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VON DER BERNOULLISCHEN BRACHISTOCHRONE ZUM KALIBRATOR-KONZEPT
DE DIVERSIS ARTIBUS COLLECTION DE TRAVAUX
COLLECTION OF STUDIES
DE L’ACADÉMIE INTERNATIONALE
FROM THE INTERNATIONAL ACADEMY
D’HISTOIRE DES SCIENCES
OF THE HISTORY OF SCIENCE
DIRECTION EDITORS
EMMANUEL
POULLE
ROBERT
HALLEUX
TOME 80 (N.S. 43)
H F
VON DER BERNOULLISCHEN BRACHISTOCHRONE ZUM KALIBRATOR-KONZEPT Ein historischer Abriß zur Entstehung der Feldtheorie in der Variationsrechnung (hinreichende Bedingungen in der Variationsrechnung)
Rüdiger THIELE
H F
Publié avec le soutien de la Région Wallonne
© 2007 Brepols Publishers n.v., Turnhout, Belgium All rights reserved. No part of this publication may be reproduced, stored in a retrieval system, or transmitted, in any form or by any means, electronic, mechanical, photocopying, recording, or otherwise, without the prior permission of the publisher. D/2007/0095/60 ISBN 978-2-503-52438-2 Printed in the E.U. on acid-free paper
The calculus of variations is the art to find optimal solutions and to describe their essential properties. Mariano GIAQUINTA and Stefan HILDEBRANDT, Calculus of variations (1996).
In der mathematischen Physik ist heuristisch immer das folgende das Hauptprinzip: man denke die extremen trivialen Fälle und variiere dann. David HILBERT, Mathematische Notizhefte, Heft 3 (undatiert)
I am now going to give proofs of the sufficiency of these conditions. We have proved the necessity of them and it remains to prove their sufficiency. This sufficiency proof is a very famous one, due almost uniquely to Weierstrass. Scheeffers about the same time made a sort of proof, apparently independent of Weierstrass, but it is relatively inelegant, not particularly good. It is very interesting, but not nearly as well written as it might be. But aside from that, I really do not know who has a set of sufficiency conditions. Legendre, Jacobi, Lagrange worked at it, but I do not think the Mathematical World really did understand the necessity of sufficiency conditions. They thought when they had the differential equation the problem was solved. It was soon found, that the problem was not solved. They then became satisfied again, but somebody else found exceptions, and so it went on. Even after the discovery of the conjugate point between 1 and 2 exception, they thought they had complete sufficiency for a minimum. Jacobi speaks perfectly confidently in his paper. He thought he had the whole of it. Even Weierstrass, who was a correct theorist, after he had analysed the situation and found a fourth condition thought he had enough. This proof depends upon the Notion of a field. Gilbert A. BLISS, Lecture The Calculus of Variations (1922), University of Chicago
EINLEITUNG
Briest sagte ruhig: “Ach, Luise, laß … das ist ein zu weites Feld”. THEODOR FONTANE, Effie Briest (1895)
Extremales Denken war stets ein Bestandteil mathematischen Überlegens, ebenso die zugehörigen Rechtfertigungen und einschlägige Prinzipien. Man denke nur an das Minimalprinzip des kürzesten Lichtwegs, das bereits HERON VON ALEXANDRIEN (etwa 200 n. Chr.) bei Spiegelungen angewendet hat. Aber erst seit dem 17. Jahrhundert standen mit dem Aufkommen der Infinitesimalmathematik mehr und mehr jene Techniken zur Verfügung, die im 18. Jahrhundert schließlich zur Herausbildung einer eigenständigen Theorie führten, die zunächst als Methode der isoperimetrischen Probleme bekannt war und die später Variationsrechnung1 genannte wurde. Über den Einsatz extremalen Denkens und dessen mögliche Folgen schrieb der Göttinger Gelehrte und Philosoph GEORG CHRISTOPH LICHTENBERG (1742-1799) unter den Stichwörtern “Größte und Kleinste” kritisch: “Dieses Kapitel in der Rechnung des Unendlichen ist überhaupt sehr lehrreich für viele Leute, die es verstehen könnten, aber nicht verstehen. Denn ich wüßte nicht, ob es einen Stand in der Welt geben kann, worin es unnütz sei zu wissen, daß bei immer zunehmenden Bemühungen zu einem Endzweck zu gelangen, der Endzweck zuweilen gänzlich verfehlt werden kann.”2 Die “zunehmenden Bemühungen” bedienten sich der Infinitesimalmathematik, und es ist historisch bemerkenswert, daß bei diesem Vorgehen gleichzeitig sowohl die Extrema von Funktionen als auch – wie man modern sagen würde – die von Funktionalen angegriffen wurden. Heute bietet die Funktionalanalysis eine vereinheitlichende Sicht auf beide Arten von Extremalproblemen
1. Erstmals steht der Name in den Registres der Berliner Akademie der Wissenschaften unter dem Datum 19. 9. 1756 in der Eintragung: Mr Euler a lû Elementa calculi variationum. 2. “Von dem Nutzen, den die Mathematik einem Bel Esprit bringen kann (1766)”, in Wolfgang Promies (Hrg.), Schriften und Briefe, Bd. 3, Frankfurt/M., Zweitausendeins o.J. [1999], 314. – Als Beispiel, den Endzweck durch ein Prinzip zu verfehlen, kann das gerade genannte Heronische Prinzip dienen, das nicht in allen Fällen auf ein Minimum bei der Spiegelung führt.
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(1) f(x) → extr,
EINLEITUNG
x ∈ V ⊂ H,
wobei V eine gewisse Menge zulässiger Vergleichselemente aus einem linearen Raum H und f ein auf H erklärtes Funktional sind. Eine solche gemeinsame Sicht stand jedoch nicht am Anfang der Variationsrechnung, sondern die Versuche, Variationsprobleme mit gleichen Methoden wie Extremalaufgaben bei Funktionen zu behandeln, waren eher der fehlenden Einsicht in die vom Gesichtspunkt der klassischen Analysis gerechtfertigten unterschiedlichen Strukturen beider Problemarten geschuldet und hatten zahlreiche Fehlentwicklungen zur Folge. Erinnern wir uns auch daran, daß sich ein analytisch orientierter Funktionsbegriff erst bei der Lösung des Brachistochronenproblems durch JOHANN BERNOULLI (1667-1748) herauskristallisierte und daß damit überhaupt erst eine Differenzierung der Extremalprobleme für Funktionen und Funktionale im klassischen Sinn möglich wurde.3 Da die Variationstechniken gleichlaufend mit denjenigen der Infinitesimalmathematik herausgebildet wurden, ist es verständlich, daß dabei sowohl die Gemeinsamkeiten als auch die Unterschiede nicht unmittelbar erkannt oder verstanden wurden. Obwohl man seit der Lösung des Brachistochronenproblems 1697 um den Unterschied wußte, das Extremum einmal von einer Funktion f in einem Punkt x0 oder zum anderen von einem Funktional J für eine Funktion y(x) zu bilden,4 (2) f(x) → extr,
x ∈ Rn,
(3) J(y) → extr,
y ∈ H,
blieben einige – aus heutiger Sicht offensichtliche – Konsequenzen lange, nämlich bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, unbeachtet, regten allerdings dann auch die Entwicklung funktionalanalytischen Denkens mit an. Vor allem betraf dies in der Variationsrechnung die Auseinandersetzung mit dem Nachbarschaftsbegriff für die Vergleichselemente (Funktionen, Kurven), also die Frage, wann Vergleichselemente y ∈ H zum Lösungselement y0 ∈ H in irgendeinem 3. Bereits im Brief von Johann Bernoulli an G.W. Leibniz vom 21.7.1696 (in C.I. Gerhardt, Leibnizens mathematische Schriften, Band 3) sowie an H. de Basnage vom Juni 1697 (Streitschriften der Brüder Jacob und Johann Bernoulli, 285) erwähnt; erstmals 1718 in der Arbeit “Remarques sur ce qu’on a donné jusqu’íci de solutions des problêmes sur les isoperimetres, avec une nouvelle méthode courte & facile”, Mémoires de l'Académie Royale des Sciences Paris, 100-138 (auch in Streitschriften, 527–567) publiziert. Vgl. hierzu etwa R. Thiele, “300 Jahre Brachistochronenproblem”, in Günther Löffladt und Michael Toepell (Hrg.), Medium Mathematik, Hildesheim, Franzbecker, 2002, 7699. Zur Herausbildung des Funktionsbegriffs siehe R. Thiele, “Frühe Variationsrechnung und Funktionsbegriff”, in R. Thiele (Hrg.), Mathesis, Berlin, GNT-Verlag, 2000, 128-181, oder “The Mathematics and Science of Euler”, in G. Van Brummelen et al (eds.), Mathematics and the Historian’s Craft, New York, Springer, 2005, 81-140. 4. Johann Bernoulli in dem sog. “Groninger Programm”, Streitschriften, 261; Jacob Bernoullis Solutio problematum fraternorum im Mai-Heft der Acta eruditorum von 1697, 211; Streitschriften, 271.
EINLEITUNG
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Sinn hinreichend benachbart sind, um die lokalen Lösungstechniken der Infinitesimalmathematik einsetzen zu können. Die benötigte Verallgemeinerung des n-dimensionalen euklidischen Raumes Rn auf Funktionenräume H hatte aus mathematischer Sicht insbesondere zwei Dinge in Betracht zu ziehen, wenn die gewöhnlich in den Ableitungen von Funktionen formulierten Kriterien der Differentialrechnung für Extrema wie etwa das folgende für ein Minimum von f(x) in x0 angegebene, (2), (4) f ' (x0) = 0, f '' (x0) ≥ 0, f '' (x0) > 0,
(notwendige Bedingungen),
(hinreichende Bedingung),
auf die Variation δJ eines Variationsproblems, (3), übertragen werden sollen, d.h. wenn die Konsequenzen der Forderungen (5) δ J(y0) = 0, δ 2J(y0) ≥ 0, δ 2J(y0) > 0,
untersucht werden sollen. Historisch gesehen hat die Beschäftigung mit der Tragweite dieser Forderungen die Variationsrechnung bis weit in das letzte Viertel des 19. Jahrhunderts beherrscht; mathematisch gesehen ging es bei diesen Untersuchungen vor allem um zwei Sachverhalte, für die es in der Differentialrechnung keine Entsprechung gibt. Wir skizzieren beide Sachverhalte kurz. Für gewöhnliche Extremwertaufgaben (2) bei Funktionen f im Rn liefert ein kritischer Punkt x0 entweder ein Extremum oder nicht. Für Funktionale J(y), (3), deren Argumente Funktionen (Kurven) y(x) sind, erhebt sich im Falle von erwarteter Extremalität zusätzlich die neuartige Frage, wie weit eine ermittelte lösungsverdächtige Funktion (Kurve) ein Extremum liefert: in ihrer Gänze oder gegebenenfalls nur für Teile? Dieser einfache, aber gegenüber den Extremwertaufgaben des Rn neue Sachverhalt wird beispielsweise bei Großkreisen auf Kugeln augenscheinlich, die nur innerhalb des die Pole verbindenden Halbkreises kürzeste Linien darstellen. Zahlreiche weitere anschauliche Beispiele liefert die geometrische Optik mit ihren Brennpunkten und Brennlinien. Die Behandlung derartiger Fragen setzte systematisch mit CARL GUSTAV JACOB JACOBI (1804-1851) ein.5
5. C.G.J. Jacobi, “Zur Theorie der Variations-Rechnung und der Differential-Gleichungen”, Journal für Mathematik (Crelle), 17 (1837), 68-82; K. Weierstraß (Hrg.), Werke , Bd. IV. Berlin, 1886, 39-55; auch als französische Übersetzung in Journal de Mathématique, 8 (1838), 44-59. Diese Arbeit von Jacobi stimulierte in den 40er und 50er Jahren des 19. Jahrhunderts die Forschungen von J. Bertrand, R. Clebsch, C. Delaunay, O. Hesse, V.- A. Lebesgue, G. Mainardi und S. Spitzer.
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EINLEITUNG
Den anderen Sachverhalt wollen wir an zwei exemplarischen Problemklassen des einfachen Variationsproblems für eine gesuchte Funktion einer Veränderlichen verdeutlichen. Zum einen sind bei Variationsproblemen aus der Geometrie (wie etwa dem isoperimetrischen Problem) alle Kurven K : y(x) zum Vergleich6 zugelassen, die “räumlich” benachbart zur Lösung sind bzw. die in einer gewissen ε-Umgebung der Lösung y0(x) liegen, die also in einem bestimmten Intervall [a, b] eine Bedingung der Art (6) ⏐y(x) – y0(x)⏐< ε erfüllen. Zum anderen sind bei Variationsproblem aus der Mechanik (wie etwa dem Brachistochronenproblem) nur solche Trajektorien y(x) mögliche Konkurrenten für eine Lösung y0(x), bei denen nicht nur die jeweiligen Bahnpunkte, sondern auch die zugehörigen Geschwindigkeiten (d.h. die entsprechenden Ableitungen y' (x) ) benachbart sind, womit jetzt Bedingungen der Art (7) ⏐y(x) – y0(x)⏐< ε,
0
| y' (x) – y ' (x)| < ε
in einem gewissen Intervall [a, b] zu gelten haben. Für geometrische Variationsprobleme ist es mithin sachgemäß, die Extremalität im Raum der stetigen Funktionen C 0[a, b] zu betrachten, während für mechanische Variationsprobleme Extremalität im Raum C 1[a, b] der stetig differenzierbaren Funktionen erklärt werden müßte. Eine Extremalforderung wie (8) J(y) → extr, die der Lösung von (8) gewisse Bedingungen auferlegt, charakterisiert daher ein Variationsproblem noch nicht vollständig, sondern eine solche Extremalforderung ist stets durch eine Erklärung der Menge V ⊂ H aller zulässigen Vergleichsfunktionen zu präzisieren, die in V sowohl die Metrik für die gewünschte Extremalität festlegt als auch weiterhin die jeweiligen Rand- und Nebenbedingungen des Problems (soweit vorhanden) berücksichtigt. Die Frage, in welchem Sinn Extremalität gemeint ist, spielt bei Extrema von Funktionen, (2), keine entscheidende Rolle, da im n-dimensionalen euklidischen Raum Rn alle euklidischen Metriken äquivalent sind und es daher lediglich eine Frage der Zweckmäßigkeit ist, welche Metrik man auswählt. Bei Variationsproblemen ist jedoch die Festlegung der Metrik für den Raum der
6. Wir können an dieser Stelle vereinfachend annehmen, daß die Kurve K (wenigstens lokal) eine stetig differenzierbare funktionale Darstellung hat. Wann ein Funktionenproblem einem Kurvenproblem entspricht und wieweit jedes seine Eigenständigkeit hat, werden wir später erörtern, insbesondere in den Abschnitten 3.5.2 und 4.6.3, vgl. auch Fußnote 19.
EINLEITUNG
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zulässigen Funktionen H eine A-priori-Entscheidung, die nicht im Hinblick auf Zweckmäßigkeit der technischen Mittel getroffen werden kann, sondern die ganz im Gegenteil in der Natur der Aufgabe liegt und die daher die zu verwendende Lösungstechnik bestimmt. Dieser Sachverhalt ist 1861 wohl erstmals ISAAC TODHUNTER (1820-1884) aufgefallen, aber von ihm noch nicht in seiner ganzen Tragweite erfaßt worden. TODHUNTER wies darauf hin, daß die Schlußfolgerungen aus der üblicherweise vorgenommenen Taylorentwicklung der für das Variationsproblem (8) grundlegenden Differenz, der totale Variation, 1 (9) J(y) - J(y0) = εδ J(y0, ξ ) + --- εδ 2J(y0, ξ ) + … 2
(y(x) = y (x) + εξ(x) 0
einparametrige Schar aus V)
nur dann berechtigt sind, wenn alle Argumente, nach denen entwickelt wird, hinreichend zur Entwicklungsstelle benachbart sind.7 Da in dem Funktional J(y) nicht nur die gesuchte Funktion y0(x) auftritt, sondern auch deren Ablei0 tung y ' (x) erscheint, ist die Entwicklung (9) nur im Raum C 1 der stetig differenzierbaren Funktionen aussagefähig. Das aufgrund der Analogie zu Extremwertaufgaben bei Funktionen naheliegende Vorgehen, hier über die zweite Variation δ2J hinreichende Aussagen für Lösungen zu erhalten, muß folglich auf Variationsprobleme mit “mechanischen” Variationen, die den Raum C 1 bzw. entsprechende Verallgemeinerungen wie etwa Sobolew-Räume erfordern, eingeschränkt werden. CONSTANTIN CARATHÉODORY (1873-1950) hebt das in seiner Bemerkung über den Lagrangeschen Formalismus hervor: “Die analytische Behandlung dieses [Variations]Problems, die durchweg auf der Berücksichtigung der ersten Glieder von Taylorschen Entwicklungen beruht, hat naturgemäß zur Folge, daß die bezüglichen Aussagen auf die Nachbarschaft der stationären Gebilde beschränkt werden müssen.”8 Und im Hinblick auf diese analytische Technik hatte OSKAR BOLZA (18571942) in seinen Lectures on the Calculus of Variations aus dem Jahre 1904 einleuchtend deren Grenzen dargelegt und resümiert: It is even a priori clear that the method which we have followed so far can never lead to a proof of the sufficiency of this or any other set of conditions (first emphasized by Weierstrass).9
7. We must then examine the integral [= J(y)] […] for all indefinitely small values of δy and δp [=δy']. A history of the progress of the calculus of variations during the 19th century, Cambridge, 1861, 3. 8. “Über die starken Maxima und Minima”, Habilitationsschrift 1905, Mathematische Annalen, 62 (1906), 449; auch in: Gesammelte mathematische Schriften, Bd. 1, München, Beck, 1954, 80. 9. Lectures on the Calculus of Variations, Chicago, University Press, 1904, 69. (Reprint New York, Stechert, 1946).
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EINLEITUNG
Für die wichtigen Problemklassen mit “geometrischer” Variation ist damit der reichhaltige Fundus an Verfahren und hinreichenden Kriterien für die Lösung von Variationsproblemen, der sich auf den Einsatz von Differenzierbarkeitseigenschaften gründet, nicht verfügbar. Hier ist nach wie vor die sogenannte Feldtheorie das Mittel der Wahl. Deren historische Entwicklung ist Gegenstand dieser Untersuchung. Den Keim der feldtheoretischen Methoden finden wir bereits im Jahre 1696 bei der Behandlung des Brachistochronenproblems durch JOHANN BERNOULLI (obwohl das Brachistochronenproblem gar kein “geometrisches”, sondern ein “mechanisches” Problem ist). Man könnte auch auf die von CHRISTIAAN HUYGENS (1625-1695) bereits 1678 verfaßten, aber erst 1690 gedruckten optischen Betrachtungen im “Traité de la lumière”10 zurückgehen. Jedoch sind die entsprechenden Betrachtungen ohne den neuen Infinitesimalkalkül ausgeführt, und diese geometrische Darlegung hat die Entwicklung der Feldtheorie nicht beeinflußt. CARL FRIEDRICH GAUß (1777-1855) bediente sich bei geometrischen Untersuchungen in den Disquisitiones generales circa superficies curvas (1828) spezieller geodätischer Felder (geodätische Koordinaten);11 CARL GUSTAV JACOBI hat 1836 durch die Behandlung der Frage, wann sich extremale Kurven einer Schar schneiden, die Theorie der konjugierten Punkte begründet, die ein wesentlicher Bestandteil der Feldtheorie im Großen ist. Mit KARL WEIERSTRAß (1815-1897), ADOLPH MAYER (1839-1908), HERMANN AMANDUS SCHWARZ (1843-1921), GASTON DARBOUX (1842-1917), ADOLF KNESER (1862-1930), DAVID HILBERT (1862-1943), OSKAR BOLZA, GILBERT AMES BLISS (1876-1951), CONSTANTIN CARATHÉODORY und anderen setzte schließlich eine systematische feldtheoretische Behandlung von Variationsproblemen ein. Diese wenigen Bemerkungen zeigen bereits die Vielfalt der Probleme und weisen darauf hin, daß es sehr unterschiedliche Zugänge zu den Methoden der Variationsrechnung geben wird. Es sei erwähnt daß die Variationsrechnung im 19. Jahrhundert insbesondere unter den Minores den Ruf hatte, eine der schwierigsten und abstraktesten mathematischen Theorien zu sein. Wir teilen diese Auffassungen nicht, sondern sehen die Schwierigkeiten beim Erfassen des Denkens der Variationsrechnung eher darin, daß diese Disziplin durch ihre mathematische Klammerfunktion abstrakte Sachverhalte an verschiedenen konkreten Beispielen zu illustrieren vermag. Anders gesagt, das Konzept des Feldbegriffs kann beispielsweise aus der Sicht der Differentialgleichungen, der Mechanik oder der der geometrischen Optik entwickelt werden, was den übergeordneten mathematischen Gesichtspunkt nicht auf den ersten Blick 10. Leiden: van der Aa 1690; auch in Oeuvres, Bd. 19, La Haye, Nijhoff 1937. 11. Siehe beispielsweise R. Thiele, “Gauß’ Arbeiten über kürzeste Linien aus der Sicht der Variationsrechnung”, M. Behara, R. Fritsch, R. Lintz (Eds. Conf. A.), Symposia Gaussiana, Berlin, de Gruyter, 1995, 167-178.
EINLEITUNG
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erschließt und zudem Kentnisse in verschiedenen Disziplinen erfordert. Für eine Darstellung der Variationsrechnung hat ERICH BESSEL-HAGEN (18981956) in einer einschlägigen Vorlesung 1943 diese Eigenart der Disziplin treffend hervorgehoben: “Lehrbuchmäßige Darstellungen vergewaltigen den Stoff, der eher einem Gewebe gleicht. Bei fast keinem mathematischen Gebiet ist das so hinderlich, wie in der Variationsrechnung, wo man beinahe keinen Teil ganz versteht, ohne von dem anderen Teil etwas zu wissen.”12 Wir werden uns daher nicht scheuen, an entsprechenden Stellen mathematisch gleiche Sachverhalte in unterschiedlichen Sichtweisen zu bringen, wie sich ja auch ein räumlicher Gegenstand erst aus mehreren Blickwinkeln dem Betrachter voll erschließt. Auch im Hinblick darauf, daß die einzelnen Kapitel (die weitgehend abgeschlossene Problemkreise umfassen) möglichst selbständig lesbar sein sollen, werden wir gewisse Wiederholungen, die letztlich aus einer anderen Sicht den Gegenstand neu beleuchten, sowie ähnliche Zugänge als erwünscht betrachten. Der Anhang Vom Nutzen der Feldtheorie für die Variationsrechnung dieser Arbeit empfiehlt sich für ein einführendes Lesen in unsere historische Untersuchung; das zweite Kapitel dieser Arbeit ist eine verbindende Klammer zwischen den Wurzeln der Variationsrechnung und modernen Auffassungen. Das siebente Kapitel Ausblicke soll abschließend einige Entwicklungen in der mehrdimensionalen Variationsrechnung (Lepagesche Theorie) skizzieren sowie einige aus dem Gedankenkreis der vorangehenden Kapitel folgende Verallgemeinerungen anführen. Die behandelten Erweiterungen der Feldtheorie stellen jedoch nur einen Ausblick dar, der weitere Verwendungen des Konzepts in der gegenwärtigen Mathematik aufweisen soll, aber dabei keine Vollständigkeit beabsichtigt (auch deshalb, weil wir hier das Gebiet der Geschichte der Mathematik hinter uns lassen). Vom mathematischen Gesichtspunkt aus betrachtet kontrastieren in der Entwicklung der Variationsrechnung vor allem geometrische (genauer: differentialgeometrische) und analytische Sichtweisen. OTTO TOEPLITZ (1881-1940) hat in seiner Entwicklung der Infinitesimalrechnung bei der Abgrenzung von geometrischem und analytischem Denken folgendes betont: Zunächst scheinen die Namen die jeweiligen Bereiche zu erklären, “jedoch ist dieses [sprachliche] Scheidungsprinzip nicht eigentlich stichhaltig, infinitesimale Prozesse können ebensogut an geometrische Gebilde geknüpft werden wie an rechnerische […]. Je tiefer sich die Wissenschaft fortentwickelt, […] desto mehr wird die Trennung von Geometrie und Rechnung verwischt.”13 Wenn auch beim Fortgang einer Wissenschaft die Grenzen zwischen ihren einzelnen Disziplinen mehr und mehr verschwinden, so – und das präzisierte OTTO TOEPLITZ gegen Ende der erwähnten Arbeit – bleibt historisch der 12. Vorlesung über Variationsrechnung im WS 1943 an der Universität Bonn, Universitätsarchiv Bonn, Nl. Bessel-Hagen, 21. 13. Entwicklung der Infinitesimalrechnung, G. Köthe (Hrg.), Bd. 1, Berlin, Springer, 1949, 1.
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EINLEITUNG
Unterschied durchaus bewahrt. Denn: “Der Funktionsbegriff entsteht nämlich in doppelter Gestalt, und diese Spaltung bleibt für das Verständnis in seiner späteren Entwicklung, ja für sein heutiges Verständnis bedeutungsvoll. Er entwickelt sich einmal als geometrischer Funktionsbegriff und dann als rechnerischer Funktionsbegriff.”14 Solche unterschiedlichen Blickrichtungen sind auch in der Entwicklung der Variationsrechnung sichtbar, mehr noch: die Wendung vom Geometrischen ins Analytische bei gleichzeitigem Gebrauch geometrischer Veranschaulichungen für analytische Sachverhalte war und ist weiterhin eine entscheidende Triebkraft in der Herausbildung der Variationsrechnung. Freilich kehrt sich in einem gewissen Entwicklungsstadium der beschriebene Sachverhalt auch wieder um, so daß die Geometrisierung der Theorie abermals in den Vordergrund rückt. Im Hinblick auf die Relativitätstheorie wies DAVID HILBERT (1862-1943) in einer Vorlesung “Die Grundlagen der Physik (WS 1916)” hierauf hin: “So ist es auch jetzt wieder, der Physiker muß Geometer werden, weil er sonst Gefahr läuft, Physiker zu sein.”15 Wir finden dieses fruchtbare Wechselspiel bereits am Anfang. JOHANN BERNOULLI löste das Brachistochronenproblem 1696 mit intuitiven geometrischen und physikalischen Vorstellungen und fand den direkten Zugang zur Lösung von Variationsproblemen sowie die Möglichkeit einer einheitlichen Fassung von Mechanik und Optik durch den Formalismus der Variationsrechnung. Sein Bruder JACOB BERNOULLI (1657-1705) hatte das Problem vor einem geometrischen Hintergrund mit analytischen Methoden behandelt und dabei das sogenannte klassische Variationsprinzip, das auf eine breite Problemklasse angewendet werden kann, entwickelt und mit dessen Hilfe unter Berücksichtigung von Nebenbedingungen weitergehende Aufgaben (isoperimetrische Probleme) gestellt und gelöst (1697, 1701). JOHANN wiederum hatte dem geometrischen Funktionsbegriff JACOBS eine allgemeinere arithmetische Fassung gegeben, die LEONHARD EULER (1707-1783) dann Schritt für Schritt in die bekannte analytische Form veränderte.16 JOHANN hatte weiter in der Lösung der isoperimetrischen Probleme seines Bruder eine formale Gleichmäßigkeit (loi de l´uniformité) entdeckt und damit den analytischen Formalismus der Methode bemerkenswert vereinfacht. EULER startete hier, zwar noch mit einem geometrischen Hintergrund, aber schon allgemeine Problemklassen erfassend und systematisierend. JOSEPH
14. aaO., S. 123. 15. Vorlesungsausarbeitung, Nachlaß Hückel 1818, Staatsbibliothek Berlin, 2. 16. Siehe beispielsweise die Untersuchung R. Thiele, “Frühe Variationsrechnung und Funktionsbegriff”, Mathesis, R. Thiele (Hrg.), Berlin, GNT-Verlag, 128-181, oder in zusammengefaßter Form “Early calculus of variations and the concept of function”, Proceedings of the Canadian Society for History and Philosophy of Mathematics, Toronto 1999, vol. 12. Providence (RI), Providence College, 2000, 98-111.
EINLEITUNG
15
LOUIS LAGRANGE (1736-1813) hat 1760 dazu sein rein analytisches, nicht mehr geometrisch motiviertes Verfahren, den formalen δ-Kalkül, den er schon 1756 EULER brieflich mitgeteilt hatte, veröffentlicht, und LEONHARD EULER hat wiederum 1770 den lediglich formalen Kalkül LAGRANGES begründet, indem er ihn in einem Anhang De calculo variationem (E 385) zu seinen Institutiones calculi integralis (vol. 3) vermöge der Unterscheidung des Differenzierens nach Variablen und nach Parametern auf den bekannten Differentialkalkül zurückführte und schließlich 1771 in der Arbeit Methodus nova et facilis (E 420) jene heute allgemein übliche einparametrige Schar y = y(x, ε) von Vergleichskurven zur Herleitung notwendiger Bedingungen benutzte, die für einen bestimmten Parameter ε = ε 0 die in Rede stehende Extremale y = y0(x) = y(x, ε 0) enthält.17 Aber auch im einzelnen Mathematiker erscheint diese Wechselseitigkeit des Vorgehens: der Analytiker per se KARL WEIERSTRAß begann in der Tat mit “geometrischen” Variationsproblemen, CONSTANTIN CARATHÉODORY durchlief in seiner Auseinandersetzung mit der Variationsrechnung eine ähnliche Entwicklung, und auch WILLIAM ROWAN HAMILTON (1805-1865) sowie andere Mathematiker ließen sich in diesem Sinne hier nennen. In den jeweiligen Kapiteln werden wir die interessanten Änderungen dieser Haltungen im einzelnen näher verfolgen; mehr noch, dieser Wechsel wird uns eine methodische Richtschnur und ein roter Faden in der Vielfalt des Herangehens der unterschiedlichen Autoren und ihrer Arbeiten sein. Die geometrische Deutung des feldtheoretischen Verfahrens kann vorab vereinfachend etwa so beschrieben werden: Das Variationsintegral J(y) definiert einen allgemeinen Längenbegriff auf dem Raum der zulässigen Funktionen, und in einem geeignet gewählten Koordinatensystems kann die Extremalität einer Lösungskurve C0 : y0(x) einsichtig gemacht werden. In der Differentialgeometrie wären kürzeste Linien das exemplarische Beispiel, ebenfalls ließe sich die geometrische Optik für weitere anschauliche Beispiele anführen. Der analytische Zugang zur Feldtheorie ist etwa durch den “Königsweg” CARATHÉODORYS gegeben, der über ein einfacher zu handhabendes äquivalentes Variationsproblem (8*) J*(y) → extr anstelle von (8) die Extremalität für die zu untersuchenden Extremale C0 : y = y0(x) zunächst beim äquivalenten Problem nachweist. Die entscheidende Frage nach der Gleichwertigkeit der Probleme (8) und (8*)
17. Mit E wird die Nummer im Eneströmschen Verzeichnis der Eulerschen Werke (in dem Jahresbericht der DMV, Ergänzungsband IV, 1910-1913) bezeichnet. Beide Arbeiten sind in den Opera omnia Euleri, ser. I. vols. 13 und 25, Leipzig, Teubner, 1914 bzw. Zürich, Orell-Füssli, 1952, zugänglich.
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(10) J(y) → extr
EINLEITUNG
und
J*(y) → extr
wird analytisch über eine partielle Differentialgleichung, die Hamilton-Jacobische Differentialgleichung, geklärt. Der analytische Charakter eines solchen Zugangs wird noch deutlich in der abgeschwächten Äquivalenzform sichtbar, bei der man nämlich lediglich verlangt (DAVID HILBERT), daß für die totale Variation beider Probleme die Ungleichung ∆J ≥ ∆J* ≥ 0
besteht, wobei für die Extremale C0 automatisch Gleichheit eintritt (Abschnitte 5.9 und 7.5). Andererseits schufen geometrische Rückbesinnungen bei der Lösung der Hamilton-Jacobischen Differentialgleichung weitere fruchtbare Einsichten, und so entwickelte sich die Variationsrechnung im Spannungsfeld der Wechselbeziehungen von Geometrie und Analysis. Dieser Gesichtspunkt, der für uns bei unseren Untersuchungen – wie gerade gesagt – wissenschaftstheoretisch ein Leitstern sein wird, wurde bislang in der Geschichtsschreibung der Variationsrechnung nicht systematisch verfolgt. Die Spannweite eines solchen wechselseitigen Denkens bestimmt einen der Variationsrechnung und somit auch der Feldtheorie innewohnenden Reize. Andere sind durch die Vielseitigkeit ihrer Beziehungen gegeben: sowohl innerhalb der Mathematik zu deren klassischen Zweigen (wie der Theorie der Differentialgleichungen, der Differentialgeometrie oder der Funktionentheorie) ebenso wie zu deren moderneren Disziplinen (wie der Optimierungstheorie oder Steuerungstheorie) als auch zu ganz anderen Gebieten wie denen der Mechanik, der Optik, der Relativitätstheorie, der Quantenmechanik oder der Geodäsie. Die Vielfalt dieser Gesichtspunkte macht die beeindruckende Reichweite der Variationsrechnung aus. Auf der anderen Seite erschwert sie eine sowohl knappe als auch umfassende Einführung nicht nur im mathematischen, sondern gleicherweise auch im mathematikhistorischen Sinn. Der zweite Sachverhalt ist natürlich eine einfache Konsequenz aus dem ersteren (wie es auch in der oben genannten Auffassung von BESSEL-HAGEN ausgedrückt wird). Das alles legt eine Eingrenzung des Untersuchungsgegenstandes nahe, und ich will deshalb die gewählten Beschränkungen umreißen und die getroffene Auswahl der Themen begründen. Der Untersuchungszeitraum erstreckt sich vom Brachistochronenproblem (1696) bis etwa zur Mitte des 20. Jahrhunderts, und wir studieren in ihm die Entwicklung hinreichender Bedingungen in der Variationsrechnung, wie sie durch die Feldtheorie ausgebildet wurden. Zunächst ist jedoch dasjenige Problem der Variationsrechnung näher zu beschreiben, dessen Entwicklung wir hier verfolgen werden und das deshalb unser “Grundproblem” sein wird. Als Variationsproblem legen wir die Extremalforderung
EINLEITUNG
(11) J(y) =
b
∫a f (x, y(x), y ' (x))dx → extr,
17 2
f ( x, y, p ) ∈ C ,
bei festen Randbedingungen: y(a) = ya , y(b) = yb für die zulässigen Vergleichsfunktionen aus dem linearen Raum der zweimal stetig differenzierbaren Funktionen C 2[a, b] zugrunde, so daß für mögliche Lösungen y0(x) des Problems (11) die Euler-Lagrangesche Differentialgleichung d (12) ------ fp(x, y, y ' ) – fy(x, y, y ' ) = 0 dx
in [a, b] erfüllt ist. Die Extremalität wird dabei im Sinn des Raumes C 0[a, b] verstanden, d.h. in der Metrik (13) ⏐y(x) – y0(x)⏐ < ε; a fortiori ist (12) auch notwendige Bedingung im Raum C 1[a, b]. Das Variationsproblem (11) war lange Zeit “das” Standardproblem bzw. das sogenannte “allgemeinste” Problem der Variationsrechnung, und diese historische Tatsache rechtfertig auch unsere Einschränkung, denn zu dieser Grundaufgabe gibt es eine reichhaltige Literatur.18 Wir können uns beim Variationsproblem (11) allerdings nicht durchgängig auf die als einfachste Variationsaufgabe bezeichnete beziehen, nämlich auf eine gesuchte Funktion einer unabhängigen Veränderlichen, weil dies eine Einschränkung an den Feldbegriff bedeutete, jedoch nach Möglichkeit (d.h. wenn keine Besonderheiten von Feldern mehrerer Funktionen oder von Funktionen mehrerer unabhängiger Variablen zu erörtern sind) wollen wir der Übersichtlichkeit halber dieses einfache Problem verfolgen. Im letzten Kapitel werden wir mehrfache Integrale betrachten, d.h. Variationsprobleme der Art (11*) J(y) = ∫ F (x, y(x), Dy)dx → extr G
mit x = (x1, … , xn) ∈ G und y = (y1, … , yν). Die Eulersche Differentialgleichung lautet hier (bei Summation über i von 1 bis n) (12*) Di F
i
pα
(x, y, Dy) – F
y
α
(x, y, Dy) = 0,
( 1 ≤ α ≤ ν ).
Weiterhin sollen irgendwelche Nebenbedingungen oder Hindernisbedingungen in der Regel außerhalb unserer Betrachtungen bleiben, d.h., wir wollen die Einbeziehung von irgendwelchen die Vergleichsfunktionen einschränkenden Forderungen nicht erörtern, da solche Fragen nicht vorrangig in die Feldtheorie gehören. Allerdings ist damit eine Schwierigkeit verbunden, auf die wir nach-
18. Für historische Arbeiten sehe man die im Literaturverzeichnis genannten Bibliographien von M. Lecat durch, eine moderne Übersicht bietet das zweibändige Werk über Variationsrechnung Calculus of variations (Berlin, Springer, 1996) von M. Giaquinta und S. Hildebrandt mit sehr reichhaltigen Literaturangaben.
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drücklich hinweisen möchten. Der mathematische Fortschritt hat sich nicht gradlinig für jeden Problemkreis entwickelt, sondern er hat seinen Gang quer durch die hier lediglich aus methodischen Gründen gegeneinander abgegrenzten Gebiete genommen. Um eine dieser Situationen zu nennen, sei erwähnt, daß bemerkenswerte Entwicklungen des Feldbegriffs gelegentlich in solchen Arbeiten zu finden sind, die die von uns ausgeklammerten Nebenbedingungen berücksichtigten. Natürlich sind die so erhaltenen Ergebnisse auch für die spezielleren Variationsprobleme gültig, die man formal durch Weglassen der Nebenbedingungen erhält, und die entsprechenden Entwicklungen werden hier in dieser Weise präsentiert – wohl wissend¸ daß ein derart eingeschränktes Lesen natürlich mit einen substantiellen Verlust der betrachteten Abhandlung einhergeht. Wir werden uns aber dem entsprechenden Umfeld nicht verschließen, das durch den Transversalitätsbegriff und seine Beziehungen zu freien Randwerten eröffnet wird (was bereits JOHANN BERNOULLI bei der Fortschreibung des Brachistochronenproblems für freie Randwerte 1697 tat). Unsere Beschränkungen erfassen die grundlegenden Problemklassen der klassischen Variationsrechnung, wenn sie die Variationsaufgaben auch nicht erschöpfen. Aber eine weiter gezogene Fragestellung, die Nebenbedingungen einbezöge, höhere Ableitungen berücksichtigte oder auf die Steuerungstheorie einginge, würde den Rahmen dieser Untersuchung sprengen. Eine historische Darstellung wird also die erwähnte doppelte Betrachtungsmöglichkeit, nämlich die geometrische und analytische Sicht zu berücksichtigen haben. Mathematisch augenfällig wird dieser Aspekt bereits an der einfachen Tatsache, daß nicht jede Kurve als Graph einer Funktion angesehen werden kann. Demzufolge sind Variationsprobleme in solche für Funktionen und Kurven zu scheiden, und diese Trennung ist schon deshalb erforderlich, da ein Kurvenproblem natürlich unabhängig von der gewählten Paramaterdarstellung der Kurven sein muß. Mit anderen Worten, ein analytisch formuliertes Kurvenproblem ist nur dann sinnvoll als sogenanntes Parameterproblem gestellt, wenn die Formulierung des Variationsproblems diesem Sachverhalt Rechnung trägt. Die Berücksichtigung dieser zusätzlichen analytischen Forderungen (Unabhängigkeit von der Parameterdarstellung) belastet natürlich eine Herausarbeitung der Grundgedanken, so daß wir uns aus Gründen der Übersichtlichkeit bevorzugt auf Funktionenprobleme konzentrieren wollen und erst danach auf die Spezifika der Variationsprobleme in parametrischer Form eingehen werden. Leider folgt das historische Geschehen nicht immer dieser Reihenfolge, was aufgrund der Eigenständigkeit bzw. Unabhängigkeit von Funktionen- und Parameterproblemen auch nicht erwartet werden darf. Insbesondere KARL WEIERSTRAß hat sich hierbei durchgängig auf Parameterprobleme beschränkt, und DAVID HILBERT wiederum hat beständig Funktionenprobleme behandelt; beide Gesichtspunkte wurden beispielsweise von OSKAR BOLZA oder CONSTANTIN CARATHÉODORY als gleichberechtigt behandelt. Andererseits eignen sich jedoch gerade Kurven zur geometrischen
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Veranschaulichung analytischer Überlegungen, so daß wir uns nicht scheuen werden, die analytische Behandlung von Funktionenproblemen geometrisch zu illustrieren. Eine solche inkonsequente Haltung ist nur der pädagogischen Absicht geschuldet, verständlich zu sein. Und diese eben getroffene Übereinkunft mag in den Fällen, wo eine strikte Unterscheidung zwischen Funktionenund Kurvenproblemen und den daraus fließenden Konsequenzen notwendig sein wird, als generelle Richtschnur dienen, um Mißverständnisse zwischen pädagogischen Absichten und mathematischer Strenge auszuschließen.19 Das sind, wie ich meine, berechtigte Gründe für die hier gewählte Art der historischen Darstellung, in der mathematische Strenge oder Vollständigkeit zwar gelegentlich zurücktreten werden, um die Darlegungen lesbarer zu machen, in der aber die Exaktheit keinesfalls kaschiert oder übergangen werden soll. Aus mathematischer Sicht hat sich hierzu PAUL STÄCKEL (18621919) seinerzeit in einer Rezension von ADOLF KNESERS Lehrbuch der Variationsrechnung (1900) in ganz ähnlicher Weise geäußert: “Es ist gewiß für eine strenge Behandlung des Extremums eines Integrals J =
b
∫a f
dy (x, y, ------ ) dx dx
unbedingt erforderlich, x und y als Funktionen eines Parameters t anzusehen. Im Grunde bedeutet das aber, dass man Integrale der Form b
∫a f
dy dz (x, y, z, ------ , ------ ) dx dx dx
betrachtet, bei denen y und z eindeutige Funktionen von x sind. Vom pädagogischen Standpunkt aus wird es sich aber empfehlen, den Kursus der Variationsrechnung mit Aufgaben zu beginnen, bei denen nach der Natur der Aufgabe die Ordinate als eindeutige Funktion der Abscisse anzunehmen ist, und erst auf Grund der hierbei gewonnenen Einsicht die Diskussion des allgemeinen Problems vorzunehmen.”20 KARL WEIERSTRAß, der in den Vorlesungen durchweg das parametrische Variationsproblem behandelt hatte, hat am Ende seiner Lehrtätigkeit, als er einen Entwurf für ein zu schreibendes modernes Lehrbuch der Variationsrechnung machte, zur Einführung in die Variationsrechnung übrigens schließlich 19. Die Unterscheidung zwischen Kurven- und Funktionenproblemen ist nicht immer strikt möglich. Das Prinzip der kleinsten Aktion wird als Funktionenproblem aufgestellt, es gibt dieses Problem aber auch in der geometrischen Variante von Jacobi. Das Brachistochronenproblem kann i.a. als Funktionenproblem behandelt werden, aber bei dem einfachsten Fall mit verschwindender Anfangsgeschwindigkeit ist entweder eine Parameterdarstellung erforderlich oder dieses spezielle Funktionenproblem ist als Grenzfall der allgemeinen Aufgabe zu behandeln. Siehe hierzu vom Mathematischen: M. Giaquinta, S. Hildebrandt, Calculus of variations, vol 2, Berlin, Springer, 1996, S. 367 ff., insbesondere auch im Kapitel 8 den Abschnitt Transition from nonparametric to parametric problems and vice versa. 20. P. Stäckel, “Rezension von A. Knesers Lehrbuch der Variationsrechnung, 1. Auflage. 1900”, Archiv der Mathematik und Physik (Grunert) III,2 (1902) 185–189.
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funktionale Probleme gewählt.21 In dieser pädagogischen Absicht wird – auch wenn unser Anliegen ein historisches ist – von Funktionen oder Kurven die Rede sein, selbst wenn das nicht immer ganz korrekt ist. Es wird in diesem Sinn beispielsweise nicht stets darauf verwiesen werden, daß neben den getroffenen Voraussetzungen für eine Funktion f(x)∈ C2 jeweils auch die entsprechend durch t parametrisierte Kurve 2 2 K : x(t), y(t) mit x(t), y(t) ∈ C2 sowie die Bedingung x· + y· ≠ 0 aufzuschreiben wären. Ebenso sollen anachronistische Brückenschläge zur Gegenwart nur der modernen Problematiserung eines Sachverhaltes dienen, aber keineswegs historische Erläuterungen ersetzen! An dem historischen Material läßt sich aus heutiger Sicht eine Klärung der unterschiedlichen theoretischen Ansätze sowie ihre seinerzeitige Rechtfertigung nicht immer problemlos nachvollziehen. Eine dabei eingesetzte “moderne Sicht” kann durchaus ein verbindendes Band unserer Untersuchungen bilden, das aber nicht der willkürlichen Klammerung ungeschichtlicher Zusammenhänge dienen soll, sondern das im Gegenteil jedem historischen Text seine Eigenständigkeit belassen wird und das dabei trotzdem uns Heutigen eine verbindende historische Sicht erlaubt.22 Da die Problemgeschichte eines mathematischen Zweiges neben den Fachhistorikern wohl vor allem die Vertreter oder Anwender dieser Disziplin inter21. Brief an H.A. Schwarz vom 14. 3. 1885. Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie, Nl. Schwarz; siehe auch Abschnitt 3.6.2. 22. Es gibt keine den Ansprüchen aller Zeiten genügende Geschichtsdarstellung. Wie schlechterdings alle Texte vor einem bestimmten historischen Hintergrund verfaßt worden sind, so ist auch jede Geschichtsschreibung aus einer bestimmten Zeit heraus erfolgt, und sie kommt ohne dieses zeitbedingte Weltverständnis nicht aus. Mit anderen Worten, eine Konsequenz dieser Binsenweisheit ist, daß der Zeitgeist keinesfalls ein unerwünschter, sondern ein zwangsläufiger Mitautor sein wird. Das bedeutet jedoch nicht, daß Geschichtsschreibung nur an der Elle aktuellen Verständnisses gemessen werden müßte. Aber es wäre ebenso ungereimt, unseren notwendig in der Gegenwart fußenden Ausgangspunkt ignorieren zu wollen. Nur der rechte Gebrauch einer Balancierstange in den Händen des Historikers bewahrt ihn bei seiner ständigen “Gratwanderung” von der Gegenwart in die Vergangenheit und zurück davor, weder als “rückwärts gekehrter Prophet” (Schelling) in die Vergangenheit zu wirken noch sich als Gefangener eines in ferner Vergangenheit errichteten unzugänglichen esoterischen Elfenbeinturms zu erweisen (vgl. hierzu etwa R. Thiele, “Wie und zu welchem Ende studiert man Geschichte der Mathematik?”, Mitteilungen der Mathematischen Gesellschaft in Hamburg. Tagungsband anläßlich ihres 300 jährigen Bestehens, XII, 4 (1991) 1093–1106, und die dort genannte Literatur). Lebendige Mathematik ist eine Wissenschaft der Probleme. Diese sind unbezweifelbar das Rückgrat aller mathematischen Disziplinen, und demzufolge müssen Probleme auch einen wesentlichen Platz in einer Mathematikgeschichte inne haben. Ohne ein Verständnis der einschlägigen Probleme gibt es auch keines der zugehörigen mathematischen Disziplinen. Kulturelle, soziologische, ökonomische oder politische Ansätze wissenschaftshistorischer Untersuchungen kommen an diesen Wurzeln der Mathematikgeschichte nicht vorbei, im Gegenteil sie müssen – sofern sie nicht ins Oberflächliche abgleiten wollen – letztlich hierauf basieren. Deshalb werde ich die Probleme in den Vordergrund stellen, also Problemgeschichte der Mathematik treiben. Damit ist natürlich nicht “das Ende der Mathematikgeschichte” erreicht, denn gerade die Variationsrechnung zeigt aufgrund ihrer vielfältigen Verflechtungen mit anderen Naturwissenschaften, mit der Philosophie und selbst mit der Theologie die offenen Enden einer Problemgeschichte ganz deutlich auf. Man braucht hier nur an die hochinteressante Geschichte des Prinzips der kleinsten Aktion zu denken, um eine sinnvolle Einbettungsmöglichkeit einer Problemgeschichte in einen weiteren historischen Rahmen zu verdeutlichen. Aber dieses Thematik sprengte den enger gezogenen Kreis dieser Untersuchung. (Vgl. hierzu etwa R. Thiele, “Ist die Natur sparsam?”, in H. Hecht (Hrg.), P.L.M. Maupertuis, Berlin, Akademie-Verlag, 1999, 437-503).
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essieren wird, halte ich die beschriebenen Handreichungen für diesen Leserkreis (wie auch für andere Leser) für legitim. In gerade diesem Sinn soll die zwar logisch klare, wenn auch sich mehrfach verzweigende Gliederung der Variationsprobleme, die selbstredend historisch so weitaus weniger deutlich aufweisbar ist, einsichtig gemacht werden. Der rote Faden unserer Darstellung zieht sich zunächst durch das polare Schema der Funktionen- und Kurvenprobleme (nichtparametrische und parametrische Variationsprobleme) und wird dabei durch die Art der Rand- und Nebenbedingungen weiter aufgedröselt, um schließlich noch hinsichtlich der Anzahl der gesuchten Funktionen sowie der zugehörigen unabhängigen Veränderlichen aufgefächert zu werden. Wenn es möglich ist, soll – wie gerade gesagt – als paradigmatischer Fall die eindimensionale Variationsaufgabe (11) für eine gesuchte Funktion (aus C2) mit fest vorgegebenen Randwerten und ohne Nebenbedingungen angesehen werden. Eine weitere methodische Frage ist diejenige, wie man einen historischen Text aufarbeitet. Ich habe versucht, so weit wie möglich den originalen Geist zu erhalten, auch dann, wenn modernes Denken kürzeres und bündigeres Darstellen erlaubt. So hilfreich eine derartige rückwärts gekehrte Sicht für das Verständnis ist, dem historischen Denken wird sie letztlich nicht gerecht. Schon deshalb nicht, weil jenes frühere Denken eben nicht auf solche Mittel zurückgreifen konnte. Beispielsweise versuchte JOHANN BERNOULLI das Brachistochronenproblem dadurch in eine allgemeinere Form zu bringen, indem er weitere mit seiner Methode behandelbare Fälle aufzählte, da ihm die für eine Verallgemeinerung benötigte Notation nicht zur Verfügung stand (siehe Abschnitt 1.2.1). Mithin sind also “altmodische” Schreibweisen, die heute umständlich erscheinen (z.B. fehlende Vektornotation) oder die als ungenau gelten (wie z.B. die Ableitung einer Funktion F(x, y' (x)) nach der “Variablen” y' , die man heute als unabhängige Variable p in einer Funktion F(x, p) betrachten würde und damit F(x, p) nach p ableitet) oder die durch die heute als nicht mehr streng angesehene Schlußweisen symbolisiert werden (gewisse infinitesimale Schlüsse), doch mehr als nur ein “historisches Flair”, das man in historischen Arbeiten eben nicht ohne weiteres modernisieren sollte. Anders gesagt, solche “historischen Relikte” müssen neben modernen Einordnungen, ohne die unser Verständnis nicht geweckt werden kann, ihren Platz haben, den man nicht durch das Überstülpen moderner oder modischer Ansätze beseitigen sollte. Diese Auffassung werden wir natürlich nicht puristisch verfolgen, sondern behutsam stets Zugänge aus heutiger Sicht suchen, wenn das angemessen und möglich ist.23 23. Beschränkungen haben sich bereits durch das benutzt Textverarbeitungssystem ergeben, in dem es keine kyrillischen Buchstaben oder entsprechende lateinische Transkriptionen gibt und in dem kaum Frakturschrift verfügbar ist. Russische Literatur ist deshalb in einer an Wolfgang Steinitz (1905-1967) angelehneten Weise phonetisch übertragen worden. Gelegentlich werden beim Zitieren jedoch aufgrund anderer Transkriptionsmöglichkeiten unterschiedliche Formen erscheinen, wie es z.B. die Schreibweisen Juschkewitsch, Juškevic, Yushkevich und Youshkevich besonders deutlich machen.
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Diese Untersuchung der Geschichte der Feldtheorie zieht nicht nur die entsprechenden gedruckten Arbeiten der einschlägigen Autoren, also Bücher und Zeitschriftenartikel, sowie die einschlägigen Dissertationen der jeweiligen Schulen heran, insbesondere die bei WEIERSTRAß und HILBERT angefertigten, sondern sie folgt der Auffassung, daß man, um den geschichtlichen und werkgeschichtlichen Hintergrund genauer zu erfassen, darüber hinaus gehen müsse. Man ist dann auf unveröffentlichte Quellen angewiesen. Hier basiert die Untersuchung auf einem umfangreichen Quellenstudium, das in diesem Maße in der Geschichte der Variationsrechnung im Hinblick auf unpublizierte Quellen wohl bisher noch nicht erfolgt ist. Ich verdanke diese Möglichkeit zu ausgedehnten Archivrecherchen der Deutschen Akademie der Naturforscher, Leopoldina, in Halle, die mir diese Arbeiten in Verbindung mit ihrem Förderpreis in großzügigster Weise eröffnet hat. Mit Hilfe von Vorlesungsmitschriften und -ausarbeitungen oder durch Briefwechsel lassen sich die “toten” Druck-erzeugnisse beleben. Das Studium dieses Materials bringt im Hinblick auf Prioritäten, unbekannte Ergebnisse und neue Gesichtspunkte häufig eine reiche Ernte, und das ist auch in dieser Untersuchung der Fall. Zurecht wird von VLADIMIR MAZ’YA (geb. 1937) und TATYANA SHAPOSHNIKOVA (geb. 1946) in ihrer wissenschaftlichen Biographie Jacques Hadamard. A universal Mathematician24 hervorgehoben: “There is hardly any other part of analysis whose history is full of mistakes as the calculus of variations” (p. 369).25 Die Weierstraßsche Art der Forschung und Lehre macht die Notwendigkeit des eben beschrieben Herangehens schlagartig klar. Die Herausgabe der Variationsrechnung als Band 7 der Weierstraßschen Werkausgabe im Jahre 1927 durch RUDOLF ROTHE (1873-1942) erbrachte zwar ein gut lesbares (wenn auch ein halbes Jahrhundert nach den entscheidenden Vorlesungen einfach zu spät publiziertes) Lehrbuch, aber das Buch ist ganz unhistorisch. Schon CARATHÉODORY, der die Korrekturen des Bandes mitgelesen hat, äußerte sein Unbehagen, daß in dem Werk die verschiedenen Ebenen der Vorlesungen unterschiedlicher Jahre und damit der historische Gang gar nicht kenntlich gemacht wurde.26 Dennoch hat dieses Buch das “historische” Bild bislang nicht nur unter den Mathematikern bestimmt, sondern auch weitgehend das der Historiker der Mathematik geprägt. Das ist bei dem zögerlichen Veröffentlichen von WEIERSTRAß’ schwer verständlich, da das Fehlen gedruckter Arbeiten das Studium ungedruckter Quellen unumgänglich macht. 24. History of Mathematics, vol. 14. AMS/LMS 1998. 25. Die Autoren haben zwei Seiten zuvor ihre Behauptung selbst bestätigt, indem sie die Einbettung einer Extremalen in eine Schar zur Herleitung notwendiger Bedingung nicht Euler, sondern Lagrange zusprachen. 26. “These notes, although interesting to the person who wishes to follow the trend of Weierstrass’ ideas, yield, unless considerable effort is made, an incomplete and inaccurate account of the development”, Mathematical Gazette, 16 (1928-29), 310-311; auch in: Gesammelte mathematische Schriften, Band 5. München, Beck, 1957, 346-349, Zitat, 346.
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Zwei neuere Beispiele hierfür wären die Monographie A history of the calculus of variations from the 17th through the 19th century27 von HERMAN H. GOLDSTINE (1913-2004) oder der entsprechende Übersichtsartikel von ALLA VLADIMIROVA DOROFEEVA (geb. 1935) in der Mathematikgeschichte des 19. Jahrhunderts Mathematics of the 19th century28, die ANDREI NIKOLAEVICH KOLMOGOROV (1903-1987) und ADOL’F PAVLOVICH YUSHKEVICH (19061993) herausgegeben haben; die mathematischen Sachverhalte hat VLADIMIR MIKHAILOVICH TIKHOMIROV (geb. 1934) durchgesehen. Es trifft beispielsweise nicht zu, daß ERNST ZERMELO (1871-1953) in seiner Dissertation (1894) erstmals durch einen Trick aus einem zentralen Feld ein allgemeines erzeugt hat, denn dieser Kunstgriff war schon drei Jahre früher (1891) durch FERDINAND RUDIO (1856-1929) publiziert worden, der ihn sogar noch früher in seiner (ungedruckten) Habilitationsschrift (1881) angeführt hat. Letztlich geht der Einfall auf KARL WEIERSTRAß selbst (1879) zurück, und beide sich auf ihn beziehende Publikationen dokumentieren nichts anderes als den Weierstraßschen Entwicklungsgang, und gleichzeitig zeigen sie auch die Rezeptionsprobleme der Zeitgenossen bei Weierstraßschen Ergebnissen. Während HERMANN GOLDSTINE 1980 in seiner History of the calculus of variations bei der Erörterung des Weierstraßschen Darstellungssatzes immerhin auf die entsprechende Stelle in der Werkausgabe verwies (S. 271), wo dessen Gültigkeit auf allgemeinere Flächenstreifen ausgedehnt wird,29 erklärte noch einige Jahre später DOROFEEVA in ihrem Beitrag von 1987: “The concept of a field is not explicitly found in the work of Weierstrass. […] Weierstrass studied only a central field, in which all the extremals intersect at the initial point A . […] The creation of the concept of a field came about after two discoveries: Kneser’s geometric theory, and Hilbert’s theory.”30 GOLDSTINE widerlegt anhand der Werkausgabe [!] BOLZAS Ansicht, daß der Kunstgriff mit dem vorgezogenen Punkt zur Erlangung eines allgemeinen Feldes auf ZERMELO zurückgehe, aber RUDIOS ähnliche Überlegungen werden übergangen.31 Dieses kleine Detail macht klar, wie wenig man bei solchen Arbeiten, in denen unkritisch eine historischer Darstellung kolportiert wird, den historischen Gegebenheiten gerecht werden kann. Andererseits ist die Tatsache, auf die bereits CARATHÉODORY hingewiesen hat, daß bereits vor WEIERSTRAß homogene Koordinaten ausgiebig von HAMILTON benutzt worden sind, wenig zur 27. New York, Springer, 1980. 28. Basel, Birkhäuser, 1998, übersetzt von R. Cooke. Das russische Original erschien 1987 im Verlag Nauka, Moskau, zitiert wird nach der englischen Ausgabe. 29. New York, Springer, 1980, 226. 30. A.N. Kolmogorov und A.P: Yushkevich (eds.), Mathematics of the 19th century, Basel, Birkhäuser, 1998, 223. 31. H.H. Goldstine, A history of the calculus of variations from the 17th through the 19th century, Basel, Birkhäuser, 1998, 223, 234, 248.
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Kenntnis genommen worden,32 und es ist daher WEIERSTRAß, dem das Konzept des Parameterproblems und dessen Dominanz in der Variationsrechnung zugeschrieben wird. Die Bevorzugung dieses Typs von Variationsproblemen durch WEIERSTRAß ist allerdings gegen Ende seines Lebens aufgegeben worden, was ein Brief an HERMANN AMANDUS SCHWARZ zeigt,33 in dem es um die Konzeption eines Weierstraßschen Lehrbuches der Variationsrechnung ging, das allerdings nie in Angriff genommen worden ist, womit dieser Sinneswandel von WEIERSTRAß bislang unbemerkt geblieben ist. Im Hinblick auf WEIERSTRAß werden also zahlreiche neue Ergebnisse zu finden sein, insbesondere auch deshalb, weil ich neben den Nachschriften der Vorlesungen (die es in ausreichendem Maße gibt) erstmals auch den fast vollständigen erhaltenen, aber noch immer ungedruckten Briefwechsel zwischen KARL WEIERSTRAß und seinem Schüler HERMANN AMANDUS SCHWARZ für die Variationsrechnung ausgewertet habe. Wir erwähnten schon, daß WEIERSTRAß am Ende seines Lebens SCHWARZ ausführlich darlegte, wie er sich ein modernes Lehrbuch der Variationsrechnung vorstellte. SCHWARZ sagte dem verehrten Lehrer zwar seine Hilfe beim Veröffentlichen derselben zu, letztlich brachte er jedoch nicht einmal die übernommene Herausgabe der Variationsrechnung in der Werkausgabe von WEIERSTRAß zustande. Die Quellenlage ist im Hinblick auf Schwarzsche Vorlesungen wesentlicher schlechter als bei WEIERSTRAß, aber es ist dennoch ausreichend Material vorhanden, um zu belegen, daß SCHWARZ ein wesentlicher Beitrag bei der Entwicklung des Feldbegriffs zuzuschreiben ist, der bis heute in der Geschichtsschreibung unterbewertet wird. GOLDSTINE wies auf diese Tatsache en passant beim Referieren eines Übersichtsartikel von WILLIAM OSGOOD (1864-1943) hin und führte später an anderer Stelle eine entsprechende Fußnote von OSKAR BOLZA an.34 Die zahlreichen Mitschriften von JOHN CHARLES FIELDS (1863-1932), die übrigens nebenbei noch ein ausgezeichnetes Bild der kurz vor der Jahrhundertwende 1900 an der Berliner Universität ange-
32. “Interessant ist dabei, dass er die Weierstrassschen homogenen Koordinaten schon benutzt hat [Irish Transactions Bd. XV-XVII]. Er führt die Homogenitätsbedingungen ein und benutzt die Tatsache[,] dass (im Raume) sich die drei Lagrange'schen Gleichungen auf zwei reduzieren.”, Brief an A. Kneser vom 5. 2. 1905. Cod. Ms. A. Kneser A4, Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung. 33. Brief an Schwarz vom 14. 3. 1885. Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie, Nachlaß Schwarz, 1175. 34. Goldstine, aaO., 246, 317. Die auf Seite 246 erwähnte entsprechende Stelle ist aus Osgood, “Sufficient conditions in the calculus of variations”, Annals of mathematics, 2 (1901), 105-129: [Schwarz’s] Festschrift, […] where the notion of the field, which is the foundation on which Weierstrass builds up his sufficient conditions for a minimum, is set forth with admirable clearness (p. 114). Schwarz benutzt hier ein Feld beim Problem der Minimalflächen (siehe Abschnitt 3.7). Die sich auf Bolza beziehende Fußnote auf Seite 317 lautet: Bolza suggests that the result for fields [Weierstrass representation formula] was first given by Schwarz in his 1898/99 lectures. Unsere Analyse der Vorlesungen von Schwarz bestätigt diese Aussage (vgl. Abschnitte 3.7.1.2, 3.7.1.3 und 3.7.2).
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botenen Mathematik bieten, enthalten zwei aussagekräftige Vorlesungen zur Variationsrechnung,35 die weiterhin durch den Schwarzschen Briefwechsel ergänzt werden können. SCHWARZ hat in der Tat (spätestens) 1898 einen allgemeinen Feldbegriff eingeführt, um den er sich seit 1880 bemüht hatte und dem 1885 für das Problem der Minimalflächen eine spezielle Fassung vorausgegangen war.36 Ein Nebenprodukt der Beschäftigung mit WEIERSTRAß ist die Einsicht, daß dessen bekannte Ablehnung des allgemeinen Funktionsbegriffes, der ihm unkonstruktiv war, nicht erst durch die Entdeckung des “konstruktiven” Approximatiossatzes einer anderen Auffassung wich. Denn offensichtlich hat WEIERSTRAß in der Variationsrechnung, wo man beliebige Variationen zulassen muß, in dieser Frage eine viel großzügigere Auffassung als in der Analysis gehabt. Andererseits ist es gerade der Analytiker WEIERSTRAß, der auf der sorgfältigen Beschreibung der Zulässigkeit von Vergleichskurven (-funktionen) besteht und der so die verwirrenden Paradoxa der Variationsrechnung löste, indem er in Bezug auf die verschieden Arten von zulässigen Vergleichsfunktionen auch verschiedene Arten Extrema (schwache und starke in der Sprechweise KNESERS) erklärte. Gerade diese Präzisierung der Vergleichsmenge V ist schließlich der Ausgangspunkt für WEIERSTRAß, neue Methoden für starke Extrema zu entwickeln, weil hierfür die Beweismethoden der Kriterien für schwache Extremalität ungeeignet sind. Die Knesersche Transversalität wird als eine zentrale Quelle der Variationsrechnung für mehrere gesuchte Funktionen und (für freie Randwertprobleme) dargestellt. Leider haben mir hier kaum ungedruckte Quellen zur Verfügung gestanden, aber es gibt trotzdem interessante Einsichten, wie sehr KNESERS Auffassungen letztlich auch HILBERT beeinflußt haben. HILBERT war dieser erhellende Gesichtspunkt, den die Transversalität bot, zunächst entgangen, da er eher die formalen Aspekte des Unabhängigkeitsintegrals ausnützte und da ihm die Schwierigkeiten beim Übergang zu mehreren gesuchten Funktionen erst nach ADOLPH MAYERS bahnbrechenden Arbeiten bewußt wurden. Sein Forschungsprogramm, wie es sich in den Dissertationen zur Feldtheorie widerspiegelt, zeigt den Wandel seiner Auffassungen (Abschnitte 5.6 und 6.6). Außerordentlich interessant ist das Hilbertsche Notizbuch (Abschnitt 5.9), das bisher noch nicht systematisch ausgewertet wurde. Zwar gibt es nur wenige Einträge zur Variationsrechnung, aber darunter befindet sich eine brisante Notiz, die HILBERT nicht veröffentlicht hat und die deshalb unter verschiedenen Namen immer wieder neu formuliert wurde (bei HERMANN BOERNER 35. Vorlesungsmitschriften von Fields für das WS 1896 und das WS 1898 im Archive of the University of Toronto, Fields Papers, B72-0024/003, Mitschrift von Toeplitz für SS 1903 im Universitätsarchiv Bonn, die Vorlesungen über Minimalflächen in den WS 1882 und 1887 im Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie, Nl. Schwarz 144 und 145. 36. Brief an Weierstraß vom 25. 3. 1886 oder Antrittsrede in der Berliner Akademie 1893, siehe Abschnitt 3.6.2.
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EINLEITUNG
(1906-1982) als geodätisches Feld, bei ANDRÉ ROUSSEL (1904-1992) als méthode de adjonction, bei ROLF KLÖTZLER (geb. 1931) als verallgemeinerte Feldtheorie oder zurückgehend auf WADIM FEDOROWITCHS KROTOW (geb. 1932) in der russischen Literatur als K-Funktional, siehe Abschnitt 7.5). Aus dieser kurzen Darlegungen geht auch hervor, wie sich diese Untersuchung von anderen zur Geschichte der Variationsrechnung unterscheidet, die ich im Literaturverzeichnis im Abschnitt 2 aufgeführt habe. Am ähnlichsten zu dieser Arbeit ist die 1930 von WILLIAM L. DUREN (geb. 1905) angefertigte Dissertation The development of sufficient conditions in the calculus of variations37, die aufgrund ihrer Kürze, aber dabei weiteren Auffassung der behandelten Frage sowie der Einschränkung des Autors auf gedruckte Quellen diese detailliertere Untersuchung nicht überflüssig macht. Entsprechendes ist auch von den genannten russischen Arbeiten zu sagen, denen wenig Quellenstudien zugrunde liegen und deren Darstellung mehr vom mathematischen Gesichtspunkt aus erfolgt. Exemplarisch für ein solches mathematisches Herangehen an die Geschichte der Mathematik ist auch der Überblick 100 years of mathematics von GEORGE TEMPLE (1901-1992).38 Natürlich sind derartige Übersichtsarbeiten für die Mathematik wichtig und hilfreich, aber historisch sind sie letztlich nicht. Die Geschichte der Variationsrechnung von HERMANN GOLDSTINE kann als ein Standardwerk angesehen werden. Allerdings endet der von GOLDSTINE betrachtete Zeitraum ungefähr dort, wo die Feldtheorie einen Aufschwung erhält, und die gemeinsame Überschneidung, die insbesondere bei der Behandlung von WEIERSTRAß und SCHWARZ besteht, beruht bei GOLDSTINE auf der gedruckten Weierstraßschen Werkausgabe von 1927 bzw. dem genannten Übersichtsartikel von OSGOOD. Die Bücher von BOLZA oder neuerdings von MARIANO GIAQUINTA (geb. 1947) und STEFAN HILDEBRANDT (geb. 1936)39 enthalten eine Vielfalt von mathematikhistorisch sehr interessanten Details, deren Bedeutung noch durch die Auswahl und die Sicht der kompetenten Mathematiker gewinnt, aber die genannten Werke sind, wie ähnliche andere, natürlich in erster Linie als mathematische Arbeiten geschrieben worden, deren Autoren sich selbst wohl weniger als Historiker, sondern als produktive Mathematiker verstehen. Es sollte erwähnt werden, daß ich angestrebt habe, die einzelnen Kapitel, die thematisch ausgerichtet sind, unabhängig voneinander lesbar zu machen. Damit ließ sich eine gewisse Redundanz nicht vermeiden, aber andererseits
37. In G.A. Bliss et al. (eds.): Contributions to the calculus of variations, Chicago, University Press 1930, 245-349. 38. London, Duckworth, 1981. 39. Bolza, Vorlesungen über Variationsrechnung, Leipzig, B.G. Teubner, 1908 (unveränderte Nachdrucke 1933, 1949); Giaquinta/Hildebrandt, Calculus of variations, 2 vols, Berlin, Springer, 1996 (siehe darin insbesondere die Scholia).
EINLEITUNG
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sind bei den verschiedenen möglichen Gesichtspunkten (mathematischen, mechanischen, optischen und anderen) Wiederholungen und Vergleiche durchaus hilfreich für das Verständnis. Einige technische Details. Die Arbeit ist in Kapitel und Abschnitte geteilt. Auf die vier Ebenen wird mit einer Dezimalnotation verwiesen (etwa: Abschnitt 5.2 oder auch 2.3.1). Die Fußnoten und Abbildungen werden kapitelweise gezählt, während die Formelnumerierung jeweils auf der untersten Abschnittsebene erfolgt. Formelverweise innerhalb eines Abschnitts werden einfach durch Angabe der entsprechenden Formelnummer gemacht; bei Verweisen auf einen anderen Abschnitt der gleichen Ordnungsebene (also im gleichen Oberabschnitt) wird die Abschnittsnummer zur Formelnummer hinzugefügt, also wird beispielsweise im Abschnitt 3.9 auf die Formel (8) des Abschnittes 3.6 mit (6.8) verwiesen. Wird über die Gliederungsebene hinausgehend verwiesen, so werden die entsprechenden Abschnittsnummern (bis zum kleinsten Oberabschnitt) hinzugefügt; allerdings wird nie über die jeweiligen Kapitel hinaus verwiesen. Eine Verwechslung von Formel- mit Abschnittsverweisen ist schon deshalb nicht zu befürchten, da Formelverweise lediglich eingeklammerte Zahlenangaben enthalten (etwa: siehe (3.4.5)), während Verweise auf andere Abschnitte vor der Abschnittsnummer stets das Wort Abschnitt tragen (etwa: siehe Abschnitt 3.4.5). Die Literaturverweise sind bereits in den Fußnoten ausführlich gegeben bzw. bei häufigen Wiederholungen nur so verkürzt gebracht, daß man ohne Mühe die gewünschten vollständigen Angaben entweder in einer nur wenig vorhergehenden Fußnote oder auf alle Fälle im Literaturverzeichnis findet, das alle zitierten Arbeiten nochmals mit ausführlichen bibliographischen Angaben enthält. Das Literaturverzeichnis bringt in einem ersten Abschnitt alle benutzten unveröffentlichten Quellen wie Vorlesungsmitschriften, Briefwechsel usw. In einem zweiten Abschnitt ist Literatur zur Geschichte der Variationsrechnung nebst einschlägigen Bibliographien zusammengestellt. Vor der Sekundärliteratur sind die wichtigsten Werkausgaben angeführt, in denen die Originalausgaben einfacher zugänglich sind. Bei der Korrektur (2005) habe ich einige neuere Arbeiten hinzugefügt, die beim Abfassen der Untersuchung noch nicht berücksichtigt werden konnten. In der Regel sind bei den Literaturangaben bei den Seitenangaben die Kürzel S. oder p. weggelassen worden. Die behandelten Personen werden bei ihrem ersten Erscheinen mit ihren Vornamen und den Lebensdaten eingeführt, und an solchen Stellen, wo sie (erstmals) inhaltlich bedeutende Beiträge geliefert haben, wird vielfach als Fußnote ein kleiner Lebenslauf angegeben. Diese Lebensläufe streben keine Vollständigkeit an, sondern sie wollen für den in Rede stehenden Zeitraum das Geflecht der wissenschaftlichen Beziehungen ein wenig erhellen. Dem Grundsatz, eine Person vollständig mit Vornamen und Lebensdaten lediglich einmal einzuführen, wird zwar prinzipiell nachgekommen, aber zur besseren zeitlichen Orientierung wird er nur in den einzelnen Kapiteln befolgt, um somit dem
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EINLEITUNG
Leser langwieriges Nachschlagen zu ersparen. Im Personenregister werden die Lebensdaten übrigens nochmals angeführt. Dieses Vorgehen empfiehlt auch sich aufgrund der gewählten Darstellung, in der jedes Kapitel sich mit einem bestimmten Problemkreis der Feldtheorie beschäftigt und dabei möglichst für sich selbst verständlich sein soll. Personen, die in Fußnoten erwähnt werden, erscheinen im Personenverzeichnis, aber keine Autoren, der dort zitierten Literatur (die über das Literaturverzeichnis erschlossen werden können). Diese Untersuchung ist eine für den Druck überarbeitete und erweiterte Fassung meiner Habilitationsschrift gleichen Titels, die der Fachbereich 11 (Mathematik) (jetzt “Schwerpunkt Geschichte der Naturwissenschaften, Mathematik und Technik” des Department Mathematik) der Universität Hamburg im Jahre 2000 angenommen hat. Die vorgenommenen Ergänzungen betreffen insbesondere die mehrdimensionale Feldtheorie.40 Halle, im April 2003
40. Während der Korrektur (2005) sind einige Aktualisierungen in der Literatur vorgenommen worden (Fußnoten und Literaturverzeichnis); da der Nachlaß von A. Kneser jetzt in der Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung verfügbar ist, sind die entsprechende Verweise hierauf bezogen worden.
KAPITEL 1
DAS BERNOULLISCHE BRACHISTOCHRONENPROBLEM UND DIE ANFÄNGE DER FELDTHEORIE
These two pages of Bernoulli, which I discovered by chance more than thirty years ago, have had a very decisive influence on the work which I myself did in the Calculus of Variations. I succeeded gradually in simplifying the exposition of this theory and came finally to a point where I found to my astonishment that the method to which I had been directed through long and hard work was contained, at least in principle, in the “Traité de la lumière” of Christiaan Huygens. CONSTANTIN CARATHÉODORY in “The Beginning of the Research in the Calculus of Variations”
1.1 Das Brachistochronenproblem Das 1696 von JOHANN BERNOULLI (1667-1748) gestellte Brachistochronenproblem war nicht das erste Problem der Variationsrechnung,1 aber es ist zweifelsohne ein Problem mit sehr nachhaltigem Einfluß auf die Variationsrechnung gewesen. GILBERT AMES BLISS (1876-1951) merkt beispielsweise hierzu in seinem Buch Calculus of Variations 1925 an: It is fair to say that the theory of the calculus of variations had its beginning in the interesting brachistochrone problem of John Bernoulli.2
1. Extremalprobleme gab es seit der Antike (z. B. bei Apollonius oder Zenodorus); infintesimale Methoden wurden seit der Mitte des 17. Jahrhunderts eingesetzt, z. B. in Fermats Prinzip der kürzesten Ankunft (1662), bei Newtons Rotationskörper mit minimalem Widerstand (1685), beim Problem der Kettenlinie (1690) oder beim Problem der elastischen Kurven (1691). Siehe hierzu auch R. Thiele, “300 Jahre Brachistochronenproblem”, in Günther Löffladt und Michael Toepell (Hrg.), Medium Mathematik. Tagungsband des 1. Internationalen Leibniz-Symposiums NürnbergAltdorf 1996, Hildesheim, Franzbecker, 2002, 76-99. 2. Chicago, 1925, 12. Dtsch. Ausgabe: Bliss-Schwank, Variationsrechnung, Leipzig, B.G. Teubner, 1932. - Das Brachistochronenproblem hat in vielen Darstellungen der Variationsrechnung einen wichtigen Platz eingenommen, so z. B. bei Euler, Lagrange, Borda, Jacobi, Weierstraß, Bliss.
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KAPITEL 1
GALILEO GALILEI (1564-1642) hatte sich bereits 1638 in den Discorsi e dimonstrazioni matematiche3 mit dieser Frage beschäftigt, ohne eine vollständige Lösung erhalten zu haben. Die entscheidende Aufmerksamkeit wurde dem Problem jedoch 1696 durch die Preisfrage von JOHANN BERNOULLI zuteil. Der sich anschließende mathematische Wettstreit der Brüder JOHANN und JACOB BERNOULLI (1654-1705), durch den eskalierenden Bruderzwist ständig angefacht,4 führte auf immer allgemeinere Variationsprobleme sowie auf deren systematische Untersuchung, und diese Auseinandersetzung legte letztlich den Grundstein für eine neue mathematische Disziplin, die Variationsrechnung. Diese Variationsrechnung wurde erstmals 1744 durch JOHANN BERNOULLIS Schüler LEONHARD EULER (1707-1783) in der Methodus inveniendi lineas curvas als eine allgemeine Theorie dargestellt. Das alles ist gut bekannt,5 aber weit weniger wurde die Rolle des Brachistochronenproblems bei der Herausbildung der Feldtheorie in der Variationsrechnung beachtet. Die Feldtheorie dient bekanntlich dem Nachweis starker Extremalität für die Lösungen eines Variationsproblems. JOHANN BERNOULLI hat 1697 erstmals einen hinreichenden Beweis für die Minimalität von Lösungen des Brachistochronenproblems geliefert. Da in den folgenden fast 150 Jahren ein solcher Nachweis bei Variationsproblemen nicht geführt wurde, verdient diese Arbeit bereits deshalb größere Beachtung. BERNOULLIS Überlegungen sind aber um so mehr der Aufmerksamkeit wert, als sie von CONSTANTIN CARATHÉODORY (1873-1950) zum Ausgangspunkt6 seiner eigenen Feldtheorie gemacht wurden, die in ihrer analytischen Form nach wie vor den schnellsten und elegantesten Weg zur Gewinnung hinreichender Bedingungen weist. Wir wollen damit beginnen, die Überlegungen JOHANN BERNOULLIS darzustellen, die wir geometrische Feldtheorie nennen werden, wobei wir gleichzeitig BERNOULLIS geometrische Form zum Zwecke des Vergleiches mit der Carathéodoryschen Feldtheorie behutsam in heutige Schreibweisen übertragen wollen. In diesem Sinne sind die modernen Deutungen der Sachverhalte zu verstehen, die lediglich inhaltlich, aber nicht historisch Brücken zu CARATHÉODORYS Betrachtungen schlagen sollen. CARATHÉODORYS Feldtheorie
3. 3. Tag, Theorem VI, Proposition VI. 4. Vgl. hierzu R. Thiele, “Das Zerwürfnis Johann Bernoullis mit seinem Bruder Jakob”, in Acta historica Leopoldina, Nr. 27 (Festschrift für K.-R. Biermann), Halle, Leopoldina, 1997, 257-276. 5. Siehe hierzu etwa H.H. Goldstine, A History of the Calculus of Variations, New York, Springer, 1980; Die Streitschriften von Johann und Jacob Bernoulli (Variationsrechnung), Hrg. D. Speiser, Basel, Birkhäuser, 1991 [weiter als Streitschriften zitiert]; M. Cantor, Geschichte der Mathematik, Bd. 3, Leipzig, B.G. Teubner, 1898. 6. In der bei Minkowski angefertigten Dissertation Über die diskontinuirlichen Lösungen in der Variationsrechnung, Göttingen, 1904; auch in: Gesammelte mathematische Schriften, Bd. 1, München, Beck, 1954, 3–79.
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wird in ihrer über drei Jahrzehnte währenden Herausbildung im Kapitel 2 verfolgt. Betrachten wir jedoch zunächst das Problem selbst. Am Ende einer Arbeit im Juni-Heft der Acta eruditorum des Jahres 1696 lud BERNOULLI mit einem Problema novum ad cujus solutionem Mathematici invitantur7 überschriebenen Abschnitt, der in keinem Zusammenhang mit der vorangehenden Arbeit stand, zur Lösung eines neuen Problems ein: Datis in plano verticali duobus punctis A & B (vid. Fig. 5 [Abb. 1.1b]) assignare Mobili M viam AMB, per quam gravitate sua descendens & moveri incipiens a puncto A, brevissimo tempore perveniat ad alterum punctum B.8 JOHANN BERNOULLI sprach anfänglich von der Kurve des schnellsten Abstiegs (linea celerrimi descensus), so auch noch in dem sogenannten Groninger Programm vom 1. Januar 1697, einer Flugschrift, die der Propagierung der Aufgabe dienen sollte.9 Jedoch hatte sich BERNOULLI bereits im Brief an GOTTFRIED WILHELM LEIBNIZ (1646-1716) vom 21. Juli 1696 für die Bezeichnung Brachistochrone entschieden, der LEIBNIZ auch zugestimmt und damit auf seine eigene Benennung Tachystoptote verzichtet hatte.10 Das Brachistochronenproblem ist eine mechanische Aufgabe, deren geometrische Behandlungsweise leicht zu dem “geometrischen” Fehlschluß verführt, als Kurve kürzester Fallzeit von A nach B einfach die Verbindungsstrecke der Punkte als kürzeste geometrische Verbindung von A nach B anzunehmen. Hierbei übersieht man jedoch den dynamischen Gesichtspunkt: es geht nicht um die kürzeste geometrische Strecke, sondern darum, daß die Bewegung bereits mit einer möglichst großen Anfangsbeschleunigung vollzogen wird. Schon JOHANN BERNOULLI hatte in seiner Aufgabenstellung gewarnt: Interim (ut forte quorundam praecipti judico obviam eam) quanquam recta AB sit revissima inter terminos A & B, non tamen illa brevissimo tempore percurritur.11
7. “Ein neues Problem, zu dessen Lösung die Mathematiker eingeladen werden”. 8. Acta eruditorum, Juni 1696, 269; Streitschriften, 212. “Wenn in einer vertikalen Ebene zwei Punkte A und B gegeben sind, soll man dem beweglichen Punkte M eine Bahn AMB anweisen, auf welcher er von A ausgehend vermöge seiner eigenen Schwere [ohne Reibung und Widerstand] in kürzester Zeit nach B gelangt.” Dtsch. Übersetzung von P. Stäckel in Ostwalds Klassikern, Nr. 46, S. 3. 9. Joh. Bernoulli Opera omnia, XXIII; auch in: Streitschriften, 259–261. 10. C.I. Gerhardt, Leibnizens mathematische Schriften, Bd 3, Halle, Schmidt, 1875. Brachistochrone von griech. βραχιστος = kürzeste und χρονος = Zeit; Tachystoptote von griech. ταχυσ− τος = schnellste und πιπτειν = fallen. Es gibt noch einen weiteren Superlative von βραχυς = kurz, der βραχυςτατος lautet und demgemäß zur Brachytatochrone führte. C.G. Jacobi hat sich in seinen Vorlesungen über analytische Mechanik, 1847/48 (hrg. H. Pulte, Braunschweig: Vieweg 1996) deutlich für die sprachlich richtige Benennung Brachistochrone (und demzufolge für die iSchreibweise ausgesprochen, S. 160). 11. Acta eruditorum, 1696, 269; Streitschriften, 212. “Um einem voreiligen Urteil entgegenzutreten, möge noch bemerkt werden, daß die gerade Linie AB zwar die kürzeste zwischen A und B ist, jedoch nicht in kürzester Zeit durchlaufen wird.” Dtsch. Übersetzung von P. Stäckel in Ostwalds Klassikern, Nr. 46, S. 3.
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KAPITEL 1
Es ist nicht schwierig, das Problem in eine analytische Form zu bringen (Abbildung 1.1a).12 Der Punkt A ist zweckmäßigerweise der Ursprung (0,0) eines Koordinatensystems, dessen horizontale Achse wie bei Bernoulli die yAchse und dessen vertikale Achse die positive x-Achse sei. Mit GALILEIS Gesetz, daß die Geschwindigkeit v bei einer Anfangsgeschwindigkeit13 v1 in A durch 2
2
(1) v = v 1 + 2gx (g Gravitationskonstante) ds gegeben ist, erhalten wir wegen dt = ----- (s Bogenlänge) in heutiger Notation v
(2) T =
l
ds =
∫0 ----v-
xB
∫x
A
2
1--------------------------+ [ y' ( x ) ] - dx = 2 v 1 + 2gx
tB
∫t
A
2 2 x· + y· - dt → Min, ---------------------2 v 1 + 2gx
wobei die Fallkurven mit der Länge l entweder durch eine Gleichung y = y(x) funktional oder parametrisch durch die Bahnkurven C : x(t), y(t) mit den Anfangs- und Endzeiten tA und tB gegeben sind. Als Vergleichsbahnen wurden seinerzeit solche A und B verbindenden (konvexen) Kurven zugelassen, die wir heute als analytisch bezeichnen würden und für die zudem 2
v 1 + 2gx > 0
gilt. Die Lösungen des Problems sind Zykloiden: r–x y(x) = r arccos ----------- – ( 2r – x )x r (3) x = r (1 – cos ϕ) – v1/2g, y = r (ϕ – sin ϕ),
0 < r; 0 ≤ ϕ ≤ 2π, r > 0,
12. Siehe z.B. H.H. Goldstine, A history of the calculus of variations, Berlin, Springer, 1980, p. 30 ff. Man vgl. auch B. Manià, “Neuere Untersuchungen in der Variationsrechnung”, Abhandlungen aus dem Mathematischen Seminar der Universität, 13 (1940), 113-143. Manià behandelt das Brachistochronenproblem als Mayersches Problem, 123-126. 13. Der von Joh. Bernoulli betrachtete Fall mit verschwindender Anfangsgeschwindigkeit v1 = 0 führt auf ein singuläres Integral in (2). Die damit verbundenen Schwierigkeiten werden nicht diskutiert, obwohl das Problem auch bei Bernoullis geometrischen Vorgehen erhalten bleibt: Wenn der Punkt seinen Fall in A senkrecht beginnt bzw. das Lichtteilchen dort keine seitliche Ablenkung erfährt (dy(0)/dt = 0), so hat die Brachistochrone in A eine senkrechte Gerade als Tangente (Die Brachistochrone ist damit nicht das Bild einer Funktion, sondern bedarf einer Parameterdarstellung). Wegen v ( t ) = y· 2 ( t ) + x· 2 ( t ) ist dies genau dann der Fall, wenn v(0) = v1 = 2 x· ( 0 ) = 0 ist. Analytisch ist diese Situation klar: Da die Eulersche Differentialgleichung von 2. Ordnung ist, kann entweder ein Anfangswertproblem mit 2 Vorgaben in A (Ort und Richtung) oder ein Randwertproblem mit 2 Vorgaben (Anfangs- und Endpunkt) gelöst werden. Bernoullis infinitesimale Lösungstechnik, den kürzesten Weg durch eine dünne optische Schicht zu finden (Methode des steilsten Abstiegs), entspricht der Behandlung eines “unbestimmten” Anfangswertproblems im Kleinen (beliebiger Punkt und zugehörige Richtung [geodätisches Gefälle] in diesem Punkt) und “kaschiert” die Einbeziehung des Punktes A.
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wobei ϕ jener Winkel ist, der beim Abrollen des die Zykloiden erzeugenden Kreises mit dem Radius r auf der Geraden x = –v12/2g die Position des Kreises bestimmt (Abbildung 1.2a, dort v1 = 0).14 Wenn A = (xa , ya) = (0, 0) über B = (xb , yb) liegt (ya = yb = 0), so ist die Lösung offenbar die Gerade y = 0 (x ∈ R+), die aber nicht in den Zykloidengleichungen (3) enthalten ist.
Abb. 1.1. Zum Brachistochronenproblem. a) moderne Darstellung, b) historische Abbildung.
Die Transformation x = x , y = y + π r, ϕ = π + ψ verschiebt jede Zykloide auf der y-Achse um ihre halbe Basis rπ und führt so auf die Darstellung einer konzentrischer Zykloidenschar (3’) x = r(1 + cos ψ) – v1/2g, y = r(ψ + sin ψ), r > 0,
–π ≤ ψ ≤ π,
die besonders augenfällig das schlichte Überdecken der unteren Halbebene verdeutlicht (Abbildung 1.3).
14. Joh. Bernoulli, “Curvatura radii in diaphanis non uniformibus”, Acta eruditorum Maji 1697, 207; Streitschriften, 264. – Bernoulli schreibt: Merito quidem miramur, quod Hugenius primus invenit, in Cycloide vulgari grave facere descensus tautochronos, a quocunque Cycloidis puncto incipiat moveri: sed nescio, an non obstupescas plane, cum dixero, hanc ipsissimam Cycloidem seu tautochronam Hugenianam, esse nostram Brachystochronam quasitam, Streitschriften, 264. (“Mit Recht bewundern wir Huygens, weil er zuerst entdeckte, daß ein schwerer Punkt auf einer gewöhnlichen Zykloide in derselben Zeit herabfällt, an welcher Stelle er auch die Bewegung beginnt. Aber man wird starr vor Erstaunen sein, wenn ich sage, daß gerade die Zykloide, die Tautochrone von Huygens, die gesuchte Brachistochrone ist.” Dtsch. Übersetzung von P. Stäckel in Ostwalds Klassikern, Nr. 46. Leipzig: Engelsmann 21914, 7.) Zeitgenössische Ansichten hierüber finden sich z.B. in Correspondence of John Wallis, vol. I (ed. P. Beeley et al., Oxford: University Press 2003), etwa im Brief von de Carcavi vom 19. 8. 1658, 507. Eine überraschende Veranschaulichung einer in umgekehrter Richtung durchlaufenen Brachistochrone hat G.C. Lichtenberg gefunden, siehe S. 186f.; ein literarisches Beispiel ist H. Melvilles Beschreibung der Brachistochrone in seinem Meisterwerk “Moby Dick” (1851).
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KAPITEL 1
Abb. 1.2. Die Erzeugung einer Zykloide (v1 = 0 zur Vereinfachung). a) Der Drehwinkel ϕ bezieht sich auf den Ausgangspunkt A. b) Der Drehwinkel ψ bezieht sich auf den tiefsten Punkt der Zykloide.
Abb. 1.3. Scharen von Zykloiden (Extremalenfelder) mit dem Scharparameter r (r ≥ 0). a) Der Ausgangspunkt A ist singulärer Punkt des zentralen Feldes. b) Der Koordinatenursprung O ist das Zentrum aller Zykloiden; diese Schar hat für r > 0 keinen singulärer Punkt mehr.
1.2 Johann Bernoullis Lösungen 1.2.1 Die Lösung von 1697 (Curvatura radii in diaphanis) CONSTANTIN CARATHÉODORY hat 1945 in einem Vortrag “Basel und der Beginn der Variationsrechnung” den Denkstil JOHANN BERNOULLIS so charakterisiert: “Seine Hauptkraft bestand in der Fähigkeit, rein analytische Probleme mit Methoden zu behandeln, die er aus der Geometrie, der Mechanik oder der
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Physik hervorholte, und mit welchen er glänzende, wenn auch nicht immer verallgemeinerungswürdige Resultate erzielte. So war es auch mit der Brachistochrone.”15 In diesem Sinn gab JOHANN BERNOULLI zwei Lösungen des Problems, von denen die erste 1697 gemeinsam mit der Lösung seines Bruders JACOB im Mai-Heft der Acta eruditorum veröffentlicht wurde. 1697 ersetzte JOHANN BERNOULLI ein mechanisches durch ein optisches Problem (bzw. das Gesetz des Falls durch das der Lichtausbreitung), indem er die Fallebene zwischen den Punkten A und B in schmale horizontale Streifen aufteilte (Folierung), deren optische Dichte so eingerichtet war, daß die Geschwindigkeiten des Massepunktes und des Lichtpartikels korrespondierten. Die Thematik der Lichtausbreitung haben die Brüder während des Parisaufenthaltes von JOHANN 1691-1692 brieflich miteinander diskutiert. Bei JACOB finden sich 1692 außerdem einige Eintragungen in seinen Meditationes (Art. 180–182, UB Basel), vgl. auch Opera Jac. Bernoulli, pp. 1063-67 hierzu. Die Analogie zur optischen Brechung erscheint in der Schrift Johannis Bernoulli Lectiones de calculo differentialium (1691/92), die die Vorlage für die Analyse des infiniment petits (Paris 1696) des den Marquis GUILLAUME L’HOSPITAL (1661-1704) war, und zwar in der Aufgabe 16 (bei L’HOSPITAL als Beispiel XI in art. 59, pp. 49–51), in der ein Fußgänger zwei Felder unterschiedlicher Beschaffenheit mit jeweils verschiedenen Geschwindigkeiten schnellstmöglich durchqueren soll. Es ist bezeichnend, daß L’HOSPITAL diese Aufgabe in sein Buch aufgenommen hat, aber ihr Wesen im Hinblick auf das Brachistochronenproblem nicht erfaßte. Die Lectiones sind als Manuskript in der UB Basel vorhanden, es gibt einen ersten Druck in den Verhandlungen der Naturforschenden Gesellschaft in Basel, 24 (1922/23) 1–32, sowie eine deutsche Übersetzung von PAUL SCHAFHEITLIN (1861-1924) in Ostwalds Klassikern, Nr. 211, Leipzig: B.G. Teubner 1924. In JOHANNES 1693 gehaltener Doktordisputation Propositiones Logicae de Propositionibus (Opera Joh. Bernoulli, Bd. 1, pp. 77-91) sind es die Thesen 19 (Lichtweg in geschichteter Atmosphäre) und 11 (Minimalität bei Reflexion). Auch KARL WEIERSTRAß (1815-1897) kommt in seinen Vorlesungen (SS 1875 sowie im zugehörigen Seminar, siehe dazu Abschnitt 3.5.2.5) auf das Thema zu sprechen, wobei er sich auf eine von EDUARD KUMMER (1810-1893) gegebene Fassung bezieht. Die “optische” Lösung von JOHANN BERNOULLI steht noch heute in jedem einschlägigen Buch, und wir weisen deshalb nur auf drei bemerkenswerte Punkte hin, von denen später unsere Diskussion ausgehen wird. 1. Bereits in der Einladung, das Problem zu lösen, hatte JOHANN BERNOULLI 1696 auf die Nützlichkeit der Aufgabe für andere Wissenszweige hingewiesen: Habet enim maximum etiam in aliis scientiis quam in mechanicis,
15. Gesammelte mathematische Schriften, Bd. 2, München, Beck, 1955, 110.
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KAPITEL 1
quod nemo facile crediderit.16 In der Lösung im Mai-Heft der Acta eruditorum 1697 stellte er deutlich die Beziehungen von Mechanik und Optik heraus, und die Variationsrechnung ist das gemeinsame mathematische Bild der beiden physikalischen Bereiche. In einem 1697 publizierten Brief in der Histoire des Ouvrages des Savans17 an HENRI DE BASNAGE (1656-1710), den Herausgeber dieser Zeitschrift seit 1687, wies BERNOULLI auf die enge Beziehung des mechanischen Brachistochronenproblems zu den optischen Problemen hin, die bereits CHRISTIAAN HUYGENS (1629-1695) in seinem Traité de la lumière (publiziert 1690, aber bereits 1678 verfaßt) behandelt hatte.18 Diesen Zusammenhang erkannte erst WILLIAM ROWAN HAMILTON (1805-1865) in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts wieder (vgl. Abschnitt 4.2). 2. Bei der ersten Lösung des Problems bediente sich JOHANN BERNOULLI der sogenannten indirekten Methode, d.h., er führte das Variationsproblem (2) auf ein Randwertproblem für eine Differentialgleichung zweiter Ordnung (Eulersche Differentialgleichung) zurück. Im Gegensatz zu den indirekten Lösungen von GOTTFRIED WILHELM LEIBNIZ, von JACOB BERNOULLI und später von LEONHARD EULER oder noch später von KARL WEIERSTRAß (18151897) gewann JOHANN BERNOULLI die Eulersche Differentialgleichung für die Brachistochrone jedoch nicht durch eine “lokale” Störung der als gegeben gedachten Lösungskurve, sondern sukzessive durch die direkte Methode des “steilsten Abstiegs”. Er bestimmte die Lösung (bzw. ihre Differentialgleichung), indem er verlangte, daß jede der konstruierten optischen Schichten in kürzester Zeit zu durchqueren ist (Abbildung 1.4).
16. Acta eruditorum, Juni 1696, 269; Streitschriften, 212. “Vielmehr erweist es sich sogar, was man kaum glauben sollte, auch für andere Wissenszweige, als die Mechanik, sehr nützlich.” Dtsch. Übersetzung von P. Stäckel in Ostwalds Klassikern, Nr. 46, S. 3. 17. Juin 1697, 452–467; Streitschriften, 283. 18. Streitschriften, 285: “[…] partie aussi qu’elle donne en même tems la resolution de deux fameux problêmes d’Optique, dont feu Mr. Huygens fait mention dan son Traité de la lumiere pag. 44, sans en oser entreprendre la determination ( […] teils auch, weil sie zur gleichen Zeit die Lösung von zwei berühmten Problemen der Optik gibt, die Herr Huygens in seinem Traité de la lumière auf S. 44 erwähnt, ohne sich dabei zu unterfangen, sie zu bestimmen.)”. Huygens beschreibt an der angegebenen Stelle mittels gekrümmter Strahlen und den zugehörigen Wellen (fronten) die Lichtausbreitung bei der atmosphärischen Strahlenbrechung, die exemplarisch für den allgemeinen Fall eines inhomogenen Mediums steht (geometrisches Bild eines Feldes), vgl. Abb. 5.4, S. 431.
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Abb. 1.4. Die Variationsmethoden von Jacob und Johann Bernoulli. a) Jacob Bernoullis Methode des lokalen Störens, b) Johann Bernoullis Methode des steilsten Abstiegs.
3. Wie es in der Optik naturgemäß ist, betrachtet JOHANN BERNOULLI nicht den einzelnen Lichtstrahl (Extremale), sondern gleich ein Bündel von Strahlen (Extremalenschar bzw. -feld). Diese optische Sicht wird aufgrund der Analogie in die Mechanik übertragen.19 Zu seinem Vorgehen beim Brachistochronenproblem bemerkte JOHANN BERNOULLI selbst: Non ego polliceor universalem methodum, quam quis frustra quaereret, sed peculiares modos, non solum quidem in hoc, sed & in pluribus aliis succedentes.20 Allerdings hatte JOHANN BERNOULLI die Tragfähigkeit seiner Methode auch über den betrachteten realen physikalische Fall hinaus erkannt, da er zwei weitere Beispiele mit jeweils fiktiven “Weg-Zeit-Gesetzen” untersuchte, die von den Galileischen Fallgesetzen verschieden waren (nämlich v = ax bzw. v = a 3 x ). Gerade im Hinblick auf das Entwicklungsstadium der Variationsrechnung ist dieses Bestreben, eine für ein Problem gefundene Methode bis an ihre Grenzen auszunützen, hervorhebenswert und durchaus als wesentliche Generalisierungsabsicht zu werten, auch wenn BERNOULLI selbst die Möglichkeit einer allgemeinen Lösung des Problems in Abrede stellte. Die von JOHANN BERNOULLI praktizierte Methode könnte man in modernen Begriffen als eine Folierung der Fallebene deuten (siehe Abschnitte 1.2.3 und 1.3). 19. Nicolaus Bernoulli erwähnt in seiner Arbeit De trajectoris curvas (Acta eruditorum, Junii 1718; auch in: Opera omnia Joh. Bernoulli, vol. II, 287) die Anregungen, die Joh. Bernoulli dabei von Ch. Huygens erhalten hat. 20. Streitschriften, 263. “Ich verspreche nicht, eine allgemeine Methode zu geben, die man wohl vergebens [!] suchen dürfte, wohl aber besondere Verfahrungsarten, welche nicht nur bei dieser, sondern auch bei anderen Aufgaben zum Ziele führen.” Dtsch. Übersetzung von P. Stäckel in Ostwalds Klassikern, Nr. 46, S. 7. – Bernoullis Methode kann in der Tat nur auf eine kleine Klasse von mechanischen Problemen angewandt werden, aber die erfaßte Beziehung zwischen Mechanik und Optik wirkte bahnbrechend (vgl. die Kapitel 2 und 4).
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1.2.2 Jacob Bernoullis Lösung JACOB BERNOULLI hatte auf analytischem Wege für das Brachistochronenproblem ein allgemeineres Verfahren als sein Bruder JOHANN mit dem geometrischen Vorgehen gefunden, nämlich das klassische Variationsprinzip des lokalen Störens; genauer, er hatte unter der Annahme, daß die globale Extremalität auch die lokale Extremalität nach sich zieht, durch eine infinitesimale Änderung an der als gegeben angenommenen Lösungskurve deren Differentialgleichung (Eulersche Differentialgleichung) als notwendige Bedingung erhalten. Sein Verfahren war daher auch auf Probleme mit Nebenbedingungen (isoperimetrische Probleme) übertragbar, sofern man die infinitesimalen Änderungen so ausführte, daß die Nebenbedingungen nicht verletzt wurden. JACOB BERNOULLI hatte beim isoperimetrischen Problem diese Erweiterung “leicht” erkennen können, indem er an drei benachbarten Stellen änderte, während die geometrische Betrachtungsart seinem Bruder JOHANN diese Einsicht zunächst versperrte. Daher löste JOHANN BERNOULLI die von seinem Bruder als Revanche gedachten Variationsprobleme mit Nebenbedingungen (im Artikel Solutio Problematum Fraternorum des Mai-Heftes der Acta eruditorum 1697 gestellt) nur unvollständig, ohne daß er seine Fehler einsah. Es brach eine billige Polemik aus. JACOB BERNOULLI stellte schließlich seine Methode in zwei Arbeiten von 1700 und 1701 dar,21 aber vorsichtigerweise erst dann, als er wußte, daß sein Bruder seine (wie JACOB richtig vermutete) falsche Lösung bei der französischen Akademie versiegelt hinterlegt hatte. JOHANN BERNOULLI muß die Mängel seiner Lösung nach dem Studium der Lösung seines Bruders vermutlich erkannt haben, denn als er von einem geplanten Besuch JACOB BERNOULLIS in Paris erfuhr, zog er die versiegelte Lösung zurück und reichte sie erst nach dem Tode des Bruders 1705 wieder ein. Die lateinisch abgefaßte Abhandlung wurde schließlich 1706 in einer französischen Übersetzung veröffentlicht. In der Arbeit von 1718, die als Reaktion auf die Methodus incrementorum (1715) von BROOK TAYLOR (1685-1731) und der darin gegebenen Darstellung des Brachistochronenproblems erschien, benutzt JOHANN BERNOULLI wieder geometrische Gedanken, mit denen er die teilweise schwierig zu lesenden Gedanken seines Bruders besser verständlich machen konnte, vereinfachte aber durch die Erkenntnis einer Gleichmäßigkeit in den analytischen Formeln das Problem.22 21. Solutio und Analysis, Streitschriften, 404-419 und 485-505. Bei Nebenbedingungen ist Jakob Bernoullis Annahme, daß globale Extremalität auch lokale nach sich zieht, nicht in jedem Fall offensichtlich und bedarf einer Begründung. 22. Näheres zu diesen Auseinandersetzungen bei C. Carathéodory, “Basel und der Beginn der Variationsrechnung”, Gesammelte mathematische Schriften, Bd. 2, München, Beck, 1955, 118– 128; J.E. Hofmann, Über Jakob Bernoullis Beiträge zur Infinitesimalmathematik, Genève, 1956; D. Speiser (Hrg.), Die Streitschriften von Johann und Jacob Bernoulli, Basel, 1991; R. Thiele, “Das Zerwürfnis Johann Bernoullis mit seinem Bruder Jakob”, Acta historica Leopoldina, Nr. 27 (Festschrift für K.-R. Biermann), Halle, Leopoldina, 1997, 257-276.
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1.2.3 Die Lösung von 1718 (Remarques) In der Arbeit Remarques von 1718 leitet JOHANN BERNOULLI auf eine weitere Art die Brachistochrone her. Die zweite Lösung JOHANN BERNOULLIS zum Brachistochronenproblem ist wenig bekannt, sie ist aber außerordentlich interessant. BERNOULLI hat sie – was eine Folge des Streites der Brüder ist – erst 1718 in den Mémoires de l’Académie Royale des Sciences, Paris,23 publiziert, und noch dazu etwas versteckt als letzten Abschnitt mit der Überschrift “Problème de la plus vîte descente résolu d'une manière directe & extraordinaire”24 der Arbeit Remarques sur ce’on a donné jusqu'ici de solutions des Problêmes sur les Isoperimetres, avec une nouvelle méthode courte & facile de les résoudre sans calcul25. Jedoch erwähnte er diese Lösung bereits in dem schon genannten Brief an BASNAGE von 1697: Cependant ayant trouvé deux différentes méthodes, une indirect, & une directe, qui déduit la résolution du fondement même de la chose, en considérant les maxima & minima, laquelle m’a mené à cette démonstration synthétique dont je viens de parler; je n’en ai pourtant publié que l’indirecte, partie que je la croyois suffisante pour convaincre celui qui voudroit douter de la vérité de nos résolutions.26 Die direkte Methode BERNOULLIS – oder wie er selbst sagt “une démonstration synthétique […] à la manière des Anciens”27 – gibt einen stichhaltigen Beweis für die Minimalität der Brachistochrone. JOHANN BERNOULLI unterscheidet sich hier von seinen Zeitgenossen deutlich, denn er bestimmt nicht nur die Gestalt einer Kurve (durch eine Differentialgleichung), sondern er weist darüber hinaus auch eine Eigenschaft (die Minimalität) dieser Kurve nach. Das ist eine Leistung, von der CARATHÉODORY sagt, daß sie: “während des ganzen 18. Jahrhunderts nicht mehr wiederholt worden ist und erst mit gewissen Sätzen von Gauß über geodätische Linien verglichen werden kann.”28 JACOB BERNOULLI hatte übrigens 1700 und 1701 solche Minimalitätsbeweise für die von ihm in den Arbeiten Solutio propria problematis isoperi-
23. Mémoires de l’Académie Royale des Sciences Paris 1718 (1719), 100–138; Streitschriften, 527–567, Problème de la plus vîte descente auf S. 564. 24. Problem des schnellsten Abstiegs, in einer direkten und ungewöhnlichen Art gelöst. 25. Bemerkungen über die bis jetzt vorliegenden Lösungen des isoperimetrischen Problems mit einer neuen kurzen und einfachen Lösungsmethode ohne den Calcul. 26. Streitschriften, 285. “Jedoch sind zwei verschiedene Methoden gefunden worden, eine indirekte und eine direkte, die auf der gleichen Grundlage durch Betrachten der Maxima und Minima die Lösung dieser Sache folgern, was mich auf diesen synthetischen Beweis geführt hat, auf den ich zu sprechen komme; gleichwohl habe ich lediglich den indirekten veröffentlicht, teils weil ich ihn ausreichend glaubte, um jene überzeugen zu können, die unsere Lösung bezweifeln”. Auch im Briefwechsel mit Leibniz findet sich diese Bemerkung, Brief vom 21. 7. 1696. 27. Streitschriften, 284. “[…] einen synthetischen Beweis in der Art der Alten [der griechischen Mathematik]”. 28. “Basel und der Beginn der Variationsrechnung”, Gesammelte mathematische Schriften, Bd. 2, München, Beck, 1955, 111.
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metrici29 und Analysis magni problematis isoperimetrici30 behandelten allgemeineren Variationsprobleme vergeblich zu geben versucht. JOHANN BERNOULLIS geometrische Methode für das Brachistochronenproblem kann in modernen Begriffen als feldtheoretische Untersuchung gedeutet werden. Eine solche (natürlich unhistorische) Übertragung läuft darauf hinaus, daß BERNOULLI mit einem übersichtlichen diffeomorphen Bild des Feldes im Kleinen arbeitete und gewissermaßen eine infinitesimale Feldtheorie à la WEIERSTRAß betrieb. Wir werden jedoch sehen, daß die globale Fassung dieses Ansatzes weitreichender als die Weierstraßsche Feldtheorie ist (vgl. Abschnitt 2.3.3, CARATHÉODORY, Sur une méthode directe, 1908). BERNOULLIS Methode könnte in der Sprache der symplektischen Geometrie als eine geeignete Folierung der Fallebene begriffen werden. Aus dieser Sicht hat GARY LAWLOR (geb. 1961) in dem Artikel A New Minimization Proof for the Brachistochrone31 1996 die Minimalität der Brachistochrone mittels einer minimization by slicing nachgewiesen, aber das ist in moderner Fassung gerade die Bernoullische Beweisidee der zweiten Lösung, welche wir im nächsten Abschnitt betrachten werden. Schließlich sei erwähnt, daß JOHANN BERNOULLI die “Feldtheorie” für ein Problem einsetzt, das grundsätzlich ohne feldtheoretische Verfahren behandelt werden könnte, da im Brachistochronenproblem das Minimum über einer Menge von Vergleichskurven gesucht wird, deren Nachbarschaftsbegriff im Sinne des Raumes der stetig differenzierbaren Kurven bestimmt ist (“mechanische Variation”). Also wird die Brachistochrone als Lösung des physikalischen Problems eine schwache Minimale sein. Bei der zweiten Lösung griff JOHANN BERNOULLI auf die bekannte Eigenschaft der Zykloide zurück, wonach die Gerade durch die Rückkehrpunkte der Zykloide die Radien der Krümmungskreise halbiert. Wir geben nachfolgend diese überzeugende und sehr elegante Lösung an, da bereits hier ein wichtiges Element für die hinreichenden Bedingungen bei der später gestellten Frage nach minimalen Kurvenstücken im Sinne des Variationsproblems erscheint. Wie in der Abbildung 1.5 wird ein x,y-Koordinatensystem eingeführt (xAchse vertikal). Neben der Brachistochrone AMmB zeichnet BERNOULLI noch eine zulässige Vergleichskurve ACcB ein, M und m sind beliebige, infinitesimal benachbarte Punkte der Brachistochrone. Durch M und m werden zwei Normalen MN und mn gelegt, die sich in K mit einem infinitesimalen Winkel CKc schneiden mögen.32 Dabei sind N und n sowie C und c die Schnittpunkte
29. Acta eruditorum Junii, 1700, 261–266; Streitschriften, 404–419. 30. Acta eruditorum Maji, 1701, 213–228; Streitschriften, 485–505. 31. American Mathematical Monthly, 103 (1996), 242-249. 32. Diese Konstruktion war damals allgemein bekannt: N ist der Berührungspunkt des erzeugenden Kreises mit der y-Achse. Erstmals hat sie P. Fermat in der Untersuchung Methodus ad disquirendam maximum et minimam angewendet, aber brieflich R. Descartes schon 1638 mitgeteilt (Oeuvres de Fermat, vol. 1, Paris, 1891, 133).
DAS BERNOULLISCHE BRACHISTOCHRONENPROBLEM
41
der Geraden mit der x-Achse sowie der Vergleichskurve. Da der Winkel CKc infinitesimal ist, sind die konzentrischen Kreisbögen Mm und Ce, die von K zwischen den beiden Geraden KMC und Kmc gezogen werden und vom Punkt M bzw. C ausgehen, infinitesimale Geradenstücke. BERNOULLI bezeichnete (1) NK = a, MN = x, MK = a + x und definierte eine (endliche) Größe m sowie eine (infinitesimale) Größe n durch folgende Proportionen33 (2) MN : MD = 1 : m
bzw.
(3) MK : Mm = CK : Ce = 1 : n
MD = m.MN = mx, bzw.
Mm = n MK.
Damit ist (4) Mm = n(x + a). Jetzt wählte BERNOULLI die Größe MN = x so, daß die Fallzeit dt = ds/v minimal wird bzw. daß Mm (5) --------- → Min v
oder Mm n(x + a) (6) ------------- = -------------------- → Min MD
xm
gilt. Das Ergebnis dieser elementaren Minimumaufgabe ist x = a = MK / 2, womit die Lösungskurve AMmB gerade die charakteristische Eigenschaft der Zykloide aufweist und somit eine Zykloide ist.
33. Bernoulli benutzt die Bezeichnungen m und n in zwei verschiedenen Bedeutungen: einmal für Punkte und zum anderen für die durch (2) und (3) definierten Größen.
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KAPITEL 1
Abb. 1.5. Zur Herleitung der Brachistochrone. a) Bernoullis Originalzeichnung aus den Remarques, b) Vereinfachte Umzeichnung.
1.2.4 Johann Bernoullis hinreichender Beweis (die “geometrische Feldtheorie”) In BERNOULLIS hinreichendem Beweis für die Minimalität ist die Feldtheorie schon im Keim angelegt. Das werden wir im nächsten Abschnitt herausarbeiten, nachdem wir hier BERNOULLIS eigene Überlegungen dargestellt haben. JOHANN BERNOULLIS Prinzip ist einfach. Er verwendet die zur Herleitung der notwendigen Bedingungen benutzten Überlegungen wieder und ersetzt Kurvenstücke durch die infinitesimale Elemente ihrer Berührungskreise. Danach werden die Zeiten verglichen, die zum Durchlaufen dieser Linienelemente benötigt werden. Es zeigt sich, daß auf allen infinitesimalen Teilen von Vergleichskurven mehr Zeit als auf den entsprechenden infintesimalen Teilen der Brachistochrone verbraucht wird. Faßt man die infinitesimalen Betrachtungen integral zusammen, so ist für die Brachistochrone der Nachweis ihrer Minimalität erbracht. Genauer lautet die Argumentation: Besteht zwischen zwei Differentialen beständig eine Ungleichheit, so auch für die zugehörigen Integrale.34
DAS BERNOULLISCHE BRACHISTOCHRONENPROBLEM
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Im einzelnen ging BERNOULLI so vor (vgl. Abbildung 1.5). K sei der Krümmungsmittelpunkt für die infinitesimal benachbarten Punkte M und m der Brachistochrone. In M und m werden die Normalen MK und mK errichtet, die (bzw. deren Verlängerungen) die Vergleichskurve ACcB in C und c schneiden. Mm bzw. Cc sind die infinitesimalen Elemente der Brachistochrone bzw. der Vergleichskurve in den Punkten M bzw. C, Mm bzw. Ce sind die infinitesimalen Elemente der Krümmungskreise in den Punkten M bzw. C der Brachistochrone bzw. der Vergleichskurve. D und G seien die Fußpunkte des Lotes von M und C auf die waagerechte y-Achse; DM und GC sind damit die Fallhöhen der Punkte M und C. Die Gerade durch D und K schneide den Fallweg CG in H, und die Gerade GI sei schließlich parallel zur Geraden durch H, D und K. Nun wird auf der Geraden durch C, G und H eine “Fallhöhe” CF so definiert, daß CH die mittlere Proportionale von MD und CF ist: (1) MD : CH = CH : CF. Da M und C auf verschiedenen Kurven liegen folgt wegen MN = NK (Zykloideneigenschaft) (2) (CN – MN)2 = (CN – NK)2 > 0. Also gilt auch (3) (CN + NK)2 > 4 CN .NK, und wegen 2 CN = CI bis auf infinitesimale Größen ω (d.h. 2 CN ≡ CI mod ω ) Zykloideneigenschaft, (4) 2 NK = MK, CN + NK = CK
ist (5) CK2 > CI MK bzw. (6) CK : CI > MK : CK. Aufgrund der Ähnlichkeit der Dreiecke KMD und KCH bzw. CKH und CIG haben wir (7) KM : KC = MD : CH, (8) KC : IC = CH : CG.
34. Obwohl diese Argumentation explizit nicht erscheint, können wir von der Vertrautheit des Schlusses ausgehen, da Jacob Bernoulli in leicht geänderter Weise in der Lösung des Isochronenproblems (“Analysis problematis de inventione lineae descensus”, Acta eruditorum Maji, 1690, 217-219; auch in: Opera omnia, 421–426) aus der Gleichheit der Differentiale auf die Gleichheit der zugehörigen Integrale mit den bekannten Worten “ergo et horum integralia aequantur (und folglich sind deren Integrale gleich)” schloß, wobei der von Johann geprägte Ausdruck Integral erstmals gedruckt erschien.
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KAPITEL 1
Aus der Proportion (1) folgt mit Hilfe von (7) und (8) (9) CH : CG > CH : CF bzw. (10) CF > CG. Jetzt kann das Verhältnis der für das Durchlaufen von Mm und Ce benötigten Zeitelemente dT (= ds/v) verglichen werden: Mm Ce (11) dTMm : dTCe = ------------- : ------------ . MD
CG
Da sich die Bögen Mm und Ce wie die zugehörigen Radien KM und KC verhalten, gilt wegen (7) und da CH mittlere Proportionale zu MD und CF ist, (1), (12) Mm : Ce = KM : KC = MD : CH = MD : CF ⋅ MD = MD : CF . Hieraus folgt mit (10) für (11) (13) dTMm : dTCe =
CG :
CF < 1.
Abb. 1.6. Infintesimale Interpretation der Minimalität
Die für das infinitesimale Brachistochronenelement im Punkt M benötigte Zeit dTMm ist kleiner als die Zeit dTCe für das Element des Krümmungskreises der Vergleichskurve im Punkt C, (14) dTMm < dTCe.
DAS BERNOULLISCHE BRACHISTOCHRONENPROBLEM
45
Da der infinitesimale Kreisbogen Ce ein infinitesimales Geradenstück ist, das auf seinen Radien (den Normalen KC und Ke ) senkrecht steht, ist der infinitesimale Teil Cc einer Vergleichskurve Hypotenuse im infinitesimalen Dreieck Cce und damit länger als Ce (Abbildung 1.6). Weil der Massenpunkt von C aus die Strecken Cc und Ce mit gleicher Geschwindigkeit zurücklegt, wird er für die Hypotenuse Cc mehr Zeit benötigen als für die Kathete Ce. Also gilt im Kleinen (15) dTMm < dTCe < dTCc, mithin integral (16) TAMmB < TACeB < TACcB. D. h., für die Brachistochrone wird im Vergleich mit allen anderen Vergleichskurven in der Tat die kürzeste Zeit benötigt. CARATHÉODORY hat diese Arbeit BERNOULLIS zufällig entdeckt und ihre Grundgedanken als Anhang in seine Dissertation35 aufgenommen. Er stellt BERNOULLIS Überlegungen dar, indem er an dessen Herleitung der Differentialgleichung für die Brachistochrone mittels des steilsten Abstiegs (bei CARATHÉODORY: geodätisches Gefälle) anknüpft und dann resümiert: “Es sei jetzt ACcB eine Vergleichskurve. Jedes Element Cc dieser Kurve wird in einer längeren Zeit durchlaufen als bei derselben Geschwindigkeit das kürzere Kreisbogenelement Ce. Dieses aber wird wieder in einer längeren Zeit durchlaufen als das Element Mm der Zykloide. Folglich liefert diese ein wirkliches Minimum.”36 1.2.5 Die Synchronen Die geometrische Vorstellungen JOHANN BERNOULLIS sowie der Einfluß von CHRISTIAAN HUYGENS37 zeigen sich der Arbeit Curvatura radii von 1697 besonders klar in den letzten drei Absätzen. JOHANN BERNOULLI behandelt dort die Frage, eine Kurve zu finden, die alle Zykloiden der Schar durch den Punkt A orthogonal schneidet.38 In der Sprechweise von HUYGENS geht es um die Wellen[fronten], die zu den sich auf den Zykloiden bewegenden Licht-
35. Siehe Fußnote 6 und das Motto dieses Kapitels. 36. Gesammelte mathematische Schriften, Bd. 2, München, Beck, 1955, 71. – Die von Carathéodory mit c und e gekennzeichneten Punkte werden bei Bernoulli gerade anders herum benutzt; im Zitat ist daher Carathéodorys Bezeichnung abgeändert und der Bernoullis angepaßt. 37. Vgl. hierzu den Traité de la lumière, chap. iv (Fußnote 19) sowie die Arbeit von Nicolaus Bernoulli “De trajectoris curvas”, Acta eruditorum, Junii 1718, wo dieser Einfluß genannt wird. 38. Acta eruditorum Maji 1697, 206-211; Streitschriften, 263-270. Vgl. die Abschnitte 1.2.4, 2.3.2, 4., 4.4.7, 6.1.2 und 6.7 sowie die Monographie von S. Engelsman, Families of Curves and the Origins of Partial Differentatio, Amsterdam, North Holland, 1984.
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KAPITEL 1
punkten mit gleicher Zeit gehören. HUYGENS resümiert: Et cecy fait assez voir que le rayon se continue suivant la ligne courbe qui coupe toutes les ondes à angles droits, comme il a esté dit.39 Modern gesprochen sucht BERNOULLI die zum singulären Extremalenfeld durch A gehörige transversale (hier sogar orthogonale) Kurvenschar, deren Mitglieder er Synchronen nennt. In BERNOULLIS eigenen Worten lautet die Frage so: Quaeritur in plano verticali (fig. iii [= Abb. 1.7]) curva PB, quam synchronam appelare liceat, ad cujus singula puncta B grave ex A descendens per Cycloides conterminas AB aequali tempore perveniret.40 Erläuternd fährt BERNOULLI fort, daß der Sinn der Aufgabe sei, von den einzelnen Zykloiden jeweils einen solchen Bogen abzuschneiden, für dessen Durchlaufung der Massepunkt stets die gleiche Zeit benötige (Abbildungen 1.7 und 1.8). Er ergänzt, daß die rein geometrische Frage nach einer zur Brachistochrone orthogonalen Kurvenschar an sich schwierig sei, aber von der mechanischen Seite leicht bewältigt werden könne. Mittels der Analogie zur Optik geht es darum, auf den Zykloiden jene Punkte zu finden, die ein von A sich ausbreitender Lichtstrahl in gleicher Zeit erreichen kann. BERNOULLI konstruiert die Wellenfront bzw. die Schar der Synchronen, der Beweis für die Richtigkeit der Konstruktion bleibt dem Leser überlassen. In der deutschen Ausgabe der Arbeit in Ostwalds Klassikern (Nr. 46) ergänzt der Herausgeber PAUL STÄCKEL (1862-1919) in der Art BERNOULLIS diesen offenen Punkt.41 BERNOULLI bemerkt noch: Quod si problema hoc modo in pure Geometricum reductum proponere libuisset: invenire scilicet curvam, quae omnes Cycloides communis initii normaliter secat, profecto res magnae molis fuisset Geometris.42 Damit sind die Bestandteile der “geometrischen Feldtheorie” ausreichend charakterisiert: einmal die schlichte Schar der Extremalen (Zykloiden) und zum anderen die zugehörige orthogonale Schar der Synchronen (Transversalen). CARATHÉODORY spricht von der vollständigen Figur (siehe Abschnitt 2.3.2). In dem betrachteten Beispiel sind die Extremalen Lichtstrahlen, und die 39. Oeuvres complètes de Ch. Huygens, vol. 19, La Haye, 1937, p. 494 bzw. p. 48 des Traité. “Hieraus kann man deutlich genug erkennen, daß der Lichtstrahl, wie behauptet worden ist, sich in einer krummen Linie fortpflanzt, welche alle Wellen unter rechten Winkeln schneidet.” Dtsch. Übersetzung von R. Mewes in: Abhandlungen über das Licht, Leipzig, B.G. Teubner, 1913, 48 (Ostwalds Klassiker, 20). 40. Acta eruditorum, Maji 1697, 210; Streitschriften, 268. “Man sucht in einer vertikalen Ebene eine Kurve PB, welche man Synchrone nennen könnte, zu deren Punkt ein schwerer Körper, welcher auf den Zykloiden AB von A aus fällt, in derselben Zeit gelangt.” Dtsch. Übersetzung von P. Stäckel in Ostwalds Klassikern, Nr. 46, S. 12. Vgl. Fußnote 19. 41. P. Stäckel (Hrg.), Abhandlungen über Variationsrechnung, 1. Teil, Leipzig, B.G. Teubner 1914, Anm. 10 zu Seite 13, (Ostwalds Klassiker, 46). 42. Acta eruditorum Maji, 1697, 210–211; Streitschriften, 270. “So ist die Aufgabe auf die rein geometrische zurückgeführt, man solle die Kurve finden, welche alle Zykloiden mit dem Anfangspunkt A senkrecht schneidet.” Dtsch. Übersetzung von P. Stäckel in Ostwalds Klassiker, Nr. 46, S. 13.
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Synchronen sind gemäß dem Huygensschen Prinzip die zugehörigen Wellenfronten. BERNOULLI gibt hierfür eine geometrische Konstruktion, die wir gerade erwähnt haben.43 Mit Orthogonaltrajektorien hatte sich JOHANN BERNOULLI erstmals im Sommer 1694 befaßt, und er weiß zur Zeit des Brachistochronenproblems bereits, daß sich alle Lichtstrahlen mit jeder Wellenfront senkrecht schneiden.44 Auf das Synchronenproblem bei der Brachistochronenaufgabe kommt BERNOULLI in einem Brief an LEIBNIZ vom 31. Juli 1696 zu sprechen, und er vergleicht dabei die Orthogonaltrajeketorien dieses Beispiels mit denen der logarithmischen Spirale.45 Wir bestimmen ergänzend die Gleichung der orthogonalen Schar für das Brachistochronenproblem. Die Synchronen sind aus mechanischer Sicht als geometrischer Ort der Punkte P mit gleicher Fallzeit T auf den Brachistochronen charakterisiert. Auf diese Weise erhält man leicht eine Beziehung zwischen den Parametern r und ϕ, die zu einem solchen Punkt P einer Synchrone gehören, indem man das Variationsintegral (1.2) längs Brachistochronen (Zykloiden) auswertet: r g
(1) T = ϕ 2 ---
bzw.
ϕ 2r = c > 0.
Damit erhalten wir aus (1.3) bzw. (1.3’) die Gleichungen der transversalen Scharen (Synchronen) zu den Extremalenfeldern für r > 0 bzw. c > 0 in Parameterform: 2
c x = --------2- ( 1 – cos ϕ ) , 2ϕ 2
c (2) x = -----------------------2- ( 1 + cos ϕ ) , 2(π + ψ) 0 < ϕ ≤ 2π , - π < ψ ≤ π .
Der Grenzfall r = 0 bzw. c = 0 ( ϕ 2r = c) liefert den Ursprung; für ϕ = 0 bzw. ψ = 0 läßt sich die Schar stetig ergänzen.
43. Acta eruditorum Maji, 1697, 210–211; Streitschriften, 270. 44. Vgl. vorangehende Fußnote 39. 45. Siehe hierzu J.E. Hofmann, Über Jakob Bernoullis Beiträge zur Infinitesimalmathematik, Institute de Mathématiques, Université Genève, 1956, Anmerkung 322 auf S. 89, (Monographies de l’Enseignement mathématique, 3); Brief an Leibniz in dessen Mathematischen Schriften, Bd. III, hrg. C.I. Gerhardt, Halle, Schmidt, 1875, 302-309.
48
KAPITEL 1
Abb. 1.7. Bernoullis Abbildung zum Synchronenproblem und eine vereinfachte Umzeichnung
Es ist hier wieder wesentlich zu bemerken, daß JOHANN BERNOULLI anstrebte, die Klasse der mit seiner Methode behandelbaren Probleme auszuschöpfen, denn – wie bereits erwähnt – stellt er am Ende der Arbeit Aufgaben, die physikalisch nicht realistisch sind und die daher auf solche Verallgemeinerungen hinweisen.46 Bemerkungen. Die mechanisch-optische Analogie des Problems läßt folgende verallgemeinerungsfähige moderne Interpretation des besprochenen Sachverhaltes für das Variationsproblem (3) J ( y ) =
b
∫a L (x, y(x), y' (x)) dx → Min (extr)
zu: Die Kurven der orthogonalen Schar (Synchronen), die zur Extremalenschar gehören, bestimmen längs der Extremalen einen festen Wert47 des Integrals (3), der durch Minimalität charakterisiert wird; im Brachistochronenproblem wird dieser Wert durch die Minimalität der Zeit bestimmt. In moderner Notation drückt sich diese extremale Überlegung für das Variationsintegral (3), durch die sich die orthogonale Schar mit der Gleichung S(x, y) = λ darstellen läßt, so aus:
46. Acta eruditorum Maji, 1697, 210–211; Streitschriften, 269. 47. In der Physik wird das Integral (3) als Wirkung, Wirkungsfunktion oder Aktion bezeichnet. Es hat in der Entwicklungsgeschichte der Mechanik und Optik eine wichtige Rolle gespielt (Prinzip der kleinsten Aktion, vgl. Kapitel 4). Über philosophische Aspekte vgl. z. B. R. Thiele, “Euler und Maupertuis vor dem Horizont des teleologischen Denkens”, in M. Fontius, H. Holzhey (Hrg.), Schweizer im Berlin des 18. Jahrhunderts, Berlin, Akademie-Verlag, 1996; “Physikotheologisches Denken in Mathematik und Physik zur Zeit der Aufklärung”, in M. Büttner (Hrg.), Wissenschaft und Musik unter dem Einfluß einer sich ändernden Geisteshaltung, Bochum, Brockmeyer, 1992, und die dort zitierte Literatur.
DAS BERNOULLISCHE BRACHISTOCHRONENPROBLEM
(4) S(x, y) = inf J(y) = inf
y∈V
49
x
∫a L (x, y(x), y' (x)) dx.
(V Menge der glatten Vergleichskurven mit den Randbedingungen y(a) = ya [Ausgangspunkt A zur Zeit ta ] und y(x) = y [fester Bahnpunkt (x, y) zur einer gewissen Zeit t]). Mit anderen Worten, eine Wellenfront S(x, y) ist mathematisch durch das Infimum des entsprechenden Variationsintegrals J über der Menge der zulässigen Vergleichskurven V zu einem entsprechenden Zeitpunkt t bestimmt, wobei das Infimum – wenn überhaupt48 – durch die Extremale angenommen wird. Die Richtungen der Extremalen definieren ein Richtungsfeld p(x, y), das sogenannte geodätische Gefälle. Der Begriff geodätisch geht auf die Bezeichnung der kürzesten Linien in der Differentialgeometrie durch Geodätische zurück.
Abb. 1.8. Synchronenschar (orthogonale Trajektorien der Extremalen)
Zwischen zwei Kurven S(x, y) = λ1 und S(x, y) = λ2 der orthogonalen Schar hat schließlich das Integral auf irgendwelchen diese beiden Kurven verbindenden Bahnkurven (Extremalen) den gleichen Wert. BERNOULLI erwähnte diese einfache Folgerung zu seiner Aufgabe nicht, aber es besteht kein Zweifel, daß er diese Eigenschaft der orthogonalen Schar bemerkt hat. CARL FRIEDRICH GAUß (1777-1855) formulierte diesen Sachverhalt für Scharen von kürzesten Linien auf Flächen und ihre entsprechende orthogonale Schar, und ADOLF 48. Geeignete Konvexitätsannahmen an den Integranden L(x, y, p) von J bezüglich p (wie etwa Lpp > 0; Legendre-Bedingung) sichern für (1) zumindest im Kleinen die Existenz des Minimums bzw. der orthogonalen Schar. Diese Schar wird von den Bahnkurven (im optischen oder mechanischen Bild) schnellstmöglich im Sinn des steilsten Abstiegs (geodätisches Gefälle) durchquert, wobei die Durchquerung ein Minimum an Aktion verbraucht.
50
KAPITEL 1
KNESER (1862-1930) hat ihn schließlich allgemeiner als Transversalensatz aufgestellt hat (vgl. hierzu Abschnitt 4.6.3.3). Aus (4) erhält man unter unseren analytischen Voraussetzungen49 leicht die fundamentale Beziehung der Carathéodoryschen Feldtheorie. Es gilt: dS ( x, y ( x ) ) (5) --------------------------- ≤ L (x, y(x), y' (x)) dx
bzw. in differentieller Form (5') dS ≤ L dx, dabei findet Gleichheit in (5) oder (5') nur statt, wenn für y'(x) das geodätische Gefälle p = p(x, y) gesetzt wird. Integration längs eines beliebigen Weges y = y(x) im Feld von A nach P liefert die globale Ungleichung: (6) S(x, y) – S(xa, ya) ≤
x
∫a L
(x, y(x), y' (x)) dx,
die grundlegend für die Carathéodorysche Feldtheorie ist. Gleichheit ergibt sich in (5) nur für Extremalen y = y0(x) oder das Ersetzen von y' (x) durch das geodätische Gefälle p(x, y). HÉCTOR J. SUSSMANN (geb. 1946) und JAN C. WILLEMS (geb. 1939) haben sich vom Standpunkt der optimalen Steuerung mit dem Brachistochronenproblem historisch auseinander gesetzt und dabei die Wurzeln dieser Theorie, die ungefähr ein halbes Jahrhundert alt ist, bereits im Brachistochronenproblem ausgemacht.50 Sie haben dabei konstatiert, daß die nachfolgend genannten Übergänge im Sinne einer voranschreitenden Entwicklung zu verstehen sind: von Bernoullis eigenem Verfahren zur klassischen Variationsrechnung, hiervon zur Kontrolltheorie und schließlich zu differentialgeometrischen Verfahren. Im Problemverständnis von SUSSMANN und WILLEMS trifft die Deutung des Brachistochronenproblems als eines Steuerproblems zu (mit F(t, p, p· ) = F(t, p, u) und u = p· ), und sie erhellt auch die weitere historische Entwicklung. Allerdings sind die sehr interessanten historischen Verzweigungen, die die Autoren bei ROWAN WILLIAM HAMILTON und KARL THEODOR WEIERSTRAß mittels der formal eingeführten “control Hamiltonian” H(t, p, q, u) = < p, u > - F(t, p, u) ausmachen, doch wohl eher problemgeschichtlich zutreffend als historisch berechtigt. Wir betrachten nun unter der eben entwickelten Sicht nochmals das Brachistochronenproblem. Die Brachistochronenschar nebst den zugehörigen Synchronen bildet gemeinsam ein sogenanntes Feld (die vollständige Figur 49. Vgl. die analoge Herleitung bei Steuerproblemen, beispielsweise J.F. Barrett, On the Relation between Carathéodory’s Work in the Calculus of Variations and the Theory of Optimal Control, Carathéodory Symposium, Greek Mathematical Society, Athens, 1973, 54–74. 50. H. Sussmann und J. Willems, “300 years of optimal control: from the brachystochrone to the maximum principle”, IEEE Control Systems Magazine, June 1997, 32-44.
DAS BERNOULLISCHE BRACHISTOCHRONENPROBLEM
51
CARATHÉODORYS), das zum Variationsproblem (7) J(y) → Min, (1.2), gehört. Das geometrische Bild des Feldes veranschaulicht die Lösung des Problems besonders einprägsam. Jede zulässige Vergleichskurve von P1 nach P2 erteilt wegen (6) dem Integral J(y) einen Wert, der größer als S2 – S1 ist, und nur auf der Extremalen y = y0(x) erreicht J(y) den Wert S2 – S1. BERNOULLIS Vorgehen entspricht genau diesem Sachverhalt, sofern die Punkte P1 und P2 infinitesimal benachbart sind. D.h., BERNOULLI zeigt (5) und schließt daraus auf (6). Eine Schar von Brachistochronen (Extremalenfeld) erscheint explizit nicht, da BERNOULLI aus der gedachten Schar Zα der von A ausgehenden Zykloiden bereits die gesuchte Zykloide Z0, die A und B verbindet, ausgewählt hat. Der Einwand, daß keine orthogonale (bzw. transversale) Schar zur Zykloide Z0 bzw. zur mitgedachten Schar Zα in der Konstruktion benutzt wird, erledigt sich durch die Tatsache, daß BERNOULLI mit den Richtungen dieser orthogonalen Schar längs der Extremalen Z0 arbeitet, die durch die Normalen der Brachistochrone gegeben werden. Es sei darauf verwiesen, daß es JOHANN BERNOULLI war, der 1694 für die Lösungen einer Differentiagleichung erster Ordnung das entsprechende Richtungsfeld einführte,51 d.h., daß er sehr wohl um die Gleichwertigkeit eines Richtungsfeldes und der darin eingebetten Kurven wußte. BERNOULLI arbeitete eigentlich mit zwei Scharen von Brachistochronen, zum einen mit einer Schar konzentrischer Zykloiden, (1.1.3), mit dem gemeinsamen Mittelpunkt A = (0, 0) und zum anderen mit der Schar (1.1.3’) von Zykloiden durch den Punkt A = (0, 0). Die konzentrische Zykloidenschar (1.1.3) verwendet er, um die Lösbarkeit des Randwertproblems zu zeigen, indem er die Ähnlichkeit der Zykloiden ausnützt (die auf der Ähnlichkeit der die Zykloiden erzeugenden Kreise fußt), während er die (transversale) Schar der Synchronen zum anderen Feld (1.1.3’) konstruiert.52
51. “Modus generalis construendi omne aequationis differentiales primi gradus”, Acta eruditorum 1694, 435–437; auch in: Opera omnia, vol. I, 123-125, Streitschriften, 205–206. 52. Bernoulli behandelt den speziellen Fall, in dem der Anfangspunkt auf der Basislinie der Zykloide liegt. Auf den Strahlen vom gemeinsamen Mittelpunkt der Schar werden von den Zykloiden Strecken abgeschnitten, die proportional zum Radius des jeweils erzeugenden Kreises sind. Aus diese Ähnlichkeitseigenschaft ergibt sich leicht die Lösbarkeit des Randwertproblems. I. Newton und Joh. Bernoulli benutzten unabhängig die gleichen Bilder (“Philosophical Transactions”, Jan. 1697; Acta eruditorum, Mai 1697). Das allgemeine Randwertproblem hat erst Bolza behandelt, siehe hierzu “The determination of the constants in the problem of the brachistochrone”, Bulletin AMS, 10 (1904), 185–188. Bei Weierstraß ist das Brachistochronenproblem eines der Standardbeispiele, allerdings wird die Lösbarkeit des Randwertproblems für zwei auf einem Zykloidenbogen liegende Punkte A und B ohne Beweis angeführt. Auch Carathéodory widmet dem Problem den § 358 in seiner Variationsrechnung und partielle Differentialgleichungen (Leipzig, B.G. Teubner, 1935). Das Anfangswertproblem mit von null verschiedener Anfangsgeschwindigkeit ( v 1 ≠ 0 ) kann physikalisch durch einen “vorgelagerten” freien Fall aus einem Punkt A* in den Anfangspunkt A verwirklicht werden, wobei die Bewegung gewissermaßen von einem vorgezogenen Punkt A* ausgeht; vgl. hierzu den allgemeinen Trick von Weierstraß in Abschnitt 3.5.2.7, ein allgemeines Feld aus einem zentralen zu konstruieren.
52
KAPITEL 1
1.2.6 Ein Hinlänglichkeitsbeweis im Stile Johann Bernoullis Wir wenden uns abschließend noch Bernoullis erster Lösung des Brachistochronenproblems zu, denn auch bereits hier läßt sich die “geometrische Feldtheorie” rekonstruieren, und zwar in einer besonders durchsichtigen und instruktiven Weise. Die erste Lösung BERNOULLIS führte bereits die zum Problem gehörigen Synchronen ein, die als transversale Schar für CARATHÉODORY den Ausgangspunkt für die Behandlung von Variationsaufgaben bildet. Die Synchronen sind bei BERNOULLI dadurch definiert, daß sie auf den Brachistochronen bzw. auf den Fallinien solche Kurvenelemente abschneiden, für deren Durchlaufen ein Massepunkt die gleiche Zeit benötigt.53 Im Sinne der Optik wird hierdurch eine optische Länge definiert, allgemeiner lassen sich Beziehungen zur Riemannschen Metrik oder Finslerschen Geometrie aufstellen.
Abb. 1.9. Extremalenfelder mit zugehörigen Synchronen für das Fall- und Brachistochronenproblem (vollständige Figuren). a) freier Fall, b) Brachistochronenproblem.
Im Stile BERNOULLIS könnte mit den eben beschriebenen geometrischen Bildern aus seiner ersten Lösung des Brachistochronenproblems folgender sehr einfacher Minimalitätsbeweis geführt werden, der den geometrischen Kern des direkten Verfahrens von CARATHÉODORY besonders deutlich herausstellt. CARATHÉODORY selbst bezieht sich wohl deshalb auf die spätere Lösung von JOHANN BERNOULLI, da BERNOULLI in ihr den Minimalitätsbeweis bis hin zur Rechnung durchgeführt hat, während die erste Lösung nur die geometrischen Konzepte dazu beschreibt. 53. Acta eruditorum Maji, 1697, 210–211; Streitschriften, 269.
DAS BERNOULLISCHE BRACHISTOCHRONENPROBLEM
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Wir betrachten ein Extremalenfeld ΦB für das Brachistochronenproblem und untersuchen zwei infinitesimal benachbarte Synchronen S1 und S2, die zu diesem Feld gehören und die die Punkte A und B verbindende Zykloide Z0 in P und Q schneiden mögen (Abbildung 1.10). P habe die Fallhöhe x, und damit hat ein in P angekommener Massenpunkt die Geschwindigkeit v = 2gx (GALILEIS Gesetz). Dann kann man von P nach Q mittels der Geschwindigkeit v nicht schneller gelangen, als dies auf dem Bogen PQ der Zykloide Z0 möglich ist. Zum Beweis betrachten wir eine Vergleichskurve, die von A nach B führt und die die ausgewählten Synchronen S1 und S2 in R und T schneide. Es gibt dann im Extremalenfeld genau eine Zykloide Z1, die durch R geht. Diese Zykloide schneide die andere Synchrone S2 in S. Gemäß der Definition der Synchronen ist die für den Bogen RS von Z1 benötigte Zeit (bei einer Anfangsgeschwindigkeit in R, die sich aus der Fallhöhe von R nach dem Galileischen Gesetz ergibt) genau so groß wie die für das Durchlaufen des Bogens PQ auf Z0 benötigte Zeit (bei der durch das Galileische Gesetz gelieferten Geschwindigkeit). Da die Synchrone S2 in S auf der Zykloide Z1 senkrecht steht, ist in dem infinitesimalen Dreieck RST die Seite RS Kathete und RT Hypotenuse. Ein in R ankommender Massenpunkt wird damit auf RT mehr Zeit als auf RS benötigen. Anders gesagt, für die durch die Synchronen bestimmten Kurvenelemente ergibt sich auf den Zykloiden die kürzeste Durchlaufzeit. Integral gesehen ist damit innerhalb des Feldes ΦB bzw. der vollständigen Figur des Brachistochronenproblems die Minimalität der Zykloiden nachgewiesen.
Abb. 1.10. Figur für den Minimalitätsnachweis im Stile Bernoullis. Zur Veranschaulichung ist auch das Feld für den Grenzfall des freien Falles wie seinerzeit üblich in das gleiche Koordinatensystem (links) mit eingezeichnet.
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KAPITEL 1
Trivialerweise gelten diese Überlegungen auch für das zum freien Fall gehörige Feld ΦF. Die x-Achse wird genau wie jede Zykloide des Feldes ΦB von den Synchronen orthogonal geschnitten, der Grenzfall des freien Falles fügt sich in die allgemeinen Überlegungen. Bei BERNOULLI diente die Fallstrecke auf der x-Achse oder anders gesagt die dafür benötigte Zeit t dazu, die Synchronen als den geometrischen Ort aller Zykloidenpunkte mit gleicher Durchlaufzeit t zu charakterisieren (vgl. Abbildung 1.7). Die Existenz eines Diffeomorphismus zwischen den beiden Extremalenfeldern ΦB und ΦF , der uns im nächsten Abschnitt 1.3 beschäftigen wird, ist hier geometrisch anschaulich. Berücksichtigen wir die eben gegebene Sicht, so ist der Diffeomorphismus auch physikalisch deutbar. 1.3 Der Sonderfall: freier Fall Für das klassische Brachistochronenproblem wird angenommen, daß die in einer vertikalen Ebene liegenden Anfangspunkte A = (xa, ya) = (0, 0) und Endpunkte B = (xb, yb) verschiedene Abstände vom Erdboden haben sowie nicht senkrecht übereinander liegen,54 d.h., es gilt (positive x-Achse zeigt nach unten, vgl. Abbildung 1.1): (1) 0 < xb ,
0 < yb .
Anderenfalls ist das Problem einfach. Es lohnt sich jedoch aus methodischen Gründen, auch den besonderen Fall übereinander liegender Punkte A und B zu betrachten. Der Integrand F = F(x, y, p, q) des parametrisch gestellten Variationsproblems (1.2) hat die Form F = F ( x, y, x· , y· ) =
2 2 x· + y· ---------------------, 2 v 0 + 2gx
(p = x· , q = y· , v0 = v(0))
Eine Lösung, die die Randbedingung ya = denschar (1.3) bzw. (1.3’), dem allgemeinen Langrangeschen Differentialgleichung für die d (2) ----- F p – F x = 0, dt
yb = 0 erfüllt, ist in der ZykloiIntegral der zugehörigen Eulerparametrische Darstellung
d---F – Fy = 0 dt q
nicht enthalten. Wegen Fy = 0 vereinfacht sich jedoch die zweite Differentialgleichung zu
54. In dieser präzisen Form erst im sogenannten Groninger Programm (Programma editum Groningae ao, 1697) verlangt (Streitschriften, 259) (“data duo puncta in diversis ab horizonte distantiis & non in eadem recta posita [zwei gegebene Punkte in verschiedenem Abstand vom Erdboden und nicht senkrecht übereinander liegend]”); in der Ankündigung in den Acta eruditorum wird lediglich von zwei Punkten gesprochen (siehe vorn).
DAS BERNOULLISCHE BRACHISTOCHRONENPROBLEM
·
d 1 y(t) (2') ----- ---------------------- ---------------------------------- = 0, dt
x( t) + k
2 2 x· ( t ) + y· ( t )
55
2
v 2g
0 (k = ------).
Geht man jetzt zu dem intermediären Integral ·
1 y( t) (3) ---------------------- ---------------------------------- = K = const (≥ 0) x( t) + k
2 2 x· ( t ) + y· ( t )
über, so zeigt sich, daß hier K = 0 auf y = const führt, was eine Lösung für Anfangs- und Endpunkte in derselben Vertikalen darstellt. Die Bewegung geht damit in den freien Fall in Richtung der positiven x-Achse über. Wenn T die Fallzeit bedeutet, so gilt nach GALILEI 1 2 (4) x(T) = --- gT + v a T , 2
(x(0)=0).
Im weiteren sei zur Vereinfachung va = 0 angenommen.55 Das Extremalenfeld mit den zugehörigen Synchronen ist geometrisch besonders einfach zu überschauen: Die Extremalen sind die parallelen Fallinien (5) y(T) = const,
g 2 x(T) = --- T + v a T , 2
(0 ≤ T < ∞ ),
zu denen als Synchronen die orthogonale Schar paralleler Geraden (6) x(T) = const, y(T) = beliebig, (0 ≤ T < ∞ ), gehört. Stellen wir die Scharen in einem u,v-Koordinatensystem56 dar (vgl. Abbildung 1.9 und den linken Teil von Abbildung 1.10), so sind die Extremalen durch v = const und die Synchronen durch u = const gegeben. Der grundlegende Satz, daß die Synchronen (orthogonale Trajektorien) u = const in einem Feld auf den Extremalen v = const Stücke gleicher Länge abschneiden, ist offensichtlich, wobei die Länge sowohl durch das Variationsintegrals (Fallzeit) definiert als auch im elementaren geometrischen Sinn (Fallstrecke) verstanden werden kann. Gleichfalls gilt die Umkehrung: wenn auf den Linien v = const durch die Synchronen u = const gleiche Längen abgeschnitten werden, so sind die Linien Extremalen (Fallinien). Die Struktur des Feldes ist lokal exemplarisch für beliebige Felder. Das heißt, eine Umgebung eines Feldpunktes, der kein singulärer Punkt des Feldes ist, besitzt ein derartiges diffeomorphes Bild. Die Bilder der Fallinien werden in der Flächentheorie geodätisch parallel genannt, gemeinsam mit den Synchronen bilden sie ein geodätisches Koordinatensystem (geodätische Parallelk55. Bei verschwindender Anfangsgeschwindigkeit erhält man eine Singularität in F, siehe Fußnote 13. 56. Da traditionell gern sowohl die Geschwindigkeit als auch Parameter mit dem Buchstaben v bezeichnet werden, haben wir hier und im folgenden die doppelte Bedeutung in Kauf genommen, da kaum Verwechslungsmöglichkeiten bestehen.
56
KAPITEL 1
oordinaten); näheres hierzu siehe Kapitel 4. Der Sachverhalt läßt sich modern auch als eine sehr einfache Folierung der Ebene deuten. Ebenso ist das Geschwindigkeitsvektorfeld v· längs v = const parallel (d.h. die absolute Ableitung verschwindet längs dieser Kurven C). Der anschaulich klare Sachverhalt, daß für jede von einer Fallinie verschiedene Kurve mehr Zeit für das Durchlaufen benötigt wird, ließe sich elegant mit der infinitesimalen Bernoullischen Beweistechnik mittels Dreiecksungleichung begründen. Bemerkungen. Zwischen den Feldern ΦB des Brachistochronenproblems und ΦF des Fallproblems besteht folgender formaler Zusammenhang. Durch (7) Z r : x = x(r, ϕ), y = y(r, ϕ), (0 ≤ ϕ ≤ 2 π ), sei das einparametrige Extremalenfeld der Zykloiden in Parameterdarstellung durch den Kreisradius r gemäß (1.3) gegeben. Sei P0 ein Punkt dieses Feldes mit r0, ϕ0, so ist die durch P0 gehende Zykloide Z r0 durch den Parameter r0 bestimmt: (8) Z r0 : x = x(r0, ϕ), y = y(r0, ϕ); (0 ≤ ϕ ≤ 2 π ). Die zum Feld ΦB gehörigen Synchronen (9) Sc : x = x = x ( r, ϕ ) , y = y ( r, ϕ ) ; (0 ≤ ϕ ≤ 2 π ), siehe (2.5.2), erhält man aus (7) mit der Orthogonalitätsbedingung (10) rϕ2 = c (siehe (2.5.1)). Mithin ist in P0 die Beziehung r0ϕ02 = c0 und folglich für die durch P0 gehende Synchrone S c0 insgesamt rϕ2 = c0 erfüllt. Wir erhalten für den Schnitt von S c0 mit der x-Achse (die wir gleichzeitig als Fallinie interpretieren) im Punkt Q c 1 – cos ϕ - = 1--- c 0 . (11) x˜ (0) = lim x˜ (ϕ) = lim x (r, ϕ) = lim x ( ----0- , ϕ) = lim c 0 -------------------2 ϕ 2 ϕ→0 ϕ→0 ϕ→0 ϕ→0 ϕ
Gleichzeitig trifft S c0 die x-Achse orthogonal. Denn wenn x = x*(y) die Gleichung der Synchrone S c0 ist, so ist wegen dx∗ ( y ) dx d ϕ dx 1 ϕ sin ϕ + 2 cos ϕ – 2 (12) ---------------- = ------ ------ = ------ ------- = ----------------------------------------------dy d ϕ dy d ϕ -----dy 2 sin ϕ – ϕ cos ϕ – ϕ dϕ der Anstieg im Schnittpunkt Q d dx d ϕ dx (13) ------ x*(y) = lim ------ ------ = lim -----dy ϕ → 0d ϕ dy ϕ → 0d ϕ
1ϕ sin ϕ + 2 cos ϕ – 2 -----= lim ----------------------------------------------- = 0. dy sin ϕ – ϕ cos ϕ – ϕ 2 ϕ → 0 -----dϕ
DAS BERNOULLISCHE BRACHISTOCHRONENPROBLEM
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Wertet man das Variationsintegral J(y) längs der Brachistochrone aus, so ergibt sich für die Zeit T die Beziehung (14) T = ϕ --r- , g
folglich für den Punkt P0 auf der Synchrone S c 0 r g
(15) T 0 = ϕ 0 ----0 und damit für alle Punkte der Synchrone S c0 : (16) T 0 = ϕ --r- . g
Da ϕ0 0 = c0 ist, gilt T 0 g = c 0 . Somit ist erwartungsgemäß die Fallstrecke x(T0) gleich der Strecke x = x (0) auf der x-Achse vom Ursprung A bis zum Treffpunkt mit der Synchrone S c0 : 2r
c 1 2 1 (17) x ( T 0 ) = --- gT 0 = --- c 0 = x ( r, 0 ) = lim x ⎛⎝ ----0-, ϕ⎞⎠ . 2 2 ϕ→0 ϕ
Damit läßt sich c / 2 mit dem Parameter v identifizieren. Setzen wir noch r = u (≥ 0), so haben wir die umkehrbare Zuordnung der Felder durch (18) c ↔ v, r ↔ u , (u, v ≥ 0). Da wir für beide Probleme Linienelemente der Art (19) ds = ω(x, y)
2
2
dx + dy (ω > 0)
haben, sind diese konform gleichwertig zu euklidischen Linienelementen (20) ds =
2
2
dx + dy .
Wir betrachten nochmals des Feld ΦB des allgemeine Brachistochronenproblems, bei dem Ausgangs- und Endpunkt nicht auf einer Vertikalen liegen. Die Extremalenschar (Zykloidenschar) (1.3’) des Brachistochronenproblems (1.2) (21) Z r : x(r, ϕ) = r(1 – cos ϕ),
y(r, ϕ) = r(ϕ – sin ϕ),
r > 0, -π < ϕ < π,
bildet in dem Gebiet (22) G = {(x, y) : x > 0, y > 0} ein Extremalenfeld ΦB (vgl. Abbildung 1.3). Global gesehen ist dieses Feld ein diffeomorphes Bild des besonders übersichtlichen Extremalenfeldes ΦF, das wir eben für den freien Fall beschrieben haben. Das u,v-Koordinatensystem zur Beschreibung von ΦF werde wie bei dem Brachistochronenproblem
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KAPITEL 1
gewählt (u-Achse nach unten). Die Geraden u = const, die die optischen Schichten verschiedener Dichte beim optischen Problem begrenzen, stellen offensichtlich die orthogonale Schar zu dem Feld ΦF der vertikalen Fallinien eines Massepunktes in einem Gebiet (23) D = {(u, v) : u ≥ 0, v ∈ R} dar. Denn setzen wir z = u + iv und w = x + iy, so gibt es eine analytische Funktion w = w(z), die das Innere von D auf G konform abbildet bzw. (24) w : ΦB → ΦF.
leistet.57 Genauer: die Parameterlinien u = const . bzw. v = const. liefern die Brachistochronenschar (18) oder (19) bzw. die Schar der orthogonalen Synchronen, die durch (1) oder (2) in (1.2.5) gegeben sind. 1.4 Historischer Exkurs über Kurvenscharen Kurven waren aufgrund der algebraischen Möglichkeiten der Beschreibung, wie sie RENÉ DESCARTES (1596-1650) in seiner Géométrie (1637) eingeführt hatte, ein interessanter Gegenstand der mathematischen Forschung geworden. Den Kurvenscharen wurde daher am Ende des 17. Jahrhunderts vermehrt Aufmerksamkeit zuteil, auch das Brachistochronenproblem (1696) förderte diese Entwicklung. Im Zusammenhang mit der Untersuchung von Kurvenscharen entstand auch die Frage nach einer weiteren Art von Scharen, nämlich nach solchen Scharen, die eine gegebene Schar orthogonal schneiden sollten. Eine solche Schar bilden die sogenannten Synchronen in bezug auf die Kurvenschar aus Brachistochronen. Das Problem der orthogonalen Scharen war eine der provocationes im Streit zwischen GOTTFRIED WILHELM LEIBNIZ und ISAAC NEWTON (1643-1727) gewesen, aber es war über diese interessante historische Tatsache hinaus von immensem mathematischen Gehalt: die partielle Differentiation nach dem Scharparameter (differentiatio de curva in curvam, 1697) sowie das Vertauschen von Differentiation und Integration wurde hieran von LEIBNIZ entwikkelt, und die Frage, ob die für ein totales Differential notwendige Integrabilitätsbedingung auch hinreichend sei, wurde in diesem Zusammenhang schon zwischen NIKOLAUS I BERNOULLI (1687-1759)58 und LEONHARD 57. Die konforme Abbildung w(z) = 1 + z + ez vermittelt übrigens einen konformen Zusammenhang, bei dem genau eine feste Zykloide auf die Fallinie u = const, abgebildet wird. Die Abbildung ist insofern interessant, da bei Bernoullis Vorgehen längs einer solchen Zykloiden die Normalen angegeben werden. 58. Nikolaus I Bernoulli, Neffe Johann Bernoullis. Studium bei seinem Onkel Jakob Bernoulli in Basel, 1709 juristische Promotion in Basel über die Anwendung der Wahrscheinlichkeitstheorie in der Rechtssprechung, 1716 Professur in Padua, ab 1719 in Basel Professor. Da er wenig publizierte, steht er zu Unrecht im Schatten seiner berühmten Verwandten.
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EULER (1707-1783) diskutiert. Hierüber gibt es eine sehr detaillierte Studie Families of curves and the origin of partial differentiation59 von STEVEN ENGELSMAN (geb. 1949), aus der wir in leicht modernisierter Form einige Aspekte referieren, welche die geometrischen Wurzeln unseres Themas näher beleuchten. Ebenfalls wäre die Monographie von JOSEPH EHRENFRIED HOFMANN (1900-1973) Ueber Jakob Bernoullis Beiträge zur Infinitesimalmathematik60 zu erwähnen. Kurvenscharen, die durch Gleichungen der Art61 Ca : y = f (x, a) darstellbar sind, waren durch die neue infinitesimale Technik bequem zu erfassen, indem man die Schareigenschaften mit Hilfe von entsprechenden Differentialen in einer Gleichung ausdrückte. Die noch bei RENÉ DESCARTES in der Géométrie streng gezogene Grenzlinie zwischen geometrischen und mechanischen Kurven (d.h. zwischen seinerzeit mathematisch zulässigen und nicht zulässigen Kurven) wurde durch die infinitesimale Methode insofern durchlässig, als nun in der Mathematik auch mechanische Kurven behandelt werden konnten, die in der neuen Leibnizschen Mathematik transzendent genannt werden. Das Ziel des infinitesimalen Vorgehens war es letztlich, die Kurven Ca als geometrische Objekte zur Verfügung zu haben. Dazu mußte etwa deren Position fixiert werden. Unter dem Festlegen einer Kurve durch deren Lage ist – modern gesehen – die Bestimmung einer Kurve in einem Koordinatensystem zu verstehen. In dem einfachsten Fall beschreibt die Ordinate y0 = f(0, a) des Schnittpunkts D(0, y0) der Kurve mit der y-Achse die Lage der Kurve Ca : C y : y = f(x, y0) 0 JAKOB HERMANN (1678-1733)62 hatte für diesen Fall die Strecke OD, die den Schnittpunkt D mit dem Koordinatenursprung O verbindet, als Modulus einer Kurvenschar bezeichnet.
59. New York, North Holland, 1984, insbesondere Kapitel 4. 60. Monographies de l’Enseignement mathématique, N° 3. Institute de Mathématiques, Université Genève 1956, 89-90. 61. Die kontinentalen Mathematiker jener Zeit verwendeten Systeme, in denen die x- und yKoordinatenachsen gerade anders herum als heute üblich gewählt wurden. Wir haben die Bezeichnungen unserem Gebrauch angepaßt. 62. Jakob Hermann, Schüler Jakob Bernoullis, 1707 in Padua Professor (vor Nikolaus I Bernoulli), schließlich seit 1731 in Basel Professor.
60
KAPITEL 1
Abb. 1.11. Die Beschreibung von Kurvenscharen durch einen Modul
NIKOLAUS I BERNOULLI hingegen unterschied zwei Formen der Darstellung einer Kurvenschar (1) Ca : y = f(x, a) durch eine Differentialgleichung:63 zum einen die vollständige Differentialgleichung (2) dy = pdx + qda und zum anderen die unvollständige Differentialgleichung (3) dy = pdx,
(a = const),
mit p = p(x, y, a), q = q(x, y, a). Der Vollständigkeit halber erwähnen wir noch das Differential für festgehaltenes x, das zwar schon bei LEIBNIZ in der differentiatio de curva in curvam erschien, das aber erst von EULER 1771 für die Variationsrechnung ins rechte Licht gerückt wurde,64 indem es sowohl als spezielle Variationsmöglichkeit der Kurve als auch als eine bereits vertraute Differentialoperation erkannt wurde: (4) dy = δy = q da,
(x = const).
63. Für das Folgende siehe Steven B. Engelsman, Families of curves and the origin of partial differentiation, New York, North Holland, 1984, vor allem die Seiten 98–112. 64. “Methodus nova et facilis calculum variationum tractandi”, Nova commentarii Academiae Scientarum Imperialis, Petropoli, 6 (1771), 35–70.
DAS BERNOULLISCHE BRACHISTOCHRONENPROBLEM
61
Da wir über diesen Abschnitt hinaus keinen weiteren Gebrauch von den unterschiedlichen Differentialen machen, haben wir auf eine Unterscheidung der verschiedenen Differentiale d in der Bezeichnung verzichtet, lediglich die Variation ist in (4) wie üblich hingeschrieben. Keine dieser Differentialgleichungen bestimmt die Kurvenschar hinsichtlich ihrer Lage eindeutig. Die vollständige Differentialgleichung (2) hat eine Lösung (5) y = Y(x, a, c) mit einer Integrationskonstanten c. Sofern auf einer Kurve der Schar ein Punkt gegeben ist, läßt sich aus den entsprechenden Bedingungen die Konstante c bestimmen. Die unvollständige Differentialgleichung (3) kann als eine vollständige Differentialgleichung mit dem Parameter a betrachtet werden, und die Integration führt dann auf die Gleichung (6) y = Y(x, a, c(a)), in der die Integrationskonstante c jetzt vom Parameter a abhängt. Um diese Schar geometrisch zu fixieren, ist jetzt jede Kurve durch einen Punkt P bzw. einen Parameterwert a gesondert festzulegen, wozu beispielsweise auf der yAchse der Hermannsche Modulus benutzt werden könnte. In der Menge dieser Punkte P finden wir ein erstes Anzeichen der späteren transversalen Mannigfaltigkeit in Extremalenfeldern. Auch der Weierstraß-Zermelosche Trick, sich aus einem zentrale Feld, bei dem alle Kurven von einem Punkt ausgehen, ein allgemeines Feld zu verschaffen, indem man für einen auf der Extremalen etwas nach “vorn” gezogenen Punkt ein zentrales Feld konstruiert (vgl. Abschnitte 3.5.2.7, 3.9.5 und 3.9.6), wird hier bereits verwendet: für die Beschreibung einer Kurvenschar, die durch einen Punkt geht, verschafft man sich einen Modulus durch geringfügiges Verschieben der y-Achse.65 Die vollständige Differentialgleichung (2) korrespondiert zur Idee eines wegunabhängigen Integrals in geometrischen Begriffen. N. BERNOULLI berechnete Integrale längs der orthogonalen Trajektorien einer Kurvenschar und kam zu dem bemerkenswerten Ergebnis, daß die Integralwerte für jede innerhalb der Schar verlaufende Kurve, die die gleichen Anfangs- und Endpunkte wie die Transversale hat, stets die gleichen sind. Darüber hinaus entwickelte N. BERNOULLI, ohne ein Variationsproblem vor Augen zu haben, der Form nach sogar die Weierstraß-Hilbertsche Methode der Feldtheorie. Es handelt sich um die von ENGELSMAN als “completion problem”66 bezeichnete
65. S. Engelsman, Families of curves and the origin of partial differentiation, 99. 66. aaO., 100.
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KAPITEL 1
Aufgabe, zu einem unvollständig gegebenen Differential einer Kurvenschar ein zugehöriges vollständiges zu finden, d.h. um vom unvollständigen Differential dy = pdx zum vollständigen Differential dy = pdx + qda zu gelangen. Aus unserer Perspektive könnten wir solche Überlegungen auch als die Konstruktion eines Unabhängigkeitsfeldes deuten (vgl. Abschnitte 5.3.2, 5.3.4 und 5.4.1). In der Modus inveniendi67 gibt N. BERNOULLI hierfür die vollständige Lösung, indem er die Gleichheit der gemischten partiellen Ableitungen benutzt, um ein wegunabhängiges totales Differential zu konstruieren, d.h., indem er vermittels Integrationen schließlich eine geeignete Funktion q = q(x, y, a) angibt.68
67. N. Bernoulli, Modus inveniendi aequationem differentialem completam ex data aequatione differntiali incompleta, unveröffentlicht. In der Publikation von Nikolaus II Bernoulli (Cousin von N. I Bernoulli) “Exercitatio geometrica de Trajectoriis orthogonalibus” wird diese Arbeit referiert, Acta eruditorum suppl., 7 (1721), 303–326 (Modus inveniendi auf S. 310–312); auch enthalten in Opera omnia Johannis Bernoulli, Bd. 2, Lausanne, 1742, 423–472 (Reprint 1968). Bei Engelsman, Families of curves and the origin of partial differentiation, 186, findet sich eine erhellende Rekonstruktion der verwirrenden Literaturangaben, die ständig falsch zitiert wurden. (Dabei zollt auch Engelsman dieser Tradition des Zitierens seinen Tribut, denn der im Literaturverzeichnis auf p. 231 gegebene Hinweis auf die Fußnote 10 im Kapitel 2 betrifft natürlich die Fußnote im Kapitel 4.) 68. Engelsman, Families of curves and the origin of partial differentiation, 107-111.
KAPITEL 2
DER “KÖNIGSWEG” IN DIE FELDTHEORIE
Thoroughly familiar with the history of the subject, he drew upon many ideas of such mathematicians as Christiaan Huygens and Johannes I Bernoulli. Inspired by these ideas, he restudied the relationship between the calculus of variations and first-order partial differential equations. The result of this was “Variationsrechnung und partielle Differentialgleichungen erster Ordnung”, which includes a quite new “entry” to the theory. HERMANN BOERNER über CONSTANTIN CARATHÉODORY im “Dictionary of Scientific Biography”
2.1 Carathéodorys Zugang zur Variationsrechnung CONSTANTIN CARATHÉODORY (1873-1950) ist einer “der großen Mathematiker dieses Jahrhunderts” (HEINRICH BEHNKE, 1898-1979)1, der der Mathematik auf vielen Gebieten Impulse gegeben hat, insbesondere der Theorie der reellen Funktionen, der Funktionentheorie und der Maßtheorie, der aber auch zu physikalischen Gebieten wie Mechanik, geometrische Optik und Thermodynamik beigetragen hat. Begonnen hatte CARATHÉODORY seine mathematische Karriere jedoch mit Untersuchungen zur Variationsrechnung, die – wenn man seine historischen Arbeiten hierzu einbezieht – ihn bis in das hohe Alter beschäftigt haben. Von der Ausbildung (1891-1896) her war CARATHÉODORY Ingenieur, aber nach einigen Jahren praktischer Tätigkeit entschloß er sich 1900, ein Mathematikstudium in Berlin und zwar bei HERMANN AMANDUS SCHWARZ (1843-
1. “Caratheódorys Leben und Wirken”, Carathéodory-Symposium 1973, Greek Mathematical Society, Athens, 2. Die umfassende Biographie Constantin Carathéodory. Mathematics and Politics in Turbulent Times von Maria Georgiadou erschien 2004 bei Springer, Berlin. Michael Toepell hat bemerkt, daß Carathéodory in der DMV-Festschrift 1990 (G. Fischer u.a. (Hrg.), Ein Jahrhundert Mathematik, Braunschweig, Vieweg, 1990) nach D. Hilbert einer der meist zitierten Mathematiker ist. (“Mathematiker und Mathematik an der Universität München”, Algorismus, 19 (1996), München, Institut für Geschichte der Naturwissenschaften, 1996, 295).
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KAPITEL 2
1921) zu beginnen. Sieht man CARATHÉODORYS Autobiographische Notizen2 durch, so kann man BEHNKE zustimmen, daß CARATHÉODORY zur Zeit des Wechsels nach Göttingen im Jahre 1902 in der Geometrie “am weitesten vorgebildet war”3. CARATHÉODORYS erste mathematische Arbeit von 1903 gibt dann auch im Geiste dieser geometrischen Studien eine Deutung der Charakteristikentheorie partieller Differentialgleichung erster Ordnung.4 Die Hamilton-Jacobische Differentialgleichung, die eine Gleichung dieses Typs ist, wird CARATHÉODORY später an die Spitze der direkten Methoden der Variationsrechnung stellen. Das geometrische Denken CARATHÉODORYS zeigt sich auch in der Funktionentheorie, was beispielsweise seine Monographie Conformal representations5 aus dem Jahre 1932 überzeugend nachweist. CARATHÉODORY bemerkte 1919, also im Abstand von beinahe zwei Jahrzehnten, daß er in Berlin durch H. A. SCHWARZ von den Weierstraßschen Gedanken erfahren habe, mit denen dieser die Variationsrechnung neu belebte,6 aber es war nicht in Berlin bei seinem Lehrer SCHWARZ, sondern erst in Göttingen gewesen, wo CARATHÉODORY zur Variationsrechnung gekommen war,7 und zwar durch ein von HANS HAHN (1879-1934) im Dezember 1903 in der Göttinger Mathematischen Gesellschaft vorgetragenes Problem. HAHN erwähnte einen Ausnahmefall bei Variationsproblemen mit isoperimetrischen Nebenbedingungen, nämlich Probleme, die sein Lehrer GUSTAV VON ESCHERICH (1849-1935) nicht bewältigt hatte und die anscheinend keine Lösung haben.
2. Gesammelte mathematische Schriften, Bd. 5, München, Beck, 1957, 387-408, insbes. 389404. 3. “Caratheódorys Leben und Wirken”, Carathéodory-Symposium 1973, Greek Mathematical Society, Athens, 20. 4. “Zur geometrischen Deutung der Charakteristiken einer partiellen Differentialgleichung erster Ordnung mit zwei Veränderlichen”, in Mathematische Annalen, 59 (1904), 377–382; gleichfalls in Gesammelte mathematische Schriften, Bd. 5, München, Beck, 1957, 35–41. Sieben Jahre später “beeilt sich” Carathéodory in den Mathematische Annalen, 70 (1911), 580 darauf zu verweisen, daß bereits in E. Goursats, Leçons sur l’intégration des équations aux derivées partielles du premier ordre, (Paris, 1891) ein Hinweis auf die gleiche geometrische Interpretation von G. Darboux in dem Mémoire der Académie des Sciences, 37 (1880), zu finden ist, was er übersehen habe. 5. Cambridge, University Press, 1932, 2. Aufl., 1952. 6. “Antrittsrede in der Preußischen Akademie der Wissenschaften”, Berlin 3.7.1919, in Sitzungsberichte der Preußischen Akademie, 33 (1919), 564–570; auch in: Gesammelte mathematische Schriften, Bd. 5, München, Beck, 1957, 181–184. Die Erwiderung des Sekretars M. Planck hob hervor, daß Carathéodory im Gegensatz zu E. Schmidt auch fernerhin dem Göttinger Kreis eng verbunden geblieben sei, aaO. 7. In Göttingen wurden seinerzeit folgende Vorlesungen über Variationsrechnung gehalten: SS 1899 Hilbert WS 1905/06 Hilbert (Mechanik mit großen Teilen SS 1902 Zermelo Variationsrechnung) SS 1903 Minkowski SS 1906 Carathéodory WS 1904/05 Hilbert SS 1907 Minkowski WS 1907/08 Zermelo. (Universitätsarchiv Göttingen, Vorlesungsverzeichnis; Berichte des Mathematischen Vereins an der Universität Göttingen über sein 60. bis 80. Semester, Göttingen, 1899-1907).
DER “ KÖNIGSWEG ” IN DIE FELDTHEORIE
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Die genannte Schwierigkeit tritt auf, wenn die Lösung der Eulerschen Differentialgleichung des Variationsproblems auch die Eulersche Differentialgleichung für die isoperimetrische Nebenbedingung erfüllt. CARATHÉODORY fand nur einige Tage später folgende einfache geometrische Veranschaulichung (das “Lampenproblem”) solcher Probleme: “Eine Halbkugel mit dem Radius Eins wird vom Mittelpunkt aus auf die Tangentialebene projiziert, die dem Äquator parallel ist. Man verlangt, zwei Punkte der Ebene durch eine Kurve von gegebener Länge so zu verbinden, daß das Urbild dieser Kurve auf der Kugel eine maximale oder minimale Länge erhalte.”8 Die kürzesten Linien auf der Halbkugel sind Teile von Großkreisen, und ihre geradlinigen Schatten in der Ebene sind dort ebenfalls die kürzesten Linien: der Ausnahmefall liegt mithin in dem Beispiel vor. Im Café Josty am Potsdamer Platz in Berlin, in das CARATHÉODORY anläßlich des 200. Kolloquiums von SCHWARZ geraten war, fand er am 22. Januar 1904 in der ihn immer anregenden Kaffeehausatmosphäre die entscheidenden Gedanken. Mit geknickten Extremalen kann das Problem gelöst werden, und die einschlägige Weierstraßsche Theorie nebst den konjugierten Punkten, dem Extremalenfeld usw. läßt sich auf diese neue Lösungsklasse übertragen. Anfang 1904, also bereits nach etwa zwei Monaten, hatte CARATHÉODORY das Problem mit einem revolutionären Gedanken bewältigt, indem er den Lösungsbegriff erweiterte. Die Extremalen dürfen Knickpunkte haben, die gewissen Bedingungen zu genügen haben. Diese Knickbedingungen waren bereits 1865 von KARL WEIERSTRAß (1815-1897) in seinen Vorlesungen angegeben,9 aber erst von GEORG ERDMANN (?-?) publiziert worden,10 jedoch war eine solche Funktionenklasse für Lösungen von Variationsproblemen nicht ernsthaft in Betracht gezogen worden. Denn vor CARATHÉODORY hatte niemand derartige Lösungen bei “normalen” Variationsproblemen erwartet, und da die Anwendung der Weierstraßschen Methode ein definites Vorzeichen der Exzeßfunktion voraussetzt (Dissertation, S. 8f. bzw. Werke, I, S. 12), was Knicke ausschließt, hatte man sich wenig mit diesen “Anomalien” beschäftigt 8. Beispiel 17 in Dissertation, 50; Gesammelte mathematische Schriften, Bd. 1, München, Beck, 1954, 57. 9. In der Nachschrift Variationsrechnung (SS 1865) von H.A. Schwarz auf 141-142. 10. “Über unstetige Lösungen in der Variationsrechnung”, Journal für die reine und angewandte Mathematik, 82 (1877), 21–30. – Erdmann war in Berlin vom SS 1874 bis zum SS 1875 immatrikuliert, hatte aber bei Weierstraß keine Vorlesung über Variationsrechnung gehört! (Universitätsarchiv Berlin, Nr. 863 in den Akten des 64. Rektorats; Hörerlisten von Weierstraß.) Möglicherweise hat er den Weierstraß bekannten Sachverhalt von diesem als ein Seminarthema erhalten und mit Zustimmung von Weierstraß publiziert. Weierstraß hat gegen solches Vorgehen im allgemeinen keine Einwände gemacht. Nach Beendigung des Studiums in Berlin (7. 8. 1875) kehrte Erdmann vermutlich als Gymnasiallehrer wieder nach Königsberg (mindestens seit 1878) zurück, eine Arbeit von 1881 nennt Insterburg als Wohnort, von wo aus sich seine Spur verliert. Eine Promotion ist in Berlin nicht nachzuweisen, allerdings erscheint 1879 in Weierstraß’ Hörerliste (entweder als Hörer der Variationsrechnung oder der analytische Funktionen) wieder der Name Erdmann, welcher allerdings in Ostpreußen ziemlich verbreitet ist.
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KAPITEL 2
(siehe CARATHÉODORYS Bemerkungen in der Einleitung zu seiner Dissertation). Im Antrag von 1918 für CARATHÉODORYS Mitgliedschaft für die Berliner Akademie der Wissenschaften steht: “In seinen Arbeiten über Variationsrechnung deckte Carathéodory die wichtige Bedeutung der geknickten Lösungskurven, deren Vorkommen zwar gelegentlich schon bemerkt worden war, voll auf, [und] entwickelte ihre Theorie.”11 Das gelöste Lampenproblem umrankte bald eine Theorie der geknickten Extremalen bei einem einfachen Variationsproblem, so daß CARATHÉODORY schon Ostern 1904 seine Dissertation Über die diskontinuierlichen Lösungen in der Variationsrechnung, für die es keinen “Doktorvater” im üblichen Sinn gegeben hatte, HERMANN MINKOWSKI (1864-1909) vorlegen konnte und damit im Juli 1904 (Rigorosum am 13. 7. 1904) mit “magna cum laude” promoviert wurde. “Die Arbeit gehört zu den besten mathematischen Dissertationen, die in den letzten Jahren der Fakultät eingereicht worden sind,”12 urteilte zutreffend H. MINKOWSKI in seinem Gutachten über die Doktorarbeit, die mit dem besonderen Prädikat “reperiendi sollertia conspicua” (die ausgezeichneten Einsichten zu finden) versehen worden war. Die Tragweite der Carathéodoryschen Gedanken war also in Göttingen unmittelbar erkannt worden, und nun ging alles schnell weiter. FELIX KLEIN (1849-1925) riet CARATHÉODORY noch vor dem Rigorosum zur Habilitation, und DAVID HILBERT (1862-1943) bestand nachdrücklich auf einer sofort anschließenden Habilitation, die – weil das nicht der Habilitationsordnung entsprach – erst aufgrund eines Beschlusses der Philosophischen Fakultät so kurz auf die Promotion folgen konnte, nämlich bereits 1905.13 In den Augen HILBERTS repräsentierten Dissertation und Habilitation: “den wichtigsten Fortschritt, der in der besonderen Theorie der Maxima und Minima einfacher Integrale seit Weierstraß gemacht worden ist.”14 Im SS 1906 hielt CARATHÉODORY bereits seine erste Vorlesung zur Variationsrechnung in Göttingen, und seine ersten Arbeiten zur Variationsrechnung erschienen. Der lückenhaft vorliegende Briefwechsel mit HERMANN AMANDUS
11. Antrag für die Mitgliedschaft Carathéodorys in der Berliner (Preußischen) Akademie der Wissenschaften vom 7. 11. 1918. Der Antrag ist vermutlich von E. Schmidt gestellt worden und wurde u.a. von H.A. Schwarz, F. Schottky, M. Planck und A. Einstein unterzeichnet. Akademiearchiv Berlin, Hist. Abt. II-III, 37. 12. Universitätsarchiv Göttingen, “Promotionsakte Carathéodory”, Decanat Fleischmann, Bd. 190b (1904-05). 13. Universitätsarchiv Göttingen, “Habilitationsakte Carathéodory”, Decanat Fleischmann, Bd. 190a, V/32 (1904-05). Da die Fakultät zunächst zögerte, stellte Hilbert am 31. 1. 1905 einen Antrag auf Zulassung zum Verfahren, den Klein und Minkowski mit unterzeichneten. Der zustimmende Beschluß wurde bereits am 3. 2. 1905 gefaßt. Carathéodory erhielt die venia legendi am 4. 3. 1905. 14. Habilitationsakte Carathéodory, Gutachten Hilbert vom 8.3.1905, aaO.
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SCHWARZ15 aus dieser Zeit zeigt übrigens, daß SCHWARZ und CARATHÉODORY aktuelle Informationen austauschten, wobei sich bereits gewisse historische Interessen CARATHÉODORYS abzeichneten, da dieser in die Vorbereitungen des ausstehenden Bandes Variationsrechnung der Weierstraßschen Werkausgabe einbezogen ist. In der Variationsrechnung erschließt jedes bewältigte neue Beispiel eine ganze Klasse von Problemen, und über diese in der Variationsrechnung besonders akzentuierte Rolle der Probleme äußerte sich CARATHÉODORY so: “In keinem Teil der Mathematik ist aber die Beschäftigung mit speziellen Beispielen so nützlich wie in der Variationsrechnung, da man hier sehr oft aus einem einzigen geschickt gewählten Problem die allgemeinsten und wertvollsten Resultate gewinnen kann. Nirgends ist aber andererseits die Auffindung neuer Probleme, besonders wenn sie einen physikalischen oder geometrischen Sinn haben sollen, so zeitraubend und mühsam wie hier.”16 Dieses Diktum wird durchgängig in den Arbeiten zur Variationsrechnung von CARATHÉODORY beachtet, es ist stets durch seine angelegten Verzeichnisse der von ihm selbst oder von anderen behandelten Probleme augenfällig.17 Er ist mit dieser “Problemorientiertheit” von Anbeginn an vertraut, denn gerade diese Haltung prägte die Nachsitzungen der Schwarzschen Kolloquien, über die CARATHÉODORY bemerkte: “Dort habe ich zum ersten Mal gesehen, daß man eine allgemeine Theorie am besten verstehen kann, wenn man spezielle Beispiele von Grund auf beherrscht.”18 Eine weitere Einstellung CARATHÉODORYS ist bemerkenswert. Die Methode der Extremalenfelder hat den Zuschnitt der klassischen Mathematik, und es überrascht, daß CARATHÉODORY in der Variationsrechnung eigentlich nie – wie etwa sein Zeitgenosse LEONIDA TONELLI (1885-1946) in dem grundlegenden Buch Fondamenti di Calcolo delle Variazioni19 – den modernen Maßund Integralbegriff benutzt hat, mit dem er gleichfalls meisterhaft umzugehen wußte. 1896 hatte RENÉ BAIRE (1874-1932) das Konzept einer halbstetigen reellen Funktion gefaßt, womit für unterhalbstetige Funktionen auf einem
15. Akademiearchiv Berlin, Nachlaß Schwarz 836 mit 7 Briefen, wovon in unserem Zusammenhang 5 Briefe von 1904 bis 1906 interessieren. Carathéodory schickte z. B. am 1. 6. 1904 Schwarz einige Göttinger Dissertationen. 16. Rezension über A. Knesers, “Lehrbuch der Variationsrechnung”, 2. Auflage, 1925, Deutsche Literaturzeitung, 33 (1926), 1614–1616; auch in: Gesammelte mathematische Schriften, Bd. 5, München, Beck, 1957, 338. 17. Für das Knesersche Lehrbuch der Variationsrechnung (2. Auflage), das nur ein knappes Inhaltsverzeichnis und kein Sachwortregister aufweist, fertigte sich Carathéodory ein eigenes Verzeichnis der durchgerechneten 34 Beispiele an (im Besitz des Autors); die Variationsrechnung und partielle Differentialgleichungen erster Ordnung enthält ein Verzeichnis der 30 Beispiele (S. 401); ebenso Carathéodorys Kommentar zu Eulers Variationsrechnung (in den Opera omnia Euleri, ser. I, 24, Zürich, Orell Füssli, 1952, VIII-LV). 18. Gesammelte mathematische Schriften, Bd. 5, München, Beck, 1957, 399. 19. 2 Bände, Bologna, Zanichelli, 1923-24.
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kompakten Gebiet ein absolutes Minimum gesichert war. TONELLI griff dieses Konzept für die Variationsrechnung auf: die Sätze von Arzela-Ascoli über Kompaktheit und die Bairesche Halbstetigkeit stellten wirkungsvolle Mittel für die direkten Methoden der Variationsrechnung und einschlägige Existenzsätze dar. “In the twenties [of the last century] Tonelli presented his ideas in international gatherings (Toronto 1924, Moscow 1925, Bologna 1928). Mathematicians such as H. Hahn, C. Carathéodory, M. Nagumo [1905-1999] contributed to the new ideas”, bemerkte LAMBERTO CESARI (1910-1990) in seinem Tribute to Tonelli.20 Neben der objektiven Tatsache, daß für starke Extremalen die Feldtheorie am erfolgreichsten einsetzbar ist, spielte hier gewiß auch Subjektives entscheidend mit, etwa CONSTANTIN CARATHÉODORYS geometrische Neigungen sowie seine ausgesprochenen historischen Interessen, wenn er LEONIDA TONELLIS Metoden nur teilweise folgte. Wir werden in den nächsten Abschnitten verfolgen, wie CARATHÉODORY in einer Reihe von Arbeiten fortschreitend die Feldtheorie aufbaute und durchsichtiger machte. Der Übersichtlichkeit halber listen wir diese Arbeiten hier auf,21 beschränken uns aber dabei auf Arbeiten über eindimensionale Variationsprobleme. Seit 1917 zog CARATHÉODORY auch mehrfache Integrale in Betracht (vgl. hierzu Abschnitte 7.2).22 1904 Über die diskontinuierlichen Lösungen in der Variationsrechnung (Dissertation); 1905 Über die starken Maxima und Minima bei einfachen Integralen (Habilitationsschrift), in: Mathematische Annalen 62 (1906) 449– 503; 1905 Über das allgemeine Problem der Variationsrechnung, in: Göttinger Nachrichten (1905) 83–90; 1908 Sur une Méthode directe du Calcul des Variations, in: Rendiconti del Circolo Matematico di Palermo 25 (1908) 36–49; 1913 Sur les points singuliers du problème du Calcul des variations dans le plan, in: Annali di Matematica pura ed applicata (3) 21 (1913) 153–171; 1923 Sui Campi di Estremali Uscenti da un Punto e Riempienti tutto lo Spazio (Auszug aus einem Brief an L. TONELLI), in: Bolletino dell’Unione Matematica Italiana 2 (1923) 2–6, 48–52, 81–87; 20. Cesari, “A tribute to Tonelli”, Contributions to modern calculus of variations, London, Longman, 1987, Zitat S. 2. – Vgl. Carathéodorys Ausführungen über die Einschränkung von Voraussetzungen bei Anwendung der Methoden Tonellis in “Bemerkungen über die Eulerschen Differentialgleichungen der Variationsrechnung”, Göttinger Nachrichten, 1931, 40–42; auch in Gesammelte mathematische Schriften, Bd. 1. München, Beck, 1954, 247–252, insbes. S. 251. 21. Alle aufgeführten Arbeiten bis auf die selbständigen Buchpublikationen sind in den Gesammelte mathematische Schriften, Bd. 1 bzw. 2, München, Beck, 1954-1955, zu finden. 22. “Über die geometrische Behandlung der Extrema von Doppelintegrale”, Verhandlungen der Schweizerischen Naturforschenden Gesellschaft, Zürich, 1917, 2. Teil, 127–129.
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1925
Kapitel Variationsrechnung in: P. FRANK/ R. VON MISES, Die Differential- und Integralgleichungen der Mechanik und Physik, Bd. 1. Braunschweig 1925, unveränderter Nachdruck 1930, S. 227–279; 1926 Die Methode der geodätischen Äquidistanten und das Problem von Lagrange, in: Acta mathematica 47 (1926) 199–236; 1931 Bemerkungen über die Eulerschen Differentialgleichungen der Variationsrechnung, in: Göttinger Nachrichten (1931) 40–42; 1932 Die Theorie der zweiten Variation beim Problem von Lagrange, in: Sitzungsberichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (1932) 99–114; ca. 1932 Extremalenfelder, feldartige Extremalenscharen und Lagrangesche Klammern, im Nachlaß gefundene Korrekturfahnen einer Arbeit, die zur Veröffentlichung bei der Athener Akademie vorgesehen war; 1933 Über die Einteilung der Variationsprobleme von Lagrange nach Klassen, in: Commentarii Mathematici Helvetici 5 (1933) 1–19; 1935 Variationsrechnung und partielle Differentialgleichungen erster Ordnung. Leipzig 1935; 1935 Examples particuliers et Théorie générale dans le Calcul des Variations, in: L’Enseignement mathématique 34 (1935) 255–261; 1937 Geometrische Optik, Berlin 1937; 1937 The beginning of research in the calculus of variations, Meeting of the Mathematical Association of America, 1936; 1944 Basel und der Beginn der Variationsrechnung, in: Festschrift zum 60. Geburtstag von A. Speiser. Zürich 1945, S. 1-18; 1946 Einführung in Eulers Arbeiten über Variationsrechnung. In: Opera omnia Euleri, ser. I, vol. 24, Basel 1952. Rezensionen von CARATHÉODORY zu den Lehrbüchern über Variationsrechnung von O. BOLZA (1906), H. HANCOCK (1907), O. BOLZA (1909, erweiterte deutsche Ausgabe), J. HADAMARD (1911), A. KNESER (1926, 2. Auflage), K. WEIERSTRAß (1928), A. R. FORSYTH (1928). 2.2 Eine (mathematische) Skizze der tragenden Idee Zum besseren Verständnis unserer historischen Untersuchungen stellen wir diesen eine kurze Skizze der mathematischen Ideen CARATHÉODORYS voran. Wir betrachten dazu das einfache ebene Variationsproblem: (1) J ( y ) =
b
∫a f (x, y(x), y' (x)) dx → Min,
y ∈ V,
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KAPITEL 2
V bezeichne die Menge der zulässigen Vergleichsfunktionen mit fest vorgegebenen Randwerten y(a) = ya , y(b) = yb, und es sei f(x, y, p) ∈ C2 sowie f > 0.23 CARATHÉODORYS ursprünglicher Zugang zur Variationsrechnung läßt sich nun in Kürze etwa so beschreiben: Man geht von einer regulären einparametrigen Schar von Kurven aus, die in einem Gebiet G der x,y-Ebene nach dem Parameter λ aufgelöst gedacht wird, aber sonst noch nicht näher festgelegt ist: 2
2
(2) S(x, y) = λ , ( S x + S y ≠ 0 ). CARATHÉODORY bestimmte die Extremale (3) y = y0(x) zum Variationsproblem (1) durch die Bedingung, daß diese Kurve die gegebene Schar (2) im Sinne des Variationsproblems “bestmöglich” durchquert (direkte Methode!).24 Etwas genauer, CARATHÉODORY legte mit Hilfe des steilsten Abstiegs (im Sinne des Variationsproblems) in der Schar S(x, y) = λ für jeden Punkt P = (x, y) aus G ein sogenanntes geodätisches Gefälle p mit der durch (4) p = p(x, y) gegebenen ortsabhängigen Richtung fest. Die einparametrige Schar der Extremalen (5) y = y(x, c) , die in G in das Richtungsfeld (4) paßt (d. h. die in G ∂y (6) ----- = p(x, y(x)) ∂x
erfüllt) und die G schlicht überdeckt, erzeugt dort mit der zugehörigen Schar (2) CARATHÉODORYS (ebene) vollständige Figur. Exemplarische Beispiele einer vollständigen Figur wären in der Differentialgeometrie der bekannte Gaußsche Satz über kürzeste Linien auf einer Fläche mit der zugehörigen orthogonalen Schar und in der Huygensschen Optik die Lichtstrahlen nebst den zugehörigen Wellenfronten.
23. Die letzte Voraussetzung ist erforderlich, um Transversalität erklären zu können, und schließt eine Berührung von Extremalen mit Kurven der transversalen Schar aus; sie läßt sich aber durch ein äquivalentes Problem umgehen und ist damit nicht einschneidend. 24. Physikalisch lassen sich die S-Kurven (allgemeiner S-Flächen) als Orte mit gleichen Werten der Aktion deuten, wobei das transversale Durchqueren der Schar längs der Bahnkurven (Trajektorien) des Systems ein Minimum an Aktion verbraucht.
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Abb. 2.1. Zwei Beispiele von vollständigen Figuren. a) Satz von GAUß in der Flächentheorie, b) Huygenssche Auffassung der Lichtausbreitung.
Als nächstes ermittelte CARATHÉODORY solche Eigenschaften der Schar (2), die gewährleisteten, daß die durch das geodätische Gefälle (4) bestimmten Kurven (3) bzw. (5) die gesuchten Extremalen sind, d. h., diese Kurven sollen die für Lösungen des Variationsproblems notwendige Eulersche Differentialgleichung df dx
(7) ------p- – f x = 0 in G erfüllen. Es zeigte sich dabei, daß zum einen die Kurve y = y(x) durch die Schar S(x, y) = λ transversal (im Sinn von ADOLF KNESER (1862-1930)) geschnitten werden muß und daß zum anderen die Schar S(x, y) = λ äquidistant im Sinne des Variationsproblems sein muß (geodätisch äquidistant). Bereits in der Dissertation (1904) formulierte CARATHÉODORY diese Sachverhalte und wies weiter darauf hin, daß die Schar S(x, y) = λ einer gewissen partiellen Differentialgleichung (Hamilton-Jacobische Differentialgleichung) genügt. In den weiteren Arbeiten rückte er diese Differentialgleichung bzw. deren Lösungen immer mehr in das Zentrum seiner Betrachtungen, während die Rolle der Eulerschen Differentialgleichung zurücktrat. Diese Methode CARATHÉODORYS ist geometrischer Art, und sein direktes Vorgehen, ein Variationsproblem zu lösen, ist deshalb geometrisch besonders gut zu veranschaulichen. CARATHÉODORYS Bezeichnung “geodätisch” weist auf die Möglichkeit hin, mit Hilfe der Flächenschar S(x, y) = λ auf den Extremalen eine Längenbestimmung vorzunehmen. Dieses Verfahren könnte im räumlichen Fall als Methode der geodätisch äquidistanten Flächen bezeichnet werden, und in der Tat ist diese Charakterisierung Teil des Titels seiner
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KAPITEL 2
bekannten Acta-Arbeit über Lagrange-Probleme.25 Die Methode fand 1925 ihre lehrbuchmäßige Darstellung in CARATHÉODORYS Kapitel Variationsrechnung der Differential- und Integralgleichungen in der Mechanik und Physik von PHILIPP FRANK (1884-1966) und RICHARD EDLER VON MISES (18831953). CARATHÉODORY strebte beständig an, die Feldtheorie besser durchschaubar zu machen, und er fand schließlich die elegante Darstellung mittels äquivalenter Variationsprobleme (vgl. 2.3.4). Das Prinzip der äquivalenten Variationsprobleme war nicht neu, wenn man darunter jene analytische Methode versteht, anstelle eines vorgelegten Variationsproblems J(y) ein abgeändertes Problem J*(y) mit gleicher Lösung zu studieren, das aber besser handhabar ist. Man verwendet beispielsweise solche Variationsprobleme seit LEONHARD EULER (1707-1783) bei Variationsaufgaben mit Nebenbedingungen. CARATHÉODORY hat in eben diesem Zusammenhang in dem Acta-Artikel von 1926 die Bezeichnung benutzt; in der Mechanik spricht man anstelle eines einschlägigen äquivalenten Problems von einem befreiten Problem. Aber erst in den 30er Jahren kam CARATHÉODORY der entscheidende Gedanke, daß über äquivalente Probleme seine Methode der geodätischen Äquidistanten noch einfacher zu rechtfertigen sei. Hierzu betrachtete er ein spezielles äquivalentes Variationsproblem (1*)J*(y) → extremum, in dem der positive Integrand f* die beiden Eigenschaften (8) J*(y) ≥ 0 J*(y0) = 0
für beliebige y ∈ V und für die Extremale y = y0(x)
bewirken sollte. Sofern es einen solchen Integranden f* gibt, liegt für (1*) die Minimalität bei beliebigem Umgebungsbegriff von y0(x) auf der Hand. Bei dem Ansatz für den Integranden f* = f - dS(x, y)/dx drücken sich (notwendige) analytische Bedingungen für die Minimumseigenschaft (8) des äquivalenten Variationsproblem (1*) in den sogenannten Fundamentalgleichungen (9) f* ( x, y, y' ) = 0 fp* ( x, y, y' ) = 0
bzw.
f ( x, y, y' ) = S x + S y y', (Äquidistanzforderung),
bzw.
f p ( x, y, y' ) = S x , (Transversalitätsforderung),
für y' aus, die eine Beziehung zwischen dem Integranden des Variationsproblems f, der Kurvenschar S(x, y) und dem Richtungsfeld p(x, y) herstellen. Werden die Gleichungen (9) für festes x, y als Funktion von p aufgefaßt, so stellen sie notwendige Bedingungen für ein Minimum von 25. “Die Methode der geodätischen Äquidistanten und das Problem von Lagrange”, Acta mathematica, 47 (1926), 199–236.
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(10) f* ( x, y, p ) = f ( x, y, p ) – S x – pSy an der Stelle (11) y' = p ( x, y ) dar. Mit anderen Worten, die Gleichungen (8) werden durch ein Minimum von (10) bzw. durch (12) f*(x, y, p) = f ( x, y, p ) – S x – pS y ≥ 0 erfüllt; mit Gleichheit für solche y(x), die in das Richtungsfeld p(x, y) passen bzw. (11) genügen. Die notwendigen Bedingungen hierfür, die Gleichungen (9), führen dann in den kanonischen Koordinaten mit der Hamilton-Funktion H auf die Hamilton-Jacobische Differentialgleichung des Variationsproblem (13) Sx (x, y) + H(x, y, Sy ) = 0. Deutet man diesen analytischen Formalismus geometrisch, so bestimmt die Hamilton-Jacobische Differentialgleichung die transversale Schar S(x, y) = λ der geodätischen Äquidistanten. Da CARATHÉODORY dieser Durchbruch gerade in der Zeit gelang, als sein Lehrbuch Variationsrechnung und partielle Differentialgleichungen erster Ordnung schon im Druck war, ist der “Königsweg in die Variationsrechnung”26 in das Lehrbuch erst in letzter Minute eingearbeitet worden, und er ist daher etwas versteckt. Erst in der Geometrischen Optik (1937) findet die neue Methode ihre angemessene Darstellung, aber merkwürdigerweise weist auch hier CARATHÉODORY – etwa im Vorwort – gar nicht auf den neuen Zugang hin. Erst CARATHÉODORYS Schüler HERMANN BOERNER (1906-1982) hat später in drei Arbeiten diesen eleganten Zugang bekannt gemacht und ihn “Königsweg” genannt.27 Gleichlaufend mit den immer tieferen Einsichten in das geometrische Verfahren der geodätischen Äquidistanten ordnete CARATHÉODORY diese Methode jeweils anders ein. Im Anhang seiner Dissertation (1904) gestand er dem Verfahren zunächst nur historisches Interesse zu und sah in ihm nur eine geometrische Veranschaulichung der Betrachtungen KNESERS in dessen Lehrbuch28 und des Hilbertschen Unabhängigkeitsintegrals29. Aber bereits 1906 26. H. Boerner, “Carathéodory’s Eingang zur Variationsrechnung”, Jahresbericht der DMV, 56 (1953), 31–58, 32. 27. H. Boerner, “Carathéodory und die Variationsrechnung”, Carathéodory Symposium 1973, Greek Math. Society, Athens, 1974, 80–90; “Variationsrechnung à la Carathéodory”, Selecta Mathematica, V, (Hrg. K. Jacobs), Berlin, Springer, 1979; sowie die in der vorhergehenden Fußnote genannte Arbeit. 28. Lehrbuch der Variationsrechnung, Braunschweig, Vieweg 1900, § 19. 29. D. Hilbert, “Mathematische Probleme” (Vortrag auf dem Pariser Weltkongress 1900), Göttinger Nachrichten, (1900), 253–297; geringfügig erweitert auch in: Gesammelte Abhandlungen, Bd. 3, Berlin, Springer, 1937, 290–329.
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sprach CARATHÉODORY in seiner Arbeit Über das allgemeine Problem der Variationsrechnung30 von den zwei Methoden der Variationsrechnung, die einerseits durch LAGRANGE und WEIERSTRAß in einem System von notwendigen und hinreichenden Bedingungen und andererseits als ein Teil der Hamilton-Jacobischen Theorie ausgebaut wurden. Diese analytische Unterscheidung wurde immer stärker akzentuiert, und in dem großen Lehrbuch von 1935 findet sich in den Ratschlägen zur Nutzung der Literatur die Feststellung, daß seine eigene, im Lehrbuch dargestellte Schlußweise durch JOHANN BERNOULLIS (1667-1748) und DAVID HILBERTS Methoden weitgehend beeinflußt worden ist.31 Wir wollen nun die skizzierte mathematische Problematik in ihrer historischen Entwicklung, die bei CARATHÉODORY in einer Wende vom geometrischen zum analytischen Denken vollzogen wird, im Detail verfolgen. 2.3 Die Herausbildung der geometrischen Methode (die geodätisch Äquidistanten) 2.3.1 Die Dissertation von 1904 als Ausgangspunkt Auf das eigentliche Ziel der Dissertation Über die diskontinuierlichen Lösungen in der Variationsrechnung, das CARATHÉODORY am Beginn der Abhandlung so zusammenfaßt, daß nämlich: “die einfachsten Probleme der Variationsrechnung, sowohl die gewöhnlichen als auch die isoperimetrischen, in Bezug auf ihre diskontinuierlichen [geknickten] Lösungen zu untersuchen”32 sind sowie auf die Rolle der geknickten Extremalen beim Lösungsbegriff sind wir bereits kurz eingegangen. Uns soll jetzt der neunseitige feldtheoretische Anhang der Dissertation mit dem Titel Verallgemeinerung einer Methode von Johann Bernoulli näher interessieren. Die entsprechende Arbeit JOHANN BERNOULLIS war Gegenstand des Kapitels 1. CARATHÉODORY hielt BERNOULLIS direkte Methode des steilsten Abstiegs vom Standpunkt des Geometers aus für sehr anschaulich, und er betonte, daß mit ihr jede indirekte Schlußweise vermieden wird, da sie ein Variationsproblem auf eine gewöhnliche Maximum- oder Minimumaufgabe zurückführt. Das ist in der Tat der methodische Ausgangspunkt für das weitere. CARATHÉODORYS direktes Vorgehen wird sich in seiner Eigenständigkeit immer mehr herauskristallisieren, bis es jene vollständig ausgebildete Form erreicht, die ERHARD SCHMIDT (1876-1959) so beschreibt: “Dabei überrascht die Umkehr des Beweisganges gegenüber dem üblichen. Es wird mit dem Hilbertschen 30. Göttinger Nachrichten, (1905), 83–90, 83. 31. Variationsrechnung und partielle Differentialgleichungen erster Ordnung, Leipzig, B.G. Teubner, 1935, 398. 32. “Dissertation”, 1; Gesammelte mathematische Schriften, Bd. 1, München, Beck 1954, 3.
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ε
Unabhängigkeitsintegral begonnen, daran schließt sich die Weierstraßsche Funktion, dann die Legendresche Bedingung für das schwache Minimum, die Transversalität, die Legendresche Transformation und die Hamilton-Jacobische Theorie. Die Euler-Lagrangeschen-Differentialgleichungen, welche früher am Anfang jeder [indirekten] Behandlung der Variationsrechnung standen, fallen hier gewissermaßen von selbst ab.”33 CARATHÉODORY bemerkte übrigens schon in seiner Dissertation, es sei interessant, die elegante Methode BERNOULLIS über das Brachistochronenproblem hinaus auf allgemeinere Aufgaben (1) J ( y ) =
b
∫a f (x, y(x), y' (x)) dx → Min
auszudehnen, obgleich er derzeit einschränkend noch vermutete, daß dies wohl “nur noch von historischem Interesse sein kann”34. In dem zweiten und umfangreichsten Paragraphen des Anhanges der Dissertation CARATHÉODORYS wird eine Verallgemeinerung wie folgt ausgeführt: In der x,y-Ebene wird eine einparametrige Kurvenschar (2) S(x, y) = λ betrachtet,35 die nach dem Parameter λ aufgelöst gedacht ist und in G als schlicht angenommen wird. CARATHÉODORY will zwei infinitesimal benachbarte Kurven der Schar (2) mittels eines Linienelementes σ = (x, y(x), y' (x)) so durchqueren, daß der Wert des Integrals (1) zwischen diesen beiden Kurven berechnet (d.h. auf σ gebildet) (3) J(y) = ∫ f (x, y(x), y' (x)) dx σ
=
x + dx
∫x
f (x, y(x), y' (x)) dx
= f (x, y(x), y' (x)) dx ein Minimum wird. In der Dissertation (1904) interessierte sich CARATHÉODORY vor allem ganz im Stile BERNOULLIS lokal für die Eigenschaften eines Linienelementes σ einer gesuchten Funktion, das die Kurvenschar S(x, y) = λ in diesem gewünschten Sinne durchdringen soll bzw. transversal zu ihr liegt. Die
33. Gesammelte mathematische Schriften, Bd. 5, München, Beck, 1957, 414. Ähnlich äußerte sich O. Perron in seinem Nachruf über Carathéodory, in Jahresbericht der DMV, 55 (1952), 39-51, 46. 34. Dissertation, 63; Gesammelte mathematische Schriften, Bd. 1, München, Beck, 1954, 70. 35. Wir weichen hier und gelegentlich von den Originalbezeichnungen in den verschiedenen Arbeiten Carathéodorys ab, um Einheitlichkeit in der Symbolik zu haben.
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KAPITEL 2
Gesamtheit dieser Linienelemente σ bestimmt global eine Kurve y = y(x), die die Schar S(x, y) = λ transversal durchquert bzw. von dieser Schar transversal geschnitten wird. Längs y = y(x) gilt (4) S(x, y(x)) = λ. Damit ist λ eine Funktion von x. Da die Kurve y = y(x) die Schar (2) durchquert, dabei aber nirgends berühren soll, können wir wegen der Monotonie dieser Funktion o.B.d.A. annehmen: dλ ∂S ∂S (5) ------ = ------ + y' ( x ) ------ : = ∆ > 0, ∂x
dx
∂y
(∆ = ∆(x, y, p)),
somit ist umgekehrt auch x eine Funktion von λ, und auch J(y) hängt längs y(x) gleichfalls von λ ab. Das Differential f dx wird mittels (5) wie folgt umgerechnet: f f ( x, y, p ) (6) f dx = --------------------- dλ = --- dλ . S x + pS y
∆
Abb. 2.2. Die Durchquerung zweier Kurven mit einem Linienelement (aus der Dissertation Carathéodorys)
Die globalen Verhältnisse behandelte CARATHÉODORY in seiner im SS 1906 gehaltenen Vorlesung Variationsrechnung ausführlicher, und er betonte sie natürlich ebenfalls in der Vorlesung des SS 1915 über Variationsrechnung und partielle Differentialgleichung.36 Die Beziehung von σ zur Kurvenschar ergibt sich mit (6) so: x + dx
(7) J(y) =
∫x
f (x, y(x), y' (x)) dx = f (x, y(x), y' (x)) dx
=
∫λ
f-----------------------------------( x, y ( x ), y' ( x ) -) dλ = --f- dλ . ∆ S x + pS y
λ + dλ
Damit folgt: “Die Werte von p = p(x, y), für welche das Differential f dx [d.h. f(x, y, p)] einen Extremwert annimmt, werden also gegeben durch
36. Vorlesung, SS 1905, 86; Vorlesung, SS 1915, 162.
DER “ KÖNIGSWEG ” IN DIE FELDTHEORIE
(*)
77
∂ -------------------f = 0”.37 ∂ p Sx + Sy p
Somit ergibt sich für extremales p sofort als notwendige Bedingung, wobei wir den Nenner, der nicht verschwindet, wiederum durch ∆ abkürzen: (8) ∆ fp – ∆p f = 0
oder
(Sx + pSy ) fp – f Sy = 0.
Gleichung (8) drückt die besondere Lage zwischen der Kurve y = y(x) bzw. ihrer Tangente und der Schar S(x, y) = λ aus. Für n gesuchte Funktionen yi = yi (x) (i = 1, …, n) ist die Gleichung (8) vektoriell zu interpretieren, d. h. (9) ( S x + p i S y k )f p k + fS yi = 0 , (i = 1, …, n).38 In späteren Arbeiten wird CARATHÉODORY vom geodätischen Gefälle oder vom geodätischen Gradient sprechen, wenn er den Vektor der durch (9) charakterisierten Richtungen meint.39 Die Entscheidung, ob ein schwaches Maximum oder Minimum vorhanden ist, kann in bekannter Weise mit dem Vorzeichen der zweiten Ableitung 2
∂ f (10) --------2 --------------------∂p S x + S y p
getroffen werden, was auf eine Legendresche Bedingung führt (S. 66), nämlich fpp ≥ 0. In diesen Gedankengängen steckt bereits das von ERHARD SCHMIDT angegebene Schema, wenn auch noch ziemlich versteckt. Für die transversale Schar S(x, y) = λ läßt sich durch die elementare Beziehung (11)
s
∫s dS
= S – S0
0
das Hilbertsche Unabhängigkeitsintegral erklären, das über die für die Feldtheorie wichtige Differenz S – S0 eingeführt werden kann. CARATHÉODORY gab in seiner Dissertation noch keine explizite Herleitung der -Funktion und der mit ihr verbundenen hinreichenden Bedingungen, sondern er bemerkte nach der Behandlung der Legendreschen Bedingung lediglich: “Mit Hülfe der eben besprochenen Methoden kann man also zu gleicher Zeit sämmtliche notwendigen Bedingungen aufstellen, deren Gesammtheit hinrei-
ε
37. Dissertation, 66; Gesammelte mathematische Schriften, Bd. 1, München, Beck, 1954, 72. In der Dissertation ist auf S. 66 die Bedingung ≠ 0 vor Formel (6) verdruckt. 38. Es gilt das Einsteinsche Summationsübereinkommen: Über zwei gleiche lateinische Indizes wird von 1 bis n summiert. 39. Kapitel Variationsrechnung, § 2, 2-3, in P. Frank, R. von Mises, Die Differential- und Integralgleichungen der Mechanik und Physik, Bd. 1, Braunschweig, Vieweg, 1925 (bereits um 1922 geschrieben); “Die Methode der geodätischen Äquidistanten und das Problem von Lagrange”, Acta mathematica, 47 (1926), 199–236, § 9; beides auch in: Gesammelte mathematische Schriften, Bd, 1, München, Beck, 1954. Vorlesungen SS 1915, S. 163 f.
78
KAPITEL 2
chend ist, um das Auftreten eines Extremwertes des Integrals J nachzuweisen. Sie ist übrigens nichts anderes als die geometrische Veranschaulichung der Betrachtungen, die Kneser im § 19 seines Lehrbuches aufgestellt hat, sowie des Hilbertschen Unabhängigkeitssatzes.”40 2.3.2 Die Rolle der Transversalität Bei der Deutung der Gleichung (1.8) bzw. (1.9) griff C. CARATHÉODORY in seiner Dissertation auf den von ADOLF KNESER 1900 geprägten Begriff der Transversalität41 zurück: “Wenn eine Curve die Eigenschaft hat, dass in jedem ihrer Punkte die Gleichung (6) [ = (1.8) bzw. (1.9) ] besteht, so sagt Kneser, daß sie durch die Curvenschar ϕ(x, y) = λ [bei uns S(x, y) = λ; (1.2)] transversal geschnitten wird.”42 Die Definition KNESERS lautet so (vgl. Abschnitt 4.6.3): “Haben überhaupt zwei von einem Punkte ausgehende Bogenelemente λ, µ nach den Coordinatenaxen die Componenten δx, δy und dx, pdx [p = y' (x)] und gilt die Gleichung (*) (f – pfp) δx + fp δy = 0, so sagen wir, µ liege transversal zum Element λ, und jede letzteres enthaltende Curve werde von jeder µ enthaltenden [Curve] transversal geschnitten.”43 Da das Linienelement λ mit den Variationen δx, δy zur Kurvenschar S(x, y) = λ gehört, gilt (1) Sx δx + Sy δy = 0.
40. “Gesammelte mathematische Schriften”, Bd. 1, München, Beck, 1954, 76; Dissertation, 69. Vergl. für die Gesamtheit der notwendigen und hinreichenden Bedingungen etwa die von O. Bolza in seinen Vorlesungen über Variationsrechnung (Leipzig, B.G. Teubner, 1909) aufgestellte Tabelle der notwendigen und hinreichenden Bedingungen, S. 127. In den Vorlesungen von Weierstraß im SS 1879, Kapitel 9, wird dieser Überblick ebenfalls geboten. 41. Der Begriff Transversale kommt aus der Dreiecksgeometrie, wo gegen Ende des 17. Jahrhunderts transversus = quer verlaufend das altlateinische obliquus ersetzte; z. B. auf p. 32 in H. Meissners, Geometria tyronica, (o.O. und o.J., um 1695); so auch heute im Französischen: transversal = quer verlaufend. Der Gebrauch des Begriffs variiert: Bei Kneser schneidet die Extremale die Schar transversal, bei Carathéodory wird die Extremale durch die Schar transversal geschnitten. (A. Kneser, Lehrbuch der Variationsrechnung, Braunschweig, Vieweg, 1900, 32; 1925, 57; W.F. Osgood, “Sufficient conditions in the calculus of variations”, Annals of Mathematics, 2 (1902), 105–129, 112; C. Carathéodory, Variationsrechnung und partielle Differentialgleichungen, Leipzig, B.G. Teubner, 1935, § 299). Für eine unabhängige Variable (eindimensionaler Fall) ist der Begriff symmetrisch, und sein Gebrauch weist auf den Ausgangspunkt des jeweiligen Autors hin; im Mehrdimensionalen besteht diese Symmetrie nicht mehr. 42. Dissertation, 66; Gesammelte mathematische Schriften, Bd. 1, München, Beck, 1954, 73. 43. Lehrbuch der Variationsrechnung, Braunschweig, Vieweg, 1900, 32, 1925, 57; die für den homogenen Fall (d.h. für die Parameterform) angegebene Gleichung ist weggelassen worden. Die Bezeichnung des Linienelements (Bogenelements) bei Kneser mit λ hat nichts mit dem Parameter in λ = S(x, y) zu tun.
DER “ KÖNIGSWEG ” IN DIE FELDTHEORIE
79
Die Multiplikation der von KNESER angegebenen Gleichung mit Sx und anschließende Division durch Sy δy führt unmittelbar auf die Transversalitätsrelation (1.9). Bei gegebenem S(x, y) = λ und mit p = dy/dx kann die Transversalitätsgleichung (3.1.9) als eine gewöhnliche Differentialgleichung erster Ordnung (2) g(x, y, p) = 0 für Kurven angesehen werden, die durch die Schar S(x, y) = λ transversal geschnitten werden.44 Damit ist die einparametrige Lösungsschar (3) y = y(x, c) von (2) eine zur Schar S(x, y) = λ transversale Schar.45 Läßt sich (2) nach p auflösen, so wird durch (4) p = P(x, y, Sx, Sy) = p(x, y) ein Richtungsfeld (geodätisches Gefälle) definiert, das zur Schar (3) gleichwertig ist. Das Richtungsfeld p = p(x, y) bestimmt in G die “vorteilhafteste Richtung” (im Sinne des Variationsproblems46) in der eine Kurve y = y(x) die Schar S(x, y) = λ schneiden kann, also in der Richtung, in der dJ/dλ extremal ist. Die in das geodätische Gefälle eingebetteten Kurven, deren Richtungen folglich mit der des geodätischen Gefälles übereinstimmen, werden sich als Extremalen erweisen. Die Lösungsschar (3) bildet ein Extremalenfeld, zu dem es eine transversale Schar gibt.47 In der mehrdimensionalen Feldtheorie hat CARATHÉODORY hierfür auch den Begriff geodätisches Feld eingeführt,48 der von HERMANN BOERNER in abgeschwächter Weise für seine Feldkonstruktion verwendet wurde, und gerade für diese abgeschwächte Form führte ROLF KLÖTZLER (geb. 1931) unabhängig von BOERNER später den Begriff erweiterte Felder ein (vgl. Abschnitte 5.9, 7.5).49
44. Dissertation, 66; Gesammelte mathematische Schriften, Bd. 1, München, Beck, 1954, 73. 45. aaO., S. 67 bzw. 73. 46. Vorlesung SS 1915, 162; Vorlesung SS 1906, 86; Vorlesung WS 1917/18, 109, 122. 47. Dissertation, 68; Gesammelte mathematische Schriften, Bd. 1, München, Beck, 1954, 74. 48. “Über die Variationsrechnung bei mehrfachen Integralen”, Acta Szeged, 4 (1929), 193-216; auch in: Gesammelte mathematische Schriften, Bd. 1, München, Beck, 1954, 401-426, insbes. 415. 49. H. Boerner, “Über die Extremalen und geodätischen Felder in der Variationsrechnung mehrfacher Integrale”, Mathematische Annalen, 112 (1936), 187–220; R. Klötzler, Mehrdimensionale Variationsrechnung, Berlin, DVW, 1969, insbes. § 26.
80
KAPITEL 2
Abb. 2.3. Transversalität. a) zwischen zwei Linienelementen (Kurvenschar S(x, y) = λ), b) zwischen Linien- und Flächenelement (Flächenschar S(x, y) = λ).
Im Zusammenhang mit einer Diskussion der Methode BERNOULLIS machte CARATHÉODORY in der Dissertation eher beiläufig die Bemerkung, daß S(x, y) einer Hamilton-Jacobischen Differentialgleichung genüge: “Wir haben überdies noch gefunden, dass […] die partielle Differentialgleichung, die man aus (8) und (9) durch Elimination von p erhält, durch Quadraturen zu lösen ist.”50 Im Vordergrund der Überlegungen im Anhang der Dissertation standen allerdings zunächst die Eigenschaften einer solchen Schar S(x, y) = λ, aber noch nicht die Bestimmung von S(x, y) selbst: “Die Methode Bernoullis besteht nun darin, auf jeder Curve S(x, y) = const. diejenigen Punkte aufzufassen, für welche der Ausdruck f (**) --------------------S x + pS y
ein Maximum oder ein Minimum ist.”51 JOHANN BERNOULLI sowie CARATHÉODORY suchten für einen bestimmten Punkt P die “vorteilhafteste Richtung”52 p(x, y), mit der eine Kurve dem Ausdruck f /∆ ein Minimum erteilt. Die Minimalforderung für (**) besagt geometrisch gedeutet, daß die Schar S(x, y) = λ von der Kurve mit der “vorteilhaftesten” Richtung transversal geschnitten wird. Die Transversalitätsbedingung (1.8) (bzw. die Bedingungen (1.9)) ist (bzw. sind) jedoch nur notwendig für Extremalität. 50. Dissertation, 69, vgl. auch 67; Gesammelte mathematische Schriften, Bd. 1, München, Beck, 1954, 76, vgl. auch 74. Die Gleichungen (8) und (9) entsprechen den sogenannten Fundamentalgleichungen (siehe unten Formeln (7) und (8)). Auf S. 67 der Dissertation hatte Carathéodory bereits angemerkt, daß die Transversalitäts- und Äquidistanzforderung (d.h. die später Fundamentalgleichungen genannten Beziehungen (7) und (8)) auf eine partielle Differentialgleichung führen. 51. Dissertation, 67; Gesammelte mathematische Schriften, Bd. 1, München, Beck, 1954, 73. 52. Vorlesung SS 1915, 162.
DER “ KÖNIGSWEG ” IN DIE FELDTHEORIE
81
Abb. 2.4. Die Kurve der „vorteilhaftesten“ Richtungen im Hinblick auf Transversalität
Die Menge aller Punkte P = (x, y) mit der “vorteilhaftesten Richtung” y' (x) mögen eine (differenzierbare) Kurve y = η(x) bilden. Im allgemeinen Fall ist jedoch nicht klar, ob die jeweiligen Linienelemente τ = (x, η(x), dη/dx) dieser Kurve in jedem Kurvenpunkt P in der transversalen Richtung p(x, y) der Schar liegen. Mit anderen Worten, schneidet eine solche Kurve y = η(x) die Schar S(x, y) = λ überhaupt transversal? Selbst wenn Transversalität vorliegt, so kann man aus der lediglich notwendigen Bedingung für Extremalität noch nicht darauf schließen, daß das Variationsintegral J(y) längs einer zur Schar S(x, y) = λ transversal liegenden Kurve PRQ kleiner (größer) ist als längs einer beliebigen Vergleichskurve P R' Q (vgl. Abb. 2.4). Auch wenn längs PRQ in jedem Punkt die Änderung minimal (maximal) ist, so könnte doch die Änderung insgesamt längs P R' Q kleiner (größer) als längs PRQ sein, auch wenn längs P R' Q nicht immer die günstigste Richtung verfolgt wird.53 Um die Änderungen in verschiedenen Punkten vergleichen zu können, ging CARATHÉODORY bereits in der Dissertation so vor: “Um sich zu helfen, betrachte man nicht mehr eine willkürliche Schar von Curven S(x, y) = λ, sondern verlange viel mehr, dass sie äquidistant (im Sinne des Variationsproblems) seien, d. h. dass der Ausdruck f -------------------S x + pS y
längs jeder Curve s = const einen constanten Wert behalte. Dann ist f (***) -------------------= ψ (λ), S x + pS y
wo ψ noch eine willkürliche Funktion bedeutet.”54 Das geodätische Gefälle p = p(x, y), das durch (1.7) bzw. (1.9) definiert wird, ist i.a. eine Ortsfunktion im x,y-Raum. Die Forderung 53. Dieser Einwand, der auf die Notwendigkeit der Transversalitätsbedingung gegründet ist, erscheint in der Vorlesung SS 1915, 163. 54. Dissertation, 67; Gesammelte mathematische Schriften, Bd. 1, München, Beck, 1954, 73 f.
82
KAPITEL 2
dJ f (5) ------ = --------------------- = ψ (λ), dλ S x + pS y
bedeutet, daß das geodätische Gefälle p = p(x, y) längs der Kurven S(x, y) = λ nur von λ abhängt bzw. dort ortsunabhängig ist. CARATHÉODORY setzt im weiteren die willkürliche Funktion ψ (λ) = 1.55 Damit wird die Bezeichnung geodätisch äquidistant einsichtig, denn aus (5) folgt mit S(x, y) = λi (i = 1, 2) längs einer Kurve mit geodätischen Gefälle (6) J(λ2) – J(λ1) =
λ2
∫λ ψ dλ
= λ 2 – λ 1.
1
Die Gleichung (6) besagt geometrisch, daß längs jedes Kurvenbogens mit geodätischem Gefälle, sofern er von den gleichen Kurven S(x, y) = λi (i = 1, 2) begrenzt wird, der Integralwert gleich ist, nämlich λ2 – λ1. Diese geometrische Deutung, die ganz dem Kneserschen Transversalensatz56 entspricht, zeigt die Tragweite des Konzepts der geodätisch äquidistanten Kurvenschar sehr anschaulich.57 Derartige Scharen definieren eine Metrik im Sinne des Variationsproblems.58 Bei KNESER werden zu einer Kurve C0, die von Extremalen E transversal geschnitten wird, weitere Kurven Cα von gleicher Beschaffenheit konstruiert. Dazu werden auf den Extremalenbogen E, die transversal durch C0 gehen, Stücke mit festem Integralwert abgegrenzt, und der geometrische Ort dieser Endpunkte liefert wieder eine zu den Extremalen E transversale Kurve C1. Der analytische Hintergrund dieses geometrischen Bildes ist die Tatsache, daß ein Anfangswert x0, y0, p(x0, y0) = y' (x0) den Verlauf einer Extremalen bestimmt, und diese Anfangswerte sind wiederum vermöge der Transversalitätsbedingungen bekannt, sofern man das Tangentialelement von S(x, y) = λ0 im Punkte P0(x0, y0) kennt. Umgekehrt sind durch das Linienelement zu S(x, y) = λ0 in P0 auch alle Linienelemente der zu s1 äquidistanten Kurven längs der Extremalen durch P0 (im Feld) bekannt. Global gesehen ist das Ersetzen von C0 durch C1 mittels gleicher geodätischer Entfernung eine Berührungstransformation, in
55. aaO., S. 67 bzw. 74. 56. A. Kneser, Lehrbuch der Variationsrechnung, Braunschweig, Vieweg, 1900, S. 48 f. 57. Dieser Sachverhalt wird von Carathéodory in der Vorlesung 1917/18 besonders betont, wo er didaktisch überzeugend aus einem einfachen Beispiel hergeleitet wird; vgl. Abschnitt 2.3.5, besonders Gleichung (11). 58. P. Finsler hat 1918 in seiner Dissertation Über Kurven und Flächen in allgemeinen Räumen (bei Carathéodory) diesen Ansatz weiter verfolgt; siehe auch H. Rund, The Differential Geometry of Finsler Spaces, Berlin, Springer, 1959. 1917 hatte Carathéodory an Adolf Kneser geschrieben: “Ich habe jetzt hier einen jungen Schweizer, der in überraschend eleganter Weise ein Problem behandelt hat, das ich vor 10 Jahren (im Anschluss an Landsberg [“Über die Krümmung in der Variationsrechnung”, Mathematische Annalen, 65 (1908), 313-349]) vergebens angeschnitten hatte. Nämlich die Kurven[-] und Flächentheorie im Rn, wenn das Linienelement durch ein ganz beliebiges Variationsproblem gegeben ist”. Cod. Ms. A. Kneser C4:1, Brief vom 17. 5. 1917. Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung.
DER “ KÖNIGSWEG ” IN DIE FELDTHEORIE
83
der geometrischen Optik als Huygenssches Prinzip bekannt. Diese Transformation entspricht der Lieschen Dilatation.59 Mit der speziellen Funktion ψ(λ) = 1 reduziert sich das aus der Transversalitätsbedingung (1.8) und der Gleichung (*) von S. 78 ergebende System auf: (bzw. f = ∆),
(7) f = Sx + pSy, (8) fp = Sy,
(bzw. fp = ∆p).
Das sind die sogenannten Fundamentalgleichungen, durch die ein zu dem Problem (9) J(y) → extremum mit dem Integranden f äquivalentes Variationsproblem (10)J*(y) → extremum mit dem Integranden f* = f – ∆ charakterisiert wird; aber diese analytische Deutungsmöglichkeit entgeht CARATHÉODORY vorerst noch. Die Gleichungen (7), (8) werden in der Dissertation als die Gleichungen für eine geodätisch äquidistante Schar gesehen, die eine gewisse Kurve transversal schneidet. Aufgrund der “Äquidistanzdefinition” (5) mit ψ (λ) = 1 bzw. (7) vereinfacht sich die Transversalitätsbedingung zu (8). Auf die partielle Differentialgleichung erster Ordnung, die sich aus den Fundamentalgleichungen (7), (8) ergibt und die Schar S(x, y) = λ bestimmt, ging CARATHÉODORY in der Dissertation nicht ein, sondern er wendete sich dem Verhältnis von Kurven und zugehörigen transversalen Scharen zu und bewies folgende Aussage: “Jede Curve, die durch eine Schar von äquidistanten Curven transversal geschnitten wird, muss der Gleichung (11) [ Eulersche Differentialgleichung = (2.2.7)] genügen,”60 und umgekehrt zeigte er anschlie∂y ßend, daß eine einfache Schar von Integralkurven y = y(x, a) mit ------ ≠ 0 (in G) ∂a der Eulerschen Gleichung (2.7) von anderen Kurven nur dann transversal geschnitten wird, wenn diese Kurven einer äquidistanten Schar angehören. Unter der Annahme der Transversalität entsprechen sich die Eigenschaften der Äquidistanz bei der einen Schar und derjenigen bei der anderen Schar, aus Lösungen der Eulerschen Differentialgleichung zu bestehen. Den ersten Teil des Satzes zeigte CARATHÉODORY, indem er die Fundamentalgleichungen (7) und (8) nach y bzw. x differenzierte und beide Ergebnisse
59. Vgl. C. Carathéodory, “Das allgemeine Problem der Variationsrechnung”, Göttinger Nachrichten, 1905, 83-90; auch in: Gesammelte mathematische Schriften, Bd. 1, München, Beck, 1954, 162-169, insbes. 167. Zu äquidistanten Kurven siehe auch Fußnoten 60 und 61. 60. Dissertation, 68; Gesammelte mathematische Schriften, Bd. 1, München, Beck, 1954, 74.
