielefeld 1992. Bergien, Rüdiger: Die bellizistische Republik. Wehrkonsens und „Wehrhaftmachung“ in Deutschland 1918–1933, München 2012. Bessel, Richard: Militarisierung und Modernisierung. Polizeiliches Handeln in der Weimarer Republik. In: Lüdtke, Alf (Hrsg.): „Sicherheit“ und „Wohlfahrt“, Frankfurt a. M. 1992, S. 323– 343. Blasius, Dirk: Weimars Ende. Bürgerkrieg und Politik 1930–1933, Göttingen 2005. Böhles, Marcel: Im Gleichschritt für die Republik. Das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold im Südwesten, 1924 bis 1933, Essen 2016. Büttner, Ursula: Weimar. Die überforderte Republik 1918–1933, Bonn 2008. Collins, Randall: Violence. A Micro-sociological Theory, Princeton 2008. Ders.: Conflict Sociology. A Sociological Classic Updated, bear. von Stephen K. Sanderson, Boulder 2009. Dams, Carsten: Staatsschutz in der Weimarer Republik. Die Überwachung und Bekämpfung der NSDAP durch die preußische Polizei von 1928 bis 1932, Marburg 2002. Dreyer, Michael: Weimar als wehrhafte Demokratie. Ein unterschätztes Vorbild. In: FES Thüringen (Hrsg.): Die Weimarer Verfassung, Erfurt 2009, S. 161–189. Elsbach, Sebastian: Schwarz-Rot-Gold. Das Reichsbanner im Kampf für die Weimarer Republik.In: Braune, Andreas / Dreyer, Michael (Hrsg.): Republikanischer Alltag,. Die Weimarer Demokratie und die Suche nach Normalität, Stuttgart 2017, S. 203–216. Fülberth, Johannes: „… wird mit Brachialgewalt durchgefochten“. Bewaffnete Konflikte mit Todesfolge vor Gericht – Berlin 1929 bis 1932/1933, Köln 2011. Graf, Christoph: Politische Polizei zwischen Demokratie und Diktatur. Die Entwicklung der preußischen Politischen Polizei vom Staatsschutzorgan der Weimarer Republik zum Geheimen Staatspolizeiamt des Dritten Reiches, Berlin 1983. Jasper, Gotthard: Der Schutz der Republik. Studien zur staatlichen Sicherung der Demokratie in der Weimarer Republik 1922–1930, Tübingen 1963.

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KRIEGSERINNERUNG UND MILITARISTISCHER SPRACHGEBRAUCH PARAMILITÄRISCHER VERBÄNDE ZUR ZEIT DER WEIMARER REPUBLIK Sebastian Gräb 1. EINLEITUNG In den folgenden Ausführungen soll auf die sehr weitreichenden Folgen des Ersten Weltkrieges eingegangen werden, die nicht nur im ökonomischen und politischen Bereich, sondern v. a. auch im Hinblick auf Mentalitäten und Deutungsmuster enorme Auswirkungen gehabt haben.1 So war die Weimarer Republik von Anfang an mit dem Odium des verlorenen Kriegs belastet, in dessen Folge es in großen Teilen der deutschen Bevölkerung zu depressiver Leere und Gewaltverherrlichung kam.2 Dabei ist es wichtig zu verstehen, dass nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland keine Entmilitarisierung der Gesellschaft stattfand, sondern ganz im Gegenteil, trotz der lediglich auf 100.000 Mann im Versailler Vertrag beschränkten Reichswehr, mit den paramilitärischen Kampfbünden etwas entstand, was es zuvor nicht gegeben hatte.3 Bei diesen Organisationen handelte es sich um teils bewaffnete militärische Übergangsformen zwischen Veteranenvereinen und (partei-)politischen Verbänden mit Einfluss auf die gesellschaftlichen und ideologischen Auseinandersetzungen in der Nachkriegszeit, die die Kultur der Weimarer Republik nachhaltig prägten. Bereits Sontheimer konnte in seiner wegweisenden Arbeit zum antidemokratischen Denken in der Weimarer Republik aufzeigen, dass das Kriegserlebnis (STH4 08.01.1933) des Ersten Weltkriegs diesen Kampfbünden vielfach als Ausgangspunkt für ihre Agitation diente5 und dies keineswegs nur auf die unmittelbare Nachkriegszeit beschränkt war. Außersprachlich verweisen bereits die Uniformierung, diverse Aufmärsche und Umzüge jener Organisationen auf die Aufrechterhaltung der „Präsenz des Weltkrieges“6. Dieser war auch mehr als zehn Jahre nach dem offiziellen Ende „nirgendwo wirklich aus den Köpfen getilgt und die »Kriegskultur« wurde folglich in die Periode des Friedens