84
KAPITEL 2
mit Hilfe des Schwarzschen Satzes Sxy = Syx zusammenbrachte, woraus die Eulersche Gleichung für die transversale Kurve folgte; der zweite Teil (eine Umkehrung des ersten Teils) wurde bewiesen, indem jetzt Äquidistanz und Transversalität über den Schwarzschen Satz in Beziehung gesetzt wurden. Eine zur Umkehrung des Satzes ähnliche Aussage, daß die in ein geodätisches Gefälle (durch (2) bzw. (4) definiert) eingebetteten Kurven (3) Extremalen sind und von der Schar S(x, y) = λ transversal geschnitten werden, findet sich bereits bei ADOLF KNESER. Es sei H(x, y, P) = f(x, y, p) + Pπ die durch die Legendre-Transformation P = fp(x, y, p) mit der Umkehrung p = π(x, y, P) aus dem Integranden f erzeugte Hamiltonfunktion des Variationsproblems. Ist S(x, y) eine Lösung der Hamilton-Jacobischen Differentialgleichung Sx + H = 0, so lassen sich die Kurven S = λ als Transversalen zu einer Schar (3) von Extremalen auffassen. Die Extremalen können aus einer gewöhnlichen Differentialgleichung erster Ordnung, (2), berechnet werden: “Ist also V [= S(x, y)] irgendeine Lösung der durch Elimination […] aus den Gleichungen (45) [= Hamilton-Jacobische Differentialgleichung] entstehende partielle Differentialgleichung, so werden die Curven V = const. von einer Schar von Extremalen des Integrals J transversal geschnitten.”61 Schließlich läßt sich S(x, y) als Wert des Variationsintegrals erklären, wenn es längs Extremalen ausgewertet wird, womit Äquidistanz geschaffen wird.62 Dieser Sachverhalt erklärt CARATHÉODORYS oben zitierte Aussage über die geometrische Veranschaulichung der Betrachtungen KNESERS im Anhang der Dissertation. Was die Bemerkung über KNESER betrifft, so ist diese als Quellennachweis angebracht. Sie trifft aber inhaltlich nicht ganz zu, was wir oben schon angedeutet haben. KNESER geht letztlich von den Lösungen der Eulerschen Gleichungen aus und betrachtet daher die Transversalität zwischen der Extremalen (Lösung der Eulerschen Gleichung) und der Kurvenschar S(x, y) = λ als ursprünglich, die dann ja auch a priori vorhanden ist. Lösungen der Hamilton-Jacobischen Differentialgleichungen sind aber äquidistant, wovon wir uns schnell überzeugen werden. Denn: Ist S(x, y) eine Lösung der Hamilton-Jacobischen Differentialgleichung Sx + H = 0, so haben wir mit P = Sy und wegen der möglichen Umkehrung der Legendre-Transformation p = π (x, y, P) (11) 0 = Sx + H(x, y, Sy) = Sx – f(x, y, π) + Pπ = Sx – f(x, y, p) + Sy p oder (12) f(x, y, p) = Sx + pSy, 61. Lehrbuch der Variationsrechnung, Braunschweig, Vieweg, 1900, 69-71, Zitat S. 70. Kneser geht von einem in Parameterform gestellten Variationsproblem aus. Da er Lösungen V der Hamilton-Jacobischen Differentialgleichung betrachtet, ist seine Kurvenschar V = const [= S(x, y)] notwendig äquidistant (S. 71), und sie schneidet die Extremalen transversal (S. 69), der Nachweis steht auf S. 70. 62. aaO., 71
DER “ KÖNIGSWEG ” IN DIE FELDTHEORIE
85
also ist f mit ψ (λ) = 1 in der Form (5) darstellbar, die für die Schar S(x, y) gerade die Äquidistanz definiert. Wegen P = fp und P = Sy gilt weiterhin (8), d. h. S(x, y) ist auch eine transversale Schar. Da umgekehrt eine transversale Schar, die äquidistant ist, per definitionem der Hamilton-Jacobischen Differentialgleichung genügt, sind die Begriffe Lösung der Hamilton-Jacobischen Differentialgleichung und äquidistante transversale Schar gleichwertig.63 Bei KNESER ergibt sich die Äquidistanz a posteriori über seinen Transversalensatz64, während CARATHÉODORY die Äquidistanzforderung a priori an die Kurvenschar stellt, um aus dem Durchqueren der Schar S(x, y) = λ die Gleichung der Extremalen ermitteln zu können. Daher wird dieser Sachverhalt namensgebend für CARATHÉODORYS Verfahren, was bei KNESER nicht möglich ist. Die Perspektiven beider sind folglich diametral. Darauf weist auch CARATHÉODORYS gelegentliche Bezeichnung einer Extremalen, die die Kurvenschar S(x, y) = λ transversal schneidet, als Transversale65 hin. Das entspricht genau dem Sinn von transversal “als schräg zu etwas liegend”66, zeigt aber andererseits, daß CARATHÉODORYS Blickrichtung sich vom indirekten Verfahren KNESERS unterscheidet, daß er also im Gegensatz zu KNESER von der äquidistanten Schar und nicht von den Extremalen ausgeht. Dieser Unterschied in der Behandlung von Variationsproblemen ist von CARATHÉODORY in der Folge vertieft worden. Er hat letztlich seine Wurzel in der bereits von JOHANN BERNOULLI herausgestellten Möglichkeit, ein Variationsproblem direkt oder indirekt zu behandeln. 2.3.3 Die Entwicklung der direkten Methode CARATHÉODORY hat nach seiner Promotion in der Variationsrechnung weiter in diesem Gebiet gearbeitet und dabei die von BERNOULLI am Beispiel praktizierte direkte Methode herausgearbeitet und entwickelt. Im wesentlichen ist CARATHEÓDORYS Ansatz jedoch bereits im Anhang der Dissertation zu finden, den wir gerade ausführlich diskutiert haben. Die Arbeit von 1908 Sur une Méthode directe du Calcul des Variations überträgt die dort für Funktionenprobleme dargelegte Methode auf Variationsprobleme in Parameterdarstellung. Im Verlauf der nächsten drei Jahrzehnte wurde sich CARATHÉODORY, wie bereits gesagt, der Verschiedenheit der beiden Methoden, der direkten und der 63. H.H. Goldstine bemerkt in seiner History of the Calculus of Variations, Berlin, Springer, 1980, auf p. 386, daß Carathéodory diesen Sachverhalt in dem Anhang zur Dissertation beweist. Aber dort ist nur der umgekehrte Fall erwähnt worden, daß nämlich die Forderungen nach einer transversalen und äquidistanten Schar auf eine partielle (Hamilton-Jacobische) Differentialgleichung führen (“[…] so erhält man eine partielle Differentialgleichung für ϕ [=S(x, y)]”, S. 67; Gesammelte mathematische Schriften, Bd. 1, München, Beck, 1954, 74). 64. Lehrbuch der Variationsrechnung, Braunschweig, Vieweg, 1900, S. 48 f. 65. In den Vorlesungen im SS 1915, Ausarbeitung auf S. 163. 66. Zur Definition der Transversalität vgl. auch Fußnote 41.
86
KAPITEL 2
indirekten, immer bewußter. In der unmittelbar an die Promotion (1904) anschließenden Habilitation Über die starken Maxima und Minima bei einfachen Integralen (1905) gab CARATHÉODORY noch diesen Überblick über die Forschungsprogramme der Variationsrechnung:67 i) Theorie der ersten Variation (Methoden von EULER und LAGRANGE), ii) Frage nach den Extremaleigenschaften der durch i) gelieferten Kurven und Flächen (LEGENDRE, JACOBI, WEIERSTRAß), iii) Direkte Verfahren im Anschluß an HILBERTS Methode. Die ersten beiden Programme vertreten den indirekten Standpunkt, d.h. sie gehen über ein Randwertproblem der Eulerschen Gleichungen zur Lösung des Variationsproblems. HILBERTS Standpunkt ist gegenüber diesen Methoden verschieden, da er auf direktem Wege Variationsprobleme angeht, die einer Behandlung mit der Weierstraßschen Methode nicht immer zugänglich sind, und da er die Existenz von Lösungen nachweisen kann.68 Wir betrachten kurz die uns interessierenden Überlegungen CARATHÉODORYS in der Habilitationsschrift. DAVID HILBERT hatte sein direktes Verfahren, das von den Vergleichskurven ausgeht und dann unter den zugehörigen Integralwerten das Extremum sucht, in seiner Arbeit Über das Dirichletsche Prinzip69 für geodätische Linien auf Flächen exemplarisch vorgestellt. Später umreißt HILBERT in einer Fußnote die zugehörige Entwicklung: “Meine hier skizzierten Methoden sind seitdem für einfache Integrale in der Inauguraldissertation von Ch. A. Noble […] und für gewisse Fälle von Doppelintegralen in der Inauguraldissertation von E.R. Hedrick […] ausgeführt worden. Für den Fall des einfachen Integrals vgl. noch die wohldurchdachte Darstellung meiner Methode in dem vor kurzem erschienen Werke von O. Bolza (Lectures on the calculus of variations, Chicago 1904) sowie eine künftig in den Mathematischen Annalen erscheinende Abhandlung von C. Carathéodory, in der eine wesentliche Ausdehnung der Gültigkeit meiner Methode dargelegt werden wird.”70 CHARLES A. NOBLE (1867-1962), dem HILBERT die Verallgemeinerung seiner Methode für einfaches Integral gestellt hatte (verschiedene Randbedingungen, isoperimetrische Nebenbedingungen, zwei gesuchte Funktionen), war dieser Aufgabe 1901 in seiner Dissertation Eine neue Methode in der Variationsrechnung71 nicht völlig befriedigend nachgekommen.72 67. Gesammelte mathematische Schriften, Bd. 1, München, Beck, 1954, 80–83. 68. Vgl. hierzu das Zitat aus der Arbeit Sur une méthode directe auf S. 89 sowie den dann folgenden Text. 69. Jahresbericht der DMV, 8 (1899), 184-188; auch in: Gesammelte Abhandlungen, Bd. 3, 1014. 70. Gesammelte Abhandlungen, Bd. 3, 10. Die angekündigte Arbeit von Carathéodory ist dessen Habilitationsschrift, die in den Mathematischen Annalen 62 (1906, 449-503) erschien. 71. Dissertation. Göttingen 1901. Die Dissertation wurde mit magna cum laude bewertet. 72. Bolza monierte ernsthafte Mängel in den §§ 9, 10 und 13, siehe seine Lectures, 246.
DER “ KÖNIGSWEG ” IN DIE FELDTHEORIE
87
In seinen Lectures on the calculus of variations zeigte OSKAR BOLZA (1857-1942) in – wie HILBERT oben sagte – einer “wohldurchdachten Darstellung” (S. 246 f.), daß für ein homogenes definites Variationsproblem J =
b
∫a F ( x, y, x· , y· ) dt
→ extremum
mit festen Randwerten HILBERTS Methode anwendbar ist, sofern i) die zugelassenen Vergleichskurven ganz in einem konvexen Gebiet G liegen; ii) in jedem Punkt P(x, y) aus G läßt sich eine Umgebung U(P) dieses Punktes einfach und lückenlos mit starken Extremalen überdecken (bzw. für die von Weierstraß definierte Funktion F1 gilt F1(x, y, cos γ, sin γ) ≠ 0, was bedeutet, daß in (x, y) in jeder Richtung γ genau eine starke Extremale gezogen werden kann, zur Definition von F1 siehe 3.4.2; für Funktionenprobleme mit dem Integranden f(x, y, p) lautet die analoge Forderung fpp ≠ 0). Punkte bzw. Gebiete, die die in ii) beschriebenen Eigenschaft aufweisen, nennt BOLZA regulär. CARATHÉODORY faßt diesen Begriff weiter, indem er auch geknickte (diskontinuierliche) starke Extremalen zuläßt.73 In dem von HILBERT avisierten Artikel, der Zeitschriftenfassung seiner Habilitationsschrift, kann CARATHÉODORY mit dieser erweiterten Regularität folgendes zeigen: BOLZAS Bedingung ii) ist (im wesentlichen) eine Folge der Definitheit), während das umgekehrte nicht gilt. Weiter erhielt CARATHÉODORY das bemerkenswerte Ergebnis: sobald lediglich eine starke Extremale durch einen Punkt P gefunden ist, läßt sich durch Transformation ein äquivalentes Problem angeben, das in einer Umgebung U(P) des Punktes P definit ist; m.a.W., man kann sich bei der Untersuchung der Verteilung starker Extremalen in der Umgebung eines Punktes auf definite Variationsproblem beschränken. HERMANN MINKOWSKI hatte sein Gutachten zu CARATHÉODORYS Dissertation sehr bildhaft mit den Sätzen eingeleitet: “Die Variationsrechnung, eine der reichsten Adern in den Tiefen der Analysis, ist erst in den der Oberfläche nächstgelegenen Gängen aufgeschlossen. Eine seitliche Verästelung, welche eigenartige Schätze birgt, an denen frühere Sucher vorübertasteten, deckt Carathéodory auf. Er befreit die Grundaufgabe über das Extremum eines einfachen Integrals von der oft unbrauchbaren Beschränkung auf lösende Curven mit durchweg stetig sich ändernder Fortschreitungsrichtung.”74 Nun schrieb er zur 73. Wenn sich der Regularitätsbegriff auf Funktionen bezieht, so benutzte Carathéodory einen engeren Begriff, da er reelle analytische Funktionen als regulär ansieht, während Bolza “der amerikanischen Mode (Carathéodory)” folgt, lediglich dreifach stetig differenzierbare Funktionen vorauszusetzen. Carathéodory hielt dies aber eher für eine formale Erweiterung, die wenig Vorteile in sich barg, siehe hierzu den Brief von Carathéodory an Kneser vom 5. 2. 1905, Cod. Ms. A. Kneser A4, Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung. 74. Decanat Fleischmann (1904-1905), Bd. 190b, Promotion Carathéodory, Universitätsarchiv Göttingen.
88
KAPITEL 2
Habilitationsschrift: “Carathéodory war schon mit dem Thema seiner Inauguraldissertation auf ein ebenso fruchtbares wie wichtiges Gebiet verfallen. Immerhin erschien es damals, als wenn es bei der Frage der Diskontinuitäten bei Variationsproblemen [geknickte Extremalen] sich um Untersuchungen handelte, die Ausnahmefälle betrafen. Durch die Ergebnisse in der Habilitationsschrift von Carathéodory aber wird in der Tat unsere allgemeine Auffassung über Extrema von einfachen Integralen in wesentlicher Weise modifiziert.”75 HILBERT selbst konstatierte zunächst mit Freude, daß es “in der That dem Kandidaten mit einer alle Erwartungen übertreffenden Vollständigkeit” gelang, die gestellte Frage zu beantworten, “nämlich allgemein für genügend kleine Umgebungen eines Punktes und ferner im Fall des sogenannten definiten Variationsproblem auch für ein beliebiges Gebiet”.76 Aber darüber hinaus hatte CARATHÉODORY auch mit seiner Erweiterung des Lösungsbegriffs HILBERT eine schöne Bestätigung für dessen Erkenntnisoptimismus “Jede klare Frage kann im Prinzip beantwortet werden”77 geliefert, den er in dem Vortrag auf der Münchener DMV-Tagung von 1899 im Hinblick auf die Variationsrechnung so gefaßt hatte: “Eine jede Aufgabe der Variationsrechnung besitzt eine Lösung, sobald hinsichtlich der Natur der gegebenen Grenzbedingungen [Randbedingungen] geeignete Annahmen erfüllt sind und nötigenfalls der Begriff der Lösung eine sinngemäße Erweiterung erfährt.”78 Ein Jahr später, in dem Pariser Vortrag Mathematische Probleme, erschien diese Aussage als 20. Problem, wobei HILBERT die Aussage auf reguläre Variationsprobleme spezifizierte: “Ich bin überzeugt, daß es möglich sein wird, diese [mittels der direkten Methode geführten] Existenzbeweise durch einen allgemeinen Grundgedanken zu führen, auf den das Dirichletsche Prinzip hinweist und der uns dann in den Stand setzen wird, ob nicht jedes reguläre Variationsproblem eine Lösung besitzt, sobald […] gewisse Annahmen erfüllt sind und nötigenfalls der Begriff der Lösung eine sinngemäße Erweiterung erfährt.”79 HILBERTS allgemeine Ahnung, die CARATHÉODORY im Einzelfall bestätigte, hat sich erfüllt und zu der bekannten Erfolgsgeschichte der Analysis im 20.
75. Decanat Fleischmann (1904-1905), Bd. 190a, Habilitation Carathéodory V/32, Universitätsarchiv Göttingen. 76. aaO. 77. Briefentwurf für eine Antwort an O. Becker, Herbst 1930; Cod. Ms. D. Hilbert 457, Bl. 24, Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung. Vgl. hierzu auch Thiele, “Hilbert’s Twenty-Fourth Problem”, American Mathematical Monthly, 110 (2003), 1-24. 78. Jahresbericht der DMV, 8 (1899), 184-188. 79. “Mathematische Probleme”, Göttinger Nachrichten, 253-299, Zitat S. 289; auch in: Archiv für Mathematik und Physik, 1 (1901), 44-63, 213-237) sowie Gesammelte Abhandlungen, Bd. 3, 290-329.
DER “ KÖNIGSWEG ” IN DIE FELDTHEORIE
89
Jahrhundert geführt, was sich etwa in der Theorie der Differentialgleichungen mit den verallgemeinerten Lösungen in entsprechenden Funktionenräumen zeigt.80 Kommen wir abschließend noch einmal auf CARATHÉODORYS Klassifikation der Forschungsprogramme in der Variationsrechnung zurück. In der Arbeit Über das allgemeine Problem der Variationsrechnung (1905), die kurz nach der Promotion geschrieben worden sein muß,81 faßte CARATHÉODORY die drei genannten Standpunkte schon bündig in zwei Methoden zusammen: “Es gibt zwei Methoden, mit welchen man die Variationsrechnung begründen kann. Lagrange und Weierstraß haben die bekannteste von ihnen aufgestellt, die auf ein System von notwendigen und hinreichenden Bedingungen für die Existenz eines Extremums führt. Die andere ist viel älter, da sie schon gelegentlich von Joh. Bernoulli benutzt wurde und in der Jacobi-Hamiltonschen Theorie enthalten ist; mit ihrer Hilfe wird das Variationsproblem auf ein Problem der gewöhnlichen Maxima und Minima reduziert.”82 Es ist naheliegend, daß CARATHÉODORY in der 1908 publizierten Arbeit Sur une méthode directe du Calcul des Variations, die er im Herbst 1907 verfaßt hat und in der er Kurvenprobleme mit der indirekten Methode behandelte, auf die Leistungsfähigkeit seiner Feldtheorie einging, indem er sie mit der von KARL WEIERSTRAß verglich: Pour démontrer en effet, au moyen de la théorie de Weierstraß, que les solutions de l’équation d’Euler fournissent le minimum d’une intégrale curviligne donnée, prise dans le plan, entre certain limites fixes, il faut, avant tout, construire un “champ” régulier d’extrémales. Mais à une tel champ correspond toujours une famille de “parallèles géodésiques”, c’est-à-dire de courbes que les extrémales du champ coupent transversalement. La réciproque n’est au contraire pas vraie: on peut construire des familles parallèles géodésiques régulières, coupées transversalement par des courbes qui, tout en ne formant pas un champ régulier d’extrémales au sens classique du mot, continuent cependant à fournir le minimum de l’intégrale qu’on étudie. C’est ainsi, par exemple, que les parallèles géodésiques coupées transversalement par un champ d’extrémales discontinues sont elles-mêmes des courbes le long desquelles la direction de la tangente varie d’une façon continue, et nous verrons plus loin (§ 5) des exemples où les parallèles géodésiques existent et sont coupées transversalement par des courbes, qui donnent 80. Siehe hierzu auch R. Thiele, “Über die Variationsrechnung in Hilberts Werken zur Analysis”, NTM, 5 (1997), 23-42. 81. Nach Carathéodorys eigenen Angaben am 25. Februar 1905 von D. Hilbert den Göttinger Nachrichten vorgelegt. Gesammelte mathematische Schriften, Bd. 5, München, Beck, 1957, 421. 82. Göttinger Nachrichten, (1905), 83–90; Gesammelte mathematische Schriften, Bd. 1, München, Beck, 1954, 162. Der zitierte Abschnitt enthält eine Fußnote, die auf Johann Bernoullis Opera, Bd. 2, Lausanne, 1742, 266 (Nr. CIII, Streitschriften, auf S. 564) sowie Carathéodorys Dissertation verweist. – Ganz ähnlich leitete Carathéodory seine Arbeit Sur les points singuliers du problème du Calcul des Variations dans le plan von 1913 ein; Gesammelte mathematische Schriften, Bd. 1, München, Beck, 1954, 143.
90
KAPITEL 2
la solution du problème, alors que l’équation d’Euler n’existe pas ou cesse d’être régulière en certain points de ces courbes.83 Diese Aussagen sind in der Entwicklung der “klassischen” Feldtheorie wenig beachtet worden; erst die Kontrolltheorie, die von dem genannten Vorteil bei geknickten Extremalen profitiert, hat solche Dinge rezipiert.84 Zusammengefaßt unterscheiden sich beide Feldbegriffe in diesem: Ein Weierstraßsches Feld kann gleichfalls mit der Methode des steilsten Abstiegs (geodätische Gefälle) aus einer geeigneten Flächenschar S(x, y) = λ abgeleitet werden, aber das Umgekehrte trifft nicht zu. Für gebrochene Extremalen liefert die Methode des steilsten Abstiegs Lösungen (CARATHÉODORYS Dissertation), während die Weierstraßsche Theorie nicht unmittelbar anwendbar ist. Entsprechendes gilt auch, wenn bei der Abschwächung von analytischen Voraussetzung die Eulerschen Gleichungen durch schwächere Formen zu ersetzen wären, die sich nicht mehr als Differentialgleichungen schreiben lassen (vgl. hierzu das Kap. 3). 2.3.4 Äquivalente Variationsprobleme Bei der Übertragung seiner Theorie auf Probleme mit Nebenbedingungen bediente sich CARATHÉODORY des üblichen Lagrangeschen Multiplikatorenverfahrens, m.a.W., er betrachtete anstelle des ursprünglichen Variationsproblems ein dazu gleichwertiges Problem, das besser beherrschbar ist. In einem ganz allgemeinen Sinn wird man zwei Variationsprobleme J(y) und I(y) als äquivalent ansehen, wenn sie die gleichen Lösungen y0(x) (oder zumindest die gleichen Extremalen) besitzen, d.h. wenn für y∈VJ aus 83. Rendiconti del Circolo Matematico di Palermo, 25 (1908), 33–49; Gesammelte mathematische Schriften, Bd. 1, München, Beck, 1954, 170–187. Zitat auf S. 173 f. bzw. 170 f. “Um jedoch mit Hilfe der Weierstraßschen Theorie zu zeigen, daß die Lösungen der Eulerschen Gleichung das Minimum eines gegebenen Kurvenintegrals, das in der Ebene zwischen zwei festen Grenzen betrachtet wird, liefern, muß man vor allem ein reguläres ‘Feld’ von Extremalen konstruieren. Aber mit einem solchen Feld steht immer eine Schar ‘geodätischer Parallelen’ [= transversale Schar, vgl. Kapitel 4.6.3] in Beziehung, d.h. eine Kurvenschar, die die Extremalen des Feldes transversal schneidet. Im Gegensatz dazu ist die Umkehrung nicht wahr: man kann Scharen von regulären geodätischen Parallelen konstruieren, die durch Kurven transversal geschnitten werden und die dabei im klassischen Sinn des Wortes kein reguläres Feld von Extremalen bilden, jedoch weiterhin das Minimum des betrachteten Integrals liefern. Auf diese Weise sind z. B. die geodätischen Parallelen, die von einem Feld diskontinuierlicher Extremalen transversal geschnitten werden, selbst Kurven längs denen sich die Tangentenrichtung in stetiger Weise ändert, und wir werden weitere Beispiele untersuchen (§5), wo geodätischen Parallelen existieren und transversal von Kurven geschnitten werden, die die Lösung des Problems liefern, während die Eulersche Gleichung nicht existiert oder in gewissen Kurvenpunkten aufhört, regulär zu sein”. 84. Vgl. z.B. F. Barrett, “On the relation between Carathéodory’s work in the calculus of variations and the theory of optimal control”, Carathéodory Symposium, Greek Math. Society, Athens, 1973, 54–74; H.J. Pesch, R. Burlisch, “The Maximum Principle, Bellman’s Equation, and Carathéodory’s Work”, JOTA, 80 (1994), 199–225; M. Plail, Die Entwicklung der optimalen Steuerungen, Göttingen, Vandenhoeck und Ruprecht, 1998; H. Sussmann, J. Willems, “300 years of optimal control”, IEEE Control Systems Magazine, June 1997, 32-44.
DER “ KÖNIGSWEG ” IN DIE FELDTHEORIE
91
(1) ∆J = J(y) – J(y0) ≥ 0 auch ∆I = I(y) – I(y0) ≥ 0 folgt, und die Umkehrung gilt für y∈ VI.85 Eine solche allgemeine Sicht der Gleichwertigkeit von Variationsproblemen ist unübersehbar analytisch ausgerichtet. Dieser Gedanke eines äquivalenten Variationsprobleme erscheint wohl zuerst bei LEONHARD EULER im Methodus inveniendi (1744) mit der Absicht, damit Vereinfachungen bei der Behandlung des Problems zu erzielen. Hierauf hat CARATHÉODORY in seiner Einführung zum Band I/24 der Eulerschen Opera omnia hingewiesen (siehe Abschnitt 5.5.2). Aus geometrischer Sicht wären auch Untersuchungen von JAKOB BERNOULLI (1654-1705) über Kurvenscharen zu erwähnen, aus denen man die Wegunabhängigkeit eines Integrals folgern kann (siehe Abschnitt 5.5.1). ADRIEN MARIE LEGENDRE (1752-1833) hat 1786 in der Arbeit Sur la manière de distinguer les maxima des minima dans le calcul des variations86 in einer vergleichbaren Situation und zwar analytisch motiviert die Gleichwertigkeit ausgenützt. Wie es der Titel der Arbeit ausdrückt, geht es um die Entscheidung, ob eine “Kurve” K : y(x), die der entsprechenden Eulerschen Gleichung und gegebenenfalls den seinerzeit Grenzbedingungen genannten Bedingungen bei freien Randwerten genügt, ein Maximum oder Minimum von (2) J(y) =
b
∫a v dx ,
(v = v(x, y, p)),
liefert oder nicht. Dazu untersuchte LEGENDRE erstmals die zweite Variation δ2J(y0, ξ), deren Vorzeichen analog dem Vorgehen der Differentialrechnung eine Entscheidung über die Art der Extremalität ermöglichen soll: Pour cela, il faut admettre dans
b
∫a v dx les
termes ou δy ou δp ont deux
dimensions; la totalité de ces termes pourra s’appeler variation du second ordre.87 LEGENDRE erhielt (in an unsere Bezeichnungen angepaßter Schreibweise) für δ2J die quadratische Form
85. Bei Lagrange-Problemen (Variationsprobleme mit Differentialgleichungen als Nebenbedingungen) besteht vollständige Äquivalenz für das absolute Extremum. Bei relativen Extrema ist denkbar, daß eine benachbarte Kurve des Ausgangsproblems nicht mehr benachbart für das Lagrangeproblem ist. Entsprechende Untersuchungen hat J.W. Lindeberg durchgeführt: “Über einige Fragen der Variationsrechnung”, Mathematische Annalen, 67 (1909), 340-354. 86. Mémoires de l’Académie Royale des Sciènces Paris (année 1786) 7–37, Abschnitt I; Ergänzung (année 1787), 384–351. 87. aaO., 9. “Dazu muß man im Variationsintegral die Glieder zweiter Ordnung in δy und δp hinzunehmen; die Gesamtheit dieser Glieder kann man die Variation zweiter Ordnung nennen”.
92
KAPITEL 2 b
2
(3) δ2J(y0, ξ) =
∫a ( Pδy
=
∫a Ω dx ,
2
+ 2Qδyδp + Rδp ) dx
b
wobei P, Q und R Funktionen von x, y und p sind. Er folgerte in etwas undurchsichtiger Weise mit zweideutiger Bezeichnung (in der zwischen ∆ und δ nicht unterschieden wird) wegen δJ = 0 die Beziehung (4) ∆J = δJ + δ2J = δ2J . Nun schloß LEGENDRE eine zunächst unverständliche Bemerkung an: [O]bservons que la partie dégagée du signe ne peut avoir que la forme αδy2, dont la différentiel est dα δy2 + 2α dx δyδp.88 Ihr Sinn ergibt sich aus der Umformung (der Strich bezeichnet die Ableitung nach x) b
(5) ∆J = – α δy2 +∫ [ ( P + α' ) δy2 + 2(Q + α) δy δp + Rδp2] dx, a
die auf dem Trick (6) ∆J = δ2J + = – αδy
b
∫a [ ( αδy 2
b a
+
2
b
)’ – (α δy2)’] dx =
∫a [ Ω + ( α + δy
2
) ’] dx
beruht.89 Die beliebige Funktion α = α(x) bestimmte LEGENDRE so, daß der Integrand (7) Ω + (α δy2)’ = Ω + 2α δy δp + α’ δy2 ein Quadrat wird, d. h., er unterwarf α(x) der Forderung (8) (P + α’)R = (Q + α)2 und setzte stillschweigend voraus, daß es eine endliche (reelle) Lösung dieser Differentialgleichung für α gibt. JOSEPH LOUIS LAGRANGE (1736-1813) und VINCENCIO BRUNACCI (1786-1818) haben gezeigt, daß diese Annahme nicht immer zulässig ist.90
88. aaO., 9. “Wir bemerken, daß der integralfreie Term nur die Form α δy2 haben kann, dessen Differential gleich dα δy2 + 2α dx δy δp ist”. 89. Legendres Schreibweise ist auch hier verworren, denn er benutzt bestimmte und unbestimmte Integration nebeneinander, so daß beispielsweise im Original an dieser Stelle noch eine Integrationskonstante erscheint. 90. V. Brunacci, “Sui criterii per distinguer i massini e minime nelle espressioni integrali”, Memorie dell’Instituto Nazionale Italiano (Bologna), 1 (1806), 2, 191–202; J.L. Lagrange, Théorie des fonctions analytiques, Paris 21813 (Oeuvres, Bd. IX, Paris, 1867 f., 305).
DER “ KÖNIGSWEG ” IN DIE FELDTHEORIE
93
Über die Variation an den Endpunkten der Kurven bzw. über δy(a) und δy(b) verfügt LEGENDRE so, daß der integralfreie Term in (5) verschwindet oder das Vorzeichen von R hat, modern durch (9) αδy
2
b a
mit gewissem A ≥ 0
= A sign R
ausgedrückt. Bei Existenz einer (endlichen) Lösung α von (8) ist damit für R ≠0 b
Q+α
2
(10) ∆J = A sign R + ∫ R ⎛⎝ δp + --------------⎞⎠ dx R a bzw. (11) sgn ∆J = sgn R, und LEGENDRE schloß hieraus auf die Hinlänglichkeit der Bedingung R > 0 bzw. auf die Forderung (die sog. hinreichende Legendre-Bedingung) (12) vpp > 0. Der in der Gleichung (6) benutzte Trick der Addition einer “strukturierten Null” beruht letztlich auf einem invarianten Integral (13) I =
b
∫a ( αδψ
2
) ’ dx = αδy
2
b a
,
wobei jedoch eine gründlichere Betrachtung zeigt, daß neben (13) und (9) auch Existenzfragen zu berücksichtigen sind, damit die gewünschte Änderung der quadratischen Form Ω erreicht wird (also (8) bzw. (10) gelten). LEGENDRE versuchte, die zweite Variation so zu transformieren, daß der Integrand von (3), die quadratische Form Ω, ein festes Vorzeichen erhält. Unangesehen des ursprünglichen Fehlers, der in LEGENDRES stillschweigender Annahme einer reellen und endlichen Lösung α bestand (was in jener Zeit der durchaus üblichen “Sorglosigkeit” bei Existenzfragen geschuldet war) und den er nach Kritik von LAGRANGE sowie BRUNACCI später selbst korrigierte, wird hier ein “wegunabhängiges” Integral zur Vereinfachung des Variationsproblems eingesetzt. ADOLF KNESER hat in seinem Lehrbuch der Variationsrechnung anstelle der gegebenen x,y-Koordinaten solche u,v-Koordinaten eingeführt, die jeweils auf den Extremalen und den zugehörigen transversalen Kurven konstant sind, d.h., er führt aus der Sicht der Differentialgeometrie sogenannte geodätische Parallelkoordinaten ein.91 Damit wird eine Kurve C : x(t), y(t) in eine neue 91. 1. Auflage § 16; 2. Auflage § 22. Neben diesen Punkttransformationen sind die spezielleren kanonischen Transformationen für die Variationsrechnung bedeutend, und mit ihnen hat sich Carathéodory ausführlich beschäftigt, siehe z.B. sein Lehrbuch Variationsrechnung und partielle Differentialgleichungen erster Ordnung, Leipzig, B.G. Teubner, 1935, Kapitel 6.
94
KAPITEL 2
Kurve C ' : u(t), v(t) transformiert und das entsprechende Variationsintegral von JC = J in J C ' = J ' . OSKAR BOLZA ergänzte schließlich diese Überlegungen (für das in Parameterform gegebene Variationsproblem), indem er die Definition für die Äquivalenz von Variationsproblemen anschloß: From the equality J ' = J it follows that if the curve C minimizes the integral J, its image C ' necessarily minimizes J ' , and vice versa. Hence the problem to minimize the integral J and the problem to minimize J ' may be called equivalent problems.92 Und das gilt gleicherweise auch für “Funktionenprobleme”. Im Zusammenhang mit dem Beweis der Weierstraßschen Fundamentalformel für die ExzeßFunktion gab BOLZA auch zwei äquivalente Variationsprobleme an, die sich um die totale Ableitung einer Funktion S(x, y) unterscheiden!93 CARATHÉODORY selbst bediente sich erstmals eines äquivalenten Variationsproblems bei Variationsaufgaben mit Nebenbedingungen. In der Arbeit Über das allgemeine Problem der Variationsrechnung94 (1905) stellte er das übliche Multiplikatorenverfahren für seine Theorie exemplarisch vor. Er behandelte diese Methode dann umfassend in seiner Acta-Arbeit Die Methode der geodätisch Äquidistanten und das Problem von Lagrange95 aus dem Jahr 1926, in der für n gesuchte Funktionen yi(x) (i = 1, …, n) p gewöhnliche Differentialgleichungen (p < n) zugelassen werden. CARATHÉODORY beschränkte sich in der Skizze von 1905 auf den nachfolgend umrissenen Fall, der die Übertragung auf das allgemeine Problem in Parameterform ohne weiteres gestattet:96 (14) J(y) =
x2
∫x
f ( x, y ( x ), z ( x ), y' ( x ), z' ( x ) ) dx → Min
1
(f(x, y, z, p, q)∈ C2, f > 0);
(15) Nebenbedingung: g(x, y(x), z(x), y' (x), z' (x)) = 0;
92. Lectures on the calculus of variations, Chicago, University Press, 1904, 182-83. Ungeändert in der später erweiterten deutschen Fassung Vorlesungen über Variationsrechnung, Leipzig, B.G. Teubner, 1909, 334. 93. Lectures on the calculus of variations, Chicago, University Press, 1904, 197. 94. Göttinger Nachrichten, 1905, 83-90; auch in: Gesammelte mathematische Schriften, Bd. 1, München, Beck, 1954, 162-169. 95. Acta mathematica, 47 (1926), 199–236; auch in: Gesammelte mathematische Schriften, Bd. 1, München, Beck, 1954, 212-248. 96. Es ist um 1900 durchaus üblich gewesen, anstelle des allgemeinen Problems einen als exemplarisch angesehenen Fall darzustellen. Hilbert hat in diesem Sinn z.B. in seinem Pariser Vortrag die Erweiterung des Unabhängigkeitsintegrals für n unabhängige Variable (nicht wie hier n gesuchte Funktionen) nur für n = 2 angegeben, oder er hat in seiner Arbeit Zur Variationsrechnung von 1906 (Mathematische Annalen, 62 (1906), 351–370 bzw. Gesammelte Abhandlungen, Bd. 3, Berlin, 1935) n = 2 als ausreichend angesehen. Komplikationen, die sich in höherdimensionalen Räumen ergeben können, sind erst später bemerkt worden.
DER “ KÖNIGSWEG ” IN DIE FELDTHEORIE
95
(16) Randbedingungen: alle Vergleichskurven verbinden zwei gegebene Punkte P1(x1, y1) und P2(x2, y2), d.h. y(xi) = yi (i =1, 2). Wie in der Einleitung dargelegt, sehen wir von den mit den Nebenbedingungen verbundenen Problemen ab, d.h., wir legen nur solche Mengen von Vergleichsfunktionen/kurven zugrunde, für die wir die Nebenbedingungen als erfüllt ansehen. CARATHÉODORY ging wieder von einer geodätisch äquidistanten Flächenschar im x,y,z-Raum 2
(17) S(x, y, z) = λ,
2
2
( S x + S y + S z ≠ 0 ),
aus, die nach dem Parameter λ aufgelöst ist. Der Wert des Integrals (14) wird von ihm längs Vergleichskurven betrachtet, die neben den Randbedingungen (16) auch der Differentialgleichung (15) genügen und für die eine Gleichung dJ f (18) ------ = ----------------------------------- , dλ S x + pS y + qS z
dy dz ( p = ------, q = ------ ), dx dx
(2.6), besteht. In einem beliebigem Raumpunkt sucht CARATHÉODORY jetzt diejenigen Richtungen p, q, die unter der Nebenbedingung (15) wiederum den Ausdruck (18) minimieren. Das ist abermals ein bekanntes Problem der gewöhnlichen Extrema unter Nebenbedingungen: Für die Funktion f (19) F(p, q, ν) = ----------------------------------- + νg S x + pS y + qS z
müssen die partiellen Ableitungen verschwinden, ∂F ∂F ∂F (20) ------ = 0 , ------ = 0 , ------ = g = 0, ∂p
∂q
∂v
und ν ist ein aus dieser Gleichung und (15) noch zu bestimmender Multiplikator. Wie früher wird die geodätisch äquidistante Flächenschar durch die Normierung dJ (21) ------ = 1 bzw. f = Sx + pSy + qSz dλ
definiert, womit die Gleichungen (20) vereinfacht werden.97 Wenn p, q und ν aus (15), (20) und (21) eliminiert werden können, erhält man eine partielle Differentialgleichung (22) Φ (x, y, z, Sx, Sy, Sz) = 0 für die Schar der äquidistanten Flächen S(x, y, z) = λ . 97. Carathéodory vereinfacht weiter, indem er den Multiplikator ν durch νg = λ ersetzt (S. 164). Da wir λ bereits vergeben haben, weichen wir von seiner Notation ab.
96
KAPITEL 2
Dieser Formalismus entspricht dem bereits bekannten, so daß sich ein System hinreichender Bedingungen für das Extremum ergibt. Ein Unterschied besteht allerdings, denn mit Hilfe der Lagrangeschen Multiplikatorenregel spielt CARATHÉODORY das “gebundene” Problem (14) – (16) (23) J(y) → Min, (y ∈ V), auf ein “befreites” Problem (24) J*(y) = J(y) +
x2
∫ 1 vg dx x
→ Min (y ∈ V*)
zurück. Er behandelte also anstelle des Variationsproblems (23) ein äquivalentes Problem (24) und setzte damit erstmals den Gedanken der Gleichwertigkeit von Problemen ein, der später tragend für den “Königsweg” werden sollte. Allerdings bezog sich CARATHÉODORY noch auf die Methode der geodätischen Äquidistanten und hob nachdrücklich den Vorteil des geometrischen Standpunktes hervor.98 Die hier für die Äquivalenz benutzte Multiplikatorenregel erscheint so erstmals bei LEONHARD EULER, nämlich nach einigen noch nicht völlig korrekten Arbeiten von 1732 und 1736 in dem Buch Methodus inveniendi lineas curvas maximi minimive proprietate gaudentens, sive solutio problematis isoperimetrici latissimo sensu accepti (etwa: Methode, Kurven zu finden, denen eine Eigenschaft im höchsten oder geringsten Grade zukommt, oder Lösung des isoperimetrischen Problems, wenn es im weitesten Sinne des Wortes aufgefaßt wird)99 von 1744 (siehe Abschnitt 5.2); eine moderne Darstellung, die die Rückführung auf gewöhnliche Extrema betont, findet man bei ROLF KLÖTZLER im Anhang des Reprints von CONSTANTIN CARATHÉODORYS Variationsrechnung und partielle Differentialgleichungen erster Ordnung100. Beim Problem (23) werden nur Vergleichsfunktionen zugelassen, die (15) und (16) erfüllen und (neben analytischen Eigenschaften) V festlegen, während im Problem (24) die Nebenbedingung keine Rolle für die Festlegung von V* spielt. Behandelt man aber das Problem (24) anstelle von (23), so muß mindestens gewährleistet sein, daß es neben der Extremalen weitere Vergleichskurven gibt, die (15) und (16) erfüllen. CARATHÉODORY wies hier auf GUSTAV VON ESCHERICH hin, der diesen wichtigen Sachverhalt erstmals bemerkt hatte.101 Im Grenzfall könnte die Extremale eine starre Lösung sein, d. h. außer ihr gibt es
98. Acta mathematica, 47 (1926), 199–236, 199; Gesammelte mathematische Schriften, Bd. 1, München, Beck, 1954, 212. 99. Methodus inveniendi (Variationsrechnung), Lausanne, Bousquet, 1744; auch in Opera omnia Euleri, I/24, Zürich, Orell Füssli, 1952, Kapitel 5 und 6, insbes. 114. 100. Leipzig, B.G. Teubner, 1994. 101. “Die zweite Variation der einfachen Integrale”, Sitzungsberichte der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften Wien, 108 (1899), 1269-1340, insbes. S. 1287 f.
DER “ KÖNIGSWEG ” IN DIE FELDTHEORIE
97
keine weitere den Bedingungen genügende Vergleichskurve (anormales oder irreguläres Variationsproblem). Diese schwierige Frage der Variationsrechnung gehört nicht primär zur Feldtheorie und soll daher nicht weiter verfolgt werden. CARATHÉODORY ging im §5 der Arbeit Über das allgemeine Problem der Variationsrechnung kurz auf diese Problematik ein, wobei er den in seiner Dissertation behandelten Ausnahmefall anführte, der geknickte Extremalen als Lösungen verlangte.102 Mit Hilberts invariantem Integral lassen sich leicht äquivalente Variationsproblem erzeugen. In seinen späteren Vorlesungen hat DAVID HILBERT äquivalente Variationsproblem ausführlich erörtert, siehe hierzu Abschnitt 5.8.2. Auch bei OSKAR BOLZA finden sich Gedanken über Äquivalenz (siehe Lectures, pp. 182f. und 197), PAUL STÄCKEL (1862-1919) näherte sich dem Äquivalenzbegriff über mechanische Vorstellungen. Die Existenz des Multiplikators blieb vorerst noch undiskutiert, jedoch geht auf CARATHÉODORY einer der ersten völlig korrekten Beweise der Multiplikatorenregel zurück, der neben der üblich geforderten Rangbedingung für das System der Differentialgleichungen von einer für die Variationsrechnung typischen Voraussetzung ausgeht, nämlich der Regularität der Linienelemente. Nach dem Acta-Artikel Die Methode der geodätisch Äquidistanten und das Problem von Lagrange103 von 1926 über Lagrange-Probleme wird dieser Beweis im 18. Kapitel der Variationsrechnung von 1935 gegeben. Während 1905 in der Skizze Über das allgemeine Problem der Variationsrechnung die Beziehung des Problems zur Hamilton-Jacobischen Theorie nur kurz im §4 angedeutet wurde, haben wir in der im SS 1915 in Göttingen gehaltenen Vorlesung Partielle Differentialgleichungen eine ausführliche Darstellung dieser Theorie, und in dem Acta-Artikel von 1926, der etwa 1923/24 geschrieben wurde, ist die kanonische Darstellung grundlegend. CARATHÉODORY hob dort jedoch immer noch die geometrische Durchsichtigkeit und den raschen Zugang zu den wesentlichen Begriffen der Variationsrechnung hervor und betonte, daß man überdies alle (analytischen) Ergebnisse der HamiltonJacobischen Theorie benutzen könne, ohne die komplizierte Feldkonstruktion zuvor wirklich ausgeführt zu haben.104 Erwähnenswert in dem Acta-Artikel Die Methode der geodätisch Äquidistanten und die Methode von Lagrange ist der §24, in dem auf die Schwierigkeit eingegangen wird, wenn die äquidistanten Flächen S = λ nur eine Teilumgebung G eines Randpunktes P überdecken, so daß es nicht möglich ist festzustellen, ob in der Nähe von P eine Vergleichskurve innerhalb des 102. Insbesondere Fußnote 4 der genannten Arbeit. Gesammelte mathematische Schriften, Bd. 1, München, Beck, 1954. Über das allgemeine Problem, 167; Dissertation, S. 51 ff. Für starre Lösungen vgl. § 420 in der Variationsrechnung, Leipzig, B.G. Teubner, 1935. 103. Acta mathematica, 47 (1926), 199–236; § 3, Satz 1, sowie § 8. 104. Gesammelte mathematische Schriften, Bd. 1, München, Beck, 1954, 212.
98
KAPITEL 2
erwähnten Gebietes G bleibt oder nicht. Ähnlich wie bei dem Weierstraßschen Trick mit dem “vorgezogenen” Punkt (siehe Abschnitt 3.5.2.7) bedient man sich eines Tonellischen Kunstgriffs, indem man auf einer geodätischen Gefällekurve K hinreichend nahe bei P einen Punkt Q wählt, jedoch so, daß der Teil von K, der P nicht enthält, ganz im Inneren von G verläuft. Die Tonellischen Überlegungen, die in dessen Arbeit Sul problema isoperimetrico con un punto terminale mobile (Mem. R. Accad. Bologna 10 (1922/23)) dargelegt sind, zeigen, daß man das Stück von K zwischen P und Q in eine Schar von geodätisch äquidistanten Flächen einbetten kann, die eine volle Umgebung G* von P enthält, so daß letztlich die Weierstraßsche Darstellungsformel gilt. 2.3.5 Vorlesungen über Variationsrechnung Die Herausbildung der geometrisch orientierten Phase der Variationsrechnung, genauer die Entwicklung der Methode der geodätischen Äquidistanten, läßt sich in vier nachgewiesen Ausarbeitungen verfolgen, die CARATHÉODORYS Vorlesungen aus den Jahren 1906, 1915, 1917 (alle Göttingen) und 1918 (Berlin) wiedergeben. Nach dem Erwerb der venia legendi (4. März 1905) war CARATHÉODORY von 1905 bis 1908 Privatdozent in Göttingen. In einer Aktennotiz des Kurators der Universität vom 14. Mai 1905 wird mitgeteilt, daß die Vorlesung über Versicherungsmathematik “wegen Erkrankung von Prof. Brendel” von CARATHÉODORY übernommen wird.105 Eine erste eigene Vorlesung CARATHÉODORYS wurde im WS 1905/06 über kontinuierliche Gruppen gehalten, und im SS 1906 bot CARATHÉODORY eine vierstündige Vorlesung Variationsrechnung an, der im nächsten Semester eine über Minimalprinzipien der Mathematik und Physik mit zwei Wochenstunden folgte. Zum Mathematischen Seminar in Göttingen gehörten von den rund 2 300 Studenten der Universität in jener Zeit:106 1905
1906
SS
245
291
WS
222
267
1908 wurde der Privatdozent CARATHÉODORY nach Bonn umhabilitiert. Dort hatte CARATHÉODORY vor, seine Lehrtätigkeit im Jahre 1909 mit einer Vorlesung über Variationsrechnung zu beginnen, sagte aber letztlich durch sei-
105. Universitätsarchiv Göttingen, Personalakte Carathéodory, I/334. Martin Brendel (18621939) war von 1898 bis 1907 a.o. Professor in Göttingen. Im Jahre 1907 ist G. Herglotz, der sich 1904 in Göttingen habilitiert hatte, Brendel im Amte nachgefolgt. 106. Chronik der Georg-Augustus Universität zu Göttingen für 1905 und 1906.
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99
nen im gleichen Jahr ergangenen Ruf an die TH Hannover diese Vorlesung ab.107 Obwohl es damit in Bonn zu keinen Vorlesungen gekommen war, ist eine gemeinsame Veröffentlichung108 mit EDUARD STUDY (1862-1930) über eine direkte geometrische Methode für den Nachweis der isoperimetrischen Eigenschaft des Kreises eine Folge dieser Episode. Diese Arbeit betrifft gerade jene geometrische Frage, die KARL WEIERSTRAß in Auseinandersetzung mit JAKOB STEINER (1796-1863) über die Tragweite analytischer Verfahren wesentlich zu seinen eigenen (analytischen) Arbeiten zur Variationsrechnung angeregt hatte (vgl. Abschnitte 3.1, 3.5.2). Nach Zwischenstationen an den Technischen Hochschulen in Hannover (1909-1910) und Breslau (1910-1913) war CARATHÉODORY von 1913 bis 1918 als Nachfolger FELIX KLEINS ordentlicher Professor in Göttingen. Über Berlin (1918-1920),109 Smyrna (1920-1922)110 und Athen (1922-1924) gelangte CARATHÉODORY als Nachfolger FERDINAND LINDEMANNS (1852-1939) schließlich 1924 nach München111, wo er – von Gastprofessuren in den USA abgesehen – bis zu seinem Tode blieb.112
107. Brief vom 20. 4. 1904 an den Dekan der Philosophischen Fakultät in Bonn. Archiv der Universität Bonn, Personalakte Carathéodory. 108. “Zwei Beweise des Satzes, daß der Kreis unter allen Figuren gleichen Umfanges den größten Inhalt hat”, Mathematische Annalen, 68 (1910), 133-140; Gesammelte mathematische Schriften, Bd. 2, München, Beck, 1955. 109. Der Weggang nach Berlin wurde in Göttingen bedauert. Anläßlich seines Abschieds am 1. 8. 1918 trug seine Studentin, die spätere Studiendirektorin Margarethe Goebb (1892-1963), ein längeres Gedicht vor, aus dem folgende Kostprobe Carathéodory als engagierten Vertreter der Variationsrechnung erkennen läßt sowie seine Erscheinung charakterisiert: Professor Carathéodory Aber ach, die Transversalen Briefmarken hat Landau, geht fort nach Berlin, und auch die Extremalen, und Hilbert ’s Grammophon, und wär’ hier nicht Göttingen, wenn Cara nun fort ist, von weitem kennt man Cara’s auch wir zögen hin. wer soll sie hinmalen? Zigarre schon. (SUB Göttingen, Handschriftenabteilung, Math.-Archiv 80:11). Ein prominenter Mathematiker, nämlich A. Pringsheim, würdigte Carathéodory als Variationstheoretiker in origineller Weise. Als er 1939 genötigt war, aus dem Deutschen Reich in die Schweiz zu emigrieren und unter diesen Umständen sich von seiner Bibliothek trennen mußte, schenkte er Carathéodory einen Druck einer raren Schrift über Variationsrechnung mit einer geistreichen Zueignung an den “isopérimaître incomparable”. Nach den Angaben O. Perrons (Jber, DMV, 55 (1952), 42) dürfte es sich um jenen Privatdruck Jacob Bernoullis gehandelt haben, dessen mathematischer Teil unter dem Titel Solutio propria problematis isoperimetrici im Juni 1700 in den Acta eruditorum erschien war, und in dem er dem Bruder Johann öffentlich die Lösung des von ihm gestellten isoperimetrischen Problems darlegte. 110. M. Georgiadou, “Die Gründung der Ionischen Universität in Smyrna. Die griechische ‘zivilisatorische Mission’ im Orient”, Südost-Forschungen, 56 (1997), 291-317; siehe auch das entsprechende Kapitel 3 ihrer Biographie Carathéodory, Berlin, Springer, 2004. 111. Hierzu M. Toepell, Mathematiker und Mathematik an der Universität München, (Algorismus, Heft 19), München, Institut für Geschichte der Naturwissenschaft, 1996. Kapitel 8, insbesondere 8.1.6 (295–297). 112. Am 1. August 2003 hat Vicky Hill in Washington, DC, ihren halbstündigen Film Constantin Carathéodory, 1873-1950 als Teil ihrer Ph.D.-Dissertation (August 2003) vorgestellt.
100
KAPITEL 2
Die erste Vorlesung CARATHÉODORYS über Variationsrechnung ist die 1906 von W. PRINZ mitstenographierte.113 Traditionell beginnt die Vorlesung mit einem Kapitel über Extrema, und die eigentliche Variationsrechnung setzt erst mit dem 2. Kapitel ein: Kapitel 1: Maxima und Minima (S. 8–61), Kapitel 2: Variation der einfachen Integrale (S. 62–199), Kapitel 3: Weierstraßsche Theorie (S. 200–265), Kapitel 4: Variationsprobleme mit Differentialgleichungen als Nebenbedingungen [?]. In der Einleitung wird auch auf andersartige Variationsprobleme hingewiesen. Es sind solche, die in dieser Zeit der sich gerade entwickelnden Theorie der Integralgleichungen eine Rolle spielen: (1)
∫ ∫ [ K ( s, t ) – u ( s )v ( t ) ]
2
dsdt → Min.
G
In unserem Zusammenhang sind die Seiten über hinreichende Bedingungen interessant,114 auf denen die Theorie analog dem Anhang der Dissertation dargelegt wird , aber auf denen jetzt von CARATHÉODORY über die Legendresche Bedingung hinaus auch die Weierstraßsche Exzeß-Funktion diskutiert wird. Das Variationsproblem
ε
(2) J(y) =
x1
∫x
f ( x, y, y' ) dx → Min
0
mit festen Randwerten y(x0) = y0, y(x1) = y1 war von CARATHÉODORY auf die gegebene geodätisch äquidistante Schar S(x, y) = λ umgerechnet worden, so daß für eine Extremale y0(x) gilt J(y0) = λ1 – λ0. Für die totale Variation J(y) – J(y0) einer Extremalen y0(x) und einer Vergleichsfunktion y(x) ergibt sich aus dieser Darstellung mit der üblichen Abkürzung dλ ∆ = ------ = S x + y'S y : dx
(3) J(y) – J(y0) = =
∫
λ1 λ
0
x1
∫x
⎛ --f- – 1⎞ dλ = ⎝∆ ⎠
x1
f
∫x ⎛⎝ --∆- – 1⎞⎠ 0
d-----λdx = dx
x1
∫x
( f – ∆ ) dx =
0
( f ( y' ) – f ( p ) – ( y' – p )f p ( p ) ) dx,
0
113. Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung, Cod. Ms. Math.-Archiv 75. Das Stenogramm (243 S.) erscheint am Ende (Kapitel 3, S. 243ff.) lükkenhaft, so daß unklar ist, ob Carathéodory das in der Vorlesungsankündigung in dem Bericht des Mathematischen Vereins in Göttingen für das SS 1906 ausgewiesene 4. Kapitel über Variationsprobleme mit Differentialgleichungen als Nebenbedingungen etwa aus Zeitgründen nicht mehr gehalten hat oder ob es lediglich nicht mitgeschrieben wurde. 114. Vorlesungsmitschrift Variationsrechnung (1906), Kapitel 2, 86–115. Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung, Cod. Ms. Math.-Archiv 75.
DER “ KÖNIGSWEG ” IN DIE FELDTHEORIE
101
wobei in der letzten Zeile die später als Fundamentalgleichungen bezeichneten Äquidistanz- und Transversalitätsforderungen (4) f = Sx + pSy, (5) fp = Sy, benutzt wurden, in denen p = p(x, y) das geodätische Gefälle bezeichnet. Der Integrand f – ∆ ist mit (4) und (5) in die Form der Weierstraßschen Exzeßfunktion
ε
(6) (x, y, y' , p) = f( y' ) – f(p) – ( y' – p) fp(p) gebracht worden, in der y' die Ableitung der Extremalen bzw. die Werte des Richtungsfeldes bedeutet und p eine beliebige Vergleichsrichtung ist (der Übersichtlichkeit halber sind in f die Argumente x und y unterdrückt).115 Die auf ERNST ZERMELO (1871-1953) zurückgehende Beziehung116 (7)
2
(y' – p ) ε = -------------------2
fpp,
ε
nichts anderes als der Rest der Taydie ausdrückt, daß die Exzeßfunktion lorschen Reihe für f als Funktion von p betrachtet ist, wird angegeben. Danach wird für schwache Variationen die schwache Extremalität im Kleinen diskutiert, und nach Erörterung der geometrische Bedeutung der Exzeßfunktion folgt die Behandlung des starken Extremums.117 Anschließend zeigt CARATHÉODORY mit dem Beispiel, (8)
3
∫0 ( 1 + y'
2
2 4
– y y' ) dx → Min,
(y(0) = y(3) = 0),
das inzwischen in der Variationsrechnung zum Standardrepertoire der Gegenbeispiel gehört, daß auch bei den verschärften notwendigen Bedingungen von LEGENDRE und WEIERSTRAß118 kein starkes Extremum vorliegen muß, was hier für die Extremale C0 : y0(x) = 0 mit Hilfe spezieller Vergleichskurven C*, die eine negative totale Variation J(C*) – J(C0) < 0 erzeugen, direkt nachgewiesen wird.119 OSKAR BOLZA hatte 1904 ein ähnliches Beispiel (9)
1
∫0 ( ay'
2
3
4
– 4byy' + 2bxy' ) dx → Min,
y(0) = y(1) = 0, a,b konstant,
115. aaO., 102–104. 116. Untersuchungen zur Variationsrechnung, Dissertation, Berlin, 1894, 60. 117. Vorlesungsmitschrift Variationsrechnung (1906), Kapitel 2, 108, 112. Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung, Cod. Ms. Math.-Archiv 75. 118. In der verschärften Form wird ≥ bzw. ≤ durch > bzw. < ersetzt. 119. aaO., 115.
102
KAPITEL 2
benutzt, um zu zeigen, daß die verschärften Weierstraßschen und Jacobischen Bedingungen (bzgl. des konjugierten Punktes) für ein starkes Extremum nicht hinreichend sind.120 In seiner Rezension der Lectures on the calculus of variations von BOLZA hatte CARATHÉODORY angemerkt, daß entgegen dem Anschein die Form des Variationsgebiets in BOLZAS Beispiel von Bedeutung ist, da die Extremale in x = 0 aufhöre stark zu sein und für x < 0 nur noch ein schwaches Extremum liefere.121 Er gab dazu sein Problem (8) in modifizierter Form (10)
x1
∫x
2
2 4
( y' – y y' ) dx → Min,
(y(x0) = y(x1) = 0),
0
an, was BOLZA zur Aufnahme dieses instruktiven Beispiels in die erweiterte deutsche Ausgabe Vorlesungen über Variationsrechnung der Lectures bewog.122 Das dritte Kapitel über die Weierstraßsche Theorie wiederholt die Darlegung für Variationsprobleme in Parameterdarstellung und bricht nach der Beschreibung der Indikatrix ab, die in der Vorzeichendiskussion der totalen geometrisch veranschaulicht. Die entspreVariation die Exzeßfunktion chende Publikation für das in diesem Kapitel behandelte Thema ist die 1908 erschienene Arbeit Sur une Méthode directe du Calcul des Variations. Über die Indikatrix hatte CARATHÉODORY 1905 an A. KNESER geschrieben: “Diese Kurve ist recht bequem[,] um die starken Extremalen zu untersuchen. So kann man zeigen[,] dass entweder keine einzige starke Extremale durch einen Punkt P geht, oder dass ein Feld von starken Extremalen existiert, dass die ganze Umgebung des Punktes vollständig lückenlos und einfach überdeckt. Der erste Fall kann nur dann eintreten, wenn das Problem nicht definit ist, d.h. F nicht für alle Richtungen durch P dasselbe Vorzeichen besitzt.”123 Die sich im WS 1906/07 anschließende zweistündige Vorlesung Minimalprinzipien der Mechanik behandelte sowohl Prinzipien der Statik als auch der
ε
120. “Some instructive examples in the calculus of variations”, Bull. AMS, (2) 9 (1909), 1-10, 9; auch in: Lectures on the calculus of variations, 99, oder Vorlesungen über Variationsrechnung, 116. 121. Archiv der Mathematik und Physik, III, Reihe, 10 (1906), 183-185, 185; Gesammelte mathematische Schriften, Bd. 5, München, Beck, 1957, 287-289. – Das Phänomen, daß eine starke Extremale bei ausreichend weiter Fortsetzung aufhören kann, weiterhin stark zu sein, hatte Carathéodory ja gerade in seiner Habilitationsschrift bemerkt und deshalb mit geknickten Extremalen gearbeitet. 122. Leipzig, B.G. Teubner, 1909, 119. 123. Brief vom 5. 2. 1905. Cod. Ms. A. Kneser A4, Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung. Carathéodory hob noch hervor, daß die Indikatrix der Fresnelschen Strahlenfläche entspreche. Die Indikatrix ist von G. Hamel in seiner bei D. Hilbert 1901 angefertigten Dissertation Über die Geometrien, in denen die Geraden die Kürzesten sind (Göttingen, 1901, 52) betrachtet worden, Carathéodory führte sie in seiner Dissertation Über die diskontinierlichen Lösungen ein (Göttingen, 1904, 69-73). In der Berliner Vorlesung im WS 1918 behandelt Carathéodory ausführlich diese Kurve. Siehe auch W. Blaschke, “Über die Figuratrix in der Variationsrechnung”, Archiv der Mathematik und Physik, 20 (1912), 28-44.
DER “ KÖNIGSWEG ” IN DIE FELDTHEORIE
103
Dynamik, insbesondere die Prinzipien von WILLIAM ROWAN HAMILTON (1805-1865) und CARL GUSTAV JACOBI (1804-1851) sowie den Zusammenhang von Variationsproblemen mit infinitesimalen Berührungstransformationen.124 CARATHÉODORY leitete sein Buch Variationsrechnung und partielle Differentialgleichungen erster Ordnung mit der Bemerkung ein: “Dagegen haben bei der Pflege der eigentlichen Variationsrechnung weder Jacobi […] noch die vielen anderen hervorragenden Männer, die diese Disziplin im Laufe des XIX. Jahrhunderts so glänzend vertreten und gefördert haben, irgendwie an die Verwandtschaft gedacht, die die Variationsrechnung mit der Theorie der partiellen Differentialgleichungen verbindet. Dies ist um so auffälliger, als sich die meisten dieser großen Männer auch speziell mit der partiellen Differentialgleichung erster Ordnung beschäftigt haben.”125 In unseren Tagen haben JOSEF BEMELMANS (geb. 1949) und STEFAN HILDEBRANDT (geb. 1936) diese Feststellung wiederholt: “Es erscheint heute nahezu unglaublich, daß noch um die Jahrhundertwende der enge Zusammenhang zwischen eindimensionaler Variationsrechnung und partiellen Differentialgleichungen nahezu unbekannt war.”126 Die Vorlesung im SS 1915 Partielle Differentialgleichungen erster Ordnung diente bereits diesem aufklärenden Ziel, denn sie schließt mit einem kurzen 3. Kapitel über den besagten Zusammenhang.127 Die geodätisch äquidistante Kurvenschar bildet wieder den Einstieg für die Herleitung hinreichender Bedingungen (Weierstraßsche Exzeßfunktion) sowie der Transversalitätsbeziehung, wobei für alles auch die kanonische Form angegeben wird. CARATHÉODORY beendete die Vorlesung mit den Worten: “Die [kanonischen] Gleichungen (55) und (50) sind ein kanonisches System von Differentialgleichungen, dem die Transversalen [Extremalen] genügen; das sind aber dieselben Gleichungen, denen die [Cauchyschen] Charakteristiken genügen.”128
124. Vorlesungsankündigung in dem Bericht des Mathematischen Vereins Göttingen für das WS 1906, 16. 125. Leipzig, B.G. Teubner, 1935, III. 126. “Ein Jahrhundert Mathematik (1890-1990). Festschrift zum Jubiläum der DMV”, G. Fischer u.a. (Hrg.), Dokumente zur Geschichte der Mathematik, Braunschweig, Vieweg, 1990. Kapitel Partielle Differentialgleichungen und Variationsrechnung, 149–230, Zitat S. 151. Die Bemerkung trifft hauptsächlich auf einschlägige Veröffentlichungen zu, denn Hilbert geht beispielsweise in seinen Vorlesungen seit etwa 1900 hierauf ein, siehe Kapitel 5. 127. Maschinenschriftliche Ausarbeitung Partielle Differentialgleichungen erster Ordnung von P. Buchner und H. Staehelin. Insgesamt 168 Seiten, Kapitel 3 von S. 160-168, Standorte, Mathematisches Institut der Universität Göttingen und Handschriftenabteilung der Universität Basel. 128. Vorlesungsmitschrift Partielle Differentialgleichungen (SS 1915), 168. Carathéodory benutzt hier das Wort Transversalität nicht, um die Eigenschaft der zu den Extremalen gehörigen entsprechenden (transversalen) Schar zu bezeichnen.
104
KAPITEL 2
Damit ist die Beziehung von Variationsrechnung und Charakteristikentheorie der partieller Differentialgleichungen erster Ordnung umrissen. CARATHÉODORYS nächste Vorlesung über Variationsrechnung von 1917/18 weicht erheblich von der Vorlesung aus dem Jahre 1906 ab, sie hat auch methodisch an Eleganz gewonnen.129 Es gibt vier Kapitel, Maxima und Minima, S. 4–85, Variationsprobleme ohne Nebenbedingungen [sinngemäß ergänzt, da eine Kapitelüberschrift fehlt], S. 86–264, Variationsprobleme mit Differentialgleichungen als Nebenbedingungen, S. 265–309, Das absolute Minimum, S. 310–365, von denen für uns die §§ 7-16 aus dem 2. Kapitel von besonderem Interesse sind: §7 Kürzeste Linien §8 Äquidistante Kurven §9 Verallgemeinerung § 10 [Beispiele, die der Vorbereitung der allgemeinen Problemstellung dienen; Brachistochrone, Rotationsfläche und Flußdurchquerung] § 11
Behandlung des Problems
ε
x2
∫x
f ( x, y, y' ) dx = Min
1
§ 12 Weierstraßische - Funktion § 13 Enveloppensatz § 14 Die Hamilton-Jakobische Differentialgleichung § 15 Konstruktion der Felder der Extremalen § 16 Minimumeigenschaften der Extremalen Die Feldtheorie wird aus einem einfachen geometrischen Beispiel, dem der kürzesten Linie, heraus entwickelt und danach in einschlägiger Weise auf den allgemeinen Fall (des §11) verallgemeinert. Selbst die Hamilton-Jacobische Differentialgleichung wird geometrisch abgeleitet und weitgehend so interpretiert.130
129. Ausarbeitung (deutsche Kurrentschrift) von Käthe Sander, 356 S. Im Besitz von Prof. Dr. Hildebrandt, Bonn. 130. Diesen didaktischen Weg beschritt auch H. Minkowski in seiner “Vorlesung über Variationsrechnung” (SS 1907). Allerdings verwendete er die geodätisch äquidistante Schar um das Hilbertsche Unabhängigkeitsintegral zu motivieren (§ 7, 177-182), denn längs transversaler Richtungen (bezüglich der Extremalen) bzw. auf der transversalen Schar s = λ verschwindet der Integrand des Unabhängigkeitsintegrals.
DER “ KÖNIGSWEG ” IN DIE FELDTHEORIE
105
Eine äquidistante Schar wird beim Problem der kürzesten Linie mit Hilfe der bekannten Fadenkonstruktion als Gesamtheit der Evolventen einer bestimmten Evolute E sehr anschaulich konstruiert: verschiedene Punkte P des Fadens erzeugen jeweils unterschiedliche orthogonale Trajektorien (Abb. 2.5). Die äquidistante Schar als Gesamtheit der Evolventen ist vermöge ihrer gemeinsamen Normalen charakterisiert, und sind P1 und P2 Punkte auf zwei äquidistanten Kurven mit gleicher Normalen, so gilt (11) ρ2 – ρ1 = P1P2 = S2 – S1, wobei S die jeweiligen Faden- bzw. Bogenlänge der Kurve E (Evolute) bedeutet und ρ der entsprechende Krümmungsradius ist.131 In Worten: Für zwei ebene äquidistante Kurven ist der längs der gemeinsamen Normalen gemessene Abstand entsprechender Punkte stets gleich, nämlich gleich der Differenz der zugehörigen Krümmungsradien. CARATHÉODORY weist auf die große Bedeutung dieses Sachverhaltes für die Variationsrechnung hin, der in nuce den Transversalensatz widerspiegelt. Äquidistante Kurvenscharen sind ein altes Thema der Geometrie, das schon GOTTFRIED WILHELM LEIBNIZ (1646-1716) 1692 behandelt hatte.132 Bei LEIBNIZ heißen sie Parallelkurven; JOSEPH BERTRAND (1822-1900) hat derartige Scharen gleichfalls untersucht und nach ihm werden sie als Bertrandsche Kurvenpaare bezeichnet.133 Schließlich sind Parallelkurven Cr zu einer Kurve C0 auch als Enveloppen einer Kreisschar vom festen Radius r und dem Mittelpunkt auf C0 deutbar, womit das Gebiet als ein Spezialfall der Enveloppentheorie aufgefaßt werden kann. Überdies spielen Evolventen und Evoluten in der geometrischen Optik eine zentrale Rolle, und sie wurden daher von CHRISTIAAN HUYGENS (1629-1695) systematisch untersucht.134 CARATHÉODORY hat im Hinblick auf die Variationsrechnung und geometrische Optik die Werke von HUYGENS umfassend studiert und immer wieder auf die Huygensschen Wurzeln modernerer Entwicklungen verwiesen.135 Wenn jeder ebenen Kurve eine ihr parallele Kurve zugeordnet wird, so ergibt sich im Sinne von SOPHUS LIE (1842-1899) eine Berührungstransformation, die Dilatation, bei der Punkten Kreise und Geraden Geraden entsprechen.136 131. Vorlesung Variationsrechnung (WS 1917/18), Ausarbeitung von Käthe Sander, 103. 132. “Generalia de natura linearum, anguloque contactus et osculi provocationibus aliisque cognatis et eorum usibus nonnullis”, Acta eruditorum, 1692. Man vgl. auch S. Engelsman, Families of Curves and the Origin of Partial Differentiation, Amsterdam, North Holland, 1984. 133. “Mémoire sur la théorie des courbes à double courbure”, Comptes rendus, 36 (1850). 134. Horologium oscillatorium, Teil 3, Paris, Muguet, 1673; auch in Oeuvres complètes, Bd. 18, La Haye, Nijhoff, 1888; deutsche Übersetzung von A. Heckscher, Die Pendeluhr, Leipzig, Engelmann, 1913 (Ostwalds Klassiker Nr. 192). 135. Vor allem in der Geometrischen Optik sowie in den historischen Arbeiten The beginning of research in the calculus of variations und Basel und der Beginn der Variationsrechnung, aber auch in der Variationsrechnung (§ 300). 136. Geometrie der Berührungstransformationen, Band 1, Leipzig, B.G. Teubner, 1896, 14.
106
KAPITEL 2
Abb. 2.5. Geodätisch äquidistante Scharen beim Problem der kürzesten Linie (aus der Sanderschen Nachschrift von CARATHÉODORYS Vorlesung von 1917/18)
Ist h = h(P) = h(x, y) die Entfernung eines Punktes P von irgendeiner Kurve einer Schar, so ist im Beispiel deren Gleichung durch 2
2
(12) h x + h y = 1 d.h. durch eine partielle Differentialgleichung erster Ordnung bestimmt, wie CARATHÉODORY durch elementare Überlegungen zeigt.137 Diese Beziehung wird nun auf eine beliebige Schar (13) S(x, y) = λ verallgemeinert, wobei jetzt die Länge zwischen den Kurven durch das Integral (14) J =
x
∫x
2
1 + y' dx
0
gemessen wird. Mit Hilfe einer geeigneten Parameterdarstellung für (13) erhält CARATHÉODORY dann für T = T(x, y) wieder entsprechend 2
2
(15) T x + T y = 1 .138 Einige Beispiele bereiten anschließend den allgemeinen Typ des Variationsproblems (16)
x2
∫x
f ( x, y, y' ) dx = Min
1
137. Vorlesung Variationsrechnung (WS 1917/18), Ausarbeitung von Käthe Sander, 105-106. 138. aaO., 108-112.
DER “ KÖNIGSWEG ” IN DIE FELDTHEORIE
107
vor,139 für den die uns bereits vertraute Methode der geodätischen Äquidistanten sehr plastisch abgeleitet wird. Vor der Feldkonstruktion wird aus dem Enveloppensatz (für Extremalenfelder) der Transversalensatz abgeleitet, dessen Keim in (11) bereits erschienen war.140 Die Feldkonstruktion führt auf die Aufgabe, die Hamilton-Jacobische Differentialgleichung (17) Sx(x, y) + H(x, y, Sy) = 0 zu integrieren.141 Zunächst wird von CARATHÉODORY ein Spezialfall behandelt, in dem die Niveaulinie S(x, y) = 0 mit der Gleichung ξ = ξ(η) das zugehörige Anfangswertproblem charakterisiert. CARATHÉODORY bestimmt längs ξ = ξ(η) genau wie beim Problem der kürzesten Linien in jedem Punkt die zugehörige transversale Richtung, womit längs dieser Kurve auf eindeutige Weise ein gewisses Gebiet G des x,y-Raumes mit einer Extremalenschar eindeutig überdeckt werden kann. Jedem Punkt P aus G ordnet CARATHÉODORY nun den Wert S(x, y) zu, indem er das Variationsintegral von S = 0 bis P längs der Extremalen erstreckt. Es ist (in kanonischen Koordinaten) (18) S(x, y) =
P
∫ξ ( η ) ( –H + qy' ) dx ,
und CARATHÉODORY liefert anschließend den Nachweis, daß S der HamiltonJacobischen Differentialgleichung mit den gewünschten Anfangswerten genügt. Dann führt er die Rechnung unter der allgemeinen Annahme durch, daß S nicht längs der Anfangsmannigfaltigkeit ξ = ξ(η) verschwindet, sondern die allgemeine Form S = σ(η) hat. Dabei werden die Einschränkungen diskutiert, denen diese Anfangswerte in der Cauchyschen Charakteristiketheorie unterliegen. Die hier als “Transversalen” bezeichneten Kurven waren von CARATHÉODORY schon als Extremalen, d.h. sogar als Lösungen der Euler-Lagrangeschen Differentialgleichung erkannt worden. Nach der durchgeführten Feldkonstruktion ist jedoch auch umgekehrt der Nachweis möglich, daß jede Kurve, die ein Minimum des Integrals liefern soll, notwendig eine Extremale sein muß.142 In der Arbeit Sur une Méthode directe du Calcul des Variations (1908) hatte sich CARATHÉODORY mit dem Einwand auseinandergesetzt, daß die direkte Methode lediglich hinreichende Bedingungen liefere, und darauf verwiesen, daß der Sachverhalt nicht zutreffe.143 139. aaO., 122. 140. aaO., 137. 141. aaO., S. 138 f. 142. Vorlesung Variationsrechnung (WS 1917/18), Ausarbeitung von Käthe Sander, 129, 157163. 143. Rendiconti del Circolo Matematico di Palermo, 25 (1908), 36–49; Gesammelte mathematische Schriften, Bd. 1, München, Beck, 1954, 170–187, insbes. 172.
108
KAPITEL 2
Der Göttinger Vorlesung im WS 1917/18 folgte ein Jahr darauf im WS 1918/19 in Berlin eine weitere einsemestrige Vorlesung über Variationsrechnung (während die nachfolgende zweisemestrige Vorlesung über Mechanik im SS 1918 durch CARATHÉODORYS Weggang aus Göttingen im September 1918 dort nicht zu Ende gebracht werden konnte), und es gab in Berlin 1920 eine Dissertation Über eine Art singulärer Punkte der einfachen Variationsprobleme in der Ebene von ERICH BESSEL-HAGEN (1898-1946) zur Variationsrechnung.144 In diesem Zusammenhang ist folgende Passage aus dem Antrag der Berliner Philosophischen Fakultät an den Kultusminister zur Berufung CARATHÉODORYS als Nachfolger von GEORG FROBENIUS (1849-1917) von Interesse, die bereits CARATHÉODORYS Ruf als hervorragenden Geometer widerspiegelt: “[…] während Carathéodory als Geometer zu betrachten ist, der sein außerordentliches geometrisches Können hauptsächlich in den Dienst der Analysis gestellt hat.”145 Die Berliner Vorlesung im WS 1918 ist zwar neu ausgearbeitet worden, aber ihre Gliederung entspricht im Prinzip noch der vorhergehenden: Gewöhnliche Extrema, kürzeste Linien in der Ebene und im Raum (hier wird für das spezielle Problem der Feldbegriff eingeführt), danach das allgemeine Variationsproblem (mit entsprechenden Verallgemeinerungen), schließlich spezielle Probleme wie quadratische Variationsprobleme. Die Vorlesung liegt in einer genauen Mitschrift146 von ERICH BESSEL-HAGEN (1898-1946) in 5 Heftchen (vom Format 11x16,5cm) mit je 32 Seiten vor. Die Darstellung ist geometrisch orientiert, breiten Raum nehmen z.B. Betrachtungen über die Indikatrix ein (Hefte III-IV). Die Methode der geodätischen Äquidistanten erscheint in Heft IV. Die vollständige Figur wird für das geometrischen Musterbeispiel der kürzesten Linie mit beweglichem Endpunkt so erklärt (vgl. hierzu Abb. 2.5): “Eine Figur, die aus der Gesamtheit der ‘Extremalen’ d[as] ist der Evolutentangenten und der Gesamtheit der äquidistanten Curven ihrer Orthogonaltrajektorien besteht, heißt vollständige Figur. [Heft 2]”. Die Themenwahl der Vorlesungen von CARATHÉODORY in München (WS 1924/25 bis SS 1938) vermittelt kein betont geometrisches Bild mehr. Wir finden neben den üblichen Kursen und denen über Funktionentheorie 144. E. Bessel-Hagen, Studium von 1917-1920 in Berlin, Promotion in Berlin am 27. 8. 1920. Gutachter: C. Carathéodory und E. Schmidt. Carathéodory bescheinigte seinem Doktoranden, daß er den ersten großen Fortschritt nach den eigenen Arbeiten von 1904 und 1905 geleistet habe (siehe dazu K.-R. Biermann, Die Mathematik und ihre Dozenten an der Berliner Universität, Berlin, Akademie-Verlag, 1988, 185). Danach Assistent bei Klein in Göttingen, 1925 Habilitation in Göttingen, ab 1931 Professor in Bonn, hielt dort auch Vorlesungen zur Variationsrechnung (Ausarbeitungen vom WS 1932 und WS 1943 im Universitätsarchiv Bonn, Nl. Bessel-Hagen 255: 1-2). 145. Archiv der Humboldt-Universität, Phil. Fakultät. P/3/14, Blatt 281. Der von E. Schmidt abgefaßte Entwurf ist u.a. von H. A. Schwarz, M. Planck sowie von F. Schottky unterzeichnet, wobei sich letzterer wie Schwarz (!) nicht für Carathéodory aussprach (siehe dazu K.-R. Biermann, Die Mathematik und ihre Dozenten an der Berliner Universität, Berlin, Akademie-Verlag, 1988, 182–184). 146. Universitätsarchiv Bonn, Nachlaß Bessel-Hagen, BH 116: 1-5.
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beispielsweise: nur einmal Vorlesungen über Grundlagen der Geometrie, je zweimal über Differentialgeometrie sowie Kurven und Flächen, aber je dreimal über Variationsrechnung (SS 1925, WS 1927/28, im akad. Jahr 1936/ 37) sowie partielle Differentialgleichungen und sogar fünfmal über Mechanik (teilweise über zwei Semester).147 2.3.6 Die Darstellung der direkten Methode im Frank/Mises In der durch PHILIPP FRANK und RICHARD VON MISES 1925 bearbeiteten 7. Auflage des klassischen RIEMANN/WEBER Partielle Differentialgleichungen der mathematischen Physik, die unter dem neuen Titel Die Differential- und Integralgleichungen der Mechanik und Physik erschien, hat CARATHÉODORY das Kapitel Variationsrechnung verfaßt. Im Gegensatz zu allen anderen Autoren haben CONSTANTIN CARATHÉODORY und RICHARD COURANT (18881972), der ein Kapitel über Variationsrechnung und Randwertprobleme beisteuerte, bei der Gestaltung ihrer Teile freie Hand gehabt. CARATHÉODORYS Beitrag war bereits 1922 abgeschlossen; das Buch erschien erst 1925 und erlebte 1930 eine Nachauflage, bei der die Abschnitte über Variationsrechnung unverändert blieben. CARATHÉODORY stellte seinem Kapitel Variationsrechnung die im Umfeld des Buches verständliche Bemerkung voran: “Die hier folgenden Ausführungen haben vor allem die Anwendungen in der analytischen Mechanik im Auge.”148 Im Hinblick auf den Lagrangeschen Formalismus der Variationsrechnung, durch den “nur ein Teil unseres Problems gelöst”149 wird, da i.a. nur die notwendigen Bedingungen geliefert werden, zog CARATHÉODORY die direkte Methode vor, “durch welche das Problem vollständig gelöst wird”150, also auch hinreichende Bedingungen bereit gestellt werden. Er merkte jedoch an, “daß bei vielen Problemen der mathematischen Physik die Frage nach dem Minimum eines Integrals, wie wir sie […] gestellt haben, hinter der anderen zurücktritt, in der man bloß diejenige Kurve sucht, für welche die erste Variation unseres Linienintegrals verschwindet.”151 Deshalb sei auch der Lagrangesche Formalismus dargelegt worden. CARA152 THÉODORY, der – wie aus seinen Autobiographischen Notizen hervorgeht –
147. Archiv der Ludwig-Maximillians Universität München, Vorlesungsverzeichnisse 19241938. Im SS 1938, als Carathéodory keine Vorlesungen mehr ankündigte, begann H. Boerner seine Vorlesungen zur Variationsrechnung. 148. Die Differential- und Integralgleichungen der Mechanik und Physik, Braunschweig, Vieweg, 1925, 227. 149. aaO., 232. 150. aaO., 232. 151. aaO., 232. 152. Gesammelte mathematische Schriften, Bd. 5, München, Beck, 1957, 402.
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KAPITEL 2
die axiomatische Fassung der Mathematik für deren ideale Form hält, zog hier (wohl im Hinblick auf den Leserkreis) nicht in der Entschiedenheit jene Konsequenz, die in der Göttinger Hilbert-Schule Allgemeingut war und etwa durch folgendes Zitat aus DAVID HILBERTS Arbeit Axiomatisches Denken belegt werden kann: “Zur Erkenntnis [eines Temperaturgleichgewichts] ist aber der Nachweis nötig, daß die bekannte Randwertaufgabe der Potentialtheorie stets lösbar ist, denn erst die Lösung dieser Randwertaufgabe zeigt, daß eine der Wärmeleitungsgleichung genügende Temperaturverteilung überhaupt möglich ist.”153 Mit anderen Worten, betrachtete mathematische Modelle müssen aus sich heraus eine Rechtfertigung für die untersuchten Phänomene liefern, wenn sie zutreffend sein sollen, und es dürfen nicht aufgrund irgendeines “physikalischen Hintergrundes” einschlägige Vorstellungen zirkelhaft als erfüllt unterstellt werden. Die fünf Abschnitte des Kapitels behandeln den Lagrangeschen Formalismus, vollständige Figuren des Variationsproblems, kanonische Koordinaten und schließen mit einem kurzen Ausblick auf die Variation von Doppelintegralen. Gegenüber den bisher referierten Arbeiten ist der Abschnitt über kanonische Transformationen hervorhebenswert, denn diese Transformationen spielen eine wichtige Rolle in der Variationsrechnung, und CARATHÉODORY hat sich insbesondere in seinen Arbeiten zur mehrdimensionalen Variationsrechnung ausführlich mit dieser Thematik beschäftigt. Derartige Transformationen können als Abbildungen von Linienelementen entsprechender Räume aufeinander angesehen werden.154 Eine gewisse Schar von Linienelementen t(u), x(u), x' (u), der sogenannte Elementverein, bleibt dann gegenüber Berührungstransformationen als solche erhalten, und in unserem Fall gehen Extremalen als einzige Elementvereine wieder in solche über. Die Idee, mittels geschickter Wahl einer kanonischen Transformation auf ein einfacheres Variationsproblem zu kommen, wird erläutert, indem dazu etwa die Jacobische Integrationsmethode herangezogen wird bzw. die ausgezeichnete Rolle kanonischer Transformationen in der Himmelsmechanik am Beispiel der Störung von Planetenbahnen erläutert wird.155 Die Lösung eines Variationsproblems faßt CARATHÉODORY ganz in geometrischem Geist vermöge der “vollständigen” Figur so: Es ist “eine vollständige Figur zu konstruieren, derart, daß eine ihrer Gefällekurven zwei gegeben Punkte des Raumes verbindet.”156
153. Mathematische Annalen, 78 (1918), 405-419. 154. Die Differential- und Integralgleichungen der Mechanik und Physik, Braunschweig, Vieweg, 1925, Kapitel 5, Variationsrechnung, §§ 4, 5. 155. aaO., §§ 4, 9-10. 156. aaO., 245.
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Bei Variationsproblemen mit mehrfachen Integralen sind allerdings die benötigten Mannigfaltigkeiten so hochdimensional, daß die Behandlung zu kompliziert wird, und daher konnte hierfür bis heute noch keine vollständige Theorie aufgestellt werde. Es gibt jedoch Abschwächungen des Feldbegriffs, die etwa ANDRÉ ROUSSEL (1904-1992), HERMANN BOERNER (1906-1982) und ROLF KLÖTZLER (geb. 1931) untersucht haben, die man aber bereits in einer unveröffentlichten Notiz von HILBERT findet.157 Für die im Lehrbuch von FRANK/MISES behandelten eindimensionalen Variationsprobleme kann jedoch unter den gemachten Voraussetzungen,158 die vollständige Figur (lokal) konstruiert werden, indem man die Hamilton-Jacobische Differentialgleichung löst. CARATHÉODORY gibt dazu folgendes Verfahren an:159 i) Man löse im t,x-Raum das entsprechende Randwertproblem der EulerLagrangeschen Gleichung des Variationsproblems, was lokal möglich ist. ii) Man bette die Lösung des Randwertproblems in ein Feld von Extremalen ein, das die gesamte Lösung des Randwertproblems in seinem Inneren enthalte. iii) Will man über die lokalen Ergebnisse hinaus Aussagen erhalten, so benötigt man die Theorie der konjugierten Punkte. Sind die genannten Schritte alle ausführbar, so kann das gestellte Variationsproblem als vollständig gelöst betrachtet werden. 2.4 Die analytische Wende 2.4.1 Vorbemerkungen Der Titel von CONSTANTIN CARATHÉODORYS Monographie Variationsrechnung und partielle Differentialgleichungen erster Ordnung (1935) – im weiteren kurz als Variationsrechnung zitiert – ist programmatisch und drückt genau die Absicht des Verfassers aus, den Zusammenhang von Variationsrechnung und partiellen Differentialgleichungen erster Ordnung aufzuklären. CARATHÉODORYS historischem Interesse ist dabei die Feststellung geschuldet: “Für die speziellen Probleme der geometrischen Optik war diese Wechselwirkung zwischen Variationsrechnung und partiellen Differentialgleichungen […] von W. R. Hamilton, dessen Arbeiten übrigens Jacobi beeinflußt haben, beobachtet
157. Vgl. die Abschnitte 5.8 und 5.9. 158. “Man überzeugt sich leicht, daß diese Methode von Cauchy in ihrem vollen Umfang gilt, wenn die Funktion H(t, xi, yi) zweimal stetig differenzierbar ist”. “Bemerkungen über die Eulerschen Differentialgleichungen der Variationsrechnung”, Göttinger Nachrichten, (1931), 40–42; auch in: Gesammelte mathematische Schriften, Bd. 1, München, Beck, 1954, 249–255, Zitat S. 250. 159. Die Differential- und Integralgleichungen der Mechanik und Physik, Braunschweig, Vieweg, 1925, Kapitel 5, Variationsrechnung, § 3, 11.
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worden. Und Hamilton hat eigentlich nichts anderes getan, als das uralte Problem zu beantworten, das durch die doppelte Begründung der geometrischen Optik durch das Fermatsche und das Huygenssche Prinzip aufgeworfen worden war.”160 Die “Hamiltonschen Überlegungen” in der geometrischen Optik laufen darauf hinaus, diese Disziplin in doppelter Weise zu begründen, nämlich sowohl über das Fermatsche als auch über das Huygenssche Prinzip, kurz gesagt über die Dualität von Lichtstrahlen und Wellenfronten.161 Diese Beziehung stellte CONSTANTIN CARATHÉODORY in seiner erst nach der Variationsrechnung erschienen Geometrischen Optik (1937) sowohl sachlich klar als auch historisch ausführlich dar. CARL GUSTAV JACOBI, der von WILLIAM ROWAN HAMILTON angeregt worden war, habe bald danach die Feststellung gemacht, daß “die Differentialgleichungen, die in der Variationsrechnung vorkommen, und die partiellen Differentialgleichungen erster Ordnung miteinander verknüpft sind und daß insbesondere jeder derartigen partiellen Differentialgleichung Variationsprobleme zugeordnet werden können.[…][E]s scheint wohl, daß die ursprüngliche Bemerkung Jacobis – sogar von ihm selbst – nicht als die grundlegende Tatsache, die sie wirklich ist, sondern eher als eine formale Zufälligkeit betrachtet wurde”162 (vgl. Abschnitte 4.2, 4.3). Neben EUGENIO BELTRAMI (1835-1900), ADOLF KNESER und DAVID HILBERT hatte auch JACQUES HADAMARD (1865-1963) diesen Zusammenhang sehr klar gesehen: Les équations de la Mécanique sont, nous l’avons vu, un cas particulier des équations du Calcul des variations. Mais la plupart des propriétés qu’elles présentent, au point de vue de l’intégration, – et auxquelles sont consacrés, totalement ou partiellement, les traités classiques sur la Dynamique – subsistent dans le cas général. L’identité est assez complète pour que nous devions nous contenter de rappeler l’existence de ces propriétés.163 CARATHÉODORY sowie HADAMARD bezogen sich dabei auf den nachfolgend gedrängt skizzierten Zusammenhang zwischen Variationsproblemen und partielle Differentialgleichungen erster Ordnung, den letzterer aber nicht weiter verfolgt hat: Einem Variationsproblem
160. Variationsrechnung, Leipzig, B.G. Teubner, 1935, III. 161. S. Hildebrandt hat diese Dualität weiter aufgefächert und ein vierfaches Bild gezeichnet. M. Giaquinta, S. Hildebrandt, Calculus of Variations, vol. 2, Berlin, Springer, 1996, Ch. 10, 3. 162. Variationsrechnung, 1935, III. 163. J. Hadamard, Leçons sur le Calcul des variations, Paris, Hermann, 1910, 151. “Die Gleichungen der Mechanik sind, wie wir gesehen haben, ein Spezialfall der Gleichungen der Variationsrechnung. Die meisten Eigenschaften, die sie aus der Sicht der Integration aufweisen und denen ganz oder teilweise die klassischen Abhandlungen über Dynamik gewidmet sind, bestehen im allgemeinen Fall weiter. Die Übereinstimmung ist ziemlich vollständig, so daß wir uns damit zufrieden geben werden, an das Vorhandensein dieser Eigenschaften zu erinnern”.
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113
b
(1) J(y) =∫ L ( t, x, x' ) dt → Min a
mit der Grundfunktion L(t, x, p)164 und der durch die Legendre-Transformation (2) u = Lp(t, x, p) mit der Umkehrung p = π (t, x, u) erhaltenen Hamiltonfunktion H(t, x, u) (3) H(t, x, u) + L(t, x, p) = uLp entspricht die partielle Differentialgleichung erster Ordnung für eine Funktion S = S(t, x) (4) St(t, x) + H(t, x, Sx) = 0 (Hamilton-Jacobische Differentialgleichung). Die Funktion S(t, x) heißt in der geometrischen Optik nach ERNST HEINRICH BRUNS (1848-1919) Eikonal, bei WILLIAM ROWAN HAMILTON charakteristische Funktion (characteristic function), und in der Mechanik ist sie als Wirkungsfunktion oder Aktion bekannt (vgl. Abschnitte 4.2 und 4.3). Die sogenannten kanonischen Differentialgleichungen (5) x' = Hu (t, x, Sx), u' = – Hx (t, x, Sx) schlagen einerseits als charakteristische Gleichungen in der Cauchyschen Integrationstheorie der Hamilton-Jacobischen Differentialgleichung (4) und andererseits als kanonische Form der Eulerschen Differentialgleichung von (1), dL ( t , x, x' ) dt
p - = L x ( t, x, x' ) , (6) ----------------------------
die Brücke zwischen den beiden Auffassungen, deren Ausarbeitungen auf die direkte und indirekte Methode der Variationsrechnung führt. CARATHÉODORY führte in der Einleitung seiner Variationsrechnung aus: “Seit vielen Jahren war es mein Wunsch, diesen Komplex von Ideen, der so lange unbeachtet geblieben ist, ins richtige Licht zu bringen […] und es ist nicht verwunderlich, wenn die Vorarbeiten zum vorliegenden Werk viel Zeit beansprucht haben.”165
164. Carathéodory wählt als Grundfunktion L oder F, je nachdem ob er die Nähe zur Mechanik (Lagrangefunktion) oder zur Geometrie betonen will. 165. Variationsrechnung, Leipzig, B.G. Teubner, 1935, S. iv. – Der Vertrag ist bereits am 11. 4. 1917 abgeschlossen worden. Der Teubner-Verlag hat sich nachhaltig bemüht, eine bereits für April 1919 geplante Manuskriptabgabe (25 Bogen bzw. 400 Seiten) zu erreichen, jedoch immer wieder Verlängerungen zugestimmt. Archive des B.G. Teubner- und J. Springer-Verlages.
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In der Tat hatte bereits eine Vorlesung Partielle Differentialgleichungen im SS 1915 ein abschließendes Kapitel “Zusammenhang der partiellen Differentialgleichungen erster Ordnung mit der Variationsrechnung” von wenigen Seiten hierüber enthalten,166 jetzt besteht die Variationsrechnung aus zwei gleich starken und gleichwertigen Teilen. Der erste Teil stellt die partiellen Differentialgleichungen 1. Ordnung im Hinblick auf die Bedürfnisse der Variationsrechnung dar, während der zweite, unabhängig lesbare Teil die Variationsrechnung selbst behandelt. BOERNER hat auf einen “Nachteil” dieser Anordnung für die Variationsrechnung hingewiesen: da die Variationsrechnung erst nach 163 Seiten beginnt, gelangt nur der Kenner beider Disziplinen oder der gründliche Leser in den “vollen Genuß” der Darstellung.167 Die Vorarbeiten zu diesem Projekt haben wir im Vorhergehenden diskutiert. Obwohl die von CARATHÉODORY entwickelte Methode der geodätischen Äquidistanten (Feldtheorie) alle Exaktheitsansprüche erfüllte und ihr Nutzen augenfällig war, befriedigte diese Darlegung CARATHÉODORY noch nicht; er selbst empfand die Methode weiterhin als nicht hinreichend durchsichtig, und – um ein Bild aus der griechischen Wissenschaftsgeschichte zu gebrauchen – er suchte deshalb einen archimedischen Punkt, von dem aus er den Mechanismus der Feldtheorie übersehen konnte. In seiner Monographie Variationsrechnung (im zweiten Teil) hatte CARATHÉODORY nach insgesamt 30jähriger Arbeit in der Variationsrechnung vor allem die Ergebnisse des Variationskapitels im Buch von FRANK und VON MISES (um 1922 geschrieben, 1925 erschienen) und des großen Acta-Artikels von 1926 verarbeitet und zusammengefaßt, einiges wie die Einteilung der Variationsprobleme oder die zweite Variation bei Lagrange-Problemen nachgetragen sowie charakteristische Beispiele (Probleme von DELAUNAY, ZERMELO, reguläre Variationsprobleme auf der Kugel) im Detail durchgerechnet - da kam in der entspannenden Phase nach dem Abschluß des Manuskripts unerwartet die entscheidende Einsicht,168 und diesen “Königsweg” hat CARATHÉODORY erstmals im SS 1934 in seiner Vorlesung über geometrische Optik vorgetragen und schließlich noch in die Korrekturen der Variationsrechnung einarbeiten können, bevor das Buch 1935 erschienen ist. An MAX BORN (1882-1970)
166. Vorlesungsausarbeitung Partielle Differentialgleichungen (SS 1915) von P. Buchner, H. Staehlin, S. 160 ff. 167. Jahresbericht der DMV, 56 (1953), 31-58, insbes. 32. Mehr dazu weiter unter. 168. “Wie der Blitz einschlägt, hat sich das Rätsel gelöst”, berichtete C.F. Gauß über eine solche jähe Erkenntnis; auch J.E. Littlewood hat eine interessante Bemerkung über dieses Phänomen gemacht, denn er hatte bemerkt, daß seine mathematischen Einfälle stets auf ein entspannendes Wochenende folgten und daß die Verlegung der freien Tage auch eine entsprechende zeitliche Verschiebung der Einfälle zur Folge hatte. Ähnlich hat sich F. Klein über seine Entdeckung des Grenzkreistheorems geäußert. Weiteres dazu in J. Hadamard, The psychology of invention in the mathematical field, Princeton, University Press, 1945, Reprint Dover 1949.
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schrieb er am 24. Januar 1935: “In einigen Wochen wird die Variationsrechnung erscheinen, an der ich viele Jahre gearbeitet habe. Ich habe mich bemüht, den Zusammenhang mit der Mechanik hervorzuheben.”169 Es gibt zwei Themen (bzw. drei Stellen) im Buch, die von einer Umarbeitung betroffen waren, nämlich die einfachen Variationsprobleme ohne Nebenbedingungen170 sowie das Lagrange Problem.171 Die Theorie der geodätische äquidistanten Flächen, die nicht mehr zur Einführung des geodätischen Feldes benötigt wird, sondern jetzt nur ergänzend das Verhältnis von Extremalenschar und zugehöriger transversaler Schar geometrisch beleuchtet, erscheint noch in einem Kapitel, das den positiv definiten Variationsproblemen gewidmet ist.172 Merkwürdigerweise benutzt CARATHÉODORY den Begriff des geodätischen Feldes im Buch nicht, obwohl er ihn bereits 1929 in dem Artikel Über die Variationsrechnung bei mehrfachen Integralen173 mit der transversalen Schar S(t, x) eingeführt hatte, sondern erwähnt ihn nur beiläufig im Hinblick auf eine Arbeit von HERMANN BOERNER, mit der sich dieser bei CARATHÉODORY habilitierte.174 Der entscheidende Gedanke, der die Verbindung von Variationsrechnung und partiellen Differentialgleichungen derart schlagend darstellt, daß BOERNER nicht gezögert hat, ihn als einen “Königsweg” in die Variationsrechnung zu bezeichnen, dieser Gedanke konnte erst in ein bereits abgeschlossenes (!) Manuskript eingearbeitet werden, genauer in die bereits gesetzten Korrekturbogen, was dazu geführt haben mag, daß diese Idee im Buch nicht ausreichend deutlich wird. BOERNER gibt aber zurecht auch folgendes zu bedenken: “Es mag aber auch an der Anlage des ganzen Buches liegen, das den partiellen Differentialgleichungen erster Ordnung einen so breiten Raum vor der Variationsrechnung einräumt. Zwar stellt gerade der neue Gedanke aufs Schlagendste den Zusammenhang zwischen der Variationsrechnung und den 169. Deutsche Staatsbibliothek Berlin. Nachlaß Born 105. In der Geometrischen Optik (Berlin, Springer, 1937, 5) präzisierte Carathéodory diese Bemerkung über die alleinige Ausrichtung auf die Mechanik insofern, als er zum Verhältnis von Huygensschen und Fermatschen Prinzip anmerkte, daß er darüber bereits einiges in der Variationsrechnung von 1935 geschrieben habe (vgl. etwa S. 251). 170. Variationsrechnung, Leipzig, B.G. Teubner, 1935; 12. und 13. Kapitel für schwache und starke Extrema, besonders §§ 231, 261. 171. aaO., 18. Kapitel, besonders § 421. 172. Variationsrechnung, Leipzig, B.G. Teubner, 1935; §§ 297–299. H. Boerners Bemerkung (Carathéodory-Symposium, Greek Mathematical Society, Athens, 1973, 8), daß die Ausdrücke “geodätisch äquidistant” und “geodätisches Feld” (siehe hierzu übernächste Fußnote) im Buch nicht erscheinen, trifft nicht zu. Siehe in der Variationsrechnung, 249 und 400. 173. Acta Szeged, 4 (1929), 193–216, Def. §§ 1, 19; Gesammelte mathematische Schriften, Bd. 1, München, Beck, 1954, 401-426. Def. 402, 415. 174. Der Begriff des “geodätischen Feldes” taucht in der Variationsrechnung gerade noch auf der letzten Seite auf (S. 400), wo Carathéodory kommentierte Literaturhinweise gibt und Boerners noch ungedruckten Einbettungsbeweis erwähnt (später als “Über die Extremalen und geodätischen Felder in der Variationsrechnung der mehrfachen Integrale”, in den Mathematischen Annalen, 112 (1936), 187–213, erschienen).
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KAPITEL 2
partiellen Differentialgleichungen erster Ordnung her, um ihn verstehen zu können, muß man aber keineswegs die 163 Seiten studiert haben, aus denen der erste Teil besteht. Trotzdem mag ein Leser, der an der richtigen Stelle (nämlich auf S. 189) mit der Lektüre anfängt, nach einiger Zeit infolge der vielen Rückverweisungen den Mut verlieren. Nur der Kenner beider Theorien und der gründliche Leser des ganzen Buches, sie beide kommen in den vollen Genuß des schönen Gedankengebäudes.”175 Es ist vor allem BOERNERS Verdienst, auf wenigen Seiten diesen Königsweg auch für Leser ohne umfassende Vorkenntnisse in der Variationsrechnung entwickelt, dargestellt und propagiert zu haben. Es ist in der Tat verwunderlich, daß CARATHÉODORY nicht einmal im Vorwort auf den neuen Grundgedanken hingewiesen hat, mit dem er sein Ziel, die Verbindung von Variationsrechnung und partielle Differentialgleichungen erster Ordnung darzustellen, so überzeugend erreichte. Auch in der Geometrischen Optik – jetzt ohne die Zeitnot der Variationsrechnung – bleibt es bei einer “stillen”, wenn auch organischen Einarbeitung des Grundgedankens, aber auf die methodische Wende wird wiederum nicht verwiesen. Freilich ist auch CARATHÉODORYS Bescheidenheit in Betracht zu ziehen, da es ihm nicht in den Sinn kam, seine Leistungen in den Vordergrund zu stellen. Beispielsweise erscheinen die diskontinuierlichen Lösungen in der Variationsrechnung lediglich in den angefügten Ratschlägen zur Literatur, und auf die wegweisende eigene Dissertation wird in diesem Zusammenhang auch nicht verwiesen. 2.4.2 Eine problemorientierte Rekonstruktion der Wende Von CARATHÉODORY selbst gibt es keinen Hinweis, wie er auf den Grundgedanken des “Königsweges” gekommen ist. Der entsprechende Briefwechsel mit dem Verlag, der Anhaltspunkte geben könnte, ist ein Kriegsverlust; die restliche Korrespondenz ist verstreut oder verloren, auch HERMANN BOERNER hat sich dazu offenbar nicht geäußert. Aus der publizierten Form läßt sich folgende Entwicklung als möglich rekonstruieren, die uns zugleich als problemorientierte Darstellung den Einstieg in die historische Diskussion erleichtern soll. Der Grundgedanke CARATHÉODORYS besteht aus zwei Teilen. Im einem ersten Schritt wird ein spezielles und leicht zu beherrschendes Variationsproblem behandelt:176 Wenn in einem gewissen Gebiet B des t,x,p-Raumes R2n+1 eine Grundfunktion L*(t, x, p) ∈ C2 sowie eine Funktion ψ(t, x) = (ψ1, ψ2, …,ψn) ∈ C1 mit folgenden Eigenschaften existieren (1) L*(t, x, x' ) = 0 für x' = ψ (t, x), 175. “Carathéodory’s Eingang zur Variationsrechnung”, Jahresbericht der DMV, 56 (1953), 31–58, Zitat S. 32 f. 176. Variationsrechnung, Leipzig, B.G. Teubner, 1935, § 228.
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117
L*(t, x, x' ) > 0 für x' ≠ ψ (t, x),
so liefern die Lösungen der Differentialgleichung177 (2) x' = ψ(t, x) in B bei festen Randwerten trivialerweise ein Minimum des speziellen Problems (3) J*(x) = dt → Min. CARATHÉODORY greift dann im zweiten Schritt auf den Gedanken des äquivalenten Variationsproblems zurück. Zwei Variationsprobleme J*(x) und J(x) sind äquivalent, wenn sie sich um ein wegunabhängiges Integral I(x) (Hilbertsches invariantes Integral) unterscheiden. Damit sind die Extremalen des einen Problems auch Extremalen des anderen Problems, und umgekehrt.178 Mit Hilfe dieser Idee zeigt CARATHÉODORY (d. h. über einen entsprechend bestimmten Integranden von I(x) bzw. geeignete S-Funktionen), wie eine Zurückführung des allgemeinen Variationsproblems (4) J(x) =
b
∫a L * dt → Min
auf den speziellen Fall (3) gelingen kann. Wie könnte diese zweistufige Methode entstanden sein? CARATHÉODORY beginnt das entscheidende Kapitel 12 mit der Definition von Extremalen179 und fragt dann nach Eigenschaften der Linienelemente (5) (t, x0, x0') von Extremalen x = x0(t).180 Er weicht dabei vom üblichen Sprachgebrauch für Extremalen ab, da er von den Lösungen x0(t) der Eulerschen Differentialgleichungen lokal schwache Extremalität fordert, d. h., CARATHÉODORY verlangt ohne Rückgriff auf die Eulerschen Gleichungen lokal die Ungleichung (6) J(x) – J(x0) ≥ 0
bzw.
≤0
für im Sinne des C1 benachbarte Vergleichsfunktionen (was über die nur notwendige Eulersche Gleichung hinausgeht). Mit Hilfe einer speziellen Varia-
177. Die analytischen Voraussetzungen an ψ(t, x) sichern (zumindest in einem Teilgebiet B* von B) die Lösbarkeit des Anfangswertproblems, genauer die Existenz einer dieses Teilgebiet B* schlicht überdeckenden Schar (zentrales Extremalenfeld). 178. Variationsrechnung, Leipzig, B.G. Teubner, 1935, § 227. 179. aaO., § 219. 180. aaO., § 225.
118
KAPITEL 2
tion (die in C1 zulässig ist) klassifiziert er die Linienelemente (t, x0, x0') einer Kurve, indem er das Verhalten der quadratischen Form (7) Q(ξ) = L p p (t, x0, x0') ξi ξj, i j
die aus der Grundfunktion des zugehörigen Variationsproblems (4) gebildet wird, studiert. Die Klassifizierung der quadratischen Formen (7) in definite, semidefinite und indefinite, die im 11. Kapitel getroffen wurde,181 induziert eine ebensolche Einteilung der Linienelemente (5) in reguläre, singuläre und irreguläre, da die Elemente in die Koeffizienten der Form Q eingehen. Als notwendig für Extremalität erweist sich die Regularität oder Singularität der Linienelemente; durch irreguläre Linienelemente läßt sich keine Extremale legen.182 Eine definite Form Q(ξ), d.h. Q(ξ) > 0 bzw. < 0 für ξ ≠ 0, ist wiederum hinreichend für ein Extremum der Grundfunktion L, genauer sichert diese Eigenschaft für festes t0, x0 ein lokales Extremum von L für ein gewisses p0, etwa ein Minimum: (8) L(t0, x0, p0) ≤ L(t0, x0, p),⏐ p – p0⏐ < ε,183 und falls dies nicht nur in einem Punkt t0, x0, sondern längs einer Kurve x0(t) gilt, so ist natürlich p0 längs dieser Kurve zu nehmen, also p0 = p0(t, x) zu betrachten. Es ist nun weiter, wenn für eine Vergleichsfunktion x(t) irgendwo in [a, b] gilt x' ≠ p0(t, x), (9) ∆J = J(x) – J(x0) =
b
b
0
∫a L dt – ∫a L dt ≥ 0,
und die totale Variation (9) verschwindet nur, wenn (10) x' = p0 (t, x) in [a, b] gilt, da (11) L – L0 > 0 für x' ≠ p0 (t, x0(t)), L – L0 = 0 für x' = p0 (t, x0(t)), ist. Setzen wir L* = L – L0 und p0(t, x) = ψ(t, x), so haben wir das spezielle Beispiel (3), für das die Extremalität offensichtlich ist.
181. aaO., § 207. 182. aaO., §§ 224, 225 (Satz 1). 183. aaO., § 209 (Satz 2).
DER “ KÖNIGSWEG ” IN DIE FELDTHEORIE
119
Umgekehrt zeigt dieses Beispiel die Existenz von Extremalen im Sinne von CARATHÉODORY, so daß dessen Begriffsbildung gerechtfertigt ist. Im speziellen Fall tritt weiterhin die interessante Eigenschaft auf, daß im Innern des entsprechenden Regularitätsbereichs von Q(ξ) durch jedes Linienelement (5) genau eine Kurve hindurchgelegt werden kann, die Extremale zu (1) ist. Das folgt – sofern ψ (t, x) ∈ C1 ist – aus der eindeutigen Lösbarkeit von (10) in einer ε-Umgebung der Kurve x0(t). In der geometrischen Optik, wo häufig die (parametrisch gegebene) Grundfunktion F(xi, x i' ) in einem gewissen Gebiet B des Rn positiv ist, hat man hierfür die Bezeichnung positiv definites Variationsproblem eingeführt.184 Aber auch wichtige mechanische Probleme (Brachistochronenproblem) oder geometrische Probleme (wie das eindimensionale Problem der geodätischen Linien oder das Problem der Minimalflächen im Mehrdimensionalen) gehören zu dieser Klasse, und diese Probleme waren CARATHÉODORY wohl vertraut. Er hat den neuen Zugang zuerst in einer Vorlesung über geometrische Optik, noch vor der Publikation des Buches, vorgetragen (SS 1934), so daß er vermutlich beim Ausarbeiten dieser Vorlesung die neue Begründung gefunden hatte.185 Nach den grundlegenden Ausführungen im 12. und 13. Kapitel über schwache und starke Extrema, den “Königsweg”, führte CARATHÉODORY im 14. Kapitel bei speziellen Variationsproblemen, nämlich positiv definiten Problemen, Überlegungen durch, die etwas Licht auf die Entstehung dieses Zugangs werfen könnten. Wir referieren dazu kurz die entsprechende Passage aus der Geometrischen Optik (1937)186, die im Zusammenhang mit der Variationsrechnung – von den historischen Arbeiten CARATHÉODORYS abgesehen – dessen letzte Veröffentlichung ist und die eine detaillierte historische Einführung aufweist. Für die Variationsrechnung selbst sind insbesondere die ersten zwei Kapitel von Interesse, die restlichen drei Kapitel betreffen spezielle Fragen der Strahlenabbildungen in optischen Systemen. CARATHÉODORY geht vom Fermatschen Prinzip aus und zeigt mittels der Cauchyschen Charakteristikentheorie die Gleichwertigkeit mit dem Huygensschen Prinzip. Letzteres wird anhand von Kugelwellen für die Lichtaus184. Aus der Arbeit Über einige Eigenschaften von Kurvenintegralen und über die Äquivalenz von indefiniten mit definiten Variationsproblemen von W. Damköhler und E. Hopf folgt, daß ebene Variationsprobleme in Parameterdarstellung im wesentlichen o.B.d.A. als positiv definite Probleme betrachtet werden können; Mathematische Annalen, 120 (1947/49), 12–20. 185. Carathéodory hat nur diese eine Vorlesung über Geometrische Optik gehalten, nämlich zweistündig im SS 1934 und gleichzeitig mit einer Vorlesung über Differentialgeometrie. Zuvor hatte er über benachbarte Gebiete wie Differentialgleichungen, partielle Differentialgleichungen und Mechanik vorgetragen. Nach der Geometrischen Optik hat er nur noch einmal über Variationsrechnung gelesen (ein Semester im akademischen Jahr 1935/36). Archiv der Ludwig-Maximillians Universität München, Vorlesungsverzeichnisse 1930–1938. 186. C. Carathéodory, Geometrische Optik, Ergebnisse der Mathematik und ihrer Grenzgebiete, Bd. 4, Berlin, Springer, 1932. Siehe auch den übernächsten Abschnitt 2.4.4.
120
KAPITEL 2
breitung im homogenen isotropen Medium erläutert (§ 6). Die erzeugte Lichterregung breite sich von einer punktförmigen Quelle O kugelförmig aus und befinde sich zur Zeit T auf der Oberfläche κP(T) der Kugel KP(T). Für festes T kann die Oberfläche κP(T) der Kugel KP(T) als Einhüllende jener kugelförmigen Lichtwellen gedeutet werden, die von den Punkten innerhalb der Kugel KP(T) erzeugt worden sind. Fixiert man andererseits einen Punkt P auf κP(T) und läßt T laufen, so erzeugen die Berührungspunkte P ' , P", … der entstehenden Lichtwellen κP( T ' ), κP( T '' ), … mit der Einhüllenden denjenigen Lichtstrahl, der von der Quelle O aus durch P geht. Die Schar der Kugeln kann durch eine Gleichung der Art S(t, x) = T,
x = (x1, x2),
dargestellt werden; die zweiparametrige Schar der Lichtstrahlen durch O ist Lösung der Differentialgleichung (12) x· = ψ ( t, x ) .
Abb. 2.6. Huygenssches Prinzip
Die Zeit, die für die Durchlaufung eines beliebigen Stückes eines Strahls s benötigt wird, ist einerseits gleich der Differenz der Werte von S S( t'' , x( t'' )) – S( t' , x( t' )) =
t ''
∫t ' dS
=
t ''
∫t ' ( St + ψi Sx ) dt i
und andererseits gemäß dem Fermatschen Prinzip auch gleich t ''
∫t' F ( t, x, ψ ) dt. Für alle t' und t'' und für alle zulässigen Lichtstrahlen kann Gleichheit nur stattfinden, wenn (13) F ( t, x, ψ ) – S t – ψ i S xi ≡ 0 , (i = 1, 2),
DER “ KÖNIGSWEG ” IN DIE FELDTHEORIE
121
identisch erfüllt ist (§ 7). Für Linienelemente zulässiger Vergleichskurven ist hingegen (14) F ( t, x, ψ ) – S t – ψ i S xi ≥ 0 , (i = 1, 2). CARATHÉODORY schließt an diese Veranschaulichung verschiedene Verallgemeinerungen an. Die Kugelwellen können durch andere Lichtwellen ersetzt werden, aber darüber hinaus kann man sich auch von der Annahme der Homogenität und Isotropie des Mediums befreien (was schon C. HUYGENS im Traite de la lumière (gedruckt 1690) getan hatte, indem er die Luftrefraktion der Erdatmosphäre und die Doppelbrechung beim Kalkspat untersucht hatte). Für die Verallgemeinerungen benutzte CARATHÉODORY jedoch einen anderen Weg als im Beispiel. Er fragte jetzt in analytischer Art nach dem allgemeinsten System von Funktionen S, ψ, für welches bei gegebener Funktion F die Gleichungen (13) und (14) gelten, und hier spielt die für die Optik wesentliche Einschränkung keine Rolle, daß die zulässigen Vergleichskurven (-funktionen) in einer engeren Nachbarschaft zur Extremalen im Sinne des C1 liegen müssen. Die Lösungen der Differentialgleichung (12) werden den vormaligen Lichtstrahlen entsprechen, und man erhält so alle zulässigen “Strahlen” sowie die “Wellenflächen” in einem allgemeineren Sinn. Da (13) und (14) gleichzeitig für beliebige t, x gelten sollen, muß F in jedem dieser Punkte für x· = ψ ein Minimum haben. Hieraus folgen unmittelbar die Carathéodoryschen Fundamentalgleichungen (15) S x = F x· , St = F – ψi Fx i
(F = F(t, x, ψ), i = 1, 2),187
und damit erhält man auch die Exzeßfunktion
ε(t, x, x· , ψ) = F(t, x, x· ) – F(t, x, ψ) – ( x·
– ψ) F x· (t, x, ψ),
“von der man bei allen in der Optik vorkommenden speziellen Funktionen L [= F] sehr leicht zeigen kann, daß sie nie negativ ist und nur dann verschwindet, wenn die Gleichungen x· i = ψ i gelten” (S. 16). CARATHÉODORY ergänzte in einer Fußnote, daß der Grund hierfür damit zusammenhänge, daß die sogenannten “Strahlenflächen der Optik”, die nichts anderes als die Indikatrix oder die Maßbestimmung des entsprechenden Variationsproblems liefern, konvexe Flächen sind.188 Er resümierte dann, daß “das Problem der geometrischen Optik […] auf das andere zurückgeführt [ist], Funktionen S und ψ1 und
187. Bolza bemerkt in seinen Vorlesungen über Variationsrechnung (Leipzig, 1909), daß sich diese Beziehungen im Prinzip bereits bei Hamilton (1835) finden, 129, 256. 188. C. Carathéodory, Variationsrechnung und partielle Differentialgleichungen erster Ordnung, Leipzig, B.G. Teubner, 1935, §§ 225, 289.
122
KAPITEL 2
ψ2 zu bestimmen, für welche die ‘Fundamentalgleichungen’ […] gelten” (S. 16). Ganz im Sinne unserer obigen Motivation zeigte er, daß zu jedem vorgegebenen Variationsproblem mit einem starken Linienelement (x0, x0') in einer Umgebung von x0 ein äquivalentes Variationsproblem existiert, das in dieser Umgebung positiv bzw. negativ definit ist!189 Ein Linienelement (x0, x0') heißt dabei stark, wenn die Weierstraßsche Exzeß-Funktion (x0, x0', x' ) positiv bzw. negativ ist, sofern die Richtung x' verschieden von der des Linienelements (x0, x0') und verschieden von null ist. “Besitzt ein Variationsproblem, dessen Grundfunktion F ( x i, x· i ) für alle Linienelemente eines Gebietes des Rn definiert ist, ein starkes positives Linien0 0 element x i , x· i , so gibt es Variationsprobleme, die zum gegebenen äquivalent 0 sind, und die in einer Umgebung des Punktes x i positiv definit sind.”190 Kurz gesagt, es gibt zu positiv definiten Variationsproblemen mit starken Extrema stets äquivalente Variationsprobleme, die eine positive Grundfunktion F* haben. Variationsprobleme mit positiver Grundfunktion heißen nach CARATHÉODORY in einem Gebiet des x-Raumes regulär, wenn dort alle Linienelemente positiv regulär sind.191 Und in einem gewissen Sinn zeigte CARATHÉODORY damit eine Umkehrung: Alle Linienelemente eines regulären Variationsproblems sind stark.192 Eine Extremale, die nur starke Linienelemente enthält, liefert ein starkes Extremum (d.h. im Sinn der Norm des C0). Das Umfeld dieser Gedanken könnten für CARATHÉODORY ein Fingerzeig gewesen sein, diesen Sachverhalt über die positiv definite Variationsproblem hinaus zu verallgemeinern (die in der Variationsrechnung noch Thema eines Kapitels sind, des 14. Kapitels). Für ein beliebig gegebenes Variationsproblem kann man natürlich nicht erwarten, daß die eben beschriebenen Umstände vorliegen oder daß die angedeutete Verallgemeinerung ausführbar ist. Aber CARATHÉODORY weist darauf hin, daß man für das Integral
ε
(16) I(x) =
P2
∫P
dS ( t, x ) , (S ∈ C2),
1
die Identität (17) I(x) = S(t2, x2) – S(t1, x1)
(Pi = (ti, xi), i = 1, 2)
ausnützen könnte, um die Struktur des Integranden L* in (4) so zu verändern, daß 189. 190. 191. 192.
aaO., aaO., aaO., aaO.,
§ § § §
288. 288 (Satz 1). 292. 292 (Satz 2).
DER “ KÖNIGSWEG ” IN DIE FELDTHEORIE
123
(18) L* = L – ( S t + S xi x i ) die Grundfunktion eines äquivalenten Variationsproblems mit der gewünschten speziellen Eigenschaft ist.193 Sind zudem die Endpunkte der Vergleichskurven fest vorgegeben, so haben (19) J(x) =
t2
∫t
L dt → Min
1
und (20) J*(x) = J(x) – I(x) → Min dieselbe Lösung. Das folgt sofort aus der Beziehung (21)∆J* = J* – J*0 = J – I – (J0 – I0 ) = ∆J – ∆I = ∆J, da wegen der festen Randwerte (22)S(P1) = S(t1 , x1) = S(t1 , x10) = S0(P1) und S(P2) = S0(P2) ist, womit die totale Variation ∆I verschwindet: (23)∆I = S(P2) – S0(P2) – (S(P1) – S0(P1)) = 0. Der Charakter der Linienelemente bleibt wegen (24) L xi xj = L∗ xi xj erhalten.194 2.4.3 Carathéodorys Darstellung CARATHÉODORYS eigene Darstellung in den Kapiteln 12 und 13 weicht von unserer Skizze ab, denn sie wird in jedem Kapitel durch die Art der betrachteten Extrema bestimmt. Starke und schwache Extrema sind bei CARATHÉODORY nicht allein durch die technische Forderung nach einer engeren und weiteren Nachbarschaft der Kurven charakterisiert (d. h. analytisch gesprochen in der C0 – und C1 – Norm bestimmt), sondern auch mit dem dadurch verbundenen mathematischen Sinn. Starke Extrema, für die – wie bei geometrischen Fragestellungen – alle Richtungen vorkommen können, sind bei CARATHÉODORY nur für solche Probleme zulässig, die in Parameterdarstellung formuliert sind und bei denen somit in der Tat alle Richtungen möglich sind.
193. aaO., § 232. 194. Diese partiellen Ableitungen existieren im Gegensatz zu den anderen, die von über S gemachten Voraussetzungen abhängen.
124
KAPITEL 2
Parameterdarstellungen erlauben es, solche Kurven K : x(t) = (x1(t), …, xn(t)) (etwa geschlossene Extremalen) zu betrachten, bei denen die Abszisse t nicht monoton wachsen muß, wenn man K in positiver Richtung durchläuft, was unverzichtbar für eine funktionale Darstellung der Kurve wäre. Parameterdarstellungen sind daher für “Kurvenprobleme” die geeignete Fassung, während für die “Funktionenprobleme” ein Nachbarschaftsbegriff in der Topologie des Raumes der stetig differenzierbaren Funktionen sachgemäß ist, wie er bei mechanischen Fragen erscheint, in denen sowohl die variierten Orte als auch die variierten Geschwindigkeiten benachbart sein sollen. Wir haben in der Regel die “Funktionenprobleme” betrachtet, da an ihnen die tragende Idee technisch einfacher aufzuweisen ist; wir haben aber der Anschaulichkeit wegen im Sprachgebrauch nicht immer konsequent zwischen Kurve und Funktion, Richtung und Ableitung usw. unterschieden. KARL WEIERSTRAß hat gezeigt, wie man sich durch einen Kunstgriff vom funktionalen Standpunkt befreien kann,195 indem man anstelle der Kurve K im t,x-Raum ihre Projektion in den x-Raum betrachtet und t als einen Parameter ohne geometrische Bedeutung ansieht (siehe hierzu Abschnitt 3.5.2). Um dem allgemeineren Charakter des “Kurvenproblems” gerecht zu werden, sind gegenüber dem “Funktionenproblem” noch einige zusätzliche Anforderungen zu erfüllen. Diese technischen Forderungen, die den Unterschied bei dessen Behandlungen ausmachen, leitete CARATHÉODORY im Kapitel 13 her. Zuvor wurden im 12. Kapitel die schwachen Extrema betrachtet. Nimmt man CARATHÉODORYS Ansicht nicht zur Kenntnis, daß starke Extrema nur für Parameterdarstellungen sinnvoll gestellt werden können, dann läßt sich der gegebene Formalismus ohne weiteres sofort auf das “Funktionenproblem” für starke Extrema übertragen, da nirgends von der engeren Nachbarschaft in substantieller Weise Gebrauch gemacht wird.196 Und in dieser Weise verfahren in der Regel spätere Autoren, die für Funktionenprobleme CARATHÉODORYS Zugang zur Variationsrechnung stillschweigend so beschreiben, obgleich sie diesen im Hinblick auf starke Extrema anzupassen hätten.197 Aus didaktischen Gründen schließen wir uns vorerst diesem Vorgehen an. Nachdem CARATHÉODORY im § 227 ein äquivalentes Variationsproblem definiert und in den §§ 228 – 230 den speziellen Fall mit positiver Grundfunktion L* ≥ 0 behandelt hat, wird von ihm im § 231 beides in Beziehung
195. Mathematische Werke, Bd. 7 (Variationsrechnung), Kap. 8. 196. Die Klassifizierung der irregulären Linienelemente erforderte eine geeignete Variation, die erst einmal der engeren Nachbarschaft der Extremalen zuzurechnen ist (§ 222), die aber auch bei starken Extrema erlaubt ist, so daß die Herleitung nicht eingeschränkt wird. 197. Darunter auch H. Boerner, “Carathéodory’s Eingang zur Variationsrechnung”, Jahresbericht der DMV, 56 (1953), 31–58, 32, oder R. Klötzler, Mehrdimensionale Variationsrechnung, Berlin, 1969, S. 158 f., sowie H.J. Pesch und R. Burlisch, The Maximum Principle, Bellman’s Equation, and Carathéodory’s Work, JOTA, 80 (1994), 199–225.
DER “ KÖNIGSWEG ” IN DIE FELDTHEORIE
125
gebracht. Der Satz 2 (S. 200) faßt zusammen, wobei L*(t, xi, pi) = L(t, xi, pi) – ( S t + S x p j ) gesetzt ist:198 j
“Gelingt es, ein System von stetig differenzierbaren Funktionen ψi (t, xj) (i = 1, …, n) und eine mindestens zweimal stetig differenzierbare Funktion S(t, xi) zu bestimmen, für welche einerseits immer L ( t, xj, ψ j ) – S t – S x ψ i ≡ 0 i
ist und andererseits immer L ( t, xj, x j' ) – S t – S x x i' > 0 i
ist, falls die Größen ⏐ x j' – ψj⏐ hinreichend klein sind und nicht alle verschwinden, so sind die Lösungen der Differentialgleichungen x' = ψ (t, x) (i = 1, …, n) [schwache] Minimalen unseres Variationsproblems”. CARATHÉODORY setzt nun die in Satz 2 gestellte Forderung, daß (1) L∗ ( t, x j, p j ) = L ( t, xj, p j ) – S t – S xi p i ,
(i = 1, …, n),
als Funktion der p in jedem festen Raumpunkt (t, xi ) für (2) pi = ψi (t, xj ),
(i = 1, …, n),
das Minimum 0 besitzen soll, analytisch um:199 (3) L* = 0
bzw.
L ( t, xj, ψ j ) – ψ j S x ( t, x ) = S t . j
Hierfür ist bekanntlich das Verschwinden der partiellen Ableitungen von L* nach p notwendig, also (4) Lp* = 0
bzw.
L x· ( t, x j, ψ j ) = S x , i
i
(i = 1, …, n);
(3) und (4) werden von CARATHÉODORY als Fundamentalgleichungen der Variationsrechnung bezeichnet.200 Diese Carathéodoryschen Fundamentalgleichungen, die Gleichungen (3) und (4), deren etwas “künstliche” Ableitung wir bereits in der geometrischen Theorie der geodätisch Äquidistanten kennengelernt hatten (vgl. Abschnitt 2.3), erscheinen hier aus analytischer Sicht in der gewünschten Durchsichtig-
198. Es gilt das Summationsabkommen (vgl. Fußnote 38). 199. Diese Umsetzung läßt sich auf mehrdimensionale Variationsprobleme übertragen und ist auch bei Nebenbedingungen möglich. 200. Variationsrechnung, Leipzig, B.G. Teubner, 1935, § 232.
126
KAPITEL 2
keit. CARATHÉODORY stellt sie an die Spitze und leitet nun in wenigen Zeilen das Gerüst der Variationsrechnung her: 1) Setzt man die Gleichungen (3), (4) in (1) ein, wobei ψj durch x· j ersetzt wird, erhält man die Exzeßfunktion (5)
ε ( t, xj, xj', x· j ) = L ( t, xj, xj' ) – L ( t, xj, x· j ) – ( xk' – x· k ) Lx· ( t, xj, x· j ) .201 k
2) Die Weierstraßsche Fundamentalformel (6) J(K) =
∫K L ( t, xi, xi' ) dx = s(P2) – s(P1) + ∫K εdt
für eine ganz im Felde verlaufende Vergleichskurve K folgt unmittelbar aus der unter Benutzung der Gleichungen (1) bis (4).202 Ist K keine Definition von Feldkurve, liegt aber in einer engeren Nachbarschaft zu einer solchen, dann gilt J(K) > S(P2) – S(P1); längs Feldkurven K0 folgt J(K0) = S(P2) – S(P1). 3) Die kanonische Theorie wird mittels der Legendre-Transformation
ε
(7) y i = L pi (t, x, p),
(i = 1, …, n),
in den §§ 235–239 entwickelt, wobei die Fundamentalgleichungen in kanonischer Form sich als (8) Sx i = y i , S t = – H ( t, x, y ) ,
(i = 1, …, n),
bzw. als Hamilton-Jacobische Differentialgleichung (9) St = – H ( t, x, S x ) schreiben.203 CARATHÉODORY geht von den Lösungen dieser Differentialgleichung (bzw. der transversalen Schar) aus und ordnet ihnen durch die Lösungen der Differentialgleichungen (10) x· i = H yi ( t, x, Sx ),
(i = 1, …, n),
ein zugehöriges Extremalenfeld zu, das alle regulären Extremalen enthält.204 Ein fundamentales Ergebnis der Carathéodoryschen Untersuchungen ist, daß man die Lösungen von (10) auch als die Projektionen von Lösungen des Systems gewöhnlicher Differentialgleichungen
201. 202. 203. 204.
aaO., aaO., aaO., aaO.,
§ § § §
233. 234. 239. 239.
DER “ KÖNIGSWEG ” IN DIE FELDTHEORIE
(11) x· i = H yi ( t, x, y ),
(i = 1, …, n),
(12) y· i = – H xi ( t, x, y ),
(i = 1, …, n)
127
aus dem t,x,y-Raum in den t,x-Raum erhält, sofern nur die Funktion S(t, x) der Hamilton-Jacobischen Gleichung (9) genügt. Die Gleichungen (11) und (12) sind die Eulerschen Differentialgleichungen in kanonischer Form.205 Deren Lösungen bilden das Extremalenfeld, und gemeinsam mit der zugehörigen transversalen Schar bestimmen sie ein Feld, dessen Verallgemeinerung in der Variationsrechnung mehrfacher Integrale oft als geodätisch bezeichnet wird. Hier gibt ihm die Definition auf Seite 209 keinen Namen, aber auf Seite 249 werden solche Felder im Zusammenhang mit der Transversalität vollständige Figuren genannt. Die Definition und die Eigenschaften von Extremalenfeldern sind Gegenstand des § 242. Geht man bei der Feldkonstruktion von den Gleichungen (11) und (12) bzw. der Eulerschen Gleichung aus, so ist im Gegensatz zu (9) als Ausgangspunkt die Existenz einer zu dem Extremalenfeld transversalen Schar S(t, x) = λ nicht a priori gegeben, sondern ist mittels des Verschwindens der Lagrangeschen Klammern zu gewährleistet. Beginnt man die Feldkonstruktion aber mit einer Lösung S(t, x) ∈ C2 (der transversalen Schar), so zieht das gemäß des Schwarzschen Satzes die Gleichheit der gemischten Ableitungen (13) S xi xj = S xj xi , S txj = S x j t ,
(i, j = 1, …, n)
nach sich, was sich für die Lösungen der kanonischen Differentialgleichungen vermittels der Fundamentalgleichungen (3), (4) auch in der Grundfunktion L ausdrücken läßt, die im Feld (t, x, ψ) betrachtet wird. Die erste Gruppe (13a) im Schwarzschen Satz führt auf n(n - 1)/2 Integrabilitätsbedingungen, auf die wir gleich zu sprechen kommen, und die zweite Gruppe (13b) liefert die n Eulerschen Differentialgleichungen: ∂ L p ( t, x, ϕ ) ∂ L p ( t, x, ϕ ) i k - = -----------------------------, (i, k = 1, …, n; i ≠ k) , (13a), ---------------------------∂ xk ∂ xi d (13b), ----- L p i ( t, x, x' ) – L x i ( t, x, x' ) = 0, dt
(i = 1, …, n).
Geht man andererseits nicht von der Funktion S aus, ist diese also nicht von vornherein gegeben, sondern beginnt man mit den Lösungen xi = ξi(t, u), yi = ηi (t, u), (i = 1, …, n), der kanonischen Differentialgleichungen (11), (12) und will so ein geodätisches Feld konstruieren, dann muß man bei mehreren gesuchten Funktionen (n > 1) aus der 2n-parametrigen Lösungsschar von (11), (12) eine geeignete n-parametrige Schar x = ξ(t, uα), y = η (t, uα), (α = 1, …, n), finden, die sowohl das betrachtete Gebiet des t,x-Raumes einfach überdeckt 205. aaO., § 240.
128
KAPITEL 2
als auch die n Integrabilitätsbedingungen (13a) erfüllt, die mit diesen Argumenten die sogenannten Lagrangeschen Klammern [uα, uβ], (α, β = 1, … n; α ≠ β), bilden.206 Extremalenscharen x = ξ(t, uα), y = η (t, uα) mit identisch verschwindenden Lagrangeschen Klammern [uα, uβ] gewährleisten das Vorhandensein einer zu ihnen transversalen Schar S(t, x) = λ. CARATHÉODORY definiert nach diesen Überlegungen: “Eine n-parametrige stetig differenzierbare Schar von Lösungen ξi(t, uα), ηi(t, uα) der kanonischen Differentialgleichungen, die ein Gebiet des Rn+1 einfach überdeckt, nennt man ein Extremalenfeld, wenn in diesem Gebiet die Feldkurven aus regulären Extremalen bestehen und wenn alle Lagrangeschen Klammern [uα , uβ] identisch verschwinden.”207 Geometrisch gesehen drücken also die Integrabilitätsbedingungen zum einen die Tatsache aus, daß es eine transversale Schar S(t, x) zu den Feldkurven gibt, und sie weisen zum andern die Feldkurven als Extremalen (Lösungen der Eulerschen Gleichungen) aus. Das geodätische Feld, als vollständige Figur gesehen, hat eine charakteristische Eigenschaft, daß nämlich das Grundintegral längs einer Feldkurve E0 berechnet von einer Fläche S1 bis zu einer anderen Fläche S2 stets den gleichen Wert (14)
∫E L ( t, x, x' ) dt= S2 – S1 0
hat. Damit schneiden Transversalen aus den Extremalen Stücke gleicher geodätischer Länge heraus (Kneserscher Transversalensatz). Umgekehrt bildet nun die Gesamtheit der Kurven, die eine geodätisch äquidistante Schar transversal schneiden, ein Extremalenfeld.208 Die Wurzeln dieser Ideen fußen tief in der geometrischen Optik, und sie werden von CARATHÉODORY in diesem Zusammenhang ausführlich in der Geometrischen Optik (1937) behandelt (wobei sie schon in der Dissertation von 1904 angeführt wurden). Schließlich wird gezeigt, daß man jede Lösung der kanonischen Gleichung (lokal) in ein Extremalenfeld einbetten kann (womit CARATHÉODORY folgern kann, daß jede Lösung der Eulerschen Differentialgleichung mit positiv bzw. negativ regulären Linienelementen Minimale bzw. Maximale sein muß und daß alle Extremalen notwendigerweise der Eulerschen Differentialgleichung genügen).209 Eine vollständige Figur ist durch eine Extremalenschar bestimmt, für die die entsprechende Funktionaldeterminante von null verschieden ist (Jacobische Bedingung) und für die die als Lagrangesche Klammern umgeschriebenen Integrabilitätsbedingungen verschwinden. Eine Extremalenschar, für welche 206. 207. 208. 209.
aaO., aaO., aaO., aaO.,
§ 242. § 243 (Definition). §§ 297–300. §§ 244, 245.
DER “ KÖNIGSWEG ” IN DIE FELDTHEORIE
129
die Matrix (∂ξi(t, u)/∂uj , ∂ηi(t, u)/∂uj) den Rang n besitzt und die Lagrangeschen Klammern verschwinden, nennt CARATHÉODORY feldartig.210 Verfolgt man längs einer Extremalen einer solchen Schar die Werte dieser Funktionaldeterminante, so bilden jene Punkte, in denen sie verschwindet, die Ausnahmestellen, in deren Umgebung das feldartige Gebilde nicht als Feld angesehen werden kann. Da die Lagrangeschen Klammer längs einer Extremalen verschwinden, wenn sie es in einem einzigen Punkt tun, so sind solche Extremalenbüschel, die durch einen gemeinsamen Punkt gehen (zentrale Felder, optisch stigmatische Strahlenbüschel) ausgezeichnet, da sie automatisch feldartig sind. Der Nutzen dieses Begriffs wird im Abschnitt 2.4.4 erörtert. Nachdem wir die Grundideen des Kapitels 12 ausreichend diskutiert haben, wollen wir die für parametrische Probleme erforderlichen Ergänzungen kurz nachtragen. Wir beginnen mit CARATHÉODORYS Begründung, Variationsprobleme in Parameterdarstellung gesondert zu behandeln: “Für die Behandlung von geometrischen Variationsproblemen ist die Theorie des letzten Kapitels [Kapitel 12] noch sehr unvollkommen. Die Nachteile unserer bisherigen Problemstellung rühren nicht so sehr von dem Umstande her, daß ausschließlich Vergleichskurven, die in einer engeren Nachbarschaft der zu untersuchenden Extremalen liegen, zugelassen wurden, als von der Tatsache, daß nur solche Kurven betrachtet werden konnten, deren Abszisse t monoton wächst, wenn man die Kurve im positiven Sinne durchläuft.”211 KARL WEIERSTRAß hat, um dieser Einschränkung von vornherein zu entgehen, die Theorie der Variationsprobleme gleich in Parameterdarstellung entwickelt. Erwähnenswerte neue Gesichtspunkte bei der Verwirklichung des Weierstraßschen Konzepts durch CARATHÉODORY sind folgende: a) Die Unabhängigkeit des Problems bzw. der Grundfunktion F(xi, pi) von der gewählten Parameterdarstellung wird durch die positive Homogenität von F in p: (15) F(x, kp) = k F(x, p),
(k > 0).212
gewährleistet. Die positive Homogenität von F hat jedoch eine singuläre Matrix (16) ( F p i p j ),
(i, j = 1, …, n)
zur Folge. Daher sind die Regularitätsbedingungen (Legendre-Bedingung) für 0 0 ein Linienelement ( x i , x· i ) unter der linearen Nebenbedingung
210. aaO., § 317. 211. aaO., § 247. 212. aaO., § 235.
130
KAPITEL 2 0
(17) x i ξ i = 0,
(Summationsabkommen),
zu fordern.213 b) Mit der Exzeßfunktion214
ε ( x, x', x· ) = F ( x, x' ) – x' Fp ( x, x· ) gilt für ε > 0 die Fundamentalformel215 P (19) J(x) = S(P ) – S(P ) + ∫ ε dt > S(P ) – S(P ), P (18)
2
2
1
2
1
1
und Gleichheit findet nur für Feldkurven statt. CARATHÉODORY betont hier nachdrücklich den Unterschied zum Vorhergehenden (dem Funktionenproblem): “Das interessante Resultat, das weit über die Ergebnisse des Kap. 12 hinausgeht und das die Mühe rechtfertigt, die uns das Studium des Ansatzes von Weierstraß gemacht hat, erhält man aber, wenn alle Linienelemente ( x i, x· i = ψ i ) , die in G liegen, nicht nur positiv regulär, sondern auch stark sind. […] In diesem Fall ist das Integral längs einer Extremalen e unseres Feldes, die ganz im Inneren von G liegt, kleiner als das Integral längs einer beliebigen Kurve γ, die die Endpunkte von e verbindet und ganz im Innern von G verläuft. Man sagt dann, daß e eine starke Extremale ist.”216 c) Die Legendre-Transformation (20) yi = F p i ( x, x' ) ,
(i = 1, …, n),
bestimmt zwar die kanonischen Koordinaten yi vollständig (was für die x' nur bis auf einen Zahlenfaktor gelingt), aber die Umkehrung erfordert zusätzliche Überlegungen.217 Da eine Hamiltonfunktion H(x, Fx) = –F + x i' F x wegen der i positiven Homogenität von F verschwände, definiert CARATHÉODORY irgend2 mit den Eigenschaften eine Funktion H( x, y) ∈ C (21) H yn ( x, F x' ) ≠ 0 , (mit einem gewissen n) H ( x, F x' ) ≠ 0
213. aaO., § 251. 214. aaO., § 262. 215. aaO., § 267. 216. aaO., § 268. Positiv reguläre Linienelement (x, x· ) sind stark, wenn die Exzeßfunktion für alle x' positiv ist und nur für solche x' verschwindet, für die x' = k x· mit k > 0 gilt (Inzidenz auf einem Halbstrahl). 217. aaO., § 253.
DER “ KÖNIGSWEG ” IN DIE FELDTHEORIE
131
als Hamiltonfunktion. Die Mehrdeutigkeit, daß es nun zu jedem F unendlich viele H gibt, ist vorteilhaft, weil sie die Auswahl einer einfachen HamiltonFunktion erlaubt.218 Damit kann die kanonische Theorie entwickelt werden. Die kanonischen Differentialgleichungen für die Hamilton-Jacobische Differentialgleichung H(x, Sx) = 0 lauten x· = µ Hy, (µ = µ(x, y) ≠ 0).219
(22) y· = –µ Hx
Die grundlegenden Carathéodoryschen Ideen greifen auch beim Lagrangeproblem, das gegenüber dem eben betrachteten Problemen durch eine weitere Forderung in Form einer differentiellen Nebenbedingung (23) Gα (t, x, x' ) = 0
(α = 1, …, q < n)
charakterisiert ist. Die Menge der Vergleichsfunktionen wird durch die Nebenbedingungen eingeschränkt, was vor allem zu Schwierigkeiten bei den Variierbarkeitsvoraussetzungen führen kann, auf denen der Formalismus des (von den Nebenbedingungen) “befreiten” Problems (im Verständnis der Mechanik) mit der neuen Grundfunktion (24) M = L + µαGα und dem Lagrangeschen Multiplikator µ = µ(t, x) beruht.220 In einem Kapitel über spezielle Variationsprobleme, nämlich bei den quadratischen Problemen, äußerte sich CARATHÉODORY nochmals zu den Beziehungen von Funktionen- und Kurvenproblemen: “Die Theorie der inhomogenen Variationsprobleme [Funktionenprobleme][…] kann in gewissen sehr wichtigen Fällen mit der Weierstraßschen Theorie [der homogenen Variationsprobleme bzw. der Kurvenprobleme] in einen bemerkenswerten Zusammenhang gebracht werden.”221 Dieser Fall tritt ein, wenn die Grundfunktion L des Variationsproblems nicht von der unabhängigen Variablen t selbst abhängt. Das trifft beispielsweise zu für quadratische inhomogene Probleme mit der Grundfunktion (25) L(t, xi, pi ) = aij pi pj + bipi + c,
218. 219. 220. 221.
aaO., aaO., aaO., aaO.,
§ 255. § 264. §§ 453, 454. § 301.
(i, j = 1, …, n),
132
KAPITEL 2
(die Koeffizienten sind Funktionen von t und x, Summationsabkommen für beide Indizes),222 wie sie als Lagrangefunktion für holonome und konservative Probleme in der Mechanik erscheint. Die Lösung der zugehörigen kanonischen Gleichungen (11) und (12) liegen im t,x-Raum. Für Koeffizienten in (25), die nur von x abhängen, bilden die Projektionen dieser Lösungen in den x-Raum eine Kurvenschar, die dort mit den Extremalen eines korrespondierenden homogenen quadratischen Variationsproblems des x-Raumes zusammenfällt. Wenn auch noch bi ≡ 0, (i = 1, …, n), angenommen wird, so hat die Grundfunktion L des homogenen Problems die Form (26) L =
· · ( 2 h – c )a ik x i x k .
Dabei ist h eine Konstante, die in mechanischen Problem die Gesamtenergie angibt. Für positives L läßt sich das zu (26) gehörige Variationsproblem mechanisch als das Maupertuisschen Prinzip in der Jacobischen Form deuten.223 Das Maupertuissche Prinzip selbst bezieht sich auf die zeitabhängige Grundfunktion L. In der Form, die ihm CARL GUSTAV JACOBI gegeben hat, ermittelt man jedoch die Extremalen eines homogenen Variationsproblems, das zeitunabhängig ist, während für das ursprüngliche Prinzip die Variation der Zeit charakteristisch ist.224 Für JACOBI war der Satz von der lebendigen [kine· · tischen] Energie h = a ik x i x k + c = T + U die verbindende Klammer für beide Problemarten, denn er bemerkte 1842, “dass man durch den Satz der lebendigen Kraft die Zeit aus obigem Integral [Wirkungsintegral bzw. Variationsintegral] eliminirt und alles auf Raumelemente reducirt annehmen müsse.”225 Verschwindet schließlich auch noch c, so hat man ein homogenes Variationsproblem vor sich, auf dem letztlich der Habilitationsvortrag Über die Hypothesen, welche der Geometrie zu Grunde liegen (1854) von BERNHARD RIEMANN (1826-1866) beruht. Dabei wird die Metrik des euklidischen Raumes zu der des Riemannschen verallgemeinert, indem das zu (26) gehörige Linienelement (27) ds2 = a ik dx i dx k = g ik dx i dx k zugrunde gelegt wird.
222. aaO., § 304. 223. aaO., § 301. 224. aaO., §§ 307, 308. Durch die “Zeitlosigkeit” erhält das Prinzip offensichtlich eine geometrische Form, die R. Dugac als Geometrisierung des Prinzips und der Mechanik schlechthin bezeichnete (Histoire de la mécanique, Neuchâtel, Griffon, 1955, chap. 6, 7). 225. A. Clebsch (Hrg.), Vorlesungen über Dynamik, 1842/43, Berlin, 1866, 44. So auch später in den Vorlesungen über analytische Mechanik, 1847/48 (Hrg. von H. Pulte, Braunschweig, Vieweg, 1996): “Diese Gleichung [für die lebendige Kraft] kann nun dazu dienen, das Zeitelement in Raumgrößen auszudrücken.”, 160.
DER “ KÖNIGSWEG ” IN DIE FELDTHEORIE
133
CARATHÉODORY schloß 1935 das Vorwort seiner Variationsrechnung, indem er betonte, es sei seine Absicht gewesen, die drei (derzeitigen) Hauptrichtungen in der Variationsrechnung darzustellen: i) den Variationskalkül von LAGRANGE (Tensorrechnung), ii) die mengentheoretische Auffassung (TONELLI), iii) die an Differentialgleichungen, an der Differentialgeometrie sowie an physikalischen Anwendungen interessierte Strömung (EULER, WEIERSTRAß). In den Ratschlägen zur Benutzung der Literatur, die CARATHÉODORY dem Leser seiner Variationsrechnung gab, finden wir schließlich die Einordnung des eigenen Grundgedankens, der zur letztgenannten Richtung gehöre: “Die Schlußweise, die in Kapitel 12 dieses Buches auseinandergesetzt wurde, kann man als Verschmelzung der Hilbertschen Theorie mit gewissen direkten Methoden betrachten, die vor langer Zeit für spezielle Variationsprobleme entwickelt worden waren. Die Anfänge dieser Ideenbildung findet man, wenn man nicht bis auf Johann Bernoulli oder sogar bis auf Huygens zurückgehen will, bei Hamilton und ganz besonders bei Gauß. Zur selben Richtung gehören die Arbeiten Beltramis und die sehr interessante Darstellung, die man am Ende des zweiten Bandes von Darboux nachlesen kann.”226 2.4.4 Die “Geometrische Optik” (1937) Die geometrische Optik ist von Anbeginn an weitgehend durch die praktischen Bedürfnisse des Instrumentenbaus beeinflußt und entwickelt worden. Daher sind 69 der 99 Paragraphen in CARATHÉODORYS Schrift über Geometrische Optik227 solchen Sachverhalten gewidmet, und lediglich die ersten beiden Kapitel behandeln die Lichtausbreitung in Verbindung mit der Variationsrechnung. Wir haben im vorangehenden Abschnitt bereits diejenige Stelle seiner Darlegung diskutiert, die CARATHÉODORY angeregt haben könnte, den “Königsweg” zu beschreiten. An der erörterten Stelle kann man die Theorie von der optisch sachgemäßen Einschränkung einer engeren Nachbarschaft für die Vergleichskurven befreien und auch eine solche im Sinn des C0 zulassen, die in der Variationsrechnung auch benötigt wird. CARATHÉODORY drang über das Huygenssche Prinzip, von speziellen Kugelwellen ausgehend, zur Fassung eines allgemeinen Prinzips vor (S. 16) und legte den Sachverhalt in der in der von ihm geschätzten Hamilton-Jacobischen Theorie dar. Für Lösungen der kanonischen Gleichungen werden nützliche Eigenschaften abgeleitet sowie die Transversalität (S. 24), die optische Äquidistanz (S. 25) und schließlich die Einführung krummliniger Koordinaten 226. Variationsrechnung, 398; die im Zitat gegebenen Literaturverweise sind weggelassen worden. Vgl. die entsprechenden Kapitel dieser Arbeit, die den jeweiligen Autoren gewidmet sind. 227. C. Carathéodory, Geometrische Optik; Ergebnisse der Mathematik und ihrer Grenzgebiete, Bd. 4, Berlin, Springer, 1937. Zur geometrischen Optik hat Carathéodory insgesamt 8 Arbeiten verfaßt.
134
KAPITEL 2
erörtert. Schließlich wird zu gegebenen Anfangswerten der Hamilton-Jacobischen Differentialgleichung St(t, x) + H(t, x. y) = 0 mittels der Charakteristikentheorie die entsprechende Wellenfläche konstruiert. Jetzt spielen neben der Lösung S(t, x) der Hamilton-Jacobische Differentialgleichung auch die Lösungen (1) x= ξ(t, u) , y = η(t, u), der kanonischen Gleichungen eine wichtige Rolle. In der Variationsrechnung werden sie als Extremalen in kanonischer Form bezeichnet, in der Cauchyschen Theorie der partiellen Differentialgleichungen erster Ordnung sind es die Charakteristiken der S-Fläche und in der geometrischen Optik schließlich die Strahlenkongruenzen. In der geometrischen Optik interessieren jedoch nicht beliebige Strahlenkongruenzen, sondern nur solche, die im Sinne der Variationsrechnung ein Mayerfeld bilden, d.h. solche, die eine der Strahlenkongruenz zugeordnete transversale Schar besitzen. Aus der Cauchyschen Theorie folgt, daß dann die sog. Lagrangeschen Klammern228 verschwinden müssen: [uα, uβ] = 0, (α, β = 1, …, n; α ≠ β), und daß umgekehrt deren Verschwinden bei einer schlichten Extremalenschar eine zugehörige transversale Schar garantiert. Das Verschwinden der Klammern in einem Punkt einer Extremalen annuliert diese längs der gesamten Extremalen. Die Parametrisierung der Extremalen in (1) ist an sich beliebig, aber der folgende Sachverhalt ist von geometrischem Interesse. Es sei A ein zweidimensionales Flächenstück, das mit Hilfe der Parameter u1, u2 dargestellt wird und den Rand ∂A habe. Die Extremalen, die durch A gehen, bilden ein “Röhrenfeld”. Werden durch u = u(v) neue Parameter eingeführt, so daß A auf B abgebildet wird, so gilt für jeden Strahl dieses Röhrenfeldes durch Au bzw. Bv ∂ ( u 1, u 2 ) [v1, v2] = ---------------------- [u1, u2]. ∂ ( v 1, v 2 )
Mithin folgt (2)
∫ ∫A [ u1, u2 ] du1 du2 u
=
∫ ∫B [ v1, v2 ] dv1 dv2 v
(S. 30). Mit anderen Worten: Das Doppelintegral (2) über ein Flächenstück A, das von einem Röhrenfeld (Bündel von Strahlen) durchsetzt wird, hängt lediglich von dem Röhrenfeld selbst ab (S. 31), jedoch nicht von der Lage oder Gestalt der Flächenstücke A oder B in ihm, und es stellt damit eine Integralinvarinate dar (Abbildung 2.7). Jede Strahlenmannigfaltigkeit, für die die Lagrangeschen Klammern verschwinden, heißt feldartig (S. 25; siehe hier 228. J.L. Lagrange, “Mémoire sur la théorie générale de la variation des constantes arbitraires dans tous les problèmes de la mécanique” (1808), Oeuvres, Bd. 6, Paris, 1867-1892, 771-805.
DER “ KÖNIGSWEG ” IN DIE FELDTHEORIE
135
Abschnitt 2.4.3 nach (14)). Für solche Scharen verschwindet aber auch die Integralinvariante (2); und umgekehrt weist das Verschwinden der Integralinvariante für alle möglichen Gebiete Au auch das Verschwinden der Lagrangeschen Klammern bzw. die Feldartigkeit der Schar nach (S. 31). Dieser Sachverhalt gilt beim Durchqueren eines beliebigen optischen Instruments, und er umfaßt damit den Satz von Malus über die Erhaltung der Feldartigkeit für Scharen in allgemeiner Form: Sofern für eine feldartige Mannigfaltigkeit ξ = ξ(t, u) die Funktionaldeterminante
Abb. 2.7. Integralinvariante in einem Röhrenfeld (das Flächenstück A bzw. B ist mit F bezeichnet).
∂(ξ , ξ ) ∂ ( u 1, u 2 )
1 2 -≠0 (3) ---------------------
ist, liegt ein Feld vor. Die Integralinvariante (2) läßt sich noch auf eine andere Form bringen, indem die Lagrangeschen Klammern als Divergenz einer gewissen Größe λ dargestellt werden, wobei in bestimmter Weise λ über die differentielle Fassung der Hamilton-Jacobischen Differentialgleichung definiert wird. Es gilt also (4)
∫ ∫A [ u1, u2 ] du1 du2 u
=
∫∂A ( λ1 du1 + λ2 dv2 ) u
(S. 32). Die geschlossene Kurve ∂Au werde in der u-Ebene durch die Gleichungen ui = ui(s) (0 ≤ s ≤ 2π, i = 1, 2) mit periodischen Funktionen u(s) dargestellt. Betrachtet man noch eine weitere Funktion t = t(s), die nicht periodisch sein muß, dann ist im t,x-Raum durch die Lösung der kanonischen Gleichungen xi = ξi (t(s), uj(s)) eine Kurve K definiert, für die sich die Invariante J als (5) J =
∫K ( – H dt + ηi dξi ) – ∫K dω ,
(Summation über i = 1, 2),
schreiben läßt, wobei ω(t, u) eine der Hamilton-Jacobischen Differentialgleichung genügende Funktion ist, sofern in dieser die Charakteristiken eingesetzt
136
KAPITEL 2
wurden. Die Kurve K möge das Röhrenfeld einmal umlaufen, wobei die Endpunkte ∂ K' und ∂ K'' auf derselben Extremalen (Strahl) des Feldes liegen. Ist t = t(s) periodisch bzw. K geschlossen (∂ K' = ∂ K''), so verschwindet in (5) das zweite Integral, und mit POINCARÉ bezeichnet man dann J=
∫K ( – H dt + ηi dξi )
als relative Integralinvariante, da sich die Invarianz lediglich für geschlossene Kurven ergibt.229 Ist andererseits ∂ K' ≠ ∂ K'' und umläuft K das Röhrenfeld in transversaler Weise, d.h. in jedem Punkt von K gilt die Transversalitätsbedingung (in kanonischer Form) - Hdt + ηidξi = 0 ,
dann ist (5) gleich J = – ∫ dω = ω'' – ω' , K
wobeiω' undω'' die Werte in den Endpunkten ∂ K' und ∂ K'' von K bedeuten. Diese Größe J ist damit gleich der optischen bzw. geodätischen Entfernung h, die die beiden Endpunkte ∂ K' und ∂ K'' auf einem Strahl (bzw. einer Extremalen) haben. Die Invarianz wird jetzt durch die willkürliche Wahl des Anfangspunktes von K ausgedrückt (Abb. 2.8). CARATHÉODORY merkte an, daß diese anschauliche Bedeutung von GEORG PRANGE (1885-1941) herrühre, aber dieser hatte sie bereits vor dem von CARATHÉODORY genannten EnzyklopädieArtikel in seiner Dissertation gebraucht.230 Rückblickend gesehen charakterisieren die Lagrangeschen Klammern und die Poincarésche relative Integralinvariante Röhrenfelder. Die erste Größe bleibt bei Strahlenabbildungen längs einander entsprechender Strahlen gleich; die zweite Größe ändert sich beim Umlaufen des Röhrenfeldes im Objekt- und Bildraum einer Strahlenabbildung nicht.231 Während das Verschwinden der Lagrangeschen Klammern immer nur längs einer gesamten Extremalen möglich ist (oder gar nicht), trifft das für die andere Forderung, daß die zum Feld gehörige Funktionaldeterminante nicht verschwinden soll, nicht zu, selbst dann, wenn diese Funktionaldeterminante (3) auf ganzen Bogenstücken im 229. E. Cartan, Leçons sur les invariantes intégraux, Paris, Hermann, 1922. 230. G. Prange, “Die allgemeinen Integrationsmethoden der analytischen Mechanik”, Encyklopädie der mathematischen Wissenschaften, Bd. 4/2, Leipzig, B.G. Teubner, 1904-1935, 507-803. Art. 12 und 13, insbes. 622. Zur Dissertation Die Hamilton-Jacobische Theorie für Doppelintegrale (Göttingen, 1914) siehe Abschnitt 6.6.3. Einen kurzen Überblick über Integralinvarianten gibt E. Whittaker, Analytische Dynamik der Punkte und starren Körper, Berlin, Springer, 1924 (Grundlehren, Bd. 17), Kapitel 10, 279-305. 231. Vgl. auch C. Carathéodorys, “Bemerkungen zu den Strahlenabbildungen der geometrischen Optik”, Mathematische Analen, 114 (1937), 187-193; auch in: Gesammelte mathematische Schriften, Bd. 2, München, Beck, 1955, 207-215.
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Feld von null verschieden ist. Das ist der Grund, weshalb CARATHÉODORY dem Feldkonzept einen allgemeineren Begriff zur Seite stellte, der nur in einem Punkte jeder Extremalen nachgewiesen zu werden braucht: den der feldartigen Schar, das sind solche Extremalenscharen, für welche lediglich die Lagrangeschen Klammern verschwinden.232
Abb. 2.8. Integralinvariante in PRANGES Deutung
Diese beiden Forderungen, das Verschwinden der Lagrangeschen Klammern und das Nichtverschwinden der Funktionaldeterminante (3), lassen im Verbund mit dem Begriff der feldartigen Schar einige Variationen für die Fassung des Feldbegriffs zu wie etwa diese: Eine n-parametrige Kurvenschar xi = ξi(t, u), (i = 1, …, n), ist genau dann ein Extremalenfeld mit transversaler Schar (Mayerfeld), wenn i) in der Umgebung eines Punktes (t0, u0) die Funktionaldeterminante (3) nicht verschwindet, ∂ ( ξ 1, ξ 2 ) ---------------------≠0; ∂ ( u 1, u 2 )
ii) die Funktionen ξi (i = 1, …, n) mit n weiteren Funktion ηi Lösungen der kanonischen Gleichungen x· i = H y ( t, x, y ),
(6)
i
(i = 1, …, n) y· i = – H x ( t, x, y ), i
sind, so daß die Hamilton-Jacobische Differentialgleichung in der differentiellen Form
232. C. Carathéodory, Variationsrechnung und partielle Differentialgleichungen erster Ordnung, Leipzig, B.G. Teubner, 1935, § 317; Geometrische Optik, Berlin, Springer, 1937, § 1; “Extremalfelder, feldartige Extremalscharen und Lagrangesche Klammern”, aus dem Nachlaß herausgegeben, Gesammelte mathematische Schriften, Bd. 1, München, Beck, 1954, 264-269,
138
KAPITEL 2
(7) dS = - H(t, x, y) dt + yi dxi ein vollständiges Differential darstellt.233 Eine Schar von Extremalen, die durch die Lösungen der kanonischen Gleichungen (6) erzeugt wird, soll dann feldartig heißen, wenn dS in (7) ein vollständiges Differential ist.234 Eine notwendige und hinreichende Bedingung für die Feldartigkeit einer Extremalenschar ist das Verschwinden aller Lagrangeschen Klammern.235 Kanonische Transformationen schließlich führen feldartige Scharen (aber nicht zwangsläufig Felder) wieder in solche über; der Wert der Lagrangeschen Klammern bleibt also dabei ungeändert.236 2.5 Dissertationen und Habilitationen Bei CARATHÉODORY sind 20 Mathematiker promoviert worden und drei haben sich bei ihm habilitiert; acht haben über Variationsrechnung gearbeitet (7 Promotionen und eine Habilitation). Die erste Dissertation zur Variationsrechnung ist die von PAUL FINSLER (1894-1970) über Kurven und Flächen in allgemeinen Räumen,237 und sie wurde 1919 in Göttingen verteidigt. Mit der Dissertation Über eine Art singulärer Punkte der einfachen Variationsproblem in der Ebene von ERICH BESSEL-HAGEN, mit der er 1920 an der Berliner Universität promoviert wurde, haben wir uns bereits beschäftigt. Ab 1929 gab es bei CARATHÉODORY Promotionsverfahren an der LudwigMaximillians-Universität in München, und die Verteidigungen zur Variationsrechnung setzten mit WILHELM DAMKÖHLER (1906-?) ein, der Über indefinite Variationsprobleme (1933) promovierte; im gleichen Jahr verteidigte JOSEPHA VON SCHWARZ (1909-1957) ihre Dissertation Das Delaunaysche Problem der Variationsrechnung in kanonischen Koordinaten. Die Arbeit von AHMET NAZIM (1912-1976) Über Finslersche Räume (1936) schloß sich an das erste vergebene Thema zur Variationsrechnung an. In den Kriegsjahren 1942 und 1943 wurden von HANS WEBER (1910-?) die Arbeit Über analytische Variationsprobleme (1942) und von PAUL ARMSEN (1906-?) die Dissertation Über die Strahlenbrechung an einer einfachen Sammellinse (1943) verteidigt. HERMANN BOERNER hat sich mit der Schrift Über die Extremalen und geodätischen Felder in der Variationsrechnung mehrfacher Integrale238 im Jahre 1934 habilitiert, 1935 wurde er Dr. habil., und 1936 erschien die Arbeit in den Mathematischen Annalen. BOERNER hatte zuvor 1931 bei LEON LICHTENSTEIN 233. “Extremalfelder, feldartige Extremalscharen und Lagrangesche Klammern”, aus dem Nachlaß herausgegeben, Gesammelte mathematische Schriften, Bd. 1, München, Beck, 1954, 265. 234. aaO., 266. 235. aaO., 266. 236. aaO., 268. 237. Dissertation, Göttingen 1919; Reprint Basel, Birkhäuser, 1951. 238. Mathematische Annalen, 112 (1936), 187-220.
DER “ KÖNIGSWEG ” IN DIE FELDTHEORIE
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(1878-1933) in Leipzig über Eigenwertprobleme und ihre Anwendung in der Variationsrechnung promoviert.239 BOERNER erhielt 1936 eine Assistentenstelle an der LMU München und vertrat dabei gleichzeitig CARATHÉODORY, der einen Gastaufenthalt in den USA absolvierte. Mit Kriegsbeginn wurde BOERNER zum Reichswetterdienst eingezogen, erhielt aber 1943 noch eine apl. ao. Professur an der LMU. In seiner Münchener Zeit hat er sich mit Variationsrechnung beschäftigt, über die er auch las, nachdem CARATHÉODORY hierüber keine Vorlesungen mehr gehalten hat; später fanden insbesondere gruppentheoretische Fragen sein Interesse. Bekannt ist sein meisterhaft geschriebener Übersichtsartikel Carathéodory’s Eingang zur Variationsrechnung240. Seine Beiträge zur mehrdimensionalen Variationsrechnung werden wir im Kapitel 7 betrachten.
239. “Über einige Eigenwertprobleme und ihre Anwendung in der Variationsrechnung”, Mathematische Zeitschrift, 34 (1931), 293-310, 35 (1932), 161-189. 240. Jahresbericht DMV, 56 (1953), 31-58; in den Selecta Mathematica V, Heidelberger Taschenbüchern (Nr. 201) hat Boerner nochmals einen solchen Übersichtsartikel unter dem Titel Variationsrechnung á la Carathéodory und das Zermelo’sche Navigationsproblem veröffentlicht (Berlin, Springer, 1979, 23-67).
KAPITEL 3
DIE WEIERSTRAßSCHE WENDE: VON DER ZWEITEN VARIATION ZUM FLÄCHENSTREIFEN
Die Variationsrechnung hatte im XVIII. und XIX. Jahrhundert die besten Köpfe beschäftigt, galt aber immer als der schwierigste Teil der Analysis. In Wirklichkeit waren die Schlußweisen, die man damals verwendete, noch mit sehr vielen Lücken behaftet; es blieb Weierstraß vorbehalten, die Variationsrechnung streng abzuleiten und dadurch verständlich zu machen. Die entscheidende Vorlesung, in deren Verlauf Weierstraß die letzten Schwierigkeiten überwunden hat, fand im Jahre 1879 statt. CONSTANTIN CARATHÉODORY und WALTHER zig Jahren deutscher Wissenschaft
VON
DYCK in: Aus fünf-
3.1 Über die mathematischen Auffassungen von Weierstraß und deren Auswirkungen Der Ruf von KARL WEIERSTRAß (1815-1897), wissenschaftlich streng und exakt zu arbeiten, hat seine Wurzeln vornehmlich in den funktionentheoretischen Arbeiten. Allerdings resümierte KURT-R. BIERMANN (1919-2002) in seinem Weierstraß-Artikel für das Dictionary of Scientific Biography: What Weierstraß considered to be his main scientific task is now held to be less important than his accomplishments in the foundation of his theory. The special functions which he investigated, and the theory of which he lucidly elaborated or transformed, now elicit less interest than his criticism, rigor, generally valid concepts […]1 In der Tat, von den zentralen Weierstraßschen Forschungsthemen wurde in Berlin im WS 1918 von FRIEDRICH SCHOTTKY (1851-1935) letztmalig über Abelsche Funktionen und im WS 1931 von GEORG FEIGL (1890-1945) über
1. In der unter dem Titel Biographical Dictionary of Mathematics als Auszug des Dictionary of Scientific Biography (New York, Scribner’s Sons, 1991) erschienenen Ausgabe in Band 4, 2554.
142
KAPITEL 3
elliptische Funktionen gelesen. Wenn die Weierstraßsche Forderung nach fester Grundlegung der Analysis, nach logischer Strenge und kritischer Klärung der Begriffe unter Ausschaltung anschaulicher und intuitiver Elemente dennoch die Zeiten überdauert hat, so bedarf dies einer Erklärung, und dies um so mehr, da WEIERSTRAß hierüber weder eine Arbeit geschrieben noch eine entsprechende Vorlesung dazu gehalten hat. Diese Begründung ist zwar im engeren Sinn nicht unsere Aufgabe, aber da solch ein allgemeiner Sachverhalt auch unser spezielles Thema berührt, sind wir auf ein ähnliches methodische Vorgehen angewiesen, weil WEIERSTRAß zu speziellen Themen der Variationsrechnung ebenfalls nur wenige Arbeiten geschrieben hat, insonderheit nichts zur Feldtheorie. WEIERSTRAß’ Wirkung geht wesentlich auf seine Vorlesungen zurück, denen wir uns daher zuwenden müssen. Eine Besonderheit ergibt sich dabei aus dem Lebenslauf von WEIERSTRAß, da er erst mit 41 Jahren aus seiner isolierten ostpreußischen Stellung als Lehrer herausgekommen war und eine Stellung am Gewerbeinstitut Charlottenburg erhielt sowie erst 1864 im Alter von 49 Jahren Professor an der Berliner Universität wurde. Zunächst wäre jedoch festzuhalten, daß die Vorlesungen von WEIERSTRAß einer ständigen Überarbeitung und Erweiterung unterlagen, daß sie laufend aktualisiert wurden. Die Anfangsphase von WEIERSTRAß, besonders die Tätigkeit im Gewerbeinstitut, zeigt noch nicht jene spätere sprichwörtliche Strenge. Anstelle von Grenzwertbetrachtungen gibt es solche Rechnungen, in denen beispielsweise unendlich kleine Größen durcheinander dividiert werden. Im SS 1861 erschienen in einer Vorlesung erstmals die zur späteren Epsilontik führenden δ und ε. PIERRE DUGAC (1926-1999) hat diese Entwicklung in seinem Artikel Eléments d’analyse de Karl Weierstrass2 dargestellt. Offenbar hat WEIERSTRAß – genau wie RICHARD DEDEKIND (1831-1916) – erst während seiner Vorlesungstätigkeit die Notwendigkeit verspürt, die Grundlagen der Analysis auf festen Boden zu stellen, und von Vorlesung zu Vorlesung hat er dieses sich gestellte Ziel zunehmend verwirklicht.3 DAVID HILBERT (1862-1943) hat gelegentlich das gewichtige Weierstraßsche Erbe launig so kommentiert: “Wir haben durch Weierstrass und dessen kritische Schule Seiltanzen gelernt, nun müssen wir auch wirklich über die Abhänge hinüberkommen auf dem Seile, ohne schwindlich [sic] zu werden.”4 In seine Vorlesungen sind von WEIERSTRAß beständig aktuelle eigene fach-
2. Archive for History of Exact Sciences, 10 (1973), 41-176. 3. “Ich befand mich als Professor […] [1858] zum ersten Mal in der Lage, die Elemente der Differentialrechnung vortragen zu müssen, und fühlte dabei empfindlicher als jemals früher den Mangel einer wirklich wissenschaftlichen Begründung der Arithmetik”. Richard Dedekind, Stetigkeit und Irrationale Zahlen, Braunschweig, Vieweg, 1887; Reprint 1967, 3. 4. Mathematische Notizen. Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung. Cod. Ms. D. Hilbert 600: 3, S. 110.
DIE WEIERSTRAßSCHE WENDE
143
liche und methodische Probleme, oft auch die erst am Vortag hierzu gewonnenen Ergebnisse einbezogen worden (und gelegentlich auch wieder zurückgenommen worden), so daß die Vorlesungen ein work in progress waren, das die Hörer bis an die Grenzen der seinerzeitigen Forschung führte. Mit hierfür typischen Worten: “Weiter ist Weierstrass in seinen Schlüssen hier nicht gekommen (Genaueres siehe in der Ausarbeitung des mathematischen Vereins)”5 beendete GEORG WALLENBERG (1864-1924)6 seine Vorlesungsmitschrift am 2. August 1884. Im folgenden werden wir noch weitere Bemerkungen dieser Art anführen. In dem Miterleben der “Geburt von Ideen”, wie es einer der Hörer, CARL RUNGE (1856-1927), ausdrückte, lag eine der Faszinationen für die Studierenden, die WEIERSTRAß große Hörerzahlen einbrachte (bis zu 250 Hörer); in der beständigen Weiterentwicklung der Vorlesungen lag ein wesentlicher Grund für das fehlende Publizieren, was FELIX KLEIN (1849-1925) verwundert als eine im “Zeitalter Gutenbergs […] prinzipielle Abneigung gegen Druckerschwärze”7 hinnahm, was aber besser durch das Gaußsche “Pauca, sed matura (Weniges, aber Ausgereiftes)” zu erklären ist. Auch GÖSTA MITTAG-LEFFLER (1846-1927), der selbst bei WEIERSTRAß gehört hatte, begründete 1881 zunächst WEIERSTRAß’ Zögern noch falsch: Vous savez peut-être que M. Weierstrass a la plus grande difficulté d’écrire. Le sang lui monte à la tête au même moment où il met la plume sur le papier. Cet état malheureux est une des causes pourquoi il a publié si peu.8 Das Anstreben vollendeter Arbeiten führte dazu, daß deren Publikation immer wieder hinausgeschoben wurde, daß sich zwar neue Ergebnisse einstellten, daß aber eine Publikation noch als verfrüht erschien, usw. Die Folge war, daß mehr oder weniger autorisierte Nachschriften kursierten, die uns heute als Quelle dienen. Obwohl WEIERSTRAß nachweislich unzufrieden mit den kursierenden Nachschriften war und selbst Vorbehalte gegen Darstellungen seiner Vorlesungen in einschlägigen Werken durch Schüler oder Hörer und natürlich erst recht durch irgendeinen anderen Autor hatte, gibt es bei ihm in der Variationsrechnung keine autorisierten Ausarbeitungen, wie sie später von FELIX KLEIN oder DAVID HILBERT für ihre Vorlesungen angestrebt wurden. Autographierte Mitschriften, durch die etwa FELIX KLEIN seine Vorlesungen selbst ver5. Vorlesungsmitschrift Variationsrechnung (SS 1884) von G. Wallenberg. University of Chicago, Regenstein Library, MS 799, Heft V. 6. Studium in Heidelberg und Berlin. Promotion in Halle 1890, 1895 Habilitation TH Berlin, Gymnasiallehrer, dann ab 1910 Dozent an TH Berlin, Redakteur bei den Fortschritten der Mathematik. 7. Vorlesungen über die Entwicklung der Mathematik im 19. Jahrhundert, Bd. 1, Berlin, Springer, 1926, 283. 8. Brief an Charles Hermite vom 22. 2. 1881, zitiert nach P. Dugac, “Eléments d’analyse de Karl Weierstrass”, Archive for History of Exact Sciences, 10 (1973), 41-176, Zitat p. 155. “Sie wissen vielleicht, daß Weierstraß größte Schwierigkeiten hat zu schreiben. Das Blut steigt ihm in den Kopf, sobald er die Feder aufs Papier setzt. Dieser unselige Zustand ist einer der Gründe, weshalb er so wenig publiziert hat”.
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breiten ließ, habe ich in der Variationsrechnung bis auf eine Ausnahme (SS 1882) bei WEIERSTRAß nicht gefunden. Exemplarisch ist der bekannte Fall OTTO BIERMANN (1858-1909), der eine “Weierstraßsche” Funktionentheorie veröffentlicht hatte, ohne eine einschlägige Vorlesung bei WEIERSTRAß gehört zu haben noch von diesem zur Publikation autorisiert zu worden sein. WEIERSTRAß legte den Sachverhalt und seine Verärgerung im Brief vom 12. Juni 1888 an HERMANN AMANDUS SCHWARZ (1843-1921) dar, und wir werden im Abschnitt 3.2 hierauf ausführlicher zurückkommen.9 Am 5. März 1880 suchte CARL WILHELM BORCHARDT (1817-1880), ein sehr enger Freund von WEIERSTRAß, beim preußischen König um eine Gehaltserhöhung für WEIERSTRAß nach, wobei er auf die weltweite Anerkennung WEIERSTRAß’ als bedeutendsten Analytiker der Zeit hinwies und betonte, daß dies um so bedeutsamer sei, da nur der kleinste Teil seiner Entdeckung auf authentische Weise der gelehrten Welt bekannt geworden sei. Im weiteren führte BORCHARDT u.a. folgende Begründungen an, die in unserem Zusammenhang interessant sind: “Aber diese Vorlesungen [durch die er in das Reich seiner Entdeckungen einführt] nehmen einen so bedeutenden Theil seiner Zeit in Anspruch[,] daß er nicht die Muße findet, auch nur den Inhalt dieser Vorlesungen, geschweige denn die höheren von ihm angestellten Untersuchungen in einer ihn selbst befriedigenden Weise zu redigieren und zu veröffentlichen. So ist denn von den Weierstraßschen Entdeckungen der Gelehrtenwelt nur dasjenige bekannt geworden, was entweder er selbst in einzelnen Abhandlungen publiziert hat, deren Gegenstände meist ausserhalb seines eigentlichen Untersuchungsfeldes liegen, oder was Weierstraßsche Schüler, sei es durch Mitteilung ihrer Vorlesungshefte, sei es durch Benutzung seiner Resultate in ihren eignen Abhandlungen weiter verbreitet haben. Ein solcher Zustand ungenügender und nicht authentischer Aufzeichnungen der Weierstraßschen Entdeckungen ist von Jahr zu Jahr mit größeren Gefahren verbunden. Diese Gefahren bestehen für den Entdecker selbst, in dessen geistigen Besitz immer neue Eingriffe versucht werden, sie bestehen für den Fortschritt der Mathematik, da diejenigen, welche nicht Weierstraßsche Schüler sind oder sich Hefte nach seinen Vorlesungen verschafft haben, seine Forschungsmethoden anzuwenden ausser Stande sind.”10 Erst gegen Ende seiner Laufbahn entschloß sich WEIERSTRAß zur Herausgabe seiner Arbeiten, auch angesichts der Tatsache, daß die eigenen Theorien und dargestellten Methoden noch nicht abgeschlossen waren. Allerdings 9. Siehe hierzu etwa K.-R. Biermann, Die Mathematik und ihre Dozenten an der Universität Berlin, Berlin, Akademie-Verlag, 1988, 116. 10. Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Nl. Weierstraß Nr. 43. Kopie im Institut Mittag-Leffler. - Es ging um eine Gehaltsaufbesserung von 7 500 Mark auf 15 000 Mark.
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behinderte nun sein schlechter gesundheitlicher Zustand ein zügiges Vorankommen, so daß WEIERSTRAß schließlich nur das Erscheinen von zwei Bänden seiner Werke erleben konnte. MITTAG-LEFFLER kommt mit dem Zitat aus dem Jahre 1923 der von uns beschriebenen Situation nahe: “Der eigentliche Grund, warum Weierstraß sich so spät entschloß, seine Theorie [der Abelschen Funktionen] druckfertig zu machen, oder – wie es schließlich wurde – druckfertig machen zu lassen, war, daß es ihm erst im hohen Alter gelang, den Schlußstein zu dem harmonisch, in sich abgeschlossenen Gebäude einzufügen, das er auf den Abelschen Funktionen aufführen wollte.”11 Letztlich hat WEIERSTRAß damit seinen pessimistischen Vorbehalt “Alles im Leben kommt doch leider zu spät”, der auf das nur zögernde Vorankommen der eigenen Karriere zurückgeht, hier auch noch selbst bestätigt. Bei der Variationsrechnung war die Situation noch prekärer. Einige Monate nach dem Tode von WEIERSTRAß hatte ADOLPH MAYER (1839-1909) aus Leipzig an ADOLF KNESER (1862-1930) in Dorpat geschrieben: “Es ist aber ein Skandal, daß Schwarz die Weierstraß’schen Vorlesungen noch immer nicht herausgibt.”12 HERMANN AMANDUS SCHWARZ hatte WEIERSTRAß versprochen, die Variationsrechnung außerhalb der Werke zu publizieren, und der Briefwechsel zwischen beiden weist einige sehr interessante Passagen auf, die von uns später erörtert werden (siehe Abschnitt 3.6), aber SCHWARZ übergab 1915 diese Aufgabe unerledigt RUDOLF ROTHE (1873-1942). JOHANNES KNOBLAUCH (1855-1915) war ein Vertrauter des alten WEIERSTRAß und von diesem mit der Herausgabe der mathematischen Werke betraut worden. Durch seinen Tod im Jahre 1915 kam letztlich die Berliner Akademie in den Besitz der Urheberrechte der Werke. Der hier Geschäftsführende MAX PLANCK (1858-1947) gab in den Sitzungsberichten regelmäßig einen Jahresbericht über den Stand der Werkausgabe ab.13 Während es im Jahre 1916 noch optimistisch hieß, es: […] “besteht nunmehr die Hoffnung, daß der ursprüngliche Plan, wonach dem sechsten Band noch zwei Bände folgen sollten, nicht nur im vollen 11. “Die ersten 40 Jahre des Lebens von Weierstraß”, Acta mathematica, 39 (1923), 1-57, Zitat S. 53. 12. Brief vom 21. 9. 1898, Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung, Nachlaß M. Kneser C4: 1. Mayer war wie alle Fachkollegen an einem modernen und strengen Lehrbuch der Variationsrechnung sehr interessiert. Im Frühjahr des gleichen Jahres hatte er an H. Weber in Straßburg geschrieben, um über diesen eine Bearbeitung des Diengerschen Buches von 1867 zu bewirken, was vermutlich zum Kneserschen Buch führte (vgl. Abschnitt 4.6.3.2). Weiter hatte er mit der Herausgabe einer erweiterten deutschen Ausgabe des Bolzaschen Werkes 1909 Erfolg, den er aber nicht mehr erlebte. 13. Planck war kein Freund historischer Ausgaben, was K.-R. Biermann am Beispiel der EulerEdition aufgezeigt hat, wo Planck eine Berliner Euler-Ausgabe zu Fall brachte (“Aus der Vorgeschichte der Euler-Werkausgabe”, Leonhard Euler, 1707-1783. Beiträge zu Leben und Werk, Basel, Birkhäuser, 1983, 489-500, insbes. S. 497).
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Umfange verwirklicht werden kann, sondern auch die Hinzufügung eines weiteren, die Vorlesungen über Variationsrechnung enthaltenden Bandes eine Erweiterung finden wird,”14 wirft im folgenden Jahr der erste Weltkrieg seine Schatten auf das Vorhaben: “Für den folgenden Band Variationsrechnung [Bd. 7] sind unter Leitung des neu gewonnen Herausgebers, Herrn Prof. Dr. Rothe, Vorarbeiten begonnen; doch konnte dieser mit Rücksicht auf die gegebenen Zeitverhältnisse nur wenig gefördert werden.”15 Die folgenden zwei Jahresberichte für 1918 und 1919 verzeichnen stereotyp, daß die Edition “nicht in nennenswerter Weise gefördert werden” konnte bzw. daß die “Ungunst der Zeitverhältnisse […] eine nennenswerte Förderung” verhindert habe.16 1920 findet das Vorhaben überhaupt keine Erwähnung. Kurz nach dem Tode von WEIERSTRAß hatte FELIX KLEIN, als er der Frage nachging, ob bei einem Variationsproblem tatsächlich ein Extremum angenommen wird, betont, daß WEIERSTRAß wesentlich über den Standpunkt von CARL GUSTAV JACOBI (1804-1851) hinaus gelangt sei, und er fuhr so fort: “Es ist dies eine derjenigen Weierstrass’schen Leistungen, welche immer noch erst durch Vermittlung der Vorlesungshefte bekannt sind, sofern man nicht auf gelegentliche Erörterungen in den Schriften Weierstrass’scher Schüler recurriren will; hoffentlich läßt eine zusammenfassende Darstellung dieser Theorie nicht mehr zu lange auf sich warten.”17 Durch den Krieg und dessen Folgen brachte ROTHE die Vorlesungen zur Variationsrechnung schließlich im Jahre 1927 in den Werken18 als Band 7 heraus, 30 Jahre nach dem Tode von WEIERSTRAß – viel zu spät, um noch Einfluß auf die Entwicklung der Variationsrechnung nehmen zu können, wie CONSTANTIN CARATHÉODORY (1873-1950) bedauernd in einer Rezension bemerken mußte.19 Aber die Rothesche Edition ist auch vom historischen Standpunkt aus sehr unbefriedigend, da der Herausgeber problemorientiert mehrere Mitschriften aus verschiedenen Jahren (1875, 1879, 1882) mischte,
14. Sitzungsberichte der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Jahresbericht, 1916, S. 130f., Zitat S. 131. 15. aaO., 1917, 67. Rothe hatte bereits den Bd. 6 der Werkausgabe bearbeitet. 16. aaO., 1918, 46; 1919, 59. 17. E.J. Routh, Die Dynamik der Systeme starrer Körper, Bd. 2, Übersetzung aus dem Englischen von Adolf Schepp mit Anmerkungen von Felix Klein, Leipzig, B.G. Teubner, 1898, 534. 18. G. Hettner, J. Knoblauch und R. Rothe (Hrg.), Mathematische Werke, 7 Bde., Berlin, Mayer & Müller, 1894-1927. 19. Deutsche Literaturzeitung 1928, Heft 1; auch in Gesammelte mathematische Schriften, Bd. 5, München, Beck, 1957, 343-344. “Die Publikation des siebenten Bandes von Weierstraß kommt also zu spät, um einen erkennbaren Einfluß auf den Fortschritt der Wissenschaft noch zu veranlassen” (S. 343). Carathéodory hatte am Beginn seiner Laufbahn an der Herausgabe mitgearbeitet, allerdings ohne von das von Schwarz hinausgezögerte Erscheinen ändern zu können (siehe Brief an Schwarz vom 25. 1. 1905, Nl. Schwarz 836 im Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie).
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ohne dabei die unterschiedlichen Zeitebenen im Text deutlich zu machen (Vorwort, S. V-VI). In dem Bericht20 über die Herausgabe der Variationsrechnung von KARL WEIERSTRAß durch den Herausgeber RUDOLF ROTHE wird der Weierstraßsche Durchbruch bei den hinreichenden Bedingungen in der Variationsrechnung, a turning-point (OSKAR BOLZA), falsch auf das SS 1875 anstelle des SS 1879 datiert; zwar gibt es dort ein Kriterium über schwache Extrema, aber weder das Extremalenfeld noch die Exzeßfunktion erscheinen hier. Bereits dieser Sachverhalt zeigt, daß die Nachschriften der Vorlesungen selbst eine wichtige und unverzichtbare Quelle bleiben. Die Weierstraßschen Vorlesungen sind nicht nur wegen ihres aktuellen Wissenstandes für die Studenten anziehend gewesen, sondern sie waren auch so aufeinander abgestimmt, daß in einem zweijährigen Kurs die Funktionentheorie autonom entwickelt wurde (und diese Koordination bezog auch die von EDUARD KUMMER (1810-1893) angebotenen Vorlesungen ein): analytische Funktionen, elliptische Funktionen, Anwendungen der elliptischen Funktionen, Abelsche Funktionen. WEIERSTRAß baute hier seine (komplexe) Analysis lükkenlos auf, ohne dabei auf etwas zurückzugreifen, was er nicht selbst entwikkelt hatte. Wir finden daher kaum präzise Zitate oder Quellenangaben. Die pädagogische Meisterschaft von WEIERSTRAß durchzieht die Vorlesungen: das Ziel eines Beweises wird stets herausgestellt, die Beweisabsicht und -notwendigkeit erläutert, und der Hörer weiß zu jeder Zeit, wo genau er sich im Beweisgang befindet. In einer anscheinend wörtlichen Mitschrift von MITTAGLEFFLER heißt es z.B.: “Will in [der] nächste[n] Stunde [einen] strenge[n] Beweis geben.”21 Vermutlich hat auch der Sachverhalt, daß WEIERSTRAß aus gesundheitlichen Gründen im Sitzen las und die Formeln anschreiben ließ, die gerade beschriebene klare Gliederung gefördert, um die theoretische Darlegung durch das technisch ablenkende Anschreiben nicht zu sehr zu stören. Oft zieht WEIERSTRAß historische Betrachtungen motivierend heran, ehe er zum strengen Beweis übergeht. Allerdings sind solche methodisch interessanten Abschnitte – wie beispielsweise der zu Funktionsauffassung von JOHANN BERNOULLI (1667-1748) – sehr kritisch zu lesen.22 Neben diesem Grundzyklus, der mit dem Beginn von WEIERSTRAß’ Lehrtätigkeit 1864 an der Berliner Universität einsetzte und der bis zur (inoffiziellen) Emeritierung 1890 zehnmal gelesen wurde, trug WEIERSTRAß auch über synthetische Geometrie sowie Variationsrechnung vor (jeweils vierstündig). Diese
20. “Bericht über die Herausgabe des siebenten Bandes der Mathematischen Werke von Karl Weierstraß”, Jahresbericht der DMV, 37 (1928), 199-208, Zitate 201. 21. Mitschrift Variationsrechnung von Mittag-Leffler. Institut Mittag-Leffler, Bogen 7, Seite 13. 22. Ausgewählte Kapitel aus der Functionenlehre, Vorlesungsmitschrift o.J., Mittag-LefflerInstitut, Djursholm. Siehe auch R. Thiele, “Frühe Variationsrechnung und Funktionsbegriff”, in R. Thiele (Hrg.), Mathesis, Berlin, GNT-Verlag, 200, 128- 181, insbes. 165-167.
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beiden Vorlesungen wurden an der Berliner Universität je 7mal sowie je 11mal angeboten (davon sind allerdings die letzten zwei Vorlesungen zur Variationsrechnung im WS 1887 bzw. 1889 nur angekündigt gewesen). Während WEIERSTRAß die Geometrievorlesung letztmalig 1873 gehalten hat, wurden die Vorlesungen über Variationsrechnung von 1865 bis 1890 regelmäßig alle zwei bis drei Jahre durchgeführt. Es ist interessant, daß das Auslaufen der Geometrievorlesungen (1873) ab 1875 eine Vertiefung der Vorlesungen über Variationsrechnung zu Folge hatte. Ist das Interesse an der Variationsrechnung auf Kosten der geometrischen Neigungen anstiegen, oder haben andererseits geometrische Sichtweisen in der Variationsrechnung Fuß gefaßt, und haben sie damit das Interesse von WEIERSTRAß an der “Steinerschen” Geometrie vermindert? Wir werden bald sehen, daß die Weierstraßsche Auffassung der Variationsrechnung deutliche geometrische Züge aufweist, so daß also eher der letztere Sachverhalt zutreffend ist. Auf der Mathematiker-Tagung in Berlin 1953 hat ERNST HÖLDER (1901-1990) in einem Vortrag bemerkt: “Schon der Name des Weierstraßschen Extremalenfeldes deutet auf die differentialgeometrische Natur der Begriffsbildung, und man hat Grund zur Annahme – auch mein Vater [Otto Hölder] hat es immer wieder erzählen hören –, daß Weierstraß, der Algebraiker und Funktionentheoretiker der Potenzreihen, in seinem Seminar in früheren Jahren viel mehr solche geometrischen Dinge – wie etwa Minimalflächen – behandelt hat, deren Untersuchung dann sein Schüler H.A. Schwarz fortgesetzt hat.”23 Bereits die Häufigkeit dieser beiden Vorlesungen ist aufschlußreich (der viersemestrige Analysiskurs wurde insgesamt zehnmal gelesen), da sie eine bemerkenswerte “geometrische” Betätigung des “reinen Analytikers” in anderen Disziplinen zeigt. Während jedoch die Geometrievorlesungen letztlich eingestellt wurden, war die Variationsrechnung, obwohl zur reellen und nicht zur komplexen Analysis gehörig, über alle Jahre ein fester Bestandteil des Weierstraßschen Vorlesungszyklus, d.h. sie wurde regelmäßig gelesen, und die letzte, wenn auch nur noch für 1890 angekündigte Vorlesung von WEIERSTRAß sollte schließlich die Variationsrechnung betreffen. Die WS dauerten von Ende Oktober bis Ende Februar und die SS von Ende April bis Ende Juli, so daß sich eine unterschiedliche Anzahl der Vorlesungswochen von 16 bzw. 12 ergibt. Die Beziehungen von WEIERSTRAß zur Geometrie sind enger als das gemeinhin erwähnt wird. Zwar hat HILBERT in seinem Weierstraß-Nekrolog den Gelehrten als Analytiker gewürdigt, ohne länger auf die Variationsrechnung einzugehen, aber in seinen Notizen finden sich neben Aussagen wie “Weierstrass ist der Euklid der Analysis”24 auch Bemerkungen, die WEIER23. “Das Eigenwertkriterium der Variationsrechnung zweifacher Extremalintegrale”, Bericht über die Mathematikertagung in Berlin 1953, Berlin, Deutscher Verlag der Wissenschaft, 1953, 291-302, Zitat S. 292. 24. Mathematische Notizen, Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung, Cod. Ms. D. Hilbert 600: 2, S. 75.
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STRAß
in der Variationsrechnung als Geometer sehen: “Zwischen dem Geometer Jakobi [sic], der die Theorie der kürzesten Linien schuf, und dem Geometer Weierstrass, dessen Variationsrechnung eine wahrhaft geometrische ist, steht [stehen] der Analytiker Clebsch und der Analytiker Hesse[,] denen es nur auf formal elegante Formeln und Rechnereien ankommt. In der Variationsrechnung haben sich Jakobi [sic] vorher und Weierstrass nachher recht eigentlich als wahre Geometer bewährt und gewaltige bahnbrechende Leistungen echt geometrischer Natur [geschaffen].”25 Bereits in seiner Schulzeit hatte WEIERSTRAß das Crellesche Journal studiert, und Arbeiten des Geometers JACOB STEINER (1796-1863) hatten dabei sein Interesse geweckt. Zu erwähnen wäre auch, daß WEIERSTRAß als Student in Bonn bei dem Geometer JULIUS PLÜCKER (1801-1868) Vorlesungen gehört hatte. Als der Gymnasiallehrer WEIERSTRAß 1844 an einem Turnkurs in Berlin teilnahm, nutzte er die Gelegenheit, um bei JAKOB STEINER und nicht bei MARTIN OHM (1792-1872) vorzusprechen, worauf STEINER ihm daraufhin in seiner bekannten Unverblümtheit bescheinigt haben soll, daß er “Grütze im Kopf” habe. WEIERSTRAß hatte mit dem “Original” STEINER zeitlebens gute Beziehungen, auch dann noch, als dieser sich mit allen Berliner Kollegen überworfen hatte. Bei der bekannten Geringschätzung STEINERS für die Analysis ist das sehr bemerkenswert. In dem Jahr, in dem WEIERSTRAß letztmalig über Geometrie las, äußerte er sich am 25. April 1873 in einem Brief an SONJA KOWALEWSKAJA (1850-1891) so: “Am […] Donnerstag beginne ich meine Vorlesung, die eine über synthetische Geometrie, die ich übernommen habe, weil an der Universität, wo Steiner gewirkt hat, diese Disziplin doch nicht ganz vernachlässigt werden durfte und kein Anderer dazu sich fand, [das] hat nur noch wenig Interesse für mich […]”26 Der Weierstraß-Schüler EMIL LAMPE (1840-1908) ergänzte diese Aussage noch: “Nach Steiners Tod übernahm Weierstraß, einem Versprechen gemäß, das er diesem Altmeister der Geometrie gegeben hatte, die Vorlesungen über synthetische Geometrie. […] Später trat er diese Vorlesungen an die neu berufenen außerordentlichen Professoren ab. Nun erst regelte sich der Kreislauf seiner regelmäßig abwechselnden Vorlesungen.”27 Da aber WEIERSTRAß nach dem Wegfall der Geometrievorlesungen noch STEINERS Werke (1881/82) herausgegeben hat, war sein Interesse an der Geometrie offenbar nicht gänzlich erloschen. Der KOWALEWSKAJA hatte er 25. aaO., 600: 3, S. 137. 26. R. Bölling (Hrg.), Briefwechsel zwischen Karl Weierstraß und Sofja Kowalewskaja, Berlin, Akademie-Verlag, 1993, 87. 27. E. Lampe, “Zur hundertsten Wiederkehr des Geburtstages von Karl Weierstraß”, Jahresbericht der DMV, 24 (1915), 416-438, Zitat S. 433.
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KAPITEL 3
geschrieben, daß die Herausgabe der Steinerschen Werke ihm viel Mühe gemacht hätte sowie daß die ihm durch den Tod von CARL BORCHARDT zugefallene Werkausgabe von JACOBI weniger Arbeit mache und zudem interessanter sei.28 Schließlich sei noch an die Bemühungen von WEIERSTRAß beim sogenannten Steiner-Preis erinnert.29 STEINER hatte der Berliner Akademie einen Betrag von 8 000 Taler mit der Auflage vermacht, zweijährlich Preisaufgaben mit Themen aus der synthetischen Geometrie zu stellen, und WEIERSTRAß unterzog sich der Aufgabe, sowohl die Preisaufgaben zu stellen als auch die eingehenden Arbeiten zu beurteilen. Andererseits hat WEIERSTRAß 1870 den grandiosen geometrischen Vortrag von FELIX KLEIN in seinem Berliner Seminar verworfen, in dem KLEIN nichteuklidische Geometrie und Cayleysche Maßbestimmung in Zusammenhang gebracht hatte. Hier ist jene “Einseitigkeit” von WEIERSTRAß spürbar, die später der Klein-Schüler FERDINAND VON LINDEMANN (1852-1939) in seinem Nekrolog betonte: “In diesem strengen Festhalten am einheitlichen Aufbau, im Vermeiden jedes seitlichen Ausblicks auf verwandte Gebiete, in dem fast ängstlichen Verweilen auf dem schmalen, einmal vorher abgesteckten Pfade liegt die Größe des Weierstraßschen Systems, vor allem bei Untersuchungen principieller Natur; darin liegt aber auch die Schwäche seines Systems in der Wirkung auf seine Schüler.”30 Bei HENRI POINCARÉ (1854-1912) finden wir eine ähnliche Einschätzung, als dieser KARL WEIERSTRAß mit BERNHARD RIEMANN (1826-1866) verglich und in dem ersteren den typisch logischen und im letzteren den typisch intuitiven Mathematiker sah. Dabei zog POINCARÉ zur Begründung auch die Tatsache heran, daß man bei WEIERSTRAß keine Abbildungen finde. Dem widersprach jedoch JACQUES HADAMARD (1865-1963) nachdrücklich: It is true that almost no memoir of Weierstrass implied any figure: there is only one exception; but there is one, and this exception occurs in one of his most masterly and clear cut works, one giving the most complete impression of perfection: I mean his fundamental method in the calculus of variations. Weierstrass draws a simple diagram8a [=31] and, after that initial step is taken, everything goes on in the profoundly logical way which is undoubtedly his characteristic, so that, by merely looking at that diagram, anyone sufficiently 28. Briefe vom Oktober 1880 bzw. 11. 4. 1882, in R. Bölling (Hrg.), Briefwechsel zwischen Karl Weierstraß und Sofja Kowalewskaja, Berlin, Akademie-Verlag, 1993. 29. K.-R. Biermann, “Kontroversen um den Steiner-Preis und ihre Folgen”, Historia Scientiarum, 29 (1985), 117-124. 30. Sitzungsberichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, 27 (1897), 402-409. 31. Fußnote Hadamard: Whether Weierstrass himself actually drew the diagram (or simply described it in words) cannot be said because he did not develop his method elsewhere than in his oral lectures. That method remained unknown for years, except to his former students. - Wir werden unten Runge zitieren, der fälschlich behauptete, Weierstraß hätte keine Figuren in der Vorlesung benutzt. Der Vergleich verschiedener Mitschriften einer Vorlesung, insbesondere bei mitstenographierten Notizen, widerlegt jedoch diese Ansicht. In der Mitschrift von Mascardi zur Vorlesung Variationsrechnung gibt es beispielsweise 39 Abbildungen.
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acquainted with mathematical methods could have rebuilt the whole argument. But of course there was an initial intuition, that of constructing the diagram. This was the more difficult and the more evidently an act of genius because it meant breaking from the general methods which had continued to become more and more successful after the invention of infinitesimal calculus. […] Weierstrass showed that abandoning these methods and operating directly was the right way for that.32 Der Vorwurf von LEOPOLD KRONECKER (1823-1891), die Analysis dürfe sich nicht durch die Geometrie leiten lassen, sondern müsse auf Arithmetik gegründet werden und die Unrichtigkeit ihrer Schlüsse revidieren,33 verletzte WEIERSTRAß tief und war einer der Gründe der Entfremdung zwischen beiden Mathematikern. Es bedarf zwar keiner Erörterung, daß die Weierstraßsche Analysis nicht von der Geometrie geleitet wurde, aber es trifft auch nicht zu, was CARL RUNGE hierüber schrieb, daß nämlich KARL WEIERSTRAß “insgeheim sich wohl eine Sache an einer Figur klarmachte; aber gerade wie bei Gauß mußten die Spuren solcher anschaulichen Hilfsmittel sorgfältig verwischt werden”34. In der Vorlesung Variationsrechnung, die RUNGE 1879 besucht und mitgeschrieben hat, worauf wir noch zu sprechen kommen, mangelt es an Figuren wahrlich nicht! JACQUES HADAMARD hat – vermutlich ohne über das Gedruckte hinaus genauere Einblicke in WEIERSTRAß’ Schaffen zu haben – die geometrischen Wurzeln klarer erkannt und freigelegt. In den ersten Vorlesungen von WEIERSTRAß, wie etwa in der Schwarzschen Mitschrift der Differentialrechnung von 1861 oder in den Vorlesungen über Variationsrechnung von 1865 und 1867, kommt der geometrischen Veranschaulichung eine tragende Rolle zu. 1884 finden wir die Feststellung: “Was die Delaunaysche Aufgabe angeht, so habe ich bei der Herleitung der Gleichungen […] absichtlich alle geometrischen Betrachtungen vermieden, um ein Beispiel für die Anwendung der allgemeinen Regeln der Variationsrechnung in dem Fall zu haben, wo die zweiten Ableitungen der zu bestimmenden Funktionen in dem zu vermeidenden Integrale oder in den Bedingungsgleichungen
32. J. Hadamard, The psychology of invention in the mathematical field, New York, Dover, 1949 (enlarged ed.), 111-112. 33. Brief von Kronecker an Schwarz 1885, zitiert nach Biermann, Dozenten, S. 138. Obwohl Hilbert zunächst von Kroneckers Mathematik beeindruckt war, können seine Grundlagen der Geometrie in gewisser Weise als ein Gegenentwurf zu Kroneckers arithmetischer Sicht angesehen werden, da Hilbert schließlich Kroneckers dogmatische Haltung nicht teilen mochte. Allerdings war Hilbert auch klar, daß eine logische Begründung der Analysis nicht die kompliziertere Geometrie voraussetzen sollte, so daß es schließlich mit dem Hilbertschen Finitismus wieder zu einer Annäherung an Kronecker kam. Vgl. hierzu R. Thiele, “Hilbert’s 24th Problem”, American Mathematical Monthly, 110 (2003), 1-24. 34. “Persönliche Erinnerungen an Karl Weierstraß”, Jahresbericht der DMV, 36 (1926), 175179, Zitat S. 178. Einstein formulierte so: “Wenn wir an etwas arbeiten, dann steigen wir vom hohen Roß herunter und schnüffeln am Boden mit der Nase herum,. Danach verwischen wir unsere Spuren wieder”. (C. Seelig (Hrg.), Helle Zeit - dunkle Zeit. In memoriam Albert Einstein, Zürich, 1956, 72).
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KAPITEL 3
vorkommen.”35 Indem WEIERSTRAß in der Variationsrechnung von Anfang an konsequent Probleme nur in Parameterdarstellung behandelte, also extremale Elemente in Mengen von Kurven und nicht von Funktionen bestimmte, arbeitete er letztlich vor einem geometrischen Hintergrund. Daher sind in den Mitschriften zahlreiche Abbildungen zu finden.36 Das Bemühen von WEIERSTRAß, die Analysis auf eine feste bzw. in seinem eigenem Verständnis auf eine algebraische Grundlage zu stellen, beschreibt PETER ULLRICH (geb. 1957) so: “Sein Ziel war es, die Theorie der Funktionen einer oder mehrerer komplexer Veränderlichen, insbesondere die Theorie der elliptischen und Abelschen Funktionen, aufzubauen auf den vier Grundrechnungsarten und einem passenden Limesbegriff, nämlich dem der (lokal) gleichmäßigen Konvergenz.”37 Das konstruktive Konzept der Potenzreihen und das Rechnen mit ihnen, d.h. die endliche sowie unendliche Anwendung arithmetischer Operationen, erschien WEIERSTRAß einsichtiger als der Ausgangspunkt komplex differenzierbarer Funktionen bzw. konformer Abbildungen bei BERNHARD RIEMANN. Während bei der Weierstraßschen Grundlegung der Funktionentheorie die analytische Fortsetzung von Potenzreihen (Funktionenelementen) die analytische Funktion und weitergehend das analytische Gebilde erzeugt, führen die entsprechenden Riemannschen Überlegungen auf die Riemannschen Flächen. Letztere sind Ausgangspunkt der Topologie und einer allgemeinen Lehre von Mannigfaltigkeiten, also Thema der Differentialgeometrie. ULLRICHS gerade zitierter Artikel Karl Weierstraß als (Differential) Geometer zeigt, daß trotz des formalen arithmetisch-geometrischen Aufbaus der Weierstraßschen Funktionentheorie differentialgeometrische Untersuchungen nicht fehlen, insbesondere sind WEIERSTRAß’ Arbeiten über Minimalflächen zu nennen, die überdies auch enge Bezüge zur Variationsrechnung aufweisen. Zurück zur Weierstraßschen Analysis. Beachtenswert ist, daß WEIERSTRAß auch beim analytischen Arbeiten in natürlicher Weise beständig mit Parameterdarstellungen zu tun hatte, die dann unter geometrischen Gesichtspunkten auch in der Variationsrechnung erscheinen. Wir erwähnen hierzu, daß man mit der Weierstraßschen Auffassung zum analytischen Gebilde gelangt, das im allgemeinen durch eine mehrdeutige Relation F(z, w) = 0 erklärt ist. Die später als Problem der Uniformisierung bezeichnete Frage befaßt sich mit der Möglichkeit, global eine eindeutige (komplexe) Parameterdarstellung z = z(t) und
35. Briefwechsel Weierstraß-Schwarz, Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie, Nl. Schwarz 1254, Brief von Weierstraß vom 4. 11. 1884. 36. Die bereits genannte Nachschrift von Mascardi 1882 mit 39 Abbildungen, natürlich auch in der frühen Mitschrift von Kiepert 1867, aber auch später, selbst im Bd. 7 der Werke. Vgl. Fußnote 31. 37. “Karl Weierstraß als (Differential) Geometer”, in R. Thiele (Hrg.): Mathesis, Berlin, GNTVerlag, 2000, 216-249, Zitat S. 216.
DIE WEIERSTRAßSCHE WENDE
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w = w(t) des analytischen Gebildes anzugeben.38 Gegenüber entsprechenden Riemannschen Auffassungen äußerte WEIERSTRAß in einem Brief an SCHWARZ (14. März 1885), daß er sich durch das monogene Gebilde seine Vorstellung viel anschaulicher als durch die Riemannsche Fläche mache, obwohl es auch ohne solch ein Hilfsmittel gehe. Diese Haltung hat er nicht nur brieflich, sondern auch öffentlich in Vorlesungen eingenommen: “Es ist dies eine Anschauungsweise, die in vielen Fällen sehr brauchbar ist, aber keineswegs zur Begründung der Funktionentheorie notwendig. […] Hier [Gebilde höherer Stufe] reicht schon die geometrische Vorstellungskraft nicht mehr aus. […] Aber man sieht, daß die analytische Darstellung vollkommen ausreicht.”39 Den letzten Satz wiederholte wenige Jahre später der Geometer40 KLEIN in seinem bekanntem Vortrag Über die Arithmetisierung der Mathematik (Göttingen 1895) so: “Daher die Forderung ausschließlich arithmetischer Beweisführung. Als Besitzstand der Wissenschaft soll nur angesehen werden, was durch Anwendung der gewöhnlichen Rechnungsoperationen als identisch richtig klar erwiesen werden kann.”41 In einer am 25. Juni 1866 gelesenen Abhandlung für die Berliner Akademie stellte WEIERSTRAß einen interessanten Zusammenhang sowohl zwischen Geometrie und Analysis als auch zwischen Geometrie und Variationsrechnung her: “Ich habe mich mit der Theorie dieser Flächen, der sogenannten Minimalflächen eingehender beschäftigt, weil sie[,] wie ich zeigen werde, auf das innigste mit der Theorie der analytischen Functionen eines complexen Arguments zusammenhängt, so dass jede solche Function eine Fläche der in Rede stehenden Art bestimmt, und umgekehrt.”42 GASPARD MONGE (1746-1818) hatte 1784 eine vollständige Lösung der Eulerschen Differentialgleichung für Minimalflächen, also für Flächen, deren
38. Die Lösung durch automorphe Funktionen mit Grenzkreis schlug gleichzeitig mit Felix Klein auch Henri Poincaré im Jahre 1882 vor, die Beweise folgten ab 1907 von Poincaré und Paul Koebe. Siehe hierzu etwa R. Thiele, “Felix Klein in Leipzig”, Jahresbericht der DMV, 102 (2000), 69-93, dort auch weitere Literaturangaben. 39. R. Siegmund-Schultze (Hrg.), Ausgewählte Kapitel aus der Funktionenlehre (SS 1886), Leipzig, B.G. Teubner, 1988, Zitat S. 165. 40. Klein als Geometer wird u.a. in R. Thiele, “Felix Klein in Leipzig”, Jahresbericht der DMV, 102 (2000), 69-93 diskutiert. 41. Klein, Gesammelte mathematische Abhandlungen, Bd. 2, Berlin, Springer, 1921, 232-240, Zitat S. 233. 42. K. Weierstraß, “Untersuchungen über die Flächen, deren mittlere Krümmung überall gleich null ist”, Monatsberichte der Berliner Akademie, 1866, 612-625 (auszugsweise); auch in: Mathematischen Werken, Bd. 3, Berlin, 1903, Reprint Olms, 39-52. Die Problematik ist teilweise schon 1861 im Mathematischen Seminar der Berliner Universität vorgetragen worden.
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mittlere Krümmung verschwindet, gegeben, die aber für die Anwendung wenig brauchbar war. In der obigen Arbeit hat WEIERSTRAß die Mongeschen Formeln in eine elegante Form gebracht, so daß jeder analytischen Funktion leicht eine korrespondierende Minimalfläche zugeordnet werden konnte, und umgekehrt liefert jeder Punkt der Fläche vier Größen, die eine analytische Funktion bestimmen. SCHWARZ hat schließlich diese Weierstraß-Ennepersche Abbildungsformeln weiteren Umformungen unterzogen.43 In anderem Zusammenhang hat PETER ULLRICH für die Weierstraßsche Strenge die auch hier zutreffende Bemerkung gemacht, daß es Mathematiker gab, “die […] an Weierstraß’ Stil bemängelten, daß er alle Gedanken von anderen so lange durch die Mühle seines Kalküls drehte, bis sie in das Bauwerk seiner Mathematik paßten, so daß kein Vergleich mit anderen Theorien mehr möglich war.”44 An dieser Stelle sollen nur zwei Stichworte auf die Weierstraßschen “Mahlergebnisse” in der Variationsrechnung hinweisen: die Weierstraßsche Form der Eulerschen Differentialgleichung und die Auflösung des Paradoxons der Variationsrechnung durch schwache und starke Extrema. EDWARD JAMES MCSHANE (1904-1989) bemerkte hierzu: This was truly a great step forward in the theory of the calculus of variations. […] But it had a psychological drawback. Like the ideas introduced by Lagrange a century earlier, the means used by Weierstrass were so highly esteemed that they became ends in themselves. No matter what the calculus of variations was formally stated to be, in the hands of many of its workers it became a procedure of proving in each new type of problem some analogous of the necessary conditions of Euler and Lagrange, of Legendre, of Jacobi and of Weierstrass, and then proving a sufficiency theorem of some sort. […] I learned a needed lesson years later, when I needed to find the absolute minimum of a function […] where the derivative was not zero.45 Eine Eigentümlichkeit der Variationsrechnung zeigt sich in ihrem Wechselspiel von lokal und global. Zunächst werden mittels infinitesimaler Methoden lokale Ergebnisse erhalten, die man dann versucht, auf die Extremale in ihrer Länge (also global) zu übertragen. Hier ist WEIERSTRAß mit entsprechenden Sachverhalten aus der komplexen Analysis vertraut.46 Für den Doppelreihen-
43. Siehe hierzu P. Ullrich, “Karl Weierstraß als (Differential) Geometer”, in R. Thiele (Hrg.), Mathesis, Berlin, GNT-Verlag, 2000, 216-249, insbes. S. 223 f.; L. Bianchi, Vorlesungen über Differentialgeometrie (dtsch. von M. Lukat), Leipzig, B.G. Teubner, 1899. 44. “Weierstraß’ Vorlesungen zur ‘Einleitung in die Theorie der analytischen Funktionen’”, Archive for History of Exact Sciences, 40 (1989), 143-147, Zitat p. 168. 45. E.J. McShane, “The calculus of variations from the beginning through optimal control theory”, SIAM. Journal on control and optimization, 27 (1989), 916-939, Zitat p. 917. 46. Prof. Dr. P. Ullrich, Koblenz, hat mich freundlicherweise auf diesen Sachverhalt hingewiesen.
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satz verlangte WEIERSTRAß zunächst gleichmäßige Konvergenz, aber in der Arbeit Zur Functionenlehre47 erkannte er, daß bereits die lokale Forderung ausreicht. Ähnlich zieht die lokale Eigenschaft einer analytischen Funktion, sich an allen Stellen (unter Einschluß von unendlich) wie eine rationale Funktion zu verhalten (d.h. Pole zu haben), nach sich, daß diese Funktion rational ist.48 3.2 Zur Quellenlage bei Weierstraß Obwohl WEIERSTRAß zu seinen Lebzeiten bis auf wenige kurze Arbeiten zu speziellen Problemen nichts zur Variationsrechnung veröffentlicht hat, ist die Quellenlage sehr viel besser, als man erwarten könnte. Der Grund liegt darin, daß WEIERSTRAß zum einen zwei Jahrzehnte regelmäßig über Variationsrechnung gelesen hat und daß zum anderen diese Vorlesungen durch die Hörer mitund danach auch voneinander abgeschrieben wurden, so daß insgesamt eine sehr große Zahl unterschiedlicher Ausarbeitungen vorhanden ist. Ich habe in über 30 Ausarbeitungen eingesehen, die insgesamt die Entwicklungen der Vorlesung über zwei Jahrzehnte gut dokumentieren. Insbesondere die Vorlesungen ab 1875 standen mir in ausreichender Zahl zur Verfügung (28 Mitschriften), um fundierte Schlüsse für die Herausbildung der Feldtheorie ziehen zu können. Begleitend habe ich Seminarberichte, den Briefwechsel und andere mit der Thematik verbundene Quellen ausgewertet. Die Probleme von Mitschriften sind bekannt, da die Authentizität nicht notwendig gewährleistet ist. “Er hat also sein Buch nach dem Hefte eines anderen […] gearbeitet, ohne beurtheilen zu können, ob und in wie weit das von mir Vorgebrachte getreu wiedergegeben ist”49, wandte WEIERSTRAß gegen eine von ihm nicht authorisierte Biermannsche Publikation Theorie der analytischen Funktionen50 ein, die er nicht als Darstellung seiner Ideen akzeptierte und bei der er sich zurecht hintergangen fühlte. Ebenfalls zur Wiedergabe seiner Vorlesung bemerkte WEIERSTRAß: “Ich erinnere mich übrigens, daß ich früher einmal den Gegenstand ausführlicher […] besprochen habe – doch werden gerade solche Erörterungen von den Zuhörern oft nicht richtig verstanden und darum bei der Bearbeitung übergangen.”51 WEIERSTRAß hat übrigens 47. Monatsberichte der Kgl. Akademie der Wissenschaften zu Berlin 1876, 11-60; auch in: Mathematische Werke, Bd. 2, Berlin, Mayer und Müller, 1895, 201-223. 48. Einleitung in die Theorie der analytischen Funktionen, 1878, Mitschrift von A. Hurwitz, hrg. von P. Ullrich. Braunschweig: DMV/Vieweg, 1988 (Dokumente zur Geschichte der Mathematik, Bd. 4). 49. Briefwechsel Weierstraß-Schwarz. Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie, Nl. Schwarz 1175, Brief vom 12. 6. 1888. Biermann hatte vorgegeben, ein Hörer der entsprechenden Weierstraßschen Vorlesung gewesen zu sein und daß Weierstraß seinen Plan gebilligt habe, was beides nicht zutraf. 50. Otto Biermann, Theorie der analytischen Funktionen, Leipzig, B.G. Teubner, 1887. 51. Briefwechsel Weierstraß-Schwarz. Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie, Nl. Schwarz 1175, Brief von Weierstraß vom 27. 10. 1885, Blatt 304f.
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keine der Mitschriften autorisiert, eine gewisse “Billigung” könnte vielleicht die aufwendig erstellte autographierte Vorlesung 1894 erhalten haben. Auch wenn unter den Mitschreibern bekannte Namen wie H.A. SCHWARZ, C. RUNGE, O. HÖLDER (1859-1937)52 oder O. BOLZA waren, so dürfen wir an diese Studenten nicht zu hohe Erwartungen stellen. Das hat beispielsweise SCHWARZ im Hinblick auf seine eigene Mitschrift selbst hervorgehoben: “Leider haben meine äußeren Lebensverhältnisse mir damals, wo ich mir die Zeit stehlen mußte, um an der Universität bei Ihnen Vorlesungen hören zu können, nicht die Muße gewährt, um Ihre Vorlesung auszuarbeiten. Zu einer solchen Ausarbeitung habe ich erst später einmal, als Sie über Variationsrechnung gelesen haben, in den Ferien die erforderliche Muße gefunden.”53 “Beiläufig bemerke ich,” schrieb WEIERSTRAß im Hinblick auf Vorlesungsmitschriften und -ausarbeitungen am 15. April 1871 an H.A. SCHWARZ, “daß die von K.[iepert] gemachte Bearbeitung meiner Vorlesung […] viele Ungenauigkeiten enthält, so daß ich deren Verbreitung nicht gerade wünsche.”54 Zu berücksichtigen ist weiterhin, daß Ausarbeitungen bearbeitet wurden, wobei durchaus Einfügungen erscheinen, die nicht Thema der Vorlesung gewesen sein müssen. Interessierte Hörer haben sich gelegentlich ältere Vorlesungsausarbeitungen zur Abschrift verschafft (A. MAYER), oder sie haben ihre eigene alte Mitschrift später durch Einfügungen oder Anhänge aktualisiert (O. HÖLDER). Eine häufig geübte Praxis war, Vorlesungen mitzustenographieren, um sie dann auszuarbeiten (z. B. C. RUNGE). Glücklicherweise ist eine sorgfältige Bearbeitung bei der für uns wichtigen Vorlesung von 1879 erfolgt, von der der Berliner Mathematische Verein eine gut redigierte Fassung der Vorlesung anfertigen ließ, die sowohl hand- als auch maschinenschriftlich sehr verbreitet ist. Die von RUDOLF ROTHE geäußerte Vermutung, WEIERSTRAß habe selbst die Endredaktion übernommen, ist mit ziemlicher Sicherheit unzutreffend, da WEIERSTRAß in seinem Briefwechsel mit SCHWARZ, wo es im Hinblick auf eine Buchveröffentlichung der Vorlesungen über Variationsrechnung auch um diese Vorlesungsausarbeitung geht, einen solchen Anteil nicht erwähnt. Einige wenige Vorlesungen habe ich nur in mitstenographierter Form gefunden (LEOPOLD GEGENBAUER, 1849-1903). Mitschriften weniger leistungsfähiger Studenten in unbearbeiteter Form erwiesen sich insofern als interessant, da sie in manchen Textstellen oder bei Versehen von WEIERSTRAß wörtlich sehr nahe am Vortragenden gewesen sind.
52. Otto Hölder, Studium in Stuttgart, Berlin, Tübingen, Leipzig. Promotion 1882 (Dr. sc. nat) und 1884 (Dr. phil.), Habilitation 1884 in Göttingen, 1889 Professor in Göttingen, Tübingen und als Nachfolger von Minkowski 1896 in Königsberg, seit 1899 in Leipzig. 53. Briefwechsel Weierstraß-Schwarz. Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie, Nl. Schwarz 1254, Brief von Schwarz vom 2. 10. 1874. 54. aaO., Nl. 1175.
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Über die Schwierigkeiten, eine Mitschrift anzufertigen, gab der 1874 aus Paris eingetroffene MITTAG-LEFFLER einen anschaulichen Bericht, indem er die mit dem Weierstraßschen Vortrag verbundenen Schwierigkeiten mit denen seiner vormaligen französischen Lehrer verglich. Erinnern wir uns aber, daß WEIERSTRAß aufgrund seines Gesundheitszustandes seit den 70er Jahren im Sitzen Vorlesungen hielt und das Anschreiben durch einen fortgeschrittenen Studenten besorgen ließ: I rent formellt avseende är åtminstone Weierströms föredrag under all kritik, och äfven den obetydligaste franska matematiker skulle inse sig sjelf komplett oduglig till lärare med ett dylikt föredrag. Lyckas man dock att efter mycket och svårt arbete återbringa en föreläsning av Weierström till den form, vardmedan han tänkt densamma, då blir allt klar, enkelt och sytematiskt. Förmodlingen är det denna märkvärdiga brist på formel.55 Die obige Einschätzung ist während der Vorlesung über elliptische Funktionen gegeben worden und spiegelt daher wohl recht unmittelbar die anfänglichen Schwierigkeiten des Schweden wider, dem Weierstraßschen Vortrag zu folgen. Der spätere Weierstraß-Verehrer MITTAG-LEFFLER, der nach seinem kurzem Aufenthalt in Paris (1873) auf Anraten von CHARLES HERMITE (1822-1901) 1874 nach Berlin zu WEIERSTRAß gegangen war, gibt an, lediglich eine Vorlesung über elliptische Funktionen bei WEIERSTRAß im WS 1874 gehört zu haben,56 was nicht zutreffend ist, da sich im Mittag-Leffler Institut 17 Bogen von MITTAG-LEFFLERS eigener Hand über Variationsrechnung befinden, die bis auf drei genauer ausgearbeitete Bogen offensichtlich eine unmittelbare Vorlesungsmitschrift des auf die elliptischen Funktionen folgenden Weierstraßschen Kurses über Variationsrechnung im SS 1875 darstellen.57 Nun ist im Zeitalter des problem- und gedankenlosen Kopierens die Verfügund Übermittelbarkeit von Texten so selbstverständlich, daß wir die Bedeutung 55. Brief von Mittag-Leffler an Malmsten vom 19. 2. 1875, Seite 6 (Nl. Weierstraß Nr. 233). Institut Mittag-Leffler, Djursholm. “In rein formeller Hinsicht ist zumindest Weierstraß’ Vortrag unter aller Kritik, und auch der unbedeutendste französische Mathematiker würde sich mit einem derartigen Vortrag selbst als zum Lehrer ganz untauglich begreifen. Gelingt es einem doch, nach reichlicher und schwerer Arbeit, die Vorlesung wieder in die Form zu bringen, in der er dieselbe gedacht hatte, dann wird alles klar, einfach und systematisch. Vermutlich ist es dieser merkwürdige Mangel des formalen Vermögens”. Carl Johan Malmsten (1839-1886), 1842 Professor der Mathematik in Upsala, seit 1859 Staatsrat in Stockholm. 56. Maschinenschriftlicher Vortragsentwurf von Mittag-Leffler Verhältnis zwischen Weierstraß und Cantor. Undatiert. Nl. Weierstraß Nr. 234. Institut Mittag-Leffler, Djursholm. 57. Mittag-Leffler wird in den entsprechenden Quästur-Akten (Vorlesungen SS 1875: Variationsrechnung und geometrische Probleme) unter der Nr. 23 als Leffler geführt. Darüber hinaus schrieb Weierstraß am 12. 7. 1875 an das akademische Consistorium zu Helsingfors auf MittagLefflers Wunsch, “daß er [Mittag-Leffler] im Winter-Semester 1874/5 und in diesem SommerSemester drei größere Vorlesungen zur Theorie der elliptischen Funktionen, deren Anwendungen auf geometrische und mechanische Probleme, und Variationsrechnung bei mir gehört und Mitglied des mathematischen Seminars der hiesigen Universität gewesen ist.” (Institut Mittag-Leffler, Nl. Nr. 74).
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dieser Mitschriften und Ausarbeitungen für die seinerzeitige mathematische Forschung leicht unterschätzen. WEIERSTRAß lieh sich wohl mehr als gelegentlich Mitschriften seiner Hörer, da er offenbar seine eigenen Konzepte nicht aufbewahrte. PETER ULLRICH zitiert ein Schreiben KLEINS an HURWITZ (18591919), in dem KLEIN seinen ehemaligen Schüler um eine Weierstraßsche Mitschrift bittet, aber zur Antwort erhält, daß sich WEIERSTRAß diese gerade ausgeliehen habe.58 Bekannt ist auch WEIERSTRAß’ Malheur, als er eine Rungesche Ausarbeitung in einer Droschke liegen ließ.59 WEIERSTRAß dankte am 16. Dezember 1874 SCHWARZ: “Es ist mir ganz erwünscht, daß Sie mir auch Ihr eignes altes Heft geschickt haben, denn aus jener Zeit, wo Sie ell.[iptische] Funct.[ionen] bei mir hörten, besitze ich fast gar keine eigenen Aufzeichnungen mehr, wenn ich auch später mehrere Abschnitte Mertens diktiert habe.”60 Ähnlich: “Sie schreiben mir, daß ich in der Vorlesung von 1882 die Sache […] principiell richtig dargestellt habe. Wollen Sie nicht die Freundlichkeit haben, mir die betr.[effende] Stelle abzuschreiben?”61 MITTAG-LEFFLER verhandelte auf “kommerzieller” Basis hartnäckig über die “Lieferung” Weierstraßscher Vorlesungen beispielsweise mit RUNGE, der in der üblichen Weise Abschriften durch Studenten der Mathematik höherer Semester zu festen Preisen vermittelte.62 Studenten, die ihren Lebensunterhalt sichern mußten oder aufbessern wollten, gewährleisteten den Betrieb eines solchen “Scriptoriums”.63 Auch im Briefwechsel von KARL WEIERSTRAß mit 58. Einleitung in die Theorie der analytischen Funktionen (SS 1878), Mitschrift von A. Hurwitz, hrg. P. Ullrich. Braunschweig, Vieweg 1988, Zitat S. 172. 59. C. Runge, “Persönliche Erinnerungen an Karl Weierstraß”, Jahresbericht der DMV, 35 (1926), 175-179, Zitat S. 175f. 60. Briefwechsel Weierstraß-Schwarz. Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie, Nl. Schwarz 1175. - Franz Josef Mertens (1840-1927), promovierte 1864 bei Kummer mit eximia cum laude (wie auch Schwarz im gleichen Jahre), später Ordinarius in Krakau (1869) und Wien (1894). 61. Briefwechsel Weierstraß-Schwarz. Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie, Nl. Schwarz 1175, Brief vom 27. 10. 1885, Blatt 304. 62. Briefe an Mittag-Leffler (alle im Mittag-Leffler Institut). 22. 9. 1904: Runge hat seine Ausarbeitung der Variationsrechnung vom SS 1879 [heute im Mathematischen Institut der Universität Göttingen] und auch die entsprechenden stenographischen Notizen [heute in der Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung] gefunden, will sich um Abschrift kümmern; 18. 11. 1904: Variationsrechnung ist bald abgeschrieben; 11. 3. 1905: Schreiber hat sich viel Zeit gelassen und dann hat ein Dienstmädchen über die Abschrift einen Eimer Wasser vergossen; 27. 3. 1905: Variationsrechnung ist abgeschrieben; 24. 4. 1905: Abschrift der Variationsrechnung folgt bald; 16. 11. 1905: Abschrift liegt vor, ist aber noch nicht durchgesehen; 27. 10. 1906: Abschrift der Variationsrechnung ist abgeschickt, Kosten 45 Mark, es ist Runges Ausarbeitung der Vorlesung vom SS 1879; 28. 3. 1907: Honorar für Abschreiber schon im Herbst erhalten. - Die Kowalewskaja zahlte für eine Abschrift 42 M; zum Preisvergleich: die Theorie der elliptischen Fuctionen von H. Durège (Leipzig 1868) hatte einen Ladenpreis von 3 Thaler (= 9 M), A. Mayers Habilschrift Beiträge zur Theorie der Maxima und Minima (Leipzig 1866) umfaßte 90 Seiten und kostete 20 Neugroschen. 63. Beispielsweise vermittelte auch Hettner Mittag-Leffler die Abschriften von Vorlesungen. In einem Brief vom 1. 2. 1877 wird für eine Abschrift von Kroneckers Zahlentheorie in lateinischen Buchstaben mit Copiertinte für 580 eng beschriebene Seiten 45 Thaler (= 135 Mark) gefordert, was pro Schreibstunde etwa 10 Sgr. ausmachen würde und wohl angemessen sei. Am 20. 2. 77 fragte Hettner nach, ob Mittag-Leffler die Bedingungen akzeptiere, und am 6. 4. 77 wird der Versand der Abschrift angekündigt sowie am 30. 4. 77 der Eingang des Honorars beim Abschreiber bestätigt. (Briefe im Mittag-Leffler Institut, Djursholm)
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SOFIA KOWALEWSKAJA ist vom Kauf einer Abschrift die Rede: die KOWALEWSKAJA zahlte 42 Mark für eine Nachschrift der Vorlesung Variationsrechnung aus dem SS 1882.64 Dem Berliner Mathematische Verein kam bei diesem Unternehmen offenbar diejenige Rolle zu, die heute bei dem Vertrieb von Preprints und Vorlesungsskripten von den Instituten wahrgenommen wird. Die Wirkung der Weierstraßschen Mitschriften im Ausland wird übrigens häufig überschätzt. Wenn KLEIN in seinen Vorlesungen über die Entwicklung der Mathematik im 19. Jahrhundert schrieb, daß solche Nachschriften auch im Ausland verbreitet worden sind und dort einen maßgebenenden Einfluß auf den Gang der Mathematik ausgeübt haben, so ist das nicht falsch, aber doch etwas aus der speziellen Kleinschen Perspektive “seines [eigenen] Wirkens und Ausstrahlens” gesehen.65 Natürlich haben Schüler von WEIERSTRAß wie GEGENBAUER (Österreich) oder BOLZA (USA) über entsprechende Mitschriften verfügt und sie außerhalb von Deutschland benutzt. Andererseits hatte der an Variationsrechnung interessierte AUGUST EDWARD HOUGH LOVE (1863-1940) für das St. John’s College in Oxford eine Mitschrift erworben, deren Durcharbeitung ihn auf eine anschauliche Darstellung der Weierstraßsche Exzeßfunktion in einer Arbeit führte,66 und noch kurz vor dem Erscheinen des siebenten Bandes der Weierstraßschen Werke (Variationsrechnung) wurde diese angekaufte Ausarbeitung von ANDREW RUSSEL FORSYTH (1856-1942) für seine Variationsrechnung67 benutzt. Jedoch zeigen FORSYTHS ungenaue historischen Bemerkungen, daß er in keine weiteren Mitschriften einsehen konnte. Ein Brief von FORSYTH, der 1890 nach KLEINS Englandreise an FRIEDRICH ENGEL (1861-1941) mit dem Wunsch um Nachschriften Weierstraßscher Vorlesungen geschrieben wurde, berichtet allerdings, daß KLEIN in England versichert habe, “that it was possible for a foreigner like myself to obtain from Leipzig, under your [Engel’s] direction, a copy of an effective redaction of the complete set of Weierstrass’s lectures.”68 Ebenfalls wird WEIERSTRAß in dem Buch Calcolo delle variazioni (1897) von ERNESTO PASCAL (1865- 1940), selbst in der bearbeiteten deutschen Ausgabe 1899, nur marginal erwähnt, obwohl dort schon ADOLPH MAYER rezipiert wurde.69 Schließlich erwähnen wir LUDWIG SCHEEFFER (1859-1880), der 1877 64. Siehe den Briefwechsel Mittag-Lefflers mit Runge im Mittag-Leffler Institut, Djursholm, sowie den Brief vom Frühjahr 1882 der Kowaleskaja an Weierstraß sowie die Briefe 103, 104 und 111 im von R. Bölling herausgegebenen Briefwechsel (Berlin, Akademie-Verlag, 1993). 65. Teil 1, Berlin, Springer 1926, Zitat S. 283 f. 66. “Note on Weierstrass’ E-function in the calculus of variations”, Proceedings of the London Mathematical Society, 6 (1908), 205-209. 67. Calculus of variations, Cambridge, University Press, 1927. 68. Brief vom 21. 2. 1890. Engel Nachlaß, Mathematisches Institut Gießen. Mitteilung von Prof. Dr. Peter Ullrich. Klein ist in Düsseldorf geboren worden, war also Preuße, und er lebte 1890 im preußischen Göttingen, während Leipzig im Königreich Sachsen lag, und daher für Klein im seinerzeitigen Verständnis Ausland war. 69. Milano, Hoepli, 1897; dtsch. Die Variationsrechnung, übersetzt von A. Schepp, Leipzig, 1899, 8.
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die Variationsrechnung bei WEIERSTRAß gehört und 1880 über ein mechanisches Problem bei WEIERSTRAß promoviert hatte sowie 1885 in den Mathematischen Annalen eine Arbeit über hinreichende Kriterien für Extrema bei einfachen Integralen publizierte, ohne dabei auf Weierstraßsche Ergebnisse einzugehen, und der erst in einer nachfolgenden Bemerkung auf den Weierstraßschen Hinweis einging, daß bereits WEIERSTRAß ein Kriterium für starke Extrema bewiesen habe.70 KARL WEIERSTRAß und sein Kollege EDUARD KUMMER leiteten das “Mathematische Seminar” in Berlin. Das Neue am Berliner Mathematischen Seminar war, daß es sich ausschließlich der Mathematik widmete und daß es ein “Vortragsseminar” war. Auch auf im Seminar gehaltene Vorträge werden wir zurückgreifen. WEIERSTRAß hat für insgesamt 28 Dissertationen das Erstgutachten verfaßt, hinzu kommen weitere 17 Dissertationen, bei denen er Zweitgutachter war. Erstaunlich ist, daß sich darunter nur eine Arbeit zur Variationsrechnung befindet! Im weiteren Sinn könnten noch zwei Arbeiten über Geodätische hier eingeordnet werden (1869, 1880). Zu beachten wären aber auch die von WEIERSTRAß geförderten Mathematiker wie LEO KOENIGSBERGER (1837-1921) oder SCHWARZ, die von dem Extraordinarius WEIERSTRAß noch nicht promoviert werden konnten. Wir werden aber weitere, später bei SCHWARZ in Berlin angefertigte Dissertationen heranziehen,71 die die Weierstraßsche Feldtheorie behandeln, neben drei Themen aus der unser Interesse tangierenden Flächentheorie ist es vor allem die bedeutende Dissertation von ERNST ZERMELO (1871-1953) aus dem Jahre 1894. Eine sehr ergiebige Quelle ist der langjährige Briefwechsel von WEIERSTRAß mit SCHWARZ, der im Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie ziemlich vollständig aufbewahrt wird.72 Von LUDWIG BIEBERBACH (18861982) ist in den 20er Jahren eine maschinenschriftliche Abschrift angefertigt worden, die wohl die Grundlage einer Briefedition bilden sollte, die jedoch bisher nicht ausgeführt wurde. In Kleinigkeiten ist die sowohl am Mathematischen Institut der Universität Münster als auch am Institut Mittag-Leffler der Schwedischen Akademie, Djursholm, vorhandene Bieberbachsche Abschrift nicht ganz zuverlässig, denn infolge einer fehlenden Endredaktion ist sie noch nicht in einen druckreifen Zustand gebracht worden. In diesem Briefwechsel finden sich viele Ausführungen sowohl zu Problemen der Variationsrechnung 70. L. Scheeffer, “Die Maxima und Minima der einfachen Integrale zwischen festen Grenzen”, Mathematische Annalen, 15 (1885), 522-593; Bemerkung zu vorstehenden Aufsätze, aaO., 594-595. Der Aufsatz ist mit “Berlin Oktober 1884”, die Bemerkung mit “München Januar 1885” datiert. 71. Schwarz war in Berlin bei Promotionen zehnmal als Erstgutacher und elfmal als Zweitgutachter tätig. 72. Eine Herausgabe dieser mathematikgeschichtlich wichtigen Korrespondenz ist leider noch nicht erfolgt.
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als auch zu Fragen einer Werkausgabe. Der Briefwechsel mit der KOWALEWSKAJA berührt hingegen nur an wenigen Stellen die Variationsrechnung. Schließen wir den Abschnitt mit Gedanken von PAUL STÄCKEL (1862-1991) über die Schwierigkeiten, sich eine authentische Darstellung der Weierstraßschen Lehren zu verschaffen. STÄCKEL machte schon 1906 eine bemerkenswerte Feststellung über den Nachlaß: “Wer einen solchen Versuch wagt, hat freilich mit den größten Schwierigkeiten zu kämpfen, denn wenn festgestellt werden soll, was Weierstraß für die Variationsrechnung geleistet hat, müssen alle seine stark voneinander abweichenden Vorlesungen über diesen Gegenstand berücksichtigt werden. Auch müßte das sonst noch vorhandene handschriftliche Material herangezogen werden. Daß solches Material existiere, ja noch mehr, daß Weierstraß im Besitze neuer Sätze der Variationsrechnung gewesen sei, ohne sie öffentlich bekannt zu geben, das ist eine weitverbreitete Ansicht. Da diese Annahme die Entwicklung der Variationsrechnung gehemmt hat und hemmt, scheint es geboten, festzustellen, daß nach Aufklärungen, die mir kürzlich zuteil geworden sind, Aufzeichnungen von oder nach Weierstraß, die inhaltlich über die Vorlesungen hinausgehen, aller Wahrscheinlichkeit nach nicht vorhanden sind.”73 3.3 Der mathematische Hintergrund WEIERSTRAß untersuchte in den ersten Vorlesungen über Variationsrechnung zunächst sorgfältig die bekannten einschlägigen Probleme der Disziplin und präzisierte die Ergebnisse von LEONHARD EULER (1707-1783), JOSEPH LOUIS LAGRANGE (1736-1813), ADRIAN MARIE LEGENDRE (1752-1833) und CARL GUSTAV JAKOB JACOBI. Dabei entwickelte er die Gegenstände der klassischen Variationsrechnung für Parameterprobleme, nämlich die Herleitung der notwendigen Eulerschen Differentialgleichungen nebst den Eckenbedingungen sowie die Legendresche Bedingung (F1 > 0), und er schuf im Laufe der Zeit eine ausgedehnte Theorie der zweiten Variation und verallgemeinerte die Jacobischen Untersuchungen über konjugierte Punkte. Schließlich erkannte er die Notwendigkeit, zwischen schwachen und starken Extrema zu unterscheiden, und stellte Kriterien für starke Extrema auf. Aus unserer Sicht ist dabei folgendes hervorhebenswert: WEIERSTRAß benutzte von Anfang an Variationsprobleme in Parameterdarstellung und zeigte deren Vorteile auf, erkannte die Notwendigkeit, die Klasse der zulässigen Vergleichskurven zu erklären und zu beachten, daß die Variationen innerhalb dieser Klasse erfolgen (modern: er legte das Definitionsgebiet des zugehörigen Funktionals fest), 73. P. Stäckel, “Rezension von Harris Hancock, Lectures on the calculus of variations (Weierstrassian theory)”, Archiv der Mathematik und Physik, (1906), 67-69, Zitat S. 68.
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zeigte, daß die positive zweite Variation δ2J(x0, ξ) > 0 (ξ ≠ 0) im Kleinen hinreichend für ein schwaches Extremum ist, daß dies aber für starke Extrema nicht der Fall ist, entwickelte für starke Extrema mit Hilfe der Exzeßfunktion ein entsprechendes hinreichendes Kriterium > 0. nicht negativ” Die notwendige Bedingung für Extrema “Exzeßfunktion gewann WEIERSTRAß durch eine bestimmte Variationstechnik, die bei den Vergleichsfunktionen keine Beschränkung des Anstiegs erforderte. Ein ähnliches Vorgehen war im geometrischen Gewand bereits bei jenen Variationen erschienen, die GOTTFRIED WILHELM LEIBNIZ (1646-1716) und die Brüder JOHANN BERNOULLI und JAKOB BERNOULLI (1654-1705) durchgeführt hatten, indem sie die Variation als eine solche lokale Störungen ansetzten, die gegenüber dem ungestörten Kurventeil die Form eines infinitesimalen Dreiecks bildete (siehe Abschnitt 3.5.2.7, insbesondere Abb. 3.9). In einem Feld (Flächenstreifen) ist die Bedingung “Exzeßfunktion positiv” hinreichend für starke Extrema (und damit a fortiori auch für schwache Extrema, siehe unten sowie Abschnitt 3.5.2.7). Wir erklären kurz das Prinzip der Weierstraßschen Art zu variieren. Es sei APB eine extremale Kurve K0, die mit einer anderen zulässigen Kurve K, die zwischen A und B verläuft, verglichen werden soll. Eine solche Vergleichskurve K, deren Tangentenrichtung beliebig stark von der der extremalen Kurve abweichen darf, wird folgendermaßen konstruiert. P sei ein beliebiger Punkt auf K0. Durch P legen wir eine weitere beliebige Kurve PR, wobei R hinreichend bei P liegen möge (vgl. Abb. 3.1). Als Vergleichskurve K wird nun der Linienzug ARPB betrachtet, wobei sich im Laufe der Untersuchungen der Punkt R dem festen Punkt P von K0 nähert, wodurch die Variation charakterisiert ist.
ε
ε
ε
Abb. 3.1. Weierstraßsche Variationen
Um die notwendige Weierstraßsche Bedingung “Exzeßfunktion nicht negativ” zu erhalten, genügt es, das Kurvenstück AR der Vergleichskurve ARPB beliebig zu wählen. Für die Herleitung der hinreichenden Bedingung
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“Exzeßfunktion positiv” ersetzt WEIERSTRAß das Kurvenstück AR durch diejenige extremale Kurve, die A mit R verbindet. Eine solche Konstruktion setzt folglich voraus, daß jeder Punkt R in einer Umgebung der Kurve K0 mit dem Punkt A durch eine extremale Kurve verbunden werden kann. Mit anderen Worten, von A geht ein Feld von Extremalen aus, das eine Umgebung der Kurve K0 einfach überdeckt. Dieses Feld nannte WEIERSTRAß einen Flächenstreifen. Der Flächenstreifen weist noch eine nicht sachgemäße Einschränkung auf. Die von A ausgehenden extremalen Kurven werden von A aus in einem gewissen Winkelraum verlaufen, d.h. die Tangentenrichtungen der Vergleichskurven sind in der Umgebung von A beschränkt. Durch einen Kunstgriff umging WEIERSTRAß diese Restriktion, indem er das Feld für einen etwas links von A liegenden Punkt A* konstruierte, so daß in “Höhe” von A das konstruierte Feld nicht mehr eingeschränkt war.
Abb. 3.2. Zum Flächenstreifen. Das durch die Extremalen AB' und AB" begrenzte Gebiet G weise nur Punkte P auf, zu denen von A genau eine Extremale führt (zentrales Feld). Abb. 3.3 Der Weierstraßsche Kunstgriff, das Feld nicht in A, sondern in einem vorgezogenen Punkt A* zu konstruieren (womit in A ein allgemeines Feld vorliegt).
Es ist angebracht, die Weierstraßsche Wende in der Variationsrechnung, die etwa durch das Stichwort “Unterscheidung von schwachen und starken Extrema” angedeutet werden kann, unter übergeordneten Gesichtspunkten zu betrachten. Die Unterscheidung der beiden Arten von Extrema basiert auf einer genauen Erklärung von zulässigen Vergleichsfunktionen bzw. von Funktionsklassen, also letztlich auf der Beschreibung von Eigenschaften, die Funktionen aufweisen. Unter diesem Gesichtspunkt, der über die Beschreibung allgemeiner Eigenschaften von Funktionen diese mehr und mehr als eigenständige Objekte und nicht mehr als Zuordnungsvorschriften begreift (regarder la fonction elle-même, JACQUES HADAMARD 1912) und der sich damit als eine der Wurzeln der Funktionalanalysis erweist, ist es zunächst interessant, die
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KAPITEL 3
Weierstraßsche Funktionsauffassung kurz zu betrachten, um dann deren Einfluß auf den historischen Gang der Dinge zu verfolgen. Die Weierstraßsche Haltung ist schlechthin durch eine konstruktive Grundeinstellung geprägt, in der zu weit gefaßte Allgemeinbegriffe, die sich der Konstruierbarkeit entziehen, als leer abgelehnt werden. Das ist beispielsweise bei dem sogenannten Dirichletschen Funktionsbegriff der Fall, den WEIERSTRAß fälschlich JOHANN BERNOULLI zuschreibt: “Eine andere und scheinbar sehr allgemeine Definition einer Funktion gab zuerst J.[ohann] Bernoulli: Wenn zwei veränderliche Größen so miteinander zusammenhängen, daß jedem Werth der einen eine gewisse Anzahl bestimmter Werthe der anderen entsprechen, so nennt man jede der Größen eine Funktion der anderen.”74 Sich auf diese Definition beziehend fährt er überraschend so fort: “Sie ist aber überhaupt vollkommen unhaltbar und unfruchtbar.”75 Weshalb kam WEIERSTRAß auf dieses vernichtende Urteil? Kurz gesagt störte ihn an diesem allgemeinen Begriff, daß er nicht konstruktiv ist und daß es unmöglich ist, aus ihm irgendwelche konkreten Eigenschaften von Funktionen wie etwa Differenzierbarkeit abzuleiten. HENRI POINCARÉ hat in der konstruktiven Methode von WEIERSTRAß vor allem ein Beweisverfahren gesehen: La méthode […] de Weierstrass est avant tout une méthode de démonstration.76 Es ist historisch bemerkenswert, daß die von WEIERSTRAß angeführte Definition in keiner von JOHANN BERNOULLIS Arbeiten steht. Noch spricht BERNOULLI nicht arithmetisch vom Wert einer Größe, das tun erst SYLVESTRE LACROIX (1765-1843) und AUGUSTIN CAUCHY (1789-1857), und die quelque manière (irgendeine Art) ist im Sinne einer mehrdeutigen Funktion sicher überinterpretiert, wozu wir uns nur an die briefliche Kontroverse aus den Jahren 1712/13 zwischen LEIBNIZ und JOHANN BERNOULLI über die Logarithmen negativer und imaginärer Zahlen zu erinnern brauchen, die erst LEONHARD EULER mit der Einführung der unendlichen Vieldeutigkeit des Logarithmus in seiner Arbeit De la controverse entre Mrs. Leibnitz et Bernoulli77 1749 zu 74. Einleitung in die Theorie der analytischen Funktionen (1878), Mitschrift von A. Hurwitz, hrg. P. Ullrich, Braunschweig, 1988, 48. Vgl. die Mitschrift der Vorlesung Ausgewählte Kapitel aus der Funktionenlehre, SS 1886 (Mittag-Leffler-Institut), in der Weierstraß im §1 die Definition Johann I Bernoullis an den Stetigkeitsbegriff knüpft. 75. aaO., 48. 76. Zitiert nach dem Vorwort von R. Remmert in P. Ullrichs Ausgabe von K. Weierstraß’, Einleitung in die Theorie der analytischen Funktionen, DMV/Vieweg, Braunschweig, 1988, S. X. 77. E 168. Mémoires de l'Académie Royale des Sciences et des Belles-Lettres, Berlin, 1749 (ersch. 1751); Opera I/17, 195-232; dtsch. Übersetzung von H. Müller und R. Thiele, in Euler, Zur Theorie komplexer Funktionen, hrg. von A.P. Juschkewitsch, Leipzig, Akademische Verlagsgesellschaft, 1983, 54-100 (Ostwalds Klassiker, Nr. 261). - Für Euler waren mehrdeutige Funktionen nichts Ungewöhnliches. Das hatte den Vorteil, daß implizit gegebene Funktionen sich stets auflösen ließen. Vgl. “Introductio”, § 16 (E 101, Opera I/8), oder “Methodus nova et facilis calculum variationum tractandi” (E 711), Nova Commentarii Academiae Scientiarum Imperialis Petroplitanae, 16 (1771), 35-70, sowie in: Opera I/25, 208-235; § 1. (E bezeichnet die Eneströmnummer der Eulerschen Werke).
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einem inhaltlichen Abschluß gebracht hat. Im WS 1885/86 beendete WEIERSTRAß selbst eine Vorlesung über Funktionentheorie so: “Der Zweck der vorstehenden Vorlesungen war zunächst, den Begriff der analytischen Abhängigkeit gehörig festzustellen; daran knüpfte sich die Aufgabe, die analytischen Formen zu ermitteln, in denen Functionen von bestimmten Eigenschaften dargestellt werden können. […] Die Darstellung einer Function ist mit der Erforschung ihrer Eigenschaften aufs innigste verknüpft, wenn es auch interessant und nützlich sein mag, Eigenschaften der Function aufzufinden, ohne auf ihre Darstellung Rücksicht zu nehmen. Das letzte Ziel bleibt doch immer die [tatsächliche] Darstellung einer Function.”78 Drei Jahre zuvor, gleichfalls in einer Vorlesung über Funktionentheorie, hatte er noch moniert: “Gewöhnlich pflegt man den allgemeinen Begriff der Abhängigkeit fallen zu lassen und die continuierliche Änderung der beiden Variablen als notwendiges Erfordernis aufzustellen. Aber auch hiermit ist […] nur wenig gewonnen. Was man auf dieser Grundlage von allgemeinen Eigenschaften der Functionen herleiten kann, ist ein Minimum.”79 Der Wandel in seiner Auffassung, der auch “allgemeinen Funktionen” Bürgerrecht zugestand, war durch den Approximationssatz80 bewirkt worden, der – in moderner Terminologie – aussagt, daß die Polynome dicht im Raum der stetigen Funktionen liegen. Hierdurch ergibt sich ein konstruktiver Zugang zu stetigen Funktionen, so daß diese von WEIERSTRAß nicht mehr als “Funktionen ohne Eigenschaften” betrachtet werden mußten. Für unser Thema ist jenes Beispiel von Bedeutung, das WEIERSTRAß für eine überall stetige, aber nirgends differenzierbare Funktion 1872 gab.81 Hier wird das Verhalten einer reellen Funktion tiefgehend analysiert, und wenn auch seinerzeit eine derart subtile Beschreibung in der Variationsrechnung noch nicht zum Tragen kommen konnte, so ist doch das klare Auseinanderhalten 78. “Ausgewählte Kapitel der Functionentheorie”, ohne Jahresangabe, Mitschrift im MittagLeffler-Institut, Djursholm, 262. Weierstraß las im SS 1885/86 hierüber, vgl. das Vorlesungsverzeichnis in seinen Mathematischen Werken, Band 3, Berlin, Mayer, 1894-1927, 360. 79. “Einleitung in die Theorie der analytischen Functionen”, WS 1882/83, Besitzvermerk Thieme, (nicht Mitschreiber, wie P. Dugac in seinem Weierstraß-Artikel, “Eléments d’analyse de Karl Weierstrass”, Historia mathematica, 10 (1973), 41-176, annimmt!), Standort, Staatsbibliothek Berlin. 80. “Über die analytische Darstellbarkeit sogenannter willkürlicher Funktionen einer reellen Veränderlichen”, Sitzungsberichte der Königl. Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin, 1885, 633-639, 789-805. Vgl. hierzu auch R. Siegmund-Schultze, “Der Beweis des Weierstraßschen Approximationssatzes 1885 vor dem Hintergrund der Entwicklung der Fourieranalyse”, Historia mathematica, 15 (1988), 299-310. 81. Über continuierliche Functionen eines reellen Argumentes, in der Akademie 1872 gelesen, veröffentlicht im Journal für reine und angewandte Mathematik 79 (1875), auch in den Mathematischen Werken, Band 2, Berlin, 1895.
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von Stetigkeit und Differenzierbarkeit als eigenständigen Begriffen für die Präzisierung der zulässigen Klassen von Vergleichsfunktionen von ausschlaggebender Bedeutung gewesen. Zudem bewegte sich der “Funktionentheoretiker” WEIERSTRAß hier auf einem Gebiet der reellen Analysis, das sich grundlegend von der komplexen Theorie abhebt. Das Augenmerk, das WEIERSTRAß auf die Stetigkeit richtete, hatte ihn übrigens und in gewisser Weise ganz natürlich bereits 1865 in der ersten Vorlesung über Variationsrechnung zu den später sogenannten Erdmannschen Eckenbedingungen geführt.82 Es versteht sich, daß diese Untersuchungen von WEIERSTRAß in der reellen Analysis nicht in einen unmittelbaren Zusammenhang mit der Entwicklung seiner feldtheoretischen Überlegungen zu bringen sind, aber die zeitlichen Abläufe fügen sich recht gut in ein übergreifendes Bild: 1872 das berühmte Gegenbeispiel einer nicht-differenzierbaren Funktion, ab 1875 werden starke Extrema als Thema begriffen, wobei schließlich 1879 in der Feldtheorie der Durchbruch gelingt. Die Frage nach der Natur einer willkürlichen Funktion sowie deren analytische Darstellung, die sich zwangsläufig beim Variieren einstellt, war hier eine Seite der treibende Kraft für WEIERSTRAß; eine andere Seite war durch physikalische Probleme bestimmt, bei denen die betrachtete Abhängigkeit nicht mehr von vornherein als durch einen bekannten rechnerischen Ausdruck dargestellt angenommen werden konnte. Beide Fragen waren allerdings nicht neu, sondern seit etwa einem Jahrhundert Gegenstand der Analysis. Eine weitere Verbindung ergab sich durch die neue Weierstraßsche Strenge, der auch der Begriff des Extremums unterworfen wurde. WEIERSTRAß, der klar zwischen den Begriffen Minimum und Infimum unterschied, wurde dadurch zwangsläufig auf den Bereich der zur Konkurrenz zugelassenen Elemente zurückverwiesen, der präzise zu definieren war. Im Fall der Variationsrechnung betrifft das die Festlegung der zulässigen Vergleichskurven bzw. -funktionen, die für ein Extremum des Funktionals in Frage kommen, und zwar bezieht diese Bestimmung sowohl die dem Problem innewohnenden Bedin82. Die Eckenbedingungen drücken aus, daß die partiellen Ableitungen des Integrand nach x' und y' auch bei stückweise stetig differenzierbaren Extremalen stetig bleiben. Die Zuordnung der Bedingungen zu Erdmann wirft ein bezeichnendes Licht auf die von Weierstraß abgehaltenen Seminare. Die Eckenbedingungen finden sich bereits in der ersten Vorlesung von Weierstraß über Variationsrechnung 1865, aber sie wurden von ihm nicht publiziert, sondern erst von Erdmann im Journal für reine und angewandte Mathematik, 82 (1877), 21-33 (Über unstetige Lösungen in der Variationsrechnung), wobei folgendes bemerkenswert ist. Der inhaltlich breit gefächerte und nicht nur auf Mathematik ausgerichtete Vorlesungsbesuch von Erdmann weist ihn als Lehramtskandidaten aus, der übrigens keine Vorlesung von Weierstraß über Variationsrechnung besucht hat, aber offenbar in einem Seminar über die Eckenbedingungen vorgetragen hatte und vermutlich von Weierstraß zur Publikation ermuntert wurde. Das ist ein Beleg dafür, daß Weierstraß eigene unpublizierte Ideen durchaus Schülern und Mitarbeitern überließ. Erdmann, der aus Ostpreußen nach Berlin gekommen war, ging nach Beendigung des Studiums dorthin zurück (Königsberg, Insterburg), um vermutlich Gymnasiallehrer zu werden. Er publizierte noch zwei interessante Abhandlungen, die 1881 Insterburg als Wohnort nennen, aber danach verliert sich seine Spur.
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gungen (etwa Randbedingungen) als auch äußere, lediglich beweistechnische (etwa rein analytische ) Forderungen ein. Im Begriff der durch die zulässigen Vergleichsfunktionen bestimmten Variationen liegt deren Willkürlichkeit bzw. eine entsprechende Einschränkung. DAVID HILBERT hat hierzu einige Jahrzehnte später ganz im Geiste von WEIERSTRAß in sein Notizbuch geschrieben: “Die Variationsrechnung macht Aussagen über willkürliche Funktionen, daher muß man in ihr die willkürlichen Funktionen entwickeln und zwar jedem Problem entsprechend, d.h. in Eigenschwingungsfunktionen.”83 Je nachdem, welche Funktionenklasse den Untersuchungen für ein Extremum zugrunde gelegt werden soll, ist der Begriff des Extremums entsprechend zu fassen. WEIERSTRAß selbst hat schließlich sogar den Integralbegriff erweitert, um die Natur der Sache nicht durch beweistechnische Erfordernisse wie etwa durch einen zu eng gefaßten Integralbegriffe (z.B. bei der Kurvenlänge) einzuschränken. E. HÖLDER hat hierüber vorgetragen: “Heute spielt der Begriff des Weierstraß-Integrals bei der mengentheoretischen, man sollte sagen Menger-geometrischen Begründung der Variationsrechnung wieder eine fundamentale Rolle. Bei dieser ursprünglich von Tonelli ausgebildeten Methode werden die Minimumseigenschaften mit den feineren Eigenschaften der Mengenlehre in Verbindung gebracht und Pauc hat neuerdings gezeigt, wie man viel prinzipieller und einfacher zu diesen Resultaten und weit darüber hinaus kommen kann – eben auf Grund des Begriffs des Weierstraßschen Integrals.”84 Vor WEIERSTRAß ist dieses Problem in solcher Klarheit nicht gesehen und daher auch nicht in Angriff genommen worden. Noch im Jahre 1885 mokierte sich WEIERSTRAß in einem Brief an SCHWARZ über eine in der Preußischen Akademie von LAZARUS FUCHS (1833-1902) vorgetragene Arbeit, daß “also immer […] noch wiederholt werden [muß], daß es zwei ganz verschiedene Dinge sind, einen Werth annehmen und einem Wert beliebig nahe kommen.”85 WEIERSTRAß versuchte zunächst, und hier zeigt sich noch der geometrische Einfluß von JAKOB STEINER, das absolute Extremum zu behandeln. Er mußte aber bald erkennen, daß er sich bei solchen Untersuchungen mittels infinitesimaler Methoden einzuschränken hätte. Diese Einsicht folgte auf die bekannten Untersuchungen der zweiten Variation, in denen WEIERSTRAß aufgrund seiner gerade beschriebenen Einstellung bald erkannte, daß die Vergleichsklasse, die 83. D. Hilbert, Mathematische Notizhefte, Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung, Cod. Ms. D. Hilbert 600: 3, S. 54. 84. E. Hölder, “Das Eigenwertkriterium der Variationsrechnung zweifacher Integrale”, Berichte über die Mathematikertagung in Berlin 1953, Berlin, DVW 1953, 291-302, Zitat S. 292. 85. L. Fuchs: Studium in Berlin, Promotion 1858, danach Gymnasiallehrer, ab 1866 a.o. Professor an der Berliner Universität, ab 1869 ordentlicher Professor an den Universitäten Greifswald, Göttingen und Heidelberg, ab 1884 wieder in Berlin. - Brief vom 14. 3. 1885. Nl. Schwarz im Akademie-Archiv.
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ein Extremum liefern konnte, zu präzisieren war, genauer diejenige Klasse, für die ein schwaches (relatives) Extremum vorlag. ERNST HÖLDER hat angemerkt, “hätte WEIERSTRAß den Gedanken [der Exzeßfunktion] 15 Jahre früher gehabt, so wäre vielleicht die ganze für ihn charakteristische und formvollendete Theorie der zweiten Variation in diesem Ausmaße gar nicht entstanden. Manche werden also bedauern, daß wir nicht die Möglichkeiten haben, die Vorlesung von 1864 […] und die Vorlesung von 1875 […] von der historischen Vorlesung von 1879 [Einführung der Exzeßfunktion] auseinanderzuhalten.”86 Wir haben diese Möglichkeit, und ein Ergebnis der entsprechenden Durchsicht der Vorlesungsmitschriften wird sein, daß WEIERSTRAß erst die Tragweite der Methoden der zweiten Variation erkunden wollte (und historisch wohl auch mußte), ehe er 1879 den entscheiden Schritt zur Feldtheorie vollziehen konnte, indem er den Totalzuwachs des Variationsproblems nicht mehr approximativ mittels der zweiten Variation darstellte, sondern exakt mittels Exzeßfunktion angab. Dabei löste sich WEIERSTRAß von solchen analytischen Einschränkungen an die Vergleichsfunktionen, die für die approximative Darstellung der totalen Variation benötigt werden; modern gesagt erlaubte der Methodenwechsel die Behandlung allgemeinerer, nämlich starker Extrema. A fortiori ergaben sich die einschlägigen Ergebnisse für schwache Extrema auch über die Feldtheorie. Eine weitere Anregung kam von JACOBIS Untersuchungen über konjugierte Punkte, die bekanntlich die “Reichweite” des Feldes bestimmen. (WEIERSTRAß besaß die entsprechenden Jacobischen Vorlesungsmitschriften, die er 1871 der Berliner Akademie für die Werkausgaben übergab.87) Auch HILBERT hat das so gesehen: “In der Variationsrechnung könnte man das Grundprincip aufstellen: Die Eigenschaft, Minimalfunction zu sein, hört nicht eher auf, als 2 Lösungen zusammenfallen also bis zu einer diskriminierenden Stelle. Im übrigen bringe in engsten Zusammenhang die 3 Thatsachen 1.) zweite Variation = 0[,] 2.) Polarisierte [Euler-]Lagrangesche Differentialgl.[eichung][,] 3.) Entwickelbarkeit der Lagrangeschen Integrale d.h. Construierbarkeit des Feldes.”88 Die Natur der willkürlichen Funktionen (Variationen) tritt bei der Herleitung von notwendigen und hinreichenden Bedingungen verschieden in Erscheinung: während für notwendige Bedingungen in der Wahl der 86. H. Behnke und K. Kopfermann (Hrg), Festschrift zur Gedächtnisfeier für Karl Weierstraß (1815-1965), Köln, Westdeutscher Verlag, 1965, Zitat S. 184. 87. Am 30. Juli 1871 übergab Weierstraß der Akademie u.a. Vorlesungsmitschriften von Jacobi über Dynamik (WS 1839), Analytische Mechanik (WS 1847, hrg. von H. Pulte bei Vieweg 1996; Rezension von Thiele in Historia mathematica, 27 (2000), 77-80), Variationsrechnung in einer Abschrift der Rosenhainschen Ausarbeitung. (Nl. E. du Bois-Reymond, Staatsbibliothek Berlin, K9 M1, Bl. 70). Auch in den Vorlesungen (z.B. 1875) erwähnte Weierstraß beständig, daß er im Besitz dieser seltenen Mitschrift zur Variationsrechnung sei. 88. D. Hilbert, Mathematische Notizhefte, Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung, Cod. Ms. D. Hilbert 600: 3, S. 57.
DIE WEIERSTRAßSCHE WENDE
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“willkürlichen” Funktion die Möglichkeit besteht, diese in der Funktionenklasse den entsprechenden beweistechnischen Erfordernissen anzupassen, ist hingegen bei hinreichenden Kriterien die Vergleichsklasse (die zugrunde liegende Topologie) a priori stets klar zu umreißen. Hier liegen Wurzeln der aufkeimenden Funktionalanalysis. 3.4 Karl Weierstraß: Mathematische Werke, Band 7 (Vorlesungen über Variationsrechnung) 3.4.1 Vorgeschichte Im Jahre 1927 erschien der siebente Band der Mathematischen Werke von KARL WEIERSTRAß in der Bearbeitung von RUDOLF ROTHE. Der Band betraf die Vorlesungen über Variationsrechnung, und einer der führenden Vertreter der Variationsrechnung jener Zeit war CONSTANTIN CARATHÉODORY, der die Korrekturen mitgelesen hatte. Von ihm gibt es zwei Rezensionen über diesen Band; ich zitiere aus der deutschsprachigen Rezension in der Deutschen Literaturzeitung: “Über ein Menschenalter haben die Mathematiker aller Länder, die sich mit Variationsrechnung beschäftigten, beklagt, daß die grundlegenden Entdeckungen, die Weierstraß in der Variationsrechnung gemacht hat, in keiner authentischen Publikation zu finden waren. Es ist vielleicht ein seit der Erfindung der Druckschrift einzig dastehender Fall, daß die Ideen eines großen Meisters, die eine ganze Wissenschaft revolutioniert haben, nur allmählich und durch unterirdische Kanäle in das Bewußtsein der Allgemeinheit gelangt sind. […] Durch die jetzige Veröffentlichung der Weierstraßschen Variationsrechnung hat also ein Märchen ausgelebt, an welches in den letzten Jahren fast niemand mehr geglaubt hat, das aber früher, besonders im Auslande, ziemlich verbreitet war: danach sollten […] geheimnisvolle Entdeckungen von Weierstraß auf dem Gebiet der Variationsrechnung in seinen Papieren noch verborgen und dem mathematischen Publikum vorenthalten sein.”89 Auf die Gründe der Verzögerung sind wir oben bereits kurz eingegangen, und sie sollen hier ausführlicher dargelegt werden. Wenn man von speziellen Aufgaben wie dem Delaunayschen Problem absieht, hat WEIERSTRAß nichts zur Variationsrechnung publiziert. Da er auch kein entsprechenden Manuskript
89. Deutschen Literaturzeitung, 1928, Heft 1; auch in: Gesammelte mathematische Schriften, Band 5, München, Beck, 1957, 343-344; die zweite Rezension ist für die Mathematical Gazette, 16 (1928-29), 310-311 geschrieben worden und stellt für die ausländischen Mathematiker mehr die Leistungen von Weierstraß in der Variationsrechnung heraus als deren verspätetes Publizieren. Man vgl. hierzu die von Stäckel bereits 1905 geäußerte Vermutung, daß das unpublizierte Weierstraßsche Werk keine Überraschungen mehr berge, in Stäckels “Rezension von Harris Hancock, Lectures on the calculus of variations (Weierstrassian theory)”, Archiv der Mathematik und Physik, (1906) 67-69, Zitat S. 68.
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hinterlassen hat, konnte ein Band über Variationsrechnung nur über Vorlesungsmitschriften verwirklicht werden. Vor ROTHE hatte SCHWARZ die Herausgabe der Variationsrechnung 1885 in Angriff genommen, zwar mit Billigung von WEIERSTRAß, aber ohne sichtbaren Erfolg. Wie war SCHWARZ auf die Idee gekommen, seinem verehrten Lehrer bei dieser Aufgabe zu assistieren? SCHWARZ hatte im Sommer 1883 die isoperimetrische Eigenschaft der Kugel streng nachgewiesen (Brief an WEIERSTRAß vom 21. August 1883), was ihn zu einer intensiven Beschäftigung mit der Variationsrechnung führte. Damit wurde die Variationsrechnung ein häufiges Thema im Briefwechsel mit WEIERSTRAß, und WEIERSTRAß griff am 14. März 1885 ein Angebot von SCHWARZ auf, ihn bei der Veröffentlichung eines Buches über Variationsrechnung zu unterstützen. Zunächst führte WEIERSTRAß aus, daß es ihm jetzt nicht schwer fiele, das allgemeinste Problem der Variationsrechnung, bei der eine oder mehrere Funktionen einer Veränderlichen gesucht werden, zu formulieren. Wir können in unserem Zusammenhang die fragwürdige Behauptung übergehen, ob WEIERSTRAß schon die sogenannten Mayerfelder behandeln wollte, also Felder für mehrere gesuchte Funktionen, auf die sich weder in den Vorlesungen noch im Briefwechsel mit SCHWARZ ein entsprechender Hinweis findet (auch DAVID HILBERT hatte zunächst den Übergang zum zweidimensionalen Fall unterschätzt, siehe Abschnitte 5.6.3, 6.6.1 über die Dissertation von NADESCHDA GERNET (1877-1943), 1902), denn momentan ist lediglich die nachfolgende Frage für uns interessant: “Wenn Sie aber bei Ihrem Vorsatz bleiben, meine Vorlesungen über Variationsrechnung zu überarbeiten, so würde ich es vorziehen, mich auf die sachlich näher anzugebenden Aufgaben zu beschränken, überzeugt, daß jeder, der sich mit der Behandlungsweise derselben vertraut gemacht hat, auch in complicirteren Fällen den anzugebenden Weg ohne Schwierigkeiten finden werde.”90 Es folgt eine zunächst nur rhetorisch klingende Frage, wie ein Plan eines solchen, auch Anfängern zugänglichen Werkes beschaffen sein sollte, aber an diese Frage schließen sich acht Aufgaben für ebene und räumliche Kurven mit fest vorgegebenen Endpunkten an, die dadurch vervielfacht werden, daß nachfolgend die Beschränkung auf feste Randwerte aufgehoben wird. Unter den Aufgaben sind auch Probleme mit zweiten Ableitungen sowie Gleichungen oder Differentialgleichungen als Nebenbedingungen. Es ist interessant, daß sich WEIERSTRAß bei der Notation der Aufgaben der “gewöhnlichen Ausdrucksweise” bediente, d.h. Funktionenprobleme anstelle von Kurvenproblemen aufschrieb, also
90. Brief an Schwarz vom 14. 3. 1885. Nl. Schwarz im Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie.
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J =
dy
-⎞ dx , anstelle von J ∫ F ⎛⎝ x, y, ---dx⎠
=
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∫ F ( x, y, x', y' ) dt
benutzte (was er in den Vorlesungen niemals getan hatte). Methodisch merkte WEIERSTRAß an, daß die genannten Aufgaben sich zwar unter eine Formulierung bringen ließen, daß er jedoch eine getrennte Behandlung der jeweiligen Fälle für “belehrender” halte. Dann wiederholte WEIERSTRAß die Bemerkung, daß er im Stande sei, “die nothwendigen und hinreichenden Bedingungen für das Stattfinden eines Maximums oder Minimums aufzustellen”. Des weiteren würde er zu den Vorlesungen Ergänzungen machen wollen, insbesondere weitere Beispiele, die die Tragweite seiner Methoden belegen sollen, und er hoffte auch im Hinblick auf Schwarzsche Untersuchungen Doppelintegrale einbeziehen zu können. WEIERSTRAß betonte aber auch: “Auf die Entwicklung von Formeln allgemeinster Geltung einzugehen, ohne daß Aussicht vorhanden wäre, daß jemals eine Anwendung davon gemacht werde, halte ich nicht für zweckmäßig, überlasse es wenigstens gern anderen”. Alles in allem unterbreitete WEIERSTRAß damit eine ziemlich ausgearbeitete Gliederung eines Buchprojektes (siehe hierzu Abschnitt 3.6.2). Das Thema wurde mit dem Verweis auf eine wünschenswerte Besprechung in den Ferien abgeschlossen.91 SCHWARZ replizierte umgehend am 16. März 1885: “Ich bin mehr wie je gesonnen, Ihre Untersuchungen über Variationsrechnung für einen größeren Leserkreis darzustellen und fühle mich hochgeehrt dadurch, daß Sie mich dazu für geeignet halten”. Im Nachlaß von SCHWARZ befindet sich ein auf den 1. April 1885 datiertes Blatt, auf dem sich SCHWARZ bereits Notizen über eine einheitliche Bezeichnungen für die Ausarbeitung Variationsrechnung gemacht hat.92 Zu einem Gespräch über den Plan ist es offenbar im Sommer nicht gekommen,93 denn WEIERSTRAß nahm das Thema erst in seinen Weihnachtsferien in Montreux am 20. Dezember 1885 wieder auf, als er die beiden in den Urlaub mitgenommenen Vorlesungsmitschriften aufzählte: die des Mathematischen Vereins von 1879 und die von ALFONS DELISLE (?-1882) aus dem SS 1882. Er bemerkte: - “doch werde ich damit wohl ausreichen. Ich bitte nun, schreiben Sie recht bald, wie Sie sich die Bearbeitung der Variationsrechnung denken. Ich glaube, es wird das beste sein, mit der eigentlichen V.R. [Variationsrechnung] zu
91. Nachlaß Schwarz. Brief an Schwarz vom 14. 3. 1885. Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie. 92. Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie, Nachlaß Schwarz, Notizen betr. Weierstraß, Blatt 426. 93. Schwarz war zunächst in Dänemark im Urlaub, weilte dann in Finnland und erhielt schließlich von Klein eine Einladung nach Leipzig, der er von Finnland aus umgehend nachkam, da er an einem Ruf auf die Stelle des in Leipzig scheidenden Kleins interessiert war. Auf der Reise nach Leipzig besuchte Schwarz auch Weierstraß, aber die kurze Zeit werden beide wohl dazu benutzt haben, die sie bewegenden Fragen zu erörtern, die mit dem Wechsel von Klein nach Göttingen verbunden waren. Vgl. hierzu R. Thiele, “Felix Klein in Leipzig”, Jahresbericht der DMV, 102 (2000), 69-93.
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beginnen; ist diese einmal fertig, so wird die Theorie der Maxima und Minima schon nachkommen.94 Was den Modus der Herausgabe angeht, so füge ich mich darin gern Ihrer Ansicht – aber erst muß das Manuskript fertig sein, ehe darüber ein definitiver Beschluß gefaßt werden kann.”95 Am 25. März 1886 griff SCHWARZ das Thema abermals auf. Nachdem er seine Enttäuschung anklingen ließ, da WEIERSTRAß sich noch nicht zu seiner Festschrift96 geäußert hatte, machte sich SCHWARZ Gedanken über die Schwierigkeiten, seine in dieser Arbeit benutzte Methode auf beliebige zweidimensionale Variationsprobleme zu übertragen. Nach einer klagenden Bemerkung, daß er die Ausarbeitung der Variationsrechnung nicht beginnen könne, ehe er die Formelsammlung zu den elliptischen Funktionen97 abgeschlossen habe (ein leidiges Dauerthema der Briefe), zählte SCHWARZ die Vorlesungsmitschriften auf, die er sich inzwischen verschafft hatte: SS 1865 eigene Mitschrift, SS 1867 Mitschrift Kiepert, WS 1869/70 keine Mitschrift vorhanden, SS 1872 Mitschrift Ott, SS 1875 Mitschrift Hettner (deren Schluß unvollständig ist), SS 1877 Mitschriften von Mangoldt, H. Meyer, SS 1879 Mitschriften Rudio, Bolza, Maser, O. Hölder, SS 1882 Mitschriften Burkhardt, Bennecke, SS 1884 Mitschrift Howe, autographierte Ausarbeitung Jahnke. Mit Recht bemerkte SCHWARZ daher: “An Material fehlt es mir, wie Sie sehen nicht; nun handelt es sich also zunächst um die Gewinnung der erforderlichen guten Stimmung, ohne welche man eine solche Arbeit nicht durchführen kann.”98 Der Briefwechsel berührt in den kommenden Jahren zwar noch Variationsprobleme, aber die schlechte gesundheitliche Verfassung von WEIERSTRAß brachte ab Sommer 1887 keine eingehenden Diskussionen mehr, und als 94. Es war seinerzeit üblich, die Variationsrechnung mit einem Kapitel über die Extrema von Funktionen zu beginnen. 95. Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie, Nachlaß Schwarz. Brief an Schwarz vom 20. 12. 1885. Der Schweizer Student Delisle hatte in Heidelberg und Berlin studiert und war im Herbst 1882 gestorben. 96. Über ein die Flächen kleinsten Flächeninhalts betreffendes Problem der Variationsrechnung, (“Festschrift zum 70. Geburtstag von Weierstraß”), Helsingfors, Druckerei der Finnischen Literaturgesellschaft, 1885; auch in: Gesammelte Mathematische Abhandlungen, Bd. 1, Berlin, Springer, 1890, 223-269. 97. Schwarz hat zu den Weierstraßschen Vorlesungen über elliptische Funktionen in langwieriger Arbeit eine zugehörige Formelsammlung “Formeln und Lehrsätze…” (Göttingen 1889) zusammengestellt. 98. Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie, Nachlaß Schwarz. Brief von Schwarz vom 25. 3. 1886.
DIE WEIERSTRAßSCHE WENDE
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SCHWARZ 1892 nach Berlin wechselte, beschränkte sich der Briefwechsel lediglich auf kurze Einladungsschreiben. Am 9. März 1891 hatte jedoch SCHWARZ mit WEIERSTRAß einen Vertrag über die Herausgabe der Weierstraßschen Variationsrechnung abgeschlossen, der folgende Punkte enthielt: Das Honorar wird gleichmäßig zwischen WEIERSTRAß bzw. seinen Schwestern und SCHWARZ geteilt, SCHWARZ liefert das Manuskript nebst Abbildungen und erledigt die Korrekturen, einen festen Abgabetermin gibt es allerdings nicht.99 Am 22. Juni 1893 wurde von der Berliner Akademie eine Kommission zur Herausgabe der Weierstraßschen Werke gebildet, der neben SCHWARZ noch LAZARUS FUCHS und GEORG FROBENIUS (1849-1917) angehörten.100 Ins Auge gefaßt wurden 6 Quartbände mit 50 bis 60 Bogen und einer Auflage von 1200 Exemplaren, der Verlag war Mayer & Müller (Vertrag vom 10. Juli 1893). Da WEIERSTRAß und SCHWARZ über die Variationsrechnung bereits eine Übereinkunft getroffen hatten, war diese offenbar in das Vorhaben nicht mehr aufgenommen worden. 1917 wurde HERMANN AMANDUS SCHWARZ emeritiert, und RUDOLF ROTHE als neuer Herausgeber beschrieb die vorgefundene Situation so: “Als die Verwirklichung dieser Absicht nicht mehr in Frage kam, beschloß […] die Kommission […] die Vorlesungen über Variationsrechnung in die mathematischen Werke aufzunehmen, und die Akademie der Wissenschaften stimmte dem zu. In bereitwilliger Weise hat Schwarz sogleich das gesamte Material, das er darüber bei der Hand hatte, mir übergeben. Dieses bestand leider nur aus einigen Vorlesungsnachschriften und -ausarbeitungen früherer Zuhörer von Weierstraß und einigen wenigen Bemerkungen, die Schwarz dazu notiert hatte, aber keinerlei Manuskript, das für den Druck hätte verwendet werden können, insbesondere kein Manuskript von Weierstraß selbst.”101 ROTHE hatte schon in dem Jahresbericht der DMV für 1916 in der Abteilung die Mitteilung (S. 43) einrücken lassen, daß eine Werkausgabe geplant sei und kündigte sein Interesse an diesbezüglichen Ausarbeitungen und Nachschriften an. Im Vorwort des Bandes 7 (Variationsrechnung) bemerkte ROTHE, daß er für fast jede Vorlesung in mindestens eine Nachschrift eingesehen habe, daß er sich aber bei der Herausgabe aus sachlichen Gründen nur auf die Vorlesungen ab 1875 beschränkt habe, da erst von dieser Zeit an die Variationsrechnung in dem Sinne, wie wir sie heute begreifen, bei WEIERSTRAß erscheine. In dem erwähnten Artikel von 1928102 und im Vorwort des siebenten Bandes zählte er die benutzten Nachschriften auf, nämlich
99. Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie, Nachlaß Schwarz, Vertrag [Abschrift], Blatt 427. 100. aaO., Herausgabe der Werke von Weierstraß, Blatt 428. 101. “Bericht über die Herausgabe des siebenten Bandes der Mathematischen Werke von Karl Weierstraß”, Jahresbericht der DMV, 37 (1928), 199-208, Zitat S. 200. 102. Siehe vorangehende Fußnote.
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KAPITEL 3
SS 1882 SS 1879
Mitschrift Burkhardt (in der Abschrift von Schwarz), Mitschrift des Mathematischen Vereins, Mitschrift Haenlein, SS 1872 Mitschrift Hettner. Diese Mitschriften befinden sich bis auf die Hettnersche Ausarbeitung noch im Mathematischen Institut der Humboldt-Universität; die Hettnersche Mitschrift war ROTHE durch einen Sohn von GEORG HETTNER (1854-1914) zur Verfügung gestellt worden. Merkwürdigerweise erwähnt ROTHE jene Nachschrift nicht, von der ADOLF KNESER in einem Brief vom 16. Juni 1904 berichtet hatte, daß “ein jüngerer hiesiger Mathematiker Hr. [Herr] Rothe zusammen mit Schwarz eine Abschrift einer Nachschrift der Weierstraßschen Variationsrechnung angefertigt [hat]; diese ist, wie ich jetzt erfahre an Brioschi[103] abgesandt. […] Die Nachschrift sei, wie mir Hr. Rothe sagte, nicht ohne Fehler und Lücken gewesen, aber es scheint, dass es sich um die beste in Schwarz’ Besitze befindliche Nachschrift handelt.”104 Aus den genannten Vorlesungen hat RUDOLF ROTHE den Band 7 geschaffen, wobei er sich bemühte, “mit Weierstraßscher Feder zu schreiben” und der Versuchung zu widerstehen, “von den Fortschritten der Variationsrechnung Gebrauch zu machen”. Besonderen Wert hat ROTHE auf die Burkhardtsche Ausarbeitung gelegt, da diese offenbar auch HERMANN AMANDUS SCHWARZ seiner Bearbeitung zugrunde legen wollte. Die Vorlesungen über Variationsrechnung sind auf diese Weise zwar ein gut lesbares mathematisches Buch geworden, allerdings – so klagte CARATHÉODORY in seiner erwähnten Rezension – auf Kosten der philologischen und historischen Akribie, da die Geschichte der Entdeckungen von KARL WEIERSTRAß in der Variationsrechnung gänzlich verwischt worden ist. Genauer führte CONSTANTIN CARATHÉODORY aus: “Das Werk von Weierstraß in diesem Gebiete enthält nämlich eine Zäsur, die durch die Entwicklung der E-Funktion im Jahre 1879 beherrscht wird. […] Manche werden also bedauern, daß wir nicht die Möglichkeit haben, die Vorlesung von 1864, die H.A. Schwarz gehört hatte, und die Vorlesung von 1875, die Hettner ausgearbeitet hat, von der historischen Vorlesung von 1879 auseinanderzuhalten.”105 ROTHE fühlte sich übrigens bemüßigt, um keine falschen Eindrücke zu erwecken, auf die Bücher Theory of maxima and minima und Lectures on the calculus of variations von HARRIS HANCOCK (1867-1944) einzugehen, da 103. Francesco Brioschi,1824-1897. Einflußreicher italienischer Mathematiker. 104. Institut Mittag-Leffler, Djursholm. 105. Deutschen Literaturzeitung, 1928, Heft 1; auch in: Gesammelte mathematische Schriften, Band 5, München, Beck, 1957, 343-344, Zitat S. 344.
DIE WEIERSTRAßSCHE WENDE
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diese streckenweise eine wörtliche Übersetzung der Mitschrift des Mathematischen Vereins (SS 1879) darstellen. Im Zusammenhang mit den Schwarzschen Vorlesungen und mit der Kontroverse HANCOCK-BOLZA werden wir auf diese Publikationen noch einzugehen haben (siehe Abschnitte 6.4.1.). 3.4.2 Inhalt des Bandes 7 der Mathematischen Werke (Variationsrechnung) Für unsere historische Diskussion ist der Band durchaus von Nutzen, da er jenen mathematischen Hintergrund der Variationsrechnung entwickelt zeigt, der in den frühen Vorlesung nur als Keim angelegt gewesen ist. Da WEIERSTRAß im Grunde genommen den Aufbau seiner Vorlesungen unverändert gelassen hat und da er sie nur gemäß seinem Erkenntnisstand präzisierte und erweiterte, haben wir überdies mit ROTHES Gliederung einen transparenten Rahmen zur Verfügung, der einen schnellen Vergleich und eine bequeme Einordnung unterschiedlicher Mitschriften erlaubt. Zu diesem Zweck geben wir nachfolgend das Inhaltsverzeichnis des Bandes 7 wieder, wobei wir auf detaillierter Angaben für den ersten Abschnitt verzichten: “Erster Abschnitt. Theorie der Maxima und Minima von Functionen einer und mehrerer Veränderlichen .. Zweiter Abschnit Variationsrechnung Siebentes Kapitel. Einleitende Bemerkungen. – Über die Rotationsfläche kleinsten Flächeninhalts. [Nachbarschaftsbegriff, Beispiele: Differentialgleichung der Kettenlinie und zugehörige Rotationsfläche] Achtes Kapitel. Fortsetzung. Darstellung der Coordinaten als Functionen eines Parameters. Andere specielle Probleme der Variationsrechnung. [Parameterdarstellung einer Kurve, Beispiele: Brachistochronenproblem, kürzeste Linie auf einer Fläche, isoperimetrische Probleme] Neuntes Kapitel. Eigenschaften der Function F(x, y, x', y') . [positiv homogene Integranden erster Ordnung, Erklärung der Funktion F1, mögliche Verallgemeinerungen auf mehrere gesuchte Funktionen sowie mehrere unabhängige Variable und auch höhere Ableitungen; Einschränkung auf zwei gesuchte Funktionen eines Parameters sowie erste Ableitungen, dabei (stückweise) reguläre Kurven angenommen] Zehntes Kapitel. Die erste Variation und die Differentialgleichung G = 0. [notwendige Bedingungen über spezielle Lagrangesche Variationen, Nachbarschaft von Kurven über Polygonzüge erläutert, Eulersche Gleichung in der
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KAPITEL 3
Form von Weierstraß, Eulersche Gleichung auch in Abhängigkeit der Kurvenkrümmung] Elftes Kapitel. Die Stetigkeit von ∂F/∂x' und ∂F/∂y' . Andere Formen der Differentialgleichung G = 0. [“Erdmannsche” Knickbedingungen, Feld bei gegebener Entwickelbarkeit nach x und y] Zwölftes Kapitel. Einige Beispiele zum zehnten und elften Kapitel. [Rotationsfläche kleinsten Inhalts nebst Entartungsfall, Brachistochrone, kürzeste Linie auf Flächen; nur notwendige Bedingungen, die tatsächliche Minimalität bleibt noch offen] Dreizehntes Kapitel. Die zweite Variation. [Entwicklung der totalen Variation in eine Reihe nach den Variationen, besondere Betrachtung der zweiten Variation, Legendresche Darstellung, notwendige Bedingungen für die zweite Variation, hinreichende Bedingungen für starke Extrema nicht ableitbar] Vierzehntes Kapitel. Fortsetzung. Vorzeichenbedingung der Function F1. [Weitere Untersuchungen der Legendreschen Darstellung und Vorzeichenbedingung für F1, Stetigkeit und Endlichkeit der Lösung v, F1 ≠ 0 nicht hinreichend für starke Extrema mit Gegenbeispiel Rotationsfläche kleinsten Widerstandes.] Fünfzehntes Kapitel. Untersuchungen von Jacobi. [Jacobische Differentialgleichung für u(t), allgemeine Lösung dieser Differentialgleichung, Lösbarkeitsbedingung für Randwertprobleme in Determinantenform, Feldbegiff wird vorbereitet] Sechzehntes Kapitel. Die conjugierten Punkte. [Jacobischer Satz über konjugierte Punkte, Zusammenhang mit Funktion u(t), Definition der Funktion Θ(t, t1), Beispiel Kettenlinie und Rotationsfläche kleinsten Inhalts, geometrische Deutung (Lindelöf)] Siebzehntes Kapitel. Beweis des Jacobischen Kriteriums. [Nachweis, daß kein Extremum, wenn konjugierte Punkte innerhalb des Intervalls, Auseinandersetzung mit einem Einwand von Bertrand] Achtzehntes Kapitel. Geltungsbereich der bisher gefundenen Bedingungen. Beispiele. [Notwendige Bedingungen: G = 0, F1 ≥ 0, keine konjugierten Punkte, für schwache Extrema auch hinreichend; F1 = 0 in (einzelnen) Punkten mit gesonderter Untersuchung, damit für spezielle Klasse gewisser Abschluß; Beispiele: Rotationsfläche kleinsten Inhalt, Brachistochrone, kürzeste Linie auf der Kugel] Neunzehntes Kapitel. Fortsetzung. Functionentheoretische Hilfsmittel. [Feldbegriff, Auflösungssatz impliziter Funktionen]
DIE WEIERSTRAßSCHE WENDE
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Zwanzigstes Kapitel. Geometrische Bedeutung der conjugierten Punkte. [Lösung des Randwertproblems der Gleichung G = 0, Flächenstreifen] Einundzwanzigstes Kapitel. Über den Rotationskörper, dessen Begrenzungsfläche der Luft den geringsten Widerstand entgegensetzt. [Bedingungen des 18. Kapitels für starkes Extremum nicht hinreichend] Zweiundzwanzigstes Kapitel. Die vierte nothwendige Bedingung. [Positivität/Negativität der Exzeßfunktion] Dreiundzwanzigstes Kapitel. Beweis, dass die vierte Bedingung auch eine hinreichende ist. [starke Variation, hinreichendes Kriterium mit Exzeßfunktion auch bei starker Extremalität] Vierundzwanzigstes Kapitel. Ergänzende Bemerkungen. Beispiele. [Darstellung der Exzeßfunktion, Existenz des Flächenstreifens, atmosphärischer Lichtweg] Fünfundzwanzigstes Kapitel. Isoperimetrische Probleme. Sechsundzwanzigstes Kapitel. Beispiele isoperimetrischer Probleme. Siebenundzwanzigstes Kapitel. Hinreichende Bedingungen. Achtundzwanzigstes Kapitel. Begründung der im vorigen Kapitel gemachten Voraussetzungen. Neunundzwanzigstes Kapitel. Fortsetzung und abschließende Betrachtungen. Dreissigstes Kapitel. Beispiele. Einunddreissigstes Kapitel. Variation der Endpunkte und unfreie Variationen”. Wir referieren kurz den durch das Inhaltsverzeichnis gegebenen Überblick, soweit er für unsere Überlegungen in Betracht kommt. Erst der zweite Abschnitt des Buches behandelt die eigentliche Variationsrechnung, wobei sich die Theorie auf den einfachen Fall eines Variationsproblem einer gesuchten Funktion einer Variablen in parametrischer Darstellung und fest vorgegebenen Randwerten beschränkt: J =
b
∫a F ( x, y, x', y' ) dt → extremum .
(Gelegentliche Abweichungen wie das Einbeziehen von höheren Ableitungen oder das Betrachten mehrfacher Integrale, insbesondere in den frühen Vorlesungen, berühren unsere Interessen nicht.) Als notwendige Extremalitätsbedingung wird die Eulersche Differentialgleichung in Weierstraßscher Form hergeleitet, indem unter Verwendung der Definition F x'y' F x'x' F y'y' - = – --------- = --------F 1 = --------2 2 y'x' y' x'
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aus den beiden Differentialgleichung d- --------------------------------∂F ( x, y, x', y' )- --------------------------------∂F ( x, y, x', y' )--– = 0, dt ∂x' ∂x d- --------------------------------∂F ( x, y, x', y' )- --------------------------------∂F ( x, y, x', y' )--– = 0, dt ∂y' ∂y
die Gleichung G = F 1 ( x, y, x', y' ) ( x'y'' – y'x'' ) + F y'x' ( x, y, x', y' ) – F x'y' ( x, y, x', y' ) = 0
gefolgert wird. Nachdem die Betrachtungen über die erste Variation abgeschlossen sind, folgt eine ausführliche Behandlung der zweiten Variation. Aus diesen Betrachtungen und den folgenden Jacobischen Untersuchungen über konjugierte Punkte zweigen später die feldtheoretischen Betrachtungen ab. Die Ausführungen lassen sich kurz in drei Ergebnissen (notwendige Bedingungen für zweimal stetig differenzierbare Extremalen) zusammenfassen: 1) Eine Lösung des Variationsproblem muß der Gleichung G = 0 (Eulersche Differentialgleichung) genügen, 2) F1 darf längs der Extremalen das Vorzeichen nicht wechseln (LegendreBedingung), also F1 ≥ 0 oder F1 ≤ 0, 3) Auf dem betrachteten Extremalenbogen dürfen keine Paare konjugierter Punkte liegen (Jacobische Bedingung); analytisch durch die beiden Endpunkte mit den Parameterwerten ti für die Extremale ausgedrückt durch: Θ(t, t1) ≠ 0 für t1 < t < t2. Verschärft man die Legendre-Bedingung und fordert Positivität bzw. Negativität, dann sind diese drei Bedingungen im Kleinen hinreichend für ein schwaches Extremum. Konjugierte Punkte erklärt WEIERSTRAß geometrisch als Grenzlage (Schnittpunkte) zweier unendlich benachbarter Extremalen mit gemeinsamen Ausgangspunkt A. Damit ist der Weg frei, um das Extremalenfeld einzuführen bzw. einen die in Rede stehende Extremale umgebenden Flächenstreifen. Der Flächenstreifen ist dadurch charakterisiert, daß er von den Extremalen, die vom Punkt A ausgehen, schlicht überdeckt wird bzw. zu jedem Punkt im Streifen existiert genau eine Extremale, die diesen Punkt mit A verbindet. An dem bekannten Paradoxon der Variationsrechnung, dem Rotationskörper mit minimalen Luftwiderstand legt WEIERSTRAß dar, daß für seine starken Variationen die obigen drei Bedingungen nicht mehr hinreichend sind. Er führt daher im Hinblick auf starke Extrema mittels seiner Exzeßfunktion (x, y, p, q, p, q ) eine zu 2) analoge notwendige Bedingung für die Exzeßfunktion ein:
ε
ε(x, y, p, q, p, q ) ≥ 0. Indem WEIERSTRAß innerhalb seines Flächenstreifens die totale Variation des Variationsproblems durch die Exzeßfunktion ausdrückt, kann er nachweisen, daß Positivität der Exzeßfunktion hinreichend für starke Extrema ist:
DIE WEIERSTRAßSCHE WENDE 0
0
∆J = J ( x, y ) – J ( x , y ) =
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∫t ε ( x, y, x ', y ', x', y' ) dt . t2
0
0
1
Die weiteren Kapitel (ab Kapitel 25) beziehen sich auf isoperimetrische Variationsprobleme, und im letzten Kapitel werden schließlich Sätze über die Variation der Endpunkte eines Kurvenstücks sowie über unfreie Variationen gezeigt. Die theoretische Darlegung rankt sich um die Behandlung einiger Standardbeispiele: Brachistochronenproblem, Problem der kürzesten Linie sowie die Probleme der Rotationsfläche mit minimalem Luftwiderstand und mit kleinstem Flächeninhalt. ANDERS WIDMAN (1865-1959)106 hat in einer Arbeit einige Weierstraßsche Beispiele unter eine allgemeine Form gebracht:
∫y
n
2
1 + y' dx 107;
für n = 1 ergibt sich die minimale Rotationsfläche, für n = -1/2 die Brachistochrone und für n = 1/2 das Prinzip der kleinsten Aktion. Die Lösungen sind für n < 0 vom Brachistochronentyp (Zykloidenbögen oder Halbkreise; es gibt nur eine Lösung des entsprechenden Randwertproblems) und für n > 0 vom Kettenlinientyp (es gibt bis zu zwei Lösungen des Randwertproblems, die Tangenten konjugierter Punkte schneiden sich auf der x-Achse108). Die von WEIERSTRAß ausgewählten Beispiele sind zu Standardbeispielen in den Lehrbüchern und Vorlesungen zur Variationsrechnung geworden; beispielsweise findet man sie als Anhang Four classical problems of the calculus of variations zur Arbeit The calculus of variations from the beginning through optimal control theory109 von EDWARD JAMES MCSHANE (1904-1989) aus seinem Todesjahr 1989. 3.5. Die Vorlesungen von Weierstraß über Variationsrechnung 3.5.1 Das historische Umfeld Die Tragweite der Weierstraßschen Darstellung der Variationsrechnung wird eindrücklicher werden, wenn wir vorab das Umfeld kurz skizzieren, aus dem sie entstanden ist. Bis in die Zeit von WEIERSTRAß war kein vollständiger Beweis für die Existenz relativer Extrema geliefert worden, und nicht einmal die notwendige 106. Studium 1885-1893 in Lund, dort Promotion 1893, dann ab 1901 Professor in Upsala. 107. A. Widman, “Über das Minimum des Integrals…”, Archiv der Mathematik und Physik, 13 (1908), 41-48. 108. Vgl. hierzu auch die Arbeit von L. Bianchi, “Sopra un’estensione di un teorema di Lindelöf nel calcolo delle variazioni”, Rendiconti (Roma), 19 (1910), 705-711; desgl. den Abschnitt über Lindelöf 3.8. 109. E.J. McShane, “The calculus of variations from the beginning through optimal control theory”, SIAM. Journal on control and optimization, 27 (1989), 916-939, Appendix, 925-939.
180
KAPITEL 3
Unterscheidung über die möglichen Extrema bzw. die Festlegung der Klasse der zulässigen Vergleichselemente war klar erkannt worden. Das Bedürfnis, die Minimalität oder Maximalität der erhaltenen Kurven bzw. Funktionen nachzuweisen, nahm erst seit Beginn des 19. Jahrhunderts zu. Entsprechende Versuche, Kriterien für Hinlänglichkeit zu schaffen, beruhten dabei ausschließlich auf der Taylorentwicklung der totalen Variation ∆J in eine Reihe nach den Variationen und waren letztlich auf die Untersuchungen der zweiten Variation beschränkt. Obwohl ISAAC TODHUNTER (1820-1884) 1861 darauf verwiesen hatte, daß eine solche Entwicklung die einbezogenen Ableitungen einschränkt,110 blieb diese Feststellung beim Studium der zweiten Variation mehr oder weniger unbeachtet, und selbst TODHUNTER machte von seiner Einsicht nur Gebrauch, um das sogenannte Legendresche Paradoxon der Variationsrechnung beim Newtonschen Problem aufzulösen. EULER und LAGRANGE hatten der Variationsrechnung eine analytische Ausrichtung gegeben, die an der Berliner Universität durch die abstrakten, aber sehr formalen Untersuchungen von ENNO HEERE(N) DIRKSEN (1788-1850), etwa in Analytische Darstellung der Variationsrechnung (1823), und MARTIN OHM, etwa in Die Lehre vom Größten und Kleinsten (1825), ihres eigentlichen Inhalts beraubt worden waren. OHM umriß die Zielstellung der Variationsrechnung, die “von Einigen zu den abstraktesten gezählt wird” so: “Die erste dieser beiden Aufgaben [der Lehre vom Größten und Kleinsten] ist es nun, welche das Wesen der sogenannten Variations=Rechnung ausmacht, und sie ist offenbar die allgemeinere von beiden, da sie überhaupt die Entwicklung von Reihen zum Zwecke hat, also nicht bloß in der Lehre vom Größten und Kleinsten, sondern überhaupt […] angewandt werden kann.”111 Grob gesagt, wurden bei dieser Auffassung für immer neue Problemklassen weitläufige Formeln abgeleitet, bei denen letztlich die Kettenregel zu Tode geritten wurde und denen kein besonderes theoretisches Interesse zugesprochen werden kann, wobei deren praktischer Wert darüber hinaus fragwürdig ist (vgl. das Zitat von WEIERSTRAß über allgemeine Formeln in Abschnitt 3.3).112 OHM hatte in seinem Versuch eines vollkommen consequenten Systems der Mathematik bekannt, daß die Lehre vom Größten und Kleinsten “vorzüglich die Kunst in Anspruch nimmt, die Gleichung δF = 0 gehörig in die durch sie bedingten einzelnen Gleichungen [also vor allem gemäß Kettenregel] zerfällen zu können.”113 Praktikable Kriterien für hinreichende Bedingungen finden sich
110. A history of the calculus of variations, Cambridge, University Press, 1861, 3. 111. Die Lehre vom Größten und Kleinsten, Berlin, Riemann, 1825, Vorrede, S. IX. 112. Ein solches operationales Denken in der Analysis entsprach durchaus dem “mathematischen Zeitgeist”, man vergleiche hierzu etwa R. Carmichael, Der Operationscalcul, dtsch. von C.H. Schnuse, Braunschweig, Vieweg, 1857. 113. Versuch eines vollkommen consequenten Systems der Mathematik, Teil 4, Berlin, Riemann, 1830, 124.
DIE WEIERSTRAßSCHE WENDE
181
in diesen pedantisch ausgeführten Arbeit nicht,114 und OHM bemerkte in seinem Lehrgebäude der gesammten höhern Mathematik115 sogar, man solle letztlich auf die totale Variation selbst zurückgreifen, um eine Entscheidung zu treffen. Analog äußerte er sich auch im Versuch: “Weil aber die Auffindung von δ2V oft mühsam ist, und die Untersuchungen, ob ein solches δ2V, für die Werthe der Elemente, welche δV = 0 machen, positiv oder negativ wird, oft ein noch viel mühsameres Geschäft werden kann, so muß man immer in einzelnen Fällen der Praxis lieber Vκ - V [= ∆V] direkt ansehen, und […] zu der Überzeugung sich hinzuarbeiten streben, daß Vκ - V für die in Rede stehenden Werte […] immerfort positiv oder immerfort negativ bleibe.”116 CARL GUSTAV JACOB JACOBI hat in der Auseinandersetzung mit einer Schlußweise von LEGENDRE (siehe Abschnitt 4.3) seine Vorstellungen in einem 1837 im Journal für Mathematik abgedruckten Brief an JOHANN FRANZ ENCKE (1791-1865)117 skizziert, daß nämlich das Vorzeichen der zweiten Variation – geometrisch gesprochen – von der Lage der später als konjugiert bezeichneten Punkten auf der Extremalen abhängt,118 und WEIERSTRAß hatte in den Vorlesungen erstmals gezeigt, daß bei geeigneter Lage der konjugierten Punkte die zweite Variation bei einem Minimumproblem sogar kleiner als null gemacht werden kann. Aber noch 1846 resümierte der junge OSKAR SCHLÖMILCH (1823-1901) so kurz wie falsch in der vielbändigen Allgemeinen Encyklopädie des Wissens und der Künste: “Im Allgemeinen ist noch zu erinnern, daß wenn die Natur einer [Variations-] Aufgabe […] einen Zweifel übrig läßt, ob die gefundene Gleichung zwischen x und y einem Maximum oder Minimum zugehört, man dies durch Untersuchung des Integrals b 2
d U
- dx ∫a --------2 dt
114. Über zeitgenössische Einschätzungen Ohms sehe man K.-R. Biermann, Die Mathematik und ihre Dozenten an der Berliner Universität, Berlin, Akademie-Verlag, 1988, 27-34; B. Bekemeier, Martin Ohm, Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, 1987, Bekemeyer geht allerdings auf die Variationsrechnung gar nicht ein. 115. Leipzig, Volckmar, 1839, §§ 78-84. 116. Versuch eines vollkommen consequenten Systems der Mathematik, Teil 7, Berlin, Riemann, 1833, 188. Siehe hierzu auch Jacobis Ansicht zur Erklärung eines Extremums, die in Abschnitt 3.5.2.1 zitiert wird. 117. Astronom, Studium 1811-1816 in Göttingen, auch bei Gauß. Leiter der Sternwarte am Seeberg bei Gotha und später in Berlin (1825), dort 1844 Professor der Astronomie, langjähriger Sekretär der Mathematische-physikalischen Klasse der Berliner Akademie. 118. “Zur Theorie der Variations-Rechnung und der Differential-Gleichungen”, Journal für Mathematik, 17 (1837), 68-82; auch in: Werke, Bd. 4, 39-55.
182
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oder der darauf folgenden [Variation] von gerader Ordnung entscheiden kann, was wir hier wegen der damit verbundenen Weitläufigkeit übergehen müssen.”119 Obwohl in den gerade erwähnten Untersuchungen eine scheinbare Allgemeinheit erreicht wurde, da nicht zwischen einer Funktion und einer Integralfunktion (Funktional) unterschieden wurde, waren die einschlägigen Arbeiten im Umfeld von OHM und DIRKSEN vor allem sehr formal und blieben letztlich auf dem Gebiet der Variationsrechnung inhaltsleer. Charakteristisch für den fehlenden Inhalt waren die erbitterten Kontroversen zwischen den Autoren MARTIN OHM, ENNO DIRKSEN und GEORG WILHELM STRAUCH (18111868)120 und selbst dem Übersetzer HEINRICH CHRISTIAN SCHNUSE (18351872?) über lediglich formale Fragen.121 WEIERSTRAß “schloß” sich in allen Vorlesungen dieser Tradition insoweit an, als er sich vor der eigentlichen Variationsrechnung dem Studium der Extrema von Funktionen zuwandte, um in einem ausführlichen propädeutischen ersten Teil die Variationsrechnung vorzubereiten. Eines der wenigen derzeitigen Konzepte, das auf diese methodische Einstimmung verzichtete, lag den Vorlesungen von OTTO HESSE (1811-1874) zugrunde, in denen sofort in media res gegangen wurde.122 In einem historischen Rückblick in der Vorlesung vom SS 1875 hat sich WEIERSTRAß zur Lage der seinerzeitigen Variationsrechnung ausführlich geäußert. Eine Mitschrift gibt an: “Die Variationsrechnung hat seit langer Zeit das Schicksal gehabt, ob mit Recht oder Unrecht, will Weierstraß hier nicht entscheiden, obgleich er eine ganz bestimmte Ansicht darüber hat, für den abstractesten Theil der Mathema-
119. Stichwort “isoperimetrisches Problem” in J.S. Ersch und J.G. Gruber, Encyklopädie, 2. Section, 25. Theil, Leipzig, Brockhaus, 1846, 90. 120. Martin Ohm. Bruder des Physikers Georg Ohm (1789-1854), weitgehender Autodidakt, Schuldienst in der Mathematik, Habilitation 1821 in Berlin trotz der Ablehnung des Dekans G.W.F. Hegel, dort 1824 Extraordinarius, seit 1839 Ordinarius; Enno Dirksen, Studium in Göttingen, Habilitation 1820 in Berlin und Extraordinariat, dort seit 1824 Ordinarius; Ohm und Dirksen waren erbitterte Rivalen; ausführlichere Angaben in K.-R. Biermann, Die Mathematik und ihre Dozenten an der Berliner Universität, Berlin, Akademie-Verlag, 1988, 27-33. Georg Wilhelm Strauch, Lehrer der Mathematik, Hauptwerk ist seine Theorie und Anwendung des Variationscalcul’s (Zürich, Meyer & Zeller, 1849); zu Encke siehe Fußnote 117. 121. Man lese hierzu die Vorworte von M. Ohm, Die Lehre vom Größten und Kleinsten (Berlin, 1825), W. Strauch, Theorie und Anwendung des sogenannten Variationscalcul’s (Zürich, 1844, Band 1, 2. Aufl. 1854), die von H.C. Schnuse verdeutsche Ausgabe von J.H. Jellet, An elementary treatise on the calculus of variations (Braunschweig, 1860) oder F.L. Stegmann, Lehrbuch der Variationsrechnung und ihrer Anwendung (Kassel, 1854). M. Cantor bezeichnet in der Allgemeinen Deutschen Bibliographie (Leipzig, Duncker, 1893, 528) Strauchs Variationsrechnung (Zürich, 1844), “wenn auch die breite und doch nicht immer durchsichtige Schreibart […] das Lesen einigermaßen erschwert”, sogar “als das erste eigentliche Lehrbuch dieser Disziplin”! Carathéodory erklärt hingegen in seinen Anmerkungen zur Literatur: “Die Werke von Ohm und Strauch sind heute wertlos und werden nur der Vollständigkeit halber erwähnt.” (Variationsrechnung und partielle Differentialgleichungen, Leipzig, B.G. Teubner, 1935, 397). 122. Vorlesung Variationsrechnung, gehalten 1859 oder 1862. Mathematisches Institut der Universität Tübingen.
DIE WEIERSTRAßSCHE WENDE
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tik zu gelten. Schellbach[123] pflegte zu sagen, daß ihm noch kein zu Examinierer vorgekommen sei, der die Methoden der Variationsrechnung ordentlich verstanden habe. Dazu haben wesentlich die verbreiteten Lehrbücher über Variationsrechnung beigetragen. Hätte man sich aber die Mühe gegeben, die unvollkommenen Methoden von Lagrange und Euler mit den jetzigen Hilfsmitteln der Analysis zu beseitigen, so wäre man zu vollkommen klaren Begriffen gelangt.”124 An der Berliner Universität wurden in dem Dezennium vor WEIERSTRAß Vorlesungen über diesen Gegenstand im Jahre 1865 von FRIEDRICH ARNDT (1817-1866) (SS 1856, SS 1864), CARL BORCHARDT (SS 1857, SS 1861) und von MARTIN OHM (SS 1865) gelesen. 3.5.2 Die Vorlesungen über Variationsrechnung Die einschlägigen Schwierigkeiten bei der Benutzung von Quellen wie Mitschriften und Ausarbeitungen sind hinreichend bekannt und bedürfen keiner weiteren allgemeinen Erörterung; im Einzelfall werden wir in gebotener Weise über die Verläßlichkeit einer Aussage in einer Mitschrift, einer Ausarbeitung oder einer Abschrift zu urteilen haben. 3.5.2.1 Vorlesung SS 1865, privatim 4h Ausarbeitung von H.A. Schwarz. Handschriftliche Nachschrift (deutsche Kurrentschrift) der Schwarzschen Ausarbeitung, Besitzvermerk L. Kiepert. 260 S.125 Mathematisches Institut der Universität Bonn Nachdem WEIERSTRAß auf knapp der Hälfte der 260 Seiten eine “Einleitung” und eine “Theorie der Maxima und Minima” abgehandelt hatte, widmete er sich im zweiten Teil der Variationsrechnung, ohne dabei über die Theorie der ersten Variation hinauszugehen. Die Vorlesung enthält auffällig viele Problemtypen wie z.B. höhere Ableitungen im Integranden, mehrfache Integrale, verschieden Randbedingungen (freie Ränder, teilweise fest vorgegebene Extremalenstücke), unfreie und einseitige Variationen, von denen WEIERSTRAß sagt, daß sie grundsätzlich mit den dargestellten Methoden zu behandeln seien. Die künftigen Standardbeispiele (Brachistochronenproblem,
123. Karl Heinrich Schellbach (1804-1892), Studium der Mathematik in Halle 1824-1828, lehrte an höheren Bildungseinrichtungen, u.a. an der Berliner Kriegsakademie, gründete ein Lehrerseminar, Mitherausgeber des Journals für die reine und angewandte Mathematik, beteiligt an der Gründung des Mathematischen Seminars der Berliner Universität sowie der Physikalisch-technischen Reichsanstalt. 124. Vorlesung Variationsrechnung. Mitschrift von unbekannter Hand, Institut Mittag-Leffler, Djursholm, 211. 125. Bei der Abschrift ist auf der Innenseite versehentlich SS 1867 angegeben, aber zu dieser Zeit war es Schwarz nicht mehr möglich, die auf vier Wochentage verteilte Vorlesung zu hören.
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kürzeste Linie auf einer Fläche, Kettenlinie und das Problem der rotationssymmetrischen Minimalfläche) erscheinen bereits. Die Darlegungen sind sehr geometrisch angelegt. Die Variation wird etwa zum Zwecke der geometrischen Veranschaulichung umgeformt, so daß ihre normalen und tangentialen Anteile deutlich werden (S. 162) oder daß die Krümmung der extremalen Kurve erscheint (S. 164). Der Nachbarschaftsbegriff ist (noch) der des geometrischen Abstandes (S. 122), modern der des Raumes der stetigen Funktionen. Die Fassung der Variationsprobleme als Parameterprobleme wird anschaulich über das Beispiel der kürzesten Linie auf einer Fläche motiviert (S. 120) und anschließend allgemein aufgeschrieben, die [positive] Homogenitätsforderung an den Integranden bezüglich der Ableitungen folgt aus den entsprechenden Eigenschaften des Abstandes in differentieller Form (S. 121). Das gleiche Beispiel wird auch herangezogen, um anhand des Zusammenhangs von Anfangswertaufgabe und Randwertproblem einer Differentialgleichung den Begriff des Extremalenfeldes zu veranschaulichen, wobei die Bezeichnung selbst noch nicht gebraucht wird. Dabei wird in dem Beispiel der kürzesten Linie sehr klar die Frage nach dem Vorhandesein eines Extremums gestellt (S. 142): “In der Integralrechnung wird nun gezeigt, daß wenn zu einem bestimmten Werthe von σ [Bogenlänge der Curven mit den Gleichungen u(σ) und v(σ)], etwa σ = 0, die zugehörigen Werthe von u und v u0 und v0 gegeben sind, sowie die Werthe ihrer Ableitung du/dσ und dv/dσ, durch welche die anfängliche Richtung der Curve bestimmt wird, daß dann durch diese Differentialgleichungen eine und nur eine einzige Curve u, v so weit bestimmt wird, bis notwendig durch die Bedingungen der Aufgabe eine Unstetigkeit eintritt. Diese Anfangswerthe müssen nun bei unserer Aufgabe so gewählt werden, daß die Curve durch die beiden gegebenen Endpunkte der kürzesten Linie geht. Bis wie weit aber eine Linie auf der Fläche, wenn sie der Differentialgleichung genügt, wirklich die kürzeste Linie ist, muß durch eine besondere Untersuchung ermittelt werden”. Überraschend und ohne erkenntlichen Bezug zum aktuellen Kontext notierte der Schreiber zwischen der Erörterung eines Beispiels und der Behandlung von Doppelintegralen folgende Äußerung von WEIERSTRAß (S. 244): “Was die Unterscheidung des Maximums und Minimus durch die eigentliche Variationsrechnung betrifft, so ist dieser Gegenstand noch nicht erschöpft. […] Clebsch hat auch Entwicklungen darüber gemacht, welche aber noch nicht so weit gediehen sind, daß sie zur praktischen Anwendung kommen können”. WEIERSTRAß bezieht sich hier auf einen Sachverhalt, den schon JACOBI kritisiert hatte und der gut jene Schwierigkeiten verdeutlicht, die die Mathematiker in dieser Zeit hatten. Das bekannte Zitat JACOBIS von 1857, das wir wegen seiner Aussagekraft wiedergeben wollen, lautet:
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“Um auf das Maximum und Minimum zurückzukommen: so ist ein Übelstand, daß im Gebrauch dieser Wörter solche Verwirrung herrscht. Man sagt, ein Ausdruck sei ein Maximum oder Minimum, wenn man nur sagen will, daß seine Variation verschwindet. Man sagt, eine Größe sei ein Maximum, wenn man nur sagen will, sie sei kein Minimum.”126 Auch auf JAKOB STEINERS Bedenken gegenüber der Variationsrechnung, die am Zustandekommen der Vorlesung beteiligt gewesen sein dürften, wird eingegangen, und sie werden am Beispiel entkräftet (S. 194). Übrigens hat diese Vorlesung auch GEORG CANTOR (1845-1918) gehört, der selbst später über diesen Gegenstand in Halle mehrfach vorgetragen hat. Das Verhältnis zu STEINER spiegelt sich in fast allen Vorlesungen in Randbemerkungen wieder; wir zitieren aus einer Mitschrift der letzten Vorlesung von 1884: “Zu eingehenden Studien der Variationsrechnung wurde W. [Weierstraß] zum Teil durch Steiner veranlaßt, der der Variationsrechnung, die seiner Zeit allerdings namentlich in den deutschen Lehrbüchern ganz ungenügend behandelt wurde, den Vorwurf machte, für viele Probleme mit ihren Methoden ganz unzulänglich zu sein. Bei einer speciell von Steiner aufgeworfenen Frage gelang es W., sich vom Gegenteil zu überzeugen.”127 3.5.2.2 Vorlesung SS 1867, privatim 4h Handschriftliche Ausarbeitung (deutsche Kurrentschrift) von L. Kiepert in einer vermutlich von H.A. Schwarz veranlaßten Abschrift; mit Randbemerkungen von H.A. Schwarz. 83 Seiten. Mathematisches Institut der Humboldt-Universität Berlin. WEIERSTRAß stellte in dieser Vorlesung wieder ausschließlich das Gebiet der ersten Variation dar, aber es handelt sich nicht um eine Wiederholung der ersten Vorlesung. Die Nachschrift ist kürzer als die der ersten Vorlesung, und am Ende der Abschrift ist vom Kopisten eine Notiz von LUDWIG KIEPERT (1846-1934) aufgenommen worden, die besagt, daß die Fortsetzung nach der Ausarbeitung von “Herrn Prof. Schwarz” zu erfolgen habe, womit KIEPERT offenbar die Schwarzsche Mitschrift von 1865 meinte, von der er eine Abschrift besaß. Bemerkenswert an dieser Vorlesung ist beispielsweise die Erklärung der Aufgabe der Variationsrechnung, bei der vage der Begriff des Funktionals erscheint (S. 45):
126. “Zur Theorie der Variations-Rechnung und der Differential-Gleichungen”, Journal für Mathematik, 17 (1837), 68-82, Zitat S. 82; auch in: Werke, Bd. 4, 39-55. 127. Mitschrift Variationsrechnung (SS 1884). Staatsbibliothek Berlin, Ms. Germ. Quart 2246 (bzw. früher Mathe. Sem. Ww 20), S. 2 (6. 5. 1884).
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KAPITEL 3
“Bei den folgenden Aufgaben handelt es sich um die Bestimmung einer stetigen Folge von Größen, welche eine Funktion dieser Größen zum Maximum oder Minimum macht”. WEIERSTRAß beabsichtigte diese Aussage anhand der folgenden Beispiele zu veranschaulichen, aber bereits SCHWARZ hat am Rande vermerkt (S. 47), daß in der Nachschrift offenbar Mißverständnisse vorliegen. Wenn man die Vorlesung von 1865 heranzieht, so wird die Absicht von WEIERSTRAß deutlicher, als es die illustrierenden Beispiele in der mitgeschriebenen Form vermögen. WEIERSTRAß wollte die Beziehung zur Extremwertberechnung von Funktionen hervorheben, und er griff dazu auf die Approximation der Extremalen durch eine (stetige) Folge von Polygonen zurück. Genau genommen sind das jedoch unterschiedliche Probleme: ein Variationsproblem für die Extremale (Kurve) und ein Extremwertproblem für die Polygone. ADOLF KNESER hat 1907 gezeigt, daß sich das in Rede stehende Variationsproblem in strenger Weise als Grenzfall aus den Extremwertproblemen ergibt.128 Gegen WEIERSTRAß könnte man hier allerdings seine eigenen Worte aus der Vorlesung vom SS 1875 wenden: “Nun ist erstens der Begriff der Function im Allgemeinen sehr unklar. Die gewöhnlichen Erklärungen dieses Begriffes sind nur Worterklärungen oder solche, aus denen sich keine Folgerungen ziehen lassen.”129 Diese Worte geben den bereits vorn erörterten Grund an, weshalb er die von ihm als Bernoullische Funktionsdefinition bezeichnete Erklärung bis zu seiner eigenen Entdeckung des Approximationssatzes (Theorem von Weierstraß) stetiger Funktionen durch Polynome (1885) als “unhaltbar” ablehnte. In diesem Zusammenhang ist daher die von WEIERSTRAß gebrauchte abstrakte Fassung bemerkenswert. Wie bereits in der ersten Vorlesung wird beim Brachistochronenproblem nicht bemerkt, daß der scheinbar einfache Fall mit verschwindender Anfangsgeschwindigkeit des Massepunktes auf eine Singularität im Integranden führt, die die gemachten Voraussetzungen für die Ableitung verletzt. Allerdings ergänzte SCHWARZ das am Seitenrand (S. 60). In der Vorlesung vom SS 1875 ging dann auch WEIERSTRAß auf diese Frage ein und “erledigt” die Frage durch die Umkehrung des Problems, indem er nach dem schnellsten Aufstieg zum “singulären” Gipfelpunkt fragt.130 (Aus dieser Sicht kann man zum Brachistochronenproblem auch GEORG CHRISTOPH LICHTENBERG (1742-1799) zitieren, der die Frage des kürzesten Abstiegs gleichfalls unter umgekehrten Vorzeichen betrachtet hat, indem er die Flucht eines Vogels in einem Kalender128. A. Kneser, “Euler und die Variationsrechnung”, Gedenkband zum 200. Geburtstag von L. Euler, Leipzig, B.G. Teubner, 1907. Anhang I, 39-45. 129. Vorlesung Variationsrechnung SS 1875. Mitschrift im Institut Mittag-Leffler, Djursholm, 212. 130. aaO., 277.
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artikel “Über die Taktik der Tiere” (1792) erörterte: “Der Sperling, wenn er gejagt wird, wählt nicht die gerade Linie AC [zum Baumwipfel].”131) Auch die Beziehungen zu STEINER werden an mehreren Stellen erwähnt (S. 54, 76), und in Verbindung mit der Vorlesung im SS 1865 ergibt sich dieses Bild: Analytisch gesehen betraf STEINERS Einwand eine gewisse Konstante in den Eulerschen Differentialgleichungen eines Variationsproblems, deren Konstanz die stetige Differenzierbarkeit der gesuchten Funktion erfordert, was aber geometrisch nicht sachgemäß ist.132 Anhand der Goldschmidtschen Lösung bei Minimalflächen legte WEIERSTRAß dar, daß für Lösungen in Unstetigkeitspunkten der Ableitung (“Knick”) die Konstante den Wert wechseln kann, was zu zusammengesetzten Lösungen führen kann. Die Goldschmidtsche Lösung betrifft minimale Rotationsflächen, also solche, die sich durch Drehung einer Kettenlinie um eine Achse ergeben.133 Liegen die Endpunkte der Kettenlinie (bzw. die Breitenkreise der Rotationsfläche) hinreichend weit auseinander, so braucht das entsprechende Randwertproblem keine Lösung zu besitzen, genauer keine beide Punkte verbindende Kettenlinie (die beständig über der Drehachse verläuft). Es ist nur natürlich zu fragen, ob man das Minimum des Variationsproblems auch in solchen Fällen noch ermitteln kann, indem man etwa die Klasse der Verbindungslinien auf rektifizierbare Kurven ausdehnt. In einer Göttinger Preisschrift von 1831 hat BENJAMIN CARL WOLFGANG GOLDSCHMIDT (1807-1851)134 dies getan und als Lösung den Streckenzug angegeben, der aus den Loten der Endpunkte auf die Drehachse und der Verbindungsstrecke der beiden Fußpunkte besteht. Die 131. In den Sudelbüchern führte er detaillierter aus: “Diese Linie [Flugbahn des Vogels] ist vermutlich die Zyklois weil dieses die brachystochronae ist. Wenn ein Vogel von a [am Grund] nach b in der Höhe fliegen will[,]so wird er niemals in der punktierten Linie [Verbindungsgerade von a und b ] fliegen, sondern in der krummen abc. Denn wenn sie [die Vögel] auf der Flucht begriffen sind, so entfernen sie sich am geschwindesten, wenn sie nach ac zu fliegen und hernach sich auf einmal heben, allein sie heben sich doch von Anfang an auch gleich ein wenig, und diese Linie wird der beste Weg, wenn man sich gerne schnell entfernen, und doch auch in die Höhe will, und wird auf ihm die wenigste Zeit zugebracht, weil der horizontale Flug dem Vogel leichter ist als jeder andere, der ihn hebt. Eben dies habe ich bemerkt, wenn sie sich zu einem etwas entfernten Ort sich herablassen wollen.” Schriften und Briefe, hrg. von W. Promies, München, Hanser, 1992. Band II, 23 (Heft A, 211) und S. 231 (Heft J, 1268), der Artikel Über die Taktik der Tiere ist im Göttinger Taschen Calender für 1792, 116-128, abgedruckt. Freilich schränkte Lichtenberg nachfolgend ein, daß man dabei vom Luftwiderstand absehen müsse (aaO., 24; Heft A, 213). 132. Die analytische Fassung geometrischer Fragen erfordert in der Regel stärkere Annahmen, als sie in der Natur des geometrischen Problems liegen. Ein charakteristische Beispiel ist die Behandlung kürzester Linien (4. Hilbertsche Problem), das G. Hamel in seiner Dissertation 1901 im Rahmen der Variationsrechnung ganz im Sinne Hilberts behandelte, das aber H. Busemann 1942 geometrisch angemessen bearbeitete. 133. Eine moderne Darstellung findet man bei M. Giaquinta, S. Hildebrandt, Calculus of Variations, vol. 2, Berlin, Springer, 1996, 263-270. 134. Goldschmidt war Lehrer, 1831 Promotion, dann 1833 Privatdozent und schließlich 1841 Professor, alles in Göttingen. Die Preisschrift Determinatio superfici minimae rotatione curvae data duo puncto jungentis circa datum axem ortae (Göttingen 1831) war seine Dissertation.
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KAPITEL 3
Drehfläche entartet dann zu einem Gebilde aus zwei Kreisen, deren Mittelpunkte (Fußpunkte der Lote) durch eine Gerade verbunden sind. Die entsprechenden von STEINER behandelten Aufgaben betrafen vor allem Minima von Flächeninhalten, deren Umfänge vorgegeben waren, und wobei verlangt wurde, daß die gesuchte Lösungskurve ein gewisses Gebiet nicht überschreiten sollte bzw. mit bestimmten Linien Teile oder Punkte gemeinsam haben sollte. Derartige Probleme hat WEIERSTRAß mit der Variationsrechnung im weiteren zu behandeln versucht. Die Rezeption von H.A. SCHWARZ, die Arbeiten von LORENZ LINDELÖF (1827-1908) einbezog, erörtern wir in einem eigen Abschnitt 3.8. 3.5.2.3 Vorlesung WS 1869, privatim 4h WEIERSTRAß las im WS 1869 neben der Variationsrechnung auch über neue synthetische Geometrie. Die Hörerliste ist von der Quästur der Berliner Universität gemeinsam für beide Vorlesungen erstellt, so daß eine genaue Zuordnung der Hörer nicht möglich ist. Obwohl die Liste einige bekannte Namen wie GEORG VALENTIN (1848-1926), von 1908-1920 Direktor der Staatsbibliothek, GEORG FROBENIUS oder SOPHUS LIE (1842-1899) enthält, haben sich keine Nachschriften finden lassen. 3.5.2.4 Vorlesung SS 1872, privatim 4h Mitschriften hierzu ließen sich nicht finden. Nach den Quästur-Akten waren Hörer dieser Vorlesung oder der über analytische Funktionen u.a. FRIEDRICH SCHOTTKY, ARTHUR SCHÖNFLIES (1853-1923), VIKTOR DANTSCHER (18471921), KARL WELTZIEN (1852-1928?) und GEORG VALENTIN. OSKAR BOLZA (1857-1942) erklärt in seinen Lectures on the calculus of variations (1904), einige Seiten einer solchen Ausarbeitung zur Verfügung gehabt zu haben,135 und er gibt (sich vermutlich hierauf beziehend) eine Transformation der zweiten Variation für ein einfaches Integrals (Parameterproblem) mit einer gesuchten Funktion durch WEIERSTRAß an: 2
δ J =
b
∫a
2
dw 2 F 1 ⎛⎝ -------⎞⎠ + F 2 w ] dt , dt
(w = y'ξ - x'η).136
135. Chicago, University Press, 1904, VIII, 131. Ein Fragment einer Mitschrift von Ott wird auf S. viii erwähnt. Es ist aber in Chicago weder im Mathematischen Institut noch in der Universitätsbibliothek (Regenstein Library) nachweisbar. Ott war ein Lehramtskandidat aus Zürich, den Schwarz, seinerzeit Zürich, empfohlen hatte, einige Semester in Berlin zu studieren (Brief an Weierstraß vom 18. 5. 1872). 136. Lectures, Formel (39) auf p. 133, in der Formel (38) ist im Integranden u verdruckt und durch w zu ersetzen; in der deutschen Ausgabe Vorlesungen über Variationsrechnung (Leipzig, B.G. Teubner, 1909) auf S. 224.
DIE WEIERSTRAßSCHE WENDE
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Auch im Briefwechsel von KARL WEIERSTRAß mit SONJA KOWALEWSKAJA kommt diese Darstellung der zweiten Variation vor (Brief von WEIERSTRAß vom 4. November 1872), so daß BOLZAS Behauptung gestützt wird.137 Dieser Sachverhalt ist für uns deshalb interessant, weil der Entwicklung der Feldtheorie bei WEIERSTRAß eine ausgedehnte Behandlung der zweiten Variation vorausging, bevor hieraus die Feldtheorie abzweigte, um Kriterien für starke Extrema zu liefern, da dies durch die zweite Variation nicht geleistet werden kann. Wir sehen, daß WEIERSTRAß mindesten seit 1872 an einer Theorie der zweiten Variation für Parameterprobleme gearbeitet hat. An diesen Resultaten war SCHWARZ sehr interessiert, was seine Briefe vom 2. November 1874 und 6. Februar 1875 belegen.138 Aus der obigen Darstellung folgt die Legendresche notwendige Bedingung für Parameterprobleme in der Form von WEIERSTRAß F1 ≥ 0 ( ≤ 0).
Andererseits haben in den Vorlesung bis 1872 (mit Sicherheit in den beiden ersten Vorlesungen der Jahre 1865 und 1867) durch J. STEINER angeregte Fragen einen wesentlich zentraleren Raum als in späteren Vorlesungen eingenommen, ohne daß jedoch diese Sachverhalte schon theoretisch tiefgehend erörtert wurden. In der deutschen Ausgabe von BOLZAS Vorlesungen über Variationsrechnung ist noch ein Widerschein dieser Weierstraßschen Fragen enthalten.139 3.5.2.5 Vorlesung SS 1875, privatim 4h A) Ausarbeitung H. Hettner Handschriftliche Nachschrift (lateinische Kurrentschrift) von C. Weltzien mit Zusätzen aus der Vorlesungsausarbeitung der Vorlesung im SS 1882 von H. Burkhardt. Mathematisches Institut, Universität Göttingen. 4 S. Inhaltsverzeichnis. 398 S. + 45 S. A1) Abschrift der Hettnerschen Ausarbeitung Handschriftliche Abschrift (lateinische Kurrentschrift). Aus dem Besitz von [E.C.J.] Schering, sehr schwer lesbares Exemplar mit verblaßter Schrift aus
137. R. Bölling (Hrg.), Briefwechsel zwischen Karl Weierstraß und Sofja Kowalewskaja, Berlin, Akademie-Verlag, 1993, Formel S. 60. Das zentrale Briefthema, daß der Multiplikator beim Variationsproblem mit integralen Nebenbedingungen (isoperimetrisches Problem) durchweg konstant ist, bewegt sich in der Nähe der Steinerschen Bedenken. Der Brief wurde im November 1872, also nach der im SS 1872 gehaltenen Vorlesung Variationsrechnung geschrieben. 138. Briefwechsel Weierstraß-Schwarz. Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie, Nl. Schwarz 1175. 139. Leipzig, B.G. Teubner, 1909. §§ 52-53, S. 392-407.
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KAPITEL 3
einem sogenannten Copierbuch, Institut Mittag-Leffler, Djursholm. 374 S.140 B) Mitschrift von G. Mittag-Leffler. Ausarbeitung (lateinische Kurrentschrift) aus 3 Bogen bestehend, an sie schließt sich eine unbearbeitete Mitschrift von weiteren 14 Bogen an, von denen aber Bogen 10 fehlt. Institut Mittag-Leffler, Djursholm. C) Stenographische Mitschrift von L. Gegenbauer. Nur Teile in drei Bogen (ab 24. 7. 1875).141 Mathematisches Institut der Universität Wien. Bereits der Umfang der vierstündigen Vorlesung zeigt, daß WEIERSTRAß den Inhalt seiner Variationsrechnung durch sein neues Ziel, hinreichende Kriterien zu gewinnen, erheblich erweitert hat. Der Leitgedanke der Erweiterung wird in folgenden Zeilen ausgedrückt, die die Art des Extremums erörtern: “Wir haben bis jetzt nur unendlich kleine Variationen betrachtet und so auch den Begriff des max. und min. gestellt. Wir fordern nur, daß der Werth des ∫s [Integrals] für die betrachtete Curve kleiner oder größer sein soll, als der Werth des ∫s für jede benachbarte Curve. Aber wir treiben Mathematik[,] nicht ausschließlich Variationsrechnung[,] und so können wir uns nicht der Frage entziehen nach dem absolut kleinsten oder größten Werthe. […] Man sagt[,] das ist keine Aufgabe der Variationsrechnung, jedenfalls ist es eine durchaus nothwendige Frage der Mathematik”. (A1, 217f.) 140. Die Abschriften A und A1 haben die gleiche Quelle, die in A als Hettners Ausarbeitung angegebenen wird. A1 hat keine Angaben über den Schreiber, aber von Mittag-Leffler ist notiert worden, daß sich diese Abschrift in der Bibliothek von Schering (in Göttingen) finden lassen müsse (“Originalet torde finnas i Scherings bibliotek”). E. Schering (1833-1897) studierte in Göttingen, promovierte dort 1857 und war dann daselbst ab 1860 Professor. In einem Brief vom 22. 1. 1876 an G. Mittag-Leffler geht E. Schering auf fünf Abschriften von Vorlesungen ein, die er an Mittag-Leffler schicken will, darunter ist auch die der Variationsrechnung. Schering hat 16 Hefte der Vorlesung über Variationsrechnung, die ihm Mittag-Leffler zusandte, kopieren lassen (mittels eines Copierbuches und “Copierdinte”) und schickte die erste der Kopien an Mittag-Leffler. Schering bat noch, die beigelegten Seiten 5 bis 9 einzukleben, und da das in dem Djursholmer Exemplar der Fall ist, handelt es sich zweifelsohne um das im Brief erwähnte Exemplar. Am 24. 1. 1876 ging Schering in einem weiteren Brief nochmals darauf ein, daß die Vorlagen unvollständig seien und daß er auf das Fehlende warte. Weitere Briefe vom 27. und 31. 1. 1876 mahnen das von Hettner Ausstehende an und belegen damit nochmals die Ausarbeitung Hettners als Quelle. Hettner hatte gemeinsam mit Mittag-Leffler die Variationsrechnung im SS 1875 gehört. (Briefe im Institut Mittag-Leffler, Djursholm) 141. Gegenbauer war von 1873 bis 1875 in Berlin bei Weierstraß gewesen, bevor er 1875 nach Czernowitz, dann nach Innsbruck (1879) und Wien (1893) ging. H. Pappenauer gibt in ihrer Dissertation Geschichte des Studienfaches Mathematik an der Universität Wien von 1848 - 1900 (Wien 1953) an: “Auch die Nachschrift von den Vorlesungen über die Variationsrechnung arbeitete er genauestens aus” (S. 286). Gegenbauer hielt in Innsbruck über Variationsrechnung Vorlesungen, aber nicht mehr in Wien, wo von Escherich traditionell das Gebiet alle zwei bis drei Jahre anbot. Die von Gegenbauer mitstenographierten Teile betreffen die späteren Teile der Vorlesung (ab isoperimetrische Probleme) und sind daher für uns weniger interessant.
DIE WEIERSTRAßSCHE WENDE
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Es geht hier um das Dilemma, das sich aus den lokalen Methoden der Infinitesimalrechnung und den globalen Erwartungen der Aufgabenstellung ergibt und das WEIERSTRAß als “ein[en] wesentliche[n] Mangel der Variationsrechnung, dem noch gar nicht abgeholfen worden ist” (A1, S. 218) beschrieb. Die eigentliche Variationsrechnung umfaßt ca. 200 Seiten. Und in der Tat ist die zweite Variation in dieser Absicht ausführlich abgehandelt, und die Jacobische Theorie der konjugierten Punkte erscheint jetzt. Es gibt bereits Abschnitte, die bei speziellen Aufgabenklassen “Hinreichende[n] Bedingungen für die Existenz eines Max. oder Min.” gewidmet sind. ROTHE hat in seinem Bericht zurecht bemerkt, “daß von einer Weierstraßschen Theorie der Variationsrechnung in dem Sinne, wie wir sie heute auffassen, wohl erst von der Vorlesung des SS. 1875 die Rede sein kann.”142 Indem WEIERSTRAß das Ziel “absoluter Extrema” vor Augen hatte, bahnte er den Weg für die heute gängige Sicht, nämlich die hinreichenden Kriterien in Beziehung zu geeigneten Arten der Variation zu setzen. Um lediglich notwendigen Bedingungen für eine Lösung zu erhalten, kann man spezielle Variationen verwenden. Soll aber die tatsächliche Extremalität einer Lösung gezeigt werden, so muß sich diese Extremalität gegenüber allen zulässigen Variationen behaupten. Der übliche Extremalitätsnachweis berief sich in scheinbar naheliegender Analogie zur Differentialrechnung auf die Definitheit der zweiten Variation. WEIERSTRAß bemerkte jedoch, daß die Begründung für solche Schlüsse auf der Entwicklung der totalen Variation und damit auf Einschränkungen an die Variationsmöglichkeiten beruht. Die Entwickelbarkeit der totalen Variation setzt eben nicht nur hinreichend kleine Variationen voraus, sondern sie verlangt das auch von deren Ableitungen. Diese Einsicht hatte zwar schon ISAAC TODHUNTER gehabt,143 aber erst WEIERSTRAß zog die erforderlichen Konsequenzen. Die Vorlesung im SS 1875 zeigt, daß WEIERSTRAß klar wurde, wie die Klasse der Vergleichskurven zu präzisieren war. Er schied die Variationen in die (heute nach ADOLF KNESER so genannten) schwachen und starken Variationen, und damit war er in der Lage, für schwache Variationen ein hinreichendes Kriterium streng zu formulieren. Das gefundene Kriterium befriedigte aber offenbar WEIERSTRAß nicht, da es noch weit von hinreichenden Bedingungen für ein absolutes Extremum entfernt war. Dieser Sachverhalt und wohl auch die Tatsache, daß WEIERSTRAß diese Differenzierung vermutlich erst kurz vor oder vielleicht überhaupt erst in der entsprechenden Vorlesung selbst vorgenommen hat, rücken den wesentlichen Satz nicht an eine zentrale Stelle der Vorlesung bzw. heben ihn nicht so deutlich hervor, wie es WEIERSTRAß sonst bei wichtigen Ergebnissen tat. (Übrigens trifft für den Feldbegriff ähnliches zu wie vermutlich bei dieses Kri142. “Bericht über die Herausgabe des siebenten Bandes der Mathematischen Werke von Karl Weierstraß”, Jahresbericht der DMV, 37 (1928), 199-208, Zitat S. 200. 143. A history of the progress of the calculus of variations, Cambridge, 1861, 3, (Reprint).
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terium für schwache Extrema: er wurde definitiv erst mitten in der Vorlesung im SS 1879 entwickelt, aber trotz seiner Bedeutung von WEIERSTRAß selbst nicht publiziert, möglicherweise deshalb, weil auch dieses Kriterium seinem Anspruch an die Vollständigkeit noch nicht gänzlich genügte.) Ein Rückblick, den WEIERSTRAß einschob (A1, S. 211) spricht dafür, daß der Vorlesende es für nötig hielt, für sich und die Hörer die vorgetragenen Gedanken nochmals zu ordnen. Dabei wird auch die Art der Variation erörtert. Die Mitschrift merkt hierzu an: “WEIERSTRAß weiß noch nicht, ob sich ein solcher Satz ganz allgemein durchführen läßt, es existieren noch einige Schwierigkeiten.” (A1, S. 232). Die Wichtigkeit der Untersuchungen für die Bereitstellung hinreichender Kriterien wird durch die folgende Bemerkung deutlich angekündigt, und sie wird später mehrfach wiederholt (A1, S. 161, 217, 233): “Wir gehen jetzt zu dem wichtigsten Theile der Untersuchungen über, nämlich der Entscheidung, ob die durch die nothwendigen Bedingungen gefundene Curve auch wirklich ein max. od.[er] min. des ∫s [Integrals] liefert. […] Wir werden […] untersuchen, wie wir auf dieser Curve die beiden [End-] P[unk]te wählen müssen, damit für das zwischenliegende Curvenstück das ∫ [Integral] ein max. od[er] min. sei”. (A1, S. 125) Bei MITTAG-LEFFLER steht kurz und prägnant: “Jets [jetzt] Ist Max. oder Min. oder nicht?”144 Die erwähnten notwendigen Bedingungen beziehen auch Aussagen ein, die aus der zweiten Variation gewonnen wurden, nämlich F1 ≥ 0. WEIERSTRAß erwog auch die Aufgabe, das Vorzeichen der zweiten Variation als ein neues Minimumproblem (Maximumproblem) bezüglich der Variation w = ξy' + ηx' zu stellen (x0(t), y0(t) sind die Gleichungen der Extremalen): t'' 2 2 Min δ2J0(x0(t), y0(t), w) für alle w mit ∫ w dt = g . t' Da δ2J0 eine quadratische Form in w ist, wird eine Normierung der Variablen w durch die Nebenbedingung erforderlich, um den trivialen Fall w = 0 auszuschließen. WEIERSTRAß bezeichnet aber solche Untersuchungen, durch die sich Resultate finden lassen, “mehr als Methode der Forschung als der strengen Begründung”; bei MITTAG-LEFFLER: “Ich gebe die Methode als Methode der Forschung.”145 Die konjugierten Punkte, wie die im obigen Zitat genannten (End-)Punkte heute bezeichnet werden, die bei WEIERSTRAß hier noch correspondierende Punkte heißen, bestimmen die geometrische Deutung des Jacobischen Kriteriums bei WEIERSTRAß, die sich als eine der Wurzeln seines Feldbegriffs erweisen wird:
144. Mitschrift B Variationsrechnung von Mittag-Leffler, Institut Mittag Leffler, Djursholm, Bogen 5, Seite 3. 145. aaO., Bogen 7, Seite 11.
DIE WEIERSTRAßSCHE WENDE
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“Wir können das geometrisch interpretieren. […] Das führt zu Jacoby’s [sic] Kriterium. Ist aus der Dglg [Differentialgleichung] G = 0 die Curve x,y bestimmt, so muß für den Theil der Curve, für welchen ein max. od[er] min. stattfindet, nothwendig F1 beständig neg. od[er] pos. sein. Ist dann A ein P[unk]t dieses Theils der Curve, so legen wir durch A eine 2te Curve, die der nämlichen Dglg.[Differentialgleichung ] genügt; wir setzen also statt αβ: α + δα, β + δβ und bestimmen δα, δβ so, daß diese 2te Curve durch den P[unk]t A hindurchgeht. Schneidet dann diese Curve jenen Theil der ursprünglichen Curve, für den F1 beständig pos. od[er] neg. ist, noch einmal, so giebt es für den Punkt B eine Grenzlage[,] und zwischen diesen Stellen und dem Punkte A findet dann für die Curve xy kein max. oder min. statt”. (A1, S. 147f.) Zur Bestimmung der konjugierten Punkte stellte WEIERSTRAß eine Funktion Θ auf, mit deren Hilfe er den auf den Parameterwert t' folgenden Wert t des konjugierten Punktes durch die Gleichung Θ(t, t') = 0 bestimmen kann, wobei t" > t' für einen sich ggf. einstellenden Wert t" wäre. Damit stellte er dieses Programm auf: “Wir müssen nun in der theoretischen Untersuchung weiter fortschreiten und untersuchen, wenn zwischen den Endp[unk]ten die Curve nach allen diesen Vorschriften construirt ist [d.h. F1 < 0 oder > 0 ], ob dann wirklich das ∫ [Integral] für diese Curve ein max. oder min. besitzt. Hierfür ist bisher wenig geschehen. Man begnügt sich gewöhnlich mit Betrachtungen, welche nicht zulässig sind. [Mittag-Leffler: Für weitere Untersuchungen wenig geschehen. Nicht zulässige Betrachtungen; Bogen 7, Seite 7] Es soll nun im Folgenden der strenge Beweis dafür geliefert werden, daß die aufgestellten nothwendigen Beding[un]gen auch hinreichend für die Existenz eines max. od. min des ∫s [Integrals] sind. Wir müssen dazu dies durch diese nothwendigen Bedingungen gefundene Stück der Curve xy mit einer vollkommen willkürlichen Variation vergleichen u. es muß der Wert des ∫s [Integrals] für jede dieser Variationen größer sein”. (A1, S. 159) Die entscheidende Frage in diesem Konzept ist: Was bedeutet willkürliche Variation? Hierzu bemerkte WEIERSTRAß, daß er, um hinreichende Bedingungen aus der zweiten Variation zu gewinnen, den Begriff genauer fixieren müsse, als er es anfänglich getan habe (A1, S. 213): “Wir müssen neben der gefundenen Curve eine beliebige andere zeichnen [!], von der wir nur voraussetzen, daß für sie das ∫ [Integral] J existirt. Denn es liegt im Begriff dieser Aufgaben[,] z.B. der kürzesten Linie aus einer Fläche, keineswegs, daß die gewünschten Curven regulär sein müssen”. (A1, S. 159) Hier erscheint ein altes Problem der Analysis, auf das wir kurz eingehen müssen und das durch das Stichwort “willkürliche Funktion” umrissen werden kann. Das Problem besteht darin, daß der jeweilige Entwicklungsstand der analytischen Techniken die Darstellungsmöglichkeiten der Funktionen bestimmt. Besonders deutlich wurde diese Einschränkung beim Übergang vom
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geometrischen zum analytischen Funktionsbegriff empfunden, wo angestrebt wurde, jede beliebig mit der Hand gezogene Kurve analytisch darzustellen.146 Ist man imstande, für eine beliebige Funktion147 einen “arithmetischen Ausdruck” anzugeben, oder muß man sich auf begriffliche Beschreibungen zurückziehen? WEIERSTRAß stand solchen “begrifflichen” Fassungen des Funktionsbegriffs skeptisch gegenüber und änderte – wie bereits erwähnt – diese Haltung erst, als er 1885 den nun nach ihm und in seiner allgemeinen Form nach ihm und MARSHALL HARVEY STONE (1903-1989) benannten Approximationssatz fand, der modern ausgedrückt besagt, daß die Menge der Polynome im Raum der stetigen Funktionen dicht liegt.148 Für WEIERSTRAß war die wirkliche Darstellbarkeit einer Funktion das Entscheidende. Aus dieser Sicht wird seine Haltung (1873) verständlich, daß der Begriff der Funktion im Allgemeinen sehr unklar sei und er die gewöhnlichen Erklärungen dieses Begriffes nur als Worterklärungen oder als solche betrachte, aus denen sich keine konkreten Folgerungen wie etwa die der für die Analysis fundamentale Eigenschaft der Differenzierbarkeit ziehen lasse (A1, S. 212). Entsprechende Äußerungen finden sich durchgängig in seinen Vorlesungen über Funktionentheorie bis 1885. In der Vorlesung des SS 1875 führte er bei der Begründung für die Notwendigkeit der verschärften Legendre-Bedingung F1 > 0 ( < 0 ) auch an, daß es “zwecklos [wäre], die Betrachtungen auf nicht analytische Functionen auszudehnen” (A1, S. 164f.). In einem Vortrag im Mathematischen Seminar im SS 1875 betonte WEIERSTRAß seine Ansicht, daß “man bei jeder mathematischen Aufgabe, die vorliegt, zunächst die Verpflichtung [habe], nachzuweisen, daß die Funktion, um deren Entwicklung oder Definition es sich handelt, wirklich dem aufgestellten Begriff der analytischen Funktion genügt.”149 Damit ergaben sich für WEIERSTRAß zwangsläufig Schwierigkeiten, den zeitgenössischen Autoren zu folgen, die eine Variation als Formänderung einer Funktion erklärten, da für ihn “der Begriff der Form-
146. Ausführlicher hierzu R. Thiele, “Frühe Variationsrechnung und Funktionsbegriff”, Mathesis, GNT-Verlag, Berlin, 2000, 128-181, eine gekürzte Fassung hiervon ist Early calculus and the concept of function in den Proceedings of the Canadian Society for History and Philosophy of mathematics, vol. 12. Meeting at the University of Toronto 1999, Ed. J. Tattersall, Providence, R.I., 1999, 98-111; siehe auch den Abschnitt “Function” (117-129), R. Thiele, “The Mathematics and Science of Leonhard Euler”, in G. Van Brummelen and M. Kinyon (eds.), Mathematics and the Historian’s Craft. The Kenneth-May-Lectures, New York, Springer, 2005. 147. Die Bezeichnung “willkürliche” oder “gesetzlose” Funktion fand Weierstraß nicht gut gewählt. R. Siegmund-Schultze (Hrg.), Ausgewählte Kapitel aus der Funktionenlehre, SS 1886, Leipzig, B.G. Teubner, 1988, 24. 148. Siehe R. Siegmund-Schultze (Hrg.), Ausgewählte Kapitel aus der Funktionenlehre, SS 1886, Leipzig, Teubner, 1988, insbes. §1. Die Verallgemeinerung von Stone findet in linearen Funktionenräumen mit einer Ordnung statt (algebraische und verbandstheoretische Versionen für stetige komplexwertige Funktionen auf kompakten Mengen) und weist daher nicht mehr viele Bezüge zur klassischen Formulierung auf. 149. K. Weierstraß, Einige Fundamentalsätze über Differentialgleichungen, Vorgetragen im Mathematischen Seminar der Universität Berlin, SS 1875, S. 1. Ausarbeitung im Institut MittagLeffler.
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änderung einer Function noch größere Schwierigkeiten” (A1, S. 212) haben mußte. Über die Natur der variierten Kurven gab es im 19. Jahrhundert in der Tat eine weitverzweigte Diskussion, die ins Formale zu tendieren drohte. Die Vergleichsfunktionen wurden häufig als analytisch angenommen, um eine möglichst allgemeine Darstellung den Untersuchungen zugrunde zu legen; WEIERSTRAß benutzte sogar Fourierreihen.150 Wenn man die Form einer solchen Funktion änderte, indem man in deren Reihenentwicklung die Koeffizienten unendlich wenig veränderte, so blieb die erhaltene Variation gleichfalls in der alten Funktionenklasse, während doch die Variation ganz “willkürliche” Funktionen (der gleichen Art) erfassen mußte. Der Geometer WEIERSTRAß konstatierte etwa: “Denn es liegt im Begriffe dieser Aufgaben [der Variationsrechnung] […] keineswegs, daß die gesuchten Kurven regulär sein müssen” (A1, S. 159). Als ein Beispiel hierfür wird von ihm eine kürzeste Linie genannt, die zwei Punkte auf Oberflächen zweier einander durchdringender Kugeln verbindet. Geometrische Beispiele sind in diesem Zusammenhang naheliegend, da ihren analytischen Fassungen häufig stärkere Voraussetzungen zugrunde gelegt werden, als es die eigentlichen geometrischen Gegebenheiten erfordern. In diesem Punkt sind die Steinerschen Bedenken gegenüber der Variationsrechnung durchaus gerechtfertigt.151 Es ist übrigens erstaunlich, daß in dieser Vorlesung das “Standardbeispiel” des Newtonschen Rotationskörpers mit geringstem Widerstand überhaupt nicht erwähnt wird, denn gerade das mit ihm verbundene sog. Paradoxon hat auch WEIERSTRAß angeregt, die Art des Extremums zu präzisieren. Um allerdings vom Vorzeichen der zweiten Variation auf das der totalen Variation schließen zu können, spezialisierte WEIERSTRAß seine zulässigen Variationen wie folgt: “Die Variationen ξη [der gesuchten Kurve x(t), y(t) ] sind beliebige Functionen von t, die nur der Bedingung unterworfen sind, daß sie und ihre Ableitungen (nur) Werthe unter einer beliebig kleinen Größe annehmen können”. (A1, S. 128) Allerdings fügte er sofort an, daß er nur in ihrer ganzen Ausdehnung reguläre Kurven variieren wolle und demzufolge auch die Regularität der Variationen annehme, womit wiederum die variierten Kurven regulär seien. Spätere Untersuchungen schwächen die Annahme etwas ab, indem sie die Kurve in endlich viele Stücke dieser Art zerlegen. Die willkürlichen Funktionen sind für WEIERSTRAß hier offenbar jene, die stückweise regulär sind. MITTAG-LEFFLER notierte: “Wir variieren nun eine kleine Strecke[,] die regulär ist, die variierte
150. Die vorn schon erwähnten Autoren Stegmann, Strauch usw. Aus der Sicht der Stoneschen Verallgemeinerung sind Fourierreihen sachgemäß. 151. Siehe die Fußnote 132.
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Kurve [ist dann] auch regulär. Nachher zerlegen wir die Kurve in Stück[ch]en und zeigen[,] dass die Formeln auch dann gelten.”152 Bei der Umformung der zweiten Variation hob WEIERSTRAß hervor, daß die Ableitungen der Funktionen in den Variationen zwar als stetig angenommen wurden, daß dies aber nicht notwendig sei, da für jede Variation lediglich das Integral zu untersuchen ist. Die Formel für δ2J werde aber davon nicht berührt, da man das Integral in entsprechende Teile zerlegen könne, für die Stetigkeit vorliege (A1, S. 133). Ähnlich wird argumentiert, wenn die Notwendigkeit der verschärften Legendre-Bedingung F1 > 0 (< 0) anstelle von F1 ≥ 0 (≤ 0) begründet wird (A1, S. 166-176). Damit kommt WEIERSTRAß seiner konstruktiven Anschauung nach, daß “die Variation so zu erklären [sei], daß wir jede beliebig variierte Curve herstellen” (A1, S. 214) können. Den Begriff der Variation einer Kurve faßt er schließlich so: “Wenn sich die eine Curve an die andere unendlich nahe anschließt, so muß erstens jeder P[unk]t der Curve nur eine unendlich kleine Änderung erfahren und zweitens haben wir die Nothwendigkeit eingesehen, daß auch in jedem P[unk]te die Änderung der Richtung der beiden Curven nur unendlich klein ist. Dadurch kommen wir zu folgendem [geometrischen!] Begriff der Variation. Wir denken uns in jedem P[unk]te der ersten Curve die Normale construirt, so muß die variierte Curve die Normale in einem P[unk]te schneiden, dessen Abstand von dem P[unk]te der ursprünglichen Curve auf dieser Normalen nur ∞ klein ist und die Richtung dieser entsprechenden Curvenelemente muß auch nur ∞ wenig verschieden sein, sie braucht sich aber nicht stetig zu ändern, sondern kann Sprünge machen”. (A1, S. 214f.) Bei MITTAG-LEFFLER ist das so aufgeschrieben: “Jets [Jetzt]. Die bisher vernachlässigte[n] Glieder zu betrachten und in Rechnung zu ziehen. Wir können nicht die Rechn.[ung] durchführen[,] aber doch die Resultaten übersehen. Was heist es[,] die Curve soll ∞ wenig variiert werden? […] ∴ Die Richtungen der Curve sollten auch sehr nahe anschliessend sein. Das variierte P wenig verschieden von ursprüngliche[,] und das Integral ∞ kleine Variation[,] wenn dξ/ dt[,] dη/dt klein.”153 Dieser Begriff hat sich am Ende des Programms herauskristallisiert (A1, auf S. 160 aufgestellt), und mit ihm weist WEIERSTRAß nun diese drei notwendigen Bedingungen (in seiner Fassung) Eulersche Gleichung erfüllt G=0, Legendre-Bedingung erfüllt F1 > 0 (bzw. < 0), betrachtete Kurvenstück liegt zwischen zwei konjugierten Punkten,
152. Mitschrift A Variationsrechnung von Mittag-Leffler. Institut Mittag Leffler, Djursholm, Bogen 5, Seite 5. 153. aaO., Bogen 8, Seite 15 f.
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auch als hinreichend für ein [schwaches] Extremum nach (A1, S. 210). Die verschärfte Legendre-Bedingung F1 > 0 bzw. F1 < 0, die das Verschwinden von F1 nicht zuläßt, stellt sich für WEIERSTRAß insofern auch als notwendig dar, weil er – wie schon erwähnt – aufgrund seiner Funktionsauffassung sich beim punktweisen Verschwinden durch eine endliche Zerlegung der Kurve solche Teile verschaffen kann, auf denen F1 ≠ 0 ist. An die Bemerkung, daß “die gestellte Aufgabe [das Programm] vollständig gelöst sei” (A1, S. 210) schließt WEIERSTRAß noch weitere zwanzig Seiten Erörterungen über das Eintreten eines absoluten Extremums an (A1, S. 210 bis 232). Dabei äußert er eine interessante Beweisidee für ein solches Kriterium, indem er die für die Geraden (kürzeste Linien) in der Ebene gültige Dreiecksungleichung auf beliebige Extremalen übertragen will, also daß er – in anderen Worten gesagt – mithin hofft, daß das diffeomorphe Bild des Parameterbereichs die metrische Eigenschaft bewahrt. Gelänge ein solcher Beweis, so wäre das absolute Extremum erfolgreich zu behandeln. Aber “Weierstraß weiß noch nicht, ob sich ein solche Satz ganz allgemein durchführen läßt, es existiren noch einige Schwierigkeiten” (A1, S. 232). Er bemerkte weiter – was im Hinblick auf den Feldgedanken interessant ist –, daß man in der Regel nur solche Aufgaben zu behandeln hat, bei denen man die Veränderlichen p und q auf Teile der Ebene beschränken kann, in denen F1 sein Vorzeichen nicht wechseln kann bzw. daß es Aufgaben der Art sind, daß man in jedem Punkt dieses Teils der Ebene nach jeder beliebigen Richtung hin, eine Extremale ziehen kann. “Wenn das der Fall ist, F1 also nicht sein Zeichen wechselt, so ist Weierstraß im Stande[,] einen solchen Satz aufzustellen” (A1, S. 233). Zuvor hatte WEIERSTRAß bereits festgehalten, daß unter diesen Umständen auch die letzten Einschränkungen an die Variationen wegfielen und daß die Variationen nur noch so zu wählen seien, daß das Variationsintegral existiere (A1, S. 219). Es ist bemerkenswert, daß WEIERSTRAß diese theoretischen Überlegungen und Vermutungen an klassischen Themen der Variationsrechnung verdeutlicht, dem Brachistochronenproblem (A1, S. 260-280) sowie der atmosphärischen Lichtbrechung. Die Idee einer “erweiterten Dreiecksungleichung” wird genauer ausgeführt, um die intuitive Gewißheit zu erhöhen, daß ein absolutes Minimum beim Brachistochronenproblem existieren müsse, denn ein strenger Beweis ist WEIERSTRAß “noch nicht gelungen” (A1, S. 278). WEIERSTRAß stellt sich die Sache so vor (A, S. 281; A1, S. 278): Zur A und B verbindenden (eindeutigen) Brachistochrone (Zykloide) zieht er eine beliebige zulässige Vergleichskurve, die zugehörigen Integrale seien I1 und I2. Die Vergleichskurve wird in nahe beieinander liegende Teilpunkte zerlegt, und benachbarte Teilpunkte lassen sich gemäß Annahme eindeutig durch Zykloidenbogen verbinden. Diese zusammengesetzte Kurve kommt zwar als reale Fallkurve nicht in Frage, da sich deren Richtung stetig ändern müssen, aber das über sie erstreckte Integral I3 ist trotzdem rechnerisch sinnvoll, auch wenn es im physikalischen Verständnis keine Fallzeit mehr angibt. Die Teilpunkte können nun
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so nahe beieinander gewählt werden, daß sich das zweite und dritte Integral nur um eine beliebig kleine Größe unterscheiden: ⎥ I2 - I3⎥ < ε. Wäre I2 > I1 (bzw. I2 < I1), so folgte damit I3 > I1 (bzw. I3 < I1).
Abb. 3.4. Zur Weierstraßschen Beweisidee der Existenz eines absoluten Minimums
Sind andererseits zwischen den Punkten A, B und C drei verbindende Zykloidenbogen gezogen, so würde gemäß der erweiterten Dreiecksungleichung für die Integrale I über diese Bogen gelten: I(AC) + I(CB) > I(AB) = I1.
Wäre das bewiesen, so folgte I3 > I1;
aus der Annahme I2 < I1 ergäbe sich andererseits I3 < I1.
“Damit wäre dann streng bewiesen, dass für den Cycloidenbogen zwischen A und B das absolute Minimum der Fallzeit stattfände” (A, S. 283; A1, S. 279). Die Beweisidee erinnert an die infinitesimalen Überlegungen JOHANN BERNOULLIS bei seinem zweiten und hinreichenden Beweis für die Minimalität der Zykloide beim Brachistochronenproblem (1696), die WEIERSTRAß allerdings nicht kannte. Siehe hierzu den Abschnitt 1.2.3. Auch der Beweis nach HILBERT für das absolute Minimum bei einem einfachen parametrischen Integral, den BOLZA in seinen Lectures und auch in den Vorlesungen angibt, benutzt für das Infimum i(P, P') des Variationsintegrals J(P, P') eine solche Dreiecksungleichung:
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i(P, P') + i(P', P") ≥ i(P, P")
(siehe unten).154 WEIERSTRAß führte resümierend aus: “Gelingt ein solcher Beweis, so sind die Untersuchungen für die 2te Variation, insofern sie die nothwendigen Bedingungen betreffen, überflüssig. Sobald die Erfüllung der nothwendigen Bedingungen [feststeht], also daß 1stens die Curve der Dglg. [Differentialgleichung] genügt, daß 2tens F1 > 0 ist und daß 3tens auf dem betrachteten Curvenstück keine correspondierenden [konjugierten] Punkte liegen, so läßt sich dann mit Hilfe dieses Satzes unmittelbar zeigen, daß dies für die Existenz eines [absoluten] min. hinreichend ist”. (A1, S. 279f.) Anschließend wies WEIERSTRAß auf das seit CHRISTIAAN HUYGENS (16291695) behandelte interessante (Standard-)Beispiel der atmosphärischen Lichtbrechung hin,155 das ERNST EDUARD KUMMER behandelt und dabei einige bemerkenswerte Sachverhalte erörtert hatte, die bei verschiedenen Luftdichten und Planetengrößen beispielsweise auf mehrfache Strahlenumläufe führten.156 WEIERSTRAß ist auf dieses Problem, über das er schon im September 1856 in Wien auf der Naturforschertagung vorgetragen hatte,157 immer wieder zurückgekommen, um ungewöhnliches Verhalten von Lösungskurven zu motivieren. Das Problem war auch ein Thema im Mathematischen Seminars vom SS 1875.158 Wir schieben einige Betrachtungen über absolute Extrema ein, ehe wir mit einem Weierstraßschen Resümee schließen. Jedes absolute Extremum liefert natürlich auch ein relatives Extremum, aber i.a. nicht umgekehrt. Ist jedoch von vornherein klar, daß ein absolutes Extremum existiert, so ist mit der Untersuchung relativer Extrema die Frage des absoluten Extremums vorangebracht, zumindest bei endlich vielen relativen Extrema läßt sich das absolute Extremum ermitteln. Die von WEIERSTRAß aufgeworfene Frage nach einem absoluten Extremum, der “noch gar nicht abgeholfen worden ist” (A1, S. 218), wurde von HILBERT 1899 aufgegriffen, und
154. Lectures on the calculus of variations, Chicago, University Press, 1904, chap. vii, insbesondere p. 251; Vorlesungen über Variationsrechnung, Leipzig, B.G. Teubner, 1909, Kap. 9, insbesondere S. 429. 155. Traité de la lumiere, Leiden, van der Aa 1690, dtsch. Übersetzung in Ostwalds Klassikern Nr. 20, Leipzig, 1890 (Reprint 1964). 156. Kummer, “Über atmosphärische Strahlenbrechung”, Journal für die reine und angewandte Mathematik, 61 (1863), 263-275. Kummer leitet seinen Artikel mit dem Hinweis ein, daß die Strahlenbrechung fast ausschließlich unter Zugrundelegung irdischer Größenverhältnisse behandelt worden ist (S. 263). Beispielsweise würde am Jupiter die Sonne niemals untergehen können (S. 275). 157. Weierstraß, “Zur Dioptrik”, Werke, Bd. 3, 175-178. 158. Das geht aus der Mitschrift Mathematisches Seminar, Optische Aufgabe, von Mittag-Leffler hervor. Institut Mittag-Leffler, Djursholm (Box Weierstraß).
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in HILBERTS Beweis finden sich die Weierstraßschen Ideen wieder.159 Zunächst basiert HILBERTS Beweis auf der schon von WEIERSTRAß getroffenen klaren Unterscheidung zwischen dem Infimum und Minimum (bzw. Supremum und Maximum), die übrigens – wie WEIERSTRAß selbst klagte – seinerzeit längst nicht Allgemeingut der Mathematiker war.160 HILBERT selbst bemerkte noch 1897 in seiner Gedächtnisrede auf WEIERSTRAß: “Von höchste Wichtigkeit ist ferner die scharfe Unterscheidung, die Weierstraß trifft, je nachdem eine Funktion an einer Stelle einen Wert erreicht oder demselben nur beliebig nahe kommt, insbesondere die Unterscheidung zwischen dem Begriff des Maximums oder Minimums und dem Begriff der oberen oder unteren Grenze einer reellen Veränderlichen. […] In engem Zusammenhang mit der genannten Unterscheidung steht die Weierstraßsche Kritik des sogenannten Dirichletschen Prinzips. Weierstraß erkannte, daß die diesem Prinzipe zugrunde liegende Schlußweise nicht stichhaltig ist, und zeigte dies […], daß er ein gewisses einfaches Integral angab.”161 HILBERT gab der Frage jene berühmte Wendung, die er 1899 in einem Münchener Vortrag in die Worte kleidete: “Eine jede [reguläre]162 Aufgabe der Variationsrechnung besitzt eine Lösung, sobald hinsichtlich der Natur der gegebenen Grenzbedingungen geeignete einschränkende Annahmen erfüllt sind und notfalls der Begriff der Lösung eine sinngemäße Erweiterung erfährt.”163 Auf dem Pariser Kongreß 1900 bildete dieses “erweiterte” Dirichletsche Prinzip HILBERTS 20. Problem “Allgemeines Randwertproblem”, und er war fest überzeugt, “daß es möglich sein wird, diesen Existenzbeweis […] zu führen”.164 Wenn man das von HILBERT in dem Vortrag bzw. das in der Vorlesung Flächentheorie (II) im SS 1900 behandelte Funktionenproblem auf Parameterpro-
159. D. Hilbert, Über das Dirichletsche Prinzip. Vortrag auf der Jahrestagung der DMV 1899 in München. Abgedruckt in dem Jahresbericht der DMV, 8 (1900), 184-188; auch in Gesammelte Abhandlungen, Bd. 3, Berlin, Springer, 1935, 10-14. 160. Weierstraß zeigte sich in dieser Frage über Fuchs entsetzt, der den Sachverhalt noch 1885 nicht deutlich unterscheiden konnte. Brief an Schwarz vom 14. 3. 1885. Nl. Schwarz im Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie. 161. D. Hilbert, “Zum Gedächtnis an Karl Weierstraß”, Göttinger Nachrichten, 1897, 60-69; zitiert nach Gesammelte Abhandlungen, Band 3, Berlin, Springer, 1935, 330-338, Zitat S. 334f. 162. Im Vortrag und in dessen Abdruck in dem Jahresbericht der DMV, 8 (1899), 184-188, spricht Hilbert noch von jeder Aufgabe, die Spezifizierung regulär ist erst beim Nachdruck 1905 im Journal für reine und angewandte Mathematik, 129 (1905), 63-67, zugefügt worden. 163. D. Hilbert, Ueber das Dirichlet’sche Princip. Vortrag auf der Jahrestagung der DMV 1899 in München. Abgedruckt in dem Jahresbericht der DMV, 8 (1900), 184-188; auch in: Gesammelte Abhandlungen, Band 3, Berlin, Springer, 1935, 10-14, Zitat S. 11, siehe vorangehende Fußnote. 164. Vortrag “Mathematische Probleme”, Göttinger Nachrichten, 1900, 253-197, auch in: Gesammelte Abhandlungen, Band 3, Berlin, Springer, 1935, 290-329.
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bleme überträgt, wie es OSKAR BOLZA 1904 in seinen Lectures on the calculus of variations getan hat, dann kommt man für das Variationsproblem (1) J =
t''
∫t' F ( x, y, x', y' ) dt → extremum
zu folgender Existenzaussage:165 Es sei R ein Gebiet der x,y-Ebene und R0 ein abgeschlossenes Gebiet, das ganz im Innern von R liegt. Wir setzen voraus, daß 1) F ∈ C3 und positiv homogen von erster Ordnung bezüglich der Ableitungen in einem Gebiet T : (x, y) ∈ R, x'2 + y'2 ≠ 0, sei; 2) F(x, y, cos γ, sin γ) > 0 (< 0) in T0 : (x, y) ∈ R0 für 0 ≤ γ ≤ 2π sei;166 3) F1(x, y, cos γ, sin γ) > 0 (< 0) in T0 (positiv bzw. negativ regulär) sei; 4) R0 konvex, beschränkt und abgeschlossen sei. Dann gelten für alle rektifizierbaren Kurven, die zwei beliebige Punkte A und B aus R0 verbinden, folgende Aussagen: 1) Das Variationsintegral (1) hat einen bestimmten Wert (zumindest im erweiterten Weierstraßschen Sinn). 2) Es gibt wenigstens eine rektifizierbare Kurve, die A und B verbindet und die das absolute Minimum (Maximum) liefert. Die entsprechende Erweiterung des Integralbegriffs ist notwendig, da – wie WEIERSTRAß zu sagen pflegte – der Begriff der Regularität nicht von vornherein im Variationsproblem liege, so daß auch für Kurven ohne Tangenten das Integral (1) zu erklären ist. MITTAG-LEFFLERS Mitschrift vermerkt hierzu: “In die Voraussetzung[,] die wir gemacht haben[,] dass die Curve in reguläre Stück[ch]en zerfällt[,] liegt nicht in Natur der Aufgabe. Wir müssen beweisen[,] dass auch für nicht reguläre Curven das Integral grösser oder kleiner.”167 Wir verfolgen nun die Weierstraßsche Idee weiter. Es bezeichne i(PQ) unter den gegebenen Annahmen das Minimum des Variationsintegrals (1) hinsichtlich aller P und Q (aus R0) verbindenden rektifizierbaren Kurven. Unter diesen Voraussetzungen werde für je drei Punkte A, B und C aus R0 die Ungleichung hergeleitet: i(AB) + i(BC) ≥ i(AC).
165. O. Bolza, Lectures on the calculus of variations, Chicago, University Press, 1904, chapter vii. 166. Forderungen für ein positiv definites Problem im Sinn von Carathéodory, siehe Mathematische Annalen, 62 (1906), 456. 167. Siehe Weierstraß, Mathematische Werke, Bd. 7, Leipzig, Akademische Verlagsgesellschaft, 1927, 233; Zitat Mitschrift C, Variationsrechnung von Mittag-Leffler, Institut Mittag Leffler, Djursholm, Bogen 7, Seite 14.
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Das wäre genau die von WEIERSTRAß für seinen Hinlänglichkeitsbeweis gewünschte Ungleichung. In der Arbeit Maxima und Minima der einfachen Integrale bei festen Grenzen168 von LUDWIG SCHEEFFER, der ein Schüler von WEIERSTRAß war und 1880 bei ihm promoviert hatte, befindet sich ein Princip, das auf einem Weierstraßschen Grundgedanken beruht: Die gesamte Extremale wird stückweise mit einer Vergleichskurve aus zusammengestückelten Kurven verglichen, wobei die in den Teilpunkten angebrachten Kurvenstückchen solche sind, die als Extremalen jeweils benachbarte Teilpunkte verbinden (was von SCHEEFFER einer Transformation der zweiten Variation von ALFRED CLEBSCH (1833-1872) entnommen wird169). Es ist bemerkenswert, daß die Weierstraßsche Beweisidee für den Nachweis absoluter Extrema zwei Keime der Variationsrechnung enthält, deren Erfolge sich um die Jahrhundertwende zeigen sollten: nämlich zum einen den von WEIERSTRAß selbst entwickelten Feldbegriff und zum anderen die vielfältigen direkten Verfahren der Variationsrechnung. Blicken wir noch einmal mit WEIERSTRAß in einem historischen Rückblick zusammenfassend auf die Teile der Vorlesung, die hinreichende Aussagen für die Existenz von Extrema betrafen. Dabei stellte er heraus, daß LEONHARD EULER (1707-1783) sich selbst bei den Aufgaben nur auf die notwendigen Bedingungen beschränkt habe, während sich doch bereits bei den einfachsten Problemen die Unverzichtbarkeit hinlänglicher Bedingung zeigte. JOSEPHLOUIS LAGRANGE gebühre das Verdienst, das Vorzeichen der zweiten Variation für tatsächliche Extremalität in Betracht gezogen zu haben. “Dabei blieb die Sache stehen, sie machte sogar eher einen Rückschritt, in sehr vielen Büchern wurden nicht einmal die [hinreichenden] Kriterien, sondern nur die nothwendigen Bedingungen gegeben.” (A1, S. 128). WEIERSTRAß fuhr fort: “Die definitiven Kriterien für die wirkliche Existenz eines max. od. min. sind erst in neuerer Zeit entwickelt worden. […] Es soll hier die Theorie Jacoby’s [sic] allerdings mit Modificationen und unter Benutzung der Arbeiten von Lagrange vorgetragen werden”. (A1, S. 127f.) Damit ist das auf hinreichende Kriterien zielende Programm noch deutlich auf die zweite Variation des Problems ausgerichtet, wobei die Grundaufgabe des absoluten Extremums im speziellen Fall des relativen schwachen Extremums zu Erfolgen führte. Indem sich WEIERSTRAß auf die spezielle Klasse der schwachen Variationen beschränkte, gelang es ihm, den Sachverhalt der Beständigkeit des Vorzeichens der Funktion F1 (verschärfte Legendre-Bedingung) auf die zweite Variation und schließlich auf die totale Variation des Problems zu übertragen, wodurch schwache Extrema nachweisbar werden. 168. L. Scheeffer, “Die Maxima und Minima der einfachen Integrale zwischen festen Grenzen”, Mathematische Annalen, 25 (1885), 522-593, Princip auf S. 536 , siehe hier S. 206 f. 169. A. Clebsch, “Über die Reduction der zweiten Variation auf ihre einfache Form”, Journal für die reine und angewandte Mathematik, 54 (1858), 254-273.
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Voraussetzung der Umformung der zweiten Variation ist jedoch die Existenz einer nicht verschwindenden Lösung einer gewissen Differentialgleichung (A1, S. 192). Es ist nicht verwunderlich, daß in den Jahren 1874/75 die zweite Variation mehrmals Gegenstand der Briefe zwischen WEIERSTRAß und SCHWARZ ist.170 Am 2. Oktober 1874 beendete SCHWARZ einen Brief mit der Frage: “Ist bei der auf Ihre Veranlassung unternommenen Untersuchung der zweiten Variation des Flächeninhalts von Rotationsflächen bei constantem Volumen ein greifbares specielles Resultat herausgekommen?” Da SCHWARZ keine Antwort erhielt, wiederholte er am 6. Februar 1875 seine Frage: “Sie haben wie aus Ihren Vorlesungen über Variationsrechnung hervorgeht und aus einer mündlich von Ihnen mir gemachten Mitteilung hervorgeht, einen jungen Mathematiker veranlaßt, über die 2. Variation des Flächeninhalts einer Rotationsmaximumsfläche bei constantem Volumen eine Untersuchung anzustellen. Können Sie mir vielleicht mitteilen, ob bei dieser Untersuchung ein greifbares Resultat herausgekommen ist?” Von WEIERSTRAß kam am 21. April 1875 lediglich die Bemerkung: “Für bedeutend wichtiger halte ich es aber noch, daß Sie die versprochene Ausarbeitung Ihrer Untersuchung über die zweite Variation der M.[inimal] Flächen baldigst beenden. Diese Arbeit wird […] an sich von dauerndem Werthe bleiben, indem in ihr zum erstenmal die zweite Variation eines Doppel-Integrals in einem interessanten und wichtigen Fall so weit entwickelt wird, daß sich daraus diejenigen Folgerungen, um derentwillen die Entwicklung derselben allein Werth hat, wirklich ziehen lassen. Darauf lege ich weit mehr Gewicht als auf die in der großen und vielgerühmten Arbeit von Clebsch171 enthaltenen formalen Ausführungen, von denen der Autor, wie er mir selbst gesagt, auch nicht eine einzige Anwendung gemacht hat”. Die von SCHWARZ erwähnte Vorlesung muß aus dem Jahre 1869/70 bzw. 1872 sein und gibt einen Hinweis, wann WEIERSTRAß begann, die zweite Variation systematisch in seine Untersuchungen einzubeziehen. Im Jahre der Ankunft von SCHWARZ in Göttingen hatte dort übrigens ANTON GREVE (1857?) seine Dissertation Ein Problem aus der Variationsrechnung (1875) genau über das Problem veröffentlicht, nach welchem sich SCHWARZ bei WEIERSTRAß erkundigt hatte. Die Dissertation war aus einer Vorlesung über Variationsrechnung von MORITZ ABRAHAM STERN (1807-1894) im WS 1873 hervorgegangen und behandelte die Frage: “Unter allen Curven welche bei ihrer Umdrehung um eine Axe eine constante Oberfläche erzeugen, diejenige zu finden, bei welcher der Inhalt des erzeugten Rotationskörpers ein Maximum 170. Briefwechsel Weierstraß-Schwarz. Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie, Nl. Schwarz 1175. 171. A. Clebsch, “Über die Reduction der zweiten Variation auf ihre einfache Form”, Journal für die reine und angewandte Mathematik, 54 (1858), 254-273; auch “Über die zweite Variation vielfacher Integrale”, im gleichen Journal, 56 (1859), 122-148.
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oder ein Minimum vorstellt”. Jedoch bemerkte WILLY HOWE (1864-?) der 1887 durch WEIERSTRAß über die gleiche Frage promoviert wurde (vgl. Abschnitt 3.9.3), daß GREVES Beweis unzulänglich sei. GREVE griff lediglich auf die zweite Variation zurück, um aus den Lösungen der Eulerschen Gleichung die Kugel als tatsächliche Lösung zu ermitteln. MAGNUS EHRHORN (1856-?) folgte 1880 GREVE in Göttingen mit einer weiteren Dissertation.172 Im Hinblick auf die Ausbreitung des Wissens ist die letzte Dissertationen interessant, da WEIERSTRAß 1879 die Unzulänglichkeit der Definitheit der zweiten Variation für starke Extrema in seiner Vorlesung gezeigt hatte. WEIERSTRAß betonte schließlich in seiner historischen Zusammenfassung, daß sich auf diese Weise “alle Methoden der Variationsrechnung nicht nur streng, sondern auch vollkommen klar machen [lassen]. Allerdings in ein oder 2 Stunden ist dies nicht möglich.” (A1, S. 217). In einem Brief vom 19. Juni 1887 an SCHWARZ, in dem WEIERSTRAß u.a. Probleme der Variationsrechnung für Doppelintegrale erörterte und Bemerkungen zu einem Schwarzschen Manuskript machte, kam er auf diesen Zusammenhang zurück: “Jacobi begründete seinen Satz, daß für ein Stück einer Curve […] nur dann ein Minimum oder Maximum stattfinde, wenn das Stück zwischen zwei conjugierten Punkten liege, dadurch, daß im gegentheiligen Falle, die zweite Variation des betreffenden Integrals nicht auf die für die Beurtheilung ihres Zeichens erforderliche Form gebracht werden könne. Daran habe ich von Anfang an Anstoß genommen; denn es ist durch nichts bewiesen, daß das Stattfinden jener besonderen Form nothwendig sei, wenn die zweite Variation ihr Zeichen nicht soll ändern können. Sie machen in Ihrer Einleitung den Übergang zu Ihren eigenen neueren Untersuchungen173 durch die Bemerkung, daß ich gegen die Zulänglichkeit der zweiten Variation bei den Problemen der zweiten Variation prinzipielle Einwendungen gemacht hätte, wodurch die gewöhnlichen Beweismethoden ihre Kraft verloren hätten. Ja lieber Freund, hier liegt nun der Fall vor, daß Sie, wenn Sie das Thema überhaupt berühren wollen, mehr sagen müssen; sonst wird der Sachverhalt in ein falsches Licht gerückt. Nicht alle Leser Ihrer Abhandlungen wissen von meinen Einwendungen, und dann, das ist die Hauptsache, ich habe nicht bloß Einwendungen gemacht, sondern auch den
172. M.A. Stern war Professor der Mathematik in Göttingen, Schüler und Vertrauter von C.F. Gauß. - A. Greve, Ein Problem aus der Variationsrechnung, Göttingen, 1876, 46; M. Ehrhorn, Über die von Challis vorgeschlagene neue Integrationsmethode von gewöhnlichen Differentialgleichungen und ihre Anwendung auf gewisse ungelöste Aufgaben aus der Variationsrechnung, Dissertation Göttingen, 1880, Greifswald, Kunike ca. 1880, 30. 173. H.A. Schwarz, “Über spezielle zweifach zusammenhängende Flächenstücke”, Göttinger Nachrichten, 34 (1887); auch in Gesammelte Mathematische Abhandlungen, Bd. 1, Berlin, Springer 1890, 270-316. Das Zitat bezieht sich auf S. 275, die entsprechend den Einwänden von Weierstraß offenbar so abgeändert wurde: “Dass und wie dies geschehen könne, hat Herr Weierstrass für eine grosse Zahl von Aufgaben der Variationsrechnung in seinen Vorlesungen auseinandergesetzt und dadurch einen Weg gezeigt, auf welchem man, wie zu hoffen ist, dahin gelangen wird”.
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Weg bezeichnet, auf welchem man dahin gelangen kann und wird, für alle Probleme der Variationsrechnung, die bisher gebräuchlichen, unzulänglichen Methoden durch andere, stets ausreichende zu ersetzen. Für die einfachsten Probleme der Variationsrechnung habe ich dies, wie Sie wissen, wirklich ausgeführt.”174 WEIERSTRAß gab in dieser Vorlesung von 1875 eine weitere Begründung, weshalb er Parameterprobleme zur Grundlage seiner Theorie macht – übrigens gerade an jener Stelle, wo er den wichtigsten Teil der Untersuchungen (das hinreichende Kriterium) ankündigt (A1, S. 126)! Neben der sachgemäßen Berücksichtigung geometrischer Sachverhalte, die sich auf die Form der geometrischen Objekte und nicht deren analytische Darstellung in einem Koordinatensystem gründet, werden auch variationstechnische Vorzüge genannt, die man bei Gleichberechtigung der Veränderlichen erhält (A1, S. 126): “In den Lehrbüchern der Variationsrechnung wird gewöhnlich die Theorie so dargestellt, daß y gleich von vornherein als F(x) betrachtet wird, und es wird dann nur y, nicht x variiert. Das reicht aus für die nothwendigen, nicht aber für die hinreichenden Beding[un]gen. Die Variation ξ [von x] wird dann 0 und die Dglg [Differentialgleichung] wird dadurch anscheinend einfacher. Indeß hat diese Betrachtungsweise ihr Mißliches. Es würde z.B. manche Erörterungen nothwendig sein, wenn die Function nicht eindeutig ist, was häufig von der Lage des Coord[inaten]systems abhängig ist. Außerdem werden aber auch die Betrachtungen einer unabhängigen Veränderlichen t für den Fall einfacher, wo auch die Endp[unk]te der Curve variiert werden. Die Formeln werden durch Einführung der Größe t zwar etwas weitläufiger, die Symmetrie der Rechnung wird aber bewahrt”. MITTAG-LEFFLER notierte an der entsprechenden Stelle: “In Lehrbüchern. Ein Koordinat[e] y als Funktion von x. Dann wird y variiert[,] nicht x. Das reicht aus für notwendige Bedingungen. Die Dif. Gl. [Differentialgleichung] wird anscheinend einfacher. Die Betrachtung etwas misslicher. Wenn die Funktion nicht eindeutig [wäre, ist das] aber künstlich. Dies hängt doch von die Lage der Koordinaten ab. Diese Schwierigkeit [ist] weg mit t. Auch die Ausdrücke einfacher[,] wenn auch die Endpunkte variieren. Hier [folgt] alles in ein Schlag. Drum weitläufig. Auch [er]zwingt man hier symmetrische Rechnung.”175 3.5.2.6 Vorlesung SS 1877, privatim 4h Von dieser Vorlesung lag mir keine Ausarbeitung vor. Nachweislich ist jedoch von HANS VON MANGOLDT (1854-1925) eine Mitschrift angefertigt 174. Briefwechsel Weierstraß-Schwarz, Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie, Nl. Schwarz, 1175, 360-362. 175. Mitschrift C, Variationsrechnung von Mittag-Leffler, Institut Mittag Leffler, Djursholm, Bogen 5, Seite 3.
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worden; auch LUDWIG SCHEEFFER (könnte diese Vorlesung besucht haben, denn er wird im Hörerverzeichnis für beide Weierstraßschen Vorlesungen im SS 1877 geführt, so daß er entweder die Variationsrechnung oder die Geometrie-Vorlesung (wie FELIX KLEIN) besuchte. Im Hinblick auf die spätere Verstimmung zwischen WEIERSTRAß und ihm, die sich aufgrund des gleich zu besprechenden Artikels von SCHEEFFER ergab (und die aus SCHEEFFERS Nachträgen zu seiner Arbeit sowie aus dem Briefwechsel WEIERSTRAß-SCHWARZ erkennbar wird), ist erwähnenswert, was SCHEEFFER angibt. Er schrieb, daß er in einer Mitschrift von 1877 noch nichts über das neue Weierstraßsche hinreichende Kriterium gelesen habe, das auf dem Feldbegriff beruhe, und daß er weiterhin die in dieser Frage entscheidende Weierstraßsche Vorlesung von 1879 nicht besucht habe. LUDWIG SCHEEFFER hat in seiner Arbeit Über die Bedeutung der Begriffe ‘Maximum und Minimum’ in der Variationsrechnung176 1885 den ersten Hinlänglichkeitsbeweis für ein schwaches Extremum publiziert. Das Variationsproblem war von folgender Form J =
b
∫a F ( x, y ( x ), y' ( x ) ) dt → extremum
mit festen Randwerten. Der Beweis beruhte auf der Entwicklung der totalen Variation ∆ J, 2
∆J = δ J + R 3 ,
wobei R3 das Restglied dritter Ordnung in den Variationen ξ und deren Ableitung ξ ' ist (S. 209). SCHEEFFER erhielt mit Hilfe einer Abschätzung für die zweite Variation, die zuvor in eine Jacobischen Form gebracht worden war: 2
δ J>c
2
b
∫a ξ' dx .
(In die Variation ξ geht eine Lösung der Jacobischen Differentialgleichung als Divisor ein, S. 205). Mit Hilfe einer weiteren Ungleichung, die ein Integral über die quadrierte Variation durch ein Integral über die quadrierte Ableitung der Variation majorisiert (S. 206) und die heute in der Theorie der SobolevRäume als Poincarésches Lemma bezeichnet wird, schätzte SCHEEFFER den Ausdruck R3 nach oben ab und konnte so schließlich die Positivität der totalen 2 Variation ∆J = δ J + R 3 folgern (S. 208). In dieser Argumentation ist klar, daß die Vergleichskurven nur schwach variiert werden dürfen (Nachbarschaft im Sinne des Raumes der stetig differenzierbaren Funktionen). In einer dieser Arbeit vorhergehenden Note Die 176. L. Scheeffer, “Über die Bedeutung der Begriffe ‘Maximum und Minimum’ in der Variationsrechnung”, Leipziger Berichte, 27 (1885), 92-105; auch in: Mathematische Annalen, 26 (1886), 197-208.
DIE WEIERSTRAßSCHE WENDE
207
Maxima und Minima der einfachen Integrale177 war dieser Sachverhalt zwar behandelt, aber nicht so deutlich ausgedrückt worden. SCHEEFFER hatte dabei zwar die einschlägigen Autoren referiert und kritisiert, aber seinen Lehrer WEIERSTRAß unerwähnt gelassen, was sachlich ganz ungerechtfertigt war, da WEIERSTRAß ja bereits 1875 in seinen Vorlesungen ein Kriterium für schwache Minimalität entwickelt hatte. Eine entsprechende mündliche Mitteilung des verärgerten WEIERSTRAß’ veranlaßte SCHEEFFER seinem Artikel (Oktober 1884) eine Bemerkung (Januar 1885) anzufügen, in welcher er erklärte, daß unter den zur Extremalen benachbarten Kurven nur solche zu verstehen seien, die in ihrem Verlauf nahezu parallel zu der gegebenen Kurve bleiben, womit nicht jede lediglich innerhalb eines Flächenstreifen liegende Kurve in diesem Sinn benachbart ist. Die Verärgerung von WEIERSTRAß spiegelte sich in Briefen mit SCHWARZ wider, in denen es um die Arbeit Über die Bedeutung der Begriffe ‘Maximum und Minimum’ in der Variationsrechnung von SCHEEFFER geht.178 Bemerkenswert ist an dieser Kontroverse zwischen WEIERSTRAß und SCHEEFFER, daß SCHEEFFER sich schließlich damit entschuldigte, nur ein Vorlesungsheft der Weierstraßschen Variationsrechnung aus dem Jahre 1877 zur Verfügung gehabt zu haben.179 Nun hätte er sich 1885 durchaus auf einen aktuelleren Stand der Weierstraßschen Variationsrechnung bringen können (also a fortiori die Ergebnisse der Vorlesung von 1875 kennen können), aber für uns ist wichtig, daß 1877 offenbar noch keine Feldtheorie in der Vorlesung erschien. 3.5.2.7 Vorlesung SS 1879, privatim 4h A) Ausarbeitung C. Runge Handschriftliche Ausarbeitung (deutsche Kurrentschrift) nach eigenen stenographischen Notizen, kein Inhaltsverzeichnis. 177. L. Scheeffer, “Die Maxima und Minima der einfachen Integrale zwischen festen Grenzen; Bemerkung zu vorstehendem Aufsätze”, beide in Mathematische Annalen, 25 (1885), 522-593; 594-595. 178. Briefe vom 18. 10. 1885 (Schwarz an Weierstraß) und 27. 10. 1885 (Weierstraß an Schwarz). Archiv der Brandenburgisch-Berliner Akademie der Wissenschaften. Schwarz berichtete, daß er bei seinem Besuch in Leipzig von Klein darauf hingewiesen wurde, daß A. Mayer auf der Veröffentlichung der posthumen Arbeit über Extrema bestanden habe. Weierstraß betrachtete die Arbeit über die Extrema als verfehlt; die Vermutung von Schwarz sei zutreffend, daß die Sache bei ihm bereits richtig dargestellt worden sei, was seinem Hörer (und Doktoranden) Scheeffer hätte nicht entgehen dürfen. Man beachte jedoch die gespannten Beziehungen zwischen den Berliner und Leipziger Mathematikern, die zum Beispiel bei der Berufung von Lie offenkundig wurden. Der “Berliner” Scheeffer veröffentlichte in “Leipziger” Zeitschriften! Siehe dazu auch P. Ullrich, “Über die Wichtigkeit einer lesbaren Handschrift”, Mitteilungen der DMV (1999), Heft 4, 39-42; R. Thiele, “Felix Klein in Leipzig”, Jahresbericht der DMV, 102 (2000), 69-93. Die Arbeiten des Weierstraß-Schülers Scheeffer lassen sich als gute Einführung in solche von A. Clebsch und A. Mayer lesen. 179. L. Scheeffer, “Bemerkung zu vorstehendem Aufsatze”, Mathematische Annalen, 25 (1885), 594-595, Zitat S. 595.
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KAPITEL 3
Mathematischen Institut der Universität Göttingen. Die stenographischen Notizen selbst werden in der Niedersächsische Staatsund Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung aufbewahrt. A1) Abschrift dieser Ausarbeitung für G. Mittag-Leffler, Djursholm. Wörtliche Abschrift (lateinische Kurrentschrift) der Ausarbeitung A. Institut Mittag-Leffler, Djursholm. B) Ausarbeitung des Mathematischen Vereins Berlin, redigiert von H. Maser Maschinenschriftliche Fassung. 238 S., 2 S. Inhaltsverzeichnis. Mathematisches Institut der Humboldt-Universität, Ww 163; Institut Mittag-Leffler, Djursholm. B1) Ausarbeitung des Mathematischen Vereins Berlin, redigiert von H. Maser Autographierte Fassung (deutsche Kurrentschrift). 209 S. mit 11 S. Inhaltsverzeichnis. Mathematisches Institut in Gießen. B2) Ausarbeitung des Mathematischen Vereins Berlin, redigiert von H. Maser Abschrift (deutsche Kurrentschrift) einer handschriftliche Fassung, die A. Mayer mit der Nachschrift von O. Hölder (1899) verglichen und mit Randnotizen sowie Ergänzungen aus der Vorlesung von 1882 versehen hat. Mathematisches Institut der Universität Leipzig. B3) Ausarbeitung des Mathematischen Vereins Berlin, redigiert von H. Maser Abschrift von M. Nath (1883), 341 S. Aus Naths Nachlaß im Mathematisches Institut der Humboldt-Universität. W 824/21a. B4) Ausarbeitung des Mathematischen Vereins Berlin, redigiert von H. Maser Handschriftlich, lateinische Schrift, 203 S. Inhalt auf S. 217-219. Staatsbibliothek Berlin, Ms. Germ. Quart. 2248 [früher MI 824/21]. B5) Ausarbeitung des Mathematischen Vereins Berlin, redigiert von H. Maser Handschriftlich, lateinische Schrift, 376 S. Inhalt auf S. 359-376. Prof. Dr. S. Hildebrandt, Bonn. B6) Ausarbeitung des Mathematischen Vereins Berlin, redigiert von H. Maser Handschriftlich, (lateinische Kurrentschrift), Abschrift von F.L. aus dem Jahre 1885. Hessische Landesbibliothek Darmstadt C) Ausarbeitung J. Haenlein, handschriftlich (deutsche Kurrentschrift), sehr gut gegliedertes Inhaltsverzeichnis 16 S., 569 S. + 16 S. Anhang (Ausnahmefall beim Weierstraßschen Fundamentalsatz). Mathematisches Institut der Humboldt-Universität Berlin, W 824/22. D) Ausarbeitung Rudio. Abschrift in handschriftlicher Fassung, 101 S., kein Inhalt. Institut Mittag-Leffler, Djursholm (unpaginiertes Original); Staatsbibliothek Berlin, Ms. Germ. Fol. 1671 [früher MI W 824/22/2].
DIE WEIERSTRAßSCHE WENDE
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E) Mitschrift Bolza [?] Teil 1 einer stenographischen Mitschrift, die die Universitätsbibliothek Berlin 1943 erworben hat [Bolza starb 1942], weitere Teile fehlen in Berlin. Unpaginiert. Universitätsbibliothek Berlin Das Standardproblem der Vorlesung ist die parametrische Variationsaufgabe J =
B
∫A F ( x, y, x· , y· ) dt → extremum
für gesuchte Parameterdarstellungen einer Kurve x(t), y(t), die in den Randpunkten A und B fest vorgegeben sind. Bei Punkten, die indiziert sind, wird häufig nur der Index aufgeschrieben; also für P0 nur 0. Die Entdeckung der vierten notwendigen Bedingung für Extremalität und der Hinlänglichkeitsbeweis für starke Extrema mittels der Weierstraßschen Konstruktion wurden von OSKAR BOLZA (1857-1942), der einer der Hörer180 dieser denkwürdigen Vorlesung gewesen war, als a turning-point in the history of the Calculs of Variations181 bezeichnet. Aber wir haben auch einen ausführlichen Bericht eines Studenten dieser Vorlesung über Variationsrechnung im SS 1879. Am 22. September 1904, also 25 Jahre nach den Ereignissen, schrieb CARL RUNGE an GÖSTA MITTAG-LEFFLER, der sich für Weierstraßsche Vorlesungsmitschriften interessierte: “Ich habe meine Ausarbeitung der Variationsrechnung gefunden und zugleich auch die stenographischen Notizen, die ich während der Vorlesung gemacht habe. Die Vorlesung ist vom Sommer 79. Der neue Weg, den Weierstrass fand, wurde uns am Freitag[,] den [dem] vierten Juli[,] mitgeteilt und am 7. Juli ausführlich dargelegt. Die letzte Vorlesung ist vom Freitag[,] den [dem] 1 Aug. Meine Ausarbeitung habe ich jedes Mal zwischen zwei aufeinander folgenden Vorlesungen gemacht. Aber ich habe damals gleich geseh[e]n, dass der Weg vom 7. Juli vorausgestellt werden müsste und dadurch das Vorhergehende zum großen Teil überflüssig macht oder ihm nur noch ein historisches Interesse übrig lässt. Ich werde Ihnen eine Abschrift der Ausarbeitung besorgen.”182
180. Diese Vorlesung hörten u.a. F. Rudio (Promotion in Berlin 1880), O. Hölder, C. Runge (Promotion in Berlin 1880), E. Husserl, O. Bolza und H. Maser (Quästurakten, Universitätsarchiv Berlin). 181. O. Bolza, Lectures on the calculus of variations, Chicago, University Press, 1904. Preface, p. v. 182. Institut Mittag-Leffler, Djursholm.
210
KAPITEL 3
Diese Angaben wiederholte RUNGE zwei Jahre später, am 27. Oktober 1906, in einem weiteren Brief an MITTAG-LEFFLER: “Das Heft über Variationsrechnung, das ich Ihnen geschickt habe, ist meine Ausarbeitung der Vorlesung, die Weierstrass im Sommer 1879 gehalten hat. [Einfügung: Dem Abschreiber habe ich 45 Mk bezahlt.] Er entdeckte damals während der Vorlesungen die -Function[,] und ich habe gleich eingesehen, dass man mit diesem Begriff die Erörterung von vorne herein erheblich vereinfachen könnte. Meine Ausarbeitung aber, die ich immer gleich nach den Vorlesungen schrieb, enthält natürlich die Betrachtungen in derselben Reihenfolge, in der sie vorgetragen wurden. Ich besitze auch noch meine stenographischen Notizen. Der mathematische Verein in Berlin hat damals auch eine Ausarbeitung dieser Vorlesung gemacht, bei der ich mitgewirkt habe. Da ist die -Function in den Vordergrund gestellt. Denn da lagen die Vorlesungen uns vor, als wir an die Ausarbeitung gingen.”183 In RUNGES eigener Ausarbeitung der stenographischen Mitschrift, deren Ausführung (Einfügungen und Streichungen) für eine unmittelbare Übertragung der stenographischen Notizen spricht, findet sich in der Tat das hinreichende Kriterium; unter Verwendung der heute üblichen Bezeichnung ε aber erst im Abschnitt über isoperimetrische Probleme (A, S. 261; A1, S. 258f.). Allerdings geht der Herleitung der vierten notwendigen Bedingung beim einfachen Problem (A1, S. 218f.) der Nachweis für Minimalität bzw. Maximalität einer Extremalen voraus (A1, S. 194, 199), ohne daß in beiden Fällen die Bezeichnung ε eingeführt wird! RUNGES Erinnerungen geben offenbar das historische Geschehen nicht korrekt wider; aber wir haben keine unmittelbarere Quelle als dessen stenographische Mitschrift bzw. die dazu gehörige Ausarbeitung. Auch die ganz anders ausgearbeitete Mitschrift RUDIOS (D), die unabhängig von RUNGES Darstellung ist, bringt das hinreichende Kriterium bereits für das Standardproblem. Die stenographische Mitschrift E, die möglicherweise die von BOLZA ist, liegt nur unvollständig vor und endet beim Jacobischen Kriterium.
ε
ε
183. Institut Mittag-Leffler, Djursholm. Die Aussage von Runge, daß er die Tragweite der Exzeßfunktion in der Variationsrechnung und die damit zu verbindende Änderung in dem Aufbau der Theorie – wie es später in der Ausarbeitung des Mathematischen Vereins durch ihn in der Tat erfolgte – sofort erfaßt habe, darf bezweifelt werden, wenn man die entsprechenden Seiten seiner stenographischen Mitschrift betrachtet, die auch mit dem Porträts eines (unbekannten) Kommilitonen geschmückt ist (siehe Abb. 3.5).
DIE WEIERSTRAßSCHE WENDE
211
Abb. 3.5. Das Erscheinen der Exzeßfunktion in der Weierstraßschen Vorlesung am 4. Juli 1879 (in Runges stenographische Mitschrift, S. 249, sowie der entsprechenden Ausarbeitung Runges)
Es spricht viel dafür, daß WEIERSTRAß in der Vorlesung so vorgegangen ist: Von konjugierten Punkten kommend wurde zunächst der Flächenstreifen (zentrales Feld) eingeführt (A1, S. 185f.), und die beiden Annahmen, daß zum einen F1 in keinem Punkt eines Gebietes sowie in diesem Punkt für alle Richtungen weder verschwindet noch unendlich wird und daß zum anderen auch H (H ist die Differenz der gemischten partiellen Ableitungen von F nach x und y'; siehe unten) nicht unendlich wird, sichern für dieses Gebiet die Konstruktion eines Flächenstreifens (A1, S. 185). In diesem Flächenstreifen lassen sich für jeden Punkt nach allen Richtungen hin Extremalen ziehen (A1, S. 193). Dann wird der Plan der nächsten Untersuchungen dargelegt, hinreichende Bedingungen für Extremalität zu formulieren (A1, S. 194), was mit Hilfe des Feldbegriffs erfolgen soll (A1, S. 189). Hierfür wird ein allgemeiner Beweis gegeben (der in A1 auf S. 199 endet), dem noch Ausnahmefälle nachgetragen werden (A1, S. 199ff.). Einige Beispiele illustrieren die Ausführungen (A1,
212
KAPITEL 3
S. 211-218). Danach wird die vierte notwendige Bedingung hergeleitet (A1, S. 218), und anschließend betrachtete WEIERSTRAß Verallgemeinerungen des Integralbegriffs, die dem Umstand Rechnung tragen, wenn Vergleichskurven keine Tangenten aufweisen. Bei der Behandlung des isoperimetrischen Problems (A1, S. 228-301) verweist WEIERSTRAß mehrfach auf die analogen Passagen beim einfachen Problem (z.B. A1, S. 247). Bei diesen Umformungen, die ähnlich bereits ausgeführt worden sind, wird dann die Bezeichnung eingeführt (A1, S. 250). Bei RUNGE (A, A1) gibt es keine Betrachtungen über Feldkonstruktionen, die für einen Punkt “neben” dem Ausgangspunkt (weder für einen Nachbarpunkt hinter oder vor dem Ausgangspunkt) ausgeführt werden. Es ist unklar, wie solche Überlegungen, die das zentrale Feld verallgemeinern, in die Ausarbeitung des Mathematischen Vereins gelangt sind (B, B1-B5). Das Gesagte dokumentiert bereits klar, wie WEIERSTRAß der neuen Darstellungsart gewahr allmählich wurde. Die Ausarbeitung des Mathematischen Vereins betont von Anfang an diese neuen Betrachtungen WEIERSTRAß’. Man zog sie in der Darstellung sachlich konsequent nach vorn, und es war übrigens RUNGE, dem es bei dieser Ausarbeitung zukam, die einschlägigen Abschnitte 11 und 12 sowie 18 (Geometrische Bedeutung der konjugierten Punkte, vierte notwendige Bedingung und ein hinreichendes Kriterium für starke Extrema sowie hinreichende Bedingungen für isoperimetrische Probleme) zu überarbeiten. Diese Ausarbeitungen enthalten auch einige interessante Ergänzungen, die in der Vorlesung offenbar nicht gebracht wurden. Wir werden sie noch zu diskutieren haben. Die sehr sorgfältige Ausarbeitung von JACOB HAENLEIN (1859-1919)184 enthält bereits in der Grundaufgabe die neuen Betrachtungen und Bezeichnungen, was ebenfalls für eine Anfertigung im Nachhinein spricht. Auf die Ausarbeitung von FERDINAND RUDIO (1856-1929) werden wir im Zusammenhang mit seiner Habilitation im Abschnitt 3.9.6 eingehen. Bevor wir kurz wir kurz den mathematischen Hintergrund skizzieren, der diesen Mitschriften zugrunde liegt, sei erwähnt, daß der Briefwechsel mit SCHWARZ in dieser Zeit nicht besonders rege war und daß in ihm keine Probleme der Variationsrechnung erörtert wurden. WEIERSTRAß war zudem auch mit der Herausgabe der Steinerschen Werke befaßt, die bis zum zeitaufwendigen Korrekturlesen gediehen war. Eine herausragende Entdeckung teilte WEIERSTRAß allerdings in dieser Zeit SCHWARZ mit, nämlich die Entdeckung einer stetigen Funktion, die nicht differenzierbar ist (Brief vom 19. April 1879). Im Hinblick auf die Frage nach der analytischen Natur der Vergleichsfunktionen (Variationen) ist diese Erkenntnis von WEIERSTRAß auch in der Variationsrechnung von Belang.
ε
184. Studium in Darmstadt und Berlin von 1877-1882, seit 1885 Gymnasiallehrer in Berlin.
DIE WEIERSTRAßSCHE WENDE
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WEIERSTRAß ging in der Vorlesung vom Problem des absoluten Extremums aus und behandelte das relative Extremum als Teilaufgabe. Dabei präzisierte er notwendigerweise den Begriff der zulässigen Vergleichskurven (bzw. -funktionen), gegenüber deren Gesamtheit das relative Extremum erreicht wird. In einer gewissen Klasse, der der schwachen Variationen, hatte WEIERSTRAß hinlängliche Bedingungen für ein relatives Extremum erzielt, nämlich für das später von KNESER so genannte schwache Extremum. Die zulässigen Vergleichskurven ergaben sich aus Konstruktionen,185 die den Einschränkungen an die Klasse und den Forderungen des Problems genügten; aber bei einem solchen Vorgehen ist es auch naheliegend, die in Rede stehende Extremale ebenfalls mit anderen Extremalen in Beziehung zu setzen (etwa solchen, die in einem gemeinsamen Ausgangspunkt nur um einen kleinen Winkel abweichen), also von vornherein anstelle einer Extremalen gleich eine Schar solcher Kurven zu betrachten. Das entspricht auch der in der Optik auf natürliche Weise gegebenen Situation, wo im allgemeinen nicht einzelne Strahlen, sondern Strahlenbündel gegeben sind. Da die Einengung auf schwache Variationen nicht mehr zu untersuchen war, interessierten nun auch andere Übergänge zwischen Extremalen oder zu Vergleichskurven, und sie waren kein methodisches Hindernis für die Untersuchungen – im Gegenteil: mit einer gewissen inneren Zwangsläufigkeit mußte sich das Untersuchungsprogramm schließlich derartigen (starken) Variationen zuwenden. Kurvenscharen mit gemeinsamen Ausgangspunkt, bei denen man das Verhalten von solchen Kurven studiert, die sich im Ausgangspunkt voneinander nur um einen infinitesimalen Winkel unterschieden, erwiesen sich in den Jacobischen Untersuchungen als ausgezeichnet geeignet, um auf geometrische Weise konjugierte Punkte zu erklären. WEIERSTRAß begann zwar mit dem Jacobischen Formalismus, als er die Möglichkeit der Transformation der zweiten Variation untersuchte und dabei einen Zusammenhang zwischen den Forderungen an die Lösung einer gewissen (Jacobischen) Differentialgleichung sowie den Eulerschen Differentialgleichungen aufdeckte, aber die hierbei erscheinende analytische Frage, wann eine bestimmte Funktion verschwindet, wurde bald ins Geometrische gewendet. Die geometrische Vorstellung legte eine von einem Punkt ausgehenden Extremalenschar zugrunde und betrachtete in dieser zwei benachbarte Extremalen, die sich im Ausgangspunkt A lediglich um einen unendlich kleinen Winkel unterscheiden. Die Frage, ob sich solche Extremalen nochmals schneiden werden und – falls ja – ob es dann eine von A verschiedene Grenzlage dieses Schnittpunktes gibt, wenn der Winkel im Ausgangspunkt A zwischen beiden Extremalen gegen null geht, zielt auf die Existenz konjugierter Punkte ab.
185. Hier erscheint die bereits häufig erwähnte konstruktive Haltung von Weierstraß wieder. Bis zur Entdeckung des Approximationssatzes stetiger Funktionen durch Polynome im Jahre 1885 betrachtete Weierstraß das Konzept einer beliebigen stetigen Funktion als unfruchtbar.
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KAPITEL 3
Aus diesen (differential)geometrischen Vorstellungen heraus, die unausgesprochen bereits den Feldbegriff widerspiegeln, werden die analytischen Bedingungen reflektiert. Allerdings werden noch Felder durch einen gemeinsamen Anfangspunkt A betrachtet (also spezielle Felder, die als zentrale bzw. in mehr optischer Terminologie stigmatische Felder bezeichnet werden). Solche Überlegungen werden noch nicht im Sinne der Feldtheorie entwickelt, sondern sie werden zunächst für konjugierte Punkte ausgeführt, mit deren Hilfe Aussagen über solche Teile von Kurven gemacht werden sollen, denen tatsächlich Extremalität zukommt. Derartige Dinge sind schon in der Vorlesung von 1875 behandelt und von uns zitiert worden (B, S. 125, 147). Ein charakteristisches Thema bei diesen Überlegungen, das von WEIERSTRAß durchgängig seit 1875 behandelt wurde, ist der von JOSEPH BERTRAND (1822-1900) gegen die Gültigkeit der Jacobischen Aussagen gemachte Einwand, den WEIERSTRAß als unzutreffend nachwies.186 Die Bezeichnung Flächenstreifen, die WEIERSTRAß für das zentrale (stigmatische) Feld benutzt, wurde von ihm in den die konjugierten Punkte betreffenden Überlegungen geprägt, wobei die ganze Tragweite des Begriffs von ihm in anderem Zusammenhang erst später erkannt wurde. Die Eigenschaften des Flächenstreifens sowie der Exzeßfunktion wurden, wie oben dargelegt, von WEIERSTRAß erst mitten in der Vorlesung im SS 1879 als tragfähig für ein hinreichendes Kriterium erkannt, nämlich bei der Behandlung der isoperimetrischen Probleme. Wir werden zwar grundsätzlich den historischen Umständen folgen, aber da die isoperimetrischen Nebenbedingungen zunächst eine Diskussion der Variierbarkeit erforderten und dann bei den Beweisen vermittels der Multiplikatorenregel technisch lediglich “im Hinzufügen” von verschwindenden Variationen der Nebenbedingungen beständen (was in unserem Zusammenhang von der Natur der Sache ablenkt), werden sich unsere Überlegungen inhaltlich sehr der Ausarbeitung des Mathematischen Vereins annähern. Der Leitfaden unserer Darlegungen wird die Mitschrift von RUNGE (A bzw. A1) sein, mit der wir sehr nahe an WEIERSTRAß’ eigenen Darlegungen sein dürften. WEIERSTRAß geht stets von den drei notwendigen Bedingungen für Extremalität von Euler, Lagrange und Jacobi aus, wobei die notwendige LegendreBedingung F1 ≥ 0 (bzw. ≤ 0) bei WEIERSTRAß ggf. nach entsprechender Zerlegung des Intervalls “stückweise” die strengere Form F1 > 0 (bzw. < 0) aufweist. Für eine gewisse Klasse von Variationen, die heute als schwache Variationen bezeichnet werden, zeigte WEIERSTRAß, daß diese Bedingungen
186. In der Ausarbeitung des Mathematischen Vereins ist der Widerlegung das Kapitel 9 gewidmet (S. 197-113); in den Mathematischen Werken, Bd. 7, wird der Einwand im Kapitel 17 behandelt (S. 164f.). In der Mitschrift Hettner in Djursholm auf S. 161. Für die geodätischen Linien ist Bertrands Auffassung bereits durch Bonnet widerlegt worden, siehe Abschnitt 4.5.2.
DIE WEIERSTRAßSCHE WENDE
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auch hinreichend sind (A, S. 168; A1, S. 158f.).187 Bei diesem hinreichenden Kriterium für schwache Extremalität (A S. 177; A1, S. 166) setzte WEIERSTRAß voraus, daß F1 nicht verschwindet und auch nicht unendlich wird (A1, S. 159). Die maschinenschriftliche Ausarbeitung des Mathematische Vereins läßt an dieser Stelle WEIERSTRAß wie folgt resümieren: “Damit ist die Theorie bis zu dem Punkt geführt, bis zu dem sie von andern überhaupt jemals geführt worden ist” (B, S. 121). Weder bei RUNGE noch HAENLEIN findet sich eine derartige Bemerkung, allerdings tauchen ähnliche Bemerkungen immer wieder in anderen Vorlesungen auf, so daß es sich hier durchaus um eine Weierstraßsche Einschätzung handeln dürfte (die zudem zutreffend ist). Im Verlaufe der folgenden Überlegungen wird für schwache Variationen ein Umgebungsbegriff eingeführt, der die Normale der in Rede stehenden Extremalen benutzt. Diese Normale schneidet in einer gewissen Umgebung ihres Fußpunktes jede schwach variierte Vergleichskurve nur einmal, so daß in den entsprechenden Umgebungen eines jeden Fußpunktes die Normale eine eindeutige stetige Abbildung zwischen jeder schwachen Variationen und der betrachteten Extremalen vermittelt und somit schließlich längs der gesamten Extremalen “alle betrachteten [schwachen] Variationen der Curve” (A1, S. 162) erfaßt. In dem für die geometrische Interpretation der konjugierten Punkte benutzte Bild führt dieser Nachbarschaftsbegriff “automatisch” auf den Flächenstreifen: “Denken wir uns in jedem Punkt der Curve die Normale gezogen, und nach beiden Seiten derselben Stücke abgetragen, welche kürzer sind als die Länge des Krümmungsradius in dem betreffenden Punkte. Das betrachtete Curvenstück soll keine singulären Punkte enthalten, daher wird die Länge des Krümmungsradius eine von Null verschiedene untere Grenze besitzen. Der Flächenstreifen kann daher so schmal gewählt werden, dass er keine der Normalen weiter als bis zu den abgesteckten Punkten enthält”. (A, S. 185; A1, S. 175) Der Begriff des Streifens wird nun in Zusammenhang mit dem Anfangswertproblem der Eulerschen Differentialgleichung gebracht: “Jetzt soll bewiesen werden, dass eine der Differentialgleichung genügende Curve, durch Anfangspunkt und Anfangsrichtung völlig bestimmt ist” (A1, S. 180). Unter der Zusatzvoraussetzung, daß die gemischten partiellen Ableitungen des Integranden F nach x und y', die in der Weierstraßschen Form der Eulerschen Differentialgleichung als ein Term 2
2
∂x∂y'
∂y'∂x
∂ F ∂ F (1) H = ------------- – ------------187. Die für Weierstraß mögliche Verschärfung beseitigt Schwierigkeiten der neueren Variationsrechnung. G. Grüß bemerkt hierzu: “Der durch die Legendresche Bedingung nicht ausgeschlossene Sonderfall, daß F1 in einzelnen Punkten […] verschwindet, führt auf beträchtliche Schwierigkeiten und ist bisher nur wenig untersucht worden” (Grüß, Variationsrechnung, Leipzig, Quelle & Mayer, 1938, 147).
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erscheinen, in einem Punkt P0 nicht unendlich werden, wird dann gezeigt, daß von diesem Punkt P0 aus nach allen Richtungen Kurven gezogen werden können, die der Eulerschen Differentialgleichung genügen (A1, S. 184). Der Beweis beruht auf Entwicklungen der als analytisch vorausgesetzten Extremalen in Potenzreihen, die schließlich in Abhängigkeit der Ausgangsrichtung dargestellt werden. Nachdem die in Rede stehende Extremale als Potenzreihe der Koordinaten als gegeben gedacht wird, ist die entscheidende Frage, ob es in P0 für geringfügige Änderungen λ des Winkels der Extremalen gegen die x-Achse solche Potenzreihen gibt, die wieder Lösungen der Eulerschen Gleichung sind. Aus Stetigkeitsgründen läßt sich das bestätigen. Eine Mitschrift bemerkte: “Der Beweis, dass man alle benachbarten Curven […] erhält, ist vollständig gegeben, wenn wir nur noch die Coordinaten der benachbarten Curven als Potenzreihen der Tangente [der Tangensfunktion] desjenigen Winkels darstellen, welchen ihre Anfangsrichtung mit der Anfangsrichtung der ursprünglichen Kurve macht” (A1, S. 182). Die Entwicklungen sind möglich, da die Jacobische Bedingung die erforderlichen Voraussetzungen liefert (A1, S. 184). “Denn ein Punkt muss sich stetig mit seinem correspondierenden [konjugierten] ändern” (A1, S. 150). Später wird diese Aussage präzisiert: “Da wir bewiesen haben, dass[,] wenn auf einer von 0 aus gezogenen Curve ein zu 0 conjugierter Punkt[188] liegt, [und] auch auf den benachbarten Curven zu 0 conjugierte Punkte liegen, welche dem ersten benachbart sind, so folgt, dass[,] wenn wir alle [Linien]Elemente der von Null [= 0] ausgezogenen Curvenschaar durchlaufen, [daß] wir auch alle Elemente der Curve erhalten, welche von den zu 0 konjugierten Punkten gebildet wird. Sie ist die sogenannte Einhüllende der den Punkt 0 umgebenden Curvenschaar”. (A1, S. 206) Hiervon ausgehend konstruierte WEIERSTRAß den Flächenstreifen. “Denken wir uns diese Curven bis zu ihrem dem Anfangspunkt correspondierenden [konjugierten] Punkte gezogen, so bildet die Gesamtheit derjenigen Punkte, welche man auf diese Weise erreichen kann, ein den Anfangspunkt einschliessendes Flächenstück” (A1, S. 186). Gleich darauf werden die Überlegungen auf einen Kreis um den Anfangspunkt P0 bezogen und gezeigt, daß sich der Schnittpunkt von Kurve und Kreis mit der Anfangsrichtung der Kurve stetig verändert und niemals umkehrt bzw. stillsteht (A1, S. 188), d.h. zu jeder Anfangsrichtung gibt es genau einen Punkt am Umfang des Kreises und umgekehrt. Dieser Sachverhalt trifft für alle hinreichend kleinen Kreise um P0 zu, wobei sich die Kurven innerhalb eines solchen Kreises nicht schneiden können (A1, S. 189). Damit ist das Anfangswertproblem im Kleinen gelöst bzw. lokal um P0 ein zentrales (Extremalen)Feld konstruiert (A1, S. 180-190):
188. In dieser Mitschrift wechselte Weierstraß erst zwei Seiten zuvor von der Bezeichnung der “correspondierenden” zu der der “konjugierten” Punkte über.
DIE WEIERSTRAßSCHE WENDE
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“In einen [beliebigen] Punkt dieses Kreises können wir also nur eine einzige der Differentialgleichung genügende Curve von P0 aus legen, welche im Innern jenes Kreises liegt. Mit Hilfe dieser so definierten Fläche [des Flächenstreifens bzw. des Extremalenfeldes] werden wir die Untersuchungen auch für ganz beliebige Variationen durchführen. Allerdings mit der Einschränkung, dass F1 für alle Richtungen nicht Null und F1 und H [nicht] unendlich werden dürfen, was indess in den meisten Fällen zutrifft. (A1, S. 189) Für alle Punkte xy eines gewissen Bereichs und alle Wertepaare x'y' soll F1 nur Werthe eines Zeichens haben, u. F1 und H sollen nicht unendlich werden. Dann läßt sich von jedem Punkt des Bereichs nach jeder Richtung eine Curve ziehen, welche der Differentialgleichung genügt”. (A1, S. 193) Denkt man in den Begriffen des nichtparametrischen Variationsproblems, so ist das zentrale Feld, bei dem alle Extremalen einen gemeinsamen Ausgangspunkt P0 haben, um diesen Punkt P0 diffeomorph zu einem Kreissektor, in dem kein von P0 ausgehender Strahl im Winkelraum senkrecht zur Abszissenachse stehen darf. Damit ist eine Richtungsbeschränkung der Vergleichskurven verbunden. Beim Parameterproblem hingegen wird durch die beiden Zusatzvoraussetzungen von WEIERSTRAß dieser Kreissektor zum Vollkreis, womit Richtungsbeschränkungen im Ausgangspunkt entfallen und womit auch der Ausgangspunkt A selbst ganz im Flächenstreifen und nicht am Rand desselben liegt. Mit dem Extremalenfeld bzw. dem Flächenstreifen ist die sogenannte Weierstraßsche Konstruktion möglich, die WEIERSTRAß benutzte, um die Hinlänglichkeit des Kriteriums für starke Extremalität zu zeigen (erstmals in dieser Vorlesung im Teil über isoperimetrische Probleme). Wir werden darauf gleich näher eingehen. Erwähnenswert ist, daß bereits WEIERSTRAß 1879 eine Feldkonstruktion für analytische Extremalen im Kleinen vorgenommen hat. Die Ausarbeitung von JACOB HAENLEIN189 trägt dieser Tatsache besonders gut Rechnung, da die §§ 66-71 die einschlägigen Überlegungen zusammenhängend darstellen. HAENLEINS Gliederung der Mitschrift wird von den Problemen und nicht immer vom chronologischen Ablauf bestimmt. Er gibt zunächst den Sachverhalt wieder, daß eine Lösungskurve der Eulerschen Differentialgleichung durch ein Anfangswertproblem vollständig bestimmt ist (§ 66). Dann wird ausgeführt, daß man die Lösungen der Eulerschen Differentialgleichung (bzw. die entsprechenden Parameter) so wählen kann, daß die Anfangswerte und -richtungen beliebig festgelegt werden dürfen (§ 67). Damit ist die Aussage verbunden, daß auf diese Weise von den Lösungen eine Fläche überstrichen wird (modern: Extremalenfeld bzw. kurz Feld), und die Form der Fläche wird in der 189. Die im Mathematischen Institut der Humboldt-Universität befindliche Ausarbeitung Haenleins enthält die Notiz, daß Haenlein am 1.11.1915 diese Mitschrift dem Mathematischen Seminar der Universität Berlin auf Wunsch von H.A. Schwarz überreicht habe.
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KAPITEL 3
Nähe des Anfangspunktes erörtert (§§ 68, 69). Danach wird der Nachweis geliefert, daß die vom Anfangspunkt aus in alle Richtungen gezogenen Lösungskurven der Differentialgleichung wirklich eine Fläche (Flächenstreifen) bilden (§ 70) und die Existenz einer solchen Fläche unter den gemachten Voraussetzungen gezeigt (§ 71). In der Ausarbeitung des Mathematischen Vereins wird das so zusammengefaßt: “Hieraus folgt, daß die Gesammtheit der Punkte, welche man vom Punkte A aus durch der Gl.[Differentialgleichung] G = 0 genügende Curven erreichen kann und die vor dem conjugirtem Punkt liegen, ein zusammenhängendes Flächenstück bilden, d.h. man kann, wenn P1 ein Punkt jener Gesammtheit ist, um P1 ein so kleines Flächenstück abgrenzen, daß alle innerhalb desselben liegenden Punkte ebenfalls jener Gesammtheit angehören. […] Man kann somit die zwischen zwei conjugirten Punkten gelegene Strecke der ursprünglichen Curve stets durch einen entsprechenden Streifen einhüllen von der Beschaffenheit, daß sich von jedem Punkte desselben nach dem Punkte A hin eine und nur eine Curve ziehen läßt, welche der Diffgl. [Differentialgleichung] G = 0 genügt, der ersteren benachbart ist und in ihrer Anfangsrichtung nur wenig von der ersteren abweicht”. (B 1, S. 119f.) Die Aussage “Weierstrass gave only indications of how to show the existence of a strip or field about a given extremal”190 von HERMAN H. GOLDSTINE (1913-2004) in seiner History of the calculus of variations beruht offenbar auf der Variationsrechnung in der Werkausgabe und ist nicht zutreffend. Bei BOLZA, der eben diese Vorlesung von WEIERSTRAß gehört hat, finden sich in den eignen Vorlesungen (siehe Abschnitt 6.4.3) detailliert andere Feldkonstruktionen sowohl für den parametrischen als auch den nichtparametrischen Fall; die ersten publizierten Beweise sind von ERNST ZERMELO, WILLIAM OSGOOD (1864-1943), OSKAR BOLZA und GILBERT A. BLISS (1876-1951).191 Bemerkenswert ist auch, daß WEIERSTRAß hier kurz den Fall ins Auge faßte, daß eine Kurve funktional darstellbar ist, etwa y = f(x) (wobei die Variable x als formaler Parameter begriffen wieder den parametrischen Fall ergibt), und daß er dann zu dem Variationsproblem mit folgendem Integranden überging: y· F ⎛⎝ x, y ( x ), 1, --· ⎞⎠ anstelle von F ( x, y, x· , y· ) x
190. H.H. Goldstine, History of the calculus of variations from the 17th through the 19th century, Berlin, Springer, 1980, 317. 191. E. Zermelo, Untersuchungen zur Variationsrechnung, Dissertation, Berlin, 1894; W. Osgood, “Sufficient conditions in the calculus of variations”, Annals of Mathematics, 2 (1901), 105-129; O. Bolza, Lectures in the calculus of variations, Chicago, University Press, 1904, 113; G.A. Bliss, “An existence theorem”, Transactions of the AMS, 5 (1904), 113-125.
DIE WEIERSTRAßSCHE WENDE
219
(Überlegungen dazu A, S. 117f.). Die Feldkonstruktion für den parametrischen Fall läßt sich so auf den nichtparametrischen Fall übertragen, ohne daß WEIERSTRAß darauf einging. Im Anschluß an die “Feldkonstruktion” folgt ein Beweis der sogenannten Weierstraßschen oder vierten notwendigen Bedingung. Die Weierstraßsche Herleitung der notwendigen Bedingung erfolgt unter der Annahme, daß ein Feld existiert. Dessen Konstruktion ist möglich, sofern die genannten Voraussetzungen erfüllt sind. GERHARD GRÜß (1902-1950)192, der neben CARATHÉODORY die Korrekturen der Weierstraßschen Variationsrechnung in der Werkausgabe (1927) gelesen hat, bezieht sich in seiner Variationsrechnung (1938) vermutlich auf diese Kompilation und nicht auf die eigentlichen Vorlesung, wenn er formuliert: “Weierstraß selbst hat aber die vierte notwendige Bedingung bewiesen, ohne von dem Fundamentalsatz und der Existenz eines Feldes Gebrauch zu machen.”193 Ein solcher Ansatz fehlt jedoch in der Vorlesung. WEIERSTRAß bemerkte dort ausführlich, daß er zunächst von einen Punkt 0 in alle Richtungen Extremalen ziehe und daß er in diesem Bereich eine Fläche (= Flächenstreifen) konstruiere, in der F1 nur positiv oder negativ sei (verschärfte Legendre-Bedingung) und in der keine konjugierten Punkte lägen (A1, S. 193).
Abb. 3.6. Eine charakteristische Schlußweise von Weierstraß
In diesem Flächenstreifen zog er eine beliebige, zweimal stetig differenzierbare Kurve, die hinreichend nahe beim Punkt 0 zwei Punkte 1 und 2 verbindet, so daß man den Punkt 0 mit jedem Kurvenpunkt 3 zwischen 1 und 2 durch Extremalen verbinden kann, und es liege auch auf dem Bogen 12 kein zu 0 konjugierter Punkt. WEIERSTRAß zeigt nun, daß für eine Minimale bzw. Maximale 03 das Integral über den zusammengesetzten Kurvenzug 03 und 32 beständig wächst bzw. fällt. Das Integral über die Extremalen 03 bzw. 02 bezeichnet WEIERSTRAß mit J03 bzw. J02, das Integral über die beliebige Kurve
192. Studium in Berlin und Göttingen, 1927 Dr. Ing. bei Rothe und Hamel, 1929 habilitiert, seit 1935 Professor an der Bergakademie Freiberg/Sa. 193. G. Grüß, Variationsrechnung, Leipzig, Quelle & Meyer, 1938, Zitat 165.
220
KAPITEL 3
32 wird mit J'32 notiert. Die Betrachtungen fallen etwas lang aus (A1, S. 194-211), da WEIERSTRAß auch die Fälle einbezieht, in denen die Extremale 03 die Kurve 12 in dem Punkt 3 berührt bzw. dies längs eines Teils der Kurve tut. Die Diskussion beruht auf folgender Überlegung: Wenn auf der beliebigen Kurve nahe dem Punkt 3 weitere Punkte 4 bzw. 5 rechts bzw. links von 3 gewählt werden, dann wird die Änderung der Integrale, die zunächst über die Extremalen bis 3 bzw. 4 und anschließend über die Kurve (12) nach 2 erstreckt werden, sofern 4 bzw. 5 nach 3 rücken, durch J03 - J04 - J '32 = ∆J - J'34 bzw. ∆J - J'35 ausgedrückt. Also ist letztlich das Vorzeichen dieser Änderung (Variation) zu ermitteln, das WEIERSTRAß durch die Funktion F1 ausdrücken möchte. Er resümierte nach der Behandlung von Beispielen (A1, S. 218f.): “Wenn in der um den Punkt 0 herum construirten Fläche [Flächenstreifen] und zwar in einem Teile derselben, wo für jeden Punkt nach allen Richtungen hin F1 dasselbe Zeichen hat, eine Curve (12) liegt, welche ihr[e] Richtung stetig ändert (sonst aber beliebig ist), und man zieht von 0 aus nach einem Punkt 3, der 12 durchläuft, eine Curve, welche der [Eulerschen] Differentialgleichung genügt, und lässt dieselbe sich mit 3 stetig ändern, so ist J03 + J'32 [irrtümlich sind hier in der Abschrift die Indizes 1 anstelle von 3 geschrieben] größer oder kleiner wie J02 , je nachdem F1 positiv oder negativ ist”. Die Kurve (12) sei durch u parametrisiert. Dann ist die Integralsumme J03 + J'32 bei variablem Punkt 3 eine Funktion von u, etwa S(u). WEIERSTRAß zeigte, daß diese Funktion S im Punkt 3 rechts- und linksseitige Ableitungen nach dem Parameter u besitzt (= H) , d.h. daß die Grenzwerte (vgl. (2*), S. 225) von S(u + κ ) – S(u) S(u – κ ) – S(u) (2) -------------------------------------- und -------------------------------------κ
–κ
für κ → 0 existieren und übereinstimmen. Die Parameterwerte u + κ und u - κ gehören zu zwei Punkten 4 und 5 rechts und links vom Punkt 3 der beliebigen Kurve 12. Im Verlaufe der Rechnung erscheint in der Abschätzung der Integralsumme J04 - J03 - J'34 bzw. J05 - J03 - J'53 sowie bei entsprechenden Reihenentwicklungen schließlich der Ausdruck [F
(1)
( x, y, x', y' ) – F
(1)
( x, y, x', y' ) ]x' + [ F
(2)
( x, y, x', y' ) – F
(2)
( x, y, x', y' ) ]y' ,
den WEIERSTRAß durch H abkürzte. F(1) bzw. F(2) stehen für die partiellen Ableitungen von F nach den Ableitungen x' bzw. y', der Querstrich bezeichnet Vergleichskurven (d.h. die beliebige Kurve 12 ). Bisher hatte WEIERSTRAß die Bezeichnung H in seiner Form der Eulerschen Differentialgleichung verwendet. Hier ist aber bis auf das Vorzeichen genau die später als Exzeßfunktion bezeichnete Funktion erklärt. WEIERSTRAß folgerte unter den beiden gemachten Voraussetzungen, wenn F1 für jeden Punkt und in alle Richtungen eines Bereichs weder null noch
ε
DIE WEIERSTRAßSCHE WENDE
221
unendlich wird, daß H nur dann verschwindet, wenn xy' – x'y = 0 ist, und daß H im anderen Fall das entgegengesetzte Vorzeichen von F1 hat (vierte bzw. Weierstraßsche notwendige Bedingung) (A1, S. 221f.). Sollte jedoch der Fall eintreten, daß xy' – x'y verschwindet, dann sind offensichtlich die Richtungen von Extremale und Vergleichskurve parallel. Die zur Herleitung der vierten notwendigen Bedingung benutze Variation ging von einer beliebigen Kurve C innerhalb des Flächenstreifens (Feldes) aus, die aber für diesen Beweis letztlich nur lokal in Erscheinung trat. Es liegt nun nahe, eine solche Kurve C zwischen den Endpunkte 0 und 1 der betrachteten Extremalen ganz in einem Flächenstreifen verlaufen zu lassen. Wenn man dann vom Punkt 0 zu einem beliebigen Punkt 3 auf C Kurven zieht, die der Eulerschen Differentialgleichung genügen, dann hat man die tragende Idee des Weierstraßschen Hinlänglichkeitsbeweises vor sich (Weierstraßsche Konstruktion). Sei C durch die von 0 aus gerechnete Bogenlänge s parametrisiert, dann ist das über die zusammengesetzte Kurve 03 und 31 erstreckte Integral eine Funktion dieser Bogenlänge s: S(s) = S3 = J03 + J'31.
Abb. 3.7. Weierstraßsche Konstruktion („globale Variation“ im Feld)
(Wie oben wird das Integral über die Extremale bzw. die Vergleichskurve durch J bzw. J ' bezeichnet und die Indizes geben die Endpunkte der durchlaufenen Kurvenstücke an.) Für die Punkte 0 und 1 mit den Parameterwerten 0 bzw. l gilt: S(0) = J'01,
S(l) = J01,
d.h. s = 0 beschreibt eine beliebige Vergleichskurve C (die WEIERSTRAß hier wieder als regulär voraussetzt) und s = l führt auf die Minimale C0 selbst. Die bereits hergeleiteten Grenzwertbeziehungen lautet dS ( s ) (3) ------------- = – ε , ds
woraus die Minimalität der Extremalen bei positiver Exzeßfunktion ε folgt. Da aufgrund der Grenzwertbeziehung (3) S(0) > S(l) gilt, haben wir
222
KAPITEL 3
J'01 > J01,
was zu zeigen war. Die Grenzwertbeziehung (3) ist eine differentielle Form des sogenannten Fundamentalsatzes von WEIERSTRAß, der in integraler Form die totale Variation durch die Exzeßfunktion ausdrückt: (4) ∆J = J' 01 – J 01 = S ( 0 ) – S ( l ) =
0
0
l
- ds = – ∫ ε ds = ∫ ε ds . ∫l ----ds l 0 dS
In der Mitschrift des Mathematischen Vereins (B, B1, B2) erscheint ein interessanter Kunstgriff, mit dem die Reichweite eines Feldes ausgedehnt wird, der offenbar in der Vorlesung nicht gebracht wurde! Die folgenden Betrachtungen vollziehen sich wiederum in einem Flächenstreifen für die Extremale E bzw. die Kurve 01. Es wird ein weiterer Punkt 0' eingeführt, der auf der Extremalen 01 liegt und 0 beliebig nahe ist (Abbildung 3.8).194 Eine willkürliche reguläre Vergleichskurve C verlaufe im Flächenstreifen von 0' nach 1, die Kurven (Extremalen) 03 bzw. 02 und 04 mit Endpunkten rechts und links von 3 auf C werden eingezeichnet. Da nach Annahme C im Feld verläuft, läßt sich jeder Punkt von C mit 0 durch eine Extremale verbinden. Entsprechend ist wieder für die durch die Bogenlänge u parametrisierte Kurve (0'1) S(u) = S3 = J03 + J'31;
speziell wenn 3 mit 0' bzw. 1 zusammenfällt (d.h. für u = 0 bzw. l) S(0) = J00' + J'0'1,
S(l) = J01.
Abb. 3.8. Einführen eines Punktes 0' nahe dem Punkt 0 auf der Extremalen.
194. Dieser Kunstgriff läßt sich z.B. beim Brachistochronenproblem benutzen, um den singulären Fall verschwindender Anfangsgeschwindigkeit v(0) = 0 zu behandeln, der allen Extremalen im Ausgangspunkt O eine senkrechte Tangente zuweist (Feld mit Spitze in O). Man betrachtet eine von null verschiedene Anfangsgeschwindigkeit und läßt diese gegen null gehen; geometrisch läuft das auf die Annahme eine Fallhöhe über der Rückkehrlinie der Zykloide hinaus, und damit wird der Zusammenhang zur Weierstraßschen Überlegung deutlich. Siehe hierzu Giaquianta, Hildebrandt, Calculus of variations, I and II, Berlin, Springer, 1996, 367 f. und 373 f.
DIE WEIERSTRAßSCHE WENDE
223
Die Voraussetzungen über die Exzeßfunktion bzw. die Monotonie von S(u) führen auf S(0) > S(l)
oder J00' + J'0'1 > J01,
also J'0'1 > J01 – J00' = J0'1.
Damit wäre die Minimalität für den Bogen 0'1 von E nachgewiesen. Durch den Grenzübergang 0' gegen 0 folgt schließlich auch J'01 ≥ J01,
was gewünscht wurde. Dieser Kunstgriff wird auch beim isoperimetrischen Problem benutzt, allerdings in veränderter Form (siehe S. 224). Weshalb schob WEIERSTRAß den Punkt 0' ein? Nur in der Mayerschen Abschrift B2 erfährt dieses Vorgehen eine kurze Motivierung: “Die Punkte, die auf diese Weise in Betracht kommen, bilden einen Bereich, welcher den Punkt 1 einschließt, die Curve 01 umhüllt, u. höchstens bei 0 in eine Spitze ausläuft, also [dann] den Punkt 0 nicht einschließt. Ist 0' ein Punkt auf 01, beliebig nahe bei 0, so wird 0'1 von dem Bereiche völlig umschlossen”. (B2, S. 221f.) WEIERSTRAß befreite sich hiermit von der möglichen Richtungsbeschränkung eines zentralen Feldes und verschaffte sich auf diese Weise indirekt einen allgemeineren Feldbegriff. Das zentrale Feld, das von 0 ausgeht, könnte derart sein, daß von 0 aus nicht in alle Richtungen Lösungen der Eulerschen Differentialgleichung gezogen werden können, sondern nur innerhalb eines bestimmten Winkelraumes. Bei nichtparametrischen Variationsproblemen ist dies schlechterdings stets der Fall, da keine senkrechten Tangenten im Ausgangspunkt zulässig sind, wodurch ein Flächenstreifen begrenzt wird. Beim parametrischen Variationsproblem können Richtungen, für die F1 verschwindet bzw. unendlich wird, den Flächenstreifen in die erwähnte Spitze (Kreissektor) in 0 auslaufen lassen, während die entsprechenden Annahmen über F1 das verhindern (womit der Kreissektor zum Vollkreis um 0 wird). Solche Annahmen hatte WEIERSTRAß zur Ausführbarkeit der Feldkonstruktion zwar gemacht, aber deren Voraussetzungen waren sachlich nicht gerechtfertigt. In den beiden folgenden Vorlesungen (1882, 1884) hat WEIERSTRAß diesen Kunstgriff nicht benutzt, sondern er hat ihn mit der Forderung der Konstruierbarkeit des Feldes umgangen.
224
KAPITEL 3
Es ist nun interessant, daß die Ausarbeitung des Mathematischen Vereins an der Parallelstelle für isoperimetrische Probleme eine veränderte Form bringt, die unmittelbar einsichtiger ist. Jetzt wird ein Punkt 0 , der sich vor dem Punkt 0 befindet, als Ausgangspunkt eines zentralen Feldes genommen, womit das so konstruierte Feld um 0 ein allgemeines Feld ist. Der Bearbeiter RUNGE beider Kapitel der Ausarbeitung hat hier keinen Kommentar oder Hinweis gegeben. Sollte WEIERSTRAß die Methode mit dem Punkt 0' in der Vorlesung entwickelt haben, so wäre es naheliegend zu vermuten, daß er an der Parallelstelle entsprechend argumentiert hätte. Aber die stenographische Mitschrift RUNGES spricht nicht für dieses Vorgehen. Damit liegt die Vermutung nahe, daß WEIERSTRAß im Anschluß an die Vorlesung von 1879 die neuen Ergebnisse im Seminar weiter erörtert und vertieft hat und daß hierbei bemerkt wurde, daß im Punkt 0 Richtungsbeschränkungen durch Übergang zu einem benachbarten und ganz im Streifen liegenden Punkt 0' sowie anschließenden Grenzübergang umgangen werden können, wobei schließlich die elegantere Version mit dem vorgezogenen Punkt 0 gefunden wurde. Einer der Teilnehmer der Weierstraßschen Seminare, FERDINAND RUDIO, hat in einer Arbeit Ueber die Principien der Variationsrechnung und die geodätischen Linien des n-dimensionalen Rotationsellipsoids,195 die seiner Habilitation 1881 in Zürich diente, diese Methode des benachbarten Punktes 0' aufgegriffen und schließlich erstmals 1898 im Druck gebracht, aber dabei die einfachere Version mit dem vorgezogenen Punkt 0 nicht erwähnt, da er bei der Entdeckung dieses Kunstgriffs das Seminar bereits verlassen haben dürfte. Dieser Kunstgriff findet sich gedruckt erstmals in ERNST ZERMELOS Dissertation von 1894. Siehe hierzu die Abschnitte 3.9.5 und 3.9.6. Die nicht aufgeklärte Genese des Kunstgriffs belegt, wie problematisch die Rezeption Weierstraßscher Ideen aufgrund der fehlenden Veröffentlichungen war und ist. A. MAYER ist die Inkonsequenz in einer Mitschrift des Berliner Mathematischen Vereins (B2) aufgefallen, sowohl 0' als auch 0 zu verwenden, denn in seiner Kopie dieser Ausarbeitung gibt es auf den entsprechenden Seiten Bemerkungen über die Verschiedenheit der Behandlung (B2, S. 221: “p. 294 nicht hinter, sondern vor 0”; S. 299: “p. 221 hinter 0”). Die Tatsache, daß die Mayersche Kopie etwas mehr bringt als die Standardfassung des Vereins (B) und die hiervon abhängigen Versionen (B1, B3-B5), liegt daran, daß MAYER beim Kopieren die Mitschrift von OTTO HÖLDER berücksichtigt hat, was eine Notiz am Titelblatt belegt. Bei der Rücksendung eines “Heftes” (Weierstraßsche Vorlesung über Variationsrechnung) dankte MAYER am 21. 9. 1898 ADOLF KNESER für die Überlassung des Heftes sowie für KNESERS Kommentare, die ihm Klarheit in einigen Punkten verschafft habe, wo ihm selbst bisher unwohl gewesen sei:
195. Vierteljahrsschrift der Naturforschenden Gesellschaft in Zürich, 43 (1898), 340-353.
DIE WEIERSTRAßSCHE WENDE
225
“Namentlich habe ich mich verschiedentlich, aber noch immer vergeblich damit [unleserlich, sinngemäß: beschäftigt], ein solches Eindeutigkeitsgebiet G zu entdecken, welches den Anfangspunkt 0 der M-Curven wirklich umschließt. Weierstraß kommt in seinen Vorlesungen entschieden zu einem solchen, denn er führt dort noch einen auf 0 1 sehr nahe vor 0 gelegenen Punkt 0' ein. Aber gerade an dieser Stelle ist meine Abschrift dieser Vorlesung [B2, aber noch ohne O. Hölders Bemerkungen], und zwar sowohl bei den absoluten wie bei den isoperimetrischen Problemen mir gänzlich unverständlich, und auch aus Zermelo [Dissertation 1894] bin ich hierüber nicht ins Klare gekommen. Es ist eben ein Skandal, daß Schwarz die Weierstraß’schen Vorlesungen noch immer nicht herausgibt.”196 ROTHE hat schließlich die Feldkonstruktion mit dem vorgezogenen Punkt 0 in den 1927 erschienenen Band 7 der Werke bei der Behandlung des isoperimetrischen Problems aufgenommen, ohne beim einfachen Problem diese Frage zu berühren: “Die Betrachtungen […] bleiben auch giltig, wenn auf derselben Curve, zu der das Stück (01) gehört, ein Punkt 0 hinreichend nahe vor 0 angenommen wird, und von ihm aus ein Flächenstreifen der vorher benutzten Eigenschaft konstruirt wird” (S. 271). Hiermit ist nun, wenn auch mit erheblicher Verzögerung (und letztlich etwas dubios) belegt und allgemein zugänglich, daß WEIERSTRAß für ein einfaches Integral mit einer gesuchten Funktion einer Veränderlichen ein allgemeines Feld und nicht nur ein zentrales Feld definiert und konstruiert hat. WEIERSTRAß selbst schrieb die Grenzwertbeziehung (2) für die Punkte 4 bzw. 5 in folgender Form: S –S κ
4 3 - = H + ( κ ) und (2*) ----------------
S5 – S3 ----------------- = H + ( κ ) –κ
auf. Von diesen Ausdrücken ist es nur ein kleiner Schritt, um aus der Beziehung (3*) H = dS(u) / du > 0 bzw. < 0 den Weierstraßschen Fundamentalsatz u
(4*) ∆J = S ( u ) – S ( 0 ) = – ∫ H du 0
zu folgern, aus dem sofort hervorgeht, daß für definites H ein Extremum vorliegt (A1, S 199; Ausnahmefälle auf den folgenden Seiten).
196. Brief von A. Mayer an A. Kneser vom 21.9.98. Cod. Ms. A. Kneser A27, Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung.
226
KAPITEL 3
Danach nahm eine Verallgemeinerung des Integralbegriffs WEIERSTRAß’ Augenmerk in Anspruch und füllte den nächsten Abschnitt. Diese Erweiterung war, wie wir bereits erwähnten, für den Fall notwendig geworden, in dem die Vergleichskurven keine Ableitungen besitzen (A1, S. 223). Denn wenn die Variationen ganz beliebig sein dürfen, so daß nur der Ort der Kurvenpunkte gegeben ist, dann ist es offen, ob die variierte Kurve noch eine Ableitung hat, womit der Integralbegriff im bisherigen Verständnis keinen Sinn mehr hat und einer Erweiterung bedarf. Das ist der Anfang der später als metrische Theorie der Variationsrechnung bezeichneten Entwicklung.197 Nach der Erweiterung des Integralbegriffs werden einige Verallgemeinerungen der Grundaufgabe beschrieben (A1, S. 228), bevor das isoperimetrische Problem selbst behandelt wird (A1, S. 232). WEIERSTRAß bemerkte, indem er sich auf die gerade diskutierten Überlegungen bezog, daß “es bequem [ist,] ähnliche Umformungen vorzunehmen, wie wir schon oben bei anderer Gelegenheit sie gemacht haben” (A1, S. 247). Und in der Tat wird etwa die vierte notwendige Bedingung unter Berücksichtigung der isoperimetrischen Nebenbedingung abgeleitet, wobei nun an dieser Stelle für H die heute übliche Bezeichnung ε erscheint (A S. 249 [siehe Abbildung 3.5], A1, S. 250). WEIERSTRAß geht aber nicht zielstrebig auf die Hinlänglichkeit zu, sondern er diskutiert erst das Verhalten der Exzeßfunktion für die Fälle, in denen die Lösungskurve nicht frei variierbar ist. WEIERSTRAß ging auch auf den Zusammenhang der Exzeßfunktion mit der Funktion F1 ein, ja es ist zu vermuten, daß er ursprünglich erhofft hatte, die Aussagen des Fundamentalsatzes über das Vorzeichen von F1 zu erhalten. Dabei wurde die Formel (5)
ε ( x, y, p, q, p, q )
2 = ( qp – pq ) F˜1
hergeleitet, in der x,y die Koordinaten eines Feldpunktes sind sowie p,q die Ableitungen der entsprechenden Extremalen in diesem Punkt und die überstrichenen Größen die Ableitungen einer Vergleichskurve durch diesen Punkt bezeichnen sowie für F1 ein Mittelwert zwischen p bzw. q und den entsprechenden gestrichenen Größen zu nehmen ist (B2, S. 220). Allerdings hatte WEIERSTRAß bei seinen Folgerungen zunächst den Fall übersehen, daß das Verschwinden des quadratischen Faktors mit einem Unendlichwerden des anderen Faktors einhergehen könnte, womit für diese Konstellation eingehendere Untersuchungen nötig werden. In der Schwarzschen Mitschrift 1882 wird dieser Fall angemerkt und die Weierstraßsche Beweisführung durchgestrichen (S. 122). A. MAYER hat diesen Schwarzschen Einwand gleichfalls gekannt, 197. Eine moderne Darstellung mit historischen Gesichtspunkten findet sich bei S. Gähler, “Über das Weierstraßsche Kurvenintegral und die metrische Theorie der Variationsrechnung”, H. Behnke und K. Kopfermann (Hrg.), Festschrift zur Gedächtnisfeier für Karl Weierstraß, Köln, Westdeutscher Verlag, 1965, 221-231. Siehe auch Fußnote 86.
DIE WEIERSTRAßSCHE WENDE
227
was seine Randnotiz in der in seinem Besitz befindlichen Abschrift zeigt (B2, S. 220). Erhellend ist die an entsprechender Stelle eingefügte Bemerkung über den in Rede stehenden allgemeinen Ausdruck von SCHWARZ in der Mascardischen Abschrift, daß WEIERSTRAß selbst diesen Ausdruck “später als unrichtig erkannte” und SCHWARZ mitgeteilt hat (S. 261-263). Die Werkausgabe von 1927 führt die Formel (5) mit einem anderen Faktor von F1 an, nämlich mit (1 – pp – qq ) F˜ 1 bzw. (5*)
ε ( x, y, p, q, p, q )
= ( 1 – p p – qq )F˜1
(S. 218). Der Ausdruck pp + qq bedeutet den Cosinus des Winkels zwischen den durch die Größen definierten Tangenten, und er verschwindet damit nur, wenn Extremale und Vergleichskurve in einem Punkt gleiche Richtungen haben. Somit können die folgenden Schlüsse von WEIERSTRAß gerechtfertigt werden: “Aus dieser Gleichung folgt die früher als nothwendig nachgewiesene Bedingung, daß F1 für keinen Punkt und für keine Tangentenrichtung der Curve sein Vorzeichen wechseln darf. […] Hier haben wir also die frühere Bedingung ganz u. gar ohne die Betrachtung der zweiten Variation gewonnen”. (B2, S. 220) ERNST ZERMELO, dem der Kunstgriff mit dem “vorgezogenen Punkt” häufig als sein einziger Beitrag zur Feldtheorie zugeschrieben wird, hat aber neben dieser nur legendären Leistung tatsächlich eine für die Feldkonstruktion wesentliche Ergänzung gemacht, nämlich diese (Dissertation 1894, vgl. Abschnitt 3.9.5): Der Hinlänglichkeitsbeweis für Extremalität verlangt die Definitheit der Exzeßfunktion in einer Umgebung U der Extremalen C0, die ganz im Feld liegt. Aus der Definitheit der Exzeßfunktion längs der Extremalen C0 kann noch nicht auf deren Definitheit in einer Umgebung U von C0 geschlossen werden, denn die Exzeßfunktion ist ersichtlich nicht in einem abgeschlossenem Gebiet U*⊂ U des x, y, p, q-Raumes, das die betrachtete Extremale C0 enthält, positiv, da sie für gleiche Richtungen von Extremalen und Vergleichskurven verschwindet. Mit ZERMELO gehen wir zu den Richtungskosinus über und ersetzen p,q bzw. die entsprechend überstrichenen Größen durch Winkelefunktionen von γ, γ , was schließlich auf die Darstellung ( x, y, cos γ, sin γ, cos γ, sin γ ) führt. Die Exzeßfunktion verschwindet weiterhin, jetzt für γ = γ . ZERMELO führte daher, indem er auf die Beziehung
ε
(5**)
ε ( x, y, cos γ, sin γ, cos γ, sin γ ) = ( 1 – cos ( γ – γ ) )F˜ 1
zurückgriff, die modifizierte Exzeßfunktion γ = γ
ε
ε
⎧ ( x, y, cos γ, sin γ, cos γ, sin γ ) ⎪ ------------------------------------------------------------------------1 ( x, y, γ ) = ⎨ 1 – cos ( γ – γ ) ⎪ F 1 ( x, y, cos γ, sin γ ) ⎩
fu·· r γ ≠ γ fu·· r γ = γ
228
KAPITEL 3
ein, die für jeden Punkt (x, y) des Feldes sowie für – ∞ < γ < + ∞ erklärt und dort stetig ist. Während es für die Exzeßfunktion ε keinen abgeschlossenen und die Extremale C0 : x0(t), y0(t), γ0 = γ (x0(t), y0(t)) enthaltenden Bereich gab, existiert nun ein solcher für ε 1 , der zudem ganz in ihrem Stetigkeitsbereich enthalten ist (da F1 > 0 für γ = γ und für γ ≠ γ sind Zähler und Nenner positiv). Damit kann infolge der Stetigkeit ε 1 auf die Beibehaltung des Vorzeichens einer die Extremale C0 enthaltenden Umgebung U geschlossen werden, die zudem ganz im Inneren des Feldes liegt. Mit diesem Ergebnis kann man zur Weierstraßschen Exzeßfunktion ε zurückkehren und jetzt mittels (5**) auf deren Positivität in der gleichen Umgebung U schließen. Damit ist die hinreichende Weierstraßsche Bedingung erfüllt ( ε > 0 für γ ≠ γ ). Die Werkausgabe der Variationsrechnung durch ROTHE verfährt etwas anders, siehe dort S. 218f. Gegenüber dem nichtparametrischen Problem, bei dem sich notwendige und hinreichende Bedingungen nicht decken, ist das bei parametrischen Variationsproblem für diese Weierstraßschen Ergebnisse nahezu der Fall. Einige Ausnahmefälle bleiben bestehen, die auch WEIERSTRAß nicht erledigte, die aber aus dessen Sicht keine besonders einschneidende Auswirkungen auf die Allgemeinheit haben (z.B. die Extremale hat mehrfachen Punkte, der zum Ausgangspunkt konjugierte Punkt ist Endpunkt, F1 oder ε verschwinden in einzelnen Punkten). WEIERSTRAß sieht damit zurecht einen Hauptteil der Variationsrechnung als beendet an, nämlich das Variationsproblem für einfaches Integral mit einer gesuchten Funktion einer Veränderlichen ohne Nebenbedingungen bei fest vorgegebenen Randwerten (B, S. 161). Die späteren Vorlesungen von 1882 und 1884 wiederholen diesen Sachverhalt. WEIERSTRAß hat in dieser Vorlesung sehr häufig den Begriff der allgemeinen Variation erörtert. Er verlangte analytische Variationen, “um überhaupt mit ihnen rechnen zu können” (A1, S. 136), wies jedoch immer wieder darauf hin, daß auch stetige, aber nicht differenzierbare Funktionen dem Begriff einer Variation entsprechen. Als Beispiel diente ihm das später auch von HILBERT benutzte Problem der Kurvenlänge198. Der Begriff der Kurvenlänge ist auch dann noch sinnvoll, wenn die Länge nicht durch Differentialausdrücke dargestellt werden kann. “Wenn aber […] die Länge für alle regulären [analytischen] Variationen nur Änderungen eines Zeichens erleidet [d.h. die totale Variation des Variationsproblems], so ist damit noch nicht gesagt, ob sie nicht für irreguläre Variationen Aenderungen entgegengesetzten Zeichens erfährt” (A1, S. 136f.).
198. D. Hilbert, “Über das Dirichletsche Prinzip”, Jahresbericht der DMV, 8 (1900), 184-188; auch in: Gesammelte Abhandlungen, Bd. 3, Berlin, Springer, 1935, 10-14.
DIE WEIERSTRAßSCHE WENDE
229
g Q
Abb. 3.9. Von Euler, Lagrange und Weierstraß benutze Variationsarten (die x-Achse wird als die in Rede stehende Extremale betrachtet)
Wir schieben hier eine Betrachtung über die von WEIERSTRAß bei der Herleitung der vierten notwendigen Bedingung benutzten Variation ein, ohne dabei vom Feldbegriff auszugehen. Die Lösungskurve C0 wird als neue Koordinatenachse (x-Achse) betrachtet, was lokal stets möglich ist und hier (wenigstens) durch das Intervall [a, b] veranschaulicht wird. Die von LEIBNIZ, den Brüdern BERNOULLI und EULER oder verwendeten Variationen waren von der Art, daß in einem Punkt P letztlich lokale Änderungen der Lösung so vorgenommen wurden, daß im Grenzfall sowohl die örtliche Änderung selbst als auch ihre Ableitung verschwanden. Die ersten Variationsprobleme um 1700 wurden gemäß der Auffassung, daß eine gekrümmte Kurve eine Zusammensetzung unendlich kleiner Linienelemente ist, so in Angriff genommen, daß man im fraglichen Punkt P die dort zusammentreffenden Linienelement streckte und dabei in einen neuen Punkt P' mit gleicher Abszisse verschob, also eine infinitesimale Dreiecksvariation vornahm (vgl. Abbildung 3.9a). Hieraus ließ sich die sogenannte Eulersche Differentialgleichung herleiten. LAGRANGE wiederum variierte nicht punktweise, sondern veränderte die Vergleichsfunktion im gesamten Intervall [a, b] (vgl. Abbildung 3.9b). Die Weierstraßsche Variation ähnelt der Eulerschen Dreiecksvariation sehr, unterscheidet sich aber in einem wesentlichen Punkt. Da es sich um die Herleitung einer notwendige Bedingung handelt, kann man die variierten Kurven so spezialisieren, daß die Ähnlichkeit beider Variationen hervortritt. Die in der Weierstraßschen Konstruktion verwendete beliebige Kurve C kann lokal durch eine Gerade g ersetzt werden, zu der von einem Punkt R (b, 0) der Lösung aus, Geraden gezogen werden, die sich dem Schnittpunkt Q (x, 0) von g mit der Achse nähern mögen. Die Dreiecksform ist klar erkennbar. Bei WEIERSTRAß nähern sich im Punkt Q die Anstiege dieser variierten Kurvenschar allerdings nicht der Ableitung der Lösung in diesem Punkt. Dieser Sachverhalt gilt nicht nur für die eben spezialisierte Variationsart, sondern allgemein. In diesem
230
KAPITEL 3
Punkt unterscheidet sich WEIERSTRAß von seinen Vorgängern, und daher wenn Cε die variierte Schar bezeichnet, wobei sich für ε = 0 die Lösung ergebe - gewinnt WEIERSTRAß auch nicht die Gleichung J(C ) – J(C ) ε ε→0
ε 0 -=0 (6) lim ---------------------------------
aus der man üblicherweise die Eulersche Differentialgleichung ableitet, sondern (da für ε = 0 ein Minimum vorausgesetzt war) kommt er auf die Ungleichung J ( Cε ) – J ( C0 ) lim ---------------------------------- ≥ 0 ε ε→0 ε>0
mit dem nachfolgenden Ergebnis, daß die Exzeßfunktion notwendigerweise nicht negativ ist:
ε(x, y, x', y', p, q) ≥ 0. Dabei bestimmen die Größen x(t) - p und y(t) - q den Anstieg der beliebigen Kurve in Q. Die von WEIERSTRAß in der Vorlesung tatsächlich durchgeführte Betrachtung legt jedoch ein Feld zugrunde, dessen Existenz unter seinen Annahmen lokal gesichert ist, aber die Notwendigkeit von (6) läßt sich auch ohne das Feld (d.h. ohne die das Feld gewährleistenden zusätzlichen Bedingungen vorauszusetzen) herleiten. Ein moderner, knapper Beweis hierfür geht auf LAWRENCE M GRAVES (1896-1973) zurück, den MAGNUS R. HESTENES (1906-1991) in sein Buch Calculus of Variations and Optimal Control (New York: Wiley 1966, p. 65; 2. Aufl. Krieger 1980) aufgenommen hat; die Herleitung für Sobolew-Räume findet man bei LAMBERTO CESARI (1910-1990) Optimization - Theory and Applications (New York: Springer 1983). Fassen wir abschließend noch die Fortschritte dieser Vorlesung kurz zusammen. WEIERSTRAß verfolgte das Ziel, absolute Extrema in der Variationsrechnung zu behandeln. Diese Fragestellung ist dem geometrischen Denken STEINERS sehr verwandt. Gemäß seiner Erkenntnis, daß zwischen einem Wert beliebig nahe zu kommen und ihn zu erreichen, streng zu unterscheiden ist, bedurfte die Menge der zulässigen Vergleichsfunktionen einer Präzisierung, um streng gültige Aussagen über die wirkliche Annahme eines Extremums auf dieser Menge zu erhalten. In der Vorlesung 1875 war dies WEIERSTRAß für die eingegrenzte Klasse der “schwachen” Variationen gelungen. “Wir behaupten aber nicht, daß jede Variation sich so darstellen lasse, sondern nur, daß unter den möglichen Variationen auch solche sind, welche in dieser Form sich darstellen.”199 Es lag daher nahe, solche Untersuchungen auf allgemeinere Mengen von Vergleichsfunktionen auszudehnen. 199. Ausarbeitung Rudio, unpaginiert, § 15. Institut Mittag-Leffler, Djursholm.
DIE WEIERSTRAßSCHE WENDE
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SCHEEFFER hatte in seiner Arbeit Über die Bedeutung der Begriffe “Maximum und Minimum” (1886) bemerkt, daß zwar auf einer Klasse von Variationen, den Lagrangeschen Kurvenscharen der Art y(x) = y0(x) + ξ (x) (nichtparametrisches Problem) Extrema gesichert werden können, daß aber obwohl sich jede Vergleichskurve in eine solche Schar einreihen läßt - ein Grenzübergang in der Menge der einzelnen Scharen diesen Sachverhalt allgemein in Frage stellt.200 Genau diese Situation betrachtete WEIERSTRAß, wenn er in einem Extremalenfeld vom Punkt 2 einer Extremalen zum Punkt 3 auf der benachbarten lösungsverdächtigen Extremalen längs einer beliebigen (regulären) Kurve wechselte und damit eine Schar von Vergleichskurven konstruierte, die alle im Punkt 2 und – somit dort auch das Grenzelement – nicht die Richtung der lösungsverdächtigen Extremalen aufwies. WEIERSTRAß hob gegenüber den “schwachen” Variationen die Veränderung klar hervor: “daher stellt 32 eine beliebige Richtung dar” (B 1, S. 121). Hieraus erhielt WEIERSTRAß zunächst noch kein hinreichendes Kriterium, aber eine wesentliche vierte notwendige Bedingung (A1, S. 221; B, S. 144; Werke S. 214), daß nämlich die Exzeßfunktion längs der Kurve einerlei Vorzeichen haben müsse. Er selbst äußerte sich über diese Bedingung so, daß man sie vermutlich deshalb nicht bemerkt habe, weil die Legendresche Bedingung in vielen praktischen Fällen diese notwendige Bedingung impliziere (Werke, S. 217). Es lag nun nahe weiter zu fragen, wie weit bei dieser vierten Bedingung Notwendigkeit und Hinlänglichkeit auseinander liegen. Mit Hilfe der sogenannten Weierstraßschen Konstruktion ließ sich diese Frage erledigen, und lediglich in einigen Ausnahmefällen wird beim parametrischen Problem die nahezu völlige Übereinstimmung von notwendigen und hinreichenden Kriterien verletzt. Die von WEIERSTRAß für Variationsprobleme gemachten Voraussetzungen sicherten dabei im Kleinen die Existenz eines die Extremale umgebenden Feldes (Flächenstreifens). WEIERSTRAß konnte somit in der Tat die einfachste Grundaufgabe der Variationsrechnung als gelöst betrachten. Insbesondere bemerkte er zur Haltung von STEINER nun: “Den Existenzbeweis dieser Maximaleigenschaft [isoperimetrische Eigenschaft] des Kreises, welche 200. L. Scheeffer, “Über die Bedeutung der Begriffe ‘Maximum und Minimum’ in der Variationsrechnung”¸ Mathematische Annalen, 26 (1886), 197-208, siehe S. 188 f.; auch in Leipziger Berichten, 27 (1885), 92-105. In dieser Arbeit liegt zwar eine gedruckte Kritik über eine nicht sachgemäße Anwendung der zweiten Variation vor, aber Scheeffer bemerkte gleichzeitig: “Man darf indessen, wenn man allein mit den Hülfsmitteln der Variationsrechnung zu hinreichenden Kriterien des Minimums gelangen will, die zweite (auf ∆y' bezügliche) Beschränkung nicht fortlassen und überhaupt über die aufgestellte Definition des [schwachen] Minimums nicht hinausgehen”, aaO., 201. Der Weierstraßsche Doktorand Scheeffer (von 1880) hatte ersichtlich die Wende der Weierstraßschen Variationsrechnung nicht zur Kenntnis genommen und seine breit angelegten Untersuchungen nur auf das Kriterium für schwache Extremalität bezogen, ohne dabei auf Weierstraß einzugehen. Daß dieser darüber verärgert war, hat er brieflich Schwarz gegenüber ausgedrückt (Brief vom 27.10.1885). In seinem Nachruf auf Scheeffer hatte G. Cantor, der selbst bei Weierstraß dessen erste Vorlesung zur Variationsrechnung von 1865 gehört hatte, über Scheeffers Arbeiten geschrieben: “Schließlich sei es gestattet, auf die Nr. 6 und 7 [Variationsrechnung] noch besonders aufmerksam zu machen, weil darin einige neue und entwicklungsfähige Ideen der Variationsrechnung zugeführt zu sein scheinen” (Bibliotheca mathematica, 1 (1885), 197-199).