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Vgl. Krumeich (2002): Präsenz des Friedens, S. 7. Vgl. Mosse (1987): Brutalisierung der Politik, S. 128 f. Vgl. Wehler (2009): Deutsche Gesellschaftsgeschichte, S. 384. Zur genauen Auflösung der Abkürzungen siehe nachfolgende Seite. Vgl. Sontheimer (1992): Antidemokratisches Denken, S. 19 und S. 98–100. Krassnitzer (2002): Geburt des Nationalsozialismus, S. 120.

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überführt“7. Durch die Berufung auf das Erlebnis der Front (STH 30.10.1932), das Fronterlebnis (SA 19.11.1932) oder den Frontgeist (STH 11.09.1932) bzw. das Schützengrabenerlebnis (STH 30.10.1932) sowie die Überhöhung der soldatischen Opferbereitschaft (BW September 1932) fand mental keine Entmilitarisierung nach dem Weltkrieg statt, wodurch in den Jahren nach 1918 zumindest ein latenter Militarismus weit verbreitet war.8 Im folgenden Beitrag sollen daher durch linguistische Analysen damals vorherrschende Mentalitätsstrukturen9 und Deutungsmuster auf sprachlicher Ebene rekonstruiert werden, um zu zeigen, inwiefern die untersuchten Verbände auch verbal zur Militarisierung und Gewaltverherrlichung der Weimarer Kultur beigetragen haben. Fernerhin kann diese Ausarbeitung auch als ein Beispiel dafür gelten, wie sprachwissenschaftliche Methoden auf zeitgeschichtliche Fragestellungen angewandt werden können. Mittels eines korpuslinguistischen Zugangs mit dezidiertem Fokus auf der lexikalisch-semantischen Ebene wird exemplarisch der militaristische Sprachgebrauch paramilitärischer Organisationen in der Endphase der Weimarer Republik herausgearbeitet, wobei zu zeigen sein wird, dass es „die Brutalisierung der politischen Sprache [war], die diese Kontinuität des Krieges markierte“10. Die Datengrundlage für die linguistische Untersuchung bildet ein eigens erstelltes Textkorpus mit Verbandszeitungen von fünf ausgewählten paramilitärischen Verbänden aus dem letzten halben Jahr der Weimarer Republik. Da die Texte allesamt in zeitüblicher Fraktur gehalten waren, mussten die ZeitschriftenScans zuerst in einem zeit- und arbeitsintensiven Verfahren durch ein spezielles Texterkennungsprogramm11 für historische Schriften konvertiert und so für ein maschinenlesbares Format aufbereitet werden. Folgende fünf Subkorpora – in alphabetischer Reihenfolge – bilden das „konkrete Textkorpus“12: – Bayernwacht. Organ und Mitteilungsblatt des Landesverbandes der BW.13 – Das Reichsbanner. Die Wochenzeitung der Eisernen Front14 – Der SA.-Mann. Kampfblatt der Obersten SA-Führung der NSDAP15 – Der Stahlhelm. Organ des „Stahlhelm“, Bund der Frontsoldaten16 – Die Rote Front. Organ des Roten Frontkämpferbundes E.V.17

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Krumeich (2002): Präsenz des Friedens, S. 11. Vgl. Sontheimer (1992): Antidemokratisches Denken, S. 93 f. und S. 106–108. Siehe hierzu: Hermanns (1995): Sprachgeschichte als Mentalitätsgeschichte. Reichardt (2005): Gewalt, S. 237. Als ein halbwegs geeignetes Texterkennungsprogramm für Frakturschrift hat sich ABBYYs Recognition Server 3.5 erwiesen. Allerdings stellte sich die OCR-Erkennung nicht als fehlerfreier Prozess heraus, was v.a. auch dem verschachtelten, mehrspaltigen und komplexen Dokumentaufbau geschuldet war. Ausführlich hierzu: Gräb (2018). Busse/ Teubert (1994): Ist Diskurs ein sprachwissenschaftliches Objekt, S. 14. Im Folgenden mit ‚BW‘ abgekürzt. Im Folgenden mit ‚RB‘ abgekürzt. Im Folgenden mit ‚SA‘ abgekürzt. Im Folgenden mit ‚STH‘ abgekürzt.

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Aus forschungspraktischen Gründen wurde das Untersuchungskorpus18 anhand folgender Kriterien zusammengestellt: – Eingrenzung auf einen Untersuchungszeitraum: September 1932 bis Ende Januar 193319. – Beschränkung auf eine homogene Textsorte, da serielle Quellen wie Zeitungen das wichtigste Medium politischer Kommunikation der damaligen Zeit darstellen. – Möglichst vollständige Abdeckung des gesamten politischen Meinungsspektrums der damals existierenden Kampfverbände. 2. MILITARISIERUNG DER POLITISCHEN SPRACHE Ein sprechendes Indiz für die starke militaristische Weltsicht stellen bereits die Verbandsnamen und Eigenbezeichnungen der untersuchten Verbände dar, die allesamt kriegerische Elemente enthalten. So bezeichnet ein „Stahlhelm“ eine militärische Kopfbedeckung aus Metall v.a. zum Schutz vor Granatsplittern, die im Ersten Weltkrieg von nahezu allen europäischen Großmächten erstmals genutzt wurde. „Nach dem Krieg wurde der S. zum Symbol für den Frontkämpfer“20, der „das Ausharren in einer technisierten Materialschlacht mit vorher nie gekannter Zerstörungskraft“21 darstellte. Kein Wunder also, dass der deutschnationale „Stahlhelm. Bund der Frontsoldaten“ (STH) sich dieses militärischen Zeichens, welches als Attribut für Kampferfahrung stand, bediente. Der Name des sozialdemokratisch geführten Kampfverbandes „Reichsbanner“ (RB) rekurriert zum einen auf das Wappenbild des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation in Form eines Feldzeichens, das als militärisches Feldkampfzeichen die Zugehörigkeit zu einer kriegerischen Partei kenntlich macht.22 Zum anderen bezeichnet „Banner“ eine taktische Einheit mittelalterlicher Heere.23 Lehnert spricht in diesem Zusammenhang von der „programmatische[n] Bedeutung des Verbandsnamens im Symbolkampf der Weimarer Republik“24. Auch das Grundwort „Wacht“ in der Eigenbezeichnung der christlich-konservativen „Bayernwacht“ (BW) (ab-

17 Im Folgenden mit ‚RFB‘ abgekürzt. 18 Insgesamt umfasst das Untersuchungskorpus mehr als 1,7 Millionen laufende Wortformen (ohne Annotation). Verwendet wurden die vollständigen Ausgaben (inkl. aller Ressorts). 19 Lediglich bei der Zeitschrift DIE ROTE FRONT, dem Organ des Roten Frontkämpferbundes, wurde der zu untersuchende Zeitraum ausgeweitet, da der Verband bereits im Mai 1929 nach dem sog. „Blutmai“ verboten wurde und seitdem nur noch illegale Ausgaben herausgegeben wurden. 20 Gross (2014): Stahlhelm, S. 864. 21 Schulz (2004): Ästhetisierung von Gewalt, S. 87. 22 Vgl. Buchner (2001): Identität, S. 99. 23 Vgl. Schmitz-Bering (2010): Vokabular des Nationalsozialismus, S. 84. 24 Lehnert (1993): Fragmentierung, S. 82.