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KAPITEL 3
sämthliche frühere Lösungen der Aufgabe zu führen unterlassen, hat man geradezu für so schwierig gehalten, daß man der Variationsrechnung die Mittel absprach, ihn zu führen. Wir werden jedoch zeigen, daß wir in früheren Sätzen bereits die Mittel besitzen, u. daß sie uns, ohne daß wir die zweite Variation irgendwie zu betrachten hätten, zum Ziele führen in allen Fällen, wo die Function F1 nicht blos für alle Punkte der Curven, sondern auch für beliebige Richtungen ihr Zeichen nicht wechselt. […] Unbegründet aber war es, der Variationsrechnung überhaupt die Mittel zur Behandlung derartiger Aufgaben abzusprechen” (B2, S. 265f., 273). Obwohl in den folgenden Vorlesungen 1882 und 1884 auch allgemeinere Fälle angeführt werden, sind sie von WEIERSTRAß nicht mehr im Sinne der Feldtheorie studiert worden. Die Besonderheiten solcher Felder werden daher nicht mehr von WEIERSTRAß untersucht, sondern sind lediglich in Briefen angerissen worden (Briefe an SCHWARZ nach 1885, etwa vom 19. Juni 1887; Brief an NETTO (1846-1919) vom 29. Juni 1886201). Derartige Fragen sind bald von anderen, etwa ERNST ZERMELO, FERDINAND RUDIO oder GUSTAV KOBB (1863-1934)202 aufgegriffen und behandelt worden. Letzterer schrieb aus Paris an MITTAG-LEFFLER am 7. Juni 1890: På samma sätt, som Weierstrass för den enkla integralerna, behandlar jag frågan allmänt.203 Es ist übrigens erwähnenswert, daß WEIERSTRAß in der Vorlesung die Probleme mit höheren Ableitungen durch Einführen von entsprechenden Nebenbedingungen auf Variationsproblem mit ersten Ableitungen und zusätzlichen neuen unabhängigen Veränderlichen einführte (D, S. 195). 3.5.2.8 Vorlesung SS 1882, privatim 4h A) Mitschrift Burkhardt Handschriftlich (deutsche Kurrentschrift). 337 S., 4 S. Inhaltsverzeichnis. Mathematisches Institut der Ruhruniversität Bochum. A1) Kopie einer Abschrift der Mitschrift Burkhardt durch H.A. Schwarz. Handschriftlich (deutsche Kurrentschrift), mit Randbemerkungen von H.A. Schwarz. 168 S., davon 2 S. Inhaltsverzeichnis. Mathematisches Institut der Humboldt-Universität Berlin. A2) Kopie von A1 durch Rothe in der Nachschrift von G. Mascardi. Handschriftlich (lateinische Kurrentschrift), enthält auch die Schwarzschen Bemerkungen von A1. 375 S., 2 S. Inhaltsverzeichnis. 201. Nachlaß Weierstraß. Institut Mittag-Leffler, Djursholm. In diesem Brief nimmt Weierstraß seine Plausibilitätsbetrachtungen für einen einschlägigen Satz über die Exzeßfunktion sowie einen behaupteten Satz selbst zurück. 202. Studium in Upsala, Stockholm, 1889 Promotion, Parisaufenthalt, Dozent an Stockholmer Hochschulen. 203. “Die Frage [der Doppelintegrale] behandele ich allgemein auf die gleiche Weise wie Weierstraß für die einfachen Integrale”. Institut Mittag-Leffler, Djursholm. Kobb bezog sich dabei auf die in Vorbereitung befindliche Arbeit “Sur les maxima et les minima des intégrales doubles”, Acta mathematica, 16 (189-93), 65-140, 17 (1893), 321-344.
DIE WEIERSTRAßSCHE WENDE
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Institut Mittag-Leffler, Djursholm. B) Stenographische Mitschrift A. Migotti Stenographierte Mitschrift. Aus dem Nachlaß von L. Dantscher, Universitätsbibliothek Graz. B1) Ausarbeitung A. Migotti Handschriftlich (lateinische Kurrentschrift). 300 S., 6 S. Inhaltsverzeichnis. Prof. Dr. E. Kreyszig, Ottawa, Ont., Kanada. Obwohl WEIERSTRAß grundsätzlich sein Gliederungskonzept beibehielt, unterscheidet sich diese Vorlesung von den vorherigen dadurch, daß WEIERSTRAß sehr bündig, beinahe referierend den Stoff darstellt. Ausführliche Rechnungen fehlen fast völlig, es gibt häufig anschauliche Begründungen und Beispiele. Gegenüber der vorangegangenen Vorlesung, bei welcher die während des Kurses gewonnen Einsichten unmittelbar die Darstellung beeinflußten und die daher nicht immer ausgefeilt waren, gibt es hier eine durchdachte und reflektierte Darstellung. Allerdings sind dabei insbesondere die Anfangsgründe knapp ausgeführt, vermutlich weil sich das Weierstraßsche Interesse vornehmlich auf die neuen hinreichenden Kriterien richtete. Beispielsweise wird die erste Variation eher beiläufig als systematisch eingeführt und erst bei der Behandlung der zweiten Variation eingehender vorgestellt. Die ersten drei Mitschriften unterscheiden sich nur in Details, so daß wir uns im wesentlichen auf die Kopie A2 mit den Schwarzschen Bemerkungen stützen. Die Rothesche Kopie dieser Mitschrift ist auf das Jahr 1894 datiert, was die Entstehung der Randbemerkungen von SCHWARZ eingrenzt. Der reflektierende Charakter führt auf einige bemerkenswerte Punkte. Zunächst erklärte WEIERSTRAß, daß seine Überlegungen auf regulären bzw. wenigstens teilweise regulären Extremalen beruhen, was “eine Voraussetzung [sei], deren Statthaftigkeit und Notwendigkeit wir nicht a priori beweisen können. […] In der Aufgabe selbst liegt nichts, was die Annahme begründete, wir machen sie, um überhaupt die Curve analytisch definieren zu können” (A1, S. 61). Die Frage, wie weit analytische Annahmen den Begriff des Variierens einengen, hatte WEIERSTRAß in den Vorlesungen der Jahre zuvor immer wieder erörtert und innerhalb eines jeden Kurses wiederholt aufgegriffen. Bei der Einführung der speziellen “starken” Variation hatte er betont, daß eine die Extremale schneidende Kurve beliebig sei, lediglich in der Umgebung des Schnittes mit der in Rede stehenden Extremale als regulär anzunehmen sei. Es gab in diesem Sinn schon früher Tendenzen, den auf Regularität eingeschränkten Kurvenbegriff zu verlassen. Die naheliegendste Erweiterung ist natürlich die, stückweise reguläre Darstellungen zugrunde zu legen. Aber WEIERSTRAß strebte das Erfassen des gesamten Freiheitsgrades an, der im Begriff der Variation steckte. An SCHWARZ schrieb er beispielsweise über dessen Beweis, daß die Kugel die isoperimetrische Eigenschaft habe: “Sie nehmen an, der Körper
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KAPITEL 3
sei von einer endlichen Zahl analytischer Flächen begrenzt. Das ist eigentlich mehr, als für die Beweisführung erfordert wird” (Brief vom 12. Januar 1884). Für die Feldkonstruktion wird ein Auflösungssatz für ein System von Gleichungen y v = g v ( x 1, …, x n ) ,
(v = 1, …, n),
benötigt, und WEIERSTRAß hat ihm daher in den Vorlesungen seit 1879 einen eigenen Abschnitt “Funktionentheoretische Hilfsmittel” gewidmet (in A1 § 17). Der Auflösungssatz für implizite Funktionen F(x, y) = 0 ist wohl erstmals von AUGUSTIN-LOUIS CAUCHY für in Potenzreihen entwickelbare (also im Weierstraßschen Sinn reguläre reelle) Funktionen F angegeben worden,204 und WEIERSTRAß hat für den Auflösungssatz mehrere Beweise gegeben, die u.a. auch auf sukzessiver Approximation (1859) beruhten.205 ULISSE DINI (1845-1918) hat in lithographiert verbreiteten Analysisvorlesungen Analisi infinitesimale206 1877 diese analytischen Voraussetzungen reduziert, die GIU207 SEPPE PEANO (1858-1939) durch sein Lehrbuch Calcolo differenziale und vor allem CAMILLE JORDAN (1838-1922) durch seinen bekannten Cours d’Analyse verbreitet haben.208 In den Vorlesungen vor 1879 denkt sich der Funktionentheoretiker WEIERSTRAß die Gleichungen gν des Systems natürlich als nach x entwickelte Potenzreihen, die er nach x auflöst. Die technischen Details sind dabei für uns weniger von Interesse, sondern für uns ist bemerkenswert, daß WEIERSTRAß von den Funktionen gν jetzt lediglich stetige Differenzierbarkeit voraussetzt und hieraus stetig differenzierbare Umkehrungen folgerte (1882). Dieses Ergebnis kommentierte WEIERSTRAß mit der Feststellung: “Gerade in der hier aufgestellten Form ist das Theorem von besonderer Wichtigkeit” (A1, S. 106). Es gibt eine weitere bemerkenswerte Stelle, die auf den bekannten Weierstraßschen Approximationssatz von 1885 hinweist, der ein Eckpfeiler der klassischen Analysis ist: Jede in einem abgeschlossenen Intervall stetige Funktion einer reellen Variablen kann dort in eine gleichmäßig und absolut konvergente Reihe von Polynomen entwickelt werden.209 Am 14. März 1885 schrieb WEIERSTRAß an SCHWARZ:
204. A.-L. Cauchy, Exercises d’analyse, Bd. 2, Paris, 1841, 65. 205. K. Weierstraß, Mathematische Werke, Bd. 1, 247. 206. U. Dini, Analisi infinitesimale, Bd. 1, Pisa 1877/78, 126. 207. Turin, 1884 (dtsch. Leipzig, B.G. Teubner, 1899). 208. C. Jordan, Cours d’Analyse, Bd. 3, Paris, 1887, (1. Auflage), 583. 209. K. Weierstraß, “Über die analytische Darstellbarkeit sogenannter willkürlicher Funktionen einer reellen Veränderlichen”, in: Sitzungsberichte der Kgl. Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, 1885, 633-639, 789-805.
DIE WEIERSTRAßSCHE WENDE
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“Eine andere Untersuchung, mit der ich mich in der letzten Zeit nicht ohne Erfolg beschäftigt habe, ist die Darstellung eindeutiger Functionen einer reellen Veränderlichen durch trigonometrische Reihen. Ich habe dabei wesentlich die Bedürfnisse der mathematischen Physik im Auge gehabt, welche nur mit Functionen zu schaffen hat, die in ihrem ganzen Verlaufe stetig sind, wenn sie auch an einzelnen Stellen bei kleinen Veränderungen des Arguments sehr bedeutsame Werthveränderungen erleiden können, während auf der anderen Seite in Betreff der Zahl ihrer Maxima und Minima, sowie der Existenz oder Nichtexistenz von Ableitungen derselben u.s.w. absolut keine Voraussetzung gemacht werden darf. (Wenn man sagt, in der Natur werden Functionen […] ohne Ableitungen nicht vorkommen, so behauptet man etwas, wovon man nichts weiß und nichts wissen kann.)”. In einer Untersuchung von 1988 hat REINHARD SIEGMUND-SCHULTZE (geb. 1953) die Herausbildung dieses Approximationssatzes in Verbindung mit der Entwicklung der Fourieranalysis gebracht.210 Diese Verbindung müßte aber auch die Variationsrechnung einbeziehen, wenn man sie nicht ganz und gar auf die Variationsrechnung gründen will. WEIERSTRAß hatte im WS 1857 über die Theorie und Anwendung der trigonometrischen Reihen und bestimmten Integrale, welche zur Darstellung willkürlicher Functionen dienen ein dreistündiges Privatissimum gehalten, war aber auf diese Thematik bei Vorlesungen nicht mehr zurückgekommen, da ihn der “Mangel an Strenge” abschreckte (Brief an SCHWARZ vom 14. März 1885). In der Variationsrechnung hatte WEIERSTRAß jedoch Fourierreihen benutzt, um eine analytische Darstellung willkürlicher Funktionen bzw. Variationen zu haben. Der Satz 2 der genannten Arbeit behandelt genau die Frage, wie sich eine beliebige stetige Funktion durch trigonometrische Summen ausdrücken läßt. Der Satz von WeierstraßStone besagt übrigens, daß die Konvergenz in diesem besonderen Fall gleichmäßig ist. Im Zusammenhang mit der Arbeit über die Darstellung willkürlicher Funktionen durch trigonometrische Funktionen, die WEIERSTRAß im Juni 1885 publiziert hatte, monierte er in einem Brief an SCHWARZ vom 28. Mai 1855, daß auch der Riemannsche Integralbegriff “weder allgemein genug, noch überhaupt zulässig ist”.211 Er erwähnte dabei, daß jene Arbeiten von GEORG CANTOR (1845-1918) über trigonometrische Reihen, die den Ausgangspunkt für 210. R. Siegmund-Schultze, “Der Beweis des Weierstraßschen Approximationssatzes 1885 vor dem Hintergrund der Entwicklung der Fourieranalysis”, Historia mathematica, 15 (1988), 299310. 211. J. Dieudonné schreibt in seinen Grundzügen der modernen Analysis (dtsch. Übersetzung von Foundations of modern analysis, New York, Academic Press, 1960): “Man darf wohl annehmen, daß dieser Begriff [des Riemannschen Integrals], wäre er nicht mit einem so klangvollen Namen verknüpft, schon viel früher übergangen worden wäre, denn […] jeder aktive Mathematiker [ist sich] völlig darüber im klaren, daß diese ‘Theorie’ heutzutage in der allgemeinen Maß- und Integrationstheorie bestenfalls die Bedeutung einer halbwegs interessanten Übungsaufgabe besitzt” (Berlin, DVW 1971, 149).
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CANTORS Mengenlehre gebildet hatten, ihm “wesentliche Dienste geleistet” haben, schloß jedoch die sich darauf gründenden Cantorschen Forschungen über transfinite Zahlen ausdrücklich aus. Der Niederschlag dieser Überlegungen wird in der Variationsrechnung sichtbar, da – wie bereits erwähnt – WEIERSTRAß bei Variationsproblemen auch solche allgemeinen Variationen zu betrachten hat, für die keine Ableitungen existieren und für die daher der Integralbegriff entsprechend zu erweitern ist. Den “Approximationssatz” erwähnte WEIERSTRAß beiläufig in der Vorlesung als Korrolar des hinreichenden Kriteriums für starke Extrema: “Von den beschränkenden Voraussetzungen [des hinreichenden Kriteriums], welche wir […] gemacht haben, läßt sich die eine, daß die 2te Curve [Vergleichskurve] regulär sei und wenigstens ihre Richtung überall stetig ändere, leicht beseitigen. Denn sei irgendeine ganz beliebige Kurve gegeben, so können wir stets an deren Stelle eine reguläre Curve setzen, welche der gegebenen beliebig nahe kommt, so daß auch der Unterschied der betreffenden Integrale so klein wird, wie wir wollen”. (A1, S. 126 f.) Ein Beweis hierfür wird weder gegeben noch angedeutet. Ein Teil der notwendigen Begründung ist in moderner Terminolgie ein Standardschluß der Variationsrechnung: wenn die Argumente eines stetigen Funktionals sich geringfügig ändern, so trifft dies auch für die Änderung des Funktionals selbst zu. Die Interpretation des Begriffs “beliebige nahe” ist bedeutsam: In welchem Sinn ist benachbart zu verstehen? WEIERSTRAß’ Vorstellungen verallgemeinern hier in den jeweiligen Funktionenklassen der zulässigen Vergleichsfunktionen die von ihm eingeführten Nachbarschaftsbegriffe (den schwachen und starken Umgebungsbegriff in Kneserscher Sprechweise). Die geäußerte Behauptung geht auch über den Approximationssatz hinaus, denn – modern ausgedrückt – betrachtete WEIERSTRAß die Änderung des Funktionals für den Fall, daß ein beliebiges Argument durch eine Folge zulässiger Elemente approximiert wird, wobei das beliebige Element eine beliebige Kurve ist, die durch reguläre approximiert wird. Die geäußerte Behauptung dehnt den Approximationssatz aus, denn – wieder modern formuliert – spricht WEIERSTRAß jetzt von der Konvergenz in einer allgemeinen Metrik der Finslerschen Geometrie, die durch das Variationsintegral selbst definiert wird, und nicht mehr von der Metrik für die Argumente des Raumes der stetigen Funktionen, die die gleichmäßige Konvergenz bewirkt. Auch der Begriff der Variation wird allgemein gefaßt: “Variieren wir dann die Curve in der Art, daß die neue Curve ganz innerhalb dieses Flächenstreifens liegt, so ist das Integral [wirklich extremal im starken Sinn]. […] Mehr können wir von einem [relativen] Minimum oder Maximum nicht verlangen. Aber der hier gegebene Begriff der Variation ist ein viel weiterer als der frühere, es ist nicht einmal ein punktweises Entsprechen der beiden Curven mehr nöthig”. (A1, S. 123 f.)
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Eine unhistorische Bemerkung mag diese Betrachtungen abschließen: es ist natürlich von der Variationsrechnung zu erwarten, daß sie sich um die Klärung ihres Objektbegriffs, also des Funktionsbegriffes, bemühen wird und Betrachtungen in diesem Sinne ausführt. Während WEIERSTRAß im Anschluß an die Vorlesung von 1879 (offenbar in entsprechenden Seminaren) einen allgemeinen Feldbegriff entwickelte, beschränkte er sich in dieser Vorlesung auf zentrale Felder. Flächenstreifen beginnen daher im allgemeinen im Ausgangspunkt mit einem Kreissektor und lassen sich in folgender Weise fortsetzen (A1, S. 113): Auf den in diesem Kreissektor verlaufenden Extremalen wähle man Punkte, die vor dem zum Ausgangspunkt konjugierten Punkt liegen, und umgebe sie mit einer Kreisumgebung. Die Menge dieser Kreisscheiben dehnt den Streifen über den Kreissektor hinaus aus. Der Ausgangspunkt ist damit Randpunkt des Streifens; nur wenn F1 nicht verschwindet oder nicht unendlich wird, geht der Kreissektor in einen Kreis über, und der Ausgangspunkt liegt im Streifen. Der Kunstgriff, ein zentrales Feld kurz nach seinem Ausgangspunkt zu betrachten und sich so ein allgemeines Feld zu verschaffen, erscheint weder in diesem noch in dem folgenden Kurs von 1884. Im Kurs von 1884 ging WEIERSTRAß auf den Fall genauer ein, daß der Ausgangspunkt ein singulärer Punkt ist (F1 = 0 bzw. ∞ ), in dem es nur eine Ausgangsrichtung gibt. Das ist beispielsweise beim Brachistochronenproblem ohne Anfangsgeschwindigkeit der Fall, da dann alle Extremalen (Zykloiden) mit einer senkrechten Tangente in Richtung der Schwerkraft beginnen (A1, S. 131, A2, S. 224; 1884 Ausarbeitung A1, S. 230). Im Hinblick auf die Quellen sind die verschieden tradierten Bemerkungen von SCHWARZ zum Zusammenhang der Exzeßfunktion mit der Funktion F1 interessant. Die Kopie der Schwarzschen Abschrift ist in ein für kommerzielle Zwecke in Hannover produziertes “Geschäftsbuch” erfolgt, das sowohl die Göttinger als auch die Berliner Adresse von SCHWARZ enthält. Das Titelblatt vermerkt, daß es sich um eine “Ausarbeitung von Herrn Stud. Burkhardt” handelt, und vor der Inhaltsangabe ist auf der gleichen Seite von anderer Hand vermerkt: “Die folgende Abschrift ist nach einem im Besitz von Herrn Prof. H.A. Schwarz sich befindenden /von demselben geschriebenen/ Hefte angefertigt, welches eine Anzahl von Berichtigungen enthält”. Diese Bemerkung dürfte ROTHE, der spätere Herausgeber der Variationsrechnung, angebracht haben. Unbezweifelbar handelt es sich bei dem Heft um eine von und zumindest für SCHWARZ angefertigte Kopie. Da ROTHE die Handschrift von SCHWARZ gekannt hat, ist entweder die Bemerkung nicht von ROTHE oder SCHWARZ hatte einen Kopisten angestellt und ihm dazu vermutlich auch das für eine Mitschrift etwas ungewöhnliche Format eines linierten und paginierten Geschäftsbuches gegeben. Wenn ROTHE diesen Vermerk allerdings nicht gemacht hat, so ist unklar, wer das getan hat. Auf alle Fälle gibt es die erwähnten Randnotizen, und diese sind unbezweifelbar von SCHWARZ selbst gemacht worden.
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Die Kopie des Studenten G. MASCARDI beruht auf einem in einer römischen Bibliothek befindlichen Exemplar, das mit der Inschrift versehen ist “Diese Ausarbeitung ist nach einem im Besitz des Herrn Prof. H.A. Schwarz befindlichem und von ihm selbst geschriebenen Hefte und unter Benutzung einer Anzahl von ihm gütigst zur Verfügung gestellten Berichtigungen und Notizen angefertigt. Auf die letzteren wird durch $ verwiesen. Rudolf Rothe stud. math. 1894”. Randbemerkungen von SCHWARZ finden sich auch im Original von BURKHARDT. Damit ist klar, daß alle drei Ausarbeitungen (A, A1 und A2) zur Vorbereitung der Werkausgabe in den Händen von SCHWARZ gewesen sind, ehe er sie an ROTHE übergab. Die Randbemerkungen sind nicht in allen Ausarbeitungen gleich; in den uns interessierenden Abschnitten gibt es – von der Korrektur kleinerer Rechenfehlern abgesehen – nur den Zusammenhang der Exzeßfunktion mit der Funktion F1 betreffenden Passus. In der Burkhardtschen Ausarbeitung (A) findet sich neben der entsprechenden Formel die Bemerkung: “Dieser Beweis setzt voraus, daß pε, qε [gewisse Mittelwerte] nie = 0 werden kann! [unleserlich] F1(x, y, 0, 0) = ∞ ”, und mit andere Hand in lateinischer Schrift: “Die Schwierigkeit kann nur eintreten, wenn pq' - qp' = 0 ist, in welchem Fall ε ohne weitere = 0 ist”. Die entsprechenden Rechnungen sind ungeändert stehen geblieben, erst auf der nächsten Seite wird am Rand eine längere Rechnung korrigiert (A, S. 245f.). Im Schwarzschen Heft ist lediglich notiert: “F1 wird ∞ für p = 0, q = 0, also wird der Schluß hinfällig, wenn q' = – q, p' = – p”. Die Rechnung zwischen den Formeln 9 und 12 ist gestrichen und angegeben: “von Herrn P.[rofessor] W[eierstraß] selbst verbessert”. Das in der Burkhardtsche Mitschrift angegebene Beispiel ist nicht durchgerechnet, sondern nur das Ergebnis genannt (A1, S. 122). Bei MASCARDI fehlt die Formel, aber es gibt eine ausführlich kommentierende Fußnote: “Herr Weierstrass fand hier, indem er die Differenz F(1) - F(2) von 0 bis 1 nach einer Variablen ε integrierte, welche zwischen 0 und 1 lag, und indem er die Größen pε = p + ε (p' – p) , qε = q + ε ( q' - q) definierte, als allgemeinen Ausdruck für ε
ε = 1--2- (pq' - qp')
2
F1(x, y, pε, qε)
denn [sic] er später als unrichtig erkannte, da, wenn, p : q = p' : q' aber p und p' entgegengesetzte Zeichen haben, pε und qε für denselben Wert ε verschwinden, während zugleich F1 unendlich groß wird. Der oben gegebene Beweis ist später von Herrn Weierstraß Herrn Schwarz mitgetheilt worden. ($)” (A2, S. 261-263). Selbst MAYER hatte Kenntnis von der Schwarzschen Korrektur und notierte sie sich in der für ihn angefertigten Abschrift der 1879er Vorlesung (S. 220). Aus der Vorlesung von 1882 hat MAYER eigenhändig einige Seiten abgeschrieben. Es handelt sich jedoch lediglich um das Beispiel der Rotationsfläche und einige Bemerkungen zur Exzeßfunktion eines allgemeinen Typs solcher Pro-
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bleme (S. 352-355). Dieser Sachverhalt belegt die oben geäußerte Einschätzung, daß aus der Sicht der Feldtheorie in der 1882er Vorlesung inhaltlich keine Neuerungen zu finden sind, denn solche wären von MAYER zweifelsohne exzerpiert worden. Der Briefwechsel von WEIERSTRAß mit der KOWALEWSKAJA212 gibt übrigens Auskunft, daß diese von WEIERSTRAß eine Abschrift einer Vorlesung über Variationsrechnung bestellt hatte (Brief vom Frühjahr 1882). Im Brief vom 11. April 1882 bezifferte WEIERSTRAß die Kosten auf 42 Mark. WEIERSTRAß ließ das Exemplar durch JULES MOLK (1857-1914), einen Hörer der Variationsrechnung von 1882 und späteren Herausgeber der französischen Übersetzung der Encyklopädie, nach Paris gelangen. Wir erfahren hier auch, daß WEIERSTRAß bis zum 1. August 1882 gelesen hat und sich dann in eine Kur begab. Auf einem Zettel hat sich SCHWARZ sinngemäß die Schlußworte der Vorlesung notiert, in denen WEIERSTRAß einen kleinen Ausblick auf weitere Probleme gab: “Schwierigkeiten beim Doppelintegral wachsen. Selbst der Satz, daß Kugel isoperimetrische Eigenschaft habe (als Verallgemeinerung d. Kreises) ist noch unbewiesen; die zahlreichen Beweise sind verfehlt (mißlungen).”213 3.5.2.9 Vorlesung SS 1884, privatim 5h A) Mitschrift Berliner Mathematisches Institut. Handschriftlich (lateinische Kurrentschrift). 425 S., davon 4 S. Inhaltsverzeichnis. Mit einer funktionentheoretischen Einleitung von 23 S. Humboldt-Universität, Mathematisches Institut W 824/23 (autographiert). A1) Mitschrift Cambridge214. Handschriftlich (lateinische Kurrentschrift), entspricht A. 430 S., davon 4 S. Inhaltsverzeichnis. Teilweise auf einzelnen Seiten eingeklebte Textteile. Mit einer funktionentheoretischen Einleitung von 23 S. St. John’s College, Cambridge. B) Mitschrift Wallenberg. Handschriftlich (deutsche Kurrentschrift). Hefte III-V. Mitschrift im Heft III beginnt am 24. 6. 1884. Kein Inhaltsverzeichnis. Regenstein Library der University of Chicago, Il.
212. Herausgegeben von R. Bölling 1993 im Akademie-Verlag Berlin. 213. Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie, Nachlaß Schwarz, Blätter Nr. 242 (Integralrechnung). Schwarz teilte Weierstraß seinen Beweis für die isoperimetrische Eigenschaft der Kugel am 21.8.1883 mit. 214. Die Bibliothek des St. John’s College besitzt einen Brief von A.S.H. Love (21.5.1890) an den Bibliothekar Mullinger, der bei der Übergabe der Ausarbeitung an die Bibliothek als Anlage beigefügt war und der diejenigen Personen nannte, die das Exemplar für die Bibliothek gekauft hatten.
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C) Mitschrift Howe [?]. Handschriftlich. 217 S. mit 2 S. Nachtrag (S. 218219), kein Inhaltsverzeichnis, nachträgliche Paginierung mit Bleistift. Abschrift in lateinischer Schrift. Besitzvermerk Howe. Abschluß der Mitschrift am 10. 10. 1884, Vorlesungsende am 2. 8. 1884. Staatsbibliothek Berlin, Ms. Germ. Quart 2246 [früher Mathematisches Sem. Ww 20]. Die Mitschriften A und A1 sind umfangreich in enger, aber sehr sorgfältiger Schrift erfolgt. Die Funktionentheoretische Einleitung (A1, S. 3-23) gehört nicht zur eigentlichen Vorlesung, sondern gibt ein Weierstraßsches Seminar wieder und ist gewissermaßen angebunden, jedoch in der Paginierung berücksichtigt worden. Auf Seite 9f. geht WEIERSTRAß auf das Uniformisierungsproblem ein und erwähnt und die Ankündigung POINCARÉS, auch analytische Beziehungen uniformisieren zu können (was aber seinerzeit noch nicht möglich war)215. Damit ist das Seminar zeitlich zu bestimmen: es kann nicht vor 1883 stattgefunden haben. Im Institut Mittag-Leffler, Djursholm, befindet sich eine Mitschrift eines Seminars Theorie der Maxima und Minima, das von WEIERSTRAß gehaltene Vorträge im Wintersemester 1886/87 enthält. Diese Mitschrift ist zweigeteilt, und der erste Teil Funktionentheoretische Einleitung entspricht genau dem Vorspann in der Vorlesungsausarbeitung. Die Kapitelüberschriften in der Seminarausarbeitung und der Vorlesungsausarbeitung sind übrigens von gleicher Hand. In einem Brief an WEIERSTRAß vom 25. März 1886 erwähnte SCHWARZ, daß er Mitschriften der 1884er Vorlesung besitze, die WILLY HOWE (1864-?)216 und EUGEN JAHNKE (1861-1921)217 ausgearbeitet haben. Es ist daher naheliegend, daß die Ausarbeitungen A und A1 auf einer dieser Mitschriften basieren. Die nur teilweise erhaltene Mitschrift von GEORG WAL218 LENBERG (1864-1924) ist nicht besonders gut ausgearbeitet, aber die lediglich mitgeschriebenen und nur im Nachhinein gelegentlich ergänzten Notizen vermitteln wiederum eine reizvolle Nähe zur Vorlesung, die in wörtlichen Wendungen von WEIERSTRAß oder beiläufigen “nicht druckfertigen” Bemerkungen sowie häufigen Streichungen von Rechnungen besteht. So notierte sich WALLENBERG, die Empfehlung von WEIERSTRAß, für Variationsprobleme mit Nebenbedingungen nicht die “gangbaren Lehrbücher”, sondern 215. Beweise für das Uniformisierungstheorem bei analytische Gleichungen von H. Poincaré und P. Koebe seit 1907, Poincarés verfrühte Ankündigung für eine solche Lösung erfolgte 1883. 216. Studium 1881-1885 in Berlin, danach Schuldienst, einzige Promotion bei Weierstraß über Variationsrechnung 1887, siehe auch Abschnitt 3.9.3. 217. Studium 1881-1885 in Berlin, 1889 Promotion in Halle, 1901 Habilitation TH Berlin, Lehrer und ab 1905 Professor an der Bergakademie Berlin. 218. Studium in Heidelberg (1881-1883) und Berlin (1883-1885), Promotion 1890 in Halle, Gymnasiallehrer in Berlin (1894), Assistent an der TH Charlottenburg, ab 1900 Redakteur beim Jahrbuch der Fortschritte der Mathematik.
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ALFRED CLEBSCH und ADOLF MAYER zu lesen.219 Zur Frage, ob es möglich sei, Extremalität über die konjugierten Punkte hinaus zu haben, befand WEIERSTRAß, daß dies bei fehlenden Nebenbedingungen nicht möglich sei, daß das aber allgemein nicht so streng beweisbar sei (B, Heft V, 2. 8.). Die Vorlesung bringt grundsätzlich nichts Neues. Darin gleicht sie zwar dem Kurs von 1882, aber sie ist um ein Vielfaches ausführlicher und reichhaltiger. Die Gliederung folgt der alten Anlage, geht aber in vielen Fragen zu neuen eigenständigen Abschnitten mit eigenen Überschriften über. Es ist die Vorlesung eines 69jährigen Mathematikers, sein Schwanengesang in der Variationsrechnung, denn die für die WS 1887 und 1889 angekündigten Vorlesungen sollten nicht mehr zustande kommen. Der funktionentheoretischen Einleitung (A1, S. 3-23) folgt der üblichen Vorkurs, das Kapitel Theorie der Maxima und Minima (A1, S. 25-100). Die Theorie der Variationsrechnung selbst ist vierfach unterteilt, in eine Einleitung, die zur Motivierung Beispiele bringt (A1, S. 103-126), und drei Hauptteile, die nacheinander das einfachste Kurvenproblem (A1, S. 127-308), die allgemeine isoperimetrische Aufgabe (A1, S. 309-408) und Variationsprobleme für mehrere gesuchte Funktionen sowohl ohne als auch mit Nebenbedingungen (A1, S. 409-425) behandeln. Die exemplarischen Problemtypen in der Einleitung beziehen stärker als zuvor mehrere gesuchte Funktionen sowie Doppelintegrale als Variationsprobleme ein. Bis auf den letzten Hauptteil erstrecken sich allerdings die ausgeführten Untersuchungen auf das bekannte einfachste Problem in Parameterdarstellung mit festen Randwerten. Lediglich die §§ 58-61 (A1, S. 143f.) ziehen auch eine funktionale Abhängigkeit des Problems in Betracht. Die Doppelintegrale erfahren eine kurze Behandlung, wenn in den §§ 194-197 (A1, S. 294-298) über die Unzulänglichkeit des Dirichletschen Prinzips berichtet wird. “In früheren Zeiten hat man Max. u. Min. verwechselt mit unterer u. oberer Grenze einer Veränderlichen; – die Schlussweise des Dirichlet’schen Prinzips ist unhaltbar. […] Der Fehler liegt in der Schlussweise, daß man aus der Existenz einer unteren Grenze auf die Existenz eines Minimums geschlossen hat” (B, Heft III, 11. 7.). Die §§ 25-27 (A1, S. 117-118) heben den Variationsbegriff heraus. Genau wie bei den Extrema von Funktionen spreche man auch von der Umgebung einer Kurve. Geometrisch veranschaulichte sich WEIERSTRAß eine benachbarte Kurve durch einen approximierenden Polygonzug. Er erwähnte weiterhin, daß man sich die vielen Entsprechungen zwischen den Kurven beispielsweise
219. Entsprechende Artikel müßten “Probleme der Variationsrechnung” sowie “Über die zweite Variation” im Journal für die reine und angewandte Mathematik, Bände 55 und 56 (1858, 1859) von Clebsch sein; bei Mayer handelt es sich neben seiner Habilitationsschrift (1866) im Journal für die reine und angewandte Mathematik, 69 (1866), 238-263, um seine späteren Beiträge in den Leipziger Berichten. Weierstraß merkte laut Wallenberg noch an, “Diese beiden verfolgen eigentlich anderen Zweck, nämlich die Entwicklung der 2ten Variation in eine Form, die das Zeichen derselben erkennen läßt. […] Aber auch hier nicht das erreicht, was erreicht werden soll; denn diese Bedingungen nur nothwendige, nicht ausreichende” (Heft IV, 19.7.).
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durch Zuordnung der jeweiligen Bogenlängen vorstellen könne. Bei der analytischen Darstellung von Variationen führte WEIERSTRAß zunächst die speziellen Lagrangeschen Variationen an, um die Eulersche Differentialgleichung zu erhalten (A1, S. 129 f.). Der Feldbegriff wird in den §§ 132-135 vorbereitet, wo gezeigt wird, daß man in einem Anfangspunkt die Anfangsrichtung der Extremalen beliebig wählen kann. Dieser Sachverhalt wird im § 144 zur Feldkonstruktion eingesetzt, wobei es nur um zentrale Felder geht. Ein eigenes Kapitel XIV (A1, S. 299-304) ist einem “Rückblick” gewidmet, der die Resultate für den einfachsten Fall nochmals zusammenfaßt, bevor isoperimetrische Aufgaben behandelt werden sollen. WALLENBERG bringt dabei eine Bemerkung von WEIERSTRAß über die Methoden in der Variationsrechnung und die damit verbundenen Probleme: “Die Schwierigkeiten der Variationsrechnung liegen nicht in der Abstractheit, […], sondern darin, daß die zuerst aufzusuchenden Bedingungen notwendig und nicht hinreichend sind” (B, Heft III, 12. 7.). Die Exzeßfunktion sowie die oben betrachtete Formel (7.5*), die den Zusammenhang zwischen der Exzeßfunktion und der Funktion F1 vermittelt (A1, S. 251), wird in der üblichen Weise eingeführt (A1, S. 247). Dann folgt ein eigner Abschnitt (§ 161), der zeigt, daß die Bedingung für die Exzeßfunktion diejenige für F1 überflüssig macht. Bei WALLENBERG heißt es dazu: “Entwicklung eines Satzes, der uns in den Stand setzt, in vielen [!] Fällen sofort über das Zeichen von ε Aufschluß zu erlangen” (Heft III, 25. 6.). In der HoweMitschrift finden sich diese Notizen: “Die hiermit erlangte Bedingung für ein Maximum und Minimum ist von allen bisherigen Bedingungen verschieden, sie ist viel umfassender als alle jene anderen, z.B. als jene, dass F1 sein Zeichen nicht ändern darf, denn F1 hing nur ab von x, y, x', y', war also nur definiert für die Punkte der betrachteten Curve; dabei war diese Bedingung F1 > bzw. < 0 immer nur eine notwendige, aber keine hinreichende”. (C, S. 98) Am Ende des Rückblicks stellte WEIERSTRAß ein Programm auf, wie er sich den Aufbau der Variationsrechnung vorstelle (A, § 200, S. 303f.). Nach der Entwicklung der Eulerschen Differentialgleichung soll die Definition der Exzeßfunktion gegeben werden und die einschlägigen Sätze (notwendige und hinreichende Kriterien für Extremalität) abgeleitet werden. Dabei kämen die konjugierten Punkte und ihre Bedeutung zwanglos in die Darstellung. Wir kommen hierauf zurück, wenn wir die Weierstraßschen Vorstellungen über ein Lehrbuch der Variationsrechnung besprechen, die er SCHWARZ gegenüber brieflich geäußert hat (Brief vom 14. März 1885 im Abschnitt 3.6.2). SCHWARZ hatte an den Vorlesungen stets Interesse gehabt und am 5. Mai 1884 in einem Brief an WEIERSTRAß den Wunsch geäußert, daß er den Besuch eines Parteitages in Berlin mit dem der Weierstraßschen Vorlesung verbinden wolle, da ihm “natürlich die Fragen bezgl. Variationsrechnung sehr am Herzen” lägen. Dieser Besuch hat am 10. Mai auch tatsächlich stattgefunden, wie einige
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unzusammenhängende Notizen von SCHWARZ belegen: “bei allen Aufg.[aben] der V.R. [Variationsrechnung] – Math. – ist es von größter Wichtigkeit, die gegebene Größe genau zu definieren – sonst kommt man in den allergrößten Irrtum. Es liegt im Gefühl. […] Es will nicht in den Kopf.”220 Bei der Behandlung des Brachistochronenproblems berief sich WEIERSTRAß auf den Satz: “Man kann jede beliebige Linie so variieren (in unserem Sinn), daß die Endpunkte dieselben bleiben und die variierte Linie eine regulär-analytische ist. Man ersetzt also die irreguläre durch die [unleserlich] wenig variierte reguläre Curve” (B, Heft III, 28. 6.). Vor einer Rechnung gab WEIERSTRAß sein mathematisches Konzept an, daß er nämlich die physikalischen Bedingungen aufgeben möchte und auch gebrochene Linien betrachten will, die – obwohl sie beim Brachistochronenproblem physikalisch keinen Sinn ergeben – mathematisch möglich sind, und daß er darüber hinaus solche physikalisch “sinnlosen Kurven” durch reguläre Kurven ersetzen will, die den Unterschied zwischen den Integralen verschwindend klein machen (B, Heft III, 28. 6.). Hier stoßen wir wieder auf Anregungen für den Approximationssatz aus der Variationsrechnung. Das Wallenbergsche Manuskript endet am 2. August 1884 mit dem Hinweis, daß “Genaueres” in der Ausarbeitung des Berliner Mathematischen Vereins zu finden sei (B, Heft V, 2. 8.), gemeint ist die Ausarbeitung der Vorlesung über Variationsrechnung von 1879. 3.5.2.10 Vorlesungen WS 1887 und WS 1889, privatim 4½h und 3h Nur angekündigt. In dem Brief an SCHWARZ vom 15. Februar 1888 erwähnte WEIERSTRAß: “Ich begann meine Vorlesungen, mußte aber schon nach der ersten Stunde dieselben aussetzen und habe sie nicht wieder aufnehmen können”. Ebenso äußerte er sich im Brief vom 19. Dezember 1889: “Ich habe Ihren […] Brief bis jetzt nicht beantworten können, da ich fortwährend krank gewesen bin und die Feder nur zur Leistung einer Unterschrift und dergl. in die Hand genommen habe”. Am 23. Januar 1890 lesen wir sogar: “Am Freitag Abend […] hing mein Leben an einem dünnen Fädchen”. 3.6 Der Briefwechsel zwischen Weierstraß und Schwarz (1866-1893) 3.6.1 Über die Quellenlage Der aus Hermsdorf in Schlesien stammende HERMANN AMANDUS SCHWARZ hatte von 1860 bis 1866 in Berlin seine mathematische Ausbildung 220. Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie, Nachlaß Schwarz, Blatt 448.
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erhalten, und er gilt als der bedeutendste Schüler von WEIERSTRAß. Aus dem Feld221 richtete er im Herbst 1866 an seinen “hochverehrten Lehrer” den ersten Brief, und erst nach fast dreißig Jahren endete dieser Briefwechsel am 6. August 1893. Die 82 Briefe von SCHWARZ umfassen die gesamte Zeit der wissenschaftlichen Wirksamkeit von SCHWARZ. “Denn mit der Herausgabe seiner gesammelten Abhandlungen und der Übernahme des Weierstrassischen Lehrstuhles und zugleich mit dem Versiegen der Weierstrassischen Arbeitskraft hat auch SCHWARZ der Wissenschaft keine wesentlich neuen Gabe mehr geschenkt”222, urteilte LUDWIG BIEBERBACH (1886-1982). Der Briefwechsel ist fast vollständig erhalten und befindet sich im Nachlaß Schwarz des Archivs der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, der vormaligen Preußischen Akademie.223 Ein Briefbuch aus dem Nachlaß von Schwarz ergänzt die Originalbriefe. Maschinenschriftlich transkribierte Fassungen (Durchschläge) der Briefe sind im Institut Mittag-Leffler, Djursholm und im Mathematischen Institut der Universität Münster zu finden. Beide Fassungen sind identisch und gehen auf LUDWIG BIEBERBACH zurück, der offenbar in den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts eine Briefausgabe veranstalten wollte, die aus unbekannten Gründen nicht zustande kam (herannahende Inflation?), womit die Abschriften in Vergessenheit gerieten. Die Anlage der maschinenschriftlichen Abschrift durch BIEBERBACH weist deutlich auf die editorische Absicht hin, beispielsweise werden auf jeder Seite in einer Kopfzeile Briefschreiber und Datum genannt. Allerdings sind die Vorlagen noch nicht druckfertig, denn sie bedürfen nicht nur der Korrektur einiger offensichtlicher Druckfehler, sondern auch eines gründlichen Gegenlesens. Daß dies noch nicht vorgenommen wurde, zeigen bereits auf den ersten Blick falsche Namens- oder Begiffsschreibungen (Nette statt Netto, SCHWARZ 20. Januar 1871; Durboux’sche anstelle von Darbouxsches, WEIERSTRAß 12. Januar 1884; Cotenius anstelle von Catenoid, WEIERSTRAß 28. Juni 1887); anstelle von “nützliche Anordnung” ist “nützliche Anwendung” (WEIERSTRAß 14. März 1885), anstelle von “Relationsfläche” ist “Rotationsfläche” (WEIERSTRAß 19. Juni 1887), anstelle von “Abbild der betrachteten Kurve, welche dieselbe Länge hat” ist “Abbild der betrachteten Kurve, eine sphärische Kurve, welche dieselbe Länge hat” (WEIERSTRAß 4. Mai 1884) zu lesen. Eine genauere Durchsicht zeigt, daß auch ganze Wörter oder Satzteile fehlen. Editorisch problematischer ist die Tatsache, daß Streichungen der Briefschreiber kommentarlos weggelassen werden: “[…] dessen Oberfläche endlich ist” wurde ursprünglich durch “und von jeder zu einer bestimmten angenommenen 221. Preußisch-österreichischer Krieg mit dem Frieden von Prag am 23.8.1866. 222. Unveröffentlichtes maschinenschriftliches Redemanuskript. Institut Mittag-Leffler, Djursholm, handschriftliche ergänzte Seiten, S. 1-2. Siehe die Fußnote 225. 223. Eine Edition des Briefwechsels ist leider noch nicht erfolgt.
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Ebene parallelen Ebene in einer Linie von endlicher Länge geschnitten wird” (SCHWARZ 21. August 1883) fortgesetzt. Im Brief von WEIERSTRAß vom 19. Juni 1887 gibt es Stellen, die mit anderer Tinte, also nachträglich korrigiert wurden. Den Arbeitszustand des vorliegendes Typoskripts zeigt aber die Tatsache am deutlichsten, daß der Brief vom 19. April 1874, in dem WEIERSTRAß über eine stetige, aber nirgends differenzierbare Funktion berichtete, nochmals unter dem Datum 19. April 1879 erscheint und dabei sogar die diesem Zeitpunkt entsprechende Paginierung im Typoskript aufweist. Die im Folgenden zitierten Stellen des Briefwechsel sind daher nach den Originalen angegeben. LUDWIG BIEBERBACH hat auf der “Weierstraß-Woche” in Münster im Juni 1925 über “Weierstraß’ Briefwechsel mit H.A. Schwarz” berichtet,224 und das unpublizierte 25seitige Typoskript der Rede befindet sich im Institut MittagLeffler, Djursholm, sowie am Mathematischen Institut der Universität Münster.225 Mit vier handschriftlich ausgeführten Seiten ergänzte BIEBERBACH dieses Typoskript, vermutlich um damit einen anderen Vortrag einzuleiten, den er 1926 unter dem leicht geänderten Titel “Über den Briefwechsel von Weierstraß und H.A. Schwarz” vor der Berliner Mathematischen Gesellschaft gehalten hat.226 Dieser Vortrag (d.h. die handschriftliche Ergänzung) gibt eine lebendige Schilderung über den Erwerb des Briefwechsels. Der Ort der Geschehens ist Berlin, was für die Vermutung spricht, daß der vorliegende Münsteraner Text für Berliner Mathematiker erweitert wurde. “Vor einigen Jahren haben die Erben von H.A. Schwarz der Akademie den handschriftlichen Nachlass des Verstorbenen geschenkt. Dieser war alsbald nach Schwarz[’] Tod mit der Bibliothek zusammen in einem Raum der Bismarckpension gebracht worden. Dort haben Erhard Schmidt, Carathéodory und ich unterstützt von den Assistenten des mathematischen Seminars alles [H]andschriftliche herausgesucht. Alsdann habe ich unterstützt von einigen Studierenden auf einem geliehenen Handwagen das Ganze der Zeit entspre-
224. Siehe Jahresbericht der DMV, 34 (1925), 108. 225. Unveröffentlichtes Redemanuskript. Institut Mittag-Leffler, Djursholm, 25 maschinenschriftliche Seiten. Ein Vorsatzblatt trägt von Mittag-Lefflers Hand die Aufschriften: “Föredrag om ‘Der Briefwechsel zwischen H.A. Schwarz und K. Weierstrass’ hållet under Weierstrass-veckan i Münster 1925” und “Obs. Prof. Bieberbach har förbehållit sig att få avskriften fillbaka vid behov. Se brev 57 av d. 28.5.25” (“Vortrag über ‘Der Briefwechsel […]’, gehalten während der Weierstraß-Woche in Münster 1925” und “N.B. Prof. Bieberbach hat sich vorbehalten, bei Bedarf die Abschrift zurückzubekommen. Siehe Brief 57 vom 28.5.25”). Mittag-Leffler hatte aus gesundheitlichen Gründen an der Weierstraß-Woche 1925, einer kriegsbedingt verspätet abgehaltenen Feier des 100. Geburtstages von Weierstraß, nicht teilnehmen können. Eine Fotokopie des Vortrag mit 4 handschriftlichen Seiten Ergänzung (lateinische Kurrentschrift) im Original befinden sich im Mathematischen Institut der Universität Münster. 226. Siehe Jahresbericht der DMV, 35 (1926), 53. Den Hinweis auf den Berliner Vortrag verdanke ich Herrn Prof. Dr. P. Ullrich, Koblenz. Da die Rückseite des ersten Blattes einen Briefentwurf Bieberbachs vom 7.11.1925 aufweist, sieht Ullrich hierin ein weiters Indiz für den Zweck der vier Seiten, als Einleitung für den Münsteraner Vortrag bei einer Wiederholung in Berlin gedient zu haben. Ullrich vermutet weiter, daß die Unterlagen anläßlich der Weierstraß-Feierlichkeiten 1965 nach Münster gekommen sind.
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chend manu proprio in meine Wohnung geschafft, um auf Wunsch der von der Akademie eingesetzten Kommission mich mit der Sichtung zu befassen. Sehr weit bin ich in den abgelaufenen Jahren damit nicht gekommen. Es ist sehr mühsam die Papiere, die bei dem Umzug des Nachlasses in arge Unordnung gekommen sind, zu sichten, zumal dafür keine Hilfe zur Verfügung steht. Indessen bin ich heute in der Lage über einen Teil des Nachlasses einen ersten Bericht zu erstatten. Dieser betrifft den Briefwechsel zwischen H.A. Schwarz und Karl Weierstraß”. BIEBERBACH hat in seinem Vortrag zurecht bemerkt, daß der historischen Reihenfolge im Briefwechsel auch eine sachliche Gliederung entspricht. In der Tat, neben den allezeit erörterten Berufungsangelegenheit finden sich die mathematischen Fragen thematisch zeitlich getrennt geordnet vor. Die Variationsrechnung ist dabei nicht der zentrale Gegenstand, sie erscheint aber indirekt in den Erörterungen über Minimalflächen. Naturgemäß kommen die Briefschreiber daher immer wieder auf die zweite Variation zu sprechen. Ausführlich wird das von SCHWARZ am 30. März 1884 in den Briefwechsel eingebrachte Delaunaysche Variationsproblem von beiden untersucht. SCHWARZ stimmte mit dem Lehrer nicht immer überein und führte daher die Diskussion intensiv weiter (z.B. im Brief vom 5. Mai 1884), und schließlich hat SCHWARZ hierüber 1891 von OSWALD VENSKE (1867-1939) eine Dissertation227 schreiben lassen. CARATHÉODORY bemerkte, daß “das Delaunaysche Problem […] wichtiger [ist], als es auf den ersten Blick erscheint; es berührt sich nämlich sehr eng mit der allgemeinen Theorie der Kurven.”228 Ein Jahr nach dem Auftauchen des Problems werden in einem ausführlichen Brief von WEIERSTRAß (14. März 1885) die notwendigen und hinreichenden Bedingungen für diese Aufgabe “beiläufig bemerkt”. Obwohl SCHWARZ im Brief vom 15. Juni 1884 darüber nachdachte, die hinlänglichen Beweise ohne die zweite Variation zu führen, spielt die Feldtheorie in den Briefen keine tragende Rolle, eher Fragen der Variierbarkeit und die Gültigkeit des Jacobischen Kriteriums. Für uns ist jedoch von größerer Wichtigkeit, daß in diesen Briefen WEIERSTRAß den Plan entwickelt hat, wie ein Lehrbuch der Variationsrechnung zu entwerfen wäre. SCHWARZ hatte sich im Verlauf der Erörterungen der Delaunayschen Aufgabe bereit erklärt, die Weierstraßsche Variationsrechnung herauszugeben: “Nun bin ich mehr wie je gesonnen, Ihre Untersuchungen über Variationsrechnung für einen größeren Leserkreis darzustellen und fühle mich hochgeehrt dadurch, daß Sie mich dazu für geeignet halten” (16. März 1885).
227. O. Venske, Behandlung einiger Aufgaben der Variationsrechnung, welche sich auf Raumkurven konstanter erster Krümmung beziehen, Dissertation, Göttingen, 1891, 60 S. 228. “Untersuchungen über das Delaunaysche Problem in der Variationsrechnung”, Abhandlungen aus dem Mathematischen Seminar der Hamburgischen Universität, 8 (1930), 32-55; auch in: Gesammelte mathematische Schriften, Bd. 2, München, Beck, 1955, 12-39, Zitat 13.
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SCHWARZ wollte offenbar etwas wiederholen, an das er bereits ein Jahrzehnt gewandt hatte und das ihn noch ein weiteres binden sollte. Am 1. September 1874 war im Briefwechsel bei WEIERSTRAß erstmals der Gedanke einer Formelsammlung für die elliptischen Funktionen aufgetaucht, und im Anschluß an eine Kritik229 eines einschlägigen Buches von LEO KOENIGSBERGER (1837-1921)230 schrieb SCHWARZ am 2. Oktober 1874. “Es liegt mir sehr am Herzen, daß die Zusammenstellung von Formeln aus Ihrer Theorie […] den jetzt lebenden Mathematikern zugänglich gemacht werde; ich verspreche mir davon einen wirklichen größeren Nutzen als durch die Bücher Hermite-Natani, Durège, Thomae und Koenigsberger231 zusammengenommen. Wenn ich Ihnen dabei in irgendeiner Weise behülflich sein kann, so können Sie auf mich zählen”. Damit war für die nächsten 18 Jahre ein Thema gefunden worden, das SCHWARZ viel Zeit und Kraft kosten sollte. Der entsprechenden Verpflichtung, die er WEIERSTRAß gegenüber für die Variationsrechnung eingegangen war, ist jedoch SCHWARZ nicht nachgekommen. Zwar hat er umfangreiche Vorarbeiten in der ihm eigenen pedantischen Art getroffen – die BIEBERBACH als die Unfähigkeit, zwischen Wichtigem und Unwichtigem zu unterscheiden, beschrieb232 –, die vom Sammeln von Mitschriften bis zu vertraglichen Verlagsvereinbarungen geführt hatten, aber der frühzeitig einsetzender Altersabbau bei SCHWARZ hat eine Herausgabe der Weierstraßschen Variationsrechnung durch ihn scheitern lassen, und zusätzlich hat der erste Weltkrieg das editorische Vorhaben hinausgezögert. Mit der Drucklegung der Variationsrechnung als Band 7 der Mathematischen Werke hat schließlich die Berliner Akademie die Weierstraßsche Werkausgabe 1927 abgebrochen, und aus ähnlichen Gründen ist vermutlich der Schwarzsche Nachlaß,233 insonderheit der bereits für die Publikation in Angriff genommene Briefwechsel mit WEIERSTRAß, nicht mehr zur Veröffentlichung vorgesehen worden.
229. “Wenn Herr K.[oenigsberger] sich in seiner Vorrede auf ein so hohes Pferd setzt, so fehlt dazu meiner Meinung nach die Berechtigung”. Brief vom 16.12.1874 an Schwarz. 230. Studium in Berlin 1857-1860, 1860 Promotion (bei Kummer, Ohm und Encke), ab 1864 Professor in Greifswald, Heidelberg, Dresden, Wien und wieder Heidelberg. Koenigsberger bezeichnete sich gern als den ersten Schüler von Weierstraß. Dieser replizierte jedoch auf den in Rede stehenden Schwarzschen Brief am 16. 12. 1874, daß er Koenigsberger zwar stets gemocht habe, daß dieser aber im engeren Sinn kein Schüler von ihm sei, schon weil ihre Ansichten in der Funktionentheorie weit auseinander lägen. 231. C. Hermite, L. Natani, Übersicht der Theorie der elliptischen Funktionen (aus dem Französischen übersetzt und mit einem Anhang versehen von L. Natani), Berlin, Wiegandt & Hempel, 1863; H. Durège, Theorie der elliptischen Functionen, Leipzig, B.G. Teubner, 1868; J. Thomae, Abriß der Theorie der complexen Function, Halle, Nebert, 21873; L. Koenigsberger, Vorlesungen über die Theorie der elliptischen Fuctionen, Leipzig, B.G. Teubner, 1874. 232. L. Bieberbach, “Hermann Amandus Schwarz”, Sitzungsberichte der Berliner Mathematischen Gesellschaft, 21 (1922), 47-52, vgl. 47. 233. Schwarz hatte eine eigene Werkausgabe schon zu seine Lebzeiten erscheinen lassen. Nach diesen zwei Bänden erschien nur noch wenig und nichts Bedeutendes mehr.
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KAPITEL 3
Dabei sind Marksteine der Analysis in den Briefen enthalten: am 18. April 1874 erwähnte WEIERSTRAß sein bekanntes Gegenbeispiel einer stetigen, aber nirgends differenzierbaren Funktion, tags darauf schickte er hierzu eine längere Ausarbeitung;234 er erläuterte am 14. März 1885 ausführlich seine Vorstellungen von der Darstellung einer stetigen Funktion durch trigonometrische Reihen (Approximationssatz)235 und bekannte: “Sie werden aber erstaunt sein, wie unendlich einfach, ja trivial die Entwicklung der obigen Formel ist, so daß ich mich geniren würde, sie zu veröffentlichen, wenn nicht die Erfahrung lehrte, daß gerade die einfachsten Dinge oft am schwersten allgemeines Verständnis finden.”236 SCHWARZ wiederum meldete am 21. August 1883 den ausstehenden Beweis für die isoperimetrische Eigenschaft der Kugel, an deren “Richtigkeit doch kein Mathematiker zweifeln wird”. Er griff dabei auf eine Steinersche Idee eines Rotationskörpers als Zwischenkörpers zurück, die auch in der später bei HILBERT angefertigten Müllerschen Dissertation erscheint (siehe Abschnitt 6.6.2), aber anders als später JOHANN MÜLLER (1906-1940) ging SCHWARZ so vor: “Man braucht hierzu nur die Formeln von der krummen Oberfläche und für das Volumen eines Kugelabschnittes […] und die Formeln für das Differential der Oberfläche und des Volumens […] eines Rotationskörpers, und braucht keine Kenntnis der Variationsrechnung vorauszusetzen” (Brief 21. August 1883). Wenn auch SCHWARZ hier Methoden der Variationsrechnung umgangen hat, so zeigt sich doch sein Interesse an dieser Disziplin wieder, was die Themen der nachfolgenden Briefe belegen (z.B. das Delaunaysche Problem, 30. März 1885, oder ein gewisser Problemtyp, der beim Prinzip der kleinsten Aktion für Raumkurven erscheint, 3. April und 25. Mai 1885). Am 16. März 1885 kam SCHWARZ auf die Frage der tatsächlichen Extremalität bei Minimalflächen zu sprechen, die er zwei Wochen zuvor seinen Untersuchungen angeschlossen hatte. Es geht hierbei um die Arbeit, die später unter dem Titel Ueber ein die Flächen kleinsten Flächeninhalts betreffendes Problem der Variationsrechnung als Festschrift237 zum Jubelgeburtstag des Herrn 234. Die Arbeit ist im Journal für die reine und angewandte Mathematik, 79 (1875), 29-31, erschienen. Schwarz antwortete darauf am 16.3.1885 so: “Ihre Sätze über trigonometrische Reihen setzen mich geradezu in Erstaunen und machen mich ungeheuer wißbegierig auf den Beweis”. 235. Siehe auch vorn den Abschnitt 3.5.2.8. (Vorlesung Variationsrechnung 1882). 236. Brief an Schwarz vom 14.3.1885. Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie, Nl. Schwarz. 237. H.A. Schwarz, Über ein die Flächen kleinsten Flächeninhalts betreffendes Problem der Variationsrechnung (“Festschrift”), Helsingfors, Druckerei der Finnischen Literatur-Gesellschaft, 1885 (zwei Auflagen), 45 S.; auch als “Über Minimalflächenstücke welche bei unverändert gelassener Begrenzungslinie ein Minimum des Flächeninhalts besitzen”, Acta Societatis scientiarum Fennicae, 15 (1885), 315-362, sowie in: Gesammelte Mathematische Schriften, Bd. 1, 223-269. Weierstraß hatte bei der ihm mit dem Untertitel Festschrift zum Jubelgeburtstage des Herrn Karl Weierstrass von Schwarz zugeeigneten Arbeit den Begriff “Jubelgeburtstag” moniert und lieber die Nennung “70. Geburtstag” gewünscht (Brief vom 28.6.1887).
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KARL WEIERSTRAß veröffentlicht worden ist. Aber WEIERSTRAß ließ sich mit einer Antwort Zeit, so daß SCHWARZ am 25. März 1886 mit “Nun hatte ich immer gehofft, von Ihnen einige Worte über den Inhalt meiner Festschrift zu erhalten” nachhakte und so schließlich am 29. März erfuhr: “Ihre Festschrift habe ich mit gebührender Aufmerksamkeit gelesen. Gegen die Strenge Ihrer Schlüsse wird sich nichts einwenden lassen”. In dieser Arbeit werden wir den von SCHWARZ benutzten allgemeinen Feldbegriff zu betrachten haben (Abschnitt 3.7.2). 3.6.2 Die Variationsrechnung und verwandte Themen im Briefwechsel Bevor wir auf die im Briefwechsel erörterten Probleme aus der Variationsrechnung zu sprechen kommen, wollen wir noch einige allgemeine Fragen betrachten. “Weierstraß zeigte sich sehr zurückhaltend in den Angaben über eigene Pläne und Entwürfe. Vielleicht genügt zum Begründen dieses Sachverhaltes schon, dass W.[eierstraß] einmal äusserte, es sei eines Mathematikers unwürdig, Vermutungen der Mitwelt anzuvertrauen.”238 Diese Einschätzung BIEBERBACHS in seiner Münsteraner Rede gilt jedoch nicht, wenn WEIERSTRAß brieflich Ansichten über die Mathematik mitteilte, denn hier erfahren wir eine ganze Menge über die Rolle der Geometrie im Denken beider Korrespondenten. Bereits am 27. November 1868 hatte WEIERSTRAß dem nunmehrigen Professor SCHWARZ geschrieben: “Noch eins. Veröffentlichen Sie doch bald auch Ihre Abbildung der Ellipse auf den Kreis. So unbedeutend der Gegenstand auch jetzt Ihnen erscheinen mag, vielleicht ist es doch gut, gerade bei einer solchen Aufgabe zu zeigen, wie vorteilhaft es ist, wenn Jemand mit guten analytischen Special-Kenntnissen auch die Hilfsmittel der reinen Geometrie sich zu eigen macht”. Damit traf WEIERSTRAß genau das Schwarzsche Naturell, wie ein von SCHWARZ zwei Jahrzehnte später verfaßter Brief bezeugt: “[I]ch habe die meisten Beweise, mit Ausnahme der schwierigsten, durch geometrische Betrachtungen gefunden, die ich dann der leichteren Darstellung und des besseren Verständnisses wegen in das analytische Gewand gekleidet habe, wodurch auch die ganze Darstellung an Kürze gewonnen hat”239 (Brief vom 29. Juli 1887). Ähnliche Ansichten vertrat auch FELIX KLEIN 1895 in seinem Vortrag Arithmetisierung der Mathematik.240 In dem gerade erwähnten Brief von WEIERSTRAß vom 27. November 1868 erscheint auch die “Experimentalmathematik”. WEIERSTRAß stellte zunächst
238. Unveröffentlichtes Redemanuskript. Institut Mittag-Leffler, Djursholm, handschriftliche ergänzte Seiten, 3. Es ist in der Tat so, daß der Briefwechsel für eine Biographie von Schwarz wesentlich ergiebiger als für eine solche von Weierstraß ist. 239. Briefwechsel Weierstraß-Schwarz. Berlin-Brandenburgische Akademie, Nachlaß Schwarz 1175 und 1254. 240. F. Klein, “Über die Arithmetisierung der Mathematik”, Gesammelte mathematische Abhandlungen, Bd. 2, Berlin, Springer, 1922.
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fest, daß er seine Überlegungen aus der Variationsrechnung vom SS 1867 weiter ausgeführt, aber zu seiner Überraschung sehe, daß auch SCHWARZ den gleichen Weg betreten habe und ähnliche Ergebnisse besitze. Um einen gewissen Beweisgang abzuschließen, benötigte WEIERSTRAß die Gewißheit, daß in einen gegebenen Rand genau eine Fläche eingespannt werden kann, “zu welcher Annahme freilich auch gar keine Berechtigung gegeben ist. Vielleicht machen Sie mir sogar ein Drahtgestell, welches drei Flächen gibt. Doch ist mir jener Beweis eine cura posterior; für die nächste Zeit habe ich etwas Anderes zu tun. {Beiläufig bemerkt, können Sie die Glycerin-Lösung nicht dadurch, wenigstens für schwache Augen, wesentlich verbessern, daß Sie dieselbe färben?} (Brief an Schwarz vom 27. 11. 1868)” . SCHWARZ hatte WEIERSTRAß im Brief vom 1. Oktober 1868 zur experimentellen Überprüfung von Vermutungen ein Drahtmodell mit dem Hinweis beigelegt, den Draht (Randkurve) zur Erzeugung der Minimalfläche in Glyzerin einzutauchen. Ein Jahrzehnt später, am 1. August 1878, dankte WEIERSTRAß für ein weiteres Angebot, von SCHWARZ Flächenmodelle zu erhalten; da er gerade das Semester abschließe, werde er gern später darauf zurückkommen. SCHWARZ selbst führte in Plateauscher Tradition solche Versuche mit Seifenhäuten durch und schrieb WEIERSTRAß, daß er ein Ergebnis des belgischen Physikers und Mathematikers JOSEPH ANTOINE PLATEAU (1801-1883) so bestätigt habe (Brief vom 6. Februar 1875). Mit solchen Experimenten hatte SCHWARZ 1883 auf seiner Reise nach Frankreich und Belgien großen Erfolg, was er WEIERSTRAß stolz am 13. Mai 1883 mitteilte: “Nach einer anderen Sitzung habe ich den Mitglieder der Académie [des Sciences de Paris] die Experimente gezeigt betreffend Veranschaulichung einer gewissen Anzahl von Minimalflächen durch Gipsmodelle und durch Seifenblasen. Die Seifenblasenexperimente, auch die zu meiner Untersuchung der 2ten Variation des Flächeninhalts gehörenden[,] habe ich in der Familie von Hermite, in der Familie von C. Jordan vor einer Anzahl geladener Gäste, sowie in zwei verschiedenen Tagen in der École normale von Paris vor Professoren und Studenten gezeigt, ich habe den Eindruck erhalten, als wenn die Experimente im allgemeinen gut gefallen haben”. In Gent hatte man schließlich seine Glycerinseifenlösung bewundert, da man an PLATEAUS Wirkungsstätte eine solche hochwertige Lösung selbst nicht herstellen konnte. Die neuen Drahtgestelle hat sich SCHWARZ in Paris “für schweres Geld” (= 30 Franc) vernickeln lassen, und ebenso habe sich die Reparatur der durch den Transport beschädigten Gipsmodelle als teuer erwiesen (60 Franc). Jahre zuvor hatte SCHWARZ WEIERSTRAß am 18. Mai 1872 mitgeteilt: “Die Schwierigkeit [der Berechnung der zweiten Variation] liegt aber hauptsächlich in der Umfänglichkeit der auszuführenden Integrationen und numerischen Berechnungen. Daher habe ich es vorgezogen, mich des Vorzeichens jener
DIE WEIERSTRAßSCHE WENDE
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höheren Glieder auf experimentell physikalischem Wege zu vergewissern, indem ich zeige, wären jene Glieder negativ, so könnte die Seifenlamelle auch bei erheblichen Änderungen der numerischen Constanten nicht stabil sein, da es unendlich benachbarte kleinere Flächen geben würde; aus der experimentell nachgewiesenen Stabilität schließe ich, daß die […] Bedingung […] auch hinreichend ist”. Umgekehrt erhielt SCHWARZ übrigens auch selbst solche Modelle. Wir lesen in seinem Brief vom 29. Juli 1887: “Herr Dr. Kötter241 hat mir eine ausführliche Abhandlung und ein sehr schönes Modell übersandt; ich halte seine Schlüsse für richtig”. Es ging bei dieser Angelegenheit um Fehler in Schlüssen von JAKOB STEINER und LORENZ LINDELÖF (1827-1908)242, die in Arbeiten über Polyeder mit größtem Volumen bei gegebener Oberfläche benutzt wurden. Im Winter 1884/85 habe WEIERSTRAß zurückgezogen gelebt und nur die Vorlesungen gehalten, erfahren wir aus dem Brief an SCHWARZ vom 14. März 1885. Trotz aller Hindernisse habe er gearbeitet. In einem Vortrag berichtete 1897 MATVEIJ TICHOMANDRITZKIJ (1844-1921), daß WEIERSTRAß 1885 gegenüber der KOWALEWSKAJA geäußert habe, daß er sich langweile und wieder zu arbeiten beginne.243 SCHWARZ teilte seinem Lehrer in langen Briefen Einiges mit (16. März 1885, 3. Juli 1885 oder 25. März 1886). Von der Darstellung einer Funktion durch trigonometrische Reihen haben wir oben schon berichtet. Es soll nun ein Konzept einer künftigen Weierstraßschen Variationsrechnung in aller Ausführlichkeit folgen, das WEIERSTRAß im Anschluß an seine letzte Vorlesung 1884 (die späteren waren lediglich angekündigt, aber nicht mehr gehalten worden) über den Gegenstand entworfen hat und SCHWARZ bei dieser Gelegenheit am 14. März 1885 mitteilte: “Zunächst habe ich meine Behandlungsweise der einfachsten Probleme der Variationsrechnung auch auf zusammengesetztere Fälle ausgedehnt. Es würde nicht schwer für mich sein, jetzt das allgemeinste Problem der Variationsrechnung, bei dem eine oder mehrere Functionen einer Veränderli-
241. Ernst Kötter (1859-1922), Studium in Berlin, 1884 Promotion (Weierstraß), 1887 Habilitation bei Weierstraß, ab 1894 Professor in Aachen. 242. Von Lindelöf gibt es eine elegante geometrische Methode für die Kettenlinie, die konjugierten Punkte zu bestimmen. Weierstraß war allerdings der Meinung, daß die persönlichen Kontakte von Schwarz mit Lindelöf dazu geführt hätten, daß Lindelöfs Ergebnisse in den Schwarzschen Arbeiten überbewertet würden (Briefe vom 19. u. 28.6.1887). Aber es waren gerade die Lindelöfschen Überlegungen über die Kettenlinie sowie die zugehörige Rotationsfläche, die Schwarz angeregt hatten. Schwarz war Mitglied der finnischen Akademie der Wissenschaften geworden, und bei diesem Anlaß hatte er 1885 die sogenannte Festschrift verfaßt. Siehe Abschnitt 3.7.2. 243. Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie, Nachlaß Schwarz, Vortrag vom 27.2./ 11.3.1897. Nr. 429.
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chen gesucht werden, in der von Jacobiihn [sic] gegebenen Formulierung, die Sie in den Ihnen bekannten Abhandlungen von Clebsch und Meyer [A. Mayer] finden, in Behandlung zu nehmen. Wenn Sie aber bei Ihrem Vorsatz bleiben, meine Vorlesungen über Variationsrechnung zu überarbeiten, so würde ich es vorziehen, mich auf die sachlich näher anzugebenden Aufgaben zu beschränken, überzeugt, daß Jeder, der sich mit der Behandlungsweise derselben vertraut gemacht hat, auch in complicirteren Fällen den anzugebenden Weg ohne Schwierigkeiten finden werde. Wenn ich jetzt einen Plan für ein auch den Anfängern zugängliches, aber wissenschaftlichen Anforderungen genügendes Lehrbuch der Variationsrechnung zu entwerfen hätte, so würde ich darin folgende Aufgaben aufnehmen, bei deren Formulierung ich mich hier, der Kürze wegen, der gewöhnlichen Ausdrucksweise [d.h. der funktionalen Fassung des Variationsproblems] bedienen will, obwohl es in allen Fällen empfehlenswerth oder selbst nothwendig sich erweist, alle zu bestimmenden Größen als Functionen einer unabhängigen Veränderlichen [d.h. als Parameterprobleme] zu betrachten. Es handelt sich bei allen Aufgaben um die Bestimmung ebener und unebener Curven, welche entweder in ihrer ganzen Ausdehnung monogen oder auch aus monogenen Stücken zusammengesetzt sein sollen. Die orthogonalen Coordinaten eines unbestimmten Punktes einer solchen Curve werden mit x, y beziehungsweise mit x, y, z bezeichnet. 1. Es soll eine ebene Curve so bestimmt werden, daß das Integral J =
dy
-⎞ dx , ∫ F ⎛⎝ x, y, ---dx⎠ dy
(wo F eine gegebene Funktion von x, y, ----- bezeichnet), ausgedehnt über ein dx beliebiges Stück der Curve ein Maximum oder Minimum ist. 2. Dieselbe Aufgabe mit der weiteren Forderung, daß mehrere Integrale J1, J2,… von derselben Form wie J und über dasselbe Stück der Curve ausgedehnt, vorgeschriebene Werthe erhalten sollen. 3. Die Aufgabe (1.) für den Fall, wo J die Form J =
⎛
2 dy d y⎞
-, --------⎟ dx ∫ F ⎜⎝ x, y, ---dx dx 2⎠
hat. 4. Die Aufgabe (2.) auf der Modification, daß auch die Integrale J1, J2,… alle oder zum Theil von d2y/dx2 abhängen. 5. Es soll eine Raumkurve so bestimmt werden, daß das Integral J =
dz dz
-, -----⎞ dx ∫ F ⎛⎝ x, y, z, ---dx dy⎠
ausgedehnt über ein beliebiges Stück der Curve, ein Maximum oder ein Minimum ist.
DIE WEIERSTRAßSCHE WENDE
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6. Dieselbe Aufgabe mit der Forderung, daß die zu bestimmende Curve einer gegebenen Gleichung f(x, y, z) = 0 zwischen x, y, z oder auch einer gegebenen Differentialgleichung dz dz f ⎛⎝ x, y, z, -----, -----⎞⎠ = 0 dx dy
genüge. 7. Die Aufgaben (5, 6) mit der weiteren Forderung, daß mehrere Integrale J1, J2,… von derselben Form wie J und über dasselbe Stück der Curve ausgedehnt, vorgeschrieben Werthe haben. 8. Die Aufgaben (5, 6, 7) mit der Modification, daß die unter dem Integralzeichen vorkommende Functionen, sowie die Bedingungsgleichung auch die Ableitungen d2y/dx2, d2z/dx2 soll enthalten dürfen. Bei diesen den [sic] Aufgaben (1, 2, 5, 6, 7) wird zunächst angenommen, daß die Endpunkte der gesuchten Curve fest sein sollen, bei den Aufgaben (3, 4, 8) überdies auch die Anfangsrichtung und die Endrichtung. Erörterungen in Betreff anderer Grenzbedingungen sowie über die eigentlichen Modificationen, die eintreten, wenn die zu bestimmende Curve zwischen ihrem Endpunkte nicht beliebig variiert werden kann, müßten dann angeschlossen werden, wobei allerdings auf vollständige Erledigung aller möglichen Fälle verzichtet werden muß. Obwohl die aufgezählten Aufgaben, wie schon erwähnt, alle in [eine] einzige zusammengefaßt werden können, so halte ich es doch für belehrender, sie einzeln zu behandeln und bei jeder wenigstens ein vollständig durchzuführendes Beispiel zu geben. Ich bemerke nun, daß ich für alle in Rede stehenden Probleme jetzt im Stande bin, die nothwendigen und hinreichenden Kriterien für das Stattfinden eines Maximums und Minimums aufzustellen. […]244 Ich würde also im Stande sein, den Vorlesungen, so wie sie wirklich von mir gehalten sind, und in welche die früher von mir behandelten Beispiele, die später wegen Zeitmangels weggeblieben sind, wieder aufzunehmen wären, noch einige weitere hinzuzufügen wären, durch welche die Anwendbarkeit meiner Methode auf alle Probleme der Variationsrechnung – mit der eben angegebenen Beschränkung, obwohl Sie [in der Festschrift] eine gegründete Hoffnung gegeben haben, daß auch die auf Doppelintegrale sich beziehenden Aufgaben derselben Behandlungsweise sich nicht entziehen werden – hinlänglich wieder dargelegt werden [d.h. es werden hinreichende Kriterien angegeben]. Auf die Entwicklung von Formeln allgemeinster Geltung einzugehen, ohne
244. An dieser ausgelassenen Stelle wird “beiläufig bemerkt”, daß damit auch die Delaunaysche Aufgabe erledigt werden kann. Es folgen einige entsprechende Bedingungen hierfür.
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KAPITEL 3
daß Aussicht vorhanden wäre, daß jemals eine Anwendung davon gemacht werde, halte ich nicht für zweckmäßig, überlasse es wenigstens gern anderen. Ueber die Variation mehrfacher Integrale habe ich früher einmal etwas vorgetragen – bloß die Herstellung der ersten Variation Betreffendes – das aufzunehmen vielleicht sich empfehlen möchte, weil man davon bekanntlich auf die Transformation von partiellen Differentialgleichungen durch Einführung anderer unabhängiger Veränderlicher eine nützliche Anwendung machen kann.[245] Ausführlicher auf Methode und Resultate meiner Untersuchungen über den in Rede stehenden Gegenstand einzugehen, ist in einem Briefe nicht wohl möglich. Vielleicht habe ich in den Ferien aber wieder die erwünschte Gelegenheit, mich hier mündlich mit Ihnen zu besprechen”. Beide haben die Gelegenheit dazu gefunden, und im März 1891 kam es schließlich formal zu einem Vertragsabschluß, wenn auch nie zur Herausgabe einer Variationsrechnung durch SCHWARZ. Vorarbeiten hatte SCHWARZ zwar sogleich getroffen: ein Brief vom 25. März 1885 zählte 14 verschiedene Mitschriften der Vorlesung auf, die sich SCHWARZ verschaffen konnte und in die er offenbar auch zahlreiche Notate einfügte,246 ein Blatt vom 1. April 1885 verzeichnet die zu benutzenden Bezeichnungen und Symbole.247 WEIERSTRAß andererseits schrieb am 20. Dezember 1885 aus dem Urlaub an SCHWARZ, daß er sich nur zwei Mitschriften der Variationsrechnung zur Vorbereitung der Buchausgabe mitgenommen habe. Bei seiner bekannten Vergeßlichkeit, auch gegenüber dem behandelten Stoff, ist das etwas nachlässig. Am 28. Juni 1887 teilte er beispielsweise SCHWARZ mit, daß eine gewisse Darstellung der Exzeßfunktion in den Vorlesungen zu finden sein müsse. Der Briefwechsel ist gerade für die Zeit, in der WEIERSTRAß nicht mehr über Variationsrechnung gelesen hat, im Hinblick auf diese Disziplin interessant. Bereits ab etwa 1880 tauchen in dichter Folge wichtige Fragen und Ergebnisse auf (auch über die Variationsrechnung hinaus, beispielsweise Fragen der Uniformisierung248). Ein solches Briefthema sind beispielsweise hinreichende Bedingungen bei Variationsproblemen für Doppelintegrale, über die sich WEIERSTRAß am Ende der Vorlesung von 1882 noch nicht äußern konnte
245. Wenn eine partielle Differentialgleichung eine Eulersche Differentialgleichung ist, so bleibt sie auch nach einer Koordinatentransformation eine solche, d.h. sie läßt sich in den neuen Koordinaten wieder als Eulersche Differentialgleichung aus dem Verschwinden der ersten Variation berechnen. 246. In allen Exemplaren des Nachlasses Schwarz im Akademie-Archiv, in den Exmplaren, die im Mathematischen Institut der Humboldt-Universität aufbewahrt werden, aber auch in der Mitschrift Burkhardt (Ruhr-Universität Bochum). 247. Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie, Nachlaß Schwarz, Blatt 426. 248. Brief von Weierstraß vom 11.3.1887, Schwarzsche Resultate im Brief vom 18.9.1888; am 18.11.1888 berichtete Schwarz auch, daß er die Preisaufgabe der Göttinger Fakultät diesem Thema gewidmet habe.
DIE WEIERSTRAßSCHE WENDE
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(Brief vom 19. Juni 1887). Dann rücken wieder zunehmend organisatorische Dinge für geplante Vorlesungen, Probleme bei der geplanten Werkausgabe oder Berufungsangelegenheiten sowie gesundheitliche Fragen in den Vordergrund. Auch diese Passagen sind interessant, denn BIEBERBACH hatte – wie bereits erwähnt – zurecht hervorgehoben: “WEIERSTRAß zeigt sich sehr zurückhaltend in den Angaben über eigene Pläne und Entwürfe”, da er es für unangebracht hielt, derartiges seiner Mitwelt anzuvertrauen.249 Mit dem Wechsel von SCHWARZ als ordentlicher Professor an die Universität Berlin am 8. März im Jahre 1892, was auch zeitlich ungefähr dem Versiegen der Schöpferkraft beider Korrespondenten entspricht, kommt schließlich nicht nur der wissenschaftliche Gedankenaustausch zum Erliegen – der kranke WEIERSTRAß schickte nur noch einige Karten, auf denen er SCHWARZ um einen Besuch bat bzw. eine bereits ausgesprochene Einladung wieder zurücknahm. Die letzte Karte ist vom 6. August 1893. 3.7 Hermann Amandus Schwarz (1843-1921) HERMANN AMANDUS SCHWARZ hatte 1860 am Charlottenburger Gewerbeinstitut (heute TU Berlin) begonnen, Chemie zu studieren, er hörte dort auch Vorlesungen über Mathematik von WEIERSTRAß und wurde schließlich durch WEIERSTRAß veranlaßt, Mathematik zu studieren. 1864 wurde SCHWARZ in Berlin mit der Arbeit De superficiebus in planum explicabilibus primorum septem ordinum bei EDUARD KUMMER promovierte (WEIERSTRAß besaß noch kein Promotionsrecht an der Berliner Universität), und er habilitierte sich 1866. SCHWARZ betrachtete sich als Schüler von KARL WEIERSTRAß, den er als Lehrer und Mathematiker verehrte. GEORG HAMEL (1877-1854) hat in seiner Gedächtnisrede für SCHWARZ hervorgehoben, daß SCHWARZ “es wohl auch ganz sicher als seine hauptsächlichste Aufgabe angesehen [habe], den von WEIERSTRAß erreichten Stand der mathematischen Exaktheit festzuhalten und weiter zu überliefern.”250 HAMEL führte aber weiter aus, daß SCHWARZ nicht nur direkter Schüler von WEIERSTRAß, sondern in geistiger Beziehung dies auch von JAKOB STEINER und BERNHARD RIEMANN sei. Viele unbewiesene Resultate RIEMANNS hat SCHWARZ mit Methoden begründet, die auf WEIERSTRAß zurückgehen. Zufolge LUDWIG BIEBERBACHS war es erst SCHWARZ, der so “eine Art Ausgleich” zwischen die rivalisierenden Schulen von WEIER251 STRAß und RIEMANN (sowie KLEIN) gebracht hat.
249. Vortrag von Bieberbach auf der Weierstraß-Woche, Münster 1925. Kopie des maschinenschriftlichen Manuskripts im Institut Mittag-Leffler, Djursholm, handschriftliche Ergänzung S. 3. 250. Georg Hamel, “Zum Gedächtnis an Hermann Amandus Schwarz”, Jahresbericht der DMV, 32 (1923), 9-13, Zitat 9. 251. L. Bieberbach, “Hermann Amandus Schwarz”, Sitzungsberichte der Berliner Mathematischen Gesellschaft, 21 (1922), 47-52, Zitat 48.
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KAPITEL 3
Nach einer kurzen Zeit im Schuldienst wurde SCHWARZ 1867 a.o. Professor an der Universität Halle, dann 1869 Professor an der ETH Zürich, 1875 ord. Professor in Göttingen, und er folgte schließlich 1892 seinem Lehrer WEIERSTRAß in Berlin nach, wo er bis 1917 lehrte. Als er nach Berlin wechselte, hatte seine Schaffenskraft bereits merklich nachgelassen, so daß seine wesentlichen Arbeiten bereits in den von ihm 1890 selbst herausgegebenen Gesammelten mathematischen Abhandlung252 zu finden sind. GEORG HAMEL hat in seiner Gedächtnisrede das Verzeichnis der Schriften, die nach den Abhandlungen erschienen sind, lediglich um zehn Titel ergänzen müssen. Und BIEBERBACH umschrieb die Situation mit den Worten, SCHWARZ habe sich auf den Berliner Lehrstuhl zurückgezogen. Das zielt natürlich auf den Rückgang der Schwarzschen Produktivität ab, allerdings war SCHWARZ auch weiterhin ein ausgezeichneter Hochschullehrer, so daß GEORG HAMEL bemerkte, bei SCHWARZ habe man das Gefühl, nach der klaren Luft des Weierstraßschen Riesengebirges in lieblichere Gefilde zu kommen. Die Durchsicht von Vorlesungsmitschriften beider in der Variationsrechnung bestätigen diese Ansicht jedoch nicht, selbst wenn man berücksichtigt, daß der von SCHWARZ vorgetragene Stoff sich inzwischen konsolidiert hatte und SCHWARZ nicht wie WEIERSTRAß die Ambition hatte, allerjüngste Forschungsergebnisse der letzten Nacht vorzustellen. In der Berliner Zeit hat SCHWARZ am stärksten wohl durch seine Kolloquien gewirkt, die er seit 1896 durchführte und die u.a. auf CONSTANTIN CARATHÉODORY einen nachhaltigen Eindruck ausgeübt haben.253 1921 ist SCHWARZ in Berlin gestorben. Die konformen Abbildungen und die Minimalflächen waren Hauptarbeitsgebiete von SCHWARZ, und die Theorie der Minimalflächen weist bekanntlich enge Bezüge zur Variationsrechnung auf. In seiner Antrittsrede 1893 vor der Preußischen Akademie äußerte sich SCHWARZ hierüber, daß ihn die Beschäftigung mit den Minimalflächen zu den Grundlagen der Variationsrechnung und zur Untersuchung einiger bestimmter partieller Differentialgleichungen zweiter Ordnung gebracht hatte.254 Die Schwarzsche Einstellung zeigte sich im Anpacken konkreter Probleme, um die er dann im Nachhinein begann, ein Theorie zu ranken. Jede Aufgabe wurde umfassend bis hin zum zahlenmäßigen Durchrechnen behandelt, zeichnerisch dargestellt oder auch mit Modellen veranschaulicht, und die Lösungen wurden mit Hilfe seiner Seifenlauge auch experimentell überprüft oder die Seifenhäute gaben überhaupt erst Hinweise auf die zu suchende Lösung. CARATHÉODORY hat bemerkt, daß er bei SCHWARZ zum ersten Mal gesehen habe, “daß man allgemeine Theorien am besten verstehen kann, wenn man spezielle Beispiele von Grund auf
252. H.A. Schwarz, Gesammelte mathematische Abhandlungen, 2 Bde, Berlin, Springer, 1890. 253. C. Carathéodory, “Autobiographische Notizen”, Gesammelte mathematische Schriften, Bd. 5, München, Beck, 1957, 399. 254. Monatsberichte der Berliner Akademie, 1893, 623-626.
DIE WEIERSTRAßSCHE WENDE
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beherrscht.”255 Die Anfänge solcher “bescheidenen” Untersuchungen fanden beispielsweise ihren Abschluß in der Methode der sukzessiven Approximation, in Eigenwertkriterien oder im Aufstellen eines Feldbegriffs für mehrdimensionale Variationsprobleme. Auch HILBERTS methodische Maxime war es, stets mit ganz einfachen Beispielen zu beginnen: “Man denke die extremen trivialen Fälle und variiere dann.”256 3.7.1 Die Vorlesungen über Variationsrechnung und Minimalflächen SCHWARZ hat als Professor in Göttingen und Berlin insgesamt zehnmal über Variationsrechnung und sechsmal über Minimalflächen gelesen.257 Von Interesse ist auch, daß er mehrfach über Maxima und Minima in elementarer geometrischer Behandlung (nach Steiner) vorgetragen hat. Gegenstände der Göttinger Kolloquien waren die zweite Variation bei Minimalflächen (SS 1883), die isoperimetrische Eigenschaft der Kugel (WS 1883) und das Thema der später als Festschrift veröffentlichten Untersuchung Über ein die Flächen kleinsten Flächeninhalts betreffendes Problem der Variationsrechnung (SS 1884); in den Berliner Kolloquien wurden die Gesammelten Abhandlungen von SCHWARZ gelesen und mit einer anschließenden Nachsitzung in einem Bierlokal unter den Bogen der Stadtbahn beendet (CARATHÉODORY). Obwohl in der sogenannten “Festschrift”258 (1885) die Frage des “wahren Minimums eines Minimalflächenstücks” (Brief an WEIERSTRAß vom 16. März 1885) erstmals von SCHWARZ und zwar mit Hilfe des Feldbegriffs dargelegt wurde,259 ist es methodisch zweckmäßig, zunächst die späteren Vorlesungen ab 1888 (vorher keine Quellen) zu behandeln, da in ihnen die grundlegenden Gedanken am Beispiel der Kettenlinie und der entsprechenden Rotationsfläche erörtert werden, die auch Gegenstand von Auseinandersetzungen zwischen WEIERSTRAß und SCHWARZ waren. 3.7.1.1 Vorlesung Variationsrechnung SS 1888 Eine Mitschrift oder ein Konzept von SCHWARZ ließ sich nicht auffinden. In dem Bericht des Mathematischen Vereins an der Universität Göttingen über 255. C. Carathéodory, “Autobiographische Notizen”, Gesammelte mathematische Schriften, Bd. 5, München, Beck, 1957, 399. 256. Mathematische Notizhefte, Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung, Cod. Ms. D. Hilbert 600: 3, S. 94. 257. Variationsrechnung: Göttingen SS 1884, SS 1888; Berlin WS 1894, WS 1896, WS 1898, WS 1900, SS 1903, SS 1908, SS 1911, SS 1914; Minimalflächen: Göttingen WS 1882, WS 1887, SS 1890; Berlin WS 1893, SS 1916, WS 1916. 258. “Ueber ein die Flächen kleinsten Flächeninhalts betreffendes Problem der Variationsrechnung” (“Festschrift”), Acta Societatis scientiarum Fennicae, 15 (1885), 315-362, auch in: Gesammelte Mathematische Abhandlungen, Bd. 1, Berlin, Springer, 1890, 223-269. 259. Es ist immer möglich, die Konstruktion eines Feldes von Extremalflächen in der Umgebung eines Stücks einer Minimalfläche zu konstruieren, sofern deren sphärisches Bild im Innern einer Halbkugel eingeschlossen werden kann. Das sphärische Bild wird durch die Bildpunkte der Normalenvektoren auf der Einheitskugel erzeugt. Siehe Fußnote 309.
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das SS 1888 gibt es aber einen Überblick über diese Vorlesung. Demnach hat SCHWARZ Variationsprobleme in Parameterform behandelt, auf deren Vorzüge er verwies. Von uns ist dabei von Interesse: “Ausdruck für die zweite Variation, wie oben: mit den Grenzgliedern [Randwerten]. Die zweite notwendige, die 2. Variation betreffende Bedingung für das Eintreten eines extremen Wertes. Begriff des Konjugiertseins zweier Punkte nach Jacobi. Drittes notwendiges Erfordernis für das Eintreten eines Minimums oder Maximums: innerhalb der Grenzen des Integrals darf kein Paar konjugierter Punkte liegen. Beispiel einer Aufgabe, für deren vermeintliche Lösung diese drei Bedingungen erfüllt sind, während dennoch für diese Lösung weder ein Maximum noch ein Minimum eintritt. Aufstellung der vierten Bedingung nach Herrn Prof. Weierstrass. Beweis, dass das Erfülltsein der vier Bedingungen notwendig das Eintreten eines extremen Wertes des Integrals zur Folge hat.”260 Der Vorlesungsplan spiegelt deutlich das Weierstraßsche Programm wider. Das bestätigt auch das folgende Zitat aus der Dissertation von OSWALD VENSKE, die 1891 in Göttinger erfolgte: “Um mich derjenigen Methoden bedienen zu können, welche von Herrn Prof. Weierstraß in seinen Vorlesungen über Variationsrechnung mit Bezug auf Behandlung von Aufgaben des relativen Maximums oder Minimums entwikkelt und mir durch eine von Herrn Prof. H.A. Schwarz im Jahre 1888 gehaltenen Vorlesung bekannt geworden sind…”261 3.7.1.2 Vorlesung Variationsrechnung WS 1896 JOHN CHARLES FIELDS (1863-1932), der Stifter der Fields Medal, besuchte nach seinem Studium an der Universität Toronto (Ontario, Canada) und der Promotion an der Johns Hopkins University (USA) Europa, insbesondere Paris und Berlin. Er war vom 2. November 1894 bis zum 6. Mai 1895 ein Semester in Göttingen immatrikuliert und wechselte danach für zehn Semester an die Universität Berlin, wo er vom 17. Mai 1895 bis zum 3. April 1900 eingeschrieben war. FIELDS war ein außerordentlich fleißiger Student. In dem Archiv der Universität Toronto (University of Toronto Archives, kurz als UTA zitiert) werden 126 Vorlesungshefte von FIELDS aus dieser Zeit aufbewahrt,262 darunter sind auch Mitschriften von 16 Vorlesungen von SCHWARZ. Die beiden Kurse Variationsrechnung im WS 1896 und WS 1898 hat FIELDS besucht; in den Fields Papers des Archivs bezeugen dies fünf Vorlesungshefte.
260. Bericht des Mathematischen Vereins, SS 1888. Göttingen, 1888, 9. 261. O. Venske, Behandlung einiger Aufgaben der Variationsrechnung, Dissertation, Göttingen, 1891, 60 S., siehe auch Abschn. 3.9.4. 262. Der Nachlaß kam am 21.10.1932 an das Universitätsarchiv, wobei den Erben die Hefte für jeweils $20 abgekauft wurden. Die Hefte haben alle das gleiche Format (etwa A5), weisen aber unterschiedliche Stärken auf.
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Die Vorlesung des WS 1896 ist in drei Heften auf insgesamt 251 Seiten von FIELDS erfaßt worden.263 Von einigen Ergänzungen abgesehen, die FIELDS durch seine Initialen als solche kenntlich gemacht hat, gibt es keine Überarbeitung, so daß die Hefte als ziemlich unmittelbare Ausarbeitung angesehen werden können. Das trifft insbesondere auf solche Stellen der Mitschriften zu, wo die Sprachen laufend wechseln; insbesondere die Terminologie wird verständlicherweise oft in der Sprache des Vortrags, also deutsch, wiedergegeben, während ansonsten versucht wird, den Grundtext möglichst in Englisch zu bringen. So weit sich das aus der sehr kurzen Zusammenfassung im Bericht des Göttinger Mathematischen Vereins für das SS 1888 (siehe oben) erkennen läßt, gleicht der Aufbau dieser Vorlesung derjenigen aus dem SS 1888. Die vorliegende Vorlesung zeigt einen großen Reichtum an konkreten Beispielen, die vollständig durchgerechnet sind. SCHWARZ erläuterte die Theorie an den bekannten Aufgaben (minimale Rotationsfläche, Brachistochrone, isoperimetrisches Problem), und er fügte noch ein eigens hinzu, das Problem des Minentrichters (Granattrichters). Der Feldbegriff – FIELDS gebraucht in der Übersetzung von Flächenstreifen oder Fläche häufig den heute üblichen englischen Begriff field – deutete sich in der Vorlesung erstmals in den Schwarzschen Untersuchungen bei konjugierten Punkten an, und zwar als diese allgemein und nicht am Beispiel erörtert wurden. Dabei ging es jedoch noch um zentrale Felder. FIELDS notierte: “Instead of speaking, as above, of the intersections of our curve C with C1 […] we might consider the infinite no. of the family of curves wh.[ich] satisfy the eqs. [equations] G = 0 and wh. at the same time pass thro.[ugh] the pt. [point] P1”. (p. 117) Besonders ausführlich geht SCHWARZ auf die Kettenlinie ein (z.B. auf den Seiten 131-188), da durch deren Drehung eine minimale Rotationsfläche erzeugt werden kann. An diesem speziellen zweidimensionalen Beispiel problematisierte SCHWARZ das Problem der hinreichenden Bedingungen. Die Minimalfläche C wird in eine Schar Cε eingebettet, und hieraus wird die Gültigkeit Eulersche Differentialgleichung für Lösungen gefolgert. Bei der zweiten Variation wird bemerkt, daß WEIERSTRAß 1879 gezeigt hat, die Positivität von δ2J(C) ist nicht hinreichend für ein Minimum (p. 98).
263. UAT, Fields Papers, B72-0024/003, Variationsrechnung, Hefte I-III. Alle Verweise in diesem Abschnitt beziehen sich hierauf.
260
KAPITEL 3
Abb. 3.10. Vorbereitende Betrachtungen zu der Konstruktion von Lindelöf in Fields Mitschrift (WS 1896)
Nach allgemeinen Betrachtungen über konjugierte Punkte kam SCHWARZ wieder auf die Minimalfläche zurück. Mit der Lindelöfschen Konstruktion264 der konjugierten Punkte verschaffte sich SCHWARZ einen einfachen geometrischen Gesichtspunkt, diese Punkte bei den untersuchten Kurventeilen auszuschließen (p. 138). Wenn die x-Achse eines üblichen Koordinatensystems als Drehachse (Direktrix) für eine Kettenlinie dient, so findet man auf der Kettenlinie ein Paar konjugierter Punkte so: Im Kurvenpunkt P wird eine Tangente angelegt, die die x-Achse im Punkt T schneide. Zieht man von T aus eine weitere Tangente an die Kettenlinie, die diese in Q (≠ P) treffe, so sind P und Q zueinander konjugiert, und innerhalb des Bogens PQ gibt es kein Paar konjugierter Punkte. Geometrisch gesehen schneiden sich zwischen P und Q keine Kettenlinien einer Schar. Wie das zu verstehen ist, wird von SCHWARZ ausführlich erörtert, wobei auch das Randwertprobleme für die Kettenlinie und deren Konstruktion untersucht werden (pp. 153-188). Entscheidend ist ein Grenzfall (die sogenannten Goldschmidtsche Lösung), bei dem die Rotations264. Mathematische Details und Verallgemeinerungen bei M. Giaquinta, S. Hildebrandt, Calculus of Variations, vol. I, Berlin, Springer, 1996, 307-308. Lindelöf selbst gab die Konstruktion in dem Buch Leçons de calcul des variations, Paris, Mallet-Bachelier, 1861, 206 f. (siehe dazu Abschnitt 3.8).
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261
fläche schließlich aus zwei Kreisen besteht, deren Mittelpunkte durch einen Abschnitt der x-Achse verbunden werden.265
Abb. 3.11. Lindelöfsche Konstruktion und der Feldbegriff (Fields Mitschrift)
SCHWARZ arbeitete in der Folge mit entsprechenden Scharen von Kettenlinien (Feldern), die er in dem Gebiet zwischen den beiden Tangentenabschnitten PT und QT und dem die Enden der Abschnitte verbindenden Bogen der Kettenlinie PQ konstruierte: “We see then that between our catenary and the pair of tang.[ents] […] intesecting on directrix we may nest arcs of an infinite no. of catenaries with same directrix whose shortest distance m' from the directrix varies from m to 0 [and could serve as a parameter]”. (p. 140) Das sind keine zentralen Felder bzw. die mit dem Kunstgriff eines vorgezogenen Zentrums aus zentralen Feldern gewonnene allgemeine Extremalenfelder! SCHWARZ “hängt” die Bögen nestförmig in die Tangentenabschnitte ein. Diese anschaulich überaus überzeugende Vorstellung verdankte SCHWARZ Lindelöfschen Überlegungen;266 auf die entscheidende Anregung werden wir unten näher eingehen (Abschnitt Festschrift, 3.7.2). Wir zitieren eine Parallelstelle aus den Lectures on the calculus of variations von HARRIS HANCOK (1867-1944), der die Variationsrechnung 1894 bei SCHWARZ gehört und diese Vorlesung ein Jahrzehnt später in sein genanntes Buch eingearbeitet hat: “We saw […] that all catenaries having the same axis of symmetry and the same directrix may be laid between two lines inclined approximately at an 265. B. Goldschmidt, Determinatio superficiei minimae rotatione curvae data duo puncta jungentis circa datum axem ortae, Dissertation, Göttingen, 1831. Der Name Goldschmidt wird in der Vorlesung nicht erwähnt, der Sachverhalt aber unter der Überschrift Application unter Einbeziehung von Experimenten mit Seifenlösung diskutiert (189-193). 266. L.L. Lindelöf, Leçons de calcul des variations, Paris, Mallet-Bachelier, 1861, 209.
262
KAPITEL 3
angle tan-1(3/2) to the directrix and which pass through the intersection of the directrix and the axis of symmetry.267 All catenaries under consideration then are ensconced within the lines OP ' and OP " and have these lines as tangents. The arcs of these catenaries between their points of contact with OT ' and OT " do not intersect one another. Through any point P0 inside the angle T 'OT " will evidently pass one of these arcs, and the same arc (on account of the axis of symmetry OL of the catenary) will contain the point P1 symmetrical to P0 on the other side of OL. The arc P0P1 contains no conjugate point.”268 Das dritte Kapitel “Properties of the catenary” des Hancockschen Buches enthält viele schöne geometrische Ergebnisse, die auf SCHWARZ zurückgehen, etwa die für das Feld wichtige Behandlung des Randwertprobleme der Kettenlinie (pp. 30-54). Wenn P0 und P1 Punkte auf dem Bogen PQ einer Kettenlinie sind, so betrachtete SCHWARZ eine beliebige Vergleichskurve im Feld mit gleichen Endpunkten: “The lower curve joining P0P1 represents our catenary, the upper curve some curve within a neighborhood chosen [also joining P0P1] and intersected by a series of catenary arcs [a field] which do not intersect one another as we have seen above”. (p. 149) Und es gibt eine weitere interessante Eigenschaft: Die durch Rotation um die x-Achse erzeugten Flächen des Bogens PQ und der beiden Tangentenstücke PT und TQ haben den gleichen Inhalt (pp. 141-142). Dieser Sachverhalt ist für den Nachweis der Minimalität außerordentlich hilfreich (p. 153). Auf lediglich 10 Seiten (pp. 195-205) handelt SCHWARZ die vierte Weierstraßsche Bedingung als hinreichendes Kriterium ab. Dazu deformiert er einen Teil der Extremalen in der bekannten Art (Weierstraßsche Variation), um (als notwendige Bedingung) für hinreichend kleine Variationen Übereinstimmung im Vorzeichen der totalen Variation und der Exzeßfunktion zu erhalten. (Die Exzeßfunktion war bereits auf Seite 50 eingeführt worden.) Das Feld benutzte SCHWARZ hierfür noch nicht (pp. 196-200). Die Hinlänglichkeit der Bedingung “ε > 0 bzw. < 0 auf der Extremale für beliebige Richtungen benachbarter Vergleichskurven” für ein Extremum wird in einem Feld gezeigt (pp. 200205). Hier, also bei allgemeinen Betrachtungen, griff SCHWARZ allerdings wieder auf den Kunstgriff zurück, ein zentrales Feld durch einen auf der betrachteten Extremalen etwas “vorgezogenen” Punkt zu konstruieren, um konjugierte Punkte innerhalb einer Umgebung der Extremalen ausschließen zu können. 267. Die entsprechenden Berechnungen finden sich bei L.L. Lindelöf, Leçons de calcul des variations, Paris, Mallet-Bachelier, 1861, 209, und werden in der Arbeit “Sur les limites entre lesquelles le caténoïde est une surface minima” (Mathematische Annalen, 2 (1870), 160-166) wiederholt. 268. H. Hancock, Lectures on the calculus of variations, Cincinatti, University Press, 1904, 52.
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263
SCHWARZ äußerte noch einen erwähnenswerten Gedanken. “In the whole? process of the Cal.[culus] of Var.[ations] is in fact a process of progessive exclusion” (p. 142, Fragezeichen von FIELDS). Gemeint ist damit jene analytische Prozedur, die aus der angenommenen Existenz einer Lösung anhand von daraus abgeleiteten Bedingungen – hier z.B. die Eulersche Differentialgleichung, F1 ≠ 0, keine konjugierten Punkte usw. – die möglichen Kandidaten für eine Lösung immer mehr einengt, bis wir die Menge der lösungsverdächtigen Kandidaten beherrschen. SCHWARZ hatte das Verfahren an dem Beispiel der minimalen Rotationsfläche erläutert, und er generalisierte es nun: “We might or might not be able to accept it definitively as giving rise to a max. or min or reject it as the case may be or we might examine the curve in the light of Weierstrass’ 4th criterion wh.[ich] gives the necessary and sufficient crowning cond.[itions] that our curve should give rise to a max. or a min. (This criterion we will take up later)”. (p. 143) 3.7.1.3 Vorlesung Variationsrechnung WS 1898 Die Mitschrift von FIELDS findet sich in zwei Heften, wobei das erste Heft nicht durchgängig paginiert ist und das zweite nur bis zur Hälfte benutzt wurde.269 Die Verweise beziehen sich daher ggf. auf meine Paginierung. Die Vorlesung unterscheidet sich beträchtlich von der zwei Jahre zuvor gehaltenen. Kurz gesagt werden die in der Vorlesung des SS 1896 ausgeführten Beispiele zugunsten allgemeiner Untersuchungen zurückgenommen. Während die allgemeine Theorie in beiden Vorlesungen etwa übereinstimmt, unterscheidet sie sich beim Feldbegriff. Im SS 1896 hatte SCHWARZ für das Problem der minimalen Rotationsfläche einen allgemeinen Feldbegriff benutzt, den er nun über das Beispiel hinaus behandelt. Diesen Veränderungen wenden wir uns zu.
Abb. 3.12. Standardsituation
Auf den Seiten 69 bis 79 wird in der üblichen Weise die Exzeßfunktion abgeleitet. SCHWARZ benutzt dabei verschiedene Bezeichnungen der Punkte. 269. UAT, Fields Papers, B72-0024/003, Variationsrechnung, Hefte I-II. – Es ist erwähnenswert, daß die letzte Seite des ersten Heftes Notizen über Knallgas enthält. Fields hatte im WS 1898 bei Emil Fischer auch Anorganische Chemie belegt.
264
KAPITEL 3
Der Übersichtlichkeit halber weichen wir davon ab und benutzen durchgängig für die Endpunkte der Extremalen und einer zulässigen Vergleichskurve die Bezeichnung P1 und P2 (Festrandproblem), alle sich auf Vergleichskurven beziehenden Größen erhalten einen Querstrich, während zu Extremalen gehörige Größen keine solche zusätzliche Kennzeichnung aufweisen. Die Standardsituation ist folgende: Es sei eine die beiden Punkte P1 und P2 verbindende Kurve C gegeben. Von einem außerhalb von C liegenden Punkt P0 werden Extremalen C an diese Kurve gezogen, was als möglich unterstellt wird. Der Schnittpunkt einer Extremalen C mit der Kurve C sei P3. Dann ist J(P0P3P2) = f ( s 3 ) ,
∂f------= [–] ∂s 3
ε ( x, y, p, q, p, q ) .
Die zusammengesetzten Vergleichskurven erstrecken sich von P0 bis P3 auf einer Extremalen C und von P3 bis P2 auf der Kurve C (siehe Abb. 3. 12). Der übliche Weierstraßsche Beweis für die Hinlänglichkeit läßt P0 mit P1 zusammenfallen, so daß in P1 ein zentrales Feld erscheint, das nach wie vor C schneidet (siehe Abbildung 3.12). “We shall now draw some conclusions from the formulae obtained above. (Always vorausgesetzt here that we have a Curven Schaar satisfying G = 0 zur Verfügung)” (p. 75). Für P3 = P1 erhält man J = J( C ), für P3 = P2 erhält man J = J(C). Die fundamentale Weierstraßsche Beziehung lautet: J(P 1 P 2) – J(P1P2) = f ( s 1 ) – f ( s 2 ) =
s1
∫s
2
∂f---ds = ∂s
s1
∫ s –ε ( x, y, p, q, p, q ) ds s = ∫ ε ( x, y, p, q, p, q ) ds
ε
2 1
s2
Und hieraus ergibt sich sofort: “When everywhere +ve [positive] J(P1P2) a min” (p. 76). Nun betrachtet SCHWARZ den Fall, daß P0 mit P2 zusammenfällt, daß also ein zentrales Feld im anderen Endpunkt der Extremalen konstruiert wird. Die zusammengesetzten Vergleichskurven laufen von P1 bis P3 auf der Kurve C und von P3 längs einer Extremalen bis P2. Für dieses Feld ergeben sich wieder die gleichen Formeln: “Bedingungen hier scheinbar dieselben wie vorher, in Wirklichkeit aber andere[,] weil Curven Schaar andere”. (Ende von Heft 1, p. 98)
DIE WEIERSTRAßSCHE WENDE
265
Abb. 3.13. Ein allgemeines Feld (in Fields Mitschrift vom WS 1898)
Das zweite Heft beginnt: A third case leading to same Schlussergebnisse but starting out ganz anders is […]. We voraussetzen here that we know a Schaar of Curven satisfying Diff. eq. [Differentialgleichung] G = 0; and further not intersecting one another in Gebiet between C and C gezeichnet as in fig. [Abb. 3.13], so that through each pt. [point] of Gebiet one and only one Curve of Schaar passes. Dieser Fall ist in der Tat völlig anders, da SCHWARZ nun ein allgemeines Feld benutzt. In das “linsenförmige” Gebiet in der Zeichnung zwischen C und C sind wie beim im SS 1896 behandelten Problem der Kettenlinie Extremalen “nestförmig” eingefügt worden. Die zusammengesetzten Vergleichskurven beginnen im Punkt P0 [P1 in Abbildung 3.13] und laufen auf C bis zu einem Punkt P1 [P3 in Abbildung 3.13], setzen sich dann mit der Extremalen fort, die von P1 zu einem Punkt P2 [P0 in Abbildung 3.13] auf C führt, und schließen mit dem Bogen von P2 nach P3 [P2 in Abbildung 3.13] auf C ab. Auch hier ergibt sich das bekannte Kriterium: “For case of Min. then must ε beständig +ve [positive] sein muss” (Heft 2, p. 2). Schließlich erörterte SCHWARZ noch den Fall, daß die Vergleichskurve C “eingebeult” (bump) ist, wodurch die Feldkurven in zwei oder mehrere Teile zerlegt werden können, “however reasoning is just the same” (Heft 2, p. 3). Das Feld wird hier auch als “criss-cross curves” übersetzt. Als Beispiel folgt das Problem des kürzesten Abstandes eines Punktes von einer Kurve, wobei SCHWARZ diese Frage zunächst mit Hilfe der Differentialrechnung löst und anschließend die gerade entwickelte Theorie einsetzt sowie dann beide Resultate vergleicht (Heft 2, p. 4). Als allgemeinerer Fall wird anschließend das Variationsproblem mit dem Integranden 2
F(x, y, x' , y' ) = f(x, y) x' + y'
und der Exzeßfunktion f(x, y) (1 - cos ω)
2
266
KAPITEL 3
behandelt (p. 5). Dabei ist ω der Winkel, den die Tangente der freien Randkurve mit der eintreffenden Geraden im jeweiligen Schnittpunkt bildet. SCHWARZ hat hier den Weierstraßschen Flächenstreifen wesentlich verallgemeinert. Der Flächenstreifen (modern: ein zentrales oder stigmatisches Feld) wird durch ein Anfangswertproblem der Eulerschen Differentialgleichung charakterisiert, und für solche zentralen Felder ist auch die Verbindung des Anfangspunktes mit jedem Punkt innerhalb des Feldes durch eine Extremale gewährleistet, also aufgrund des schlichten Überdeckens durch die Extremalenschar ist das spezielle “Randwertproblem” für einen Anfangspunkt und einen beliebigen Feldpunkt (im Kleinen) gelöst. SCHWARZ andererseits konstruiert seine Felder von vornherein über Randwertprobleme, d.h. er suchte für ein gewisses Gebiet eine Extremalenschar, die für je zwei Punkte des Gebietes genau eine verbindende Extremale enthielt. Diese Schwarzschen Felder umfassen zentrale Felder, aber nicht umgekehrt. Allerdings hatte bereits WEIERSTRAß den schon mehrfach erwähnten Kunstgriff benutzt, für einen auf der Extremalen etwas “vorgezogenen” Anfangspunkt ein zentrales Feld zu konstruieren, das in der Umgebung des ursprünglich gegebenen Anfangspunktes als ein allgemeines Feld angesehen werden kann. Während SCHWARZ Felder nur für konkrete Probleme konstruierte und diese im allgemeinen Fall als gegeben ansah, hat WEIERSTRAß eine allgemeine Feldkonstruktion für die speziellen zentralen Felder ausgeführt. Die Entwicklung des Feldbegriffs bei SCHWARZ zeigt übrigens sehr deutlich, daß er vom speziellen Fall ausgeht und daß im Mittelpunkt seines Denkens stets konkrete Probleme stehen.270 Der Behandlung des Feldbegriffs schließt sich der Abschnitt über die zweite Variation an, in dem auch die konjugierten Punkte behandelt werden. Bei den obigen Feldern war durch die schlichte Überdeckung eines Gebietes das Vorhandensein konjugierter Punkte nicht problematisiert worden. SCHWARZ leitete dabei die entsprechenden weiteren notwendigen Bedingungen her (Heft 2, p. 61), auch die vierte Weierstraßsche Bedingung (Heft 2, pp. 63-67). Die Bedingungen zwischen Exzeßfunktion und der Funktion F1 werden ebenfalls erörtert und auf die Verallgemeinerungen hingewiesen, die in der vierten notwendigen Bedingungen erscheinen, da sich F1 nur auf die Extremale bezieht (Heft 2, p. 71). In den Worten von FIELDS faßte SCHWARZ so zusammen: “We may then make Annahme that we can construct an einfach unendliche Schaar of G-Curven within a certain finite area about P1P2 so that within this area none of curves of Schaar intersect. Connect P1P2 by another curve lying inside this area. […] 270. Siehe hierzu H. Hancock, Lectures on the calculus of variations, Cincinnati, University Press, 1904. Das Buch enthält im Kapitel 3 sachlich (aber nicht historisch korrekt) die Schwarzschen Überlegungen.
DIE WEIERSTRAßSCHE WENDE
J 12 – J12 =
267
∫ ε ( x, y, p, q, p, q ) ds .
We had for 4th notwendige Bedingung eines Min. that ε must be +ve [positve] along curve + [and ] in also inside a gewisser Nachbarschaft. If however that the case our int. [integral] just stated for the vollständige var.[iation] must be +ve [positive] + [and] we therefore have a min. If ε is -ve [negative] all along the curve then within a certain finite Nachbarschaft above int. [integral] is -ve [negative] the vollständige var.[iation] for beliebige curve -ve [negative] + [and] ∴ [therfore] we actually have a max. Above cond.[ition] then is a sufficient cond. For max. or min. as well as a necessary cond.[ition]”. Die anschließend gegebenen Beispiele (Kettenlinie, Brachistochrone, Newtonsche Projektil-Aufgabe, Granattrichter) illustrieren die Tragweite der Methode. Die Kettenlinie kann hier in wenigen Zeilen resümiert werden. Es ist dabei interessant, daß die für die totale Variation benötigte Vergleichskurve dabei nicht allgemein bleibt, sondern spezialisiert wird: “We might here take as curve? [question mark by Fields] C as part of tangs. [tangents] intersecting in T on directrix our pts. [points] P0 , P1 being supposed to be included between the pts. of contact P', P". Our Schaar of G curves may then supposed to be “embedded” between the two tangs. P'T, P"T none of them intersecting inside the area bounded by arc P'P" and the two tangs. Inside area P'T P" then we may have no fear of striking any conjugate points. We have then a min. For surface of rotation developped by arc P0P1 by virtue of our fourth condition”. (Heft 2, p. 72) In seiner “Festschrift” hat SCHWARZ diese spezielle Situation bei einer Rotationsfläche auf Minimalflächen schlechtweg übertragen (Art. 23).271 Über den außerordentlichen Einfluß dieses Beispiels für die Entwicklung der Schwarzschen Vorstellungen schlechthin siehe den Abschnitt 3.7.2 “Festschrift”. 3.7.1.4 Vorlesung Variationsrechnung SS 1903 Die Mitschrift ist von OTTO TOEPLITZ (1881-1940) angefertigt worden, und der geringe Umfang von 33 Seiten läßt trotz der sehr sorgfältig Ausführung vermuten, daß die Ausarbeitung unvollständig ist. Das wird auch durch den Inhalt nahe gelegt. TOEPLITZ hat von 1900 bis 1905 in Breslau studiert, wobei er auch zwei Semester in Berlin und Göttingen verbrachte. In einem eigenhändig geschriebenen Lebenslauf für die Philosophische Fakultät der Universität Bonn gab TOEPLITZ GEORG FROBENIUS, EDMUND LANDAU (1877-1938), DAVID HILBERT und MEYER HAMBURGER (1839-1903) als die Mathematiker an, die auf ihn gewirkt hätten, aber nicht SCHWARZ.272 271. “Festschrift Helsingfors”, 39, Acta Societatis scientiarum Fennicae, 15 (1885), 315-362, 41; Gesammelte Mathematische Abhandlungen, Bd. 1, Berlin, Springer, 1890, 223-269, 267. 272. S. Hildebrandt, P.D. Lax, “Otto Toeplitz”, Bonner Mathematische Schriften, 319 (1999), Mathematisches Institut der Universität Bonn, 63 S.
268
KAPITEL 3
Diese Vorlesungsausarbeitung enthält keine hinreichenden Bedingungen. Für uns sind aber die Ausführungen über die Kettenlinie interessant: “In einer Ebene sind gegeben eine Gerade und zwei auf derselben Seite dieser Gerade liegende Punkte. Unter welcher Bedingung ist es möglich, durch diese beiden Punkte eine Kettenlinie zu legen, für welche die gegebene Gerade die Direktrix-Linie ist” (Seiten 16-18), die SCHWARZ als genaue Wiedergabe einer Ausarbeitung aus dem Jahre 1876 kennzeichnete und anmerkte, daß er durch WEIERSTRAß zu der Ausarbeitung angeregt worden sei.273 Hier wird das Randwertprobleme bei der Kettenlinie diskutiert bzw. es wird für das Problem der minimale Rotationsfläche ein Feld konstruiert. Allerdings besprach SCHWARZ die Tragweite seiner Überlegungen an dieser Stelle nicht, bemerkte jedoch: “Mit dem Vorstehenden [Lösung des Randwertproblems] ist die behandelte spezielle Aufgabe keinesfalls erledigt” (S. 19). Die weitere Behandlung des Problems endet in der Mitschrift auf der vorletzten Seite mit der Aufstellung der zugehörigen Eulerschen Differentialgleichung in der Weierstraßschen Form, was wohl ein Indiz für die Unvollständigkeit der Mitschrift ist. Alle diese Überlegungen von SCHWARZ sind übrigens 1904 ausführlich von HARRIS HANCOCK in sein Buch Lectures on the Calculus of Variations274 in das Kapitel 3 (Seiten 30-53) aufgenommen worden, dabei ist aber – wenn auch aus anderen Gründen – keine Verbindungen zum Feldbegriff geknüpft worden. Es ist bemerkenswert, daß SCHWARZ die Aufgabe nicht als Parameterproblem behandelte. Erwähnenswert ist ebenfalls, daß SCHWARZ die Problematik eines Variationsproblems nicht für ein Kurvenproblem, sondern gleich für ein Flächenproblem erläuterte, wenn auch für einen speziellen Typ, nämlich für die minimale Rotationsfläche. Das ist bei dem Interesse von SCHWARZ für Minimalflächen nicht überraschend. Zudem ist die analytische Fassung einer minimalen Rotationsfläche als Funktionenproblem durch ein einfaches Integral angegeben (S. 1f.). Übrigens ist durch ein Versehen von SCHWARZ oder TOEPLITZ angemerkt, daß das “zuerst Weierstraß in seiner Vorlesung von 1884 [Parameterdarstellungen von Variationsproblemen] vorgeschlagen und durchgeführt hat” (S. 20). Wie sehr die Klärung des Begriffs Minimum oder Maximum stets im Vordergrund der Weierstraß-Schwarzschen Untersuchungen gestanden hat, mag an einer Notiz aufgewiesen werden, die sich FIELDS hierzu gemacht hat: “Under a Gesammtheit of linien joining two pts. [points] on sphere find shortest. And for any problem in Var.rechn. [Variationsrechnung] notice that we have to do with a Gesammtheit defined in some way. Notice that throughout math.al.[mathematical] problems so stated for solution the quantities with
273. H. Hancock, der bei Schwarz die Variationsrechnung 1894 gehört hatte, hat offensichtlich diese Passagen in seinem Buch Lectures on the Calculus of Variations (Cincinnati 1904) im Kapitel 3 wiedergegeben. 274. Cincinatti, University Press, 1904.
DIE WEIERSTRAßSCHE WENDE
269
which we have to do being defined”. J.C.F. [J.C. Fields] (Vorlesung 1898, Heft 1, p. 4) 3.7.1.5 Die Vorlesungen über Minimalflächen im WS 1882 und WS 1887 Eine (reguläre, parametrisierte) Fläche F deren mittlere Krümmung H überall verschwindet, heißt Minimalfläche. Der Zusammenhang mit der Fläche kleinsten Inhalts (also mit einer Fragestellung aus der Variationsrechnung) ergibt sich durch den Sachverhalt, daß solche Minimalflächen auch Extremalen des Funktionals J(F) für den Flächeninhalt sind, wobei sich δJ(F) = 0 bzw. die Euler-Lagrangesche Differentialgleichung275 auf das Verschwinden der mittleren Krümmung reduzieren läßt: H = 0.276 Minimalfläche zu sein heißt also zunächst nicht, Fläche mit minimalen Inhalt zu sein, sondern bedeutet lediglich, ein Flächenstück mit stationärem Flächeninhalt zu bezeichnen. Das sogenannte Plateausche Problem aus der Theorie der Minimalflächen277, durch eine Raumkurve eine Minimalfläche zu legen, läßt sich physikalisch durch eine Gleichgewichtslage von Flüssigkeitslamellen verwirklichen. “Die Stabilität der Seifenblase ist identisch mit der Frage, ob das Minimalflächenstück wirklich von kleinstem Inhalt ist für eine möglichst kleine Variation.”278 Der Zusammenhang von Minimalflächen mit der Theorie der analytischen Funktionen ist Gegenstand einer Reihe von Monographien und Artikeln.279 SCHWARZ hatte in seiner Antrittsrede in der Berliner Akademie am 29. Juni 1893 ausgeführt: “Die Beschäftigung mit den Flächen kleinsten Flächeninhalts hatte für mich die eingehende Beschäftigung mit den Grundlagen der Variationsrechnung […] zur nothwendigen Folge.”280 GEORG HAMEL hat in
275. J.-L. Lagrange, “Essai d’une nouvelle méthode”, Miscellanea Soc. Taurinensia, 2 (176061), 173-195; auch in: Oeuvres, Bd. 1, Paris, Gauthier-Villars, 1867, 335-362. 276. J.-B. Meusnier, “Mémoire sur la courbure des surfaces”, Mémoires de Mathématiques et Physiques présentés à l’Académie royale des Sciences, Paris, 10 (1785), 477-510 (lu 1776). 277. J.A.F. Plateau, Statique expérimentale et théorie des liquides soumis aux seules forces moleculaires, 2 vols, Gand, 1873. Die mathematische Frage, welcher Art der Rand sein dürfe (beispielsweise stetig und doppelpunktfrei), um die Existenz einer entsprechenden Minimalfläche zu gewährleisten, ist bereits ein schwieriger Bestandteil des Problems. Siehe etwa J. Douglas, “The problem of Plateau”, Bulletin of AMS, 39 (1933), 227-251; “The most general form of the problem of Plateau”, American Journal of Mathematics, 61 (1939), 590-608. 278. Vorlesung über Minimalflächen, S. 62. Nl. Schwarz 144. Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. 279. G. Darboux, Théorie des surfaces, t. 1, Paris, Gauthier-Villars, l884, livre vii; G. Scheffers, Anwendung der Differential du Integralrechnung auf Geometrie, Bd. 2, Einführung in die Theorie der Flächen, Leipzig, B.G. Teubner, 1902; P. Ullrich, “Weierstraß als (Differential) Geometer”, R. Thiele (Hrg.), Mathesis, Berlin, GNT-Verlag, 2000, 216-249; bündig in J. Jost, Differentialgeometrie und Minimalflächen, Berlin, Springer, 1994, Abschnitt 4.3. 280. Monatsberichte der Berliner Akademie, 1893, 623-626, Zitat 624. – Über die WeierstraßEnnerperschen Formeln, die Minimalflächen und konforme Abbildungen in Verbindung bringen, ergibt sich eine ebensolche Beziehung zur komplexen Funktionentheorie.
270
KAPITEL 3
seiner bereits erwähnten Gedächtnisrede zum Thema Minimalflächen bemerkt: “Sieht man endlich die große Reihe der Arbeiten zur Theorie der Minimalflächen durch, so fällt einmal die stattliche Zahl einzelner, bis zu Ende bestimmter Minimalflächen auf, die Schwarz in seiner großen Liebe und Sorgfalt nicht müde wurde, genau zu berechnen, zu zeichnen, zu modellieren, und schließlich mittels Seifenwasser experimentell herzustellen. Andererseits die wahrhaft bedeutende, zuerst von ihm durchgeführte Untersuchung des wahren Minimums, wobei er sich wieder als vollwertiger Schüler von Weierstraß erweist, und doch auch mit ganz neuen Gedanken in die Zukunft deutet: hier wird zum erstenmal ein Problem der Variationsrechnung bei mehrfachen Integralen mit modernen Methoden gelöst, indem Schwarz ein Extremalenfeld konstruiert.”281 Das Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie bewahrt zwei Mitschriften von Vorlesungen zu den Minimalflächen auf, die vom WS 1882 bzw. 1887 sind.282 Die erste Mitschrift ist kurz, nur 47 Seiten mit einem 20seitigen Anhang; die zweite Mitschrift ist mit 137 Seiten umfangreicher – beide sind ohne Inhaltsverzeichnis. Die zweite Vorlesung hatte SCHWARZ am 27. Juni 1887 WEIERSTRAß brieflich angekündigt: “Ich denke in dem nächsten Semester eine dreistündige Privatvorlesung über Minimalflächen zu halten und beabsichtige in dieser Vorlesung auf das Geschichtliche ausführlicher einzugehen”. Die für die Genese des Schwarzschen Feldbegriffs wichtige Eigenschaft des Catenoids führte SCHWARZ in beiden Vorlesung an. Wir zitieren aus der Vorlesung von 1887: “Der Inhalt eines Minimalflächenstückes [eines Catenoids] ist dem Flächeninhalt eines Kegels gleich, der die Minimalfläche längs ihrer Begrenzung berührt und dessen Spitze im Anfangspunkt liegt.”283 Als Quellen führte SCHWARZ Arbeiten von RALPH A. ROBERTS, JOHN HEWITT JELLET (1817-1888) und vor allem LORENZ LINDELÖF an.284 Über den Einfluß von LINDELÖF siehe Abschnitt 3.8. Während die erste Mitschrift zu unserem Thema wenig beisteuert, zeigt die zweite von 1887, wie SCHWARZ das Weierstraßsche Konzept, Flächenstreifen mittels Normalen zu erklären, ins Zweidimensionale übertragen hat. Nachdem er die erste Variation des Problems analytisch ermittelt hatte, gab er eine geo281. G. Hamel, “Zum Gedächtnis an Hermann Amandus Schwarz”, Jahresbericht der DMV, 32 (1923), 6-13, Zitat 10. 282. Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie, Nachlaß Schwarz, 144 bzw. 145. 283. aaO., Nachlaß Schwarz 145, S. 60; in der Vorlesung von 1882, Nl. Schwarz 144, S. 62. 284. R.A. Roberts, “On a theorem in the calculus of variations”, The messenger of mathematics, 15 (1885-86), 148-152; J.H. Jellett, An elementary treatise on the calculus of variations, Dublin, McGlashan, 1850, dtsch von H.C. Schnuse, Die Grundlehren der Variationsrechnung, Braunschweig, Leibrock, 1860; L. Lindelöf, Calcul de variations, Bd. 4, in F.N.M. Moigno, Leçons sur le calcul différentiel et intégral, Paris, Mallet-Bachelier, 1861.
DIE WEIERSTRAßSCHE WENDE
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metrische Herleitung, bei der er darauf verwies, daß diese auf Minimalflächen beschränkt sei. In diesem Gedankengang findet sich folgende Konstruktion: “Es werde ein einfach zusammenhängendes Flächenstück frei variiert, wobei dann einem bestimmten Punkte des alten Flächenstücks ein bestimmter des neuen zugehört. Die Art, wie die Beziehung der Punkte aufeinander geschieht, ist gleichgültig, da es nur darauf ankommt, zu finden, wie groß die Änderung des Flächeninhalts bei der Variation ist; man denke sich in allen Punkten des alten Flächenstücks Normalen construiert, so wird die Gesammtheit derselben ein Stück aus dem neuen Flächenstück herausschneiden so, daß ein Flächenstreifen übrigbleibt.”285 Die in Rede stehende Formel der ersten Variation besteht aus zwei Teilen: einem Doppel- und einem Randintegral. SCHWARZ deutete das Randintegral im Fall von Minimalflächen geometrisch und erhielt so den Satz, daß eine auf einer gegebenen Fläche bewegliche Minimalfläche diese senkrecht zu treffen habe (S. 56f.).286 Diesen Satz führte er auf den belgischen Mathematiker ANATOLE HENRI ERNEST LAMARLE (1806-1875) zurück, der ihn 1863 in der Form publiziert hatte: “Wenn eine Schar von Minimalflächen von einer anderen Fläche (Röhrenfläche) orthogonal durchsetzt wird, so haben alle Minimalflächenstücke, welche durch die Röhrenfläche ausgeschnitten werden, gleich großen Flächeninhalt.”287 Die Art, wie man beim Variieren Flächen aufeinander bezieht, hatte SCHWARZ im oben angeführten Zitat letztlich als gleichgültig hingestellt und selbst hierzu die Flächennormalen benutzt. ADOLF KNESER hat gleichfalls mittels der Normalen variiert. In der ersten Auflage seines Lehrbuches der Variationsrechnung (1900)288 wird im Anschluß an Untersuchungen konjugierter Punkte von Extremalen bei eindimensionalen Variationsproblemen der Normalabstand ω zweier benachbarter Extremalen eingeführt (d.h. deren Distanz auf der Normalen N mit den Richtungskosinus X, Y) und mit ω ⋅(X, Y) wird eine Normalvariation erklärt (S. 90 f.). KNESER wies darauf hin, daß unter diesen Umständen der Scharparameter einer Schar in höherer als erster Ordnung erscheint. Mithin ist die Beschränkung auf Normalvariationen nicht sehr einschneidend, da man Variationen in tangentialer Richtung durch geeignete Umparametrisierung erhält (S. 91f.). Entsprechend fällt die Normalvariation für Flächen aus (S. 286). Die zweite Auflage seiner Variationsrechnung (1925)
285. Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie, Nachlaß Schwarz, 145, S. 54. 286. C.F. Gauß, “Principia generalia theoriae figurae fluidorum”, Commentationes Societatis Regiae scientarium Göttingensis, 7 (1828-1831), 39-88; auch in: Werke, Bd. 5, Göttingen, 1867. 287. Vorlesung 1887. Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie, Nl. Schwarz 145, S. 57; Lamarle, Exposé géom. Du calcul différentiel et intégral, Bruxelles, Mém. Couronn. Zum Lamarleschen Satz siehe D. Weaire und S. Hutzler, The physics of foames, Oxford, University Press, 2001, Appendix C. 288. A. Kneser, Lehrbuch der Variationsrechnung, Braunschweig, Vieweg, 1900, 21925.
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KAPITEL 3
bringt die gleichen Erklärungen (S. 30, 340); wir zitieren für den Fall der Flächen: “Bei einer solchen [Normalvariation] schneidet die Verbindungslinie der Punkte (x, y, z) und (x +δx, y + δy, z + δz) die Fläche S senkrecht und der Abstand der beiden Punkte ist ±ω, je nachdem die Richtung vom ersten zum zweiten mit der Normale N, deren Richtungskosinus ξ, η, ζ sind, übereinstimmt oder ihr entgegengesetzt ist. Wenn δx, δy, δz an der Randlinie [des Flächenstücks S ] verschwinden, so gilt dasselbe von ω”. (S. 340) Auch hier wies KNESER darauf hin, daß in die totale Variation ∆J Ausdrücke von ω und den partiellen Ableitungen von ω nur von wenigstens dritter Ordnung eingehen (S. 286). Eine entsprechende Rechnung für den Parameter t findet sich in dem Buch Differentialgeometrie und Minimalflächen von JÜRGEN JOST (geb. 1956).289 Eine moderne Fassung könnte so lauten: Es sei x ein auf U ⊂ R2 reguläres und durch u, v parametrisiertes Flächenstück F des R3. Für ein beschränktes Gebiet D ⊂ U sei eine Funktion h : D → R+ erklärt. Dann hat die durch h bestimmte Normalvariation ϕ : D × (-ε, ε) → R3 von x in D die Darstellung ϕ(u, v, t) = xt(u, v) = x(u, v) + t⋅h(u, v)⋅N(u, v),
(u, v) ∈ D, t ∈(-ε, ε),
und liefert für hinreichend kleine t wieder ein Flächenstück (siehe Abbildung 3.14).
Abb. 3.14. Normalvariationen für Flächen
3.7.2 Die “Festschrift” von 1885 und verwandte Arbeiten Am Ende des Briefes von SCHWARZ an WEIERSTRAß vom 16. März 1885 lesen wir eine interessante Bemerkung über seine neuesten Untersuchungen: 289. Berlin, Springer, 1994, 38 f.
DIE WEIERSTRAßSCHE WENDE
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“Ich muß für heute schließen, da es schon spät geworden ist und ich den Brief noch zur Bahn bringen muß. Die beste Nachricht habe ich bis zuletzt aufgespart. Es ist mir jetzt vollständig und in sehr einfacher Weise gelungen, alle die Schwierigkeiten zu überwinden, von denen ich Ihnen bezüglich der Frage des wahren Minimums eines Minimalflächenstücks bei meiner Anwesenheit in Wilhelmshöhe erzählt habe; mit anderen Worten, ich besitze die ganze Theorie des Minimums des Integrals
∫∫ T
2 2 ⎛ ∂ω ------- ⎞ ⎛ ∂ω -------⎞ ⎝ ∂x ⎠ + ⎝ ∂y ⎠ dx dy , wenn
∫ ∫ pω
2
dx dy = 1
T
vorgeschrieben ist. p bezeichne eine gegebene positive Funktion des Ortes im Bereiche T. Die Randbedingungen für ω sind so beschaffen, daß ω vorgeschriebene Werthe längs des Randes von T annehmen soll, die sich längs des Randes stetig ändern. Der Bereich T ist keinen anderen Randbedingungen unterworfen als denen, […] in dem im Jahre 1870 von Ihnen der Berliner Akademie vorgelegten Aufsatze290.” Die erwähnten Resultate fanden ihren Niederschlag in der Arbeit Ueber ein die Flächen kleinsten Flächeninhalts betreffendes Problem der Variationsrechnung,291 die SCHWARZ anläßlich des 70. Geburtstages von WEIERSTRAß seinem verehrten Lehrer mit dem Untertitel Festschrift zum Jubelgeburtstage des Herrn Karl Weierstraß gewidmete hat und die von ihm selbst kurz als Festschrift bezeichnet worden ist (siehe Abbildung 3.15).292 ERNST HÖLDER hat die Thematik der Festschrift in Zusammenhang mit einer Weierstraßschen Tradition gebracht, die H.A. SCHWARZ fortsetzte: “Schon der Name des Weierstraßschen Extremalenfeldes deutet auf die differentialgeometrische Natur der Begriffsbildung, und man hat Grund zur Annahme – auch mein Vater hat es immer wieder erzählen hören –, daß Weierstraß, der Algebraiker und Funktionentheoretiker der Potenzreihen, in seinem Seminar in früheren Jahren viel mehr solche geometrischen Dinge – wie etwa Minimalflächen – behandelt hat, deren Untersuchung dann sein Schüler H.A. Schwarz fortgesetzt hat. Darauf weist auch die Widmung hin, die Schwarz seiner Festschrift […] vorangestellt hat. Die Frage, deren Bearbeitung 20 Jahre früher Weierstraß einigen seiner Zuhörer empfohlen habe, betrifft die
290. K. Weierstraß, “Über das sogenannte Dirichletsche Princip”, Berichten der Berliner Akademie; auch in Mathematische Werke, Bd. 2, Berlin, Mayer & Müller, 1895, 49-54. 291. Helsingfors: Druckerei der Finnischen Literatur-Gesellschaft 1885 (2 Abdrucke); auch in Acta Societatis scientarium Fennicae, 15 (1885), 315-362 (erst 1888 ausgegeben), auch in Gesammelte Mathematische Abhandlungen, Bd. 1, Berlin, Springer, 1890, 223-269, dort Ergänzungen auf 332-335. 292. Eine Widmung der Festschrift enthält die Bemerkung, daß Schwarz – um Weierstraß “durch eine wissenschaftliche Arbeit eine Freude zu bereiten” – eine Frage wieder aufgenommen habe, “deren Bearbeitung Sie [Weierstraß] vor zwanzig Jahren einigen Ihrer Zuhörer empfohlen haben” (Festschrift Helsingfors 1885, unpaginierter Vorsatz), siehe Fußnote 293.
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KAPITEL 3
wirkliche Annahme des Minimums der Oberfläche durch ein Minimalflächenstück.”293 In der Festschrift wurde die erste Definition eines mehrdimensionalen Feldes gegeben: “Es sei gegeben eine von einem Parameter abhängende, einfach unendliche Schaar von Minimalflächenstücken M, M ', M '', …M∗ ,
welche so beschaffen sind, dass keine zwei zu verschiedenen Werthen des Parameters gehörenden Flächenstücke dieser Schar einen gemeinsamen Punkt besitzen, und dass für je zwei unendlich benachbarte Flächenstücke dieser Schar die in dem vorhergehenden Art. angegebenen auf die Flächenstücke M und M ' sich beziehenden Voraussetzungen erfüllt sind.”294
Abb. 3.15. a) Felddefinition in der Festschrift.
293. E. Hölder, “Das Eigenwertkriterium der Variationsrechnung zweifacher Integrale”, Bericht über die Mathematikertagung in Berlin 1953, Berlin, Dtsch. Verlag der Wissenschaft, 1953, 291-302, Zitat 292. Die Schwarzsche Widmung lautet: “Um Ihnen zu dem Tage, an welchem Sie auf 70 Lebensjahre zurückblicken, durch eine wissenschaftliche Arbeit eine Freude zu bereiten, habe ich die Beschäftigung mit einer Frage wieder aufgenommen, deren Bearbeitung Sie vor zwanzig Jahren einigen Ihrer Zuhörer empfohlen haben. Das Ergebnis, zu welchem ich durch Anwendung von Schlussweisen, die von Ihnen ausgebildet worden sind, gelangt bin, enthalten die folgenden Blätter”. 294. Festschrift Helsingfors, 2; Gesammelte Mathematische Abhandlungen, Bd. 1, Berlin, Springer, 1890, 225.
DIE WEIERSTRAßSCHE WENDE
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Abb. 3.15. b) Titelblatt der Festschrift für Weierstraß (1885).
Die hier erwähnten Voraussetzungen sind folgende: Die beiden Flächenstücke sollen unendlich benachbart sein. Durch die (gleichfalls unendlich
276
KAPITEL 3
benachbarten) Ränder der Flächen soll sich eine Fläche legen lassen, auf der die beiden Randlinien einen gürtelförmigen Flächenstreifen G ausschneiden. Als diffeomorphes Bild eines allgemeinen Feldes führt SCHWARZ das Beispiel an: “Der einfachste Fall einer solchen Schaar von Minimalflächenstücken wird offenbar dann erhalten, wenn man voraussetzt, dass alle der Schaar angehörenden Flächenstücke eben, und dass die Ebenen, denen dieselben angehören, einander parallel sind” (S. 3 bzw. S. 226). Unter diesen Annahmen, wobei noch stillschweigend der Gaußsche Satz für den gürtelförmigen Flächenstreifen als gültig unterstellt wird, erhielt SCHWARZ einen Ausdruck für die totale Variation, den sogenannten Fundamentalsatz: J( F) – J(M ) =
∫ ∫ ( 1 – cos ω ) dF ,
wobei F ein stückweise analytisches Flächenstück und M eine Fläche der Schar sind sowie ω der zur Normalen gehörende Winkel ist (S. 4 bzw. S. 227). SCHWARZ selbst: “In der That kann der geforderte Nachweis mittels des in den vorhergehenden Artikeln dargelegten Beweisverfahrens für jedes Minimalflächenstück M geführt werden, für dessen beide Seiten eine das Flächenstück M enthaltende Schaar von Minimalflächenstücken construirt werden kann, welches so beschaffen ist, dass der Abstand je zwei unendlich benachbarter Flächenstücke der Schaar überall eine unendlich kleine Grösse derselben Ordnung ist. […] Es gilt dann der Satz: Jede nicht in ihrer ganzen Ausdehnung mit dem Minimalflächenstücke M zusammnefallende, aus einer endlichen Zahl von analytischen Flächen bestehende zusammenhängende Fläche F, deren vollständige Begrenzung von der Begrenzung des Minimalflächenstückes M gebildet wird, und welches so beschaffen ist, dass alle Punkte dieser Fläche dem Raume R [der verallgemeinerte Flächenstreifen bzw. des Feldes] angehören, besitzt grösseren Flächeninhalt, als das Minimalflächenstück M.”295 ADOLF KNESER hat in der zweiten Auflage seines Lehrbuchs der Variationsrechnung (1925) über die Konstruktion von Feldern für Minimalflächen folgendes bemerkt: “Felder von Minimalflächen sind leicht herzustellen, da es vielerlei Transformationsgruppen gibt, die Minimalflächen in Minimalflächen überführen. Wenn z.B. von irgendeinem solchen Flächenstück keine Tangente durch den Punkt 0 geht, kann man es einer Reihe von stetigen Ähnlichkeitstransformationen mit 0 als Ähnlichkeitszentrum unterwerfen und erhält dadurch ein singularitätenfreies Feld [d.h. eines, das die Jacobische Bedingung erfüllt]; ein Minimalflächenstück der bezeichneten Art bietet also in der Tat ein Extrem der
295. Artikel 7 in der Festschrift, 11.
DIE WEIERSTRAßSCHE WENDE
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Fläche dar [da die Exzeßfunktion bei Minimalflächen nicht negativ ist und nur in ordentlicher Weise verschwindet]”. (S. 335) In der ersten Auflage fehlten solche Betrachtungen noch. Es ist erwähnenswert, daß SCHWARZ in seiner Festschrift darauf verweist, hier eine Frage bearbeitet zu haben, die WEIERSTRAß zwei Jahrzehnte zuvor einigen seiner Zuhörer im Mathematischen Seminar empfohlen habe. Das weist zum einen SCHWARZ nicht nur als einen Schüler von WEIERSTRAß aus, der dessen Untersuchungen fortsetzte, sondern es zeigt zum anderen auch, daß in jener Zeit sich das Seminar auch sehr geometrische Themen wie etwa denen der Minimalflächen zugewandt hatte. PAUL FUNK (1886-1969) hat eine hydrodynamische Veranschaulichung zweidimensionaler geodätischer Felder im x,y,z-Raum gegeben, indem er die Normalen der Flächenschar in Verbindung mit einem Geschwindigkeitsvektor v = (a, b, c) einer Strömung brachte.296 Dieses Bild läßt sich in unserem Zusammenhang so verwenden: Die Stromlinien, durch entsprechende Zuordnung der Normalen definiert, tragen durch das Feld in jedem Punkt ein Flächenelement der Schar, und die Strömung drückt aus, wie sich im Laufe der Zeit das Feld aus der Minimalfläche M entfaltet, d.h. die durch die Strömung transportierten Flächenelemente (Tangentialflächen) schließen sich dabei wieder zu Flächen. Die mathematischen Voraussetzungen garantieren eine quellenfreie Strömung v, also ist div v = 0. Die Stromlinien durchsetzen alle Flächen der Schar senkrecht, damit ist a dx + b dy + c dz = 0 überall in einer Umgebung U(M) der Extremalen integrabel (Hilbertsche Unabhängigkeitsbedingung) bzw. es gilt in U(M) die Gleichung v rot v = 0 (notwendige und hinreichende Bedingung, daß das Differential mit einem Multiplikator ein vollständige Differential wird). Bei SCHWARZ werden diese Forderungen im Feld, d.h. in einer gewissen Umgebung U(M) erhoben, während bei einem verallgemeinerten geodätischen Feld (im Sinne von ANDRÉ ROUSSEL (1904-1992), HERMANN BOERNER (19061982) oder ROLF KLOETZLER (geb. 1931)) entsprechende Forderungen nur auf M beschränkt werden, aber nicht in der Umgebung von M als gültig angenommen werden (siehe die Abschnitte 5.4.2, 5.8, 5.9.3 und Kapitel 7). Die Schwarzschen Forderungen sind geometrisch “sachgemäß” und anschaulich; die Forderungen im geodätischen Feld hingegen sind rein analytischer Natur, und es spielt bei ihnen keine Rolle, ob sich die auf den Stromlinien definierten Flächenelemente in anschaulicher Weise als Tangentialflächen einer Schar erweisen oder nicht. SCHWARZ arbeitete mit einem vollintegrablen Feld, während geodätische Felder Integrabilität nur auf der Extremalen selbst verlangen.
296. P. Funk, Variationsrechnung und ihre Anwendungen in Physik und Technik, Berlin, Springer, 1962, 378.
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Die “Frage, innerhalb welcher Grenzen ein Stück einer Minimalfläche wirklich ein Flächenstück kleinsten Inhalts ist, ist eine Frage, deren Beantwortung mich mehr als 13 Jahre hindurch beschäftigt hat”, bekannte SCHWARZ in seiner Antrittsrede in der Akademie 1893.297 Auch in Briefen an WEIERSTRAß hatte er sich so geäußert: “Es ist doch kaum zu erwarten, daß es gelingen wird, für solche Fälle die Betrachtungen zu verallgemeinern, welche in meinem Falle nach zwölfjährigem vergeblichen Bemühen im dreizehnten Jahr zum Ziel geführt haben. Ist Ihnen diese Schwierigkeit schon früher bekannt gewesen[,] und wie haben Sie dieselbe überwunden?” (Brief vom 25. März 1886). Wenige Wochen später, am 7. Mai 1886, schrieb SCHWARZ folgende Zeilen: “Bezüglich der Variationsrechnung habe ich mich bemüht, die Behandlung der die Untersuchung der zweiten Variation ersetzenden Betrachtungen auf den Fall der relativen Maxima und Minima [Extrema unter Nebenbedingungen] bei Doppelintegralen wenigstens für die Flächen kleinsten Flächeninhalts, die ein vorgeschriebenes Volumen abgrenzen, auszudehnen. Ich bin auch zu Resultaten gelangt, die einen gewissen Grad an Allgemeinheit haben; aber leider ist die Allgemeinheit der Resultate, die ich gefunden habe, nicht übereinstimmend mit der Allgemeinheit der Fälle, welche möglich sind, und für welche der extreme Werth wirklich eintritt. […] Es macht mir dies große Sorge, denn es wäre doch sehr zu wünschen, daß mein in der Festschrift angemeldetes Verfahren wenigstens noch auf den Fall […] Anwendung finden könnte”. Am 9. Juni desselben Jahres wiederholte SCHWARZ die Klage, daß ihm der Hinlänglichkeitsbeweis bei isoperimetrischen Problemen “viele Sorgen [mache], weil es mir nicht gelingen will, allgemeine Beweise für die Existenz des Minimums aufzufinden”. Ein Jahr darauf, im Brief an WEIERSTRAß vom 27. Juni 1887, konstatierte SCHWARZ abermals die Notwendigkeit solcher Untersuchungen bei Doppelintegralen. In einer späteren Arbeit Ueber specielle zweifach zusammenhängende Flächenstücke, welche kleineren Flächeninhalt besitzen, als alle benachbarten, von denselben Randlinien begrenzte298, die am 2. Juli 1887 der Göttinger Akademie vorgelegt wurde, ist SCHWARZ im allgemeinen auf die Geschichte der Minimalflächen und dabei insbesondere auf die Pionierarbeit von WEIERSTRAß eingegangen: “Ein Theil der der Variationsrechnung eigenthümlichen Beweismethoden hat nämlich, soweit diese Methoden vor etwa zehn Jahren Gemeingut der 297. Monatsberichte der Berliner Akademie, 1893, 623-626, Zitat 625. – Weitere Ergebnisse dieses langjährigen Nachdenkens waren immerhin das Verfahren der sukzessiven Approximation und die Eigenwertkriterien bei Variationsproblemen. 298. Göttinger Berichte, 34 (1887); auch in: Gesammelte Mathematische Abhandlungen, Bd. 1, Berlin, Springer, 1890, 270-316. Die Korrekturen lagen bereits am 5. Juli vor.
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Mathematiker waren, durch eine von Herrn Weierstraß herrührende principielle Einwendung ihre vermeintliche Beweiskraft eingebüsst, so dass es sich als unumgänglich nothwendig herausgestellt hat, nach Aufstellung eines vollständigen Systems von Bedingungen, deren Erfülltsein für das Eintreten eines Maximums oder Minimums nothwendig ist und hinreicht, einige Hauptsätze der Variationsrechnung in neuer, einwurfsfreier Weise zu begründen”. (S. 275) WEIERSTRAß hat sich am 19. Juni 1887 in einem Brief an SCHWARZ zu dem zugeschickten Entwurf der Arbeit geäußert. Die entsprechende Passage ist nicht nur wegen der Weierstraßschen Redaktion am Schwarzschen Artikel interessant, sondern vor allem wegen des vorgestellten Programms (Quellenangabe siehe Fußnote 170). Dies auch gerade im Hinblick auf das kurz zuvor im Brief ausgesprochene Diktum, man publiziere keine Vermutungen. WEIERSTRAß erklärte anschließend: “[D]as dabei leitende Princip bleibt aber für alle Aufgaben dasselbe und [so] würde ich jetzt im Stande sein, für jedes specielle Problem das einzuschlagende Verfahren zu beschreiben, selbstverständlich unter der Voraussetzung, daß der Durchführung nicht, wie es leider in den meisten Fällen sich herausstellt, unüberwindliche Schwierigkeiten entgegenstehen”. WEIERSTRAß skizzierte sodann als Beispiel die Theorie für Doppelintegrale und gelangte dabei bis zu einer Exzeßfunktion der Art:
ε
= ( 1 – cos δ ) ε x' + y' + z' . 2
2
2
(δ ist eine Größe, die sich aus den Winkeln der Normalen gegen die positiven Koordinatenachsen ergibt). Im Brief vom 28. Juni 1887 gab WEIERSTRAß an, daß “[d]ie Absonderung des Factors 1 – cos δ von der Function ε muss sich für die einfachen Integrale schon in meiner letzten Vorlesung über Variationsrechnung [1884] finden.”299 Ein hinreichende Kriterium verlangt damit auf der betrachteten Fläche eine positive Größe ε . Der Bezug zu den Schwarzschen Betrachtungen über Minimalflächen ergab sich aus der Tatsache, daß für diese Flächen ε = 1 ist. WEIERSTRAß gab diese Beweisskizze: “Endlich muß dieselbe Bedingung erfüllt werden, die Sie in der “Festschrift” für eine Minimalfläche angegeben haben: es muß sich die Fläche S in einem Raum dergestalt einschließen lassen, daß es möglich ist, eine Schaar von Flächen S ', die alle derselben D[ifferential]-Gleichung wie S genügen, so zu bestimmen, daß durch jeden Punkt des genannten Raumes eine Fläche dieser Schar hindurchgeht. Die Untersuchung, ob diese Bedingung erfüllbar sei, und der Beweis, daß sie nothwendig ist, bildet jedenfalls den schwierigsten Theil der zu lösenden Aufgabe. Ich zweifle aber nicht daran, daß
299. Vorlesung Variationsrechnung, 1884, Mitschrift A1, 253.
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KAPITEL 3
sich ein Resultat herausstellen werde, welches dem Ergebnis, zu dem Sie für die Minimalflächen gelangt sind, ganz analog ist. […] Eine analoge Funktion existiert nun für jedes Problem der Variationsrechnung; die Bildungsweise derselben läßt sich ganz allgemein angeben”. (19. 6. 1887) SCHWARZ, der den Brief vom 19. Juni erst am Morgen des 27. Juni erhalten hatte, replizierte noch am gleichen Tage, daß er den Einwendungen gerecht werden wolle, und: “Ich werde diese Nacht und morgen so viel als möglich darüber nachdenken”. Am 2. Juli hatte er die Arbeit der Akademie vorlegen wollen, und diesen Termin galt es zu halten. In der Tat bringt die Schwarzsche Arbeit (vom 2. Juli 1887) im Druck einen entsprechenden Passus, der auf die mitgeteilten Weierstraßschen Vorstellungen Bezug nimmt (siehe weiter unten auf S. 283). Es ist von Interesse, auch eine der wenigen Stellen des Briefwechsels zu erwähnen, bei denen die freundschaftlich verbundenen Briefschreiber ihre Gedanken etwas polemisch austauschten. Es geht um Beiträge von LORENZ LEONARD LINDELÖF, der von 1857 bis 1874 Professor in Helsingfors (heute Finnland, seinerzeit Schweden) gewesen war und dessen Sohn ERNST LINDELÖF (1870-1946) ein bekannter Mathematiker ist. Von L. LINDELÖF gibt es ein Lehrbuch der Variationsrechnung, Leçons de calul des variations, das auch in dem Analysiskurs des Abbé FRANÇOIS NAPOLÉON MARIE MOIGNO (18041884) Leçons sur le calcul différentiel et intégral als Band 4 erschienen ist.300 In diesem Lehrbuch befindet sich die bekannte Lindelöfsche Tangentenkonstruktion aus dem Jahre 1860 (p. 209), die hinreichende Bedingungen für einen Bogen der Kettenlinie angibt, damit durch dessen Rotation um die Direktrix eine minimale Rotationsfläche entsteht.301 Weiterhin hat L. LINDELÖF die Minimumseigenschaften von Flächenstücken gewisser Zonen der Kettenlinie untersucht. SCHWARZ führte in seiner Vorlesung “Minimalflächen” im WS 1887 gleich die Feststellung an “Unter allen Rotationsflächen ist das Catenoid [Rotationsfläche der Kettenlinie] die einzige Minimalfläche” (S. 9), und erwähnte später den auf L. LINDELÖF zurückgehenden Sachverhalt: “Der Inhalt eines Minimalflächenstücks [eines Catenoids] ist dem Flächeninhalt eines Kegels gleich, der die Minimalfläche längs ihrer Begrenzung berührt und dessen Spitze im Anfangspunkt liegt” (S. 60).302 In seiner historischen Einleitung zur Arbeit Ueber specielle zweifach zusammenhängende Flächenstücke,
ε
300. L.L. Lindelöf, Leçons de calul des variations, Paris, Mallet-Bachelier, 1861; F.M. Moigno, Leçons sur le calcul différentiel et intégral, tom 4, Paris, 1861. 301. Siehe hierzu auch L.L. Lindelöf, “Sur les limites entre lesquelles la caténoïde est une surface minimale”, Mathematische Annalen, 2 (1870), 160-166. L. Bianchi hat in der Arbeit “Sopra un’estensione di un teorema di Lindelöf nel calcolo delle variazioni” (Rendiconti (Roma), 19 (1910), 705-711) das Lindelöfsche Problem verallgemeinert, wobei aber die Lindelöfsche Konstruktion erhalten blieb. 302. Vorlesungsmitschrift Minimalflächen WS 1887. Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie, Nachlaß Schwarz 145.
DIE WEIERSTRAßSCHE WENDE
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welche kleineren Flächeninhalt besitzen, als alle benachbarten, von denselben Randlinien begrenzten Flächenstücken (1887) kam SCHWARZ daher auch auf LINDELÖF zu sprechen: “Eine wesentliche Förderung erfuhr die Frage nach der kleinsten in vorgeschriebener Weise begrenzten Fläche durch Herrn Lindelöf. Derselbe hat in seinem im Jahre 1861 erschienenen Lehrbuche der Variationsrechnung im Anschlusse an eine Untersuchung über die zweite Variation des Flächeninhalts von Zonen des Catenoids, welche durch Parallelkreise begrenzt werden, einige das Catenoid betreffende specielle Lehrsätze veröffentlicht, welche über die in Rede stehende Frage viel Licht verbreiten und mir bei meinen eigenen [Untersuchungen über] Minimalflächen von größtem Nutzen gewesen sind. Die Lehrsätze, zu denen Herr Lindelöf gelangte, […] enthielten […] den an speciellen Beispielen geführten Nachweis, dass es Fälle gibt, in welchen ein Stück einer Minimalfläche nicht kleineren Flächeninhalt besitzt, als alle ihm nahe liegenden Flächenstücke, welche von derselben Randlinie begrenzt werden. Durch die von Herrn Lindelöf angestellte Untersuchung war somit, obgleich dieselbe sich nur auf eine specielle Fläche bezieht, thatsächlich bewiesen, dass das Verschwinden der ersten Variation des Flächeninhalts eines Flächenstücks nicht ausreicht, um den Schluss zu gestatten, dieses Flächenstück besitze unter allen ihm hinreichend nahe kommenden, von derselben Randlinie begrenzten Flächenstücken den kleinsten Flächeninhalt, dass vielmehr das Eintreten des Minimums noch von dem Erfülltsein anderer Bedingungen abhängig sein müsse.”303 Nachdem der Entwurf WEIERSTRAß mit der Bitte um dessen Kritik erreicht hatte, antwortete dieser am 19. Juni 1887 – nicht ohne Bedenken, aber mit der einem “treuen Freunde und Schüler schuldigen” Offenheit: “Dagegen ist es, ich kann das nicht verhehlen, eine Übertreibung und könnte Leute, die nicht vollständig mit der Sachlage vertraut sind, irre führen, wenn Sie von Lindelöf’s Untersuchungen über das Catenoid sagen, daß durch sie “ein entscheidender Wendepunkt in der Frage, um die es sich handelt, bezeichnet werde”. Lindelöf behandelt ja gar nicht das Catenoid als eine Fläche, die unter Festhaltung ihrer Begrenzung willkürlich variiert werden kann; er betrachtet nur solche Variationen desselben, bei denen es Rotationsfläche bleibt, d.h. er variiert nur ein einfaches Integral. Sein Verdienst ist es, für die Kettenlinie, die sich als Lösung eines Problems der gewöhnlichen Variationsrechnung ergibt, die conjugirten Punkte, wie ich sie nenne, wirklich bestimmt und dafür eine hübsche Construction gegeben zu haben, woraus sich dann folgern läßt, (und wirklich von L. gefolgert worden ist) daß ein Catenoid unter
303. H.A. Schwarz, “Ueber specielle zweifach zusammenhängende Flächenstücke, welche kleineren Flächeninhalt besitzen, als alle benachbarten, von denselben Randlinien begrenzten Flächenstücken”, Göttinger Nachrichten, 1887; auch in: Gesammelte Mathematische Abhandlungen, Bd. 1, Berlin, Springer, 1890, 270-316, Zitat 273 f.
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KAPITEL 3
Umständen auch als Rotationsfläche so variiert werden kann, daß sein Inhalt sich verkleinert, also sicher kein Minimum des Inhalts darbietet, wenn man es in beliebiger Weise unter Festhaltung seiner Begrenzung variieren darf. Dies Resultat ist also bloß durch Anwendung der beiden Jacobi’schen, auf einfache Integrale sich beziehenden Kriterien gewonnen”. Die Vorbehalte von WEIERSTRAß gegenüber LINDELÖF dürften auch durch die Tatsache hervogebracht oder bestärkt worden sein, daß ERNST KÖTTER, der sich am 15. März 1887 bei WEIERSTRAß habilitiert hatte, Fehler in einer Lindelöfschen Arbeit über ein Polyeder, das bei gegebener Oberfläche maximales Volumen besitzt, gefunden hatte (Brief von Weierstraß an Schwarz vom 11. März 1887). SCHWARZ war zunächst auf die Einwände gespannt (Brief vom 15. März 1887), fand diese aber schließlich zutreffend (Brief vom 29. Juli 1887). Wenn auch SCHWARZ ohne Zögern bereit war, den Wünschen seines hochverehrten Lehrers beim Druck der Arbeit nachzukommen, so hielt er am 27. Juni brieflich folgende Erwiderung für nötig, denn er betrachtete die Lindelöfschen Untersuchungen als sein Vorbild und demzufolge seine eigenen Resultate als Verallgemeinerungen Lindelöfscher Ergebnisse: “Wenn ich der Beschränkung auf die Variation des Catenoids als Rotationsfläche jetzt noch dieselbe Bedeutung beilegte, wie früher, so würde ich Ihnen unbedingt zustimmen; aber diese Beschränkung ist doch nur eine formale. Mittels meiner Formel, die ich bei Gelegenheit der Untersuchung der Kugel entwickelt habe, kann diejenige Variation, bei welcher sich die Fläche von einer Rotationsfläche entfernt, sogleich – unter Verkleinerung des Flächeninhalts – durch eine solche Variation ersetzt werden, welche wieder eine Rotationsfläche ergibt, und wenn dies bekannt ist, tritt der Einwand, daß Herr Lindelöf nur eine specielle Variation in Betracht gezogen hat, in den Hintergrund gegenüber der von ihm und zwar von ihm zuerst vorgenommenen Untersuchung einer Schaar von Minimalflächen mit einer einhüllenden Fläche. Ich kann wohl sagen, daß diese sehr hübsche Construction der conjugirten Punkte und, worauf ich noch mehr Gewicht lege, der Nachweis, daß die Kegelfläche denselben Flächeninhalt habe, wie die Zone des Catenoids in der Grenzlage, mir bei meinen Überlegungen außerordentlich nützlich gewesen sind, ich kann diese Betrachtungen geradezu als das Vorbild bezeichnen, nach dem ich gearbeitet habe. Bei allen meinen früheren Untersuchungen über Minimalflächen, bei denen der Flächeninhalt eine Rolle spielt, habe ich meine Schlüsse an diesen Lindelöf’schen Untersuchungen controlirt, ja die von mir gefundenen Sätze können in gewissem Sinn als bloße Verallgemeinerungen der Sätze des Herrn Lindelöf bezeichnet werden. Für mich und meine Studien bezeichnen daher die Lindelöf’schen Untersuchungen wirklich einen entscheidenden Wendepunkt. Es wäre nun zu überlegen, ob es sich vielleicht empfehlen möchte, eine subjective Einschränkung zuzufügen, z.B. “meines Erachtens”. Allerdings ist es nicht glücklich ausgedrückt, was ich gesagt habe;
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ich meinte nicht bloß die Untersuchung über die zweite Variation, sondern die ganze geometrische Untersuchung, die sich an diese anschließt. Aber wie werde ich dies ändern können”? Postwendend redigierte WEIERSTRAß am 28. Juni nochmals die historischen Teile; in den Gesammelten Abhandlungen betrifft das die untere Hälfte der Seite 271 sowie das obere Drittel der Seite 272, wo gemäß den Vorschlägen von WEIERSTRAß geändert wurde. Die letzten drei Absätze der Seite 272 über die zweite Variation sind wörtlich von WEIERSTRAß übernommen worden! WEIERSTRAß polemisiert abermals gegen LINDELÖF, da die Schwarzschen Zeilen den Eindruck erweckten, als ob mit L. LINDELÖF die Frage “der richtigen Principien […] zu erledigen sei”. Dann ging WEIERSTRAß zu folgender Argumentation über: “In Betreff des von dem Lindelöf’schen Buches Gesagten scheint mir nach wie vor eine Einschränkung notwendig zu sein. Schon aus einem äußeren Grund. Man weiß, daß Sie in neuerer Zeit Lindelöf näher getreten sind.304 Leute, welche meine Ansicht, daß Sie L.s Leistungen zu hoch anschlagen, theilen, Ihnen aber weniger freundlich gesinnt sind als ich, würden Ihnen den Vorwurf der Lobhudelei nicht ersparen. Davor möchte ich Sie gern bewahren. Ich billige es durchaus, wenn Sie hervorheben, was Sie der L.schen Arbeit für Ihre eigenen Untersuchungen verdanken. Aber Sie dürfen sich selbst nicht Unrecht thun. […] Auch ist es richtig, daß Sie mit Hülfe eines in Ihrer Arbeit über die Kugel enthaltenen Satzes meinen Einwand, daß L. nicht eine beliebige Variation des Catenoids betrachte, beseitigen können. Aber L. hat weder jene Beweismethode, noch diesen Satz angewandt. Ich glaube, der Sachverhalt würde richtig dargestellt werden und zugleich Ihrem Gerechtigkeitsgefühle Genüge geschehen, wenn Sie sich etwa so ausdrückten: Eine wesentliche Förderung […]”. Die nun folgenden Zeilen des Briefes geben bis auf einige kleinere stilistische Änderungen genau den dann im Druck erschienen Text der Schwarzschen Arbeit wieder: “Dass und wie dies geschehen könne, hat Herr Weierstrass für eine große Zahl von Aufgaben der Variationsrechnung in seinen Vorlesungen auseinandergesetzt [gezeigt] und dadurch einen Weg gezeigt [kennen gelehrt], auf welchem man, wie zu hoffen ist, dahin gelangen wird, für alle Probleme der Variationsrechnung die bisher gebräuchlichen, nicht vollkommen befriedigenden [unzulänglichen] Methoden durch andere, einwurfsfreiere [stets ausreichende] zu ersetzen.”305 304. Schwarz war im Herbst 1885 in Helsinki gewesen, wo er die Festschrift niedergeschrieben hatte. 305. H.A. Schwarz, “Ueber specielle zweifach zusammenhängende Flächenstücke”, Göttinger Nachrichten, 1887, auch in Gesammelte Mathematische Abhandlungen, Bd. 1, Berlin, Springer, 1890, 270-316, Zitat 275.
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Die eingeklammerten Wörter sind jene, die SCHWARZ am Rand des Briefes vom 27. Juni 1887 angegeben hatte. Die von SCHWARZ am 2. Juli 1887 der Akademie schließlich vorgelegte Fassung wurde unmittelbar zum Satz gegeben, und bereits am 5. Juli schickte WEIERSTRAß die ihm zugegangen Korrekturbogen an SCHWARZ mit der Bemerkung zurück, daß er nun keine Einwendungen mehr erhebe (obwohl er noch gewisse Ungleichheiten fand). Als ein Beispiel für die Schwarzsche Aussage, er habe Lindelöfsche Resultate verallgemeinert mag ein Satz aus den Miscellen aus dem Gebiet der Minimalflächen306 (1874) dienen. Aus der Lindelöfschen Konstruktion folgt in dem Fall, wenn die Punkte P und Q so auf einer Kettenlinie liegen, daß sich die zu den Punkten gehörenden Tangenten oberhalb der Direktrix (x-Achse) schneiden (siehe Abbildung 3.10 oben rechts), daß dann keine konjugierten Punkte auf dem Bogen PQ der Kettenlinie liegen. Der Sachverhalt läßt sich auch so formulieren, daß es auf der x-Achse Punkte gibt, die auf keiner Tangente des Bogens PQ liegen. Für eine Minimalfläche wäre die entsprechende Verallgemeinerung, daß es wenigstens einen Punkt A im Raum gibt, welcher auf keiner der Tangentialebenen der Minimalfläche liegt. SCHWARZ zeigte, daß unter dieser Annahme tatsächlich ein schwaches Minimum hinsichtlich aller benachbarten Flächen mit gleichem Rand vorliegt: “Ein bestimmtes Stück einer Minimalfläche besitzt unter allen von denselben Randlinien begrenzten und ihm unendlich benachbarten Flächenstücken stets dann und im Allgemeinen auch nur dann den kleinsten Flächeninhalt, wenn es ein dem betrachteten Flächenstücke durch parallele Normalen Punkt für Punkt entsprechendes Minimalflächenstück M gibt, dessen sämmtliche Tangentialebenen von ein und demselben Punkte des Raumes einen von Null verschiedenen Abstand haben”. SCHWARZ hat, nicht wie WEIERSTRAß zu befürchten meinte, gegenüber LINDELÖF Lobhudelei betrieben. Bemerkungen, die SCHWARZ gegenüber seinem Doktoranden OSWALD VENSKE gemacht hat, zeigen dies. VENSKE hebt nämlich Ergebnisse des Lehrers hervor, die zeigen, daß bei der Delaunayschen Aufgabe sowohl CHARLES EUGÈNE DELAUNAY (1814-1872) selbst und JOHN HEWITT JELLET (1817-1888) als auch LINDELÖF einer irrigen Ansicht sind307; LINDELÖF “reproduciert die Jellet’sche Behandlungsweise” in seinem Calcul des Variations.308 SCHWARZ hatte 1890 in den Anmerkungen zu seinen Gesammelten mathematischen Abhandlungen die Frage gestellt, unter welchen Bedingungen ein 306. H.A. Schwarz, “Miscellen aus dem Gebiet der Minimalflächen”, zuerst in Vierteljahresschrift der Naturforschenden Gesellschaft in Zürich, 19 (1874), 243-271, dann überarbeitet im Journal für die reine und angewandte Mathematik, 80 (1875), 280-300, sowie auch in den Gesammelten Mathematischen Abhandlungen, Bd. 1, Berlin, Springer, 1890, 270-316, Satz auf 188. 307. O. Venske, Dissertation, 7; vgl. Abschn. 3.9.4. 308. Paris, Mallet, 1861, 284-291.
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Flächenstück S mittlerer Krümmung, d.h. eine Minimalfläche, tatsächlich einen kleineren Flächeninhalt als die zum Vergleich zugelassenen Flächenstücke F hat. Eine erschöpfende Antwort vermochte er noch nicht zu geben, jedoch läßt sich das von ihm dort genannte Resultat modern etwa so ausdrükken: Wenn das sphärische Bild309 der Minimalfläche S ganz im Innern einer Halbkugel enthalten ist, dann besitzt das Flächenfunktional J in S tatsächlich ein relatives, schwaches Minimum J(S) für alle (differentialgeometrischen)310 Vergleichsflächen mit gleichem Rand.311 Im Brief vom 7. Mai 1886 hatte er WEIERSTRAß gegenüber erwähnt, daß für das isoperimetrische Problem seine “neue Beweismethode uneingeschränkte Anwendung [habe], wie überhaupt stets dann, wenn dies sphärische Bild des betrachteten Stückes einer Fläche constanter mittlerer Krümmung ganz auf der Halbkugel Platz findet. Aber für Kugelkalotten, die größer sind als die Halbkugel, verliert mein neues Verfahren die Anwendbarkeit, weil die in Betracht gezogene Schaar von Flächen derselben constanten mittleren Krümmung eine Enveloppe besitzen, welche für die Schlüsse hinderlich sind”. Den ersten wesentlichen Beitrag zu dieser Frage hatte SCHWARZ 1865 mit seiner Mitteilung Über die Minimalfläche, deren Begrenzung als ein von vier Kanten eines regulären Tetraeders gebildetes windschiefes Viereck gegeben ist vorgelegt, in der er eine explizite Darstellung jener Minimalfläche gab. Auf diese meisterhaften Darstellung ist SCHWARZ am Ende seiner produktiven Zeit nochmals zurückgekommen. In den Anmerkungen seiner Gesammelten Mathematischen Abhandlungen (1890) lesen wir, daß jenes Flächenstück nicht nur unter allen hinreichend benachbarten Flächenstücken, “sondern überhaupt unter allen, von diesem Vierseit begrenzten, einfach zusammenhängenden Flächenstücken den kleinsten Flächeninhalt” (S. 324) aufweist. Den Beweis führte SCHWARZ mit Hilfe des 1885 entwickelten Feldbegriffs: “Man denke sich nun eine Schar von Minimalflächenstücken construirt, welche den Raumteil R lükkenlos erfüllt und welche den auf S. 227 dieses Bandes angebenen Forderungen [eine Feldes] entspricht. […] Eine solche Schar ergibt sich zum Beispiel durch Translation des Minimalflächenstückes M parallel der z-Achse des Coordinatensystems”.
309. Das sphärische Bild wird durch die Bildpunkte der Normalenvektoren auf der Einheitskugel erzeugt (und ist für hinreichend allgemeine Flächenstücke selbst lokal nicht mehr notwendig eindeutig). 310. Im Sinn von J.C.C. Nitsche, Vorlesungen über Minimalflächen, Berlin, Springer, 1975. Definition auf S. 39 f. Wesentlich sind hier fehlende Selbstdurchdringung, Überlagerung usw. sowie die Existenz einer Tangentialfläche. Lokal läßt sich eine differentialgeometrische Fläche als Funktion darstellen. Nitsche geht von solchen Funktionen der Klasse C2 aus, während bei Schwarz Minimalflächen als analytisch betrachtet werden (z.B. Abhandlungen, Bd. 1, Berlin, Springer, 1890, 187, 231). 311. H.A. Schwarz, Gesammelte Mathematische Abhandlungen, Bd. 1, Berlin, Springer, 1890. Anmerkungen und Zusätze, 317-338. Paraphrasierte Stelle auf S. 335.
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Diese Stelle war auch Thema einiger zwischen WEIERSTRAß und SCHWARZ gewechselter Briefe, in denen es u.a. auch um die Priorität der benutzten Vergleichsschar F(s) + ε G(s) ging (Brief von Weierstraß an Schwarz vom 19. Juni 1887 und die Antwort von Schwarz am 27. Juni 1887). Wir erwähnen, daß SCHWARZ die von WEIERSTRAß bemerkte Tatsache, daß eine nicht negative zweite Variation δ2J (C) ≥ 0 allein nicht ausreiche, um ein relatives Minimums für ein Flächenstück C hinsichtlich des Flächeninhalts zu sichern, nicht nur beständig hervorgehoben hat (etwa in der Festschrift, § 6), sondern daß er in der Festschrift die Forderung an die zweite Variation δ2J (C) > 0 in Verbindung mit einer Aussage über eine gewisse Größe (größer als null) brachte, die sich aus einer zum Variationsproblem gehörenden – heute als Eigenwertproblem bezeichneten – Aufgabe ergab, als ausreichend erkannte, um Extremalität zu gewährleisten.312 Hiermit hat SCHWARZ Neuland betreten. Gegenüber den mit differentialgeometrischen Elementen durchsetzten Verfahren der Feldtheorie wird durch Eigenwertkriterien das Verhalten der zweiten Variation (bzw. des akzessorischen Variationsproblem) rein analytisch charakterisiert. ERHARD SCHMIDT (1876-1956), der Nachfolger von SCHWARZ in Berlin, hat diese Gedanken in seiner Theorie der Integralgleichungen aufgegriffen und weiter entwickelt, und es wären insbesondere auch die späteren Arbeiten von LEON LICHTENSTEIN (1878-1933) zu nennen. Es war bereits C. G. JACOBI, der die totale Variation ∆J = J(C) – J(C0), d.h. die Integraldifferenz zwischen Vergleichsfunktion C und Extremale C0, mit dem Vorzeichen der zweiten Variation δ2J für einfache Integrale in Verbindung bringen wollte, aber bemerkte, daß dieser Zusammenhang gelegentlich trügerisch ist (z.B. beim Vorhandensein konjugierte Punkte). SCHWARZ verdichtete jedoch diesen Zusammenhang, indem er die lineare partielle Variationsgleichung ∆z(x, y) + λa z(x, y) = 0
betrachtete, in der ∆ der Laplacesche Differentialoperator im Gebiet G (die stereographische Projektion des betrachteten Minimalflächenstücks) und λ ein Eigenwertparameter ist. Die Suche nach regulären Lösungen dieser partiellen Differentialgleichung, die am Rande ∂G stetig in null übergehen charakterisiert ein Eigenwertproblem. Ist der kleinste positive Eigenwert λ1 > 1, so ist das
312. H.A. Schwarz, Gesammelte Mathematische Abhandlungen, Bd. 1, Berlin, Springer, 1890, 223-269 sowie die Anmerkungen und Zusätze, 332-338. “Bekanntlich ist der von Schwarz in dieser Arbeit gegebene Existenzbeweis für den kleinsten Eigenwert vorbildlich gewesen für den entsprechenden Existenzsatz in der Eigenwerttheorie der Integralgleichungen mit symmetrischen Kern – in der berühmten Göttinger Dissertation (1905) von Erhard Schmidt [Zur Theorie der linearen und nichtlinearen Integralgleichungen. Dissertation, auch in: Mathematische Annalen, 63 (1907), 433-476]”, bemerkte E. Hölder auf der Berliner Mathematikertagung 1953 (Bericht über die Mathematikertagung in Berlin 1953, Berlin, Dtsch. Verlag der Wissenschaft, 1953, 291-302, Zitat 293).
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hinreichend dafür, daß das betrachtete Flächenstück ein Minimum des Flächeninhalts aufweist; λ1 ≥ 1 ist bereits notwendig. SCHWARZ selbst spricht natürlich weder von einer Integralgleichung noch von einem Eigenwert λ, letzterer wird nur als die Konstante C bezeichnet, aber es wird schon gezeigt, daß der Wert dieser Konstante C vom betrachteten Gebiet abhängt (die Bezeichnung C wird hier von SCHWARZ für seine Konstante und von uns für eine Vergleichskurve benutzt). Ein beliebiges zweidimensionales Variationsproblem mit einer gesuchten Funktion hat LEON LICHTENSTEIN, ein Schüler von SCHWARZ, 1917 bearbeitet. An die Stelle des Laplaceschen Differentialoperators tritt jetzt ein allgemeiner selbstadjungierter linearer elliptischer Differentialoperator zweiter Ordnung, was die Untersuchungen natürlich erheblich erschwert. KURT-R. BIERMANN hat zurecht resümiert: “Und so, wie er [Schwarz] in seinem Werk über Weierstraß hinausgewachsen ist, so hat er auch in seinen Vorlesungen nicht nur dessen Gedanken reproduziert, sondern natürlich seine eigenen weiterführenden Ansätze vorgeführt.”313 3.8 Einschub: Die Anregung von Lorenz Lindelöf (1827-1908) LORENZ-LEONARD LINDELÖF ist mit einigen Arbeiten zur Variationsrechnung hervorgetreten. Am Anfang stand das Buch von 83 Seiten Variations-kalkylen, Theori och Anwändning till bestammande af multipla integralers maxima och minima (Variationsrechnung, Theorie und deren Anwendung zur Bestimmung von Maxima und Minima bei mehrfachen Integralen) aus dem Jahr 1856; drei Jahre später erschien ein fünfseitiger Bericht Calculus of variations in dem Report on the 29th Meeting of the British Association for the Advancement of Science in Aberdeen, und in den Comptes rendus gab LINDELÖF eine Formel für die Variation eines dreifachen Integrales an. In das Jahr 1861 fiel schließlich das Erscheinen seines Buches Leçons de calcul des variations314, das er gemeinsam mit dem Abbé MOIGNO redigiert hatte und das daher auch als Band vier von MOIGNOS Leçons sur le calcul différentiel et intégral (Paris 1840-1861) aufgenommen wurde. CARATHÉODORY hat dieses Buch außerordentlich geschätzt und es jedem empfohlen, der es mit Kritik zu lesen verstehe.315 In den Acta Societatis Fennicae finden sich zwei Arbeiten Théorie des surfaces de révolution (1869, 1871), von denen die letztere schon unter
313. K.-R. Biermann, Die Mathematik und ihre Dozenten an der Berliner Universität, Berlin, Akademie-Verlag, 1988, 155. 314. L. Lindelöf, Leçons de calcul des variation, Paris, Mallet-Bachelier, 1861. 315. C. Carathéodory, Variationsrechnung und partielle Differentialgleichung erster Ordnung, Leipzig, B.G. Teubner, 1935, 397.
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dem Titel Sur les limites entre lesquelles le catenoïde est une surface minima in den Mathematischen Annalen (1870) erschienen war. In den Leçons de calcul des variation (1851) erörterte LINDELÖF folgendes Problem III: Entre deux points donnés, mener une courbe telle, que la surface engendrée par sa révolution autour d’un axe donné soit un minimum.316 Dieses Problem hat er 1870 in dem Artikel Sur les limites entre lesquelles le catenoïde est une surface minima in einen allgemeineren Rahmen gestellt: On sait depuis longtemps que la plus petit surface de révolution, terminée par deux bases circulaires données, est celle qui est engendrée par une chaînette tournant autour de sa directrice, surface à laquelle M. Plateau a donné le nom de caténoïde. Plus tard on a reconnu que cette propriété de minimum n’appartient à la surface dont il s’agit, qu’entre certaines limites, qu’on n’avait pourtant déterminées que pour le cas très-simple où les extrémités de la courbe méridienne se trouvent à distance égale de la directrice ou de l’axe de révolution. Dans nos leçons de calcul des variations (Paris 1861) nous avons traité cette question d’une manière plus générale qu’on ne l’avait fait jusqu’alors.317 LINDELÖF bezieht sich hier auf seine Untersuchungen in den Leçons de calcul des variations zur Lösbarkeit des entsprechenden Randwertproblems für die Kettenlinie, das – modern gesprochen – mit der Lage der zugehörigen konjugierten Punkte verbunden ist, also von globaler und nicht lokaler Natur ist. Bei diesen Betrachtungen hat LINDELÖF eine interessante geommetrische Konstruktion für die Bestimmung von konjugierten Punkten gefunden, indem er das Verhältnis von Abszisse und Ordinate der Kettenlinie in den Vordergrund rückte, das eine gewisse Grenze nicht überschreiten durfte, la distance entre ces points ne doit pas excéder une certain limite qui dépend de leurs ordonnées ou de leurs distance à l’axe.318 Diese Bedingung wird geometrisch dadurch ausgedrückt, daß sich die Tangenten von zwei konjugierten Punkten auf der xAchse schneiden müssen. Die Extremalität eines Bogens K läßt sich dann dadurch bezeichnen, daß sich die Tangenten von den zwei Endpunkten des 316. L. Lindelöf, Leçons de calcul des variation, Paris, Mallet-Bachelier, 1861, 204. “Zwischen zwei gegebene Punkte lege man eine Kurve so, daß die durch Drehung um eine gegebene Achse erzeugte Fläche ein Minimum sei”. 317. Mathematische Annalen, 2 (1870), 160-166, Zitat 160. “Man weiß seit langem, daß die kleinste Rotationsfläche, die durch zwei gegebene Grundkreise bestimmt wird, diejenige ist, die durch eine Kettenlinie erzeugt wird, die sich um ihre Direktrix dreht, eine Fläche, der Monsieur Plateau den Namen Catenoide gegeben hat. Später hat man erkannt, daß diese Minimaleigenschaft solchen Flächenstücken nicht zukommt, welche zwischen gewissen Grenzen liegen, die man lediglich für den sehr einfachen Fall bestimmt hat, in dem die Endpunkte der Meridiankurve sich im gleichen Abstand von der Direktrix oder der Rotationsachse befinden. In unseren Leçons de calcul des variations […] haben wir diese Fragen in allgemeinster Art behandelt, wie man es bisher nicht getan hat”. 318. L. Lindelöf, Leçons de calcul des variation, Paris, Mallet-Bachelier, 1861, 206. “Der Abstand zwischen zwei Punkten soll eine gewisse Grenze nicht überschreiten, die von ihrer Ordinate oder ihrem Abstand von der Achse abhängt”.
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Bogenstücks K oberhalb der x-Achse schneiden müssen, en d’autres termes, il faut que les tangentes menées à la chaînette aux deux points extrêmes A, B se coupent au-dessus de l’axe de révolution, sans cela le minimum n’aura pas lieu.319
Abb. 3.16. Lindelöfs Konstruktion
Neben dieser Konstruktion hat LINDELÖF einen Sachverhalt bemerkt, der SCHWARZ zu seiner Verallgemeinerung des Feldbegriffs führte. Mit einer einfachen Rechnung findet man, daß ein Bogen der Kettenlinie, der von konjugierten Punkten A, D begrenzt wird, bei der Rotation die gleiche Fläche erzeugt wie der von den entsprechenden Tangentenstücken CA, CD gebildete Kegel: Si par un point C pris sur la directrice d’une chaînette on mène deux tangentes CA, CD à la chaînette, l’arc AD et la ligne brisée ACD décriront des surfaces égales en tournant autour de la directrice.320 Hieraus folgt sofort die von SCHWARZ benutzte Eigenschaft von Zonen der Rotationsflächen der Kettenlinie,321 daß nämlich bei Rotation um die Direktrix eine Kettenlinie, deren 319. aaO., 210. “[…] anders gesagt, die in zwei Endpunkten A, B der Kettenlinie angelegten Tangenten müssen sich oberhalb der Rotationsachsen treffen, sonst wird sich kein Minimum ergeben”. 320. aaO., 211. “Wenn von einem Punkt C auf die Direktrix einer Kettenlinie zwei Tangenten CA, CD an die Kettenlinie gezogen werden, dann beschreiben der Bogen AD und die geknickte Linie ACD beim Drehen um die Direktrix [als Rotationsachse] gleiche Flächen”. 321. H.A. Schwarz, “Beitrag zur Untersuchung der zweiten Variation des Flächeninhalts von Minimalflächenstücken im Allgemeinen und von Theilen der Schraubenfläche im Besonderen”, Monatsberichte der Berliner Akademie, 1872, 718-135; auch in Gesammelte Mathematische Abhandlungen, Bd. 1, Berlin, Springer, 1890, 161. Schwarz bezog sich auf die spätere Arbeit von 1870 in den Mathematischen Annalen bzw. 1871 in den finnischen Acta.
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Endpunkte A' und D' auf der gerade beschriebenen Tangente liegen, zusammen mit den Tangentenabschnitten AA' und DD' die gleiche Fläche erzeugt wie der Bogen AD. On pourrait donc, sans altérer l'aire de la surface de révolution, substituer à la chaînette AD le polygone mixtiligne AA'D'D, qui en différa aussi peu qu'on voudra, en continuant ainsi on passerait par des déformations insensibles de la chaînette AD à la ligne brisée.322 Die Untersuchungen werden so beschlossen: Si le minimum analytique cesse d’avoir lieu pour l’arc de chaînette AD, c’est parce qu’on peut la déformer d’une manière continue sans que la surface de révolution augmente, et non pas parce qu’il existe d’autres courbes d’union entre les points A et D qui donnent des surfaces plus petites. Pour l’arc de chaînette AB toutes les conditions analytiques du minimum sont remplies, quoiqu’il soit certain qu’on peut mener entre A et B une infinité de courbes qui, sous la condition de franchir l’axe des x, […] donnent pour l’intégrale proposée des valeurs plus petites. C’est qu’on ne saurait déformer l’arc AB par degrés insensibles sans que la surface de révolution augmente d’abord, sauf à diminuer ensuite; et tel est, à proprement parler, le caractère analytique du minimum. En générale, dans le calcul des variations, comme dans le calcul différentiel le maximum ou le minimum analytique n’est pas toujours la plus grande ou la plus petite de toutes les valeurs possibles, et il peut y avoir quelquefois plusieurs maxima ou minima.323 In moderner Ausdrucksweise hat L. LINDELÖF hier das einschlägige Randwertproblem gestellt und gefragt, wie das Problem in dem Falle zu bearbeiten sei, wenn die Lösung der Randwertaufgabe nicht oder nicht eindeutig möglich ist. In der Annalen-Arbeit von 1870 wies LINDELÖF auf die bekannten inneren Übereinstimmungen hin, die zwischen Minimalflächen und Gleichgewichtsfiguren flüssiger Körper unter Einwirkung des Gewichts bestehen (rapport 322. L. Lindelöf, Leçons de calcul des variation, Paris, Mallet-Bachelier, 1861, 213. “Man kann damit, ohne den Flächeninhalt der Rotationsfläche zu verändern, die Kettenlinie AD durch den Polygonzug AA'D'D ersetzen, der sich davon so wenig wie man will unterscheidet; hier ist man daher beim Fortsetzen durch unmerkliche Veränderungen von dem Kettenlinienstück AD zur geknickten Linie übergegangen”. 323. aaO., 214. “Sollte das analytische Minimum aufhören, für den Bogen der Kettenlinie AD stattzufinden, so deshalb, weil man den Bogen auf eine stetige Art deformieren kann, ohne die Rotationsfläche zu vergrößern, und nicht deshalb, weil andere Verbindungskurven zwischen den Punkten A und D existieren, die eine kleinere Fläche ergeben. Obwohl es gewiß ist, daß man unter der Voraussetzung, oberhalb der x-Achse zu bleiben, unendlich viele Kurven von A nach B ziehen kann, die dem betrachteten Integral einen kleineren Wert erteilen, sind für den Bogen AB der Kettenlinie alle analytischen Bedingungen für ein Minimum erfüllt. D.h. man kann den Bogen AB nicht in unmerklichen Stufen deformieren, ohne daß sich zuerst die Rotationsfläche vergrößert, […], und das ist genau der analytische Charakter eines Minimums. Im allgemeinen ist das analytische [d.h. lokal bestimmte] Minimum oder Maximum in der Variationsrechnung wie in der Differentialrechnung nicht der kleinste oder der größte von allen möglichen Werten [d.h. kein absolutes Extremum], und es kann dabei manchmal mehrere [relative] Minima oder Maxima geben”.
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intime qui existe entre les surfaces minima et les figures d’équilibre des fluides soustraits à l’action de la pesanteur, p. 160) und die PLATEAU durch seine schönen Experimente (belles expériences) veranschaulicht hat. Allerdings habe sich PLATEAU auf Rechnungen von BENJAMIN GOLDSCHMIDT (1807-1851) bezogen, die jener nur für gleiche Basen der Catenaria ausgeführt hatte. LINDELÖF war deshalb erstaunt, daß PLATEAU LINDELÖFS weiter reichenden Untersuchungen zur Thematik offenbar nicht zur Kenntnis genommen hatte und sie nicht erwähnte (S. 161). In der Arbeit von 1870 werden die Betrachtungen in der Tat bis ins numerische Detail ausgeführt. Die Tatsache, daß das Randwertproblem bei dieser Aufgabe nicht immer eine Lösung hat, “ist für die Entwicklung der Variationsrechnung von großem Nutzen gewesen”324 (CARATHÉODORY). BENJAMIN GOLDSCHMIDT hatte in seiner Lösung der Göttinger Preisaufgabe Determinatio superficiei minimae rotatione curvae data duo puncta jungentis circa datum axem ortae (1831)325 bereits auf solche Fälle hingewiesen, und die von GOLDSCHMIDT beschriebene entartete Lösung trägt seinen Namen. Die Lindelöfschen Überlegungen sind aber, wie das Beispiel SCHWARZ zeigte, auch auf andere Probleme zu übertragen. Das im Hintergrund der Betrachtungen stehende Extremalenfeld läßt sich innerhalb des durch die entsprechenden Tangenten bestimmten Winkelraums aus einer Kettenlinie durch zentrale Streckung konstruieren. Die beiden Tangentenstücke hüllen dabei die Schar ein. CARATHÉODORY hat, durch den hier erscheinenden Sachverhalt angeregt, dem Extremalenfeld ein feldartiges Gebilde zur Seite gestellt (vgl. 2.4.4). Während das für das Feld nötige Verschwinden der Lagrangeschen Klammern bereits gesichert ist, wenn es lediglich für einen einzigen Extremalenpunkt gilt, läßt sich andererseits das erforderliche Nichtverschwinden einer einschlägigen Funktionaldeterminante im Feld nicht einmal dann garantieren, wenn diese Determinante auf ganzen Bögen der Extremalen von null verschieden ist. CARATHÉODORY hat deshalb eine n-parametrige Extremalenschar als feldartiges Gebilde charakterisiert, wenn für diese wie gehabt die Lagrangeschen Klammern verschwinden, aber jene Funktionaldeterminante durchaus, nämlich in den Ausnahmestellen des Problems, verschwinden kann. CARATHÉODORY zeigte jedoch sofort, daß dann die Ausnahmestellen auf jeder Extremalen isoliert liegen und in ihrer Gesamtheit die sogenannte Brennfläche des Gebildes konstituieren.326 Bei der Kettenlinie bilden die einhüllenden Tangentenstücke 324. Variationsrechnung und partielle Differentialgleichungen erster Ordnung, Leipzig, B.G. Teubner, 1935, 297. 325. Dissertation, Göttingen, 1831, 32. Goldschmidt zeigt auf S. 18 einen Satz, der in enger Beziehung zur Lindelöfschen Konstruktion steht, daß nämlich die Schar aller symmetrisch zur yAchse liegenden Kettenlinien mit dem Scharparameter a zwei Geraden durch den Ursprung berühren. 326. Variationsrechnung und partielle Differentialgleichungen erster Ordnung, Leipzig, Teubner, 1935, 263 f.
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die Brennfläche. Die zwischen zwei Tangenten durch die beschriebene Ähnlichkeitsstreckung erzeugte Extremalenschar aus der Kettenlinie mit den Endpunkten A und D ist bei Einbeziehung der Tangentenabschnitte notwendig feldartig. Die bei der Streckung aus A und D hervorgehenden Punkte auf den Tangenten sind aufeinanderfolgende Brennpunkte in der Brennfläche. LUIGI BIANCHI (1856-1928) hat schließlich in der Arbeit Sopra un’estensione di un teorema di Lindelöf nel calcolo delle variazioni327 das Lindelöfsche Problem auf Integrale der Art ∫ds mit dem Linienelement n
2
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ds = y ( dx + dy )
verallgemeinert, wobei er zeigte, daß die Lindelöfsche Konstruktion bestehen bleibt.328 Das Variationsproblem läßt sich geometrisch so auffassen, auf einer Mannigfaltigkeit alle geodätischen Kurven zu finden, die durch obiges Linienelement bestimmt sind. 3.9 Dissertationen und Habilitationen im Umkreis von Weierstraß und Schwarz Wir erinnern daran, daß WEIERSTRAß seit 1864 Professor an der Berliner Universität war und daß er erst damit das Recht hatte, eigene Promotionsverfahren durchzuführen. Unter den 28 Promotionen, bei denen WEIERSTRAß als erster Gutachter beteiligt war, findet sich allerdings nur eine mit einem Thema aus der Variationsrechnung, und zwar ist es die letzte von WEIERSTRAß betreute Dissertation, nämlich die von WILLY HOWE (1864-?) über die Rotationsflächen, welche bei vorgeschriebener Flächengröße ein möglichst großes oder kleines Volumen enthalten (1887). Als Zweitgutacher hat WEIERSTRAß bei zwei Promotionsverfahren mitgewirkt, die einen gewissen Bezug zur Variationsrechnung haben. Es sind dies die Dissertationen von CARL RUNGE Über die Krümmung, Torsion und geodätische Krümmung der auf einer Fläche gezogenen Kurven (1880, KUMMER) und von MAX BLASENDORFF (1855-?) Über die Beziehung zwischen zwei allgemeinen Strahlensystemen (1883, KUMMER). Wenn wir den Rahmen noch etwas weiter spannen und auch solche Dissertationen einbeziehen, die im Anschluß an WEIERSTRAß dessen Vorstellungen behandeln,329 damit wir so die Rezeption Weierstraßscher Ideen ansatzweise 327. L. Bianchi, “Sopra un’estensione di un teorema di Lindelöf nel calcolo delle variazioni”, Rendiconti (Roma), 19 (1910), 705-711. 328. Die Lindelöfsche Konstruktion läßt sich für solche Variationsproblem stets ausführen, bei denen die allgemeine Lösung der Eulerschen Differentialgleichung die Form y(x, a, b) = a F([x - b]/a) hat. Siehe Bolza, Vorlesungen über Variationsrechnung, Leipzig, B.G. Teubner, 1909, 80. 329. M. Lecat hat in seiner Bibliographie, 1850-1913, (Gand/Paris 1913) zur Variationsrechnung für den genannten Zeitraum weltweit etwa 40 Dissertationen ermittelt, davon fallen rund die Hälfte allein auf die Universität Göttingen.
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erfassen, dann gibt es einige interessante Arbeiten hierzu, nämlich die von EDMUND HUSSERL, OSWALD VENSKE, ERNST ZERMELO und FERDINAND RUDIO, die unsere Thematik tangieren, und auch die Dissertation Über eine Art singulärer Punkte der einfachen Variationsprobleme in der Ebene von ERICH BESSEL-HAGEN (1898-1946) bei CARATHÉODORY 1921 in Berlin ließe sich noch erwähnen.330 3.9.1 Edmund Husserl (1882) “Beiträge zur Theorie der Variationsrechnung”. (Dissertation, Wien 1882, 56 S., handschriftlich, deutsche Kurrentschrift) Gutacher: Koenigsberger, Weyr. Universitätsbibliothek Wien, Katalognr. D 13.088. EDMUND HUSSERL (1859-1938) begann seine Studien in Leipzig (WS 1876 bis WS 1877) und wechselte dann für sechs Semester nach Berlin (SS 1878 bis WS 1880). Er gehörte zu den Hörern der Vorlesung über Variationsrechnung vom SS 1879 und war an deren Ausarbeitung durch den Berliner Mathematischen Verein beteiligt, genauer wird er als Bearbeiter der Kapitel 4 bis 6 (Theorie der Variationsrechnung: 4. Skizzierung der Aufgabe, 5. Das Verschwinden der ersten Variation, 6. Integration der Gleichung G = 0 für die ersten drei Beispiele) genannt. Nach der Promotion in Wien 1882 kam er 1883 noch einmal als Assistent von WEIERSTRAß nach Berlin. 1886 habilitierte er sich in Halle mit einer Arbeit Über den Begriff der Zahl bei CARL STUMPF (1848-1936), und er wurde dort 1894 Professor, um dann über Göttingen (1906) nach Freiburg (1916) zu gehen. Seit etwa 1890 waren bei HUSSERL jene Gedanken gereift, die ihn schließlich in die Philosophie führten. 1891 veröffentlichte er die Philosophie der Arithmetik, und 1901 erschienen seine Logischen Untersuchungen (3 Bde.), die ihn berühmt machten. Seine philosophischen Anschauungen sind in der bekannten Phänomenologie331 dargelegt, die eine philosophische Lehre mit einem ausgeprägten erkenntnistheoretischem Charakter ist und die großen Einfluß auf die Philosophie des 20. Jahrhunderts hatte. HUSSERL erwähnte in seinem Habilitationsgesuch in Halle, daß er von den Mathematikern WEIERSTRAß am meisten zu Dank verpflichtet sei. Seine Dissertation ist auch ganz im Weierstraßschen Stil abgefaßt, und auch der Referent LEO KOENIGSBERGER (1837-1921) hatte bei WEIERSTRAß Vorlesungen 330. Die Arbeit von Bessel-Hagen ist, was nach dem Krieg üblich war, aus Kostengründen nicht gedruckt worden, aber es gibt eine Kurzfassung im Jahrbuch der Dissertationen der Philosophischen Fakultät der Friedrichs-Wilhelm-Universität zu Berlin, Dekanatsjahr, 1919-1920, Berlin, Ebering, 1921, 225. 331. Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenlogischen Philosophie, I, Jahrbuch für Philosophie, Göttingen, 1913, Teile II-III posthum 1952. – Der Begriff “Phänomenologie” ist gegen G.W. Hegel und E. von Hartmann abgesetzt.
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gehört.332 Die Gliederung der Husserlschen Dissertation ist die folgende: I. Bemerkungen zum einfachsten Problem der Variationsrechnung (S. 1-21) II. Über die Herleitung der Kriterien aus der Clebsch-Jacobi’schen Transformation der zweiten Variation (S. 22-42) III. Über die Grenze für das Bestehen eines Extremums (S. 43-56) Hieraus geht hervor, daß HUSSERL den Erkenntnisfortschritt der 1879er Vorlesung für starke Extrema, den er kannte, noch nicht eingebaut hat, sondern sich nur auf die zweite Variation, mithin auf schwache Extremalen sowie die konjugierten Punkte konzentrierte (also etwa das Niveau der 1875er Vorlesung von WEIERSTRAß reproduzierte). HUSSERL selbst dazu: “Es blieb also nun die höchst schwierige Frage zu beantworten, ob für die […] eindeutig bestimmte Function [durch die Eulerschen Differentialgleichung nebst Randwerten] das Integral ein Maximum werde, oder ein Minimum oder keines von beiden. Dies führt auf die Untersuchung des Vorzeichens der ‘zweiten Variation’ des betrachteten Integrales”. (S. 2) Unausgesprochen ist damit – wie bereits gesagt – die Untersuchung auf schwache Extrema ausgerichtet, und insofern wäre es sachlich geboten die Namen LAGRANGE, JACOBI, CLEBSCH, G. ERDMANN und A. MAYER anzuführen; GUSTAV VON ESCHERICH (1849-1935) kam erst 1884, also zwei Jahre nach dieser Dissertation, an die Universität Wien. Erst auf Seite 47 wird die Vorlesung des “hochverehrten Lehrers” WEIERSTRAß erwähnt, um zu zeigen, daß neben dem Vorzeichen der zweiten Variation auch die konjugierten Punkte des Problems einbezogen werden müssen, wozu der angekündigte Versuch diene: “Unter der Voraussetzung, daß ∆(x, x0) im Verschwinden [eingefügte Randnotiz: identischen Nullwert abgesehen] das Vorzeichen ändert[,] ließe sich der Beweis des Herrn Weierstraß wol genau verallgemeinern; aber diese Voraussetzung – falls sie überhaupt richtig ist – allgemein zu beweisen, scheint sehr schwierig zu sein. Da ich dies nicht vermag[,] will ich jenen Beweis hier nicht reproduciren, sondern einen Versuch mitteilen, auf einem ganz neuem Weg den wichtigen Satz zu beweisen”. (S. 49) HUSSERL hat seine angekündigte Arbeit nicht publiziert bzw. Teile davon in andere Arbeiten übernommen, da er sich schließlich mehr und mehr der Philosophie (Phänomenologie) zugewandt hatte. Es gibt eine französische Übersetzung der Dissertation nebst einem Essay.333 In dieser Arbeit werden beachtenswerte Aspekte der Husserlschen 332. K.-R. Biermann, “Did Husserl take his doctor’s degree under Weierstrass’ supervision?”, Organon, 6 (1969), 261-264. 333. J. Vauthier, “Contributions a la theorie du calcul des variations by E. Husserl”, Queen’s Papers in Pure and Applied Mathematics, 65 (1983), Kingston, Queen’s University, 88.
DIE WEIERSTRAßSCHE WENDE
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Arbeit gewürdigt, die jedoch außerhalb unserer Fragestellung liegen. 3.9.2 Friedrich Edmund Maximilian Blasendorff (1883) “Über die Beziehungen zwischen zwei allgemeinen Strahlensystemen, von welchen das eine durch die verschiedensten Reflexionen und Brechungen in Medien mit beliebiger Wellenfläche aus dem anderen hervorgegangen ist, und die hieraus für optisch darstellbare Strahlensysteme sich ergebenden Folgerungen”. (Dissertation, Berlin 1883, 34 S.) Gutacher: Kummer, Weierstraß. Archiv der Humboldt-Universität Phil. Fak. 261. MAXIMILIAN BLASENDORFF (1855-?) hat von 1878 bis 1883 in Berlin studiert und dabei die Weierstraßsche Variationsrechnung im SS 1882 gehört. Er ist vermutlich nach seiner Promotion am 4. August 1883 in den höheren Schuldienst gegangen.334 Der barocke Titel der Arbeit beschreibt treffend den in der geometrischen Optik als Satz von Malus bekannten Sachverhalt, der für die Feldtheorie interessant ist. In der optischen Sicht geht es dabei um die Aussage, daß die Feldeigenschaft von Lichtstrahlen nach Brechungen und Spiegelungen erhalten bleiben. Mathematisch hatte WEIERSTRAß die Aufgabe zu Beginn des WS 1881 im Mathematischen Seminar so formuliert: “Es ist nachzuweisen, dass ein Strahlensystem, dessen Strahlen in einem isotropen Medium die Eigenschaft besitzen zu einer Fläche normal zu stehen, nach den verschiedenen Reflexionen und Brechungen in Medien mit beliebiger Wellenfläche stets diese Eigenschaft wiedererhält, wenn es in ein isotropes Medium zurückkehrt”. (Einleitung der Dissertation) BLASENDORFF begründete dabei einen von KUMMER mitgeteilten Satz, den jener 1860 zwar publiziert,335 aber nicht bewiesen hatte. Danach entwickelte der Autor unter Einbeziehung des Variationsproblems der schnellsten Ankunft seine eigene Theorie, die auch den Satz von Malus einbezog. Insbesondere stellte BLASENDORFF die Beziehungen dar, die zwischen der Wellenfläche in einem Medium und der Fläche bestehen, deren Normalen ein in diesem Medium optisch darstellbares Strahlensystem bilden sollen und gibt die Herleitung der Wellenfläche in solchen Medien an, in denen die Normalen jeder Fläche und nur diese ein optisches System bilden: 334. Seine Mutter war eine geborene Clara Schottky. Ob eine Beziehung zu Friedrich Schottky (1851-1935) besteht, ist offen. 335. Monatsbericht der Kgl. Berliner Akademie der Wissenschaften zu Berlin 1860 (lediglich Ankündigung des Themas). Von Kummer erschien die Allgemeine Theorie der Strahlensysteme im Crelle Journal 1860, und 1866 veröffentlichte Kummer noch die Allgemeinen Strahlensysteme 1. und 2. Ordnung. Weierstraß hatte 1856 auf der Versammlung der Deutschen Ärzte und Naturforscher in Wien eine geometrische Konstruktion angegeben, die die Richtungsänderung eines Lichtstrahles bei einer Kugelfläche übersichtlich darstellt.
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KAPITEL 3
“Bei optischen Strahlensystemen sind die Strahlen gegen Flächen gleicher Ankunft [Wellenfronten] nach allen Richtungen ebenso geneigt, wie die zu ihnen parallelen Radienvectoren der Wellenfläche des Strahlensystems gegen diese. (S. 14) Die nothwendigen und hinreichenden Bedingung dafür, dass ein Strahlensystem in einem isotropen Medium optisch darstellbar sei, ist, dass seine Strahlen Normalen einer Fläche sind. (S. 15) Der erste der ausgesprochenen Sätze ist ein Analogon des MalusDupin’schen Satzes für optische Strahlensysteme in Medien mit beliebiger Wellenfläche; der vierte [letztere] eine Erweiterung desselben Satzes in so fern, als die Medien, welche das Licht durchlaufen muss, bevor es in ein isotropes Medium zurückkehrt, nicht nur isotrope oder kristallinische, sondern Medien mit ganz beliebiger Wellenfläche sein können”. (S. 15) KUMMERS nur wenige Zeilen umfassendes Gutachten ist nichtssagend, und WEIERSTRAß als Zweitgutachter stimmt der Zulassung zum Promotionsverfahren in zwei Zeilen zu. 3.9.3 Paul Eduard Wilhelm Howe (1887) “Die Rotationsflächen, welche bei vorgeschriebener Flächengröße ein möglichst großes oder kleines Volumen enthalten” (Dissertation, Berlin 1887, 24 S.). Gutachter: Weierstraß, Fuchs, Kronecker Archiv der Humboldt-Universität Phil. Fak. 281 WILLY HOWE (1864-?) hat von 1881 bis 1885 in Berlin studiert und ist danach in den Schuldienst gegangen. Es gibt von ihm eine Ausarbeitung der Vorlesung über Variationsrechnung von WEIERSTRAß aus dem Jahre 1884 in der Staatsbibliothek Berlin, die auch einen zweiseitigen Nachtrag aus einer Stäckelschen Mitschrift enthält. PAUL STÄCKEL (1862-1919) war einer der Opponenten bei der Verteidigung HOWES am 13. August 1887. Die 24seitige Dissertation behandelt das Problem, zwei Punkte einer Halbebene so durch eine Kurve zu verbinden, daß der entsprechende Rotationskörper, dessen Mantel die Kurve während einer vollen Umdrehung der Halbebene um ihre Kante beschreibt, bei vorgegebener Mantelgröße ein möglichst großes Volumen besitzt. Die beiden ersten Abschnitte untersuchen diejenigen Kurvenscharen, die der Differentialgleichung des Problems genügen, und der dritte Abschnitt referiert auf drei Seiten die hinreichenden Bedingungen, die WEIERSTRAß in seinen Vorlesungen 1880336 und 1884 gegeben hat. Nach der 336. Die Vorlesung von 1880, die Howe nennt, ist die von 1879. Das ist etwas erstaunlich, da es in der Staatsbibliothek Berlin eine Mitschrift dieser Vorlesung mit dem Besitzvermerk Howe gibt. Howe könnte die Mitschrift nach der Niederschrift erworben haben, aber die Tatsache, daß er auch die Vorlesung von 1882 nicht nennt, empfiehlt ihn nicht als Chronisten.
DIE WEIERSTRAßSCHE WENDE
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Betrachtung der konjugierten Punkte wird auf Seite 11 die Exzeßfunktion eingeführt, und es werden die bekannten hinreichenden und notwendigen Bedingungen formuliert sowie der Zusammenhang von Exzeßfunktion und der Funktion F1 erwähnt. Die nächsten drei Abschnitte wenden die allgemeinen Sätze auf das spezielle Problem an. Die Arbeit endet mit einer kurzen historischen Übersicht (Abschnitt 8). WEIERSTRAß bescheinigt in seinem Gutachten, daß die Dissertation eine “mit großem Fleiß ausgearbeitete Abhandlung” sei. 3.9.4 Oswald Venske (1891) “Behandlung einiger Aufgaben der Variationsrechnung, welche sich auf Raumkurven constanter erster Krümmung beziehen”. (Dissertation, Göttingen 1891, 60 S.). Gutacher: Schwarz Universitätsbibliothek Leipzig, Mathematik. 331 (k) VENSKE (1867-1939) hat von 1885 bis 1891 Mathematik, Physik und Astronomie in Breslau, Berlin und Göttingen studiert und war später Professor der Meteorologie. Die Dissertation behandelt das Delaunaysche Problem (1842), das den Briefwechsel von WEIERSTRAß und SCHWARZ einige Zeit prägte (erster Brief von SCHWARZ hierzu am 30. März 1884; abgeschlossen durch WEIERSTRAß am 14. März 1885). WEIERSTRAß hatte die einschlägigen Differentialgleichungen 1884 mittel elliptischer Funktionen gelöst,337 und er stellte sogar eine Exzeßfunktion für Variationsprobleme mit Differentialgleichungen als Nebenbedingungen und zweiten Ableitungen im Integranden auf. SCHWARZ fand die Bedingung für tatsächliche Extremalität, die er aber nicht publizierte, sondern die nur im Briefwechsel mit WEIERSTRAß zu finden ist. Eine moderne Arbeit ist die von CONSTANTIN CARATHÉODORY Untersuchungen über das Delaunaysche Problem der Variationsrechnung (1928), und sein Buch Variationsrechnung und partielle Differentialgleichungen erster Ordnung schließt mit eben dieser Aufgabe. Eine Dissertation von JOSEPHA VON SCHWARZ (1909-1957)338 hat CARATHÉODORY zur weiteren Bearbeitung des Problems angeregt, und die dabei von CARATHÉODORY benutzte Darstellung in kanonischen Koordinaten ist J. VON SCHWARZ zu verdanken.339 Verallgemeinerungen dieser Aufgabe auf Längenfunktionale und Kurven beschränkter Krümmung gehen bereits auf H.A. SCHWARZ selbst, aber auch 337. K. Weierstraß, Mathematische Werke, Bd. 3, Berlin 1903, 183-218. 338. Italienische Mathematikerin österreichisch-ungarischer Herkunft, auch Maria Josepha de Schwarz. Assistentin bei Carathéodory. 339. C. Carathéodory, “Untersuchungen über das Delaunaysche Problem”, Gesammelte mathematische Schriften, Bd. 2, München, Beck, 1955, 12-39; C. Carathéodory, Variationsrechnung und partielle Differentialgleichungen erster Ordnung, Leipzig, B.G. Teubner, 1935, 382-388; Josepha von Schwarz, “Das Delaunaysche Problem der Variationsrechnung in kanonischen Koordinaten”, Mathematische Annalen, 110 (1934), 357-389.
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KAPITEL 3
auf CARATHÉODORY zurück.340 CARATHÉODORY stellte übrigens seiner Abhandlung über das Delaunaysche Problem ausführliche historische Bemerkungen voran, die sehr interessant sind. SCHWARZ hatte demzufolge sogar Messingmodelle anfertigen lassen, in der Berliner Akademie über das Problem vorgetragen, aber nie etwas dazu aufgeschrieben, was jedoch aufgrund glücklicher Umstände WILHELM BLASCHKE (1885-1962) in seiner Differentialgeometrie ausgeführt hat.341 Einleitend betonte VENSKE, daß die Anforderungen an Vollständigkeit und Strenge in der Variationsrechnung durch WEIERSTRAß erheblich gesteigert worden seien, daß aber trotzdem in den neueren Büchern der Variationsrechnung keine diesen Ansprüchen genügenden Lösungen zu finden seien. Die behandelte Frage gehöre zu jenen nicht befriedigt erledigten Problemen. Der erste Abschnitt, der einleitend die früheren Untersuchungen referiert, behandelt die von H.A. SCHWARZ gefundenen Ergebnisse (S. 7) und bezieht sich auf eine von diesem im Jahre 1888 gehaltene Vorlesung über Variationsrechnung, in welcher SCHWARZ die Methoden von WEIERSTRAß dem Autor bekannt gemacht habe.342 Der zweite Paragraph im ersten Abschnitt faßt die Weierstraßschen Ergebnisse auf den Seiten 9-12 zusammen. Die Hinlänglichkeit für Extrema bei positiver (negativer) Exzeßfunktion wird auf Seite 12 angegeben. Der 6. Abschnitt legt die Lösung der Aufgabe dar, wobei der letzte Paragraph bemerkenswert ist, da er diskontinuierliche Raumkurven einbezieht. 3.9.5 Ernst Zermelo (1894) “Untersuchungen zur Variationsrechnung”. (Dissertation. Berlin 1894, 97 S.) Gutachter: Schwarz, Fuchs Archiv der Humboldt-Universität Phil. Fak. 324 ERNST ZERMELO hat von 1889 bis 1894 Mathematik, Physik und Philosophie an den Universitäten in Berlin, Halle und Freiburg studiert, in Berlin ist er im akademischen Jahr 1892/93 Stipendiat der Gustav-Magnus-Stiftung gewesen. ZERMELO war 1894 der erste Doktorand von SCHWARZ in Berlin – es gab in Berlin insgesamt sechs Verteidigungen mit SCHWARZ als erstem Gutachter –, und es ist interessant, daß SCHWARZ ihn zu einer Dissertation mit einem Thema aus der Variationsrechnung angeregt hat. ZERMELO ist dann von 1894 bis 1897 Assistent in der theoretischen Physik bei MAX PLANCK gewe340. C. Carathéodory, “Die Kurven mit beschränkten Biegungen”, Gesammelte mathematische Schriften, Bd. 2, München, Beck, 1955, 65-92. 341. C. Carathéodory, “Untersuchungen über das Delaunaysche Problem”, Gesammelte mathematische Schriften, Bd. 2, München, Beck, 1955, 12-39, insbes. 16 ff. W. Blaschke, Vorlesungen über Differentialgeometrie, Bd. 1, Berlin, Springer, 1924, 50 f.. 342. Der Bericht des Mathematischen Vereins an der Universität Göttingen über das SS 1888 (Göttingen, 1888) gibt auf S. 9 eine Zusammenfassung der erwähnten Vorlesung, die die bekannten Weierstraßschen Kriterien enthält.
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sen. 1897 hat er sich an FELIX KLEIN mit der Bitte um Hilfe für eine Stelle zum Habilitieren gewandt, und er hatte Erfolg.343 ZERMELO hat sich 1899 in Göttingen habilitiert, dort 1905 eine Titularprofessur erhalten und ist schließlich 1910 ordentlicher Professor an der Universität Zürich geworden. Er hat mehrfach über Variationsrechnung gelesen, und das sogenannte Navigationsproblem344 trägt seinen Namen. Gemeinsam mit HANS HAHN (1879-1934) hat er die Fortsetzung Weiterentwicklung der Variationsrechnung in den letzten Jahren (1904) des Kneserschen Beitrags Variationsrechnung (1900) für die Encyklopädie der Mathematischen Wissenschaften verfaßt.345 Das Gutachten von SCHWARZ sagt über die Dissertation ZERMELOS: “Die von Herrn Zermelo vorgelegte Dissertation behandelt ein sehr schwieriges Thema der Variationsrechnung, nämlich die Ermittlung der nothwendigen Bedingungen, unter welchen ein gewisses bestimmtes längs einer gesuchten Curve zu erstreckendes einfaches Integral, welches von höheren Differentialquotienten als von erster Ordnung abhängt, zu einem Minimum wird, in dem Sinn, daß die Erfüllung dieser Bedingungen auch hinreichend ist, um mit Sicherheit auf das Eintreten eines Minimums schließen zu können. Für den Fall, daß die Differentialquotienten, welche in Betracht kommen, nur solche erster Ordnung sind, ist die betreffende Untersuchung zuerst von Hrn. Weierstrass vor etwa 15 Jahren zu Ende geführt worden. Herr Zermelo stellt sich nun die Aufgabe, die Ergebnisse und einen Theil der Methoden, durch welche Hr. Weierstrass zu diesem Ergebnis gelangt ist, auf den allgemeinen Fall auszudehnen.”346 ZERMELO leitete die Dissertation mit den Bemerkungen ein, daß er die Weierstraßsche Variationsrechnung durch eine Vorlesung bei SCHWARZ und durch einige Ausarbeitungen des Mathematischen Vereins im Sommer 1892 kennen gelernt habe. Seine Arbeit wird – wie SCHWARZ hervorgehoben hat – von dem Bestreben geleitet, die Weierstraßschen Methoden ohne Berücksichtigung von Nebenbedingungen auf den allgemeinen (parametrischen) Fall eines einfachen Integrals auszudehnen, wo die gesuchte Funktion unter dem Integralzeichen Ableitungen beliebig hoher Ordnung enthält: J(a) = ∫ F dt ,
F = F ( x, x', x'', …x
(n)
, y, y', y'', …y
(n)
).
343. Brief vom 19. 7. 1897. Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung, Nachlaß Klein 12, 433A. 344. E. Zermelo, “Über das Navigationsproblem bei ruhender oder veränderlicher Windverteilung”, ZAMM, 11 (1931), 114-124. 345. Encyklopädie der mathematischen Wissenschaften, Bd. II/A, Leipzig, B.G. Teubner, 18991916, Zermelos Beitrag (gemeinsam mit H. Hahn) 1904. 346. Promotionsakte Zermelo, WS 1893/94. Promotionsantrag vom 23.5.1894, Gutachten vom 5.7.1894, Verteidigung am 6.10.1894. Archiv der Humboldt-Universität Berlin.
300
KAPITEL 3
Diese Untersuchungen erfolgen, wie man heute sagen würde, mit feldtheoretischen Mitteln und lassen die zweite Variation völlig außer Betracht. Dabei ist zum einen der Nachbarschaftsbegriff für diese erweiterte Funktionenklasse bzw. der Begriff des Extremums zu erklären,347 zum anderen sind aber für den Integranden auch entsprechende Homogenitätsbedingungen zu finden. Diese Fragen interessieren uns in ihrer Allgemeinheit nur beiläufig, zumal deren “Untersuchung […] hier mit grösserer Vollständigkeit geführt worden [ist], als es für die unmittelbare Anwendung auf das Problem der Variationsrechnung notwendig gewesen wäre” (S. 14). Im Hinblick auf Variationsprobleme mit lediglich ersten Ableitungen im Integranden (n = 1) benötigen wir die von ZERMELO als ‘Osculations-Invarianten’ (Berührungsinvarianten) bezeichneten Größen nicht, deren einfachste Formen der Anstieg und die Krümmung einer Kurve sind und mit denen ZERMELO einen allgemeineren Nachbarschaftsbegriff im Raum der n-fach stetig differenzierbaren Funktionen erklärte. Auf Seite 29 bemerkte ZERMELO selbst, daß die “Ordnung der Nachbarschaft m […] später auf die Fälle m = n – 1 und m = n beschränkt [wird], welche allein für unsere Untersuchungen Interesse bieten”, also auf die Fälle der starken und schwachen Variationen. Zu den erwähnten Vorarbeiten in der Dissertation bemerkte SCHWARZ, daß deren “Verallgemeinerung keineswegs leicht [gewesen war], weil zunächst gewisse Voruntersuchungen über die Beschaffenheit der Gesammtheiten von Curven angestellt werden mußten, aus denen diejenige Curve auszusuchen ist, für die das Minimum eintritt. Diese Untersuchungen hat der Verf. mit Sachverständnis und m.E. [meines Erachtens] mit Geschick durchgeführt, indem er den Begriff ‘Osculations-Invarianten’ einführte, denen der erste Theil der Arbeit gewidmet ist”. ZERMELO hat im zweiten Teil (S. 24-47) die Definition eines Minimums sowie die notwendigen Bedingungen hierfür betrachtet. Er hat dazu die Gesamtheit A aller Kurven, die vorgeschriebenen Bedingungen genügen, festgelegt. Aus dieser Gesamtheit A ist eine besondere Kurve a zu suchen, die bei festen Endpunkten der Kurve von a dem Variationsintegral J einen kleineren Wert als alle benachbarten Kurven a derselben Gesamtheit erteilt, so daß auf A immer ∆J = J( a ) – J(a) > 0,
∀a ∈ A ,
gelten wird (S. 24f.). Es folgen die definierenden Bedingungen der Menge A der zulässigen Vergleichskurven, wobei ZERMELO von “erlaubten Curven” spricht, sofern die Vergleichskurven die gleichen Randwerte haben, stetig differenzierbar sind (Fall n = 1) und keine singulären Punkte aufweisen. Die Nachbarschaft der Kurven entspricht mithin für n = 1 der von WEIERSTRAß
347. Die These I der Dissertation lautet: “In der Variationsrechnung ist auf eine genaue Definition des Maximums oder Minimums grösserer Wert als bisher zu legen” (S. 98).
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301
durch den Flächenstreifen gegebenen (S. 26-31, insbesondere S. 25f.). Das Schwarzsche Gutachen führt aus: “Im zweiten Theil behandelt der Verf. einen größeren Abschnitt der Variationsrechnung mit Sorgfalt, und soweit ich habe prüfen können, mit Genauigkeit”. (SCHWARZ hatte über den Umfang von 148 Folioseiten geklagt, die keine genauere Prüfung im Detail ermöglicht hätten, wodurch aber seine Einschätzung nicht geschmälert werden könne.) Am Ende des zweiten Abschnitts befindet sich jene Frage, die die weiteren Untersuchungen bestimmt: “Unter welchen Bedingungen entspricht einem von singulären Punkten freien Stück 1 2 einer particulären Lösung […] der [Eulerschen] Differentialgleichung des Problems gemäss der aufgestellten Definition ein wirkliches Minimum des zwischen seinen Grenzen erstreckten Integrales”? (S. 47) Der dritte Abschnitt (S. 48-76) ist der Einführung einer Exzeßfunktion gewidmet, die für n = 1 mit der Weierstraßschen übereinstimmt (S. 55). Der Satz V drückt dann das bekannte hinreichende Kriterium für starke Minimalität aus (S. 59). Dem Vorbild von WEIERSTRAß folgend untersuchte ZERMELO das Vorzeichen der Exzeßfunktion, die er zuvor einer geeigneten Umformung unterworfen hatte. Dabei definierte er durch das nachfolgend angegebene bestimmte Integral eine weitere Exzeßfunktion E1, in ZERMELOS abgekürzter Schreibweise (S. 60): E ( p, q ;p, q ) = ( k – k )
2 1
∫0 F 1 ( p ε , q ε ) ( 1 – ε ) d ε = ( k – k ) k = y'p – x'q ,
2
E 1 ( p, q ;p, q ),
k = y'p – x'q
(vgl. das Ende des Abschnitts 3.5.2.7 über die Weierstraßsche Vorlesung von 1879). “Durch Anwendung des [zweiten] Mittelwertsatzes auf das Integral (78) [obige Gleichung], erhält man, was sich noch einfacher direkt aus (73a) [Definition der Exzeßfunktion] durch Berechnung des Restgliedes der Taylorschen Entwicklung ergeben hätte: 1 1 E 1 ( p, q ;p, q ) = F ( p κ, q κ ) ∫ ( 1 – ε ) dε = --- F 1 ( p κ, q κ ) 2 0
[mit p κ = p + κ ( p – p ) und q κ = q + κ ( q – q ) ], wobei κ eine gewisse Grösse zwischen 0 und 1 bedeutet” (S. 60). Es ist also im parametrischen Fall: 2 1 E ( x, y, p, q ) = --- ( k – k ) F 1 ( x, y, p κ, q κ ) ; 2
entsprechend im funktionalen Fall mit dem Integranden f(x, y, p): 1 2 E ( x, y, p ) = --- ( p – p ) f pp ( x, y, p κ ) . 2
An dieser Stelle wird die Aussage von ZERMELO für den parametrischen Fall erstmals formuliert. Aus den beiden Formeln werden nun folgende
302
KAPITEL 3
Schlüsse gezogen, die ohne Verwendung der zweiten Variation Anlaß für ein notwendiges und ein hinreichendes Kriterium geben (S. 60 f.): 1. Für hinreichend benachbarte Kurvenanstiege (schwache Variationen) erhalten E1 und E immer dasselbe Vorzeichen wie F1 (sofern der letztere Ausdruck nicht verschwindet). 2. Besitzt F1(p, q) ein von den Argumenten unabhängiges bestimmtes Vorzeichen, so gilt das auch für E1 und E unabhängig von den Anstiegen der Vergleichskurven (starke Variationen). Notwendig ist, daß auf dem ganzen Kurvenstück F1 ≥ 0 für alle Vergleichskurven gilt; hinreichend ist diese Bedingung auch, sofern ihre Gültigkeit auf dem ganzen Kurvenstück für willkürliche Werte der Anstiege der Vergleichskurven gewährleistet ist. Der letzte Abschnitt (S. 77-97) behandelt die Aufstellung hinreichender Bedingungen ganz im Weierstraßschen Geist, also feldtheoretisch. Ausgegangen wird von einer von im Punkt 0 beginnenden einfach unendliche Schar U von Lösungskurven u der Eulerschen Differentialgleichung, die für unseren Fall n = 1 das Stück 1 2 einer beliebigen, stetig differenzierbaren Kurve a in Punkten 3 treffen (S. 77). Jedoch wird diese Schar U umgehend spezialisiert (S. 78), da die Kurvenstücke 01 und 02 als Teil der Extremalen 012 (= a) betrachtet werden (die Extremale von 0 nach 1 fällt auf 01 mit der von 0 nach 2 zusammen; siehe ZERMELOS Abbildung, hier Abbildung 3.17, der Sachverhalt ist in den Abbildungen 3.8 und 3.18 klarer zu sehen). Damit gilt (Querstriche bezeichnen beliebige Vergleichskurven): ∆J = J( a ) – J(a) = J01 + J12 – J02 =
λ2
dλ
∫λ E ( λ ) ----λ'
> 0,
(λ′ > 0),
1
womit ZERMELO den Satz VII formulierte: “Das über ein reguläres Stück 12 einer Curve a, die der Differentialgleichung des Problems genügt, erstreckte Integral J besitzt einen grösseren [sic] Wert, als alle über solche erlaubten Variationen a erstreckten Integrale J , für welche eine Schar U von Lösungen der Differentialgleichung der betrachteten Art existiert und für welche immer E(λ) ≥ 0 und nicht beständig = 0 ist”. (S. 79) Es läuft nun alles darauf hinaus, die Existenz der Schar U zu zeigen; modern gesprochen, ein Feld zu konstruieren. Das ist das Thema der nächsten zehn Seiten (S. 80-90). Die Konstruktion folgt dem Weierstraßschen Vorbild, den Integranden des Variationsproblems als analytische Funktion anzunehmen, womit auch die Funktionen der Schar U analytisch sind (S. 47),348 um weiter mit Potenzreihen arbeiten zu können (S. 81). Auf Seite 86 wird das Fehlen 348. Diese Frage ist bekanntlich unter der weiteren Annahme der Regularität des Variationsproblems (nicht im Sinne von Weierstraß verstanden) der Gegenstand des 19. Hilbertschen Problems (Pariser Vortrag, 1900).
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303
konjugierter Punkte ausgenutzt, um mit dem bereits mehrfach erwähnten Kunstgriff eines “vorgezogenen” Ausgangspunktes 0 die Konstruktion eines zentralen Feldes im Punkt 0 bzw. damit eines allgemeinen Feldes um den Punkt 1 zu sichern, da der Punkt 0 auf a hinreichend nahe dem Punkt 1 angenommen werden kann (S. 88). Der Satz VIII auf Seite 94 faßt die Entwicklung zusammen und nennt die hinreichenden Bedingungen, eine Liste auf Seite 97 führt die noch offenen Ausnahmefälle an.
Abb. 3.17. Der Kunstgriff mit dem vorgezogenen Punkt (in der Dissertation bei Zermelo mit 0 und 1 anstelle von 0' und 0 bezeichnet)
SCHWARZ äußerte sich in seinem Gutachten so: “Es gelingt dem Verf. die Hauptuntersuchungen des Herrn Weierstraß, welche sich auf die Einbeziehung der Funktion ε(x, y, x', y', p, q) bezieht, nach meinem Urtheile richtig zu verallgemeinern[,] und er hat auf diese Weise eine m.E. [meines Erachtens] sehr werthvolle Vervollständigung zu unserem bisherigen Wissen in diesem Theile der Variationsrechnung gewonnen. Wenn mich nicht alles trügt, so werden alle künftigen Forscher auf diesem schwierigen Gebiet an die Ergebnisse dieser Arbeit und an die Art und Weise ihrer Herleitung anknüpfen müssen”. HERMANN AMANDUS SCHWARZ hat sich in seiner Einschätzung nicht getäuscht, denn die Zermelosche Dissertation wurde fortan zitiert, sobald es um den Feldbegriff ging. Die Arbeit bewertete SCHWARZ mit höchstem Lob (diligentia et acuminis specimen egregium), LAZARUS FUCHS stimmte ihm zu. 3.9.6 Ferdinand Rudio (1881, 1898) “Über die Principien der Variationsrechnung und die geodätischen Linien des n-dimensionalen Rotationsellipsoides”. (Habilitation, Zürich 1881) Nicht nachweisbar. FERDINAND RUDIO (1856-1929) studierte von 1874 bis 1880 in Zürich und Berlin, seine Promotion erfolgte 1880 in Berlin über das differentialgeometrische Thema Ueber diejenigen Flächen, deren Krümmungsmittelpunktsflächen confokale Flächen zweiten Grades sind (Gutachter: KUMMER, WEIERSTRAß), das von EDUARD KUMMER im Mathematischen Seminar angeregt worden war. RUDIO hatte in Berlin eine der bis zum Jahre 1884 ausgelobten Prämien von 50 Talern des Mathematischen Seminars erhalten, und er war auch Vorsitzen-
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der des Berliner Mathematischen Vereins gewesen. In seinem für die Habilitation eingereichtem Lebenslauf gab er an, von 1878 bis zur Promotion 1880 und danach bis zu seinem Weggang 1881 nach Zürich dem von KUMMER und WEI349 ERSTRAß geleiteten Mathematischen Seminar angehört zu haben. Schließlich hatte er sich neben einer eigenen Ausarbeitung der Weierstraßschen Vorlesung von 1879 auch an der des Berliner Mathematischen Vereins beteiligt (Kapitel 13-14: “Skizze der Aufgabe. Aufstellen der notwendigen Bedingungen” und “Das isoperimetrische Problem”). 1881 habilitierte sich RUDIO in Zürich am Eidgenössischen Polytechnikum, wo er anschließend Professor (1885) wurde, jedoch bereits 1889 in den Bibliotheksdienst des Polytechnikums wechselte. In seinem Habilitationsgesuch vom 26. Februar 1881 an den Schweizerischen Schulrath führte er als “literarische Thätigkeit” folgendes an: seine Dissertation, eine Abhandlung über die Bewegung dreier Punkte in einer Geraden, die sich umgekehrt proportional der dritten Potenz der Entfernung anziehen, sowie eine noch nicht abgeschlossene Abhandlung über die geodätischen Linien des Rotationsellipsoides.350 Der in Berlin ausgebildete Gutachter GEORG FROBENIUS, der von 1875 bis 1892 am Polytechnikum in Zürich lehrte, bemerkte hierzu: “Der bei der ersten [Abhandlung] eingeschlagene Weg ist von Euler und Jacobi so vollständig angezeigt worden, daß er [Rudio] nur nöthig hatte, die von jenen angegebenen Vorschriften auszuführen, um die Aufgabe zu lösen. In der zweiten [Abhandlung] hat er Regeln, die von Herrn Weierstrass für einen einfachen Fall der Variationsrechnung entwickelt sind, auf einen allgemeineren übertragen, bei dem aber keine neuen Gesichtspunkte in Betracht kommen. Als wissenschaftliche Untersuchung betrachtet bieten daher zwar die vom Candidaten eingereichten Arbeiten nur wenig Neues dar. Allein sie zeigen doch seine vorzügliche Begabung, die Lösung mathematischer Probleme mit Eleganz zu entwickeln und mit Klarheit darzustellen.”351 Sich auf die pädagogischen Fähigkeiten RUDIOS beziehend empfahl FROBENIUS, das Gesuch zu genehmigen. Die eingereichten Abhandlungen sind trotz der späteren Bibliothekstätigkeit RUDIOS in Zürich nicht auffindbar,352 aber seine Habilitationsschrift wurde in gekürzter Form sieben Jahre später in der Vierteljahrsschrift der Naturforschenden Gesellschaft in Zürich (1888) unter dem oben genannten Titel abgedruckt.353 Die einleitenden Zeilen dieser Zusammenfassung weisen darauf hin, daß 349. ETH Bibliothek Zürich, Historisches Schulratsarchiv. Curriculum vitae im Habilitationsgesuch Rudio SR 3, Akten-Nr. 103. 350. aaO., Habilitationsgesuch, SR 2, Akten-Nr. 102. 351. aaO., Gutachten Frobenius vom 10.4.1881. 352. Auskünfte von Dr. Y. Voegeli und Dr. M. Unser, ETH Bibliothek, Wissenschaftshistorische Sammlungen und Archiv. 353. F. Rudio, “Ueber die Principien der Variationsrechnung und die geodätischen Linien des n-dimensionalen Rotationsellipsoides”, Vierteljahrsschrift der Naturforschenden Gesellschaft in Zürich, 43 (1898), 340-353.
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RUDIO die Anregung zur Arbeit WEIERSTRAß verdankte, der ihn veranlaßte, die in der Berliner Vorlesung über Variationsrechnung im SS 1879 vorgetragenen neuen Ergebnisse auf n gesuchte Funktionen einer Variablen zu verallgemeinern und auf ein spezielles Problem anzuwenden. Demzufolge wird der erste Teil durch eine Übersicht jener wichtigen Vorlesung eingeleitet (S. 340345). RUDIO hatte ja diese Vorlesung 1879 nicht nur gehört, sondern sie auch in einer sehr konzentrierten und gut verständlichen Form ausgearbeitet (Mitschrift D in unserer Aufstellung im Abschnitt 3.5.2.7). GEORG FROBENIUS, seinerzeit in Zürich, hatte in seinem Gutachten RUDIOS pädagogisches Geschick hervorgehoben, und auf den Vorstand der Abteilung Mathematik und Physik WILHELM FIEDLER (1832-1912) hatte RUDIOS glänzend gehaltene Probevorlesung über die geradlinigen Strahlensysteme einen ausgezeichneten Eindruck gemacht. Wir zitieren einige für den Feldbegriff charakteristische Passagen aus dieser gut lesbaren Mitschrift D: “Wir gehen nun von einem bestimmten Punkte aus u. denken alle Curven mit einer bestimmten Anfangsrichtung construirt, welche der Gleichung G = 0 [Eulersche Differentialgleichung] genügen. Wir erhalten auf diese Weise eine ganze Curvenschaar. Die Bedingung nun, daß nach jeder Richtung sich Curven legen lassen, war, daß F1 in dem gewählten Punkte u. seiner Umgebung endlich u. von Null verschieden sei. […] Unter der gemachten Voraussetzung läßt sich von dem gewählten Punkte P0 nach jeder Richtung eine Curve legen. […] Von jeder dieser Curven betrachten wir nur ein solches Stück, daß in ihm keine zugeordneten [konjugierten] Punkte liegen. Dann ist es zunächst möglich um den Punkt P0 einen so kleinen Kreis zu beschrieben, daß innerhalb desselben kein Schnitt 2er von P0 ausgehender Curven stattfinden kann. […] Wir wollen nun zeigen, daß durch die Bewegung der durch P0 gehenden Curve eine Fläche beschrieben wird. Dazu bemerken wir als Definition: Wenn unendlich viele Punkte in der Ebene definiert sind, so bilden diese eine Fläche, wenn jeder Punkt, der in einer gewissen Umgebung eines definierten Punktes liegt mit zu den definierten gehört. […] Damit ist also bewiesen, daß die durch P0 gehende Curvenschaar [von Extremalen] eine Fläche bedeckt. […] Wir können nun jede Curve P0P1 einhüllen durch eine Fläche von der Beschaffenheit, daß zu jedem ihrer Punkte von P0 aus nur eine der definirten Curven gelegt werden kann. […] Denke ich mir für jeden Punkt der Curve P0P1 den Kreis construirt, dessen sämtliche Punkte noch zu den definirten gehören, so existirt für jeden Punkt der Curve P0P1 ein solcher Kreis, der vollständig bestimmt ist. Die Aufeinanderfolge derselben bildet eine Fläche von der Beschaffenheit, daß zu jedem ihrer Punkte von P0 aus nur eine definirte Curve gezogen werden kann und daß andererseits die Fläche von diesen Curven gebildet u. bedeckt aber […] in keinem Punkte doppelt bedeckt wird.”354 354. Vorlesungsmitschrift Rudio, Staatsbibliothek Berlin, § 26 (unpaginiert).
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KAPITEL 3
In der Habilitationsschrift zählte RUDIO die drei notwendigen Bedingungen für ein Extremum auf und kam dann auf den Weierstraßschen Beweis zu sprechen, in dem WEIERSTRAß mit Hilfe einer “eigentümlichen Funktion” [Exzeßfunktion] gezeigt habe, daß diese drei Bedingungen auch hinreichend [für ein starkes Extremum] seien. RUDIO bemerkte, daß unter den gegebenen Voraussetzungen ein die in Rede stehende Kurve einhüllender Flächenstreifen [zentrales Feld] existiere, er beschrieb die bekannte Weierstraßsche Konstruktion und gab eine Definition der Exzeßfunktion. Um die hinreichenden Bedingung abzuleiten, konstruierte RUDIO ein Feld mit einem Kunstgriff, indem er einen nur wenig “hinter” 0 liegenden Punkt 0' als Ausgangspunkt für die Konstruktion eines zentralen Feldes benutzte, um dann einen Grenzübergang von 0' gegen 0 zu vollziehen. (vgl. Abbildung 3.18). Aus dem Gutachten von FROBENIUS geht indirekt hervor, daß RUDIO die Kenntnis dieses Kunstgriffes wahrscheinlich in Veranstaltungen von WEIERSTRAß gelernt hat, die er auch nach der Promotion besuchte. Man darf weiter annehmen, daß RUDIO durch seinen Weggang 1881 aus Berlin von dem eleganteren Kunstgriff mit dem vorgezogenen Punkt nichts mehr erfahren hat und daß ihn 1894 ZERMELOS Dissertation vermutlich nicht interessiert hat, so daß er hier nicht den letzten Stand der Dinge wiedergibt. In dieser Zeit widmete sich RUDIOS literarische Tätigkeit dem Schaffen von GOTTHOLD EISENSTEIN (1823-1852), was sich in der Herausgabe von dessen Briefen und seiner Autobiographie widerspiegelt.355 Der Hinlänglichkeitsbeweis mittels der Exzeßfunktion beruht auf dem Nachweis der Monotonie der differenzierbaren Funktion S(u), der in der bekannten Weise aus der Weierstraßschen Konstruktion und ihrer Parametrisierung folgt. Es geht um die Extremalität der Lösung zwischen den Punkten 0' und 1', ferner sei 0 ein Punkt auf der Extremalen durch 0' und 1', der nahe bei 0' liege. Die Extremale 01' werde durch einen Bereich umhüllt, in welchem die Exzeßfunktion ε für alle Punkte und Richtungen dasselbe Vorzeichen aufweist. Die Punkte 0' und 1' werden durch eine beliebige Kurve C innerhalb des Bereichs verbunden, 3 sei ein beliebiger Punkt auf dieser Kurve C mit der Bogenlänge u bezüglich des Punktes 0'. Setzt man S(u) = J03 + J '31',
wobei die Indizes das Integrationsintervall des Variationsintegrals bezeichnen und der Strich angibt, daß über eine Vergleichskurve integriert wird. Aus der Definition der Exzeßfunktion, erhält man, wenn man u um einen kleinen Betrag σ zu- bzw. abnehmen läßt
355. F. Rudio, Eine Autobiographie von Gotthold Eisenstein; A. Hurwitz und F. Rudio, Briefe von G. Eisenstein an M.A. Stern. Beides in: Zeitschrift für Mathematik und Physik, 40 (1895), 143168, 169-203 (Supplement).
DIE WEIERSTRAßSCHE WENDE
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S(u − + σ ) – S(u) = − +σ ε ,
und hieraus
ε = – dS / du.
Abb. 3.18. Der Punkt 0' bei 0 (aus Rudios Arbeit von 1888)
Ist also die Exzeßfunktion längs 0'31' nirgends positiv (negativ) und nicht in jedem Punkt gleich null, so ist J '0'1' > J0'1'
(bzw. J '0'1' < J0'1'),
so daß die Definitheit der Exzeßfunktion hinreichend für ein Extremum ist (natürlich unter der Annahme, daß auf der Extremalen keine konjugierten Punkte liegen). In der Mitschrift D von RUDIO steht noch nichts von einem Punkt 0' (vgl. hierzu die Abbildung. 3.6)356: “Indem wir nun einen Punkt 0 annahmen u. die zugehörige Fläche [das Feld] um ihn konstruirten, setzten wir voraus, daß diese Fläche und jener Bereich von x,y, in dem F1 sein Zeichen nicht wechselt, einen gemeinsamen Bereich haben. In diesem nehmen wir die willkürliche Linie 1,2 an u. konstruiren eine Curve 0,3, die der Differentialgleichung G = 0 genügt. Dann sind wir sicher, daß, wenn sich der Punkt 3 auf der Linie 1,2 bewegt, daß für jede solche Curve 0,3 innerhalb der 0,3 weder F1 sein Zeichen wechselt, noch ein konjugierter Punkt zu 0 sich befindet. Von der Linie 1,2 setzen wir nur voraus, daß sie stetig ist und auch x', y' auf ihr sich stetig ändern. Wir beweisen nun den Satz, daß J0,3 + J'3,2 beständig wächst oder abnimmt, wenn 3 sich von 1 nach 2 bewegt, je nachdem F1 beständig negativ oder positiv ist. Unter J0,3 […] verstehen wir das Integral ∫ F dt erstreckt über 0,3 […] [der Strich ' gibt die Integration auf der Vergleichskurve 1,2 an]. Wir gehen von 3 zu einem Nachbarpunkt 4 über. […] Wenn 4 hinreichend nahe bei 3 liegt, so ist J – J '3,4 positiv oder negativ, je nachdem F1 negativ oder positiv ist. Im Punkt 4 kann man nun dieselben Betrachtungen anstellen wie in 3 und auf diese Weise also
356. Das Feld wurde durch einen von 0 nach 1 laufenden Punkt P und einem zu ihm gehörigen und mitlaufenden Kreis K(P) erzeugt, der die Feldeigenschaft aufwies; der Fall K(0) blieb undiskutiert.
308
KAPITEL 3
in der That nachweisen, daß J0,3 + J'3,2 wächst oder abnimmt, wenn 3 von 1 bis 2 läuft, je nachdem F1 negativ oder positiv ist.”357 Die Hinlänglichkeit für Extremalität bei Definitheit der Exzeßfunktion wird in der bekannten Weise mit der Weierstraßschen Konstruktion dargelegt, wobei die Extremale 01 ganz in der Fläche liegen soll. Daß diese Tatsache für den Schluß J021 = J0,2 + J '2,1 > J0,1
(bzw. < J0,1)
wichtig ist, wird betont: “Wenn man die Curve 0,1 nicht durch einen Flächenstreifen einhüllt, so ist nicht gesagt, daß bei beliebig angenommenen 021 die Kurve 0,2 gerade in die angenommene Kurve übergeht, wenn 2 nach 1 rückt. Denn es ist möglich, daß die Punkte 0 und 1 durch mehrere der Differentialgleichung genügende Kurven verbunden werden können, für welche die Werthe der Integrale verschieden sein können.”358 Es ist hier bemerkenswert, daß RUDIO in der Kurzfassung der Habilitation 1898 (wenn auch erst sieben Jahre nach der Habilitation von 1881) die Weierstraßschen Ergebnisse öffentlich referierte, einschließlich des Kunstgriffes, sich von den (möglichen) Einschränkungen an die Richtungen bei einem zentralen Feld zu befreien. ERNST ZERMELO hatte entsprechende weitergehende Ergebnisse von WEIERSTRAß kurz in seiner 1894 gedruckten Dissertation behandelt, nämlich ebenfalls die allgemeine Feldkonstruktion mit Hilfe eines vorgezogenen Punktes. Wir zitieren hierzu die Ausführungen von HERMAN HEINE GOLDSTINE aus seiner History of the calculus of variations359: Weierstrass now remarks on a point […] which was later exploited by Zermelo and Kneser (S. 226). Die Bemerkung betrifft den gerade erwähnten Trick, die Konstruktion eines allgemeinen Feldes auf die eines zentrales Feldes zurückzuführen. Später bezieht sich GOLDSTINE wieder darauf und führt aus: As was mentioned above, it was Zermelo who, following Weierstrass, first published this [in his dissertation, pp. 87-88] and Kneser who gave currently to the notion [Lehrbuch, 1. Aufl., S. 59] (S. 248). Die Verallgemeinerungen des Feldbegriffs von RUDIO auf den n-dimensionalen Fall (n gesuchte Funktionen einer Veränderlichen) ist übrigens korrekt, weil sich RUDIO auf ein zentrales Feld beschränkte, das bekanntlich automatisch ein Mayer-Feld ist. Eine Erwähnung dieses Sachverhaltes fehlt allerdings ebenso wie die Begründung, weshalb hier der oben benutzte Kunstgriff bei der Feldkonstruktion nicht erscheint. Die Einschätzung von FROBENIUS im Gutachten, daß hier wissenschaftlich wenig Neues geleistet worden sei, ist zutref357. Vorlesungsmitschrift Rudio. Staatsbibliothek Berlin, § 27 (unpaginiert). 358. aaO., § 26. 359. H.H. Goldstine, History of the calculus of variations, New York, Springer, 1980.
DIE WEIERSTRAßSCHE WENDE
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fend, zeigt aber, daß sich FROBENIUS, der nicht auf dem Gebiet der Feldtheorie gearbeitet hatte, nicht über die Natur der später als Mayerfelder bezeichneten Extremalenscharen klar gewesen ist. Die abschließende Bemerkung, die sich auf zwei Veröffentlichungen von AMES BLISS (1907) und EARL GORDON BILL (1884-1879) (1908) bezieht, leitet bereits zum nächsten Abschnitt über die Aufnahme und Weiterführung Weierstraßscher Ideen über. In den Arbeiten The construction of a field of extremals about a given point und The construction of a space field of extremals zeigen die Autoren, daß die Vermutung von WEIERSTRAß zutreffend war, daß der Ausgangspunkt O eines zentralen Feldes als innerer Punkt eines allgemeinen Feld konstruiert werden kann.360 3.10 Zur Rezeption der Weierstraßschen Feldtheorie Auf die Besonderheiten der Rezeption von Weierstraßschen Arbeiten sind wir schon am Beginn dieses Kapitels eingegangen. Die Fortführung und Weiterentwicklung Weierstraßscher Ideen hat insbesondere HERMANN AMANDUS SCHWARZ besorgt, was ebenfalls dargelegt wurde. In Berlin klingt mit SCHWARZ schlechthin die klassische Periode des Dreigestirns KummerKronecker-Weierstraß aus, und das betrifft insonderheit auch die Variationsrechnung. Das kurze Zwischenspiel von CONSTANTIN CARATHÉODORY in den Jahren 1918-1920 ändert diese Aussage nicht, und die Dissertation Ueber eine Art singulärer Punkte der einfachen Variationsprobleme in der Ebene von ERICH BESSEL-HAGEN (1898-1946) bei CARATHÉODORY von 1920, die das Verhalten von Extremalenscharen in der Nähe singulärer Punkte untersucht und auch hinreichende Kriterien für Extrema angibt, kann schließlich als das Ende der klassischen Variationsrechnung Weierstraßscher Prägung in Berlin angesehen werden.361 SCHWARZ hat in Berlin bei 10 bzw. 11 Dissertationen als erster bzw. zweiter Gutachter fungiert; unter den Dissertationen, bei denen SCHWARZ Erstgutachter war, finden sich im weiteren Sinn nur drei Arbeiten zur Flächentheorie und Variationsrechnung – freilich war die erste Dissertation 1894 immerhin die von ERNST ZERMELO. Eine Schwarzsche Schule der Variationsrechnung gibt es somit nicht. Wir wollen insbesondere zwei Arbeiten besprechen, die zwar keinen großen Einfluß auf die mathematische Forschung hatten, die aber die Eigentümlichkeit der Verbreitung der Weierstraßschen Lehren deutlich machen, um dann die Rezeption in einem weiteren Rahmen zu erfassen. Zunächst sollen die Arbei360. Bulletin of the AMS, 13 (1906/07), 321-324; 15 (1908/09), 374-378. Bliss war von 19021903 in Göttingen gewesen, und Bill hatte sich 1910-1911 zu Studien in Bonn aufgehalten. 361. Die Arbeit ist wegen der zeitbedingten hohen Herstellungskosten nicht gedruckt worden, aber im Jahrbuch der Dissertationen der Berliner Universität (Berlin, Ebering, 1921, 225) referiert worden.
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ten zur Variationsrechnung von HARRIS HANCOCK (1867-1944) betrachtet werden. HARRIS HANCOCK, der die erste Vorlesung von SCHWARZ in Berlin über Variationsrechnung gehört hat (WS 1894) und der bei LAZARUS FUCHS mit einer Arbeit über hyperelliptische Funktionen (Zweitgutachter SCHWARZ) 1894 promoviert wurde, hat in den Annals of Mathematics in den Jahren von 1894 bis 1898 vier Artikel über Variationsrechnung erscheinen lassen, die sowohl die in Berlin bei SCHWARZ gehörten Vorlesungen als auch die durch sein Studium von Weierstraßschen Vorlesungsmitschriften erworbenen Kenntnisse wiedergeben: While a student in the University of Berlin it was my privilege to hear the lectures of Professor H.A. Schwarz on the Calculus of Variations. In its presentation this eminent mathematician followed his great teacher, Weierstrass, who had established the theory on a firm ground […] and at the same time more comprehensive than it had been hitherto. I took the opportunity to study Weierstrass’s lectures, of which there were copies in the Mathematischer Verein. My wish in these lectures has been to give a connected and simple treatment of what may be called the Weierstrassian Theory of the Calculus of Variations.362 Zwei Titel der Annals-Artikel zeigen bereits die Wurzeln dieser Gemengelage: On the number of catenaries that may be drawn through two fixed points (hauptsächlich ein Thema von SCHWARZ) und Derivation of some of the fundamental Weierstrassian formulae. Der neue und entscheidende Feldbegriff fehlt hier jedoch durchgängig. 1904, also nach dem Kneserschen Buch (1900), dem Osgoodschen Überblicksartikel363 (1901) und den Enzyklopädie-Artikeln über Variationsrechnung (1900, 1904) veröffentlichte HANCOCK seine Lectures on the calculus of variations (The Weierstrassian theory), die jedoch in historischer Hinsicht enttäuschend sind. Aus der Bemerkung: It is from the Weierstrassian standpoint that I have developed my own ideas and have presented those derived from other writers (p. iv) geht hervor, daß man diese Arbeit nicht unkritisch als Quelle benutzen darf, und das um so mehr, als fast nirgends angegeben wird, was von WEIERSTRAß, SCHWARZ oder anderen Autoren sowie vom Verfasser selbst herrührt. Wichtige Namen wie KNESER, OSGOOD oder HILBERT spielen keine Rolle im Buch. HANCOCK führt im Kapitel 11 Notion of a field den Flächenstreifen ein, der für ein zentrales Feld mit Hilfe der Normalen konstruiert wird. Nach der kurzen Einführung des Begriffs (p. 161) wird in dem Kapitel ausführlich untersucht, wann sich benachbarte Extremalen der Schar treffen, wann also 362. H. Hancock, Lectures on the Calculus of Variations, Cincinatti, University Press, 1904, Preface, pp. iii, v. 363. W. Osgood, Sufficient conditions in the calculus of variations, Annals of Mathematics, 2 (1901), 105-129.
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konjugierte Punkte für ein Feld vorliegen. Hier schimmert, wenn auch nur für dieses Kapitel, überproportioniert Weierstraßsches Gedankengut hindurch. In dem nächsten Kapitel wird die Exzeßfunktion eingeführt sowie die vierte notwendige Bedingung abgeleitet und deren Hinlänglichkeit gezeigt. Jedoch die hinreichende Bedingung für schwache Extremalität war unzureichend dargestellt,364 und auch in der Ungenauigkeit wird die Bedingung etwas verworren demonstriert: HANCOCK startet mit einem zentralen Feld, geht aber dann im Beweis kommentarlos zu einem allgemeinen Feld über, welches er wohl aus der Schwarzschen Vorlesung kannte. Auf eben diesen Sachverhalt bezieht sich CARATHÉODORYS Kritik: “Die Ableitung des Satzes, daß die von Weierstraß gefundene Bedingung auch hinreichend ist, um ein starkes Minimum zu liefern, erscheint u.a. in einer durch den Autor nicht sehr glücklich modifizierten Form desjenigen Beweises, den Schwarz angegeben hat.”365 Die amerikanische Mathematik hat HANCOCK gewiß zahlreiche Anregung in der Variationsrechnung zu verdanken, wenn auch auf einem viel niedrigerem Niveau als es bei seinem zeitweiligen Chicagoer Kollegen OSKAR BOLZA der Fall war. Eine amerikanische Bibliographie zur Variationsrechnung in den von G. A. BLISS herausgegebenen Contributions to the calculus of variations366 führt – allerdings zu unrecht – Arbeiten von HANCOCK gar nicht an. Über das Verhältnis von HANCOCK und BOLZA siehe den Abschnitt 6.4.1. Die andere Arbeit, die wir besprechen wollen, stammt von WASILI ERMA367 KOFF (1845-1902). Es handelt sich dabei um die französische Übersetzung Calcul des variations d’après Weierstrass (1905)368 einer zwei Jahre zuvor erschienenen russischen Arbeit Varizionnoje istschislenije po Weierstrassu.369 Zunächst hatte ERMAKOFF versucht, die Übersetzung in MITTAG-LEFFLERS Acta unterzubringen, aber der Gutachter A. KNESER hatte die Veröffentlichung abgelehnt. Über die speziellen Einwände KNESERS hinaus gibt das Gutachten eine interessante Beschreibung der Weierstraßschen Rezeption bzw. deren Möglichkeiten:
364. Siehe hierzu die Kritik von Carathéodory in dem Jahresbericht der DMV, 16 (1907), Literarisches S. 107. 365. aaO., 107. 366. G.A. Bliss, Contributions to the calculus of variations, 1938-1941, Chicago, University Press, 1941 (auch Reprint o.J.). Bibliography, 495-527. Die Autoren waren Max Coral, Herman H. Goldstine, J. Ernest Wilkins, Jr. Es ist auch bemerkenswert, daß diese Bibliography am ersten amerikanischen Wirkungsort von Hancock in Chicago erstellt wurde. 367. Ermakoff hat in Kiew bis 1868 studiert und wurde dort 1874 Mathematikprofessor. Er hat Themen der Variationsrechnung bearbeitet, und in den Kiewer und Charkower Universitätsschriften gibt es einige Arbeiten von ihm. D. Mirimanov hat die in Rede stehende Arbeit übersetzt. Ermakoff ist in der Theorie der unendlichen Reihen mit einem Satz bekannt, siehe z.B. K. Knopp, Theorie und Anwendung der unendlichen Reihen. Berlin: Springer 51964, S. 305 ff. 368. W.P. Ermakoff, “Calcul des variations d’après Weierstrass”, Journal de Mathématiques pures et appliqées, (6ième série), 1 (1905), 97-137. 369. Otschet i protokoli fisiko-matematitscheskowo Obtschestwa pri Kiewskom Uniwersitetje 1903, n° 3.
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“Ich glaube, dass Sie die Arbeit von Ermakoff, ohne die Acta irgendwie zu schädigen[,] ungedruckt lassen können. Erstens ist [es] schon nicht mehr nötig, eine Darstellung der Variationsrechnung nach Weierstrass zu geben, wenn man nicht etwa authentische Aufschlüsse über Weierstrass’ eigene Arbeiten bringen kann. Zweitens ist eine solche Darstellung durchaus entbehrlich, wenn sie so flüchtig verfährt, wie unser Autor in seinen ersten Paragraphen; er gibt nämlich eine Ableitung des Zusammenhanges zwischen dem Zeichen der Grösse ε und dem Eintreten des Extremums, bei der die Jacobische, auf die conjugierten Punkte bezügliche Bedingung ganz im Hintergrunde bleibt, sodass sie zunächst überflüssig erscheint. Der Fehler ist ungefähr so, wie wenn man die Gleichung einer Curvenschar in der Form f(x, y) = c schreiben und nun schliessen wollte, dass keine Enveloppe existieren kann. Diese ersten Paragraphen haben grosse Ähnlichkeit mit einer Abhandlung, die Ermakoff vor Jahren [1891] in den Kiewer Universitätsschriften publiziert hat, und die ich in meinem noch nicht erschienenen Encyklopädieartikel über Var.R. [Variationsrechnung] unter der Rubrik ‘verfehlte Versuche’ erwähnt habe.370 Will man höhere Anforderungen stellen, so ist auch ein Mangel, dass die Integrale immer in der Form ∫ f ( x, y, p ) dx , nicht ∫ F ( x, y, x', y' ) dt angesetzt werden, wodurch meines Erachtens immer wesentliche Schwierigkeiten umgangen werden. Nicht übel ist der später auftretende Gedanke, die Singularitäten der Enveloppe zu beachten und den Ort der Singularitäten der Extremalen zu der Enveloppe hinzuzurechnen, ähnlich wie man dies nach Darboux bei den singulären Lösungen der Differentialgleichungen tut. Es ist aber zu bemerken, dass unser Autor verschiedene neuere Arbeiten, die sich mit dem Auffinden des Extrems in singulären Fällen beschäftigen, insbesondere die von Osgood371 und anderen amerikanischen Mathematikern, nicht erwähnt.”372 ERMAKOFF nennt als Literatur die Dissertationen von ERNST ZERMELO (1894) und NADESCHDA GERNET (1902) sowie das Knesersche Lehrbuch der Variationsrechnung (1900); beide Enzyklopädie-Artikel über Variationsrechnung (1900, 1904) fehlen, und ebenso wird HILBERT nicht erwähnt (vergl. hierzu obigen Abschnitt über ZERMELO sowie das Kapitel 5 über HILBERT und darin den Abschnitt 5.6.3 sowie 6.6.1 über die Arbeit von GERNET). ERMAKOFF begann die Arbeit so: Tout le monde sait que le calcul des variations est redevable d’un progrès réel à Weierstrass, mais peu de mathématiciens savaent exactement en qui consiste sa contribution à cette branche
370. Encyklopädie der mathematischen Wissenschaften, Band II/1, Leipzig, B.G. Teubner, 1899-1916, 606. Kneser hatte seinen Artikel 1900 fertiggestellt, die Lieferung über Variationsrechnung (A 8) erschien 1904. 371. Z.B. Osgood, “On the existence of a minimum […] a revision of a theorem of Kneser’s”, Transactions of the AMS, 2 (1901), 166-182. 372. Brief vom 23.3.190, Institut Mittag-Leffler, Djursholm.
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de l’Analyse.373 Diese Worte können allerdings in gewisser Weise auch auf ERMAKOFF selbst bezogen werden und belegen, wie problematisch – aus historischer Sicht – die erklärlichen seinerzeitigen Versuche waren, dem Mangel an authentischen Weierstraßschen Arbeiten abzuhelfen. Zunächst bemerkte ERMAKOFF noch zutreffend: Les recherches de Weierstrass l’ont conduit à un résultat très important, qui n’a pas été assez remarqué: il a montré que l’accroissement total d’une intégrale peut être exprimé par une intégrale prise le long d’un chemin infiniment voisin et que le signe de cet accroissement dépend de celui de la fonction à intégrer. Ainsi, il n’a aucune nécessité de faire des calculs compliqués pour trouver la variation seconde. Le maximum [fort] et le minimum [fort] dépendent entièrement du signe d’une certain fonction que j’appellerai Fonction de Weierstrass.374 Aber danach wechselte ERMAKOFF kommentarlos von den Weierstraßschen Parameterproblemen zu der funktionalen Problemstellung und dem Hilbertschen Gedanken, den Totalzuwachs mit Hilfe eines invarianten Integrals zu erfassen. ERMAKOFF betrachtete zunächst ein solches einfaches Variationsproblem, d.h. anders als WEIERSTRAß legte er das Integral
∫ f ( x, y, y' ) dx seinen Untersuchungen zugrunde. Er bewies dann, daß alle ersten (intermediären) Integrale y' = p(x, y, a)
der dem Problem entsprechendem Eulerschen Differentialgleichung den Ausdruck ∂f f ( x, y, p ) ∂x + ----- ( ∂y – p ∂x ) ∂p
zu einem exakten Differential machen. Ein erstes Integral erklärt auf natürliche 0 Weise ein Richtungsfeld. Für eine in dieses Feld eingebettete Funktion y
373. W.P. Ermakoff, “Calcul des variations d’après Weierstrass”, Journal de Mathématiques pures et appliqées (6ième série), 1 (1905), 97-137, 97. “Es ist allgemein bekannt, daß die Variationsrechnung Weierstraß einen wirklichen Fortschritt verdankt, aber nur wenige Mathematiker wissen genau, worin dessen Beitrag zu dieser Disziplin der Analysis besteht”. 374. aaO., 98. “Die Untersuchungen von Weierstraß haben auf ein sehr wichtiges Ergebnis geführt, das nicht genug beachtet worden ist: er hat gezeigt, daß der totale Zuwachs eines Integrals durch ein Integral ausgedrückt werden kann, das längs eines unendlich benachbarten Weges berechnet wird, und daß das Vorzeichen dieses Zuwachses von der zu integrierenden Funktion abhängt. Daher benötigt er keinerlei komplizierten Rechnungen, um die zweite Variation zu ermitteln. Das Maximum und das Minimum hängen ganz vom Vorzeichen einer gewissen Funktion ab, die ich Weierstraß-[Exzeß]Funktion nennen werde”.
314
KAPITEL 3
(eine Extremale) verschwindet der zweite Summand. Damit folgt – wie bei HILBERT – für die totale Variation der Ausdruck 0
J(y) – J(y ) =
⎧
∂f ( x, y, p ) ⎫
- ⎬∂x , ∫ ⎨⎩ f ( x, y, y' ) – f ( x, y, p ) – ( y' – p ) ----------------------∂p ⎭
in dem die Extremale selbst nicht mehr erscheint, sondern durch das Feld erfaßt wird. Die durch die geschweifte Klammer definierte Funktion, die Exzeßfunktion des funktionalen Problems, bezeichnete ERMAKOFF als Weierstraß-Funktion (fonction de Weierstrass). Diese Methode war sowohl in HILBERTS bekanntem Pariser Vortrag (Problem 23) dargestellt als auch in der von ERMAKOFF zitierten Dissertation seiner Landsmännin GERNET bei HILBERT erwähnt worden,375 trotzdem wird sie von ERMAKOFF nicht auf HILBERT zurückgeführt. ERMAKOFF ging allerdings über das von WEIERSTRAß betrachte Problem hinaus und untersuchte Variationsprobleme mit zwei gesuchten Funktionen einer Veränderlichen. Das ist auch der von GERNET betrachtete Fall; während GERNET sich auf ein zentrales Feld beschränkte, das automatisch ein MayerFeld ist, bestimmte ERMAKOFF seine ersten Integrale über die Integrabiltätsforderungen an das Differential (p. 106) einer partiellen Differentialgleichung (Hamilton-Jacobische Differentialgleichung, die als solche namentlich nicht genannt wird; p. 107). Geometrisch interpretiert stellt die Lösung der Hamilton-Jacobischen Differentialgleichung die transversale Schar dar, so daß auch in diesem Fall wiederum ein totales Differential vorliegt (p. 108). Hier geht ERMAKOFF sowohl über WEIERSTRAß als auch über HILBERT und GERNET hinaus und gibt gegenüber MAYER eine lesbarere Darstellung, freilich auf Kosten der Tatsache, daß er das Feld nicht konstruiert. Von einem anderen Standpunkt hat diese Beziehung kürzlich CRAIG FRASER (geb. 1951) beleuchtet.376 FRASER geht ebenfalls von der Parameterdarstellung zur funktionalen Fassung des Problems über, wobei er den Parameter t für die speziell gewählte Vergleichskurve in der Weierstraßschen Konstruktion (Parameterproblem) durch die unabhängige Variable x für alle zulässigen Vergleichsfunktionen ersetzen kann. Der Weierstraßsche Fundamentalsatz, der den Totalzuwachs zwischen der Extremalen C0 : y = y0(x) und einer beliebigen Vergleichskurve C : y = y(x) ausdrückt, 0
∆J = J ( y ) – J ( y ) =
∫ ε dx
C
führt nach dem Eintragen der entsprechenden Integranden rechts und links sofort auf das Hilbertsche Unabhängigkeitsintegral (p Gefällefunktion):
375. N. Gernet, Untersuchungen zur Variationsrechnung, Dissertation, Göttingen, 1902. Kapitel 2: Die neue [Hilbertsche] Methode der Variationsrechnung, 20-31. 376. Persönliche Mitteilung, Juli 1999.
DIE WEIERSTRAßSCHE WENDE 0
0
∫ f ( x, y , y ' ) dx C
0
=
⎧
∂f ( x, y, p )
315
⎫
- ( y' – p ) ⎬∂x . ∫ ⎨⎩ f ( x, y, p ) + ----------------------∂p ⎭
C
Genau wie die deutschen Schulen der Variationsrechnung (siehe Kapitel 5, Hilbert) hat auch die französische Mathematik die Weierstraßsche Methode aufgenommen. In der französischen Ausgabe Encyclopédie des sciences mathématiques377 der deutschen Encyklopaedie, die JULES MOLK (18571914), der bei WEIERSTRAß in Berlin studiert hatte, herausgegeben hat, sind die Artikel über Variationsrechnung von KNESER (1900) und HAHN sowie ZERMELO (1904) durch MAURICE LECAT (1884-1951) wesentlich überarbeitet und erweitert worden. Der berühmte Analysiskurs von ÉDOUARD GOURSAT (1858-1936), der seinerzeit an der Pariser Universität die Analysis schlechthin repräsentierte, geht ausführlich auf die Weierstraßsche Theorie ein. Die entsprechende Buchausgabe Cours d’analyse mathématique378 belegt dies. Durch ERMAKOFF falsch informiert, daß die Hilbertsche Methode sich schon bei WEIERSTRAß findet, hat GOURSAT konsequent den durch das Unabhängigkeitsintegral gekennzeichneten Sachverhalt als Weierstraßschen Satz bezeichnet.379 In der oben referierten Arbeit ERMAKOFFS, auf die GOURSAT sich bezieht, ist jedoch vom Autor hierfür weder einen Beweis gegeben noch die Priorität überhaupt erwähnt worden. GOURSAT gibt eine originelle Interpretation der Weierstraßschen Methode, die auf KNESERS Anschauungen fußt.380 Zu den Lösungen der Eulerschen Differentialgleichung korrespondiert eine Funktion θ(x, y), die die transversale Schar jenes Feldes beschreibt und deren totales Differential verschwindet. GOURSAT zeigt, daß für die totale Variation gilt: J(C) – J(C0) =
∫ f ( x, y, y' ) dx – ∫ dθ
C
=
C0
∫ ε ( x, y, y', p ) dx
=
∫ { f ( x, y, y' ) dx – dθ }
=
C
C
und bemerkte: Weierstrass a présenté sa méthode sous une forme un peu différente, qui met en évidence la signification de cette fonction θ(x, y).381
377. Encyclopédie des sciences mathématiques; édition française sous la direction de Jules Molk. II 31, Calcul des variations, Paris, Gauthier-Villars, 1913, 1-288. 378. E. Goursat, Cours d’analyse mathématique, Paris, Gauthier-Villars. Die Variationsrechnung befindet sich in der 1. Auflage von 1905 im Bd. 1, in der zweiten und dritten Auflage (1915 und 1922) ist sie im Bd. 3 zu finden. 379. Bei Goursat ist in der zweiten Auflage des Cours auf Seite 609 die Fußnote zu finden: D’aprés M. W. Ermakoff (Journal de Mathématiques, 1 (1905), 97), cette méthode aurait aussi été employée par Weierstrass dans ses leçons (Monsieur W. Ermakoff “zufolge ist diese Methode bereits von Weierstraß in seinen Vorlesungen angewandt worden”). 380. aaO., 2. Aufl., 617-618. 381. aaO., 617. “Weierstraß stellte seine Methode in etwas anderer Form dar, die die Bedeutung der Funktion θ hervorhebt”.
316
KAPITEL 3
Gleichfalls gehen die 1910 erschienenen Leçons sur le Caclul des Variations382 von JACQUES HADAMARD auf die Weierstraßschen Methoden ein, wobei HADAMARD einen ganz anderen Standpunkt als die zeitgenössischen Autoren einnimmt, da er die Variationsrechnung als ein Kapitel der gerade entstehenden Funktionalanalysis begriff (Chap. VII). Einige Fragen der klassischen Analysis wie etwa der Nachbarschaftsbegriff (Chap. II, La notion de voisinage) wurden dabei bereits von einem allgemeinen Gesichtspunkt behandelt und dadurch besser beleuchtet. Diese Dinge, wie auch solche Fragen der Lösbarkeit des Randwertproblems für (die Eulersche) Differentialgleichungen, gehen im Buch der “klassischen” Variationsrechnung voran. HADAMARD bezeichnete aus dieser Sicht heraus die Menge der zulässigen Vergleichskurven als champ fonctionnel (p. 58), wodurch sich gegenüber der Weierstraßschen Terminologie die Notwendigkeit eines anderen Begriffs für das “Feld” bzw. die (einparametrige) “Extremalenschar” ergab, nämlich den faisceau spécial – kurz faisceau und unter analytischen Gesichtspunkt auch den faisceau régulier (p. 361). Der Begriffsbildung folgt unmittelbar die construction de Weierstrass zur Herleitung der hinreichenden Bedingungen für ein starkes Extremum durch einen exakten Ausdruck für die totale Variation anstelle einer Näherung. Allerdings hat HADAMARD die das Kapitel einleitenden Sätzen so geendet: C’est ce qu’ont fait, indépendamment l’une de l’autre, Weierstrass et M. Darboux.383 Auf die Beiträge von GASTON DARBOUX (18421917) wird im Abschnitt 4.5.3 eingegangen. Wir erwähnen noch, daß HADAMARD in gewissen Kriterien für schwache Extrema die Methoden von WEIERSTRAß und HILBERT angewandt sah, vgl. hierzu die Paragraphen 389f. Réduction de la méthode de Jacobi-Clebsch à celle de Hilbert [et de Weierstrass], in dem gezeigt wird, daß die Transformation von Clebsch sowohl als ein besonderer Fall der Weierstraßschen als auch der Hilbertschen Methode gedeutet werden kann. HENRI POINCARÉ hat beispielsweise die Weierstraßsche Bedingung an die Exzeßfunktion durch die Forderung f ( x, y 1, …, y n, p 1 + ε 1, …, p n + ε n ) – ∑ ε i f Pi → extremum i
ausgedrückt, wobei sich für diese Funktion von ε ein Extremum für ε1 = ε2 = … = εn = 0 ergibt; wird auf einem Intervall minimiert, so folgt die Bedingung für ein starkes Minimum, wird nur jedoch punktweise minimiert, so folgt die Bedingung für schwache Minima.384 Die Chicagoer Schule, die der Weierstraß-Schüler OSKAR BOLZA maßgeblich begründet hat, pflegte und entwickelte die (parametrische) Weierstraßsche 382. J. Hadamard, Leçons sur le Caclul des Variations, Paris, Hermann, 1910. 383. aaO., 360. “Das haben Weierstraß und Darboux unabhängig voneinander gemacht”. 384. H. Poincaré, Les méthodes nouvelles de la mécanique céleste, Band 3, Paris, 1899, 261.
DIE WEIERSTRAßSCHE WENDE
317
Theorie, verschaffte aber auch dem Funktionenproblem Bürgerrecht. Das zeigt sich sowohl in BOLZAS als auch in BLISS’ Büchern sowie in den Arbeiten der Schüler. Auch WILLIAM FOGG OSGOOD (1864-1943) hat in seinen lediglich drei Artikeln zur Variationsrechnung es nicht versäumt, in der Arbeit Sufficient conditions in the calculus of variations (1901)385 eine ausgezeichnete Übersicht des derzeitigen Standes zu geben und dabei natürlich auch die Weierstraßschen Methoden gewürdigt: It was at this point that Weierstrass took up the theory, an he continued its development by supplying sufficient conditions. […] The object of this paper is to give an account of Weierstrass’s work (p. 105). OSGOOD vereinfachte in der Arbeit den Weierstraßschen Beweis für den Zusammenhang der Vorzeichen von Fpp und der Funktion f(s) (negative Ableitung der Exzeßfunktion, siehe oben) (p. 116), und er ersetzte einen Teil eines Kneserschen Beweises über das transversale Feld durch Weierstraßsche Ideen (p. 120). OSGOOD traf aufgrund der unpublizierten Weierstraßschen Arbeiten auch falsche Prioritätsentscheidungen, denn das mit einem zentralen Feld erzeugte allgemeine Feld durch “Vorziehen” des Ausgangspunktes erschien vermutlich in Seminaren von WEIERSTRAß nach der Vorlesung im SS 1879, da es in einige Vorlesungsausarbeitungen Eingang gefunden hat; gedruckt ist es bereits in der Dissertation (1894) von ERNST ZERMELO (S. 86f.) und nicht erst im Kneserschen Buch (p. 115) zu finden, vgl. hierzu die Abschnitte 3.5.2.7, 3.9.5 und 3.9.6. Um einen englischen Beitrag zu nennen, sei auf den Artikel Note on Weierstraß’ E-function in the calculus of variations386 (1908) von AUGUST EDWARD HUGH LOVE (1863-1940) verwiesen. Es war LOVE, der sich in Cambridge um ein Exemplar der Weierstraßschen Vorlesungsmitschrift von 1884 bemüht hatte (siehe Abschnitt 3.2), das sich noch heute in der Bibliothek des St. Johns College in Cambridge befindet und das noch ANDREW FORSYTH (1856-1942) für seine Variationsrechnung von 1927 als Quelle gedient hat.
385. W. Osgood, “Sufficient conditions in the calculus of variations”, Annals of Mathematics, 2 (1900-1901), 105-129. 386. A.E.H. Love, “Note on Weierstraß’ E-function in the calculus of variations”, London Mathematical Society, 6 (1908), 205-209.
KAPITEL 4
WELLENFLÄCHEN, GEODÄTISCHE UND TRANSVERSALEN
The calculus of variations with Bliss (two quarters) taught me all about the brachistochrone (I did not care) and about fields of extremals (I did), but I did not really learn anything about the connections with geometric optics (I found that out in Göttingen) or about the connections with Hamiltonian mechanics, which I had to tease out later on my own. SAUNDERS MAC LANE in “A century of mathematics in America”
4.1 Allgemeines Das gemeinsame Band, das die verschiedenartigen Begriffe Wellenfläche, Geodätische und Transversale zusammenhält, ist in der Vorgeschichte der Kneserschen Feldtheorie zu finden. Das diesem Kapitel vorangestellte Zitat weist auf eine Eigentümlichkeit hin, die Teile dieser Vorgeschichte kennzeichnet, nämlich auf die Entstehungsgeschichte von HAMILTONS geometrischer Optik und seiner Integrationstheorie in der Mechanik. Die erste wurde nicht nur in der Variationsrechnung, sondern selbst dort, wo sie – wie bei optischen Instrumenten – von Interesse war, bald vergessen. Ein Grund dafür dürfte sicher gewesen sein, daß die Jacobische Lesart und glanzvolle Weiterbildung der mechanischen Ausführungen schnell die optischen Wurzeln überstrahlten, sehr zum Schaden der Optik, der Geometrie der Strahlensysteme und natürlich der Feldtheorie. Diesen Sachverhalt hat in Deutschland erstmals FELIX KLEIN (1849-1925) in einer 1890 in Halle gehaltenen Rede konstatiert,1 er ist von EDUARD STUDY (1862-1930) 1905 erneut dargelegt2 und schließlich von GEORG PRANGE
1. F. Klein, “Über neuere englische Arbeiten zur Mechanik”, Jahresbericht der DMV, 1 (189091), 35-36. 2. E. Study, “Sir William Rowan Hamilton” und “Über Hamiltons geometrische Optik und deren Beziehung zur Theorie der Berührungstransformationen”, Jahresbericht der DMV, 14 (1905), 421-424, 424-438.
320
KAPITEL 4
(1885-1941) in mehreren Arbeiten hervorgehoben worden.3 STUDY merkte beispielsweise an, daß es keine leichte Aufgabe sei, abzuschätzen, was die Variationsrechnung WILLIAM ROWAN HAMILTON (1805-1865) zu verdanken habe.4 Dieser Aufgabe hat sich dann PRANGE in den genannten Arbeiten unterzogen, die unsere Hauptquelle für die Würdigung der Hamiltonschen Beiträge zur Variationsrechnung sind. Während die Thematik der geradlinigen Strahlensysteme weitere Bearbeiter wie etwa ERNST EDUARD KUMMER (1810-1893) fand,5 der noch auf die Hamiltonschen Wurzeln in seinen Untersuchungen verwies, vermißt man in der folgenden Entwicklung, die über HAMILTON hinausging, an einschlägigen Stellen dessen Namen, selbst in den Standardwerken der Differentialgeometrie von LUIGI BIANCHI (1856-1928) oder GASTON DARBOUX (1842-1917).6 Die auf HAMILTON folgenden Generationen haben dessen enge Verbindung von geometrischen und optischen Auffassungen aufgelöst und die Reichhaltigkeit seiner Gedanken auf die mechanischen Betrachtungen eingeengt, in denen der für uns interessante anschauliche Feldbegriff der Optik verständlicherweise in den Hintergrund tritt. Auch unser Thema grenzt den Gesichtskreis ein, nämlich insbesondere auf die optischen Untersuchungen HAMILTONS, und es skizziert kurz die Jacobische Weiterführung von HAMILTONS mechanischen Ideen. Die erwähnte Kummersche Arbeit Allgemeine Theorie der geradlinigen Strahlensysteme benötigt Hilfsmittel aus der Flächentheorie, und abschließend hob KUMMER daher die Tragweite der Gaußschen Begriffe schlechthin hervor, deren Einfluß sich weit über die Gebiete erstrecke, in denen sie entstanden sind.7 Damit ist auch die Brücke zu den Gaußschen Untersuchungen über geodätische Linien geschlagen, wie sie in der französischen Schule der Differentialgeometrie fortgeführt wurden und welche dabei auch Beiträge zum feldtheoretischen Konzept lieferte. Ebenfalls verbindet das exemplarische Variationsproblem der atmosphärischen Strahlenbrechung bei veränderlicher Dichte, das auch HAMILTON behandelt hatte, in KUMMERS Arbeit die ersten beiden Abschnitte mit den nachfolgenden. In anderer, nämlich geometrischer Ausdrucksweise geht es hierbei um die Theorie der geodätischen Linien auf
3. G. Prange, “W.R. Hamiltons Bedeutung für die geometrische Optik”, Jahresbericht der DMV, 30 (1921), 69-82; “W.R. Hamiltons Arbeiten zur Strahlenoptik und analytischen Mechanik”, Nova Acta Leopoldina, 107, 1 (1923); W.R. Hamiltons Abhandlungen zur Strahlenoptik, (übersetzt und mit Anmerkungen herausgegeben von G. Prange), Leipzig, Akademische Verlagsgesellschaft, 1933. 4. E. Study, “Sir William Rowan Hamilton”, Jahresbericht der DMV, 14 (1905), 421-424, Zitat 422. 5. E. Kummer, “Allgemeine Theorie der geradlinigen Strahlensysteme”, Journal für die reine und angewandte Mathematik, 57 (1860), 189-230, Erwähnung von Hamilton, S. 189 f. 6. L. Bianchi, Vorlesungen über Differentialgeometrie (dtsch. von Lukat), Leipzig, B.G. Teubner, 1899, z.B. 570; G. Darboux, Théorie des surfaces, t. 2, Paris, Gauthier-Villars, 1899, z.B. 480. 7. E. Kummer, “Allgemeine Theorie der geradlinigen Strahlensysteme”, Journal für die reine und angewandte Mathematik, 57 (1860), 189-230, 230.
WELLENFLÄCHEN, GEODÄTISCHE UND TRANSVERSALEN
321
einer Mannigfaltigkeit, die durch eine quadratische Differentialform definiert ist und die auf den gewöhnlichen euklidischen Raum konform abgebildet werden kann. Wenn man etwas zurücktritt und die Beziehungen von Optik und Variationsrechnung in Jahrhundertschritten beschreibt, so ergibt sich eine interessante Abfolge. Optische Probleme stehen bereits an der Wiege der Variationsrechnung. Neben den Arbeiten von CHRISTIAAN HUYGENS (1629-1695), exemplarisch sei sein Traité de la lumière (gedruckt 1690) genannt, ist es vor allem die Beschäftigung von JOHANN BERNOULLI (1667-1748) mit der atmosphärischen Strahlenbrechung, die ihn beim Brachistochronenproblem (1696) auf die mechanisch-optische Analogie aufmerksam machte und dabei das Variationsproblem als das verbindende mathematische Band auswies. Ein Jahrhundert später erschien dieses gemeinsame Band bei HAMILTON in veränderter Form wieder, indem es die Emissionstheorie (materielle Lichtauffassung) und die Undulationstheorie (begriffliche Lichtbeschreibung) unter eine mathematische Theorie brachte; es wurde aber nachfolgend durch JACOBI wirkungsvoll in den mechanischen Zusammenhang gestellt. Unser roter Faden in dem historischen Durchlauf führt ein Jahrhundert später wieder auf die volle Bedeutung der Variationsrechnung, als der Zusammenhang von Mechanik und geometrischer Optik (Strahlenoptik) modellhaft für die Entstehung der Wellenmechanik wurde. Die klassische Mechanik versagte bei der Beschreibung des atomaren Bereichs, und die Idee, atomare Bewegungen mit Wellenvorgängen zu beschreiben, verkettet die Mechanik wieder mit der Optik. Die “Mechanik der Atome” läßt sich auf der Wellentheorie oder approximativ auf der geometrischen Optik (der Lichtstrahlen) aufbauen. Das von LOUIS DE BROGLIE (18921987) in seiner Dissertation 1924 vorgeschlagene Dualitätskonzept, daß materielle physikalische Objekte nicht nur über Korpuskular-, sondern auch über Welleneigenschaften verfügen, wurde 1926 durch ERWIN SCHRÖDINGER (1887-1961) in kurzer Zeit zur Wellenmechanik ausgearbeitet. Das Verhältnis von klassischer Mechanik und geometrischer Optik entspricht dabei dem von Wellenmechanik und Wellenoptik, wobei die ersteren Disziplinen die letzteren approximieren (durch Idealisierungen wie Massenpunkt bzw. Lichtstrahl). Wenn die Wellenlänge des Lichtes nicht mehr vernachlässigbar ist, so kommt die Quantisierung ins Spiel, und SCHRÖDINGER gelangte über die Eigenwerte eines Variationsproblem zu den Quantenbedingungen und zu der nach ihm benannten Schrödinger-Gleichung. DAVID HILBERT (1862-1943) hat nicht nur die klassische, sondern auch die moderne Physik mit Hilfe von Wirkungsprinzipien dargestellt, und auf diese mathematische Behandlung auf der Grundlage der Variationsrechnung werden wir im Abschnitt 5.8.4. genauer eingehen. Im erwähnten Zusammenhang ist folgende Bemerkung SCHRÖDINGERS aus seiner Nobelpreisrede von 1934 bemerkenswert, die seine Wertschätzung der Wellentheorie ausdrückt:
322
KAPITEL 4
“Nach der Wellentheorie des Lichtes haben die Lichtstrahlen eigentlich nur fiktive Bedeutung. Sie sind nicht physische Bahnen irgendwelcher Lichtteilchen, sondern eine mathematische Hilfskonstruktion, die sogenannten Orthogonaltrajektorien der Wellenflächen, gleichsam gedachte Führungslinien, die an jeder Stelle senkrecht zur Wellenfläche weisen, in der letztere fortschreitet. […] Es nimmt wunder, daß ein so wichtiges allgemeines Prinzip wie das Fermatsche seine Aussage direkt auf diese mathematischen Hilfslinien bezieht, nicht auf Wellenflächen, und man könnte aus diesem Grund geneigt sein, es nur für ein mathematisches Kuriosum zu halten. Aber weit gefehlt. Erst vom Standpunkt der Wellentheorie wird es richtig verständlich und hört auf, ein göttliches Wunder zu sein. Vom Wellenstandpunkt ist nämlich die sogenannte Krümmung des Lichtstrahls viel unmittelbarer verständlich als Schwenkung der Wellenfläche, die trivialer Weise erfolgen muß, wenn benachbarte Teile einer Wellenfläche verschieden schnell fortschreiten. […] So erscheint das Prinzip von Fermat geradezu als die triviale Quintessenz der Wellentheorie. Darum war es eine recht merkwürdige Sache, als eines Tages Hamilton die Entdeckung machte, daß auch die wirklichen Bewegungen von Massenpunkten in einem Kraftfeld […] von einem ganz ähnlichem Prinzip beherrscht wird. […] Es schien so, als hätte die Natur ein und dieselbe Gesetzmäßigkeit zweimal auf ganz verschiedene Weise verwirklicht: das eine Mal beim Licht vermittels eines ziemlich durchsichtigen Wellenspiels, das andere Mal bei den Massenpunkten, wo man gar nicht durchsah, es sei denn, daß man auch ihnen irgendwie eine Wellennatur zuschreiben wolle.”8 4.2 William Rowan Hamilton (1805-1865) WILLIAM ROWAN HAMILTON fiel sehr früh durch seine außerordentliche Begabung auf. Mit 15 Jahren wandte er sich der Mathematik zu, und bereits vier Jahre später legte er der Irischen Akademie eine Abhandlung On caustics9 vor, die zwar nicht gedruckt wurde, in der aber schon seine grundlegenden Ideen zur Optik enthalten waren, die einige Jahre später in dem Essay on the theory of systems of rays (1828) und den drei folgenden Supplementen (1830 und 1832) entfaltet wurden.10 GEORG PRANGE hat in mehreren Arbeiten die Beziehungen der Hamiltonschen Arbeiten zur Variationsrechnung aufgezeigt,11 und ich folge im weiteren diesen Ausführungen.
8. E. Schrödinger, “Der Grundgedanke der Wellenmechanik”, Die moderne Atomtheorie, Nobelpreisreden, Leipzig, Hirzel, 1934, Zitate S. 21 f., 23. 9. Gedruckt erstmals in: The Mathematical Papers of Sir William Rowan Hamilton, vol. 1, Cambridge, University Press, 1931, 345-363. 10. Transactions of the Royal Irish Academy, 15 (1828), 69-174; 16 (1830), 3-62, 93-126; 17 (1837 [für 1832]), 1-144. 11. Siehe Fußnote 3.
WELLENFLÄCHEN, GEODÄTISCHE UND TRANSVERSALEN
323
Die Arbeiten HAMILTONS entstanden im Widerstreit der Deutungen von optischen Erscheinungen, wie sie sich in der Newtonschen Emissionstheorie und der Huygensschen Undulationstheorie zeigten.12 Für HAMILTON spielte es bei der Beantwortung der grundsätzlichen Frage, wie Strahlensysteme in optischen Instrumenten allgemein zu charakterisieren seien, keine Rolle, von welcher Theorie er ausging. Er betonte gleich am Beginn des Essay (I,3), daß seine Herleitung nicht an die materielle Natur des Lichtes gebunden, sondern völlig unabhängig von irgendwelchen physikalischen Annahmen über die Natur des Lichtes sei. Betrachtet man in der Emissionstheorie die Lichtstrahlen für “gewöhnliche” physikalische Systemen, so sind diese Normalen an die entsprechenden Wellenflächen der Lichtausbreitung. HAMILTON bemerkte jedoch, daß man Wellenflächen auch unabhängig von der Emissionstheorie einführen könne. Modern gesprochen benutzte er das Prinzip des kürzesten Lichtweges, das im allgemeinen Fall die Lichtausbreitung beherrscht und auf das sich beide Theorien gründen lassen: V ( P ) = V ( x, y, z ) =
P
∫P n ds → extr ,
(P0 fest)
0
(n Brechungsindex). In der Emissionstheorie ist der Brechungsindex n des Mediums der Ausbreitungsgeschwindigkeit v des Lichtstrahles proportional, während in der Undulationstheorie der Brechungsindex n der reziproken Fortpflanzungsgeschwindigkeit 1/v* des Lichtes proportional ist. Damit ist vv* = c ( c = Lichtgeschwindigkeit im Vakuum). Es gilt für V(P) jeweils:
∫ v ds
=
ds =
∫ v----∗-
ds
∫ v ----d-t dt
∫ dt
=
∫v
2
dt ,
= t1 – t0 ,
d.h. in der Emissionstheorie spielt die kinetische Energie bzw. die Wirkung eine Rolle (Prinzip der kleinsten Wirkung), während es in der Undulationstheorie um kürzeste Ankunftszeiten geht. Die Werte des Lichtweges, die man für die Lichtausbreitung von einer punktförmigen Quelle P0 erhält, erzeugen für jeden Raumpunkt P(x, y, z) eine Belegung V(x, y, z), wobei Lichtwege mit gleicher Zeit Niveauflächen dieser Belegung ergeben. Im Sinne der Undulationstheorie sind diese Niveauflächen V(x, y, z) = const. Wellenflächen, da der Lichtweg der Fortpflanzungszeit entspricht. Aus den Randbedingungen des Variationsproblem folgt weiter
12. Eine Untersuchung der Geschichte dieser Auffassungen, die allerdings Hamilton nicht erwähnt, liefert O. Wiener, Der Wettstreit der Newtonschen und Huygensschen Gedanken in der Optik, Leipziger Berichte, 71 (1919), 240-254.
324
KAPITEL 4
∂----V∂V ∂V = nα , ------ = nβ , ------ = nγ , ∂x ∂y ∂z
wenn α, β, γ die Richtungskosinus des Lichtstrahles sind, der damit proportional zu grad V ist bzw. der in seinem Schnittpunkte mit der Wellenfläche senkrecht auf der zugehörigen Tangentialebene steht. Somit eignen sich die Flächen vorzüglich, die Natur des Strahlensystems zu charakterisieren, und HAMILTON bezeichnete diese Funktion V daher auch als charakteristische Funktion (characteristic function) des Strahlensystems. In einer kurzen Übersicht für die mathematische Sektion der British Association for the Advancement of Science drückte sich HAMILTON 1832 über die Tragweite dieser Funktion in seiner Theorie so aus: The central idea from which my entire method follows is the idea of a fundamental or characteristic function for each system of optical rays.13 Die allgemeine Form der charakteristischen Funktion beschreibt die besondere Gestalt eines beliebigen optischen Systems, und aus ihr lassen sich alle benötigten mathematischen Eigenschaften zur Beschreibung der optischen Vorgänge gewinnen. HAMILTON verglich seine Idee mit der von RENÉ DESCARTES (1596-1650) in dessen Géométrie (1637): Dort wird gleichfalls jeder Kurve oder Fläche eine algebraische Gleichung zugeordnet, aus der sich alle Eigenschaften der Kurve oder Fläche entwickeln lassen. Diese charakteristische Funktion HAMILTONS ist im Lieschen Sinn die erzeugende Funktion einer Schar von ∞1 Berührungstransformationen, und wir werden unten sehen, daß HAMILTON sie durchaus in diesem Sinn aufgefaßt hat. Der Blickwinkel und die Terminologie unterscheiden sich natürlich: HAMILTON kommt eher von der Variationsrechnung, und er hat nicht den Begriff eines Elementvereins. Jedoch kommt ihm, worauf STUDY verwies, “ein nicht unwesentlicher Verdienst um die Schöpfung des Begriffs der Berührungstransformation” zu.14 JOHN LIGHTON SYNGE (1897-1995) drückte diesen Sachverhalt so aus: Hamilton’s great achievement in geometrical optics was the reconciliation, in the form of a single mathematical treatment, of the emission theory of light and the wave theory, or, in the language of pure mathematics, the calculus of variations and the theory of contact transformations.15 Die charakteristische Funktion selbst genügt bei geradlinigen Lichtstrahlen offensichtlich der partielle Differentialgleichung: 2
2
2
V-⎞ 2 ⎛ ∂-----V-⎞ + ⎛ ∂-----V-⎞ + ⎛ ∂----⎝ ∂x ⎠ ⎝ ∂y ⎠ ⎝ ∂z ⎠ = n ,
13. British Association Reports, 1&2 (1831-32); auch in: The mathematical papers of Sir William Rowan Hamilton, vol. 1, Cambridge, 1931, 295-296. 14. E. Study, “Über Hamiltons geometrische Optik und deren Beziehung zur Theorie der Berührungstransformation”, Jahresbericht der DMV, 14 (1905), 424-438, Zitat 428. 15. J.L. Synge, “The absolute optical instrument”, Transactions AMS, 44 (1938), 32-46, Zitat 33.
WELLENFLÄCHEN, GEODÄTISCHE UND TRANSVERSALEN
325
im allgemeinen Fall erscheint hier die nach WILLIAM ROWAN HAMILTON und CARL GUSTAV JACOB JACOBI (1804-1851) benannte partielle Differentialgleichung erster Ordnung. Die im Spezialfall gegebene Orthogonalität zwischen Strahl und Wellenfläche ist im allgemeinen mathematischen Fall natürlich aufzugeben. HAMILTON gewann hier den Anschluß an die Theorie der Flächenkrümmung, wobei er die für die Definition der Krümmung benutzten berührenden Kugeln im Huygensschen Sinn zur Erklärung von Wellenflächen heranziehen konnte. Im Sinne der Variationsrechnung spricht man jetzt von transversalen Beziehungen zwischen Strahlen und Wellenflächen, in der Sprache der Strahlenoptik liegen nicht-normale Strahlenkongruenzen vor. GEORG PRANGE bemerkte, daß HAMILTON 1836 dabei selbst die heute nach ADOLPH MAYER (1839-1908) benannten Sachverhalte untersucht hat.16 PRANGE führte zu diesen Überlegungen HAMILTONS aus: “Wenn man diese Ausführungen in die Sprache der modernen Variationsrechnung umsetzt, so sagen sie offenbar aus, daß er ein [Mayer-]Feld von Extremalen eines Variationsproblems mit seinen Transversalflächen betrachtet und die wesentlichen Eigenschaften eines solchen bereits erkannt hat. Ich hebe ausdrücklich hervor, daß er betont, das Integral, das man heute nach Hilbert benennt, sei unabhängig vom Wege.”17 Die gewöhnlichen optischen Medien (also insbesondere homogene Medien), die am Anfang der Untersuchungen stehen, haben als Lichtstrahlen gerade Linien, die bei Spiegelung oder Brechung geknickt werden, so daß es nicht HAMILTONS Absicht sein konnte, die Gestalt der Lichtstrahlen zu bestimmen oder entsprechende Differentialgleichungen zu integrieren. Allerdings bemerkte er bald, daß die im homogenen Medium bestehenden Eigenschaften auch bei allgemeineren Dichteverhältnisse bestehen müßten, bei denen der Brechungsindex nicht nur als eine Funktion des Ortes und der Geschwindigkeit, sondern sogar von der Wellenlänge des Lichtes angenommen wird. Die Ausdehnung auf kristalline Medien lag nahe, und die 1832 dabei vorhergesagte Doppelbrechung für zweiachsige Kristalle wurde schon 1833 experimentell bestätigt und stellte eine glänzende Bestätigung der Auffassungen HAMILTONS dar. Diese konische Refraktion gibt die Eindeutigkeit des Brechungsindexes auf. Die Geometrie der Strahlensysteme ist in der Tat aus unserer Sicht als Feldtheorie zu interpretieren. Das Bündel der im allgemeinen Fall krummlinigen Lichtstrahlen, das von einer punktförmigen Quelle ausgeht, bildet a priori ein Mayer-Feld, in dem man den geometrischen Ort konstanter Lichtwege als Transversalflächen des Feldes konstruieren kann. Solche Transversalflächen 16. W.R. Hamilton, “Calculus of principal relations”, Reports of the Britisch Association for the Advancement of Science, 5 (1836), pt. 2, 41-44. 17. G. Prange, “W.R. Hamiltons Bedeutung für die geometrische Optik”, Jahresbericht der DMV, 30 (1921), 69-82, Zitat S. 71 f.
326
KAPITEL 4
schneiden auf den Lichtwegen konstante Längen ab. Dieser Theorie ist allerdings – wie eingangs schon erwähnt – ein merkwürdiges Schicksal widerfahren, da HAMILTONS einschlägigen Ergebnisse selbst auf dem Gebiet, das in höchstem Maße Interesse daran gehabt hätte, nämlich von dem optischen Instrumentenbau, vergessen wurden, und in der Regel wurde nur HAMILTONS eigentlich eher “beiläufige” Anwendungen auf die Mechanik als dessen Leistungen angesehen. Ausgangspunkt der skizzierten allgemeinen “optischen Feldtheorie” war zunächst die im Essay (1828) niedergelegte Einsicht, daß nicht jede beliebige Schar gerader Linien sich aus einem homozentrischen Strahlenbündel durch Spiegelungen und Brechungen erzeugen läßt. Zu homozentrischen Strahlensystemen korrespondiert ein gewisses vollständiges Differential, dem die Eigenschaft der Vollständigkeit bei Spiegelung und Brechung erhalten bleibt, das mithin dauernd ein exaktes Differential bleiben wird. Damit kann jedem homozentrischen Strahlensystem ein wegunabhängiges Integral zugeordnet werden, eben seine charakteristische Funktion. Die geometrische Untersuchung von Strahl und Wellenfläche führt dann auf die Orthogonalitätsrelation zwischen beiden. Inhaltlich hatte 1808 zuerst ÉTIENNE LOUIS MALUS (1775-1812) den Sachverhalt angegeben, daß für eine Spiegelung oder Brechung an einer gekrümmten Fläche ein homozentrischen Strahlenbüscheln in eine Normalkongruenz übergeht.18 Dieser Satz ist seinerzeit viel beachtet worden, da man hoffte, auf diese Weise die optische Strahlenabbildung völlig charakterisieren zu können. Die Aussage ist dann 1816 von CHARLES DUPIN (1784-1873) anstelle von homozentrischen Büscheln für beliebige Normalkongruenzen bei Spiegelungen bewiesen worden und 1825 von LAMBERT ADOLPHE QUETELET (1796-1874) auf Brechungen ausgedehnt worden. Aber diese Untersuchungen waren HAMILTON offenbar unbekannt. Ist eine der Wellenflächen V(x, y, z) = const. bekannt, so ist bereits das ganze Strahlensystem charakterisiert, da es aus den Normalen dieser Fläche gebildet wird. Weiter kann man durch diese Fläche auch alle anderen der Schar angeben, indem man auf den Strahlen gleiche optische Weglängen abträgt, deren geometrischer Ort wiederum eine Wellenfläche ist, die von den Strahlen orthogonal getroffen wird. Im zweiten Nachtrag (1830) fragte HAMILTON nach dem allgemeinsten Strahlensystem, das durch ein optisches Instrument erzeugt werden kann. Im dritten Nachtrag hatte HAMILTON eine Beziehung zwischen dem Objektraum und dem Bildraum hergestellt, auf die wir gleich eingehen werden. Dabei ist es dann ganz natürlich, die gerade Linie und nicht den Punkt als Grundelement des Raumes zu betrachten, auf das sich die optische Theorie gründen soll. Folglich ist es sachlich angemessen, Linienkoordinaten heranzuziehen und Liniengeometrie zu betreiben (2. Nachtrag), was implizit erfolgt.
18. E. Malus, “Optique, Dioptrique”, Journal École polytechnique, 7 (1808), 1-44, 84-129.
WELLENFLÄCHEN, GEODÄTISCHE UND TRANSVERSALEN
327
JULIUS PLÜCKER (1801-1868) hat in seinen Analytisch-geometrischen Entwicklungen (2 Bände 1828, 1831) systematisch erstmals Linienkoordinaten als mögliche Raumelemente eingeführt. Der Übergang von den Punkt- zu den Linienkoordinaten wird durch die bekannte Legendresche Transformation bewirkt, die HAMILTON einsetzt. Im Nachtrag werden die bisher vornehmlich für Geradenbüschel behandelten Fragen ins Allgemeine gewendet. Die Belegung des Raumes sei durch die charakteristische Funktion V(P) gegeben bzw. ein Feld sei induziert. Wird der Quellpunkt P0 nicht als fest, sondern als gleichberechtigt mit dem laufenden Punkt P betrachtet, dann wird ein Lichtstrahl durch zwei Punkte (bzw. sechs Linienkoordinaten) bestimmt. Die charakteristische Funktion wird hiermit zu einer Punktepaarfunktion V(P, P0) erweitert. Jedem der beiden Punkte ist die Tangentialebene der Wellenfläche zugeordnet, in der er inzidiert, so daß durch das Variationsproblem eine Transformation dieser Ebene nebst ihrem Trägerpunkt in das entsprechende Element des anderen Punktes hergestellt wird. Man hat hier eine einparametrige Gruppe von Transformationen der Ebenen mit Trägerpunkten (Elementverein), die Elementvereine wieder in solche überführt. Das Konzept der Berührungstransformation ist damit deutlich erfaßt.
Abb. 4.1. Das Konzept der Berührungstransformation in Hamiltons Strahlenoptik
“Bei den eindimensionalen Extremalintegralen sind die Beziehungen zur Geometrie der Berührungstransformationen – implizit schon in HAMILTONS optischen Arbeiten enthalten – bekannt, wenn auch vielleicht in den Lehrbüchern nicht immer genügend ausgeführt”, schrieb ERNST HÖLDER (1901-1990) einhundert Jahre nach HAMILTON 1938 in seiner Arbeit Die infinitesimalen Berührungstransformationen der Variationsrechnung.19 Genauer führte HÖLDER hierzu und zu den Beziehungen von infinitesimalen Transformationsgruppen und Variationsrechnung aus: “Die Bilder einer Fläche [können] bei einer beliebigen eingliederigen Gruppe von Berührungstransformationen als durch einen Wellenvorgang permanenten Regimes aufgefaßt werden, der dem Huygensschen Prinzip der 19. Jahresbericht der DMV, 49 (1939), 162-178, Zitat 162.
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KAPITEL 4
Strahlenoptik genügt: Eine Ausgangswellenfläche Σ0, die nach der Zeit Θ eine gewisse Wellenfläche Σ = TΘ Σ0 geworden ist (vermöge einer Berührungstransformation TΘ), hat zur Zeit Θ + Θ ' die Lage TΘ + Θ ' Σ0 = TΘ ' Σ , die aus der neuen Anfangslage Σ nach der Zeit Θ ' entsteht: TΘ + Θ ' = TΘ ' TΘ; die Zeit Θ ist kanonischer Parameter. […] Nimmt man noch eine Ausgangsfläche (Verein) Mn0 und unterwirft sie den Berührungstransformationen TΘ der Gruppe G, so wird der kanonische Parameter, an jede Bildfläche (Verein) Mn angeschrieben, in einem gewissen Gebiet eine Ortsfunktion Θ = S(t, xi),
die Schar der ∞1 Mn : S(t, xi) = Θ = const. heißt geodätisches Feld; es schneidet die Bahnlinien transversal (und bildet mit ihnen zusammen eine vollständige Figur im Sinne Carathéodorys).20 In HAMILTONS Abhandlungen über Mechanik, unter denen besonders On a general method in dynamics zu erwähnen ist, in denen das optische Variationsproblem durch ein analoges mechanisches ersetzt wird, erscheint der beschriebene Sachverhalt nicht mehr so deutlich, da der Theorie der partiellen Differentialgleichungen und der Darstellung ihrer Integrale mehr Raum als in den optischen Betrachtungen eingeräumt wird. Allerdings unternimmt es HAMILTON nicht, systematisch eine Integrationstheorie zu entwickeln. Diese Untersuchungen blieben JACOBI vorbehalten, worauf wir im nächsten Abschnitt zu sprechen kommen. Die Aufnahme und Umsetzung dieser Hamiltonschen Ergebnisse durch JACOBI bewerten MICHIYO NAKANE (geb. 1958) und CRAIG G. FRASER (geb. 1951) in ihrer kürzlich erschienen Arbeit The Early History of Hamilton-Jacobi Dynamics 1834-183721 so: This episode is a remarkable case study, nearly unparalleled in the history of science, involving the creation of a highly original new mathematical theory and its almost immediate reinterpretation and extension by a major mathematical contemporary. The resulting subject used concepts and techniques from the calculus of variations to establish links between solutions of the ordinary differential equations of a dynamical problem and a complete integral of a new and fundamental partial differential equation, known today as the HamiltonJacobi equation.22 CONSTANTIN CARATHÉODORY (1873-1950) hat sich 1935 zu eben dieser Thematik, nämlich zu dem Zusammenhang der Differentialgleichungen der Variationsrechnung und der partiellen Differentialgleichungen erster Ordnung in seiner Variationsrechnung und partielle Differentialgleichungen erster Ordnung geäußert und festgestellt, daß obwohl “nun die Problemstellung selbst 20. aaO., 162, 168. 21. Centaurus, 44 (2002), 161-227. 22. aaO., 161.
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und die aus ihr fließenden Ergebnisse so alt sind, sind die Konsequenzen, die aus ihnen folgen, bis heute nur wenigen zum Bewußtsein gekommen.”23 Mit der Einführung des Hilbertschen Unabhängigkeitsintegrals sieht CARATHÉODORY den Schleier als ein wenig gelüftet an. Vieles von HAMILTONS Resultaten wurde von seinen Nachfolgern neu entdeckt. Die charakteristische Funktion hat beispielsweise der Astronom ERNST HEINRICH BRUNS (1848-1919) unabhängig von HAMILTON wieder in die Strahlenoptik eingeführt und Eikonal genannt. Wie KLEIN bemerkte, tat BRUNS das in einer sehr schwerfälligen Form. BRUNS replizierte hierauf u.a.: “Im übrigen liefert der von mir betretene Weg als Entgelt für die umständliche Herleitung den Nachweis, daß die meisten Sätze der geometrischen Optik gar nicht optischer Natur sind, sondern der reinen Liniengeometrie angehören.”24 Bei der Verallgemeinerung des Malusschen Satzes auf beliebig viele Spiegelungen und Brechungen (d.h. bei der Charakterisierung des Strahlenbüschels durch die charakteristische Funktion) griff HAMILTON auf das Prinzip der kleinsten Aktion zurück, das er später principle of varying action nannte. Damit war eine formale Analogie zur Mechanik gegeben, obwohl HAMILTON hierin keine Annahmen in der Optik über die Natur des Lichtes induziert sehen wollte. Diese Analogie ist bei der Begründung der Wellenmechanik durch ERWIN SCHRÖDINGER und LOUIS DE BROGLIE wieder in den Vordergrund gerückt worden, wobei die Strahlenoptik als Grenzfall der Wellenoptik der Leitstern der Überlegungen war.25 Der Wechsel vom optischen zum mechanischen Gesichtspunkt hat dazu geführt, daß suggestive optische Begriff wie wave surface (Wellenfläche) und surface of components (Normalenfläche) in der Variationsrechnung durch die Kunstausdrücke Indikatrix und Figuratrix ersetzt wurden.26 Bei einem positiv homogenen Variationsproblem, das die Lichtausbreitung im homogenen, anisotropen Medium modelliert, verbindet man mit der Wellenfront die Vorstellung von solchen Lichtpunkten, die von einer Lichtquelle erregt werden und die zu einem festen Zeitpunkt eine Frontlinie der Lichtausbreitung bilden; mathematisch entspricht dieser Frontlinie die Indikatrix. Neben der Ausbreitungsgeschwindigkeit der Erregung selbst interessiert auch die Geschwindigkeit, mit der sich dabei die Wellenfront ausbreitet. Diese Ausbreitung läßt sich
23. Leipzig, B.G. Teubner, 1935, iii. 24. F. Klein, “Über das Brunssche Eikonal”, Zeitschrift für Mathematik und Physik, 46 (1901), 372-375, die Brunssche Replik als Fußnote auf S. 375; Bruns, “Das Eikonal”, Leipziger Berichte, 21 (1895), 325-435. 25. A. Sommerfeld und I. Runge, “Anwendung der Vektor-Rechnung auf die Grundlagen der geometrischen Optik”, Annalen der Physik, 4, 35 (1911), 289-293. 26. Dissertation Ueber die Geometrien, in denen die Geraden die kürzesten sind von G. Hamel (Göttingen 1901), 52 S.; Dissertation Ueber die diskontinuirlichen Lösungen in der Variationsrechnung von C. Carathéodory (Göttingen 1904), 74 S.; J. Hadamard, Calcul des Variations, Paris, Hermann, 1910, p. 90 f.
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KAPITEL 4
durch den Normalenvektor an die Wellenfläche beschreiben, und der durch diese Wellenfrontnormalen bestimmte geometrische Ort heißt Figuratrix. Sie ist in Bezug auf die Einheitskugel die zur Indikatrix polare Fläche. In seiner Variationsrechnung machte CARATHÉODORY folgende, historisch nicht ganz korrekte Fußnote: “H. Minkowski hat sie [Figuratrix] in einer Göttinger Vorlesung des S.S. 1907, von der eine Ausarbeitung im Math. Inst. dieser Universität aufbewahrt wird, ziemlich eingehend behandelt. Hadamards Untersuchungen befinden sich in seinen Leçons sur le Calcul des Variations (1910), p. 92.”27 HERMANN MINKOWSKI (1864-1909) behandelte in der Tat die Indikatrix und Figuratrix (ohne den Namen zu gebrauchen),28 aber auch JACQUES HADAMARD (1865-1963) schrieb: Pour interpréter géométriquement ce qui précède, nous introduirons encore la figurative du problème29 und fährt dann mit der Erklärung der figuratrice fort. Eine Bemerkung von JOHN LIGHTON SYNGE ist hier erhellend: It seems a pity to reject Hamilton’s very suggestive terminology, wave surface and surface of components, in favor of the names indicatrix and figuratrix, which carry no intrinsic meaning. Unless the extension to n dimensions appears an important advance, it does not seem historically correct to assign priority in the consideration of these surface to Minkowski and Hadamard (cf. C. Carathéodory, Variationsrechnung und partielle Differentialgleichungen erster Ordnung, p. 247, Leipzig und Berlin 1935). Hamilton had a priority of seventy years, and even he assigned priority to Cauchy.30 WILHELM BLASCHKE (1885-1962) hat in seinen Vorlesungen über Differentialgeometrie31 für ein einfaches Variationsproblem die Indikatrix dynamisch gedeutet. Wird der Wert des Variationsintegral als diejenige Zeit angesehen, die ein Punkt braucht, um eine Bahn zu durchlaufen, und trägt man dann die zu einem festen Punkt P und einer veränderlichen Richtung gehörigen Geschwindigkeitsvektoren in P ab, so überstreichen deren Endpunkte die zu P gehörige Indikatrix.
27. C. Carathéodory, Variationsrechnung und partielle Differentialgleichungen erster Ordnung, Leipzig, B.G. Teubner, 1935, 247. 28. H. Minkowski, Vorlesung über Variationsrechnung, SS 1907, Maschinenschriftliche Ausarbeitung, Mathematisches Institut Göttingen, Kapitel IV, §4, Die Indicatrix, 223. 29. J. Hadamard, Calcul des Variations, Paris, Hermann, 1910, 90. “Um das Vorangehende geometrisch zu erläutern, werden wir noch die Figurative [Figuratrix] des Problems einführen.” 30. J.L. Synge, “The absolute optical instrument”, Transactions AMS, 44 (1938), 32-46, Zitat aus Fußnote auf p. 32. 31. Bd. 1, Berlin, Springer, 1924, (2. Aufl.), 145. Am angeführten Ort bringt Blaschke die Indikatrix noch mit den Erdmannschen Knickbedingungen in Verbindung und weist auf die geometrische Interpretation Carathéodorys hin. Weiterhin gibt es eine Arbeit Über die Figuratrix in der Variationsrechnung von Blaschke in dem Archiv für Mathematik und Physik, 20 (1912), 28-44, in der Blaschke auf die Geschichte beider Eichkurven eingeht und mit deren Hilfe die Bedingungen von Legendre und Weierstraß geometrisch veranschaulicht sowie deren gegenseitige Verbindung betrachtet und schließlich bis zu Doppelintegralen vordringt.
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4.3 Carl Gustav Jacob Jacobi (1804-1851) CARL GUSTAV JACOB JACOBI ist einer der herausragenden Mathematiker in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Zu seinen wichtigsten Untersuchungen gehören die über analytische Mechanik, die er im Anschluß an JOSEPH LOUIS LAGRANGE (1736-1813) und WILLIAM ROWAN HAMILTON ausbaute. In seinen Vorlesungen über Dynamik (WS 1842) erklärte JACOBI, daß “jeder Fortschritt in der Theorie der partiellen Differentialgleichungen auch einen Fortschritt in der Mechanik herbeiführen muß.”32 Das umreißt recht gut seinen Blickwinkel, von dem aus er die Hamiltonschen Arbeiten zur Mechanik gelesen hat (die optischen kannte er nicht), und von dem aus er bahnbrechende Arbeiten zur Theorie der partiellen Differentialgleichungen, insbesondere zu denen der Dynamik, geliefert hat. Obwohl eines der Jacobischen Themen, die konjugierten Punkte, geometrisches Denken bei JACOBI vermuten lassen, hat kürzlich JESPER LÜTZEN (geb. 1951) nachgewiesen, daß JACOBI auch bei diesen Untersuchungen analytisch vorgegangen ist.33 JACOBI hat HAMILTONS Arbeiten über Mechanik bei Erscheinen gelesen, und er war sofort von der Beziehung zwischen den beiden [Hamilton-Jacobischen] Differentialgleichungen, die für die charakteristische Funktion gebildet werden,34 und dem System der totalen Differentialgleichungen gefesselt. Diese Art von Beziehungen kannte er aus seinen früheren Arbeiten, und aus diesem Gesichtspunkt heraus begann er eine systematische Integrationstheorie zu entwickeln, wobei er – ohne den optischen Hintergrund – zu einer partiellen Differentialgleichung und ihrem vollständigem Integral überging und dabei kanonische Transformationen benutzte. In der bereits erwähnten Arbeit The early history of Hamilton-Jacobi Dynamics von NAKANE und FRASER wird die Jacobische Rezeption analysiert: From the perspective of Jacobi’s theorem the Hamilton-Jacobi equation becomes detached entirely from the variational theory that Hamilton had elaborated. In particular, the seminal concept of a field integral, contained in Hamilton’s original definition of S, does not enter into the discussion at all. The properties of the Hamilton-Jacobi equation became a topic of investigation in the theory of partial differential equations. In this way that equation is introduced and discussed in many modern textbooks in mathematical mechanics.35
32. Gesammelte Werke, Supplement Vorlesungen über Dynamik, Berlin, Reimer, 1866, (Reprints), 5. 33. J. Lützen, “Interactions between Mechanics and Differential Geometry in the 19th century”, Archive for History of Exact Science, 49 (1995), 1-72, siehe section 24. 34. Optisch gesprochen im Objekt- und Bildraum. 35. M. Nakane and C.Fraser, “The early history of Hamilton-Jacobi Dynamics”, Centaurus, 44 (2002), 161-227, Zitat 209.
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Einen Grund für den letzten Sachverhalt nennt JACQUES HADAMARD, wenn er den Abschnitt Propriété des équations différentielles du calcul des variations (Eigenschaften der Differentialgleichungen der Variationsrechnung) in seiner Variationsrechnung (1910) mit den Worten einleitete: Les équations de la Mécanique sont, nous l‘avons vu, un cas particulier des équations du Calcul des variations. Mais la plupart des propriétés qu’elles présentent, au point de vue de l’intégration […] subsistent dans le cas général.36 Die Hamiltonsche charakteristische Funktion stand auch in den mechanischen Untersuchungen JACOBIS im Mittelpunkt. Sie charakterisiert bei mechanischen Problemen die Zeit, die ein gewisses System benötigt, um von einem Zustand in einen anderen zu gelangen (analog der Änderung bei einem Lichtsignal). Diese “mechanische Funktion” ist durch die heute als Hamilton-Jacobische Differentialgleichung bezeichnete Gleichung bestimmt. Ihre explizite Lösung ist i.a. schwierig. JACOBI hat hier Fortschritte erzielt, insbesondere zeigte er, daß eine hinreichend allgemeine Lösung der Hamilton-Jacobischen Differentialgleichung die Integration der dynamischen Bewegungsgleichungen erledigt. Eine in diesem Sinne hinreichend allgemeine Lösung S = S(t, q) der Hamilton-Jacobischen partiellen Differentialgleichung ∂-----S ∂S + H ⎛ t, q, -----⎞ = 0 , ⎝ ∂t ∂q⎠
(q = (q1, …, qm),
ist beispielsweise eine solche, die m beliebige Konstanten αi enthält und die als vollständige Lösung bezeichnet wird (die allgemeine Lösung enthält willkürliche Funktionen). Der Jacobische Satz (1837) sagt aus: Ist S = S(t, q, α) eine vollständige Lösung der Hamilton-Jacobischen Differentialgleichung, dann liefern die Gleichungen (keine Differentialgleichungen!) ∂S-----= pi , ∂q i
∂S------= βi , ∂α i
(i =1, … , m),
(βi beliebige Konstanten) die Integrale der zu der Hamilton-Jacobischen Differentialgleichung gehörigen kanonischen Gleichungen bzw. die Lösung des mechanischen Problems; die zweite Gruppe bestimmt hierbei die Koordinaten, die erste die Impulse als Funktionen von t.37 Mit anderen Worten, jede vollständige Lösungen der Hamilton-Jacobischen partiellen Differentialglei-
36. J. Hadamard, Leçons sur le calcul des variations, Paris, Hermann, 1910, 151. “Die Gleichungen der Mechanik sind, wie wir gesehen haben, ein besonderer Fall der Gleichungen der Variationsrechnung. Die meisten der Eigenschaften, die sie besitzen, sind vom Gesichtspunkt der Integration im allgemeinen Fall vorhanden”. 37. C.G.J. Jacobi, “Über die Reduktion der Integration der partielle Differentialgleichungen erster Ordnung”, Journal für die reine und angewandte Mathematik, 17 (1837), 97-162; auch in: Gesammelte Werke, Bd. 4, Berlin, Akademie, 1886, 57-127; desgl. in den Königsberger Vorlesungen über Dynamik in der 20. Vorlesung, Gesammelte Werke, Bd. 8 (Supplement), Berlin, 1884, S. 157 ff.
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chung liefert ein passendes Integral der Bewegungsgleichungen (Extremalen) und ist damit zur Beschreibung der Bewegungsvorgänge des mechanischen Systems geeignet. JACOBI in der Vorlesungsmitschrift von 1847: “Kennt man also eine solche vollständige Lösung S mit den m Constanten α […], so braucht man nicht ein Integral nach dem anderen zu bestimmen, sondern man kann wie aus einem Füllhorn alle Integrale aus der einen Lösung herausschütten: die analytische Mechanik kriegt daher eine ganz andere Bedeutung.”38 In besonderen Fällen hat JACOBI die Theorie noch verfeinert. Beispielsweise in der Störungstheorie bei astronomischen Rechnungen für elliptischen Planetenbahnen, an dieser Thematik war auch HAMILTON interessiert gewesen. Der Gegensatz zwischen JACOBIS und HAMILTONS Auffassungen zeigt sich in JACOBIS Bestreben, die “abgelöste” Theorie der partiellen Differentialgleichungen letztlich in die Mechanik wieder einzubinden.39 Er monierte, daß HAMILTON nicht klar erkannt hatte, “daß jede vollständige Lösung dieser [Hamilton-Jacobischen] Differentialgleichung auch hinreicht, um das vollständige System Integralgleichungen zu finden. Dieß ist ein großer Fehler, den Hamilton, dem man diese wichtige Reduction verdankt, begangen hat.”40 JACOBI hatte auf der Jahresversammlung der British Association im Sommer 1842 HAMILTON in Manchester getroffen und seinen Hörern der Berliner Dynamik-Vorlesung 1847 über sein Gespräch mit HAMILTON berichtet: “Wie wenig diese [Relevanz des gerade genannten Sachverhalts] Hamilton selbst erkannt hat, geht daraus hervor, daß[,] als ich vor einigen Jahren ihm darüber Complimente machte, er mir sagte, er habe sie schon vergessen. Und vergessen darf man sie ja nicht, sondern [sollte] sie zu einem neuen Anfangspunkt für die analytische Mechanik machen.”41 1846, vier Jahren nach der Begegnung, war C.G.J. JACOBI seinem Bruder MORITZ HEINRICH (1801-1874) gegenüber noch deutlicher geworden, als er in einem Brief vom 31. Dezember 1846 HAMILTON mit einem irischen Bullen verglich, der “nicht so viel gemacht habe, um das Recht zu haben, diese Arbeiten zu vergessen.”42
38. C.G.J. Jacobi, Vorlesungen über analytische Mechanik (Berlin WS 1847). Mitschrift von W. Scheibner, hrg. von H. Pulte, Braunschweig, Vieweg und DMV, 1996, 240. 39. Vgl. hierzu auch die ausführliche Studie von M. Nakane und C.Fraser, “The early history of Hamilton-Jacobi Dynamics”, Centaurus, 44 (2002), 161-227, insbes. Abschnitt 4.3 “Jacobi’s critizism of Hamilton’s method”. 40. C.G.J. Jacobi, Vorlesungen über analytische Mechanik (Berlin WS 1847). Mitschrift von W. Scheibner, hrg. von H. Pulte, Braunschweig, Vieweg und DMV, 1996, 225. Auch in anderen Arbeiten von 1837, siehe Gesammelte Werke, Bd. 4, Berlin, Akademie, 1886, S. 50 f. und 73 f. 41. aaO., 226. 42. W. Ahrens (Hrg.), Briefwechsel zwischen C.G.J. Jacobi und H.M. Jacobi, Leipzig, B.G. Teubner, 1907, 142.
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KAPITEL 4
Einem speziellen Gegenstand von JACOBIS Theorie wollen wie uns noch genauer zuwenden, da er von DAVID HILBERT im Zusammenhang mit unserer Thematik benutzt wurde: das Prinzip des letzten Multiplikators. JACOBI hat die einschlägige zweiteilige Arbeit Theoria novi multiplicatoris systemati aequationem differentialium vulgarium applicandi in Crelles Journal 1844 und 1845 veröffentlicht.43 Hierzu bemerkte JACOBI in den Berliner Vorlesungen über analytische Mechanik (WS 1847) in der 24. Vorlesung über “Allgemeine dynamische Gesetze oder Integrale der Bewegung” gemäß der Mitschrift von WILHELM SCHEIBNER (1826-1908): “Ich habe diesem Princip den Namen des Prinzips des letzten Multiplikators, principium ultimi multiplicatoris, gegeben und dasselbe sehr umständlich und ausführlich in einer gar sehr großen Abhandlung behandelt, theoria novi multiplicatoris (Crelle Bd. 27)44 und dasselbe namentlich durch eine große Menge mechanischer Beispiele erläutert, die aber auch aus anderen Theilen der Analysis gewählt wurden: dieses Princip beruht hauptsächlich auf einigen Eigenschaften der von mir so genannten Functionaldeterminanten.”45 Vorbereitet worden war diese große Abhandlung von 1844 (Crelle 27, 29) durch eine kurze Arbeit Sur un nouveau principe général de la Mécanique analytique (1842) von nur vier Seiten, und in Verbindung damit steht auch der Artikel Sul principio dell’ultimo moltiplicatore (1844).46 In der 10. Vorlesung der Königsberger Vorlesungen über Dynamik (WS 1842) charakterisierte JACOBI nach einer Ausarbeitung von CARL WILHELM BORCHARDT (18171880) das Prinzip wie folgt: “Das Princip des letzten Multiplicators leistet in allen Fällen, wo die Integration eines Systems von Differentialgleichungen der Bewegung bis auf eine Differentialgleichung erster Ordnung zwischen zwei Variablen zurückgeführt ist, die Integration dieser letzten Gleichung durch Angabe ihres Multiplikators. Vorausgesetzt wird hierbei, dass die sollicirenden [äußeren] Kräfte Xi, Yi, Zi nur von den Coordinaten und der Zeit abhängen.”47 In dem Königsberger Kolleg, das wesentlich mehr auf die Darlegung und Entwicklung der in der Mechanik benutzten analytischen Methoden als die auf 43. Journal für die reine und angewandte Mathematik (Crelle), 27 (1844), 199-268 und 29 (1845), 213-279; auch in: Gesammelte Werke, Bd. 4, Berlin, Akademie, 1886, 317-394, 395504. 44. “Theoria novi multiplicatoris systemati aequationem differentialium vulgarium applicandi”, Crelle, 27 (1844), 199-268 und 29 (1845), 213-279. 45. C.G.J. Jacobi, Vorlesungen über analytische Mechanik (Berlin WS 1847). Mitschrift von W. Scheibner, hrg. von H. Pulte, Braunschweig, Vieweg und DMV, 1996, 145. 46. Comptes rendus, 15 (1842), 202-205; Giornale Arcadio, 99 (1844), 129-146; auch in: Gesammelte Werke, Bd. 4, Berlin, Akademie, 1886, 289-294, 511-522. Die italienische Arbeit ist auch ins Französische übersetzt worden “Sur le principe du dernier multiplicateur”, Journal de mathématiques pures et appliquées, 10 (1845). 47. C.G.J. Jacobi, Gesammelte Werke, Bd. 8 (Supplement), Berlin, Akademie, 1866, berichtigt 1884 (Reprint 1996), 71.
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die Begründung der Mechanik selbst ausgerichtete Berliner Vorlesung war, behandeln allein neun von 36 Vorlesungen die Theorie des letzten Multiplikators (Vorlesungen 10-18); die Berliner Vorlesung schränkt die Theorie auf nur drei von 49 Vorlesungen ein (Vorlesungen 24-26). In beiden Kursen wird an einschlägiger Stelle sofort LEONHARD EULERS (1707-1783) Einsicht hervorgehoben, daß jeder Multiplikator einer Differentialgleichung erster Ordnung zwischen zwei Variablen diese zu einer vollständigen Differentialgleichung macht und somit die Natur dieser Differentialgleichung aufhellt (10. bzw. 24. Vorlesung). Die analytischen Überlegungen JACOBIS hat FELIX KLEIN geometrisch veranschaulicht: KLEIN ging dabei davon aus, daß HAMILTONS Integrationstheorie der Differentialgleichungen der Dynamik nichts anderes als eine analytische Formulierung der wohlbekannten physikalischen Beziehung zwischen Lichtstrahl und Lichtwelle ist, woraus sich die spezielle Form der Darstellung ergab, die durchaus praktische Fragen der Optik im Auge hatte. Daher operierte HAMILTON mit solchen Lichtwellen, die von einzelnen Punkte ausgehen. Nun fährt KLEIN so fort: “Jacobi’s Verallgemeinerung läuft darauf hinaus, dass man zur Definition des Strahles ebensowohl beliebige andere Lichtwellen gebrauchen darf. Von den speciellen Wellen aus construirt man in der Optik die allgemeinen bekanntlich vermöge des sogenannten Huygens’schen Princips; diese Construction ist ein genaues Aequivalent für den analytischen Process, vermöge dessen man in der Theorie der partielle Differentialgleichungen erster Ordnung von irgend welcher “vollständigen” Lösung zur “allgemeinen” aufsteigt.”48 Ein weiterer Sachverhalt, der für uns von Bedeutung ist, sind JACOBIS Untersuchungen über konjugierte Punkte und deren Rezeption. Diese zentralen Betrachtungen für die Feldtheorie, die jetzt in einem sogenannten Jacobischen Kriterium gipfeln, hat er erstmals in einen Brief an JOHANN FRANZ ENCKE (1791-1865) mitgeteilt.49 Es handelt sich grob gesprochen um die Frage, wann eine Extremalenschar die Eigenschaft verliert, ein Feld zu sein. Das ist gewiß dann der Fall, wenn sich die Extremalen schneiden (konjugierte Punkte) oder wenn es geometrische Orte solcher singulären Punkte bzw. Hüllen gibt. Diese Frage ist von ADOLF KNESER (1862-1930) aufgegriffen und bearbeitet worden (Abschnitt 4.6), und wir begegnen ihr auch im Abschnitt 4.5.2 über den Beitrag von OSSIAN BONNET (1819-1892)) wieder, so daß wir hier nicht weiter darauf eingehen.
48. “Über neuere englische Arbeiten zur Mechanik”, Jahresbericht der DMV, 1 (1890-91), 3536, Zitat 36. 49. Teilweise als “Zur Theorie der Variations-Rechnung und der Differential-Gleichungen” im Journal für die reine und angewandte Mathematik, 17 (1837), 68-82, veröffentlicht.
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4.4 Gauß’ Arbeiten über kürzeste Linien aus der Sicht der Variationsrechnung 4.4.1 Vorgeschichte Extremales Denken und damit die Suche nach kürzesten Verbindungswegen ist stets Bestandteil mathematischen Denkens gewesen, aber erst im 18. Jahrhundert wurde die Frage nach kürzesten Verbindungswegen auf einer Fläche aufgeworfen, genauer JOHANN BERNOULLI stellte 1697 das Problem der kürzesten Linie für konvexe Flächen (superficie convexe)50. Deux points étant donnés sur une superficie convexe, on demande une maniere d’y décrire Geometriquement d’un de ces points à l’autre, la ligne la plus courte.51 Die technischen Schwierigkeiten bei der Behandlung des Problems, an dem der Marquis GUILLAUME DE L'HOPITAL (1661-1704) verzweifelt sei, wie JOHANN BERNOULLI am 4. Dezember 1697 GOTTFRIED WILHELM LEIBNIZ (1646-1716) mitteilte, bestanden darin, daß die Mittel zur analytischen Bearbeitung einer solchen Aufgabe noch sehr unvollkommen waren. Obzwar RENÉ DESCARTES bereits 1637 in seiner Géométrie52 betont hatte, daß die Methode der Koordinaten, d.h. Kurven durch algebraische Gleichungen zu erfassen, auch für Raumkurven geeignet sei (er aber die heute transzendent genannten Kurven, d.h. solche mit nicht-algebraischen Gleichungen, als mechanische erzeugt und daher als unmathematisch ablehnte), wurde eine räumliche analytische Geometrie im wesentlichen erst von LEONHARD EULER ausgearbeitet.53 Und die Auffassung, die drei kartesischen Koordinaten einer Fläche von zwei Parametern abhängen zu lassen, hat letztlich erst CARL FRIEDRICH GAUß (1777-1855) eingebürgert, was den Weg zu einem neuen Verständnis der Geometrie (als “innere Geometrie”) bahnte, in der das Linienelement
50. Journal des Savans, 26. Aoust 1697; Opera, t. I, 204; Streitschriften, 292. Hieran schließt sich eine interessante Diskussion der Brüder Bernoulli an, die ein bezeichnendes Schlaglicht auf die Funktionsauffassung und die Darstellungsmöglichkeiten einer Fläche wirft, da Jacob wissen will, ob es sich bei den als schwierig vorgeschlagenen konvexen Flächen (Conoid und Sphäroid) um mechanisch erzeugte oder geometrisch (mathematisch) dargestellte handele. Jacob Bernoulli, “Solutio sex Problematum Fraternorum”, Acta eruditorum, Maji 1698, 226-230; auch in: Streitschriften, 332-335. Die Frage läuft darauf hinaus, ob man den Begriff géométriquement im alten Sinn (Descartes) oder schon algebraisch verstehen wollte (ambiguitas in voce geometrice, 226). Siehe hierzu P. Stäckel, “Bemerkungen zur Geschichte der geodätischen Linien”, Leipziger Berichte, 45 (1893), 443-467, sowie R. Thiele, “Frühe Variationsrechnung und Funktionsbegriff”, Mathesis (hrg. R. Thiele), Berlin, GNT-Verlag, 2000, 128-181. 51. “Problèmes à resoudre”, Journal des Savans (26. 8. 1697), 394-396, Problem p. 394; auch in Streitschriften, 292-293, Problem S. 292. 52. R. Descartes, La Géométrie, Leiden, 1637, 368 (Ende des 2. Teils). 53. Die Darstellung einer Fläche im Raum erfolgte durch eine Gleichung zwischen drei kartesischen Koordinaten und die einer Kurve im Raum durch den Schnitt zweier Flächen (bzw. durch zwei derartige Gleichungen). – “De linea brevissima in superficie quacunque duo quaelibet puncta iungente”, Comentarii Academiae Scientiarum Imperialis, Petropoli, 3 (1728), 110; Introductio in analysin infinitorum, t. II, Lausanne, Bousquet, 1748, Appendix.
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ds eine wichtige Rolle spielt.54 Insofern überrascht es wenig, daß das Problem der kürzesten Verbindungslinie zunächst nicht als spezieller Fall einer allgemeinen Variationsaufgabe (1) J =
B
∫A f ( x, y, x', y' ) ds → extr
begriffen wurde, sondern durch geometrische oder mechanische Betrachtungen gelöst wurde.55 Mit GAUß bürgert sich auch die Auffassung einer Fläche als eines eigenständigen mathematischen Objektes ein und nicht mehr als Begrenzung eines Körpers (als Oberfläche). GAUß hat dabei den Vorzug der deutschen Sprache hervorgehoben, hierfür ein eigenes Wort, nämlich “Fläche” zu haben, und nicht wie im Englischen oder Französischen auf den Begriff der Oberfläche (surface) zurückgreifen zu müssen. Den Differentialgeometer GAUß haben beispielsweise WILHELM BLASCHKE und PETER DOMBROWSKI (geb. 1928) in lesenswerten Arbeiten charakterisiert.56 Ein Ziel der Variationsrechnung besteht darin, globale Aussagen über eine Lösung des betrachteten Problems zu erhalten, während die infinitesimalen Methoden zunächst nur lokale Ergebnisse liefern. Der Brückenschlag von den Betrachtungen im Kleinen zu solchen, die das Ganze betreffen, ist schwierig und hängt von der Art des gesuchten Extremums ab. ADOLF KNESER bemerkte hierzu: “Der Begriff des Extremums muß genauer bestimmt werden durch Angaben über die Gesammtheit aller derjenigen Curven, welche man zum Vergleich heranziehen will.”57 KNESER prägte in diesem Zusammenhang entsprechend dem den infintesimalen Techniken zugrundegelegten Nachbarschaftsbegriff die heutigen Standardbegriffe starke und schwache Extrema, die sich – funktionalanalytisch gesprochen – aus der Anwendung der Norm des Raumes der stetigen bzw. der stetig differenzierbaren Funktionen (C0 bzw. C1) ergeben. Auf diese für das Studium des Vorzeichens der vollständigen Variation einer Extremalen y = y0(x)
14.
54. C.F. Gauß, Theoria attractionis, § 10. Werke, Bd. 5, Göttingen, 1867 (Reprint Olms 1973),
55. Joh. Bernoulli hat laut brieflicher Mitteilung an Leibniz (16./26. 8. 1698) die Differentialgleichung der kürzesten Linie aus der Bedingung abgeleitet, daß die Schmiegebene der Kurve senkrecht zur Tangentialebene steht. Bemerkenswert ist auch, wie Euler die Frage in seiner Mechanik behandelt, wenn er die Zwangsbewegung eines Massenpunktes auf einer Fläche untersucht und zeigt, daß die Differentialgleichung einer solchen kräftefreien Trägheitsbahn mit derjenigen der kürzesten Verbindungslinie übereinstimmt (Mechanica sive motus scientia analytica exposita, St. Petersburg, Akademie, 1736, t. II, Kapitel I und IV). 56. W. Blaschke, “Über die Differenzialgeometrie von Gauß”, Jahresbericht der DMV, 52 (1942), 61-71; P. Dombrowski, “Differentialgeometrie - 150 Jahre nach den ‘Disquisitiones generales circa superficies curvas’ von Gauß”, Abhandlungen der Braunschweigischen Wissenschaftlichen Gesellschaft, Bd. XXVII, Göttingen, Golze, 1977, 63-102. 57. A. Kneser, Lehrbuch der Variationsrechnung, Braunschweig, Vieweg, 1900, § 17.
338
KAPITEL 4
(2) ∆J = J(y) - J(y0) = δJ + 1/2 δ2J + … wichtige Tatsache hat wohl erstmals ISAAC TODHUNTER (1820-1884) 1861 hingewiesen (“for all indefinitely small values of δy and δp”58), ohne jedoch die Folgen in letzter Konsequenzen zu übersehen. Die geometrische Fragestellung beim Problem der kürzesten Verbindungslinie legt sachgemäße Lösungen als starke Minima fest, sie verlangt also in der Aufgabenstellung sowie in den Lösungen Parameterdarstellungen. Wir treffen hier auf eine eigentümliche Kluft in der Variationsrechnung: Die Verfahren, bei denen man zu hinreichenden Kriterien für schwache Extremalität gelangt (z.B. über Untersuchungen der zweiten Variation), sind für den Nachweis starker Extremalität nicht tragfähig. Hier sind feldtheoretische Methoden erfolgreich, und im vorangehenden Kapitel haben wir die Beiträge von WEIERSTRAß und SCHWARZ betrachtet. Bei CARL FRIEDRICH GAUß finden sich deren Methoden im Keim, und das Ziel dieses Abschnittes ist, die Auswirkungen seines Ansatzes auf die (geometrische) Entwicklung der Feldtheorie bis hin zu CARATHÉO59 DORY kurz zu beschreiben. 4.4.2 Carl Friedrich Gauß (1777-1855) Die Variationsrechnung und die Differentialgeometrie sind am Anfang des 19. Jahrhunderts noch eng mit den Anwendungen verknüpft, und die Gaußschen Untersuchungen über die Theorie krummer Flächen fußen gleichfalls in praktischen Aufgaben, nämlich in denen der Geodäsie. “Die Geodäsie ist i.a. ein glänzendes Beispiel dafür, was man mit Mathematik in den Anwendungen machen kann und wie man es machen soll,”60 bemerkte in diesem Zusammenhang FELIX KLEIN, und GAUß selbst sagte über den Wert von Anregungen, daß “die logischen Hilfsmittel für sich nichts zu leisten vermögen und nur taube Blüten treiben, wenn nicht die befruchtende, lebendige Anschauung des Gegenstandes überall waltet.”61 GAUß plante ein Werk über höhere Geodäsie62, das aber auf Grund seiner vielfältigen Belastungen in jenen Jahren und infolge seines Grundsatzes
58. I. Todhunter, History of the calculus of variations, Cambridge, University Press, 1861, 3; Reprint o. J. 59. Vgl. R. Thiele, “Gauß’ Arbeiten über kürzeste Linien aus der Sicht der Variationsrechnung”, Symposia Gaussiana (Ed. Behara et. al.), Berlin, de Gruyter, 1995, 167-178. 60. F. Klein, Elementarmathematik vom höheren Standpunkt, Bd. 3, Berlin, Springer, 1928, 171. 61. Gauß, Werke, Bd. 4, Göttingen, 1873 (Reprint Olms 1973), 366. 62. An Bessel schrieb Gauß am 20.11.1826: “Ich sehe hier kein anderes Mittel, als mehrere große Hauptpartien von dem Werke abzutrennen, damit sie selbständig und in gehöriger Ausführlichkeit entwickelt werden können” (Werke, Bd. IX, 362). Auch an Olbers hatte er sich zuvor ähnlich geäußert (Brief vom 9.10.1825).
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339
Pauca, sed matura nicht zustande kam. Jedoch trennte er einige mathematische Themen ab, arbeitete sie teilweise aus und publizierte einiges: 1822
Generaliter superficiem datam in alia superficie ita exprimere, ut partes minimae imaginis archetypo fiant similes (Kopenhagener Preisaufgabe), 1822 Stand meiner Untersuchung über die Umformung der Flächen (Nachlaß), 1822/25 Die Seitenkrümmung (Nachlaß), 1825 Neue allgemeine Untersuchungen über die krummen Flächen (unvollendet im Nachlaß), 1827 Anzeige der Disquisitiones generales circa superficies curvas, 1828 Disquisitiones generales circa superficies curvas.63 Aus dem Briefwechsel und aus dem Nachlaß wissen wir, daß GAUß die grundlegenden Einsichten bereits zwischen 1810 und 1816 gekommen waren, etwa die Erkenntnis, daß die Krümmung nur vom Flächenelement abhängt, oder das theorema egregium, das die Biegungsinvarianz des Krümmungsmaßes aussagt.64 In dem bekannten Artikel 13 der Disquisitiones generales, in dem GAUß das Programm der inneren Geometrie von Flächen entwirft, bemerkte er über solche Eigenschaften einer Fläche, daß “deren Untersuchung der Geometrie ein neues und fruchtbares Feld eröffnet, [daß dazu] das Krümmungsmaß und die Gesamtkrümmung […] gehört, ferner gehört hierher die Lehre von den kürzesten Linien und einiges andere […]”. Die Ausführungen über die kürzesten Linien nehmen daher sowohl in den Disqusitiones generales als auch in der abgebrochenen Ausarbeitung Neue allgemeine Untersuchung über die krummen Flächen etwa die Hälfte ein. Ihre Bedeutung für die Variationsrechnung reicht jedoch über die unmittelbare Anwendung der Variationstechnik in den Artikeln 14 und 18 der Disquisitiones bzw. des Artikels 12 der Untersuchungen zur Herleitung der Differentialgleichung für die kürzeste Linie weit hinaus. PAUL STÄCKEL (1862-1919) vermu-
63. Alle Arbeiten in den Werken, Bd. 4, Göttingen, 1873; die Disquisitiones auch als deutsche Übersetzung Allgemeine Flächentheorie von A. Wangerin in Ostwalds Klassikern, Bd. 5, Leipzig, Engelsmann, 1889, 5. Aufl. 1921; die Anzeige der Disquisitiones in den Göttinger gelehrten Anzeigen 1827, 1761-1768; auch in: Werke, Bd. 4, 341-347, sowie in: K. Reich (Hrg.), Gauß’ Werke in Kurzfassung (Algorismus, Heft 39), Augsburg, Rauner, 2002, 109-115. 64. Vgl. hierzu P. Stäckel, “Gauß als Geometer”, in den Materialien für eine wissenschaftliche Biographie von Gauß, 1918, Heft 5, § 28 f. sowie Gauß, Werke, Bd. 8, Göttingen, 1900, (Reprint Olms 1973), 365 - 453.
340
KAPITEL 4
tete sogar, daß das theorema egregium über geodätische Dreiecke, deren Seiten kürzeste Linien sind, erkannt wurde.65 Bei der Herleitung der Differentialgleichung für die kürzeste Linie auf einer nicht in Parameterform gegebenen Fläche F(x, y, z) = 0 folgte GAUß sowohl in den Untersuchungen (Art. 12) als auch in den Disquisitiones (Art. 14) im wesentlichen LAGRANGE66, indem er die erste Variation des Integrals über die Bogenlänge s bildete, die Abhängigkeit der Variationen gemäß der Nebenbedingung berücksichtigte und hinsichtlich des Integranden “nach bekannten Principien leicht schließt”67, daß dieser verschwindet bzw. daß folgende Proportionalität besteht: (1) x" : y" : z" = fx : fy : fz
(" = Ableitung nach s).
Eine Begründung dieses Schlusses, der heute mit dem sog. Fundamentallemma der Variationsrechnung geliefert wird, gab GAUß (wie auch LAGRANGE) nicht. Ein erster strenger Beweis findet sich in dem Lehrbuch der Variationsrechnung68 von FRIEDRICH LUDWIG STEGMANN (1813-1891) aus dem Jahre 1854. GAUß wich aber in der Herleitung der Differentialgleichung für die kürzeste Linie von LAGRANGE insoweit ab, als er bei nicht parametrisch gegebener Fläche F(x, y, z) = 0 die Vergleichskurven trotzdem parametrisch ansetzte, womit er auf die übersichtliche Form (1) der Eulerschen Differentialgleichung kam. In den Disquisitiones leitete GAUß im Artikel 18 die Differentialgleichung der kürzesten Linie für in Parameterdarstellung gegebene Flächen nochmals ab, wobei die Nebenbedingung in das Variationsintegral eingearbeitet war, das über die in den Fundamentalgrößen ausgedrückte Bogenlänge erstreckt wird. Flächen stellte GAUß nicht in der Form (2a) f(x, y, z) = 0
bzw.
fxdx + fydy + fzdz = 0
oder (2b) z = z(x, y)
bzw.
dz = zxdx + zydy
dar, sondern er benutzte (wie schon EULER, jedoch systematischer) üblicherweise für die Koordinaten Parameterdarstellungen
65. P. Stäckel, Gauß als Geometer, 119. 66. J.L. Lagrange, Leçons sur le calcul des fonctions, Paris, 1801, nouvelle édition 1806. 67. C.F. Gauß, “Untersuchungen”, § 12, bzw. Werke, Bd. 8, Göttingen, 1900 (Reprint Olms 1973), 428; analog in den “Disquisitiones”, § 14 bzw. Werke, Bd. 4, Göttingen, 1873 (Reprint Olms 1973), 238. 68. F.L. Stegmann, Lehrbuch der Variationsrechnung und ihrer Anwendungen bei Untersuchungen über das Maximum und Minimum, Cassel, Luckardt, 1854, S. 90 f.
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341
(3) x = x(p, q), y = y(p, q), z = z(p, q), womit alle Koordinaten gleichwertig behandelt werden. Modern gesprochen bildet GAUß eine offene Teilmenge des R2, die er allerdings nie präzisiert, mittels einer injektiven und stetigen Abbildung in die Fläche ab – GAUß arbeitet mit lokalen Karten (Disq. gen., Art. 3). Die Krümmung einer Fläche wird als stetig vorausgesetzt, und singuläre Punkte ohne Tangentialebene werden ausgeschlossen (Disq. gen., Art. 3). Die erforderlichen Differenzierbarkeitsvoraussetzungen bleiben im einzelnen allerdings ungenannt und sind zu ergänzen. GAUß betrachtete weiter einparametrige Scharen kürzester Linien, die ein gewisses Flächenstück schlicht überdecken. In den Untersuchungen, § 17, ging er so vor: “Von einem gegebenen Punkt auf einer krummen Fläche wollen wir unzählige kürzeste Linien auf dieser Fläche ausgehen lassen, die von einander durch den Winkel unterschieden werden sollen, welchen ihr erstes Element mit dem ersten Element Einer bestimmten kürzesten Linie macht.”69 GAUß bezeichnete mit ϕ den Winkel im Ausgangspunkt einer beliebigen kürzesten Linie gegen eine solche feste Linie und mit r (bei GAUß selbst s) die auf der beliebigen Linie gemessene Entfernung vom gegebenen Ausgangspunkt. Die Flächenpunkte lassen sich mithin als Funktionen von ϕ und r festlegen (geodätische Polarkoordinaten). Das Bogenelement ds hat in diesen Koordinaten die Form (4) ds2 = dr2 + m dϕ2,
(m > 0) .
Der hier durch die geodätischen Polarkoordinaten beschriebene Sachverhalt für kürzeste Linien wird im allgemeinen Fall nach WEIERSTRAß und KNESER durch den Begriff des Flächenstreifens und des Feldes von Extremalen, kurz durch das Extremalenfeld, erfaßt.70 GAUß fand in den Untersuchungen, § 17, nun den “schönen Lehrsatz”: “Wenn von einem Punkt der krummen Fläche aus lauter kürzeste Linien von gleicher Länge gezogen sind, so machen diese mit ihrem Endpunkt verbundene Linien überall rechte Winkel.”71 Er fügte an, daß dieser Satz auch dann gelte (daß er nämlich “als eine Generalisierung des ersten betrachtet werden kann”72), wenn man die Schar
69. Gauß, Werke, Bd. VIII, 437. 70. Kneser, Lehrbuch der Variationsrechnung, 1900, § 14. Der Begriff selbst geht letztlich auf Weierstraß zurück, wie wir im vorigen Kapitel, Abschnitt 3.5.2.7, gesehen haben. 71. Gauß, Werke, Bd. VIII, 439. 72. Selbstanzeige der Disquisitiones von Gauß in den “Göttinger gelehrten Anzeigen”, Werke, Bd. IV, 345; auch in: K. Reich (Hrg.), Gauß’ Werke in Kurzfassung (Algorismus, Heft 39), Augsburg, Rauner, 2002, 109-115.
342
KAPITEL 4
nicht in einem Punkt ausgehen läßt, sondern die Schar für irgendeine gegebene Kurve dadurch erzeugt, daß man sich auf dieser Kurve in jedem Punkt unter einem rechten Winkel kürzeste Linien gleicher Länge nach einer Seite gezogen denkt und dabei die Endpunkte dieser Linien durch eine Kurve verbindet, die dann von den kürzesten Linien rechtwinklig geschnitten wird. Man braucht zum Beweis dieses Sachverhalts die Größe ϕ nur als Länge auf der gegebenen Kurve von einem beliebigen festen Ausgangspunkt bis zum Fußpunkt einer kürzesten Linie zu interpretieren.
Abb. 4.2. Der Satz von Gauß über kürzeste Linien
Kurz darauf brechen die Untersuchungen ab, aber diese Thematik wird später in den Disquisitiones wieder aufgenommen. Dort ging GAUß jedoch sofort von beliebigen Parametern p und q aus, und er führte die Betrachtungen allgemeiner weiter, indem er anstelle von (4) das Bogenelement (5) ds2 = E dp2 + F dpdq + G dp2 zugrunde legte (mit Ausnahme der Artikel 14 bis 17, in denen die geodätischen Polarkoordinaten r und ϕ benutzt werden, um die bereits in den Untersuchungen erhaltenen Ergebnisse darzulegen). Die Systeme von krummen Linien p = const., p = variabel,
q = variabel, q = const.,
wie sie von GAUß genannt werden, bilden auf einem Flächenstück ein Netz von Parameterlinien, mit dem jeder Flächenpunkt erfaßt wird (Disq. gen.,
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343
Art. 5), und wobei jeder Flächenpunkt im allgemeinen auch nur durch ein Paar von Parameterwerten bestimmt wird. Im Hinblick auf die gerade betrachteten Theoreme spezialisierte GAUß die Größen p und q so, daß sich die beiden Scharen von Parameterlinien senkrecht schneiden (Disq. gen., Art. 19), und er bemerkte: “Am einfachsten ist es, für p die Länge einer Linie des ersten Systems zu wählen, und dieselbe, falls alle Linien des ersten Systems in einem Punkt zusammenlaufen, von diesem Punkt ab zu rechnen, oder, wenn ein gemeinsamer Schnittpunkt nicht existiert, von irgendeiner Linie des zweiten Systems ab”. Die Orthogonalität der Scharen bewirkt nach Artikel 17 das Verschwinden der Fundamentalgröße F, was sofort aus der Gleichung F (6) cos ϕ = ------------
EG
folgt, worin ϕ den Winkel zwischen den Tangenten an die Parameterlinien in ihren Schnittpunkten bezeichnet. Im Fall der speziellen Polarkoordinaten hatte GAUß einen Beweis für deren Orthogonalität geliefert. Dieser Beweis erscheint uns heute etwas verwickelt, da GAUß den uns vertrauten Formalismus der Vektoralgebra noch nicht besaß und da er weiterhin über eine zwischengeschaltete Abbildung durch parallele Normalen auf die Einheitskugel den analytischen Sachverhalt etwas komplizierte. Modern interpretiert laufen jedoch die Gaußschen Rechnungen einfach darauf hinaus, daß GAUß das Skalarprodukt S(r, ϕ) der Tangentialvektoren der Koordinatenlinien in ihren Schnittpunkten bildet und diese Größe nach dem Parameter r differenziert. Unter Berücksichtigung der Differentialgleichung für die kürzesten Linien und der Tatsache, daß r die Bogenlänge bezeichnet, zeigt sich, daß diese Ableitung verschwindet bzw. daß die Differentialgleichung Sr(r, ϕ) = 0 besteht. Mit dem Anfangswert S(0, ϕ) = 0 folgt als Lösung der Differentialgleichung S(r, ϕ) = 0, also die Orthogonalität der Scharen. Die tragenden Ideen der Feldtheorie sind in den Artikeln 21 und 22 der Disquisitiones enthalten und Thema der nächsten Abschnitte. Etwa zeitgleich, aber unabhängig von GAUß begann auch WILLIAM HAMILTON mit verwandten Untersuchungen,73 über die wir im Abschnitt 4.2 berichtet haben. 4.4.3 Mindings und Beltramis Rezeption Daß die dem Problem der kürzesten Linie entsprechende Hamilton-Jacobische Differentialgleichung schon bei GAUß steht (Disq. gen. Art. 22, Glei-
73. W.R. Hamilton, “Theory of systems of rays”, Transactions of the Irish Academy, 15 (1828), und spätere Arbeiten in den Transactions. Siehe hierzu G. Prange, “W.R. Hamiltons Arbeiten zur Strahlenoptik und analytischen Mechanik”, Nova acta Leopoldina, Bd. 107, 1923.
344
KAPITEL 4
chung 5), ist bereits von ERNST FERDINAND ADOLF MINDING (1806-1885) festgestellt worden.74 Allerdings werden bei GAUß die funktionalen Abhängigkeiten durch Winkel zwischen den Geodätischen und den Koordinatenlinien sowie in den Fundamentalgrößen F, G, H ausgedrückt. Zur Integration der später als Hamilton-Jacobische Differentialgleichung bezeichneten Gleichung bemerkte GAUß, daß “man dieselbe bekanntlich auf die Integration gewöhnlicher Differentialgleichungen reduzieren [kann]; doch sind dieselben meist so verwickelt, daß daraus wenig Nutzen entspringt,”75 und er hielt bei praktischen Bedürfnissen Reihenentwicklungen für angebracht. Hierfür gab GAUß ein Beispiel, das letztlich einen Satz von Legendre verallgemeinert und in den restlichen Artikeln behandelt wird, wobei auf das durch GAUß vermessenes Dreieck Hoher Hagen-Brocken-Inselsberg Bezug genommen wird. Auch die Carathéodoryschen Fundamentalgleichungen für das Problem der geodätische Linien finden sich im Prinzip bei GAUß (vgl. Abschnitte 2.3.5 und 2.4.3). Hier ist anstelle des Wertes des Feldintegrals (bzw. der Hamiltonschen charakteristischen Funktion) von dem geodätischen Abstand r = r(p, q) die Rede, wobei die Ausdrücke für die partiellen Ableitungen rp und rq (die Gleichungen 1) und 2) in Art. 22 der Disq. gen.) wiederum von den Winkeln abhängen, die in der Gleichung 5) des Artikels 22 (bzw. in den Fundamentalgleichungen) auftreten. EUGENIO BELTRAMI (1835-1900) hat 1868 in der Arbeit Sulla teoria delle linee geodetiche76 die erwähnten Gaußschen Gleichungen 1) und 2) in den drei Fundamentalgrößen E, F, G und den Differentialen dp und dq längs der Geodätischen (dort mit δp und δq bezeichnet) ausgedrückt: Eδp + Fδq Fδp + Gδq r p = --------------------------- , r q = --------------------------- . δs δs
In der gleichen Arbeit erklärte BELTRAMI ein Unabhängigkeitsintegral, das später in der Variationsrechnung eine große Rolle spielen sollte, aber zunächst unbeachtet blieb. HILBERT hat es unabhängig wiederentdeckt und es durch seinen berühmten Pariser Vortrag auf dem Internationalen Mathematikerkongreß 1900 in dem 23. Problem bekannt gemacht (siehe Abschnitte 5.3.2, 5.5.4). Es war ADOLF KNESER, der BELTRAMIS Vorarbeiten zur Kenntnis genommen
74. E.F.A. Minding, De formae in quam geometra britannicus Hamilton integralia mechanices analyticae redegit, 1864, Reprint durch A. Kneser in Mathematischen Annalen, 55 (1902), 119135, hier insbesondere S. 131. - Über Mindings Leben siehe R.I. Galtschenkowa et. al., Minding (russ.), Moskau, Nauka (Leningrader Abteilung), 1970, insbes. Kap. 10. 75. Gauß, Disquisitiones, Art. 22. Eine Integrationstheorie für partielle Differentialgleichungen Φ (x, y, z, p, q) = 0 hatte Lagrange angegeben, von Monge wurde sie geometrisch behandelt, und Cauchy hat sie in die Standardform gebracht. 76. E. Beltrami, Opere matematiche, t. I, Mailand, Hoepli, 1902, 366-373.
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345
hatte und der auf sie hingewiesen hat. CONSTANTIN CARATHÉODORY würdigte BELTRAMIS Bedeutung, indem er hervorhob, daß im vorigen Jahrhundert nur wenige die Ergebnisse der Variationsrechnung und deren Konsequenzen übersahen und daß “unter diesen […] an erster Stelle Beltrami zu nennen ist, der in mehreren wundervollen Arbeiten die Beziehung der Flächentheorie von Gauß zu den Resultaten von Jacobi ergründet hat.”77 BELTRAMIS Zugang erfolgte über eine partielle Differentialgleichung 1. Ordnung für die Gefällefunktion p(x, y), mit der der Anstieg der Geodätischen (Extremalen) im Feld erfaßten wird. Er schrieb diese Differentialgleichung, die zum Variationsproblem (1.1) gehört, in der Form ∂f ∂ ( f – y'f y' ) ------------------------ = -------y'∂y ∂x
(die Argumente von f sind x, y, p) auf, und er schloß hieraus auf die Existenz einer Funktion F(x, y), deren totales Differential die Form dF = Fx dx + Fy dy = (f - y ' fy') dx + fy' dx
hat.78 Damit ist das Integral J(C), (1.1), über dF für alle Kurven C : y = y(x), die zwei gegebene Punkte A und B verbinden, vom Wege unabhängig. BELTRAMIS Ergebnisse werden durch die Tatsache etwas geschmälert, daß er die Funktion F(x, y) = λ nicht als orthogonale Schar deutete, womit er sich – ähnlich wie HILBERT – um einen wesentlichen geometrischen Sachverhalt brachte. Es sei jedoch erwähnt, daß BELTRAMI in den Jahren von 1865 bis 1869 durch die – in heutiger Terminologie – gestellte Frage nach einem Diffeomorphismus, der eine Fläche so auf die Ebene abbilden soll, daß die Geodätischen der Fläche in die Geodätischen der Ebene (Geraden) übergehen, auf sein Modell der nichteuklidischen Geometrie geführt wurde. 4.5 Der Beitrag der französischen Schule der Differentialgeometrie 4.5.1 Allgemeines Der Begriff Differentialgeometrie wurde erstmals von LUIGI BIANCHI (1856-1928) im Jahre 1886 benutzt, aber die Verbindung geometrischer Konzepte mit analytischen Formalismen ist natürlich wesentlich älter, und sie hat insbesondere in Frankreich eine lange Tradition, die von RENÉ DESCARTES über GASPARD MONGE (1746-1818) bis zu GASTON DARBOUX oder ELIE CAR77. C. Carathéodory, Variationsrechnung und partielle Differentialgleichungen, Leipzig, B.G. Teubner, 1935, S. III. 78. Die traditionelle Benennung der Fundamentalgrößen durch E, F, G führt hier zu einer Doppelbezeichnung.
346
KAPITEL 4
(1869-1951) reicht.79 SHIING-SHEN CHERN (geb. 1911) leitete eine Vorlesung über Differentialgeometrie mit den historischen Bemerkungen ein: With the development of the calculus more results were obtained as its geometrical applications. The work of this early period was culminated in Monge, and his many pupils of the École polytechnique. Then a decisive step was taken by Gauss, who developed the intrinsic geometry on a surface. This idea was generalized to an n-dimensional space by Riemann.80 Für diesen Abschnitt sind jene (Differential)Geometer zu nennen, die parallel mit GAUß und direkt nach ihm auf diesem Gebiet gearbeitet haben, also etwa MICHEL CHASLES (1793-1880), CHARLES-JULIAN BRIANCHON (17831864), JOSEPH ALFRED SERRET (1819-1885), FRÉDERIC JEAN FRÉNET (18161900), JOSEPH LOUIS BERTRAND (1822-1900) oder VICTOR ALEXANDRE PUISEUX (1820-1883). Für unser Thema sind jedoch vor allem die Arbeiten von zwei französischen Mathematikern von Interesse, die nachfolgend besprochen werden, nämlich die von BONNET und DARBOUX. TAN
4.5.2 Ossian Bonnets Beitrag PIERRE OSSIAN BONNET (1819-1892) leitete in den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts Jahren eine Gruppe französischer Mathematiker, zu denen u.a. FRÉNET, BERTRAND und PUISEUX gehörten und die sich mit differentialgeometrischen Problemen befaßte. Von BONNET stammt der Begriff geodätische Krümmung, und nicht nur in der Flächentheorie ist der Satz von GaußBonnet wohlbekannt, der den Flächeninhalt eines geodätischen Dreiecks auf einer Fläche durch deren Krümmung ausdrückt und somit den lokalen Begriff der Krümmung globalisiert. Wir wollen einen Beitrag BONNETS zur Theorie der geodätischen Linien betrachten. 1836 hatte CARL GUSTAV JACOBI in der Arbeit Zur Theorie der VariationsRechnung und der Differential-Gleichungen behauptet, daß ein Bogen einer Geodätischen nur dann ein Minimum liefert, wenn sich auf ihm kein Paar konjugierter Punkte befände: “Sobald man nun, indem man auf der Curve [betrachtete Extremale] fortschreitet, zu einem Punct derselben gelangt, für welchen eine jener anderen Curven [der Extremalenschar] mit ihr zusammenfällt [d.h. zum konjugierten Punkt des Ausgangspunktes wird], […] so ist dieses die Grenze, bis zu wel-
79. Für die Geschichte der Differentialgeometrie insbesondere nach Gauß vergleiche man Struiks Antrittsvorlesung in Utrecht 1923, die allerdings geodätische Linien nicht besonders behandelt; D.J. Struik, “Über die Entwicklung der Differentialgeometrie”, Jahresbericht der DMV, 34 (1926), 14-25. 80. Differential geometry, Lecture delivered at the University of Chicago in Spring 1951, University of Chicago, Library of the Department of the Mathematical Institut, 96.
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cher, oder über welche hinaus, man die Integration nicht ausdehnen darf, wenn ein Maximum oder Minimum Statt finden soll.”81 Diese Aussage bzw. deren Beweis beschäftigte in den folgenden Jahren zahlreiche Mathematiker und selbst in den Weierstraßschen Vorlesungen findet sich seit 1875 beständig ein Abschnitt, der sich mit der Widerlegung der Bertrandschen Behauptung befaßt, daß es Minimalität der Extremalenbogen auch über den konjugierten Punkt hinaus geben könne (vgl. Abschnitt 3.5.2). BONNET hat 1855 die Jacobische Behauptung für geodätische Linien, auf denen keine zueinander konjugierten Punkte liegen, in der Arbeit Note sur les lignes géodesiques82 bewiesen, wobei er “feldtheoretisch” argumentierte und dabei für negative Gaußsche Krümmung ein hinreichendes Kriterium für (starke) Minimalität gewann. Ein in diesem Zusammenhang interessantes Resultat, das BONNET aufgriff, findet sich bereits bei GAUß, der eine Schar von Geodätischen betrachtete und deren Abstand p von einer in Rede stehenden Geodätischen C0 ermittelte. Modern gesprochen werden dabei Jacobi-Felder untersucht.83 Der Abstand p zwischen zwei Geodätischen der Schar als Funktion der Bogenlänge s betrachtet genügt der auf GAUß zurückgehenden Differentialgleichung: 2
2
d p p (1) --------2 + -------- = 0 . ds
RR'
BONNET betrachtete in seiner Arbeit eine die Punkte A und B auf der gegebenen Fläche verbindende Geodätische C0, deren allgemeiner Punkt mit M bezeichnet sei. Auf dem Bogen AB der Geodätischen befinden sich keine zueinander konjugierten Punkte. Eine hinreichend benachbarte Vergleichskurve C habe die gleichen Endpunkte, und ihr allgemeiner Punkt sei M1. Die von A aus gemessene Bogenlänge s bzw. s1 diene für beide Kurven C0 bzw. C als Parameter. Durch die Punkte der Geodätischen C0 werde eine Schar geodätischer Kurven gelegt, die C0 unter einem rechten Winkel treffen. Weiter bezeichnen M und N zwei auf C0 gelegene infinitesimal benachbarte Punkte, d.h. die Strecke MN ist gleich ds; entsprechendes gelte für die Punkte M1 und N1 auf der Vergleichskurve, in denen die durch M und N gehenden Geodätischen C schneiden, wobei hier M1N1 = ds1 gilt. Dann läßt sich die totale Variation wie folgt (2) ∆J = J ( C ) – J ( C )0 =
B
B
∫ A ds1 – ∫ A ds
81. Journal für reine und angewandte Mathematik, 17 (1837), 68-82, Zitat 73, sowie eine französische Übersetzung im Journal de Mathématiques, 3 (1838), 44-59; auch in: Werken, Bd. 4, 3955 (franz. Übersetzung) sowie in: Ostwalds Klassiker, Nr. 47, S. 87-98, Zitat dort S. 94. 82. “Deuxième note”, Comptes Rendus de l’Académie des Sciences, (Paris), 41 (1855), 32-35. 83. Vgl. hierzu etwa S. Hildebrandt, M. Giaquinta, Calculus of variations, vol. I, Berlin, Springer, 1996, 270.
348
KAPITEL 4 2
1 B 2 ω = --- ∫ ⎛⎝ ω' – --------⎞⎠ ds RR' 2 A
ausdrücken, wobei ω im Punkt M den Abstand der Geodätischen von der Vergleichskurve (d.h. die Strecke MM1 bedeutet).
Abb. 4.3. Die von Bonnet eingeführte Schar, die zur untersuchten Geodätischen orthogonale ist.
Der Beweis wird von BONNET so ausgeführt: P sei der Punkt auf der Geraden durch N und N1 mit der Eigenschaft NP = MM1. Nun ist (3) M 1 N 1 = ds 1 =
2
2
M 1 P + PN 1 .
Weiter gilt dω PN 1 = dω = ------- ds = ω' ds , ds 1 2 M 1 P = u ( ω ) = u' ( 0 )ω + --- u'' ( 0 )ω + …, 2
letztere Entwicklung für hinreichend kleine ω. Der Abstand in der Schar der orthogonalen Geodätischen zwischen den Geodätischen durch M und N (bzw. durch M1 und N1 ) ist gleich der Strecke MN (bzw. M1N1), nach Definition von P aber auch gleich der Strecke M1P = u. Er genügt der oben angegebenen Differentialgleichung (1) von GAUß mit den Anfangsbedingungen u(0) = ds, u'(0) = 0, so daß bis auf höhere Glieder 1 ds 2 M 1 P = ds – --- -------- ω + … 2 RR'
gilt. Damit ist wegen (3) 2
2 ω ds 1 = ds 1 – ------------ + ω + … 2RR'
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349
bzw. wieder bis auf höhere Glieder 2
1 2 1ω ds 1 = ds ⎛⎝ 1 + --- ω' – --- --------⎞⎠ . 2 RR' 2
Hieraus folgt die Formel (2) für die totale Variation. Die totale Variation ist damit bei negativer Krümmung RR' stets positiv und verschwindet nur, wenn Geodätische und Vergleichskurve übereinstimmen. Bei Abwesenheit konjugierter Punkte liegt damit ein Minimum längs des gesamten Bogens vor: On voit d'abord immédiatement que, si RR' est négatif, cette variation seconde est toujours positive; ce qui démontre ce premier théorème que j'ai établi autrement dans ma première Note: Dans une surface à courbures opposées, une ligne géodésique est minima dans toute son étendue.84 In Verbindung mit dem Sachverhalt, daß bei negativer Krümmung keine konjugierten Punkte existieren (G. DARBOUX), läßt sich das Bonnetsche Resultat als ein hinreichendes globales Kriterium für starke Extrema interpretieren. BONNET selbst hat aber die gezeigte starke Extremalität nicht hervorgehoben, was bei der seinerzeitigen Unklarheit des Minimumsbegriffs nicht zu erwarten war. JACOBI hatte die verworrenen Auffassungen jener Zeit drastisch in folgender Weise umrissen: “Um auf das Maximum und Minimum zurückzukommen: so ist [es] ein Übelstand, daß im Gebrauch dieser Wörter solche Verwirrung herrscht. Man sagt, ein Ausdruck sei ein Maximum oder Minimum, wenn man nur sagen will, daß seine Variation verschwindet. Man sagt, eine Größe sei ein Maximum, wenn man nur sagen will, sie sei kein Minimum.”85 Das Jacobische Zitat macht klar, daß es historisch ungerechtfertigt wäre, hier eine Diskussion von schwacher und starker Extremalität zu erwarten. Erörtern wir aber den Sachverhalt unter modernen Gesichtspunkten. Auf den ersten Blick erscheint es ungereimt, aus einer Taylor-Entwicklung der totalen Variation bzw. aus dem hieraus ersichtlichen Vorzeichen der zweiten Variation auf das Vorzeichen der totalen Variation zu schließen und starke Extremalität zu behaupten. Aber im Gegensatz zu den üblichen Taylor-Entwicklungen, in denen die Ableitungen nur geringfügig von der betrachteten Geodätischen abweichen dürfen, haben wir diese Entwicklung über die ortho-
84. “Deuxième Note sur les lignes géodésiques”, Comptes rendus de l'Académie des Sciences (Paris), 41 (1855), 32-35, Zitat 34. “Man sieht unmittelbar, daß die zweite Variation positiv ist, wenn RR' negativ ist. Damit ist das erste Theorem bewiesen, das ich in meiner ersten Note auf andere Art bewiesen habe: Auf jeder Fläche mit gegensätzlicher Krümmung ist eine geodätische Linie in ganzer Länge Minimale”. 85. “Zur Theorie der Variations-Rechnung und der Differential-Gleichungen”, Journal für reine und angewandte Mathematik, 17 (1837), 68-82, Zitat 82; auch in: Werken, Bd. 4, sowie in Ostwalds Klassiker, Nr. 47.
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KAPITEL 4
gonale Schar vollzogen, und damit erscheint die Richtungsänderung als Abstandsvariation (ω hinreichend klein). Der tiefere Grund der Hinlänglichkeit für starke Extremalität liegt also in der Existenz der transversalen Schar. Genauer gesagt haben wir sogar ein Mayerfeld bzw. eine vollständige Figur im Sinne von CARATHÉODORY vor uns. Da in dem Beweis davon ausgegangen wurde, daß keine konjugierten Punkte erscheinen, wurde zudem das Jacobische Kriterium als erfüllt vorausgesetzt, so daß die Positivität der Exzeßfunktion (Integrand in (2)) tatsächlich hinreichend für Minimalität ist (Satz von Weierstraß). Wie oben bereits erwähnt, existieren bei negativer Gaußscher Krümmung keine konjugierten Punkte auf Geodätischen, so daß das Jacobische Kriterium automatisch erfüllt ist. Damit sind globale Aussagen möglich, wie sie später in der Morse-Theorie behandelt werden. Die Bonnetschen Untersuchungen wurden später von GUSTAV DARBOUX in seinem klassischen Werk Théorie générale des surfaces (1889)86 wieder aufgenommen. DARBOUX zeigte dort u.a. das erwähnte Resultat, daß Flächen negativer Krümmung überhaupt keine konjugierten Punkte besitzen können. Unter weiteren Annahmen läßt sich zeigen, daß solche Flächen homöomorph zur Ebene sind (JACQUES HADAMARD, 1898). 4.5.3 Der Minimalitätsnachweis von Darboux Das klassische vierbändige Werk Théorie générale des surfaces von GASTON DARBOUX, eines der großen differentialgeometrischen Werke des 19. Jahrhunderts, behandelt im 1889 erschienen zweiten Band auch die Variationsrechnung (livre V) und die geodätischen Linien (livre VI).87 Mit JOSEPH LIOUVILLE (1809-1882) werden hier die Lösungen der Differentialgleichung für die kürzesten Linien Geodätische genannt (1844).88 Geodätische Linien müssen daher nicht kürzeste Verbindungslinien (Minimalen) sein. Obwohl DARBOUX wie etwa CAMILLE JORDAN (1838-1922) in seinen Arbeiten Analysis und Geometrie verband, charakterisierte ihn HILBERT in seinem Nachruf so: “Darboux war von Natur vor allem Geometer – von vornherein aber mit der Tendenz, möglichst an alle verschiedenen Gebiete der Mathematik anzuknüpfen, diese geometrisch durchdringend und befruchtend.”89 Seine Hauptverdienste, so HILBERT, liegen aber zweifelsfrei auf dem Gebiet der Flächentheorie, die ein Mittel zum Studium jener Disziplinen ist, die heute die wichtigsten Rollen in
86. Paris, Gauthier-Villars, 1887-1896, 4 Bde., 2. Aufl., 1914-1915. 87. Paris, Gauthier-Villars, 1887-1896, 21914-1915; desgl. sein Werk Leçons sur les systèmes orthogonaux et les coordonées curviligne, Paris, Gauthier-Villars, 1899, 21910. 88. J. Liouville, “De la ligne géodésique sur un ellipsoïde”, Journal de mathématiques pures et appliquées, 9 (1844). L’équation différentielle de la ligne géodésique (la ligne la plus courte) […], (“Die Differentialgleichung der geodätischen Linie (der kürzesten Linie) […]”), 401. 89. D. Hilbert, “Gaston Darboux”, Göttinger Nachrichten, 1917, geschäftliche Mitteilungen 71-75; auch in: Gesammelte Abhandlungen, Bd. 3, Berlin, Springer, 1935, 365-369.
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der Mathematik spielen (Variationsrechnung, Theorie der partielle Differentialgleichungen, Invariantentheorie, Mechanik) und deren organischen Zusammenhang niemand klarer bezeichnet hat als DARBOUX.90 Der entscheidende Beitrag DARBOUXS zu unserer Thematik besteht im Minimalitätsnachweis für geodätische Linien (livre V, chap. IV: Les lignes géodésiques). Für ein hinreichend kleines Flächenstück, das den Punkt M enthält, führte DARBOUX wie GAUß geodätische Koordinaten u, v ein (§ 519), indem er eine geodätische Linie der Länge l um den festen Punkt M “herumdreht”. Diese einparametrige Schar geodätischer Linien überdeckt in der Umgebung des gegebenen Flächenpunktes M ein Flächenstück U(M) schlicht. Damit ist gemeint, daß durch jeden Punkt von U(M) genau eine Kurve der Schar geodätischer Linien geht. Eine solche Schar wird nach KNESER ein Extremalenfeld oder auch ein Feld geodätischer Linien genannt. Die Existenz eines solchen Feldes von Kurven ist mit der Einführbarkeit geodätischer Koordinaten gleichwertig. Anders gesagt, die vom Punkt M ausgehenden geodätischen Linien dürfen sich innerhalb des Feldes nicht schneiden, wenn sie als Koordinatenlinien dienen sollen. DARBOUX gab dann das Linienelement für geodätische Koordinaten in der bereits von GAUß notierten Form (1) ds2 = du2 + G dv2 = du2 + m2 dv2
(m ≠ 0, beliebig)91
an (§§ 519, 520). Hieraus folgert er, daß eine geodätische Linie auf einer Fläche zwischen zwei hinreichend benachbarten Punkten in der Tat der kürzeste Verbindungsweg zwischen beiden ist. Cette forme est d’une importance capitale. Elle va nous permettre démontrer que le chemin le plus court entre deux points suffisamment rapprochés d’une surface est toujours une ligne géodésique.92 (§ 521) Denn irgendeine in einem Feld vom Punkt M zum Punkt M ' verlaufende (differenzierbare) Kurve K hat die Länge (2) J ( K ) =
M'
∫M
2
2
2
du + m dv .
Da eine geodätische Linie C in den geodätischen Koordinaten u, v durch v = const. charakterisiert werden kann, ergibt sich deren Länge gemäß (1) zu (3) J ( C ) =
M'
∫M
2
du .
Somit ist 90. aaO., 368. 91. Wir schreiben hier und im folgenden m anstelle des von Darboux benutzten C, da von uns C bereits für geodätische Linien vergeben ist. 92. G. Darboux, Théorie des surfaces, Bd. 2, Paris, Gauthier-Villars, 1889, 411. “Diese Form hat grundlegende Bedeutung. Sie wird es uns erlauben zu beweisen, daß der kürzeste Weg zwischen zwei hinreichend benachbarten Punkten einer Fläche immer eine geodätische Linie ist”.
352
KAPITEL 4
(4) J ( K ) – J ( C ) =
M'
∫M [
2
2
2
2
du + m dv – du ]
≥ 0, bzw. im Feld ist der längs einer Geodätischen zurückgelegte Weg der kürzeste (§ 521). Nach WEIERSTRAß drückt man das Ergebnis auch so aus: Läßt sich ein Bogen einer geodätischen Linie in ein Feld einbetten, so liefert er die kürzeste Verbindung zwischen je zwei Punkten auf diesem Bogen im Vergleich mit allen anderen im Feld verlaufenden Kurven. Die Bedingung des Einbettens ist dabei wesentlich, wie die geodätischen Linien (Großkreise) auf einer Kugel zeigen. Einbettung und damit Minimalität ist nur für Großkreisbogen möglich, die kleiner als ein Halbkreis sind. Allgemein existiert ein einbettendes Feld nur dann, wenn innerhalb des Extremalenbogens kein weiterer zum Ausgangspunkt konjugierter Punkt liegt.
Abb.4.4. Die geometrische Deutung von Darboux (“Methode des steilsten Abstiegs”).
In den §§ 522 bis 524 erweiterte DARBOUX die Betrachtungen auch auf geodätische Parallelkoordinaten. Er merkte an, daß er dabei auch die beiden bekannten Sätze von GAUß erhalten hatte. DARBOUX begründete seinen Minimalitätsnachweis ein weiteres Mal auf geometrische Weise, indem er die Methode des steilsten Abstieges benutzt (ohne diesen Namen zu gebrauchen), die später CARATHÉODORY zu seiner “geometrischen” Form der Feldtheorie anregte.93 Die entsprechende Stelle lautet: On peut encore présenter le raisonnement précédent sous une forme géométrique. Construisons autour du point M les courbes u = const. qui offriront autour de ce point la disposition générale d’une série de cercles concentriques autour de leur centre dans le plan. Considérons deux courbes infiniment voisines; l’arc d’une ligne quelconque compris entre ces deux courbes sera
93. Erstmals 1904 in seiner Dissertation Ueber die diskontinuirlichen Lösungen in der Variationsrechnung (S. 65 ff.) (Gesammelte mathematische Schriften, Bd. 1, München, Beck, 1955, S. 71 ff.), wo er auf eine Idee von Joh. Bernoulli zurückgreift (siehe Abschnitt 2.3.1).
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2
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2
du + m dv sa valeur minimum sera donc du et elle correspondra au cas où
l’on suit, pour aller de l’une à l’autre courbe, une géodésique normale. Le plus court chemin de M à M’ est donc nécessairement la géodésique qui passe par ces deux points.94 Schließlich zeigte DARBOUX noch den Sachverhalt, daß man durch einfache Quadratur stets die orthogonalen Trajektorien (transversale Schar) einer beliebigen Schar von geodätischen Linien erhalten kann (On peut toujours, par simple quadrature, déterminer les trajectoires orthogonales d’une famille quelconque de géodésiques; § 523, p. 415). In diesem Zusammenhang geht Darboux noch auf eine unmittelbar folgende geometrische Interpretation des Sachverhalts ein, die auf die von uns bereits besprochenen Sätze von GAUß zurückgeht und die später der Ausgangspunkt von KNESER war und von ihm im Transversalensatz verallgemeinert worden ist (vgl. hierzu Abschnitte 4.6.3.3 und 4.6.3.5): Deux trajectoires orthogonales quelconques interceptent le même arc sur toutes les géodesiques considérées.95 In der Gleichung (3) erscheint in der einfachsten Form das 1900 von HIL96 BERT allgemein eingeführte Unabhängigkeitsintegral J, (5) J =
M'
∫M
2
du ,
das die Länge u - u0 des Bogens einer Geodätischen von M nach M ' angibt und sich auch als Integral über die Bogenlänge s schreiben läßt. Andererseits kann man die Differenz u - u0 als Integral über die Ableitung von u(s) ausdrükken, so daß innerhalb des geodätischen Koordinatensystems für beliebige Kurven K, die M und M ' verbinden, gilt: (6) u – u 0 =
M'
M'
∫ M u' ( s ) ds = ∫ M
2
du =
M'
∫ M ds .
Das Kurvenintegral (5) liefert also für alle zum Vergleich zugelassenen Verbindungslinien K, die von M nach M ' führen, den gleichen Wert J(K) wie das
94. G. Darboux, Théorie des surfaces, Bd. 2, Paris, Gauthier-Villars, 1889, § 521 (p. 412). “Man kann die vorhergehende Begründung nochmals in geometrischer Form geben. Wir konstruieren um den Punkt M die Kurven u = const., die allgemein eine Folge von konzentrischen Kreisen mit diesem Punkt als ihrem Mittelpunkt in der [Parameter] Ebene bilden. Wir betrachten zwei infinitesimal benachbarte Kurven. Das Bogenelement einer beliebigen Linie zwischen diesen zwei Kurven wird gleich du2 + m2 dv2 sein; der kleinste Wert wird damit du sein, und er entspricht dem Fall, wo man, um von einer Kurve zur anderen zu gehen, eine Geodätische [in] normal[er Richtung] verläßt”. 95. aaO., § 523 (p. 415) “Zwei beliebige orthogonale Trajektorien [Transversalen] schneiden auf allen betrachten Geodätischen gleiche Bogen ab”. 96. In allgemeinerer Gestalt von Hilbert in seinem Vortrag “Mathematische Probleme”, Göttinger Nachrichten, (1900), 253-297, vorgestellt.
354
KAPITEL 4
über die Geodätische C erstreckte Integral J(C) (das sog. Feldintegral), was im Sinn von HILBERT die Wegunabhängigkeit von J im Feld ausdrückt: (7) J(K) = J(C). 4.6 Adolf Kneser (1862-1930) 4.6.1 Zum Leben Adolf Knesers97 ADOLF KNESER, im gleichem Jahr wie DAVID HILBERT geboren, war einer der herausragenden deutschen Mathematiker um die Wende des 19. zum 20. Jahrhunderts, und die Variationsrechnung gehörte zu seinen Hauptarbeitsgebieten. 1900 publizierte er sowohl ein einflußreiches Lehrbuch der Variationsrechnung98 als auch das Kapitel über Variationsrechnung in der Encyklopädie der mathematischen Wissenschaften99. KNESERS Leistungen in der Variationsrechnung haben ihren Niederschlag in zahlreichen von ihm gut gewählten Fachausdrücken wie Extremale, Feld, transversal oder starke bzw. schwache Extrema u.a.m. gefunden, die auch in das internationale Fachvokabular eingegangen sind. Nach den Untersuchungen von KARL WEIERSTRAß war eigentlich geklärt, aber aufgrund fehlender Weierstraßscher Veröffentlichungen eben nicht öffentlich bekannt, daß vermittels der zweiten Variation nur hinreichende Bedingungen für schwache Extrema erhalten werden können (siehe Abschnitte 3.5.2.6 und 3.5.2.7). In unserem Zusammenhang ist daher erwähnenswert, daß KNESER nach WEIERSTRAß die Theorie der zweiten Variation zu einem gewissen Abschluß100 brachte und der Theorie der konjugierten Punkte große Aufmerk-
97. Biographische Arbeiten über Kneser: L. Koschmieder, “Adolf Kneser”, Sitzungsberichte der Berliner Mathematischen Gesellschaft, 29 (1930), 78-102, enthält eine Bibliographie mit 81 Titeln; Gedenkreden auf A. Kneser, Privatdruck, Braunschweig, Vieweg, 1930; P. Müürsepp, “Professor of Mathematics Adolf Kneser (1862-1930) and the Tartu University”, Items from the History of Science in the Estonian S.S.R, (ed. J. Eilart), Tartu, Academy of Sciences, 1971, 56-71. Eine biographische Skizze mit Betonung der russischen Beziehungen Knesers findet sich auch in dem dem Briefwechsel zwischen A. Kneser und W.A. Steklow gewidmeten Büchlein: W.A. Steklow - A. Kneser, Nautschnaja perepiska (Redaktor Oshigowa), Moskwa, Nauka, 1980. 98. Braunschweig, Vieweg, 1900, 2. erw. Auflage, 1925. 99. Encyklopädie, Bd. 2, A8, Leipzig, B.G. Teubner, 1899-1916, 571-625. 100. Eine gute Übersicht bietet Knesers Enzyklopädiekapitel, dort insbesondere die Art. 12, 16 und 25. – Gustav von Escherich hatte, Ideen von Clebsch und A. Mayer folgend, diesen Themen in den Wiener Berichten zahlreiche Arbeiten gewidmet, in denen neben dem Begriff des akzessorischen Variationsproblems auch eine interessante Darstellung der 2. Variation erschien (Wiener Berichte von 1899, S. 1278). H. Goldstine schrieb: [these] papers are so verbose and repetitious of earlier written that it seemed to me unreasonable to attempt a systematic study of them (History, p. 250). Den mit dem akzessorischen Variationsproblem verbundenen Begriffen des normalen bzw. anormalen Extremalenbogens sind in der Bliss-Schule der Variationsrechnung eingehende Untersuchungen gewidmet worden, da Bliss offenbar die Hoffnung nicht ganz aufgegeben hatte, über die 2. Variation doch noch zu hinreichenden Kriterien für starke Extremalen zu kommen (siehe G.A. Bliss, “The transformation of Clebsch in the calculus of variations”, Proceedings of the International Mathematical Congress, vol. 1, Toronto, 1924, Toronto, University Press, 1928, (Reprint Kraus 1967), 589-603, insbes. § 4).
WELLENFLÄCHEN, GEODÄTISCHE UND TRANSVERSALEN
355
samkeit widmete. Weiterhin betonte KNESER bei seinen Untersuchungen stark geometrische Gesichtspunkte, so daß er fast “zwangsläufig” auf Familien von Lösungskurven und ihren Einhüllenden geführt wurde. Insbesondere der zweite Aspekt, das Extremalenfeld und seine Transversalen, wird im weiteren von uns verfolgt werden, und kurz gesagt, werden sich KNESERS einschlägige Untersuchungen, die im sogenannten Transversalensatz gipfeln, als Verallgemeinerungen Gaußscher Ergebnisse über Geodätische herausstellen. Das Konzept der Transversalität führte KNESER schließlich in natürlicher Weise auf die Behandlung freier Randwerte bei Variationsproblemen. KNESERS Hinwendung zur Variationsrechnung hat sich in seiner wissenschaftlichen Karriere allerdings erst spät ergeben, und sie war zu Beginn seiner mathematischen Laufbahn, die zunächst algebraisch ausgerichtet war, gar nicht absehbar gewesen. ADOLF KNESER ist am 19. März 1862 als Sohn eines mecklenburgischen Pfarrers geboren worden. Als KNESER ein Jahr alt war, starb sein Vater, und die Familie zog nach Rostock. 1879 begann KNESER dort ein Studium, wechselte aber bereits im SS 1880 nach Heidelberg (Vorlesungen bei IMMANUEL FUCHS, 1833-1902), im WS 1880 dann nach Berlin, wo er bis zum WS 1882 immatrikuliert war und mathematische Vorlesungen bei KUMMER, KRONECKER und WEIERSTRAß hörte. Ein breitgefächertes Interesse führte KNESER auch dazu, philosophische und literarische Vorlesungen bei HERMANN LOTZE (18171881), FRIEDRICH PAULSEN (1846-1908) und WILHELM SCHERER (1841-1886) zu hören; diese Studien schlugen sich später in seinen historischen und philosophischen Arbeiten nieder. Erstaunlicherweise hat KNESER bei WEIERSTRAß keine Vorlesung über Variationsrechnung gehört: die berühmte Vorlesung von 1879 lag vor seiner Berliner Zeit, und die Schwierigkeiten beim Anfertigen seiner algebraisch ausgerichteten Dissertation Irreduktibilität und Monodromiegruppe algebraischer Gleichungen101 zwangen ihn vermutlich, die nächste, im SS 1882 folgende Vorlesung zur Variationsrechnung zu streichen, sofern sie ihn damals überhaupt interessiert hatte. Nachdem KNESER 1882 sein Studium in Berlin abgeschlossen hatte, WEIERSTRAß und KRONECKER (1823-1891) aber mehrfach Änderungen an der Kneserschen Dissertation gewünscht hatten, insbesondere an der Darstellungsweise KNESERS, hatte sich die Fertigstellung der Doktorarbeit verzögert, und KNESER wurde nach einigem Hin und Her erst im Frühjahr 1884 durch LEOPOLD KRONECKER (der erst 1883 Professor an der Berliner Universität wurde und damit Promotionsrecht hatte) promoviert, genauer am 8. März 1884. Einen Monat später, im Mai desselben Jahres habilitierte er sich bereits in Marburg. 1886 wurde KNESER Privatdozent in Breslau (als Nachfolger von OTTO STAUDE, 1857-1922), und 1889 erhielt er einen Ruf als ordentlicher Professor
101. Berlin, Hermann, 1884, 49 S. Opponenten waren D. Seliwanoff, E. Fiedler und K. Hensel.
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KAPITEL 4
an die deutschsprachige russische Universität in Dorpat102 (wiederum als Nachfolger von STAUDE). Das Dienstverhältnis bestand vom 23. Januar 1889 bis zum 25. Oktober 1900. Im Herbst 1900 wechselte KNESER an die Berliner Bergakademie (als Nachfolger von FRITZ KÖTTER,103 1857-1912), wo er blieb, bis ihm 1905 der an Breslauer Universität neu geschaffene dritte Lehrstuhl für Mathematik angeboten wurde. KNESER lehrte bis zu seinem Tode in Breslau, einen Ruf nach Leipzig hatte er abgelehnt. Emeritiert wurde er in Jahre 1928. JOHANN RADON (1887-1956)104 folgte ihm im Amt nach. Am 24. Januar 1930 brach ADOLF KNESER in der Universität auf dem Wege zur Vorlesung zusammen und starb noch am gleichen Tage. In der Geschichte der Berliner Bergakademie führt EBERHARD KNOBLOCH (geb. 1943) über KNESER zutreffend aus: “Galt sein anfängliches Interesse der Algebra, so besaß er doch auch eine starke geometrische Ader, wie mehrere Arbeiten zur Gestalt ebener und räumlicher Kurven beweisen. Am bekanntesten war er freilich als Meister der Analysis. […] Noch in Dorpat begann der Übergang zur Variationsrechnung mit Arbeiten zur Mechanik, die vor allem die Bewegung in der Nähe labiler Gleichsgewichtslagen betreffen. Bei seinem Berliner Dienstantritt erschien sein Lehrbuch der Variationsrechnung.”105 In der Tat begann KNESER als Schüler von KRONECKER und arbeitete über die Theorie der algebraischen Funktionen und Zahlen, wandte sich dann geometrischen Fragen zu, indem er die Singularitäten von Raumkurven untersuchte, und bezog schließlich auch mechanische Probleme in seine Untersuchungen ein. In Dorpat hatte er sich am 4. Februar 1889 mit einer Antrittsvorlesung über die Grundbegriffe der modernen Mechanik eingeführt. Spätestens in Dorpat begann KNESER über Variationsrechnung zu lesen. Im Vorwort zur ersten Auflage des Lehrbuches gibt er an: “Veranlasst wurde ich zu eingehender Beschäftigung mit der Variationsrechnung hauptsächlich dadurch, dass ich durch die an der Universität Dorpat hergebrachte Vertheilung der Vorlesungen ziemlich oft in die Lage kam, über Variationsrechnung zu lesen und die für den Studenten sehr anregenden Aufgaben, welche dieser Disciplin zugänglich sind, in praktischen Uebungen zu verwerthen.”106 102. Die Dorpater Universität wurde ursprünglich 1632 vom Schwedenkönig Gustav Adolph gegründet, nach Ortsverlegungen aber schließlich 1710 geschlossen. 1802 wurde die Universität von der zaristischen russischen Regierung wieder eröffnet und noch bis 1893 nach dem deutschen Namen der Stadt als Universität von Dorpat bezeichnet. Durch Russifizierung erhielt sie dann den Namen Juriev Universität, ab 1918 wird sie auf estnisch als Universität von Tartu bezeichnet. 103. Nicht zu verwechseln mit seinem Bruder Ernst Kötter, der von Weierstraß 1884 promoviert wurde und sich bei diesem 1887 habilitierte. 104. Studium in Wien 1905-1910, Promotion 1910 in der Variationsrechnung, Habilitation 1913, 1919 Professur in Hamburg; Arbeiten zum Lagrangeschen Variationsproblem. 105. E. Knobloch, Mathematik an der Technischen Hochschule und der Technischen Universität Berlin. 1770-1988, Berlin, Verlag für Wissenschafts- und Regionalgeschichte, 1998, 10. 106. Lehrbuch, Vorwort, S. III.
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Für die Variationsrechnung bemerkenswert sind bereits seine zuvor erfolgten mechanischen Untersuchungen über Das Princip der kleinsten Action und die infinitesimale Transformation der dynamischen Probleme (1895)107 sowie die beiden Studien über die Bewegungsvorgänge in der Umgebung instabiler Gleichgewichtslagen (1895-97)108. KNESERS kurze Arbeit zum Prinzip der kleinsten Aktion bringt Arbeiten seines Vorgängers OTTO STAUDE mit denen von SOPHUS LIE (1842-1899) in Verbindung. Dabei erscheint eine moderne, geometrisierende Sicht: dynamische Probleme werden als kinetische Probleme betrachtet, d.h. aus KNESERS Sicht laufen sie mathematisch auf die Bestimmung geodätischer Linien auf Mannigfaltigkeiten hinaus. Dann folgten bereits Arbeiten zur Variationsrechnung selbst (ab 1897). Im Gutachten für die Aufnahme in die Preußische Akademie der Wissenschaften werden diese Arbeiten 1923 so eingeschätzt: “Als die wichtigste Leistung Knesers dürfen seine Untersuchungen über Variationsrechnung, insbesondere auch sein Buch über diesen Gegenstand bezeichnet werden. Neben einer Fülle von Einzelresultaten sei auf seine klärende Behandlung des Zusammenhangs zwischen der Jacobi-Hamilton’schen Theorie[,] der Gauss’schen Theorie der geodätischen Linien und der Weierstrass’schen Theorie in systematischer Darstellung [verwiesen, die er]weiteren Kreisen zugänglich gemacht hat.”109 KNESERS Nachfolger in Breslau (1928), JOHANN RADON, hat in einer Gedenkrede so geurteilt: “Bei Kneser entwickelten sich nun die von Weierstraß empfangenen Anregungen in völliger selbständiger Weise weiter; neben die im eigentlichen Sinn Weierstraßsche Theorie stellte er eine geometrisch-anschauliche Betrachtungsweise, die in allen neueren Darstellungen der Variationsrechnung ihren selbständigen Platz behauptet.”110 KNESER selbst hat übrigens in einer Arbeit über konjugierte Punkte bei isoperimetrischen Problemen über sein und das Verhältnis der Mathematiker schlechthin zu den unveröffentlichten Weierstraßschen Forschungsergebnissen in der Variationsrechnung folgendes bemerkt: “Auf den vorliegenden Blättern gedenke ich einen Beweis für das Aufhören des Extremums zu geben [wenn man über den zum Anfangspunkt gehörenden konjugierten Punkt hinaus integriert], dessen Grundgedanke von Weierstrass herrührt und mir aus mangelhaften Nachschriften von Vorlesungen 107. Sitzungsberichte der Dorpater Naturforscher-Gesellschaft, 10 (1895), 501-514. 108. Journal für die reine und angewandte Mathematik, 115 (1895), 308-327; 118 (1897), 186223. 109. Antrag für Kneser als korrespondierendes Mitglied, Hist. Abt. II-III 104, 36-37. Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften Berlin. Der von E. Schmidt eingebrachte Antrag ist u.a. von Schur, Schottky und v. Laue unterzeichnet. 110. Adolf Knesers Leben und wissenschaftliche Entwicklung, Privatdruck 1930, 11-17, Zitat S. 12 f.
358
KAPITEL 4
bekannt geworden ist. […] In welchem Umfange man übrigens die hier folgenden Entwicklungen als Eigenthum des großen Meisters ansehen will, ist mit gleichgültig; die Hauptsache ist, dass die bezeichnete wichtige Frage allseitig geklärt werde, und dazu hoffe ich beizutragen.”111 KNESERS Lehrer KRONECKER hatte in der Antwort auf eine Anfrage des preußischen Kultusministeriums dem Minister GUSTAV VON GOßLER (18381902) die “besondere Fähigkeit zur Untersuchung ganz abstrakter Gebiete der Mathematik”112 bei KNESER hervorgehoben. Dieser selbst hat freilich anders geurteilt, wie wir dem Bericht des Schülers LOTHAR KOSCHMIEDER (18901974) entnehmen können: “In einem Brief aus seiner Berliner Studienzeit schildert Kneser seiner Mutter die dortige mathematische Richtung als sehr ‘abstrakt-analytisch’, was ihm gar nicht liege: er sei mehr geometrisch veranlagt.”113 In KNESERS mathematischen Schaffen wechseln beständig Phasen des Bearbeitens konkreter Probleme mit denen des theoretischen Aufarbeitens und Verallgemeinerns, und so ist es auch in der Variationsrechnung. In der Grabrede KNESERS erinnerte der Pfarrer ERNST LOHMEYER (1890-1946)114 an KNESERS vor genau 12 Jahren gehaltenen Vortrag, den dieser mit dem Gedanken abschloß, daß “mit solchen allgemeinen Sätzen vielleicht eher die Aufgabe gestellt als gelöst sei.”115 Und der Geistliche fügte noch an: “Er forderte und bewahrte in seiner wissenschaftlichen Arbeit das zweifache Eine, daß ‘die allgemeine Idee erst dann fruchtbar werde, wenn sie sich auf ein spezielles Gebiet beschränkt, und ein konkretes Problem erst dann gelöst sei, wenn seine allgemeinen Bedingungen bestimmt würden’.”116 KNESER selbst hat hierzu folgendes geschrieben: “Eine spezielle Aufgabe, wie die bezeichnete, in allen Einzelheiten durchzuarbeiten, erscheint mir fruchtbarer, als, wie es in der Mathematik vorgekommen ist, leere Allgemeinheiten zu entwickeln, zu denen die konkreten Fälle mühsam gesucht werden müssen oder trivial sind. Gerade bei einer solchen genauen Einzeluntersuchung zeigen sich erst alle prinzipiellen Schwierigkeiten
111. “Beiträge zur Theorie und Anwendung der Variationsrechnung”, (Erster Aufsatz), Mathematische Annalen, 55 (1901), 86-107, Zitat S. 87 f. 112. Brief an den Kultusminister von Goßler vom 24.11.1887, Staatsbibliothek Berlin, Haus 2, Slg. Darmst. H 1860 (8), Bl. 89. 113. “Ein Nachruf auf Adolf Kneser”, Sitzungsberichte der Berliner Mathematischen Gesellschaft, 29 (1930), 78-102, Zitat 85. 114. Professor für neutestamentliche Theologie in Breslau, aus politischen Gründen 1935 nach Greifswald versetzt, dort nach 1945 Rektor der Universität, 1946 Verhaftung und Verschleppung nach Sibirien, 1946 hingerichtet. 115. E. Lohmeyer, Für Adolf Kneser. Worte an seinem Sarg am 27. Januar 1930 gesprochen. Privatdruck 1930, S. 1-4, Zitat 2. Lohmeyer verwechselte allerdings die Quelle, denn er zitiert nicht aus Knesers Rede zum Geburtstag Kaiser Wilhelms II. am 27.1.1918, sondern aus der Rektoratsrede Mathematik und Natur von 1911. Siehe A. Kneser, Mathematik und Natur, Breslau, Trewendt und Granier, 1919, 16. 116. aaO., 2.
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sowie die nötigen und möglichen Modifikationen der allgemeinen Theorie. Das kann man bei den meisten wichtigeren Aufgaben der Variationsrechnung beobachten; viele von ihnen haben sozusagen persönliche Eigentümlichkeiten, die es unmöglich machen, sie mit einem Schlag durch Anwendung allgemeiner Gesetze zu erledigen, und das gibt ihnen gerade ihren Reiz.”117 Die erste Auflage seines Lehrbuches der Variationsrechnung enthielt 15 vollständig durchgerechnete Beispiele, deren Zahl in der zweiten Auflage auf 34 ausgedehnt wurde. In der Variationsrechnung läßt sich KNESERS Schaffen in seiner Hinwendung zur Anwendung oder zur Theorie etwa so einteilen: Beispiel 1897-00
Theorie 1900-02
Beispiel 1902-15
Theorie 1915-28
Wir werden uns zunächst der ersten Periode zuwenden, der Zeit vor dem Lehrbuch. 4.6.2 Die Hinwendung zur Variationsrechnung Physikalische Probleme interessierten KNESER von Anfang an, und damit ist bereits eine gewisse Nähe zur Variationsrechnung gegeben. Allerdings schränkte KNESERS Breslauer Kollege aus der Physik CLEMENS SCHAEFER (1878-1968) dieses Interesse daraufhin ein, daß KNESER nicht das physikalische Problem als solches interessierte, sondern daß lediglich die darin stekkende mathematische Aufgabe KNESER anzog.118 Jedoch zeigen Titel späterer Untersuchungen wie Ein Beitrag zur Theorie der schnell umlaufenden elastischen Welle, Dynamische Deutungen gewisser Integralgleichungen mit symmetrischen Kern, Ein Beitrag zur zweckmäßigsten Gestalt von Geschoßspitzen oder die akademischen Reden Mathematik und Natur sowie Von der Schwere,119 welchen breiten Raum physikalische Probleme im Schaffen KNESERS einnehmen. Deshalb wies SCHAEFER in der erwähnten Rede wohl auch darauf hin, daß JACOBIS Vorlesungen über Dynamik, KIRCHHOFFS Mechanik und Lord RAYLEIGHS Theorie des Schalls zu KNESERS Lieblingsbüchern gehörten.120
117. “Die Stabilität des Gleichgewichts hängender schwerer Fäden”, Journal für die reine und angewandte Mathematik, 125 (1903), 189-206, Zitat 189. 118. “Adolf Kneser”, Gedenkreden auf Adolf Kneser, Privatdruck 1930, 6-10, Zitat 6. 119. Zeitschrift für Mathematik und Physik, 51 (1905), 264-276; Jahresberichte der Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Kultur, 1910, 10 S.; Archiv der Mathematik und Physik, 2 (1902), 267-278; Mathematik und Natur, I und II, Breslau, Trewendt und Granier, 1911 und 1918. 120. C.G.J. Jacobi, Vorlesungen über Dynamik, Hrg. A. Clebsch, Berlin, 1866, 2. Aufl. 1884. Supplemetband zu den Gesammelten Werken von Jacobi; G. Kirchhoff, Vorlesungen über mathematische Physik, Mechanik, Leipzig, B.G. Teubner, 1876 (2. Aufl. 1877); John William Strutt Lord Rayleigh, Theorie des Schalls, Braunschweig, Vieweg, 1879 (engl. Original The study of sound, London, Macmillan, 1877-1878).
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Die erste Veröffentlichung Über atmosphärische Schallstrahlenbrechung121 des 18jährigen liegt ganz im Umfeld der klassischen Themen der Variationsrechnung, der Brechung von Wellen, wobei hier anstelle der üblichen Lichtwellen solche des Schalls in Erscheinung treten. KNESER berechnete den Weg des Schalls, der von der Lufttemperatur und der durch die Höhe bedingten Geschwindigkeitsänderung abhängt. Dieser physikalischen Arbeit folgte eine längere algebraische Periode, die allgemeinen Fragen gewidmet war. Erst 1895 erschienen wieder physikalische Themen, nämlich die genannte Arbeit über das Prinzip der kleinsten Aktion und zwei wichtige Artikel über Bewegungsvorgänge. Hier bahnt sich der Übergang zur Variationsrechnung an. Während bereits der Titel der ersten Arbeit Das Princip der kleinsten Aktion und die infinitesimale Transformation dynamischer Probleme122 auf einen Anteil der Variationsrechnung schließen läßt, liegt das bei der Behandlung der Bewegungsvorgänge in den beiden Arbeiten Studien über die Bewegungsvorgänge in der Umgebung instabiler Gleichgewichtslagen123 nicht von vornherein fest, aber KNESER benutzte auch bei der Behandlung der Aufgabe das Extremalprinzip der kleinsten Aktion. Bis zum Erscheinen seines Lehrbuches (1900) hat KNESER drei Arbeiten zur Variationsrechnung verfaßt und an seinem Encyklopädie-Artikel zur Variationsrechnung (Band II, Teil 1, A 8) gearbeitet. KNESERS erste Arbeit, die ausschließlich der Variationsrechnung gewidmet ist, drückt dies klar im Titel Zur Variationsrechnung124 aus. Hier verallgemeinerte er in seinem Hüllensatz auf überraschende Weise eine Eigenschaft von Evoluten, indem er seine geometrisch anschaulich Betrachtungsweise einsetzte. Aber KNESER blieb beim Anschaulich-Geometrischen nicht stehen, denn er untersuchte – anders als ERNST ZERMELO (1871-1953), der in seiner Dissertation den Hüllensatz bereits 1894 formuliert hatte –,125 auch die Existenzbedingungen für solche Einhüllenden. KNESER war zu seiner Arbeit durch 121. Poggendorffs Annalen, 11 (1880), 516-522. 122. Sitzungsberichte der Dorpater Naturforscher-Gesellschaft, 10 (1895), 501-514. 123. Journal für die reine und angewandte Mathematik, 115 (1895), 308-327, 118 (1997), 186223. 124. Mathematische Annalen, 50 (1897), 27-50. 125. E. Zermelo, Untersuchungen zur Variationsrechnung, Dissertation Berlin, 1894. “Dagegen fehlt mir noch ein einfaches Kriterium für die Existenz einer solchen allgemeineren ‘Enveloppe’ von den vorausgesetzten Eigenschaften” (S. 96). - H. Goldstine findet in seiner History of the calculus of variations (New York, Springer, 1980), daß Kneser die Leistungen von Zermelo ungenügend ausgewiesen habe (he is not generous enough in giving credit to Zermelo), und er steht damit überraschend in der alten amerikanischen Tradition (Osgood, Hedrick u.a.), die Kneser aus formalen Gründen zu kritisch beurteilte. Bei Kneser steht jedoch: “Diese Gleichung ist in einer allgemeineren enthalten, welche Zermelo in seiner Dissertation […] ableitet, ohne jedoch, wie er selbst hervorhebt, wann eine Enveloppe existirt, und wann die erhaltene Gleichung auf ein Problem der Variationsrechnung angewandt werden kann” (S. 28). Für das Lehrbuch scheint Goldstines Einwand eher berechtigt zu sein, jedoch erschließt sich dort Zermelos Beitrag aus dem Literaturverzeichnis (das einzelne auf die jeweiligen Kapitel zugeschnitten Angaben enthält) sowie aus dem Vorwort [!] (S. VI und 308).
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eine Eigenschaft von Geodätischen angeregt worden: “Haben die durch den festen Punkt A gehenden geodätischen Linien einer Fläche eine Enveloppe, welche von zwei unter ihnen in den Punkten B und C berührt wird, so ist im Allgemeinen der längs der Enveloppe gemessene Bogen BC gleich der Differenz der geodätischen Bögen AB und AC. Dieser bekannte Satz kann bedeutend verallgemeinert werden”. (S. 27) Wenn (MN) ein längs irgendeiner M und N verbindenden Kurve erstrecktes Linienintegral bezeichnet, so gewinnt KNESER den Hüllensatz (1) (AB) – (AB0) = (B0 B) (B und B0 sind Punkte der Enveloppe; siehe Abbildung 4.5). Wenn mit dieser Arbeit ein geometrischer Grundton in KNESERS Arbeiten zur Variationsrechnung angeschlagen worden ist, so klingt in der zweiten Arbeit zur Variationsrechnung eine weitere wichtige Seite in KNESERS Untersuchungen zur Variationsrechnung an, nämlich die Rolle der zweiten Variation bei der Herleitung hinreichender Bedingungen für Extrema. Beide Gesichtspunkte können als Leitmotive der Kneserschen Forschung angesehen werden.
Abb. 4.5. Zum Hüllensatz von Kneser
KNESER führte in der zweiten Arbeit Ableitung hinreichender Bedingungen des Maximums oder Minimums einfacher Integrale aus der zweiten Variation126 zunächst an, daß man es lange Zeit als selbstverständlich angesehen habe, daß die zweite Variation das Vorzeichen der totalen Variation bestimme und daß sich daher eine Reihe von Forschern bemüht habe, die zweite Variation derart umzuformen, daß ihr Vorzeichen leicht erkennbar sei. Die allgemei-
126. Mathematische Annalen, 51 (1898), 321-345.
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nen Untersuchungen von LUDWIG SCHEEFFER (1859-1885) über die Extrema der Funktionen mehrerer Veränderlicher127, aber auch ein Gegenbeispiel f(x, y) = (x – y2)(x – 2y2) für die analogen Extremwertaufgaben von GIUSEPPE PEANO (1858-1939)128 haben aber diese Strategien erschüttert, da die höheren Glieder nicht in jedem Fall vernachlässigbar sind. In einem Brief vom 31. Januar 1898 an GÖSTA MITTAG-LEFFLER (1846-1927) beschrieb KNESER die historische Situation so: “Abgesehen von der erwähnten Arbeit Scheeffers[129] und der Dissertation von Zermelo, welcher sich auf das ∫ dx f ( x, y, y', y'', … ) ohne Bedingungsgleichungen bezieht, sind meines Wissens in der oben angedeuteten Allgemeinheit nirgends hinreichende Bedingungen des Extremums abgeleitet. Ob der sorgfältig vor der Öffentlichkeit gehütete Nachlaß von Weierstraß eine solche Ableitung enthält, weiß ich nicht, glaube es aber nicht, da ja sonst Zermelos Resultate, die doch Schwarz [als Gutachter] controlirt hat, keine enthalten würden. Jedenfalls ist meine Methode von der Weierstrassschen verschieden, soweit man über diese nach den Heften und einzelnen Publicationen urteilen kann.”130 Seinen eigenen Beitrag umreißt KNESER im gleichen Brief wie folgt: “Ich glaube[,] die Clebsch-Mayersche Theorie der zweiten Variation einfacher Integrale mit beliebig vielen unbekannten Functionen und Bedingungsgleichungen so modificirt zu haben, dass ich aus ihr in aller Strenge hinreichende Bedingungen für das Eintreten eines Maximums oder Minimums des Integrals herleiten kann; genauer glaube ich gezeigt zu haben, dass die von Mayer endgültig formulierten Bedingungen, unter denen die zweite Variation sicher positiv (negativ) ist, auch ausreichen, um das Eintreten des Minimums (Maximums) zu sichern. Damit würde die von Scheeffer (Math. Ann. 26)[131] für den einfachsten Fall ausgefüllte Lücke in der Theorie der zweiten Variation allgemein bestätigt sein”. Mit diesem Brief hatte KNESER dem Herausgeber der Acta mathematica, MITTAG-LEFFLER, eine Arbeit anbieten wollen, die später unter dem Titel Ableitung hinreichender Bedingungen des Maximums oder Minimums einfacher Integrale aus der Theorie der zweiten Variation132 erschienen ist und die als eine Folge seines Vortrages auf der Naturforscher-Versammlung in Braunschweig im September 1897 entstanden war. Aber KNESER hatte offenbar zur gleichen Zeit auch mit dem Herausgeber der Mathematischen Annalen, ADOLPH MAYER,
127. “Über die Bedeutung der Begriffe ‘Maximum und Minimum’ in der Variationsrechnung”, in: Mathematische Annalen 26 (1885) 197-205. 128. Kneser, “Ableitung hinreichender Bedingungen…”, Mathematische Annalen, 51 (1898), 321-345. 129. Hier bezieht sich Kneser auf die in der Fußnote 127 genannte Arbeit Scheeffers. 130. Institut Mittag-Leffler, Djursholm. 131. Siehe Fußnote 127. 132. Mathematischen Annalen, 51 (1898), 321-345.
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verhandelt, und MAYER hatte sofort akzeptiert, freilich nicht ohne einige Berichtigungen in der Arbeit vorzunehmen, für die KNESER ihm in der Arbeit dankte (S. 322). Auf seine Anfrage nach dem Verbleib des Manuskripts bekam MITTAG-LEFFLER am 5. März 1898 von KNESER eine Absage mit der Begründung, daß KNESER nicht mehr mit einer Antwort auf seinen Brief vom 31. Januar gerechnet habe!133 In dem Braunschweiger Vortrag, der in den Jahresberichten der DMV unter dem Titel Zur Theorie der zweiten Variation einfacher Integrale134 erschien, verglich KNESER sein Vorgehen mit dem von LAGRANGE, das dieser bei der Verbesserung der Legendreschen Methode zur Erkennung des Vorzeichens der zweiten Variation benutzt hatte. LEGENDRE brachte den Integranden der zweiten Variation in die Form eines vollständigen Quadrates, während LAGRANGE auf die Forderung auswich, daß der Integrand lediglich definit zu sein habe (S. 97). KNESER hob dabei hervor, daß sein Vorgehen sich von dem SCHEEFFERS unterscheide und auf beliebig viele Variable und Bedingungsgleichungen erweiterbar sei. Parallel zu KNESER bearbeitete in Wien GUSTAF VON ESCHERICH (1849-1935) die zweite Variation, aber ohne wie KNESER zu neuen Ufern aufzubrechen und zu neuartigen Kriterien für Hinlänglichkeit der Extrema zu gelangen, sondern ESCHERICH blieb in seinen Arbeiten135 vorwiegend im Gedankenkreis der durch die von RUDOLF ALFRED CLEBSCH (1833-1872) gewiesenen Transformation der zweiten Variation,136 wobei er schließlich auch die hinreichende Bedingung KNESERS aus dem 1898-Artikel verallgemeinert hat.137 Zu erwähnen wäre allerdings, daß man VON ESCHERICH das Konzept des akzessorischen Variationsproblems verdankt, bei dem das sich aus der zweiten Variation ergebende (quadratische) Variationsproblem δ2J(x0, ξ) = Min studiert wird. 4.6.3 Das Lehrbuch der Variationsrechnung 4.6.3.1 Allgemeines Die Arbeiten KNESERS sind aus einer geometrischen Sicht entstanden, insbesondere die die konjugierte Punkte extremaler Kurven betreffende Jacobische Bedingung war ein Ausgangspunkt für KNESER, und diese Thematik der konjugierten Punkte bildete auch den Grundton der meisten bei ihm angefer-
133. Institut Mittag-Leffler, Djursholm. 134. Jahresberichte der DMV, 6 (1899), 95-98. Auch in der erweiterten Form des Artikel “Ableitung hinreichender Bedingungen…” referiert Kneser diesen Sachverhalt, in Mathematische Annalen 51(1898), S. 399 f. 135. “Die zweite Variation der einfachen Integrale”, 4 Mitteilungen, Wiener Berichte, 107 (1898), 1191-1250, 1267-1326, 1382-1430, 108 (1898), 1269-1349. 136. “Über die Reduction der zweiten Variation auf ihre einfachste Form”, Journal für die reine und angewandte Mathematik, 55 (1858), 254-257. 137. “Ueber eine hinreichende Bedingung für das Maximum und Minimum einfacher Integrale”, Mathematische Annalen, 55 (1901), 108-118.
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tigten Dissertation zur Variationsrechnung. Die für die Feldtheorie entscheidenden Stellen sind aber schon in seinem Lehrbuch der Variationsrechnung enthalten, das in zwei Auflagen, 1900 und 1925, erschienen ist. Der Aufbau beider Auflagen unterscheidet sich erheblich, jedoch fallen bei einem solchen Gesamtvergleich die inhaltlichen Veränderungen in der Feldtheorie eher geringfügig aus. In einem Punkt hat KNESER allerdings durchgängig – also auch in der Feldtheorie – seine Annahmen geändert. Zwar werden die betrachteten Kurven C nur durch stetig differenzierbare Parameterdarstellungen x(t), y(t) für einschlägige Bogen mit nicht gleichzeitig verschwindenden ersten Ableitungen dargestellt (1. Auflage, S. 3), aber in den Untersuchungen der ersten Auflage werden schließlich die Parameterdarstellungen des Extremalenbogens sowie alle anderen Funktionen in der Umgebung des betrachteten Extremalenbogens als regulär (analytisch) vorausgesetzt, so daß durchgängig mit zugehörigen Potenzreihen gearbeitet werden kann. Diese Einstellung entspricht ganz der seinerzeitigen Auffassung; auch DAVID HILBERT hat zu jener Zeit allein analytische Funktionen als sachgemäß für die Naturbeschreibung betrachtet, und CONSTANTIN CARATHÉODORY klagte noch 1905 in einem Brief an KNESER über die amerikanische Unart, bei Funktionen geringere analytische Voraussetzungen anzunehmen, was nur scheinbare Verallgemeinerungen brächte.138 In der zweiten Auflage nimmt KNESER die Regularitätsforderung zurück. Er verlangt im allgemeinen von einschlägigen Funktionen in der Umgebung des betrachteten regulären Extremalenbogens (im geometrischen Sinn!) die gleichen analytischen Voraussetzungen wie für die Parameterdarstellung des Extremalenbogens selbst, also nun nur noch stetige Differenzierbarkeit (2. Auflage, S. 8), und schränkt erst dann, wenn er wie bei der Herleitung der notwendigen Eulerschen Differentialgleichungen in der üblichen Weise dazu genötigt ist, seine allgemeinen Voraussetzungen auf speziellere wie hier auf zweimal stetige Differenzierbarkeit ein (S. 38). Sprachlich ist dieser Unterschied nicht wahrnehmbar, da KNESER nach wie vor von regulären Funktionen spricht, wobei er aber in der zweiten Auflage diese Eigenschaft nicht mehr im Sinn von regulär analytisch meint. In der zweiten Auflage wird auch häufig anstelle des einfachen Variationsproblems ein Problem vom Bolza-Typ behandelt. Den Wechsel vom Parameterproblem zum Funktionenproblem vollzieht KNESER mit Hilfe der Annahme, daß die Ableitungen der Parameterdarstellung nicht beide gleichzeitig verschwinden sollen. Die Kurven werden also als solche vorausgesetzt, die stückweise eine funktionale Darstellung haben sollen. Vermöge der positiven Homogenität des Integranden beim Parameterproblem folgt für x'(t) ≠ 0 138. Brief vom 5. Februar 1905. Cod. Ms. A. Kneser A4, Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung.
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dy F ( x, y, x', y' ) = x'F ⎛⎝ x, y, 1, -----⎞⎠ dx = x'f ( x, y, p ) ,
und entsprechendes gilt auch bei y'(t) ≠ 0. Da auf dem Extremalenbogen stückweise eine dieser Annahmen gilt, kann man auf gewissen Bogenstücken problemlos zwischen beiden Auffassungen wechseln, was KNESER im folgenden ausnützt (bei der Herleitung hinreichender Bedingungen etwa auf S. 50ff.). Wir erinnern aber an das Knesersche Gutachten zu einer Arbeit von WASSILII P. ERMAKOFF (1845-1922), in dem er monierte, daß durch die Bevorzugung des Funktionenproblems wesentliche Schwierigkeiten außer Acht gelassen würden (Abschnitt 3.10). PAUL STÄCKEL hat in seiner Rezension der ersten Auflage hervorgehoben, daß KNESERS Werk weit mehr als ein Lehrbuch der Variationsrechnung ist, denn da der Autor sich eigene Wege bahnte, sei es auch ein Beitrag zur Fortbildung der Variationsrechnung schlechthin, der von bleibendem Wert sein wird. Den prophetischen Worten schloß STÄCKEL aber auch methodische Kritik an. Der Leser wisse oft nicht, wohin der Weg gehe, und er benutzte schließlich das Gaußsche Wort, daß der Leser wie vor einem verworrenen Wald stehe, um selbst zu konstatieren, daß erhebliche Bemühungen notwendig seien, um bei KNESER den Geist der Variationsrechnung zu erfassen. Als ungünstig wird die Präferenz des Parameterproblems betrachtet, als lobenswert das Geschick des Autors, prägnante Begriffe wie Extremale, Feld, Normalvariation usw. zu bilden. Den ersten Abschnitt, der die Begriffe der Variationsrechnung entwikkelt, hält STÄCKEL zu Recht für den schlechtesten, denn die Grundbegriffe werden in der Tat im Stil einer pragmatischen “Ingenieursmathematik” entwikkelt, was für ein strenges mathematisches Lehrbuch nicht angemessen ist.139 4.6.3.2 Zur Vorgeschichte des Lehrbuches Der in der Variationsrechnung renommierte ADOLPH MAYER hatte 1897 oder 1898 an HEINRICH WEBER (1842-1913) geschrieben, daß eine Bearbeitung des Grundrisses der Variationsrechnung140 von JOSEPH DIENGER (18181894)141 dringlich und wünschenswert sei.142 Die Anregung MAYERS, der offenbar selbst keine Ambitionen hatte, ein eigenes Lehrbuch dieser Disziplin
139. Rezension im Archiv der Mathematik und Physik (Grunert) III, 2 (1902), 185-189. 140. J. Dienger, Grundriß der Variationsrechnung, Braunschweig, Vieweg, 1867. 141. Joseph Dienger wurde 1850 Professor am Polytechnikum Karlsruhe und ließ sich 1868 aus Krankheitsgründen emeritieren. Neben dem Lehrbuch hat er im Gebiet der Variationsrechnung lediglich eine weitere Arbeit zum Prinzip der kleinsten Aktion (1864) geschrieben und einen Artikel Über die Periode der forstlichen Haubarkeit (1864) verfaßt, beides im Archiv der Mathematik und Physik. Siehe M. von Renteln, Die Mathematiker an der TH Karlsruhe (1825-1945), Karlsruhe, [Eigenverlag], 2000, 2. Aufl. 2002, 91-100. 142. Im Brief von A. Mayer an A. Kneser vom 1.2.1898 erwähnt. Cod. Ms. A. Kneser A27. Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung.
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zu schreiben, und der aus dieser Haltung heraus sich wohl auch um die deutsche Übersetzung der Lectures on the Calculus of Variations von BOLZA bemüht hatte, ist vermutlich die Geburtsstunde des Kneserschen Lehrbuchs. Zwar hatte 1. Februar 1898 MAYER noch an KNESER geschrieben: “Daß Sie von Vieweg und Sohn gar keine Anfrage wegen Dienger erhalten haben, ist mir sehr wunderbar. Vielleicht aber liegt die Erklärung darin, daß auch ich Weber geschrieben hatte: Wenn nur von Dienger was ordentliches werden sollte, so dürfte man von ihm eben gar nichts behalten, sondern müßte ein ganz neues Buch schreiben”143, doch am 26. März 1898 fragte der Braunschweiger Vieweg-Verlag bei KNESER in Dorpat nach, ob dieser bereit sei, eine solche Überarbeitung zu übernehmen.144 Da WEBER von der gemeinsamen Marburger Zeit her KNESER kannte und da zudem KNESER sich gerade auf der Jahresversammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte im September 1897 als Kenner der Thematik gezeigt hatte, ist anzunehmen, daß WEBER den ehemaligen Kollegen KNESER dem Verlag als Bearbeiter empfohlen hat. KNESER lehnte die Bearbeitung ab, schlug aber dafür ein eigenes Buch im Umfang von 15 Bogen (= 240 Seiten) vor. Der bald zustande gekommene Vertrag145 sah eine Auflagenhöhe von 1000 Exemplaren vor, da KNESER, um dem rasanten Fortschritt des Gebietes Rechnung tragen zu können, eine baldige Nachauflage mit Änderungen wünschte. KNESER könnte bereits in seiner Breslauer Dozentenzeit (1886-1889) Vorlesungen über Variationsrechnung gehalten haben, aber erst für die Dorpater Jahre (1889-1900) sind solche Vorlesungen gesichert. Auf die Dorpater Vorlesungen weist KNESER im Vorwort des Lehrbuches (S. III) auch hin. Aus den Vorlesungsankündigungen146 der Universität in Dorpat geht hervor, daß KNESER lediglich einmal ausschließlich über Variationsrechnung vorgetragen hat (Vorlesung 1898, 2stündig). Er hat allerdings Analysisvorlesungen gehalten, die teilweise auch die Variationsrechnung behandelten: 1890 und 1896 gab es Vorlesungen über Differentialgleichungen und die Elemente der Variationsrechnung (jeweils 4stündig), 1894 über Differentialgleichungen mit Einschluß der Variationsrechnung (3stündig). Eine systematische Beschäftigung KNESERS mit der Variationsrechnung liegt demzufolge seit mindestens 1890 vor. Trotzdem ist der Sachverhalt außerordentlich erstaunlich, daß er vom Vertragsabschluß im Sommer 1898 bis zum Frühjahr 1900, also noch vor dem Dienstantritt in Berlin im Herbst 1900, 143. Brief an Kneser vom 1.2.1898, aaO. 144. aaO. 145. aaO. 146. Obozrenije lektzii w Imperatorskom Yurewskom Uniwersitetje, Tartu (Vorlesungsübersicht der Kaiserlichen Juriew Universität [in Dorpat = Tartu]). Ich verdanke diese Auskünfte Herrn Prof. Dr. Ülo Lumiste, Tartu.
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das Lehrbuch auf den Markt bringen konnte. KNESER hat ja parallel auch an dem großen Encyklopädie-Artikel über Variationsrechnung gearbeitet, den er ein halbes Jahr nach Erscheinen des Lehrbuches im September 1900 abschloß (Erscheinungsjahr 1904) und der ihm ein enormes Literaturstudium abverlangt haben muß. Berücksichtigt man noch die Tatsache, daß der Abschnitt über hinreichende Bedingungen im Lehrbuch die traditionellen Darstellung ganz verläßt und fast durchgängig Neues bringt, so wird die kurze Publikationszeit noch erstaunlicher. Das Lehrbuch enthält gerade im Abschnitt über hinreichende Bedingungen, die fast ein Drittel des Buches einnehmen, solche Ergebnisse, die KNESER in eigenen Arbeiten noch nicht publiziert hatte und – falls er sie etwa bei Vertragsabschluß schon als Vermutungen oder Entwürfe besessen hätte – dann wären wohl die dem Lehrbuch vorangegangenen drei Arbeiten von ihm kaum so geschrieben worden. Alles in allem, KNESER benötigte eine überraschend kurze Zeit für das Aufstellen eines Meilenstein in der Variationsrechnung. CARATHÉODORY hat in einer Rezension147 der zweiten Auflage des Lehrbuches auf den großen Erfolg des Kneserschen Werkes hingewiesen und ihn mit dem allgemeinen Aufschwung der Variationsrechnung um die Jahrhundertwende in Verbindung gebracht, der sich “schon rein statisch” aus den Angaben der Lecatschen Bibliographie ergebe, und “daß die Anzahl der Arbeiten über Variationsrechnung, die jährlich geschrieben wurden, sich mit dem Erscheinen des Kneserschen Lehrbuches mehr als verdoppelten, um nach wenigen Jahren noch größer zu werden”. Nachfolgend sind die entsprechenden Angaben der erwähnten Lecatschen Bibliographie für die Variationsrechnung teilweise allen veröffentlichten mathematischer Arbeiten jener Jahre gegenüber gestellt:148 Periode
publizierte mathematische Arbeiten
1870-79 1880-89 1890-99 1900-04 1905-09 1910-12
Variationsrechnung 12 12 14 29 36 40
insgesamt 5 658 9 109 8 826
147. Deutsche Literaturzeitung, Heft 33, 1926, 1614-1616; auch in: Gesammelte mathematische Abhandlungen, Band 5, München, Beck, 1957, 337-338, Zitat 337. 148. M. Lecat, Bibliographie du calcul des variations (1850-1913), Gand & Paris, Hoste & Hermann, 1913, 87. Die Gesamtzahlen sind einer Statistik der Historia mathematica, 23 (1996), 317 entnommen. Die vorangehende Bibliographie (depuis les origines jusqu’a 1850), Gand & Paris, Hoste & Hermann, 1916, enthält für die Variationsrechnung bis 1850 insgesamt 450 Einträge.
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Als 1925 die zweite Auflage von KNESERS Lehrbuch erschien, war Fondamenti di Calcolo delle Variazioni149 (2 Bände, 1921 und 1923) von LEONIDA TONELLI (1885-1946) bereits verlegt, und auch von den Methoden der mathematischen Physik150 (1924) von RICHARD COURANT (1888-1972) und DAVID HILBERT war bereits der erste Band erschienen. Beide Titel behandeln Themen, die das Knesersche Buch – wie auch das spätere Lehrbuch von CARATHÉODORY (1935) – nicht enthält (direkte Methoden, Existenzsätze, Halbstetigkeit von Funktionalen). Gleichfalls lag auch JACQUES HADAMARDS Leçons sur le Calcul des Varitions151 (1910) vor, dessen Autor übrigens nach der ersten Auflage an KNESER geschrieben hatte, daß er in Paris leider keinen Verlag für dessen Buch finden könne, auch sein eigener Verlag Hermann lehne ab.152 EARLE RAYMUND HEDRICK (1876-1943), der 1901 bei DAVID HILBERT promoviert hatte, und sich bei Erscheinen des Lehrbuches kritisch zum Stil KNESERS geäußert hatte, hob später in einem Bericht über die Fortschritte der Variationsrechnung mit Recht folgenden Sachverhalt hervor, der die Dynamik der Jahre um die Jahrhundertwende ausgezeichnet charakterisiert, und er bezeichnete nun KNESERS Buch als eines, das opened the doors of modern research in the subject to the general mathematical public: Of the old calculus of variations the mathematical public knows well. A book will undoubtedly stand for all time as the last exposition of that theory in what was its best form is Pascal’s Calcolo delle variazioni [Italian edition 1897], which was published in German translation by Teubner in 1899. That this translation […] was thought worthy of publication and was actually the best extant treatise in 1899 is a curious commentary upon the suddenness with which the modern theory leaped into the public arena and upon the secrecy in which the previous developments of that theory had been veiled, especially when we note that the very next year is the date of Kneser’s now famous Lehrbuch.153 HEDRICK analysierte dann auch die Unterschiede beider Bücher: It is especially easy to draw broad comparisons between Kneser and Pascal. The latter’s treatment is very clear, it gives a good general view of the sub149. Bologna, Zanichelli, 1921, 1923. 150. Berlin, Springer, 1924. Der zweite Band erschien 1937. Hilbert war nur de facto Autor, da sein Schüler Courant durch die Mitautorenschaft Hilberts seinen Lehrer und dessen Verdienste um die Variationsrechnung ehren wollte. Ein geplanter dritter Band ist nicht erschienen. 151. Paris, Hermann, 1910. Ein geplanter zweiter Band ist nicht erschienen. 152. Undatierter Brief. Da Hadamard erwähnt, daß sein eigenes Buch über Variationsrechnung unter der Presse sei, kommt das Jahr 1910 und ggf. 1909 in Frage. Nachlaß M. Kneser, Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung. 153. “The new calculus of variations”, Bulletin of the AMS, 12 (1906), 172-181, Zitat 172. E. Pascal, Calcolo delle Variazionie Calculo delle Differenze Finite, Milano, Hoepli, 1897; dtsch. (Teil) Ausgabe von A. Schepp, Die Variationsrechnung, Leipzig, B.G. Teubner, 1899.
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ject as Pascal knew it; its theorems and other statements are well outlined and set in prominent types, it leans heavily toward historical comment; but it is lacking in rigor from the modern standpoint. Kneser’s work, by contrast, is not lucid, its arrangement gives only a clouded view of the author’s own conceptions and of the subject itself, the theorems and other similar statements are hidden amid a mass of discussion as if with conscious and consummate cunning, it shows an apparent tendency to conceal historical development, but it is a vast advance over any former work in its exactness.154 In der Tat ist das Buch von ERNESTO PASCAL (1865-1940) ausgezeichnet organisiert; eine klare Gliederung mit einem gut aufgebauten Apparat (Sachregister, Beispielregister, gute Literaturangaben) ermöglicht es dem Leser, sich rasch und zuverlässig zu orientieren. Alles das fehlt KNESERS Buch. Lediglich ein ausführliches Inhaltsverzeichnis macht Angaben über das Gebotene, ein Sach- oder Autorenregister fehlt in beiden Auflagen, die Literaturangaben sind knapp. CARATHÉODORY, der selbst das Fehlen eines Vorwortes in der zweiten Auflage noch wohlwollend mit den Bemerkungen kommentierte, daß KNESER nicht den Leser suche, der ein wenig zum Studium überredet sein wolle, und dann schloß: “Mann kann sich aber mit dem Gedanken trösten, daß dies nicht die Besten sein können und daß sie es wahrscheinlich nicht wert sind, das Buch […] in die Hand zu nehmen”, fertigte sich jedoch für den eigenen Gebrauch ein Beispielregister an.155 Auch A. MAYER klagte KNESER in einem Brief: “Mitunter könnte jedenfalls größere Ausführlichkeit nicht schaden.”156 4.6.3.3 Die erste Auflage (1900) Die erste Auflage bringt im dritten Abschnitt “Hinreichende Bedingungen bei den einfachsten Aufgaben”, Seiten 43-116, die Knesersche Feldtheorie. Der spröde Titel täuscht, denn was KNESER hier anbietet, entspricht in keiner Weise den bis dahin üblichen Darstellungen, bei denen man sich zunächst auf die zweite Variation konzentrieren würde und dann das Jacobische Kriterium heranzöge, aber die zweite Variation wird bei KNESER erst nach der Darlegung hinreichender Kriterien auf Seite 103 behandelt. In einem Brief an HILBERT hat KNESER deutlich gemacht, daß dies seine erklärte Absicht gewesen sei.157
154. aaO., 174. 155. Deutsche Literaturzeitung, Heft 28, 1927, 1373-1376, Zitat 1376; auch in: Gesammelte mathematische Abhandlungen, Band 5, München, Beck, 1955, 339-340, Zitat 340. Das erwähnte Beispielregister, das ganz der Wertschätzung Carathéodorys von Beispielen in der Variationsrechnung entspricht, gehörte zum Handexemplar Carathéodorys, das er von Kneser erhalten hatte und das sich jetzt im Besitz des Autors dieser Schrift befindet. 156. Brief vom 22.9.1896. Cod. Ms. A. Kneser A27. Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung. 157. Brief vom 2.9.1900. Cod. Ms. D. Hilbert 180. Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung. Siehe Abschnitt 4.6.4.
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Zentral für die Darstellung ist der Feldbegriff, der indirekt das Jacobische Kriterium einschließt, sowie das Ziel, diese Teile der Variationsrechnung in geeigneten krummlinigen Koordinaten zu entwickeln, die KNESER später Normalkoordinaten nannte und die eine Verallgemeinerung der Gaußschen Parallel- bzw. Polarkoordinaten sind. KNESER verfolgte geometrisch-anschaulich die Weierstraßschen Ideen in völlig selbständiger Weise weiter. Es bezeichne J =
∫ F ( x, y, x', y' ) dt
=
∫ f ( x, y, p ) dx
die Integrale für ein Variationsproblem (1) J(x, y) → extr für Kurvenscharen mit gleichen Endpunkten, parametrisch (2a) x = ξ(t, a),
y = η(t, a),
(a Scharparameter)
bzw. im nichtparametrischen Fall (2b) y = y(x, a). In einem gewissen Gebiet (A) des t,a- Raumes R2 bzw. des x,a-Raumes R2 (a sei jeweils der Scharparameter der zu (2) gehörigen Extremalenscharen im parametrischen bzw. nicht parametrischen Fall) untersuchte KNESER Integrale der obigen Form für Kurven mit gleichen Endpunkten auf Extremalität (im weiteren von KNESER als einfachste Aufgabe bezeichnet, §§ 8, 14). Bei den Untersuchungen der notwendigen Bedingungen eines Extremums hatte KNESER, wenn die Extremale E von einem festen Punkt A zu einer gegebenen Kurve K : g(x, y) = 0 zu ziehen ist, bei dieser beweglichen Lage des Endpunktes der Extremalen auf einer gegebenen Kurven den Begriff der Transversalität eingeführt, der jene besondere Lage charakterisiert, die zwischen dem “freien” Endpunkt P der Extremalen und der gegeben Kurve bestehen muß: “Für die hierdurch definirte besondere Lage der Extremale[n] zu der Kurve g = 0 wollen wir die Bezeichnung transversal einführen. Haben überhaupt zwei von einem Punkt ausgehende Bogenelemente λ, µ nach den Coordinatenaxen die Componenten δx, δy und dx, pdy , und gilt die Gleichung: F x' δx + F y' δy = ( f – pf p ) δx + f p δy = 0 ,
so sagen wir, µ liege transversal zum Element λ, und jede letzteres enthaltende Curve werde von jeder µ enthaltenden transversal geschnitten”. (S. 32)
WELLENFLÄCHEN, GEODÄTISCHE UND TRANSVERSALEN
371
Abb. 4.6. Zur Transversalität
Die Kurvenschar (2) bestehe aus Extremalen des durch (1) bestimmten Variationsproblems. In einem gewissen Gebiet (A) der t,a-Ebene seien diese Funktionen regulär und ihre Ableitungen mögen nicht gleichzeitig verschwinden sowie die Funktion F sei in sämtlichen durch die Elemente der Kurven (2) bestimmten Argumenten (analytisch) regulär. Für a = a0 erhalte man in (A) ein sich selbst nicht schneidendes reguläres Stück B einer Extremalen. Ferner gelte in dem Gebiet (A) die Bedingung ∂( ξ, η ) (3) ∆ = ----------------- ≠ 0 . ∂ ( t, a )
Unter diesen Voraussetzungen “bilden [bildet], wie wir sagen wollen, die Gesammtheit der in diesem Gebiet entsprechenden Stücke der Curven (27) [(2)] ein Feld des Bogens B, und [die Kurven] heissen die Extremalen des Feldes” (S. 43f.). Die wegen der vorausgesetzten Regularität vorhandenen Potenzreihen für (2) lassen wegen der Bedingung (3) die Auflösungen (4) t = t(x, y),
a = a(x, y)
zu, die gleichfalls Potenzreihen besitzen. Wenn gemäß den analytischen Voraussetzungen Potenzreihenentwicklungen benutzt werden, folgert KNESER für ein entsprechendes Gebiet G wiederum die Existenz eines Feldes für die durch (4) dargestellten Bogen. Die Definition des Feldes läßt sich ohne Mühe auf das Funktionenproblem übertragen, was KNESER unterstellt und stillschweigend dem Leser überläßt. Der Erklärung des Feldes schließt sich sofort die Einführung der transversalen Schar an (S. 44). Es sei C0 eine ganz im Inneren des Feldes verlaufende reguläre Kurve mit der Gleichung g(x, y) = 0. Jeder Punkt P0 auf C0 bestimmt genau eine Extremale C bzw. ein Wertepaar t0, a mit (5) x = ξ(t0, a), bzw.
y = η(t0, a)
372
KAPITEL 4
(6) g(ξ(t0, a), η(t0, a)) = 0. ∂g ( ξ, η ) Sofern in dem Schnittpunkt von C0 mit C die Voraussetzung -------------------- ≠ 0 gilt, ∂t läßt sich die Gleichung (6) nach dem Parameter t0 auflösen, der dann gemäß Annahmen eine reguläre Funktion von a ist,
(7) t0 = t(a). ∂g ( ξ, η )
Die Ableitung -------------------- verschwindet nur, wenn die Extremale C die Kurve ∂t C0 berührt. Wird das ausgeschlossen, so ist (8) u =
t
∫t F ( ξ, η, ξ', η' ) dt 0
eine überall im Feld reguläre Funktion von t und a, d.h. stetig nach diesen Variablen differenzierbar (S. 45). Unter der Annahme, daß die Extremale C und die Kurve C0 sich transversal schneiden, gilt (9) du = Fx' dx + Fy' dy,
(F = F(ξ , η, ξ ', η'),
und diese Gleichung besteht auch dann, wenn sich C0 auf einen Punkt P0 zusammenzieht, sofern F in P0 regulär bleibt. KNESER bezeichnet feste oder laufende Punkte, wie es in der Variationsrechnung seinerzeit üblich war, einfach durch Zahlen; Integrale, die über Kurven mit solchen Endpunkten zu erstrecken sind, werden mit diese Zahlen indiziert. Soll ein Integral speziell über eine Extremale genommen werden, dann wird es überstrichen.
Abb. 4.7. Knesers Transversalensatz
Bei einer bildlichen Darstellung zeichnet KNESER in Erinnerung an die kürzesten Linien in der Ebene Extremalen suggestiv als Gerade, wobei die Transversalität durch Orthogononalität dargestellt wird. KNESER folgert nun seinen Transversalensatz:
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“Da die Curve C0 von jedem Punkt des Bogens B ausgehen kann, so definirt die Gleichung du = Fx' dx + Fy' dy = 0,
u = const.,
an jeder Stelle des Feldes eine Curve C1 von derselben Beschaffenheit wie C0, welche im veränderlichen Punkt 1 von den Extremalen des Feldes transversal geschnitten wird; dabei ist die Größe J 01 , wenn 0 und 1 derselben Extremalen des Feldes angehören, und ersterer Punkt die Curve C0 durchläuft, constant. Grenzt man also auf den die Curve C0 transversal schneidenden Extremalen des Feldes solche Bögen 01 ab, dass die Integrale J 01 denselben Werth haben, so ist der Ort der Punkte 1 wiederum eine reguläre Curve, welche von den Extremalen des Feldes transversal geschnitten wird. […] Man erkennt in dem erhaltenen Resultat die Verallgemeinerung des bekannten Satzes von Gauss, dass eine Schar gleich langer geodätischer Bögen, welche auf der ihre Anfangspunkte enthaltenden Linie senkrecht stehen, auch den Ort ihrer Endpunkte unter rechtem Winkel schneiden, denn (§ 11) bei den geodätischen Linien fällt die transversale mit der rechten Lage zusammen”. (S. 48f.) Als nächstes führt KNESER engere und weitere Voraussetzungen für die Untersuchung ein, modern gesprochen bereitet er hier den von ihm geprägten schwachen und starken Nachbarschaftsbegriff vor: “Der Integrand F(x, y, x', y') sei regulär und von Null verschieden, etwa positiv, entweder a) in allen der Richtung wachsender t entsprechenden Elementen des Bogens B, oder b) in allen von Punkten desselben nach beliebigen Richtungen ausgehenden Linienelementen. Diese Eigenschaften behält die Function F im Falle a) für alle Elemente, welche von den Punkten des Feldes ausgehen und gegen die bezeichneten Elemente des Bogens B hinreichend wenig geneigt sind, im Falle b) für alle von Punkten des Feldes ausgehenden Elementen, vorausgesetzt, dass das Feld hinreichend beschränkt wird”. (S. 49) Ehe KNESER jedoch Kriterien für diese beiden Arten von Extrema ableitet, führt er im §16 neue krummlinige Koordinaten u, a ein, welche jeweils auf den Extremalen bzw. Transversalen konstant sind. Die getroffenen Voraussetzungen erlauben, aus der Gleichung (8) für u die Größe t und damit auch x und y als reguläre Funktion von u und a zu berechnen, womit die Funktion F(x, y, dx, dy) in eine von u, a übergeht. Setzt man a = v und dv/du = s, so folgt unter Benutzung der positiven Homogenität (10) F(x, y, dx, dy) = G(u, v, du, dv) = g(u, v, s) du,
374
KAPITEL 4
und das neue Integral des parametrischen bzw. funktionalen Variationsproblems hat die Gestalt (11) J = ∫ G ( u, v, u', v' ) dt = ∫ g ( u, v, s ) du . Die neuen Integranden sind wiederum regulär und haben die Eigenschaft (12) G(u, v, u', 0) ≡ u'
bzw.
g(u, v, 0) ≡ 1,
und für die Taylorentwicklung von g gilt daher (13) g(u, v, s) = 1 + 1/2 s2 gss(u, v, θ s),
(θ ∈ [0, 1]);
(13) besteht bei der engeren Nachbarschaft für beschränkte s-Werten und bei der allgemeinen Nachbarschaft für endliche s (S. 51). In den neuen Koordinaten hat KNESER für eine vom Punkt 3 zum Punkt 2 verlaufende Vergleichskurve nun das Integral (14) J 32 =
τ2
∫τ
G ( u, v, u', v' ) dτ .
3
Das Bild der Extremalen C , die die gleichen Punkte verbinden möge, ist in der u,v-Ebene die Strecke von 3 nach 2, also (15) J 32 = u 3 – u 2 =
τ2
∫τ
3
du ------ dτ . dτ
Damit erhalten wir aus (14) und (15) die totale Variation τ
2 du (16) ∆J = J 32 – J 32 = ∫ ⎛⎝ G – ------⎞⎠ dτ . dτ τ3
Ebenso wie G ist der Integrand positiv oder gleich null, sofern du/dτ ≤ 0 gilt; sobald aber du/dτ > 0 ist, kann der Integrand durch das quadratische Glied 1 du (17) --- s2 gss(u, v, θ s) -----dτ 2
der Taylorentwicklung (13) ersetzt werden, um über das Vorzeichen der totalen Variation zu entscheiden. Durch weitere Entwicklungen macht KNESER diese Entscheidung handlicher, indem er so die Beziehung g ( u, v, θs ) u'
2 2 ss (18) ----------------------------= F 1 ( x v y u – x u y v ) u'
gewinnt. F1 bedeutet die von WEIERSTRAß beim Parameterproblem durch Fx'x' = F1y'2 usw. eingeführte Funktion (vgl. Abschnitt 3.4.2) bzw. im nichtparametrischen Fall die Größe fpp/x'3 (S. 52). Damit ist die Vorzeichenfrage auf die der Funktion F1 zurückgeführt.
WELLENFLÄCHEN, GEODÄTISCHE UND TRANSVERSALEN
375
Jetzt ist der Begriff des Extremums genauer zu bestimmen, was im §17 erfolgt. KNESER legt zulässige Mengen von Vergleichskurven gemäß der engeren und weiteren Voraussetzung fest und nennt die entsprechenden Extrema schwach und stark: “Ist […] die Differenz der längs beider Bögen [der Extremalen und Vergleichskurve] gebildeten Integrale J von constantem Vorzeichen, sobald [der Bogen der Vergleichskurve] L in einer weiteren Nachbarschaft des Bogens 12 liegt, so sagen wir, der Bogen 12 ergebe ein starkes Extremum des Integrals J. Hat dagegen jene Differenz ein festes Vorzeichen nur dann, wenn L in einer engen Nachbarschaft von 12 liegt, so sagen wir, es finde ein schwaches Extremum statt. Im letzteren Fall ist zum Vergleich mit dem Bogen 12 offenbar ein engeres Gebiet von Curven L herangezogen worden, als im ersten”. (S. 54) KNESER wies noch darauf hin, daß die für ebene Kurven gegebenen Definitionen unmittelbar auf Raumkurven übertragen werden können. Schließlich erörterte er die analytischen Anforderungen an die Parameterdarstellungen der Vergleichskurven, die er gegenüber denen der Extremalen etwas abschwächen kann. Die Kneserschen Entwicklungen sind etwas allgemeiner, als wir es eben skizziert haben, denn die entscheidende Erweiterung KNESERS gegenüber der Weierstraßschen Theorie besteht in der Behandlung freier Randwerte für Extremalen. KNESER kann auch in dem Fall, daß die Endpunkte von Extremale und Vergleichskurve nicht zusammenfallen, die totale Variation in gleicher Weise abschätzen, sofern deren Endpunkte auf der selben Transversalen liegen. Die hierfür entscheidende Stelle im Beweis benutzt die Gleichung (15), da bei Verschiebungen auf derselben Transversalen die entsprechende u-Koordinate unverändert bleibt, also die Gleichung (16) weiterhin besteht. In nuce erscheint damit das vom Wege unabhängige invariante Integral I HILBERTS (Hilbertsche Unabhängigkeitsintegral). Im parametrischen Fall lautet es (19) I = ∫ ( G u' du + G v' dv' ) = ∫ du
(siehe Abschnitt 5.3.2). Wegen der Eigenschaft (12) von G folgen Gu' = 1 und Gv' = 0 . Damit reduziert sich das Hilbertsche Unabhängigkeitsintegral I in der in (19) angegebenen Weise auf die Gleichung (15), und es hat für alle die Punkte 2 und 3 verbindende Vergleichskurven bzw. für solche, deren Endpunkte auf den durch 2 und 3 gehenden Transversalen liegen, den gleichen Wert u3 - u2 . KNESER hat also diese Methode im geometrischen Gewand unabhängig von HILBERT entwickelt, ja er hat überdies HILBERTS Ansatz auf bewegliche Endpunkte ausgedehnt. Es ist daher verständlich, daß er HILBERT nach dessen Vortrag im August 1900 in Paris in einem Brief darauf hinwies
376
KAPITEL 4
und seine Priorität gewahrt sowie seine Leistungen genannt wissen wollte (Brief vom 2. September 1900), dem HILBERT nachkam (siehe 4.6.4). Schließlich erörterte KNESER noch den singulären Fall, in dem die Ausgangskurve C0 zu einem Punkt P0 schrumpft, durch den jetzt alle Extremalen des Feldes gehen. Damit wird durch das Extremalenfeld im allgemeinen nur ein Teil der Ebene überdeckt werden, womit für das Feld in P0 ein Winkelraum entsteht (siehe Abbildung 4.9) und also von vornherein eine Richtungsbeschränkung für die ganz im Feld verlaufenden Vergleichskurven gegeben sein wird (S. 59). Der Paragraph wird mit einem Resümé der wichtigsten Resultate abgeschlossen, das hinreichende Kriterien für schwache und starke Extrema formuliert: “1. Jacobi’sche Bedingung. Ein nirgends singuläres Stück einer Extremalen mit den Endpunkten 0, 2 sei mit einem Feld umgeben. 2. Legendre'sche Bedingung. Entweder a) in allen Elementen des Bogens 02, der in Richtung von 0 nach 2 durchlaufen werde, oder b) in allen von Punkten desselben ausgehenden Linienelementen habe die Grösse F1 oder fpp dx ein festes Vorzeichen, ohne zu verschwinden, und sei F regulär und von Null verschieden. Dann liefert der Bogen 02 ein Extremum des Integrals J, sowohl im Vergleich zu allen Curven L mit denselben Endpunkten, als auch zu allen, welche die vom Punkte 0 ausgehende, von Extremalen des Feldes transversal durchschnittene Curve C0 mit dem Punkte 2 verbinden. Das starke oder schwache Extremum ist gesichert, je nachdem die Voraussetzung a) oder b) gemacht wird”. (S. 60) Die Jacobische Bedingung, die hier so formuliert ist, daß sie die Existenz des Feldes verlangt, drückt aus, daß sich auf dem Bogen der Extremalen keine konjugierten Punkte befinden. Es ist heute üblich, die hinreichende Bedingung für starke Extrema nicht nach LEGENDRE, sondern nach WEIERSTRAß zu benennen, der für solche Kriterien unbezweifelbar die Grundlagen gelegt hat (siehe 3.5.2). Der folgende Paragraph 19 bringt einige Beispiele. Danach leitet KNESER die Weierstraßsche Darstellung der totalen Variation durch die Exzeßfunktion im parametrischen Fall her (S. 75f.). Der Weierstraßsche Darstellungssatz gilt auch für freie Randwerte, sofern sich diese auf einem Transversalenbogen bewegen (S. 76). Mit Hilfe der Weierstraßschen Auffassung werden die Voraussetzungen für die hinreichenden Kriterien etwas abgeschwächt. KNESER kann jetzt z.B. auf die Forderung F ≠ 0 verzichten (S. 82). Auch OSKAR BOLZA
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377
(1857-1942) untersuchte die Möglichkeit, diese Bedingung fallen zu lassen, aber er argumentierte dabei mit der Äquivalenz von Variationsproblemen. Zwei Variationsprobleme betrachtete er als gleichwertig, wenn sie sich lediglich um ein totales Differential einer Funktion Φ = Φ (x, y) unterscheiden, wobei Φ längs Extremalen konstant sein soll. Denn dann ändern sich die Extremalen nicht, und man kann Φ geeignet wählen, um einen positiven Integranden zu erhalten.158 BOLZA ist hier recht nahe an den Überlegungen CARATHÉODORYS, die letzteren auf den sogenannten Königsweg geführt haben, aber BOLZA steckte die Idee lediglich in eine Fußnote.
Abb. 4.8. Variationen bei gleicher Transversalen C0 (Extremale 02, Vergleichskurve L). Abb. 4.9. Variationen bei Richtungseinschränkung im Anfangspunkt 0, Extremale C, Vergleichskurve L.
KNESER widmete sich im § 30 (S. 109-112) der Konstruktion eines Feldes, in das ein gegebener Extremalenbogen 02 eingebettet ist und das eine gegebene Kurve C0 transversal schneidet bzw. einen gemeinsamen Ausgangspunkt P0 hat. Er integrierte dazu die Eulerschen Differentialgleichungen in der Weierstraßschen Form, indem er für die transversale Ausgangsmannigfaltigkeit C0 bzw. den Punkt P0 ein Anfangswertproblem löste: “Die construirten Extremalen, welche die Curve C0 transversal schneiden, bilden also, wenn man sie nicht über eine gewisse Grenze hinaus in Betracht zieht, genau im Sinne des § 14 ein Feld des Bogens 02 oder eines in 0 beginnenden endlichen Theiles desselben”. (S. 111) In das Umfeld des Feldbegriffs ist auch eine “vorbereitende” Arbeit KNESERS Über die Umkehrung der Systeme von Functionen reeller Variablen einzuordnen, die sich mit der Auflösung eines Funktionensystems befaßt.159 Im Hinblick auf eine notwendige Ergänzung, die OSKAR BOLZA für den von KNE158. Vorlesungen über Variationsrechnung, Leipzig, B.G. Teubner, 1909, S. 356 f. 159. Mathematische Annalen, 45 (1894), 446-470. Kneser gibt der leichteren Faßlichkeit wegen die Darstellung für zwei Gleichungen an und vollzieht den Übergang auf den allgemeinen Fall durch Induktion. Er verlangt als Voraussetzungen ein totales Differential sowie ein beständiges Vorzeichen der Funktionaldeterminante. Mit solchen Fragen hatte sich 1868 bereits Rudolf Lipschitz beschäftigt, zusammenfassende Resultate sind in seinem Lehrbuch der Analysis, Bd. 2, Bonn, Cohen, 1880, 2, § 102, zu finden.
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SER im § 14 erklärten Feldbegriff gegeben hat, gewinnt dieser Satz Interesse, denn BOLZA präzisierte in seiner Arbeit New Proof of a Theorem of Osgood in the Calculus of Variations160 gerade die Eineindeutigkeit der Abbildung zwischen Parametergebieten und deren Bildern (Feld!) und wies auf KNESERS Lücke in der Definition hin. KNESER zeigte weiterhin die Beziehung seiner Theorie zu der HamiltonJacobischen Differentialgleichung auf (§ 19), daß nämlich die Transversalen dieser partiellen Differentialgleichung erster Ordnung genügen, und er schlug auch, wie erwähnt, die Brücke zu den Weierstraßschen Auffassungen (§§ 2022). Auch für Variationsprobleme mit höheren Ableitungen wird der Feldbegriff skizziert (§§ 54,55, insbesondere S. 217), aber im wesentlichen an Beispielen dargetan.
4.6.3.4 Themen der Forschung zwischen den beiden Auflagen des Lehrbuches (1900-1925) KNESER war sich der Dynamik genau bewußt, mit der um die Jahrhundertwende die Variationsrechnung voranzuschreiten begann. Wohl auch deshalb hatte er, wie schon erwähnt, sich mit dem Verlag auf eine kleine Auflagenhöhe geeinigt, um bald eine dem veränderten Entwicklungsstand Rechnung tragende Nachauflage herausbringen zu können. Es sollte jedoch durch verschiedene Umstände ein Vierteljahrhundert vergehen, bis KNESERS Lehrbuch eine zweite Auflage erlebte. Obwohl KNESER sein Arbeitsgebiet in diesem Zeitraum veränderte und seine Interessen auch auf andere Gebiete ausdehnte – beispielsweise erschien sein Lehrbuch über Integralgleichungen 1911 etwa zeitgleich mit HILBERTS grundlegendem Werk von 1912 zum gleichen Thema161 –, so blieb doch die Variationsrechnung ein ständiger Bestandteil seiner Forschungen. Mehr noch, mit dem Wechsel nach Breslau hat KNESER an der dortigen Universität seit 1905 eine Schule zur Variationsrechnung aufgebaut. Drei Jahre, von 1910 bis 1913, hatte er übrigens als Kollegen an der TH Breslau einen hervorragenden Vertreter der Variationsrechnung: keinen geringeren als CONSTANTIN CARATHÉODORY. Im Verlauf der Jahrzehnte bis zum Erscheinen der zweiten Auflage untersuchte KNESER in eigenen Arbeiten und in seinem Seminar zunächst wieder spezielle Probleme der Variationsrechnung162 oder solche, die die im Lehrbuch
160. Transactions of the AMS, 2 (1901), 422-427, insbesondere 424. 161. A. Kneser, Die Integralgleichungen und ihre Anwendungen in der mathematischen Physik, Braunschweig, Vieweg, 1911, 2. Aufl. 1922; D. Hilbert, Grundzüge einer allgemeinen Theorie der linearen Integralgleichung, Leipzig, B.G. Teubner, 1912. Dem Buch ging seit 1909 eine Reihe von Mitteilungen in den Göttinger Nachrichten seit 1904 voraus. 162. “Ein Beitrag zur Frage nach der zweckmäßigsten Gestalt der Geschoßspitzen”, Archiv der Mathematik und Physik, (3) 2 (1902), 267-278; “Die Stabilität des Gleichgewichts hängender schwerer Fäden”, Journal für reine und angewandte Mathematik, 125 (1902), 189-206.
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behandelten Themen fortführten oder ergänzten. Thematisch konzentrierte er sich dabei vor allem auf die Behandlung konjugierter Punkte sowie auf die sich daraus ergebenden extremalen Brennpunkte sowie Hüllen, und er hatte Aufgaben aus dem Umfeld des Prinzips der kleinsten Aktion (in der Jacobischen Form) im Auge. Bei der letzten Problemgruppe wendet sich die mathematische Frage nach konjugierten Punkten in die physikalische nach der dynamischen Stabilität, etwa nach der eines sich in einem Potentialfeld bewegenden Massepunktes. Damit erscheint ein älteres Thema KNESERS wieder, zu dem er in seiner Dorpater Zeit beigetragen hatte.163 Die ersten beiden Arbeiten nach dem Lehrbuch beantworten z.B. die “Jacobische Frage”, auf die wir schon bei BONNET (Abschnitt 4.5.2) eingegangen sind, daß auch bei einfachen Klassen isoperimetrischer Probleme für Minimalität erforderlich ist, daß kein Paar konjugierter Punkte innerhalb eines Extremalenbogen enthalten sein darf.164 In den betrachteten Zeitraum fallen auch vier historische Arbeiten, nämlich der Encyklopädie-Artikel zur Variationsrechnung, eine Rede 1907 zum 200. Geburtstag von LEONHARD EULER165, eine Würdigung des Werkes von ERNST FERDINAND ADOLF MINDING166, der in Dorpat 1885 nur wenige Jahre vor KNESERS Ankunft gestorben war, sowie eine Gedenkrede auf den 100. Geburtstag seines Lehrers KRONECKER.167 Nun ist freilich der EncyklopädieArtikel, der 1904 erschien, nur bedingt diesem Zeitraum zuzurechnen, da KNESER ihn im Herbst 1900 abgeschlossen hatte. Charakteristisch für KNESER ist die akribische Behandlung von Beispielen, die er stets vollständig durchrechnet. Die Transversalität wird beispielsweise an der Newtonsche Aufgabe der Rotationsfläche mit geringstem Widerstand rechnerisch behandelt und so anschaulich motiviert. Obwohl Beispiele das Rückgrat einer jeden mathematischen Theorie sind, spielen sie doch in der
163. Erste Knesersche Arbeiten zu dem Problemkreis sind die “Studien über die Bewegungsvorgänge…”, Journal für reine und angewandte Mathematik, 115 (1895), 308-327, 118 (1897), 186-223. 164. “Beiträge zur Theorie und Anwendung der Variationsrechnung”, (Zwei Aufsätze), Mathematische Annalen, 55 (1901), 86-107, 56 (1902), 169-232. Die erste Arbeit ist historisch interessant, da Kneser in ihr bemerkte, er arbeite einen Grundgedanken einer (wie er betont fehlerhaften) Weierstraßschen Vorlesungsnachschrift aus, so daß nochmals belegt ist, daß Kneser keine Variationsrechnung bei Weierstraß gehört hat. Kneser mußte noch einen Ausnahmefall offen lassen, den Bolza jedoch kurz darauf erledigen konnte (O. Bolza, “Die zweite Variation bei isoperimetrischen Problemen”, Mathematische Annalen, 57 (1903), 44-48). 165. “Euler und die Variationsrechnung”, Festschrift zur Euler-Feier, Leipzig, B.G. Teubner, 1908, 21-60. 166. “Übersicht der wissenschaftlichen Arbeiten Mindings nebst biographischen Notizen”, Zeitschrift für Mathematik und Physik, 45 (1900), 113-128. Kneser gab auch Mindings Artikel De formae in den Mathematischen Annalen, 55 (1902), 119-135, erneut heraus. Für uns interessant ist, daß Minding in dieser Arbeit darauf verwies, daß bereits Gauß die sogenannte Hamilton-Jacobische Differentialgleichung für die kürzesten Linien angegeben hatte (S. 131). Zum Leben Mindings siehe R.I. Galtschenkowa et al., Moskau, Nauka, (Leningrader Abteilung), 1970, die Variationsrechnung wird im Kapitel 10 behandelt (119-130). 167. “Leopold Kronecker”, Jahresbericht der DMV, 33 (1925), 210-228.