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geleitet von ‚Wache halten‘ bzw. ‚Bewachung‘) stammt aus der Militärsprache und bezieht sich im weitesten Sinne auf einen militärischen Wachdienst.25 Beim kommunistischen „Roten Frontkämpferbund“ (RFB) ist die Bezugnahme auf das Weltkriegserlebnis durch die Frontkämpfer ebenfalls offensichtlich, wenn auch freilich durch die Bezeichnung Rote ein klarer klassenkämpferischer Duktus mitschwingt. Auch bei der nationalsozialistischen „Sturmabteilung“ (SA) ist eine offen militärische Komponente impliziert, da es sich auch hierbei um eine uniformierte und bewaffnete Kampftruppe handelte. Wie weit die Militarisierung der Sprache in der deutschen Nachkriegsgesellschaft zur damaligen Zeit bereits vorgedrungen war, wird etwa bei einem Blick in das nationalsozialistische Presseorgan DER SA-MANN erkennbar. Dort findet sich im Anzeigenteil beispielsweise Zigarettenwerbung mit unmissverständlich militaristischem Einschlag. Die Zigarettenprodukte mit den sprechenden Marken wie „Trommler“, „Alarm“, „Sturm“ oder „Neue Front“ können als eindeutige Anspielungen verstanden werden. „Die Werbepropaganda für diese braune Marke verherrlichte den SA-Mann als Helden im Sturm; Zigarette und Verpackung waren sogar mit dem Emblem der SA, einer Sigrune mit dem Buchstaben A, versehen und damit geradezu amtlich beglaubigt.“26

Abb. 2 aus: DER SA-MANN vom 17. September 1932.

Das REICHSBANNER nimmt diese Werbeanzeige sogar zum Anlass für eine explizite Thematisierung in dem Artikel „Die Nazi-Zigarette“ vom 12. November 1932, wo es heißt: Was soll sich z. B. ein ehrsamer Spießer dabei denken, wenn er in seinem Generalanzeiger noch in der vorletzten Woche ‚Sturm‘-Inserate sah mit den Textzeilen ‚Ein gewaltiger Sieg, so hallt es jubelnd jetzt durch unser Vaterland‘ und ‚Der echte Sieger kennt keine Rast‘? Darauf mag vielleicht (vielleicht!) noch ein weniger intelligenter SA.-Mann hereinfallen, andre Leser werden aber mit Recht fragen, wer denn wann und wo gesiegt habe! (RB 12.11.1932).

Dezidiert den Sprachgebrauch der Nationalsozialisten thematisierend, wurde sprachreflexiv-polemisch kommentiert:

25 Vgl. Grimm (1922): Deutsches Wörterbuch, Sp. 159 f. s.v. „Wacht“. 26 Gries (2006): Produkte und Politik, S. 83.

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Die b i l l i g s t e Zigarette der Nazifabrik ist nach Hitler getauft, aber beileibe nicht mit seinem Namen (das könnte dem Geschäft schaden!), sondern mit Hitlers Funktion aus der Zeit, wo er noch nicht Kaiser werden wollte, nämlich mit der Bezeichnung ‚Trommler‘. Dann gibt es noch ‚Sturm‘ zu 5 und ‚Neue Front‘ zu 6 Pfennig für die zahlungsfähigeren Peges (RB 12.11.1932; Herv. i. O.).

Aufschlussreich sind darüber hinaus auch wiederkehrende Rubriken in den untersuchten Mitgliederzeitungen wie „Was wir vom Kriege nicht wissen“ (SA), „Eine Erzählung aus dem Kriege“ (STH), „Eine Kriegserinnerung“ (RB) oder „Mit dem 18. Reserve-Infanterie-Regiment in der Somme-Schlacht“ (BW), an denen ebenfalls deutlich wird, dass die Auseinandersetzung und Erinnerung an den Großen Krieg (STH 25.09.1932) eine zentrale Rolle innerhalb der Veteranenkultur spielte. Gleichzeitig wird eine regelrechte Erinnerungspolitik um diverse Schlachten wie bspw. der an der Somme, in Flandern, Ypern und der Festung Douaumont betrieben. Darüber hinaus findet eine Stilisierung der Schlachtenmythen von Orten wie Verdun, Tannenberg und Langemarck statt. Der letztgenannte „Ortsname wurde noch Jahrzehnte nach dem Krieg als Synonym für unbedingte Opferbereitschaft, Heldenmut und jugendlichen Enthusiasmus gedeutet.“27 Bereits an den unterschiedlichen Versprachlichungen der Kriegserlebnisse werden die verschiedenen Sichtweisen und Deutungsmuster offenbar, etwa wenn im SA-MANN geradezu euphorisch von den Jahren des großen Völkerringens 1914/1918 (SA 10.12.1932) oder dem großen Schicksalskampf der deutschen Nation (SA 10.12.1932) gesprochen wird. Ähnlich lautet auch der Sprachduktus im STAHLHELM, wenn vom Aufbruch der Nation in jenen Augusttagen von 1914 (STH 04.09.1932) die Rede ist. Die ROTE FRONT ist wie gewohnt ideologischeinseitig unterwegs und prangert das kapitalistische Völkermorden von 1914–18 (RFB Dezember 1932) an. Beim REICHSBANNER hingegen sieht man, daß es nach den furchtbaren vier Jahren des Krieges nur Besiegte und keine Sieger gab (RB 12.11.1932). 3. EMPIRISCH-METHODISCHES VORGEHEN: COMPUTERGESTÜTZTE ANALYSE Um jedoch empirisch abgesicherte Aussagen über das vorliegende Sprachmaterial treffen zu können, wurde im Weiteren, wie Bubenhofer dies vorschlägt, eine „quantitativ informierte qualitative Analyse“28 durchgeführt. Diese korpuslinguistische Herangehensweise – zunächst unter quantitativen Gesichtspunkten – ist insofern mit einem stärker analytisch objektivierbaren Erkenntnisgewinn verbunden, da statistische Auffälligkeiten des sprachlichen Materials datengeleitetet identifiziert werden können.