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Variationsrechnung eine besonders wichtige Rolle (CARATHÉODORYS Ansicht findet man in dem auf Seite 383 angegebenen Zitat). Im Kneserschen Seminar sind von den Teilnehmern viele solcher Aufgaben behandelt worden, beispielsweise das Brachistochronenproblem in verschiedenen Kraftfeldern oder unter relativistischen Bedingungen. Um die Lösung dieser Aufgaben begann sich dann allmählich eine kleine Theorie zu ranken, etwa die Kobersche Methode bei Geodätischen auf Drehflächen oder die Lindemannsche Methode bei konjugierten Punkten, die beide KNESER in die zweite Auflage seiner Variationsrechnung aufgenommen hat (S. 124 bzw. 183). Unter den 27 in Breslau unter KNESERS Leitung angefertigten Dissertationen sind auch folgende zur Variationsrechnung: Hermann Kober, Konjugierte kinetische Brennpunkte. Breslau: Fleischmann 1910; auch in: Journal für reine und angewandte Mathematik 140 (1911) 235-246; Lothar Koschmieder, Anwendung der elliptischen Funktionen auf die Bestimmung konjugierter Punkte bei Variationsproblemen. Breslau 1913; auch in: Journal für reine und angewandte Mathematik 147 (1913) 285-193; Kurt Fleischmann, Die geodätischen Linien auf Rotationsflächen. Breslau 1915; Böttger, Entwurf einer Dissertation zur Kurve kürzester Affinlänge, Breslau 1916. Aufgenommen in das Lehrbuch S. 300-302; Curt Lindemann, Hinreichende Bedingungen bei Widerstandaufgaben der Variationsrechnung. Breslau: Fleischmann 1917; Gertrud Weyl, Hinreichende Bedingungen [des Extremmums] bei einer neuen Art von isoperimetrischen Problemen. Breslau: Graß & Barth 1921; auch in: Journal für reine und angewandte Mathematik 152 (1923) 76-89. Johannes Verbeek, Über die Kurven kürzester Affinlänge. Breslau: Hochschulverlag 1924. Der Böttgersche Entwurf dürfte vermutlich aus Kriegsgründen nicht fertiggestellt worden sein. Das in ihm behandelte Thema, das in der Verbeekschen Dissertation wieder aufgenommen wurde, betraf Variationsprobleme mit höheren Ableitungen und schloß die entsprechende Erweiterung des Feldbegriffs ein. Bei der Behandlung des Variationsproblems mit zweiten Ableitungen in der Radonschen invarianten Darstellung erörterte KNESER kurz die dabei erscheinenden Typen von Feldern, wenn die Mannigfaltigkeiten für den frei beweglichen Randpunkt nulldimensional, eindimensional (fester Punkt und variierende Richtung bzw. auf einer Kurve laufender Punkt) oder zweidimensional sind, wobei der Reihe nach von KNESER als Kegelfelder, Keilfelder sowie Bodenfelder bezeichnete Feldarten erscheinen. Die bekanntesten Teilnehmer des Seminar sind LOTHAR KOSCHMIEDER (1890-1974)168, der seinen
168. Studium in Breslau, Freiburg und Göttingen, 1913 Promotion in Breslau, danach dort Assistent bei Kneser, Habilitation 1919 in Breslau, 1924 ao. Professor in Breslau, 1927 o. Professor an der TH Brünn, 1940-1946 Graz, ab 1948 überwiegend im Ausland.
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wissenschaftlichen Weg in der Variationsrechnung gegangen ist, und der spätere theoretische Physiker CLEMENS SCHAEFER (1878-1968). Von beiden gibt es Bücher: KOSCHMIEDER hat ein in zwei Auflagen erschienenes GöschenBändchen über Variationsrechnung veröffentlicht, das sich eng an die Knesersche Darstellung anlehnt; SCHAEFER ist Autor bekannter physikalischer Lehrbücher.169 Mit dem Jahr 1915 beginnen in der Variationsrechnung bei KNESER wieder allgemeinere Fragen Themen der Forschung zu werden, und diese Ergebnisse haben wohl nicht nur inhaltlich die zweite Auflage bestimmt, sondern vermutlich KNESER überhaupt veranlaßt, endlich die zweite Auflage in Angriff zu nehmen. Er beschäftigte sich mit dem Mayer-Problem, suchte Verbindungen zur Theorie der Transformationsgruppen und arbeitete die Verbindungen (Feldtheorie) zwischen der Weierstraßschen Theorie, der Hamilton-Jacobische Theorie sowie der Cauchyschen Charakteristikentheorie heraus und wandte sich schließlich der neuen Relativitätstheorie und Quantenmechanik zu.170 Ein Knesersches Ergebnis ist z.B., daß jede partielle Differentialgleichung erster Ordnung, die verschieden von einer linearen ist, als partielle Hamilton-Jacobische Differentialgleichung eines Mayer-Problems aufgefaßt werden kann, wobei die Charakteristiken der partielle Differentialgleichung erster Ordnung die Extremalen des Mayer-Problems sind.171 KOSCHMIEDER berichtete in seinem Nekrolog auf KNESER, daß KNESER – bei der Neuauflage gefragt, ob er nicht befürchte, daß mit einem Anschwellen des Buchumfanges zu rechnen sei – geantwortet habe: “Meine Bücher sollen darin zeitgemäß sein, daß sie die schlanke Linie innehalten.”172 Dieses Ziel hat KNESER in der Tat erreicht, denn die 397 Seiten übertreffen im Hinblick auf den inzwischen erreichten Erkenntniszuwachs die 311 Seiten der ersten Auflage nicht wesentlich. Aber es ist bereits hieraus ersichtlich, daß stärkere Umarbeitung nicht zu vermeiden waren, um den Umfang in solchen 169. L. Koschmieder, Variationsrechnung, I, Berlin, de Gruyter, 1933 und 1962 (Teil II ist nicht erschienen); C. Schaefer, Einführung in die theoretische Physik, 3 Bde., Berlin, de Gruyter, 1937, 1949. 170. Die Nummern 61, 63, 64 67 und 69 in der von Koschmieder zusammengestellten Bibliographie mit 81 Arbeiten (Anhang zu seinem Nekrolog in den Sitzungsberichten der Berliner Mathematischen Gesellschaft, 1930, 98-102). Aufschlußreich ist bereits der Titel “Die Gaußsche Theorie der geodätischen Linien übertragen auf das Mayersche Problem in der Variationsrechnung”, Journal für die reine und angewandte Mathematik, 146 (1915), 116-127, der zeigt, wie Kneser sein Programm ausdehnte, das in der ersten Auflage in den §§ 14-16 formuliert wurde. 171. “Transformationsgruppen und Variationsrechnung”, Journal für die reine und angewandte Mathematik, 147 (1917), 54-66. (Die bekannte Noethersche Arbeit über invariante Variationsproblem erschien 1918 in den Göttinger Nachrichten, Seiten 235-257). Die entsprechende Thematik (sog. Umkehrproblem ist von Hirsch für gewöhnliche Differentialgleichungen und Kürschák für partielle Differentialgleichungen sowie von Dedecker umfassend für Systeme gewöhnlicher Differentialgleichungen behandelt worden; Literatur in P. Funk, Variationsrechnung und ihre Anwendung in Physik und Technik, Berlin, Springer, 1962, 666. 172. “Adolf Kneser”, Sitzungsberichte der Berliner Mathematischen Gesellschaft, 29 (1930), 78-102, Zitat 90.
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Grenzen zu halten. Inhaltlich sind jedoch die Teile über die Feldtheorie hierdurch nicht wesentlich betroffen worden. 4.6.3.5 Die zweite Auflage (1925) Die zweite Auflage des Lehrbuches kann als Abschluß der mathematischen Forschungsarbeit KNESERS betrachtet werden, denn nach diesem Buch erschienen neben biographischen Artikeln lediglich drei kürzere mathematische Arbeiten KNESERS,173 darunter auch eine zur Variationsrechnung. Den Schlußstein in KNESERS wissenschaftlichem Werk bildet jedoch die 1928 veröffentlichte naturphilosophische Arbeit Das Prinzip der kleinsten Wirkung von Leibniz bis zur Gegenwart.174 Wie bereits erwähnt, hat KNESER in der zweiten Auflage seine Fragestellung verändert und häufiger gewisse allgemeinere Bolza-Probleme (bzw. MayerProbleme) den Untersuchungen zugrunde gelegt, aber durch die jetzt eingesetzten vektoriellen Schreibweisen wird die Darstellung wiederum auch vereinfacht und durchsichtiger. Die allgemeinen analytischen Voraussetzungen entsprechen denen der regulären (geometrischen) Kurven (verlangen also vor allem stetige Differenzierbarkeit, nicht Analytizität), jedoch werden nötigenfalls zeitweilig auch stärkere Annahmen gemacht (z.B. zur Herleitung der Eulerschen Differentialgleichungen). OSKAR BOLZA bedauerte in einem Schreiben an den Autor, daß sein 68jähriger Kopf bei einer genaueren Durcharbeitung des Buches streike, “aber es wäre sehr interessant zu sehen, wie Umstellungen von analytischen Funktionen auf im allgemeinen nicht analytische bewerkstelligt” würden, wobei der Begriff “regulär” bei Kneser eine neue Bedeutung erfahre.175 Homogene Variationsprobleme sind dominant, die inhomogenen ergeben sich aus speziellen Annahmen über die Vergleichskurven. Diese werden a priori getroffen und sind kein Thema des mathematischen Formalismus. CARATHÉODORY hat in einer Besprechung der zweiten Auflage angemerkt: “Das Knesersche Buch will auf weniger als 400 Seiten eine Übersicht über das gesamte Gebiet der Variationsrechnung geben; dadurch mußte es sehr kurz geschrieben werden, und sein Studium erfordert daher eine recht große Arbeit. Die 2. Auflage unterscheidet sich vor allem von der ersten vorteilhaft durch die Vermehrung der Beispiele [insgesamt 34], deren liebevolle bis in die letzten Einzelheiten gehende Behandlung immer ein charakteristischer Zug der 173. “Neue Theorie der konjugierten Punkte bei gewissen Klassen von Aufgaben der Variationsrechnung”, Sitzungsberichte der Preußischen Akademie der Wissenschaften, 1926, 142-168; “Neue Untersuchung einer Reihe aus der Theorie der elliptischen Funktionen”, Journal für reine und angewandte Mathematik, 158 (1927), 209-218; “Eine Anwendung der eindimensionalen Greenschen Funktion”, Mathematische Zeitschrift, 31 (1930), 270-275. 174. Leipzig, B.G. Teubner, 1928, 70. 175. Brief vom 18.6.1925 an Kneser. Cod. Ms. A. Kneser A3. Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung.
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Kneserschen Darstellung gewesen ist. In keinem Teil der Mathematik ist aber die Beschäftigung mit speziellen Beispielen so nützlich wie in der Variationsrechnung, da man hier so oft aus einem geschickt gewählten Beispiel die allgemeinsten und wertvollsten Resultate gewinnen kann.”176 In der üblichen Weise wird die (geometrische) Regularität der Kurven durch stetige Differenzierbarkeit definiert (S. 8), und diese Voraussetzung gilt im allgemeinen auch für die auftretenden Funktionen. Dann wird wie früher die “einfachste Aufgabe” gestellt (S. 37) und die Transversalität für parametrische und funktionale Probleme abgeleitet (S. 57). Anschließend findet man jedoch eine Verallgemeinerung der Transversalität, indem sie nicht mehr nur für das einfachste Variationsproblem betrachtet, sondern auch für ein Bolza-Problem 1
(1) z = f ( a, b, … ) + ∫ F ( x, y, x', y' ) dt 0
abgeleitet wird (S. 66). Die allgemeine Transversalitätsbedingung lautet (2) - δz + F x' δx + F y' δy = 0 , wobei man für f = 0 bzw. δz = 0 wieder die üblich Transversalität erhält (S. 67). Läßt man in der Gleichung (1) den Punkt 1 laufen, so gilt im Hinblick auf die Veränderung von t die Gleichung (3) -z ' + F(x, y, x', y') = 0 bzw. invariant im Hinblick auf t geschrieben (4) -dz + F(x, y, dx, dy) = 0. Deuten wir hier z als dritte räumliche Koordinate, so ist ein Raumpunkt (x, y, z) an Raumkurven gebunden, die der Mongeschen Differentialgleichung (4) genügen. Aus dieser Sicht besteht das Variationsproblem nun darin, bei einem gegebenem Punkt 1 von der Mannigfaltigkeit M der Punkte (x0, y0, z0) auf einer Raumkurve, die die Mongesche Gleichung erfüllen, einen Punkt auf der Geraden x = x1, y = y1 mit extremaler z-Koordinate zu erreichen. Der dritte Abschnitt über hinreichende Bedingungen (S. 70-160) läßt zunächst wie in der ersten Auflage die zweite Variation beiseite und beginnt diesmal mit einem Einbettungssatz, der das vollständige und schlichte Überdecken der Umgebung [γ] einer Mannigfaltigkeit M0 durch eine Schar regulärer Flächen M
176. Deutsche Literaturzeitung, 33 (1926), 1614-1616; auch in: Gesammelte mathematische Abhandlungen, Bd. 5, München, Beck, 1957, 337-338, Zitat 338.
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(5) xk = ξk(t, a1, …, an) ,
(k = 1, 2, …, n+1),
beschreibt. Bei den entsprechenden Auflösungssätzen sind hier und im folgenden die analytischen Voraussetzungen erheblich reduziert, denn anstelle von Analytizität steht im allgemeinen nur noch stetige Differenzierbarkeit. Für a = a0 ergebe sich die Mannigfaltigkeit M0, die sich selbst nicht schneiden soll, und es wird vorausgesetzt, daß innerhalb des überdeckten Gebietes, das in (5) durch hinreichen kleine Parameterwerte [γ] charakterisiert werde, gelte: ∂ ( ξ , …, ξ ) ∂ ( t, a 1 , … , a n )
1 n+1 -≠0. (6) -------------------------------------
Nach dieser allgemeinen Vorbereitung wird im ebenen Fall die (parametrische) Weierstraßsche Theorie diskutiert (§ 12, S. 75-83) und in der bekannten Weise ein Feld definiert (S. 76). Direkter als in der ersten Auflage schließt dann die Weierstraßsche Konstruktion an (S. 77), und bereits drei Seiten später (S. 78) wird die Weierstraßsche Darstellungsformel angegeben. Die das Hilbertsche Unabhängigkeitsintegral charakterisierende Gleichung erscheint auf Seite 79, ohne daß dabei ein Hinweis auf HILBERTS Idee gegeben wird, wie das auch in der ersten Auflage der Fall war. Das erfolgt erst bei den mehrdimensionalen Darlegungen, die allerdings ohne HILBERTS Gedanken ziemlich umständlich würden (S. 332f.). Die Jacobische und Weierstraßsche Bedingungen füllen den Rest des § 12 (S. 79f.). Anschließend werden Umformungen der Exzeßfunktion behandelt und starke und schwache Extrema definiert (S. 86f.). Bei der Behandlung freier Randwerte kommt die bekannte Transversalität ins Spiel (S. 96), und die bereits diskutierte Theorie (§ 12) wird in angepaßter Form wiederholt. Eine Schar von Extremalen, die von einer gegeben Kurve transversal ausstrahlen, bildet wieder ein Feld, das auf den Seiten 106-110 konstruiert wird (§ 17, Der zweite Einbettungssatz). Im § 22 werden der Transversalensatz und die krummlinigen Koordinaten, die jetzt als Normalkoordinaten bezeichnet werden, für die Behandlung des allgemeineren Variationsproblems eingesetzt, dessen Funktional durch (1) gegeben ist. Die Betrachtungen werden im dreidimensionalen x,y,z-Raum durchgeführt, wobei die Extremalen im dreidimensionalen Raum eine Fläche F bilden, die räumliches Feld genannt wird. In der allgemeinen Transversalität (2) bedeutet δ einen beliebigen Fortgang auf der Fläche F (totales Differential). KNESER spricht die Gleichung (2) geometrisch interpretiert so aus, daß beim Fortgang längs der Fläche F überall die allgemeine Transversalitätsbedingung erfüllt ist (S. 139). Schneidet man die Fläche F mit einer waagerechten Ebene z = z1, so ergibt sich eine Schnittkurve P, längs deren Projektion P' auf die x,y-Ebene δz konstant ist, so daß in der x,y-Ebene die allgemeine Transversalität wieder in die übliche übergeht. Längs der Kurve P ist z = z1. Sehen wir P als geometrischen Ort der Punkte 1 an, so hat die Größe
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(7) z = z0 + J 01 längs der Feldextremalen stets den gleichen Wert. Denn man ist auf jeder dieser Kurven vom Punkt 0 zu dem Punkt 1 gegangen, in dem z den Wert z1 hat. Für z0 = 0, also in der x,y-Ebene, erkennt man leicht die Verallgemeinerung des Gaußschen Satzes über geodätische Linien (S. 140). In der Kneserschen Fassung des Satzes ist jedoch die Funktion z0 willkürlich, was die Verallgemeinerung ausmacht. Als Anwendung für diese Überlegungen betrachtet KNESER das Fermatsche Prinzip. Die Normalkoordinaten des Feldes, die krummlinigen Koordinaten, werden ebenfalls für das allgemeinere Variationsproblem (1) erklärt. Für die krummlinigen Gaußschen Parallelkoordinaten u, v auf einer Fläche führen die Normalkoordinaten auf die Funktion (8) G ( u, v, u', v' ) dt =
2
2
du + g 0 dv ,
und die Beziehung zu der Gaußschen Form des Bogenelements ds ist ganz offensichtlich. Das ist natürlich nicht überraschend, denn es war ja die elegante Darstellung der Gaußschen Parallel- bzw. Polarkoordinaten, die KNESER zu seinen Verallgemeinerungen angeregt hatte. Die Hamilton-Jacobische Theorie wird für das allgemeine Variationsproblem mit dem Funktional (1) entwickelt. Auch das ist eine Erweiterung gegenüber der vorhergehenden Auflage. Während es bei den in der ersten Auflage konstruierten Feldern längs der Extremalen nur eine Fortschreitungsrichtung gab, entlang der die Transversalitätsbedingung erfüllt war (nämlich längs der Transversalen des Feldes), werden bei diesem räumlichen Feld im x,y,z-Raum (d.h. auf einer gewissen Fläche S ) die allgemeinen Transversalitätsbedingungen (2) – δz + F x' δx + F y' δy = 0 , (F = F(x, y, x', y')),
entlang jeder Fortschreitungsrichtung erfüllt. In der Gleichung bedeutet δ eine beliebige Richtung im räumlichen Feld, und die Größen x', y' geben die Richtung längs der Feldextremalen an. Geht man von einer funktionalen Darstellungsmöglichkeit des räumlichen Feldes aus, setzt man also die Fläche S mit (9) z = f(x, y),
∂f p = ----- , ∂x
an, so gilt (9a) –dz + pdx + qdy = 0.
∂f p = ----∂x
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KAPITEL 4
Abb. 4.10. Zu Knesers verallgemeinerten Begriff der Transversalität
Da die Operatoren δ und d identifiziert werden können, hat man (10) p = F x' ,
q = Fy' ,
und die Größen x', y' erscheinen in den Beziehungen als Quotient Q = x'/y'. Kann man nun diesen Quotienten Q oder seinen reziproken Wert eliminieren (was unter der Annahme F1 ≠ 0 möglich ist), so ergibt sich für die Fläche S eine partielle Differentialgleichung (11) Φ (x, y, p, q) = 0, die Hamilton-Jacobische Differentialgleichung. Die Charakteristiken dieser partiellen Differentialgleichung erster Ordnung sind die Extremalen des Variationsproblems (12) J = ∫ F ( x, y, x', y' ) dt → extremal. Die Lösungen z = U(x, y) der partielle Differentialgleichung (11) genügen den allgemeinen Transversalitätsbedingungen (2), und sie bilden ein räumliches Feld zu der Variationsaufgabe δJ = 0 (S. 146-149). KNESER skizzierte weiterhin den Feldgedanken für Variationsprobleme mit höheren Ableitungen sowie für die allgemeine Aufgabe der Variationsrechnung, das Mayersche Problem, und er gab auch einen Ausblick auf mehrdimensionale Probleme (§§ 37, 44, 49). Bei letzteren griff KNESER schließlich auf das Hilbertsche Unabhängigkeitsintegral zurück, das er ansonsten nicht in der von HILBERT gegebenen Form benutzte, um im Mehrdimensionalen eine komplizierte Herleitung der Weierstraßschen Darstellungsformel zu umgehen (S. 332). Die Transversalen zu einer in Rede stehenden Extremalen bilden in einer Umgebung derselben “Röhren”. Diese Röhren schneiden auf den Extre-
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malen Stücke aus, für die das darüber erstreckte Variationsintegral denselben Wert hat (allgemeiner Transversalitätssatz, S. 331). Wir skizzieren die tragende Idee für die Behandlung der Mayersche Aufgabe ϕk (y0, … , yn, y0', … , yn') = 0 ,
(k = 0, … , r),
y0(t1) = extremal,
wie sie KNESER im § 42 (S. 263-272) formulierte, durch ein Zitat. Der Paragraph 44 geht auf die entsprechenden Felder ein, mit denen dann im folgenden Paragraphen 45 hinreichende Bedingungen für ein Extremum formuliert werden. Im folgenden ist C das in Rede stehende Stück einer Extremalen, L eine zulässige Vergleichsmannigfaltigkeit mit der analytischen Darstellung y = θ (t, a1, …. an - 1), die ganz im Feld verläuft. “Die durchgeführte Schlußweise [zum Nachweis des Extremums] beruht auf der Möglichkeit der Weierstraßschen Konstruktion, und diese kann mitttels des ersten Einbettungssatzes (§ 11) als möglich nachgewiesen werden, wenn eine Bedingung erfüllt ist, die wir sachgemäß als die Jacobische Bedingung bezeichnen können”. (S. 293) Wenn diese Weierstraßsche Konstruktion ausgeführt ist, so sind auch die bekannten Folgen gesichert. KNESER kann also resümieren: “Mittels dieser Grundgedanken kann jedes Feld benutzt werden, um bei einer bestimmten Art von Extremalaufgaben hinreichende Bedingungen des Extremums aufzustellen. Die Aufgabe, um die es sich bei einem gegebenen Feld handeln kann, ist in folgender Weise zu formulieren. Werde auf dem Feld etwa durch eine Gleichung t0 = T(a1, a2, … ,an-1) eine (n-1)-stufige Mannigfaltigkeit von Stellen yk = θ k (t0, a1, …, an-1),
die wir M nennen, herausgehoben, der die Anfangsstelle 0 des Bogens C angehöre; dann sucht man das Extrem der Größe y0 an der Stelle yk = yk(1), das von irgendeiner Mannigfaltigkeit L geliefert wird, die an dem Gebiet M beginnt, und unter Umständen noch gewissen Beschränkungen unterworfen wird.” (S. 293) 4.6.4 Hilbert und Kneser In HILBERTS und KNESERS Arbeiten zur Variationsrechnung gibt es Gemeinsamkeiten, also auch Möglichkeiten von Rivalität. Ihre gemeinsamen Ziele und Ergebnisse, die sich aufgrund der verschiedenen Perspektiven (Unabhängigkeitsintegral und Transversalitätsbegriff) nicht sofort offenbarten, erzeugten bei der Aufklärung und Bewertung zwischen den beiden Mathematikern Verstimmungen, die selbst später nicht mehr ganz beigelegt wurden.
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KAPITEL 4
Zunächst war der Königsberger Dozent HILBERT von dem Professor KNEaus Dorpat bei dessen Arbeitsbesuch an der Albertus-Universität recht angetan. “Neulich war Professor Kneser hier, wir haben 2 Tage lang mit ihm mathematisiert und dabei manches gelernt”, ließ HILBERT aus Königsberg am 30. Juni 1891 FELIX KLEIN in Göttingen wissen.177 Die Göttinger, die die Encyklopädie-Ausgabe betrieben und zu denen seit 1895 auch HILBERT gehörte, hatten KNESER um den Encyklopädieartikel über Variationsrechnung gebeten, den er 1900 zu dem Jahrhundertwerk beisteuerte (gedruckt 1904). Jedoch hatte HILBERTS Darstellung der neueren Variationsrechnung im Pariser Vortrag von 1900 KNESER offenbar verärgert, da er sich und seine Leistungen nicht genügend berücksichtigt sah. Auf die sachlichen Gründe werden wir gleich eingehen. HILBERTS Bitte vom September 1900, KNESER möge einen versprochenen Beitrag zur Variationsrechnung für die Mathematischen Annalen liefern, erfüllte KNESER 1901 und 1902 noch, aber dem Wunsch um Weiterführung seines Encyklopädieartikels entsprach er nicht mehr,178 so daß schließlich HANS HAHN (1878-1934) und ERNST ZERMELO den Bericht über die Variationsrechnung fortsetzten. Auch der Bitte HILBERTS von 1909, einen Nachtrag zu dieser Fortsetzung zu liefern, mochte KNESER nicht mehr nachkommen, und er gab als Grund die Inanspruchnahme durch andere Arbeiten an. Als nun KNESER 1909 (oder 1910) einen Sonderdruck seiner Arbeit Integralgleichungen und Darstellung willkürlicher Funktionen179 an HILBERT schickte, erhielt er diesen umgehend mit folgender polemischen Bemerkung zu dem Satz “Die von Fredholm begründete Theorie der Integralgleichungen in der von Schmidt gegebenen Gestalt […]” (S. 8) zurück: “Diese Ansätze rühren ausschließlich von mir her. Der Fredholmschen Theorie liegen sie ganz fern, da diese sich bekanntlich mit der Auflösung von Integralgleichungen und nicht mit der Entwicklung willkürlicher Funktionen nach Eigenfunktionen beschäftigt. Schmidt ist selbst ein Mann und hat [es] nicht nöthig[,] mit fremden Federn geschmückt zu werden: gerade jene Dinge waren von mir veröffentlicht[,] lange ehe Schmidt kannte, was eine Integralgleichung ist”. Hilbert180 SER
177. G. Frei, Der Briefwechsel Hilbert-Klein (1886-1918), Göttingen, Vandenhoeck, 1985, 74. 178. “Beiträge zur Theorie und Anwendung der Variationsrechnung”, Zwei Aufsätze, Mathematische Annalen, 55 (1901), 86-107, 56 (1902), 169-232. Die Ablehnung ist im Brief vom 19.2.1909 zu finden, Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung, Cod. Ms. D. Hilbert 180. 179. A. Kneser, “Integralgleichungen und Darstellung willkürlicher Funktionen von zwei Variablen”, Rendiconti del Circolo Matematico di Palermo, 27 (1909), 117-147. 180. Sonderdruck im Nachlaß von A. Kneser, Göttingen; der entsprechende Entwurf ist im Cod. Ms. D. Hilbert 457 (Briefentwürfe), Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung, zu finden.
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Historisch ist HILBERTS Bemerkung durchaus zutreffend, aber die Wortwahl könnte doch eine späte (private) Reaktion auf eine Gegendarstellung von KNESER in den Mathematischen Annalen sein, die KNESER aufgrund einer Einschätzung von FRIEDRICH SCHUR (1856-1932) – der übrigens von 1888-1892 KNESERS Kollege in Dorpat gewesen war – zu KNESERS Vortrag über die Proportionenlehre gemacht hatte und die auch HILBERT betraf. KNESER ließ 1904 in die Annalen folgendes einrücken: “Ich widerspreche ferner der Behauptung, daß ich mich […] ‘Hilbert vollkommen’ anschließe”181, denn er billige dem Pascalschen Satz, dem HILBERT eine zentrale Rolle in seinen Stetigkeitsbetrachtungen der Geometrie zukommen ließ (Satz 40 in den Grundlagen der Geometrie182), keine beherrschende Stellung zu, was seit LAZARE CARNOT (1753-1823) bekannt sei.183 Daher widersprach er “verständlicherweise” vehement SCHURS Aussage, nur einen Bericht gegeben zu haben sowie sich nur teilweise an HILBERT angelehnt zu habe. KNESER betrachte die Grundidee, einen stetigkeitsfreien Aufbau der Geometrie zu leisten, als sein geistiges Eigentum. Die Kontroverse wurde mit einer redaktionellen Anmerkung geschlossen, daß man mit dem Abdruck von KNESERS Erklärung, ohne dazu eine eigene Stellungnahme abzugeben, die Prioritätsfragen als beendet betrachte. Zur Redaktion der Annalen gehörte seit 1902 auch DAVID HIL184 BERT. Die fachlichen Differenzen zwischen HILBERT und KNESER über das von HILBERT gestellte 23. Problem seines Pariser Vortrages,185 werden von KNESER in einem Brief so beschrieben (Abb. 4.10): “3) Das Integral J* [Unabhängigkeitsintegral] kann mit der erwähnten Größe u [Kneser, Lehrbuch, S. 45] identifiziert werden, wenn man den zweiten Endpunkt der betrachteten Curve variieren läßt, denn dann hat man in Ihrer Bezeichnung dJ∗ = A dy – B dx = f p dy + ( f – pf p ) dx ,
181. A. Kneser, “Zur Proportionenlehre”, Mathematische Annalen, 58 (1904), 583-584. Die Kneser verärgernde Bemerkung F. Schurs war im vorangegangenen Band 57 (S. 205 ff.) erschienen. 182. Leipzig, B.G. Teubner, 1899, 2. Aufl., 1903. 183. Hilbert (Grundlagen der Geometrie, 54) wiederum hatte Schur bescheinigt, einen interessanten Beweis des Pascalschen Satzes geliefert zu haben (Mathematische Annalen, 51 (1898), 401409). 184. F. Schur war durch seine Ansprüche, als Mitbegründer der rein geometrischen Streckenrechnung gelten zu wollen, zu der Polemik verleitet worden. Näheres hierzu in den Anlagen der von M. Toepell herausgegebenen 14. Auflage der Grundlagen der Geometrie von Hilbert (Stuttgart, B.G. Teubner, 1999, 307). – Schur war übrigens nicht nur in Dorpat (1888-1892), sondern in seinen letzten Dienstjahren von 1919 bis 1924 auch in Breslau Knesers Kollege gewesen. 185. Wie aufmerksam die entsprechenden Zeitgenossen diesen Sachverhalt beobachteten, zeigt die von Stäckel bei der Korrektur seiner bereits erwähnten Rezension des Kneserschen Buches (Archiv für Mathematik und Physik, (3) 2 (1901), 186) angebrachte Fußnote, die auf die Kneserschen Ergänzungen in der Archiv-Ausgabe des Pariser Vortrags hinweist.
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und andererseits ist du = Fx' dx+Fy' dy.
4) Was Sie am Schluß des auf einfache Integrale bezüglichen Abschnitts (p. 42 Z. 11-1 v.u.: ‘da es hiernach […] hinreichend ist’ [in Ostwalds Klassikern Nr. 252, S. 76]) als Resultat aussprechen, glaube ich im ersten Umfang, soweit hier nicht Weierstraß das Verdienst zukommt, geleistet zu haben.”186 Zum Verständnis der Umstände seien einige Daten rekapituliert: KNESERS Buch war im März 1900 erschienen und damit HILBERT natürlich bekannt.187 HILBERT hatte am 8. August 1900 seinen Vortrag gehalten, aber offenbar zuvor bereits die für den Druck angefertigte und erweiterte Fassung bei den Göttinger Nachrichten eingereicht, die im Gegensatz zum Vortrag das 23. Problem enthielt.188 Diese Fassung kannte KNESER schon im September, denn er zitierte in seinem Brief an HILBERT (siehe Abbildung 4.10) die Seitenzahl 42 des Vortrages Mathematische Probleme, während sich der Abdruck in den Göttinger Nachrichten über die Seiten 253-297 erstreckte. Offenbar hatte er Ende August bereits Einsicht in die Korrekturbogen der Arbeit (sicherlich durch HILBERT selbst oder doch mit dessen Billigung) bekommen. Da sich KNESER im nächsten Brief wiederum auf die Seite 42 bezieht, kann man ausschließen, daß es sich hierbei nicht um einen Schreibfehler handelt. KNESER hatte mit seinen Einwänden Recht; die in Rede stehende Stelle auf Seite 42189 betonte, daß man ohne die zweite Variation auskommt und mit Hilfe des Jacobischen Kriteriums im Verein mit der Weierstraßschen Bedin-
186. Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung, Cod. Ms. D. Hilbert 180. Der Brief ist nur teilweise erhalten und beginnt mit dem zitierten Punkt 4. Aus dem folgendem Briefen Knesers vom 22.9.1900 kann der 2.9.1900 als Datum erschlossen werden. 187. Das belegt die Fußnote 1 zum 23. Problem in der ursprünglichen Fassung in den Göttinger Nachrichten. 188. Hilbert hatte mit der Wahl eines Themas zu lange gezögert, so daß er schließlich nur noch in der Sektion “Bibliographie et Histoire. Enseignement et Méthodes” unterkam, wo er lediglich 10 der 23 Probleme vortrug. Über die Publikationsversionen vergleiche I. Grattan-Guinness, “A Sideways Look at Hilbert’s Twenty-three Problems of 1900”, Notices of the AMS, 47, 7 (2000), 752-757; Korrekturen von G.H. Moore und die Antwort von Grattan-Guinness in Letters to the Editor im gleichen Journal 2 (2001), p. 167; vgl. auch R. Thiele, “Hilbert and his 24 problems”, Mathematics at the dawn of a millenium, Proceedings of the Canadian Society for History and Philosophy of Mathematics. Annual Meeting held in Hamilton, Ont., July 200, 1-22, bearbeiteter Reprint im Sammelband der Kenneth-May-Lectures der CSHMP bei Springer (Mathematics and the Historian’s Craft, ed. G. Van Brummelen and M. Kinyon, New York, 2005, 81-140). Die letztere Arbeit betrachtet die veröffentlichten 23 Probleme im Hinblick auf die Einordnung eines gestrichenen 24. Problems. Ein von Grattan-Guinness zu wenig beachteter Punkt bei seiner Kritik an der Aufstellung der Probleme durch Hilbert, ist die Tatsache, daß Hilbert den Vortrag in beträchtlicher Zeitnot ausgearbeitet hat, denn er bewältigte nebenbei den üblichen Vorlesungsbetrieb von 10 Wochenstunden (SS 1900 ab April). 189. Göttinger Nachrichten, 1900, 294; Ostwalds Klassiker Nr. 252, S. 76 (nach Formel (4)).
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gung für die Exzeßfunktion hinreichende Bedingungen für ein Minimum erhält. KNESER hat dann die interessante Bemerkung gemacht: “Daß auch ich auf die zweite Variation nicht zurückgehe, ist ersichtlich, ich habe sogar absichtlich im dritten Abschnitt meines Buches den ersten und zweiten nirgends zitirt, so daß auch von der ersten Variation gar nicht die Rede zu sein braucht. […] Natürlich muß man irgendwie auf den Gedanken gekommen sein, Curven zu betrachten, für welche […] [die Eulersche Differentialgleichung gilt].”190 HILBERT erklärte sich daher im Brief vom 24. September191 bereit, KNESERS Wünschen nachzukommen, die dieser bereits am 22. September geschickte hatte. Diese zwei Ergänzungen, die HILBERT zwar nicht mehr in die Ausgabe der Göttinger Nachrichten brachte (Redaktionsschluß?), übernahm er aber im Jahr darauf in den Abdruck der Zeitschrift Archiv der Mathematik und Physik 1 (1901) 44-63, 213-237, und diese Ergänzungen sind auch in die englische und französische Übersetzung von 1902 eingegangen. Die erste von KNESER vorgeschlagene Änderung mit mehreren Varianten, gleich am Anfang der Aufgabenstellung, sollte KNESERS Lehrbuch inhaltlich charakterisieren, aber HILBERT änderte nur ein wenig und ergänzte, daß die geringe Verbreitung der Variationsrechnung dem Mangel an neueren und zuverlässigen Lehrbüchern geschuldet sei und erwähnte dann KNESERS Werk (in dem Text, der zur Fußnote 2 gehört). Der zweite Änderungswunsch von KNESER lautete: “Mit dieser Entwicklung verwandt ist die Modification [Fußnote mit Literaturangabe zum Lehrbuch], in welcher von anderen Gesichtspunkten ausgehend Kneser die Weierstraßsche Theorie hergestellt hat. Während nämlich Weierstraß zur Ableitung hinreichender Bedingungen des Extremums die durch einen solchen Punkt gehenden Integralkurven benutzt, macht KNESER von einer beliebigen einfachen Schar solcher Kurven Gebrauch, und construirt zu jeder solchen Schar eine für sie charakteristische Lösung derjenigen partielle Differentialgleichung, die als Verallgemeinerung der Hamilton-Jacobi’schen anzusehen ist.”192 HILBERT hat diese Änderung so übernommen, wobei offenbar weder er noch KNESER den historisch zutreffenden Sachverhalt kannten, daß WEIERSTRAß für eine gesuchte Funktion durchaus mit allgemeinen Extremalenfeldern 190. Brief vom 2.9.1900, Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung, Cod. Ms D. Hilbert 180, vgl. Fußnote 186. 191. Brief vom 24.9.1900. Nachlaß A. Kneser, Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung. Teilweiser Faksimile-Abdruck in R. Thiele, “Über die Variationsrechnung in Hilberts Werken zur Analysis”, NTM, 5 (1997), 23-42. 192. Brief vom 22.9.1900, Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung, Cod Ms. D. Hilbert 180. Diese Änderung befindet sich am Ende des 23. Problems, vor den allgemeinen Schlußbemerkungen des Vortrags. Die Ausgabe der Probleme in Ostwalds Klassikern, Band 252, bringt sie nicht, auch nicht im letzten Reprint von 1998.
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gearbeitet hat. Selbst der historisch beschlagene KNESER (der schließlich während der Weierstraß-Ära Student in Berlin gewesen war) hatte im vorangehenden Brief vom 2. September nachdrücklich in dieser falschen Weise zu seinen Gunsten argumentiert. Die Formulierung zeigt auch, daß zu dieser Zeit die Rolle der Transversalität sowohl von KNESER als auch von HILBERT noch nicht vollständig verstanden worden ist, da die Lösung der Hamilton-Jacobische Differentialgleichung der entscheidende Ausgangspunkt für Mayer-Felder mehrerer gesuchter Funktionen ist. (Die angeführte Diskussion bezog sich allerdings nur auf eine gesuchte Funktion einer unabhängigen Variablen). ADOLPH MAYER hat im Zusammenhang mit der Dissertation Untersuchung zur Variationsrechnung von NADESCHDA GERNET (1877-1943) aus dem Jahre 1902 HILBERT auf die Wichtigkeit einer transversalen Ausgangsmannigfaltigkeit M bei mehreren gesuchten Funktionen aufmerksam gemacht; jede zu einem Punkt P ausgeartete Ausgangsmannigfaltigkeit M, die NADESCHDA GERNET Hilbertschen Vorgaben folgend zugrunde gelegt hatte, führt auf solche speziellen Felder (zentrale Felder), die automatisch Mayer-Felder sind (siehe hierzu Kapitel 5 und 6). 4.6.5 Über den Einfluß von Knesers Lehrbuch KNESER und die Variationsrechnung sind sprichwörtlich, und in der Tat sind – wie bereits erwähnt – einige der heutigen Standardbezeichnungen wie Extremale, Transversale, starkes und schwaches Extremum von ihm geprägt worden. Kein Geringerer als CARATHÉODORY schrieb in einer Rezension zur zweiten Auflage: “[M]an kann ohne Übertreibung sagen, daß fast alle Forscher, die seit 1900 über Variationsrechnung gearbeitet haben, mehr oder weniger durch Kneser beeinflußt worden sind, da auch die Lehrbücher, die seitdem erschienen sind, auf diese erste Darstellung der modernen Variationsrechnung angewiesen waren.”193 RICHARD COURANT wiederum bedankte sich mit den Worten, daß “dieses schon historisch und klassisch gewordene Werk, dessen Einfluß auf die Entwicklung dieser Disziplin noch lange nicht erschöpft ist”, für die Übersendung der zweiten Auflage der Kneserschen Variationsrechnung. ERNST HÖLDER wiederum hatte bemerkt, daß es vor allem dieses Lehrbuch gewesen ist, welches die Weierstraßschen Methoden bekannt gemacht und ausgestaltet haben.194
193. Deutsche Literaturzeitung, Heft 33, 1926, Spalte 1614-1616; auch in: Gesammelte mathematische Schriften, München, Beck, 1957, 337-338, Zitat 337. 194. “Das Eigenwertkriterium der Variationsrechnung zweifacher Extremalntegrale”, Bericht über die Mathematikertagung in Berlin, Berlin, DVW, 1953, 291-302, zitierte Stelle S. 292.
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Allerdings sind die Kneserschen Gedanken nicht überall und vor allem nicht sofort in ihrer Bedeutung aufgenommen worden, da die Knesersche Darstellung keine einfache Lektüre ist. Selbst der dem Autor KNESER ebenbürtige Rezensent und freundlich gesinnte CARATHÉODORY hatte nachsichtig bemerkt, daß Leute, die erst zur Lektüre des Buches überredet werden müßten (ein hierzu dienliches Vorwort, das in der ersten Auflage noch vorhanden war, fehlte in der zweiten Auflage), es wahrscheinlich gar nicht verdienen, das Buch zu erhalten (Zitat Fn. 193, S. 338). Amerikanische Mathematiker waren deutlicher. WILLIAM OSGOOD (18641943) urteilte in seinem vorzüglichen Übersichtsartikel Sufficient conditions in the calculus of variations195 in einer Fußnote: This is a work of high scientific merit; in point of style, however it is not all that could be desired. Obwohl es dem 25jährigen Doktoranden EARL R. HEDRICK (1877-1943) nicht ganz zustand, über eine solche bahnbrechenden Leistung zu urteilen, war jedoch seine Kritik, mit der er 1902 eine Arbeit schloß, nicht ganz unberechtigt: In conclusion the author desires to protest against the extreme complication recently introduced in some quarters into the essentially simple subject [!] of the calculus of variations. In the case of the only modern text-book […] this condition is so exaggerated as to essentially mar the usefulness of the book, in that many who would otherwise interest themselves in the subject are repelled by style and treatment.196 Die amerikanische Kritik der ehemaligen Göttinger Studenten ist letztlich wohl auch ein Widerschein des gespannten Verhältnisses von HILBERT und KNESER (siehe 4.6.4). Einige Jahre später hat HEDRICK allerdings eine historisch treffender Wertung des Kneserschen Buches gegeben, als er im selben Bulletin einen Artikel The new Calculus of Variations veröffentlichte und dabei die Lehrbücher von KNESER und PASCAL verglich, worauf wir oben schon eingegangen sind (Abschnitt 4.6.3.2). Auch der Rezensent des Jahrbuches der Fortschritte der Mathematik (1900) hob bei allem Lob hervor: leicht ist das Studium der Variationsrechnung auch an der Hand des Kneserschen Werkes keinesfalls, das Buch sei “nicht stets leicht zu lesen” (S. 386f.). KNESERS zentraler Begriff der Transversalität wird durch das Verhältnis des Fortschreitens auf Extremalen und auf Lösungen der Hamilton-Jacobische Differentialgleichung (Transversalflächen) bestimmt. Stellvertretend für zahlreiche andere Untersuchungen seien lediglich vier auf KNESER folgende Arbeiten aus den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts erwähnt, die sich diesem Begriff widmen:
195. Annals of Mathematics, 2 (1901), 105-129, Zitat 105. 196. “On the sufficient conditions in the calculus of variations”, Bulletin of the AMS, 9 (1902), 11-24.
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KAPITEL 4
W. Blaschke, Räumliche Variationsproblem mit symmetrischer Transversalitätsbedingung, in: Leipziger Berichte 68 (1916) 50-55; G. Grüß, Die ebenen Variationsproblem mit symmetrischer Transversalitätsbedingung, in: Mathematische Zeitschrift 29 (1928) 470-480; W. Blaschke, Eine Umkehrung von A. Knesers Transversalensatz, in: Nieuw Archief voor Wiskunde 15 (1928) 97-102; L. la Paz and T. Radó, On the converse of Kneser’s transversality theorem, in: Annals of Mathematics 36 (1935) 749-769. Es versteht sich, daß mehrdimensionale Variationsprobleme einen größeren Spielraum bei der Definition von zueinander transversalen Elementen verschieden dimensionaler Mannigfaltigkeiten haben. Die bedeutende Rolle der Transversalität in der mathematischen Physik, auch für die Grundlegung der Wellenmechanik, haben wir im Abschnitt 4.1 bereits erwähnt.
Abb. 4.11. Ende des Briefes von Kneser an Hilbert vom 2. 9. 1900 (siehe S. 389).
KAPITEL 5
HILBERTS UNABHÄNGIGKEITSINTEGRAL UND MAYERFELDER
Zudem ist es ein Irrtum zu glauben, daß die Strenge in der Beweisführung die Feindin der Einfachheit wäre. An zahlreichen Beispielen finden wir im Gegenteil bestätigt, daß die strenge Methode auch zugleich die einfachere und leicht faßlichere ist. Das Streben nach Strenge zwingt uns eben zur Auffindung einfacherer Schlußweisen; auch bahnt es uns häufig den Weg zu Methoden, die entwicklungsfähiger sind als die alten Methoden von geringerer Strenge. […] Das schlagendste Beispiel aber für meine Behauptung ist die Variationsrechnung. Die Behandlung der ersten und der zweiten Variation bestimmter Integrale brachte zum Teil äußerst komplizierte Rechnungen mit sich, und die betreffenden Entwicklungen der alten Mathematiker entbehrten der erforderlichen Strenge. Weierstraß zeigte uns den Weg zu einer neuen und sicheren Begründung der Variationsrechnung. An dem Beispiel des einfachen Integrals und des Doppelintegrals werde ich zum Schluß meines Vortrages kurz andeuten, wie die Verfolgung dieses Weges zugleich eine überraschende Vereinfachung der Variationsrechnung mit sich bringt, indem zum Nachweis der notwendigen und hinreichenden Kriterien für das Eintreten eines Maximums oder Minimums die Berechnung der zweiten Variation und zum Teil sogar die mühsam an die erste Variation anknüpfenden Schlüsse völlig entbehrlich werden. DAVID HILBERT in dem Vortrag “Mathematische Probleme”, Paris 1900
5.1 Einleitung Die Darstellung für die totale Variation, die KARL WEIERSTRAß (1815-1897) in seiner Vorlesung über Variationsrechnung 1879 für eine in ein Feld eingebettete Extremale und die zugehörige Vergleichskurve (Vergleichsfunktion) entwickelt hatte, rückte den Feldbegriff in den Gesichtskreis dieser Disziplin, und das Augenmerk der Untersuchungen über hinreichende Bedingungen bei starken Extrema wandte sich mehr und mehr diesem zentralen Konzept zu. Hatte WEIERSTRAß, obwohl er schon einen allgemeinen Feldbegriff für Probleme mit einer gesuchten Funktion besaß, vor allem noch mit spe-
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KAPITEL 5
ziellen Feldern gearbeitet, die er Flächenstreifen nannte und die heute als ebene zentrale Felder bezeichnet würden, so stellte zwei Jahrzehnte später HERMANN AMANDUS SCHWARZ (1843-1921) in seiner Vorlesung über Variationsrechnung im WS 1899 einen allgemeinen Feldbegriff für Flächen auf. Wenig später leistete schließlich ADOLPH MAYER (1839-1908) einen weiteren entscheidenden Beitrag, indem er 1903 die Feldkonstruktion auf mehrere gesuchte Funktionen einer Variablen ausdehnte und dabei diejenigen Extremalenscharen in der Lösungsmannigfaltigkeit der Euler-Lagrangeschen Differentialgleichungen charakterisierte, für die der Weierstraßsche Darstellungssatz gültig war und die im Sinne von CONSTANTIN CARATHÉODORY (1873-1950) vollständige Figuren bilden. Solche ausgezeichneten Felder werden heute in der Regel Mayerfelder genannt. Da deren Konstruktion in der mehrdimensionalen Variationsrechnung im allgemeinen schwierig ist, arbeitet man dort mit geodätischen Feldern, die den Feldbegriff zwar abschwächen, für die aber dennoch die Weierstraßsche Darstellungsformel gilt (vgl. Abschnitt 5.9 und Kapitel 7). Ein wesentlicher Anteil an der eben skizzierten Entwicklung kommt auch der Einführung des Unabhängigkeitsintegrals durch DAVID HILBERT (18621943) im Jahre 1900 zu. Zum einen hob der elegante Beweis der Weierstraßschen Darstellungsformel durch HILBERT die Bedeutung des Feldbegriffs klar hervor, zum anderen aber führte HILBERT die Definition eines Feldes durch sein Unabhängigkeitsintegral auf die Wegunabhängigkeit eines Integrals zurück und somit auf gewisse Integrabilitätsbedingungen. MAYERS entscheidende Einsicht bei der Feldkonstruktion war, diese Integrabilitätsbedingungen in Verbindung mit der zum Problem gehörigen Hamilton-Jacobischen Differentialgleichung zu bringen, um dann aus diesem Gesichtswinkel heraus, die geeigneten Lösungen der Eulerschen Differentialgleichungen (die Mayersche Extremalenschar) auszuwählen. Diese Arbeiten klärten überdies den Zusammenhang der Euler-Lagrangeschen Differentialgleichungen und der HamiltonJacobischen partiellen Differentialgleichung auf, der schon von CARL GUSTAV JACOB JACOBI (1804-1851) bemerkt worden war. Dieses Kapitel behandelt die beschriebene Entwicklung, die insbesondere durch HILBERT und MAYER vorangetrieben wurde. Parallel hierzu entwickelte ADOLF KNESER (1862-1930) seine hinreichenden Bedingungen, deren zentrale Begriffe Transversalität und Brennpunkt in der Theorie der geodätischen Linien ihren Ursprung haben. Der Begriff des Feldes, der Name ist von KNESER, korrespondiert dabei zum allgemeinen geodätischen Koordinatensystem und verallgemeinert Untersuchungen von CARL FRIEDRICH GAUß (1777-1855) und JEAN GASTON DARBOUX (1842-1917). Die Weierstraßsche Richtung hingegen wurde vor allem durch dessen Schüler HERMANN AMANDUS SCHWARZ und OSKAR BOLZA (1857-1942) in Berlin und Chicago ausgebaut. BOLZA hat sich darüber hinaus um eine einheitliche Form der Variationsrechnung und um die Verbindungen zwischen den unterschiedlichen Gesichtspunkten bemüht,
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vor allem natürlich in seinen beiden Lehrbüchern (1904, 1909), aber auch in einzelnen Arbeiten wie Weierstrass’ theorem and Kneser’s theorem on transversals for the most general case of an extremum of a simple integral (1906).1 Der tatsächliche Aufbau geeigneter Felder, die sogenannte Feldkonstruktion, ist besonders durch BOLZA und seine Chicagoer Arbeitsgruppe vorangetrieben worden. Für HILBERT standen zunächst die Untersuchung der Wegunabhängigkeit seines invarianten Integrals im Vordergrund, und er hat sich daher erst 1905 mit der konkreten Ausführung einer Feldkonstruktion befaßt. Die Forderungen für Wegunabhängigkeit führten ihn auf Integrabilitätsbedingungen und diese wiederum auf eine partielle Differentialgleichung für die Gefällefunktion. Er bemerkte, daß diese (Beltramische) Differentialgleichung “in engster Beziehung” zur Eulerschen Differentialgleichung des Variationsproblems steht: “Die enge Beziehung zwischen der gewöhnlichen [Eulerschen] Differentialgleichung […] und der partiellen [Beltramischen] Differentialgleichung […] ist, wie mir scheint, für die Variationsrechnung von grundlegender Bedeutung.”2 Wir werden in diesem Kapitel vor allem auf HILBERTS Arbeiten zum Unabhängigkeitsintegral selbst eingehen, also auf die gerade im Zitat genannten Beziehungen, so daß HILBERTS Feldkonstruktion sowie die bei HILBERT angefertigten einschlägigen Dissertationen erst in dem folgenden Kapitel 6 über die Feldkonstruktion ausführlicher besprochen werden. 5.2 David Hilbert (1862-1943) DAVID HILBERT gehört zweifelsohne zu den bedeutendsten Mathematikern des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts, und er hat durch sein universelles Wissen und Können die Entwicklung der modernen Mathematik wesentlich mitbestimmt. Geboren wurde er 1862 in Königsberg, möglicherweise auch in Wehlau bei Königsberg. In Königsberg studierte er von 1880 bis 1884 an der Albertus-Universität Mathematik, die Königsberger Studienzeit wurde lediglich von einem Heidelberger Semester unterbrochen. 1883 verließ HEINRICH WEBER (1842-1913) die Albertus-Universität, und sein Nachfolger wurde FERDINAND (VON) LINDEMANN (1852-1939). Schließlich wurde auch ADOLF HURWITZ (1859-1919), nur drei Jahre älter als HILBERT, Professor in Königsberg, der bis zu seinem Weggang 1892 nach Zürich HILBERTS engster mathematischer Gesprächspartner und Freund war. Während des Studiums
1. Die Lehrbücher sind Lectures on the calculus of variations, Chicago, University Press, 1904, und Vorlesungen über Variationsrechnung, Leipzig, B.G. Teubner, 1909. Der Artikel erschien in den Transactions of the AMS 7 (1906) 459-488, und wird in 6.4.3 besprochen, zu Bolza siehe 6.4. 2. Göttinger Nachrichten, (1900), 253-297, Zitat S. 294.
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KAPITEL 5
machte HILBERT die Bekanntschaft mit den zwei Jahre jüngeren HERMANN MINKOWSKI (1864-1909), und mit ihm bestand eine lebenslange Freundschaft, die der frühe Tod MINKOWSKIS abrupt beendete. HILBERT, MINKOWSKI und HURWITZ fanden sich, um in und außerhalb der Universität mathematische Fragen und Probleme zu besprechen, und diese anregende Atmosphäre hat HILBERT maßgeblich geprägt. In seinen Notizheften notierte HILBERT hierüber: “Man kann mir nicht nachsagen, dass meine Gelehrsamkeit von der Studierlampe kommt, denn die Mehrzahl meiner mathematischen Ideen fand ich im Freien auf Spaziergängen vor den Thoren Königsbergs [1885-1895] und im Sonnenschein meines Göttinger Gartens [1895 bis ca. 1935].”3 1885 wurde HILBERT mit einer Arbeit über Invariantentheorie bei LINDEMANN promoviert (mündliche Prüfung am 11. Dezember 1884), und er besuchte danach für ein Semester FELIX KLEIN (1849-1925) in Leipzig. Dieser riet ihm, einen Paris-Aufenthalt anzuschließen, was HILBERT tat. Bereits 1886 wurde HILBERT in Königsberg Privatdozent, und er folgte 1892 seinem Freund HURWITZ im Amte nach, 1893 wurde er schließlich Nachfolger LINDEMANNS, und 1895 holte ihn KLEIN nach Göttingen. 1900 hat er in Paris seinen legendären Vortrag “Mathematische Probleme” gehalten; wenige Wochen zuvor hatte er mit dem Geometer CARL FRIEDRICH GEISER (1843-1934) und dem vielseitigen Mathematiker CARL FERDINAND LINDEMANN den Steiner-Preis der Preußischen Akademie der Wissenschaften erhalten. Der 38jährige HILBERT war ein renommierter Mathematiker. An der Entwicklung Göttingens zu einem führenden mathematischen Zentrum der Welt waren neben FELIX KLEIN vor allem HILBERT und später dessen Schüler wie HERMANN WEYL (1885-1955) oder RICHARD COURANT (18881972) beteiligt. Trotz mehrerer Rufe an andere Universitäten blieb HILBERT in Göttingen, wo er 1930 emeritiert wurde. 1925 war er an perniziöser Anämie erkrankt, und er gehörte zu den ersten, die mittels neuer Methoden von dieser Krankheit geheilt werden konnten. HILBERT wird oft aus methodischer Sicht als Formalist wahrgenommen, aber dabei übersieht man die diametrale Seite seines formal-axiomatischen Denkens: die Probleme. Die Axiomatisierung einer Wissenschaft, in die bei HILBERT jede entwickelte Wissenschaft mündet, stellt zugleich deren theoretischen Abschluß dar, der allerdings beständig durch neue Probleme und Fragen wieder aufgebrochen werden kann. Dieses Wechselspiel zwischen dem “Zauberstab der Theorie”, der Axiomatik, und dem “Lebensblut der Mathematik”, den Problemen, bestimmte HILBERTS Wissenschaftsauffassung, in der die Einheit der Wissenschaften und insbesondere die Einheit der Mathematik einen zentralen Platz inne hatte. Als exemplarisch für die Axiomatik,
3. Mathematische Notizhefte, Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung, Cod. Ms. D. Hilbert 600:3, S. 93.
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die für HILBERT kein Ende in sich war, seien seine Grundlagen der Geometrie und für die Probleme seine Vorträge auf den Internationalen Mathematikerkongressen in Paris 1900 und Bologna 1928 genannt. Wir zitieren aus seinen Notizheften hierzu: “Kriterium für Wissenschaftlichkeit (Wahrheit) ist die Axiomatisierbarkeit. Axiomatik ist der Rhythmus, der die Methode zur Musik macht – ist der Zauberstab, der alle Einzelbestrebungen auf ein gemeinsames Ziel richtet.”4 Die Variationsrechnung, was beständig von ihren führenden Vertretern hervorgehoben wurde und wird, bedarf wie kaum ein anderes mathematisches Gebiet der Probleme und Beispiele. Um solche (klassischen) Beispiele (wie das Brachistochronenproblem, das Problem der kürzesten Linie auf Flächen, das Dirichletsche Problem u.a.m.) rankten sich im Laufe der Zeit jene Theorien, die die Lehren der Variationsrechnung ausmachen. Andererseits ist die Variationsrechnung auch eine Disziplin, die durch ihre Prinzipien viele mathematische und physikalische Theorien unter einheitliche strukturelle Gesichtspunkte bringen kann und somit deren theoretischer Grundlegung dient (Prinzipienmechanik, Hilberts Axiomatisierung der Relativitätstheorie, usw.). Insofern entsprach das mathematische Denken in der Variationsrechnung HILBERTS Auffassungen von vornherein sehr gut. Obwohl er in der Variationsrechnung selbst bedeutende Resultate erzielte, liegen seine tiefsten mathematischen Erkenntnisse nicht auf diesem Gebiet, sondern in der algebraischen Zahlentheorie (Zahlbericht von 1897), den Grundlagen der Geometrie (1899), den Integralgleichungen mit den Grundzügen einer allgemeinen Theorie der linearen Integralgleichungen (1912) oder in der Grundlegung der Mathematik (Beweistheorie ab 1920). Zwei Phasen zeichnen sich in HILBERTS Beschäftigung mit der Variationsrechnung ab: die ersten Jahre des 20. Jahrhunderts waren der Forschung in der Variationsrechnung selbst gewidmet (Unabhängigkeitsintegral), während die 20er Jahre dem Einsatz der Variationsrechnung in der modernen Physik galten. Charakteristisch ist HILBERTS Erkenntnisoptimismus, der ihn – ausgehend von einer prinzipiellen Übereinstimmung von Denken und Sein – an die Lösbarkeit aller sachgemäß gestellten Probleme glauben ließ. “Vielleicht stellt es sich auch heraus: es hat keinen Sinn zu sagen, es gäbe unlösbare Probleme” oder “Beweis aller Beweise: dass man den Beweis immer muss finden können”, schrieb er in seine Notizhefte, seinen Hörern im Pariser Vortrag “Mathematische Probleme” rief er zu: “Da ist das Problem, suche die Lösung. Du kannst sie durch reines Denken finden; denn in der Mathematik gibt es kein Ignorabimus”, und in Vorlesungen unterstrich er diese Überzeugung des “Noscemus” durch überzeugende Bilder der Art, daß man sich in der
4. aaO., 54 (vermutlich kurz nach 1902).
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KAPITEL 5
mathematischen Forschung nicht durch zu hohe Kosten der Experimente oder zu kurze Leitern herausreden könne.5 1943 ist DAVID HILBERT in Göttingen gestorben. 5.3 Die Variationsrechnung in Hilberts Werk 5.3.1 Zur Periodisierung von Hilberts Werk In seinem Nachruf auf DAVID HILBERT bemerkte HERMANN WEYL, daß aufgrund der zeitlich ziemlich scharf gegeneinander abgegrenzten Arbeitsgebiete HILBERTS sich eine Periodisierung gewissermaßen von selbst ergibt. WEYL unterschied bei einer Durchsicht der Hilbertschen Arbeiten fünf Hauptperioden:6 1) Invariantentheorie 2) Algebraische Zahlkörper 3) Grundlagen Geometrie allgemeine Mathematik 4) Integralgleichungen 5) Physik.
1885-1893 1893-1898 1898-1902 1922-1930 1902-1912 1910-1922
Die Arbeiten zur Variationsrechnung subsumierte WEYL dabei unter die Integralgleichungen.7 Eine solche Aufteilung ist vor allem ein methodisches Hilfsmittel, um den vorliegenden Stoff zu ordnen. Im Hinblick auf die Publikationsdaten drängt
5. aaO., 98, 96; “Mathematische Probleme”, Die Hilbertschen Probleme, Ostwalds Klassiker, Leipzig, Geest & Portig, 1983, 34; Vorlesung Wissen und mathematisches Denken, WS 1922. Ausarbeitung von W. Ackermann, Mathematisches Institut Göttingen. Reprint des Instituts 1988, 24. 6. “David Hilbert and his mathematical work”, Bulletin of AMS, 5 (1944), 612-654, 617. 7. In der ersten Vorlesung über Integralgleichungen Einführung in die Theorie der Integralgleichungen (SS 1905) hatte sich Hilbert ähnlich geäußert: “Die Integralgleichungen sind von außerordentlicher Bedeutung für die Mathematik; ihre Theorie erscheint mir als das einfachste transcendente Problem. […] Die Anwendungen der Theorie sind äußerst mannigfaltig, sie beziehen sich auf […] die Variationsrechnung”. Mitschrift von Hellinger. Staatsbibliothek Berlin, Nachlaß Born 1814, S. 3. Am Ende der Periode der Integralgleichungen nennt Hilbert “die Variationsrechnung die Differentialrechnung der Funktionen”, Mitschrift Gewöhnliche Differentialgleichungen (SS 1912), Mathematisches Institut der Universität Göttingen, S. 138. In der Vorlesung Mechanik und neue Gravitationstheorie (SS 1920) weist die im Mathematisches Institut der Universität Göttingen aufbewahrte Mitschrift von Kratzer auf der leeren Seite vor dem Text – gewissermaßen als ein “Motto” – Hilberts eigenhändige Notiz auf: daß die Variationsrechnung für die höhere Analysis dasselbe sei wie das ABC für das Lesen und Schreiben und das kleine 1x1 für das Rechnen.
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sich bei HILBERT in der Tat eine solche zeitlich ziemlich gegeneinander abgesetzt Einteilung auf. Allerdings fallen die thematischen Überlappungen weitaus größer aus, wenn man anhand von unpublizierten Quellen wie Briefen, Vorlesungskonzepten oder Vorlesungsausarbeitungen die von HILBERT behandelten Gebiete zeitlich zu erfassen sucht. Beispielsweise legte HILBERT 1886, also am Beginn seiner invariantentheoretischen Periode A. MAYER brieflich seine Behandlungsmethode des Lagrangeschen Problems in der Variationsrechnung zur Prüfung vor, und daß er dabei einen in der Variationsrechnung besonders ausgewiesenen Kollegen wie MAYER wählte, zeigt überdies, daß HILBERT diese Frage, die damals nicht Bestandteil seiner zentralen Forschung war, nicht nur “beiläufig” klären wollte.8 WEYLS Einteilung ist jedoch für die Variationsrechnung aus anderen Gründen nicht günstig. Zwar liefert HILBERTS übergeordneter Gesichtspunkt, Randwertprobleme partieller Differentialgleichungen in einheitlicher Form zu behandeln, einen inhaltlichen Bezug der Variationsrechnung zu den Integralgleichungen und erklärt auch die spätere zeitweilige Verlagerung seiner Hauptinteressen auf die Theorie der Integralgleichungen, aber zwei bemerkenswerte Sachverhalte bleiben bei WEYLS Einteilung für unsere Sicht unbeachtet. Zum einen setzten wichtige Untersuchungen HILBERTS zur Variationsrechnung bereits vor 1902 ein, nämlich sowohl mit den Arbeiten zu den direkten Methoden der Variationsrechnung (“audacious direct assault”9) bei der Lösung des Dirichletschen Problems10, die HILBERT als Wiederauferstehung des “hingesunkenen Dirichletschen Prinzips” (CARL NEUMANN (1832-1925), 1865) betrachtete, als auch mit den Dissertationen von: E.R. HEDRICK CH.A. NOBLE G. HAMEL O. ZOLL
1901 1901 1901 1901
N. GERNET J. MÜLLER G. LÜTKEMEYER O.D. KELLOGG
1902 1902 1902 1902
8. Briefe von Mayer 5.1 und 7.1 1886. Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek, Handschriftenabteilung. Cod. Ms. David Hilbert 246. Hilbert war vermutlich durch Mayers Arbeit Begründung der Lagrange’schen Multiplikatorenmethode in den Mathematischen Annalen, 26 (1886) 74-82, zur Korrespondenz angeregt worden. Nach Hilberts Artikel Zur Variationsrechnung in den Göttinger Nachrichten (1905), der u.a. auch die Lagrangesche Multiplikatorenregel behandelte, verwies Mayer in Über den Hilbertschen Unabhängigkeitssatz (Leipziger Nachrichten 1905, S. 67) ausdrücklich auf seine eigenen Untersuchungen von 1895 (Die Lagrange’sche Multiplicatorenmethode und das allgemeinste Problem der Variationsrechnung bei einer unabhängigen Variablen, Leipziger Berichte, (1895), 129-144), was Hilbert ebenfalls getan hatte (S. 159), aber aus Mayers Sicht offenbar nicht deutlich genug. 9. H. Weyl, “David Hilbert and his mathematical work”, Bulletin of AMS, 5 (1944), 612-654, 651. 10. “Über das Dirichletsche Prinzip”, Jahresbericht der DMV, 8 (1900), 184-188.
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Sowohl HILBERTS Vortrag auf dem Internationalen Mathematikerkongress in Paris 1900 als auch sein Referat auf der Jahrestagung der DMV 1901 in Hamburg behandelten bereits ausführlich die Variationsrechnung.11 Zum anderen wird die Rolle der Variationsrechnung auf einen zu engen Zeitraum eingeschränkt, denn aufgrund noch zu erörternder Auffassungen war die Variationsrechnung für HILBERT sowohl in der physikalisch ausgerichteten Periode als auch in der Zeit der Integralgleichungen nicht nur ein fester, sondern auch ein gewichtiger Bestandteil seiner Arbeit.12 Abschnitte über Variationsrechnung finden wir fast immer in dem rund einen Dutzend Vorlesungen über partielle Differentialgleichungen und in dem jeweils halben Dutzend über gewöhnliche Differentialgleichungen oder in denen über Mechanik sowie moderne Physik (Relativitätstheorie, Atomtheorie und Quantenmechanik), die HILBERT seit seiner ersten Vorlesung über Variationsrechnung im SS 1899 bis zum Jahre 1926 gehalten hat. Für die mathematische Darstellung der Relativitätstheorie und Quantenmechanik betrachtete HILBERT die Variationsrechnung wegen des Hamilton-Jacobischen Formalismus geradezu als die tragende Säule. Das 23. Problem des Pariser Vortrags, das das am ausführlichsten formulierte und zudem das letzte Problem in HILBERTS beeindruckender Zusammenstellung war (aber aus Zeitgründen nicht zu den lediglich zehn vorgetragenen Problemen gehörte, sondern erst durch die gedruckte Form des Vortrags bekannt wurde), ist von ihm mit den Worten eingeleitet worden: “Dennoch möchte ich mit einem allgemeinen Problem schließen, nämlich mit dem Hinweis auf eine Disziplin, […] die trotz der erheblichen Förderung, die sie in neuerer Zeit durch Weierstraß erfahren hat, dennoch nicht die allgemeine Wertschätzung genießt, die ihr meiner Meinung nach zukommt – ich meine die Variationsrechnung.”13 In Vorlesungen, wie etwa in der über Flächentheorie im SS 1900, erklärte HILBERT immer wieder, daß er die Variationsrechnung als eine natürliche Erweiterung der Differentialrechnung begreife, was sich durchaus als Vorahnung einer Funktionalanalysis ansehen läßt. Hierzu ein Zitat aus der Mechanikvorlesung von 1905:
11. Compte Rendue du 2ième congrès international mathématiciens, 6.-12.8.1900, Paris, Gauthier-Villars, 1902, section V, 8. août, première séance, & 58-114; Göttinger Nachrichten, 1900, 253-297; Bericht über die Hamburger Tagung in Jahresbericht der DMV, 11 (1902), 4-8, Hilberts Entwurf für diesen Vortrag “Über einige neuere Dissertationen”, Cod. Ms. D. Hilbert 587, 8 Blatt, Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung. Siehe auch R. Thiele, “Hilbert und Hamburg”, Mitteilungen der Mathematischen Gesellschaft in Hamburg, 22 (2003), 99-126. 12. Vgl. z.B. R. Thiele, “Über die Variationsrechnung in Hilberts Werken zur Analysis”, NTM, 5 (1997), 23-42. 13. Göttinger Nachrichten, (1900), 253-297, Zitat S. 293.
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“Der Unterschied der Variationsrechnung gegenüber diesen [algebraischen] Betrachtungen, der zugleich ihre Schwierigkeit ausmacht, besteht darin, daß wir statt Beziehungen zwischen Größen Beziehungen zwischen Funktionen studieren, d.h. die Funktionen, die Algebra und Funktionentheorie durch ihre Betrachtungen über Größen liefern, ihrerseits als Individuen zu Grunde legen. Der Ausgangspunkt ist eine Minimalforderung für eine Funktion von Funktionen [Funktional], im einfachsten Falle ein bestimmtes Integral, genau wie die Diff.Rechng. [Differentialrechnung] historisch von Minimalforderungen für Funktionen von Größen ihren Ausgang genommen hat. Wie aber hier die Entwicklung zur Betrachtung allgemeiner Beziehungen zwischen Größen führte, und die Minimalprobleme nur ein spezielles Kapitel der ganzen Theorie wurden, so muß auch die Variationsrechnung schließlich zur Theorie allgemeiner Beziehungen zwischen Funktionen werden, wenn sie auch die Minimalprobleme noch lange im Auge behalten müssen wird.”14 Vor der Beschäftigung mit Integralgleichungen betrachtete HILBERT die Variationsrechnung als eine führende Disziplin der Mathematik, die verschiedene mathematische und auch physikalischen Gebiete wie Theorie der Differentialgleichungen, Differentialgeometrie, numerische Analysis sowie Mechanik, geometrische Optik und mathematische Physik vereinheitlichen könnte. Genauer sah er sie als ein wirkungsvolles Werkzeug an, das anstelle der Myriaden von Lösungsverfahren bei partiellen Differentialgleichungen eine einheitliche Lösungstechnik schaffen könne, die zu der von HILBERT außerordentlich geschätzten Einheit der Mathematik beitrüge. Diese Klammerfunktion der Variationsrechnung formulierte HILBERT prägnant in seiner Arbeit Die Grundlagen der Physik aus dem Jahre 1915, indem er dabei seine großen Leidenschaften Axiomatik und naturwissenschaftliche Erkenntnis zu verbinden wußte: “… wie denn überhaupt damit [der Zurückführung aller physikalischen Konstanten auf mathematische] die Möglichkeit naherückt, daß aus der Physik im Prinzip eine Wissenschaft von der Art der Geometrie werde: gewiß der herrlichste Ruhm der axiomatischen Methode, die hier[,] wie wir sehen[,] die mächtigen Instrumente der Analysis, nämlich Variationsrechnung und Invariantentheorie, in ihre Dienste nimmt.”15
14. Mechanik, WS 1905. Vorlesungsmitschrift, ausgearbeitet von E. Hellinger. Mathematisches Institut der Universität Göttingen, S. 195. Anstelle von Funktional sprach Hilbert ab etwa 1906 (wie auch noch Courant in den Methoden der mathematischen Physik, Bd. 1, Berlin, Springer, 1924, 146) von Funktionenfunktion, aber in der Vorlesung über die Theorie der partiellen Differentialgleichungen (SS 1901) benutzte er den Ausdruck Fredholmsche Funktionalgleichung. Mitschrift im Mittag-Leffler Institut, Djursholm, S. 273. Hilberts enger Freund A. Hurwitz hatte bereits in seinem Vortrag “Über die Entwicklung der allgemeinen Theorie der analytischen Funktionen in neuerer Zeit” auf dem Zürcher Mathematikerkongreß 1897 die Wendung “Funktionen von Funktionen” gebraucht. 15. “1. Mitteilung”, Göttinger Nachrichten, (1915), 407.
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Später hat er in der Vorlesung Die Grundlagen der Physik im WS 1916 über Relativitätstheorie geäußert, daß die Physiker nun Mathematiker werden müßten, um ihren Problemen gerecht werden zu können, wie zuvor durch die Vertiefung der logischen Fundamente der Mathematik die Mathematiker gezwungen waren, Philosophen zu werden, um nicht aufzuhören, Mathematiker zu sein.16 Wir werden im Abschnitt 5.8.4.1 auf HILBERTS philosophische Anschauungen eingehen und erwähnen hier nur kurz seinen Glauben an eine prästabilierte Harmonie. Er selbst trug in seine Mathematischen Notizhefte hierzu ein: “Praestabilierte Harmonie zwischen Denken und Sein (Einfachheit der Theorie und der Experimente und Übereinstimmung der Wirklichkeit mit schönen und einfachen Theorien) hat doch einen tiefen Grund. Diesen finden! Philosophisches Problem!”17 Diese philosophische Überzeugung fand in jenen Jahren in Göttingen ihre Bestätigung darin, daß hier die Mathematik eine Vorreiterrolle in dem Sinne spielte, daß sie der entstehenden Wellenmechanik und dann der Quantenphysik vorgefertigte mathematische Theorien liefern konnte, was wissenschaftsgeschichtlich ziemlich einmalig ist, und daß sie durch diesen in Göttingen erzielten Vorlauf ganz entschieden zu der beeindruckenden und rasanten Entwicklung der modernen Physik beitrug. Zumindest bestätigt das naturwissenschaftliche Geschehen jener Jahre am Beginn des neuen Jahrhunderts nachdrücklich HILBERTS Vertrauen in die Mathematik als Leitstern der Erkenntnis, daß nämlich erst in der Mathematik das menschliche Denken seinen festen Ausdruck gewinnen würde.18 HILBERTS mathematisches als auch philosophisches Denken war durch die Descartessche Maxime der Klarheit und Einfachheit bestimmt. Die Suche nach dem einfachsten Beweis, sein gestrichenes 24. Problem beim Pariser Vortrag,19 gibt einen guten Einblick in seine mathematisch geprägte Philosophie. Neben einigen Vorlesungen in den 20er Jahren, die naturphilosophische Fragen behandelten, sind seine drei Notizhefte, die seine einschlägigen Einfälle verzeichnen, eine äußerst reichhaltige, aber bislang kaum genutzte Quelle.20 Aus den Notizheften geht hervor, daß HILBERT beabsichtige, eine Philosophie der Naturwissenschaft zu schreiben, wozu es aber nicht mehr gekommen ist.21 16. Ausarbeitung von R. Bär. Staatsbibliothek Berlin, Nl. Hückel 2.11, S. 2. 17. Mathematische Notizhefte, Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung, Cod. Ms. D. Hilbert 600:3, undatierte Notiz, vermutlich um 1910, S. 96. 18. aaO., 95. 19. R. Thiele, “Hilbert’s 24th problem”, American Mathematical Monthly, 110 (2003), 1-24. 20. Mathematische Notizhefte. Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung, Cod. Ms. D. Hilbert 600:1-3. 3 Hefte von Hilberts Hand, teilweise auch Einträge durch seine Frau. 21. Titel meines künftigen Buches: “Philosophie auf naturwissenschaftlicher Grundlage”. Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung, Cod. Ms. D. Hilbert 600:3, eingelegte Seiten.
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Einige entsprechende Vorlesungen22 dienten zweifelsohne der Vorbereitung dieses Vorhabens, und auch in den Notizheften wurden von ihm hierzu einschlägige Gedanken gesammelt.
Abb. 5.1. Übersicht über die Anwendungen extremalen Denkens aus der Zusammenfassung der Vorlesung Variationsrechnung 1904 (Ausarbeitung Hellinger), von links nach rechts: Variationsrechnung, Geometrie, Mechanik, Optik.
Wir werden später sehen (Abschnitt 5.8.4), wie HILBERT in den 20er Jahren vor diesem physikalischem Hintergrund die Ideen der Variationsrechnung wieder aufgriffen und entwickelt sowie in die neue Physik eingebracht hat. Die faszinierende alte Dualität von Teilchen und Welle23 war abermals Richtschnur der Entwicklung für Physiker und Mathematiker geworden. Auf die Ideen von LOUIS DE BROGLIE (1892-1987) und ERWIN SCHRÖDINGER (1887-1961) waren wir schon zu sprechen gekommen (Abschnitt 4.1), und wir wollen nochmals an die Bemerkung von SAUNDERS MAC LANE (1909-2005) erinnern, daß er solche Dinge nicht in Chicago bei GILBERT AMES BLISS (1876-1951), sondern erst 1902-1903 in Göttingen erfahren habe.24 Mit diesem Ausblick wollen wir es bewenden lassen und wieder zur Variationsrechnung selbst zurückkehren.
22. Vorlesungen über Naturphilosophie: Probleme und Prinzipienfragen der Mathematik, WS 1914; Einleitung in die Prinzipien der Physik, SS 1916; Prinzipien der Mathematik, WS 1917; Über Raum und Zeit, WS 1918; Natur und mathematisches Erkennen, Herbst 1919; Formale Logik und ihr erkenntnistheoretischer Wert, WS 1919; Höhere Mechanik und Gravitationstheorie, SS 1920; Probleme der mathematischen Logik, SS 1920; Einsteinsche Gravitationstheorie, SS 1921; Grundgedanken der Relativitätstheorie, SS 1921; Grundlegung der Mathematik, WS 1921; Wissen und mathematisches Denken, WS 1922; Grundlagen der Arithmetik, WS 1922; Mathematische Grundlagen der Quantentheorie, WS 1922; Unsere Vorstellungen von Gravitation und Elektrizität, WS 1923; Über das Unendliche, WS 1924. 23. O. Wiener, “Der Wettstreit der Newtonschen und der Huygensschen Gedanken in der Optik”, Leipziger Berichte, 71 (1919), 240-254. 24. “Mathematics at the University of Chicago: A Brief History”, A century of mathematics in America, part 2 (ed. P. Duren), Providence, AMS 1989, 124-154, Zitat (unser Motto für Kapitel 4), 152.
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KAPITEL 5
HILBERT hat zwar nur dreimal über Variationsrechnung gelesen (1899, 1904 und 1915 jeweils einsemestrig), aber bis 1924 gab es alle zwei bis drei Semester Vorlesungen, in denen die Variationsrechnung ein fester und wesentlicher Bestandteil gewesen ist; solche Vorlesungen waren die über gewöhnliche und partielle Differentialgleichungen oder die über Mechanik (siehe die Aufstellung in 5.8). Ein Aufenthalt des schwedischen Mathematikers ERIK HOLMGREN (1872-1943) im Winter 1900/01 führte zur Bekanntschaft HILBERTS mit den Arbeiten von IVAR FREDHOLM (1866-1927) über Integralgleichungen.25 HILBERT bemerkte sofort, daß die Integralgleichungen für seine Zwecke ein besseres Hilfsmittel als es die Differentialgleichungen der Variationsprobleme waren, und er änderte unmittelbar sein Arbeitsgebiet. 5.3.2 Der Begriff des Unabhängigkeitsintegrals Für dieses Kapitel ist das Hilbertsche Unabhängigkeitsintegral ein Kardinalbegriff. Daher gehen wir aus mathematischer Sicht kurz auf dieses Konzept ein. In welcher Weise bestimmt HILBERTS Unabhängigkeitsintegral die Feldtheorie, und wie ist es in seine Darstellung der Variationsrechnung eingegangen? Wie hat er darüber hinaus seinen Unabhängigkeitssatz außerhalb der Variationsrechnung benutzt? Wir wenden uns zunächst den ersten Fragen zu und werden die letzte im Zusammenhang mit dem Hilbertschen Forschungsprogramm behandeln. Um HILBERTS Zugang zur Variationsrechnung via Unabhängigkeitsintegral kurz zu charakterisieren, bemerken wir vereinfachend, daß die Bereitstellung hinreichender Kriterien für Extrema von Variationsproblemen durch die Feldtheorie auf zwei Zugänge zurückgeführt werden kann: Die geometrische (genauer differentialgeometrische) Sicht besteht darin, sich zu einem Variationsproblem ein geeignetes “Koordinatensystem” (ein Extremalenfeld mit transversaler Schar) zu verschaffen, während in analytische Sicht in der Untersuchung der korrespondierenden Differentialgleichungen des Feldes besteht. HILBERTS Zugang über den Unabhängigkeitssatz entspricht letztlich weder der “geometrischen” noch der “analytischen” Sicht und läßt sich schlagwortar-
25. Erik Albert Holmgren, Promotion 1898 in Upsala, seit 1907 dort Professor, ab 1899 Arbeiten zu Integralgleichungen. In den Sitzungsberichten der Göttinger Mathematischen Gesellschaft ist allerdings nur ein Vortrag Holmgrens am 11.12.1900 über eine Arbeit H. von Kochs aus der Zahlentheorie (Sur la distribution des nombres premiers) verzeichnet (Niedersächsische Staatsund Universitätsbibliothek, Handschriftenabteilung, Cod. Ms. Math.-Archiv 49:2); O. Blumenthal bemerkt jedoch in seiner Lebensbeschreibung Hilberts, daß Holmgren in Göttingen auch über Integralgleichungen vorgetragen habe (D. Hilbert, Gesammelte Abhandlungen, Bd. 3, Berlin, Springer, 1935, 410). Erik Ivar Fredholm, Promotion 1898 in Upsala, 1898 Dozent und 1906 Professor in Stockholm, seit 1899 Arbeiten zu Integralgleichungen. Hilbert hat offenbar Fredholms Vortrag auf dem Pariser Kongreß 1900 über “L’inversion des intégrales définies et son application aux problèmes de la Physique mathèmatique”, der am 7.8.1900 (einen Tag vor Hilberts eigenem Vortrag) gehalten wurde, nicht gehört.
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tig am besten durch “formale Sicht” beschreiben. Allerdings soll sich diese Charakterisierung nicht im Schatten der häufig pauschal gegebenen Etikettierung HILBERTS als Formalist bewegen. Zu letzterer hat er sich selbst klar so geäußert: “Durch die Clebsch-Gordansche Schule mit ihrem wüsten Formalismus und ihrer öden ixerei läuft die Mathematik – die erhabenste Wissenschaft – Gefahr [;] sie wird in den Augen aller denkenden Menschen miscreditirt und sinkt herab zu einer gedankenlosen Spielerei.* Was würde Gauss dazu sagen? Auch liegt es auf der Hand, dass durch ein so äusserliches Hilfsmittel, wie es die Symbolik ist, nichts erreicht werden kann. Man muß eben Ideen hineintragen. Aus Nichts wird Nichts.”26 Für HILBERT selbst stellte seine elegante Ableitung hinreichender Bedingungen “den (eigentlichen) Schlüssel zur Variationsrechnung” und das “ABC der Variationsrechnung”27 dar, und er hat immer wieder seine bündige Beweismethode für Extremalität als grundlegend für die Variationsrechnung hervorgehoben. In der Tat sind die Hilbertschen Überlegungen exemplarisch für seine Art, Probleme direkt und auf dem kürzesten Weg anzugehen,28 und sie lassen sich in wenigen Zeilen darlegen: Ist J(y) → extr
ein Variationsproblem auf einer Menge V zulässiger Vergleichsfunktionen und C0 : y = y0(x) eine Lösung desselben, so sucht HILBERT ein wegunabhängiges Integral I(y) mit den Eigenschaften (1) I(y) = I(y0)
für alle y ∈ V
(2) I(y0) = J(y0)
(Anpassung).
(Unabhängigkeit),
Mit einem solchen invarianten Integral I(y) erhält man sofort für die totale Variation ∆J die Weierstraßsche Darstellung:
26. Mathematische Notizhefte, Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung, Cod. Ms. D. Hilbert 600: 2, S. 65. Die zu dem Sternchen gehörige Fußnote lautet: “welche weder dem Staat nützt noch – wie etwa Zauberquadrate etc. zur Unterhaltung der Gesellschaft beiträgt – und zur Entwicklung des menschlichen Geistes nicht das mindeste beiträgt”. 27. So in der Vorlesung Flächentheorie (II), SS 1900, Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek, Handschriftenabteilung, Cod. Ms. D. Hilbert 557, S. 9 und 27, desgl. in der Vorlesung Variationsrechnung (1904), Mitschrift E. Hellinger, Mathematisches Institut der Universität Göttingen, S. 122. 28. Hierzu ein Zitat aus den Mathematischen Notizheften: “Immer das schärfste Mittel anwenden! philologisch-historische Sinn muss ausgerottet werden. Wenn wir 42cm-Kanonen haben, schiessen wir doch nicht mit Armbrust”. Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung, Cod. Ms. Hilbert 600: 3, auf den beigelegte Blättern.
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KAPITEL 5
(3) ∆J = J(y) – J(y0) = J(y) – I(y0) = J(y) – I(y) = ∫C
ε d x,
(ε Weierstraßsche Exzeßfunktion),
in der die untersuchte Extremale y = y0(x) selbst nicht mehr direkt erscheint, sondern durch ein Richtungsfeld p = p(x, y) vertreten wird. Diese Formel gab WEIERSTRAß in anderer Weise und mit weitläufigeren Rechnungen in seiner Vorlesung über Variationsrechnung 1879 an, insbesondere für ein spezielles Feld (einen Flächenstreifen in Weierstraßscher Terminologie). H.A. SCHWARZ hat dann in seiner Vorlesung im WS 1898 den Weierstraßschen Darstellungssatz auf allgemeine zweidimensionale Felder ausgedehnt.29 In der Feldtheorie wird nicht nur eine einzelne Extremale C0 : y = y0(x) betrachtet, deren Maximalität oder Minimalität nachgewiesen werden soll, sondern diese Extremale C0 wird in eine Schar Cε zum Problem gehöriger Extremalen eingebettet. In jedem Punkt P eines bestimmten Gebietes G, das von dieser Schar Cε schlicht überdeckt wird, bestimmt der Anstieg der durch P gehenden Extremalen genau eine Richtung. Die Richtungen in jeden Punkt von G legen damit in G ein Richtungsfeld p = p(x, y) fest, kurz gesagt ein Feld. Eine Extremalenschar definiert also ein zugehöriges Feld, aber ein gegebenes Richtungsfeld muß nicht notwendig eine Extremalenschar bestimmen. Das ist insbesondere für Probleme mit mehreren gesuchten Funktionen sowie für mehrdimensionale Variationsproblem der Fall. Feld und Extremalenschar sind im allgemeinen keine äquivalenten Begriffe. Wenn man nun im Integranden eines Integrals I(y) die Ableitung y'(x) durch das Richtungsfeld p = p(x, y) ersetzt, liegt es nahe, das Feld so zu wählen, daß die Unabhängigkeitsforderung (1) für I(y) erfüllt ist. Weiter läßt sich aber auch fragen, ob zu dem Feld Richtungen vorhanden sind, für die der Integrand von I(y) verschwindet. Ein Fortschreiten längs solcher Richtungen trägt nichts zum Integral I bei. Geometrisch gedeutet besitzt ein Feld dann nicht nur eine Extremalenschar, sondern noch eine weitere, die die erstere unter einem bestimmten Winkel schneidet, eine sogenannte transversale Schar. Ein solches Feld, das durch ein wegunabhängigen Integral I bestimmt ist und das neben einer Extremalenschar auch eine transversale Schar aufweist, wird Mayerfeld bzw. vollständige Figur genannt. Es hat folgende zwei Eigenschaften: a) auf Extremalen ist I = J (Anpassung), b) auf Transversalen ist I = 0.
29. Angabe von O. Bolza, Lectures on the calculus of variations, Chicago, University Press, 1904, 91. Genaueres siehe in den Abschnitten 3.5.2.7, 3.9.5 und 3.9.6. Bereits Weierstraß hatte aus dem Flächenstreifen (uneigentliches Feld) durch einen Kunstgriff ein allgemeines Feld gewonnen (im Anschluß an die Vorlesung Variationsrechnung 1879, siehe Abschnitt 3.5.2.7).
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Mit Hilfe der transversalen Kurven ermöglichen diese Felder (lokal) eine allgemeine Maßbestimmung im Sinne des Variationsproblems, denn für zwei in einem Feld verlaufende Extremalenstücke C1 und C2, deren Anfangs- und Endpunkte jeweils auf der gleichen Transversalen liegen, hat das Variationsintegral J(Ci), (i = 1, 2), den gleichen Wert. Der Sachverhalt trifft insbesondere für Extremalenstücke zu, die von einem gemeinsamen Punkt A ausgehen, für die sogenannten uneigentlichen oder zentralen Felder. Solche Extremalenscharen sind mithin automatisch Mayerfelder. 5.3.3 Einige Bemerkungen zur Geschichte der Variationsrechnung in Göttingen Wir nehmen jetzt das Problem wieder aus historischer Sicht auf. HILBERT, der im WS 1895 als Professor nach Göttingen gekommen war, begann mit Vorlesungen zur Variationsrechnung im SS 1899. Das Gebiet war jedoch in Göttingen ständig vertreten gewesen. EDUARD SCHMIDT30 hatte schon im WS 1824 eine Vorlesung über Analysis gehalten, die die Variationsrechnung einschloß.31 Im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts haben in Göttingen die Mathematiker MORITZ STERN (SS 1878, SS 1880), HERMANN AMANDUS SCHWARZ (WS 1881, WS 1882, SS 1883, SS 1884, WS 1887, SS 1888), HANS V. MANGOLDT (SS 1882, SS 1883), FELIX KLEIN (SS 1887), HEINRICH BURKHARD (WS 1893), HEINRICH WEBER32 (1894) und ARNOLD SOMMERFELD (1897) über Variationsrechnung gelesen bzw. Anwendungen der Variationsrechnung in der Mechanik behandelt oder Minimalflächen (H. A. SCHWARZ) untersucht.33 Aus den Sternschen Vorlesungen gingen etwa die
30. Johann Karl Eduard Schmidt (1803-1832), Promotion 1823 in Göttingen mit De curvarum origine, ab 1824 Privatdozent und ab 1831 Professor in Göttingen. 31. Vorlesungen über Integralrechnung, partielle Differentialrechnung und Variationsrechnung, Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung, Cod. Ms. Math.-Archiv 5, 492 Seiten, Variationsrechnung S. 429-492. 32. Moritz Stern (1807-1894), Professor in Göttingen bis 1884; Hermann Amandus Schwarz (1843-1921), Studium in Berlin, Promotion 1864, 1875-1892 Professor in Göttingen, dann bis 1917 in Berlin; Hans Carl Friedrich von Mangoldt (1854-1925), Studium in Göttingen und Berlin, Promotion bei Weierstraß 1878, Staatsexamen in Göttingen 1878, dann Lehrer, Habilitation 1880 bei Lindemann in Freiburg, umhabilitiert nach Göttingen 1882, Professor TH Hannover 1884, TH Aachen 1886 und ab 1904 Professor in Danzig; Felix Klein (1849-1925), Promotion 1868 in Bonn, Habilitation 1871 Göttingen, von 18861913 Professor in Göttingen; Heinrich Friedrich Burkhardt (1861-1914), Studium in München, Berlin und Göttingen (bei Weierstraß und Schwarz), Promotion 1886 in München, 1887 Assistent in Göttingen, Habilitation 1889 in Göttingen, später Professor in Zürich und München; Heinrich Weber (1842-1913), Studium in Heidelberg und Leipzig, Promotion 1863 und Habilitation 1866 in Heidelberg, seit 1869 Professor, dabei von 1892-1895 in Göttingen. 33. Angaben nach dem Bericht des Mathematischen Vereins ab WS 1878 (18. Semester des Vereins), verschiedene Druckorte: Göttingen, Heiligenstadt. Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen.
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Dissertationen von ADOLF GREVE (1857-?) 1875 und MAGNUS EHRHORN (1856-?) 1880 hervor, die das isoperimetrische Problem (unzulänglich) behandelten. Die Sitzungsberichte der Mathematischen Gesellschaft34 erlauben es, die Bearbeitung des Gebietes in Göttingen noch genauer zu fassen. Im SS 1897 referierte ARNOLD SOMMERFELD35 zweimal über Variationsrechnung (4. und 18. Sitzung) und gemeinsam mit FELIX KLEIN gab er eine Literaturübersicht über die geodätischen Linien. Das WS 1897 brachte einen Vortrag von ARTHUR SCHOENFLIES36 über Differentialgeometrie, insbesondere über geodätische Linien (10. Sitzung). Zuvor hatte ERNST ZERMELO37 über Prinzipien der Mechanik (2. Sitzung) und HEINRICH LIEBMANN38 über das Eikonal von HEINRICH BRUNS (1848-1919) gesprochen; ZERMELO erstattete schließlich einen Bericht über ADOLF KNESERS Artikel Zur Variationsrechnung (11. Sitzung). Im folgenden WS 1898 referierte ADOLFO VITERBI39 über VITO VOLTERRAS Linienfunktionen,40 und HILBERT sowie KLEIN sprachen über mechanische Prinzipien. Das Jahr 1900 wies außerordentlich wichtige Aktivitäten auf: im Seminar referierte ZERMELO Arbeiten von A. MAYER über mechanische Systeme (11. Sitzung) und besprach KNESERS gerade erschienenes Lehrbuch der Variationsrechnung (16. Sitzung), WILLIAM OSGOOD41 sprach über seine Arbeit zur Lösung von Randwertproblemen (21. Sitzung), und auch HILBERT berichtete über Variationsrechnung, über das Dirichletsche Prinzip (23. Sitzung, 21. 5. 1900), über seine neueren Untersuchungen in der Flächentheorie (26. 6. 1900) und schließlich über “seinen auf dem gelegentlich der Pariser Weltausstellung
34. Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung, Cod. Ms. Math. Archiv 49: 2, SS 1896-WS 1900/05. 35. Arnold Johannes Wilhelm Sommerfeld (1868-1951), Promotion 1891 in Königsberg über Willkürliche Funktionen in der Mathematik, Assistent bei F. Klein in Göttingen, seit 1895 Privatdozent in Göttingen und seit WS 1897 Professor für niedere und höhere Mathematik in Clausthal, ab 1900 in Aachen, seit 1906 München. 36. Arthur Moritz Schoenflies (1853-1928), Promotion 1877 in Berlin, Habilitation 1884 in Göttingen, 1892 Professur in Göttingen, 1899 Königsberg, seit 1914 Frankfurt. 37. Ernst Friedrich Zermelo (1871-1953), Promotion 1894 Untersuchungen zur Variationsrechnung in Berlin, Habilitation 1899 in Göttingen, seit 1905 Titularprofessor in Göttingen, ab 1910 Professor in Zürich, Krankheit, ab 1926 in Freiburg. 38. Karl Otto Heinrich Liebmann (1874-1939), Promotion 1895 in Jena, 1897 Assistent an der mathematischen Modellsammlung Göttingen, 1899 Privatdozent und ab 1905 Professor in Leipzig. Ernst Heinrich Bruns (1848-1919), Promotion 1871 in Berlin, dann Sternwarten Pulkovo, Dorpat, 1876 Professor in Berlin, 1882 in Leipzig und dort Direktor der Sternwarte. 39. Adolfo Viterbi (1873-1917), Studium in Bologna 1894-1898, seit 1904 Professor in Pavia, im 1. Weltkrieg gefallen. 40. “Sur une généralisation de la théorie des fonctions d’une variable imaginaire”, Acta mathematica, 12 (1889), weitere Arbeiten in: Atti della Academia Nazionale dei Lincei (Rome), 1887, Rendiconti del Circolo Matematico di Palermo, 1889. 41. William Fogg Osgood (1864-1943), Studium u.a. 1887-1889 in Göttingen, Promotion 1890 in Erlangen, danach Harvard Universität Cambridge, USA.
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stattfindenden Congress zu haltenden Vortrag über ‘Mathematische Probleme’” (31. und letzte Sitzung am 31.7.1900; der Vortrag in Paris war bereits in der übernächsten Woche am 8.8.1900). HILBERT hat es in dieser Atmosphäre gewiß nicht an Anregungen für seine bereits auf die Königsberger Zeit zurückgehende Beschäftigung mit der Variationsrechnung gemangelt, als er sich entschloß, für das SS 1899 eine Vorlesung zur Variationsrechnung anzukündigen. Andererseits prägte auch HILBERT die Göttinger Verhältnisse. In einem Brief von OSGOOD aus Cambridge (Mass.) an HILBERT vom 20. Oktober 1898, also gerade drei Jahre nach HILBERTS Ankunft wird der Student JAMES KELSEY WHITTEMORE (1878-1964) aus Paris avisiert, “der kommendes Semester aus der Urquelle der mathematischen Wissenschaften schöpfen und nach Göttingen übersiedeln [will],”42 und der tatsächlich eintraf. Drei Jahrzehnte später wiederholte vor einem völlig veränderten Hintergrund RICHARD COURANT43 aus dem amerikanischen Exil in New Rochelle, N.Y., die Wertschätzung seines Lehrers HILBERT: “Wenn man nach Princeton kommt oder sich hier bei einem meeting umsieht, dann erkennt man erst so richtig, wie viel die amerikanische Mathematik dem einen Namen Hilbert zu verdanken hat; oder besser, man sieht an dem, was hier fehlt, wieviel der Hilbertsche Geist für die Deutsche Mathematik bedeutet hat. […] Sicherlich ist Amerika auf dem besten Wege, das Erbe dieser großen Deutschen Tradition anzutreten.”44 5.3.4 Hilberts Konzept Wenden wir uns der ersten Vorlesung über Variationsrechnung von HILBERT im SS 1899 zu. HILBERT hatte sie übrigens bereits in der Mechanikvorlesung im WS 1898 seinen Hörern so angekündigt: “Ich beabsichtige jedoch im Sommer die Vorlesung unter dem Titel Variationsrechnung fortzusetzen.”45 In einem Abschnitt dieser Mechanikvorlesung über Elemente der Variationsrechnung (§ 16) war HILBERT auf die zahlreichen Anwendungen der Variationsrechnung eingegangen hatte und hatte auch die häufig geäußerte Meinung angeführt: “Die ganze Mechanik sei nur ein Spezialfall der Variationsrechnung.”46 Parallel zur Mechanikvorlesung liefen seine Untersuchungen zur 42. Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung, Cod. Ms. D. Hilbert 292. 43. Richard Courant, Studium 1905-1909 in Breslau, Zürich und Göttingen, Promotion 1910 bei Hilbert, 1912 Privatdozent in Göttingen, 1919 a.o. Professor Göttingen, kurz in Münster, seit 1921 als Nachfolger von Klein Professor in Göttingen, 1933 Emigration, seit 1934 New York. 44. Brief von Courant an Hilbert vom 5.11.1934. Cod. Ms. D. Hilbert 61, Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung. 45. Hilberts Konzept zur Vorlesung. Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung, Cod. Ms. D. Hilbert 553, S. 7. 46. aaO., S. 88v.
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Wiederbelebung des Dirichletschen Prinzips, dessen “anziehende Einfachheit” und dessen “Reichtum der Anwendungen” ihn herausgefordert hatten.47 Der Beweis dieses Prinzips, anfänglich lediglich für einen bekannten speziellen Fall (Kreis) auf der Jahrestagung der DMV 1899 in München vorgetragen, führte über die Vorlesung “Flächentheorie” (SS 1900) schließlich zu den Problemen 19 und 20 des Pariser Vortrags von 1900 und weiter zu den direkten Methoden der Variationsrechnung.48 HILBERTS Auffassung der Variationsrechnung zielte von vornherein auf das Wesentliche. Er erklärte die Aufgabe der Variationsrechnung so (SS 1899): “Gegeben sind irgendwelche mathem. Dinge. Jedem ist in bestimmter geg. Weise eine reelle Zahl zugeordnet. Man soll das Ding oder solche Dinge heraussuchen, denen die kleinste oder größte Zahl zugeordnet ist.”49 Hier kann durchaus an die Zeilen aus HILBERTS tiefgründigem Meisterwerk, dem Zahlbericht, erinnert werden, das er im April 1897 beendet hatte: “Ich habe versucht, den großen rechnerischen Apparat von Kummer zu vermeiden, damit auch hier der Grundsatz von Riemann verwirklicht würde, demzufolge man die Beweise nicht durch Rechnung, sondern lediglich durch Gedanken zwingen soll.”50 Um die Klarheit der Hilbertschen Sichtweise herauszustellen, kontrastieren wir seine Erklärung mit der ein halbes Jahrhundert zuvor von FRIEDRICH LUD51 WIG STEGMANN (1813-1891) in seinem Lehrbuch der Variationsrechnung und ihrer Anwendung bei Untersuchungen über das Maximum und Minimum (1854) gegebenen, die exemplarisch für die Jahrzehnte vor dem Wirken von KARL WEIERSTRAß ist: “Es giebt aber verschiedene Arten von Problemen, deren Behandlung erfordert, daß man […] die Form der in den Calkul vorkommenden Functionen selbst allmählichen Veränderungen unterwerfe. […] Der Inbegriff derjenigen
47. So im Vortrag auf der DMV-Tagung 1900 in München “Über das Dirichletsche Prinzip”; die gedruckte Fassung unter gleichem Titel in: Jahresbericht der DMV, 8 (1900), 184-188, Nachdruck in: Journal für die reine und angewandte Mathematik, 129 (1905), 63-67, auch in: Gesammelte Abhandlungen, Bd. 3, Berlin, Springer, 1935, 11. 48. Vgl. R. Thiele, “Über die Variationsrechnung in Hilberts Werken zur Analysis”, NTM 5 N.S., (1997), 23-42. Dort weitere Literaturangaben. 49. Hilberts Konzept Variationsrechnung, SS 1899. Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung, Cod. Ms. D. Hilbert 555, S. 1. Vgl. auch die französische Übersetzung der Encyklopädie, Artikel Variationsrechnung in Band II/6,1, Paris 1913, 1. Hilberts Auffassung entspricht wieder derjenigen von Leonhard Euler, der sich 1744 im Titel seiner Variationsrechnung programmatisch so Methodus inveniendi lineas curvas maximi minimive proprietate gaudentes sive solutio problematis isoperimetrici latissimo sensu accepti (Eine Methode, Kurven zu finden, die sich einer Eigenschaft im höchsten oder geringsten Maße erfreuen, oder Lösung des isoperimetrischen Problems, wenn es im weitesten Sinn des Wortes aufgefaßt wird) geäußert hatte. 50. D. Hilbert, “Zahlbericht”, Gesammelte Abhandlungen, Bd. 1, Berlin, Springer, 1932, 67; zuerst im Jahresbericht der DMV, (1897), Zitat S. 293. 51. Friedrich Ludwig Stegmann, Professor in Marburg.
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Lehren, welche sich auf die Aenderungen im Gesetz der unter den Variablen stattfindenden Abhängigkeit beziehen, bilden den Gegenstand der Variations=Rechnung.”52 In diese Beschreibung der Grundaufgabe fließen weit mehr konkrete analytische Techniken ein und verstellen den Blick auf den grundlegenden Sachverhalt. In HILBERTS Fassung stellt sich sofort die entscheidende Frage, ob ein zu minimierendes Funktional auf einer Menge zulässiger Funktionen tatsächlich ein Minimum oder nur ein Infimum aufweist. Auf diesen Sachverhalt hatte HILBERT bereits in seinem Nekrolog auf WEIERSTRAß 1897 deutlich hingewiesen: “Von höchster Wichtigkeit ist ferner die scharfe Unterscheidung, die Weierstraß trifft, je nachdem eine Funktion an einer Stelle einen Wert erreicht oder demselben nur beliebig nahe kommt, insbesondere die Unterscheidung zwischen dem Begriff des Maximums oder Minimums und dem Begriff der oberen oder unteren Grenze einer Funktion einer reellen Veränderlichen.”53 Die Vorlesungsmitschrift Variationsrechnung aus dem Jahre 1904 von ERNST HELLINGER (1883-1950)54 enthält dann auch in HILBERTS Erklärung der Aufgabe der Variationsrechnung die Einschränkung “falls eine solche [Zahl] existiert”.55 HILBERT ist Vertreter der axiomatischen Methode, bei der die logische Widerspruchsfreiheit eines Begriffs bereits dessen Existenz gewährleistet: “Ein Begriff existiert oder nicht, je nachdem ob Axiome, durch die man ihn festlegt, widerspruchsfrei oder nicht sind.”56 Er wertete damit einen logischen Existenzbegriff auf, ohne jedoch ontologisch unterschiedliche Arten von mathematischer Existenz als einander ausschließend zu betrachten.57 Es ist freilich bemerkenswert, daß HILBERT – im Gegensatz zur konstruktiven Auffassung in der Analysis des 19. Jahrhunderts, deren Gegenstände man in geschlossener Form durch Formeln oder Reihen in die Hand bekommen wollte – in der mathematischen Physik letztlich etwas anders verfuhr. Die in der Physik übliche Praxis, irgendwelche Naturvorgänge durch Bedingungen (Differentialgleichungen) zu charakterisieren und aus dem realen Ablauf des Geschehens darauf zu schließen, daß vor dem physikalisch realen Hintergrund 52. J.G. Luckhardt: Kassel 1854, S. 1f. 53. “Zum Gedächtnis an Karl Weierstraß”, Göttinger Nachrichten, 1897, 60-69; auch in: Gesammelte Abhandlungen, Bd. 3, Berlin, Springer, 1935, S. 332 f. 54. Ernst Hellinger, Promotion 1907 bei Hilbert über Integralgleichungen. 55. Mathematisches Institut der Universität Göttingen, 4. 56. Logische Principien des Denkens (SS 1905), Vorlesungsausarbeitung von M. Born, Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung, Cod. Ms. D. Hilbert 558a, S. 41. Natürlich wird hierbei unterstellt, daß es wenigstens ein Modell für dieses Axiomensystem gibt. 57. Die Grundlegung der Mathematik durch Hilbert zog sich in ihrer finiten Ausbildung letztlich wieder auf intuitive oder konstruierbare Objekte zurück, über die regulative Ideen “transzendente” Theorien ermöglichen. Vgl. hierzu R. Thiele, “Hilberts 24th problem”, American Mathematical Monthly, 110 (2003), 1-24.
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diese Bedingungen auch hinreichend seien, daß die Existenz bestimmter mathematischer Objekte aufgrund physikalischer Argumente gesichert sei, akzeptierte HILBERT nicht. Ein mathematisches Modell spiegelte für ihn nur dann die Wirklichkeit wider, wenn es in der Lage war, alle wesentlichen Fragen aus sich selbst heraus zu beantworten, wenn also insbesondere die Existenz von Lösungen entsprechender Differentialgleichungen intern geklärt werden konnte, ohne hierzu außermathematische Gründe zur Hilfe zu nehmen. Charakteristisch hierfür ist eine Bemerkung HILBERTS, die er 1918 über die Temperaturverteilung in einem homogenen Körper und das mögliche Temperaturgleichgewicht gemacht hat: “Oftmals passiert es, daß die innere Widerspruchslosigkeit einer Theorie als selbstverständlich angesehen wird, während in Wahrheit tiefe mathematische Entwicklungen zu dem Nachweis nötig sind. […] Die Forderung des Bestehens von Temperaturgleichgewicht [enthält] keinen inneren Widerspruch der Theorie. Zur Erkenntnis dessen ist aber der Nachweis nötig, daß die bekannte Randwertaufgabe der Potentialtheorie stets lösbar ist, denn erst die Lösung dieser Randwertaufgabe zeigt, daß eine der Wärmeleitungsgleichung genügende Temperaturverteilung überhaupt möglich ist.”58 Der Unabhängigkeitssatz diente diesem Ziel HILBERTS, da er erlaubte, hinreichende Bedingungen für die Lösungen von Variationsproblemen zu formulieren. Bevor wir im Einzelnen die Entwicklung des Unabhängigkeitssatzes verfolgen, erinnern wir daran, daß HILBERT aus einer geometrischen Arbeitsperiode zur Variationsrechnung kam und daß er nach der Phase der Variationsrechnung und Integralgleichungen in eine physikalische Periode wechselte. Bezieht man allerdings HILBERTS Lehrtätigkeit in den der Variationsrechnung vorangehenden Zeitraum mit ein, so zeigen seine Vorlesungen, daß er sich auch in seiner “geometrischen” Periode (1898-1902) in einem der Variationsrechnung sehr benachbarten Umfeld bewegte: gewöhnliche Differentialgleichungen partielle Differentialgleichungen Mechanik
SS 1896, SS 1898, SS 1900, WS 1895, WS 1900, WS 1897 (Seminar), WS 1898.
5.4 Das Unabhängigkeitsintegral in Hilberts Vorlesungen über Variationsrechnung sowie das 23. Problem des Pariser Vortrages 5.4.1 Die Einführung des Unabhängigkeitsintegrals in Hilberts Vorlesungen Die erste Vorlesung von HILBERT über Variationsrechnung vom SS 1899 ist aus der Sicht der Feldtheorie traditionell aufgebaut und bietet nichts 58. “Axiomatisches Denken”, Mathematische Annalen, 78 (1918), 405-419; Gesammelte Abhandlungen, Bd. 3, Berlin, Springer, 1935, S. 150 f.
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Neues,59 auch enthält sie den Unabhängigkeitssatz noch nicht. OTTO BLUMEN60 THAL (1876-1944) hat wohl Recht mit der Aussage, daß HILBERT erst durch seine Erfolge beim Dirichletschen Prinzip angeregt worden ist, im SS 1899 über Variationsrechnung zu lesen. Aber seine Folgerung: “Ihre Frucht [der Vorlesung vom SS 1899] war der bekannte Unabhängigkeitssatz, eine neue, besonders handliche Darstellung der Feldtheorie, die Hilbert mit sichtlicher Freude als letztes seiner ‘Mathematischen Probleme’ in Paris vorgetragen hat,”61 trifft nur in dem weiteren Rahmen von HILBERTS Beschäftigung mit der Variationsrechnung schlechthin und deren Anwendung zu, denn HILBERT trug erstmals über das Unabhängigkeitsintegral im zweiten Teil seiner Vorlesung über Flächentheorie (SS 1900) vor und stellte nur wenig später (8. August 1900) den zugehörigen Satz in den Mittelpunkt des 23. Problems seines Pariser Vortrages. Über diese Lehrveranstaltung erfahren wir 1899 beiläufig aus einen Brief an den Freund ADOLF HURWITZ, dem HILBERT für die Bemühungen dankt, JOHANN OSWALD MÜLLER (1877-1940) nach Göttingen empfohlen zu haben (spätere Promotion bei Hilbert, siehe Abschnitt 6.6.2), wie schwierig diese Vorlesung ihm gefallen sei: “Von meinen Vorlesungen macht mir am meisten diejenige über Flächentheorie zu schaffen, welche ich mit einem Seminar über den gleichen Gegenstand verbunden habe und in welchem ich hauptsächlich höhere Semester zu eigenen Arbeiten zu veranlassen suche.”62 DAVID HILBERT begann seine Vorlesung über Flächentheorie (II) im Sommersemester 1900 mit diesen Worten:
59. Diese Bemerkung trifft lediglich für die Feldtheorie zu. Hilbert zeigte in dieser Vorlesung beispielsweise, daß die üblicherweise vorausgesetzte zweimalige stetige Differenzierbarkeit der Lösungen der Eulerschen Gleichungen eine Folge entsprechender Annahmen für den Integranden F des Variationsproblems ist (F ∈ C2). 60. O. Blumenthal, Hilberts erster Doktorand 1898, Habilitation Göttingen 1901, ab 1905 Professor in Aachen, Tod im KZ Theresienstadt 1944. 61. “Lebensgeschichte”, in D. Hilbert, Gesammelte Abhandlungen, Bd. 3, Berlin, Springer, 1935, 410. Die Zuweisung des den Unabhängigkeitssatz betreffenden Problems an das Ende des Vortrags und die deutlich ausführlichere Fassung des Problems weisen natürlich auf die Bedeutung hin, die Hilbert dieser Thematik beimaß. Aber Hilbert hatte zunächst noch ein weiteres 24. Problem über Beweistheorie geplant. (Mathematische Notizhefte, Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung, Cod. Ms. D. Hilbert 600:1, S. 25), das gestrichen wurde. Aus Zeitgründen wurden überdies nicht alle 23 Probleme in Paris vorgetragen, zu den weggelassenen gehörte auch das 23. Problem. Siehe auch R. Thiele, “Hilbert and his 24 problems”, Mathematics at the Dawn of a Millenium. Proceedings of the CSHMP-Meeting in Hamilton, June 2000 (ed. M. Kinyon), Providence, 1-22; überarbeiteter Reprint in der Sammlung Mathenmatics and the Historian's Craft der Kenneth-May-Lectures der CSHMP hrg. von G. Van Brummelen und M. Kinyon bei Springer (New York, 2005, 81-140). 62. Briefwechsel Minkowski-Hilbert, Brief vom 5.11.-12.11.1899 [sic]. Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung, Cod. Ms. D. Hilbert 258, Nr. 275 (Bl. 588).
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KAPITEL 5
“Wenn auch die gegenwärtige Vorlesung über Flächentheorie im Anschluss an meine vorsemestrige Vorlesung über den gleichen Gegenstand gehalten wird, so bildet sie doch nicht die Fortsetzung meiner früheren Vorlesung in dem Sinne, dass ich mich auf jene Vorlesung berufen werde. […] Was nun die Auswahl des Stoffes betrifft, die ich zu treffen gedenke, so [sind] leitendes Princip die Abschnitte aus der Flächenth.[eorie], in der die Variationsrechnung eine Rolle spielt. Die Variationsr.[echnung] ist recht eigentlich in methodischer Hinsicht die Fortsetzung, das Analogon u. die Erweiterung der Differentialr.[echnung] zu nennen. Sie ist, was ihre Anwendung betrifft, nicht nur für die Geometrie, sondern auch für die Mechanik starrer Körper sowie die Mechanik der Continua von grosser Bedeutung. Dabei ist sie von hoher prinzipieller Bedeutung und an Feinheit und schönen Schlüssen reich. Auch glaube ich, dass sich die Bedeutung der Variationsrechnung in Zukunft noch mehren wird.”63 Der Titel dieser Vorlesung ist ein treffendes Beispiel für MAX BORNS (18821970)64 bekannte Feststellung: “Wenn Hilbert an […] einer neuen Sache arbeitete, pflegte er eine Vorlesung mit einem harmlosen Titel, etwa ‘Differential- und Integralgleichungen’ anzukündigen, und dann entwickelte er in diesem Rahmen seine neuen Ideen, oft mit revolutionären Konsequenzen.”65 Den Abschnitt der Vorlesung, in dem das Unabhängigkeitsintegral eingeführt wurde, leitete HILBERT so ein: “Der erste grosse allgemeine Schritt Aufstellung der Langrange’schen Differentialgleichung. Vgl. Collegheft Variationsrechnung S. 38-39. Der letzte [Schritt] von Weierstrass. Auf die ganze dazwischen liegende Entwicklung der Variationsrechnung gehe ich hier nicht ein: Theorie der ersten und zweiten Variation ist sehr umfangreich. Nach Weierstrass ist beides überflüssig. Vielmehr besitzt man den Schlüssel zur Variationsrechnung in der folgenden Weierstrass’ischen Formel.”66 Während die oben zitierte Einführung in die Vorlesung schlechterdings HILBERTS außerordentliche Wertschätzung der Variationsrechnung dokumentiert, rücken diese Zeilen den Verwendungszweck des Unabhängigkeitsintegral in 63. Hilberts Vorlesungskonzept, S. 1 f. Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung, Cod. Ms. D. Hilbert 557. Hilberts Schüler Blumenthal hielt im WS 1905 abermals eine entsprechende Vorlesung: Theorie der Oberflächen, 3h, und im gleichen Semester las Herglotz über Minimalflächen, 2h. 64. Max Born, Studium 1901-1906 in Breslau, Heidelberg, Zürich und Göttingen, Assistent bei Hilbert, Promotion 1906 in Göttingen, danach Cambridge und Breslau, von 1908 bis zum Beginn des Weltkrieges in Göttingen, 1915 Berlin, dann ab 1919 Frankfurt/M., 1920 wieder Göttingen, 1933 Emigration, siehe folgende Fußnote. 65. M. Born, Mein Leben. Die Erinnerungen des Nobelpreisträgers, Übersetzung aus dem Englischen, München, Nymphenburger Verlagshandlung o.J., 127. 66. Hilberts Vorlesungskonzept, S. 9. Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung, Cod. Ms. D. Hilbert 557.
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das rechte Licht. Allerdings war die Einführung eines Unabhängigkeitsintegrals offenbar nicht für alle Hörer einsichtig, denn in einer Kopie der Vorlesungsmitschrift Variationsrechnung (WS 1904), die im Mathematischen Institut der Universität Göttingen aufbewahrt wird, ist an der entsprechenden Stelle von unbekannter Hand eingefügt: “hergeschneit”. In der Tat liegt für ein Variationsproblem J(y) =
b
∫a f ( x, y, y' ) dx
→ extremum
die Erklärung eines Unabhängigkeitsintegral J* der Form (*) J* =
b
∫a { fy + ( p – y' ) fp } dx
nicht auf der Hand, auch wenn sie den Hörer schließlich durch den Erfolg überzeugt. HILBERT hat hier nicht angedeutet, wie er auf das Unabhängigkeitsintegral gekommen ist. In der folgenden Mechanikvorlesung (WS 1905) ist HILBERT jedoch seinen Hörern methodisch entgegen gekommen, denn er zog jetzt Parallelen zu Extremwertaufgaben der Differentialrechnung, um eine Motivation zu geben: “Wir wollen nun zusehen, wie man bei der Behandlung des Variationsproblems […] auf natürlichem Wege auf den Unabhängigkeitssatz geführt wird. Wie es in der Diff. Rechn. [Differentialrechnung] eine der ersten Fragen ist, unter welchen Umständen die Ableitung […] identisch verschwindet, die im allgemeinen nur an endlich vielen Stellen des Maximums und Minimums verschwindet, so wird es hier auch nahe liegen, zu untersuchen, wann die Variationsableitungen [erste Variationen] eines Integrals identisch verschwinden können. Die Diff.Rechn. [Differentialrechnung] ergibt da das triviale Resultat, daß j eine Konstante, keine Funktion von y ist, hier wird sich ein vom neuen Standpunkt aus ähnliches Resultat ergeben. Es sollen nun die Lagrangeschen [Eulerschen] Gleichungen […] identisch, d.h. für alle Funktionspaare y(x), z(x) erfüllt sein.”67 Das Unabhängigkeitsintegral erlaubt es, den Weierstraßschen Darstellungssatz sehr bündig zu zeigen (siehe Abschnitt 5.3.2, Formel (3)). Liegt andererseits ein Flächenstreifen im Weierstraßschen Sinn bzw. allgemeiner ein Feld vor, in denen für die totale Variation der Weierstraßsche Darstellungssatz gilt, (**) ∆J = J(y) – J(y0) = = J(y) – J*(y),
∫ε
dx
C
67. Mechanik, WS 1905, Vorlesungsmitschrift, ausgearbeitet von E. Hellinger, Mathematisches Institut der Universität Göttingen, 199.
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KAPITEL 5
so läßt sich umgekehrt leicht ein Unabhängigkeitsintegral J* hieraus folgern. In diesem Sinne argumentiert CRAIG FRASER (geb. 1951), daß HILBERT beim Umschreiben des Weierstraßschen Darstellungssatzes (**) vom parametrischen auf den nichtparametrischen Fall der Invarianzeigenschaft (*) gewahr wurde.68 HILBERTS Notizen zur Variationsrechnung enthalten keine Hinweise auf diesbezüglichen Überlegungen. Die Tatsache, daß HILBERT den parametrischen Fall so gut wie nie behandelt hat (eine Ausnahme ist lediglich die Vorlesung Variationsrechnung im SS 1915), zeigt hier seine Unabhängigkeit von WEIERSTRAß. Den mathematischen Sachverhalt umriß Hilbert beispielsweise in der Vorlesung “Höhere Mechanik”69 im SS 1920 gleich in der ersten Vorlesung. Dazu stellte er dem Variationsproblem b
J( y) =
∫ F ( x, y, y' ) dx
→ Min
a
ein äquivalentes Variationsproblem gegenüber, indem er die Nebenbedingung y ' = p einführte und das Problem mittels der Lagrangeschen Multiplikatorenregel als ein “befreites” Variationsproblem aufschrieb: b
J∗ ( y ) = ∫ [ F ( x, y, p ) + ( y' – p )F p ( x, y, p ) ] dx → Min. a
Das befreite äquivalente Variationsproblem enthielt die Ableitung y' nun nur noch linear, aber dafür erschien eine zweite Funktion p; der Multiplikator ist hier gleich Fp. In der zweiten Vorlesung stellte sich HILBERT das Ziel, nicht das Minimum dieses äquivalenten Problems zu finden, sondern die eingeführte Funktion p = p(x, y) so zu bestimmen, daß das Integral wegunabhängig werde: “Diese Ortsfunktion p wird im Mittelpunkt der Theorie stehen” (S. 5). Aus dieser Forderung wurden die notwendigen und hinreichenden Bedingungen für die Funktion p = p(x, y) in Form einer Differentialgleichung aufgestellt (Integrabilitätsbedingungen) und gezeigt, daß die Funktion p das äquivalente Variationsintegral J* bei festgehaltenem Ausgangspunkt zur Ortsfunktion des variablen Endpunktes macht. Diese Ortsfunktion J*(x, y) genügt der bekannten Hamilton-Jacobischen Differentialgleichung, damit gibt es zur Extremalenschar auch eine Schar von Transversalen J*(x, y) = const, deren Differentialgleichung durch das Verschwinden des Integranden des äquivalenten Variationsproblems ausgedrückt werden kann. HILBERTS eigener Zugang zum Unabhängigkeitssatz läßt sich vermutlich mathematisch folgendermaßen rekonstruieren:70 Wir greifen dazu die beiden 68. N. Jahnke (ed.), A History of Analysis, Providence/London, AMS/LMS, 2003, Kapitel 12, The calculus of variations, 375. Siehe auch Abschnitt 3.5.2.7. 69. Handschriftliche Vorlesungsvorbereitung, Staatsbibliothek, Berlin, Nl. Hückel 2.13. 70. Man vergleiche E. Beltramis Herleitung in Abschnitt 5.5.4.
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Grundeigenschaften des Unabhängigkeitsintegrals auf. Sei b
(1) J ( y ) = ∫ F ( x, y, y' ) dx → extr a
das betrachtete Variationsproblem und J*(x, y) ein zugehöriges Unabhängigkeitsintegral. Das wegunabhängige Integral J*(x, y) läßt sich dann bekanntlich so darstellen:71 J∗ ( x, y ) =
x
x
∫ dJ∗ =
∫ { Jx∗ + Jy∗ y' } dx ,
a
a
(Unabhängigkeitsbedingung),
wobei J*(a, y(a)) = 0 gesetzt sei. Eine Extremalenschar, die ein Gebiet B schlicht überdeckt, legt in jedem Punkt (x, y) von B durch den Anstieg der Extremalen in diesem Punkt eine Richtung fest bzw. definiert so in B eine Gefällefunktion p = p(x, y). Längs Extremalen bzw. längs Lösungen der Differentialgleichung y ' = p(x, y)
soll natürlich gelten: (2) J*(x, y(x)) = J(y), (Anpassung an das gegebene Variationsproblem),
wobei beide Integrale von einem festen Punkt A(a, y(a)) zu einem beliebigen Kurvenpunkt P(x, y(x)) erstreckt werden. Differentiation von (2) nach x ergibt wegen (1): (3) Jx* + Jy* y' = F(x, y, p(x, y)) bzw. (3*) Jx* = F(x, y, p(x, y)) - Jy*p. Differenziert man jetzt (3*) nach p, so folgt:
71. Um Einheitlichkeit zu gewinnen, haben wir einige Bezeichnungen gegenüber dem Hilbertschen Vorlesungskonzept abgeändert. (Hilbert selbst wechselte in seinen einschlägigen Arbeiten öfter die Notation.) Bevor Hilbert in der Vorlesung das zweifache Integral behandelte, wiederholte er aus anderer Sicht nochmals die Überlegungen zum einfachen Integral. Er notierte dabei am Rand: “Statt y' setze stets p”. Diese Notiz besagt, daß er sich der heute üblichen Schreibweise für eine unabhängige Variable mit einem eigenen Buchstaben bedienen wollte, womit dann Fp anstelle von Fy' zu schreiben wäre usw. Diese Korrektur zeigt überdies, wie nahe das Vorlesungskonzept am Ursprung von Hilberts Überlegungen ist.
420
KAPITEL 5
(4) Jy* = Fp(x, y, p). Damit muß ein angepaßtes Unabhängigkeitsintegral notwendig die von HILBERT angegebene Form b
(5) J∗ ( x, y ) = ∫ { ( F ( x, y, p ( x, y ) ) – p ( x, y )J∗ y ) + y'F p ( x , y, p ( x, y ) ) } dx a b
= ∫ { F + ( y ' – p )F p } dx a
haben. Die Funktion F hat als Argumente x, y, p(x, y) und soll kürzer F(p) geschrieben werden; HILBERT kürzte inkorrekt durch F = F(y', p) ab. In HILBERTS Vorlesung verlaufen die Überlegungen gerade anders herum. HILBERT ging von der von uns gerade als notwendig erkannten Form (5) des Integrals J* aus und zeigte deren Hinlänglichkeit für die Wegunabhängigkeit von J*. Er benutzte dabei, daß für ein geeignetes Richtungsfeld p = p(x, y), das zu Büscheln von Integralkurven der Eulerschen Differentialgleichung mit gleichem Anfangspunkt gehört, Wegunabhängigkeit des Integrals J* gewährleistet ist.72 HILBERT betrachtete also die Ausdrücke J 1 = F – pF p [= Jx*] J2 = Fp
[= Jy*]
(d.h. (3*) und (4)) und wies für geeignete Richtungsfelder p = p(x, y) die Beziehung ∂J 1 ∂J -------- = -------2∂y ∂x
nach, die bekanntlich (lokal) sowohl notwendig als auch hinreichend für die Existenz einer Funktion J*(x, y) mit Jx* = J1,
Jy* = J2
ist, für welche das Integral J* in der Tat wegunabhängig wird. Fällt zudem eine Vergleichskurve y = y(x) mit einer Integralkurve des Richtungsfeldes (d.h. von y' = p(x, y) ) zusammen, so ist offenbar J(y) = J*(x, y(x)),
(Anpassung).
72. Vorlesungskonzept, Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung, Cod. Ms. D. Hilbert 557, 10-13.
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HILBERT stellte dann im Vorübergehen die Frage, “auf welcher Curve J*(x, y) = const ist”, und er erhielt unmittelbar für solche Kurven y = y(x) eine partielle Differentialgleichung erster Ordnung (die Beltramische Differentialgleichung) für deren Richtungsfeld p = p(x, y): ∂F ( x, y, p ) F ( x, y, p ) + ( p – y' ) -------------------------- = 0 .73 ∂p
Die hierdurch definierte Schar S(x, y) = λ, die ADOLF KNESER transversal nennt und die – neben der Anpassungsbedingung – das Unabhängigkeitsintegral durch sein Verschwinden längs dieser Schar weiter präzisiert, interessierte an dieser Stelle DAVID HILBERT noch nicht, denn er strebte auf die Darstellungsformel von WEIERSTRAß, den avisierten “Schlüssel zur Variationsrechnung” zu. In der Tat folgt sofort: J(y) – J(y0) = [J(y) – I(y0) = J(y) – I(y)] x
⎧ ∂F ( p ) ⎫ = ∫ ⎨ F ( y' ) – F ( p ) – ( p – y' ) -------------- ⎬dx ∂p ⎭ ⎩ a x
=
∫ ε ( x, y, y', p ) dx , a
da der Integrand ε = ε (x, y, y', p) nichts anderes als die Weierstraßsche Exzeßfunktion ist. HILBERT bemerkte: “Der gewöhnlich vorkommende und von uns allein zu betrachtende Fall ist der, dass dieses ε für alle 4 Argumente einerlei Vorzeichen hat[,] etwa ε > 0 (< 0, dann kehren [wir] F in – F um). Dann sehen wir[,] dass unsere Integralkurve in der That das Integral zum Minimum macht.”74 ADOLF KNESER freilich wird DAVID HILBERT auf den hier übersehenen geometrischen Sachverhalt der Transversalität hinweisen, der tragend in KNESERS Theorie ist (siehe den Briefwechsel zum Abdruck von HILBERTS Pariser Vortrag “Mathematische Probleme” in den Göttinger Anzeigen 1900, auf den wir im Abschnitt 4.6.4 eingehen). 5.4.2 Eine hydrodynamische und optische Veranschaulichung Interessant ist das Beispiel,75 anhand dessen HILBERT den Hörern den Sachverhalt veranschaulichte. In der Flächentheorie ist es naheliegend, geodätische Linien zu betrachten, und das tat HILBERT. In diesem Zusammenhang läßt sich J*(x, y) als geodätische Entfernung auf Extremalen (von einem Ausgangspunkt A berechnet) deuten. HILBERT stellte sich weiter in dem Extremalenfeld eine
73. aaO., 13. 74. aaO., 15. 75. aaO., 13- 14.
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KAPITEL 5
Flüssigkeitsbewegung so vor, daß sich jedes Teilchen auf den geodätischen Linien mit konstanter Geschwindigkeit fortbewege. Die geodätische Entfernung entsprach damit dem Geschwindigkeitspotential. HILBERT bemerkte, daß die Richtungsableitungen längs der Geodätischen und längs der zugehörigen Normalen stets gleich 1 und gleich 0 sind; es liegt also für die Extremalen und die transversale Schar ein orthogonales Gaußsches Netz vor. Genauer ist damit folgendes gemeint: Das Feld ist wirbelfrei, d.h., die Zirkulation verschwindet längs geschlossener Kurven C : x = x(s), y = y(s):
°∫ vt ds = °∫ P dx + Q dy = 0,
v = (P, Q), t = ( x' (s), y' (s)).
Abb. 5.2. Seiten aus Hilberts Vorlesungskonzept für die Flächentheorie (SS 1900), auf denen das Unabhängigkeitsintegral eingeführt wird.
Die notwendige und hinreichende Bedingung hierfür ist: Px – Qy = 0,
und sie garantiert gleichzeitig im sogenannten Hauptfeld die Existenz einer Funktion (Potentialfunktion) u = u(x, y) mit du = ux d x + uy dy. Damit sind die Stromlinien u = const geodätisch (HILBERTS Prinzip der Geradeaus-Bewegung). Die Quellenfreiheit des Feldes bzw. der verschwindende Fluß
°∫ vn ds = °∫ P dx – Q dy = 0 ,
v = (P, Q), n = ( x' (s), y' (s)),
wird durch die notwendige und hinreichende Bedingung Px + Qy = 0,
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gewährleistet, womit die Existenz einer Strömungsfunktion v = v(x, y) mit dem Differential dv = vxdx + vydy gesichert ist. Die Stromlinien v = const sind die Feldlinien des sogenannten Querfeldes, die transversal zu den Feldlinien des Hauptfeldes liegen. Die Parameterlinien u = const (Extremalen) und v = const (transversale Schar) bilden damit tatsächlich ein orthogonales Gaußsches Netz. Dehnt man die von HILBERT benutzte hydrodynamische Deutung – wie heute üblich – auf die Hamilton-Jacobische Theorie aus, indem man im p,qPhasenraum solche geschlossene Kurven C1 und C2 betrachtet, deren Punkte durch Stromlinien verbunden sind, so liefert die Erhaltung der Zirkulation den allgemeinen Wirbelsatz von HERMANN VON HELMHOLTZ (1821-1894), d.h. die Gleichheit der Hilbertschen Unabhängigkeitsintegrale:
∫ p dq – H dt
C1
=
∫ p dq – H dt .
C2
H ist die entsprechende Hamiltonfunktion, p und q sind die kanonischen Koordinaten (wobei p nicht mit der oben benutzten Variablen zu verwechseln ist), und t bezeichnet wie üblich die unabhängige Variable der Zeit. Das invariante Integral wird in diesem Zusammenhang auch absolute Integralinvariante von Poincaré-Cartan genannt (vgl. dazu die Abschnitte 6.6.3 und 6.11; HAHN, PRANGE). In einem isotropen optischen Medium mit dem Brechungsindex n kann ein Strahlensystem s durch die Beziehung rot ns = 0 gegenüber beliebigen Kurvensystem charakterisiert werden. Aus der Sicht der Variationsrechnung wird damit ein Mayerfeld bestimmt. Wenn der Brechungsindex eine stetige Ortsfunktion ist, dann folgt für eine geschlossene Kurve
°∫ ns ⋅ dr
= 0.
Dieses Integral wird in der Optik Lagranges invariantes Integral genannt.76 Es ist andererseits auch eine Poincarésche Integralinvariante, nämlich im Hinblick auf den eindimensionalen Fall. HENRI POINCARÉ (1854-1912) hat in seiner Monographie Les Méthodes Nouvelles de la Mécanique Céleste77 allgemeinere Fälle untersucht. Als eine bemerkenswerte Konsequenz ergibt sich aus der Lagrangeschen Integralinvariante die Wegunabhängigkeit des Integrals B
∫A ns ⋅ dr 76. M. Born, E. Wolf, Principles of Optics, Oxford, Pergamon Press, 1980, 3.3.1 Lagrange’s integral invariant. 77. Paris, Gauthier-Villars, 1899, Bd. 3. Man vergleiche dazu auch die Leçons sur les Invariantes Integraux von E. Cartan (Paris, Hermann, 1922).
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KAPITEL 5
längs beliebiger Wege im Strahlenfeld zwischen den Feldpunkte A und B. Die Aussage kann auf den in der Optik wichtigen Fall der Unstetigkeit des Brechungsindexes ausgedehnt werden. Wir finden dieses Ergebnis in dem Satz wieder, daß für die kanonischen Koordinaten p,q eines Variationsproblems das Kurvenintegral B
∫A ∑ pα dqα α
wegunabhängig ist, daß es also für geschlossene Kurven verschwindet. Falls jedoch die p mehrwertige Funktionen sind, so können sich für geschlossene Kurven Vielfache einer bestimmten Konstante ergeben. 5.4.3 Vorbereitung des Pariser Vortrags (Problem 23) In der in Rede stehenden Vorlesung über Flächentheorie (SS 1900), in der HILBERT das Unabhängigkeitsintegral für eindimensionale Variationsprobleme erstmals eingeführt hatte, kam HILBERT auf das Unabhängigkeitsintegral abermals zurück, als er zu zweidimensionalen Variationsproblemen überging.78 Zu Vergleichszwecken wiederholte er zunächst den Sachverhalt beim eindimensionalen Fall, wobei er allerdings die Perspektive änderte. Es war diese geänderte Sicht, die von ihm in die Darstellung des 23. Problems im Pariser Vortrag übernommen wurde.79 HILBERT fragte jetzt, wie das Richtungsfeld p = p(x, y) zu wählen sei, damit das Integral J* vom Integrationsweg unabhängig wird. Aus der Form des Integrals J*, b
J∗ = ∫ { Ay' + B } dx , a
und dem notwendigen Verschwinden der ersten Variation dieses Integrals, folgerte HILBERT ∂----A- ∂----B + - = 0, ∂x ∂y
d.h. eine partielle Differentialgleichung für das Richtungsfeld p = p(x, y). Dann konstatierte HILBERT, daß diese partielle Differentialgleichung (bzw. δJ* = 0) und die Eulersche Differentialgleichung (bzw. δJ = 0 ) in engster Beziehung stehen. Denn aus b
δJ* = δJ + ∫ ( y' – p ) δF p dx a
78. Vorlesungskonzept, Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung, Cod. Ms. D. Hilbert 557, 23-30. 79. “Mathematische Probleme”, Göttinger Nachrichten, (1900), S. 23 f.; auch in: Gesammelte Abhandlungen, Bd. 3, S. 292 f. Die Originalfassung des Vortrags und das Manuskript für den Artikel in den Göttinger Nachrichten scheinen nicht mehr zu existieren. Siehe auch den Artikel von I. Grattan-Guinness, “A sideways Look at Hilbert’s Twenty-three Problems of 1900”, Notices of the AMS, 47 (2000), 752-757.
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425
folgt: Wenn y' = p(x, y) ein intermediäres Integral der Eulerschen Differentialgleichung ist, dann löst p = p(x, y) die besagte partielle Differentialgleichung und umgekehrt; die Integralkurven der Eulerschen Differentialgleichung sind die Charakteristiken der partielle Differentialgleichung. Diese Aussage wird in dem Pariser Vortrag zusätzlich durch eine einfache Rechnung direkt bestätigt. In dem Vorlesungskonzept hat HILBERT an dieser Stelle eine Fußnote eingefügt, die belegt, daß HILBERT sich der Tragweite seiner Methode bewußt war: Dieser Satz bildet den eigentlichen Schlüssel zur Variationsrechnung.80
Abb. 5.3. Die als Fußnote eingefügte Einsicht Hilberts in seinem Konzept zur Vorlesung Flächentheorie (SS 1900), wenige Wochen vor dem Pariser Vortrag.
Aus der Sicht der Differentialgeometrie bestätigte neulich SHIING-SHEN CHERN (geb. 1911) diese Aussage mit den Worten: The invariant integral is a powerful notion in the calculus of variations.81 HILBERT streifte im weiteren die analytischen Bedingungen einer globalen Feldkonstruktion (Jacobische Theorie der konjugierten Punkte) bzw. die Möglichkeit einer Ausdehnung des zunächst nur lokal gegebenen Feldes: “Wie findet man die analytische Bedingung dafür, dass sich die geg. Curve y = ϕ(x), die der Lagrangeschen [Eulerschen] Gl. genügt, mit einem eindeutigen und stetigen Feld p = p(x, y) umgeben werden kann, wo p der partiellen Differentialgl. 1ster Ordnung genügt. Die gewöhnlichen Existenzsätze nach Cauchy-Kowalewski versagen, weil y = ϕ(x) gerade eine Charakteristik der partiellen Differentialgleichung ist.”82 Er linearisierte hierzu mittels der Jacobischen Differentialgleichung die Aufgabe und erwähnte, daß nicht verschwindende Lösungen der Jacobischen Gleichung konjugierte Punkte ausschließen (was in eben diesem Bereich eine Feldkonstruktion erlaubt). 5.4.4 Das Unabhängigkeitsintegral in parametrischer Form HILBERT beschränkte sich in seinen Veröffentlichungen und in den Vorlesungen durchweg auf Feldkonstruktionen für das Funktionenproblem, lediglich in der letzten Vorlesung über Variationsrechnung (SS 1915), so scheint es,
80. Vorlesungskonzept, Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung, Cod. Ms. D. Hilbert 557, 27. 81. “Remarks on Hilbert’s 23rd Problem”, The Mathematical Intelligencer, 18, 4 (1996), 7-8. 82. Vorlesungskonzept, S. 30 f. Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung, Cod. Ms. D. Hilbert 557.
426
KAPITEL 5
kamen auch Parameterprobleme zur Sprache. Diese Vorlesung ist nach dem Konzept der Vorlesung vom WS 1904 gehalten worden, jedoch gibt es in einer Mitschrift einige Einlageblätter von HILBERTS Hand, die auf die besagte Ergänzung schließen lassen. Auf einem der Blätter ist notiert: “Zunächst Parameter-Darstellung u. ‘Kurvenproblem’ u1(t), … , un(t) […] Man habe eine Schar von Extremalen mit n Parametern α1, … ,αn (z.B. Extremalen von einem Punkte u1(0), …, un(0) oder von einer Anfangsfläche mit transversaler Anfangsrichtung.) Bei Integration längs einer Extremalen folgt […]: t
∫ δF dt = 0
∑ Fu δuv
Ende
v'
v
,
(F = F (u, u' ))
Anfang
Durch die Anfangsbedingung kann am Anfang (t = 0) für jede Variation innerhalb der Schar ∑ F u δu v = 0 gemacht werden. v
t
∫0 F dt
v'
= J ( t, α 1, …, α n ) .
Setzen wir α1 = α1(τ), … , αn = αn(τ), wo α1(τ), … ,αn(τ) irgendwelche Funktionen sind, und differenzieren nach τ, so folgt d uv d t d----J= ----- ∫ F dt = ∑ F u -------- , dτ dτ 0 v' dt v du du wobei in F u als Argument u1, …, un und --------1- , …, --------n- (Ableitungen längs dt dt v' der Extremalen) stehen. Haben wir ein Feld, ist also durch den Ort u1, … un das Wertsystem α1, …, αn eindeutig bestimmt, so folgt […] [d]as Integral du u1 ∂F ⎛ , , , d--------, …, --------n-⎞ d u v u1 … un ∫ ∑ --------⎝ dt dt ⎠ ∂ u v' v ist also vom Wege unabhängig.”83 HILBERT notierte hier solche Anfangswerte, die eine Extremalenschar zwangsläufig zu einem Mayerfeld machen. Aus dem Zusammenhang du i ∂J-----= F u ' ⎛ u i, -------⎞ i⎝ ∂u i dt ⎠
der Extremalenschar ui = ui(t, αk) mit der Lösung J = J(t, αk) der Hamilton83. Einlageblatt zur Vorlesungsmitschrift Variationsrechnung, WS 1904. Ausgearbeitet von E. Hellinger. Mathematisches Institut der Universität Göttingen. Mit diesem Einlageblatt könnte die Erweiterung der Vorlesung von 1904 für 1915 gegeben sein; ein Konzept oder eine Mitschrift für die Vorlesung von 1915 sind nicht bekannt. Das Blatt ist nicht paginiert und läßt sich aufgrund des Inhalts dem Abschnitt der Vorlesung von 1904 zuordnen, der den Zusammenhang von Unabhängigkeitsintegral und Hamilton-Jacobischer Theorie behandelt, also die 44. bis 46. Vorlesung, insbesondere S. 305ff. Die Abkürzung “z.B.” ist im Original gestrichen. Der Weltkrieg hatte die Höreranzahlen erheblich schrumpfen lassen, was den Vorlesungsbetrieb sowie die Forschung beeinträchtigte und Hilbert sehr bedrückte.
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Jacobischen partiellen Differentialgleichung ergab sich die transversale Schar. Dann übertrug HILBERT die Ergebnisse auf das Funktionenproblem: “Zu einem Funktionenproblem ∫ F ( x, y 1, …, y n, y' 1, …, y' n ) dx gehört ein Kurvenproblem dy 1 dy n⎞ ⎧ ⎛ ⎫ --------------dy dy ⎟ dx ⎪ ⎪ ⎜ d t d t -, …, --------⎟ ----- ⎬dt = ∫ Φ ⎛ x, y1, …, y n, d----x-, -------1-, …, -------n-⎞ dt . ∫ ⎨⎪ F ⎜⎜ x, y1, …, yn, ------⎝ dx dx ⎟ dt ⎪ dt dt dt ⎠ --------dt dt ⎠ ⎭ ⎩ ⎝
Dabei ist dy 1 dy 2 dy n ∂Φ-----= F – F y ' -------- – F y ' -------- – … – F y ' -------1 dx 2 dx n dx ∂x t ∂Φ -------------- = F y ' n ∂( y 1 ) t
. . .
∂Φ ------------= Fy ' n ∂( y n ) t
Unter Anwendung des vorigen Resultates [oben zitiert] folgt im Fall der Existenz eines Feldes, dass dy v
⎧
dy v
⎫
⎞ + F ⎛ -------⎞ dx ∫ ⎨⎩ F – ∑ Fy ' ⎛⎝ ------dx ⎠ Ext ∑ y ' ⎝ dx ⎠ Integr – Weg ⎬⎭ v
v
v
v
vom Wege unabhängig ist. Dabei sind in F y v' allemal die Ableitungen längs der Extremalen y α⎞ ⎛ d-------= pα ⎝ dx ⎠ Ext
einzusetzen. Das Unabhängigkeits-Integral lautet also dy v
⎧
⎫
– p v⎞ ⎬dx ”. ∫ ⎨⎩ F ( x , y1, …, yn, p1, …, pn ) + ∑ Fy ' ( x , y1, …, yn, p1, …, pn ) ⎛⎝ ------⎠ dx ⎭ v
v
Der Hilbertsche Unabhängigkeitssatz läßt sich so in die Weierstraßsche Theorie der Parameterintegrale übertragen. Wir erinnern, daß eine konsequente Formulierung geometrischer Variationsprobleme der Parameterdarstellung bedarf. Bei CONSTANTIN CARATHÉODORY, der diese Auffassung teilte, tritt das invariante Integral in Parameterform im Kapitel über “Variationsprobleme in Parameterdarstellung” seiner Monographie Variationsrechnung und partielle Differentialgleichungen erster Ordnung (1935) jedoch in den Hintergrund, da hier der Gedanke der Äquivalenz von Variationsproblemen die Darstellung bestimmt.84 84. Für Festrandprobleme hat man mit einem entsprechenden invarianten Integral Äquivalenz der Variationsprobleme, aber das Umgekehrte muß nicht gelten (vgl. Abschnitt 5.8).
428
KAPITEL 5
Das Unabhängigkeitsintegral wurde erstmals 1904 sowohl von GILBERT AMES BLISS85 in einer Arbeit An existence theorem for a differential equation of the second order86 als auch von OSKAR BOLZA in den Lectures on the calculus of variations87 auf Probleme in Parameterdarstellung ausgedehnt, also in die Weierstraßsche Theorie übertragen (siehe unten Abschnitt 6.4). BOLZAS Buch Lectures ging aus seinen 1901 vor der AMS gehaltenen Vorlesungen über Variationsrechnung hervor, und die Vorlesungen enthielten neben der Weierstraßschen Theorie von Variationsproblemen in Parameterform auch das hierauf ausgedehnte Unabhängigkeitsintegral, so daß BLISS mit Parameterproblemen vertraut gewesen ist. BLISS kam jedoch in eigenständiger Weise dieser geometrischen Fragestellung in einer vordergründig analytisch erscheinenden Arbeit An existence theorem for a differential equation of the second order nach. Diese Arbeit zielte aber letztlich auf eine Anwendung in der Variationsrechnung ab, was der Nachsatz des Titels “with an application to the Calculus of Variations” zum Ausdruck bringt. Für eine Kurve C : x(t), y(t), die für t = a bzw. = b durch die Punkte P bzw. Q geht, betrachtete er das Festrandproblem der Variationsrechnung in Parameterdarstellung: b
J ( x, y ) =
∫ F ( x, y, x', y' ) dt
→ extr,
a
F(x, y, λ p, λ q) = λ F(x, y, p, q),
x = x(t), y = y(t),
λ > 0,
(Invarianzforderung gegenüber Parameterdarstellungen) x(a) = xa, x(b) = xb, y(a) = ya, y(b) = yb (feste Randwerte).
Auf die entsprechende Feldkonstruktion, die BLISS mit Hilfe eines Satzes von EMILE PICARD (1856-1941) ausführte, werden wir weiter unter eingehen (Abschnitt 6.5). Dabei sind p = g(s, xa, xb, ya, yb), q = h(s, xa, xb, ya, yb)
die Gefällefunktionen dieses Feldes, für die das Integral b
I∗ =
∫ { x'Fp ( x, y, p, q ) + y'Fq ( x, y, p, q ) } dt a
85. Gilbert Ames Bliss, Studium in Chicago, Promotion 1900 bei Bolza, 1902-1903 Studienaufenthalt in Göttingen, seit 1908 Chicago, dort von 1913 bis 1941 Professor. 86. Transactions of the AMS, 5 (1904), 113-125. 87. Chicago, University Press, 1904, § 37 b, 195-196, 121; in der deutschen Übersetzung Vorlesungen über Variationsrechnung, Leipzig, B.G. Teubner, 1909, S. 257 f.
UNABHÄNGIGKEITSINTEGRAL UND MAYERFELDER
429
wegunabhängig wird, wie eine kleine Rechnung ergibt. Damit konnte BLISS auf den Weierstraßschen Darstellungssatz für die totale Variation b
∆J =
∫ E ( x, y, p, q, x', y' ) dt a
und damit auf das mit ihm verbundene hinreichende Kriterium E > 0 bzw. < 0 für starke Extrema schließen. In einer gemeinsam mit MAX MASON (1877-1945?) verfaßten Arbeit von BLISS The properties of curves in space which minimize a definite integral88 wurde das Unabhängigkeitsintegral später (1908) auch auf den räumlichen Fall (n = 3) ausgedehnt. Die lediglich formal erscheinende Verallgemeinerung der obigen Formel für den ebenen Fall auf das Dreidimensionale b
J∗ =
∫ ( x'Fp + y'Fq + z'Fr ) dt a
basiert jedoch auf einem wesentlich verändertem Sachverhalt, da ein ausgezeichnetes Extremalenfeld, das aus einer sogenannten Mayerschar aufgebaut werden muß (MAYER 1903), für die Wegunabhängigkeit benötigt wird, obwohl es hier im Hintergrund bleibt. BLISS und MASON konstruierten diese Mayerschar über Transversalitätsbedingungen (siehe unten Abschnitt 6.5). Wiederum folgen die Weierstraßsche Darstellungsformel und das zugehörige hinlängliche Kriterium. In der zweiten Auflage des Cours d’analyse mathématique (1915) von ÉDU89 ARD GOURSAT (1868-1936) gibt es ein Kapitel Variationsrechnung, und der Autor ging im Paragraphen 639 auch auf den Weierstraßschen Darstellungssatz ein, bei dessen Beweis er das Hilbertsche Unabhängigkeitsintegral sowohl für das Funktionenproblem als auch für das Parameterproblem benutzte: “Nous indiquerons d’abord la marche très simple de M. Hilbert pour parvenir à la formule de Weierstrass”, und dieser Ankündigung ist folgende Fußnote beigegeben: D’après M. W. Ermakoff (Journal de Mathématiques, 6e sèrie, t. I, 1905, p. 97), cette méthode aurait aussi été employée par Weierstrass dans ses leçons.90
88. Transactions of the AMS, 9 (1908), 440-466. 89. Édouard Goursat, 1881 Promotion und Professur, ab 1885 in Paris. 90. Paris, Gauthier-Villars, 1915, tome 3, 609. “Wir zeigen zuerst den sehr einfachen Beweisgang des Herrn Hilbert, um die Formel von Weierstraß zu erhalten”. Fußnote: “Nach Herrn W. Ermakoff […] wäre diese Methode auch durch Weierstraß in seinen Vorlesungen verwendet worden”. – Die parametrische Form des Unabhängigkeitsintegrals erscheint bei Goursat in der Darboux-Kneserschen Theorie, § 652, p. 645. Die erste Auflage des Cours wurde 1905 herausgegeben und enthielt einen eigenen Paragraphen Formule de M. Hilbert (§ 452, p. 617), der jedoch in der zweiten Auflage (vielleicht durch die zitierte falsche Vermutung verursacht) in dem genannten Abschnitt über die Weierstraßsche Formel aufging.
430
KAPITEL 5
In der zitierten Arbeit Calcul des variations d’après Weierstrass von WASPETROWITSCH ERMAKOFF (1845-1922)91 fehlen solche Nachweise bzw. Hinweise auf entsprechende Mitschriften der Vorlesungen. ERMAKOFF erklärt einleitend lediglich, daß inzwischen über die unpublizierte Weierstraßsche Theorie die Dissertationen von ERNST ZERMELO (1894) und NADESCHDA GERNET (1877-1943) (1902) sowie das Buch von ADOLF KNESER Auskünfte (renseignements) geben. Die Gernetsche Dissertation ist aus der Weierstraßschen Traditionslinie ganz gewiß auszunehmen, was weiter unten dargelegt werden wird (insbesondere Abschnitt 6.6.1). Da sich aber ERMAKOFF eng an die Gedanken seiner Landsmännin GERNET (d.h. letztlich an HILBERTS Ideen) anschloß, hat wahrscheinlich dieses ungenaue Arbeiten die falsche Ansicht von GOURSAT verursacht, wozu schließlich auch WEIERSTRAß’ Zögern beim Publizieren seiner Ergebnisse maßgeblich beigetragen hat. Die Meinung von ALLA WLADIMIROWNA DOROFEJEWA (geb. 1935), daß ERMAKOFFS Darstellung der grundlegenden Weierstraßschen Ideen (1903 russisch, 1904 französisch) wichtig gewesen sei, da diese nicht öffentlich vorlagen (“the exposition […] was important”),92 darf schon deshalb bezweifelt werden, da zu diesen Zeitpunkten bereits die Lehrbücher der Variationsrechnung von A. KNESER (1900) und O. BOLZA (1904 englisch) verfügbar waren. KNESERS Gutachten über die Arbeit von ERMAKOFF ist in 3.10 zitiert. SILII
5.5 Einige historische Bemerkungen Bei der Spurensuche nach der Idee eines Unabhängigkeitsintegrals in der frühen Variationsrechnung ist zu berücksichtigen, daß das mathematische Denken – etwa bei den Brüdern BERNOULLI – in unserem Verständnis noch weitgehend geometrisch war und sich eine analytische Wende erst bei LEONHARD EULER (1707-1783) oder JOSEPH-LOUIS LAGRANGE (1736-1813) vollzogen hatte. Anstelle von Funktionen wurden Kurven betrachtet, anstelle von Variablen geometrische Größen. Aber es war eine für die Entwicklung der Variationsrechnung wichtige Aufgabe, nämlich das von JACOB BERNOULLI (16541705) 1697 gestellte isoperimetrische Problem, dessen Behandlung die geometrische Kurvenauffassung zurückdrängte und schließlich eine analytische Fassung des Funktionsbegriffs bewirkte.93
91. Wassilii Petrowitsch Ermakoff, Studium in Kiew (bis 1868), Habilitation 1877, Professor in Kiew 1874, Akademiemitglied. Arbeitsgebiet Variationsrechnung und Differentialgleichungen. 92. A. Dorofeeva, “The calculus of variations”, Mathematics of the 19th century, vol. 3 (A.N. Kolmogorov, A.P. Yushkewitch, eds.), Basel, Birkhäuser, 1998, 258. Übersetzung aus dem Russischen, Matematika XIX weka, Moskwa, Nauka, 1987. 93. R. Thiele, “Frühe Variationsrechnung und Funktionsbegriff”, Festschrift für Matthias Schramm, (Hrg. R. Thiele), Berlin, GNT-Verlag, 2000, 128-181.
UNABHÄNGIGKEITSINTEGRAL UND MAYERFELDER
431
5.5.1 Jacob und Johann Bernoulli (1654-1705 und 1667-1748) Das Problem der orthogonalen Kurvenscharen ist offenbar erstmals von JOHANN I BERNOULLI (1667-1748) in einem Brief an GOTTFRIED WILHEM LEIBNIZ (1646-1716) am 2. September 1694 gestellt worden: Datis infinitis curvis positione invenire curvam quae omnes ad angulos rectos secat.94 Dazu war JOHANN I BERNOULLI durch die Arbeit Traité de la lumière (1690) von CHRISTIAAN HUYGENS (1625-1695) angeregt worden, und 1697 machte er in einer Lösung des von ihm gestellten Brachistochronenproblems (1696) hiervon bekanntlich einen tiefgreifenden Gebrauch (siehe Kapitel 1). Die Nähe zu unserem Gedankenkreis ergibt sich durch die Tatsache, daß die aus Lichtstrahlen (Extremalen) und Wellenflächen (transversale Schar) gebildeten orthogonalen Kurvenscharen eine vollständige Figur im Sinne CARATHÉODORYS bilden bzw. ein Mayer-Feld darstellen. Auch JACOB BERNOULLI brachte 1697 derartige Scharen über die Verallgemeinerung des Brachistochronenproblems für einen freien Rand in die Untersuchungen ein. Die orthogonalen Trajektorien einer Kurvenschar spielten schlechterdings in den ersten zwei Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts eine wichtige Rolle in der Analysis, insbesondere beförderten Arbeiten von JOHANN BERNOULLI zu dieser Thematik und seines Neffen NICOLAUS I BERNOULLI (1687-1759) die Entwicklung der partiellen Differentiation.95
Abb. 5.4. Die entscheidende Abbildung in Huygens Traite de la lumière (1690) und ihre Aufnahme durch Johann Bernoulli in einem Brief an den Marquis de l’Hospital vom Dezember 1694.
Die Verwendung eines Unabhängigkeitsintegrals läßt sich aus einem Sachverhalt über einparametrige Kurvenscharen herauslesen, den JACOB BERNOULLI als Anagramm in der Arbeit Extrait d’une lettre de M. Bernoulli 94. G.W. Leibniz, Mathematische Schriften (hrg. von C.I. Gerhardt), Halle, Schmidt, 1855. Band III/1, 143-152. “Gegeben ist die Lage von unendlich vielen Kurven; man bestimme die Kurven die alle [ersteren Kurven] unter einem rechten Winkel schneiden”. Siehe auch Abschnitt 1.2.4 und S. Engelsman, Families of Curves and the Origin of Partial Differentation, Amsterdam, North Holland, 1984. 95. S. Engelsman, Families of Curves and the Origin of Partial Differentation, Amsterdam, North Holland, 1984, chapters 3 & 4.
432
KAPITEL 5
im Journal des Savans 1698 publizierte. Wie wir heute wissen, bezog sich das Anagramm auf die Notiz CCLIV der Meditationes.96 5.5.2 Leonhard Euler (1707-1783) Der Arbeit Elementa calculi variationum (E 296, geschrieben um 1756, gedruckt 1766 in den Commentarii Academiae Scientarum, Petropoli) stellte LEONHARD EULER eine Zusammenfassung voran, in der er mit den bekannten Worten die Leistung des 19jährigen JOSEPH-LOUIS LAGRANGE in der Variationsrechnung würdigte, der mit seinem δ-Kalkül den behandelten Problem der Variationsrechnung die sachgemäße analytische Wendung gegeben habe. Damit war der Weg frei geworden, vom konkreten anschaulichen Fall zur allgemeinen formalen Behandlung des Problems zu schreiten, und in der Hand von EULER erwies sich der neue Kalkül als außerordentlich geschmeidig und fruchtbar. In einer anderen Arbeit Analytica explicatio methodi maximorum et minimorum (E 297) aus dem gleichen Band der Commentarii, die jedoch – wie CONSTANTIN CARATHÉODORY in seiner Einführung zum Band I/24 der Eulerschen Opera omnia97 darlegte – vor dem Artikel E 296 verfaßt wurde, erkannte der “analytisch orientierte” EULER das identische Verschwinden der später nach ihm benannten Differentialgleichung eines Variationsproblems mit einer gesuchten Funktion y = y(x) als notwendig und hinreichend für die Integrabilität des Integranden Z des Variationsproblems
∫
Zdx → Minimum/Maximum,
(Z = z(x, y(x), y'(x))),
bzw. für die Existenz einer Funktion W(x, y) mit dW/dx = Z.
Weitere einschlägige Bemerkungen hierzu macht ISAAC TODHUNTER (18201884) in seiner Geschichte der Variationsrechnung (1861),98 allerdings führten spätere Autoren wie SYLVESTRE LACROIX (1765-1843), FRÉDÉRIC SARRUS (1798-1858), SIMEON POISSON (1781-1840) oder FRANÇOIS MOIGNO (18041884) solche Untersuchungen losgelöst von den Auswirkungen auf die Variationsrechnung. JOSEPH BERTRAND (1822-1900) bezog sich in einer Arbeit von 1841 auf EULERS Ergebnis und verallgemeinert es auf mehrere gesuchte Funktionen.99 Interessant in diesem Zusammenhang ist der kurze, aber wichtige 96. Sowohl der Briefauszug Extrait als auch vor allem die zugehörige und bislang unpublizierte Eintragung aus dem Notizbuch Meditationes finden sich in den von H.H. Goldstine herausgegebenen Streitschriften von Jacob und Johann Bernoulli (Basel, Birkhäuser, 1991) auf den Seiten 362 und 370-374 sowie kommentiert im Vorwort des Herausgebers auf Seite 100. 97. Opera omnia Euleri, I/24, Zürich, Orell Füssli, 1952, S. XXXIII (Methodus inveniendi). 98. A history of the calculus of variations, Cambridge, Macmillan, 1861, chap. XVII. 99. Journal de l'École Polytechnique 17 (1841), zitiert nach I. Todhunter, A history of the calculus of variations, 514.
UNABHÄNGIGKEITSINTEGRAL UND MAYERFELDER
433
Briefwechsel von EULER mit NIKOLAUS I BERNOULLI über totale Differentiale, denn hier werden Kurvenscharen und ihre orthogonalen Trajektorien nicht mehr geometrisch, sondern bereits analytisch charakterisiert.100 EULER benutze aber die Integrabiltätseigenschaft noch in einer weiteren bemerkenswerten Art, um die Integration der Eulerschen Differentialgleichung zu vereinfachen. Er bemerkte nämlich, daß man eine Ableitung vom höchsten Grade, die im Integranden Z nur linear erscheint, durch ein geeignetes vollständiges Differential Udx beseitigen könne. Denn die Variationsprobleme
∫
(Z – U) dx → extremum,
∫
Zdx → extremum,
haben dieselben Extremalen, aber in der Differenz Z – U kann der Grad der Ableitung um eins reduziert werden. Entsprechende Ausführungen finden sich bereits in EULERS Methodus inveniendi (E 65, 1744 gedruckt) oder im Anhang des Bandes III von EULERS Institutiones Calculi Integralis (E 385, 1770 gedruckt), wo der Autor Erläuterungen über die Kurven gibt, denen die Eigenschaft eines Maximums oder Minimums zukommt und die er dabei klassifiziert.101 CARATHÉODORY bemerkte in der Einführung: “Es ist vielleicht nicht müßig, auf die Verwandtschaft dieser Bemerkung Eulers mit der Idee des Hilbertschen Unabhängigkeitsintegrals hinzuweisen.”102 Aber ebenso ist es nicht müßig, auf die Verbindung zu CARATHÉODORY selbst hinzuweisen, da hier auch die Idee des äquivalenten Variationsproblems aufschimmert. Eine moderne Darstellung der Integrabilität findet man beispielsweise in der Monographie Calculus of variations103 von MARIANO GIAQUINTA (geb. 1947) und STEFAN HILDEBRANDT (geb. 1936). Neben dem auf der Hand liegenden Sinn der Integrabilität für das Hilbertsche Unabhängigkeitsintegral kommt ihr darüber hinaus auch in der Theorie der Integralgleichungen Bedeutung zu, die sich in einschlägigen invarianten geometrischen oder topologischen Aussagen zeigt (Abbildungsgrad oder Windungszahl einer geschlossenen Kurve). 5.5.3 Adrien-Marie Legendre (1752-1833) Ein “analytisch” formuliertes Unabhängigkeitsintegral ist in der Variationsrechnung auch von ADRIEN LEGENDRE 1786 benutzt worden und zwar
100. S. Engelsman, Families of Curves and the Origin of Partial Differentation, Amsterdam, North Holland, 1984; der Briefwechsel in Opera omnia Euleri, IV A/2, Basel, Birkhäuser, 1998. 101. Beide Bände in den Opera omnia Euleri, I/24, Orell Füssli, Zürich, 1952; I/12, Leipzig, B.G. Teubner, 1914. 102. Opera omnia Euleri, I/24, XXXVI, Orell Füssli, Zürich, 1952. 103. Berlin, Springer, 1996, 2 vols., chap. 1, sect. 4.
434
KAPITEL 5
gleichfalls, um hinreichende Bedingungen für Extremalität zu gewinnen. LEGENDRE formte mit Hilfe eines “Unabhängigkeitsintegrals” die zweite Variation so um, daß diese nicht negativ wurde. Allerdings setzte er dabei unzulässig voraus, daß die Lösungen gewisser Differentialgleichungen, die er für die Konstruktion des unabhängigen Integrals benötigte, stetig seien. Im Sinne von CONSTANTIN CARATHÉODORY läßt sich das umgeformte Variationsproblem als ein äquivalentes Variationsproblem deuten (siehe Abschnitt 2.3.4).104 5.5.4 Eugenio Beltrami (1835-1900) EUGENIO BELTRAMI105 hat die partielle Differentialgleichung 1. Ordnung für die Gefällefunktion (bzw. Feldfunktion) p = p(x, y) als Bedingung für die Wegunabhängigkeit eines (Hilbertschen) Integrals bereits 1868 erkannt. Wir wollen seine entsprechende Arbeit Sulla teoria delle linee geodetiche106 deshalb etwas genauer betrachten. BELTRAMIS Beiträge (“Pseudosphären”) zur nichteuklidischen Geometrie aus dem gleichen Jahr haben diese Arbeit zur Variationsrechnung überschattet, und es war erst ADOLF KNESER gewesen, der ihre Bedeutung wieder erkannt hat. Wir lesen bei OSKAR BOLZA hierüber: The theorem was first given […] by Beltrami in a paper on geodesics, Sulla teoria delle linee geodetiche, published in 1868. […] This important paper seems to have remained unnoticed until quite recently (my own attention has been called to it by Professor Kneser). The theorem was rediscovered thirty years later by Hilbert who made it the basis of his well-known proof of Weierstrass’ theorem.107 BELTRAMI war sich bewußt, daß sich das Problem der geodätischen Linien als Spezialfall eines allgemeinen Variationsproblems ergab. Er eröffnete die Arbeit mit Bemerkungen über den Zusammenhang von Variationsrechnung, partiellen Differentialgleichungen erster Ordnung und JACOBIS Dynamik sowie deren Anwendungen in der Theorie der geodätischen Linien:
104. “Sur la manière de distinguer les maximas des minimas dans le calcul des variations”, Mémoires de l’Académie Royale de Paris 1786, 1787, 1789, insbesondere die Arbeit von 1786. Kritik von Lagrange bereits 1797 in seiner Théorie des fonctions analytiques, Paris, 1797, 305, wobei jedoch Legendre selbst nicht genannt wird, sondern nur auf die Mémoires verwiesen wird. Daher vermutlich erneute Kritik von Brunacci 1806 und Jacobi 1838. 105. Eugenio Beltrami, Studium in Pavia und Mailand, 1862 Professor für Geodäsie in Pisa, 1866 für Mechanik in Bologna, 1873 für Mechanik in Rom, 1876 für mathematische Physik in Pavia und danach in Rom. 106. Eugenio Beltrami, “Sulla teoria delle linee geodetiche”, Rendiconti del R. Instituto Lombardo, 2 (1868) 1, 708-718; auch in: Opere matematiche, vol. 1, Milano, Hoepli, 1902, nota XXIII. 107. “Weierstrass’ theorem and Kneser’s theorem on transversals for the most general case of an extremum of a simple definit integral”, Transactions of the AMS, 7 (1906), 459-488, 460 (footnote). Eine analoge Fußnote findet sich auf S. 107 der Vorlesungen über Variationsrechnung (1909) von Bolza; in dem amerikanischen Vorläufer Lectures (1904) fehlt ein solcher Hinweis noch.
UNABHÄNGIGKEITSINTEGRAL UND MAYERFELDER
435
E noto che le mirabili scoperte di Jacobi sul nesso che vige fra le equazioni dinamiche, le equazioni isoperimetriche e le equazioni a derivate parziali del primo ordine non lineari, hanno ricevuto un’utile applicazione nella teoria delle linee geodetiche. Sebbene tale applicazione non presenti alcuna difficoltà per chi abbia conoscenza del nesso sovraccennato, tuttavia ci è sembrato che vi si verifichino alcune particolarità le quali, mancando di riscontro nella dottrina generale, rendono forse non inopportuna una dimostrazione speciale.108 Zur Vorbereitung des angekündigten Zusammenhangs formte BELTRAMI zunächst die zum Variationsproblem gehörige Differentialform dy f(x, y, ----- ) dx dx
um, indem er deren Homogenität in den Differentialen dx und dy ausnützte.109 Sie kann daher auf die Form dy f(x, y, ----- ) dx = Xdx + Ydy dx
gebracht werden. Nun bestimmte BELTRAMI die Gestalt für die Ausdrücke X und Y: Es ist X = f – Yy',
und hieraus folgt durch Differenzieren nach y' (bzw. p) Y = fp ,
und damit X = f – y'fp.
Somit hatte BELTRAMI die Darstellung dy f(x, y, ----- ) dx = (f - y'fp) dx + fpdy dx
erhalten.
108. E. Beltrami, Opere, vol. 1, Milano, Hoepli, 1902, 366. “Es ist bekannt, daß die wunderbaren Entdeckungen Jacobis über den Zusammenhang zwischen den dynamischen Gleichungen, den isoperimetrischen Gleichungen [Eulersche Gleichungen] und den nichtlinearen partiellen Differentialgleichungen erster Ordnung eine nützliche Anwendung in der Theorie der geodätischen Linien gefunden haben. Obgleich diese Anwendung keine Schwierigkeiten für denjenigen bietet, der eine ungefähre Kenntnis von der Sachlage hat, erschien es uns dennoch angeraten, einige Besonderheiten zu beweisen, die in der allgemeinen Theorie unbeachtet blieben. Das was folgt, stellt das Charakteristische in großer Einfachheit dar”. 109. Vergleiche Hilberts Zugang im Abschnitt 5.4.1.
436
KAPITEL 5
Weiter ging BELTRAMI von einem intermediären Integral y' = p(x, y) (integralo primo) der Eulerschen Differentialgleichung des Variationsproblems aus. Indem er dieses Integral in die Eulerschen Differentialgleichung einsetzte, gewann er folgende eigentümliche Form dieser Differentialgleichung: ∂ ( f – y'f p ) ∂f ------------------------ = ------p∂y ∂x
bzw.
∂----X∂Y = ------ . ∂y ∂x
Das sind gerade die Integrabilitätsbedingungen für eine Funktion F = F(x, y), wenn man setzt: (1) Fx = f – y'fp ,
Fy = fp.
Somit kann, wie es später HILBERT getan hat, F als wegunabhängiges Linienintegral ausgedrückt werden: F(x, y) = ∫ dF = ∫ F x dx + F y dy = =
∫ ( f – p ( x, y )fp dx – fp dy
∂f
⎞ dx + f dy p ∫ ⎛⎝ f – y' ----∂p⎠
.
C
BELTRAMI selbst wies auf die von ihm gefundene bemerkenswerte Form der Eulerschen Gleichungen mit folgenden Worten hin: Si ha così quest'interessante proprietà che, sostituendo nelle X, Y il valore di y' dedotto da un integral primo del problema, l'equazione isoperimetrica prende la forma ∂----X∂Y = -----∂y ∂x
cioè diventa la solita condizione d'integrabilità del differenziale a due variabili indipendenti in cui si è convertito l'elemento fdx.110 Er eliminierte schließlich y' aus den Gleichungen (1) und fand, daß F einer partiellen Differentialgleichung erster Ordnung ∂F ∂F Φ ⎛ x, y, ------, ------⎞ = 0 , ⎝ ∂x ∂y ⎠
(Hamilton-Jacobische Differentialgleichung) genügte, die als Ausgangspunkt zur Bestimmung von F dienen kann. Mit Bemerkungen über das vollständige Integral dieser Differentialgleichung leitete BELTRAMI zu den Anwendungen auf geodätische Linien über, denen der restliche Teil der Arbeit gewidmet ist. Hier wies er übrigens auf die mögliche geometrische Interpretation von F zur
110. Beltrami, Opere, vol. 1, Milano, Hoepli, 1902, 367. “Man hat es also mit der interessanten Eigenschaft zu tun, daß mit einem y', das aus einem intermediären Integral der Eulerschen Gleichung genommen wird, nach dessen Substitution in X und Y die Eulerschen Gleichung die Gestalt ∂X ⁄ ∂y = ∂Y ⁄ ∂x annimmt und somit die übliche Integrabilitätsbedingung eines Differentials in zwei Veränderlichen ist, in das sich f dx transformiert hat”.
UNABHÄNGIGKEITSINTEGRAL UND MAYERFELDER
437
Festlegung des geodätischen Abstands hin, was in den einleitenden allgemeinen Betrachtungen nicht der Fall gewesen war. HILBERTS und BELTRAMIS Betrachtungen sind einem wegunabhängigen Integral gewidmet, aber beide beschreiten dabei verschiedene Wege. Während HILBERT vom Unabhängigkeitsintegral ausgeht und die Feldfunktion p = p(x, y) so bestimmt, daß Wegunabhängigkeit vorliegt, nähert sich BELTRAMI in umgekehrter Weise diesem Ziel. Er geht von vornherein von einem intermediären Integral der Eulerschen Differentialgleichung aus und zeigt, daß ein entsprechendes Differential total bzw. das zugehörige Integral wegunabhängig ist. Bei BELTRAMI besteht der bemerkenswerte Einfall in der Einsicht, daß die Eulersche Differentialgleichung als eine partielle Differentialgleichung für die Feldfunktion p = p(x, y) geschrieben werden kann, und der Rest ist gewissermaßen eine “Routineangelegenheit”. HILBERT andererseits startet mit dem Unabhängigkeitsintegral als bemerkenswertem Einfall, und bei ihm ist das Aufstellen der Bedingungen für Wegunabhängigkeit “mathematische Routine”.111 5.5.5 Shiing-shen Chern (geb. 1911) SHIING-SHEN CHERN hat sich ausgiebig mit Finslerscher Geometrie beschäftigt, die sich in natürlicher Weise aus der geometrischen Interpretation eines Variationsproblems ableiten läßt. Die Finslersche Metrik verallgemeinert die Riemannsche Maßbestimmung. Damit führen CHERNS Untersuchungen auch auf ein zugeordnetes Hilbertsches invariantes Integral. Unterwirft man den Raum, in dem das Variationsproblem erklärt ist, irgendwelchen Punkttransformationen, so kann man nach metrischen Invarianten fragen, die für Kurven oder Flächen bestehen. Während in der globalen Riemannschen Geometrie für solche Fragen große Fortschritte gemacht wurden, stehen entsprechende Untersuchungen für Finslersche Räume noch am Anfang, wie hat CHERN kürzlich bemerkt hat. Wir kommen hierauf im Abschnitt 5.5.5 zurück. 5.6 Bemerkungen zum Hilbertschen Forschungsprogramm Variationsrechnung 5.6.1 Zur Darstellung des Programms DAVID HILBERT war sowohl ein “Mann der Probleme” (OTTO BLUMEN112 als auch der auf diese bezogenen Kommunikation:
THAL)
111. Siehe hierzu R. Thiele, Gauß' Arbeiten über kürzeste Linien aus der Sicht der Variationsrechnung, in: Symposia Gaussiana (2nd Gauss Symposium Munich), Conf. A. Eds.: Behara, Fritsch, Lintz. Berlin: de Gruyter 1993, pp. 167 -178; R. Thiele, On some contributions to field theory in the calculus of variations from Beltrami to Carathéodory, in: Historia mathematica 24 (1997) 281-300, insbesondere p. 294f. 112. O. Blumenthal, “Lebensgeschichte”, in D. Hilbert, Gesammelte Abhandlungen, Bd. 3, Berlin, Springer, 1935, 428.
438
KAPITEL 5
“Wissenschaft wird auch mündlich übertragen, nur aus Büchern ist unfruchtbar – so etwa.”113 Die gute Quellenlage erlaubt es, bei der Beschreibung des Forschungsprogramms neben den publizierten Ergebnissen auch die informellere Ebene der Lehre und Forschung heranzuziehen. Zunächst bemerken wir aber, daß unser Thema “Feldtheorie” (wie es von HILBERT selbst als 23. Problem seines Pariser Vortrags formuliert wurde) natürlich nur ein Aspekt der Hilbertschen Interessen in der Variationsrechnung gewesen ist und daß eine umfassendere Darstellung von HILBERTS Variationsrechnung, als sie von uns beabsichtigt ist, in ein größeres Umfeld einzubetten wäre, zu dem auch das 19. und 20. Problem des Pariser Vortrags (Existenz von Lösungen eines Variationsproblems und deren analytischer Charakter) gehörten sowie das 23. Problem in seiner weiteren Auslegung zu berücksichtigen wäre, in der nach der Entwicklung der Variationsrechnung schlechthin gefragt wird. Gerade die durch das 19. und 20. Problem angeregten Fragen sind ein Ausgangspunkt für die beeindruckende Erfolgsgeschichte der Analysis in unserem Jahrhundert geworden. Fehlt aber die Einbindung unseres engeren Themas in diesen allgemeinen Zusammenhang, wie es aus verschiedenen Gründen in den von LUDWIG BIEBERBACH (1886-1982), PAVEL S. ALEXANDROV (1896-1982), FELIX BROWDER (geb. 1927), JEAN-MICHEL KANTOR (geb. 1946), JEREMY GRAY (geb. 1947) oder BENJAMIN H. YANDELL (geb. 1951)114 gegebenen Übersichten der Fall ist, so übersieht man leicht die Leistungen der Feldtheorie, und es ist hier ROLF KLÖTZLER (geb. 1931) beizupflichten: “Gegenüber den epochalen Erkenntnissen zum [19. und] 20. Problem mag den Kommentatoren zum 23. Problem die Feldtheorie als unausgereift und ‘altmodisch’ erschienen sein, da sie in ihrer Anlehnung an die klassische
113. D. Hilbert, Mathematische Notizhefte, Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek, Göttingen, Handschriftenabteilung, Cod. Ms. D. Hilbert 600:1, S. 99. 114. L. Bieberbach, “Über den Einfluß von Hilberts Pariser Vortrag über ‘Mathematische Probleme’ auf die Entwicklung der Mathematik in den letzten dreißig Jahren”, Die Naturwissenschaften, 51 (1930), 1101-1111; P.S. Alexandrov (Hrg.), Die Hilbertschen Probleme, Moskau, Nauka, russisch 1969; in Ostwalds Klassiker, Bd. 252, Leipzig, Geest und Portig, deutsch 1983; F. Browder (ed.), “Mathematical developments arising from Hilbert Problems”, Proceedings of Symposia in Pure Mathematics, vol. 28, AMS. Providence, RI, AMS, 1976; J.-M. Kantor, “Hilbert’s Problems and Their Sequels”, The Mathematical Intelligencer, 18, 4, (1996), 21-30; J. Gray, The Hilbert Challenge, Oxford, Oxford University Press, 2000; B. Yandell, The Honors Class. Hilbert’s Problems and Their Solvers, Natick, Peters, 2002. Beispielsweise gibt Bieberbach an, daß ein Eingehen auf das 23. Problem den gezogenen Rahmen sprengen würde (S. 1109), und Kantor schreibt lediglich “The study of extensions of the calculus of variations (Problem 23) has had a very wide development in recent years” (p. 27) und gibt zu den Problemen 19, 20 und 23 eine völlig verfehlte Literaturangabe (p. 30). Yandell kommt auf das 23. Problem erst auf der unteren Hälfte der vorletzten Seite seines Buches zu sprechen, p. 381f.!
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439
Hamilton-Jacobische Theorie meist nur zu Optimalitätsaussagen im Kleinen fähig war.”115 Der von uns gewählte Rahmen der Darstellung des Forschungsprogramms wird durch zwei Gesichtspunkte bestimmt: Es sind zum einen die von HILBERT vergebenen Promotionsthemen zur Variationsrechnung (insbesondere zur Feldtheorie) und zum anderen die Anwendungen, die HILBERT von seinen feldtheoretischen Untersuchungen (insbesondere vom Unabhängigkeitssatz) außerhalb der Variationsrechnung sowohl in mathematischen Disziplinen als auch in der mathematischen Physik gemacht hat. 5.6.2 Allgemeine Bemerkungen zu den Dissertationen Unter HILBERTS Leitung sind von 1898 bis 1933 insgesamt 69 Dissertationen angefertigt worden, davon gehören etwa 40 dem ersten Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts an. Hiervon entfallen auf die Analysis reichlich zwei Dutzend Dissertationen, deren Themen sich etwa zu gleichen Teilen auf die Variationsrechnung (einschließlich geometrischer Variationsprobleme) und die Integralgleichungen verteilen. Betrachtet man die Arbeiten zur Variationsrechnung im weitesten Sinn, so wurden von 1900 bis 1914 etwa 20 Dissertationen in der Variationsrechnung verteidigt (und man könnte auch CONSTANTIN CARATHÉODORYS Habilitation von 1905 hinzurechnen, deren Ausführung durch HILBERT nachhaltig gefördert und formal ermöglicht wurde). Einen Überblick geben die folgenden drei Tabellen: Zeitliche Aufteilung der 69 Dissertationen (alle bzw. nur die Variationsrechnung im engeren Sinn betreffende) 1898-99 1900-04 9 20 0 6
1905-1909 17 4
1910-14 1915-19 1920-30 1930-33 4 1 6 2 4 0 0 0
Grobe thematische Aufteilung der Dissertationen auf einige Gebiete Zahlentheorie 9
Geometrie 10
Analysis Logik Physik 24 7 5 davon: Variationsrechnung 12 Integralgleichungen 12
115. R. Klötzler, In welchem Sinn wurde das 23. Hilbertsche Problem bisher gelöst?, Preprint der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus, Fakultät für Mathematik, 1996, 5.
440
KAPITEL 5
Dissertationen bei Hilbert zur Variationsrechnung oder zu benachbarten Gebieten Die Dissertationen sind chronologisch nach dem Datum der mündlichen Prüfung geordnet und im Hinblick auf alle Hilbertschen Dissertationen numeriert (Angabe in [ ]). Der Zeitraum von 1900 bis 1914, zu welchem alle Dissertationen zur Variationsrechnung gehören, stellt mit 51 erfolgreichen Verteidigungen einen der produktivsten Abschnitte im Wirken von HILBERT dar. 1900
[13]
1901
[14] [15] [18]
[19]
[20]
1902
[21] [22] [23] [24]
1903
[26] [28]
1905
[--]
E. J. TOWNSEND, Über den Begriff und die Anwendung des Doppellimes; E. R. HEDRICK, Über den analytischen Charakter der Lösungen von Differentialgleichungen; C.A. NOBLE, Eine neue Methode in der Variationsrechnung; G. HAMEL, Über die Geometrien, in denen die Geraden die Kürzesten sind [Arbeit mit besonderem Prädikat]; N. GERNET, Untersuchungen zur Variationsrechnung. Über eine neue Methode in der Variationsrechnung [1. Untersuchung zur Feldtheorie]; O. ZOLL, Über Flächen mit Scharen von geschlossenen Linien [Von der Philosophischen Fakultät als Preisschrift gekrönt, voller Preis]; J. O. MÜLLER [vormals RICHTER], Über die Minimaleigenschaft der Kugel; G. LÜTKEMEYER, Über den analytischen Charakter der Integrale partieller Differentialgleichungen; P. KIRCHBERGER, Über Tchebychefsche Approximation; O.D. KELLOGG, Zur Theorie der Integralgleichungen und des Dirichletschen Problems [1. Dissertation zu den Integralgleichungen]; C. M. MASON, Randwertaufgaben bei gewöhnlichen Differentialgleichungen; A. ANDRAE, Hilfsmittel zu einer allgemeinen Theorie der linearen Differentialgleichungen 2. Ordnung; C. CARATHÉODORY, Über die starken Maxima und Minima bei einfachen Integralen [Habilitation];
UNABHÄNGIGKEITSINTEGRAL UND MAYERFELDER
1906
[34]
1907
[36] [39] [40]
1910
[47]
1911
[52] [53]
1914
[60]
441
D.C. GILLESPIE, Anwendungen des Unabhängigkeitssatzes auf die Lösung der Differentialgleichungen der Variationsrechnung; A.R. CRATHORNE, Das räumliche isoperimetrische Problem; W. DE WESE CAIRNS, Die Anwendung der Integralgleichungen auf die 2. Variation bei isoperimetrischen Problemen; R. KÖNIG, Oszillationseigenschaften der Eigenfunktionen mit definitem Kern und das Jacobische Kriterium der Variationsrechnung; R. COURANT, Über die Anwendung des Dirichletschen Prinzips auf die Probleme der konformen Abbildungen; H. STEINHAUS, Neue Anwendungen des Dirichletschen Prinzips; P. FUNK, Über Flächen mit lauter geschlossenen geodätischen Linien; G. PRANGE, Die Hamilton-Jacobische Theorie für Doppelintegrale (mit einer Übersicht für einfache Integrale) [letzte Untersuchung zur Feldtheorie].
1901 hielt HILBERT auf der Jahrestagung der DMV in Hamburg vom 22.28. September über die bislang von ihm vergebenen etwa 20 Dissertationen einen Vortrag, von dem ein Konzept erhalten ist.116 Er begann mit den Worten, die seine Absicht prägnant erklären: “Das Los mathematischer Dissertationen ist es meist, dass sie wenig beachtet werden, weil sie unbequem zugänglich sind. Um einige Dissertationen diesem Lose zu entreissen, habe ich mich zu Wort gemeldet.”117 Gemäß seinen bisherigen Arbeitsgebieten hatte HILBERT die Themen in drei Gruppen angeordnet: Zahlentheorie, Geometrie und Variationsrechnung. Die uns interessierende letzte Gruppe umfaßt die Arbeiten von CHARLES ALBERT NOBLE (1867-1962), EARLE RAYMOND HEDRICK (1876-1943), NADESCHDA 116. Entwurf der Rede, 8 Seiten. Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung, Cod. Ms. D. Hilbert 587. – Dem Bericht über die Jahresversammlung von A. Gutzmer in dem Jahresbericht der DMV, 11 (1902), 4-8, kann man entnehmen, daß dieser Vortrag tatsächlich gehalten wurde: Vortrag 9, D. Hilbert, Über einige mathematische Dissertationen, 5. Ferner stellte der Herausgeber der Jahresberichte, Gutzmer, einen Bericht über die Entwicklung sowie über den gegenwärtigen Stand der Variationsrechnung von A. Kneser in Aussicht, zu dem es allerdings nicht gekommen ist. Aus Zeitgründen lehnte Kneser sowohl die Aktualisierung seines im September 1900 abgeschlossenen Encyklopädie-Artikel als auch später eine weitere Einladung Hilberts von 1909 zur Fortsetzung seines Artikels sowie des inzwischen erschienenen Berichts (1904) von H. Hahn und E. Zermelo ab (Brief an Hilbert vom 19.2.1909, Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung, Cod. Ms. D. Hilbert 180; vgl. Abschnitt 4.6.4). Siehe auch R. Thiele, “Hilbert und Hamburg”, Mitteilungen der Math. Gesellschaft in Hamburg, 22 (2003), 96-126. 117. aaO., 1.
442
KAPITEL 5
GERNET und JOHANNES MÜLLER118, und sie wäre noch durch die Dissertation von GEORG HAMEL (1877-1954)119 aus der geometrischen Gruppe zu ergänzen. Diese Untersuchungen sind im Anschluß an die Vorlesung Variationsrechnung (SS 1899) und die Vorlesung mit Seminar über Flächentheorie (II) (SS 1900) entstanden. Hätte HILBERT nach seiner zweiten Vorlesung über Variationsrechnung (WS 1904) die im Zusammenhang mit dieser Vorlesung vergebenen Themen wiederum zusammengefaßt, so wären die Arbeiten von DAVID GILLESPIE (18771935), ARTHUR CRATHORNE (1876-1946), WILLIAM DEWEESE CAIRNS (18711955) und ROBERT KÖNIG (1885-1978)120 zu nennen gewesen, an die thematisch die Dissertationen von PAUL FUNK (1886-1969) und GEORG PRANGE (1885-1941)121 angeschlossen werden könnten. Die eben genannten Dissertationen betrafen feldtheoretische Fragen oder waren direkten Verfahren der Variationsrechnung gewidmet. Die Themen der restlichen Dissertationen der obigen Liste standen überwiegend im Zusammenhang mit dem Dirichletschen Prinzip oder mit Integralgleichungen. Die Begründung des Dirichletschen Prinzips war HILBERTS viel beachteter Startpunkt in der Variationsrechnung gewesen, und sie hatte ihn
118. Charles Albert Noble, Studium in Göttingen von 1893-1896, 1900-1901, Promotion 1901; “einer der fleissigsten, sorgfältigsten und zuverlässigsten Schüler, die aus Amerika zu uns gekommen sind”, Hilbert im Gutachten zur Promotion, Universitätsarchiv Göttingen, Promotionsakte Bd. 187b; später Professor in Berkeley, Cal.; Earle Raymond Hedrick, Studium in Göttingen 1899-1901, Promotion 1901; später Professor an amerikanischen Universitäten, übersetzte deutsche und französische Lehrbüchern ins Englische; Nadeschda Nikolajewna Gernet, Studium in Göttingen 1899-1901, Promotion 1901, danach in Rußland Lehrerin an einer höheren Mädchenschule in St. Petersburg, nach deren Auflösung 1919 an der Universität Leningrad, ab 1930 am Polytechnischen Institut Leningrad, starb während der Blockade Leningrads im 2. Weltkrieg 1943; Johannes Oswald Müller, früher J.O. Richter, nahm den Namen seiner Pflegemutter an. Studium in Leipzig, Zürich, Paris und Göttingen, Promotion 1902; später nicht beamteter ao. Professor in Bonn, 1937 Entzug der Lehrerlaubnis. 119. Georg Hamel, Studium von 1895-1901 in Aachen, Berlin und Göttingen, Promotion 1901, Habilitation 1903, 1905 Professor TH Brünn, dann TH Aachen und TH(TU) Berlin. 120. David Clinton Gillespie, Studium in Göttingen 1903-1906, später an amerikanischen Universitäten (Cornell, Hopkins); Arthur Crathorne, Promotion 1907 bei Hilbert (nach Wiederholung), später in USA tätig; William DeWeese Cairns, Studium in Göttingen 1905-1907, Promotion 1907; seit 1907 Oberlin College, Ohio, später dort Professor, während des 2. Weltkrieges Mitglied eines Kriegsausschusses; Robert König, Studium von 1903-1907 in Wien und Göttingen, Promotion 1907, später Professor in Jena. 121. Paul Funk, Studium von 1904-1911 in Tübingen, Wien und Göttingen, Promotion 1911. Deutsche Universität Prag 1915, später Wien; Georg Prange, Studium in Göttingen 1903-1904, 1905-1906, Krankheit von 1906-1910, seit 1910 TH Hannover, 1912 Prüfung für das Lehramt in Göttingen, Promotion 1914, später Professor an der TH Hannover.
UNABHÄNGIGKEITSINTEGRAL UND MAYERFELDER
443
neben anderem allgemein zu der Frage geführt, welche Vorteile die Kenntnis eines Variationsproblems für die Integration einer Differentialgleichung hat, wenn diese als Eulersche Differentialgleichung des Variationsproblems angesehen werden kann. LAURENCE CHISHOLM YOUNG (1905-2000) beschrieb HILBERTS hierbei entwickelte direkte Methode so: Instead of developing a theory, he illustrated his [direct] methods by applying them to particular problems. For this reason, his existence theory has been formulated in various ways, and every writer gives a different version.122 Unter den Dissertationen befinden sich einige, die in diesem Sinne Variationen der direkten Methode behandeln (z.B. NOBLE, HEDRICK, GILLESPIE). 5.6.3 Die Dissertationen zur Feldtheorie Die Dissertationen zur Feldtheorie bei HILBERT werden ausführlich im Kapitel 6 behandelt. Im folgenden wird nur eine kurze Übersicht gegeben. Von den bei HILBERT angefertigten Dissertationen betreffen etwa ein Dutzend die Variationsrechnung, davon behandeln etwa ein halbes Dutzend (auch) feldtheoretische Fragen unter denen die folgenden drei von GERNET, MÜLLER und PRANGE besonders erwähnenswert sind. Die Arbeit Untersuchung zur Variationsrechnung (1901) von NADESCHDA GERNET war die erste dieser Dissertationen zur Feldtheorie, und wie HILBERT selbst in seinem Vortrag auf der DMV-Tagung 1901 in Hamburg darlegte, war es der Zweck dieser Dissertation die “Darstellung der in meinem Pariser Vortrag angedeuteten Methode auf ein einfaches Integral mit mehreren gesuchten Funktionen [sowie Nebenbedingungen]”123 auszudehnen. Während HILBERT dieses Ziel zunächst als erreicht ansah (1901), schätzte er später nach Erscheinen der einschlägigen Mayerschen Arbeit Über den Hilbertschen Unabhängigkeitssatz in der Theorie des Maximums und Minimums der einfachen Integrale (1903)124 die Dissertation als verfehlt ein.125 GERNET war, den Hilbertschen Vorgaben folgend, von speziellen Extremalenfeldern ausgegangen, die heute als singuläre, stigmatische oder zentrale Felder (engl. stigmatic and central fields) bezeichnet werden und die automatisch Mayerfelder sind. Somit wird in der Tat bei mehreren gesuchten Funktionen durch zentrale Felder die Feldproblematik in ihrem Wesen nicht erfaßt, 122. L.C. Young, Lectures on the calculus of variations and optimal control theory, New York, Chelsea, 1980, 123. 123. Entwurf der Rede, 8 Seiten. Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung, Cod. Ms. D. Hilbert 587. 124. “Über den Hilbertschen Unabhängigkeitssatz”, Leipziger Berichte, 55 (1903), 131-145. 125. Variationsrechnung (WS 1904/05), Vorlesungsmitschrift, ausgearbeitet von E. Hellinger, Mathematisches Institut der Universität Göttingen, 309.
444
KAPITEL 5
worauf A. MAYER in seiner eben genannten Arbeit von 1903 hingewiesen hatte.126 Offenbar hatte HILBERT aufgrund der Mayerschen Kritik den zu engen Rahmen der Gernetschen Untersuchungen erkannt, den er allerdings selbst mit abgesteckt hatte. Wir gehen auf die Gernetsche Feldkonstruktion im Abschnitt 6.6.1 ausführlicher ein. Hervorhebenswert ist allerdings in der überarbeiteten russischen Fassung Ob osnownoi prostischei sadatsch wariazionnawo istschislenija (Über einfache Grundaufgaben der Variationsrechnung) (1913)127 GERNETS Behandlung von Nebenbedingungen in Form von Ungleichungen, die drei Jahrzehnte vor der Dissertation The problem of Lagrange with differential inequalities as added side conditions von FREDERIK ALBERT VALENTINE (?-2003) in Chicago 1937 durchgeführt wurde.128 Allerdings ist die vor allem in der russischen Literatur kolportierte Auffassung falsch, daß der in der Optimierungstheorie benutzte Trick, Beschränkungen durch Ungleichungen der Art ϕ(x) < ψ(x) durch Einführung einer weiteren Variablen z(x) auf eine Nebenbedingung in Gleichungsform ϕ(x) + z2(x) = ψ(x) zu bringen, auf GERNET (1913) und VALENTINE (1937) zurückgeht, da dieser Kunstgriff schon 1889 von A. MAYER benutzt wurde.129 Entsprechende Betrachtungen finden sich auch bei WEIERSTRAß in den Vorlesungen, KNESER ging in seinem Lehrbuch hierauf ein, und sie sind von BOLZA erweitert und publiziert worden, wobei BOLZA 1907 in einem Brief an KNESER darauf verwies, daß Ungleichungen als Nebenbedingungen bereits bei GAUß zu finden seien.130 HILBERT kündigte in dem Hamburger Vortrag weiterhin an, daß JOHANNES MÜLLER die in seinem Pariser Vortrag skizzierte Methode auf Doppelintegrale ausdehnen werde, womit im seinerzeitigen Verständnis auch die mehrdimensionale Variationsrechnung ganz erfaßt worden wäre und somit die damals üblichen Variationsprobleme mittels der Hilbertschen Methode behandelt worden wären. Dazu kam es nicht ganz, da MÜLLER keine allgemeine Theorie aufstellte, sondern sich auf einen typischen räumlichen Fall für die Anwendung des Weierstraßschen Kriteriums mittels des Unabhängigkeitsintegral beschränkte, indem er die Minimaleigenschaften der Kugel mit feldtheoreti-
126. “Über den Hilbertschen Unabhängigkeitssatz”, Leipziger Berichte, 55 (1903), 131-145. Kritik, 132, 144. 127. St. Petersburg, Erlich, 1913. Kapitel 7 enthält einfache Nebenbedingungen in Ungleichungsform wie y' + 2x ≥ 0. 128. Bekannt ist F.A. Valentine, Convex sets, McGraw-Hill, 1964. 129. Siehe hierzu A. Dorofeeva, “The calculus of variation”, Mathematics of the 19th century, vol. 3 (A.N. Kolmogorov, A.P. Yushkewich), Basel, Birkhäuser, 1998, 260. Übersetzung aus dem Russischen; A. Mayer, “Zur Theorie des gewöhnlichen Maximums und Minimus”, Leipziger Berichte, 41 (1889), 122-144. 130. O. Bolza, Vorlesungen über Variationsrechnung, Leipzig, B.G. Teubner, 1909, § 52; A. Kneser, Lehrbuch der Variationsrechnung, Braunschweig, Vieweg, 1900, § 42. Der Brief Bolzas, der seinerzeit mit der Variationsrechnung bei Gauß befaßt war, ist vom 14.10.1921 und bezieht sich auf die “Allgemeinen Lehrsätze”, (Werke, Bd. 5, 232), Cod. Ms. A. Kneser A2, Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung.
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schen Mitteln bewies.131 Er hatte so ein Variationsproblem mit Nebenbedingungen (ein sogenanntes Lagrangeproblem) zu behandeln, für das er ein Unabhängigkeitsfeld (Mayerfeld) konstruieren konnte (§§ 11, 13). HILBERT schätzte jedoch diese “Ausdehnung auf den schwierigen Fall des Doppelintegrals” als “erhebliche wissenschaftliche Leistung”132 ein. Im Abschnitt 6.6.2 gibt es hierzu eine ausführliche Diskussion. Eine weitere Dissertation, die von ARTHUR CRATHORNE über räumliche isoperimetrische Probleme (1907), befriedigte HILBERT nicht, da sie nichts Neues brachte. DAVID GILLESPIES Untersuchungen (1906) verfolgten das Ziel, den Zusammenhang von intermediären Integralen der Eulerschen Differentialgleichungen bei einfachem Integral mit entsprechenden gruppentheoretischen Kriterien von SOPHUS LIE (1842-1899) zu vergleichen und damit den Zusammenhang von Variationsrechnung und Liescher Gruppentheorie zu erforschen. Die hiermit verknüpften Erwartungen HILBERTS um 1905 sind insofern interessant, da er sich später in seiner Vorlesung über gewöhnliche Differentialgleichungen im SS 1912 über die Rolle der Gruppentheorie folgendermaßen äußerte: “Nachdem wir uns […] einen Überblick über die Probleme verschafft haben, die bei der Behandlung von Differentialgleichungen auftauchen, gehen wir dazu […] über, das Material systematisch zu ordnen und die Fragen aus einem gemeinsamen Prinzipe zu beantworten. Als solches wählen wir einmal die Variationsrechnung und dann die Methode der Integralgleichungen. Wir könnten auch andere Methoden, z.B. die Gruppentheorie heranziehen; wir tun es nicht, weil sie, so hoch auch ihr mathematisches Interesse ist, nicht die gleiche Bedeutung für die physikalischen Anwendungen hat wie die erstgenannten beiden Methoden.”133 Hier teilte HILBERT noch den seinerzeit in Physikerkreisen verbreiteten Vorbehalt gegenüber der Gruppentheorie. GEORG PRANGE hat in seiner Dissertation (1914) bemerkt, daß alle Resultate von GILLESPIE eine unmittelbare Konsequenz entsprechender Sätze von HENRI POINCARÉ über die relativen Integralinvarianten aus dessen Himmelsmechanik Les Méthodes nouvelles de la Mécanique céleste seien.134 HILBERT selbst war mit den Resultaten GILLE-
131. Promotion Über die Minimaleigenschaften der Kugel bei Hilbert, verteidigt am 24.2.1902; sechsseitiger Bericht über diese Dissertation in den Göttinger Nachrichten 1902. – Der erste strenge Beweis gelang H.A. Schwarz (Gesammelte Mathematische Abhandlungen, Bd. 2, Berlin, Springer, 1890, 327-340). Obwohl Schwarz angab, sich einer von Weierstraß ausgebildeten Schlußweise zu bedienen, bleibt der Beweis vom Standpunkt der Variationsrechnung undurchsichtig. Siehe auch den entsprechenden Briefwechsel zwischen Schwarz und Weierstraß, Abschnitt 3.6.2. 132. Gutachten zu der Dissertation in der Promotionsakte 188b (1902-03), Archiv der Universität Göttingen. 133. Mathematisches Institut der Universität Göttingen. Einleitung zum Teil III, 137. 134. Die Hamilton-Jacobische Theorie für Doppelintegrale, Göttingen, 1915, 26.
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KAPITEL 5
SPIES,
sofern sie mehrere gesuchte Funktionen betrafen, nicht völlig zufrieden, da sie einige Fragen offen ließen. Den Abschluß der bei HILBERT zur Feldtheorie angefertigten Dissertationen bildete die Arbeit von GEORG PRANGE Die Hamilton-Jacobische Theorie für Doppelintegrale (mit einer Übersicht der Theorie für einfache Integrale) aus dem Jahre 1914. HILBERT hatte zu dieser Zeit die Integralgleichungen erfolgreich bearbeitet und sich erneut einem anderen Gebiet, diesmal der Physik zugewandt. PRANGES Arbeit ließe sich thematisch durchaus als begleitende Untersuchung zu HILBERTS physikalischen Forschungen auffassen, aber sie war es nicht, denn gesundheitliche Gründe hatten PRANGES Studienabschluß und seine Promotion verzögert. Die inhaltliche Nähe von GEORG PRANGES Untersuchungen zur Physik135 ist vermutlich wesentlich der Tatsache geschuldet, daß PRANGE, der 1905 wie auch MAX BORN in Göttingen gewesen war, vermutlich HILBERTS große Mechanikvorlesung im WS 1905 gehört hat, was sich dann auch auf seine Dissertation ausgewirkt haben dürfte. Umgekehrt hat die Hilbertsche Variationsrechnung auf den Physiker BORN eingewirkt, was bereits seine erste Arbeit, die Dissertation, sehr augenfällig macht und was ein Anhang in der englischen Ausgabe seiner Optik (Born and Wolf, Principles of Optics. Oxford: Pergamon 1959), der HILBERTS Vorlesung zur Variationsrechnung von 1904 in Kurzfassung angibt, verdeutlicht (vgl. Abschnitte 5.8.2 und 5.10.1). 5.7 Beziehungen zu den Integralgleichungen Die Variationsrechnung war kurz vor der Jahrhundertwende ein Arbeitsgebiet von HILBERT geworden. Seit jedoch HILBERT im Winter 1900/01 von dem in Göttingen weilenden schwedische Mathematiker ERIK HOLMGREN (18721943) über neue Ergebnisse bei Integralgleichungen durch IVAR FREDHOLM gehört hatte, fanden Integralgleichungen zunehmend sein Interesse, und sie gaben sogar den Ausschlag, das gerade begonnenen Forschungsgebiet zu wechseln.136 Seine erste Vorlesung über Integralgleichungen, die Einführung in die Theorie der Integralgleichungen, im SS 1905 leitete HILBERT mit den Worten ein: “Die Integralgleichung sind von außerordentlicher Bedeutung für die Mathematik; ihre Theorie erscheint mir als das einfachste transcendente Pro135. M. Born zitiert diese Dissertation in einer Arbeit über die Quantisierung der Feldgleichungen zustimmend, aber H. Weyl bemerkte in einer Erwiderung auf diesen Artikel: “Born himself refers to Prange: Thesis, Göttingen 1915. But the theory [for multi-dimensional cases] was developed before Prange in a more general and suitable form by Volterra (1890), Fréchet (1905) and de Donder”. (H. Weyl, “Observations on Hilbert’s independence theorem and Born’s quatization of field equations”, The Physical Review, 46 (1934), 505-508). 136. H. Weyl, “David Hilbert and his mathematical work”, Bulletin of the AMS, 50 (1944), 612-654, 612.
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blem. […] Die Allgemeinheit des Problems ist außerordentlich hoch. […] Die Anwendungen der Theorie sind außerordentlich mannigfaltig; sie beziehen sich auf die Theorie der bestimmten Integrale, die Entwicklung willkürlicher Funktionen in unendliche Reihen, die Theorie der linearen Differentialgleichungen, vor allem der partiellen, die Theorie der analytischen Functionen, die Potentialtheorie, die Variationsrechnung. Gerade die Anwendungen führen mich zu der Einsicht, dass ein systematische Studium notwendig ist.”137 Bemerkungen wie “Dieses Variationsproblem ist nun mit unserer ganzen Theorie aufs innigste verbunden; wir werden sogar sehen, dass es den bequemsten Ausgangspunkt für ihre Übertragung auf Systeme von Differentialgleichungen bietet” (S. 152) oder “Ich will auch noch darauf hinweisen, dass auch hier das Variationsproblem, dessen wir uns zu Transformationszwecken mehrfach bedienten, vollständig durch unsere Theorie [der Integralgleichungen] seine Erledigung findet” (S. 205) sowie “Wir sehen daher, dass auch die Theorie der zweiten Variation restlos in unsrer Integralgleichungstheorie aufgeht” (S. 278),138 die HILBERT in dieser Vorlesung über die Theorie der Integralgleichungen machte, zeigen sowohl die Nähe beider Disziplinen als auch die Erwartungen, die HILBERT mit dem neuen Zweig verband. Bereits in einer Vorlesung über partielle Differentialgleichungen im SS 1901 hatte HILBERT gefragt, wie eine Fredholmsche Funktionalgleichung [Integralgleichung] auf allgemeine Randwertaufgaben partieller Differentialgleichungen anzuwenden sei.139 Der einsetzende Rückgang von Arbeiten zur Variationsrechnung darf jedoch nicht voreilig als Verschwinden der Variationsrechnung in HILBERTS Analysis angesehen werden, was sich nachfolgend zeigen wird, wenn wir HILBERTS Arbeiten zur mathematische Physik sowie seine Vorlesungen über Analysis betrachten werden. Denn HILBERT hatte keineswegs sein Ziel aus den Augen verloren, eine vereinheitlichende Behandlungsmöglichkeit von Randwertproblemen zu erreichen, jedoch erschien ihm nun die Theorie der Integralgleichungen für diesen Zweck geeigneter und geschmeidiger als die Variationsrechnung. Das ist ein wesentlicher Grund für das zeitweilige In-denHintergrund-Treten der Variationsrechnung. Der erste Weltkrieg beeinträchtigte schließlich HILBERTS Arbeit und Forschung erheblich, schon dadurch, daß die Studenten ausblieben.140
137. Vorlesungsmitschrift Einführung in die Theorie der Integralgleichungen (SS 1905), ausgearbeitet von E. Hellinger, Staatsbibliothek Berlin, Nl. M. Born 1814. Der Teil 2, Anwendungen der Integralgleichungen, enthält folgende Abschnitte über Variationsrechnung: Gaußsches Variationsproblem, Variationsprobleme, direkte Variationsprobleme, Entwicklung nach Eigenfunctionen des Variationsproblems, Hinweise auf die Variationsrechnung. 138. Alle Zitate nach der Ausarbeitung Hellinger. 139. Vorlesungsausarbeitung von unbekannter Hand, Institut Mittag-Leffler, Djursholm, 273. 140. Bei C. Reid, David Hilbert, New York, Copernicus, 1996, ist diese Situation gut beschrieben (ch. 17, War).
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KAPITEL 5
Obwohl der Aspekt der Zweckmäßigkeit (im menschlichem Verständnis) beim Aufstellen von Variationsproblemen in der Physik HILBERTS prästabilierten Harmoniedenken entsprach, so konstatierte HILBERT (1922) trotzdem: “Nun stellt uns die Physik ihre Aufgaben in der Regel nicht in der Form eines Variationsproblems, sondern in der Form von Differentialgleichungen. Man verschafft sich in der Physik erst künstlich ein Variationsproblem, dessen Lösung die vorgegebene Differentialgleichung ist.”141 HILBERTS Vorlesung Einführung in die Theorie der partiellen Differentialgleichungen (SS 1905) zeigt übrigens deutlich, wie dramatisch er seinerzeit von dem üblichen Thema einer solchen Vorlesung (mit Berücksichtigung der Variationsrechnung) in die brandneue Disziplin Integralgleichungen abdriftete und schließlich bemerkte: “Wir können zugleich auch sagen, daß sie [die Theorie der Integralgleichung] uns eine Erweiterung der üblichen Variationsrechnung darstellt.”142 Am Ende der Phase der Integralgleichungen resümierte HILBERT die Überzeugung von der Einheit der Mathematik in der Vorlesung Partielle Differentialgleichung (SS 1916) so: “Wenn schon die gewöhnlichen Differentialgleichungen überall eine große Rolle spielen, so ist die Bedeutung der partielle Differentialgleichungen für alle Gebiete der mathematischen Wissenschaften fundamental, und man kann sagen, daß nirgends der monistische Charakter der Mathematik so deutlich zu Tage tritt wie in dem Verhältnis von der Theorie der partiellen Differentialgleichungen zu den meisten anderen Disziplinen, die sich als spezielle in besonderer Richtung bearbeitete Kapitel der selben darstellen: Potentialtheorie, Variationsrechnung, Integralgleichung, Invariantentheorie, mathematische Physik ordnen sich ein als besondere Teile und haben ihrerseits befruchtend und anregend auf die allgemeine Theorie der partiellen Differentialgleichungen eingewirkt, die häufig ihre Methoden den speziellen Disziplinen verdankt.”143 RICHARD COURANT blickte einige Jahre später in der HILBERT gewidmeten Arbeit Über die Lösung der Differentialgleichungen der Physik ebenfalls auf diese Frage zurück: “Trotz des großen Erfolges, welche man mit der Integralgleichungsmethode bei der Behandlung der Existenzfrage dieses und der analogen Probleme
141. Vorlesungsmitschrift Mathematische Grundlagen der Quantentheorie (WS 1922/23) von Nordheim und Heckmann, Staatsbibliothek Berlin, Nl. Born 1820, 15. Siehe auch R. Thiele, “Euler und Maupertuis. Über die Begründung des Prinzips der kleinsten Aktion”, M. Fontius, H. Holzhey (Hrg.), Schweizer im Berlin des 18. Jahrhunderts, Berlin, Akademie-Verlag, 1996, 371-390; R. Thiele, “Ist die Natur sparsam? Betrachtungen zum Prinzip von Maupertuis aus mathematikhistorischer Sicht”, in H. Hecht (Hrg.), P.L.M. de Maupertuis, Gedenkband der BerlinBrandenburgischen Akademie, Baden-Baden/Berlin, Nomos/Berlin-Verlag, 1999, 437-503. 142. Vorlesungsausarbeitung, 218. Mathematisches Institut Göttingen. 143. Vorlesungsausarbeitung, 1. Mathematisches Institut Göttingen.
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[Eigenfunktionsbestimmungen bei der Schwingungsgleichung] gehabt hat, scheint es mir doch der Natur des Gegenstandes angemessen, wenn man konsequent zum Variationsansatz zurückkehrt; man darf in den Schwierigkeiten, die sich hier darzubieten scheinen, weniger einen Einwurf gegen die Gemäßheit des Ansatzes erblicken als vielmehr eine Aufforderung, die methodischen Hilfsmittel der Analysis so zu ergänzen, daß der Durchführung des so einfachen und überzeugenden klassischen Grundgedankens keine Hindernisse mehr im Wege stehen.”144 In der Mathematik selbst, die ihrem Wesen nach nichts Dunkles enthalte, dürfe man nicht die Schwierigkeiten sehen, betonte HILBERT 1918 an anderem Ort.145 Wenn man Randwertaufgaben bei partiellen Differentialgleichungen mit Hilfe von Variationsproblemen behandeln will, so ist die Menge der Vergleichsfunktionen mit einer passenden Topologie zu versehen, die die für direkte Verfahren benötigte Kompaktheit erzeugt. Bei Fredholmschen Integraloperatoren I(u) wird die Kompaktheitsforderung auf den zugehörigen Integranden, genauer auf den sogenannten Kern, zurückgespielt. Durch einfache Forderungen an diesen Kern wie Stetigkeit oder quadratische Integrierbarkeit läßt sich im Raum der stetigen bzw. quadratisch integrierbaren Funktionen (in C0 bzw. L2 ) die Vollstetigkeit von I(u) erreichen, so daß jede beschränke unendliche Folge un(x) eine konvergente Teilfolge I(un) in C0 bzw. L2 enthält.146 In den berühmten sechs Mitteilungen Grundzüge einer allgemeinen Theorie der linearen Integralgleichungen147 entwickelte HILBERT bekanntlich die Anfänge einer Analysis der unendlich vielen Variablen. Mit dem Ritzschen Verfahren, bei dem man die gesuchte Funktion u(x) nach einem vollständigen orthogonalen Funktionensystem u1, u2, u3, … entwickelt bzw. den Ansatz u(x) = c1u1(x) + c2u2(x) + c3u3(x) + …
macht, formulierte HILBERT anstelle des gegebenen Minimalproblems für eine gesuchte Funktion u(x) eines für die unendlich vielen Variablen c1, c2, c3, … Er äußerte 1909 seine Zuversicht, daß über die reine Neuformulierung des Problems hinaus, eine “wesentliche Verallgemeinerung der Fragestellungen in der Variationsrechnung” möglich sei, denn
144. O. Blumenthal (Hrg.), Festschrift für D. Hilbert zu seinem 60. Geburtstag, Berlin, Springer, 1922, 281. 145. Vorlesungskonzept Raum und Zeit (WS 1918), Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung, Cod. Ms. D. Hilbert 561, 9. 146. Hilbert benutzte die Begriffe stetig und vollstetig synonym, siehe die 5. Mitteilung in: Göttinger Nachrichten, 1906, S. 439 f. 147. Göttinger Nachrichten, 1904-1910, später als Buch bei B.G. Teubner, Leipzig, 1912 erschienen.
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KAPITEL 5
“Die Methode der unendlichvielen Variablen erscheint vollends wie geschaffen zur Anwendung auf die Variationsrechnung.”148 Das ist eine Vorahnung einer allgemeinen Theorie der Extremalprobleme, wie sie in den Hilbertraummethoden verwirklicht wurde. Ein Resultat, das solche weitreichenden Erwartungen versprach, war der Sachverhalt, daß in einer Analysis der unendlich vielen Variablen der Satz von WEIERSTRAß nachgebildet werden kann, der eine abstrakte Form des Dirichletschen Prinzips liefert: “Vor Allem aber gilt die Tatsache, dass eine stetige Funktion unendlichvieler Variablen stets ein Minimum besitzen muß – ein Satz, der uns wegen seiner Präzision, seiner Allgemeinheit und seiner Anwendbarkeit als ein Ersatz für das Dirichlet’sche Prinzip erscheint.”149 Von einem entwickelteren abstrakten Standpunkt äußerte sich 1925 MAU150 RICE FRÉCHET (1878-1973) rückblickend kritisch zu HILBERTS Methode: Nous croyons que cette méthode a joué un rôle d’intuition, mais qu'elle a fini son temps. C’est un artifice inutile de substituer à la fonction une suite infinie de nombres qui, d’ailleurs, peut être choisie de plusieurs façons.151 In der Sache hat FRÉCHET völlig recht, aber er stellt doch HILBERTS historische Verdienste als Wegbereiter einer modernen Analysis etwas hintan, da HILBERTS Denken letztlich den sogenannten klassischen Standpunkt der Analysis überwand, indem das funktionalanalytische Denken durch die Einführung der unendlich vielen Variablen befördert wurde. Schließlich war die Theorie der quadratischen Formen mit unendlich vielen Variablen für die mathematische Formulierung der Quantenmechanik sehr nützlich (etwa bei der Deutung mathematischer Spektren als Spektren atomarer Energiezustände). In den heute als Hilbertraummethoden bezeichneten Lösungsverfahren für die Dirichletsche Randwertaufgabe partieller elliptischer Differentialgleichungen erscheint die Variationsrechnung nur noch versteckt, nämlich beim Beweis des Rieszschen Darstellungssatzes:
148. D. Hilbert, Wesen und Ziele einer Analysis der unendlich vielen unabhängigen Variablen, Rendiconti del Circolo Matematico di Palermo, 27 (1909), 59-74, Zitat p. 65. 149. aaO., Zitat p. 61. 150. Maurice Fréchet, Promotion 1906, seit 1919 Professor. Fréchet entwickelte seine Theorie der metrischen Räume unbeeinflußt von der in Göttingen entstehenden Theorie der Integralgleichungen, und umgekehrt wurde auf seine Arbeiten weder von Hilbert noch E. Schmidt zurückgegriffen. 151. M. Fréchet, “L’analyse générale et les ensembles abstraits”, Revue Métaphysique et Morale, 32 (1925), 1-30, 30. “Wir glauben, daß diese Methode eine nützliche Rolle bei der Unterstützung der Intuition gespielt hat, daß aber ihre Zeit vorüber ist. Es ist ein überflüssiger Kunstgriff, eine Funktion durch eine unendliche Zahlenfolge zu ersetzen, die außerdem auf mehrere Arten gewählt werden kann”. – Fréchets Bemerkungen hätten sich auch auf Minkowski zu erstrecken, der in seinen Vorlesungen über Variationsrechnung (SS 1907) eine entsprechende Auffassung wie Hilbert ausgedrückt hatte (Ausarbeitung im Mathematischen Institut der Universität Göttingen, S. 7).
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“Zu jedem beschränkten linearen Funktional F auf dem Hilbertraum H gibt es stets ein Element f ∈ H mit der Eigenschaft für alle u ∈ H
Fu = (f, u)
und ||F|| = ||f||.”152
Der Beweis basiert auf der Aussage, daß für einen abgeschlossenen Teilraum N eines Hilbertraumes H für jedes Element u ∈ H stets genau ein v ∈ N existiert, so daß gilt: d = u – v = inf u – y . y∈N
Für jedes u ∈ H und das zugehörige v ∈ N folgt der sogenannte Projektionssatz, daß für u – v = w ∈ H und für alle y ∈ N gilt (w, y) = 0, d.h., w steht orthogonal auf N. 5.8 Hilberts Vorlesungen über Variationsrechnung und verwandte Gebiete 5.8.1 Überblick Bei HILBERT gehen bekanntlich Einfachheit und Strenge Hand in Hand, und dank seines literarischen Stiles sind in den gedruckten Arbeiten alle Überlegungen stets meisterhaft wiedergegeben. Aber gegenüber den ausgereiften Veröffentlichungen besitzen die Vorlesungen den Reiz der Frische, denn anders als sein stets bestens präparierter Göttinger Kollege FELIX KLEIN improvisierte der gut vorbereitete HILBERT durchaus und mußte deshalb gelegentlich Vorlesungen abbrechen. Vorlesungsmitschriften führen uns daher näher an das Naturell von HILBERT heran, das HERMANN WEYL so beschrieb: But Hilbert’s [character] was a nature filled with the zest of living, seeking intercourse with other people, above all with younger scientists, and delighting in the exchange of ideas.153 Wenn WEYL weiter an HILBERTS Stil hervorhob, daß die Kürze nicht auf Kosten der Klarheit und des Lesers ginge, denn Hilbert finds time to develop the first two steps before formulating the general conclusion. How many examples illustrate the fundamental theorems […] – examples not constructed ad hoc, but genuine ones worth being studied for their own sake,154
152. Siehe z.B. R. Leis, Vorlesungen über partielle Differentialgleichungen zweiter Ordnung, Mannheim, Bibliographisches Institut, 1967, 126. 153. “David Hilbert and his work”, Bulletin of the AMS, 50 (1944), 612-654, 615. 154. aaO., 615.
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KAPITEL 5
so liegt es auf der Hand, daß solche Züge in den Vorlesungen noch ausgeprägter erscheinen. OTTO BLUMENTHAL, berichtete über die Bedeutung von Vorlesungen bei HILBERT: “Neben der Produktion spielte die Vorlesungstätigkeit eine wesentliche Rolle. […] Überhaupt hat Hilbert immer Gebiete, über die er zu arbeiten beabsichtigte, in Vorlesungen behandelt. […] Hilberts Vorlesungen waren schmucklos. Streng schlicht, mit einer Neigung zur Wiederholung wichtiger Sätze, auch wohl stockend trug er vor, aber der reiche Inhalt und die einfache Klarheit der Darstellung ließen die Form vergessen. Er brachte viel Neues und Eigenes, ohne es hervorzuheben. Er bemühte sich sichtlich, allen verständlich zu sein, er las für die Studenten, nicht für sich.”155 HILBERTS Konzept für seine erste Vorlesung, die er dreistündig im WS 1886 in Königsberg über Invariantentheorie gehalten hat, weist in auf der Vorsatzseite des Heftes von HILBERTS eigener Hand in großer Schrift mit dem bei ihm später so typischen dicken Blaustift zur beständigen Erinnerung des jungen Dozenten die didaktischen Bemerkungen auf: “Langsame, schrittweise Entwicklung./ Kleine, deutliche Schrift./ ansehen die Zuhörer, ob sie nicht verstehen.”156
Abb. 5.5. Ausschnitt aus Hilberts Vorlesungsverzeichnis (von Hand seiner Frau Käthe)
Vereint man die genannten psychologischen und fachlichen Gesichtspunkte, so werden die von WEYL und BLUMENTHAL bereits zu Lebzeiten HILBERTS 155. “Lebensgeschichte”, in David Hilbert, Gesammelte Abhandlungen, Bd. 3, Berlin, Springer, 1935, 393, 400. 156. Hilberts eigene handschriftliche Vorlesungsausarbeitung Invariantentheorie. Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung. Cod. Ms. D. Hilbert 521, Innenseite des Heftes.
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geäußerten Klagen verständlich, daß sich einige von HILBERTS tiefsten Ideen lediglich in seinen Vorlesungen fänden und nicht veröffentlicht seien.157 Glücklicherweise befindet sich HILBERTS Nachlaß ziemlich vollständig in Göttingen,158 in ihm sind auch rund 125 Vorlesungskonzepte und -mitschriften (wobei die Urschrift einer Ausarbeitungen in der Regel von HILBERT durchgesehen und korrigiert wurde). Weitere Mitschriften gibt es in der Berliner Staatsbibliothek. Aufgrund der sehr guten Quellenlage können wir daher seine einschlägigen Göttinger Vorlesungen auswerten, die er ab 1895 in Göttingen gehalten hat und die die nachfolgende Liste zeigt: Vorlesungen Hilberts über Variationsrechnung und verwandte Gebiete Vorlesungen mit längeren Abschnitten über Variationsrechnung sind kursiv hervorgehoben. Die Zahlen in runden Klammern geben die Wochenstunden der Vorlesung an; einige Zahlenangaben in eckigen Klammern nennen HILBERTS wöchentliches Lehrpensum im entsprechenden Semester (das er stets am Vormittag absolvierte) ab 1895 WS 1895/96 SS 1896 WS 1897/98
Vorlesungen an der Universität Göttingen Partielle Differentialgleichungen (4h) Differentialgleichungen (4h) Seminar (mit Klein) Über Differentialgleichungen der Mechanik SS 1898 Differentialgleichungen (4h) [12h] Bestimmte Integrale und Fouriersche Reihen (2h) WS 1898/99 Mechanik (4h) SS 1899 Variationsrechnung (2h) [12h] WS 1899/00 Einleitung in die Flächentheorie (2h); Seminar dazu [9h] SS 1900 Differentialgleichungen (4h) Ausgewählte Kapitel der Flächentheorie (2h); Seminar dazu WS 1900/01 Partielle Differentialgleichungen (2h) [10h] SS 1901 Partielle (lineare) Differentialgleichungen (4h) [erstmals Integralgleichungen] [10h] WS 1901/02159 Potentialtheorie (4h) [8h] 157. Wir geben nachfolgend im Abschnitt 5.9 ein Beispiel für eine wesentliche Erweiterung der Feldtheorie, die infolge des Fehlens einer Hilbertschen Veröffentlichung mehrfach neu aufgestellt wurde. 158. Sowohl in der Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung, als auch im Mathematischen Institut der Universität Göttingen. 159. Zum Vergleich: In diesem Semester wurde an folgenden deutschsprachigen Universitäten über Variationsrechnung gelesen: Leipzig (Mayer, 4h), Halle (Wangerin, 2h), Heidelberg (Koenigsberger, 1h), Innsbruck (Stolz, 1h), Wien (Gegenbauer, innerhalb der Integralrechnung, 3h).
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WS 1902/03 SS 1903 WS 1903/04
WS 1904/05
SS 1905 WS 1905/06
SS 1906 WS 1906/07 SS 1907 WS 1907/08
WS 1909/10 SS 1910 WS 1910/11 WS 1911/12 SS 1912
SS 1913 WS 1913/14 SS 1914 SS 1915 WS 1915/16
KAPITEL 5
Mechanik der Continua I (4h) [10h] Differentialgleichungen (2h) Mechanik der Continua II (2h) [8h] Partielle Differentialgleichungen (4h) [hierin werden ausführlich Integralgleichungen behandelt] [8h] Variationsrechnung (4h) [8h] Seminar zur höheren Mechanik (mit Minkowski) (2h) Bestimmte Integrale und Fouriersche Reihen (2h) [mit Anwendung auf Variationsrechnung] Integralgleichungen [mit Variationsproblemen] (2h) [8h] Mechanik (4h), Seminar dazu Partielle Differentialgleichungen (2h) [10h] (ohne Variationsrechnung!) Integralgleichungen (4h) [unter Einbeziehung von Variationsproblemen] Mechanik der Continua (4h) [10h] Differentialgleichungen (4h) Partielle Differentialgleichungen (4h) [darin Kapitel Methoden der Variationsrechnung] (4h) Funktionen unendlich vieler Variablen (2h) Partielle Differentialgleichungen (4h) Ausgewählte Kapitel partieller Differentialgleichungen (2h) Mechanik (4h) Mechanik der Continua (4h) Differentialgleichungen [Teil 3 Variationsrechnung mit Abschnitt Unabhängigkeitsintegral] (4h) Partielle Differentialgleichung (2h) Elemente und Prinzipien der Mathematik (4h) Mechanik (4h) Differentialgleichungen (4h) Variationsrechnung (4h) [Wiederholung der Vorlesung vom WS 1904/05] Differentialgleichungen [Kapitel Differentialgleichungen, die aus einem Variationsproblem entspringen; Abschnitt Unabhängigkeitsintegral]
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SS 1916 SS 1916 WS 1916/17 SS 1918 WS 1918/19 SS 1920 WS 1922/23 SS 1924 WS 1926/27
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Partielle Differentialgleichungen Grundlagen der Physik I Grundlagen der Physik II Differentialgleichungen (4h) Partielle Differentialgleichungen (4h) [entspricht der Vorlesung vom SS 1916] Höhere Mechanik (Mechanik und neue Gravitationstheorie) (4h) Mathematische Grundlagen der Quantentheorie (2h) Geometrie und Physik; Mechanik (4h) Mathematische Methoden der Quantentheorie (4h)
5.8.2 Variationen über ein Thema Es ist bemerkenswert, daß die Feldtheorie, unsere Thematik, erstmals nicht in einer Vorlesung über Variationsrechnung, sondern in einer Vorlesung Ausgewählte Kapitel der Flächentheorie (SS 1900) erschien, die HILBERT als eine “Anwendung der Variationsrechnung auf flächentheoretische Probleme”160 charakterisierte. Die detailliertesten Ausführungen zur Feldtheorie finden sich in HILBERTS zweiter Vorlesung über Variationsrechnung aus dem WS 1904 und in der ein Jahr später folgenden Vorlesung Mechanik (WS 1905); die im SS 1915 gehaltene dritte Vorlesung über Variationsrechnung scheint eine unwesentlich geänderte Wiederholung der Vorlesung aus dem WS 1904 zu sein, denn in einer in der Bibliothek des Mathematischen Instituts in Göttingen aufbewahrten Vorlesungsausarbeitung für das WS 1904 finden sich einige eingelegte Blätter mit nur wenigen Ergänzungen, die offenbar für die Vorlesung von 1915 gedacht waren. Spätere Vorlesungen über Physik, insbesondere diejenigen über Relativitätstheorie und Quantenmechanik enthalten große Teile über Variationsrechnung, da die Variationsrechnung als mathematischer Leitstern für die Darlegung diente. Aus dieser Rolle der Variationsrechnung heraus ergibt sich, daß die Darstellung hier eher referierend als beweisend ist und daß deshalb theoretisch nicht viel Neues zu erwarten ist. Wir gehen auf diese Vorlesungen zur modernen Physik noch ein (Abschnitt 5.8.4). Bereits eine flüchtige Durchsicht der einschlägigen Vorlesungen HILBERTS zeigt, daß die verbreitete Anschauung, HILBERTS Forschungen ließen sich ohne weiteres periodisieren, bei Einbeziehung der Lehre nicht mehr haltbar ist. Trotz der Hinwendung zu den Integralgleichungen ab 1902 blieb beispielsweise die Variationsrechnung ein fester Bestandteil in seiner Lehre. Beachtenswert hierfür ist folgender Satz aus der Vorlesung Differentialgleichungen im
160. Bericht des Mathematischen Vereins an der Universität Göttingen, SS 1900, Göttingen, 1900, 10.
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KAPITEL 5
SS 1912, also aus der Zeit des Erscheinens der Grundzüge einer allgemeinen Theorie der linearen Integralgleichungen161, in der er die Frage nach einem gemeinsamen Prinzip bei der systematischen Ordnung des Materials aufwirft: “Als solches wählen wir einmal die Variationsrechnung und dann die Methode der Integralgleichungen.”162 Integralgleichungen erschienen erstmals in den Vorlesungen im WS 1901 (Theorie der partiellen Differentialgleichungen), und schon 1902 promovierte OLIVER KELLOGG (1878-1932)163 bei HILBERT mit dem Thema Zur Theorie der Integralgleichungen und das Dirichletsche Prinzip zum ersten Mal auf dem neuen Gebiet. Die Vorlesung HILBERTS über Partielle Differentialgleichungen im WS 1903/04 zeigt schließlich auf geradezu dramatische Weise, wie HILBERT von einem neuen Gegenstand ergriffen und fortgerissen wurde, denn im Fortgang der Vorlesung drangen die Integralgleichungen mehr und mehr in den Stoff ein und verdrängten schließlich die Differentialgleichungen ganz, und gleich nach dem Ende des Semesters, im März 1904, trug HILBERT in der Göttinger Akademie der Wissenschaften seine erste “Mitteilung über Integralgleichungen” vor; ihr folgten bis 1910 fünf weitere. 1912 erschien HILBERTS Monographie über die Integralgleichungen, die Grundzüge einer allgemeinen Theorie der linearen Integralgleichungen.164 Das rapide Eindringen der Integralgleichungen in HILBERTS Forschungen belegt auch der Sachverhalte gut, daß es zu dieser Thematik im weiteren Sinn von 1902 bis 1914 insgesamt 19 Dissertationen gibt. 1092 verteidigte KELLOGG die erste dieser 19 Dissertation zu den Integralgleichungen. Bereits 1905 verteidigte ERHARD SCHMIDT (1876-1959)165 seine bahnbrechende Dissertation Zur Theorie der Integralgleichungen bei HILBERT. Im gleichen Jahr las HILBERT erstmals über Integralgleichungen (SS 1905) als ein eigenständiges Thema, und er bezog dabei Anwendungen auf Variationsprobleme mit ein. Die anschließend gehaltene Vorlesung Einleitung in die Theorie der partiellen Differentialgleichungen (WS 1905) ist eine der wenigen einschlägigen Vorlesungen HILBERTS, in der die Variationsrechnung überhaupt nicht erschien. Die letzten Dissertationen waren der Anwendung in der Physik gewidmet. Die Vorlesungen über gewöhnliche und partielle Differentialgleichungen (und in geringerem Maße auch die über Integralgleichungen) enthalten fast
161. Leipzig, B.G. Teubner, 1912, 2. Auflage, 1924. 162. Gewöhnliche Differentialgleichungen, SS 1912, 137. Mathematisches Institut der Universität Göttingen. 163. Oliver Kellogg, nach Studien in den USA 1901-1902 in Berlin und Göttingen, 1902 Promotion bei Hilbert, danach wieder USA, u.a. Princeton und Harvard. 164. Leipzig, B.G. Teubner, 1912. 165. Erhard Schmidt, Studium in Dorpat, Berlin und Göttingen, bewog Carathéodory, von Berlin nach Göttingen zu wechseln. Promotion 1905 in Göttingen, Habilitation 1906 in Bonn. Vor Schmidt hatten noch O. Kellogg (1902), C.M. Mason (1903) und A. Andrae (1903) über Themen zu Integralgleichungen bei Hilbert promoviert.