27 Bruendel (2014): Ideologien, S. 292. 28 Bubenhofer (2013): Quantitativ informierte qualitative Diskursanalyse, S. 129.

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Den empirischen Ausgangspunkt der Untersuchung bildet zunächst eine induktiv berechnete Wortliste. Eine solche „automatische“ Erschließung von Vorkommenshäufigkeiten darf als ein wichtiger methodischer Zugang angesehen werden, da diese Vorstrukturierung der sprachlichen Daten das Aufspüren von dominanten und markanten sprachlichen Strukturen erleichtert. Zudem liefern solche quantifizierenden Listen Auskunft über die Relevanz von Themenkomplexen, denn hohe Auftretensfrequenzen eines sprachlichen Ausdrucks können als relativ zuverlässiger Indikator für den Stellenwert des damit bezeichneten Sachverhalts gelten. So lassen sich bereits durch die softwaregestützte „Berechnung“ des typischen Vokabulars der Verbände mit dem Korpustool AntConc29 aus den absoluten Wortfrequenzen Rückschlüsse über die Relevanz von Themen und Konzepten ableiten. Solche thematischen Schlüsselwörter fungieren somit als Indikatoren, da diese in gewisser Weise immer Programme bzw. komplexe Sachverhalte repräsentieren und erste Hinweise für Mentalitäten der untersuchten Verbände liefern. AntConc ist eine Software zur Korpusanalyse, mit der sich empirischstatistische Analysen an elektronisch vorliegenden Texten durchführen lassen. Das Programm bietet eine Reihe von Möglichkeiten, wie bspw. das Erstellen von Wortlisten, d. h. eine automatisch generierte Liste aller Wörter die im Korpus vorkommen, geordnet nach absoluter Frequenz. Auch bei diesem quantitativ fundierten Vorgehen stößt man dabei auf Begrifflichkeiten, die größtenteils aus einem militärischen Bereich stammen, wie nachstehende Tabelle veranschaulicht: Rang 76 108 137 211 214 239 249 325 409 423 429 448 471 580

Wort Kameraden Kampf Front Soldaten Kamerad Armee Krieg Gegner Feind Marsch Kriege Stellung Waffen Kameradschaft

Frequenz 2521 1565 1232 792 780 712 683 506 409 396 392 383 365 306

Rang 838 938 961 969 992 993 1024 1067 1084 1095 1106 1130 1143 1160

Wort Uniform Verteidigung Kommando Kampfe Kompanie Leutnant Artillerie Frontkämpfer Offizier Infanterie Kreuzer Einsatz Kolonnen Wehrsport

29 http://www.laurenceanthony.net/software/antconc/ [Stand: 12.03.2018].