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immer Abschnitte über Variationsrechnung, die mehr oder weniger umfangreich ausfallen. HILBERT bot so die Variationsrechnung in den Jahren 1904 bis 1909 durchgängig in seinen Vorlesungen an: WS 1904 SS 1905 WS 1905 SS 1906 WS 1907 WS 1909
Variationsrechnung (4h); Integralgleichungen mit Anwendungen auf Variationsrechnung (4h); Mechanik (4h); Integralgleichungen (4h); Partielle Differentialgleichungen mit Kapitel Variationsrechnung (4h); Partielle Differentialgleichungen mit Kapitel Variationsrechnung (4h).
Besonders interessant sind die Ausarbeitungen der in den WS 1907 und WS 1909 gehaltenen Vorlesungen über partielle Differentialgleichungen in der Mitschrift von RICHARD COURANT. Alle Einschübe über Variationsrechnung in Vorlesungen lassen sich jedoch durch HILBERTS Worte in der Vorlesung über Partielle Differentialgleichungen aus dem WS 1907 charakterisieren: “Was nun die Variationsrechnung betrifft, so werde ich mich darauf beschränken müssen, die wesentlichen Resultate derselben ohne ausführliche Beweise aufzuzählen.”166 Die Themen der Einschübe zur Variationsrechnung in Vorlesungen über Differentialgleichungen selbst blieben im Laufe der Zeit ziemlich unverändert. Im Vordergrund standen natürlich stets die Beziehungen zwischen Variationsrechnung und Differentialgleichungen, wobei die Gleichwertigkeit der Integration der drei Differentialgleichungen d L ( y ) ≡ ----- F p – F y = 0 dx ∂F p ∂ ( pF p – F ) --------- + --------------------------- = 0 ∂x ∂y ∂J ∂J Φ ⎛⎝ x, y, -----, -----⎞⎠ = 0 ∂x ∂y
(Eulersche Differentialgleichung für y(x)),
(Differentialgleichung für die Gefällefunktion p(x, y) von Beltrami), (Hamilton - Jacobische Differentialgleichung für J(x, y))
166. Theorie der partielle Differentialgleichungen, WS 1907. Mathematisches Institut der Universität Göttingen, S. 341. Die “Aufzählung” umfaßt die Seiten 341-373. Wesentlich ausführlicher ist das Kapitel über Variationsrechnung in Courants Ausarbeitung der Vorlesung mit gleichem Titel aus dem WS 1909, das die Seiten 59-189 füllt. Ebenfalls im Mathematischen Institut der Universität Göttingen.
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KAPITEL 5
in den Mittelpunkt gestellt und die jeweiligen Vorteile für die Integration dargetan sowie Anwendungen in Geometrie, Mechanik oder Optik angegeben wurden.167 Beispielsweise zeigte HILBERT mit Hilfe seines Unabhängigkeitsintegrals J(x, y) elegant JACOBIS Satz über den letzten Multiplikator (vgl. den Abschnitt 4.3): Sei y' – p(x, y) = 0 eine Differentialgleichung, für die ein Multiplikator M(x, y) gesucht wird, mit dem die Differentialgleichung eine totale wird. HILBERT betrachtete in dieser Differentialgleichung p als ein intermediäres Integral einer zugehörigen Eulerschen Differentialgleichung. Er nahm darüber hinaus dieses intermediäre Integral als noch von einem Parameter α abhängig an: p = p(x, y, α). Das Unabhängigkeitsintegral J wurde durch Eintragen dieser Lösung gleichfalls parameterabhängig, bewahrte aber für alle Parameter α die Wegunabhängigkeit. Folglich blieb diese Eigenschaft auch für die Ableitung dieser Identität nach dem Parameter α erhalten: ∂J ------ = ∂α
b
∂p
- ( y' – p ) dx . ∫a Fpp ----∂α
Mit anderen Worten, der Integrand erwies sich damit als ein totales Differential. Also ist ∂p F pp ------ = M(x, y) ∂α
ein Multiplikator für die in Rede stehende Differentialgleichung. Weiter folgt: Durch Differentiation einer einparametrigen Schar der Hamilton-Jacobischen Differentialgleichung nach dem Parameter und anschließendes Gleichsetzen mit einer neuen willkürlichen Konstanten, ∂J----= β = const ∂α
erhält man eine zweiparametrige Lösung der Eulerschen Differentialgleichung.168 Als eines der “interessantesten Ergebnisse unserer Jacobi-Hamiltonschen Theorie”169 betrachtete HILBERT die Behandlung der Mongeschen Gleichung.170 Es geht dabei um die integralfreie Auflösung einer gewöhnlichen 167. Variationsrechnung, WS 1904. Mitschrift von E. Hellinger, Mathematisches Institut der Universität Göttingen, 193. 168. Durchgängig von der Vorlesung Variationsrechnung aus dem Jahr 1904 (Mathematisches Institut der Universität Göttingen, S. 193) bis zu der über Mechanik und neuere Gravitationstheorie aus dem Jahr 1920 (Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung, Cod. Ms. D. Hilbert 562, S. 22) betrachtete Hilbert den Satz als “einen der schönsten Punkte” der Theorie (Variationsrechnung 1904, S. 193). 169. Vorlesung Variationsrechnung, WS 1904, Mathematisches Institut der Universität Göttingen, 219. 170. G. Monge, Applications de l’analyse à la Géométrie: à la usage de l’École impériale, Paris, Bernard, 1809.
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Differentialgleichung, die u.a. in enger Beziehung zur Integration der Hamilton-Jacobischen Differentialgleichung steht (Charakteristikentheorie). GASPARD MONGE (1746-1818) selbst hatte sich ursprünglich für Enveloppen einparametriger Familien sowie für die Charakteristiken dieser Scharen interessiert. Dabei konnte er die Lagrangesche Integrationstheorie für partielle Differentialgleichungen erster Ordnung geometrisch formulieren, wobei der sogenannte charakteristische Streifen eine wichtige Rolle spielte. Hierauf bezog sich HILBERT, als er bemerkte: “Damit haben wir die Gleichung dann wirklich in diesem Sinne vollständig aufgelöst, und zwar integrallos. Um das zu leisten wird nun unsere Enveloppentheorie samt Unabhängigkeitssatz gerade ausreichen, wie ich selber vor kurzem gefunden habe: Dies tiefe Einschneiden der Variationsrechnung auch in diese Frage ist ungemein interessant. Monge selbst besaß das Resultat der integrallosen Auflösung, hatte es aber auf ganz anderem Wege von der Theorie der partiellen Differentialgleichungen erhalten.”171 Die partielle Differentialgleichung erster Ordnung F(x, y, z, p, q) = 0 für eine gesuchte Funktion z = z(x, y) (mit den Abkürzungen p = zx, q = zy) läßt in geometrischer Deutung zwei duale Auffassungen zu: Zum einen definiert F = 0 in jedem Raumpunkt durch die Tangentialebenen einen Mongeschen Kegel, und das Integrationsproblem besteht in dieser Sicht darin, diejenige Fläche mit der Gleichung z = z(x, y) zu finden, die auf das Kegelfeld paßt (d.h. p = zx , q = zy erfüllt). Zum anderen kann jeder Mongesche Kegel durch seine Mantellinien beschrieben werden, was auf das System gewöhnlicher Differentialgleichungen führt: x' = F p ,
y' = F q ,
z' = pF q + qF q
(der Strich bedeutet die Ableitung nach einem Parameter). Eliminiert man hieraus die Größen p und q, die weiterhin der Bedingung F = 0 unterworfen sind, so folgt die Mongesche Gleichung M(x, y, z, x', y', z'.) = 0,
eine gewöhnliche Differentialgleichung. Als einfaches Beispiel nennt HILBERT die aus dem Variationsproblem z(x) =
x
∫a F ( x, y, y' ) dx
→ extr
entspringende Mongesche Gleichung (*) dz/dx = F(x, y, y')
171. aaO., 225.
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KAPITEL 5
(die übrigens mit geeigneten Randwerten als Mayerproblem interpretiert werden kann). Das gleiche geometrische Gebilde, die Integralfläche, wird also einmal durch die Flächenelemente mittels der partiellen Differentialgleichung oder zum anderen durch die Linienlemente einer gewöhnlichen Differentialgleichung (Mongesche Gleichung) beschrieben. HILBERTS bemerkenswerte Auflösungstheorie ging von dem unterbestimmten System der Mongeschen Gleichung aus, wobei er in einem Unabhängigkeitsfeld geeignete Feldintegrale längs der Extremalen und einer Enveloppe auswertete, um die integralfreie Darstellung der Lösung zu finden (und dabei Parallelen zu diophantischen Gleichungen der Zahlentheorie und zu Uniformisierungsproblemen der Funktionentheorie zog). In der Vorlesung “Mechanik und neues Gravitationstheorie” (SS 1920) bemerkte HILBERT: “Wenn man von der Differentialgleichung [(*)] ausgeht, wo zwei Funktionswerte z und y vorkommen, so reicht die Zahl der Bedingungen zu einer Bestimmung dieser Funktionen nicht aus. Eine einschränkende Bedingung (Monge): Lösungen sollen keine Integrale enthalten.”172 Die Charakteristiken der Mongeschen Gleichung sind Extremalen von zwei Variationsproblemen, die mit dem Monge-Problem äquivalent sind: Einmal ist die Streifenbedingung z'(t) = px' + qy' unter der folgenden Nebenbedingung F(x, y, z, p, q) = 0 zu minimieren b
∫a ( px' + qy' ) dt
→ min;
ein andermal ist das Variationsproblem b
∫a F ( x, y, y' ) dx
→ min
unter der Nebenbedingung y' = p zu behandeln bzw. das Lagrangeproblem b
∫a [ F + Fp ( y' – p ) ] dx
→ min
(mit dem Multiplikator λ = Fp) zu studieren. Bereits in seinem Konzept zur Vorlesung über Partielle Differentialgleichungen im WS 1900 hatte HILBERT im Hinblick auf das erste Variationsproblem die Frage aufgeworfen: “Nun noch einmal ein äusserst interessanter Punkt. Kann man die charakteristischen Curven als Lösungen einer Variationsaufgabe auffassen?”173
172. Mitschrift A. Kratzer, S. 23. Cod. Ms. D. Hilbert 575, Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung. 173. Vorlesungskonzept Theorie der partielle Differentialgleichungen, WS 1900. Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung, Cod. Ms. D. Hilbert 558, S. 67’. – Gegenüber der Vorlesung über den gleichen Gegenstand vom WS 1895 hat eine grundlegende Umgestaltung stattgefunden, vgl. hierzu die Mitschrift von C. Noble Partielle Differentialgleichungen, Mathematisches Institut der Universität Göttingen.
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Er konstatierte zwei Seiten später, daß er “also eine neue Theorie der partiellen Differentialgl. aus der Variationsrechnung heraus” aufstellen könne. In der Vorlesung Variationsrechnung von 1904 verschob HILBERT “die Erledigung dieser Aufgabe, über die eine Theorie in der Literatur übrigens nicht existiert.”174 Die Vorlesung Geometrie und Physik (SS 1924) gibt dazu wohl den detailliertesten Überblick.175 In der Vorlesungsmitschrift Mathematische Grundlagen der Quantentheorie (WS 1922) sind etwa die Hälfte der 97 Seiten der Darlegung der Variationsrechnung und der Hamilton-Jacobischen Theorie gewidmet, die anschließend für die Quantentheorie benötigt wird. Diesen mathematischen Teil der Vorlesung referieren wir jetzt. HILBERT behandelte zunächst das einfachste Variationsproblem mit einer unbekannten Funktion, um kurz alle wesentlichen Sachverhalte vorzustellen (S. 1-5) und ging dann zu den notwendigen Erweiterung wie mehrere gesuchte Funktionen und Nebenbedingungen über. Damit erschienen neue Formen des Problems, wobei es im Grunde aber immer um dieselbe Aufgabe ging. HILBERT untersuchte die Abhängigkeit der unterschiedlichen Formen, um tiefere Einblicke in “die Natur des Gegenstandes” zu gewinnen und um so zu Operationen zu gelangen, “auf die man nie verfallen wäre”. Im Lauf der Untersuchungen (S. 6-20) führt er einen Reigen zusammenhängender Variationsprobleme vor, an dessen Anfang das einfachste Variationsproblem steht und in dessen Folge vier Veränderungen erscheinen, wobei etwa die Aufgabe mit einer gesuchten Funktion nebst Ableitung im Integranden in eine solche mit zwei gesuchten Funktionen ohne Ableitung, aber mit Nebenbedingung verändert wird oder kanonisch formuliert wird. Wir stellen ohne ausführliche Erklärung diese Variationen zusammen: (1)
∫ F ( x, y, y' ) dx
(2)
∫ F ( x, y, p ) dx
(3)
∫ [ F + λ ( y' – p ) ] dx ,
drei gesuchte Funktionen y, p, λ,
(4)
∫ [ F + Fp ( y' – p ) ] dx ,
zwei gesuchte Funktionen y, p,
eine gesuchte Funktion y = y(x), y' = p (Nebenbedingung), zwei gesuchte Funktionen y, p,
174. Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung, Cod. Ms. D. Hilbert 555, aufgeschrieben von E. Hellinger, 326. – Auch in dem Buch von R. Courant und D. Hilbert, Methoden der mathematischen Physik, Bd. 2, Berlin, Springer, 1937, gibt es einen kurzen Abschnitt Fokalkurven und Mongesche Gleichungen (II, § 5, S. 72-74) über dieses Problem. Wie Courant schon im Vorwort zum ersten Band 1924 bemerkte, ist das Werk von ihm allein verfaßt worden, und sein Lehrer Hilbert ist im Hinblick auf die Bedeutung für seine dem Buch zugrunde liegenden Arbeiten als Autor aufgenommen worden (S. VI). 175. Vorlesungsmitschrift mit Anmerkungen von Hilbert, 114 Blatt. Von Hilbert in seinem Vorlesungsverzeichnis auch als Einsteinsche Gravitationstheorie geführt. Staatsbibliothek Berlin, Nachlaß Hückel 2.14, S. 51-56.
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(5)
KAPITEL 5
∫ [ ηy' – L ( η, y, x ) ] dx η = Fp ,
kanonische Form
zwei gesuchte Funktionen η, y.
L = – F + pF p
Die durch (4) bestimmte Aufgabe charakterisiert das Unabhängigkeitsintegral. HILBERT wies auf die fundamentale Bedeutung hin, die schon daraus hervorginge, daß das Integral in verschiedenen Zweigen der Wissenschaft unterschiedliche Bezeichnungen führe: Wirkungsfunktion oder charakteristische Funktion (Mechanik), Eikonal (Optik), geodätische Entfernung (Flächentheorie), Minimalfunktion (Variationsrechnung). “Es ist daher nur recht und billig ihr auch in der Quantentheorie eine eigene Bezeichnung zu geben, für die ich ‘Quantrix’ vorgeschlagen habe” (S. 11). Den Extremalen in der Variationsrechnung entsprechen die Charakteristiken bei partielle Differentialgleichungen, die geodätischen Linien in der Flächentheorie, die Lichtstrahlen in der Optik und die Bahnkurven in der (Quanten-)Mechanik (S. 12). Die Analogie der Optik und Mechanik wird erörtert: “Der leitende Gedanke Schrödingers, der übrigens schon durch Arbeiten von De Broglie und Einstein vorbereitet wurde, ist nun der, dass die Quantentheorie ein Seitenstück zu der Wellentheorie des Lichtes ist, in dem Sinne, dass wie die geometrische Optik ein Grenzfall der Wellenoptik ist, auch die klassische Mechanik nur einen Grenzfall der Quantenmechanik darstellt” (S. 84). Der Hamilton-Jacobischen Differentialgleichung der klassischen Mechanik entspricht in der Quantentheorie die Schrödinger-Gleichung (S. 86), resümierte Hilbert, um dann die entsprechenden Beziehungen für die Quantentheorie herzuleiten. In einer Zusammenfassung der Vorlesung Variationsrechnung von 1904 betonte HILBERT – und die eben genannten Anwendungen des Unabhängigkeitsintegrals machen das verständlich – gleich eingangs die führende Rolle seines invarianten Integrals: “Entsprechend meiner Auffassung, daß die Variationsrechnung noch ganz in den ersten Anfängen sich befindet, und daß ihr eigentliches Ziel die allgemeine Untersuchung der Beziehungen zwischen Functionen ist, habe ich in meiner Vorlesung die Beziehungen zu allgemeinen Fragen der Analysis in den Vordergrund gestellt. Sachliches Mittel dazu war mir, daß ich das invariante Integral in den Mittelpunkt stellte.”176 Das invariante Integral oder das Unabhängigkeitsintegral wurde in HILBERTS einschlägigen Vorlesungen auf verschiedene Weisen motiviert: 1. Genau wie bei Extremwertaufgaben konstante Funktionen einen Grenzfall bilden und eine beständig verschwindende Ableitung aufweisen, entartet ein Variationsproblem in ein Unabhängigkeitsintegral (Ortsfunktion) mit identisch verschwindender erster Variation. 176. Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung, Cod. Ms. D. Hilbert 555, aufgeschrieben von E. Hellinger, S. 2.
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2. Das identische Verschwinden der ersten Variation bedingt einen in der ersten Ableitung linearen Integranden und hieraus folgen entweder im Stile der Analysis über die Integrabilitätsbedingungen oder im Stile der mathematischen Physik über den Greenschen Satz die Forderungen an ein solches Integral. 3. HILBERT führte das Unabhängigkeitsintegral auch ähnlich wie auf dem von BELTRAMI benutzten Weg ein, indem er von einem intermediären Integral der Eulerschen Differentialgleichung ausging. 4. HILBERT zerlegte (approximierte) den Weg eines Linienintegrals in einer “vollständigen” Figur infinitesimal sowohl in Richtung der Extremalen als auch normal dazu. 5. Ebenso erläuterte er, daß die Behandlung eines Variationsproblems unter der Nebenbedingung y' = p durch Anwendung der Multiplikatorenregel mit Notwendigkeit auf die Form des Unabhängigkeitsintegrals führe (denn der Multiplikator ist gleich Fp). 6. Veranschaulichend verwies er auch auf ähnliche Sachverhalte, wie sie in der komplexen Funktionentheorie bei analytischen Funktionen oder in der Thermodynamik bei der Entropie auftreten. In den Vorlesungen, insbesondere in denen über Mechanik (zwingend bei Lagrangeschen Problemen), erschien immer wieder der Gedanke äquivalenter Variationsprobleme, die HILBERT als solche mit gleichen Eulerschen Differentialgleichungen bzw. mit dem gleichzeitigen Verschwinden deren erster Variation erklärte. Äquivalente Variationsproblem haben folglich dieselben Extremalen. In der Mechanik wird für HILBERT diese Äquivalenz durch die Gleichwertigkeit des Euler-Maupertuisschen Prinzip der kleinsten Wirkung und des Hamiltonschen Prinzip nahegelegt. Jedes additiv um ein Unabhängigkeitsintegral erweitertes Variationsproblem bildet bei festen Randwerten ein äquivalentes Variationsproblem zur Ausgangsaufgabe. Auch die Anwendung der Lagrangeschen Multiplikatorenregel führt auf ein äquivalentes Variationsproblem. Die folgenreichste mathematische Ausgestaltung hat dieser Gedanke jedoch bei CONSTANTIN CARATHÉODORY gefunden (vgl. Abschnitt 2.3.4). Der Begriff der Äquivalenz erschien in verwandten Zusammenhängen in unterschiedlichen Formen bereits früher in der Literatur, beispielsweise 1891 bei PAUL STÄCKEL (1862-1919). STÄCKEL sah allgemeiner als HILBERT zwei mechanische Systeme dann als äquivalent an, wenn sich ihre Euler-Lagrangeschen Differentialgleichungen durch eine Transformation der Ortskoordinaten ineinander überführen ließen.177 Auch EULER nützte bereits äquivalente Variationsproblem, um die Integration der Eulerschen Gleichungen zu vereinfachen (siehe 5.5.2). Bei seiner Darstellung der Kneserschen Theorie hat BOLZA die 177. “Über die Differentialgleichungen der Dynamik und den Begriff der analytischen Äquivalenz dynamischer Problem”, Journal für Mathematik, 107 (1891), 319. Vgl. auch den Artikel Die allgemeinen Integrationsmethoden in der analytischen Mechanik in der Encyklopädie der mathematischen Wissenschaften, Band 4/2, Leipzig, B.G. Teubner, 1933, 786.
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KAPITEL 5
Äquivalenz hervorgehoben, die zwischen der ursprünglichen und der in Kneserschen krummlinigen Koordinaten dargestellten Form eines Variationsproblems besteht, und er hat die entsprechenden Punkttransformationen sowie Berührungstransformationen zum Gegenstand von Untersuchungen gemacht, wann Äquivalenz besteht und welche Invarianten vorhanden sind. Ein Ergebnis zeigt, daß die Voraussetzung der Positivität des Integranden für die Einführung krummliniger Koordinaten keine Einschränkung der Allgemeinheit bedeutet, da man stets zu einem äquivalenten Problem mit positivem Integranden übergehen kann.178 MAYER hat gleichfalls durch sein Reziprozitätsgesetz (1878) Äquivalenz zwischen gewissen Variationsproblemen beschrieben.179 Für die Darstellung der höhere Mechanik war das Unabhängigkeitsintegral HILBERTS Leitstern, wie seine Worte an entsprechender Stelle belegen: “Wir kommen nun zu der wichtigsten Anwendung des Unabhängigkeitssatzes, der bequemen Ableitung der Jakobi-Hamilton’schen Theorie der dynamischen Diff.Gl.”180 Wir finden übrigens eine bemerkenswerte Folge dieser Mechanikvorlesung des Wintersemesters von 1905 in der Autobiographie MAX BORNS aufgezeichnet: “Eine von ihnen [Hilberts Vorlesungen] behandelte das Thema der “höheren Mechanik” auf der Basis des Hamilton-Jakobischen Formalismus. Was ich dort lernte, half mir später außerordentlich viel bei der Mechanik der Atome in der Zeit von 1920 bis 1925, die der Geburt der Quantenmechanik vorausging.”181 Ferner bildet der Anhang Variationsrechnung “Appendix I: Calculus of Variations” in den Principles of Optics von M. BORN und E. WOLF in der Tat einen guten Widerschein der Hilbertschen Vorlesung über Variationsrechnung von 1904 in Kurzfassung, aber bereits die Bornsche Dissertation von 1906 machte ausgiebig Gebrauch von der gerade im WS 1904/05 gehörten Variationsrechnung (siehe hierzu Abschnitt 5.10.1).182
178. Bereits in der amerikanischen Ausgabe Lectures on the calculus of variations, Chicago, University Press, 1904, 183; in der erweiterten deutschen Ausgabe Vorlesungen über Variationsrechnung, Leipzig, Teubner, 1909, § 45. 179. “Die Kriterien des Maximums und Minimums der einfachen Integrale in den isoperimetrischen Problemen”, Mathematische Annalen, 13 (1878), 53-68, insbes. 60. Auch Euler hat diesen Gedanken gehabt, “Methodus inveniendi” (1748), Opera omnia Euleri, I/24, Zürich, Orell, Füssli, 1952, V, 37. 180. Vorlesung Mechanik, WS 1905, Mitschrift E. Hellinger, Mathematisches Institut der Universität Göttingen, 210. 181. Mein Leben, Übersetzung aus dem Englischen, München, Nymphenburger Verlagshandlung, 1975, 128. 182. M. Born, E. Wolf, Principles of Optics, Oxford, Pergamon Press, 1. Auflage, 1959, 6. Aufl. 1980, Appendix 1, 719-737. Es ist bemerkenswert, daß Born nach mehr als einem halben Jahrhundert die Hilbertsche Vorlesung noch in das Buch mit Wolf aufnahm.
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Bereits in HILBERTS Mechanikvorlesung im WS 1905/06 wurden übrigens auch die von CARATHÉODORY in seiner Dissertation (1904) eingeführten Felder für geknickte Extremalen behandelt, die naturgemäß in der Mechanik oder Optik wichtige Anwendungen finden. 5.8.3 Unabhängigkeitsfelder HILBERTS Vorlesung Variationsrechnung von 1904 enthält eine Feldkonstruktion für n gesuchte Funktionen, d.h. für ein Mayerfeld. Entsprechend der Gliederung der Vorlesung gab HILBERT zunächst eine Feldkonstruktion für lediglich eine gesuchte Funktion, wobei er nach den begrifflichen Darlegungen bemerkte: “Wir müssen endlich daran gehen, ein p-Feld [tatsächlich konstruktiv] herzustellen.”183 Gemäß seiner damaligen Überzeugung, die wir in einer Vorlesung aus dem gleichen Jahre finden, legte HILBERT den Überlegungen analytische Funktionen zugrunde: “Jene anderen, nicht analytischen Funktionen haben wohl nur dadurch Interesse, daß sie existieren; an und für sich würde wohl niemand diese Functionen untersuchen wollen.”184 Auch CONSTANTIN CARATHÉODORY äußerte sich 1905 in einem Brief an ADOLF KNESER im gleichen Sinne.185 Es sei jedoch daran erinnert, daß HILBERT auch die Reduzierung analytischer Voraussetzungen anstrebte. Ein bemerkenswertes Ergebnis enthielt bereits seine erste Vorlesung über Variationsrechnung (SS 1899): die zweimalige stetige Differenzierbarkeit einer Lösung y = y0(x) der Eulerschen Differentialgleichung folgt bereits aus der zweimaligen stetigen Differenzierbarkeit des Integranden f(x, y, p) sowie der Forderung fpp ≠ 0. (Damit ist auch die zugeordnete Hamiltonsche Funktion mindestens zweimal stetig differenzierbar.186) Die analytische Extremale y = y ( x ) wird in eine einparametrige Lösungsschar y = f(x, α) der Eulerschen Differentialgleichung eingebettet: y = y(x) = y ( x ) + αϕ ( x, α ) = f ( x, α ) .
Diese Schar gehe durch einen gemeinsamen Ausgangspunkt (singuläres Feld). Die Aufgabe der Feldkonstruktion besteht darin,
183. Vorlesung Variationsrechnung, WS 1904, Mitschrift von Hellinger, Mathematisches Institut der Universität Göttingen, 147. 184. Vorlesung Bestimmte Integrale und Fourier’sche Reihen, WS 1904, Staatsbibliothek Berlin, Nachlaß Born, 1813, 76. Aus Borns Autobiographie Mein Leben geht hervor, daß er diese Vorlesung ausgearbeitet hat (S. 126). Die in Berlin aufbewahrte Mitschrift ist jedoch nicht von Borns Hand. 185. Brief vom 5.2.1905, Nachlaß Kneser, A4, Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung. 186. Siehe etwa C. Carathéodory, Variationsrechnung und partielle Differentialgleichungen erster Ordnung, Leipzig, B.G. Teubner, 1935, § 235.
466
y(x) = f(x, α)
KAPITEL 5
bzw.
Φ = y(x) – y ( x ) – αϕ ( x, α ) ,
nach α aufzulösen bzw. die Auflösungsbedingung Φα = ϕ − αϕα ≠ 0 für α = 0 zu erfüllen, was durch ϕ (x, 0) = fα (x, 0) ≠ 0 gewährleistet ist. Setzt man weiter die so erhaltene Funktion α = α(x, y) in y' (x) = fx (x, α) ein, dann ist in einer Umgebung der Extremalen ein Richtungsfeld konstruiert. Diese Konstruktion ist ausführbar, so lange ϕ(x, 0) für x > a keine Nullstelle (geometrisch: keinen konjugierten Punkt) aufweist.187 Die Feldkonstruktion für mehrere gesuchte Funktionen sah HILBERT im Fall von zwei gesuchten Funktionen y = y(x), z = z(x) als exemplarisch verwirklicht an. Er beschränkte sich daher auf den Paragraphen Minimalprobleme mit 2 unbekannten Funktionen einer Variablen (S. 301-325). Gegenüber dem bisher behandelten einfachen Problem leitete er den exemplarischen Fall für zwei gesuchte Funktionen mit dem Hinweis auf dessen Besonderheit so ein: “Wir werden nämlich jetzt nicht aus der vierparametrigen Schar der Extremalen [eines räumlichen Problems] ganz willkürlich eine zweiparametrige herausgreifen können und aus deren Differentialgleichung Lösungen p, q von (5.) [die Integrabilitätsbedingungen für das Unabhängigkeitsintegral] konstruieren, so wie wir aus der 2-parametrigen Extremalenschar der Ebene ganz willkürlich eine einparametrige herausgreifen durften.”188 Bis auf die entscheidende Wahl intermediärer Integrale p, q der Eulerschen Differentialgleichung (bzw. der Extremalenschar des Variationsproblems) kann jedoch alles analog den vorherigen Betrachtungen erfolgen. Das heißt, das Unabhängigkeitsintegral wird die Form (1) J(x, y, z) =
x, y , z ⎧
dy
dz
⎫
- – p⎞ F + ⎛ ----- – q⎞ F dx ∫a, b, c ⎨⎩ F ( p, q ) + ⎛⎝ ---dx ⎠ p ⎝ dx ⎠ q ⎬⎭
haben, und die notwendigen und hinreichenden Bedingungen für die Wegunabhängigkeit führen auf eine Gleichung für J(x, y, z), die Hamilton-Jacobische Differentialgleichung: ∂----J∂J ∂J ∂J = H ⎛ x, y, z, -----, -----, -----⎞ . ⎝ ∂x ∂x ∂y ∂z⎠
Die von ADOLPH MAYER durch Rechnung bereits gelieferte Feldkonstruktion wollte HILBERT allerdings begrifflich erledigen. Sein Beweis hob zunächst die zu beachtenden Unterschiede einer Feldkonstruktion für eine oder mehrere gesuchte Funktionen hervor: “Ich weise nochmals auf den Unterschied gegen früher hin, der darin begründet liegt, daß nicht jede 2n-parametrige Schar im Raum eine
187. Vorlesung Variationsrechnung, WS 1904, Mitschrift von Hellinger, Mathematisches Institut der Universität Göttingen, 147-151. 188. aaO., 310
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“Transversalfläche”, wohl aber jede einparametrige Extremalenschar in der Ebene eine “Transversalkurve” J = const. hat.”189 Am Beispiel der kürzesten Linien wird im Raum eine Transversalfläche J(x, y, z) = 0 als Fläche konstanter Entfernung veranschaulicht, die sich nicht für beliebige Geradenscharen angeben läßt. Extremalenschar und Transversalfläche gehören zusammen und bilden gemeinsam ein Feld (Mayerfeld) oder das, was CONSTANTIN CARATHÉODORY später auch vollständige Figur genannt hat. Ins Allgemeine gewendet legte HILBERT bei der Feldkonstruktion (d.h. bei der Bestimmung der Feldfunktionen p = p(x, y, z) und q = q(x, y, z)) von vornherein solche p, q zugrunde, die zu einer Lösung J der Hamilton-Jacobischen Differentialgleichung gehören. Den analytischen Zusammenhang zwischen Feldfunktionen und Lösungen der Hamilton-Jacobischen Differentialgleichung geben die Integrabilitätsbedingungen für den Integranden des Unabhängigkeitsintegrals, die (später) auch Carathéodoryschen Formeln genannt wurden. HILBERT ging von einer beliebig vorgegebenen Fläche T(x, y, z) = 0 und einer Lösung J der Hamilton-Jacobischen Differentialgleichung aus, die auf T verschwindet. Die Annahme einer derartigen Lösung J ist durch Existenzsätze gewährleistet. Die Transversalflächen J(x, y, z) = const sind dadurch charakterisiert, daß der Integrand des Unabhängigkeitsintegrals (1) für jede Richtung dy/dx, dz/dx ihrer Tangentialflächen verschwindet: dy dz F ( p, q ) + ⎛ ----- – p⎞ F p + ⎛ ----- – q⎞ F q = 0. ⎝ dx ⎠ ⎝ dx ⎠
Erfüllen die Anfangswerte von p, q auf T = 0 diese Bedingung, wobei sich die in Rede stehenden Richtungen dy/dx, dz/dx aus ∂T ∂T dy ∂T dz dT = ------ + ------ ----- + ------ ----- = 0 . ∂x ∂y dx ∂z dx
ergeben, so ist durch jeden Flächenpunkt von T in der Tat eine Lösung des Systems (2) dy/dx = p(x, y, z),
dz/dx = q(x, y, z)
bzw. eine Extremale mit den eben ermittelten Richtungsgrößen bestimmt. Damit ist das Feld definiert. Auf die gerade beschriebene Feldkonstruktion kommen wir im Abschnitt 6.8 nochmals zurück, wenn die entsprechende Veröffentlichung HILBERTS zu erörtern ist. Diesen Sachverhalt hob HILBERT etwa in der Mechanik-Vorlesung (WS 1905/06) für seine Hörer nochmals deutlich hervor:
189. aaO., 314.
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KAPITEL 5
“Ich will jetzt eine Bemerkung über die Bestimmung von p und q auf der Fläche T = 0 einschalten, wenn man diese nicht speziell als Punkt nimmt. […] Unsere Bestimmung von p,q entspricht also dem allgemeinen Verfahren.”190 HILBERT leitete den Jacobischen Satz über den letzten Multiplikator nun auch für den räumlichen Fall her, indem er von einer zweiparametrigen Schar von Ausgangangsflächen T (x, y, z, α, β ) = 0
ausging. In allen obigen Überlegungen erscheinen damit beide Parameter α und β, insbesondere hängt auch das Unabhängigkeitsintegral von ihnen ab. Folglich ist – wie oben dargelegt – auch das nach den Parametern abgeleitete Unabhängigkeitsintegral weiterhin wegunabhängig, womit sich zwei letzte Multiplikatoren für das System (2) ergeben. Eine praktische Konsequenz ist, daß das System (2) durch die konstant gesetzten Ableitungen des Unabhängigkeitsintegrals J(x, y, z, α, β) nach den Parametern vollständig integriert wird: ∂----------------------------------J ( x, y, z, 0, 0 )= γ, ∂α
∂----------------------------------J ( x, y, z, 0, 0 )= δ ∂β
(Satz von Carl Gustav Jacobi, siehe Abschnitt 4.3). HILBERT betonte abschließend nochmals, daß zwar das Unabhängigkeitsintegral ein Feld definiere, daß aber umgekehrt nicht jedes Extremalenfeld auf ein Unabhängigkeitsfeld führe. Die damit aufgezeigte technische Problematik für die Mayerfelder wird durch das Unabhängigkeitsintegral elegant umschifft, und eine Definition der Felder gelingt so mühelos. Diesem Vorgehen folgte beispielsweise GILBERT BLISS. Da jede tatsächliche Konstruktion von Feldern aber die Bewältigung jener technischen Schwierigkeiten erfordert, ergeben sich lediglich für begriffliche Überlegungen Vorteile der Hilbertschen Fassung (wie das bei Verallgemeinerungen der Fall ist, siehe Abschnitte 5.10 und 6.2). Es sei aber angemerkt, daß HILBERT diese Vorteile anfänglich überschätzt bzw. das Problem der Mayerfelder nicht klar erkannt hatte. Denn in seinem Pariser Vortrag bemerkte er noch zu optimistisch: “Die angedeuteten Entwicklungen lassen sich, ohne daß eine weitere Rechnung nötig wäre, auf den Fall zweier oder mehrerer gesuchter Funktionen […] übertragen.”191 Auch die NADESCHDA GERNET gestellte Aufgabe und die Beurteilung ihrer Ergebnisse zeigt diese Unklarheit (vgl. Abschnitt 6.6.1). Es ist noch bemerkenswert, daß HILBERT die hinreichenden Bedingungen mit Betrachtungen über die Eulerschen Differentialgleichungen abschloß. Die
190. Vorlesung Mechanik, Mitschrift von Hellinger, Mathematisches Institut der Universität Göttingen, 206. 191. Göttinger Nachrichten, (1900), 253-297, Zitat S. 295.
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Eulerschen Differentialgleichungen als notwendige Bedingungen für Extremalität sind natürlich eine Folge der angegebenen hinreichenden Bedingungen, was übrigens von HILBERT direkt gezeigt wird. Da aber im Hinlänglichkeitsbeweis die Eulersche Differentialgleichung gar nicht unmittelbar benötigt wird, ist ein weiterer Zugang zur Variationsrechnung möglich, indem man die Hamilton-Jacobische Differentialgleichung und nicht die Eulersche Differentialgleichung an die Spitze stellt. Obwohl ihm diese Möglichkeit offenbar bewußt war, zog HILBERT bei der feldtheoretischen Behandlung eines Variationsproblems diese radikale Konsequenz nicht, die später CONSTANTIN CARATHÉODORY in einer drei Jahrzehnte währenden systematischen Forschungsarbeit so erfolgreich ausgebaut hat (Abschnitt 2.4). 5.8.4 Anwendungen in der modernen Physik Der Aufschwung der modernen Physik am Beginn des Jahrhunderts fesselte HILBERT, und er lieferte sowohl zur Relativitätstheorie als auch zur Wellenmechanik mathematische Beiträge. Diese Vorlesungen vermitteln ein ganz anderes Bild als es die Weylsche Einteilung von HILBERTS Schaffen tut, denn bis etwa zum Ende der 20er Jahre trug HILBERT laufend über moderne physikalische Theorien vor. Die Relativitätstheorie erschien in den Vorlesungen erst spät, nämlich im WS 1916 in der Vorlesung Grundlagen der Physik, II. In dieser Vorlesung, in der zwei Jahre darauf folgenden Vorlesung Raum und Zeit (WS 1918) und in der späteren Vorlesung Geometrie und Physik (SS 1924) stellte er das Linienelement in den Mittelpunkt, um über entsprechende Variationsprobleme eine allgemeine Geometrie zu entwickeln. In diesem Zusammenhang kam er wieder auf Mongesche Gleichungen zu sprechen, da solche Gleichungen in der Pseudogeometrie, in der das Linienelement ds indefinit ist, die Nulllinien charakterisieren, wobei deren Gesamtheit ein vollständiges Integral der Hamilton-Jacobischen Differentialgleichung darstellt. Als HILBERT aus dieser Sicht die Geometrisierung der Relativitätstheorie betrachtete und dabei die Einheit der Wissenschaften reflektierte, griff er auf einen Sachverhalt beim Wandel der Mathematik durch die Grundlagenfragen zurück, wo er festgestellt hatte, daß der Mathematiker nun Philosoph werden müsse, um Mathematiker zu bleiben, und er folgerte jetzt (1916): “Der Physiker muss Geometer werden, weil er sonst Gefahr läuft aufzuhören, Physiker zu sein.”192 Während HILBERT die Relativitätstheorie schließlich als eine konsequente Fortsetzung der ursprünglich naiv gewonnenen Raum- und Zeitanschauung betrachtete, sah er bei der Begründung der Wellenmechanik in den Bohrschen Postulaten einen tief greifenden Bruch mit traditionellen Vorstellungen, und es faszinierte ihn deshalb ganz besonders, daß “es wieder die Hamilton-Jacobische Theorie [ist], die hier die Führung übernimmt und die ganze Entwicklung
lin.
192. Die Grundlagen der Physik,
II
(WS 1916), 1. Nachlaß Hückel 2.11. Staatsbibliothek Ber-
470
KAPITEL 5
beherrscht”193. Im Hinblick auf diese neue Anwendung in der Physik in den 20er Jahren, für die die durch die Quantentheorie bewirkten Umwälzungen viel einschneidender als in der Relativitätstheorie sind, wo weiterhin (EulerLagrangesche) Differentialgleichungen für die Formulierung der Gesetze benutzt werden, griff er die Variationsrechnung erneut auf – ganz unbeachtet war sie nie gewesen – und baute sie auch in die aufkommende Quantentheorie ein. Von den 97 Seiten der Vorlesungsmitschrift Mathematische Grundlagen der Quantentheorie (WS 1922)194 sind etwa die Hälfte der Variationsrechnung und Hamilton-Jacobischen Theorie gewidmet. HILBERTS Motto war: “Wir benutzen hierzu die Mathematik der Variationsrechnung, die alleine einen vollständigen Einblick in die Natur der Probleme gewährt.”195 Natürlich war er Realist genug um zu konstatieren, “daß wir noch weit vom wirklichen Verständnis der Elementarprozesse sind” (S. 83). In dieser sogenannten physikalischen Periode (ca. 1910-1927)196, in der sich HILBERT vor allem mit Relativitätstheorie und Quantenmechanik befaßte, in der er sich daneben aber auch der der mathematischen Grundlagenforschung (Beweistheorie und Metamathematik) widmete, gewann die Variationsrechnung wieder den Charakter einer unbestrittenen Leitwissenschaft zurück. “Ohne Kenntnis der Grundprinzipien und der wichtigsten Techniken der Variationsrechnung kann man heute in der theoretischen Physik nicht auskommen”197, sagte HILBERT den Hörern seiner Vorlesung Mathematische Methoden der Quantentheorie (WS 1926). Letztlich hat sich HILBERT über drei Jahrzehnte eingehend mit der Variationsrechnung schlechthin und deren Anwendungen beschäftigt, aber wir werden uns hier nur denjenigen Teilen seiner Arbeit zuwenden, welche für die Feldtheorie von Bedeutung sind, die also ganz konkret auf hinreichende Bedingungen für das Eintreten von (starken) Extrema in der Variationsrechnung abzielen. Solche Fragen, wenn sie die physikalischen Anwendungen betreffen, sind eng mit den Wirkungsprinzipien dieser Disziplin verbunden, bei denen ein physikalischer Vorgang durch die
193. Mathematische Grundlagen der Quantentheorie, (WS 1922), 1. Nachlaß Born 1820. Staatsbibliothek Berlin. 194. Nachlaß Born 1820. Staatsbibliothek Berlin. 195. aaO., 1. 196. H. Weyl hat in seinem Nachruf David Hilbert and his mathematical work (Bulletin of the AMS, 5 (1944), 612-654) auf Hilbert als Zeitraum 1910-1922 angegeben, den viele Autoren so übernehmen; U. Majer hat genauer differenziert und nennt 1898-1910 für die Prinzipien der (klassischen) Mechanik; etwa 1911-1918 für die Relativitätstheorie und aufgrund Hilberts Gesundheitszustandes (1925 wurde perniziöse Anämie diagnostiziert) einen kurzen Abschluß von 1922 bis 1927 für die Quantenmechanik (U. Majer, “Hilbert’s programm”, History of Philosophy and Science, (M. Heidelberger et al., eds.), Dordrecht, Kluwer, 2002, 217-18). Diese Einteilung entspricht etwa der hier vertretenen Sicht. Es ist ohnehin zu beachten, daß die im Hinblick auf die Themen der Publikationen Hilberts ziemlich genau zu ziehenden zeitlichen Grenzen (Erscheinungs-jahre) nicht durchgehend mit denen seiner thematischen Interessen übereinstimmen. 197. Mathematische Methoden der Quantentheorie (WS 1926), Ausarbeitung L. Nordheim, Mathematisches Institut Göttingen, 2.
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Extremalität eines Variationsintegrals beschrieben wird. Wir werden daher in unseren Untersuchungen in diesen Abschnitten über den engeren mathematischen Rahmen der Feldtheorie hinausgehen, um die Extremalitätsfrage auch vom physikalischen Standpunkt zu erfassen. Die Frage hinreichender Bedingungen wurde in der seinerzeitigen Physik häufig pragmatisch gesehen, d.h., der reale Hintergrund eines physikalischen Geschehens, das durch das Verschwinden der ersten Variation bzw. durch die entsprechenden Euler-Lagrangeschen Differentialgleichungen hervorgehoben wurde, ist bereits als ausreichend betrachtet worden, um der Extremalität dieses Geschehens gewiß zu sein. Nun sind die entsprechenden Differentialgleichungen der Variationsrechnung jedoch nur notwendige Bedingungen. HILBERT und seine Schüler vertraten erstmals nachhaltig die Auffassung, daß ein physikalisches Modell das jeweilige Geschehen ganz aus sich selbst heraus rechtfertigen lassen müsse und daß dazu keine externen Argumente (wie etwa der reale Hintergrund) herangezogen werden dürften.198 Das Dirichletsche Prinzip, das die Existenz einer Lösung für eine Randwertaufgabe der Potentialgleichung gewährleistet, erschien physikalisch sehr plausibel und wurde in diesem Sinn von CARL FRIEDRICH GAUß, WILLIAM THOMSON (1824-1907) und JOHANN PETER DIRICHLET (1805-1859) benutzt, bis KARL WEIERSTRAß seine mathematische Unzulässigkeit erkannte. HILBERT hatte 1899 in einem Spezialfall das Prinzip als mathematisch gültig nachgewiesen und zwei Jahre später in einem Vortrag Über die Grundlagen der Geometrie seine Gewißheit erklärte, daß solche Rechtfertigungen ganz allgemein möglich seien: “Ich kehre wieder zu dem Dirichletschen Princip zurück und zeige [-] und darum scheinen mir diese Entwicklungen ein methodisches Interesse zu bieten [-], dass die modernen Hülfsmittel der Analysis und Variationsrechnung im Stande sind, den der geom. u. phys. Anschauung entnommenen Grundgedanken im genauen Anschluss an die anschaulichen Bedingungen desselben derart zu verfolgen, dass aus denselben ein strenger math. Beweis für die Existenz der Minimalfunction entspringt.”199 Schlechterdings auch in diesem Sinne betont eine Randbemerkung HILBERTS in der Vorlesungsausarbeitung Mechanik und Gravitationstheorie (SS 1920) die Rolle der Variationsrechnung als grundlegend.200 Gesichtspunkte der Variationsrechnung sollten für HILBERT aber nicht nur in der Mathematik,
198. Diesen Sachverhalt haben wir vom Standpunkt der Axiomatik im Abschnitt 5.3.4 erörtert. 199. Hilberts Manuskript für den Vortrag in der Göttinger Gesellschaft (jetzt Akademie) der Wissenschaften anläßlich ihres 150jährigen Bestehens am 8.11.1901, Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung, Cod. Ms. D. Hilbert 582, 3. 200. Mechanik und Gravitationstheorie (SS 1920). Maschinenschriftliche. Kopie, Vorsatzblatt. Mathematisches Institut Göttingen, Bibliothek. Siehe Fußnote 7.
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sondern zunehmend auch in der modernen Physik eine beherrschende Rolle spielen. 5.8.4.1 Ein Blick auf Hilberts naturphilosophische Anschauungen Wir beginnen diesen Abschnitt mit einigen einschlägigen Bemerkungen HILBERTS aus seinen mathematischen Notizheften201, die wir als Einstimmung auf HILBERTS Sicht anführen wollen. Da diese Notizbücher als Arbeitshefte und damit lediglich für den persönlichen Gebrauch gedacht waren, spiegeln die Eintragungen HILBERTs Gedanken sehr unmittelbar wider, es ist natürlich zu beachten, daß es sich hier in der Regel nicht um druckreife Bemerkungen handeln wird. Trotzdem wird die Tendenz der gewählten Einträge unsere Richtschnur im Hinblick auf die weitere historische Behandlung des Themas sein. Das Verhältnis von Mathematik und (Natur)Philosophie sah HILBERT im allgemeinen so: “Die Mathematik soll die Philosophie nicht verdrängen, sondern ihr Schrittmacher sein.”202 Die Kärrnerdienste der Mathematik folgen zwangsläufig aus der Feststellung: “Alles, was Gegenstand des Denkens ist, ist Gegenstand der Mathematik”203, wobei einschränkend bemerkt wird “Noch ist nicht alles menschliche Wissen für die Mathematik reif. Aber erst in der Mathematik findet das menschliche Denken seinen definitiven und festen Ausdruck.”204 Die Beziehungen zwischen Mathematik und Physik hat HILBERT in der Vorlesung Strahlungstheorie (SS 1912) klar so beschrieben: “Die physikalischen Vorgänge spielen sich im Raum ab. Das Denken aber geschieht in Begriffen. Die Verbindung von Begriffen wird durch die Formel geleistet. So kommt es, dass das physikalische Denken seinen definitiven Ausdruck in der mathematischen Formel findet. ‘Mathematisch’ deutet hier nur die Tatsache der absoluten Klarheit an.”205 Im Hinblick auf unser Thema konstatierte HILBERT folgenden Zusammenhang zwischen Mathematik und Natur, der aufgrund des obigen Zitats gut verständlich wird: “Zwischen Denken und Geschehen ist kein prinzipieller und kein qualitativer Unterschied! Dadurch erklärt sich praestabilierte Harmonie und die Thatsache, dass einfache experimentelle Gesetze auch immer einfache Theorien ermöglichen.”206 Selbst für die Quantentheorie drückte HILBERT sei-
201. Mathematische Notizhefte, Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung, Cod. Ms. D. Hilbert 600: 1-3. 202. aaO., Heft 3, Beilage. 203. aaO., Heft 3, beigelegtes Registerblatt. 204. aaO., Heft 3, 95. 205. Strahlungstheorie (SS 1912), Maschinenschriftliche Ausarbeitung mit Bemerkungen von Hilbert, 96. Mathematisches Institut Göttingen, 2. 206. Mathematische Notizhefte, Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung, Cod. Ms. D. Hilbert 600: 3, S. 95.
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nen ungebrochenen Erkenntnisoptimismus in einer Notiz so aus: “Praestabilierte Harmonie auch darum[,] dass die Natur so komplizierte Sachen nicht macht, wie auch der Math[ematiker] sie nicht lösen kann.”207 Aber wir lesen auch: “Die Schönheit und praestabilierte Harmonie sind ein wunderbares und dem menschlichen Geist hoch befriedigendes Accedenz, aber kein Beweismittel.”208 Noch spezieller äußerte sich HILBERT zum Variationsgedanken: “In der mathematischen Physik ist heuristisch immer das folgende Hauptprinzip: man denke die extremen trivialen Fälle und variiere dann.”209 Ein Zitat aus HILBERTS Vorlesung Variationsrechnung (WS 1904) weist vorsichtig auf die Zweckmäßigkeit hin, die sich bei der Behandlung physikalischer Probleme durch die Variationsrechnung einstellt: “Probleme dieser Art [das Beispiel war das Problem der Minimalfläche] kommen in vielen Disziplinen sehr häufig vor, vor allem in der Mechanik und der mathematischen Physik, so daß es häufig scheint, als ob die Natur in diesem Auftreten von Minimaleigenschaften einen Zweck verfolge.”210 Wir werden sehen, daß HILBERT sich letztlich dieses Sachverhalts wesentlich sicherer gewesen ist, als er es hier öffentlich andeutete. Eine spezielle (undatierte) Notiz besagt: “Praestabilierte Harmonie (Gesetz der Gesetze), dass die Riemannschen Maßbestimmung gij nun heute als Gravitationspotentiale [in der Relativitätstheorie] von ganz anderer Seite her gebraucht wird. Das kein Zufall, sondern innerer Grund.”211 Die Leitfunktion der Variationsprobleme hierbei hat HILBERT in der Vorlesung Mathematische Grundlagen der Quantentheorie (WS 1922) konstatiert, in der er befriedigt erklärte, daß auch hier die Variationsrechnung wieder volle Einsicht gewähre, daß auch hier wieder die Hamilton-Jacobische Theorie die führende Rolle übernähme.212 Rückblickend auf diese Entwicklung hat sich 1939 MAX BORN – übrigens ähnlich wie schon LEONHARD EULER – über einen passenden mathematischen
207. Mappe Quantentheorie, Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung, Cod. Ms. D. Hilbert 666. 208. Mappe Physik, Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung, Cod. Ms. D. Hilbert 657, Bl. 17. 209. Mathematische Notizhefte, Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung, Cod. Ms. D. Hilbert 600: 3, S. 94. 210. Variationsrechnung (1904), Ausarbeitung von Hellinger, Mathematisches Institut Göttingen, 6. 211. Gedanken, Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung; Cod. Ms. D. Hilbert 601, 22. 212. Mathematische Grundlagen der Quantentheorie (WS 1922), Ausarbeitung Nordheim und Heckmann, Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung, Cod. Ms. D. Hilbert 566, 1.
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Ausdruck für das einschlägige physikalische Geschehen, der zu einem Minimum führt und den man a posteriori stets aufstellen könne, geäußert: “Durch die Wahl des richtigen Ausdrucks […] lassen sich fast alle Erscheinungen beschreiben mit Einschluß nicht nur der Dynamik starrer und elastischer Körper, von Flüssigkeiten und Gasen, sondern auch der Elastizität und des Magnetismus, der Elektronentheorie und der Optik. Der Höhepunkt dieser Entwicklung wurde mit Einsteins Relativitätstheorie erreicht, durch die das abstrakte Prinzip der kleinsten Wirkung wieder eine einfache geometrische Deutung erhielt.”213 Die Naturbeschreibung kann auf doppeltem Weg erfolgen: als Variationsproblem oder durch Differentialgleichungen. Welche mathematischen Gründe sprechen für das Studium von Variationsproblemen? Diese Frage stellte HILBERT in der Vorlesung Mathematischen Grundlagen der Quantentheorie (WS 1922): “Welcher Nutzen erwächst denn nun aus der Kenntnis des Zusammenhangs zwischen einer vorgelegten Differentialgleichung und einem Variationsproblem für die eigentliche Aufgabe, nämlich die Integration der partielle Differentialgleichung? Gewiss ist es ja schon erkenntnistheoretisch interessant, dass die Aufgabe, welche uns die die Natur in Form einer Differentialgleichung stellt, sich als ein Minimalproblem auffassen lässt. Wird aber auch die Lösung der Aufgabe durch die Kenntnis des Minimumproblems erleichtert?”214 Er hat sich zu der von ihm aufgeworfenen Frage in der Vorlesung ausführlich geäußert. Wir referieren nachfolgend den technischen Sachverhalt nach HILBERT: Mit der Integration der Euler-Lagrangeschen Differentialgleichungen hat man auch das allgemeinste p-Feld (Mayerfeld) gewonnen und verfügt mithin auch über die allgemeine Lösung der Hamilton-Jacobischen partiellen Differentialgleichung. Das ist ein wichtiges Ergebnis, weil damit die Integration einer partiellen Differentialgleichung erster Ordnung auf die gewöhnlicher Differentialgleichungen zurückgeführt worden ist. Ein noch größerer Nutzen sollte aus diesem Zusammenhang zwischen der gewöhnlichen Euler-Lagrangeschen Differentialgleichung und der partiellen von Hamilton-Jacobi erwachsen, als man jene Beziehung umkehrte und die Integration der gewöhnlichen Differentialgleichungen auf die der partiellen zurückführte, was das große Verdienst von CARL GUSTAV JACOBI ist. JACOBIS Satz vom letzten Multiplikator erlaubt es nämlich, mittels einer einparametrigen Lösung der Hamilton-Jacobischen partiellen Differentialgleichung die Euler-Lagrangesche Differentialglei213. “Ursache, Zweck und Ökonomie in den Naturgesetzen”, (Vortrag 1939), Physik im Wandel meiner Zeit, Braunschweig, Vieweg 41966, 59-84, Zitat S. 82. 214. Mathematische Grundlagen der Quantentheorie (WS 1922), Ausarbeitung Nordheim und Heckmann. Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung. Cod. Ms. D. Hilbert 566, 16.
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chung vollständig zu integrieren. Man findet zu einer Hamilton-Jacobischen partiellen Differentialgleichung, die die gesuchte Funktion S nicht explizit enthält (was keine wesentliche Einschränkung ist), leicht ein entsprechendes Variationsproblem.215 Wie kommt man allgemein zu Variationsproblemen? Eine Randnotiz HILBERTS in der Vorlesung Invariantentheorie (WS 1886) hebt hervor: “Jede wissenschaftliche Forschung geht darauf aus, Aequivalenzen festzustellen und deren Invarianten zu ermitteln[,] und für jede gilt das Dichterwort Der Weise sucht den ruhenden Pol in der Erscheinungen Flucht.”216 In HILBERTS Vorlesungskonzept Raum und Zeit (WS 1918) lesen wir: “Die sinnlich wahrnehmbaren Qualitäten könne nicht direkt der Materie zugeschrieben werden. – In der Physik suchen wir alles Qualitative auf RaumZeitliche Relationen zurückzuführen. Nur in dem Masse [Maße], wie dies gelingt, kann die Natur mathematisch verstanden werden. Denn eigentliche Qualität ist mathematisch nicht fassbar. Historisch: Ausschaltung der Qualität schon bei Demokrit (die Atome und das Leere).”217 Leitgedanke HILBERTS zur Ermittlung des “ruhenden Poles” ist also die zahlenmäßig bestimmte Extremalität. Diese Sicht dominiert in der physikalischen Periode HILBERTS, also etwa in den Jahrzehnten von 1910 bis 1930. HILBERTS ausgesprochene Vorliebe, alles durch Variationsprobleme beschreiben zu wollen, wird in einem Schreiben von FELIX KLEIN an den jungen WOLFGANG PAULI (1900-1958) hervorgehoben.218 Freilich läßt sich HILBERTS Denken nicht einfach mit Schubkästen sortieren, denn in seinen mathematischen Notizheften finden wir auch diesen Eintrag: “Man kann ja die Axiome mit einem Schlage überspringen z.B. in der Geometrien, indem man die eine Forderung aufstellt, dass jede Gerade durch eine lineare Gleichung darstellbar ist, oder in der Mechanik, dass man sofort das Hamiltonsche Prinzip oder in der Thermodynamik, indem man die Entropiefunktion in Gleichung[sform] ansetzt. Aber gerade diese Zerlegung in Axiome, weil sonst gar nicht klar, was alles drinsteckt in dem allgemeinen Prinzip und weil sonst – Fluch der Mathematik – alles in’s rein Formale ausartet und überwuchert.”219
215. aaO., 15. 216. Invariantentheorie (WS 1886), Vorlesungskonzept Hilberts. Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung, Cod. Ms. D. Hilbert 521, 23 (nachträglicher Eintrag). 217. Raum und Zeit (WS 1918), Vorlesungskonzept Hilberts. Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung, Cod. Ms. D. Hilbert 561, handschriftliche Anlage, S. i. 218. W. Pauli, Wissenschaftlicher Briefwechsel mit Bohr, Einstein, Heisenberg u.a., Bd. 1, A. Hermann et al. (Hrg.), Berlin, Springer, 1979, 27-31. 219. Mathematische Notizhefte, Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung, Cod. Ms. D. Hilbert 600: 3, 108 (vgl. dort auch S. 197, eingeklebter Text).
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Wie weit HILBERT die Tragfähigkeit einer fruchtbaren Vorstellung auszudehnen versuchte, zeigt exemplarisch ein Eintrag in seine Mathematischen Notizhefte. Zum besseren Verständnis sei angemerkt, daß man mit dem Fermatsche Prinzip die geometrische Optik beherrscht, die ein Grenzfall der Wellenoptik für kleine Wellenlängen ist. “Beweise allgemeinen den Satz [Fermatsches Prinzip], dass der Lichtstrahl so läuft, dass die Zeit, die das Licht braucht, ein Minimum wird, nur aus der Wellentheorie. Giebt es in der Maxwellschen Theorie der Elektricität einen ähnlichen Minimumsatz? Bewegt sich das Elektron nach einem Minimumsatz und wie ist der Zusammenhang mit dem Helmholtz-Schwarzschild’schen Minimumsprinzip?”220 Sehen wir uns systematisch HILBERTS Anwendung der Variationsrechnung an, die unserer Thematik entsprechen. Sie wurden in folgenden Vorlesungen gemacht: Flächentheorie (1900, Entdeckung des Unabhängigkeitsintegrals!), Differentialgleichungen (laufend seit 1900)221, Mechanik (im eigentlichen Sinn 1898, 1905, 1910, 1919), Quantenmechanik (1920, 1922, 1926) 222, Relativitätstheorie (1916, 1918, 1920, 1921, 1924). Da die Variationsrechnung in diesen Vorlesungen als Hilfsmittel betrachtet wird, ist deren Behandlung lediglich referierend, und es gibt wenig Beweise und kaum Neues. Eine Ausnahme bildet die Vorlesung über Flächentheorie, in der HILBERT den Unabhängigkeitssatz fand, der nur wenige Wochen später im 23. Problem des Pariser Vortrages erschien (siehe Abschnitt 5.4.3). Gleichfalls bringen HILBERTS Vorlesungen Höhere Mechanik und Gravitationstheorie (SS 1920) sowie Mathematische Grundlagen der Quantentheorie (WS 1922)223 Neues. HILBERT stellt hier fünf Typen von äquivalenten Variationsproblemen zusammen, darunter sind beispielsweise ein Variationsproblem mit Nebenbedingungen und die dazu äquivalente Lagrangesche Form (das befreite Problem in der Sprechweise der Physik).224 HILBERT erklärt dabei auch äquivalente
220. aaO., 64. 221. Beispielsweise in: Theorie der partiellen Differentialgleichungen (WS 1909), 4h. Ausarbeitung von Courant, 235 S. Kapitel III “Methode der Variationsrechnung”, 59-189 (mehr als die Hälfte der Ausarbeitung!). Mathematisches Institut Göttingen. 222. Zum Beispiel: Mathematische Grundlagen der Quantentheorie (WS 1922), Ausarbeitung von Nordheim und Heckmann, 97 S., Variationsrechnung, 1-45, erst dann Quantenmechanik bis S. 97. Staatsbibliothek Berlin, Nl. Born 1820; Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung, Cod. Ms. D. Hilbert 566. 223. Vorlesungsausarbeitung Höhere Mechanik von Kratzer, S. 1-30 (Staatsbibliothek Berlin); Vorlesungsausarbeitung Grundlagen von Nordheim und Heckmann, insbesondere S. 29-30 (Mathematisches Institut Göttingen). 224. In die Ausarbeitung Variationsrechnung (WS 1904) von Hellinger ist ein Zettel eingeklebt, auf dem von Hilberts Hand die Äquivalenz (im engeren Sinn) dreier Variationsproblem dargelegt wird und der vermutlich aus dem Gebrauch dieser Ausarbeitung bei der Wiederholung der Vorlesung im Jahre 1915 stammt. Mathematisches Institut Göttingen.
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Variationsproblem über kanonische Transformationen (siehe Abschnitt 5.8.2). Solche Probleme sind für HILBERT bereits dann äquivalent, wenn ihre EulerLagrangeschen Differentialgleichungen übereinstimmen; d.h. hier wird lediglich die Übereinstimmung der Integranden bis auf ein totales Differential verlangt (was in der Theorie der kanonischen Transformationen sachgemäß ist). Damit war HILBERT übrigens sehr nahe an dem sogenannten Königsweg von CONSTANTIN CARATHÉODORY. HILBERT vertrat – wie schon erwähnt – mit aller Entschiedenheit seine Auffassung vom monistischen Charakter der Mathematik und bekämpfte energisch die Aufteilung der Mathematik sowie das Abteilen mathematischer Zweige vom Ganzen. Dieses wissenschaftstheoretische Verständnis HILBERTS war auch fächerübergreifend. In der Vorlesung Grundlagen der Physik (1916) erklärte HILBERT: “Die Trennung der Wissenschaften in Fächer und Fakultäten ist eben etwas Anthropologisches und der Wirklichkeit Fremdes, denn eine Naturerscheinung frägt nicht danach, ob sie es mit einem Physiker oder mit einem Mathematiker zu tun hat.”225 Daher ist es naturgemäß, folgende Auffassung der Mechanik in HILBERTS Vorlesungen zu finden: “Es gibt kein Wissensgebiet so ausgedehnt, so vielseitig, so allgemein bedeutungsvoll wie die Mechanik. Wenn man an eine sachliche Gliederung des Stoffes herangehen will, so kann man wohl Gebiete oder Richtungen innerhalb der Mechanik unterscheiden nach den folgenden 4 Schlagworten: 1.) klassische M. 2.) Relativitäts-M. 3.) Quanten-M. 4.) Statistische M. In meiner Vorlesung [von 1924] kommt wesentlich 1.) zur Darstellung. Aber zu den heute wichtigsten und schönsten Anwendungen der Prinzipien und Methoden von 1.) gehört 2.) und zu den wunderbarsten und überraschendsten Erweiterungen von 1.) gehört 3.).”226 Bei dieser Sicht HILBERTS kann man erwarten, daß die jeweiligen Theorien von ihm mehr oder weniger von einem einheitlichen mathematischen Gesichtspunkt aus aufgestellt werden, zu dem auch die Variationsrechnung als ein “Leitstern” gehört. Abgesehen von der statistischen Mechanik, 4), die HILBERT in der seinerzeitigen Vorlesung ausklammerte, bestätigen seine einschlägigen Arbeiten diese Erwartung und insbesondere die führende Rolle der Variations225. Grundlagen der Physik (WS 1916), Ausarbeitung von Bär. Staatsbibliothek Berlin, Nl. Born, 1818, 2. 226. Einleitung zur Vorlesung Mechanik (SS 1924). Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung, Cod. Ms. D. Hilbert 570, 1.
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KAPITEL 5
rechnung bei der Vereinheitlichung. Die Verbindung der Variationsrechnung zur Mechanik stellte HILBERT stets durch das Hamilton-Jacobische Prinzip her.227 5.8.4.2 Variationsrechnung in der Mechanik, Relativitätstheorie und Quantenmechanik Vorlesungen zur klassischen Mechanik WS 1898 Mechanik, 4h; WS 1902 Mechanik der Continua, 4h; SS 1903 Ausgewählte Kapitel aus der Mechanik der Continua, 2h; WS 1905 Mechanik, 4h; SS 1906 Mechanik der Continua, 4h; WS 1906 Mechanik der Continua, 4h; WS 1910 Mechanik, 4h;
SS 1911 Mechanik der Kontinua, 4h; WS 1911 Mechanik der Kontinua, 4h; WS 1913 Analytische Mechanik, 4h; SS 1914 Ausgewählte Kapitel der statistischen Mechanik, 2h; WS 1919 Mechanik, 2h.
(hierzu häufig Seminare, die Thematik ist auch Teil der Vorlesungen über Differentialgleichungen) Der Erfolg des mechanischen Ansatzes im naturwissenschaftlichen Denken und seiner mathematischen Verwirklichung führten letztlich zu seiner Überbewertung, der Mechanistik, die von einer atomaren Welt ausging, die durch in Differentialgleichungen ausgedrückten Fernwirkungen gesteuert wurde. Thermodynamik und Akustik wurden in diesem Verständnis Disziplinen der Mechanik, aber die Einordnung der Optik, der ein Träger für die Lichtwellen fehlte, war problematisch. Es kristallisierten sich mehr und mehr zwei schwerwiegende Argumente gegen die an der Materie orientierten mechanistische Weltauffassung heraus, die schließlich zur Relativitätstheorie und Quantenmechanik führten: a) das Trägheitsgesetz gilt offenbar bei hohen Geschwindigkeiten, wie sie bei der Kathodenstrahlung auftreten, nicht mehr, b) der Äther als hypothetischer Träger der Lichtbewegung scheidet aus (u.a. durch den Versuch aus dem Jahre 1881 von ALBERT ABRAHAM MICHELSON (1852-1932)). Im Gegensatz zum mechanistischen Einheitsideal der Physik beginnt nun die Karriere einer feldtheoretischen Auffassung, die ihren Ausgang in MICHAEL FARADAYS (1791-1867) Elektrodynamik genommen hat, die 1855 JAMES CLERK MAXWELL (1831-1879) mathematisch ausarbeitete und in der die Fernkräfte beseitigt sowie das Augenmerk auf den leeren Raum als Träger eines Feldes (Nahwirkung) gerichtet wurden: 227. Siehe Vorlesungsausarbeitungen Mechanik (WS 1905) von Hellinger, S. 129 f., Mathematische Grundlagen der Quantentheorie (WS 1922), Ausarbeitung von Nordheim und Heckmann, 41.
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“Das Leere, im Gegensatz zur Materie, wird gerade in den Mittelpunkt gerückt und zum Beherrscher und Gesetzgeber für alles Geschehen proklamiert. Das ó [leer, Adj.; im Sinn des Demokrit] selbst, d.h. das reine Hierjetzt-System ist dabei der Träger von mathematischen Größen und mathematischen Gleichungen zwischen ihnen; die Materie ist im Gegensatz zu früherem etwas Sekundäres, die Grenze oder das Singuläre des ó.”228 Die Relativitätstheorie und die Quantenmechanik werden sich dabei in der modernen Physik jedoch als zwei, allerdings getrennte Höhepunkte erweisen, die trotz ihrer Erfolge noch kein Einheitsideal verwirklichen, sondern möglicherweise lediglich eine Fata morgana sind, da die Dissonanzen (z.B. Fernwirkung und Nahwirkung) noch nicht gänzlich erledigt worden sind.229 Da die euklidische Geometrie global ausgerichtet ist (man denke an die Winkelsumme im Dreieck), benötigt die Relativitätstheorie eine neue Geometrie. Die quantenmechanischen Regeln sind gleichfalls Fernwirkungsgesetze mit starkem anthropomorphen Charakter, da ein Elektron wenigstens einen Umlauf benötigt, um zu “wissen”, auf welcher Bahn es sich befindet, oder wohin es springen will, um die entsprechende Strahlung aussenden zu können.230 Vorlesungen zur Relativitätstheorie WS 1916 Die Grundlagen der Physik, 2h; WS 1918 Raum und Zeit (allgemeinverständlich), 1h; SS 1920 Höhere Mechanik und neuere Gravitationstheorie, 4h; 1921 Gastvorlesungen in Kopenhagen und Hamburg SS 1921 Geometrie und Physik, 4h; Grundgedanken der Relativitätstheorie (allgemeinverständlich), 1h; WS 1923 Gravitationstheorie und Elektrizität (allgemeinverständlich), 1h; SS 1924 Mechanik (mit Ergänzung Relativitätstheorie), 4h. In der 1918 gehaltenen Vorlesung Raum und Zeit führte HILBERT die beiden Grundbegriffe Raum und Zeit mit dem ihm eigenen Blick auf das Wesentliche, der uns schon bei der Erklärung der Variationsrechnung begegnet war, so ein:
228. Über die Einheit in der Naturerkenntnis (WS 1923), Maschinenschriftliche Vorlesungsausarbeitung mit Bemerkungen von Hilbert, 181. Mathematisches Institut Göttingen, 66 S. 229. aaO., S. 66 f. Den Versuch Einsteins, Quantenmechanik und Relativitätstheorie zu vereinen, betrachtete Hilbert als verfrüht, da erstere noch zu unfertig sei (S. 107). “Die Quantenmechanik, wie sie heute ist, in ihrem gegenwärtigen Zustande, ordnet sich nicht in das physikalische Lehrgebäude widerspruchsfrei ein, sondern bietet vielmehr die krassesten Paradoxien, [die] […] sich immer noch vermehren und verschärfen” (S. 72). 230. aaO., S. 103, 145 f. Hilbert führt die anthropomorphe Deutung auf fehlende physikalische Einsichten zurück, denn es wäre eine Ausflucht, tiefer liegende und noch unbekannte Gesetze durch seelische Eigenschaften der Elektronen zu ersetzen (S. 146).
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KAPITEL 5
“Die Zusammengehörigkeit der Dinge zum Weltganzen stellt sich uns dar durch ihr Beisammensein im Raum. Der Raum verbindet die Dinge. […] Mit dem Beisammensein der Gegenstände im Raum ist die Ordnung (d.h. das Weltganze) des Wirklichen noch nicht vollständig beschrieben. Denn die Lagen der Gegenstände verändern sich mit der Zeit. […] Der Raum verbindet unmittelbar die Gegenstände, die Zeit verbindet die Existenz. Die zeitliche Ordnung ist somit der räumlichen superponiert, d.h. die Zeit verknüpft erst das, was schon räumlich geordnet ist.”231 Physikalisches Wissen ist mit mathematischen Denkmethoden durchwebt, insbesondere durch Zahlen erfaßt. Zahlen sind zwar in der Mathematik zentral, aber der Natur etwas Fremdes, sondern lediglich durch ein Koordinatensystem vermittelt. Die in einer Untersuchung benutzten Koordinaten sind erst durch uns in die Betrachtungen hereingebracht; aber “Gesetze und Tatsachen nämlich, die nur für ein spezielles Koordinatensystem gelten, interessieren uns gar nicht.”232 Koordinatensysteme (mit den Raumpunkten “Hier” bzw. in der Raum-Zeitmannigfaltigkeit “Hier-Jetzt”) erfüllen ihre Aufgabe nur dann, wenn die auf sie bezogenen Aussagen koordinatenunabhängig sind (Prinzip der Objektivität). Da die Naturgesetze von den willkürlichen Koordinaten ganz unabhängig sind, ergeben sich gegenüber Transformationen Invarianzbedingungen.233 Weltgesetze wie die Einsteinschen Gravitationsgleichungen haben dem Prinzip der Objektivität zu genügen. Das physikalische Geschehen wird durch gewisse Grössen (Potentiale gij) bestimmt, und zwar im Prinzip (physikalisch) vollständig (“Hier-Jetzt-So”). Die Bestimmung der Potentiale ist eine Aufgabe der Naturwissenschaft, dann tritt eine mathematische Behandlung ein, deren Ergebnisse schließlich zu interpretieren sind. Trotz der Erkenntnisse der Atomistik und Quantentheorie sind in dieser mathematischen Behandlung Stetigkeit und Differenzierbarkeit erwünscht; die Bewegungen sollen aus physikalischen Gründen umkehrbare Transformationen sein, die damit eine Gruppe bilden. Die Hilbertschen Grundgleichungen der Physik enthalten neben den Einsteinschen Gravitationspotentialen gij noch das elektromagnetische Viererpotential qk. Solche Grundgleichungen gestatten dann eine gewisse Gruppe von Transformationen, gegenüber denen sie invariant sind und die sie mathematisch charakterisieren.234
231. Hilberts Vorlesungskonzept Raum und Zeit. Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung, Cod. Ms. D. Hilbert 561, S. 116 ff. 232. Die Grundlagen der Physik (WS 1916), Ausarbeitung Bär. Mathematisches Institut Göttingen, 31. 233. aaO., Ausarbeitung Bär, S. 8. 234. Vortrag Kopenhagen (1921). Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung, Cod. Ms. D. Hilbert 589, 5-13.
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481
Der zahlenmäßige geometrische Abstand s zweier Dinge, den uns ein Koordinatensystem liefert, muß nicht auf der Alltagserfahrung beruhen, und die Definitheit der quadratischen Form G(x), die zum Linienelement ds eines Abstandes s gehört, ist keineswegs selbstverständlich. HILBERTS Axiom von der Existenz einer Länge bei Kurven K bezieht sich auf das Integral (1) s(K) =
x2
∫x
g ij dx µ dx ν
(Summationsabkommen),
1
und erst die Forderung, daß die Kurvenlänge reell sei, führt auf die Definitheit der Form.235 Da die quadratische Form verschwinden und auch negative Werte (sog. Pseudogeometrie) annehmen kann, wird es Kurvenstücke der Länge 0 als auch von imaginärer Länge geben. Die Null-Linien, die Kurvenstücke mit reeller und imaginärer Länge scheiden, werden daher von besonderem Interesse sein. Die geodätischen Linien, d.h. die Lösungen des durch (1) erklärten Variationsproblems (1*) s(K) → Min, werden zu Koordinatenlinien gemacht. Sie spielen jetzt jene Rolle, die die Geraden in der ebenen Geometrie inne haben. Lokal lassen sich die von einem Punkt ausgehenden Geodätischen als lineare Beziehung (in Riemannschen Koordinaten) angeben, und sie überdecken eine hinreichend kleine Umgebung schlicht, m.a.W., sie bilden lokal ein Feld. Im einfachsten ebenen Fall mit g11 = 1, g12 = g21 = 0, g22 = –1 haben wir eine sogenannte pseudo-euklidische Geometrie, in der wie in der ebenen Geometrie die Riemannsche Krümmung verschwindet. Für (1) folgt hier s=
∫
2
2
dx 1 – dx 2 .
Nullkurven sind damit zwei orthogonale Geradenscharen, die durch 2
2
(2) dx 1 – dx 2 = 0
bzw.
dx 1 ± dx 2 = 0
gegeben sind, wobei den vormaligen konzentrischen Kreisen in der ebenen Geometrie jetzt gleichseitige Hyperbeln (als Kurven konstanter Entfernung vom Nullpunkt in dieser Geometrie) entsprechen. Die Existenz der orthogonalen Trajektorien (d.h. eines Mayerfeldes) ist dabei bereits durch die Annahme g12 = g21 = 0 gesichert. Die Länge der Kurven ist je nachdem, ob sie flacher oder steiler als die Null-Linien ansteigen, reell oder imaginär, d.h. die Kurven
235. Die Grundlagen der Physik (WS 1916), Ausarbeitung Bär. Mathematisches Institut Göttingen, 3.
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KAPITEL 5
beschreiben jeweils örtliche oder zeitliche Beziehungen (Strecken oder Zeitlinien).236 Die Pseudogeometrie eines ternären Gebietes (x1, x2, x3) ist komplizierter, denn die (2) entsprechende Beziehung stellt einen reellen Kegel dar, so daß anstelle des Richtungsfeldes ein Kegelfeld tritt. Null-Linien sind Lösungen der “diophantischen” Mongeschen Differentialgleichungen (unterbestimmtes System); Geodätische sind jetzt diejenigen Kurven, die zusätzlich zur Eulerschen Differentialgleichung die Mongesche Gleichung als Nebenbedingung erfüllen (d.h. die entsprechenden Kegel tangieren). Die Charakteristiken der Hamilton-Jacobische Differentialgleichung, aus denen Lösungen gemäß der Cauchyschen Charakteristikentheorie aufgebaut werden können, sind die geodätischen Null-Linien.237 In der vierdimensionalen Pseudogeometrie gibt es zwei Standardfälle, die in der jeweiligen quadratischen Form G durch zwei bzw. drei Pluszeichen bei den Quadraten charakterisiert sind. Von Interesse ist lediglich der letztere Fall, der schließlich auf eine Geometrie mit HILBERTS Raum-Zeit-Axiom führt: G(x1, x2, x3, x4) = g jk x· j x· k
(j, k = 1, 2, 3, 4),
2 2 2 2 bzw. Typ x· 1 + x· 2 + x· 3 – x· 4
(Relativitätstheorie).238
Ist in dieser Geometrie xk = xk(p) (k = 1, 2, 3, 4) eine Kurve des Parameters p, so kann diese in Teilstücke mit jeweils gleichem Vorzeichen von G zerlegt werden: ist G > 0, dann heißt das zugehörige Kurvenstück eine Strecke und das längs dieses Kurvenstücks genommene Integral s=
∫
G dp
ist als die Länge der Strecke erklärt; falls G < 0 ausfällt, wird das Kurvenstück Zeitlinie genannt und das längs des Kurvenstück genommene Integral s=
∫
– G dp
heißt die Eigenzeit der Zeitlinie; Kurvenstücke, längs denen G = 0 wird, heißen Null-Linien, und sie scheiden beide Arten von Kurvenstücken (die sich nicht ineinander transformieren lassen). Sowohl die Mongesche Differentialgleichung als auch als ihr duales Gegenstück (die Hamilton-Jacobische partielle Differentialgleichung) gehören zu dem vierdimensionalen Kegelfeld, deren Charakteristiken die geodätischen 236. aaO., 37. 237. aaO., 69-79. 238. aaO., 104; “Grundlagen der Physik”, überarbeitet in Gesammelte Abhandlungen, Bd. 3, Berlin, Springer, 1935, 268 (Axiom IV).
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Null-Linien sind. Die von einem festen vierdimesionalen Weltpunkt x ausgehenden geodätischen Null-Linien erzeugen eine dreidimensionale Mannigfaltigkeit, die eine zum Weltpunkt x gehörige Zeitscheide definiert, d.h. alle von x ausgehenden Zeitlinien verlaufen ganz innerhalb jenes vierdimensionalen Weltteiles, der die zu x gehörige Zeitscheide als Begrenzung hat. Die 10 symmetrischen Gravitationspotentiale gjk (j,k = 1, 2, 3, 4) bestimmen die Euler-Lagrangeschen Differentialgleichungen (Gravitationsgleichungen, s.u.) des zur Mieschen Weltfunktion gehörigen Variationsproblems. Die elektrodynamischen Zustände in jedem Weltpunkt müssen sich nach HILBERTS Überzeugung durch weitere Funktionen in vier Potentialen qk beschreiben lassen, die zu den Funktionen in den Gravitationspotentialen gjk gleichberechtigt hinzutreten. Weniger Annahmen sind nicht möglich, mehr aber auch nicht nötig.239 “Nach welchen Gesichtspunkten sollen wir nun die Gleichungen aufstellen, denen diese 14 Funktionen [10 Gravitations- und 4 elektrodynamische Potentiale] zu genügen haben? Dass diese Gleichungen allgemein invariant sein sollen, muss unsere erste Sorge sein. Damit erhalten wir schon die Möglichkeit, dieselben aus einem Variationsproblem abzuleiten, das eine allgemeine Invariante unter dem Integralzeichen [zu] stehen hat. Nun spielt schon in der alten Physik das Hamiltonsche Prinzip eine hervorragende Rolle. In diese alte Physik soll aber die neue im Spezialfall degenerieren. So bleibt uns gar keine Wahl, wir werden zwangsläufig auf ein Hamiltonsches Variationsproblem geführt.”240 In seiner Arbeit Hamiltonsche Prinzip und allgemeine Relativitätstheorie (1916) bescheinigte ALBERT EINSTEIN (1879-1955) HILBERT, daß es diesem 1915 gelungen sei, der Relativitätstheorie mit Hilfe nur eines einzigen Variationsproblems eine durchsichtige Gestalt zu geben.241 Da die physikalischen Gesetze unabhängig vom Koordinatensystem zu sein haben (Prinzip der Objektivität), lehrt die Invariantentheorie242 – so HILBERT –, daß das Integral
∫∫∫∫H
g dx 1 dx 2 dx 3 dx 4
239. So Hilbert 1916, aaO., Ausarbeitung Bär, S. 105. Einstein kritisierte die Hilbertschen Annahmen über die Konstitution der Materie bzw. die Voraussetzungen über die qk (Einstein, “Hamiltonsches Prinzip und allgemeine Relativitätstheorie”, Sitzungsberichte der Preußischen Akademie, 1916, 1111). 240. aaO., Ausarbeitung Bär, 105. 241. Hamiltonsche Prinzip, 1111; Hilberts Arbeit erschien in den Göttinger Nachrichten, 1915, Heft 3. 242. Einen kurzen Überblick findet man in Die Grundlagen der Physik (SS 1916), Ausarbeitung Bär. Mathematisches Institut Göttingen, 105-111.
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KAPITEL 5
für eine invariante Hamiltonfunktion H, die von den Größen gjk und qk (j, k = 1, 2, 3, 4) sowie ihren Ableitungen beliebig hoher Ordnungen abhängt, selbst eine allgemeine Invariante ist. Damit folgert er: “Wir haben als die 14 Grundgleichungen der Physik aus dem Hamiltonschen Prinzip
∫∫∫∫H
g dx 1 dx 2 dx 3 dx 4 = Min,
wobei das vierfache Integral über die ganze Welt zu erstrecken ist, indem wir die Lagrangeschen Ableitungen nach den gjk und qk bilden [d.h. die EulerLagrangeschen Differentialgleichungen aufstellen].”243 Die 10 Gravitationsgleichungen und 4 verallgemeinerten Maxwellschen Gleichungen, die eine Folge der ersten 10 Gleichungen sind, lauten in HILBERTS Kurzschreibweise: [ gH ]jk = 0 und [ gH ]k = 0,
(j, k = 1, 2, 3, 4).
Da die Potentiale, die eine Geometrie charakterisieren, lokal als konstant angesehen werden können, ist im Kleinen jede Pseudogeometrie pseudoeuklidisch. Setzt man die konstanten Werte der zum pseudoeuklidischen Standardtyp Relativitätstheorie gehörigen Gravitationspotentiale ein, so ist eine Pseudogeometrie möglich, wenn die Materie bzw. Elektrizität (q = 0) verschwindet. Die Frage, ob diese physikalische Konsequenz auch notwendig ist bzw. die Standardversion sowie die durch Transformationen aus ihr hervorgehenden Welten die einzigen regulären Lösungen der 10 Gravitationsgleichungen sind, ist eine von HILBERT hier nicht weiter erörterte Frage.244 Konsequenzen für die moderne Physik, die viel mehr als bisher die Geometrie mit in den Bereich ihrer Untersuchungen ziehen muß, hatte HILBERT schon 1916 in seiner Vorlesung Grundlagen der Physik angemahnt.245 Zwei Jahre später erklärte er in einem Vortrag in Bukarest: “So haben wir in den letzten Jahren […] ein einzig dastehendes und welthistorisches Ereignis erlebt: die völlige Lösung des Raum-Zeit-Problems.”246 Seine Gründe hierfür waren: “Das Relativitätsprinzip bedeutet, wie mir erscheint, zum ersten Male eine definitive genaue und allgemeine Aussage über die in der Wirklichkeit gelten243. aaO., Ausarbeitung Bär, 107. 244. Siehe “Die Grundlagen der Physik”, Göttinger Nachrichten, 1915, 1916; später revidiert in Mathematische Annalen, 92 (1924), 1-32 und in Gesammelte Abhandlungen, Bd. 3, Berlin, Springer, 1935, 279; maschinenschriftliche Vorlesungsausarbeitung Die Grundlagen der Physik (WS 1916) von R. Bär in der Staatsbibliothek Berlin, Nl. Hückel 2.11 (S. 107 f.) und Nl. Born 1818 (nicht ganz übereinstimmend). 245. Vorlesungsausarbeitung Bär, Staatsbibliothek Berlin, Handschriftenabteilung, Nl. Hückel 2.11, S. 2. 246. Vortrag Bukarest, März 1918, Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung, Cod. Ms. D. Hilbert 592, 2, verte.
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den Gesetze und stellt somit meiner Meinung nach die gewaltigste reine Gedankentat des menschlichen Geistes dar. Der Mathematiker aber, der schon so oft die praestabilierte Harmonie zwischen reinem Denken und Wirklichkeit bemerkte, wird fast zu der Vorstellung gezwungen, als sei die Natur eigens so eingerichtet, dass es zu ihrer Erfassung der tiefsten mathematischen Spekulationen bedarf.”247 “Nicht bloss eine Ausschaltung der Sinne, wie bei der Mechanistik, findet hier [in der Relativitätstheorie] statt, sondern eine gänzliche Beseitigung des Anthropomorphismus. Die Begriffsbildungen haben sich ganz und gar von dem anschaulich Geläufigen emanzipiert” konstatierte HILBERT und folgerte “gerade dadurch […] wird die Einheit und Uebersichtlichkeit des theoretischen Systems erreicht.”248 Im Hinblick auf die von EINSTEIN geschaffene Gravitationstheorie249, “diesen höchsten Triumph des Geistes über die Erscheinungswelt”250, bemerkte HILBERT noch: “Newtons Gesetz ist nur das letzte Schwänzchen der wichtigen Gravitationstheorie.”251 Vorlesungen zur Quantenmechanik SS 1920 Mechanik und neue Gravitationstheorie, 2h; WS 1922 Mathematische Grundlagen der Quantentheorie, 2h; WS 1926 Mathematische Methoden der Quantentheorie, 2h. Erstmals hat HILBERT wohl 1920 in der Vorlesung Mechanik und neue Gravitationstheorie über Quantenmechanik vorgetragen, mithin an einer Stelle, an der man es thematisch nicht gerade erwartet hätte. Jedoch das oben gebrachte Zitat über HILBERTS Verständnis von Mechanik (wenn auch aus dem Jahre 1924), das in natürlicher Weise Quantenmechanik als einen Teil der Mechanik begreift, erklärt diese Überraschung. Die entsprechende Ausarbeitung von
247. Vortrag in Kopenhagen, Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung, Cod. Ms. D. Hilbert 589, Heft 1, 14. 248. Natur und mathematisches Erkennen (1919/20), Maschinenschriftliche Ausarbeitung von Bernays, Mathematisches Institut Göttingen, S. 81 f. 249. An der mathematischen Ausgestaltung hatte Hilbert unstreitig eigene Verdienste. Ein Brief Borns an Hilbert vom 23.11.1915 belegt das klar und bestätigt einschlägige Notizen in Hilberts Nachlaß (“Von Einstein […] hörte ich, daß Sie jetzt die Gravitation in Ordnung gebracht haben. […] Einstein selbst sagte, er habe das Problem ebenfalls gelöst”. Niedersächsische Staatsund Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung, Cod. Ms. D. Hilbert 40A). Born bemerkte auch, daß die Äquivalenz beider Ansätze nicht gleich klar sei. Trotzdem ist dieser Sachverhalt neulich Gegenstand von “wissenschaftlichen Auseinandersetzungen” geworden, die selbst von der Bild-Zeitung am 26. September 2001 wahrgenommen wurden. Eine kontrovers diskutierte Publiaktion ist D. Wuensch, “zwei wirkliche Kerle”. Neues zur Entdeckung der Gravitationsgleichungen der Allgemeinen Relativitätstheorie durch Einstein und Hilbert. Göttingen: Termessos 2005. 250. aaO., 82. 251. Vortrag Bukarest, März 1918, S. 19, Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung, Cod. Ms. D. Hilbert 592.
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KAPITEL 5
ADOLF KRATZER (1893-1983) umfaßt 129 Schreibmaschinenseiten, wovon der erste Teil “Variationsrechnung” nicht weniger als 45 Seiten einnimmt. Das Variationsproblem wird hier im Hinblick auf die Mechanik mit einer Lagrangefunktion L geschrieben: J =
t2
∫t
L ( t, q, q· ) dt → extremum.
1
Der zweite Teil “Mechanik” beansprucht 51 Seiten, und der letzte Teil “Relativitätstheorie” zählt noch 33 Seiten. Im Kapitel “Mechanik” (S. 45-96) begann HILBERT auf Seite 69 durch Beispiele periodischer Bewegungen die Quantenmechanik vorzubereiten, und er entwickelte dann auf den Seiten 76 bis 96 die Theorie der Librationsbewegung (Pendelbewegung) mit zwei Freiheitsgraden, wobei quantenmechanische Betrachtungen im eigentlichen Sinn erst im letzten Abschnitt “Die Quantelung der Librationsbewegung” (S. 88-96) des Mechanik-Kapitels auf nur acht Seiten angestellt wurden. HILBERT bettete in dieser kurzen Darstellung die Quantenmechanik ganz in die klassische Mechanik ein, für welche er gerade die benötigte Variationsrechnung nebst den entsprechenden Anwendung entwickelt hatte. Für die bisherigen mechanischen Darlegungen waren die Euler-Lagrangeschen Differentialgleichungen ausreichend, in denen die Integrationskonstanten beliebig und ggf. durch Ungleichungen, die physikalische Forderungen verwirklichten, eingeschränkt waren. Sofern atomare Dimensionen in Rede stehen (wie es in der Theorie der Materie der Fall ist), ist aber davon auszugehen, daß sich der diskontinuierliche Charakter der Konstanten bemerkbar macht. Von einer gewissen unteren Grenze an ist also auf Sprünge bei den Konstanten Rücksicht zu nehmen. Diesen wichtigen Sachverhalt motivierte HILBERT sofort an einem Beispiel. Er wählte als Exempel ein zweiatomiges Gas, bei dem die Bewegungszustände temperaturabhängig sind, so daß man sich – so HILBERT – vorstellen kann, daß die Freiheitsgrade gleichsam eingefroren werden bzw. daß dann die Konstanten in den mechanischen Gleichungen diskret zu wählen sind. Allgemeiner geht es mit einer zweidimensionalen Librationsbewegung weiter. HILBERT griff dabei auf die bereits behandelte Separation S(q) = S1(q1) + S2(q2) des Lösungsansatzes252 der Hamilton-Jacobische Differentialgleichung zurück, der mit einem Verweis auf die Nützlichkeit dieses Vorgehens bei der Potentialgleichung veranschaulicht wurde (obwohl die letztere Separation ein Produktansatz und ersterer ein additiver Ansatz ist). Aus den beiden Lösungsteilen S1 und S2 lassen sich wichtige Folgerungen über die Lösungen ziehen, insbesondere die, daß innerhalb eines zweidimensionalens Librationsvierecks (der Enveloppe der Lösungen) ein ebenes Feld vorliegt und daß die Impulse q1 und q2 nur an den Seiten des Librationsvierecks verschwinden können, womit sich 252. Hilbert schreibt hier i anstelle von S, das wir der Einheitlichkeit wegen benutzen.
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die Bewegungen nur dort umkehren können. Jede Bewegung hingegen, die über die Einhüllende führt, kehrt das Vorzeichen des entsprechenden Impulses um, so daß die Werte der Lösung Si(qi), (i = 1, 2), davon abhängen, auf welchem Weg ein Punkt des Librationsvierecks erreicht wurde. Anders gesagt, allgemein werden verschiedene Felder vorliegen, die jedoch über die Enveloppe miteinander verbunden sind. Im Fall zweier Freiheitsgrade sind es vier rechteckige Felder, und diese vier ebenen Blätter lassen sich zu einer Ringfläche zusammenfügen, auf der die Werte zwar eindeutig sind, jedoch das Unabhängigkeitsintegral bzw. die S-Funktion “vom Wege abhängen”, d.h. es gilt für mi Hin- und Hergänge zwischen den Enveloppenseiten S = S*(q, m) = S(q) + m1 π 1 + m2 π 2
(mi ganz, π i Sprungwert)
bzw. die S-Funktion ist nur bis auf diese Perioden eindeutig definiert. Führt man die Größen πi in die Lösungen der Euler-Lagrangeschen Differentialgleichungen anstelle der entsprechenden Konstanten ein, so erweist es sich, daß die Koordinaten zyklisch sind (KARL SCHWARZSCHILD, 1873-1916), was die Integrationsfragen vereinfacht. Nach HILBERT ist es nun naheliegend, nicht nur die πi diskrete Werte annehmen zu lassen, sondern das auch vom Wirkungsintegral bzw. der S-Funktion zu verlangen. Die Forderung ist koordinatenunabhängig und kann erfüllt werden, sofern die πi kommensurabel sind, wenn also gilt: π 1 = n1h,
π 2 = n2h.
Die absolute Größe von h ist empirisch zu bestimmen (h = 6,5 10-27 erg sec), die Dimension von h ist die einer Wirkung. Legt man das Linienelement des Jacobischen Variationsproblems zugrunde, dann drückt sich die Quantenbedingung in dem Librationsviereck so aus: Die Seitenlängen sind Vielfache der Wirkungsgröße h. HILBERT schlug vor, die Funktion S in diesem Zusammenhang Quantrix zu nennen und konstatierte: “Die Quantentheorie spielt sich auf den gequantelten Bahnen nach den Gesetzen der Mechanik ab, die Übergänge zwischen den gequantelten Bahnen erscheinen jedoch mit der klassischen Mechanik im Widerspruch.”253 Einschneidender als die Einschränkungen, die HILBERT hier der Mechanik im Bereich der kleinen Impulse auferlegte und die er lediglich als Modifikationen betrachtete, sah er zu diesem Zeitpunkt (1920) jedoch noch die neuen Forderungen der Relativitätstheorie an, die die überkommenen Raum-ZeitVorstellungen revolutionierten.
253. Höhere Mechanik und neuere Gravitationstheorie (SS 1920), Ausarbeitung Kratzer, Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung, Cod. Ms. D. Hilbert 562, 92.
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KAPITEL 5
Die Vorlesung Mathematische Grundlagen der Quantentheorie (WS 1922) begann HILBERT: “Die Hamilton-Jacobische Theorie der höheren Dynamik ist die Grundlage der Himmelsmechanik […] und sie hat gerade zu diesem Zwecke ihre vollkommenste Ausbildung erfahren; doch glaubte man nicht, dass sie noch für andere Zwecke der Physik von Nutzen sein könnte. Man strebte wohl von jeher danach, auch die Atomtheorie auf die Mechanik zu gründen, aber es musste erst ein Newton der Atomtheorie kommen, und der ist Niels Bohr gewesen, der aufgrund neuartiger physikalischer Ideen, nämlich der Quantentheorie, ein tieferes Eindringen in dieses Gebiet ermöglichte. Und es ist wieder die Hamilton-Jacobische Theorie, die hier die Führung übernimmt und die ganze Entwicklung beherrscht. […] Wir benutzen hierzu die Methode der Variationsrechnung, die alleine einen vollständigen Einblick in die Natur der Probleme gewährt. […] [Wenn es sich bei verschiedenen Formen der mathematischen Darstellung] im Grunde immer um dasselbe Problem [handelt], so gewinnt man doch einen viel tieferen Einblick in die Natur des Gegenstandes und gelangt [mit Hilfe der Variationsrechnung] zu Operationen, auf die man sonst nie verfallen wäre.”254 Die Hälfte der 97seitigen Vorlesung (in der Ausarbeitung von LOTHAR WOLFGANG NORDHEIM (1899-1988) und GUSTAV HECKMANN(1898-1996) nimmt denn auch die Variationsrechnung ein. Die in der Vorlesung von 1920 angedeuteten Überlegungen werden nun für zeitunabhängige Hamiltonfunktionen H allgemeiner ausgeführt, jedoch auf den Fall von Variationsproblemen mit einer gesuchten Funktion konzentriert.255 Die Existenz periodischer Bahnkurven als “glatte Ovale” wird dabei auf Realtitätsbedingungen (externe Rechtfertigung!) gegründet, als eine hinreichende mathematische Bedingung wird die positiv definite quadratische Form der Hamiltonfunktion genannt (S. 32). Nachdem die mathematische Aufbereitung der klassischen Mechanik im Hinblick auf die Quantentheorie vollzogen ist, wird die Mechanik durch die bereits bekannte Quantenforderung S(a) = ∫ ds = ∫ p dq = nh
°
°
(für einen Freiheitsgrad) eingeschränkt, was auch diskretisierte Energie H(p, q) = a bedeutet; a ist die entsprechende Energiekonstante.256 Dazu
254. Mathematische Grundlagen der Quantentheorie (WS 1922), Vorlesungsausarbeitung von L. Nordheim und C. Heckmann, Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung, Cod. Ms. D. Hilbert 566, S. 1 u. 5. 255. Hilbert schreibt L anstelle von H. 256. Physikalische Versuche, die mit H. Hertz, Ph. Lenard und Ph. Frank einsetzten und danach von zahlreichen Experimentatoren ausgeführt wurden, zeigten überzeugend, daß atomare Systeme nur in diskreten Energiezuständen zu existieren vermögen.
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kommt eine weitere Forderung, die ausdrückt, daß die Quantenbahnen zwar strahlungsfrei durchlaufen werden, daß aber beim Wechsel von Quantenbahnen Energie frei bzw. benötigt wird. Diese Verbindung zur Strahlungstheorie lautet: H1 – H2 Vquant = ------------------- . h
Hier bezeichnen H1 und H2 die Energie des Anfangs- bzw. Endzustandes, und Vquant gibt die ausgestrahlte bzw. absorbierte Frequenz an. HILBERT dachte hier konsequent “quantenhaft” und merkte daher an, daß mit diesen Überlegungen ein krasser Widerspruch zur (klassischen) Mechanik vorliegt; die Diskontinuität in der Naturbeschreibung gewinnt bei ihm nun an Gewicht.257 Nach der variationstheoretischen Durchdringung des Stoffes enden die Ausführungen mit der Bemerkung, daß man zwar über fruchtbare und weitreichende Prinzipien verfüge, daß aber trotzdem der jetzige Zustand noch unvollkommen und sehr formaler Natur sei und man dementsprechend noch weit vom wirklichen Verständnis der Elementarprozesse entfernt sei (S. 82). In der Tat sind die Quantenbedingungen an sich physikalisch noch unverständlich, da nicht einleuchtet, weshalb gewisse mechanische Vorgänge aus der Vielfalt der möglichen ausgewählt werden. Des weiteren erklären die Bohrschen Postulate noch nicht alle Phänomene, sondern sie liefern auch innere Widersprüche.258 Somit bestand HILBERTS 1922 geäußerte Einsicht zu Recht, man müsse über das Modell von NIELS BOHR (1885-1962) hinaus gehen: “Auf jeden Fall sind Ergänzungen nötig, denn bisher doch nur die Möglichkeit von elektromagn.[etische] Schwingungen, nicht ihre wirklichen Ausführungen postuliert.”259 Sich selbst stellte HILBERT die Aufgabe: “Beweise, dass man allein mit Quantenth.[eorie] zum Aufbau der Materie aus Elektronen auskommt.”260 In seinem Dank an NIELS BOHR, der 1922 in Göttingen als Gastprofessor vorgetragen hatte (sogenannte “Bohr-Festspiele”), betonte HILBERT das Bleibende in dessen Auffassungen: “Trotz der vielen schwierigen und offenen 257. Mathematisch kommt Hilbert eine diskret beschreibbare Welt entgegen, da er der Überzeugung war, daß es nirgends in der Welt etwas Unendliches gebe, vgl. “Über das Unendliche”, Mathematische Annalen, 95 (1926), 161-190. In der Begründung der Mathematik stand Hilbert auf finitärem Boden, Kontinuitätsprinzipien wie Stetigkeit sah er als “regulative Ideen” im Sinne Kants an, vgl. R. Thiele, “Hilberts 24th Problem”, American Mathematical Monthly, 110 (2003), 1-20. 258. Siehe z.B. das Lehrbuch von C. Schaefer, Einführung in die Theoretische Physik, Bd. 3/ 2, Berlin, de Gruyter, 1937. 259. Mathematische Grundlagen der Quantentheorie (WS 1922), Vorlesungsausarbeitung von L. Nordheim und C. Heckmann, Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung, Cod. Ms. D. Hilbert 566, 82. 260. Mappe Quantentheorie und moderne Elektrodynamik, Bl. 1, Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung, Cod. Ms. D. Hilbert 667.
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KAPITEL 5
Stellen der Theorie ist doch der allgemeine Eindruck als ein erhebender zu bezeichnen.”261 Im Frühsommer 1925, nach einen Aufenthalt in Kopenhagen, gelang WERNER HEISENBERG (1901-1976) ein entscheidender Durchbruch in der Quantenmechanik. Enttäuscht notierte HILBERT über das Interesse der Göttinger Mathematiker an der Vorstellung der Matrizenmechanik: “Vorigen Mittwoch hat nun Heisenberg die Grundzüge der neuen Quantenmechanik dargelegt. Nur ein kleiner Th[eil] der Mathematiker war anwesend.”262 In der folgenden (und letzten einschlägigen) Vorlesung Mathematische Methoden der Quantentheorie (WS 1926/27) hat HILBERT das Kapitel “Die neue Quantentheorie” mit HEISENBERGS Matrizenmechanik eingeleitet (in der Ausarbeitung Nordheim S. 101-130), die Schrödingersche Deutung folgte (auf den Seiten 149-174). LOUIS DE BROGLIE (1892-1987) hat 1924 in seiner Dissertation Ondes et mouvement263 die Korrespondenz der Quantenmechanik zur Optik über das Hamiltonsche bzw. das Fermatsche Prinzip benutzt, um Massenpunkten formal Materiewellen zuzuordnen. Die Stabilität der mit dieser Hypothese verbundenen Elementarvorgänge hat eine geometrische Komponente, die die Quantenbedingung physikalisch gut veranschaulicht: es sind nur solche Quantenbahnen zulässig, die auf ihrem Umfang eine ganze Zahl von Materiewellen enthalten. Damit sind jedoch die Widersprüche in der Theorie, die mit den Quantenbedingungen an sich verbunden sind, noch nicht aufgehoben. Erst ERWIN SCHRÖDINGER (1887-1961) schuf eine konsistente Deutung, als er die Analogie von geometrischer Optik (als Grenzfall der Wellenoptik) und klassischer Mechanik konsequent auf die allgemeine Wellenoptik und auf eine dazugehörige neue Dynamik (Wellenmechanik) übertrug, in der die Schrödinger-Gleichung an die Stelle der Hamilton-Jacobischen Differentialgleichung trat. Zu der von SCHRÖDINGER aufgedeckten Analogie bemerkte HILBERT: “Die Analogie zwischen geometrischer Optik und Mechanik ist alt bekannt. Schon Hamilton hat sie benutzt, um seine Mechanik zu gewinnen. Der leitende Gedanke Schrödingers, der übrigens schon durch Arbeiten von De Broglie [Materiewellen] und Einstein [Strahlungstheorie] vorbereitet war, ist nun der, dass die Quantentheorie ein Seitenstück zu der Wellentheorie des Lichtes ist, in dem Sinne, dass wie die geometrische Optik ein Grenzfall der Wellenoptik ist, auch die klassische Mechanik nur ein Grenzfall der Quantenmechanik ist.”264
261. Ansprache zum Schluss der 14 Tage Vorträge von Niels Bohr am 22. Juni 1922 (erste Gastprofessur Quantentheorie), Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung, Cod. Ms. D. Hilbert 573. 262. Physik, Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung, Cod. Ms. D. Hilbert 657, Bl. 33. 263. Journal de Physique, 1 (1924) 1-6; ausführlich dann bei Gauthier-Villars, Paris, 1926. 264. Mathematische Methoden der Quantentheorie (WS 1926), Ausarbeit Nordheim, Staatsbibliothek Berlin, Nl. Born 1822, 84.
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Die Variationsrechnung wird zur Beschreibung und zur Herleitung eben dieser Beziehungen wieder eingesetzt. Neben dem üblichen einführenden Teil über die Variationsrechnung erscheinen weitere mathematische Gebiete: in Verbindung mit der Heisenbergschen Deutung die Matrizenrechnung und danach in der Schrödingerschen Theorie noch ein Abschnitt über Integralgleichungen (Fredholmsche Sätze, Eigenwertprobleme). 5.8.4.3 Variationsrechnung und physikalisches Einheitsideal Seit etwa 1916 begann HILBERT auch in Vorlesungen und Vorträgen, sich Gedanken über den philosophischen Charakter der modernen Physik zu machen. In seiner letzten Vorlesung über Quantentheorie äußerte er sich 1926 in dieser Weise: “Bei einer physikalischen Theorie ist stets der physikalische Inhalt, der physikalische Gedankenkomplex das Wesentliche. Die Mathematik spielt nur die Rolle eines Hilfsmittels. Trotzdem, ja gerade deshalb ist aber die genaue Kenntnis, die Herrschaft über diese mathematischen Hilfsmittel notwendig. In der theoretischen Physik wird die gesamte mathematische Analyse herangezogen, aber im Mittelpunkt steht die Theorie der Differentialgleichungen. Es sind nicht beliebige Differentialgleichungen, die die Hauptrolle spielen, sondern – das ist ein Faktum – meist eine gewisse Klasse von Differentialgleichungen, nämlich die aus Variationsproblemen entspringende.”265 HILBERT sah also in der Variationsrechnung, die er in den physikalischen Vorlesungen im Hinblick auf ihre Einsetzbarkeit in der Mechanik entwickelt hatte, und in den damit verbundenen Anwendungen, insbesondere in den Extremalprinzipien sowie in ihren physikalischen Deutungen, ein wichtiges und fruchtbares Gebiet für die mathematische Physik. Er schätzte die entsprechende Theorie von GUSTAV MIE (1868-1957).266 Den Mängeln der Mieschen Theorie der Elektrodynamik stellte HILBERT deren Vorzüge gegenüber, von denen einer den formalen Sachverhalt betonte, daß diese Theorie kein Gemisch von Integralgleichungen, Differentialgleichungen und Funktionalgleichungen sei.267 Variationsrechnung war für HILBERT aber nur eine (wenn auch bevorzugte) Methode in der Forschung. Ein Zitat aus der Vorlesung Differentialgleichungen (WS 1915) zeigt HILBERTS entsprechende allgemeine Sicht: “Kapitel III: Differentialgleichungen, die aus einem Variationsproblem entsprungen und die Variationsrechnung als zentrale Disziplin für die Theorie der Differentialgleichungen
265. aaO., 2. 266. Studium in Rostock und Heidelberg, 1892 Promotion bei L. Koenigsberger in Heidelberg, 1897 Habilitation und Privatdozent in Karlsruhe, 1902 Professor in Greifswald, 1917 in Halle und von 1924-1936 in Freiburg. 267. Grundlagen der Physik (SS 1916), Ausarbeitung Bär. Mathematisches Institut Göttingen, 101.
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KAPITEL 5
Methode der Untersuchung von verschiedenen Gesichtspunkten aus: 1. Gruppentheorie (von Lie aus Algebra) 2. Integralgleichungen (neu; nicht nur, um Lösungen zu finden, sondern auch, um Eigenschaften abzuleiten) 3. Variationsrechnung (hier auf geodätische Linie [das Beispiel des Kapitels] spezialisiert).”268 HILBERT hat auch die Quelle der Variationsrechnung bezeichnet: “Die Mathematik verdankt der Eroberung dieser Provinzen [Mechanik] eine Reihe der wichtigsten Gewinne, insbesondere die Variationsrechnung, die Ausbildung der Methoden und ihrer Anwendungen.”269 In einer älteren Vorlesung über Logik (SS 1905), die HILBERT zur Vorbereitung seiner Vorlesungen über die Grundlagen der Mathematik in den 20er Jahren wieder benutzt haben dürfte, findet sich vermutlich aus dieser späteren Zeit eine interessante undatierte Bemerkung HILBERTS über seine Vorstellungen von Axiomatisierbarkeit: “Besonders interessant ist es zu sehen, wie die axiomatische Methode von Physik sogar bei der modernen Quantentheorie, wo die Grundbegriffe noch so wenig geklärt sind, in mehr oder weniger konsequenter und in mehr oder weniger bewußten Weise zur Anwendung gebracht werden [wird] dabei. Ausschaltung der Elektrodynamik, um Widersprüche zu vermeiden – gerade wie in der Geometrie Ausschaltung der Stetigkeit, um den Widerspruch gegen die Nichtpascalsche Geometrie zu beseitigen, oder in der Gastheorie Ausschaltung der Mechanik (Benutzung allein der Stossformel oder des Lio[u]villeschen Satzes), um Widerspruch gegen den Umkehr- oder Wiederkehreinwand zu beseitigen.”270 Bereits die Relativitätstheorie hatte zu ihrem Aufbau einen bisher ungewohnten Verzicht an Anschaulichkeit erfordert, was man auch immer unter dem unscharfen Begriff der Anschaulichkeit verstehen mag. HILBERT sah hier erstmals in den physikalischen Wissenschaften grundlegende Prinzipien, die aus dem Alltag entnommen worden waren, aufgegeben und durch verfeinerte, jedoch unanschaulichere ersetzt. In der Quantenmechanik aber erfuhr diese Abstraktion eine noch weitergehende Ausführung: “[D]ie Formel und das formale Element tritt immer mehr in den Vordergrund! Am krassesten in der Physik, insbesondere der Quantentheorie, Welle, Phase, […] Schwingung haben nicht mehr anschaul.[iche] Bedeutung,
268. Ausarbeitung im Mathematisches Institut Göttingen, 152-223; Zitat aus § 15. 269. Vorlesungsausarbeitung Mechanik der Kontinua (WS 1911), Staatsbibliothek Berlin, Nl. Born 1816-17, 1. 270. Logische Principien des mathematischen Denkens (SS 1905), Vorlesungsausarbeitung von Hellinger, spätere Notiz Hilberts am Vorsatzblatt, Mathematisches Institut Göttingen.
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sondern nur in der Formel […] charakteristisch für die moderne Entwicklung.”271 Besonders drastisch wird die Situation mit folgender undatierten Notiz HILBERTS beschrieben: “Die wildesten Fieberfantasien hätten sich – angetrieben die klassische Mechanik zu ändern – nichts Groteskeres, nichts Unvorhergesehenes ausdenken können, als die Einsteinsche Relativitätstheorie u. die Bornsche Quantenmechanik.”272 Anfänglich hatte HILBERT, wie bereits erwähnt, noch die Umwälzungen im Denken in der Relativitätstheorie als die radikaleren angesehen, da sie die Grundbegriffe Raum und Zeit betrafen. Die Diskontinuität, die die Quantelung in die Quantenmechanik brachte, beunruhigte HILBERT zunächst weniger, da er philosophisch ohnehin dem Diskreten zugeneigt war und das Kontinuierliche als regulative Idee (durchaus im Sinne Kants) verstand: “Vor allem aber die Atomtheorie, das Prinzip der Diskontinuität, welches sich heute immer schärfer herausschält und keine Hypothese mehr ist, sondern wie die Lehre des Kopernikus eine durch das Experiment bewiesene Tatsache.”273 Eine Folge der Quantelung war, daß in der Natur keine fortgesetzte Teilbarkeit möglich und kein unendlich Kleines angetroffen wird. Irritiert wurde HILBERT aber schließlich durch die Folgerung, daß die Wirkung, die nur diskreter Werte fähig ist, diese Eigenschaft folglich auf die kinetische Energie übertrüge, womit auch die Geschwindigkeit nur in diskreten Werten gemessen würde.274 Schließlich notierte HILBERT: “Im Range steht die neue Quantenmechanik der Relativitätstheorie gleich. [B]eidemal handelt es sich um eine ganz neue Art der Aussage der Mathe.[matik.] Function bei Newton doch nur rechnerische Ableitung nach Ableitung der allg.[emeinen] Gl.[eichung] aus den zuvor gefundenen Naturgesetzen. Jetzt aber hat die math. Idee selbst die Führung übernommen und die Natur verwirklicht dann auch gerade das, was sich im math. Gefüge zwanglos entwickelt hat. Der Matrizenkalkül ist ebenso überraschend und merkwürdig eingesetzt wie in der Relativitätstheorie der Invariantenkalkül.”275 271. Notizen, Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung, Cod. Ms. D. Hilbert 607, 27. 272. Physik, Notizen, Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung, Cod. Ms. D. Hilbert 657, 31. 273. Strahlungstheorie (SS 1912), Maschinenschriftliche Ausarbeitung mit Bemerkungen von Hilbert, 96. Mathematisches Institut Göttingen, 1. 274. Über das Unendliche (WS 1924/25), Maschinenschriftliche Ausarbeitung von Nordheim, S. 53 ff. Mathematisches Institut Göttingen. 275. Physik, Notizen. Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung, Cod. Ms. D. Hilbert 657, 28. Über die Anwendung der Invariantentheorie siehe die Vorlesungsausarbeitung von Bär Grundlagen der Physik, Staatsbibliothek Berlin, Nl. Hückel 2.11, 105-111.
494
KAPITEL 5
Es gibt Bemerkungen HILBERTS über den damaligen Erkenntnisstand (z.B. in der Vorlesung Mathematische Grundlagen der Quantentheorie (SS 1922)276), daß man – obgleich die Tragweite und Fruchtbarkeit unserer Prinzipien eine sehr große sei – sich dennoch stets vor Augen halten müsse, daß wir vom wirklichen Verständnis der Vorgänge noch sehr weit entfernt seien.277 In einem 1921 in Hamburg gehaltenen Vortrag278 über die Weltgleichung resümierte HILBERT seine theoretischen Leitfäden der Naturerkenntnis:
Abb. 5.6. Hilberts Eintrag in sein Notizbuch (S. 25) über ein gestrichenes Problem des Pariser Vortrags, das die Einfachheit von Beweisen betraf und das eine der frühesten Quellen für seine Beweistheorie ist. 276. Nachlaß Born, Staatsbibliothek Berlin. 277. Ausarbeitung Nordheim und Heckmann, 82. Mathematisches Institut Göttingen. 278. R. Thiele, “Hilbert in Hamburg”, Mitt. Math. Gesellschaft Hamburg, 23 (2003) 99-126.
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495
“Unsere Weltgl.[eichungen] sind vielmehr partielle Differentialgl[eichungen] und übrigens solche, für deren Auffindung auch Gesichtspunkte der mathematischen Einfachheit neben den Prinzipien der Minimalintegrale [Variationsprobleme] und deren allgemeine Invarianten als Leitfaden weitgehend Anhaltspunkte lieferten.”279 Ein Prinzip, das zum Erreichen des physikalischen Einheitsideals beständig eingesetzt werden wird, ist also die Variationsrechnung. So betonte es auch 1924 HILBERTS Schüler RICHARD COURANT in dem klassischen Werk Methoden der Mathematischen Physik, das aus Verehrung für die Leistungen des Lehrers auch den Namen HILBERT als Autor führt: “Durchweg spielen die Gesichtspunkte der Variationsrechnung [in diesem Buch] die beherrschende Rolle, d.h. das Bestreben, mathematische Größen und Funktionen durch Extremumseigenschaften zu charakterisieren. Immer mehr erweist sich die Variationsrechnung, in diesem allgemeinen Sinne verstanden, als mächtiger Hebel der mathematischen Analysis und wichtiges Prinzip der Vereinfachung und Vereinheitlichung.”280 5.9 Die mathematischen Notizhefte Im Nachlaß von HILBERT befinden sich drei schwarz eingebundene, dicke Hefte (Format etwa A5)281, die er während seines Leipziger Aufenthaltes im Winter 1885/86 gekauft hat.282 Die Eintragungen setzten nach HILBERTS Rückkehr 1886 aus Paris in Königsberg ein und erstrecken sich über HILBERTS gesamte Göttinger Zeit. Die zahlreichen Notizen betreffen mathematische und philosophische Gedanken HILBERTS. Keine dieser Eintragungen ist datiert, so daß eine genaue zeitliche Zuordnung schwierig ist. Zur Variationsrechnung hat HILBERT nicht viele Eintragungen gemacht, und für unser Thema kommen eigentlich nur drei Bemerkungen in Frage. Zum einen betrachtete HILBERT die Mongesche Gleichung und notierte das ihr entsprechende Mayerproblem.283 Diese Eintragung läßt sich aufgrund der zuvor zitierten Promotion von HERMANN WEYL (12. Februar 1908) auf nach Frühjahr 1908 datieren.284 Eine andere Eintragung betrifft den allgemeinen Feldbegriff (genauer den Fall von zwei gesuchten Funktionen, der seinerzeit noch als 279. Mappe Hamburger Vorträge, Heft 1. Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung, Cod. Ms. D. Hilbert 596, 25. 280. R. Courant, D. Hilbert, Methoden der Mathematischen Physik, Bd. 1, Berlin, Springer, 1924, S. V. 281. Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung, Cod. Ms. D. Hilbert 600: 1-3. Die Hefte enthalten jeweils über 130 Seiten, wobei es Einlagen und eingeklebte Zusätze gibt. 282. Vgl. R. Thiele, “Felix Klein in Leipzig”, Jahresbericht der DMV, 102 (2000) 69-93, insbes. 89f. 283. aaO., 600: 3, 85. 284. aaO., 600: 3, Weyl-Zitat auf S. 83.
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KAPITEL 5
exemplarisch für den allgemeinen Fall einer mehrdimensionalen Aufgabe angesehen wurde) und lautet so: “In meiner Hamilton-Jacobischen Theorie fragen, wie sich die 2parametrige Schar der intermediären Differentialgl. 1ster Ordnung y' = p ( x, y, z, a, b ) ,
z' = q ( x, y, z, a, b ),
die zum pq-Felde gehören [gehört], vor irgendeiner solchen Schar auszeichnen[net]? d.h. welche Eigenschaften die p, q als Funktionen von x, y, z noch haben müssen. Wahrscheinlich führt diese Frage auf die Theorie der Lie’schen Funktionengruppen. – Ausserdem ist wahrscheinlich die Frage so zu beantworten, dass zunächst ein Integral beliebig ausgewählt werden kann, wodurch eine Konstante da ist; sodann bilde man die Differentialgl.[eichung] mit einer Unbekannten weniger (also die Lagrangesche Gl. [Euler-Lagrangesche Differentialgleichung] für das entsprechende Jacobische Variationsproblem) und von dieser wähle man das 2te Integral beliebig etc.285 Eine genaue Datierung dieser Notiz, die auf den in das vollgeschriebene letzte Heft beigelegten Blättern steht, ist nicht möglich, jedoch legt die Dissertation von CHARLES DAVID GILLESPIE (1877-1935) Anwendungen des Unabhängigkeitssatzes auf die Lösungen der Differentialgleichungen der Variationsrechnung (1906) bei DAVID HILBERT einen thematischen Zusammenhang nahe. In seinem Gutachten zu dieser Dissertation schrieb HILBERT: “Die Arbeit […] verfolgt den Zweck, die genannte Thatsache [Beziehungen zur Lieschen Gruppe über intermediäre Integrale] mit den von Lie aus der Gruppentheorie abgeleiteten Kriterien, die analog lauten, zu vergleichen und damit den Zusammenhang zwischen Variationsrechnung und Liescher Gruppentheorie zu erforschen.”286 HILBERT dürfte hier insbesondere SOPHUS LIES Arbeit Die Störungstheorie und die Berührungstransformationen im Auge gehabt haben.287 In seiner Dissertation Über die Hamilton-Jacobische Theorie für Doppelintegrale von 1915 hatte GEORG PRANGE (1885-1941) darauf hingewiesen (siehe Abschnitt 6.6.3), daß die Resultate von GILLESPIE schon seinerzeit aus Sätzen von HENRI POIN288 CARÉ zu erhalten gewesen wären. HILBERTS damalige Absicht, diesen Gegenstand ins rechte Licht zu setzen, wird noch durch die moderne mathematische Forschung fortgesetzt, da das Thema weiterhin von Bedeutung ist. Die letzte Eintragung ist aus unserer Sicht höchst bemerkenswert und
285. aaO., 600: 3, beigelegt Blätter. 286. Universitätsarchiv Göttingen, Promotionsakten G, Vol. I, (1905-106). Der Tag der Prüfung war der 25.6.1906. 287. Archiv for Mathematik og Naturvidenskap, 2 (1877). 288. Die Hamilton-Jacobische Theorie für Doppelintegrale, Göttingen, 1915, 26. Siehe Abschnitt 6.6.3.
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betrifft eine Ausdehnung des Feldbegriffs, die für die mehrdimensionale Variationsrechnung, für Variationsprobleme mit freien Randwerten oder für Variationsprobleme mit Nebenbedingungen von großer Bedeutung ist, die aber HILBERT nirgends publiziert hat. Diese Verallgemeinerung wurde daher unter verschiedenen Namen mehrfach wiederentdeckt (siehe Kapitel 7) und bestätigt so eindrucksvoll HERMANN WEYLS und OTTO BLUMENTHALS bereits oben genannte Befürchtung, daß viele Ideen HILBERTS unbekannt seien (siehe Abschnitt 5.9). Die vergleichsweise lange Notiz, in der sich HILBERTS Handschrift und die seiner Frau KÄTHE mischen, lautet: “Bemerkungen zu meiner Methode der unabhängigen Integrale in der Variationsrechnung. Wir gingen bei der Methode der unabhängigen Integrale von der Fragestellung aus, die Funktionen p, q derart zu bestimmen, dass der Wert des Integrals J∗ =
∫
{ F + ( z x – p )F p + ( z y – q )F q } dw
(Ω)
nur durch die Randkurve des Gebietes Ω und die daselbst vorgeschriebenen Werte von z vorgeschrieben sei, d.h. von der Wahl der Funktion z innerhalb Ω unabhängig werde. Stellen wir statt dessen nur die Forderung, dass jenes Integral J* für alle Funktionen z mit den nämlichen Randwerten einen grösseren Wert erhalte, als für die vorgelegte Funktion, so treten an Stelle der partiellen Differentialgleichungen nunmehr die entsprechenden partiellen Differentialungleichungen. Da sich indessen an diese die nämlichen Schlussfolgerungen, wie vorhin knüpfen lassen, so zeigt sich schliesslich, dass das Kriterium nur die Lösung des Randwertproblems für partielle Differentialungleichungen verlangt. Die damit angedeutete Methode läuft darauf hinaus, das p,q-Feld derart einzurichten, dass die betreffende Funktion z das Integral J* zu einem Minimum macht.”289 Worum geht es hier? Zu einem invarianten Integral gehört in einem gewissen Raumgebiet ein Unabhängigkeitsfeld, und in dieses integrable Richtungsfeld ist die in Rede stehende Extremale eingebettet. Mit Integrabilität ist hier gemeint, daß es Flächen gibt, die auf das Richtungsfeld passen bzw. in das Feld eingebettet sind. Oder analytisch ausgedrückt: Wenn z = z(y, x) die Gleichung einer eingebetteten Fläche ist, so sind deren partielle Ableitung ∂z/∂x, ∂z/∂y gleich den Feldgrößen p = p(x, y), q = q(x, y). Unter den üblichen analytischen Voraussetzungen läßt sich im Eindimensionalen gewährleisten, daß die betrachteten Richtungsfelder (zumindest lokal) integrabel sind, aber für 289. Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung, Cod. Ms. D. Hilbert 600: 3, S. 69 f. Bis auf die Überschrift, einen einleitenden Halbsatz und den letzten Satz ist die Eintragung von der Hand Käthe Hilberts, Hilberts Frau (siehe Abb. 5.7). Hilbert schloß unmittelbar an die Eintragung eine Betrachtung an, die Variationsrechnung auf allgemeinere Aufgaben als die Bestimmung von Minima zu erweitern, d.h. – modern gesprochen – sie als Funktionalanalysis zu betreiben. Als ein Beispiel für solche allgemeinen Zusammenhänge nannte er dabei auch das unterbestimmte Mongesche System.
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KAPITEL 5
mehrdimensionale Variationsprobleme sind bereits lokal integrable Richtungsfelder ein Ausnahmefall. HERMANN WEYL, der in der mehrdimensionalen Variationsrechnung durch einen Ansatz für ein Unabhängigkeitsintegral bekannt ist,290 merkte hierzu an: The agreement between the principle of variation and the independence theorem, complete in the case of one independent variable and one unknown function, fails in two respects in the case of several variables and functions; the independence theorem specialize the extremal vector field on the one hand and it discards the assumption of integrability on the other hand.291 Für lediglich begriffliche Feldüberlegungen wird hier abermals der Vorteil der indirekten Hilbertschen Fassung des Feldbegriffs über das Unabhängigkeitsintegral deutlich: die obigen Überlegungen HILBERTS zeigen, daß für eine praktische Feldkonstruktion die sehr einschränkenden Voraussetzungen der Integrabilität fast gar nicht benötigt werden, sondern sich so weit abschwächen lassen, daß sie lediglich auf der betrachteten Extremalen vorliegen müssen, auf der sie natürlich unverzichtbar sind. Wenn C : z = z(x) eine differenzierbare Kurve oder Fläche ist, dann kann jedem Punkt (x, z(x)) von C im x,z-Raum das zugehörige Tangentialelement zugeordnet werden: (1) x, z(x) → x, z(x), Dz(x); man kann jedoch durch ein Richtungsfeld p = p(x) anstelle des Tangentialelements (1) dem Trägerpunkt (x, z(x)) die zum Richtungsfeld gehörige Größe p(x) der Gefällefunktion zuordenen: (2) x, z(x) → x, z(x), p(x). Sofern das zugrunde liegende Feld nicht integrabel ist, sind beide Fälle zu unterscheiden. Wenn einer Fläche (Kurve) mit der Gleichung z = z(x) Tangentialelemente im ersteren Sinn zugeordnet werden sollen, so schreiben wir wie bisher z = z(x) und benutzen die für die Ableitungen üblichen Symbole. Sollen jedoch dem Punkt einer Fläche (Kurve) nicht seine Tangentialelemente, sondern im Hinblick auf ein Variationsproblem J(z) → extr per Gefällefunktion die Richtungselemente p(x) eines Feldes zugeordnet werden, so wollen wir darauf mit der Schreibweise [C] : z = z[x] aufmerksam machen. Für integrable Felder und damit insbesondere auf einer eingebetteten Extremalen C0 laufen beide Bezeichnungen natürlich auf den gleichen Sachverhalt hinaus: (3) C0 = [C0] bzw. z = z0(x) = z0[x]. 290. “Geodesic fields in the calculus of variations for multiple integrals”, Annals of Mathematics, 36 (1935), 607-629. 291. “Observations on Hilbert’s independence theorem and Born’s quantization of field equations”, The Physical Review, 46 (1934), 505-508, Zitat p. 505.
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Abb. 5.7. Hilberts Eintragung in das Notizheft über ein verallgemeinertes Unabhängigkeitsintegral (Seite 69 und Anfang von Seite 70), überwiegend von Käthe Hilbert geschrieben.
Es sei C0 : z = z0(x) eine Minimale eines Variationsproblems J → extr und J*(z) ein zu J(z) gehöriges Unabhängigkeitsintegral mit den Feldfunktionen p = p(x). Dann sei C0 : z = z0(x) in das Feld p = p(x) eingebettet bzw. Dz0(x) = p(x), aber für andere im Feld verlaufende Vergleichskurven bzw. -flächen gelte lediglich, daß einem Punkt P der Kurve bzw. Fläche C : z = z(x) die Feldrichtung zugeordnet wird bzw. man betrachtet beim Eintragen der Funktion in das Variationsproblem [C] : z = z[x]. Während ein Unabhängigkeitsintegral J* durch die zwei Forderungen (4) J*(z) = J*( z0), nen,
Unabhängigkeitsforderung für alle zulässigen Vergleichsfunktio-
500
KAPITEL 5
(5) J(z0) = J*( z0),
Anpassungsbedingung (für die Extremale C0 : z = z0(x)),
bestimmt war und sich hieraus im Feld der Weierstraßsche Darstellungssatz (6) ∆J(z) = J(z) – J(z0) = J(z) – J*( z0) = J(z) – J*(z) =
∫ C E dx
mit der Exzeßfunktion E ergab, führt die abschwächte Zuordnung (2) anstelle von (1) für Vergleichselemente auch zu einer schwächeren Forderung (4): bei einer gegebenen Minimalen C0 : z = z0(x) gelte (4*) J*[z] ≥ J*[ z0] für alle zulässigen Vergleichsfunktionen C : z = z(x). Für die Extremale C0 : z = z0(x) tritt in (4*) Gleichheit ein, und es gilt gleichfalls die Anpassungsbedingung (5*) J*[z0] = J*(z0) = J(z0). Damit folgt wiederum eine verallgemeinerte Weierstraßsche Darstellungsformel (6*) ∆J(z) = J(z) – J(z0) = J(z) – J(z0) + J*[z] – J*[z] ≥ J(z) – J(z0) + J*[ z0] – J*[z]
wegen (4*)
= J(z) – J(z0) + J*( z0) – J*[z] = J(z) – J*[z] =
wegen (5*)
ˆ
∫C E dx .
Mit Hilfe der Ungleichung (6*) kann das entsprechende Kriterium für die neue Weierstraßsche Exzeßfunktion Ê formuliert werden. Somit läßt sich das Vorzeichen der totalen Variation ∆J, (6*), auch mit der Gleichung (4*), die die Unabhängigkeitsforderung verallgemeinert, kontrollieren. Die für das Kriterium benötigten Felder müssen lediglich für die Extremale C0 : z = z0(x) selbst integrabel sein. Die Carathéodoryschen Gleichungen (die Integrabilitätsbedingungen für J) erscheinen in der allgemeineren Auffassung als Ungleichungen, so daß die vormals durch Auflösung nach den p gewonnene (mehrdimensionale) Hamilton-Jacobische Differentialgleichung i
∂S (7) ------- + H ( x, y, S z ) = 0 , ∂x i
(Summation über i = 1, … , n),
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501
für eine Funktion S = S(x, z) ebenfalls eine Ungleichung (partielle Differentialungleichung) für diese Funktion wird: i
∂S (7*) ------- + H ( x, y, S z ) ≤ 0 , ∂x i
die jetzt zu lösen ist. Für eine Extremale C0 : z = z0(x) tritt in (7*) Gleichheit ein. Eine Theorie von Differentialungleichungen gab es zu HILBERTS Zeit allerdings noch nicht. Die Hamilton-Jacobische Differentialungleichung (7*) läßt sich weiterhin mit Vorteil benutzen, um Variationsprobleme mit freien Randwerten zu lösen oder mit Nebenbedingungen zu behandeln, da die Freiheitsgrade in der Wahl der Lösungen S(x, z) zugenommen haben. Lediglich die Extremale selbst muß der Hamilton-Jacobischen Differentialgleichung genügen. Die gewonnen Freiheitsgrade können z.B. bei Freirandproblemen zur Befriedigung weiterer Forderungen an das Feld eingesetzt werden. Um bei freien Randwerten in A und B einer Mannigfaltigkeit M weiterhin hinreichende Aussagen aus der Weierstraßschen Darstellungsformel ∆J =
B
ˆ
∫A E dx + S ( B ) – S ( A ) ,
(Ê Exzeßfunktion),
zu erhalten, kann für Lösungen S(x, y) von (7*) in A und B zusätzlich noch S(B) – S(A) ≥ 0 verlangt werden. (Die an die Mannigfaltigkeit M bzw. das zugehörige Integrationsgebiet zu stellenden Voraussetzungen seien erfüllt). 5.10 Bemerkungen zur Rezeption 5.10.1 Hilberts Umfeld Es versteht sich, daß innerhalb der Hilbertschen Schule und in deren Umfeld das Unabhängigkeitsintegral zur Kenntnis genommen und bearbeitet worden ist; mit den einschlägigen Dissertationen hatten wir uns im Abschnitt 5.6.3 beschäftigt und werden im Abschnitt 6.5 nochmals darauf zurückkommen. HERMANN MINKOWSKI behandelte beispielsweise in seinen Vorlesungen über Variationsrechnung (SS 1907)292 HILBERTS Unabhängigkeitsintegral, das er mit einer interessanten geometrischen Plausibilitätserklärung einführte. MINKOWSKI ging von einem ganz einfachen Beispiel aus, dem der kürzesten Verbindungslinie von einem Punkt P zu einem anderen Punkt Q in der Ebene. Dabei benütze er den Begriff der Parallelkurven, der im üblichen anschaulichen Sinn für zwei Kurven zutrifft, wenn die kürzeste Entfernung für jeden
292. Maschinenschriftliche Vorlesungsausarbeitung in der Bibliothek des Mathematischen Instituts der Universität Göttingen. § 7 “Das Hilbert’sche Unabhängigkeitsintegral”, 176-184.
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Punkt der einen Kurve von den Punkten der anderen Kurve stets denselben Wert aufweist. Eine solche schlichte Schar von Parallelkurven denkt sich MINKOWSKI in der Ebene gegeben, wobei die Punkte P und Q jeweils auf den Kurven C0 und C1 dieser Schar liegen mögen. Durch zueinander unendlich benachbarte Kurven der Schar wird ein beliebiger Verbindungsweg L zwischen den Punkten P und Q in infinitesimale Stücke ds zerlegt. Genauer wird das Wegelement ds von L weiter in zwei Komponenten zerlegt, die einmal in Richtung der Kurve und einmal normal dazu weisen. “Die orthogonalen Trajektorien der Schar sind gerade Linien und als solche Extremalen des Variationsproblems.”293 Um ein Unabhängigkeitsintegral mit dem Integranden F zu gewinnen, wird F so eingerichtet, daß F längs der Parallelkurven verschwindet, aber längs der dazu normalen Richtungen gleich der Distanz der Parallelkurve wird. Diese infinitesimale Approximation des Weges L führt im Beispiel in natürlicher Weise auf ein wegunabhängiges Integral. Nun werden die Überlegungen auf ein beliebiges Variationsproblem übertragen. Der im geometrischen Beispiel anschauliche Begriff des Abstandes wird durch den kleinsten Wert des Variationsintegrals längs zulässiger Verbindungswege ersetzt. Anstelle der Parallelkurven wird jetzt eine äquidistante Kurvenschar benutzt. In dieser Schar wird folglich der Verbindungsweg L dadurch bestimmt, daß im Infinitesimalen die Distanz zweier unendlich benachbarter Kurven stets minimal ist. Dieses Verfahren “des steilsten oder geodätischen Abstieges” hatte auch CONSTANTIN CARATHÉODORY in seiner Dissertation Über die diskontinuierlichen Lösungen in der Variationsrechnung294 benutzt (siehe Abschnitt 2.3.1), und wir finden diese Veranschaulichung auch von HILBERT selbst in seiner Vorlesung Gewöhnliche Differentialgleichungen (SS 1912) gegeben.295 HILBERTS Schüler RICHARD COURANT leitete in seiner ersten Vorlesung über Variationsrechnung (SS 1913)296 den Abschnitt “Die Extremalfelder und der Unabhängigkeitssatz” mit der Bemerkung ein, daß es HILBERT war, “der den ganzen Untersuchungen [über hinreichende Bedingungen] eine ausserordentlich durchsichtige und klare Form zu geben verstand”.297 Den für allgemeine Extremalenfelder (Mayerfelder) ausgesprochenen Unabhängigkeitssatz bezeichnete COURANT als verallgemeinerten Unabhängigkeitssatz von HILBERT:
293. aaO., 176. 294. Göttingen, 1904, 65-66; auch in Gesammelte mathematische Schriften, Band 1, München, 1954, 71-72. 295. Maschinenschriftliche Vorlesungsausarbeitung. Mathematisches Institut der Universität Göttingen, handschriftliche Eintragung Hilberts auf S. 165. 296. Vorlesungsausarbeitung von Courants Hand. Bibliothek des Mathematischen Instituts der Universität Göttingen. 297. Vorlesungsausarbeitung, 137.
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“Damit das Unabhängigkeitsintegral vom Wege unabhängig ist, ist es notwendig und hinreichend, dass p(x, y) die Gefällefunktion irgendeines Extremalenfeldes ist.”298 In der Theorie der Extremalenfelder widmen die späteren Vorlesungen RICHARD COURANTS über Variationsrechnung in den 20er Jahren dem Unabhängigkeitssatz und der Hamilton-Jacobischen Theorie stets einen eigenen Abschnitt.299 Allerdings behandelt der erste Band der Methoden der mathematischen Physik von COURANT und HILBERT, der 1924 erschien und realiter von COURANT allein verfaßt wurde, das Unabhängigkeitsintegral eher beiläufig, da nur im Kapitel Grundtatsachen der Variationsrechnung erwähnt wird, daß das identische Verschwinden von Eulerschen Ausdrücken (Eulersche Differentialgleichungen) für die Erzeugung äquivalenter Variationsprobleme ausgenutzt werden kann.300 Erst der zweite Band von 1937 enthält – und zwar in der Theorie der partiellen Differentialgleichungen erster Ordnung – einen Abschnitt über “Hilberts invariantes Integral zur Darstellung des Eikonals”, ein geplanter dritter Band erschien nicht.301 Zu HILBERTS Vorlesung Variationsrechnung (WS 1904/05)302 gibt es von HILBERT selbst einen kurzgefaßten Überblick von 15 Seiten. Etwas Ähnliches liegt mit dem Appendix I der Principles of Optics (1959) seines ehemaligen Hörers MAX BORN vor. Denn ein halbes Jahrhundert nach dieser Vorlesung HILBERTS, die BORN als Student besucht hatte, faßte BORN den Kurs in jenem Appendix auf weniger als 20 Seiten zusammen. Das ist zum einen natürlich eine “Hommage à Hilbert” des Schülers BORN, es zeigt aber auch zum anderen, daß HILBERTS Überlegung zur Variationsrechnung auch nach fünf Jahrzehnten noch sachgemäß waren: This [variational] approach is in fact a straightforward generalization of ordinary geometrical optics in every detail. Its modern representation owes much to David Hilbert, on whose unpublished lectures, given at Göttingen about 1903 [winter term 1904/05], we base the considerations of the following sections.303 298. aaO., 151. 299. Zum Beispiel SS 1929, Variationsrechnung (I). Bibliothek des Mathematischen Instituts der Universität Göttingen, 144-164. 300. Berlin, Springer, 1924, Kap. IV, § 3, 5, 173-174. 301. Berlin, Springer, 1937, 105-107. 302. Vorlesungsausarbeitung von E. Hellinger. Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung, Cod. Ms. D. Hilbert 555. Die 15seitige Beilage ist gleichfalls von Hellinger geschrieben (erst nach 1904). Ohne diese Beilage gibt es die Vorlesungsausarbeitung auch in der Bibliothek des Mathematischen Instituts der Universität Göttingen. 303. M. Born, E. Wolf, Principles of Optics, Oxford, Pergamon Press, 1959. Appendix I: The Calculus of Variations, 719-737 (6th ed. 1980). – Es ist etwas überraschend, daß der Nachlaß Born in der Berliner Staatsbibliothek zwar etwa ein Dutzend Göttinger Vorlesungsausarbeitungen enthält, aber nicht diese Hilbertsche Vorlesung über Variationsrechnung. Im deutschen Vorläufer M. Born, Optik (Berlin, Springer, 1933, 3. Aufl, 1972) der Principles of Optics fehlt diese Kurzfassung der Vorlesung.
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BORNS Dissertation Untersuchungen über die Stabilität der elastischen Linie in Ebene und Raum, unter verschiedenen Grenzbedingungen (1906)304 betrifft die Elastizitätstheorie, zu der er später nur noch einmal mit einer weiteren Untersuchung (1942) beigetragen hat, und er war recht zufällig zu dem Thema gekommen, wobei allerdings die Variationsrechnung eine wichtige Rolle gespielt hat. Während BORNS Studienzeit in Göttingen gab es im WS 1904 zwei mathematisch-physikalische Seminare, nämlich das von FELIX KLEIN und CARL RUNGE geleitete über Elastizitätstheorie und ein anderes von DAVID HILBERT und HERMANN MINKOWSKI geführtes über Elektrodynamik. Obwohl BORN auch von HILBERTS Seminaren sehr angezogen worden war und im Hilbertschen Seminar einen Vortrag über elektrische Flüssigkeiten gehalten hatte (sowie 1905 HILBERTS “Privatassistent”305 geworden war), nahm er auch am Seminar über Elastizitätstheorie teil, allerdings ohne “tieferes Interesse” und fungierte hier lediglich als Koreferent beim Thema Stabilität von Elastika (Drähte, Bänder). Da jedoch der Referent zwei Tage vor dem Vortrag ausfiel, mußte Born kurzfristig mit einem “Stegreifreferat” einspringen. Er schrieb über seine Unvorbereitetheit und wie er sie überkam: “Ich bemerkte aber, daß es sich [bei dem Problem der Stabilität] darum handelte, aus den stationären Werten der Deformationsenergie die wahren Minima auszuwählen; also um ein Problem der Variationsrechnung, die ich gerade bei Hilbert hörte [Vorlesung WS 1904]. So entwarf ich ein Programm, die hinreichenden Kriterien von Jacobi und Legendre auf die elastische Linie anzuwenden und machte daraus ein Referat zurecht, das den Beifall Kleins und Runges fand. Klein veranlaßte die Philosophische Fakultät dasselbe Thema zum Gegenstand der in dem Jahre fälligen Preisarbeit zu machen [was 1905 turnusmäßig den Mathematikern zufiel] und forderte mich [brieflich in den Osterferien 1905] auf, mich zu bewerben.”306 Über die Verwicklungen, die sich durch BORNS anfängliche Ablehnung von KLEINS Angebot ergaben, bevor es schließlich zur Krönung der Arbeit als Preisschrift und Anerkennung als Dissertation kam, berichtet BORN in seiner Autobiographie Mein Leben.307 Die Dissertation enthält einen einleitenden Paragraphen mit den benötigten Sätzen der Variationsrechnung, um verschieden Fälle der Stabilität bei festen und freien Randwerten behandeln zu können (S. 6-11). Im Anhang wird eine 304. Göttingen, Dieterich, 1906, auch in: Ausgewählte Abhandlungen, Bd. 1, Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, 1963, 1-104. 305. Angestellte, d.h. bezahlte Hilfs- oder Vorlesungsassistenten im heutigen Sinn begannen sich damals erst einzubürgern. 306. M. Born, “Über meine Arbeiten”, Ausgewählte Abhandlungen, Bd. 1, Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, 1963, XIII-XXIV, Zitat S. XIV. 307. München, Nymphenburger Verlagshandlung, 1975, S. 151 ff. (Übersetzung aus dem Englischen).
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Herleitung des Dirichletschen Stabilitätskriteriums aus dem Hamiltonschen Prinzip gegeben, wobei sich BORN wiederum einer Hilbertschen Vorlesung, diesmal der über die Mechanik diskreter Massen (WS 1905) anschloß (S. 91101). BORN formulierte die Stabilitätsaufgabe als Variationsproblem mit Nebenbedingungen und verlangte reguläre Lösungen des entsprechenden Systems der Euler-Lagrangeschen Differentialgleichungen, d.h. er setzte voraus, daß eine entsprechende Determinante von null verschieden ist (S. 7). Damit konnte er zweiparametrige Extremalenscharen konstruieren, die die als Minimale angesehen Extremale umgaben und für die die Jacobische Determinante, sofern sie nicht verschwand, die Feldeigenschaft sicherte; eine positiv definite Weierstraßsche Exzeßfunktion garantiert somit im Feld starke Minimalität (S. 8). Nach diesen grundsätzlichen Sachverhalten diskutierte BORN einige Randwertprobleme und wie in den jeweiligen Fällen die Feldkonstruktion vorzunehmen sei. Interessant sind freie Randwerte, etwa die Aufgabe eine Extremale von einem festen Punkt an eine Fläche zu führen. BORN ging bei der Feldkonstruktion von den Durchstoßungspunkten auf der Fläche aus, für die der Integrand des Hilbertschen Unabhängigkeitsintegral für alle Richtungen in der Fläche verschwinden müsse, m.a.W., BORN formulierte die sogenannten natürlichen Randbedingungen über das invariante Hilbertsche Integral, bzw. er drückte hierdurch die Transversalität aus. Die Gleichungen, die das transversale Auftreffen der Extremalen auf der Fläche beschreiben, liefern jene Richtung des gesuchten zweiparametrigen Feldes, das von der Fläche ausgeht (mithin auf diesem “transversal steht”, S. 9). Im physikalische Teil diskutierte BORN die im Detail für jeden Fall durchgeführte Feldkonstruktion in Verbindung mit den entsprechenden Experimenten, die “mit sehr einfachen Apparaten in meiner Studentenbude”308 ausgeführt wurden. BORN schrieb hierzu: “Diese Arbeit […] hat mich zum ersten Male die Genugtuung und Freude an der Übereinstimmung von Theorie und Messung fühlen lassen.”309 CONSTANTIN CARATHÉODORY, der zwar zum Göttinger Kreis gerechnet werden kann, verfolgte jedoch stets eigenständige Zugänge zur Variationsrechnung, die letztlich in seinem berühmten “Königsweg” mündeten. Dem Unabhängigkeitsintegral kam dabei schließlich indirekt eine zentrale Rolle zu, da es bei der Erklärung äquivalenter Variationsprobleme in Erscheinung trat. CARATHÉODORY sah jedoch in “der Wendung, die Hilbert um 1900 der Weierstraßschen Theorie der Variationsrechnung durch die Einführung seines ‘unabhängigen Integrals’ gegeben hat”310 ein Ereignis, das den tieferen
308. M. Born, “Über meine Arbeiten”, Ausgewählte Abhandlungen, Bd. 1, Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, 1963, XIII-XXIV, Zitat S. XIV. 309. aaO., XIV. 310. C. Carathéodory, Variationsrechnung und partielle Differentialgleichungen erster Ordnung, Leipzig, B.G. Teubner, 1935, III.
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Zusammenhang zwischen den Differentialgleichungen der Variationsrechnung und den partiellen Differentialgleichungen erster Ordnung zum Vorschein brachte. 5.10.2 Forschung und Forschungsberichte HILBERTS Versuch, auf dem Pariser Kongreß 1900 in die Zukunft der Mathematik zu blicken, hatte bald die verdiente Aufmerksamkeit erhalten. Wenn auch die Diskussion des richtungsweisenden Vortrages dürftig ausfiel,311 so sorgten die folgenden Publikationen des Vortrages in deutscher, französischer und englischer Sprache für eine schnelle und weite Verbreitung. In Paris hatte HILBERT übrigens nicht alle 23 Probleme vorgetragen, sondern nur über eine Auswahl gesprochen. Von den drei die Variationsrechnung betreffenden Problemen hatte HILBERT nur die Frage “Sind die Lösungen regulärer Variationsprobleme stets notwendig analytisch?” (Problem 19) behandelt. Die Tatsache, daß das Hilbertsche Unabhängigkeitsintegral implizit ein geeignetes Feld definiert, macht den Unabhängigkeitssatz zu einem geeigneten Ausgangspunkt für weitergehende Untersuchungen. Besonders naheliegende Themen waren dabei Variationsprobleme mit Nebenbedingungen oder mit freien Rändern sowie mehrdimensionale Variationsprobleme. Solche Variationsproblem werden in dieser Untersuchung nicht betrachtet (bzw. nur aus verkürzter Sicht), so daß wir auf die entsprechenden Arbeiten nicht näher einzugehen brauchen. Trotzdem wollen wir hier einen kurzen Ausblick auf Verallgemeinerungen des Unabhängigkeitsintegrals geben. Ein ständiges Thema der Arbeiten zur Variationsrechnung im ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts war die Formulierung des sogenannten “allgemeinsten Problems” der Variationsrechnung. Innerhalb der klassischen Theorie bildeten sich drei Fassungen solcher Probleme heraus, die als Probleme von LAGRANGE, BOLZA und MAYER bezeichnet wurden. Diese Probleme sind jedoch im wesentlichen äquivalent, da sie sich bei Verwendung geeigneten Nebenbedingungen auf ein einziges Variationsproblem zurückführen las311. In der Diskussion sprachen lediglich G. Peano zum 2. Problem und R. Mehmke über die Lösung algebraischer Gleichungen. Neben der Compte rendu des Kongresses (Paris, Gauthier-Villar, 1902, 58-114) und der englischen Übersetzung im Bulletin of the AMS, 8 (1902), 437-479, gab es zwei deutsche Publikationen, in den Göttinger Nachrichten, 1900 (etwa mit dem Kongreß ausgegeben) und die später um einige Bemerkungen erweiterte Fassung im Archiv der Mathematik und Physik, 1 (1901), 44-63, 213-297, aus unserer Sicht interessieren die von Kneser bewirkten Ergänzungen zum 23. Problem. Vgl. hierzu R. Thiele, “Über die Variationsrechnung in Hilberts Werken zur Analysis”, NTM, 5 (1997), 23-42, R. Thiele, “Hilbert and his 24 problems”, Mathematics at the Dawn of a Millenium. Proceedings of the Annual Conference of the CSHMP, Hamilton, 2000, 1-22, überarbeitet in G. Van Brummelen, M. Kinyon (eds.), Mathematics and the Historian’s Craft. The Kenneth O. May Lectures, New York, Springer, 2005, 243-295, sowie Ivor Grattan-Guinness, “A sideways look at Hilbert’s twenty-three problems of 1900”, Notices of the AMS, 47 (2000), 752-757.
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sen.312 Solchen Problemen wollen wir uns nicht zuwenden, aber wir hatten schon erwähnt, daß für das Lagrangeproblem (1760) in den bereits genannten Arbeiten von 1903 bis 1905 von MAYER hinreichende Bedingungen angeben wurden, und auch CARATHÉODORY hat wichtige Beiträge geleistet.313 Naheliegende Verallgemeinerungen des Hilbertschen Unabhängigkeitsintegrals auf Variationsprobleme mit mehreren gesuchten Funktionen einer Variablen, bei denen Ableitungen beliebig hoher Ordnung im Integranden auftreten können, oder auf Variationsproblem mit mehreren unabhängigen Veränderlichen wurden bald vorgenommen. Bereits 1906 hatte LEO KOENIGSBERGER (1837-1921)314 die Struktur wegunabhängiger Integrale mit mehreren Funktionen von beliebig vielen unabhängigen Variablen nebst deren partiellen Ableitungen bis zu einer festen Ordnung in einer entsprechend komplizierten Darstellung ermittelt, ohne dabei jedoch die Beziehungen zum Unabhängigkeitssatz herauszustellen. KOENIGSBERGER verallgemeinerte aufwendig und lediglich formal den in der Mechanik interessanten Sachverhalt des Verschwindens der Euler-Lagrangeschen Differentialgleichungen (seiner sogenannten Hauptgleichungen).315 Hierzu gibt es auch eine Dissertation Über das identische Verschwinden der Hauptgleichungen der Variation vielfacher Integrale von PAUL E.A WITTSACK bei KOENIGSBERGER aus dem Jahre 1910. Ebenfalls hat ein weiterer Schüler von KOENIGSBERGER, KARL BOEHM (1873-1958),316 diese Thematik behandelt. BOEHM hat sich über die von ihm als verallgemeinerte Linienintegrale bezeichneten Integrale mit Ableitungen beliebig hoher Ordnung, die er 1912 betrachtet hatte, dem Unabhängigkeitssatz genähert und schließlich in einer Arbeit Über Unabhängigkeitssätze in der Variationsrechnung 1915 die Verbindung explizit hergestellt.317 Die notwendi-
312. Siehe hierzu G.A. Bliss, Lectures on the calculus of variations, Chicago, University Press, 1946, 187-193. Theoretically, the three problems are equivalent. It has been known for some time that the problem of Bolza [formulated in 1913] can be transformed into a problem of Mayer [formulated in 1878]. It is also true that there is a very simple transformation, apparently not hitherto noted, which takes the problems of Mayer and Bolza into problems of Lagrange, p. 187. Erstmals wohl von Bliss in seiner unter Mitwirkung von M.R. Hestenes gehaltenen Vorlesung The problem of Bolza in the calculus of variations (winter quarter 1935) angemerkt, mimeographierte Vorlesung im Mathematischen Institut der Universität Chicago. 313. “Die Methode der geodätischen Äquidistanten und das Problem von Lagrange”, Acta mathematica, 47 (1926), 199-236. 314. Leo Koenigsberger, Promotion 1860 bei Weierstraß, 1864 Professor in Greifswald, 18691875 und ab 1884 in Heidelberg. 315. “Über das identische Verschwinden der Hauptgleichungen der Variation vielfacher Integrale”, Mathematische Annalen, 62 (1906), 118-147. 316. Karl Boehm, Studium 1891-1896 in Heidelberg, dort 1896 Promotion, 1900 Privatdozent, 1913-1917 Professor in Königsberg, 1917-1936 in Karlsruhe. 317. “Über eine Verallgemeinerung des Begriffs “Linienintegral”, über integrierbare Differentialausdrücke und über das identische Verschwinden der Hauptgleichungen der Variation”, Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, 11. Mitteilung 1912, 11; “Über Unabhängigkeitssätze…”, Göttinger Nachrichten, (1915), 186-192.
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gen und hinreichenden Bedingungen für Wegunabhängigkeit, deren Beweis KOENIGSBERGER 1906 noch mit aufwendigen Rechnungen liefern mußte, sind aus BOEHMS Sicht nahezu offensichtlich, wobei sie eher eine neue Aufgabe formulieren, nämlich die Bestimmung einer Funktion aus den in den Bedingungen erscheinenden partiellen Differentialgleichungen, als daß sie ein Problem wären. Es folgte 1921 noch BOEHMS Arbeit Der Unabhängigkeitssatz für Doppelintegrale.318 Auch THÉOPHILE DE DONDER (1872-1952)319 hatte 1913 in der Pariser Akademie exemplarisch für zweite Ableitungen im Integranden eine solche Verallgemeinerung vorgetragen, die er 1930 in seinem Buch Théorie invariantive du calcul des variations formal für beliebige Ableitungen aufgeschrieben hat.320 Solche Verallgemeinerungen hängen eng mit den gerade erwähnten zusammen, denn formal läßt sich ein Variationsproblem mit höheren Ableitungen durch geeignete Nebenbedingungen auf ein Variationsproblem mit lediglich ersten Ableitungen reduzieren. Da es sich bei diesem Vorgang letztlich nur um eine “verbale” Umformulierung handelt, stellt sich das Nebenbedingungen immanente Problem der Variierbarkeit hier nicht. Für Variationsprobleme in Parameterdarstellung hat WALTHER MAYER (1887-1948)321 in der Arbeit Beitrag zur geometrischen Variationsrechnung (1929) mit Hilfe des Tensorkalküls eine übersichtliche Darstellung des Unabhängigkeitssatzes für n gesuchte Funktionen eines Parameters gegeben, was als ein Beleg für den Eingang dieser Hilbertschen Überlegungen in die Mathematik der Zeit angeführt werden soll.322 Sein Lehrbuch über Differentialgeometrie (2 Bände) mit einem einschlägigem Kapitel Variationsrechnung sei noch erwähnt. Auch in Bereichen wie der Strahlenoptik fand HILBERTS Unabhängigkeitsintegral Anwendung. Wir haben BORNS Beitrag oben genannt, zu entsprechenden Arbeiten von MAXIMILIAN HERZBERGER (1899-1982) siehe unten S. 515 sowie den Abschnitt 4.2 über HAMILTON. 318. Mathematische Annalen, 83 (1921), 149-156. 319. Théophile Ernest de Donder, Studium 1891-1899 in Brüssel, 1899 Dissertation über Integralinvarianten, von 1911 bis 1942 Professor für Physik in Brüssel. 320. “Sur le théoreme d’indepéndence de Hilbert”, Comptes Rendus Hebdomadaires des Séances de l’Académie des Sciences, 156 (1913), 609-611. Unter dem gleichen Titel folgte im selben Band auf den Seiten 868-870 die Verallgemeinerung für mehrfache Integrale. De Donders Ergebnisse verallgemeinerte 1936 J. Géhéniau, Comptes rendus, 203 (1936), 32-34; desgl. in: Théorie invariantive…, Paris, Gauthier-Villars, 1930, 98-102. 321. Walther Mayer, 1912 Promotion, 1920 Privatdozent und 1931 ao. Professor, alles Universität Wien. 322. Jahresberichte der DMV, 38 (1929), 260-281, § 7 Eine allgemeinere Methode der Herleitung der E-Funktion, darin auch die Konstruktion eines “Gefällskurvenfeldes, das einen gegebenen Extremalenbogen E enthält” (S. 280). Die Aussage “Die großen Schwierigkeiten bestehen beim Einbettungsproblem einer Extremalenfläche in ein Feld” (S. 281) beschreibt die Problematik eines Extremalitätsnachweises etwas unglücklich, denn nicht so sehr das suggerierte Anpassen einer Extremalen (einer Einbettung) an das Feld, sondern vor allem die tatsächliche Konstruktion eines geeigneten Feldes bildet die Schwierigkeit.
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Merkwürdig ist der Artikel Sull’ independenza di un integrale dai parametri nel caso più generale von GUISEPPE USAI (1880-1965), der Untersuchungen über ein invariantes parametrisches Unabhängigkeitsintegral macht und sich auf Arbeiten von KOBB (1863-1934) (1893), A. KNESER (1900), VIVANTI (1859-1949) (1912) und des Autors (1915) bezog, aber von HILBERT (1900) keine Notiz nahm. 5.10.3 Kurzer Überblick zu Lehrbüchern und einigen Forschungsberichten Der kurze Boernersche Überblick Variationsrechnung aus dem Stokesschen Satz323 liefert bereits eine beeindruckende Aussicht auf die reichhaltigen Ergebnisse, die sich um das Hilbertsche Konzept eines Unabhängigkeitsintegrals ranken. Diese Hilbertschen Ideen waren bereits im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts ein beachteter Gegenstand der mathematischen Forschung geworden. Der elegante Zugang wurde nicht nur in der Forschung ausgenützt, sondern auch in der Lehre aufgegriffen, und er ist in allen einschlägigen Lehrbüchern der Variationsrechnung seit der Jahrhundertwende präsent. Derartige Lehrbücher verfaßten in den ersten vier Jahrzehnten ADOLF KNESER (1900, 1925), HARRIS HANCOCK (1904), OSKAR BOLZA (1904, 1909), JACQUES HADAMARD (1910), LEONIDA TONELLI (1921), GIULIO VIVANTI (1921), GILBERT A. BLISS (1925),324 ANDREW FORSYTH (1927), LOTHAR KOSCHMIEDER (1933), MARSTON MORSE (1934), CONSTANTIN CARATHÉODORY (1935), THÉOPHILE DE DONDER (1935), GERHARD GRÜSS (1938), HERBERT SEIFERT und WILLIAM THRELFALL (1938) sowie HANS LEWY (1939).325 Drei dieser Bücher behandeln allerdings das Unabhängigkeitsintegral nicht oder in besonderer Weise. Die Lectures on the calculus of variations (The Weierstrassian theory) von HARRIS HANCOCK (1867-1944) orientieren sich noch 1904 ausschließlich an den Vorlesungen von KARL WEIERSTRAß und HERMANN AMANDUS SCHWARZ, und die erste Auflage von ADOLF KNESERS Lehrbuch der Variationsrechnung kam 1900 zu früh, um den Unabhängigkeitssatz zu berücksichtigen. Obwohl KNESER sofort den Zusammenhang zwischen seiner transversalen Schar und HILBERTS Unabhängigkeitsintegral erkannte 323. Mathematische Zeitschrift, 46 (1940), 709-719. 324. In einem Brief an A. Kneser beschrieb O. Bolza das Buch so: “Er [Bliss] macht dabei in sehr geschickter Weise den Versuch, die Hauptsätze der Variationsrechnung aus einer Reihe von speziellen klassischen Problemen zu entwickeln”. Brief vom 18.6.1925, Cod. Ms. A. Kneser A3, Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung; die spätere deutsche Übersetzung (1932) ist erweitert. 325. Diese Aufzählung ist nahezu vollständig. Ich habe noch vier russische und zwei italienische Lehrbücher bibliographiert, aber nicht einsehen können. Der Lehrgang der höheren Mathematik (Kurs wyschej matematika) von W.I. Smirnow, der im Band IV/1 (deutsche Übersetzung Berlin, DVW, Ausgabe, 1988) einen klaren Überblick zum Unabhängigkeitsintegral und seinen Beziehungen zum Weierstraßschen Darstellungssatz gibt, verweist für die Beweise auf das Buch von M.A. Lawrentjew und L.A. Ljusternik Kurs wariazionowo istschislenija, Moskau, Gostechisdat, 1935.
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hatte,326 fehlte dieser elegante Hilbertsche Zugang auch in der zweiten Auflage 1925 des Kneserschen Buches. Genauer: KNESER griff erst bei den zweidimensionalen Variationsproblemen auf diese Möglichkeit zurück, als er die Weierstraßsche Exzeßfunktion einführte.327 Auch KNESERS Schüler LOTHAR KOSCHMIEDER (1890-1974)328 schloß sich hier dem Lehrer an. Die erste Auflage seiner Variationsrechnung (1933) bringt eine sehr kurze Vorstellung des Unabhängigkeitsintegrals im parametrischen Fall, die mit den Worten endet, daß sich hierauf hinreichende Bedingungen gründen lassen, worauf aber nicht eingegangen werden soll. Erst die zweite Auflage 1962 erweitert den sehr knappen Abschnitt und bringt die Herleitung der Weierstraßschen Darstellungsformel (Exzeßfunktion).329 Bei dem zum Thema gehörigen Vorgehen CARATHÉODORYS bleibt das Unabhängigkeitsintegral eher im Hintergrund, da sich CARATHÉODORY in den Veröffentlichungen und Vorlesungen entweder geometrisch an der transversalen Schar (der vollständige Figur) oder analytisch am äquivalenten Variationsproblem (den Fundamentalgleichungen) orientiert. Hierauf sind wir ausführlich im Kapitel 2 eingegangen; seit dem Lehrbuch Variationsrechnung und partielle Differentialgleichungen dominierte der sogenannte “Königsweg”, in dem formal ein wegunabhängiges Integral als Ansatz für ein äquivalentes Problem erscheint (§ 227). Die zentrale Rolle des Unabhängigkeitsintegrals wurde jedoch von CARATHÉODORY gleich in den ersten Zeilen des Buches angesprochen, indem er klar machte, daß die Jacobische Entdeckung des Zusammenhangs der Differentialgleichungen der Variationsrechnung und der partiellen Differentialgleichungen erster Ordnung, der von JACOBI selbst vielleicht nur als formale Zufälligkeit betrachtet wurde, durch die Wendung, die die Weierstraßsche Theorie der Variationsrechnung durch das Hilbertsche Unabhängigkeitsintegral erhalten hatte, den Schleier ein wenig gelüftet hat. CARATHÉODORY fügte noch an, daß es sein Wunsch gewesen sei, “diesen
326. A. Kneser wies Hilbert einen Monat nach seinem Pariser Vortrag in einem Schreiben vom 2. 9. 1900 darauf hin, daß dessen invariantes Integral mit der transversalen Schar identifiziert werden könne, sofern man einen Endpunkt der betrachteten Extremale variieren ließe und das Integral als Funktion dieses veränderlichen Punktes ansähe. Er bat Hilbert um eine entsprechende Ergänzung seines Textes zum 23. Problem, die Hilbert im Nachdruck 1901 und in die Übersetzungen einfügte. Briefe Knesers an Hilbert vom 2.9.1900 und 22.9.1900 (Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung, Cod. Ms. Hilbert 180) sowie Hilberts Antwort vom 24.9.1900 (Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung. Cod. Ms. A. Kneser A 17, teilweise behandelt bei R. Thiele, “Über die Variationsrechnung in Hilberts Werken zur Analysis”, NTM, 5 (1997), 23-42, (Teil)Faksimile 42; siehe Abbildung 4.11). 327. Lehrbuch der Variationsrechnung. Braunschweig: Vieweg 1925. Zweidimensionale Variationsprobleme im § 49 mit Unabhängigkeitsintegral behandelt, was technisch einfacher ist, als hierfür transversale Scharen einzuführen; an der entsprechenden eindimensionalen Stelle (§ 15) bleibt Kneser jedoch bei seiner alten Einführung durch die transversale Schar. 328. Zu Koschmieder siehe Abschnitt 4.6.3.4. 329. Variationsrechnung, I, Berlin, de Gruyter, 1933, 21962 (Göschenband 1074). Jeweils § 36. Ein zweiter Teil ist nicht erschienen.
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Komplex von Ideen, der solange unbeachtet geblieben ist, ins rechte Licht zu bringen.”330 Der Titel Variationsrechnung und partielle Differentialgleichung erster Ordnung seines Buches drückt denn auch präzise seine Absicht aus. Siehe hierzu auch die Abschnitte 4.2 und 4.3. Wir finden Abschnitte über das Hilbertsche Unabhängigkeitsintegral auch in umfassenden Lehrbüchern der Analysis, namentlich in dem Cours d’analyse mathématique331 von ÉDUARD GOURSAT (1858-1936). Bereits in der ersten Auflage von 1905 behandelte GOURSAT332 in einem Kapitel Éléments du calcul des variations des zweiten Bandes die Thematik, wie es aus den Überschriften der vier einschlägigen Abschnitte 451-453 hervorgeht: Définition d’un champ de courbes extrémales, Existence d’un champ, Formule de M. Hilbert und Conditions suffisantes. In der erweiterten zweiten Auflage 1915 sind die Abschnitte in den dritten Band verschoben, und da GOURSAT offenbar eine Bemerkung ERMAKOFFS aufgenommen hat, die die Wurzeln von HILBERTS Methode auf WEIERSTRAß zurückführt, wurde der entsprechende Abschnitt 639 Formule de M. Hilbert nun in Théorème de Weierstrass umbenannt.333 In dem Buch The calculus of variations in the large (1934) verschmolz MARSTON MORSE (1892-1977)334 auf neue Weise Analysis und Topologie. Da für diesen Zweck der Autor keine entsprechenden englischsprachigen Lehrbücher vorgefunden hatte, stellte er seinem eigentlichen Thema die Darstellung der klassischen lokalen Ergebnisse in euklidischen Räumen voran, ehe er die Betrachtungen auf globale Ergebnisse für lokal definierte Riemannsche Räume ausdehnte. Wir haben hier eine interessante Gegenüberstellung von HILBERTS Methode im Lokalen und Globalen. Bei der 1936/37 am Institute for Advanced Study in Princeton gehaltenen Vorlesung nahm MORSE diese zwei Jahre zuvor geübte Rücksicht auf den Leser nicht, aber er behandelte das Unabhängigkeitsintegral ganz im Geiste HILBERTS, indem er damit implizit lokale Mayerfelder definierte.335 Da MORSE kanonische Transformationen prinzipiell nicht in seine Überlegungen einbezieht, konstrastieren seine Ausführungen gegenüber CARATHÉODORYS
330. Variationsrechnung und partielle Differentialgleichung erster Ordnung, Leipzig, B.G. Teubner, 1935, iv. 331. Paris, Gauthier-Villars, 1905, 21915. Variationsrechnung im Band 2 (Chapitre 22 Éléments du calcul des variations, 590-631, sect. Méthode de Weierstrass) bzw. im Band 3 (Chapitre 34 Calcul des variations, 545-660, sect. Champs d’extrémales, conditions suffisantes 605-623). 332. Édouard Jean-Baptist Goursat, Promotion 1881 und Professor in Toulouse, 1885 bis 1930 in Paris (École Normale Supérieur, École polytechnique und Sorbonne). 333. Ermakoff gibt für seine Behauptung keine Quelle an, siehe Abschnitt 4.6.5. 334. Marston Morse, Schüler von G.D. Birkhoff, Promotion 1917, 1930 Professor Harvard University, ab 1935 Princeton. 335. The calculus of variations in the large, New York, AMS, 1934. Die Parallelstellen für das Unabhängigkeitsintegral finden sich jeweils in den Sektionen 6 der Kapitel 1 und 5. – Lecture by Marston Morse on analysis in the large, 1936-37 (Notes by W. L. Duren), Ann Arbor, Mich., 1937. Mimeographed Lecture. Unabhängigkeitsintegral auf S. 11-12.
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Darstellungen, die ausgiebig Gebrauch vom kanonischen Formalismus machen. Eine bei GERHARD KOWALEWSKI (1876-1950)336 angefertigte Dissertation von RICHARD KLUGE Eine Anwendung infinitesimaler Berührungstrasformationen in der Variationsrechnung (1930)337 gibt mittelbar einen interessanten Einblick in eine von KOWALEWSKI im SS 1926 gehaltene Vorlesung über Variationsrechnung. KOWALEWSKI zeigte für ein einfaches Variationsproblem in funktionaler Form folgenden Sachverhalt: Die kanonische Transformation des Variationsproblems kann als eine Berührungstransformation für dieses Problem gedeutet werden. Ersetzt man in der Berührungstransformation die Variable p durch eine Ortsfunktion p(x, y), so ist die so abgeleitete Punkttransformation genau dann flächentreu, wenn die Ortsfunktion p(x, y) die Gefällefunktion eines Extremalenfeldes des Variationsproblems ist. Damit sind Flächentreue und Hilbertscher Unabhängigkeitssatz miteinander verbunden. Während KOWALEWSKI in der Vorlesung einfache Variationsprobleme in funktionaler Form behandelt hatte, übertrug KLUGE in der Dissertation die Sachverhalte auf parametrische Probleme und auf mehrfache Integrale. Selbstverständlich enthalten alle einschlägigen Übersichten über die Fortschritte der Variationsrechnung Abschnitte über das Unabhängigkeitsintegral. ADOLF KNESERS sorgfältiger Bericht für die Encyklopädie der mathematischen Wissenschaften war im September 1900 abgeschlossen worden, und da KNE338 SER ihn nicht fortführen wollte, übernahmen die jungen Mathematiker ERNST ZERMELO und HANS HAHN (1879-1934) diese Aufgabe.339 HAHN ist auch der Autor des Kapitels Variationsrechnung in der zweiten Auflage von ERNSTO PASCALS (1865-1940) Repertorium der höheren Mathematik aus dem Jahre 1927, wo er sowohl den funktionalen als auch parametrischen Fall des Unabhängigkeitsintegrals für einfache Integrale behandelte.340 Amerikanische Mathematiker haben durch ihre damaligen Kontakte nach Göttingen unmittelbar die Hilbertschen Ideen zur Kenntnis genommen. Auf WILLIAM OSGOODS Übersichtsartikel Sufficient conditions in the calculus of
336. Gerhard Kowalewski, Promotion 1898 und Habilitation 1899, von 1920 bis 1939 Professor an der TH Dresden. 337. Dissertation an der TH Dresden, Druck 1931. 338. Siehe hierzu die mit Hilbert gewechselten Briefe, Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung, Cod. Ms. D. Hilbert 180. 339. Encyklopädie, Band 2, Analysis, Teil 1, Leipzig, Teubner, 1916. Kneser, Variationsrechnung (abgeschlossen September 1900), 571-625; Zermelo und Hahn, Weiterentwicklung der Variationsrechnung in den letzten Jahren (abgeschlossen Januar 1904), 626-641. Durch Lecat erweiterte Fassung der französischen Übersetzung (Band II/6 der Encyclopédie, Paris, Gauthier-Villars, Variationsrechnung abgeschlossen September 1913). Zermelo hatte 1894 über Variationsrechnung promoviert und sich 1899 habilitiert; Hahn promovierte 1903 und habilitierte sich 1905. 340. 1. Band Analysis. Dtsch. Ausgabe hrg. von E. Salkowski und H. Timmerding. Kapitel 14 Variationsrechnung, 627-683. Leipzig, B.G. Teubner. Unabhängigkeitsintegral auf den Seiten 634 und 642.
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variations (1901)341 werden wir noch eingehen, wenn von den Feldkonstruktionen zu handeln sein wird (Abschnitt 6.3). Nur wenig später publizierte EARL RAYMUND HEDRICK (1876-1943)342 die Arbeit On the sufficient conditions343 mit einer Ableitung des Weierstraßschen Kriteriums aus dem Hilbertschen Unabhängigkeitsintegral. Schließlich hat die Chicagoer Schule um GILBERT A. BLISS mehrfache Berichte über Fortschritte der Variationsrechnung geliefert und dabei den Unabhängigkeitssatz gewürdigt. BLISS selbst schrieb 1920: Hilbert devised a very elegant method of establishing the formula (8) [Weierstrass representation formula] which has now superseded with most writers the original ‘Weierstrass construction’ by means of which Weierstrass himself established his result.344 Entsprechendes ist in dem Bericht Some recent work in the calculus of variations (1926)345 des BOLZA-Schülers ARNOLD DRESDEN (1882-1945) zu finden. Jedoch fehlt in den späteren Berichten The calculus of variations and the quantum theory (1932) und The evolution of problems of the calculus of variations (1936) von BLISS dieser Bezug.346 5.10.4 Einige Anwendungen Extremalenfelder weisen einige für die Anwendungen höchst interessante Eigenschaften auf, was etwa in der Optik besonders augenfällig wird. Bereits HILBERT hatte in der Vorlesung “Mathematische Methoden der Quantentheorie” (WS 1926) den Lichtweg als geodätische Linie in nichteuklidischen Räumen aufgefaßt.347 Solche Eigenschaften lassen sich auch aus geometrischen Gesichtspunkt mit Hilfe von Integralinvarianten betrachten, die von HENRI POINCARÉ eingeführt wurden und unter die das Hilbertsche Unabhängigkeitsintegral zu subsumieren ist (vgl. Abschnitte 5.4.2, 5.6.3 und 6.6.3 Prange). Das Unabhängigkeitsintegral wurde daher auch außerhalb der Analysis behandelt, etwa in der Differentialgeometrie. In der Theorie der geodätischen Linien erscheint das Hilbertsche Unabhängigkeitsintegral im Zusammenhang mit den entsprechenden Gaußschen Sätzen in einer beinahe trivialen Form, so daß es häufig nicht erforderlich schien, eine eigene Bezeichnung dafür zu prägen bzw. zu übernehmen.348
341. Annals of Mathematics, 2 (1900-1901), 105-129. 342. Earl Hedrick, Dissertation bei Hilbert 1901. 343. Bulletin of the AMS, 9 (1902), 11-24. 344. Bulletin of the AMS, 26 (1920), 343-361, Zitat p. 349. 345. Bulletin of the AMS, 32 (1926), 475-521. 346. Beide Berichte gehen auf vor der AMS gehaltene Vorträge zurück. Bulletin of the AMS, 38 (1932), 201-224; American Mathematical Monthly, 43 (1936), 598-609. 347. Mitschrift der Staatsbibliothek Berlin, Nachlaß Born 1822. 348. Für diese Haltung vgl. etwa W. Blaschke, Vorlesungen über Differentialgeometrie, I, Berlin, Springer, 1924, 94-96.
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KAPITEL 5
Deutet man in dem parametrischen Variationsproblem J=
t1
dx
∫t F ⎛⎝ x, ----dt-⎞⎠ dt → extr 0
in natürlicher Weise den Integralwert J geometrisch, nämlich als erweiterte Bogenlänge einer Kurve x(t), so betreibt man bekanntlich Finslersche Geometrie.349 Aus moderner Sicht können die Koordinaten xi und vi (i = 1, … , n) des projektiven Tangentialraumes, des Raumes der Tangentenrichtungen, in einem n-dimensionalen Raum M, zur Definition einer äußeren linearen Differentialform (einer Pfaffschen Form) ∂F ω = ------- dx i , ∂v i
( i = 1, …, n ) ,
benutzt werden. Gerade diese Differentialform bestimmt das Hilbertsche Unabhängigkeitsintegral, und sie wird daher auch Hilbert-Form genannt. In der Finslerschen Geometrie läßt sich die Regularität der Metrik mit Hilfe dieser Form ausdrücken: ω
^ (dω)
n–1
≠ 0.
Ein grundlegendes Problem der Theorie Finslerscher Räume ist die lokale Äquivalenz zweier gegebener Räume, d.h. die Frage nach der Existenz einer analytischen Abbildung, die Umgebungen so punktweise aufeinander bezieht, daß sich die Längen zugeordneter Bogen entsprechen. Für den Fall der Riemannschen Geometrie (d.h. für einen positiv definiten Maßtensor gij, BERNHARD RIEMANN 1854) wurde das Äquivalenzproblem 1870 bereits durch ELWIN CHRISTOFFEL (1829-1900) und RUDOLF LIPSCHITZ (1832-1903) gelöst, und diese Arbeiten sind ein Ausgangspunkt der Tensor-Analysis von GREGORIO RICCI-CURBASTRO (1853-1925) geworden. Die allgemeine Frage ist insbesondere von SHIING-SHEN CHERN (geb. 1911) und OTTÓ VARGA (19091969)350 behandelt worden, wobei CHERNS Methode das Problem auf die Äquivalenz von Differentialformen zurückführt. Wie CHERN351 gezeigt hat, ist für die Entscheidung, ob zwei gegebene Metriken äquivalent sind, gerade die Hilbert-Form der Schlüssel zur Lösung.352 In einem Überblicksartikel schrieb er neulich: 349. Paul Finsler (1894-1971), Studium in Göttingen, Promotion bei C. Carathéodory 1918 mit der Arbeit Über Kurven und Flächen in allgemeinen Räumen, Habilitation an der Universität Köln 1922. 350. Vargas Methode ist in Über affin zusammenhängende Mannigfaltigkeiten von Linienelementen, insbesondere deren Äquivalenz (Publ. Mathematik, Debrecen 1 (1949), 7-17) dargestellt. 351. Shiing-Shen Chern, Studium an chinesischen Universitäten, Habilitation 1936 in Hamburg, 1949 University of Chicago, 1960 Berkeley, 1980 emeritiert. 352. S. Chern, “On the euclidean connection in a Finsler space”, Proceedings of the National Academy of Sciences of the USA, 29 (1943), 33-37; “Local equivalence and euclidean conditions in Finsler spaces”, Science Reports National Tsing Hua University, 5 (1948), 95-121. – Zum Äquivalenzproblem siehe auch H. Rund, The differential geometry of Finsler spaces, Berlin, Springer, 1959, ch. vi, § 3.
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A fundamental tool in all these developments is the Hilbert form.353 Bemerkenswert ist das Erscheinen des Unabhängigkeitsintegrals in physikalischen Untersuchungen. Zu den klassischen physikalischen Disziplinen wie Mechanik und geometrische Optik, die selbst maßgeblich an der Herausbildung des Formalismus der Variationsrechnung beteiligt waren, gesellten sich neuere Gebiete wie statistische Mechanik oder Quantenmechanik. Der Übergang zu diesen Disziplinen läßt sich gut von den bekannten klassischen Theorien mit Hilfe der Variationsrechnung vollziehen; beispielsweise gelangt man über den Liouvilleschen Satz unmittelbar von der klassischen zur statistischen Mechanik. Das Liouvillesche Theorem, das sowohl Grundlage in der Ergodentheorie als auch ein wichtiger Bestandteil der Invariantentheorie ist, gehört zum Gedankenkreis des Unabhängigkeitsintegrals. Wir werden hierauf bei der Diskussion der Dissertation von GEORG PRANGE im Abschnitt 6.6.3 eingehen. Da bei PRANGE die Belange der Variationsrechnung im Vordergrund standen, wurden die Extremalscharen durchgängig als Mayerfelder angenommen. Darauf verzichtet man in der Theorie der Integralinvarianten, deren Ergebnisse mithin allgemeiner sind. Ein spezielles Ergebnis sei angeführt, das die Variationsrechnung betrifft und das eine geometrische Deutung der Lagrangeschen Klammern erlaubt. In der Ebene der unabhängigen Variablen t = const des Phasenraums läßt sich das Hilbertsche Unabhängigkeitsintegral J* für eine Extremalenschar in kanonischen Koordinaten x =(t, u), p = p(t, v) folgendermaßen darstellen J∗ =
∫ ∫ [ u, v ] du dv ,
B
wobei B ein gewisser Bereich der Parameterebene ist und [u, v] die Lagrangeschen Klammern bedeuten. Für Mayerfelder verschwinden diese und damit auch J*. Die einschlägige Theorie ist von ÉLIE CARTAN (1869-1951)354 in den Leçons sur les invariantes intégraux (Paris: Hermann 1922) dargestellt worden und im Hinblick auf die Variationsrechnung von THÉOPHILE DE DONDER in der Théorie invariantive du calcul des variations (Paris: Gauthier-Villars 1930, 21935) diskutiert worden. MAXIMILIAN HERZBERGER (1899-1982)355 verfaßte 1931 einen Artikel, der
353. S. Chern, “Remarks on Hilbert’s 23rd problem”, The Mathematical Intelligencer, 18, 4 (1996), 7-8. 354. Élie Joseph Cartan, Promotion 1894, Professor in Nancy 1903, seit 1912 in Paris, gruppentheoretische und invariantentheoretische Aspekte in der Theorie der Differentialgleichungen sowie Cartanscher Kalkül der alterniereden Differentialformen, Integralinvarianten als wichtige Anwendung dieses Kalküls; in der Differentialgeometrie verallgemeinerte er die Darbouxsche Methode des beweglichen Dreibeins durch den Begriff des Zusammenhangs von unendlich benachbarten Tangentialräumen mittels infintesimaler Transformationen. 355. Maximilian Herzberger, Studium in Berlin und Jena 1917-1924, 1923 Promotion, dann in optischen Betrieben wie Leitz oder Zeiss, 1934 emigriert, in den USA lange bei Kodak.
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die anschaulichen Gesetze der geometrischen Optik, die sich mathematisch in der Feldtheorie ausdrücken, im Geiste JOHANN BERNOULLIS oder WILLIAM ROWAN HAMILTONS auf andere klassische Gebiete übertrug und der dabei den Hilbertschen Unabhängigkeitssatz behandelte.356 Eine ein Jahr zuvor von ihm geschriebene, rein optische Arbeit dehnte das Hilbertsche Unabhängigkeitsintegral auf Extremalenscharen aus, die kein Feld bilden, sondern sich überschneiden. Ein Resümee dieser optischen Ansichten HERZBERGERS findet sich in dem 1931 erschienen Band 35 der Springerschen Grundlehren, der den Titel Strahlenoptik trägt und der das Hilbertschen Unabhängigkeitsintegral in Verbindung mit Wellenflächen und Kaustiken bringt.357 Eine meisterhafte historische Zusammenfassung gibt schließlich CONSTANTIN CARTHÉODORY in seiner Geometrischen Optik.358 Von mechanischer Seite knüpfte das Handbuch der Physik im Band 5 Grundlagen der Physik die Beziehungen zur Optik bzw. zum mathematischen Formalismus, indem von den Autoren LOTHAR NORDHEIM (1899-1988) und E. FUES (1893-1970) der Zusammenhang von Unabhängigkeitssatz und Eikonal betrachtet wurde.359 Wir haben bereits früher zitiert, daß MAX BORN aus der Hilbertschen Vorlesung über Variationsrechnung Nutzen für seine quantenmechanischen Ausarbeitungen gezogen hat. In einer Arbeit On the quantum theory of the electromagnetic field360 von 1934 über die Quantisierung der Feldgleichungen benutzte er das Hilbertsche Unabhängigkeitsintegral, das HERMANN WEYL im gleichen Jahr für weitere Arbeiten aufgriff.361 Es ist sehr bemerkenswert, daß bereits HILBERT in seinen mathematischen Notizheften derartige Integrabilitätsfragen aufgegriffen hatte, aber sie nicht publiziert hat. In seiner auf das Wesentliche der Probleme zielenden Art hatte HILBERT in der Integrabilitätsforderung eine grundlegende Schwierigkeit des Problems erkannt, und er erweiterte daher das Konzept auf nicht mehr vollständig integrable Felder (siehe Abschnitt 5.9).
356. “Über die Anwendungen der Grundgesetze der geometrischen Optik auf andere Variationsprobleme der Physik”, Physikalische Zeitschrift, 32 (1931), 551-553. 357. “Über eine elementare Grundform der Variationsrechnung”, Zeitschrift für Physik, 65 (1930), 700-704. – Strahlenoptik, in: Grundlehren der mathematischen Wissenschaften in Einzeldarstellungen, Band 35, Berlin, Springer, 1931. 358. Berlin, Springer, 1937. Das Buch ist wesentlich früher konzipiert worden, aber durch die Variationsrechnung von 1935 und andere Ursachen verschob sich die Vollendung (siehe die entsprechenden Vertragsunterlagen im Springer-Archiv, Heidelberg). 359. H. Geiger, K. Scheel (Hrg.), Berlin, Springer, 1927. Abschnitt über Unabhängigkeitsintegral, 123-128. 360. Proceedings Royal Society, 143 (1934), 410. L. Nordheim hörte bei Hilbert; E. Fues Physiker. 361. “Observations on Hilbert’s independence theorem and Born’s quantization of field equations”, The Physical Review, 46 (1934), 505-508; “Geodesic fields in the calculus of variations”, Annals of Mathematics, 36 (1935), 607-629.
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5.11 Adolf Mayer (1839-1908) 5.11.1 Stellung von Mayer in der Variationsrechnung ADOLF MAYER ist ein herausragender Vertreter der Variationsrechnung im letzten Drittel des vorigen Jahrhunderts, der zu Unrecht im Schatten von WEIERSTRAß steht, denn er hat ebenfalls das moderne Bild der Variationsrechnung mitgeprägt, und zwar hat MAYER es entschiedener als WEIERSTRAß vom rein analytischen Standpunkt getan. Neben der Variationsrechnung waren MAYERS Arbeitsgebiete die Differentialgleichungen und die Mechanik, die allesamt eng miteinander verwoben sind. MAYER verkörpert den neuen Typ eines spezialisierten Mathematikers, wie er für die Generationen nach ihm aufgrund der explosiven Entwicklung der Mathematik immer selbstverständlicher wurde. Aber zu MAYERS Zeit stand Spezialisierung noch im Ruf einer fragwürdigen Einengung, und diese kritische Haltung erscheint bei seiner Bewertung auch noch heute, man liest z.B. in der Auflage von 1991 des Biographical Dictionary of Mathematicians in dem sehr kurzen Eintrag zu MAYER: Mayer achieved important individual results concerning the theory of integration and the criteria for maxima and minima in variation problems. […] Despite a great variety of methods and outstanding mastery of calculations, Mayer was unable to develop the rigor necessary for the existence theorems of the calculus of variations; such rigor was displayed in exemplary fashion at approximately the same time by Weierstraß.362 Andererseits legte HERMAN GOLDSTINE (1913-2004) in seiner History of the Calculus of Variations363 MAYERS Beitrag zur Variationsrechnung sehr ausführlich auf mehreren Seiten dar und ging auf die technischen Details ein, um die genauen und langwierigen Ausführungen MAYERS dem Leser vor Augen zu führen. Da die Ergebnisse in der Variationsrechnung von ALFRED CLEBSCH (18331872) durch die im Vergleich zu CLEBSCH leichter ableitbaren Weierstraßschen Ergebnisse überflüssig wurden, waren auch MAYERS Resultate davon betroffen, insbesondere die frühen Arbeiten wie seine Habilitationsschrift “Beitrag zur Theorie der Maxima und Minima einfacher Integrale” von 1866. Denn MAYER hatte einige der Clebschen Ergebnisse sowohl streng begründet als auch weiter geführt. GOLDSTINE resümierte trotzdem: “Unlike Clebsch, Mayer proceeded in a neat and fairly rigerous way” (p. 269). Nichts kennzeichnet vielleicht kürzer den bedeutenden Einfluß von MAYER auf die Variationsrechnung als die Aufzählung einiger fundamentaler Begriffe
362. C. Gillespie (Ed.), Biographical Dictionary of Mathematicians, New York, Scribner’s Sons, 1991, 1678. 363. New York, Springer, 1980. Beiträge über Mayer 269-282, 300-313 und 330-338.
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dieser Disziplin, die zurecht mit MAYERS Namen verbunden sind: Mayer-Problem der Variationsrechnung, Mayerfeld, Mayersche Determinante, Mayersche Integrationstheorie bei totalen Differentialgleichungen. MAYERS zeitweiliger Leipziger Kollege FELIX KLEIN würdigte MAYERS mathematische Leistungen, als er von der Jacobischen Integrationstheorie der Hamilton-Jacobischen Differentialgleichung ausging und die sich insbesondere an SIMEON POISSON (1781-1840) anlehnende Entwicklung der Mechanik betrachtete. Über die Fülle tiefliegender Sätze, die seit den 70er Jahren LIE und MAYER gefunden hatten, bemerkte er, daß alle diese Resultate zugleich Geltung für die Variationsrechnung einfacher Integrale haben und ebenso auf der anderen Seite für die partielle Differentialgleichungen erster Ordnung schlechthin.364 Diese “mechanische” Sicht auf MAYERS Arbeiten umreißt treffend den Hintergrund für die tiefgreifenden Konzepte MAYERS in der Feldtheorie. Eine mathematisch fundierte Darstellung von MAYERS Leistungen haben OTTO HÖLDER (1908) und ROLF KLÖTZLER (1981) gegeben, und in den Lebensbildern sächsischer Gelehrter findet sich eine neue biographische Darstellung, an die wir uns im nächsten Abschnitt anlehnen wollen.365 5.11.2 Adolph Mayers wissenschaftliche Vita Die Anfänge von MAYERS Wirkens in Leipzig fallen in die 70er Jahre, die durch den Tod von AUGUST FERDINAND MÖBIUS (1790-1868) und den Rückzug von MORITZ WILHELM DROBISCH (1802-1896) aus der Mathematik im gleichen Jahre eine schwierige Zeit für die Leipziger Mathematik waren. Zwar hatte die Mathematik in Leipzig gegen Ende des vorigen Jahrhunderts nicht den Ruf wie in den hier führenden Universitäten Berlin und Göttingen, aber die Leipziger Lehrstühle waren mit herausragenden Mathematikern wie FELIX KLEIN (1849-1925), OTTO HÖLDER (1859-1937) oder SOPHUS LIE (18421899) besetzt gewesen. Leipzig war überdies in den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts die am meisten frequentierte Universität Deutschlands. Die äußeren Lebensumstände CHRISTIAN GUSTAV ADOLPH MAYERS sind einfach berichtet. Die Familie MAYER war im 17. Jahrhundert aus der Schweiz nach Leipzig gekommen, und sie gehörte zu den wohlhabenden Leipziger Kaufleuten und Bankiers. Die Vornamen Christian Adolph wurden in dem in Leipzig ansässigen Familienzweig traditionell vererbt. Ein von MAYER verfaß-
364. Vorlesungen über die Entwicklung der Mathematik im 19. Jahrhundert, Band 1, Berlin, Springer, 1926, 206–207. 365. O. Hölder, “Nachruf auf A. Mayer”, Leipziger Berichte, 60 (1908), 355–373; R. Klötzler, “Adolph Mayer und die Variationsrechnung”, 100 Jahre Mathematisches Seminar der Karl-MarxUniversität Leipzig, Berlin, Deutscher Verlag der Wissenschaften, 1981, 102–110; R. Thiele, “Adolph Mayer”, R. Groß, G. Wiemers (Hrg.), Lebensbilder sächsischer Gelehrter, Bd. 4, Leipzig/ Stuttgart, Sächs. Akademie d. Wissenschaften/Steiner, 1999, 211-227.
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ter Lebenslauf, der seiner Personalakte im Leipziger Universitätsarchiv beiliegt, beginnt so: “Ich bin geboren den 15ten Februar 1839 zu Leipzig, woselbst mein Vater, Christian Adolph Mayer, noch lebt, während ich meine Mutter Agnes geb. Frege leider sehr früh verlor. […] Zu Ostern 1851 kam ich auf die Thomasschule, wurde 1854 in dem Lutherischen Glauben confirmirt und machte im Sommer 1857 das Abiturientenexamen”. Dem Abitur schloß sich eine Studienzeit von 1857 bis 1865 an, wobei MAYER folgende Universitäten besuchte: Heidelberg (WS 1857-SS 1858, SS 1859-SS 1861, WS 1861/62), Göttingen (WS 1858/59), Leipzig (SS 1861) und Königsberg (WS 1862-SS 1865). Über sein Studium schrieb ADOLPH MAYER in dem bereits erwähnten Lebenslauf folgendes: “Anfänglich zwischen Mathematik, Chemie und Mineralogie schwankend, habe ich mich seit 1861 ausschließlich mit dem Studium der ersteren Wissenschaft beschäftigt und zwar vorzugsweise mit der sogenannten reinen Mathematik, wenngleich die theoretische Physik nicht ganz vernachlässigt worden ist. Immatriculirt war ich nur von Michaelis 1857 bis Ostern 1861. Ich bestand im December 1860 das Doctorexamen in Heidelberg und habe später die Collegien besucht, ohne inscribirt zu sein. Seit dem Herbst 1865 bin ich nach Leipzig zurückgekehrt”. Bereits in Göttingen hatten ihn die Vorlesungen von MORITZ STERN (18071894) über Mathematik in ihren Bann gezogen, aber es war doch erst in Heidelberg gewesen, wo er sich endgültig für die Mathematik entschied. Hier hat er die Grundvorlesungen wie die Differential- und Integralrechnung und Analytische Geometrie der Ebene sowie des Raumes bei MORITZ CANTOR (18291920) und vor allem bei OTTO HESSE (1811-1874) gehört. Das Arbeitsgebiet des letzteren war vor allem die analytische Geometrie gewesen, über die er damals seine bekannten Lehrbücher schrieb (1861, 1865), und an den Korrekturen der Analytischen Geometrie des Raumes, die 1861 in Leipzig erschien, hat sich auch MAYER beteiligte. Schließlich wurde er am 12. 12. 1860 mit einer Prüfung promoviert, deren Durchführung der Dekan HESSE der Fakultät mit den Worten empfahl: “Seine Fächer sind Mathematik, Chemie, Mineralogie. Ich kenne den Candidaten als einen fleißigen und strebsamen jungen Mann und kann ihn der Facultät bestens empfehlen.”366 Das Doktordiplom der Heidelberger Universität ist am 14. 12. 1860 ausgestellt und mit dem Prädikat “summa cum laude” versehen worden.367 Nach
366. Universitätsarchiv Heidelberg, Promotionsakten Mayer. 367. aaO. – Es ist überraschend, daß Mayer lediglich durch eine Prüfung promoviert wurde, aber das ist offenbar eine Besonderheit Doktorvaters Hesses gewesen, denn andere Doktoranden legten seinerzeit Dissertationen vor.
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seiner Promotion war sich MAYER offenbar nicht ganz schlüssig, wie es weitergehen sollte. Er blieb zunächst für ein Semester in Leipzig, wandte sich für ein weiteres Semester abermals nach Heidelberg und entschloß sich schließlich, im Herbst 1862 nach Königsberg zu wechseln. Die letzte Entscheidung ging gewiß auch auf Anregung seines Lehrers HESSE zurück, der aus Königsberg gekommen war und dort 16 Jahre gewirkt hatte, ehe er nach einem zweisemestrigen Zwischenaufenthalt in Halle 1856 nach Heidelberg wechselte. Königsberg in Ostpreußen war damals eine Hochburg der mathematischen Wissenschaften in Deutschland, und in dem anregenden Kreis des mathematisch-physikalischen Seminars von FRANZ NEUMANN (1798-1895) verbrachte MAYER sechs Semester; bei NEUMANN selbst hat er etwa ein halbes Dutzend Vorlesungen gehört, beispielsweise über Potentialtheorie oder über physikalische Gegenstände wie Optik oder Elektrizitätslehre. Ebenfalls war er auch unter den Hörern FRIEDRICH RICHELOTS (1808-1875), der ein Schüler des berühmten Mathematikers CARL GUSTAV JACOBI gewesen war. Es gibt fast ein Dutzend Vorlesungsausarbeitungen MAYERS von RICHELOTS Vorlesungen, die zeigen, daß MAYER bei RICHELOT insbesondere Themen der höheren Analysis wie elliptische Funktionen oder totale und partielle Differentialgleichungen gehört hat. RICHELOT trug im WS 1864/65 und im SS 1865 auch über Variationsrechnung vor, und die schwierige Vorlesung wies offene und unklare Stellen auf. MAYER hatte zwar schon in Heidelberg im WS 1859/60 bei HESSE Variationsrechnung gehört, aber es waren diese Darlegungen RICHELOTS, die MAYER zu seiner Habilitationsschrift Beiträge zur Theorie der Maxima und Minima einfacher Integrale anregten, mit der er sich auf dem Gebiet der Variationsrechnung 1866 an der Universität Leipzig habilitierte. Nach einem Probevortrag über das Prinzip des kleinsten Zwanges (15. 8. 1866), ein Thema, für das MAYER zeitlebens eine Vorliebe gehegt hat, wurde ihm die venia legendi für Mathematik erteilt und am 4. 12. 1866 die Habilitationsurkunde ausgehändigt. In dem Gutachten von WILHELM SCHEIBNER (1826-1908) vom 26.7.1866 wurde festgestellt, daß der Autor bei der Behandlung des komplizierten Stoffes “einen Schritt vorwärts gekommen ist”, obwohl noch einiges offen geblieben sei. SCHEIBNER schrieb u.a.: “Der Verfasser der zur Begutachtung vorgelegten Arbeit über die Kriterien der Maxima und Minima des einfachen Integrals in dem Problem der Variationsrechnung hat seine Kräfte mit günstigem Erfolge an einer Aufgabe versucht, welche seit Jacobi zu vielfachen Untersuchungen Anlaß gegeben hat. […] Dabei findet er Gelegenheit, seine Bekanntschaft mit den neueren Forschungen der Mathematik in der Theorie der Differentialgleichungen, im Determinantencalcul und in der Dynamik vielfältig zu documentieren.”368
368. Personalakte Mayer im Universitätsarchiv Leipzig.
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Die erwähnte Bekanntschaft MAYERs mit der neueren Forschung geht vornehmlich auf seine Königsberger Studien zurück, da man dort dieses Jacobische Erbe pflegte und fortentwickelte. MAYERS Schüler GERHARD KOWALEWSKI bemerkte hierüber 1950 in seinen Memoiren Bestand und Wandel: “Dann hatte er in Königsberg die analytische Mechanik im Jacobischen Sinne gründlich gelernt. In Jacobis wunderbaren Buch über Dynamik, das Clebsch aus dem Nachlaß herausgab, war er vollkommen zu Hause. […] Ebenso war schon in Königsberg seine Liebe zur Variationsrechnung entstanden. […] In Adolph Mayer steckte viel Tradition.”369 Es ist interessant, die Wertschätzung der Jacobischen Dynamik mit der des aus Königsberg kommenden HILBERT zu vergleichen, der folgendes über diese Buch schrieb: “Wenn ich aus der klassischen Periode der Math.[ematik] eine einzelne wiss.[enschaftliche] Publikation als Herzstück herausgreifen soll, so wäre ich nicht im Zweifel Jacobi Dynamik. Wenn man heute die Hauptth.[eoreme] der Analysis aufzählt und die Fäden zurückverfolgt, so münden sie dort: Theorie der partielle Differentialgleichungen, Variationsrechnung, Lies Theorien, Abelsche Theorie und Integration gewöhnlicher linearer Differentialgleichungen etc.”370 Im Dezember 1871 wurde MAYER zum außerordentliche Professor berufen, und seine Antrittsvorlesung betraf ein Thema aus der Prinzipienmechanik Die Geschichte des mechanischen Princips der kleinsten Action. In der Stellungnahme der Fakultät vom 2.12.1871 in der Berufungsangelegenheit ADOLPH MAYER, unterzeichnet von CARL NEUMANN (1832-1925), wurde auf MAYERS regelmäßige Vorlesungen über verschiedene Teile der Mathematik und deren steigenden Erfolg sowie deren gutes Niveau hingewiesen, was “nicht unwesentlich zur Belebung und Förderung des hiesigen Mathematischen Studiums beigetragen”371 habe. Um 1880 besuchten durchschnittlich immerhin 60 bis 70 Hörer MAYERs Vorlesungen. Die Stellungnahme kam jedoch um ein Dilemma nicht herum, das auch heute im Wissenschaftsbetrieb prekär ist und zu dem sprichwörtlichen Ratschlag publish or perish geführt hat: die Publikationsliste ADOLPH MAYERs umfaßte 1871 nur fünf Titel. Bereits DROBISCH hatte dem Habilitationsgesuch MAYERS am 13.6.1866 die Bemerkung angefügt, daß MAYER sich sehr einseitig ausgebildet habe, was heute wohl erforderlich sei. Die Fakultät führte deshalb aus “Die Publicationsliste weist kein größeres Werk aus, aber auch Jacobi, Dirichlet oder Riemann wurden ohne diese Professor, … [man sollte das] also
369. München, Oldenburg, 1950, S. 47 f. 370. Cod. Ms. D. Hilbert 657, 33. Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung. Auch A. Kneser zählte Jacobis Dynamik zu seinen Lieblingsbüchern. 371. Personalakte Mayer im Universitätsarchiv Leipzig.
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nicht zur conditio sine qua non [unerläßlichen Bedingung] für Beförderung machen.”372 Das Kultusministerium in Dresden war hierdurch überzeugt worden und stimmte bereits am 12.12.1871 der Berufung ADOLPH MAYERS zu. Im März 1881 wurde MAYER ordentlicher (Honorar) Professor, im Juli 1890 wurde er schließlich zum ordentlichen Professor ernannt (7.7.1890). Dem zehn Jahre auf die Ernennung zum a.o. Professor folgenden Berufungsantrag konnte die Fakultät im Hinblick auf MAYERs Publikationen jetzt mit den Worten begleiten, daß MAYER den “Ruf eines gründlichen und scharfsinnigen Forschers nicht nur in Deutschland, auch in Frankreich und Italien und überall, wo Mathematik einigermaßen cultivirt wird,”373 habe und auf seinen Arbeitsgebieten eine “Autorität ersten Ranges” sei. Arbeitsgebiete MAYERs waren vor allem die Theorie der Extrema, die Variationsrechnung und die analytische Mechanik, und die diesbezüglichen knapp 40 Arbeiten sind fast ausschließlich in den Leipziger Berichten oder in den Mathematischen Annalen veröffentlicht worden. ADOLPH MAYER war schließlich Mitglied verschiedener wissenschaftlicher Gesellschaften: der Leipziger, Göttinger und Turiner Akademien sowie der Leopoldina in Halle. Ergänzen wir abschließend das Bild des Spezialisten ADOLPH MAYERs noch durch eine Einschätzung FELIX KLEINS, der in seinen Vorlesungen über die Entwicklung der Mathematik im 19. Jahrhundert auch auf MAYER zu sprechen kam: “Eine Fülle von sehr merkwürdigen und tiefgreifenden Sätzen werden von Jacobi im Verfolg dieser Untersuchungen [seiner Integrationstheorie partieller Hamiltonscher Differentialgleichungen] gefunden; […] Den Höhepunkt fand diese sich an Poisson anlehnende Entwicklung der Mechanik […] über Jacobis Untersuchung hinausgehend anfangs der 70er Jahre in den Arbeiten von Lie und Adolph Mayer. In analytische Allgemeinheit emporgehoben, haben alle diese Resultate zugleich Geltung für die Variationsrechnung einfacher Integrale usw., auf der anderen Seite für partielle Differentialgleichungen erster Ordnung schlechthin. In dieser fortwährenden Beziehung zu zwei großen selbständigen Gebieten der Analysis liegt der mathematische Reiz dieser Darstellung der mechanischen Tatsachen.”374 Am 1.4.1900 wurde ADOLPH MAYER im Alter von 61 Jahren aufgrund seines Ansuchens vom 2.11.1899 dauernd vom Dienst beurlaubt sowie von seinen Ämtern entbunden. Der Grund war der angegriffene Gesundheitszustand MAYERs. Der Status eines “ruhenden Professors” der Mathematik erlaubte es ihm
372. aaO. 373. aaO. 374. Teil 1, Berlin, Springer, 1926, S. 206 f.
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jedoch nach Belieben, Vorlesungen zu halten. MAYER hat es freilich nur kurze Zeit mit der wissenschaftlichen Forschung allein ausgehalten, sondern er nahm bald danach wieder die Vorlesungen und zugehörigen Übungen auf und las im WS 1902/03 über Variationsrechnung. Zu Beginn des Jahres 1908 war MAYER indessen aus gesundheitlichen Gründen gezwungen, seine Lehrtätigkeit einzustellen. Er brach seine letzte Vorlesung über Variationsrechnung ab und versuchte in Südtirol, unweit von Bozen (heute Bolzano), Heilung zu finden. MAYER ist dort am 11. April 1908 um “7 Uhr früh nach längeren Leiden in Gries […] in seinem 70. Jahre sanft entschlafen”375. Nur drei Tage zuvor, am 8. 4. 1908, war MAYERS langjähriger Leipziger Kollege WILHELM SCHEIBNER gestorben, und auf der akademischen Trauerfeier für den Senatssenior SCHEIBNER erreichte die Nachricht vom Ableben MAYERS die Universitätsangehörigen. Am Gründonnerstag des Jahres 1908 wurde dann ADOLPH MAYER in Leipzig zu Grabe getragen. MAYERS Schüler GERHARD KOWALEWSKI schilderte in seiner bereits erwähnten Autobiographie plastisch die Vortragsstile seiner Leipziger Lehrer, darunter auch den MAYERS: “Mayers Vortrag war ganz anders als der von Carl Neumann. Er hatte ein hohes wissenschaftliches Niveau. Außerdem strebte er eine gewisse Vollständigkeit an, brachte viele Literaturhinweise, sogar bis in die neueste Zeit […] MAYER war immer ausgezeichnet vorbereitet und hatte eine wunderbare Beredsamkeit. Er ging so schnell vor, daß in jeder Stunde eine große Menge Stoff behandelt wurde. Nie versprach er sich trotz des raschen Tempos und nie verrechnete er sich […] Auch war seine Vortragsweise ganz im Stile Richelots [seines Lehrers aus Königsberg], wie er selbst mir gelegentlich sagte.”376 ADOLPH MAYERs Leipziger Kollege OTTO HÖLDER schätzte MAYERS wissenschaftliche Tätigkeit so ein: “Überblicken wir Adolph MAYERs wissenschaftliche Lebensarbeit, so bietet sich ein überaus einheitliches und zugleich reiches Bild dar. Er hat drei nahe zusammenhängende und doch weite Felder der Wissenschaft mit großem Erfolg bebaut. Arbeiten anderer auf diesen Gebieten hat er genau verfolgt und vielfach eigene Untersuchungen an sie angeknüpft. Es lag in seiner Natur, daß er nur bei der gewissenhaftesten Durchführung seiner Arbeiten Befriedigung empfand, und so hat er stets von Anfang an nach Exaktheit und Vollständigkeit gestrebt. War er von einer mehr formal eleganten analytischen Richtung ausgegangen, so entwickelte er sich nach der strengen Seite hin, indem er mehr und mehr dazu kam, Annahmen, die er früher ohne weiteres zugelassen hatte, zu beweisen. Er war aber nicht geneigt, durch solche Anforderungen der Strenge sich zu sehr aufhalten zu lassen; nicht überall ging er auf die Grund-
375. Todesanzeige Mayer, Institut Mittag-Leffler. 376. Bestand und Wandel, München, Oldenbourg, 1950, 47.
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lagen der Analysis zurück[,] und er hat öfters ausgesprochen, daß Annahmen nichts schaden, wenn sie nicht stillschweigend gemacht werden. Fand er an einer Arbeit etwas zu verbessern, so hob er ausdrücklich hervor, was ihm an seinem früheren Standpunkt nicht mehr genügte. Seinem aufrichtigen und bescheidenen Charakter wurde dieses Zugeständnis nicht schwer.”377 Mit den drei Feldern sind die Variationsrechnung, die gewöhnlichen und partiellen Differentialgleichungen sowie die analytische Mechanik gemeint, die alle drei als Teilgebiete der Disziplin Analysis eng in sich verwoben sind. Auf natürliche Weise lassen sich die mechanischen Probleme als Variationsaufgaben darstellen, die wiederum in engem Zusammenhang mit gewöhnlichen oder partiellen Differentialgleichungen stehen. Die Variationsrechnung galt im 19. Jahrhundert als eine der schwierigsten und abstraktesten mathematischen Theorien. Vom heutigen Standpunkt würde man diese Einschätzung so nicht mehr teilen, sondern die Schwierigkeiten der damaligen Mathematiker mit dieser Disziplin eher darin sehen, daß hier verschiedene mathematische Gebiete wie etwa Differentialgleichungen oder Differentialgeometrie, aber auch physikalische Disziplinen wie Mechanik oder Optik ineinander flossen, was erforderte, daß man eigentlich zugleich in mehreren Arbeitsgebieten an vorderster Front zu stehen hatte. Zudem waren die Grundlagen der Variationsrechnung ebenso wie die der Analysis schlechthin noch nicht so fest gegründet, wie das paradigmatisch in der Geometrie gelungen war. Die Vertrautheit MAYERS mit neuer mathematischer Literatur seines Fachgebietes führte dazu, daß er ein englisch publiziertes Lehrbuch über Variationsrechnung (Lectures on the Calculus of Variations, Chicago 1904) von OSKAR BOLZA (1847-1942) dem Teubner-Verlag in Leipzig zur Übersetzung vorschlug, und aus diesem Vorhaben entwickelte sich schließlich eine vielfach erweiterte deutsche Ausgabe (Vorlesungen über Variationsrechnung, Leipzig 1909), die in meisterhafter Weise das damalige Wissen der Variationsrechnung zusammenfaßte und auch historisch reflektierte. Um MAYERS Literaturkenntnis zu belegen, soll eine weitere Stelle aus der Autobiographie seines Schüler KOWALEWSKI zitiert werden: “Nicht alle Ordinarien sind so wie unser Leipziger Adolph Mayer bemüht gewesen, auch die neuere Literatur zu berücksichtigen […] Wie oft kam in seinen Vorlesungen die Bemerkung vor: ‘Im letzten Heft der mathematischen Annalen ist eine Abhandlung von Herrn X erschienen, die sich mit einem Problem beschäftigt, das in den Gedankenkreis unserer letzten Vorlesungsstunde fällt’. Dann folgte ein wunderbar klares Referat über die zitierte Abhandlung. Dabei war Mayer damals [nach 1895] schon ziemlich alt, und gerade ältere Professoren pflegen sich ängstlich an ihr manchmal recht veraltetes Kollegheft
377. Leipziger Berichte, 60 (1908), 355-377, Zitat S. 371 f.
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zu halten. Mayer hatte auch sorgfältig geführte Kolleghefte, die er aber fortlaufend ergänzte.”378 Wenden wir uns nun dem wissenschaftlichen Werk ADOLPH MAYERS aus historischer Sicht zu. Wir können dabei keinen besseren Übergang von der Vita MAYERS zum Werk finden, als dessen eigene Worte aus der Antrittsvorlesung von 1871: “Soviel Anregung und Interesse wir auch aus den Biographien grosser Männer der Wissenschaft schöpfen können, so ist es doch fast noch lehrreicher, zu verfolgen, in welcher Weise eine wichtige Theorie, ein bedeutender Satz entstanden ist und im Laufe der Zeiten sich entwickelt und umgebildet hat.”379 5.11.3 Mayers Arbeiten zur Variationsrechnung Zu MAYERS Lebenszeit befand sich das mathematische Zentrum Deutschlands in Berlin, später auch in Göttingen. MAYER kam aber nicht aus der Berliner Mathematik, zu der er keine näheren Kontakte hatte. Hingegen waren seine langjährigen engeren Fachkollegen in Leipzig CARL NEUMANN und WILHELM SCHEIBNER (1826-1908) sowie zeitweilig SOPHUS LIE (1842-1899), dem 1899 OTTO HÖLDER (1859-1937) nachfolgte.380 Trotz seiner geschätzten Lehr- und Forschungstätigkeit brachte MAYER keine eigene Schule hervor, und man kann durchaus feststellen, daß er in der Variationsrechnung isoliert gearbeitet hat. Allerdings ist die immer wieder kolportierte Feststellung, MAYER habe “lediglich für 24 Stunden … einmal eine Nachschrift zu Weierstraß’ Vorlesungen zur Verfügung”381 gehabt, schlicht eine Legende, die unverständlicherweise HEINRICH LIEBMANN (1874-1939) mit seinem Nachruf auf MAYER ins Leben gesetzt hat.382 In dem in Leipzig aufbewahrten Nachlaß von A. MAYER, den HEINRICH LIEBMANN selbst (!) für das Mathematische Institut übernommen hatte, befindet sich eine eigenhändige Abschrift MAYERS der entscheidenden Weierstraßschen Vorlesung über Variationsrechnung von 1879 in der bekannten Ausarbeitung des Berliner Mathematischen Vereins, in die MAYER ergänzend Bemerkungen von O. HÖLDER
378. Bestand und Wandel, München, Oldenbourg, 1950, S. 105 f. 379. Die Geschichte des mechanischen Princips der kleinsten Action, Leipzig, Veit und Co, 1877, 3. 380. Carl Gottfried Neumann, 1868-1911, Professor in Leipzig; 1868 Gründer und Herausgeber der Mathematischen Annalen; Wilhelm Scheibner, seit 1867 Professor in Leipzig; Otto Hölder, 1899-1928 Professor in Leipzig, las auch über Variationsrechnung; Sophus Lie, 1886 Nachfolger von Klein in Leipzig, 1898 Rückkehr nach Norwegen. 381. R. Klötzler, “Adolph Mayer und die Variationsrechnung”, 100 Jahre Mathematisches Seminar der Karl-Marx-Universität Leipzig, Berlin, Deutscher Verlag der Wissenschaften, 1981, 102–110, 108. 382. Jahresberichte der DMV, (1908), 355–362. Mit Werkverzeichnis.
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eingetragen hat, der seine eigene Mitschrift dieser Vorlesung von 1879 dem Leipziger Kollegen offenbar zur Verfügung gestellte hatte. MAYER hat knapp 40 Arbeiten über gewöhnliche und partielle Differentialgleichungen, Variationsrechnung und Mechanik geschrieben. Der Berufungsantrag zum ordentlichen Professor durch die Leipziger Fakultät wurde von den bereits erwähnten und berechtigten Worten begleitet, daß MAYER den “Ruf eines gründlichen und scharfsinnigen Forschers nicht nur in Deutschland, auch in Frankreich und Italien und überall, wo Mathematik einigermaßen cultivirt wird”, hat und daß er auf seinem Arbeitsgebiet “eine Autorität ersten Ranges” ist.383 In der Bibliothek des Mathematischen Instituts in Leipzig befindet sich ein umfangreicher mathematischer Nachlaß von 120 Kollegheften und 30 Vorlesungsausarbeitungen, darunter 22 Kolleghefte zu Vorlesungen über Variationsrechnung. Allerdings sind diese Quellen für unser Thema nicht von Bedeutung, denn die Durchsicht der Ausarbeitung einer Mayerschen Vorlesung über Variationsrechnung aus dem WS 1902 durch E. GEINITZ zeigt ein für MAYER erstaunliches Ergebnis: obwohl MAYER in seinen Vorlesungen durchgängig auf neueste Ergebnisse einging oder sie zumindest erwähnte, fehlen in dieser Vorlesung entsprechende Passagen über unsere einschlägigen Begriffe (Feldbegriff, Hilbertsche Unabhängigkeitsintegral). Wie sehr aber MAYER die Entwicklungen auf seinen Fachgebieten verfolgte, obwohl er sich seit 1900 aus gesundheitlichen Gründen aus der Lehre zurückziehen mußte, zeigen sowohl seine 1903 und 1905 verfaßten wichtigen Arbeiten384 als auch seine erfolgreichen Bemühungen, OSKAR BOLZAS Lectures on the calculus of variations (1904) in einer deutsche Ausgabe erscheinen zu lassen. Da BOLZA eine umfangreiche Erweiterung für die deutschen Übersetzung vorgenommen hatte, wodurch das Buch erst 1909 veröffentlicht wurde, erlebte MAYER das Erscheinen dieses Klassikers der Variationsrechnung nicht mehr. Unter den bei ADOLPH MAYER angefertigten Dissertationen befindet sich übrigens auch eine historische, nämlich die Geschichte des isoperimetrischen Problems (1888) von LUDWIG ANTON (1868-?).385 KLÖTZLER hat MAYERS Beiträge zur Variationsrechnung in drei Themenkreise gegliedert, die sich alle auf Lagrange-Probleme beziehen:386
383. Zitate aus der Personalakte Mayer, Universitätsarchiv Leipzig. 384. “Über den Hilbertschen Unabhängigkeitssatz in der Theorie des Maximums und Minimums der einfachen Integrale”, Leipziger Berichte, 55 (1903), 131-145, 62 (1905), 49-67, 313314; auch in: Mathematische Annalen, 58 (1904), 235-248, 62 (1906), 335-350. 385. L. Anton, Geschichte des isoperimetrischen Problems. Eine geschichtliche Darstellung der Variationsrechnung von Bernoulli bis Lagrange, Dresden, Lehmannsche Buchdruckerei, 1888. 386. R. Klötzler, “Adolph Mayer und die Variationsrechnung”, 100 Jahre Mathematisches Seminar der Karl-Marx-Universität Leipzig, Berlin, Deutscher Verlag der Wissenschaften, 1981, 104.
UNABHÄNGIGKEITSINTEGRAL UND MAYERFELDER
527
a) Die Reduktion der zweiten Variation einfacher Integrale auf eine Normalform mit dem Ziel, hieraus notwendige und hinreichende Bedingungen für Extremalität zu gewinnen; b) Begründung der Euler-Lagrangeschen Multiplikatorregel; c) Erweiterung des Hilbertschen Unabhängigkeitsintegrals auf LagrangeProbleme. Der erste Themenkreis ist der, den auch GOLDSTINE im Auge hatte (History, pp. 269-282) und der teilweise durch Weierstraßsche Resultate überholt ist. KLÖTZLER führte dabei einige aus heutiger Sicht nicht mehr strenge Schlüsse vor bzw. wies auf Lücken in den Argumentationen hin (z.B. der Fall identisch verschwindender Mayer-Determinante), hob aber im Gegenzug “die glückliche Idee der Einführung” einer Determinante (Mayer-Determinante) bei der Verallgemeinerung des Jacobischen Kriteriums auf mehrere Funktionen sowie Nebenbedingungen hervor (S. 105) und wies darauf hin, daß Mayers Beiträge aus dem ersten Themenkreis noch heute in der Kontrolltheorie Beachtung finden (z.B. Mayers Reziprozitätsgesetz, S. 107). Die Begründung der Multiplikatorenregel liegt außerhalb unseres Interesses, aber es soll doch erwähnt werden, daß Mayer bei der Begründung derselben Fortschritte erzielte, da er zwar einen Lagrangeschen Fehlschluß im Hinblick auf unterstellte Variierbarkeit aufdeckte, selbst aber die Existenz zulässiger Vergleichsfunktionen unterstellte (S. 107). Er lieferte auch Resultate, die erst wieder in der Optimierungstheorie in den Kuhn-Tucker-Bedingungen beachtet wurden. Schließlich führte er durch einen Trick Nebenbedingungen in Form einer Ungleichung in solche mit Gleichungsform über (S. 108). Auf MAYERS Feldbegriff gehen wir im nächsten Abschnitt ein, und die Feldkonstruktion selbst wird im Abschnitt 6. erörtert. 5.11.4 Mayers Beitrag zur Feldtheorie (Mayer-Felder) MAYER hat nicht nur die Bedeutung des Hilbertschen Unabhängigkeitsintegrals sofort erfaßt, sondern er hat trotz seines bereits angegriffenen Gesundheitszustandes 1903 und 1905 noch drei wichtige Arbeiten387 zu dieser Thematik verfaßt, die seine letzten mathematischen Publikationen waren. In unserem Zusammenhang ist es wichtig, daß er hierbei mit speziellen Extremalenscharen einen Feldbegriff herausgearbeitet hat, für den sowohl HILBERTS Unabhängigkeitssatz gilt als auch eine zu den Extremalen transversale Schar existiert.388 Solche Felder, die man im angelsächsischen Raum als Mayer field
387. Siehe vorangehende Fußnote und 384. 388. Vgl. R. Thiele, “Adolph Mayer”, in R. Groß, G. Wiemers (Hrg.), Lebensbilder sächsischer Gelehrter, Bd. 4, Leipzig/Stuttgart, Sächs, Akademie d. Wissenschaften/Steiner, 1999, 211-227, insbesondere S. 222 ff.
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KAPITEL 5
bezeichnet (auf BOLZA zurückgehend389), gewährleisten den grundlegenden Weierstraßschen Darstellungssatz. Um die Weierstraßsche Darstellungsformel zur Verfügung zu haben, bedarf man also eines Extremalenfeldes. Die Lösungen der zum Problem gehörigen Eulerschen Differentialgleichungen bilden bei n gesuchten Funktionen einer Veränderlichen eine 2n-parametrige Schar. Für das Feld wird jedoch lediglich eine n-parametrige Schar benötigt, und MAYER charakterisierte diese spezielle Schar von Integralkurven (die sogenannte Mayerschar), die ein Feld bilden (das Mayerfeld). DAVID HILBERT sowie ihm folgend MAX MASON und GILBERT BLISS (1908) hatten diese ausgezeichnete Schar indirekt durch die Wegunabhängigkeit des invarianten Integrals gekennzeichnet. In dieser Weise war bereits im Jahre 1902 NADESCHDA GERNET in ihrer bei HILBERT angefertigten Dissertation Untersuchungen zur Variationsrechnung. Über eine neue Methode in der Variationsrechnung für n = 2 vorgegangen. Für zwei gesuchte Funktionen ohne und mit einer Nebenbedingung konstruierte sie erstmals ein “Mayerfeld”, indem sie HILBERTS Gedankengänge entsprechend erweiterte. Dabei konstruierte GERNET jedoch nur ein spezielles Mayerfeld, nämlich ein zentrales Extremalenfeld, dessen Feldkurven alle von einem Punkt ausgehen und dann ein gewisses Gebiet schlicht überdecken (und dessen Gefällefunktionen p(x, y, z) und q(x, y, z) dort überdies die entsprechende partiellen Differentialgleichungen erfüllen und somit das Hilbertsche Integral wegunabhängig machen). MAYERS Untersuchungen lagen zu dieser Zeit in Göttingen noch nicht vor, sie waren also insbesondere der GERNET unbekannt. Benutzt man jedoch, wie MAYER, den Zusammenhang von Eulerschen Differentialgleichungen und Hamilton-Jacobischer partieller Differentialgleichung Sx + H(x, y, Sy) = 0,
(H ist die zum Integranden f gehörige Hamiltonfunktion), so lassen sich über die Integrabilitätsbedingungen S y y ( x, y ) = S y y ( x, y ) , i j
j i
(i, j, = 1, …, n),
der Lösungen S(x, y) ∈ C2 die Bedingungen für ein Mayerfeld in einem Gebiet G des x,y-Raumes in der Form der Lagrangeschen Klammern angeben, und diese Bedingungen sind nicht mehr auf die speziellen zentralen Felder beschränkt. Geometrisch besagen für eine Extremalenschar yi = ϕ (x, a1,…,aν) die Klammerbedingungen (Summationsvereinbarung) ∂ϕ i ∂F p ∂ϕ i ∂F p [α , β ] = --------- ----------i – -------- ----------i = 0, ∂a α ∂a β ∂a β ∂a α
(α, β = 1, … ν),
389. “Mayerian set of extremals” in den Transactions of the AMS, 7 (1906), 459–488, 481.
UNABHÄNGIGKEITSINTEGRAL UND MAYERFELDER
529
daß diese Extremalenschar y = ϕ(x, a) nicht nur ein gewisses Gebiet G schlicht überdeckt (d.h. dort ϕa(x, a) ≠ 0 erfüllt), sondern daß in G auch eine weitere Schar existiert, die die Extremalen transversal schneidet. Diese transversale Schar ergibt sich aus den Niveauflächen der Lösungen der Hamilton-Jacobischen Differentialgleichung S(x, y) = λ, was die Verbindung zur HamiltonJacobi Theorie plausibel macht. Für n = 1 sind die Klammern gegenstandslos, d.h. im Kleinen ist unter geeigneten Voraussetzungen jedes Extremalenfeld ein Mayerfeld und besitzt demzufolge eine transversale Schar. Gleiches gilt auch bei Variationsproblemen für eine gesuchte Funktion mit mehreren Variablen (Kodimension 1). Gerade diese ausgezeichneten Fälle hatte HILBERT in seinem Pariser Vortrag 1900 als Beispiele für Felder genannt, und wegen ihrer Einfachheit wurden sie in der Folge mehrfach untersucht (OSGOOD 1901, BOLZA 1904, BLISS 1904). Für den allgemeinen Fall sind jedoch neue Konzepte erforderlich, die sowohl MAYER (1903, 1905) als auch später HILBERT (1905) lieferten. HILBERT charakterisierte – wie gesagt – die ausgezeichneten Extremalenscharen implizit über sein Unabhängigkeitsintegral, während MAYER mittels der Integrabilitätsbedingungen analytische Bedingungen erhielt; bei A. KNESER spielten geometrische Gesichtspunkte eine wichtige Rolle.
Abb. 5.8. Eine optische Veranschaulichung des Mayerschen Ausgangspunkts, Lösungen der Eulerschen Gleichungen (Lichtstrahlen) mit denen der Hamilton-Jacobische Differentialgleichung (Wellenflächen) in Verbindung zu setzen.
5.11.5 Das allgemeinste Problem der Variationsrechnung (Mayer- und Bolza-Probleme) Nach einer Phase der Stagnation nahm in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das Interesse an der Variationsrechnung wieder zu. ADOLPH MAYER zählte zu jenen Mathematikern,390 die in dieser Zeit die Formulierung eines allgemeinen Problems der Variationsrechnung für einfaches Integral mit variablen Endpunkten anstrebten, allerdings wie MAYER vermerkte: “Es handelt 390. Man könnte auch Rudolf Clebsch nennen; z.B. “Ueber diejenigen Probleme der Variationsrechnung, welche nur eine unabahängige Variable enthalten”, Journal für die reine und angewandte Mathematik, 55 (1858), 335-355.
530
KAPITEL 5
sich selbstverständlich immer nur um solche Probleme, auf welche die allgemeinen Methoden der Variationsrechnung anwendbar sind.”391 Damit “hat doch auch das allgemeine Problem und vor allem die Frage eigenes Interesse, ob denn auch seine Lösungen nothwendig den Lagrange’schen Differentialgleichungen genügen müssen”.392 Unter diesen Gesichtspunkten behandelte MAYER eine Aufgabe, mit der sich nach seinen Angaben bereits JACOBI in seinen Königsberger Vorlesungen beschäftigt habe: “Gegeben sind zwischen der unabhängigen Variabeln x und den n unbekannten Functionen y1, y2, …, yn m Differentialgleichungen 1. O.[rdnung] (m < n) .
(1) ϕ1 = 0, ϕ2 = 0, … , ϕm = 0,
Es handelt sich darum, diese Functionen so zu bestimmen, dass während den Functionen y2, … , yn für zwei gegebene Werthe x0 und x1 (> x0) von x gegebene Werthe vorgeschrieben sind, die Function y1 für x = x0 einen gegebenen Werth erhalte und für x = x1 ein Maximum oder Minimum werde.”393 Diese Aufgabe umfaßt, wie MAYER selbst bemerkte, das sogenannte Lagrange-Problem, d.h. ein Variationsproblem für n gesuchte Funktionen einer Variablen V=
x1
∫x
f ( x , y 1, …, y n, y 1', …, y n' ) dx
0
mit r gewöhnlichen Differentialgleichungen erster Ordnung ϕ1 = 0, ϕ2 = 0, …, ϕm = 0
(r < n),
was sich aus dem Hinzufügen der Differentialgleichung ϕ0' – f = 0
(bzw. ϕ0(x) =
x1
∫x
f dx )
0
mit der Anfangsbedingung ϕ0 (x0) = 0 ergibt. Wenn man auf die fest vorgegebenen Randwerte verzichtet, wird offensichtlich das Mayersche Problem ein Lagrangesches. Während MAYER in seiner Arbeit von 1878 die Existenz zuge-
391. “Über das allgemeinste Problem der Variationsrechnung bei einer einzigen unabhängigen Variabeln”, Leipziger Berichte, 1878, 16-32, Zitat S. 16. 392. “Ueber die Lagrange’sche Multiplicatorenmethode und das allgemeinste Problem der Variationsrechnung bei einer unabhängigen Variabeln”, Leipziger Berichte, 1895, 129-144, Zitat S. 131”. 393. “Über das allgemeinste Problem der Variationsrechnung bei einer einzigen unabhängigen Variabeln”, Leipziger Berichte, 1878, 16-32, Zitat S. 17. Bliss führt diesen Problemtyp bis auf Arbeiten von Euler und Lagrange zurück; nach Hestenes (in “The problem of Bolza in the calculus of variations”, Bulletin of the AMS, 48 (1942), 57-75, Angabe S. 57), findet sich eine solche Aussage auch bei Carathéodory in dessen Monographie Variationsrechnung und partielle Differentialgleichungen erster Ordnung (Leipzig, B.G. Teubner, 1935, 347).