Frequenz 213 192 188 187 182 182 177 170 168 166 165 161 159 157

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Militaristischer Sprachgebrauch der Kampfbünde

Rang 623 631 666 707 709 772 784 802

Wort Befehl Krieges Kämpfer Frontsoldaten Soldat Reichswehr General Kampfes

Frequenz 287 284 271 254 254 233 229 223

Rang 1227 1245 1259 1261 1386 1394 1539 1659

Wort Regiment Major Schlacht Geschütze MG Weltkrieg Gewehr Unteroffizier

Frequenz 148 146 144 143 131 130 115 107

Tab. 1: Frequente Nomen des Untersuchungskorpus aus dem militärischen Bereich30

Insgesamt, so ist zu konstatieren, liegt hier eine starke verbandsübergreifende Verwendung militärischer Terminologie vor, die im Mittelpunkt der Darstellungen stehen. Zahlreiche „Militarismen“ wie bspw. MG als Kurzform für Maschinengewehr, „einer automatischen Waffe, deren Entwicklung […] durch den Ersten Weltkrieg einen enormen Aufschwung nahm“31, sowie die zahlreichen Nennungen der Hauptwaffengattungen Infanterie und Artillerie können als eindeutige Hinweise für den Einfluss der Soldatensprache auf diese Bünde gewertet werden. Mit der Option „Keyword-List“ lässt sich das spezifische Vokabular des Untersuchungskorpus ermitteln, indem es mit dem eines Vergleichskorpus kontrastiert wird. Dabei wird eine Liste von „Keywords“ erstellt, die bezüglich ihrer Frequenz statistisch gesehen ungewöhnlich häufig im Vergleich zu einem Referenzkorpus vertreten sind.32 Als Vergleichskorpus wurde die pazifistische und antimilitaristische Wochenzeitschrift DIE WELTBÜHNE gewählt. Ein Vorteil war, dass dieses zeitgenössische Organ nicht in Frakturschrift gehalten ist, weshalb eine OCR-Erkennung (sog. „schmutziges OCR“ mit einer Erkennungsgenauigkeit von weniger als 95% ohne manuelle Nachkorrektur) relativ einfach durchzuführen war. Auch hier wurde darauf geachtet, dass der Untersuchungszeitraum in etwa deckungsgleich mit dem des Untersuchungskorpus ist, weshalb der komplette Jahrgang 1932 sowie die Ausgaben aus dem Jahr 1933 bis zum Verbot durch die Nationalsozialisten am 7. März 1933 verwendet wurden. Die Größe dieses Referenzkorpus beläuft sich auf mehr als eine Million word token.

30 Die Ränge 1–75 werden von zahlreichen Funktionswörtern belegt. Das erste Substantiv ist Kameraden auf Rang 76. 31 Vgl. Schlosser (2014): Weltkrieg im Spiegel der Sprache, S. 44. 32 Vgl. Bubenhofer (2013): Quantitativ informierte qualitative Diskursanalyse, S. 110.

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Rang 1 11 15 37 39 41 43 47 55 66 98 99 100 109 123 150 165 167 172 177 178 179 187 189 198

Keyness (LLR) 2037,643 616,228 489,088 302,445 290,450 272,574 263,134 253,698 232,748 209,493 161,916 161,208 160,346 157,055 145,369 125,962 117,902 117,416 115,083 113,241 112,485 111,652 106,715 105,982 102,581

Keyword Kameraden Kamerad Front Soldaten Standarte Armee Kampf Kameradschaft Marsch Kämpfer Befehl Kompanie Frontkämpfer Frontsoldaten Kreuzer Kolonnen Kameradschaften Truppe Feind Wehrsport Artillerie Infanterie MG Geschütze Waffen

Frequenz 2521 780 1232 792 346 712 1565 306 396 271 287 182 170 254 165 159 125 283 409 157 177 166 131 143 365

Tab. 2: Militärische „Keywords“ des Untersuchungskorpus im Vergleich zum Referenzkorpus

Auch der Auszug aus dieser Keywordliste33 zeigt nochmals anschaulich, dass ein Großteil der zu Tage tretenden nominalen Wortformen des Untersuchungskorpus aus dem militärischen Bereich stammen (Front, Marsch, Kampf, Befehl, …). Vor allem Kameradschaft ist wohl unbestritten ein zentrales Wort aus dem Verwendungsbereich der Soldatensprache und scheint ein besonders wichtiger Wert bei allen Kampfbünden zu sein.34

33 Die Berechnung des „Keyness-Faktors“ erfolgt auf der statistischen Basis des LogLikelihood-Tests (LLR). Werte größer als 15,13 bedeuten, dass ein Wort hochsignifikant (p