UNABHÄNGIGKEITSINTEGRAL UND MAYERFELDER
531
höriger Lagrangescher Multiplikatoren noch als selbstverständlich angenommen hatte, wird diese Frage in der Arbeit von 1895 untersucht.394 Wir lesen bei BOLZA über das sogenannte allgemeinste Problem der Variationsrechnung, wie man seinerzeit die heute als Mayer-Problem bekannte Aufgabe gern nannte: Hilbert’s theory has recently been extended by A. Mayer to the so-called most general case of an extremum of a simple definite integral, in which it is required to minimize an integral of the form x2
J =
∫ f ( x, y1, …, yn ;y1', …, yn' ) dx , x1
involving n unknown functions y1, … , yn of x and their first derivatives y1', …, yn', connected by r < n differential equations f p ( x, y1, …, y n ;y 1', …, y n' ) = 0 ,
( ρ = 1, 2, …, r ) .
Mayer finds the remarkable result that for n > 1 not all, but only a certain class of n-parametric sets of extremals [Mayer fields], furnish solutions of Hilbert’s problem [to determine the function p that the integrand in Hilbert’s integral is a complete differential], and derives from his results a proof of Weierstrass’ theorem by means of Hilbert’s invariant integral.395 Aus dieser Sicht lassen sich Mayer-Probleme auch als Lagrange-Probleme auffassen, für die die Grundfunktion f die totale Ableitung einer hinreichend oft stetig differenzierbaren Funktion V = V(x, yi) bzw. f = Vx + Vyi yi'(x) ist (Summationsabkommen).396 In der Arbeit Über den anormalen Fall beim Lagrangeschen und Mayerschen Problem mit gemischten Bedingungen und variablen Endpunkten397 formulierte BOLZA schließlich das allgemeinste Variationsproblem für ein einfaches Integral, das so lautet: J(y, x1, x2) = G(x1, y(x1), x2, y(x2)) +
x1
∫x
f ( x , y 1, …, y n, y 1', …, y n' ) dx → extremum
0
für alle Vergleichskurven, die sowohl m Differentialgleichungen f p ( x, y1, …, y n ;y 1', …, y n' ) = 0 ,
( ρ = 1, 2, …, m < n )
als auch p Randwertbedingungen 394. Siehe die vorangehenden Fußnoten, in der Arbeit von 1895 insbesondere S. 130. 395. “Weierstrass’s theorem and Kneser’s theorem on transversals for the most general case of an extremum of a simple definite integral”, Transactions of the AMS, 7 (1906), 459–488. 396. Z.B. Carathéodory, Variationsrechnung und partielle Differentialgleichungen erster Ordnung, Leipzig, B.G. Teubner, 1935, S. 371 ff. 397. Mathematische Annalen, 74 (1913), 430-446.
532
ψρ (x1, y(x1), x2, y(x2)) = 0,
KAPITEL 5
(ρ = 1, … , p < 2n + 2)
erfüllen. Der Fall f = 0 führt auf ein Mayerproblem und G = 0 ergibt ein Lagrangesches Problem mit variablen Endpunkten. BLISS hat die Aufgabe als Problem von Bolza bezeichnet,398 und er hat den zweiten Teil seiner Lectures on the calculs of variations diesem Problemtyp gewidmet und in diesem Buch schließlich gezeigt, daß die Lagrangeschen, Mayerschen und Bolzaschen Probleme als Probleme in dem Sinne äquivalent sind, daß sie sich alle ineinander überführen lassen.399 Für Bolzaprobleme gab es bereits in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts eine ziemlich abgeschlossene (klassische) Theorie, wie es beispielsweise 1942 MAGNUS R. HESTENES zurecht ausführte: The problem of Bolza can be described briefly as the most general problem in the calculus of variations for which there exists at the present time a theory of relative maxima and minima that is comparable in completeness to those of the simpler problems in the calculus of variations. This completeness has been brought about in the last few years.400 In der amerikanischen Mathematik und insbesondere in der Chicagoer Schule der Variationsrechnung haben sich in den 20er und 30er um die Theorie des Bolzaproblems vor allem folgende Mathematiker verdient gemacht: GILBERT A. BLISS, LAWRENCE M. GRAVES (1896-1973), MAGNUS R. HESTENES (1906-1991), MARSTON MORSE (1892-1977) und WILLIAM T. REID (19071977). Auch ADOLF KNESER hat in der zweiten Auflage seiner Variationsrechnung diesen Problemtyp berücksichtigt (§§ 42, 45), dessen Feldkonstruktion unter Verzicht der Nebenbedingungen von uns im Abschnitt 4.6.3 behandelt wird. Um die Mitte des vorigen Jahrhunderts rückten Bolzaprobleme erneut ins Zentrum der Aufmerksamkeit, als Steuerprobleme mathematisch betrachtet wurden. Gegenüber der klassischen Theorie ist in der optimalen Steuerungstheorie die Menge der Vergleichsfunktionen nicht offen, sondern abgeschlossen, so daß hier andere Wege beschritten wurden (Ponterjagischens Maximumprinzip).401 Von ANDRZEJ NOWAKOWSKI liegt eine Arbeit Field theories in the modern calculus of variations402 vor, in der zwei Methoden zur
398. “The Problem of Bolza in the calculus of variations”, Annals of Mathematics, 33 (1932), 261-274. 399. Chicago, University Press, 1946; Part II, The problem of Bolza, 187-268. Äquivalenzbeweise in: §§ 69-70. The equivalence of various problems, Analytic formulation of the problem of Bolza, 189-194. 400. “The problem of Bolza in the calculus of variations”, Bulletin of the AMS, 48 (1942), 5775, Zitat p. 57. 401. Eine historische Übersicht gibt Michael Plail, Die Entwicklung der optimalen Steuerung, Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, 1998. 402. Transactions of the AMS, 309 (1988), 725-752. Die Youngsche Theorie ist dargestellt in L.C. Young, Lectures on the calculus of variations and optimal control theory, Philadelphia, Saunders, 1969.
UNABHÄNGIGKEITSINTEGRAL UND MAYERFELDER
533
Feldkonstruktion (geodesic coverings genannt) für das verallgemeinerten Bolzaproblems gegeben werden, die hinreichende Bedingungen für die Optimalität in der Weierstraßschen Art gestatten. Zum einen wird die Youngsche Feldtheorie (concourse of flights) erweitert, und zum anderen wird eine “nichtklasssische” Behandlung der Feldtheorie geliefert.
KAPITEL 6
DIE FELDKONSTRUKTION UND VERWANDTE THEMEN
Indeed, it is only by construction that a given stationary trajectory Γ0 can be established as a field trajectory for an exact [Mayer] field, and it is this fact which makes the Weierstrass-Hilbert theory so difficult to apply. JOHN L. TROUTMAN, Variational calculus and optimal control
6.1 Der mathematische Hintergrund 6.1.1 Gründe für Feldkonstruktionen und ein erster chronologischer Überblick Der Weierstraßsche Darstellungssatz, der für eindimensionale Funktionenprobleme J( C) =
b
∫a F ( t, x, x' ) dt
→ extremum
mit fest vorgegebenen Randwerten für die Vergleichsfunktionen C : x = x(t) die Form ∆J = J ( C ) – J ( C 0 ) =
∫C ε ( t, x, x· , p ) dt
=
∫a ε ( t, x, x· , p ) dt b
hat, erlaubt es, die totale Variation ∆J (d.h. die Differenz der über eine beliebige Vergleichsfunktion bzw. -kurve C und die zu untersuchende Extremale C0 erstreckten Integrale mit gleichen Endpunkten) mit Hilfe der Exzeßfunktion als Integral über die Vergleichskurve C allein auszudrücken, und er ist damit das hinreichende Kriterium für den Nachweis von starken Extremalen. Das Kriterium verlangt jedoch, daß die zulässige Vergleichskurve C ganz innerhalb des die Extremale C0 umgebenden Feldes verläuft. Dieses hinreichende Weierstraßsche Kriterium setzt damit ein entsprechendes Extremalenfeld voraus. Folglich ist für jede Anwendung des Satzes auf einen bestimmten Fall die tatsächliche Konstruktion eines geeigneten Feldes ein zentraler Schritt, um hinlängliche Aussagen zu erhalten.
ε
536
KAPITEL 6
Feldkonstruktionen waren aus folgenden Gründen am Beginn des 20. Jahrhunderts ein beachtetes Thema der Variationsrechnung geworden: Zum einen hatte das wieder angewachsene Interesse an der Variationsrechnung am Ende des 19. Jahrhunderts schlechthin einen günstigen Nährboden auch für die schwierigen hinreichenden Kriterien (feldtheoretische Untersuchungen) geboten, und insbesondere hatten KARL WEIERSTRAß (1815-1897) in der Variationsrechnung allgemein sowie HERMANN AMANDUS SCHWARZ (1843-1921) speziell in der sich abzeichnenden Feldtheorie mit einschlägigen Arbeiten in eben diese Richtung gewiesen, die verschiedene Mathematiker mit unterschiedlichen Ansätzen dann ebenfalls eingeschlagen und erfolgreich fortgesetzt haben (siehe hierzu Kapitel 3). Zum anderen war im Frühjahr 1900 nicht nur das wegweisende Lehrbuch der Variationsrechnung von ADOLF KNESER (1862-1930) erschienen, von dem ERNST HÖLDER (1901-1993) sagte, daß “bekanntgemacht und ausgestaltet […] die Weierstraßsche Methode hauptsächlich durch das grundlegende Lehrbuch von A. Kneser”1 wurde, sondern durch DAVID HILBERT (1862-1930) war auch zeitgleich in seinem viel beachteten Pariser Vortrag wirkungsvoll auf die Bedeutung der Variationsrechnung hingewiesen worden. Solche feldtheoretischen Untersuchungen hatten zwar auf Weierstraßschen Boden eingesetzt, sie waren aber innerhalb eines Jahrzehnts mathematisches Allgemeingut geworden, insofern sich die etwa von 1900 bis 1910 veröffentlichten Arbeiten zunehmend nicht mehr einer einzelnen Schule zuordnen ließen. Während die ersten Feldkonstruktionen für den einfachen Fall eines Variationsproblems mit nur einer gesuchten Funktion einer unabhängigen Variablen von SCHWARZ (1885), ZERMELO (1894) und KNESER (1900) noch im Weierstraßschen Duktus ausgeführt wurden, erweiterten schon 1901 WILLIAM OSGOOD (1864-1943) und OSKAR BOLZA (1857-1942) die “geometrische” Fragestellung, und zunehmend behandelten Mathematiker wie ADOLPH MAYER (1839-1908) (1903), ÉDOUARD GOURSAT (1858-1936) (1905) oder JACQUES HADAMARD (1865-1963) (1910) das Problem auch unter anderen Gesichtspunkten. Die einflußreiche Chicagoer Schule (BOLZA, BLISS) lehnte sich trotz Einbeziehung des Funktionenproblems noch an Weierstraßsches Denken an, während sich in ganz anderer Weise HILBERT und seine Schüler in ihren Arbeiten mehr auf das Funktionenproblem und die Angabe eines Unabhängigkeitsintegrales als auf die direkte Konstruktion eines Feldes konzentrierten. Das dabei in Erscheinung tretende Richtungsfeld (Hilberts p-Feld) bestimmt natürlich indirekt das entsprechende Extremalenfeld. Die entscheidende Ausdehnung der Konstruktion auf Probleme mit mehreren gesuchten Funktionen einer Variablen war 1903 von A. MAYER bewerkstelligt worden, der über Beziehungen zur Hamilton-Jacobischen 1. “Das Eigenwertkriterium der Variationsrechnung zweifacher Extremalintegrale”, Berichte von der Mathematikertagung in Berlin 1953, Berlin, DVW, 1953, 291-302, Zitat S. 292.
DIE FELDKONSTRUKTION UND VERWANDTE THEMEN
537
Differentialgleichung geeignete Extremalenscharen mit gewünschten Feldeigenschaften ermittelte. Mehrdimensionale Felder hatten schon H.A. SCHWARZ insbesondere bei Minimalflächen und D. HILBERT in seinem Pariser Vortrag (1900) betrachtet, aber es handelte sich in diesen Fällen um solche der Kodimension 1, die sich beide zum allgemeinen mehrdimensionalen Fall etwa so verhalten wie im Eindimensionalen die Felder einer gesuchten zu denen mehrerer gesuchter Funktionen. In den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts war schließlich auch die mehrdimensionale Feldtheorie ein wichtiger Forschungsgegenstand der Variationsrechnung geworden. Wir geben in diesem Kapitel eine weitgehend chronologische Übersicht der an KARL WEIERSTRAß und HERMANN AMANDUS SCHWARZ anschließenden Entwicklung, die im Großen und Ganzen den problemgeschichtliche Ablauf angemessen beleuchtet. Wir werden dabei die Entfaltung der Methoden für Variationsprobleme in Parameterdarstellung und in Funktionendarstellung, wie es historisch der Fall gewesen ist, nicht strikt getrennt darstellen, sondern zunächst versuchen, die für beide Aufgaben tragenden Gesichtspunkte möglichst gemeinsam herauszustellen, um danach Unterschiede zu erörtern. Einige der betrachteten Arbeiten behandeln allgemeinerere Variationsprobleme mit Nebenbedingungen. Das Weglassen der die Nebenbedingungen betreffenden Überlegungen beraubt diese Arbeiten natürlich einer gewissen Substanz, aber diese Beschränkung ermöglicht es uns letztlich, die ins Auge gefaßten Entwicklungslinien klar herauszuarbeiten. Die unterschiedlichen Herangehensweisen der jeweiligen Mathematiker oder mathematischen Schulen werden verschiedene Gesichtspunkte bei dieser Entwicklung aufzeigen. Ganz grob zeigt sich in den Veröffentlichungen für diese Zeit nach WEIERSTRAß und SCHWARZ folgender Verlauf: Die erste Feldkonstruktion im nichtparametrischen Fall für ein einfaches Variationsproblem mit einer gesuchten Funktion einer Variablen skizzierte 1901 WILLIAM OSGOOD.2 1904 konstruierten AMES GILBERT BLISS (1876-1951) und OSKAR BOLZA in größerer Ausführlichkeit Felder und klärten dabei zwei bedeutende Sachverhalte auf: i) die Existenz einer Lösung für Variationsprobleme mit fest vorgegebenen Randwerten im Kleinen, und ii) Aussagen, die aus lokalen Feldbedingungen (Auflösbarkeitsfragen) solche längs der gesamten Extremalen nach sich ziehen (siehe Abschnitt 6.4.3). ADOLPH MAYER dehnte schließlich in zwei bahnbrechenden Arbeiten die Konstruktion auf allgemeine Felder für n gesuchte Funktionen einer Variablen ohne und mit Nebenbedingungen (Lagrange-Probleme) aus (1903, 1904).3 Die Behandlung der Beiträge von ADOLF KNESER ist im entsprechenden Abschnitt 4.6 zu finden. 2. “Sufficient conditions in the calculus of variations”, Annals of mathematics, 2 (1901), 105129. 3. Die einschlägigen Literaturverweise sind nachfolgend zu finden.
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KAPITEL 6
6.1.2 Der Feldbegriff (eindimensionaler Fall) Den frühen Feldbegriff bestimmen (differential)geometrische Vorstellungen. Das Wort Feld ist eine Kurzbezeichnung für eine ebene Kurvenschar aus Extremalen (ein Feld aus Extremalen bzw. ein Extremalenfeld), die ein gewisses Gebiet einfach und lückenlos überdeckt und die die zu untersuchende Extremale C0 enthält. Aufgrund dieser Eigenschaften läßt sich dann mit dem Weierstraßschen Darstellungssatz ein hinreichendes Kriterium für die in das Feld eingebettete Extremale C0 für den Nachweis von Minimalität bzw. Maximalität führen. KARL WEIERSTRAß hatte von einem die Extremale umgebenden Flächenstreifen gesprochen, und im Hinblick auf den Sachverhalt, daß zwar Aussagen über eine Kurve C0 insgesamt gemacht werden sollen, daß aber mit infinitesimalen Methoden nur Aussagen für eine lokale Nachbarschaft dieser Kurve C0 erfolgen können, war die Bezeichnung Streifen anschaulich treffend gewählt. Bei der Umsetzung dieser geometrischen Vorstellungen in analytische Formulierungen griff man auf den Sachverhalt zurück, daß ein einparametriges Kurvenfeld y = y(x, c) gleichwertig durch ein Richtungsfeld p = p(x, y) der Ebene beschrieben werden kann bzw. als Lösung einer Differentialgleichung y' = p(x, y) aufgefaßt werden kann. Damit spielen Existenzsätze sowohl für Lösungen von Differentialgleichungen als auch für implizit gegebene Funktionen eine Rolle. Arbeiten von ULISSE DINI (1845-1918), zunächst nur durch seine Vorlesungsausarbeitungen Analisi infintesimale verbreitet, hatten hier 1877 einen qualitativen Sprung verursacht, indem anstelle der bislang üblichen analytischen Funktionen solche mit geringeren Differenzierbarkeitsvoraussetzungen betrachtet wurden. Der verbreitete Cours d’analyse (1893) von CAMILLE JORDAN (1838-1922) machte diese Ergebnisse allgemein bekannt. Die Existenzsätze dieser Theorie waren jedoch noch den Bedürfnissen der Variationsrechnung anzupassen, die zwar auch Aussagen im Kleinen, das aber längs einer Kurve macht. Entsprechende Arbeiten gehen auf OSKAR BOLZA zurück, und eine zusammenfassende Übersicht Fundamental existence theorems gab AMES GILBERT BLISS 1913 auf dem Princeton Colloquium der AMS, die auch gedruckt wurde und noch 1934 eine Nachauflage erlebte.4 In diesem Zusammenhang ist eine Bemerkung HILBERTS interessant, die er 1904 in der Vorlesung Bestimmte Integrale und Fouriersche Reihen (WS 1904) gemacht hat und die wir deshalb noch einmal wiederholen wollen: “Jene anderen, nicht analytischen Funktionen haben wohl nur dadurch Interesse, daß sie existieren; an und für sich würde wohl niemand diese Funktionen untersuchen wollen.”5
4. G.A. Bliss, Fundamental existence theorems, The Princeton Colloquium, American Mathematical Society, 1913; Teil I als Reprint 1934. 5. Vorlesungsausarbeitung. Staatsbibliothek Berlin, Nl. Born 1813, 76.
DIE FELDKONSTRUKTION UND VERWANDTE THEMEN
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Diese Ansicht findet sich auch in einem Brief von CONSTANTIN CARATHÉO(1873-1950) an ADOLF KNESER vom 5. Februar 1905 (siehe unten). Da sowohl der erfahrene Forscher HILBERT als auch der junge Doktorand CARATHÉODORY ähnliche Auffassungen haben, dürfen wir annehmen, daß diese Sicht in Göttingen noch um 1904 allgemein vertreten wurde. DORY
Abb. 6.1. Zentrales Feld mit zugehöriger transversalen Schar. Abb. 6.2. Allgemeines Feld mit zugehöriger transversaler Schar.
Sobald es sich um Probleme mit mehreren gesuchten Funktionen handelt, bedarf dieser Überblick einer Präzisierung. Eine ebene Kurvenschar, wie sie in eine Feldkonstruktion für ein Variationsproblem mit einer gesuchten Funktion eingeht, bildet unter sachgemäßen analytischen Voraussetzungen stets ein Feld, zumindest im Kleinen. Das läßt sich für das spezielle zentrale Feld, in dem alle Extremalen durch einen gemeinsamen Ausgangspunkt gehen, mit Hilfe von Sätzen über Anfangswertprobleme von Differentialgleichungen zweiter Ordnung relativ einfach zeigen. Durch einen Weierstraßschen Kunstgriff, bei dem die Konstruktion eines zentralen Feldes für einen “vorgezogenen” Ausgangspunkt durchgeführt wird, kommt man jedoch auf solche allgemeinen ebenen Felder “hinter” dem vorgezogenen Punkt. Aber nicht mehr jede räumliche Kurvenschar aus Extremalen, die einen Raumteil einfach und lückenlos überdeckt, eignet sich als Feld, in dem der Weierstraßsche Darstellungssatz gilt. Kurvenscharen, die nicht mehr eben sind, müssen weitere Eigenschaften erfüllen, um solche Extremalenfelder zu bilden, in denen das Weierstraßsche Kriterium anwendbar ist. Die geometrische Optik kann diesen Sachverhalt unmittelbar einsichtig machen: Scharen von Extremalen, die Lichtstrahlen darstellen, sind nicht willkürlich, sondern sie weisen zugehörige Wellenflächen auf, auf denen die Lichtstrahlen senkrecht stehen. Solche Wellenflächen definieren einen optischen Abstand auf den Lichtstrahlen, und sie sind daher für einen Nachweis von Extremalität gut geeignet. Im ebenen Fall lassen sich die
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KAPITEL 6
Wellenflächen zu jeder Schar lokal stets angeben, aber in höheren Dimensionen sind hierfür die Kurvenscharen geeignet zu wählen.6 Die beschriebene Komplikation beim Übergang zu n gesuchten Funktionen (mit n > 1) ist erst 1903 durch A. MAYER klar erkannt worden: Durch jeden Punkt eines Feldes geht genau eine Extremale bzw. die Extremalen überdecken ein (einfach zusammenhängendes) Gebiet schlicht. Aber umgekehrt trifft es nicht zu, daß für n > 1 eine n-parametrige Schar, die ein Gebiet einfach überdeckt, dort stets ein Feld bildet.7 Daher werden die von MAYER in seinen Untersuchungen hervorgehobenen Extremalenscharen, für die das dennoch der Fall ist, heute in der Regel als Mayerfelder bezeichnet. MAYER hatte den Sachverhalt völlig analytisch erfaßt, und er wäre damit bereits ein erstes Beispiel für einen Mathematiker, der die feldtheoretischen Überlegungen nicht mehr in den “geometrisch geprägten” Weierstraßschen Vorstellungen betrieb. Die Hilbertsche Auffassung beleuchtete den Sachverhalt wiederum anders, indem sie vor allem nach den Bedingungen für Wegunabhängigkeit des Unabhängigkeitsintegrals fragte und hierbei indirekt solche Felder einführte. Das ist für begriffliche Untersuchungen ein Vorteil, da man die technischen Schwierigkeiten einer Konstruktion vermeidet und das Feld über die Integrabilitätsbedingungen implizit erklärt. Allerdings wird in gewisser Weise die Bedeutung der Anzahl der gesuchten Funktionen verwischt, zumindest fällt der problematische Übergang auf mehrere gesuchte Funktionen nicht unmittelbar ins Auge (obwohl er natürlich in den Integrabilitätsbedingungen steckt). HILBERT hatte anfänglich auch in der Tat die entsprechenden Schwierigkeiten, die sich bei der realen Feldkonstruktion ergeben, nicht gleich deutlich erfaßt. Das zeigt seine Bemerkung in dem Pariser Vortrag, die erforderlichen Entwicklung ließen sich ohne weiteres auf mehrere gesuchte Funktionen ausdehnen.8 Historisch bildete der Sachverhalt, daß – unabhängig von der Anzahl der Funktionen – Extremalenscharen, die von einem gemeinsamen Punkt ausgehen (sog. zentrale Felder) im Kleinen automatisch Mayerfelder bilden, eine Fußangel beim Erfassen der Unterschiede von Feldern.9 Die Aussage wird einleuchtend, wenn man die transversale Ausgangsmannigfaltigkeit für die Extremalenschar auf einen Punkt zusammenzieht, und es ist vom Standpunkt der geometrischen Optik aus geradezu offensichtlich: um jede punktförmige 6. Die entsprechenden analytischen Voraussetzungen werden wir im folgenden angeben, aber nicht in der jeweils schwächsten Formulierung anführen. 7. “Über den Hilbertschen Unabhängigkeitssatz”, 3 Mitteilungen, Leipziger Berichte, 55 (1903), 131–145, 62 (1905), 49–67, 313–314. 8. “Mathematische Probleme”, Göttinger Nachrichten, (1900), 295. 9. Für bestimmte uneigentliche Extremalenfelder (d.h. für solche, bei denen alle Extremalen durch einen gegebenen festen Punkt gehen) und für Extremalenfelder, die von lediglich einer gesuchten Funktion gebildet werden (n = 1), verschwinden die Lagrangeschen Klammern, die neben der Schlichtheit der Schar ein Mayerfeld charakterisieren; m.a.W. diese Extremalenscharen sind von vornherein Mayerfelder und haben somit die Eigenschaft, daß in ihnen der Weierstraßsche Darstellungssatz gilt. Vgl. hierzu etwa S. Hildebrandt, M. Giaquinta, Calculus of variations, vol. I, Berlin, Springer, 1996, Ch. 6, sect. 1.1.
DIE FELDKONSTRUKTION UND VERWANDTE THEMEN
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Lichtquelle bilden sich in allen Medien entsprechende Wellenflächen. Aber sowohl im geometrischen als auch im analytischen Verständnis bedurfte es Zeit, bis diese Einsicht gewonnen wurde. Den entsprechenden historischen Verlauf belegt beispielsweise die wechselnde Wertschätzung der Dissertation (1901) von NADESCHDA GERNET (1877-1943) bei HILBERT. Dessen Schülerin GERNET behandelte zwar bereits 1901 den Fall zweier gesuchter Funktionen ohne und selbst mit Nebenbedingungen, jedoch nach Hilbertscher Vorgabe lediglich für die speziellen zentralen Felder, und sie verfehlte damit den wahren Kern des Problems, was zunächst auch HILBERT selbst entging. Da im Mehrdimensionalen (Funktionen mehrerer unabhängiger Veränderlicher) die hochdimensionale Extremalenschar und die zugehörigen transversalen Scharen (die vollständigen Figuren im Sinne CARATHÉODORYS) schwer zu beherrschen sind, benutzt man dort solche Abschwächungen des Feldbegriffs, die die Gültigkeit des Weierstraßschen Darstellungssatzes für die totale Variation erhalten. Auf dieses Konzept und die entsprechenden Feldkonstruktionen gehen wir im folgenden Kapitel genauer ein. 6.2 Die Feldkonstruktion (mathematischer Überblick) 6.2.1 Zur Konstruktion von Feldern für Funktionen einer Veränderlichen Die Konstruktion der ausgezeichneter Extremalenscharen (Mayerfelder) für ein Gebiet G kann von drei Gesichtspunkten aus erfolgen. Zum einen geht man von den Lösungsscharen der Eulerschen Differentialgleichungen d ---- F i ( t, x, p ) – F i ( t, x, p ) = 0 , x dt p
(i = 1, … , n),
aus und bestimmt hieraus entweder solche Extremalen, für die neben der eineindeutigen Überdeckung des Gebietes G auch die sogenannten Lagrangeschen Klammern [uα, uβ] für α, β = 1, … , n, (α ≠ β) verschwinden,10 oder man wählt diejenigen Extremalen aus, deren Richtungsfeld in G die Wegunabhängigkeit des Hilbertschen Integrales garantieren11. Zum anderen lassen sich die Transversalitätsbedingungen für eine Extremalenschar von vornherein erfüllen, wenn man von einer transversalen Kurve oder Fläche ausgeht und auf dieser Anfangsmannigfaltigkeit eine Schar von Extremalen in entsprechender Weise erzeugt. Geeignete transversale Flächen S = S(t, x) findet man in den Lösungen der zum Variationsproblem gehörigen Hamilton-Jacobischen partiel-
10. Siehe hierzu weiter unten (9). 11. Damit liegt dann ein gewünschtes Feld vor, das in den Vorlesungen von Hilbert auch als Unabhängigkeitsfeld oder im Hinblick auf die das Richtungsfeld bestimmende Ortsfunktion p = p(x, y) kurz p-Feld genannt wird. Variationsrechnung WS 1904, Mitschrift E. Hellinger, S. 127ff.; Mechanik WS 1905, Mitschrift E. Hellinger, S. 201ff.; beide im Mathematische Institut der Universität Göttingen.
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KAPITEL 6
len Differentialgleichung St + H(t, x, Sx) = 0. Ein besonderer Fall wären die zentralen Felder mit zum Punkt ausgearteten Ausgangsflächen. Diese Wege, nämlich entweder von den Extremalen (Eulersche Differentialgleichung) oder von der zu ihr gehörigen transversalen Schar (Hamilton-Jacobische partielle Differentialgleichung) auszugehen, sind beschritten worden, um (lokal) ein Feld zu konstruieren. Die Konstruktion eines Extremalenfeldes ist dabei von unterschiedlichen Gesichtspunkten her unternommen worden. Naheliegend ist es, ein entsprechendes Anfangswertproblem der Eulerschen Differentialgleichungen zu lösen. Bereits ERNST ZERMELO (1871-1953) hatte den Trick, der eigentlich auf WEIERSTRAß zurückgeht (Seminare zur Vorlesung von 1879), publiziert: bei einem ebenen Feld, das auf einer Ausgangsmannigfaltigkeit T = 0 beginnen soll, weicht man zunächst auf die Konstruktion eines zentralen Feldes aus, bei dem alle Extremalen durch einen Punkt gehen, indem man eine uneigentliche Feldkonstruktion in unmittelbarer Nachbarschaft “links” von der entsprechenden Ausgangsmannigfaltigkeit T ausführt. Dieses zentrale Feld schneidet die Mannigfaltigkeit T und kann “rechts” von derselben als ein allgemeines Feld angesehen werden. Durch ZERMELOS Dissertation von 1894 ist dieser technischen Kunstgriff publiziert und wahrgenommen worden; eine frühere Veröffentlichung zu diesem Sachverhalt durch FERDINAND RUDIO (1856-1929) ist nicht beachtet worden.12 Wir werden diesen Kunstgriff im Zusammenhang mit der Feldkonstruktion bei BOLZA sowie später auch bei BLISS und MAX MASON (1877-1961) wieder finden. Es gibt aber auch Ansätze der Feldkonstruktion, die von einem Randwertproblem der Eulerschen Differentialgleichungen ausgehen. Als zwei Beispiele dieser Art des Herangehens nennen wir die Arbeiten von E.G. Bill, The construction of a space field of extremals, in: Bulletin of the AMS 15 (1909) 374-378; J. Hadamard, Leçons sur le calcul des variations. Paris: Hermann 1910. Note A: Sur les fonctions implicites, p. 497-511. Auf HADAMARDS Ansatz wird im Abschnitt 6.9.3 eingegangen. Den Gedanken, über Randwertprobleme Felder zu definieren, hat vor einigen Jahrzehnten ALEKSANDER GELFAND (1906-1968) wieder aufgegriffen (Abschnitt 6.12.1). Mayerfelder sind schlichte Extremalenfelder, die eine transversale Schar besitzen. Der Transversalitätsbegriff, mit dessen Hilfe ein zum Variationsproblem gehöriger Abstandsbegriff erfaßt werden kann, eignet sich auch für die Behandlung freier Randwerte. Es liegt auf der Hand, daß eine Extremale, deren Endpunkt sich auf einer Mannigfaltigkeit (Kurve, Fläche) bewegen kann, nur dann ein Extremum liefern wird, wenn sich Extremale und Mannigfaltigkeit unter gewissen Bedingungen treffen (natürliche Randbedingungen),
12. “Ueber die Principien der Variationsrechnung”, Vierteljahresschrift der Naturforschenden Gesellschaft in Zürich, 43 (1888), 340-353; siehe Abschnitt 3.9.6.
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d.h. wenn sie sich – was sich zeigt – transversal schneiden (siehe auch Abschnitte 1.2.4 , 2.3.2 und 4.6.3). Feldkonstruktionen für Festrandprobleme, in denen die zum Feld gehörigen “transversalen Mannigfaltigkeiten” beachtet werden, können daher leicht auf Freirandprobleme erweitert werden. Dieser Aspekt wurde in Arbeiten von DAVID HILBERT (1905) sowie GILBERT BLISS und MAX MASON (1908) verfolgt, genauer gesagt, beide Fälle wurden von den letzteren Autoren nicht so strikt geschieden, so daß wir die entsprechenden Überlegungen in unser Referat kurz mit einbeziehen werden. Der optische Sachverhalt, daß zu den Lichtstrahlen eine orthogonalen Wellenfläche vorhanden ist, läuft mathematisch gefaßt auf die Existenz einer Fläche hinaus, die von den Extremalen der Schar transversal geschnitten wird (wobei die Transversalität die Orthogonalität verallgemeinert, die bei geodätischen Linien oder in der Optik homogener und isotroper Medien erscheint). Analytisch zeigt sich der Sachverhalt so: Bei n gesuchten Funktionen wird das Feld in jedem Punkt durch n Richtungsgrößen bzw. durch n entsprechende Differentialgleichungen bestimmt. Eine Lösung dieser Differentialgleichungen hat also n Parameter. Andererseits liefern die n Eulerschen Differentialgleichungen zweiter Ordnung als allgemeine Lösung eine 2n-parametrige Schar. Sofern also n > 1 ist, hat man aus den Lösungen der Eulerschen Differentialgleichung eine solche Lösungsschar auszuwählen, die auch die Transversalitätsbedingung erfüllt. Eine entsprechende analytische Forderung läßt sich einmal durch ein geeignetes Festlegen der Anfangsbedingungen (nämlich längs einer transversalen Mannigfaltigkeit) oder ein andermal – ohne jeglichen Rückgriff auf geometrische Vorstellungen – durch das Verschwinden der sogenannten Lagrangeschen Klammern der Schar (siehe (9)) ausdrücken. Während im ebenen Fall (n = 1) die Begriffe Feld und (schlichte) Extremalenschar den gleichen Sachverhalt beschreiben, schränkt für n > 1 der Feldbegriff die Extremalenscharen ein und bezieht sich auf gewisse ausgezeichnete Scharen. Die Feldeigenschaft einer Extremalenschar für mehrere gesuchte Funktionen verlangt neben der schlichten Überdeckung eines bestimmten Gebietes G durch die Schar noch ein weiteres Merkmal: die Extremalenschar muß – geometrisch veranschaulicht – in G eine sogenannte transversale Schar besitzen. Geht man andererseits nicht von den Extremalen sondern von einer transversalen Fläche S = S(t, x) aus, in optischer Sicht also von einer Wellenfläche anstelle der Lichtstrahlen, so werden nicht die Eulerschen Differentialgleichungen, sondern es wird die Hamilton-Jacobische partielle Differentialgleichung St + H(t, x, Sy) = 0, (H = - L + pLp), zugrunde gelegt, deren Lösung S(t, x) ist. Zwischen den partiellen Ableitungen von S und der Grundfunktion F des Variationsproblem bestehen dabei die Beziehungen: ∂S (1) -------i = F i ( t, x, p ), (i = 1, … , n), p ∂x ∂S i (2) ----- = F ( t, x, p ) – p F i ( t, x, p ) , p ∂t
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KAPITEL 6
die CARATHÉODORY zum Ausgangspunkt seines “Königsweges” gemacht hat (siehe Abschnitt 2.4). Setzen wir die Funktion F in allen Variablen als zweimal stetig differenzierbar voraus, so haben wir die Existenz und Stetigkeit der zweiten Ableitungen von S(t, x). Der Schwarzsche Satz über die gemischten Ableitungen 2
2
∂ S ∂ S= ------------i , (3) ----------i ∂x ∂t ∂t ∂x 2
(i = 1, … , n),
2
∂ S ∂ S- = ------------(4) ------------, i j j i ∂x ∂x ∂x ∂x
(i, j = 1, … , n; j ≠ i),
führt auf die n(n - 1)/2 Integrabilitätsbedingungen für die Grundfunktion F: ∂ k ∂ (5) ---- F i = -------i ( F – p ( t, x ) )F k , (i = 1, … , n), p ∂t p ∂x ∂ ∂ (6) -------j F i = -------i F j , (i, j = 1, … n), p ∂x ∂x p
die in F weggelassenen Argumente sind t, x, p(t, x). Die erste Gruppe, (5), führt nach kurzer Rechnung auf d (7) ---- F i ( t, x, p ) – F i ( t, x, p ) = 0 , x dt p
(i = 1, … , n),
also auf die Euler-Lagrangeschen Differentialgleichungen des Variationsproblems. Die n-parametrige Extremalenschar, die das Feld der Extremalen bildet, besteht mithin aus Lösungen dieser Differentialgleichungen zweiter Ordnung und wird daher aus einer 2n-parametrigen Lösungsschar von (7) auszuwählen sein. Die ausgewählte Schar muß aber nicht nur ein gewisses Gebiet des Rn+1(t, x) schlicht überdecken, sondern auch den Integrabilitätsbedingungen (6) genügen. Geht man von (7) mit der Legendre-Transformation yi = F i , (i = p 1, … , n), zu den entsprechenden kanonischen Gleichungen i (8) x· = H i ( t, x, y ), y
i y· = – H i ( t, x, y ) , x
mit der einschlägigen Hamiltonfunktion H über, so läßt sich die Integrabilitätsbedingung (6) elegant durch die n-parametrige Lösungsschar xi = ξ i(t, u1, … , un), yi = ηi(t, u1, … , un),
mit i
∂ξ - ≠ 0, det -------∂u α
(i, α = 1, … , n)
DIE FELDKONSTRUKTION UND VERWANDTE THEMEN
545
von (8) ausdrücken. Definiert man durch i
i
i
i
∂ξ ∂η ∂ξ ∂η (9) [uα, uβ] = --------- -------- – -------- --------- , ∂u α ∂u β ∂u β ∂u α
(i = 1, … , n)
sogenannte Lagrangesche Klammern, so wird die Integrabilitätsbedingung gerade durch deren Verschwinden gewährleistet, und umgekehrt hat Integrabilität ein Verschwinden der Klammern zur Folge. In einem Mayerfeld verschwinden die Klammerausdrücke, und umgekehrt charakterisiert deren Verschwinden lokal Mayerfelder. Sobald eine Klammer in einem Punkt einer Extremalen verschwindet, tut sie das längs der gesamten Extremalen. Für n = 1 sind übrigens die Klammern gegenstandslos, womit automatisch Integrabilität bzw. Mayerfelder vorliegen. Entsprechendes gilt auch für zentrale Felder (bei beliebigem n), wo alle Lösungskurven von (8) durch einen festen Punkt gehen. Eine Feldkonstruktion zieht die gesamte Kurve in Betracht. Die Frage, wie weit tatsächlich Extremalität längs eines Kurvenbogens besteht bzw. wie weit sich ein einbettendes Feld konstruieren läßt, wird in der Theorie der konjugierten Punkte behandelt. Die dort erörterte Situation stellt sich in geometrischen Begriffen durch das Schneiden von Extremalen oder durch das Vorhandensein von Einhüllenden bei Extremalenscharen dar, und sie kann optisch anhand von Brennpunkten, Brennlinien oder Brennflächen (Kaustiken) für räumliche Probleme veranschaulicht werden. Die analytische Fassung dieser Sachverhalte schlägt sich in Auflösungsbedingungen von Differentialgleichungen bzw. dem Verschwinden von Funktionaldeterminanten nieder. Gegenüber dieser Variationsrechnung im Großen geht es bei der Feldkonstruktion jedoch zunächst nur um Fragen der Variationsrechnung im Kleinen, die man auch als Fragen der lokalen Existenz von Feldern schlechthin ansehen kann, bevor man sich dem globalen Verhalten zuwendet. Es ist diese lokale Existenz von Feldern, die unser Thema ausmacht. Bemerkenswert für die Mathematikgeschichte ist die Tatsache, daß am Ende des 19. Jahrhunderts sich die Forschung in der Variationsrechnung auch außerhalb Europas etablierte: die ersten Arbeiten zur Feldkonstruktion kamen aus den USA von OSGOOD, BOLZA, BLISS u.a. Auch in Japan gab es Mathematiker wie TAKUYI YOSHIYE (1874-1948/49?) (1903)13, MATSUSABURÔ FUJIWARA (1881-1946) (1911) oder TADAHIKO KUBOTA (1885-1952) (1916), die die neuen Ergebnisse der Variationsrechnung schnell aufnahmen, aber diese fernöstlichen Aktivitäten versandeten nach dem ersten Weltkrieg wieder. Allgemeiner gesehen beschreibt dieser Sachverhalt (Variationsrechnung) nur einen Teil des Einflusses jener Zeit, den die europäische Mathematik, insbesondere die in Göttingen, Berlin und Paris betriebene, auf die entstehende amerikanische Mathematik hatte. In einem kurzem Zeitraum war die neue amerikanische Mathematik in der Lage, mit der europäischen Schritt zu halten. 13. Aufenthalt in Göttingen 1899-1903.
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KAPITEL 6
In der Variationsrechnung setzten amerikanische Mathematiker neue Akzente, die auch für die Feldkonstruktion von Belang sind, wenn sie die bei KARL WEIERSTRAß üblich Analytizität durch geringere Annahmen abschwächten. Selbst der Funktionentheoretiker WILLIAM OSGOOD schrieb beispielsweise 1901 über das gerade erschienene Knesersche Lehrbuch: Kneser has given a proof by means of power series on the assumption that all the functions considered are analytic. This assumption is unfortunate, inasmuch as it introduces restrictions without being accompanied by any simplification.14 Wenige Jahre darauf können wir bei CONSTANTIN CARATHÉODORY in einem Brief an A. KNESER über das Bolzasche Lehrbuch von 1904 beiläufig lesen: “Auch gefällt mir nicht diese amerikanische Mode[,] nirgends analytische Funktionen zu gebrauchen, wo doch in der Praxi[s] nur solche vorkommen[,] oder wenn unstetigkeiten [sic] vorkommen[,] sie schon wie in der Optik bei den Funktionen selbst auftreten.”15 Entsprechend äußerte sich CARATHÉODORY auch in einer Rezension dieses Buches 1906: “Der Verfasser setzt, im Gegensatz zu Weierstraß und Kneser, nirgends voraus, daß die Funktion [ F ] unter dem Integralzeichen analytisch sei, sondern begnügt sich mit der Stetigkeit ihrer drei ersten Ableitungen. Die so erlangte Verallgemeinerung ist nur scheinbar; in den Beweisen werden bei analytischen Funktionen ja auch nur die ersten Ableitungen benutzt [d.h. F ∈ C3], und die Voraussetzung der älteren Autoren ist vielfach wesentlich bequemer.”16 6.2.2 Zur Konstruktion mehrdimensionaler Felder Werfen wir noch kurz einen Blick auf die mehrdimensionale Variationsrechnung, in der n Funktionen mit ν unabhängigen Variablen gesucht werden (n ≥ 1, ν > 1). Hier ist eine naheliegende Übertragung des Feldbegriffs eine solche, die in geometrischer Sicht im Rn+ν eine vollständige Figur im Sinne von CARATHÉODORY verlangt. Die analytische Seite dieser Fassung des Feldproblems zeigt allerdings die technischen Schwierigkeiten dieses anschaulichen Konzepts, da vollintegrable Richtungsfelder piα = piα(t, x) (i = 1, … , n; α = 1, … , ν) im Rn+ν zu konstruieren wären. Für eine Extremalenschar Cε : x = x(t, ε), die in ein Richtungsfeld piα(t, x) eingebettet ist, gilt i
∂x ------= p i α ( t, x ) . α ∂t 14. “On a fundamental theorem in the calculus of variations”, Transactions of the AMS, 2 (1901), 273–295, Zitat p. 278. 15. Brief an A. Kneser vom 5.2.1905. Cod. Ms. A. Kneser A4. Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung. 16. Archiv der Mathematik und Physik, (1906), 185.
DIE FELDKONSTRUKTION UND VERWANDTE THEMEN
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Mithin folgt für eine solche Schar bei zweimaliger stetiger Differenzierbarkeit nach den Variablen gemäß dem Schwarzschen Satz über die gemischten Ableitungen: i
∂ ∂ - ------∂x -----= ------β- p i α , β α ∂t ∂t ∂t
(i = 1, … , n; α, β = 1, … , v),
∂ ∂ bzw. die in den Feldfunktionen ausgedrückte Integrabilität: -------α p i β = ------β- p i α . ∂t
∂t
Diese analytischen Schwierigkeiten lassen sich reduzieren, wenn man die Forderung aufgibt, von einem Extremalenfeld im Rn+ν auszugehen, da die Mannigfaltigkeit der vorliegenden Extremalen zu hochdimensional wird. HILBERTS invariantes Integral bot im eindimensionalen Fall die Möglichkeit, durch die Unabhängigkeitsforderung Felder implizit zu beschreiben. Im Mehrdimensionalen gibt es mehrere Ansätze für invariante Integrale, und bei diesen läßt sich die Eigenschaft des Unabhängigkeitsintegrals gleichfalls nutzen, um Felder je nach Form des invarianten Integrals einzuführen bzw. sogar zu verallgemeinern. Solche Betrachtungen lassen sich im Cartanschen Kalkül am bequemsten durchführen, was wir im folgenden Kapitel tun werden. Die “Paradigmenwechsel” in der Feldkonstruktion lassen sich kurz so beschreiben: 1. Variationsprobleme mit einfachem Integral a) Für eine gesuchte Funktion existiert unter geeigneten Voraussetzungen lokal ein Feld. b) Für mehrere gesuchte Funktionen ist aus der 2n-parametrigen Schar der Lösungen des Variationsproblems eine geeignete n-parametrige Schar so auszuwählen, daß es eine zweite dazu transversale Schar gibt. Beide Scharen bilden das Mayerfeld. Eine zum Mayerfeld gehörige schlichte Extremalenschar ist analytisch durch das Verschwinden der Lagrangeschen Klammern charakterisiert bzw. geometrisch durch den Sachverhalt, daß die Extremalenschar von einer zur ihr transversalen Mannigfaltigkeit ausgeht. 2. Variationsprobleme mit mehrfachem Integral Die hochdimensionalen Mannigfaltigkeiten der Extremalen in diesem Fall erweisen im allgemeinen die Strategie, sich wie im Eindimensionalen “möglichst alle Extremalen zu verschaffen” (CARATHÉODORY)17, nicht mehr als empfehlenswert nach. Der verallgemeinerte Feldbegriff legt Richtungsfelder (geodätische Felder) zugrunde, die zwar auf der betrachteten Extremalen integrabel sind, aber außerhalb dieser Extremalen lediglich so beschaffen sind, daß der Weierstraßsche Darstellungssatz gültig bleibt und in denen – sofern man freie Randwerte behandeln will – Transversalität erklärt werden kann.
17. Variationsrechnung und partielle Differentialgleichungen erster Ordnung, Leipzig, B.G. Teubner, 1935, § 219.
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KAPITEL 6
Die Konstruktionen sind zunächst nur lokal ausführbar: die globale Konstruktion ist Gegenstand der Betrachtungen über konjugierte Punkte (Jacobische Theorie), die wiederum Gegenstand der Theorie der zweiten Variation sind. Siehe hierzu Kapitel 7. 6.3 William F. Osgood (1900) WILLIAM OSGOOD (1860-1943)18 ist durch seine Arbeiten zur Funktionentheorie bekannt, insbesondere durch sein mehrbändiges Lehrbuch19 für dieses Gebiet, in dem er 1906 den Stoff erstmals systematisch zusammengefaßt hat und dabei neben dem Weierstraßschen und Riemannschen Aufbau der Theorie einen weiteren eigenen Zugang lieferte. Freilich fällt in seine frühen Jahre auch eine kurze Hinwendung zur Variationsrechnung, die vor allem durch eine kritische Beschäftigung mit ADOLF KNESERS Artikel Zur Variationsrechnung20 von 1897 verursacht worden sein dürfte und die mit einer Ende Dezember 1900 bei der AMS eingereichten Arbeit On the existence of a minimum21 begann, aber bereits im April 1901 mit dem Artikel On a fundamental property of a minimum22 beendet war23. Die erste Arbeit war der Korrektur eines Satzes von A. KNESER gewidmet, während die letzte eine Minimumseigenschaft von stetigen Funktionen auf Funktionale verallgemeinerte. Zwischen diesen beiden Forschungsarbeiten publizierte er den Übersichtsartikel Sufficient conditions in the calculus of variations,24 der eine ausgezeichnete Zusammenfassung des damaligen Wissensstandes gibt und bereits sowohl HILBERTS Unabhängigkeitsintegral als auch die Ergebnisse und Begriffe aus KNESERS Lehrbuch der Variationsrechnung aus dem Jahr 1900 einbezieht.25 Diese Arbeit spiegelte den mathematischen Zeitgeist der europäischen Mathematik gut wider, der seinerzeit Forschung mit Strenge verband und für den der Name WEIERSTRAß stand. Der Einfluß dieser und ähnlicher Arbeiten in der neuen Welt, durch die die Amerikaner europäische Mathematik aufnahmen, ist bedeutend, und spezi-
18. William F. Osgood, Studium in Harvard 1882-1887, in Göttingen 1887-1889, Promotion in Erlangen 1890, dann Rückkehr in die USA, Professor in Harvard bis 1933, 1933-1935 Peking. 19. Lehrbuch der Funktionentheorie, 2 Bde., Leipzig, B.G. Teubner, 1907, 5 Auflagen. 20. Mathematische Annalen, 50 (1897), 27–50. 21. Transactions of the AMS, 2 (1901), 166–182. – Die Fußnote auf Seite 122 seiner gleichzeitig für die Annals of Mathematics, 2 (1900-1901), 105–129, verfaßten Arbeit Sufficient conditions belegt, daß Osgood über den Inhalt von Hilberts Vorlesung über Flächentheorie im SS 1900 informiert war. 22. Transactions of the AMS, 2 (1901), 166–182. 23. In das Jahr 1901 fällt auch das Erscheinen von Osgoods Enzyklopädie-Artikel Allgemeine Theorie der analytischen Funktionen, Band II, Teil 2/B 1, Leipzig, B.G. Teubner, 1901. 24. Annals of Mathematics, 2 (1900-01), 105–129. Unmittelbar danach erschien eine polnische Übersetzung in Wiadomosci Matematyczne, 5, 179–210. 25. D. Hilbert, “Mathematische Probleme”, Göttinger Nachrichten, (1900), 253–297; A. Kneser, Lehrbuch der Variationsrechnung, Braunschweig, Vieweg, 1900.
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ell in der Variationsrechnung ist leicht zu verfolgen, daß diese ausgezeichnete und sehr gut lesbare Arbeit in den USA ein Leitfaden gewesen ist. Nach Vorarbeiten von WEIERSTRAß und SCHWARZ sowie einer Darstellung von KNESER für Kurvenprobleme (in seinem Lehrbuch) geht auf OSGOOD die erste veröffentlichte Feldkonstruktion für Probleme in Funktionendarstellung zurück.26 In der Auseinandersetzung mit KNESERS Resultaten prägte OSGOOD in seinen Überlegungen einen Feldbegriff für Probleme mit einer gesuchten Funktion, der etwas allgemeiner als der von KNESER gegebene war, und er zeigte, daß auch in diesem Feld der Weierstraßsche Darstellungssatz gültig ist und daß man dies mit HILBERTS Zugang über das Unabhängigkeitsintegral zeigen kann.27 Für seine Aussagen benötigte OSGOOD in der Tat die Existenz eines Feldes im weiteren Sinn. Er griff für die entsprechende Feldkonstruktion dabei auf den genannten Übersichtsartikel zurück, in dem er bereits die Konstruktion für ein Feld im Sinne von KNESER ausgeführt hatte. OSGOODS Erklärung im Übersichtsartikel eines ebenen Extremalenfeldes für Variationsprobleme mit einer gesuchten Funktion von einer unabhängigen Variablen entspricht der von KNESER für Parameterprobleme und kann folgendermaßen zusammengefaßt werden: 1) Es gibt in der zweiparametrigen Lösungsschar der Eulerschen Differentialgleichung des Variationsproblems eine Extremale C0, die die gegebenen Randpunkte verbindet. 2) Es gibt weiterhin eine einparametrige Extremalenschar y = ϕ(x, γ) (ϕ ∈ C2(S)), die für γ = γ0 diese Extremale E0 enthält und die eine Umgebung von C0, einen Streifen S, schlicht überdeckt (d.h. in S gilt ϕγ (x, γ) ≠ 0).28 Auf die analytischen Bedingungen des weiteren Feldbegriffs wollen wir nur kurz eingehen und erwähnen, daß die Verschiedenheit der Definitionen am Rand zutage tritt, je nachdem, ob dort ϕγ (x, γ) ≠ 0 oder ≥ 0 gefordert wird, was auf eigentliche oder uneigentliche (zentrale) Extremalenfelder hinausläuft, und daß weiterhin am Rande auch Singularitäten zugelassen sind. Indem sich OSGOOD auf die Knesersche Arbeit bezog, unterschied er drei Fälle für die Feldkonstruktion im weiteren Sinn und führte schließlich jeden dieser Fälle auf die engere Feldkonstruktion zurück. (Für Festrandprobleme wird natürlich nur ein engeres bzw. uneigentliches Feld benötigt).
26. Für die Arbeiten von Weierstraß und Schwarz siehe Kapitel 3, insbesondere die Abschnitte 3.9.5 und 3.9.6 mit den Berichten von Rudio und Zermelo. 27. Transactions of the AMS, 2 (1901), 168. 28. Annals of Mathematics, 2 (1900-01), 112. Transactions of the AMS, 2 (1901), 168; Kneser im Lehrbuch (1900) auf S. 44 für die Parameterdarstellung.
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Abb. 6.3. Methode, lokale Aussagen längs einer Extremalen zu globalisieren.
In der Übersichtsarbeit Sufficient conditions in the calculus of variations29 konstruierte OSGOOD für das Festrandproblem ein ebenes uneigentliches Extremalenfeld. Genauer gesagt, berief sich OSGOOD im wesentlichen auf einen Auflösungssatz für implizite Funktionen von ULISSE DINI, den er auf die Gleichung Φ ≡ y – ϕ(x, γ) = 0
wegen Φγ = ϕγ ≠ 0
(in einem geeignet gewählten Gebiet S) anwenden konnte.30 OSGOOD benutzte jedoch den Auflösungssatz zunächst nicht in dem gesamten, die Extremale C0 umgebenden Streifen S, sondern lediglich in einer kreisförmigen Umgebung eines beliebigen Punktes P der Extremalen C0. Er dachte sich den zur Extremalen gehörigen Streifen durch einen festen Kreis erzeugt, indem er dessen Mittelpunkt die Extremale durchlaufen ließ. Diese Methode hatte schon KARL WEIERSTRAß in seinen Vorlesungen benutzt (1879). In allen Kreisumgebungen eines beliebigen Extremalenpunktes gilt der Auflösungssatz, wobei jedoch der Radius geeignet zu wählen sein wird, d.h. der Radius wird sich im allgemeinen ändern. OSGOOD bemerkte lediglich, wobei er – modern gesprochen – offenbar die relative Kompaktheit eines in S liegenden weiteren Streifens S* im Auge hatte, daß es für die Radien eine von null verschiedene untere Grenze gibt, as can be shown at once by a well known method of reasoning in higher analysis.31 29. Annals of Mathematics, 2 (1900-01), 105-129. 30. Der Satz findet sich erstmals 1877 in einer autographierten Vorlesungsmitschrift von Dinis Analysisvorlesung veröffentlicht. Osgood gibt in der Encyklopädie der mathematischen Wissenschaften, Bd. II 1/2, im § 44 einen Bericht über die Geschichte des Satzes. 31. Annals of Mathematics, 2 (1900-01), 115. Im seinerzeitigen Sprachgebrauch wurden derartige Schlüsse über die gleichmäßige Stetigkeit erbracht; die Kompaktheitseigenschaft abgeschlossenener und beschränkter Mengen der Ebene hatte E. Heine 1870 erkannt, Journal für Mathematik, 71 (1870), 36. Siehe den Artikel Grundlagen einer allgemeinen Funktionenlehre von A. Pringsheim in der Encyklopädie der mathematischen Wissenschaften, Bd. II 1/1, 18.
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Diese von OSGOOD benutzte und für die Variationsrechnung typische Schlußweise, eine zunächst lokal gewonnene Aussage global längs einer Extremalen (genauer: in dem die Extremale umgebenden Streifen) zu erhalten, hat erstmals OSKAR BOLZA streng durchgeführt publiziert. Anfänglich in seinen Lectures on the calculus of variations (1904)32 nur für einen Spezialfall, aber bereits in der Arbeit Ein Satz über eindeutige Abbildung und seine Anwendung in der Variationsrechnung33 von 1906 allgemeiner, wobei als eine Anwendung der Schlußweise die Existenz eines Feldes dargetan wurde. Dieser, die seinerzeit noch ziemlich neue Auflösungstheorie ergänzende Satz, ist eine herausragende Leistung BOLZAS.34 OSGOOD leitete auch HILBERTS Unabhängigkeitsintegral her, wobei er gegenüber HILBERT in leicht geänderter Form die Invarianzbedingung aus dem Verschwinden der ersten Variation in etwas formaler Weise gewann.35 Der Artikel endet wie HILBERTS Ausführungen über das 23. Problem mit einer Verallgemeinerung auf Doppelintegrale, für die die Hilbertsche Methode problemlos hinreichende Bedingungen lieferte. Das zweidimensionale Extremalenfeld definierte OSGOOD nach dem Vorbild von H.A. SCHWARZ (1885)36, konstruierte es aber nicht. Anstelle einer analytischen Fassung zitieren wir daher seine geglückte Veranschaulichung von ein- und zweidimensionalen Extremalenfeldern: The picture of the cross-section of the strata of a geological formation is useful here, while in the case of two independent variables […] the notion of the strata themselves serves to illustrate well the relations in question.37
Abb. 6.4. Feld als geologische Schicht.
32. S. 175ff. Die erweiterte deutsche Übersetzung Vorlesungen über Variationsrechnung (1909) referiert ausführlich Sätze über die “Inversion eines Funktionensystems” und die daraus gefolgerte Existenz eines Feldes, 160-166. 33. Mathematische Annalen, 63 (1906), 246–252, besonders 247. Berichtigung in Mathematische Annalen, 64 (1907), 387. 34. Ein strenger Beweis für die (lokale) Auflösung wurde von U. Dini 1877 in seiner Analisi infinitesimale, Bd. 1, p. 162 gegeben; verbreitet wurde dieser Sachverhalt insbesondere durch C. Jordans, Cours d’analyse, t. 3, 1887, 583. 35. Annals of Mathematics, 2 (1900-01), Lemma p. 123, Beweis p. 124. 36. “Über ein die Flächen kleinsten Inhalts betreffendes Problem der Variationsrechnung”, Gesammelte Mathematische Werke, Band 1, Berlin, Springer, 1890, 224. 37. Annals of Mathematics, 2 (1900-01), 113.
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In der dritten und letzten Arbeit On a fundamental property of a minimum zur Variationsrechnung, in der OSGOOD den später nach ihm benannten Satz veröffentlichte, präzisierte er das eben zitierte Bild in folgender Weise. Für einen hinreichend schmalen Streifen eines Feldes um eine Extremale, auf der keine konjugierten Punkte liegen, besteht die Eigenschaft: Two curves [of a one-parameter family] corresponding to distinct values of [the parameter] a not only will not intersect each other, but, if the two values of a differ from each other by an infinitesimal α, the distance PP' = ß from a point P of the one curve to the point of intersection P' of the normal at P with the other curve will be infinitesimal that is uniformly of the first order; in other words Mα ≥ ß ≥ mα,
where m, M are positive constants.38 Wir paraphrasieren noch den Grundgedanken des Osgoodschen Satzes. Er dehnt die folgende Eigenschaft einer stetigen Funktion f(x), die im Punkt x = a ein Minimum hat, auf Funktionale aus: Sei h ≥ ⎢x − a ⎢ > δ. Dann gibt es ein ε > 0 mit f(x) ≥ f(a) + ε. Für Funktionale J lautet die Verallgemeinerung: Wenn C0 ein Extremalenbogen ohne konjugierte Punkte ist, so gibt es um diese Extremale C0 einen Streifen U(C0) derart, daß für einen weiteren Streifen V(C0) mit V(C0) ⊂ U(C0) J(C) ≥ J(C0) + ε
erfüllt ist, sofern die Vergleichskurve C gleiche Endpunkten wie C0 hat und ganz in U(C0) verläuft, aber nicht beständig zu V(C0) gehört. Der Satz besagt also, daß der Integralwert längs einer Vergleichskurve, die irgendeinen um ein endliches Stück von der Minimalkurve entfernten Punkt enthält, sich dem Minimalwert nicht beliebig nähern kann. BOLZA hat bereits 1901 unter Verwendung von krummlinigen Kneserschen Koordinaten und mit Hilfe des Feldbegriffs OSGOODS komplizierten Beweis wesentlich vereinfacht und dabei Lücken in der Feldkonstruktion bei KNESER und OSGOOD geschlossen.39 Auch HANS HAHN (1879-1934) kam auf den Satz in einer Arbeit von 1906 zurück und dehnte ihn auf isoperimetrische sowie Lagrangesche Probleme aus.40 Schließlich gab es noch einen Briefwechsel
38. Transactions of the AMS, 2 (1901), 278. 39. “New proof of a theorem of Osgood’s in the calculus of variations”, Transactions of the AMS, 2 (1901), 422–427. 40. “Über einen Satz von Osgood”, Monatshefte für Mathematik und Physik, 17 (1906), 63-77; “Allgemeiner Beweis des Osgoodschen Satzes der Variationsrechnung für einfache Integrale”, 2. Weber-Festschrift, 1912, 95-110. Die zweite Arbeit zeigt, daß eine in der ersten Arbeit gemachte Annahme überflüssig ist.
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zwischen OSGOOD und E. GOURSAT über den Satz, aus dem heraus ein weiterer Beweis für den Satz publiziert wurde.41 Interessant sind noch OSGOODS Bemerkung, daß die Weierstraßsche Methode differentieller Natur sei, während die Hilbertsche Methode integralen Charakter habe, und die weiteren Beispiele, die er für dieses methodische Wechselspiel in der Mathematik gibt.42 6.4 Oskar Bolza (1904) 6.4.1 Bolza und die Variationsrechnung in Chicago OSKAR BOLZA (1857-1942) kommt beim Ausbau der Variationsrechnung am Beginn des 20. Jahrhunderts eine wichtige Rolle zu. Diese war allerdings in BOLZAS Entwicklung nicht von vornherein angelegt. Zwar hatte BOLZA bei WEIERSTRAß gehört, auch die Variationsrechnung, und hier insbesondere die entscheidende Vorlesung von 1879, aber seine Interessen galten über viele Jahre den elliptischen und vor allem den hyperelliptischen Funktionen. Hierüber hatte er, nachdem sowohl KARL WEIERSTRAß als auch HERMANN AMANDUS SCHWARZ aus formalen Gründen abgelehnt hatten, schließlich bei FELIX KLEIN (1849-1925) 1886 promoviert, und als er 1888 seine Lehrtätigkeit an nordamerikanische Universitäten begann, bildete zunächst dieses Gebiet den Schwerpunkt seiner Vorlesungen. Dieser analytische Hintergrund macht sich in BOLZAS Ausbau der Variationsrechnung bemerkbar. Allerdings war BOLZA ein zu breit ausgebildeter Mathematiker, um lediglich eine spezielle Thematik zu vertreten,43 und dieser Sachverhalt hatte ihm an der University of Chicago, der er seit 1893 angehörte, die Wertschätzung sowohl des Präsidenten der Universität WILLIAM RAINEY HARPER (18561906)44 als auch des Institutsdirektors ELIAKIM HASTINGS MOORE (18621932)45 eingebracht. Aufgrund der “harmonischen Zusammenarbeit”46 zwischen MOORE und BOLZA und durch MOORES Wissen um BOLZAS Leistungs41. “A simple proof”, Transactions of the AMS, 5 (1904), 100–102. Teilweise Wiedergabe eines Briefes von Goursat vom 21.6.1903. 42. Annals of Mathematics, 2 (1900-01), 122. 43. Aus den Annual Registers der Universität folgt, daß Bolza u.a. über Funktionentheorie, elliptische, hyperelliptische sowie Abelsche Funktionen und deren Anwendungen, Gruppentheorie und Invariantentheorie gelesen hat. 44. Harper war Philologe und erster Präsident der Universität (Gründung 1891). 45. Eliakim Hastings Moore, 1885 Promotion Yale, Aufenthalt in Göttingen und Berlin, 1892 Professor an der neu gegründeten Universität Chicago, 1899 Dr. e.h. in Göttingen, zur genannten Zeit Institutsdirektor des Mathematischen Instituts der Universität Chicago. Arbeiten zur algebraischen Geometrie, Algebra und Analysis. 46. O. Bolza, Aus meinem Leben, München, Reinhardt, 1936, 27.
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fähigkeit47 kam es schließlich trotz aller Querelen48 mit dem ehrgeizigen HARRIS HANCOCK (1867-1944)49 zu BOLZAs folgenreichem Wirken in der Variationsrechnung an der Universität. Das war keineswegs selbstverständlich gewesen, denn der ambitionierte HANCOCK, der im Interesse seiner Karriere nachdrücklich auf sein Studium in Berlin und Paris verwies, strebte für die Variationsrechnung eine Alleinvertretung an.50 BOLZA hatte in Chicago 1896 erstmalig über Variationsrechnung gelesen und zwar, wie er im Untertitel dieser und auch der nachfolgenden Vorlesungen angemerkt hatte, “im Weierstraßschen Stil” (based upon Weierstrass’s lectures). Möglicherweise hat er 1898 wiederum über Variationsrechnung gelesen, jedoch weisen die Register der Universität für diese Vorlesung keinen Dozenten aus, womit als Alternative lediglich HANCOCK in Frage käme. Belegt sind jedoch Vorlesungen im Winter 1900/01 sowie im Sommer 1901, die übrigens von OSWALD VEBLEN (1880-1960)51 und BOLZAS Rivalen HANCOCK besucht wurden. Diese Vorlesungen markieren einen entscheidenden Einschnitt in BOLZAS Forschung. Hierüber schrieb BOLZA in seiner Autobiographie Aus meinem Leben (1936), und er berichtet über den damit eingeleiteten zweiten Abschnitt seiner Chicagoer Zeit, über die bedeutende Periode der Variationsrechnung: “Das Jahr 1901 bezeichnet einen Wendepunkt in meiner mathematischen Entwicklung: Anfang Februar erhielt ich eine Aufforderung, bei dem Colloquium, das für die zweite Hälfte des August in Verbindung mit der Jahresversammlung der amerikanischen Mathematiker-Vereinigung in Ithaca N.Y. geplant war, einen Zyklus von Vorträgen über hyperelliptische Funktionen zu halten. Statt dessen schlug ich Variationsrechnung vor, für die ich seit der Weierstraß’schen Vorlesung von 1879 eine besondere Vorliebe bewahrt hatte und über die ich gerade in jenem Winter-Quarter las. […] Die nächsten
47. In the domain of Mathematics, as teachers, critical scholars, and investigators, Bolza and Maschke are today, in my judgment, for superior to what Hancock, Boyd, or Slaught [stuff members] will ever become. Brief von Moore an den Universitätspräsidenten vom 28.6.1898, The University of Chicago Library, University President’s papers, Box 17, folder 2. 48. But he [Hancock] did so properly that I was obliged to believe that he did not thoroughly understand the subject and I am surprised that he should have published it in that imperfect form. […] I do not find in Mr. Hancock any well-marked note of mathematical originality, independence, or soundness. Brief von Moore an den Universitätspräsidenten vom 31.1.1896, der aufgrund von Hancocks gegen Bolza gerichteten Eingaben geschrieben wurde. The University of Chicago Library, University President’s papers, Box 17, folder 2. 49. Harris Hancock, Dr. phil. in Berlin 1894, Dr. sc. in Paris 1901, Universität Chicago 18921893, 1894-1900, dann Professur an der Universität Cincinnati, 1937 emeritiert; Hancock hat unauthorisiert und ohne genaue Quellen anzugeben, Vorlesungen von Weierstraß und Schwarz in einer Reihe von Artikeln in den Annals of Mathematics von 1894 bis 1898 publiziert, die 1904 in dem Buch Lectures in the calculus of variations (University Press Cincinnati) zusammengefaßt wurden, danach nichts mehr zur Variationsrechnung. 50. Vgl. hierzu den einschlägigen Briefwechsel in The President’s papers, Box 17, folder 2, The University of Chicago Library. 51. Oswald Veblen, Promotion 1903 in Chicago, ab 1905 Princeton, dort ab 1910 Professor. Beiträge zur Topologie und Geometrie.
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Monate über arbeitete ich mich nun in die mir noch wenig bekannte neueste Literatur ein, las im Sommer nochmals über Variationsrechnung als Generalprobe für das Colloquium und hielt dann vom 19. bis 24. August [1901] in Ithaca […] vor etwa 25 Zuhörern sechs [im Vorwort der Vorlesungen über Variationsrechnung (1909): acht] Vorträge über die neuere Entwicklung der Variationsrechnung: Über die Bemühungen von Weierstraß und anderen, die bis dahin nur sehr ungenügenden Schlüsse der älteren Variationsrechnung streng zu machen, dann über die Hinlänglichkeitsbeweise von Weierstraß und Hilbert, endlich über die Kneser’schen Sätze und Hilberts Existenzbeweis. Einige Zeit später schlug Moore vor, daß meine Colloquium-Vorträge in den Decennial Publications, welche die Universität zur Feier ihres zehnjährigen Bestehens herausgab, veröffentlicht werden sollten. […] Ende Februar 1905 kam dann, veranlaßt durch Adolf Mayer in Leipzig, eine Anfrage von Teubner wegen einer deutschen Ausgabe. Ich ging darauf ein, stellte aber die Bedingung, daß das Buch dabei wesentlich erweitert werden sollte.”52 Die Variationsrechnung hatte an der Universität Chicago anfänglich zu den initial courses in higher mathematics gehört, die wenigstens alle zwei Jahre zu halten waren. Vor BOLZA hatte der Dozent HANCOCK 1895 und 1897 vor sechs bzw. einem Hörer über Variationsrechnung vorgetragen.53 Im Winter Quarter 1901 war die Vorlesung über Variationsrechnung von BOLZA gehalten worden, der die oben genannte Generalprobe im Summer Quarter folgte (jeweils 7 bzw. 16 Hörer).54 Von der Sommervorlesung gibt es eine Ausarbeitung Calculus of Variations, course given during the summer 1901 at the University.55 Danach hat BOLZA bis zu seinem Weggang aus Chicago 1910 nur noch über Variationsrechnung gelesen (dreimal je ein Quarter und dreimal je über zwei Quarters).56 Seine Vorlesungen über Variationsrechnung trugen anfänglich Untertitel wie An advanced course on the theory of maximum and minimum of 52. Reinhardt: München 1936, S. 32f. – A. Mayer hat die Lectures on the calculus of variations gründlich gelesen, was die zahlreichen Notate in dem in der Bibliothek des Mathematischen Instituts der Universität Leipzig befindlichen Exemplar belegen. Mayer, der offensichtlich keine Absicht hatte, selbst ein Buch über Variationsrechnung zu schreiben, war jedoch am Erscheinen eines modernen Lehrbuchs dieser Disziplin sehr interessiert, und er hat vermutlich auch das Knesersche Lehrbuch angeregt (Abschnitt 4.6.3.2). 53. Die Vorlesung über Variationsrechnung im Jahre 1898, zu der in den Annual Registers der Dozent nicht genannt wird, erscheint in Liste der Vorlesungen und ihrer Hörer(zahlen) nicht. The President’s papers, Box 5, The University of Chicago Library. 54. Diese und die folgenden Angaben aus den jährlichen Bänden des Register of the University of Chicago, gedruckt seit 1898. Die Gründung der Universität erfolgte 1891. Die mathematischen Vorlesungen wurden in den 90er Jahren in der Regel von einem Dutzend Studenten besucht, lediglich Grundvorlesungen brachten es auf 20 bis 30 Hörer. Sommerschulen, an denen vor allem Lehrer teilnahmen, wiesen allerdings zwischen 200 und 300 Teilnehmer auf. 55. Regenstein Library of the University of Chicago, Departement of Mathematics, Lecture notes, box 5 (Qa 315 B68); Mitschrift von Walter Wilson Hart, unpaginiert mit ausführlichem Inhaltsverzeichnis und Anhängen. 56. Die Übernahme der Lehre in der Variationsrechnung durch Bolza hat offenbar 1900 zum Weggang des ambitionierten Hancock geführt, der sich schon zuvor durch “foreigners” wie Bolza behindert sah. Der Institutsdirektor E. Moore hat sich jedoch zu Hancock kritisch, aber sehr anerkennend über Bolza geäußert, siehe oben.
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definite integrals, chiefly based upon Weierstrass’s lectures, with numerous applications to problems of geometry and mechanics (Register der Universität Chicago 1902/03), die auf den Weierstraßschen Zugang hinweisen. Die Variationsrechnung gehörte übrigens seit dem akademischen Jahr 1904/05 nicht mehr zu den initial courses, sondern zu den fakultativen special courses. BOLZA hatte allerdings schon an der Clark University, Worcester (Mass.), der er von 1889 bis 1893 angehörte, Vorlesungen über Variationsrechnung gehalten, über die wir nichts Weiteres wissen.57 Die gedruckten Register der Universität Chicago weisen überdies aus, daß sich BOLZA bereits vor seinen Vorlesungen über Variationsrechnung mit dieser Thematik befaßt hat, die ihn dann bis zu seinem Abschied von Chicago gefangen hielt. Beispielsweise trug BOLZAS zweiter Doktorand GILBERT A. BLISS (1876-1951) im 14täglichen Mathematical Club 1898 über ein geodätische Linien betreffendes Thema vor, über das er 1900 promoviert wurde. Diese Dissertation Geodesic Lines on the Anchor Ring wurde 1902 in den Annals of Mathematics abgedruckt. Neben G.A. BLISS wurden noch ARNOLD DRESDEN (1882-1954),58 MARY SINCLAIR (1878-1955), ANTHONY UNDERHILL (1877-1945) und NORMAN RICHARD WIL59 SON (1879-1944) von BOLZA in der Variationsrechnung promoviert, und sie alle haben später Professuren an amerikanischen Universitäten inne gehabt. Insgesamt hatte BOLZA neun Promovenden in Chicago betreut, wobei eine zehnte Promotion von BLISS zu Ende geführt wurde. Zur Variationsrechnung hat BOLZA 29 Veröffentlichungen verfaßt, insgesamt schrieb er 62 Arbeiten. Darunter waren fünf Bücher, von denen jedoch nur zwei mathematische Themen (Variationsrechnung) betrafen. 6.4.2 Das Ithaca-Kolloquium 1901 und seine Folgen In dem obigen Zitat aus BOLZAS Autobigraphie werden vom Verfasser die Umstände beschrieben, die zu den legendären acht Kolloquiumsvorträgen am Sommertreffen der AMS führten, aus dem schließlich das zu diesen Vorlesungen gehörige Buch Lectures on the calculus of variations hervorgegangen ist.60 Ein Teilnehmer dieser Vortragsreihe, G.A. BLISS, schrieb hierüber:
57. Brief an F. Klein vom 9.1.1890, Cod. Ms. F. Klein 8, 188. Auch ein späterer Brief vom 12.7.1898 an Klein befaßte sich mit Themen aus der Variationsrechnung, Cod. Ms. F. Klein 8, 197. Beide in der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung. 58. Arnold Dresden, Studium in Amsterdam und Chicago, Promotion 1909, dann Universität Madinson (Wisc.). 59. Bliss, The geodesic lines on the anchor ring, (1900); Underhill, Invariants under point transformations in the calculus of variations, (1906); Sinclair, On a compound discontinous solution connected with the surface of revolution of a minimum area, (1908); Wilson, Isoperimetric problems which are reducible to non-isoperimetric problems, (1908); Dresden, The second derivatives of the external integral, (1909). 60. Chicago, University Press, 1904 (Reprint 1946). Die Bibliothek des Mathematischen Forschungsinstituts in Oberwolfach bewahrt in ihren Beständen Bolzas Handexemplar mit dessen Korrekturbemerkungen auf.
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At the third colloquium of the Society [AMS, just founded in 1900] in Ithaca in August 1901, Bolza lectured in beautiful fashion on the calculus of variations, a subject then much in vogue because of the recent appearance of Kneser’s book [Lehrbuch der Variationsrechnung] in that field.61 BOLZA selbst bemerkte, wie oben zitiert, daß er im Summer Quarter die Vorlesung über Variationsrechnung nochmals als Generalprobe für den Vorlesungszyklus im Kolloquium gehalten habe. Von dieser Sommervorlesung gibt es die erwähnte Ausarbeitung Calculus of Variations, course given during the summer, 1901,62 die WALTER WILSON HART besorgt hat und die in der Universitätsbibliothek in Chicago aufbewahrt wird. Das ermöglicht einen Vergleich der gedruckten Version der Kolloquiumsvorträgen, den Lectures on the calculus of variations,63 mit den Vorlesungen selbst, die übrigens im August für das Kolloquium eine Woche unterbrochen wurden. Von den Lectures sagte BOLZA im Vorwort, daß the […] volume is, in substance, a reproduction of these lectures [Ithaca Colloquium], with such additions as modifications as seemed me desirable in order that the book could serve as a treatise.64 Die vergleichende Durchsicht der Vorlesungsausarbeitung und der gedruckten Form der Kolloquiumsvorträge überrascht jedoch nach dieser Bemerkung: nicht nur in den uns interessierenden die Feldtheorie betreffenden Teilen, sondern auch im Hinblick auf die völlig veränderte Anlage gegenüber der seinerzeit bekannten Weierstraßschen Tradition. Zwar wurden in beiden Fällen nur Variationsprobleme für eine gesuchte Funktion einer unabhängigen Veränderlichen (die sogenannten einfachsten Probleme) behandelt, aber während BOLZA in der Vorlesung Felder lediglich für solche Parameterprobleme betrachtete und dabei noch weitgehend dem Weierstraßschen Vorbild folgte, setzte er in den Kolloquiumsvorträgen mit der Feldkonstruktion beim durchsichtigeren Funktionenproblem ein (wie es auch HILBERT fast ausnahmslos tat), und er kam erst danach auf das Pendant beim Parameterproblem zu sprechen, wobei BOLZA – so weit das möglich war – nur die abweichenden Stellen zu erörtern suchte.65 Überraschend ist gleichfalls, daß BOLZA hier weitgehend das (ihm natürlich unbekannte) Konzept von KARL WEIERSTRAß verwirklichte, so wie es dieser für eine geplante, aber nie verwirklichte monographische Darstellung in einem Brief vom 14. März 1885 an HERMANN AMANDUS SCHWARZ 61. G.A. Bliss, “Oskar Bolza – in memoriam”, Bulletin of the AMS, 50 (1944), 478–489, Zitat p. 481. Mit einer Bibliographie von Bolza. Das erwähnte Knesersche Buch ist dessen Lehrbuch der Variationsrechnung, Braunschweig, Vieweg, 1900. 62. University of Chicago, Regenstein Library, Departement of Mathematics, Lecture notes, Box 5 (Qa 315 B68). 63. Chicago, University Press, 1904 (Reprint 1946). 64. aaO., vi. 65. In order to avoid repetitions, we shall discuss in detail only those points in which the new [i.e new in the course] treatment differs essentially from the old one. Lectures, 115.
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entwickelt hatte (siehe Abschnitt 3.6.2). Mit lediglich zwei Kapiteln über das Funktionenproblem gegenüber vier Kapiteln über das Kurvenproblem wird in den Vorlesungen dem Funktionenproblem gegenüber dem Kurvenproblem noch deutlich weniger Platz eingeräumt als in den Lectures, wo das Verhältnis ausgewogener ist. OSGOOD war in seiner Übersichtsarbeit Sufficient conditions gänzlich auf die einfacher zu erörternden Funktionenprobleme ausgewichen: The object of this paper is to give an account of Weierstrass’s work. Only the simplest case is considered, and the representations of x and y by means of a parameter t is not introduced. This is desirable, since the gist of Weierstrass’s ideas is thus most clearly set forth.66 Es waren nicht nur die methodischen Vorzüge, die Funktionenprobleme gegenüber Kurvenproblemen bieten, durch die BOLZA zum Umbau seiner Darstellung bewogen wurde. Diese pädagogischen Vorteile wären wohl eher für die Studenten seiner Vorlesungen als für die mathematisch fortgeschrittenen Hörer seiner Kolloquiumsvorträge angebracht gewesen. Der methodischen Eleganz der Theorie von Funktionenproblemen steht allerdings die Möglichkeit von Parameterproblemen gegenüber, die zulässigen Kurven nicht in funktionaler Form y = f(x) darstellen zu müssen. Der Weierstraß-Schüler BOLZA nahm hier die dominanten Weierstraßschen Vorstellungen zurück, die lediglich parametrische Variationsprobleme als sachgemäß ansahen, da sie den Funktionenproblemen aufgrund ihrer größeren Tragweite vorzuziehen seien und auch theoretisch eine abgerundetere Darstellung erlaubten (symmetrische Formeln, weitgehende Gleichwertigkeit von notwendigen und hinreichenden Bedingungen). Funktionenprobleme bilden jedoch eine eigenständige Aufgabe der Variationsrechnung, und BOLZA trug, anders als WEIERSTRAß dieser Tatsache Rechnung.67 Er sah beide Arten von Variationsproblemen als unterschiedliche Fragestellungen an, über deren jeweilige Verwendung a priori zu entscheiden sei: Generally speaking one may say that in all truly geometrical problems the method of a parameter representation is not only preferable, but is the only one which furnishes a complete solution. On the other hand, the older method has to be applied whenever a function of minimizing properties is to be determined (for instance, Dirichlet’s problem).68
66. Annals of Mathematics, 2 (1900-1901), 105–129, Zitat p. 105. 67. In einem Brief an Schwarz vom 14.3.1885, in dem Weierstraß einen Entwurf für ein Lehrbuch mitteilt, rückte er von der Dominanz der Parameterprobleme ab (siehe Abschnitt 3.6.2). 68. O. Bolza, Lectures on the calculus of variations, footnote p. 115. Die Bezeichnung der alten und neuen Methode von Bolza ist im strengen historischen Sinn nicht zutreffend, da die Anfänge der Variationsrechnung geometrisch verankert sind. Siehe hierzu etwa R. Thiele, “Frühe Variationsrechnung und der Funktionsbegriff”, Festschrift für Matthias Schramm, Berlin, GNT-Verlag, 2000, 128-181.
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Die “umgearbeitete und stark vermehrte deutsche Ausgabe der Lectures” dehnte diese Fußnote zu einem mehrseitigen Abschnitt §25 e) “Vergleichung der Methode der Parameterdarstellung mit der früheren Methode [für Funktionenprobleme]” aus. BOLZA, der ausgebildete Analytiker, hatte im Vorwort der Lectures seine Herkunft betont, [f]or a rigorous treatment of the Calculus of Variations the principal theorems of the modern theory of functions of a real variable are indispensable; these I had therefore to presuppose, the more so as I deviate from Weierstrass and Kneser in not assuming the function under the integral to be analytic.69 In der erweiterten deutschen Ausgabe der Lectures kommt die genannte Absicht deutlich zum Ausdruck, denn diese Fassung enthält nicht nur ein Kapitel “Hilfssätze über reelle Funktionen” (S. 154–188), das die Auflösung impliziter Funktionen behandelt und sich noch als ein Widerschein eines entsprechenden Abschnitts über “funktionentheoretische Hilfssätze” der Weierstraßschen Vorlesungen deuten ließe, sondern auch einen gedrängten 10seitigen Anhang der wichtigsten Definitionen und Sätze der Theorie reeller Funktionen. Wir hatten schon früher CONSTANTIN CARATHÉODORYS Unbehagen an der “amerikanischen Mode, nirgends analytische Funktionen zu gebrauchen” zitiert, der BOLZA hier “frönt”, und im Zusammenhang damit monierte der in der Variationsrechnung eher geometrisch denkende CARATHÉODORY auch: “Die verschiedenen Theorien sind nicht so zusammen geschmolzen[,] wie ich es in einem Lehrbuch wünschen möchte, und der Standpunkt, was die verschiedenen Bedingungen betrifft, [ist] vielleicht zu formal.”70 CARATHÉODORY schätzte BOLZAS Buch als “sehr sorgfältig und exact geschrieben ein”, aber er setzte hinzu, daß es seiner “Ansicht nach nicht sehr originell sei”.71 Hingegen äußerte sich JACQUES HADAMARD in einer Rezension der erweiterten deutschen Ausgabe Vorlesungen über Variationsrechnung 1911 erfreut über BOLZAS Konzept: L’auteur n’est pas […] de ceux qui se sont hypnotisés sur l’importance de la représentation paramétrique et de son introduction systématique par Weierstrass.72 Von Bedeutung ist schließlich BOLZAS Bemerkung in den Lectures: The emphasis lies entirely on the theoretical side: I have endeavored to give clear
69. O. Bolza, Lectures on the calculus of variations, vi–vii. Vergl. auch die Bemerkungen am Ende von Abschnitt 6.1. 70. Brief an A. Kneser vom 5.2.1905. Cod. Ms. A. Kneser A4. Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung. 71. aaO. 72. Bulletin des Sciences Mathématiques, 2ième série, 35 (1911), 201–204, Zitat p. 202. “Der Autor gehört nicht zu denen […] die von der Bedeutung der parametrischen Darstellung und ihrer systematischen Einführung durch Weierstraß gebannt sind”.
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definitions of the fundamental concepts, sharp formulations of the problems and rigorous demonstrations. Difficult points, such as the proof of the existence of a ‘field’ […] have received special attention.73 6.4.3 Feldkonstruktionen von Bolza Wir wollen nun BOLZAS Feldkonstruktionen in den Vorlesungen und den Lectures etwas genauer betrachten.74 Bereits eine flüchtige Durchsicht zeigt, daß BOLZA bei gleichen Problemen entsprechende Überlegungen nicht wiederholt, sondern durchaus neu dargelegt hat. Der Einfachheit halber wollen wir im folgenden die laufend erhobenen Grundannahmen BOLZAS durchgängig als zutreffend ansehen und auf eine Diskussion von technischen Feinheiten verzichten. Die jeweils benötigte Differenzierbarkeit sei also vorausgesetzt, ebenso sei angenommen, daß die betrachteten extremalen Kurvenbogen keine konjugierten Punkte enthalten bzw. entsprechende Funktionaldeterminanten nicht verschwinden mögen, Kurven seien doppelpunktfrei, usw. Die Vorlesungen von 1901 (Universität Chicago) Die Vorlesung behandelt zwar Kurven- und Funktionenprobleme, in ihr wird jedoch nur das Feld eines parametrisch Variationsproblem (Kurvenproblem) (1) I =
t1
∫t
F ( x, y, x', y' ) dt → Min (Max)
0
für eine gesuchte Kurve mit der Parameterdarstellung C : x = Φ(t), y = Ψ(t) konstruiert, aber BOLZA unterscheidet dabei zwischen zentralen und allgemeinen Feldern. Der § 30 widmet sich der Konstruktion eines Feldes um die Extremale C0 : x = x0(t), y = y0(t), die die gegebenen Punkte A und B verbindet. Die Existenz einer derartigen Kurve wird angenommen und das Bestehen von F 1 ( x 0, y 0, cos a, sin a ) ≠ 0 für alle a
vorausgesetzt, wobei F1 die im Zusammenhang mit der Eulerschen Differentialgleichung für Parameterprobleme von WEIERSTRAß definierte Funktion ist. Diese Bedingung ist übrigens, was später im § 35 gezeigt wird, hinreichend für ein starkes Extremum in C0. Die deutsche Ausgabe der Lectures hebt die Rolle dieser Bedingung unter analytischen Gesichtspunkten sehr deutlich hervor: Es gibt für F1 ≠ 0 im Kleinen genau eine Lösung des Randwertproblems der 73. O. Bolza, Lectures on the calculus of variations, vi. 74. Mit Vorlesung ist im folgenden die 1901 gehaltene Vorlesung über Variationsrechnung in der Ausarbeitung von Hart gemeint, die gedruckte Ausarbeitung der Vorträge des Ithaca-Kolloquiums wird als Lectures (1904) zitiert, und deren erweiterte deutsche Fassung Vorlesungen über Variationsrechnung (1909) wird schließlich als erweiterte deutsche Ausgabe der Lectures bezeichnet.
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Eulerschen Differentialgleichung, die die Punkte A und B durch eine Extremale verbindet.75
Abb. 6.5. Das Randwertproblem bei der Feldkonstruktion (Mitschrift 1901).
In den Vorlesungen (§ 30) wird das Randwertproblem in einem Kreis KA um den Punkt A durch die Kurvenschar Ca : x = Φ(t, a), y = Ψ(t, a),
lokal eindeutig gelöst; die Extremale C0 ergibt sich für a = a0. Um die Existenz des Feldes über den Kreis hinaus zu sichern, wird außerhalb des Kreises KA auf der Extremalen C0 der Punkt P(x, y) beliebig gewählt. P*(x + ξ, y + η) sei nahe P gelegen. Die Extremale Ck von A nach P* ergebe sich durch den Parameter a = a0 + k. Anschaulich gesprochen füllt die Menge solcher P* einen Streifen Sk um C0. Das Gleichungssystem x + ξ = Φ(t + τ1, a0 + k), y + η = Ψ(t + τ1, a0 + k)
läßt sich aufgrund der Voraussetzung nicht vorhandener konjugierter Punkte eindeutig auflösen. Damit folgt, da alle analytischen Forderungen an ein Feld erfüllt sind, die Existenz eines Feldes um die Extremale C0 (Theorem 20). Das Theorem 21 konstatiert unter diesen Voraussetzungen, daß das t,aParametergebiet Rk und der Feldstreifen Sk in der x,y-Ebene für hinreichend kleine k eineindeutig aufeinander abgebildet werden können. Die entsprechenden Abbildungen und ihre Umkehrungen seien x = Φ(t, a),
y = Ψ(t, a) in Rk;
a = a(x, y),
t = t(x, y) in Sk.
75. Vorlesungen über Variationsrechnung, §33a), Satz I.
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KAPITEL 6
Modern gesprochen wird hier ein Feld als diffeomorphes Bild der Parameterlinien a = const charakterisiert.76 Der gerade in Rede stehende Sachverhalt des Diffeomorphismus bietet einen Beleg für BOLZAS Gründlichkeit, denn BOLZA bemerkte, was KNESER und OSGOOD an den entsprechenden Stellen ihrer Feldkonstruktion entgangen war,77 um eine diffeomorphe Beziehung zu sichern: Wenn für beliebig kleine Größen k in Sk Punkte existieren, denen in Rk zwei verschiedene Bilder entsprechen, dann muß es in Rk einen Punkt geben, so daß in jeder Umgebung dieses Punktes zwei unterschiedliche Punkte angegeben werden können, deren Bilder in der x,y-Ebene zusammenfallen. Gleich am ersten Tage des AMS Meetings trug BOLZA neben dem acht Vorträgen umfassenden Zyklus zur Variationsrechnung unter dem Titel New proof of a theorem of Osgood’s in the calculus of variations78 auch hierüber vor.
Abb. 6.6. Das Feld als diffeomorphes Bild eines Parameterbereichs (Abbildungen aus den Vorlesungen über Variationsrechnung, 1909).
Danach wird im § 32 gefolgert, daß – wie gewünscht – der Weierstraßsche Darstellungssatz gilt, und der § 35 stellte schließlich einen Zusammenhang und der Funktion F1 her, den WEIERSTRAß in zwischen der Exzeßfunktion seinen Vorlesungen 1882 gegeben hatte.
ε
76. Man vergleiche die Betrachtungen von Nikolaus I Bernoulli über Kurvenscharen in Abschnitt 1.4. 77. A. Kneser, Lehrbuch der Variationsrechnung, §14; W. Osgood, “On a fundamental property of a minimum”, Transactions of the AMS, 2 (1901), 273–295, 278. 78. Gedruckt in Transactions of the AMS, 2 (1901), 422–427, insbes. p. 424.
DIE FELDKONSTRUKTION UND VERWANDTE THEMEN
563
Abb. 6.7. Der Weierstraßsche Kunstgriff des vorgezogenen Punktes (Mitschrift 1901).
Der folgende Paragraph 36 schwächt die Voraussetzungen der Feldkonstruktion ab, wobei die Lösungsweise des Randwertproblems aus § 30 der Leitfaden ist. Zur Erzeugung des Streifens Sk wurde nicht die Lösbarkeit der Randwertaufgabe im gesamten Kreis um A benötigt, sondern nur in einem bestimmten Winkelraum W, was analytisch auf die abgeschwächte Forderung hinausläuft, F1 ≠ 0 nicht mehr für alle a ∈ R1 zu verlangen, sondern a auf den genannten Winkelraum zu beschränken. Der Paragraph 37 “Extension of Concept of a Field and Hilbert’s Proof of Weierstrass Theorem” ist ein interessanter Widerschein der auf die Weierstraßsche Vorlesung von 1879 folgenden Seminare. Der Punkt A0 liege kurz vor A auf der Extremalen C0 von A nach B. In der beschriebenen Weise kann ein zentrales Feld um A0 konstruiert werden, das auch als ein allgemeines Feld für den A und B verbindenden Kurvenbogen C0 betrachtet werden kann (sofern die Punkt A und B hinreichend benachbart sind). Der Nachweis, daß in dieser erweiterten Sicht des Feldes die grundlegende Weierstraßsche Darstellungsformel weiterhin gilt, bedarf einiger Zusatzbetrachtungen. Anstelle der im zentralen Feld um A0 gültigen Formel (2) ∆J = J ( C ) – J ( C 0 ) =
∫A ε dτ P
0
ergibt sich nämlich im allgemeinen Feld für den Bogen der Extremalen C0 von A nach B (3) ∆J = J ( C ) – J ( C 0 ) =
∫A [ ε + Ω ( a )a' ( τ ) ] dτ B
=
τ1
∫τ [ ε + Ω ( a )a' ( τ ) ] dτ . 0
Für zentrale Felder stellt sich das Problem nicht, da das zusätzliche Glied im Integranden verschwindet. BOLZA wies nach, daß das auch für allgemeine Felder der Fall ist. Der Zusatzterm in (3) ist bereits in der Form notiert, auf die BOLZA mit Hilfe des Hilbertschen Unabhängigkeitsintegrals gekommen war. Den Punkten A und B entsprechen die Kurvenparameter τ0 und τ1. Da die Punkte A und B im Feld liegen, werden sie durch genau eine Extremale verbunden, deren Parameter a0 sei und der sich aus der zum Feld gehörigen Gleichung a = a(x, y) = a (x(τ), y(τ)) bestimmt. BOLZA setzte
564 τ1
∫τ
KAPITEL 6
Ω ( a )a' ( τ ) dτ =
0
a
∫a Ω ( a ) da
= Ψ ( a ) – Ψ ( a0 )
0
und erhielt τ1
∫τ
0
Ω ( a )a' ( τ ) dτ = Ψ ( a ( τ 1 ) ) – Ψ ( a 0 ( τ 0 ) ) = Ψ ( a 0 ) – Ψ ( a 0 ) = 0,
da wie oben bemerkt a(τ1) = a0 ist. An dieser Stelle unterbrach BOLZA die Vorlesungen am Freitag, dem 16. August 1901, um in der folgenden Woche vom Montag bis Samstag (19. - 24. August) am AMS Meeting in Ithaca teilzunehmen und um dort in einer Reihe von acht Vorträgen “ein ausführliches, historisch-kritisches Referat über die Fortschritte der Variationsrechnung während der letzten Jahrzehnte zu geben.”79 Danach wurde die Vorlesung noch durch die bereits erwähnten Vereinfachung des Osgoodschen Satzes, eine Verallgemeinerung des Begriff des Kurvenintegrals, HILBERTS Existenzbeweis für Minima sowie durch die Behandlung unfreier Variationen fortgesetzt. In dem letzten Paragraphen 42 werden übrigens Nebenbedingungen der Art G ≤ 0 betrachtet, was bisher von den Mathematikhistorikern nicht ausreichend zur Kenntnis genommen wurde.80 Die Lectures on the calculus of variations (gedruckte Fassung des Ithaca Meetings) Die Reihe jener acht Vorträge, die auf dem Meeting gehalten wurde, läßt sich aus den sieben Kapiteln der 1904 gedruckten Lectures on the calculus of variations recht gut rekonstruieren, die BOLZA selbst als nur geringfügig veränderte Reproduktion des Vortragszyklus beschreibt (siehe jedoch das entsprechende Zitat weiter oben). Das Buch Lectures on the calculus of variations “ist sehr sorgfältig und exakt beschrieben”, bescheinigte CONSTANTIN CARATHÉODORY dem Autor in einem Brief an ADOLF KNESER.81 Die Lectures beginnen mit dem Funktionenproblem J( C) =
x1
∫x
F ( x, y, y' ) dx → extremum
0
79. O. Bolza, Vorlesungen über Variationsrechnung, iii. 80. Das Kapitel The calculus of variations, das eine Zusammenfassung von älteren Arbeiten von A.V. Dorofeeva in dem Buch von A.N. Kolmogorov und A.P. Yushkevich Mathematics of the 19th Century (Basel, Birkhäuser, 1998) bildet, nimmt selbst solche Arbeiten Bolzas, die auch in der Schwarz-Festschrift (Berlin, Springer1914, hrg. C. Carathéodory) enthalten sind, nicht zur Kenntnis, sondern verweist lediglich auf Gernet (1913) und Valentine (1937). Bolza selbst weist in einem Brief an A. Kneser vom 14.10.1921 darauf hin, daß bereits Gauß derartige Nebenbedingungen verwendete (Cod. Ms. A. Kneser A3, Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung). 81. Brief vom 5.2.1905. Cod. Ms. A. Kneser A4. Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung; man vgl. auch die zu den Fußnoten 70-71 geörigen Zitate.
DIE FELDKONSTRUKTION UND VERWANDTE THEMEN
565
für die in der Form C : y = f(x), x0 ≤ x ≤ x1, darstellbaren Kurven. BOLZA beschränkt sich durchgängig auf eine gesuchte Funktion. Die zum Problem gehörige einparametrige Extremalenschar sei durch y = Φ(x, γ) gegeben, und sie enthalte für γ = γ0 die zu untersuchende Extremale C0 : y = y0 (x) = Φ (x, γ0). Der Feldcharakter der Schar y = Φ (x, γ) werde durch (4) Φγ (x, γ) ≠ 0
im Intervall [x0, x1] für Parameter γ mit ⏐γ − γ0⏐< k gesichert (§ 19). Zum Beweis nimmt man ein beliebiges x = x2 aus dem Intervall [x0, x1]. Die Funktion y(γ) = Φ (x2, γ) wächst zwischen γ0 − k und γ0 + k wegen (4) stetig und monoton. Geometrisch bedeutet dies, durch jeden Punkt der Verbindungsstrecke der beiden Punkte (x2, Φ (x2, γ0 – k)) und (x2, Φ (x2, γ0 + k)) geht genau eine Extremale Cγ.82 Analytisch ist damit durch Auflösungssätze die Existenz einer eindeutigen Funktion γ = γ (x2, y) gesichert, die stetig differenzierbar ist. Die sich nicht schneidenden Funktionen y = Φ (x, γ0 + k ) und y = Φ (x, γ0 – k) begrenzen gemeinsam mit den beiden Geraden x = x0 und x = x1 einen Streifen Sk um die Extremale C0. Schließlich genügen die im Streifen erklärten Funktionen den beiden Ungleichungen Φ (x, γ0 + k) − Φ (x, γ0) ≥ ρ > 0 und Φ (x, γ0) − Φ (x, γ0 – k) ≥ ρ > 0, da sie positive Minima haben, d.h. die Streifenbreite unterschreitet eine gewisse positive Größe ρ* nicht. Die durch die Bedingung ⏐y − Φ (x, γ0)⏐ ≤ ρ* beschriebene Umgebung der Extremalen liegt somit vollständig im Streifen Sk. Folglich sind in dem Streifen Sk alle Bedingungen für ein Feld erfüllt (S. 81).
Abb. 6.8. Feld für das Funktionenproblem.
82. Man vergleiche auch hier die Betrachtungen von Nikolaus I Bernoulli im Abschnitt 5.5.1.
566
KAPITEL 6
Der Trick, die allgemeine Feldkonstruktion auch beim Funktionenproblem auf ein zentrales Feld für einen “vorgelagerten” Punkt A0 zurückzuspielen, wird erläutert und ZERMELO als Quelle genannt.83 KNESER hatte in seinem Lehrbuch der Variationsrechnung (1900) diese Technik ausgebaut, erwähnte aber ZERMELO nicht (auch nicht in der zweiten Auflage 1925).84 In einem Anhang der Lectures wird unter anderem für ein zentrales Feld um den Punkt A0 längs der Extremalen C2, die die beiden Punkte A0 und P (P beliebig im Feld liegend) verbindet und die die Gleichung y = Φ (x, γ2) hat, das von A0 nach P erstreckte Feldintegral J ( x, y ) =
P
∫A F ( x, Φ ( x, γ2 ), Φx ( x, γ2 ) ) dx 0
erklärt, wobei die Größe γ2 im Feld durch die Ortsfunktion γ2(x, y) zu ersetzen ist. BOLZA berechnete dann auch partiellen Ableitungen dieser Funktion, die HILBERT als Ausgangspunkt für sei Unabhängigkeitsintegral dienten und die später als Fundamentalgleichungen CARATHÉODORY den “Königsweg” weisen: ∂-----------------J ( x, y )= F ( x, y, p ) – pF p ( x, y, p ) , ∂x ∂-----------------J ( x, y )= F p ( x, y , p ) ∂y
Durch p wird die Richtung der Extremalen y = Φ (x, γ2) in einem beliebigen Punkt P des Feldes bezeichnet: p = ∂Φ (x, γ2) / ∂x.85 Die Feldtheorie für das Kurvenproblem, das dem Problem (1) entspricht, wird nicht im Kapitel IV “Weierstrass’ theory of the problem in parameter reprensentation”, sondern erst im folgenden Kapitel V “Kneser’s theory” behandelt. In der erweiterten deutschen Ausgabe wird die Feldtheorie in die Weierstraßsche Theorie vorgezogen (§§ 31, 33), womit sich ein Zwischenkapitel über variable Endpunkte einschieben läßt und auch vermieden wird, auf die Feldkonstruktion erst rund 100 Druckseiten nach der Problemstellung einzugehen. Die feldtheoretischen Überlegungen in den Lectures werden durch den anschaulichen Fall der kürzesten Linie auf einer Fläche nebst den zugehörigen Gaußschen Sätzen vorab veranschaulicht (§ 32). Dieser Komplex ist natürlich auch in der erweiterten deutschen Ausgabe in dem Kapitel über KNESERS Theorie zu finden, aber teilweise schon davor behandelt worden. 83. In der Dissertation Untersuchungen zur Variationsrechnung (1894) auf den Seiten 87–88. Zermelo betrachtet im Stile von Weierstraß Kurvenprobleme, wobei er auch höhere Ableitungen zuläßt. Die Untersuchungen werden dadurch erheblich verwickelter. Hierauf hat mich Prof. Dr. C. Fraser, Toronto, hingewiesen, der Zermelos Dissertation einer eingehenden Analyse unterzogen hat. Der “Zermelosche” Trick erschien schon bei Weierstraß in Seminaren zu der Vorlesung von 1879, wurde aber später von Weierstraß in den Vorlesungen nicht mehr eingesetzt. 84. Vgl. §§ 14, 17. 85. O. Bolza, Lectures, 266 (Addenda).
DIE FELDKONSTRUKTION UND VERWANDTE THEMEN
567
Bevor BOLZA in dem Kapitel “Knesersche Theorie” die Feldkonstruktion selbst begann, konstruierte er die zu einem einparametrigen ebenen Extremalenfeld gehörige transversale Schar im Kleinen (§ 33), was im Kneserschen Umfeld naheliegend ist.86 Die transversale Schar wird durch ihre Differentialgleichung charakterisiert, die lokal notwendig und hinreichend für das Bestehen der gewünschten Beziehung ist. Ein Existenzsatz von CAUCHY garantiert lokale Lösbarkeit, wenn längs der Extremalen y = y0(x) = Φ (x, γ0) der Integrand F nicht verschwindet.87 Ist das Extremalenfeld durch x = Φ(t, a),
y = Ψ(t, a)
in Rk,
gegeben (aber noch nicht konstruiert), so läßt sich die transversale Schar durch Ersetzen von t durch t = χ(a) aus dieser Schar darstellen, wobei die Funktion t = χ(a) aus der Differentialgleichung für Transversalität gewonnen wird. Die Feldkonstruktion selbst wird auf die eineindeutige Zuordnung von Parameterbereich und Flächenstreifen um die Extremale y = y0(x) = Φ(x, γ0) zurückgeführt. Hier befinden sich auch die bereits erwähnten sorgfältigen Untersuchungen BOLZAS, mit denen er die Lücke in den Feldkonstruktionen bei KNESER und OSGOOD schloß. In der späteren deutschen Ausgabe spielt die eindeutige Lösbarkeit des Randwertproblems in einem hinreichend kleinen Kreis die wesentliche Rolle, was durch die uns bereits bekannte Bedingung F1 (x0,y0, cosa, sina) ≠ 0
für alle a
gewährleistet wird.88 Geben wir abschließend nochmals die Stellen der Feldkonstruktionen kurz an. In der Sommervorlesung 1901 gab BOLZA lediglich eine Feldkonstruktion für das einfache Variationsproblem in Parameterdarstellung (§§ 30, 31, 36, 37), die auch Thema in der amerikanischen und deutschen Ausgabe seiner Lectures (1904) bzw. Variationsrechnung (1909) ist. Die Feldkonstruktion für Funktionenprobleme ist ebenfalls in beiden Ausgaben der Lectures bzw. Variationsrechnung (1904 bzw. 1909) zu finden.89 Für eine gesuchte Funktion einer 86. Man beachte, daß es sich um Extremalenfelder einer gesuchten Funktion handelt, die im Kleinen automatisch Mayerfelder sind (d.h. eine transversale Schar aufweisen). Die Existenzfrage für die transversale Schar stellt sich nicht und wird auch von Bolza nicht problematisiert. 87. Unter dieser Voraussetzung ist die Differentialgleichung für die Transversalität vom Typ du/dv = g(u, v) mit stetig differenzierbarem g. Auf die geometrische Seite dieser Voraussetzung, die ausdrückt, daß die Normale der transversalen Schar nicht mit der Tangente der Extremalen zusammenfällt, geht Bolza hier nicht ein. Jedoch behandelte er diese Frage im § 36 a), wo er die Voraussetzung reduzierte. Er verlangt nur für bestimmte Parameterwerte, daß F nicht verschwinde, was notwendig sei, um die Transversalen konstruieren zu können. Hier drückt sich der genannte geometrische Hintergrund, aus optischer Sicht der Satz von Malus, und schließlich der analytische Sachverhalt aus, daß die Lagrangeschen Klammern nicht vom Parameter abhängen. 88. O. Bolza, Vorlesungen über Variationsrechnung, §33a), Satz I. 89. Parameterdarstellung: amerik. Ausgabe 193-196; dtsch. Ausgabe 249-252, 164-166; Funktionendarstellung: amerik. Ausgabe 80-81; dtsch. Ausgabe 119-121, 164-166.
568
KAPITEL 6
unabhängigen Variablen werden sowohl zentrale als auch allgemeine Felder konstruiert sowie die zugehörige Transversalenschar wird angegeben. Weitere Publikationen Zwischen den beiden Buchausgaben publizierte BOLZA 1906 in den Mathematischen Annalen die oben im Zusammenhang mit OSGOODS Feldkonstruktion bereits erwähnte entscheidende Arbeit Ein Satz über eindeutige Abbildungen und seine Anwendungen in der Variationsrechnung, auf die er vorab auch schon 1906 in dem Artikel Weierstrass’s theory and Kneser’s theory on transversals hingewiesen hatte: I make use of certain existence-theorems concerning implicit functions and systems of the differential equations [of Lagrange problems], which extend the results, usually given for the vicinity of a point, to the vicinity of a point set.90 BLISS hat in seinem Nachruf auf BOLZA die Wichtigkeit dieses Satzes für eine strenge Grundlegung der Variationsrechnung betont und mit Recht gesagt: One of Bolza’s important contributions was his extension and application of existence theorems for implicit functions and for solutions of differential equations.91 In dem letztgenannten Artikel beabsichtigte BOLZA für die Weierstraßsche und die Knesersche Theorie das zu leisten, was ADOLPH MAYER 1903 im allgemeinen Fall mit einer Klasse n-parametriger Extremalenscharen beim Hilbertschen Unabhängigkeitssatz erreicht hatte. Der Begriff des Mayerschar fällt hier wohl erstmals in der Form: We shall call these special n-parametric set of extremals [satisfying the integrability conditions] Mayerian set of extremals.92 Genauer, BOLZA konstruierte einmal ein zentrales Mayerfeld und zeigte, daß der Weierstraßsche Darstellungssatz in ihm gilt, und er verallgemeinerte zum anderen den von KNESER im eindimensionalen Fall ohne Nebenbedingungen gegebenen Transversalensatz für ein Mayerfeld, woraus sich wiederum die
90. Transactions of AMS, 7 (1906), 459-488, Zitat p. 461. 91. Bulletin of the AMS, 50 (1944), 480-489, Zitat p. 484. Bliss’ Obituary Bolza in memoriam aus dem 2. Weltkrieg ist übrigens ein bemerkenswertes zeitgeschichtliches Dokument für die Haltung amerikanischer Wissenschaftler. Beim Eintritt der USA in den 1. Weltkrieg war Bolza 1917 als non-resident professor der Universität Chicago gestrichen worden, was Bolza, der davon erst 1919 erfuhr, sehr getroffen hatte. E.H. Moore setzte sich aufgrund der Verdienste des ehemaligen “Kriegsgegners” (enemy alien) für eine Restoration ein, die 1924 erfolgte. Bolza dankte in einem bewegenden Brief (31. 5. 1924), von dem nur eine Übersetzung erhalten ist (University of Chicago, Regenstein Library, University President’s papers, box 17, folder 3). Beschämender ist als Pendant die Wissenschaftspolitik im Dritten Reich, wo Bolza bereits in “Friedenszeiten” um Erlaubnis bitten mußte, von Freiburg i.Br. in das nahe, aber in Frankreich gelegene Strasbourg zu reisen, um dort sich besuchsweise aufhaltende alte amerikanische Kollegen zu treffen. 92. Transactions of AMS, 7 (1906), 459-488, Zitat p. 481. Die Arbeit ist im Frühjahr 1906 geschrieben worden.
DIE FELDKONSTRUKTION UND VERWANDTE THEMEN
569
Darstellung der totalen Variation mittels der Exzeßfunktion gewinnen ließ (siehe auch Abschnitt 4.6). Wir betrachten abschließend noch BOLZAS Arbeit Über den Hilbertschen Unabhängigkeitssatz beim Lagrange’schen Variationsproblem93 aus dem Jahre 1911, mit der auch seine Chicagoer Zeit beendet wird. Diese Untersuchung spiegelt nicht nur exemplarisch BOLZAS allgemeine Auffassung der Variationsrechnung wider, sondern sie stellt gleichzeitig einen wesentlichen Sachverhalt heraus. Die verschiedenen ausgeführten Erweiterungen der hinreichenden Bedingungen für mehrere gesuchte Funktionen durch HILBERT (Unabhängigkeitsintegral), MAYER (Feldkonstruktion) und BOLZA selbst, zu denen noch die Hahnsche Untersuchung 1910 über den Zusammenhang des Unabhängigkeitssatzes mit der zweiten Variation gekommen war (siehe unten), veranlaßten BOLZA schließlich nach einer zusammenfassenden und einheitlichen Darstellung dieser unterschiedlichen Herangehensweisen zu suchen, deren Ergebnis die in Rede stehende Arbeit war. Wir sehen wieder von den behandelten Nebenbedingungen ab. Der Ausgangspunkt BOLZAS waren die Integrabilitätsbedingungen des Feldes, die sowohl HILBERT als auch MAYER an zentraler Stelle ihrer Überlegungen benutzten. BOLZA konzentrierte sich dabei auf jene Gruppe der Bedingungen, die nicht zur Eulerschen Differentialgleichung gleichwertig sind (vgl. Abschnitt 6.2.1 Formeln (3) und (4) bzw. (5) und (6)). Sie sind bei BOLZA im Satz 1 durch die Beltramischen Differentialgleichung für die Gefällefunktion ausgedrückt. Damit wurden die Forderungen, die an ein Feld gestellt werden, vermindert. Aber BOLZA reduzierte die Anforderungen nochmals, indem er zeigte, daß die verbliebenen Integrabilitätsbedingungen nicht im ganzen Feld zu erfüllen sind, sondern nur auf einer das Feld schneidenden Hyperebene. Von hier aus konnte er die Brücke zu den vorhin erwähnten Arbeiten schlagen, indem er mit den so charakterisierten Extremalenscharen (Satz 3) die verschiedenen Formen des Unabhängigkeitsatzes angab. Eine interessante Formulierung eines Hilbertschen Ergebnisses gibt BOLZAS Satz 6a an, in dem die Invarianz des Hilbertschen Integrals für das Feld (lokal) bereits aus seiner Wegunabhängigkeit auf einer im Feld gelegenen transversalen Hyperfläche folgt. Mit anderen Worten, das Unabhängigkeitsintegral verschwindet dort längs einer geschlossenen Kurve (Satz 7) – ein Ergebnis, das sich sowohl bei DAVID HILBERT (1905) und HANS HAHN (1910) findet und auch in GEORG PRANGES (1885-1941) Dissertation 1915 diskutiert wird.94 93. Rendiconti del Circolo Matematico di Palermo, 31 (1911), 257–272. 94. D. Hilbert, “Zur Variationsrechnung”, Göttinger Nachrichten, (1905), 159–180, Zitat in: Gesammelte Abhandlungen, Bd. 3, S. 46f; H. Hahn, “Über den Zusammenhang zwischen den Theorien der zweiten Variation und der Weierstrass’schen Theorie der Variationsrechnung”, Rendiconti del Circolo Matematico di Palermo, 29 (1910), 49–78, Zitat S. 53. Vgl. auch die Ausführungen über Hahn und Prange in 5.6.3.
570
KAPITEL 6
Abschließend gab BOLZA die Konstruktion einer Hyperfläche an, die das Extremalenfeld transversal schneidet. Die Gültigkeit des Unabhängigkeitssatzes konnte mit einer solchen transversalen Hyperfläche so ausgesprochen werden: “Satz 8. – Durch jeden Punkt im Innern eines Mayer’schen Feldes geht […] eine und nur eine Transversalhyperfläche. Umgekehrt: Jede Extremalenschar, zu welcher es eine Transversalhyperfläche gibt, ist eine Mayer’sche Schar”. BOLZAS Beiträge zur Feldtheorie erschöpften sich nicht nur in den genannten wichtigen Forschungsergebnissen, sondern er lieferte durch seine zwei Bücher nicht nur leicht zugängliche, sondern auch gut verständliche Lehrbücher, an denen es seinerzeit fehlte. Aufgrund ihres enzyklopädischen Charakters95, ihrer großen Sorgfalt, der Aktualität in der Wiedergabe der Forschungsergebnisse sowie der Betonung der tragenden Ideen sind diese Darstellungen heute Klassiker der Variationsrechnung.96 BOLZA behandelt im Gegensatz zu WEIERSTRAß das Funktionenproblem als eine eigenständige Aufgabe, ohne das Parameterproblem zu vernachlässigen. Bei HILBERT zeigt sich der umgekehrte Sachverhalt, da er sich auf das Funktionenproblem konzentrierte. KNESER wiederum bevorzugte zwar das Parameterproblem, schloß aber das Funktionenproblem in die Untersuchungen stets ein. Interessant ist hier ein Brief, den BOLZA an KNESER 1907 geschrieben hat, als er an der deutschen Ausgabe der Vorlesungen arbeitete und von einer bevorstehenden Nachauflage des Kneserschen Buches gehört hatte (die es allerdings erst 1925 gab). Im Hinblick auf sein eigenes Werk (“Sie haben vielleicht aus Teubner’s Anzeigen gesehen, daß ich eine deutsche Bearbeitung meiner Lectures in Vorbereitung habe”.) bat er daher um Informationen, wobei er seine eigenen Absichten darlegte. Er wolle das x-Problem (Parameterproblem) etwas kürzer behandeln und das t-Problem (Funktionenproblem) etwas länger ausführen, da er vorliegende Untersuchungen von BLISS und CARATHÉODORY zu verarbeiten gedenke. Weiterhin wolle er ein oder zwei Kapitel über den allgemeinsten Fall bei einfachen Integralen aufnehmen.97
95. Zumindest für das einfachste Variationsproblem, dessen Behandlung damals weitgehend abgeschlossen war, sind Bolzas Angaben außerordentlich vollständig. An Hilbert schrieb Bolza: “Eine […] Darstellung der Variationsrechnung für zwei und mehr Veränderliche, wie Sie es in Ihrer Karte vorschlagen, würde lange Vorstudien meinerseits erfordern. So werde ich mich damit begnügen, in meiner 3. und letzten Lieferung eine kurze Darstellung der elementaren Theile […] der Doppelintegrale zu geben”. Brief vom 13.6.1909, Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung, Cod. Ms. D. Hilbert 37:7. Hilberts Karte war am 19.5. nach Chicago geschickt, aber von dort Bolza nach Freiburg nachgesandt worden, der sie bereits am 13.6. beantwortete. 96. Man vergleiche z.B. die Rezensionen von Carathéodory im Archiv für Mathematik und Physik, (1906, 183-185) und von Hadamard im Journal de Mathématique (1906, 201-204) bzw. in deren gesammelten Werken. 97. Brief vom 19.2.1907. Cod. Ms. A. Kneser A3. Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung. Als Bolza 1925 Knesers zweite Auflage des Lehrbuchs der Variationsrechnung erhielt, dankte er, bedauerte aber, denn “mit 68 streikt der Kopf bei genauerer Durcharbeitung”, aaO.
DIE FELDKONSTRUKTION UND VERWANDTE THEMEN
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Auch die solide historische Bearbeitung des Themas und das Zurückgehen auf die Originalarbeiten machen die Bolzaschen Lehrbücher noch heute zu einer mathematikgeschichtlichen Fundgrube. 6.5 Gilbert A. Bliss (1904) Sowohl GILBERT AMES BLISS (1876-1951)98 als auch WILLIAM F. OSGOOD (1864-1953) gehören zu der Generation, die erstmals bedeutende amerikanischen Mathematiker hervorgebracht hat. Während OSGOOD sich aber nur kurz der Variationsrechnung zugewandte hatte, war diese Disziplin zum zentralen Arbeitsgebiet von BLISS während seines gesamten Lebens geworden. Er schrieb 60 Arbeiten, deren erste (1898) und letzte (1942) sowie etwa die Hälfte der dazwischen liegenden Publikationen die Variationsrechnung betreffen. Von seinen fünf Büchern behandeln drei die Variationsrechnung. Der Nachruf der AMS auf BLISS bemerkte: Bliss was known the world around as one of the leading authorities on the calculus of variations, although he did not contribute to the new directions of study opened up by Tonelli and by Morse.99 Die genannte Zurückhaltung gegenüber der neuen Variationsrechnung teilte BLISS übrigens mit CONSTANTIN CARATHÉODORY.100 Jedoch war BLISS wie auch HILBERT interessiert an Anwendungen der Variationsrechnung in der Quantenmechanik und Relativitätstheorie.101 Ebenso schenkte er der Geschichte seines Faches große Aufmerksamkeit. In den von ihm mitherausgegebenen vier Bänden Contributions to the calculus of variations (19311942) sind auch einige historische Dissertationen zu finden, etwa WILLIAM LARKIN DUREN (geb. 1905) The development of sufficient conditions in the calculus of variations.102 Insgesamt betreute BLISS etwa 50 Dissertationen, die überwiegend Themen der Variationsrechnung betreffen. Aus unserer Sicht wäre hier die Arbeit von MAGNUS R. HESTENES (1906-1991) Sufficient conditions for the general problem of Mayer with variable end-points (1932) hervorzuheben.
98. Gilbert A. Bliss (1876-1951), Studium in Chicago 1893-1898, dort Master 1898 und Ph.D. 1900, Aufenthalt in Göttingen 1902-1903; verschiedene amerikanische Universitäten, darunter auch Chicago 1903-1904, ab 1908 ständig Chicago und dort von 1913-1933 Professor. 99. “G.A. Bliss”, Bulletin of the AMS, 58 (1952), 251–264, Zitat p. 253. 100. Allerdings betreute Bliss gemeinsam mit L.M. Graves die Dissertation von E.J. McShane Semi-continuity in the calculus of variations (1930); in der Vorlesung von 1933 über mehrdimensionale Variationsrechnung wurden auch Extremalen im Sinne Tonellis definiert, siehe weiter unten. Ähnliches läßt sich bei Carathéodory und seinem Doktoranden Finsler sagen. 101. Z.B. Bliss, “The calculus of variations and the quantum theory”, Bulletin of the AMS, 38 (1932), 201–224. 102. Chicago, University of Chicago Press, 1930-1942; Arbeit von W.L. Duren aus dem Jahr 1930 in Band 1.
572
KAPITEL 6
In dem bereits erwähnten Nachruf der AMS wird der Zugang von BLISS zur Variationsrechnung beschrieben: During his time as a graduate student [about 1899] Bliss made a copy of Bolza’s record of Weierstrass’ 1879 course on the calculus of variations. This record together with Bolza’s influence undoubtedly helped fix in Bliss’ mind the interest in the subject which dominated his research. During his stay in Minnesota [1900-1902] he studied Kneser’s book, which was the first printed edition of Weierstrass ideas.103 Der (ungenannte) Autor hob weiter hervor, daß geometrische Betrachtungen in den ersten Arbeiten von BLISS eine herausragende Rolle spielten und daß er bereits vor FINSLERS Dissertation (1918) bestimmte Geometrien betrachtete, die heute nach PAUL FINSLER (1894-1970) benannt sind. Das unterstreicht alles den Weierstraßschen Hintergrund bei BLISS, aber wir müssen auch die Veränderungen hierzu im Auge behalten, insbesondere daß BLISS in der Regel das Feld über HILBERTS Unabhängigkeitsintegral erklärt. Eigenständig ist BLISS auch in seiner Art der Feldkonstruktion. Er versicherte sich in seiner ersten einschlägigen Arbeit der Existenz eines Feldes auf eine ganze andere Weise.104 Gegenüber der Anwendung von Auflösungssätzen bei OSGOOD und BOLZA führte BLISS die Feldkonstruktion für ein ebenes Variationsproblem in Parameterdarstellung auf die Lösbarkeit eines Randwertproblems zurück, nämlich auf die Lösung der mit dem Variationsproblem verbundenen Randwertaufgabe für die Eulersche Differentialgleichung. Ein Existenzsatz von EMILE PICARD (1856-1941),105 der unter gewissen Stetigkeitsannahmen (in C1) für hinreichend benachbarte Randwerte mit Hilfe der sukzessiven Approximation die Lösbarkeit des Randwertproblems y" = f(x, y, y'),
y(a) = A,
y(b) = B,
bringt, sicherte die Möglichkeit, in einem bestimmten Gebiet je zwei Punkte durch genau eine Lösungskurve zu verbinden.106
103. “G.A. Bliss”, Bulletin of the AMS, 58 (1952), Zitat p. 252. Die Aussage, daß Bliss die Mitschrift Bolzas zur Verfügung hatte, kann bezweifelt werden. Die Bibliothek des Mathematischen Instituts in Chicago hat eine der verbreiteten Mitschriften der 1879er Vorlesung von Weierstraß durch den Berliner Mathematischen Verein, die – wie dem Exemplar zu entnehmen ist – auf Initiative von Bliss eingestellt wurde. Bolza hat zwar als Hörer dieser Vorlesung eine eigene Mitschrift angefertigt, aber diese ist offenbar verschollen. 104. “Jacobi’s criterion when both end-points are variable”, Mathematische Annalen, 58 (1904), 70–80; “An existence theorem for a differential equation of second order, with an application to the calculus of variations”, Transactions of the AMS, 5 (1904), 113–125. 105. E. Picard, Traité d’Analyse, t. 3, 1891, 94–100. 106. L’intégrale déterminée par la méthode précédente [approximations successives] est unique. (“Das durch die vorangehende Methode [der sukzessiven Approximation] bestimmte Integral ist eindeutig”.) Traité d’Analyse, t. 3, 1891, 99.
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BLISS ging von diesem Existenzsatz aus, dessen Gültigkeit er unter der sachgemäßen Zusatzforderung F1 > 0 auf die Eulersche Differentialgleichung eines Problems in Parameterdarstellung erweiterte.107 Damit war die Existenz eines solchen Extremalenfeldes im Kleinen gewährleistet, in dem das Variationsintegral längs jeder zwei Punkte des Feldes (eindeutig) verbindenden Extremale minimiert wird. BLISS hat hier erstmals einen für die Variationsrechnung wichtigen Sachverhalt geklärt, der bis dahin als offensichtlich galt, nämlich die Lösbarkeit der zum Variationsproblem mit festen Randwerten gehörigen Randwertaufgabe im Kleinen. Neuerdings hat der russische Mathematiker ISRAEL MOISEJEWITSCH GELFAND (geb. 1913) diese Idee wieder aufgegriffen und das Feld über eine Randwertaufgabe erklärt (vgl. Abschnitt 6.12). Sofern man übrigens neben der Lösbarkeit der Randwertaufgabe für die Extremale zusätzlich in einer Streifenumgebung F1 > 0 voraussetzt, läßt sich die lokale Existenzaussage global auf den die Extremale umgebenden Streifen ausdehnen. Anders gesagt, die lokale Minimalitätseigenschaft gilt gleichmäßig im gesamten Streifen. Geometrisch gedeutet besagt die Forderung F1 > 0, daß die Extremale von der zugehörigen (und existenten) transversalen Schar im Streifen geschnitten, aber nicht berührt wird. Hieraus folgt, daß der Streifen ein Feld bildet. Zu erwähnen sind hier auch BOLZAS Beiträge, die er seit 1901 in den Vorlesungen, Arbeiten und Büchern gegeben hat, worauf bereits oben eingegangen wurde. Es ist keine Frage, daß diese Ergebnisse BLISS bekannt waren. Es ist bei BLISS’ Vorgehen naheliegend, daß er das zu einem Variationsproblem gehörige Feld nicht über die Extremalenschar y = ϕ(x, a) selbst, sondern über deren Gefällefunktion p = p(x, y) definierte (bei funktionaler Darstellung).108 Gelegentlich hatte HILBERT in seinen Vorlesungen solche Felder auch als Unabhängigkeitsfelder bezeichnet. Wie sehr BLISS hier HILBERTS Ideen folgte, zeigt sich darin, daß er auch für mehrere gesuchte Funktionen die Feldeigenschaft (Mayerfeld) über das Unabhängigkeitsintegral forderte. Eine solche implizite Definition umgeht die technischen Details einer Konstruktion. Umgekehrt folgt hieraus auch, wie nahe HILBERT schon einer tatsächlichen Felddefinition gekommen war, die er schließlich in der Vorlesung im WS 1904 dann gegeben hat. Gelegentlich hat BLISS allerdings das Feld für ein einfaches
107. F1 ist im Sinne der Weierstraßschen Theorie (in der Eulersche Differentialgleichung für Parameterprobleme) definiert, im Sinn von HILBERT drückt es die Regularitätsforderung für das Variationsproblem aus, analytisch ist es schließlich eine hinreichende Bedingung für die Lösbarkeit von Randwertproblemen (siehe hierzu oben bei Bolza). Die Gleichung (2) auf Seite 116, die die Parameterinvarianz des Integranden ausdrücken soll, ist verdruckt, da auf der rechten Seite der Parameter κ fehlt. 108. G.A. Bliss, Lectures of the calculus of variations, Chicago, 1946, 44 S.; auch so in seinen Vorlesungen Lectures on the calculus of variations (summer quarter 1922), section I (Bliss’s own notes), 35 S., The calculus of variations, multiple integrals (summer quarter 1933), 62 S., The calculus of variations in three space (autumn quarter 1934), 70 S. (alle in der Bibliothek des Mathematical Departements der Universität Chicago).
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Integral mit einer gesuchten Funktion auch über die Extremalenschar definiert.109 Für das ebene Problem in Parameterdarstellung wurde 1904 erstmals von BLISS das Hilbertsche Unabhängigkeitsintegral in Parameterform aufgeschrieben, woraus sich unmittelbar das Weierstraßsche Kriterium für starke Extrema ergibt.110 Im gleichen Jahr verwendete auch BOLZA in seinen Lectures on the calculus of variations das Unabhängigkeitsintegral in Parameterform, um den Weierstraßschen Satz für Parameterprobleme zu beweisen.111 Etwas versteckt und ohne die Rechengröße als Unabhängigkeitsintegral zu bezeichnen wurde es bereits in BOLZAS unveröffentlichter Vorlesung über Variationsrechnung 1901 benutzt.112 Entsprechende Überlegungen für das Unabhängigkeitsintegral in Parameterform hat DAVID HILBERT nur in seinen Vorlesungen und dort eher am Rande vorgetragen, aber nicht veröffentlicht.113 In zwei Arbeiten von 1908 und 1910 dehnten GILBERT AMES BLISS und MAX MASON114 die Weierstraß-Hilbertsche Methode auch auf räumliche Variationsproblem in Parameterdarstellung aus.115 Merkwürdigerweise erwähnten sie weder die Mayerschen Arbeiten (1903, 1905) noch die Hilbertsche (1905), führten jedoch beiläufig die Gernetsche Dissertation in einer Fußnote an. Die Aussage The study of the sufficient conditions for fixed and for variable end-points seems to be entirely new116
109. G.A. Bliss, Calculus of variations, Chicago 1925, dtsch. Leipzig 1932, Kapitel V, Nr. 52. 110. “An existence theorem for a differential equation of second order, with an application to the calculus of variations”, Transactions of the AMS, 5 (1904), 113–125, Zitat p. 122. 111. § 37, 195. Das 1904 publizierte Lehrbuch geht auf eine Vorlesungsreihe von 1901 zurück, die auch Bliss besucht hatte. Bolza, der bei Weierstraß Variationsrechnung gehört hatte, stellte anfangs insbesondere die Weierstraßsche Theorie dar und behandelte daher vor allem Variationsprobleme in Parameterdarstellung. Aber in den Büchern findet sich ebenso gleichwertig die Wiedergabe des funktionalen Variationsproblems, wobei das Unabhängigkeitsintegral nach Hilbert eingeführt wurde. O. Bolza, Lectures, § 21, p. 91. 112. Vorlesungsausarbeitung von Hart, Universitätsbibliothek Chicago. § 374 . Die Größe K01 ist das Hilbertsche Unabhängigkeitsintegral, und sie wird beim Beweis des Weierstraßschen Darstellungssatzes für ein allgemeines Feld benutzt. Bolza folgte hier dem eleganten funktionalen Zugang Hilberts für Kurvenprobleme. 113. Vorlesungskonzept Theorie der partiellen Differentialgleichungen, WS 1900. Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung, Cod. Ms. D. Hilbert 558, 71; desgl. auf den Einlageblättern zur Vorlesung Variationsrechnung im SS 1915. Mathematisches Institut der Universität Göttingen. 114. Max Mason, Promotion 1903 bei Hilbert; Bliss war zur gleichen Zeit in Göttingen. Mason war später Professor in Yale und Madison, Präsident der Universität Chicago, schließlich Director der Rockefeller Foundation. 115. M. Mason, G.A. Bliss, “The properties of curves in space which minimize a definite integral; Fields of extremals in space”, beide in: Transactions of the AMS, 9 (1908), 440–466, 11 (1910), 325-340. 116. Transactions of the AMS, 9 (1908), 440–466, Zitat p. 441.
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trifft im strengen Sinn lediglich für parametrische Probleme zu, denn sie ist für funktionale Probleme bereits behandelt worden (HILBERT 1905). Man kann auch die Überlegungen von JOHANN BERNOULLI (1667-1748) für das von seinem Bruder JAKOB (1654-1705) auf freie Ränder erweiterten Brachistochronenproblems (1697) als eine solche Untersuchungen ansehen. Bei Freirandproblemen spielen – wie oben erwähnt – die Transversalitätsbedingungen eine wichtige Rolle. BLISS und MASON konstruierten beide Arten von Mayerfeldern: jene, die entweder von einem festen Punkt ausgehen, oder solche, die eine Ausgangsmannigfaltigkeit (Kurve oder Fläche) transversal schneiden. Sie zeigten mit Hilfe des auf Parameterprobleme erweiterten Hilbertschen Unabhängigkeitsintegrals den entscheidenden Sachverhalt, daß der Weierstraßsche Darstellungssatz (1) ∆J = J ( C ) – J ( C 0 ) =
∫C E ( x, y, z, p, q, r, x', y', z' ) dt
gilt, wobei C0 bzw. C die Extremale bzw. eine Vergleichskurve und p, q, r bzw. x' , y' , z' die entsprechenden Richtungsgrößen des Feldes bzw. die Ableitungen der Vergleichskurve bezeichnen. Bei der Feldkonstruktion wird der von HILBERT (1905) für funktionale Probleme bereits benutzte Sachverhalt eingesetzt, daß eine Extremale, die von einer Mannigfaltigkeit transversal geschnitten wird, sich lokal in ein Feld einbetten läßt, in dem auch die Feldkurven von dieser Mannigfaltigkeit transversal geschnitten werden.117 Damit lassen sich im parametrischen Fall solche Felder konstruieren, bei denen der Weierstraßsche Darstellungssatz (1) auch dann gilt, wenn ein Endpunkt auf einer Kurve oder Fläche bewegt wird.118 HILBERT hatte den technisch einfacheren Fall beschrieben, in dem die freie Randmannigfaltigkeit eine Fläche war; in seiner Mechanikvorlesung im WS 1905 hatte er sich aber auch dem Punkt-Kurve-Problem zugewandt. Entgegen der gemachten Angabe im Nachruf der American Mathematical Society auf BLISS, sind nicht nur fünf, sondern (wenigstens) sieben Vorlesungen, die BLISS über Variationsrechnung gehalten hat, ausgearbeitet und mimeographiert119 worden, darunter auch ein Meeting.120 Wenn wir die Vorlesungen über Lagrange- und Bolzaprobleme, die über Variationsrechnung mehrfacher Integrale sowie den Tagungsband von 1932 beiseite lassen, so verbleiben noch drei Vorlesungen für unserer Thematik, nämlich:
117. aaO., 448. 118. G.A. Bliss, M. Mason, “Fields of extremals in space”, Transactions of the AMS, 11 (1910), 325–340. 119. Ein auf den bekannten Erfinder T.A. Edison zurückgehendes Vervielfältigungsverfahren mit Wachsmatrizen (Hektographieren). 120. Standort, Bibliothek des Mathematischen Instituts der University of Chicago.
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Lectures on the calculus of variations (Summer quarter 1922), 103 + 236 Seiten; The calculus of variations in three space (Autumn quarter of 1934 and in preceding years), 123 Seiten; (Autumn quarter of 1938 and in preceding years), 320 Seiten. Die Dokumentation der Vorlesung von 1922 ist außerordentlich interessant, und es dürfte für die Variationsrechnung nichts Vergleichbares geben. Diese Ausarbeitung besteht aus zwei Teilen: einen Teil bilden die von EUGENE STEPHENS mitstenographierten Vorträge von BLISS nebst den Fragen und Diskussionen der Studenten, die in transkribierter Form handschriftlich aufgenommen wurden; der andere Teil enthält eine maschinenschriftliche Ausarbeitung der Vorlesung, in die das handschriftliche Vorlesungskonzept von BLISS eingestreut ist. Da das anregende Vorlesungsgeschehen nicht näher als durch diese Quelle wiedergegeben werden kann, wollen wir abschließend am Ende dieses Abschnitts als Exkurs einen längeren Abschnitt aus diesem einzigartigen Material zitieren, um die außerordentlich klare und anschauliche Lehrweise von BLISS zu dokumentieren. Die Tatsache, daß das Hilbertsche Unabhängigkeitsintegral implizit ein geeignetes Feld definiert, macht den Unabhängigkeitssatz zu einem geeigneten Ausgangspunkt für Verallgemeinerungen. Besonders naheliegend waren dabei die Variationsprobleme mit Nebenbedingungen oder mit freien Rändern sowie die mehrdimensionalen Variationsprobleme. Hierin liegt wohl der Grund, daß BLISS, der von den Weierstraßschen und Kneserschen Auffassungen beeinflußt wurde, stets die Charakterisierung des Feldes über ein Hilbertsches Unabhängigkeitsintegral vorzog. Als ausgezeichneter Lehrer verzichtete er jedoch nicht, neben dieser formalen Festlegung des Feldes auch eine geometrisch anschauliche Erklärung über die Extremalenschar zu geben.
Abb. 6.9. Freirandproblem zwischen Kurve und Fläche.
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In dem Buch Calculus of variations121 (1925), das allerdings nur einfache Variationsprobleme mit einer gesuchten Funktion behandelt (für die somit stets ein Feld angegeben werden kann), wurde das Hilbertsche Unabhängigkeitsintegral sogar aus der Felddefinition gefolgert. Aber dieses Buch geht von einer andersartigen didaktischen Konzeption aus, die die allgemeine Theorie ausführlich aus exemplarischen Beispielen entwickelte. In allen erhaltenen Vorlesungsmitschriften wird die logische Abhängigkeit jedoch andersherum gegeben: die geometrische Einführung des Feldes – wenn sie überhaupt benutzt wird – hat nur didaktischen Charakter, und sie bereitet die Definition des Richtungsfeldes über die Wegunabhängigkeit des Hilbertschen Integrals vor. Im Zentrum der weiteren Darlegungen von BLISS steht dann – in der Regel sowohl für Funktionen- als auch für Kurvenprobleme – der Weierstraßsche Darstellungssatz, was bereits aus seiner Benennung fundamental sufficiency theorem hervorgeht. In den beiden Vorlesungen The calculus of variations in three space gibt es Abschnitte, die über Methoden der Feldkonstruktion berichten. In der Vorlesung von 1934 führte BLISS an: 1. Konstruktion einer Extremalenschar, die von einer transversalen Ausgangsmannigfaltigkeit ausgeht und eine nicht verschwindende Jacobische Determinante hat, Einbeziehen der Entartung der transversalen Mannigfaltigkeit zum Punkt (Theorem 20:1); 2. Bestimmung eines solchen Richtungsfeldes, daß das Hilbertsche Integral wegunabhängig wird (Theorem 21:1); 3. Auswahl einer geeigneten Extremalenschar mit Hilfe der Lagrangeschen Klammern (Theorem 22:2); 4. Konstruktion des Feldes mit Hilfe der Lösung der Hamilton-Jacobischen Differentialgleichung (Theorem 28:2, S. 108; das auf S. 109 irrtümlich unter der gleichen Nummer 28:2 erscheinende Theorem formuliert den Kneserschen Transversalensatz). Während die Vorlesungen von 1934 und in den vorhergehenden Jahren nur das Funktionenproblem zum Thema hatten, sind die wesentlich erweiterten Vorlesungen von 1938 durch das Kurvenproblem (chapter V) ergänzt worden. In der Tradition von WEIERSTRAß und BOLZA numeriert BLISS die notwendigen und hinreichenden Bedingungen und stellte tabellarisch verschiedene Bedingungen bzw. lediglich deren Nummern zu Kriterien zusammen. Wir finden in dem Calculus of variations 1925 beispielsweise diese schematische Aufstellung von Bedingungen für ein starkes relatives Extremum: I Eulersche Differentialgleichung; IIb' Weierstraßsche Bedingung in strenger Form in der Umgebung der Extremalen;
121. Chicago, Open Court, 1925.
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III'
Legendresche Bedingung in strenger Form (keine Gleichheit); Jacobische Bedingung (kein konjugierter Punkt im Intervall). Es ist erwähnenswert, daß BLISS auch der Reduzierung der Voraussetzungen Aufmerksamkeit widmete, so daß er die Minimalen oder Maximalen nicht nur durch die notwendigen Eulersche Differentialgleichungen für zweimal stetig differenzierbare Lösungen ermittelte, sondern auch die du Bois-Reymondsche oder Haarsche Form in Betracht zog, die auf Voraussetzungen über die zweiten Ableitungen verzichten. In der Vorlesung von 1933 The calculus of variations. Multiple integrals wurden für derartig abgeschwächte Extremalen, die BLISS aus der Haarschen Bedingung erhielt und wie LEONIDA TONELLI (1885-1946) Extremaloiden nannte, Felder mit Hilfe des Hilbertschen Unabhängigkeitsintegrals konstruierte, wobei die geometrische Deutung der Extremaloidenschar hieraus gefolgert wird.122 Iv'
Abb. 6.10. Aus einer Mitschrift einer Vorlesung von Bliss (1922).
Anhang The calculus of variations, Vorlesung, gehalten von G.A. BLISS im Sommer 1922 an der University of Chicago, Chicago, Ill. Wiedergabe des Abschnittes über die Einführung des Feldes, Seiten 86–93, in der von EUGENE STEPHEN ausgearbeiteten Fassung der mitstenographierten Vorlesung. Def. of Field: Suppose I have a one parameter family of extremals, y = ϕ (x, a)
122. Definition auf Seite 90, Deutung auf Seite 94 in Theorem 28:1.
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and suppose that they have certain continuity properties The usual properties are that ϕ, ϕx are of class C' in a region T of values (x, a). Now this family of extremals is said to simply cover the region F if there is one and but one solution a(x, y) with (x, a) in T of the equation y = ϕ (x, a) for each (x, y) in F; i.e., geometrically speaking, if thru [through] each point of F there passes one and but one extremal of the family. It is a simple geometrical notion. Now the region F which is thus simply covered by the family of extremals is called a FIELD. I shall add that perhaps it would be better that all the curves should intersect the same curve, I will bring this out. Usually nothing is said about it. I can not have a field unless these extremals intersect a curve or all pass thru [through] a point. Suppose I put it still more concretely. Suppose I take a family of curves y = ϕ(x, a)
family (1)
with the properties ϕ, ϕx of class C' in a region of pts [points] (x, a), T is of form x1 ≤ x ≤ x2, a0 − b ≤ a ≤ a0 + b
(it is really a rectangle in the Ta-plane). Suppose that the arc in this family for a = a0 is E, i.e., E = arc for a = a0. Thus we have supposed a family for an explicit region. And now as a matter of definition this family simply covers the region F if there passes thru [through] each point (x, y) of F one and but one extremal of the family. That is equivalent analytically to saying that equation (1) has a unique solution a(x, y) for each point (x, y) of the region F. The family covers F, for every point there is one curve of the family . And for purposes of the analytical work that must be done, I want to assume that a(x, y) is of the class C' in F. Let me prove the following Lemma 1. If ϕ a (x, a) ≠ 0 on x1x2 , then family (1) simply covers a region F of the plane.
You can see this rather readily, I think. In the first place to prove this, and this is what is called Field proof in the C. of V. [Calculus of Variations] I am giving a very simple case of it. More complicated cases are very difficult to prove. This proof, you will agree, is rather simple, at least for a sufficiently small value of δ.
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Proof: Take δ so small that ϕ a (x, a) ≠ 0 everywhere in T. Can I do this? Well if ϕ a ≠ 0 for a = a0, x1 ≤ x ≤ x2, it will remain ≠ 0 when I let a range a little on each side of a on account of the continuity. Let us consider two curves, y = ϕ (x, a0 + δ), y = ϕ (x, a0 − δ).
We can think of this geometrically. I say in general these two curves are distinct and for each x the vertical distance between these two curves is ≥ 2δm, where m is the minimum of ⎪ϕa (x, a)⎪ in T.
(⎪⎪ means absl. [absolute] Value)
[Abb. 6.11. Figure of the Lecture notes].
We can show this very easily. Think of the absolute values of the two functions of a and apply the mean value theorem. 1
ϕ ( x, a 0 + δ ) – ϕ ( x, a 0 – δ ) = 2δ ∫ ϕ a ( x, a 0 – δ + 2uδ ) du ≥ 2δm . 0
Then we see that the two curves enclose with the two ordinates, x = x1 , x = x2,
a region F of the xy-plane. Suppose those two curves came down and intersected each other. They would bound two or more regions of the plane. Now why do we say one and only one extremal for each (x, y) in T? Because there is only one solution a(x, y) of (1). You can see this easily. Suppose (x, y) is a point in the region. If I think of the value ϕ(x, a) and if I let a
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range from a − δ to a + δ, what happens to ϕ? ϕ varies univariantly and therefore passes thru [through] a point y just one. Or, since ϕ(x, a) varies univariantly from ϕ(x, a0 – δ) to ϕ(x, a0 + δ)
as a increases a0 – δ < a0 < a0 + δ, and passes thru [through] (x, y) just once x remaining fixed. It increases univariantly because ϕa ≠ 0. This shows that to every point (x, y) in the region F there is just exactly one value of ϕ. Now a(x, y) is of class C'. Since by the theory of implicit functions the solution a(x, y) of y = ϕ(x, a) must have as many derivatives at least as does ϕ(x, a), ϕ a ≠ 0. (For this see references, Goursat-Hedrick Vol. III, and the Princeton Colloquium Lectures, Bliss; and Osgood's Function Theory I). What does this mean? Suppose I have a function f(x, y) = 0. The existence theorem says that if you have one solution, f(x0, y0) = 0 at which fy (x0, y0) ≠ 0,
then in the neighborhood y = y(x) for all values of this set is continuous, and furthermore if this set has continuous n-th derivatives, y = y(x) will also have n-th derivatives. y = y(x) is at least as high as the class of the original equation. So that in the above if ϕ is of class C', then a is of class C'. I can prove this very quickly. y = ϕ(x, a), (x, y)
a(x, η)
(x + ∆x, y)
a(x + ∆x, y) = a + ∆a
Then, I have y = ϕ(x, a) y = ϕ(x + ∆x , a + ∆a) .
Subtracting, 0 = ϕ(x + ∆x, a + ∆a) − ϕ(x, a + ∆a) + ϕ(x, a + ∆a) − ϕ(x, a)
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= [ϕ(x + ∆x, a + ∆a) − ϕ(x, a + ∆a)] + [ϕ(x, a + ∆a) − ϕ(x, a)].
Applying the mean value theorem, the right member becomes, 1
1
∫0 ϕx (x + u∆x, a + ∆a)du + ∆a ∫0 ϕa (x, a + u∆a)du.
∆x
Dividing thru [through] by ∆x we have 0=
1
∆a
1
- ϕ (x, a + u∆a)du ∫0 ϕx (x + u∆x, a + ∆a)du + -----∆ x ∫0
∆a = lim ϕ x ( x, a ) + lim ϕ x ------- ϕ x ( x, a ) . ∆x = 0 ∆x = 0 ∆x
∆a Solve for ------- , and take this limit of both sides, or if you don't like this me∆x thod, write this way, 0 = ϕ x (x + θ∆x , a + ∆a) + ∆aϕ(x, a + θ1∆a)
or ϕ x ( x + θ∆ x, a + ∆ a ) ∆a – ------------------------------------------------- = ------ϕ a ( x, a + θ 1 ∆ a ) ∆x When ∆x approaches 0, ϕ x ( x, a ) ∂a – -------------------- approaches ------ . ϕ a ( x, a ) ∂x
ϕa ≠ 0.
If the family consists of the extremals of our problem and simply covers F as described in Lemma 1, than F is called a field of extremals, or simply a field. If the curves are extremals it is called a field of extremals, sometimes field. This field is thought of as lined. Def. In this field, define the slope function as the slope of the extremal at (x, y), p(x, y) = ϕx [x, a(x, y)].
This gives at each point the slope of the tangent of the extremals thru [through] that point. Lemma 2: In the field F, the integral I* = ∫ A(x, y) dx + B(x, y) dy where
A(x, y) = f[x, y, p(x, y)] – p(x, y) fy' [x, y, p(x, y)], B(x, y) = fy' [x, y, p(x, y)],
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has the same value of I on each extremal arc of the field, and is independent of the path. [Independent of the path is a technical term. If you take two curves the value of the integral depends only on the extremal]. This is called the Hilbert Invariant Integral. Hilbert emphasized its usefulness in the C. of V. [calculus of variations]. It was known in other connections, mechanics, Hamiltonian theory, etc. In the first place, let us see that this is the same as I along an extremal of the field. The differential equation of the extremal of the field is, y' = p(x, y)
at every point of the field. Therefore, I* taken along an extremal the field from point 3 to 4, I∗ ( E 34 ) = =
x4
x4
x4
3
3
∫x ( A + Bp ) dx , or ∫x [ A dx + B dy ]
∫x f ( x, y, p ) dx 3
This is the first property. But for the independence of the path, draw an arbitrary path [C] in the field. x = x(t) (3) [C :]
t3 ≤ t ≤ t4 , class D'.
y = y(t)
At every point of C a is defined as a function of t. a(t) = a[x(t), y(t)]. If we take a point (x, y) on the curve, it defines a = f(t). t is the value of the removable point 5. Also at this point y(t) = ϕ[x(t), y(t)],
and if we differentiate this we have, yt = dy/dt = ϕ'xt + ϕaat.
Take 5 and 5' and consider the function, I(t) = I(E55') =
x(t)
∫x
1
in which a = a(t).
f ( x, ϕ, ϕ' ) dt
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KAPITEL 6
[Abb. 6.12. Figure of the Lecture notes].
This is the value of our original integral taken along the extremal. We can find the derivative of this. Integrate by parts, t occurs in the limit and in ϕ inside. Apply the Euler Eqn. [equation] I' ( t ) = fx t
5
+∫
x(t) x1
( f y ϕ a + f y' ϕ' a )a t dx
fx t + f y' ϕ a a t
i.e.,
5
– f y' ϕ a a t
5'
I' ( t ) = ( f – ϕ'f y' )x t + f y' y t
, 5
– f y' ϕ a a t
5'
.
Now we integrate this form from t3 to t4, then we have, a4
I(t4) – I(t3) = I∗ ( E 34 ) – ∫ f y' ϕ a da . a3
The left side is the integrand of the Hilbert Integral. p' is the slope of the extremal at 5 and I* is the slope function.
∫ ( f – ϕ'fy' ) dx t4
∫t I' ( t ) dt
= I∗ ( E 34 ) ,
= I ( t 4 ) – I ( t3 ) ,
3
∫ f yt y'
5
5
a4
– f y' ϕ a a t dt = – ∫ f y' ϕ a da = a3
t4
∫t fy' ϕa at dt 3
In this latter, a3 is a function of t3, a4 is a function t4, and da may be written d-----adt . dt
6.6 Dissertationen zur Feldtheorie bei Hilbert In den Vorlesungen über Flächentheorie (SS 1900) und in dem Pariser Vortrag 1900 konstruierte HILBERT kein Feld, sondern er definierte es lediglich
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implizit über das Unabhängigkeitsintegral, indem er von dem Richtungsfeld die Wegunabhängigkeit des Unabhängigkeitsintegrals verlangte. Allerdings ermöglicht es nur die tatsächliche Konstruktion eines Feldes, festzustellen ob und – wenn ja – wie weit eine Extremale als eine eingebettete Feldkurve aufgefaßt werden kann, woraus sich Folgerungen für Extremalität ziehen lassen. In der tatsächlichen Konstruktion eines Feldes liegen allerdings die technischen Schwierigkeiten. Wenn auch die eigenen Konzepte HILBERT nicht unmittelbar auf eine Feldkonstruktion führten, sondern auf die Beziehungen von Differentialgleichung untereinander und auf die Untersuchung von Integrabilitätsbedingungen, so war er doch an solchen Ergebnissen interessiert. Bereits in dem Seminar zur Vorlesung Flächentheorie (SS 1900) muß er offensichtlich entsprechende Themen für Dissertationen vergeben haben. Er wollte damit sein im Pariser Vortrag allgemein vorgelegtes Programm detaillierter auf Probleme mit mehreren Funktionen sowie Funktionen mit mehreren Variablen ausdehnen. Damit wäre die “Grundaufgabe” der klassischen Variationsrechnung weitgehend bearbeitet worden. 6.6.1 Nadeschda Gernet (1901) Am 28. Juli 1901, es war noch kein Jahr vergangen, nachdem HILBERT in seinem Pariser Vortrag (8. August 1900) seine neue Methode zur Behandlung von Variationsproblem vorgestellt hatte, verteidigte dessen Schülerin NADE123 SCHDA GERNET (1877-1943) ihre Dissertation Untersuchung zur Variations124 rechnung , in der sie HILBERTS neue Methode für zwei gesuchte Funktionen ohne und mit Nebenbedingungen entwickelte – ein recht weit gezogenes und eigentlich etwas zu anspruchsvolles Thema für eine “übliche” Dissertation. Im Grunde genommen waren zwei voneinander unabhängige Themen zu behandeln, und es liegt die Vermutung nahe, daß HILBERT die Schwierigkeit der Probleme unterschätzt hatte, da er zunächst eine zufriedenstellende Bearbeitung der Thematik in einer lediglich formalen Übertragung des einfachen Variationsproblems zum einen auf solche mit mehreren gesuchten Funktionen und zum anderen auch auf solche mit zusätzlichen Nebenbedingungen erwartete, während die gestellte Aufgabe einer ideenreichen Untersuchung bedurfte (wie sie etwa von ADOLPH MAYER geliefert wurde125). 123. Nadeschda Gernet, Studium in St. Petersburg 1894-1898, Göttingen 1898-1901, Promotion 1901 in Göttingen, danach Lehrtätigkeit in St. Petersburg/Leningrad, Referate für das Jahrbuch Fortschritte der Mathematik, starb während der Belagerung von Leningrad. 124. N. Gernet, Untersuchung zur Variationsrechnung. Über eine neue Methode in der Variationsrechnung, Göttingen, 1902, 75 S. – Hilbert hatte offenbar die Gernet als Studentin akzeptiert, aber der Stil der Dissertation läßt erkennen, daß sie kein Muttersprachler verbessernd durchgesehen hat, daß also der Kontakt von Frau Gernet zu den Herren der Seminargruppe nicht besonders ausgeprägt war. Wenn man diese “Isoliertheit” als gegeben annimmt, was wohl zutreffend ist, dann ist die Gernetsche Leistung um so höher zu bewerten. Die Mängel der Arbeit tun dem keinen Abbruch, da selbst Hilbert die wahre Natur der Felder für mehrere gesuchte Funktionen erst nach der Mayerschen Kritik erkannt hatte. 125. “Über den Hilbertschen Unabhängigkeitssatz”, Leipziger Berichte, 1903, 131–145, 132.
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KAPITEL 6
GERNET, die 21jährig im WS 1898 von St. Petersburg nach Göttingen gekommen war, gehörte zu jenen Teilnehmern des Hilbertschen Seminars zur Flächentheorie im SS 1900, die ihre vorgetragenen oder hierzu verwandte Themen zu einer Dissertation ausbauten. Von den Referenten der insgesamt 16 Vorträge des Seminars promovierten bei HILBERT weiterhin GEORG LÜTKEMEYER (1878-?), WERNER BOY (1879-?), MAX DEHN (1878-1952), OTTO ZOLL (1878-?) und GEORG HAMEL (1877-1954); CHARLES A. NOBLE (18671962) hatte ohne eigenen Vortrag am Seminar teilgenommen. GERNETS Seminarthema hatte die Lagrangesche Multiplikatorenregel in der Variationsrechnung betroffen. Während die GERNET unter ihren (männlichen) Kommilitonen offenbar isoliert war, was sich an dem etwas ungelenken Deutsch ihrer Dissertation zeigt, muß sie zur Familie HILBERT gute Kontakte gehabt haben. In einem Brief,126 der vermutlich nicht abgeschickt wurde, sind DAVID HILBERT und seiner Frau KÄTHE (1864-1945) außerordentlich erfreut, nach dem Krieg wieder etwas von GERNET zu hören, die zu HILBERTS 60. Geburtstag 1922 gratuliert hatte, denn die Bemühungen der HILBERTS, die GERNET postalisch zu erreichen, hatten auch aus der Schweiz keinen Erfolg gehabt. KÄTHE HILBERT erinnert sich z.B. dabei an gemeinsame Teestunden mit dem Sohn FRANZ (1893-1969); offenbar muß die GERNET vor dem Krieg Göttigen jährlich besucht haben. GERNETS Dissertation (gedruckt 1902) ist in unserem Zusammenhang weniger wegen ihrer mathematischen Resultate, sondern eher aufgrund der im Zeitraum von 1901 bis 1904 wechselnden Einschätzung feldtheoretischen Sachverhalte aus historischer Sicht interessant. Denn die Änderungen bei der Bewertung der Arbeit, die sich in kurzen Zeitspannen ereigneten, gewähren uns einige Einsichten in die Entwicklung jener Felder, die später vor allem in der angelsächsischen Literatur nach ADOLPH MAYER benannt wurden. HILBERT schrieb 1901 in seinem Gutachten zu der mit magna cum laude bewerteten Dissertation: “Die Arbeit stellt eine sehr wertvolle Leistung dar” und hob die “Eigenart und Frische der Darstellung und die Vollständigkeit, mit der das bezeichnete Problem erledigt wird”127 hervor. HILBERT selbst hatte es als eine Hauptschwierigkeit bezeichnet, das Weierstraßsche Kriterium auf diesen, von GERNET behandelten Fall auszudehnen. Er stellte zunächst in seinem Gutachten zur Dissertation den Übergang zu den später als “Mayerfeldern” bezeichneten Extremalenscharen als “sehr wertvolle Leistung” heraus; in seinen eigenen Worten ging es um 126. Cod. Ms. D. Hilbert 457 (Briefentwürfe). Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung. Der zweiseitige Brief ist zu gleichen Teilen von David Hilbert und seiner Frau offenbar schon “ins Reine” geschrieben, was ihn nicht als Entwurf erscheinen läßt. Die Anrede ist “Liebe Frau von Gernet, liebe Nadjesta [Nadjeschda] Nikolajewna” und endet mit “Deswidanien [Doswidanija]!” sowie der Bemerkung von K. Hilbert, daß dies “gewiss eine reizende Ortographie” sei. 127. Universitätsarchiv Göttingen, Promotionsakte Bd. 188b (1902-1903).
DIE FELDKONSTRUKTION UND VERWANDTE THEMEN
587
“die Äquivalenz der [Euler-]Lagrangeschen Differentialgleichungen mit der Bedingung für die Unabhängigkeit des Integralwertes vom Weg.”128 Hierbei war GERNET grundsätzlich HILBERTS Vorgehen in seinem Pariser Vortrag gefolgt, wie HILBERT es schon in der von ihr besuchten Vorlesung über Flächentheorie im SS 1900 vorgetragen hatte. Die parallelen Untersuchungen wurden im ersten Teil der Dissertation entworfen, der Variationsprobleme bei fehlenden Nebenbedingungen betraf, genauer im zweiten Kapitel Die neue Methode der Variationsrechnung. GERNET ging für ein Variationsproblem J =
b
∫a F ( x, y, z, y', z' ) dx → extr
mit zwei gesuchten Funktionen y = y(x) und z = z(x) von dem Unabhängigkeitsintegral J∗ =
b
b
∫a [ F + ( y' – p )Fp + ( z' – q )Fq ] dx = ∫a A dx + B dy + C dz
aus, in dem p und q zur freien Verfügung stehende Funktionen von x, y, z sind. Diesen Fall sah man zu jener Zeit – HILBERT eingeschlossen – als exemplarisch für Probleme mit mehreren gesuchten Funktionen an. Die Wegunabhängigkeit des Integrals J* führte auf die bekannten Bedingungen ∂A ∂B ∂A ∂B ∂C ∂B (B) ------ = ------ , ------ = ------ , ------ = -----∂z ∂x ∂y ∂x ∂y ∂z
die (lokal) sowohl notwendig als auch hinreichend für die Invarianz sind. Für die beiden Funktionen p = p(x, y, z) und q = q(x, y, z) erhielt GERNET drei partielle Differentialgleichungen, zwischen denen sie eine hier nicht weiter interessierende Relation ermittelte. Diese partiellen Differentialgleichungen (B) stehen in engem Zusammenhang mit den durch (A) bezeichneten Eulerschen Differentialgleichungen des Variationsproblems, da die gesuchten Funktionen p und q aus den Lösungen von (A) gewonnen werden können. Zum Nachweis betrachtete GERNET solche zweiparametrige Lösungsscharen (1) y = ϕ ( x, α, β ) ,
z = ψ ( x, α, β )
der Eulerschen Gleichungen (A), die von einem festen Punkt (x = a) ausgehen und die also auf ein zentrales Feld führen (mithin automatisch ein Mayerfeld bilden). Auch Hilbert war in dieser Zeit stets von solchen Anfangswertaufgaben ausgegangen, da er die Rolle der Transversalität noch nicht einbezog. Für die Extremalenschar (1) soll in einem Parametergebiet B (bzw. in dem korrespondierenden Gebiet G des x,y,z-Raumes) die Funktionaldeterminante
128. aaO.
588
KAPITEL 6
∂( ϕ, ψ ) (2) ∆ ( a, x ) = ------------------ = ϕ α ψ β – ϕ β ψ α ≠ 0 , ∂( α, β )
x≠a,
nicht verschwinden. Wegen (2) gibt es in B eine Auflösung der Schar (1) nach den Parametern: (3) α = α ( x, y, z ) ,
β = β ( x, y, z ) .
Die Eulerschen Differentialgleichungen, die für die Schar (1) aufgeschrieben werden, gehen nach dem Einsetzen von (3) in gewisse Identitäten (B*) der Variablen x, y, z über, die überdies als Differentialgleichungen für die beiden gesuchten Funktionen p und q begriffen werden können. GERNET zeigte nun, daß die Systeme (B) und (B*) für die Funktionen p und q äquivalent sind. Sie folgerte: “Aus der Form dieser Gleichungen ist es offenbar, dass, wenn die Gleichungen (B) befriedigt sind, die zwei Gleichungen (B*) auch befriedigt sein müssen. Wenn wir das zu untersuchende Gebiet nur auf das Feld beschränken, […] können wir jetzt schließen, dass[,] wenn die Gleichungen (B*) […] befriedigt sind, auch die Gleichungen (B) befriedigt sind.”129 Die Funktionen p und q definieren damit in der Tat ein Richtungsfeld, in dem per se das Hilbertsche Integral wegunabhängig ist und für das somit der Weierstraßsche Darstellungssatz unmittelbar gefolgert werden kann. Will man sich analytisch der Feldeigenschaft eines uneigentlichen Feldes durch die Lagrangeschen Klammern versichern, die der GERNET noch nicht zur Verfügungen standen, so verlangt die Feldeigenschaft das Verschwinden der einzigen Klammer ∂ϕ ∂F p ∂ψ ∂F q ∂ϕ ∂F p ∂ψ ∂F q [ α, β ] : = ------ --------- + ------- --------- – ------ --------- – ------- --------- , ∂α ∂β ∂α ∂β ∂β ∂α ∂β ∂α
und nach kurzer Rechnung drückt sich das in der mit Hilfe der Funktionaldeterminante (2) und einer gewissen Funktion Φ gewonnenen Darstellung so aus: (4) [ α, β ] = ∆ ( a, x ) Φ ( x, α, β ) .
Da bekanntlich die Lagrangeschen Klammern [α, β ] nicht von der unabhängigen Variablen x abhängen und da für die uneigentliche Extremalenschar (1) im Punkt x = a die Funktionaldeterminante (2) verschwindet, ist das erforderliche Verschwinden von [α, β ] gewährleistet, das ein Mayerfeld sichert. Das Verschwinden der Funktionaldeterminante (2) für x = a ist auch das entscheidende Argument in GERNETS Überlegungen, womit sie zwangsläufig auf ein zentrales Feld – also ein Mayerfeld – kommt. In etwas holprigem
129. N. Gernet, Untersuchung zur Variationsrechnung, Göttingen, Universitätsbuchdruckerei, 1902, 25, 28.
DIE FELDKONSTRUKTION UND VERWANDTE THEMEN
589
Deutsch bemerkte sie: “Für unseren Fall ist der Ausdruck ∆ ( a, x ) = [ ϕ α ψ β – ϕ β ψ α ] x = a = 0, da (1) y = ϕ ( x, α, β ) ,
z = ψ ( x, α, β ) ,
einen Bündel von dem Punkt (x = a, y = ya , z = za ) bedeuten, und dies ist eben das Wesentliche. Wenn wir das zu untersuchende Gebiet nur auf das Feld beschränken, also auf das Gebiet [G] in welchem in keinem anderen Punkt ausser x = a der Ausdruck ∆ ( a, x ) = ϕ α ψ β – ϕ β ψ α verschwindet, so wird in diesem Gebiete der Ausdruck V identisch Null sein.”130 Das gefolgerte Verschwinden von V gewährleistet, daß das Richtungsfeld im betrachteten Gebiet G das Hilbertsche Integral wegunabhängig macht bzw. daß ein Mayerfeld vorliegt. BOLZA argumentierte 1906: From the fact that for the special set of extremals trough a fixed point the partial derivatives of the field integral have the simple form (49) [HamiltonJacobi equation], it follows that this special sets, when properly normalized, satisfy the condition [of integrability].131 Diese Überlegungen weisen darauf hin, daß die Gernetsche Argumentation auf sehr spezielle Extremalenfelder (zentrale Felder) zugeschnitten ist und daß sie deshalb bei mehreren gesuchten Funktionen nicht zu den eigentlichen Wurzeln des Problems vordringt.132 Es war jedoch stets HILBERTS oberstes Ziel, diesen Ursprung aufzudecken. Nachdem HILBERT selbst eine erforderliche Verallgemeinerung gegeben hatte,133 die als Ausgangsmannigfaltigkeit für eine allgemeine Feldkonstruktion eine zur Extremalenschar transversale Fläche
130. Untersuchung zur Variationsrechnung, 28. Solche kleinen sprachlichen Ungereimtheiten belegen, daß die Gernet isoliert gearbeitet und folglich die sprachliche Abfassung der Arbeit völlig selbständig angefertigt hat. Diese Tatsache beleuchtet etwas die Schwierigkeiten, die damals beim Frauenstudium im “recht liberalen” Göttingen bestanden und mit denen auch noch Emmy Noether zu kämpfen hatte. Man vergl. hierzu Hilberts entsprechende bekannte “Badeanstalt-Äußerung” (Eintragungen in sein Notizbuch, Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung, Cod. Ms. D. Hilbert 600:3, beiliegende Blätter). 131. O. Bolza, “Weierstrass’s theorem and Kneser’s theorem on transversals for the most general case of an extremum of a simple definite integral”, Transactions of the AMS, 7 (1906), 459488, 481. Die Argumentation geht auf eine Bemerkung von A. Mayer zurück, vgl. “Über den Hilbertschen Unabhängigkeitssatz in der Theorie des Maximums und Minimums der einfachen Integrale”, Leipziger Berichte, 62 (1905), 49-67, 64; auch in: Mathematische Annalen, 62 (1906), 335350. Man beachte auch Bolzas Arbeit in den Rendiconti del Circolo Matematico di Palermo von 1911 Über den Hilbertschen Unabhängigkeitssatz, in der allgemein die Transversalitätsbedingung für eine Anfangsmannigfaltigkeit untersucht wird. 132. Gernet selbst hatte zu optimistisch in der Einleitung ihrer Dissertation K.H. Schellbach (1804-1892) mit den Worten von 1851 zitiert, daß “das Wesen der Variationsrechnung noch nicht ganz richtig erfaßt ist” und Kollegen “gestanden [Schellbach] stets, die Gründe des Verfahrens nicht mit voller Klarheit einzusehen” und dann selbst hinzugefügt “Es ist aber eine andere, schönere Zeit für die Variationsrechnung gekommen”. Dissertation, 5. 133. “Zur Variationsrechnung”, Göttinger Nachrichten, (1905), 159-180; auch in: Gesammelte Abhandlungen, Bd. 3, insbesondere 43–48.
590
KAPITEL 6
anstelle lediglich eines Ausgangspunktes benutzte, befriedigte ihn die Gernetsche Darstellung gar nicht mehr. Die Gernetsche Feldkonstruktion für ein uneigentliches Feld ergab sich jetzt als ein Entartungsfall der Hilbertschen Konstruktion, in dem die transversale Ausgangsfläche sich auf einen Punkt reduzierte (was a priori Transversalität liefert). In der Vorlesung Variationsrechnung (WS 1904) äußerte sich HILBERT am 31. Januar 1905 in seiner bekannten kritischen Art zu der ehemals gelobten Arbeit nun so: “Diese Frage [nämlich den Unabhängigkeitssatz auf mehrere gesuchte Funktionen zu übertragen] sollte in der […] genannten Dissertation von Frl. N. Gernet (Göttingen 1902) erledigt werden, […] doch ist der Beweis mißlungen. Ein erster exacter Beweis wurde geführt von A. Mayer in Leipzig (Mathematische Annalen Bd. 58, p. 235ff.).”134 In der zitierten Veröffentlichung von MAYER, die zuvor in der Sitzung vom 4. Mai 1903 der Königlich Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften zu Leipzig vorgestellt und publiziert wurde, befindet sich am Ende des einleitenden Abschnitts diese Fußnote: “Für den Fall n = 2 ist allerdings der Satz bereits richtig angegeben, aber nur ein gänzlich verfehlter Beweis dafür geliefert worden.”135 Die Worte, mit denen MAYER seine Arbeit beschloß, griffen den in der Fußnote geäußerten Gedanken über die Beweismethode in allgemeiner Form nochmals auf: “Will man diesen Satz unabhängig von der Hamilton-Jacobischen Differentialgleichung beweisen, so muß man zeigen, daß die auf die angegebene Weise erhaltenen Funktionen […] den partiellen Differentialgleichungen (32) und (33) [Integrabilitätsbedingungen, die jeweils auf die Eulersche Differentialgleichung und die Lagrangeschen Klammern führen] genügen. Das leuchtet zwar für die Gleichungen (32) sofort ein und läßt sich im Fall n = 2 auch noch ohne allzugroße Rechnung für eine Gleichung nachweisen, auf welche sich dann das
134. Variationsrechnung (WS 1904), Vorlesungsmitschrift, ausgearbeitet von E. Hellinger. Mathematisches Institut der Universität Göttingen, 309. – Mayers Arbeiten Über den Hilbertschen Unabhängigkeitssatz waren bereits 1903 und 1905 in den Leipziger Berichten erschienen. Am 28.11.1904 hatte Hilbert sich in der gleichen Vorlesung noch so geäußert: “Er [der Unabhängigkeitssatz] ist auch bewiesen und etwas verallgemeinert in der Dissertation von Frl. Gernet (Göttingen 1902) und in voller Allgemeinheit aufgestellt von A. Mayer (Leipziger Nachrichten)”. Beide Daten grenzen wohl den Beginn der eigenen Beschäftigung Hilberts mit dem Gegenstand ein. – Hilbert hatte sich noch in einem anderen Zusammenhang mit der Gernetschen Arbeit zu befassen. In einem Brief vom 6.2.1904 erbat P. Stäckel, Kiel, Auskünfte über Gernets Arbeit, weil er zurecht vermutete, daß ein Student mit einem Plagiat der Gernetschen Dissertation bei ihm promovieren wollte. Die Angelegenheit endete ohne Hilberts Zutun, als schließlich bekannt wurde, daß der Kandidat bereits sein Abiturzeugnis gefälscht hatte. 135. “Über den Hilbertschen Unabhängigkeitssatz”, Leipziger Berichte, 1903, 131–145, 132; auch in: Mathematische Annalen, 58 (1904), 235–248, 236. Man vgl. hierzu auch die ausgezeichnete Übersicht von H. Boerner, “Carathéodory’s Eingang zur Variationsrechnung”, Jahresbericht der DMV, 36 (1953), 32-58.
DIE FELDKONSTRUKTION UND VERWANDTE THEMEN
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System (33) reduziert; im allgemeinen Fall aber einen solchen direkten Beweis für die Gleichungen (33) zu erbringen, scheint erhebliche Schwierigkeiten darzubieten.”136 MAYERS Ausführungen zeigen deutlich seine Einsicht in den Zusammenhang des Problems mit der Hamilton-Jacobischen Differentialgleichung (bzw. in die Rolle der Transversalität), und die fehlende Erkenntnis dieser Tatsache ist eine sachlich berechtigte Kritik der Gernetschen Untersuchung. Trotzdem sind die abgegebenen Urteile sehr hart, da sie auf einer vollständigen Lösung des Problems bestehen. Wie wir oben gesehen haben, war jedoch das zentrale räumliche Feld noch 1908 bzw. 1910 BLISS und MASON zwei gemeinsame Arbeiten wert. In der gemeinsamen Arbeit Fields of extremals in space137 wird die von OSKAR BOLZA in seinen Vorlesungen über Variationsrechnung (1909) gemachte ebene Feldkonstruktion auf den Raum übertragen. Dabei reklamierten die Autoren für sich, unabhängig von BOLZA, die globale Form des Satzes über implizite Funktionen gefunden zu haben. Und schließlich publizierte 1909 EARL GORDON BILL (1888-1979) auch noch eine Arbeit The construction of a space field of extremals, in der er den Sachverhalt wie folgt resümierte: In 1879 Weierstrass stated that a field including [the fixed point] O could be constructed and Professor Bliss has proved this to be true. It is equally true [proved by Bill], that if we have a two-parameter family of space curves, through a fixed point O, we can construct a space field of extremals including O in its interior.138 JACQUES HADAMARD hat in seinen Leçons sur le calaul des variations (1910) ebenfalls zentrale räumliche Felder konstruiert (Anhang) und für Variationsprobleme mit höheren Ableitungen die Felddefinition auf solche Felder eingeschränkt. CONSTANTIN CARATHÉODORY hat in einem Briefwechsel mit LEONIDA TONELLI (1885-1946), der 1923 publiziert wurde, übrigens gezeigt, daß sich für ein definites, positives und reguläres Variationsproblem, das in der ganzen Ebene die Jacobische Bedingung erfüllt, ein zentrales Feld für die gesamte Ebene konstruieren läßt.139 1913 hat GERNET eine weitere Schrift Über einfache Grundaufgaben der Variationsrechnung (russ.)140 veröffentlicht, die wesentliche Teile ihrer Göttinger Dissertation enthält. Allerdings beschränkte sich GERNET, wohl aufgrund
136. “Über den Hilbertschen Unabhängigkeitssatz”, Leipziger Berichte, (1903), 131–145, 145. 137. Transactions of the AMS, 11 (1910), 325–340; der Satz über implizite Funktionen bildet § 1. 138. Bulletin of the AMS, 15 (1909), 374–378, 374. Die Arbeit von Bliss ist The construction of a field of extremals about a given point und im gleichen Bulletin, 13 (1907), 321–324, veröffentlicht. 139. “Sui Campi de Estremali Uscenti da un Punto”, Gesammelte mathematische Abhandlungen, Band 1, München, Beck, 1954, 188–202. 140. Ob osnownoij prostjschei zadatsch wariatsionnowo istschislenija, St. Petersburg, Ehrlich, 1913.
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KAPITEL 6
der Hilbertschen Kritik, hier durchgängig auf eine gesuchte Funktion einer Veränderlichen, so daß das dritte Kapitel Über eine neue Methode von Weierstraß-Hilbert und über ein Weierstraßsches Kriterium nichts Neues bringen kann. Bemerkenswert ist eine Erweiterung im Teil über Lagrange-Probleme. GERNET ließ einfache Ungleichungen als Nebenbedingungen zu. BOLZA hatte derartige Fragen in seiner Vorlesung 1901 behandelt und später den Artikel Über ein Variationsproblem mit Ungleichungen als Nebenbedingungen in der Festschrift anläßlich des 50jährigen Doktorjubiläums von H.A. SCHWARZ am 6. August 1914 veröffentlicht.141 Auch bei HADAMARD werden in den Leçons sur le calcul des variations Nebenbedingungen in Form von Ungleichungen behandelt.142 6.6.2 Johannes Müller (1902) Wir wenden uns jetzt der Dissertation von JOHANNES MÜLLER (18771940)143 Über die Minimaleigenschaft der Kugel zu, die die dreidimensionale Variationsrechnung betrifft und die am 24. Februar 1902 verteidigt wurde. Über MÜLLER hatte HILBERT in einem Brief vom November 1899 an ADOLF HURWITZ (1859-1919) bemerkt: “Dieses Colleg [über Flächentheorie, WS 1899] besucht auch Ihr Schüler Richter (oder vielmehr Müller, wie er sich jetzt [nach seiner Adoptivmutter] nennt), für dessen Hersendung ich Ihnen sehr dankbar bin, da er in der That ein sehr angeregter junger Mathematiker ist, mit dem ich mich schon wiederholt gern unterhalten habe [vermutlich über Müllers Seminarvortrag über die Verbiegung von Polyedern].”144 Es gibt einige interessante Beziehungen zur zeitgleichen Dissertation von GERNET, die sowohl Parallelen aufzeigen als auch HILBERTS Absichten erhellen. Die GERNET und MÜLLER von HILBERT gestellten Aufgaben lassen sich unter ein gemeinsames Oberthema bringen, nämlich den von HILBERT gerade gefundenen Zugang zum Weierstraßschen Darstellungssatz zu erweitern und dabei auch für Lagrangesche Probleme auszuarbeiten. GERNET fiel hierbei der Teil mit einfachen Integralen zu, während MÜLLER die mehrfachen Integrale bearbeiten sollte. Ein Variationsproblem für mehrfache Integrale konnte im Verständnis der Zeit exemplarisch durch eines für Doppelintegrale vertreten werden. MÜLLER gelang jedoch die Übertragung des Jacobischen Kriteriums
141. Mathematische Abhandlungen. Hermann Amandus Schwarz zu seinem fünfzigjährigem Doktorjubläum gewidmet von seinen Freunden und Schülern, Hrg. C. Carathéodory et al, Berlin, Springer 1914, 1–18. 142. Paris, Hermann, 1910; z.B. §§161f., 188f. 143. Johannes Oswald Müller, Studium in Leipzig, Zürich, Göttingen, danach auch in Paris, 1910 habilitiert, später nicht beamteter ao. Professor in Bonn, dort 1937 Lehrbefugnis entzogen. 144. Brief vom 5.11.-12.11.1899. Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung, Cod. Ms. Math.-Archiv 76, Nr. 275 (Bl. 588)
DIE FELDKONSTRUKTION UND VERWANDTE THEMEN
593
auf Variationsproblem mit Doppelintegralen nicht, und er schränkte daher das gestellte Problem auf den speziellen Fall des “Kugelproblems” ein, bei dem die Schwierigkeiten mit dem Jacobischen Kriterium nicht auftraten.145 Das Kugelproblem ist eine berühmte geometrische Aufgabe, die den Nachweis der isoperimetrischen Eigenschaft der Kugel verlangt, daß diese nämlich eine geringere Oberfläche als jeder andere Körper mit gleichem Volumen besitzt. “Eine Geschichte der ‘Isoperimetrie’ hätte im grauen Altertum bei der Königin Dido von Karthago zu beginnen und müßte hinaufführen bis zum Herrn Geheimrat Hermann Amandus Schwarz in Berlin”, schrieb 1916 WILHELM BLASCHKE (1885-1962) in seinem bekannten Werk Kreis und Kugel.146 Der Sachverhalt war in der Tat erstmals von HERMANN AMANDUS SCHWARZ 1884 streng bewiesen worden. 1897 hatte HERMANN MINKOWSKI (1864-1909) auf anderem Wege die isoperimetrische Eigenschaft der Kugel gezeigt, im Jahr von MÜLLERS Promotion wurde ein weiterer Beweis von ADOLF HURWITZ (1859-1919) mit Hilfe von Fourierschen Reihen geliefert.147 BLASCHKE merkte zur Geschichte noch an, daß “Allen diesen analytischen Entwicklungen gemeinsam ist das Fehlen der Existenzbeweise, die, wie schon hervorgehoben wurde, K. Weierstraß zuerst durchgeführt hat. Man vergleiche die Darstellung bei Hermann Amandus Schwarz, Gesammelte Mathematische Abhandlungen, Bd. II. Berlin 1890, S. 232 ff.”.
145. Dissertation, Göttingen, Dieterich, 1903, Sachverhalt auf S. 7f. 146. Leipzig, Veit, Co. 1916, 38. 147. H.A. Schwarz, “Über ein die Flächen kleinsten Inhalts betreffendes Problem der Variationsrechnung”, Gesammelte Abhandlungen, Bd. 2, Berlin, Springer, 1890, 327–340; H. Minkowski, Göttinger Nachrichten, 1897; S. 209; A. Hurwitz, “Sur les problèmes des isopérimètres”, Comptes Rendus, 132 (1901), 401–403.
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KAPITEL 6
Abb. 6.13. Titelseite von Gernet Über einfachste Grundaufgaben der Variationsrechnung, St. Petersburg 1913.
MÜLLER charakterisierte den Schwarzschen Beweis in seiner Bonner Antrittsvorlesung 1909 folgendermaßen: “Der Schwarz’sche Beweis beruht im Grunde auf der Anwendung der Variationsrechnung und zwar in ihrer modernsten von Weierstraß ausgebildeten Form.”148 MÜLLER erläuterte in seinem Vortrag auch die Schwierigkeiten der Thematik einer geometrischen Beweisführung, die in der Inhomogenität der benötigten Ungleichung O3 ≥ 36πV2
(O Oberfläche, V Volumen eines Körpers) bestehe. HERMANN MINKOWSKI habe durch die Benutzung der mittleren totalen Krümmung M versucht, diese “ungeometrische” Eigenschaft zu beseitigen:
148. Redemanuskript Müllers zur Antrittsvorlesung “Über die Kugel in der modernen Mathematik”, 29 Seiten, handschriftlich. Universitätsarchiv Bonn. Nl. Bessel-Hagen 325, 2.
DIE FELDKONSTRUKTION UND VERWANDTE THEMEN
M2 ≥ 4πO,
595
O2 ≥ 3MV.
MÜLLER selbst führte einen Nachweis für das der Aufgabe entsprechende “isoperimetrische Variationsproblem”
∫ ∫ dO → Minimum , ∂B
∫ ∫ ∫ dV = const B
im Rahmen der Variationsrechnung, genauer mit Hilfe der Feldtheorie.149 Die Berechtigung, die Multiplikatorenregel bei isoperimetrischen Variationsproblemen anzuwenden, die MÜLLER schlechthin auf die “allgemeinen Principien der Variationsrechnung” gründete und sich dabei auf den Cours d’analyse von CAMILLE JORDAN berief, wollen wir nicht diskutieren, da diese Frage nicht primär zur Feldtheorie gehört, sondern wir wollen gleich von dem “befreiten” Lagrangeproblem ohne Nebenbedingung mit dem Integranden X = X ( θ , ϕ, r, r θ, r ϕ ) = Φ – λ Ψ
ausgehen, dessen Argumente r, θ, ϕ in räumlichen Polarkoordinaten gegeben sind und in dem Φ und Ψ die Integranden der Oberflächen- bzw. Volumenintegrale in diesen Koordinaten bezeichnen. Die Eulersche Differentialgleichung für eine Extremale r = r(θ, ϕ; λ) lautet ∂X ∂X ∂X ------------+ - – ------ = 0 , ∂r θ ∂r ϕ ∂r
und sie ist eine Gleichung vom Monge-Ampère-Typ mit einem Parameter λ. Deren Integrationstheorie lag in vollständiger Form nicht vor, aber MÜLLER ging von einer zweiparametrigen Lösungsschar von Kugeln Kµ(c) aus, deren Mittelpunkt auf der z-Achse in c liegt und deren Radius µ beliebig ist, (1) Kµ(c) :
r = r( θ , c, µ) = ccos θ +
2
2
2
µ – c sin θ ,
und er konnte damit schließlich ein Feld aufbauen, in dem das Hilbertsche Integral wegunabhängig ist. Um ein solches Feld zu erhalten, führte MÜLLER – indem er sich auf ein ähnliches Vorgehen von WEIERSTRAß beim entsprechenden Problem für einfaches Integral bezog – eine neue Variable v ein, die er durch das von der Kugel Kµ(c) und dem Rotationskegel ϑ = θ eingeschlossene Volumen bestimmte. Damit folgte MÜLLER in einem entscheidenden Schritt seines Beweises der Schwarzschen Idee, zum Flächenvergleich eine geeignete Hilfsfläche einzuschieben. MÜLLER hatte so anstelle der Kugeln (1) eine Flächenschar F im vierdimensionalen Raum R4(θ, ϕ, r, v) mit der Parameterdarstellung:
149. Dissertation, Göttingen, 1902, kurze Zusammenfassung “Über die Minimaleigenschaften der Kugel”, Göttinger Nachrichten, (1902), 176–181.
596
F:
KAPITEL 6
r = ℜ (θ, ϕ, r, v)
und nach einigen Umformungen hieraus das zweiparametrige Kugelfeld im R4 F:
r = ℜ (θ, c, v),
v = ℑ (θ, c, v)
gewonnen (§ 11). Jedem Punkt des R4 wurde eine Kugel der c, µ-Schar zugeordnet. Für diese zweiparametrige Flächenschar betrachtete MÜLLER das Jacobische Kriterium und fand, daß ∂ ( r, v )---------------≠0 ∂ ( c, µ )
für alle 0 < θ ≤ π
für eine solche Schar galt: “Unsere Kugeln [c, µ] bilden ein ‘Feld’.”150 Mit gewissen aus der Funktion X abgeleiteten Größen A, B und C ist dann das Integral I=
π 2π
∫0 ∫0
( A + Br θ + Cv ϕ ) dϕ dθ = 4π
im Feld F wegunabhängig (§ 12). Allerdings gelang mit diesem Feld noch kein allgemeiner Nachweis der isoperimetrischen Eigenschaft, aber der Spezialfall, der zeigt, daß die Kugel K im Vergleich mit Rotationsflächen R die isoperimetrische Eigenschaft aufweist, konnte erledigt werden (§ 8): J(R) – J(K) = J(R) – 4π ≥ 0 .
Damit könnte das Variationsproblem J(F) → Min als gelöst angesehen werden, wenn es weiter zu zeigen gelänge, daß beliebige Vergleichsflächen F keine kleineren Werte als die Rotationsflächen R liefern können, wobei beide natürlich das gleiche Volumen 4/3 π zu umschließen hätten (§ 9): ∆J = J(F) – J(K) = [J(F) – J(R)] + [J(R) – J(K)] = [J(F) – J(R)] + [J(R) – 4π ] ≥ [J(F) – J(R)]
Ähnlich wie eben skizziert, wurde diese Hilfsaufgabe mit Hilfe der Feldtheorie bewältigt (§§ 12–15). MÜLLER betonte zurecht, daß sich gegenüber dem Schwarzschen Beweis hier das Einschieben einer Rotationsfläche ganz zwangsläufig ergebe. Allerdings ist der analog dem Weierstraßschen Vorgehen praktizierte Kunstgriff nicht auf der Hand liegend und keinesfalls in feldtheoretischen Überlegungen begründet, und auch die übliche Weierstraßsche Kon-
150. Dissertation, Göttinger, 15.
DIE FELDKONSTRUKTION UND VERWANDTE THEMEN
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struktion, die zur Darstellungsformel der totalen Variation mittels der Exzeßfunktion führt (und für isoperimetrische Probleme in KNESERS Lehrbuch der Variationsrechnung (1900) vorlag (§36)), wird auf etwas gewundene Weise für zwei Teilaufgaben ausgeführt. Letztlich war aber in der Tat die isoperimetrische Eigenschaft der Kugel mit Hilfe der Variationsrechnung bestätigt worden, was HILBERT in seinem Gutachten “als erhebliche wissenschaftliche Leistung”151 einschätzte. Obwohl die ursprüngliche allgemeine Fragestellung deutlich zurückgeschraubt worden war, so war doch ein bedeutendes Problem zur Bearbeitung in der Dissertation verblieben. HILBERT hat dadurch Fortschritte in der Bearbeitung seines Forschungsprogramms erkennen können, auch wenn die Methode für allgemeine Probleme nicht ganz tragfähig war. MÜLLER hatte zwar weitere Untersuchungen angekündigt, die jene den Methoden Schwierigkeiten bereitenden Punkte beseitigen sollten, aber hat sie offenbar nicht ausgeführt. In einem Brief von EDUARD STUDY (1862-1930) an OTTO TOEPLITZ (1881-1940), in dem es um Stellenbesetzungen ging, hatte der Bonner Professor STUDY empfohlen, wenn man nicht unbedingt einen produktiven Mathematiker wolle, sondern einen guten Lehrer, so sei der Bonner Dozent JOHANNES MÜLLER eine gute Wahl.152 Diese Seite klingt auch in dem Schreiben von ERICH BESSEL-HAGEN (18981946) an die Schwester seines Freundes MÜLLER nach dessen Tode an: “Als Lehrer an der Universität hatte Ihr Bruder ganz vorzügliche Erfolge. Seine Vorlesungen wurden immer sehr gern besucht. […] Ich habe es oft bedauert, dass Ihr Bruder sich nicht entschließen konnte, wissenschaftliche Arbeiten zu veröffentlichen. Seine reiche Begabung und sein umfangreichen und vielseitigen Kenntnisse hätten dadurch eine viel breitere Wirkung entfalten können; ich glaube, daß nur seine Bescheidenheit ihn hemmte.”153 In der Tat, neben einer kurzen Skizze seiner Dissertation in den Göttinger Nachrichten hatte Müller nur noch einmal und zwar Über die Anziehung eines homogenen Ellipsoides 1907 veröffentlicht.154 Gegenüber GERNET war MÜLLER nicht von einem zentralen, sondern von einem allgemeinen Feld ausgegangen. Dieser Unterschied wurde allerdings erst nach der Mayerschen Arbeit von 1903 in Göttingen in seinen Konsequenzen erkannt, er führte dann aber zu entsprechenden Untersuchungen durch HILBERT selbst und in der Dissertation von GEORG PRANGE (1885-1941) (siehe unten). HILBERT hat offenbar mit diesen Arbeiten sein Forschungsprogramm weitgehend als abgeschlossen betrachtet, zumindest verfolgte er diese
151. Promotionsakte des Dekanats Bd. 186b (1900-1901), Universitätsarchiv Göttingen. 152. Brief vom 10.7.1922. Universitätsarchiv Bonn, Nl. O. Toeplitz. 153. Brief an Frau Dr. Dodel vom 1.6.1941. Universitätsarchiv Bonn, Nl. Bessel-Hagen 325. 154. “Ueber die Minimaleigenschaften der Kugel”, Göttinger Nachrichten, (1902), 176-181; “Über die Anziehung eines homogenen Ellipsoides”, Mathematische Annalen, 64, 1 (1907) 142149.
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KAPITEL 6
Thematik weder in Publikationen noch in Vorlesungen oder Seminaren nach 1905 weiter, sondern beschäftigte sich intensiv mit der Theorie der Integralgleichungen. Im Zusammenhang mit der Behandlung der modernen Physik griff Hilbert allerdings wieder auf die Variationsrechnung und insbesondere die Feldtheorie zurück (Hamilton-Jacobischer Formalismus). In die zweiten Auflage seines Lehrbuchs der Variationsrechnung (1925) hat ADOLF KNESER im § 32, Beispiel II, einen ähnlichen Beweis aufgenommen, der ebenfalls den Zwischenschritt über die Drehkörper nimmt (§ 14, Beispiel III). 6.6.3 Georg Prange (1914) Wir hatten im Kapitel 5 bereits erwähnt, daß die von GEORG PRANGE 1914 verteidigte Dissertation Die Hamilton-Jacobische Theorie für Doppelintegrale aus gesundheitlichen Gründen erst so spät abgeschlossen werden konnte, weshalb sie durchaus noch ein Widerschein Hilbertscher Intentionen aus den Jahren 1904/05 bildet, in denen DAVID HILBERT sie PRANGE gestellt hatte. Nun betrifft die Arbeit PRANGES zwar mehrfache Integrale, aber wie PRANGE selbst in Parenthese zum Titel deutlich gemacht hat, stellte er seinen Untersuchungen eine “Übersicht für einfache Integrale” voran, in der er “die leitenden Gedanken für die Übertragung der Theorie auf mehrfache Integrale hervortreten lassen”155 wollte, womit er hier seinen Platz hat. In dieser kurzen Übersicht von 33 Druckseiten wird ausgiebig der Zusammenhang von Hamilton-Jacobischer Differentialgleichung und Unabhängigkeitsfeld (Mayerfeld) dargelegt. PRANGE ging von der allgemeinen Variationsformel eines Integrals mit veränderlichen Grenzen aus und bezeichnete diese Gleichung als Grenzformel. Diese Formel ist für seine Untersuchungen zentral, da die Übertragung der charakteristischen Funktion für ein einfaches Integral (im Sinne HAMILTONS) auf den mehrdimensionalen Fall darauf hinausläuft, ein Funktional zu betrachten, das sich auf eben diese Grenzformel bezieht. Da in den vorbereitenden Betrachtungen PRANGES, die auf Vorarbeiten von VITO VOLTERRA (1860-1940) und JACQUES HADAMARD über Linienfunktionen (Funktionale) basieren, bereits jene in HILBERTS Gutachten als “geglückte Ideenbildung” bezeichneten Gedanken zu finden sind, ist eine ausführlichere Darstellung angebracht. PRANGE legte in dem vorbereitenden Teil durchgängig ein Variationsproblem für zwei gesuchte Funktionen einer unabhängigen Variablen J(z) =
x2
∫x f dx
→ extr
1
( f = f(x, y, z, p, q); y' = dy/dx, z' = dz/dx)
155. Die Hamilton-Jacobische Theorie für Doppelintegrale, Göttingen, 1915, 6.
DIE FELDKONSTRUKTION UND VERWANDTE THEMEN
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mit festen Randwerten in den Endpunkten x1 und x2 zugrunde und erhielt für die totale Variation: ∆J =
∫A ε dx + S ( B ) – S ( A ) . B
Er folgte dann der Hamiltonschen Idee, die Extremale eines Variationsproblems als Punktpaarfunktion zu betrachten. Die in x1 und x2 fest vorgegebenen Randwerte yi = y(xi) bzw. zi = z(xi) der Vergleichsfunktionen des Variationsproblems bestimmen ein Randwertproblem der Eulerschen Differentialgleichung. Wenn P1 und P2 beliebige Punkte eines geeigneten Bereichs sind, die durch eine Extremale C verbunden sind, so ist durch I C ( P 1 , P 2 ) = I C ( x 1, y 1, z 1 ; x 2 , y 2 , z 2 ) =
P2
∫P
f dx längs einer Extremalen C
1
die zugehörige Hamiltonsche principal function erklärt, die bei PRANGE als Feldintegral oder Extremalwertintegral bezeichnet wird (vgl. Abschnitt 5.6.3). Für das betrachtete Variationsproblem lautet die erwähnte Grenzformel (G) δI C = f p δy + f q δz + ( f – y'f p – z'f q ) δx
P2 P1
.
Aus ihr lassen sich sofort die partiellen Ableitungen von I entnehmen: ∂I---= f – y'f p – z'f q , ∂x ∂I (1) ----- = f p , ∂y ∂I ----- = f q , ∂z
woraus leicht folgt, daß die Punktpaarfunktion die Hamilton-Jacobische Differentialgleichung ∂I ∂I ∂I (2) ----- – H ⎛ x, y, z, -----, -----⎞ = 0 ⎝ ∂x ∂y ∂z⎠
erfüllt, in der H die zu f gehörige Hamiltonfunktion bedeutet. VITO VOLTERRA hatte in seinen Untersuchungen, die er 1899 in der Arbeit Sur une généralisation de la théorie des fonctions d’une variable156 teilweise zusammenfaßte, eine Punktpaarfunktion S(P1, P2) einfach (semplice, di primo grado) genannt, wenn sie der Bedingung S(P1, P3) = S(P1, P2) + S(P2, P3)
genügte. Diese Forderung erfüllt das Feldintegral IC (P1, P2) offensichtlich nicht.157 PRANGE konstruierte daher die folgende Punktepaarfunktion: der 156. Acta mathematica, 12 (1889), 233-286. 157. Sofern die Punkte Pi nicht auf einer Extremalen liegen, müßte I wegunabhängig sein.
600
KAPITEL 6
Punkt P1 wird festgehalten und mit A =A(a, b, c) bezeichnet; das Feldintegral I wird von A zu einem beliebigen Punkt P längs einer Extremalen C erstreckt, V(P) = IC(A, P) =
P
∫A f dx .
Es zeigt sich, daß mit Hilfe der so erklärten Ortsfunktion V der Differenzenfunktion S(P1, P2) = V(P2) – V(P1) .
diese Eigenschaft zukommt. Die hierdurch vorgenommene Belegung des x,y,zRaumes ist gleichwertig mit dem Ansatz eines wegunabhängigen Kurvenintegrals für eine einfache Punktpaarfunktion: S(P1, P2) =
P2
∫P
L ( x, y, z ) dx + M ( x, y, z ) dy + N ( x, y, z ) dz
1
= V(P2) – V(P1).
Das Extremalwertintegral (Feldintegral) V(P) = V(x, y, z; a, b, c) hängt von den drei Konstanten a, b, c ab, wobei eine Konstante lediglich additiv in V eingeht. Damit ist V ein vollständiges Integral der Hamilton-Jacobische Differentialgleichung, und “indem wir die Ableitungen nach den Konstanten neuen willkürlichen Konstanten gleichsetzen, ∂----V= β, ∂b
∂----V= γ ∂c
erhalten wir die ganze Schar der von A ausstrahlenden Extremalen”158, also nach CARL GUSTAV JACOBI (1804-1851) die allgemeine Lösung der Eulerschen Gleichungen, mit der die gestellte Randwertaufgabe (lokal) gelöst werden kann. Es sei andererseits ein beliebiges zweiparametriges Extremalenfeld gegeben, P sei ein fester Punkt in diesem Feld, und T sei eine durch das Feld gelegte Fläche mit der Gleichung z = ζ(x, y), die jede Extremale genau einmal schneide. Die mit Hilfe des zweiparametrigen Extremalenfeldes erklärte Belegung des x,y,z-Raumes W ( x, y, z ) =
T
∫P f ( x, y, z, y', z' ) dx
(längs Extremalen),
genügt nicht a priori der Hamilton-Jacobischen Differentialgleichung (2). Denn bildet man wie eben für I die partiellen Ableitungen von W mit Hilfe der Grenzwertformel, so erhält man ein zu (1) analoges System, in dem jedoch jede Gleichung einen zusätzlichen Term enthält. Diese zusätzlichen Ausdrücke müssen verschwinden, wenn W die Hamilton-Jacobische Differentialgleichung 158. Die Hamilton-Jacobische Theorie für Doppelintegrale, Göttingen, 1915, 15.
DIE FELDKONSTRUKTION UND VERWANDTE THEMEN
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erfüllen soll. Das Verschwinden dieser Ausdrücke führt auf die lineare Differentialgleichung für die Fläche T: (3) (f – pfp – qfq) dx + fpdy + fqdz = 0,
die nichts anderes als die Transversalitätsbedingung ausdrückt. Ist also T ein Integral dieser totalen Differentialgleichung (3), so schneidet T das Feld transversal. Wenn sich mithin eine transversale Fläche zum Feld angeben läßt, so muß (3) vollständig integrabel sein. Die Integrabilitätsbedingungen für (3) ergeben gemeinsam mit den beiden partielle Differentialgleichungen für die Gefällefunktionen p und q des Feldes ein lineares homogenes Gleichungssystem für die drei Ausdrücke ∂f p ∂f q (4) ------- – ------- , ∂z ∂y
∂f p ∂ ------- – ----- ( f – pf p – qf q ) , ∂x ∂y
∂f q ∂ ------- – ----- ( f – pfp – qf q ) . ∂x ∂z
Die Determinante des linearen homogenen Gleichungssystems für diese drei Größen berechnet sich zu f und verschwindet damit nicht identisch. Folglich gibt es für das System nur die triviale Nullösung, und die null gesetzten Ausdrücke (4) formulieren wiederum gerade die Bedingungen für die Wegunabhängigkeit des Hilbertschen Unabhängigkeitsintegrals. Zusammengefaßt: Läßt sich aus einer Extremalenschar eine Lösung der Hamilton-Jacobischen Differentialgleichung gewinnen, so muß das Feld ein Unabhängigkeitsfeld (Mayerfeld) sein, und der Wert des Feldintegrals kann von einer transversalen Fläche aus berechnet werden. Andererseits enthalten spezielle Unabhängigkeitsfelder nicht immer genug Parameter, um Randwertaufgaben der Eulerschen Differentialgleichung lösen zu können. Man kann sich aber die erforderliche Anzahl verschaffen, indem man eine zweiparametrige Schar von Unabhängigkeitsfeldern betrachtet. Diese Schar kann aus einer zweiparametrigen Flächenschar T = T(a, b) erzeugt werden, indem für jede Fläche der Schar die zugehörigen transversalen Extremalen konstruiert werden.159 PRANGE führte wie HANS HAHN (1878-1934) ein Röhrenfeld ein.160 Indem er die Grenzformel über eine geschlossen Kurve integrierte, die auf einer beliebigen Röhre des Feldes verlief, gewann er eine sogenannte relative Integralinvariante.161 PRANGE benutzte diese Invariante, um Unabhängigkeitsfelder zu charakterisieren. Er zeigte: Wenn ein geschlossener Integrationsweg auf dem Röhrenfeld so verläuft, daß er sich auf einen Punkt zusammenziehen läßt, dann verschwindet das über die Grenzformel erstreckte Integral. Die relative Inte159. Diese Überlegungen sind bereits in Hilberts Arbeit Zur Variationsrechnung (1905) angedeutet, siehe dessen Gesammelte Abhandlungen, Berlin, Springer, 1935. Bd. 3, S. 47f. Ähnlich auch bei J. Hadamard, Leçons sur le Calcul des Variation, Paris, Hermann, 1910, p. 161f. 160. Zu Hahn siehe Abschnitt 6.11. 161. Die Hamilton-Jacobische Theorie für Doppelintegrale, Göttingen, 1915, 23-27.
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KAPITEL 6
gralinvariante ist gleich null. Das bedeutet aber nichts anderes als die Wegunabhängigkeit von I*. Das ist beispielsweise bei Variationsproblemen mit einer gesuchten Funktion einer Veränderlichen gar nicht anders möglich, da hier das entsprechende Feld eben (sowie einfach zusammenhängend)162 ist und sich somit jede geschlossene Kurve auf einen Punkt zusammenziehen läßt. Ein räumliches Feld verlangt für Wegunabhängigkeit hingegen, daß auch solche geschlossenen Integrationswege, die sich nicht auf einen Punkt zusammenziehen lassen, die relative Integralinvariante null liefern. Das Unabhängigkeitsintegral kann damit als eine spezielle relative Integralinvariante aufgefaßt werden, nämlich als eine verschwindende.
Abb. 6.14. Extremalenröhre und Integralinvarianten.
Im weiteren nutze PRANGE den Sachverhalt aus, daß der geschlossene Integrationsweg auf der Extremalenröhre beliebig deformiert werden kann, ohne daß dadurch der Wert der Integralinvariante geändert wird. Indem er solche Kurven K betrachtete, die ganz in der Ebene x = const lagen und die dort ein Gebiet G umschlossen, erhielt er die Integralinvariante in der Gestalt
°∫ fp dy – fq dz
= const,
K
162. Mehrfach zusammenhängende Felder, die sich bei Nebenbedingungen einstellen können, schränken die Variierbarkeit ein.
DIE FELDKONSTRUKTION UND VERWANDTE THEMEN
603
und der Stokessche Satz führte auf (5)
∂
∂
- f – ----- f ⎞ dy dz ∫ ∫ ⎛⎝ ---∂z p ∂y q⎠
= const.
G
Soll das Extremalenfeld ein Mayerfeld bzw. ein Unabhängigkeitsfeld sein, so muß die Integralinvariante verschwinden. Das bedeutet im Hinblick auf (5) ∂∂ ---f – ----- f ≡ 0. ∂z p ∂y q
Die Gleichung entspricht genau den von MAYER angegebenen Bedingungen: fp und fq müssen die partiellen Ableitungen einer Funktion Ω (x, y, z) sein.163 Auch für das zugehörige kanonische System des Variationsproblems gab PRANGE diese Bedingungen an: Längs jeder Lösung der zweiparametrigen Schar y = y(x, a, b), z = z(x, a, b), π = π (x, a, b), θ = θ (x, a, b) des kanonischen Systems gilt: ∂y ----∂y ∂----π-⎞ ⎛ ----∂θ- ----∂z ----∂z ∂----θ-⎞ ⎛ ∂-----π- ----⎝ ∂a ∂b – ∂a ∂b⎠ + ⎝ ∂a ∂b – ∂a ∂b⎠ = 0 .
Das Integral über diesen Ausdruck, der als Lagrangesche Klammer [a, b] bezeichnet wird und der für beliebige Extremalenscharen nicht notwendig verschwindet, wird als absolute Integralinvariante bezeichnet.164 PRANGE ging hier nicht auf die Beziehung der Klammern zu dem von JOSEPH-LOUIS LAGRANGE (1736-1813) bei seinen Untersuchungen über das Dreikörperproblem geprägten Begriff ein. Jedoch hat PRANGE später den von LAGRANGE beschrittenen Weg ausführlich in seinem Enzyklopädieartikel Die allgemeinen Integrationsmethoden der analytischen Mechanik165 dargestellt. Wir skizzieren jetzt den Teil der Dissertation, der sich der mehrdimensionalen Variationsrechnung widmet. PRANGE hatte die feldtheoretischen Sachverhalte beim einfachen Variationsproblem referiert, um die Grenzwertformel (G) in ihrer Bedeutung hervorzuheben, da PRANGE der Meinung war, daß diese Formel für die Verallgemeinerung ins Mehrdimensionale grundlegend sei und daß dieses wesentliche Charakteristikum im Eindimensionalen nicht so klar hervortrete. Die Grenzwertformel läßt sich modern etwa als erste Variation des Problems in einer Form beschreiben, die die natürlichen Randbedingungen hervorhebt; PRANGE selbst sprach auch von der Hadamard-Lévyschen Ableitung (S. 45). Während im eindimensionalen Fall die charakteristische Hamiltonsche Funktion (die Lösung der Hamilton-Jacobischen partiellen Differentialglei163. A. Mayer, “Über den Hilbertschen Unabhängigkeitssatz”, Leipziger Berichte, 57 (1905), 49-67, 54. 164. Die Lagrangesche Klammer, die unabhängig von x ist, kann in gewisser Weise als ein Maß dafür angesehen werden, wie weit eine Extremalenschar von einer Mayerschar abweicht. 165. Encyklopädie der mathematischen Wissenschaften, Band 4/2 (Hrg. F. Klein), Leipzig, Teubner 1904-1935. Abschnitte 12 und 13. Die Ausführungen zu Lagrange in Nr. 11, Weiterführendes zu Integralinvarianten in den Nr. 20, 21.
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KAPITEL 6
chung) durch eine Punktepaarfunktion gebildet wird, in die die Randpunkte des Integrationsintervalls eingehen, hängt für mehrdimensionale Variationsprobleme die charakteristische Funktion von der Begrenzung des Integrationsgebietes ab und ist daher ein Funktional. PRANGE behandelte exemplarisch das zweidimensionale Variationsproblem J( F) =
∫ ∫ f dx dy
→ extremum
F
für ein und zwei gesuchte Funktionen und merkte an, daß bei der Erweiterung auf ein n-faches Integral mit m gesuchten Funktionen keine wesentlichen Schwierigkeiten entstehen dürften (S. 8). Die Fußnote auf Seite 84 relativiert diese Aussage, indem PRANGE in ihr für mehrere unbekannte Funktionen bei der Erörterung der erforderlichen Integrabilitätsbedingungen feststellte, daß in der Untersuchung “gewisse Terme [auftreten], welche die Beantwortung dieser Frage nicht einfach erscheinen lassen”. Während das Extremalenfeld (im Weierstraßschen Sinne) einer gesuchten Funktion durch einen Parameter a beschrieben wird, wird beim Doppelintegral diese Rolle von einer beliebigen geschlossenen Kurve L zu übernehmen sein, die als Berandung der Extremalen (Flächenstück) F0 : z = z(x, y) zu denken ist. Genauer gesagt sei in einem Bereich B des x,y,z-Raumes der Form B = {(x, y, z)⏐(x, y) aus einem Ringgebiet R; z ∈ I mit I : z1 < z < z2} = R × I
eine Menge von Extremalen F derart gegeben, daß sich durch jede geschlossene Kurve L in B stets eine und nur eine Extremale F dieser Menge legen läßt mit ∂F = L. Von der Kurve L wird noch verlangt, daß sie sich in B nicht auf einen Punkt zusammenziehen lasse. Eine derartige Menge von Extremalen wird von PRANGE ein Funktionsfeld genannt (S. 50). Wählt man anstelle der beliebigen Kurve L eine feste Kurve L0, von der die Extremalen des Funktionenfeldes ausgehen, so schränkt man das allgemeine Feld auf ein spezielles ein, das beim eindimensionalen Problem dem zentralen Feld entspricht. Im Feld läßt sich eine Linienfunktion W ( F ;L 0 ) =
∫ ∫ f dx dy F
erklären; F ist eine Extremale des Funktionenfeldes und L0 eine Anfangskurve auf dem durch L bestimmten Flächenstück, von der aus W zu erstrecken ist (S. 50). PRANGES Problem ist nun, wann die so definierte Linienfunktion der Hamilton-Jacobischen partiellen Differentialgleichung genügen wird, was eine vollständige Figur bzw. ein Unabhängigkeitsfeld liefert. Die Frage führte ihn auf die Verschiebung längs einer beliebigen Kurve L auf der betrachteten Extremalen F: δx : δy : δz = f z : f z : (zx fx + zy fy – f ) x y
(Gleichung (43*) auf S. 51). Wählt man aus dem Funktionenfeld eine einpara-
DIE FELDKONSTRUKTION UND VERWANDTE THEMEN
605
metrige Schar, so werden durch (43*) die partiellen Ableitungen zx, zy der Extremalen z = z(x, y) Ortsfunktionen p = p(x, y) und q = q(x, y). Die Gleichung (43*) bestimmt so eine 2-parametrige Kurvenschar, welche wie die einparametrige Extremalenschar ein gewisses Gebiet einfach und lückenlos überdeckt sowie die Schar der Feldextremalen transversal durchsetzt. Die Kurven dieser zweiten Schar sind die Transversalen des Feldes (S. 52). Jedes solches Feld ist weiterhin ein Unabhängigkeitsfeld, d.h. das Hilbertsche Unabhängigkeitsintegral I∗ ( C ) =
∫ ∫ { f ( x, y, z, p, q ) + ( z x – p )fp + ( z y – q )fy } dx dy C
ist in der Tat von der Integrationsfläche C unabhängig. Die Ausdehnung auf zwei gesuchte Funktionen führte auf die bereits erwähnten technischen Schwierigkeiten mit den Integrabilitätsbedingungen. Die neuere mehrdimensionale Variationsrechnung geht deshalb auch nicht von den Extremalen, sondern gleich von geeigneten (speziellen) Ansätzen für das transversale Feld aus bzw. reduziert die klassischen Feldeigenschaften (siehe Kapitel 7). 6.7 Adolf Mayer (1903) ADOLPH MAYER hat nach KARL WEIERSTRAß einen entscheidenden Beitrag zur Feldtheorie erbracht, der darin bestand, daß er das Wesen der Felder mehrerer Funktionen einer Variablen aufdeckte. Das von MAYER aufgestellte allgemeinste Problem der Variationsrechnung schloß auch Nebenbedingungen in Form von Differentialgleichungen ein. Da wir jedoch Probleme mit Nebenbedingungen nicht betrachten wollen, lassen sich die entscheidenden Überlegungen MAYERS für unsere Zwecke erheblich vereinfacht und damit auch durchsichtiger darlegen. In der ersten Mitteilung Über den Hilbertschen Unabhängigkeitssatz in der Theorie des Maximums und des Minimums der einfachen Integrale (1903), die dieses Thema behandelt, hatte ADOLPH MAYER “nur den einen Zweck im Auge, für das vorgelegte Problem der Variationsrechnung diejenige bestimmte Form dieses Satzes zu gewinnen, welche die Weierstraßsche E-Funktion auf das besondere Extremalenfeld [2-parametrige Extremalenschar yi = yi(x, α)] bezieht, das unmittelbar zu dem Jacobischen Kriterium der konjugierten Punkte führt”.166 Hier knüpfte MAYER an seine globalen Betrachtungen für
166. Leipziger Berichte, 55 (1903), S. 49f. Mayer hatte, insbesondere durch die von ihm eingeführte Determinante, das klassische Resultat von Jacobi über konjugierte Punkte im Fall einer gesuchten Funktion (ohne Nebenbedingungen) verallgemeinert (Leipziger Berichte, 29 (1877) und 30 (1878)). Das im Mathematischen Institut der Universität Leipzig aufbewahrte Exemplar von Bolzas Lectures on the calculus of variations aus dem Besitz von Mayer weist auch ein besonders intensiv durchgearbeitetes Kapitel Geometrical interpretation of conjugated points (§ 15) auf.
606
KAPITEL 6
hinreichende Bedingungen an, die ein Ergebnis von JACOBI verallgemeinern.167 Dieses Herangehen verlangt, die entsprechende Hamilton-Jacobische partielle Differentialgleichung des Problems vollständig zu integrieren. MAYER erledigte diese Aufgabe mit Hilfe einer Methode von ALFRED CLEBSCH (1833-1872), die er in einem Abschnitt “Integration der Differentialgleichungen des Problems durch vollständige Lösung ihrer Hamilton-Jacobischen partiellen Differentialgleichung” darstellte, ehe er seine eigentlichen Überlegungen begann.
Abb. 6.15. Eine optische Veranschaulichung des Mayerschen Ausgangspunktes, Lösungen der Eulerschen Gleichungen (Lichtstrahlen) mit denen der Hamilton-Jacobischen Differentialgleichung (Wellenflächen) in Verbindung zu setzen.
In dem folgenden Abschnitt “Zusammenhang zwischen der Hamilton-Jacobischen partiellen Differentialgleichung und dem Hilbertschen Integral” suchte dann MAYER solche Richtungsfelder p(x, y), die den Integranden Ω* des Hilbertschen Unabhängigkeitsintegrals der Form ∂Ω (1) Ω∗ = Ω + ( y' i – p i ) ------- : = B + Bhy'h ∂p i
(Summation über h, h = 1, …, n)168
bzw. (2) Ω*dx = Bdx + Bhdyh
zu einem vollständigen Differential machen, und hierfür erhielt er aus den bekannten Integrabilitätsforderungen (Gleichheit der entsprechenden gemischten partiellen Ableitungen in x und y gemäß dem Schwarzschen Satz) zwei Gruppen von Integrabilitätsbedingungen:
167. “Zur Theorie der Variations-Rechnung und der Differentialgleichungen”, Crelles Journal, 17 (1837), 62–82; auch in: Werke, Bd. 4, (1886), hrg. K. Weierstraß, 39-55. 168. Leipziger Berichte, 55 (1903), S. 140f. Ω ist die Grundfunktion des Variationsproblems gemäß der Lagrangeschen Multiplikatorenregel und daher in unserem Fall fehlender Nebenbedingungen mit der Funktion F(x, y, y ') zu identifizieren; die Querstriche sollen anzeigen, daß die yi' als unabhängige Variable pi betrachtet werden.
DIE FELDKONSTRUKTION UND VERWANDTE THEMEN
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∂B i ∂B (3) -------- – ------- = 0, ∂x ∂y i (i, h = 1, … , n; i ≠ h).169 ∂B i ∂B h (4) -------- – --------- = 0, ∂y h ∂y i
Eine Lösung V(x, y) [= S(x, y)] der Hamilton-Jacobischen Differentialgleichung Vx + H(x, y, Vy) = 0,
liefert geeignete Feldfunktionen p = p(x, y), indem man ∂V ∂Ω-----= ------∂p i ∂y i
(i = 1, … , n)
nach den p auflöst. Die erste Gruppe der Integrabilitätsbedingungen, (3), führt auf die Eulersche Gleichung des betrachteten Variationsproblems, so daß die Lösungsschar yi = yi (x, c1, …, cn), (i = 1, … , n), der Differentialgleichungen erster Ordnung (5) yi' = pi(x, y),
(i = 1, … , n),
sowohl den Eulerschen Differentialgleichungen genügt als auch das in Rede stehende Differential vollständig macht. MAYER merkte über die zweite Gruppe (4) an: “Dagegen sind die Integrabilitätsbedingungen (33) [zweite Gruppe bzw. Lagrangesche Klammerausdrücke, (4)] keine Folge der Bedingungen (32) [erste Gruppe bzw. Eulersche Differentialgleichungen, (3)] und der Gleichungen (29) [Nebenbedingungen]. Daher gilt nicht mehr, wie im Falle n = 1, der Satz, daß bereits in jedem System von Gleichungen (34) [= (5)], dessen vollständige Lösungen zugleich den Differentialgleichungen (2) und (3) [Eulersche Gleichung für Ω sowie die Gleichungen für die Nebenbedingungen] genügen, die rechten Seiten solcher Funktionen wären, welche den Ausdruck (28) [Ω*] zu einem vollständigen Differentialquotienten machen.”170 Diese Gruppe liefert die Bedingungen ∂ ∂Ω ∂ - -----∂Ω- -----------– - -------- = 0 , ∂y h ∂p i ∂y i ∂p h
(p = p(x, y); i, h = 1, ... , n; i ≠ h )
die auf die Lagrangeschen Klammern führen. In seiner zweiten Mitteilung Über den Hilbertschen Unabhängigkeitssatz (1905) und den nachträglichen Bemerkungen dazu leitete MAYER die Ergebnisse der ersten Mitteilung abermals her, indem er die elegantere Cauchysche 169. aaO., Formeln (32) und (33), S. 141f. 170. aaO., 142.
608
KAPITEL 6
Integrationsmethode benutzte. CONSTANTIN CARATHÉODORY griff übrigens im gleichen Jahr ebenfalls auf dieses Integrationsverfahren zurück, erstmals in seiner Vorlesung über Variationsrechnung von 1906 und später u.a. in dem Kapitel über Variationsrechnung in dem Buch Die Differential- und Integralgleichungen in Mathematik und Physik (1925)171 von PHILIPP FRANK (1884-1966) und RICHARD VON MISES (1883-1953). Die ausführlichen Abschnittsüberschriften legen den Gang der Überlegung gut dar. Zunächst wurde der Zusammenhang des Problems der Variationsrechnung zum Unabhängigkeitssatz von HILBERT hergestellt. Diejenigen Lösungsscharen, die ein vollständiges Differential im Unabhängigkeitsintegral liefern, lassen sich aus einer Lösung der Hamilton-Jacobischen Differentialgleichung des Problems gewinnen, und umgekehrt führen solche ausgezeichnete Lösungsscharen durch reine Quadratur auf eine Lösung der Hamilton-Jacobischen Differentialgleichung. Aus der vollständigen 2n-parametrigen Lösungsschar yi = yi (x, c1, … , c2n) der Eulerschen Differentialgleichungen gewann MAYER für x = x0 durch die Spezifizierung von n Konstanten yi(x0, c1, … , c2n) = ai,
(i = 1, … , n),
die gesuchte ausgezeichnete Extremalenschar yi = yi (x, a1, … , an),
(i = 1, … , n),
die ein Mayerfeld bestimmt.172 Die geeigneten Feldgrößen p = p(x, y) folgen aus den Beziehungen ∂y i ( x, a 1, …, a n ) p i ( x, y ) = y i' = ----------------------------------------- , ∂x
(i = 1, … , n),
in die man die Auflösung der ausgezeichneten Extremalenschar nach den a bzw. ai = ai(x, y),
(i = 1, … , n),
eingesetzt hat: ∂y i ( x, a 1 ( x, y ), …, a n ( x, y ) ) p i ( x, y ) = -------------------------------------------------------------------- , ∂x
(i = 1, … , n).173
171. Braunschweig, Vieweg, 1925, 2. Auflage, 1930. 172. Leipziger Berichte, 62 (1905), 60. 173. aaO., 314. Für die angegebene Spezialisierung der Konstanten reduziert sich die sogenannte Mayersche Determinante gerade auf die Funktionaldeterminante D(y, a) = ∂(y(x,a))/∂a, deren Nichtverschwinden die gewünschte Auflösbarkeit gestattet.
DIE FELDKONSTRUKTION UND VERWANDTE THEMEN
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Die Klammerbedingung, die eine Extremalenschar yk = ϕk(x, a1, …, an) als eine solche charakterisiert, die eine transversale Schar besitzt lauten (Summationsvereinbarung): ∂ϕ i ∂F Pi ∂ϕ i ∂F Pi
(6) [r, s] = -------- ----------- – -------- ----------- = 0 , (r, s = 1, … n) . ∂a r ∂a s ∂a s ∂a r
Gleichung (6) drückt das Verschwinden der sogenannten Lagrangeschen Klammern [r, s] aus. Abschließend diskutierte MAYER die Grenzen der Anwendbarkeit des Unabhängigkeitssatzes, wobei er für ein von ihm 1878 gestelltes Problem (das sogenannte Mayerproblem),174 hier als Problem VII bezeichnet, die Gültigkeit eines Weierstraßschen Darstellungssatzes in Frage stellte. Es ist allerdings zu ergänzen, daß MAYERS 1878 gestelltes Problem im Hilbertschen Stil bereits 1906 von DIMITRI EGOROV (1869-1931)175 so behandelt wurde, daß es “bei einer sachgemäßen Wahl der Schar der Extremalen […] eine unmittelbare Ausdehnung der Theorien von Weierstraß auf das betrachtete Problem”176 erlaubte. Mit anderen Worten, EGOROV hatte ein Hilbertsches Unabhängigkeitsintegral bzw. die entsprechenden Mayerfelder konstruiert, so daß die Weierstraßsche Darstellungsformel galt. MAYERS Bedenken fußten auf den Nebenbedingungen, die wir beiseite lassen. Übrigens führte 1924 GILLIE ALDAH LAREW (1882-1977) (Promotion 1916 bei BLISS) entsprechende Betrachtungen nochmals in etwas analytischerer Ausführung durch (also eher im Stile A. MAYERS). Sie nahm dabei auf EGOROVS Arbeit keinen Bezug.177 6.8 David Hilbert (1905) HILBERTS Konzept, das das Feld indirekt über das Unabhängigkeitsintegral bestimmt und damit technische Schwierigkeiten umgeht, eignet sich ausgezeichnet, wenn es um begriffliche Untersuchungen geht. Die konkrete Feldkonstruktion hatte HILBERT zunächst seinen Schülern NADESCHDA GERNET und OSWALD MÜLLER überlassen, die allerdings beide die allgemeine Aufgabe nicht bewältigten. Später hat deshalb HILBERT wohl selbst im dreidimensionalen Fall, der von ihm als exemplarisch für den n-dimensionalen Fall angesehen wurde, in einer recht konstruktiven Weise 1905 eine (geometrisch orientierte) Feldkonstruktion ausgeführt.
174. “Über das allgemeinste Problem der Variationsrechnung bei einer einzigen unabhängigen Variable”, Leipziger Berichte, 30 (1878), 16–32. 175. Dimitri Fedorowitsch Egorov (Jegorow), Studium in Moskau, dort Promotion 1901 und seit 1903 Professor. 176. “Die hinreichenden Bedingungen des Extremums in der Theorie des Mayerschen Problems”, Mathematische Annalen, 62 (1906), 371–380, Zitat S. 373. 177. “The Hilbert integral and Mayer fields for the problem of Mayer in the calculus of variations”, Transactions of the AMS, 26 (1924), 61–67.
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KAPITEL 6
Im WS 1904 hatte HILBERT zum zweiten Male über Variationsrechnung gelesen. Die 1905 in den Göttinger Nachrichten erschienene Arbeit Zur Variationsrechnung178 kann als eine Folge dieser Lehrtätigkeit angesehen, auch wenn HILBERT in der Vorlesung nicht alle neuen Ergebnisse mitgeteilt hatte.179 Auf die Vorlesung sind wir im Abschnitt 5.8 eingegangen (Paragraph Unabhängigkeitsfeld). HILBERT bezog hier unter anderem auch Ergebnisse von MAYER ein, die das Unabhängigkeitsintegral für mehrere gesuchte Funktionen betrafen, er legte seine allgemeine Fassung des Unabhängigkeitssatzes dar und untersuchte die Beziehungen zur Hamilton-Jacobischen Theorie. Während “der Beweis von ihm [Mayer] durch Rechnung geleistet” wurde, betonte HILBERT, daß er “die Frage […] begrifflich ohne Rechnung analog zu früheren Betrachtungen erledigen”180 wollte. Das von HILBERT angegebene Verfahren der Feldkonstruktion reduziert den Aufbau eines n-dimensionalen Feldes auf den eines (n - 1)-dimensionalen. Der leichteren Faßlichkeit wegen legte HILBERT lediglich zwei gesuchte Funktionen y(x) und z(x) zugrunde: I=
b
∫a F ( x, y, z, y', z' ) dx → extr
und betrachtete das Integral (1) J* =
b
∫a [ F + ( y ' – p )Fp + ( z' – q )Fq ] dx ,
wobei er fragte, wie in J* die Größen p und q als Funktionen von x, y ,z zu wählen sind, damit J* im x,y,z-Raum unabhängig vom Integrationsweg wird. Dazu ging HILBERT von einer beliebigen Fläche T(x, y, z) = 0 aus, auf der er sich die Funktionen p und q so bestimmt dachte, daß für diese Wahl Wegunabhängigkeit bestehe. Das wird durch eine geeignete Festlegung (Transversalitätsforderung als Anfangsbedingung) ∂T ∂T ∂T (F – pFp – qFq) : Fp : Fq = ------ : ------ : -----∂x ∂y ∂z
erreicht, weil so auf T = 0 für jeden Weg w : y =y(x), z = z(x) wegen ∂----T∂T ∂T + ------ y' + ------ z' = 0 ∂x ∂y ∂z
178. Göttinger Nachrichten, (1905), 159–180, auch in: Gesammelte mathematische Abhandlungen, Bd. 3, 38–55. 179. In der Vorlesung fehlte beispielsweise das Variationsproblem, das die Summe aus einem mehrfachen Integral und dem zugehörigen Randintegral minimiert. – Neben der Variationsrechnung im WS 1904 hat Hilbert im WS 1904 über Bestimmte Integrale und Fouriersche Reihen sowie im SS 1905 über Integralgleichungen gelesen, wobei die letzte Vorlesung auch Abschnitte über Variationsrechnung enthielt. 180. Variationsrechnung, WS 1904. Vorlesungsausarbeitung von E. Hellinger. Mathematisches Institut der Universität Göttingen, 310.
DIE FELDKONSTRUKTION UND VERWANDTE THEMEN
611
der Integrand von J* , (1), verschwindet. Durch alle Punkte P dieses Feldes auf der Fläche T = 0 konstruierte HILBERT im x,y,z-Raum die zugehörigen Integralkurven der Eulerschen Differentialgleichungen des Variationsproblems (Extremalen) mit den Anfangswerten y' = p ( x, y, z ) ,
z' = q ( x, y, z )
in P.
Die auf diese Weise entstehende zweiparametrige Extremalenschar im x,y,zRaum liefert lokal in der Tat ein gewünschtes Feld. Die Aussage bleibt weiterhin gültig, wenn die Fläche T = 0 zu einem Punkt entartet bzw. das Feld somit ein uneigentliches wird, in dem alle Extremalen durch den Ausgangspunkt A gehen (zentrales Feld). Wir skizzieren den Hilbertschen Beweis. Ein Punkt A auf der Fläche T = 0 wird mit einem beliebigen Punkt Q des räumlichen Feldes mittels irgendeines Weges w verbunden. Für jeden Punkt B dieses Weges w wird in der zweiparametrigen Extremalenschar diejenige Extremale bestimmt, die durch B geht. Die so gewonnene einparametrige Extremalenschar erzeugt eine Fläche Φ , die die Gleichung z = f(x, y) haben möge. Auf der Fläche T = 0 bilden die Fußpunkte B' (Schnittpunkte der Extremalen mit der Fläche T = 0) der durch den Weg w bestimmten Extremalen einen Weg wT , der vom Ausgangspunkt A über die Punkte B' zu dem Fußpunkt P, der zu Q gehört, führt. HILBERT zeigte durch Rechnung, daß auf der Fläche Φ sein in der Ebene gültiger Unabhängigkeitssatz besteht, d.h. er gilt für das Integral (1). Diese Überlegung läßt sich für einen beliebigen anderen Weg w und eine analog gebildete Fläche Φ durchführen.
Abb. 6.16. Zur Feldkonstruktion von Hilbert.
Nun betrachtete HILBERT anstelle der beliebigen Wege w und w die jeweils durch deren “Fußpunktkurven” wT und w T auf der Fläche T (Schnitt der Flächen Φ bzw. Φ mit T) sowie durch die durch P und Q gehende Extremale CPQ
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KAPITEL 6
zusammengesetzten Wege. Dann ist wegen der Gültigkeit des Unabhängigkeitssatzes in den Flächen Φ, Φ und auf T J*(w) = J*(wT) + J*(CPQ) = J*( w T) + J*(CPQ) = J*( w ),
d.h., die Unabhängigkeitseigenschaft gilt im Feld für beliebige Wege. Das Integral J* ist damit eine alleinige Funktion des Endpunktes Q, also eine reine Ortsfunktion: J(x, y, z) = [J*] =
Q
∫A [ F – ( y ' – p )Fp – ( z' – q )Fq ] dx ,
für die mit den genannten Anfangsbedingungen J = 0 auf T gilt. Hieraus folgt sofort: ∂----J= F – pF p – qF q , ∂x ∂----J= Fp , ∂y ∂----J= Fq , ∂z
und Eliminieren von p,q liefert die Hamilton-Jacobische partielle Differentialgleichung für die Funktion J(x, y, z): ∂J ∂J ∂J (2) ----- + H( ----- , ----- , x, y, z) = 0, ∂x ∂y ∂z
wobei H die entsprechende Hamiltonfunktion des Variationsproblems ist. Wenn T einer zweiparametrigen Flächenschar angehört, deren Parameter a und b seien, so werden alle in der Konstruktion erscheinenden Funktionen zusätzlich von diesen Parametern abhängen, und es ist dann eine unmittelbare Folge, daß mit ∂J ----- = c, ∂a (c, d, beliebig reell) ∂J ----=d ∂b
das allgemeine Integral der Eulerschen Differentialgleichungen vorliegt. Dieser Satz ist 1838 erstmals von CARL GUSTAV JACOBI gezeigt und hier nochmals von HILBERT elegant bewiesen worden.181 181. “Zur Theorie der Variations-Rechnung und der Differentialgleichungen”, Journal für Mathematik, 17 (1837), 68–82; auch in: Jacobi’s gesammelte Werke, Bd. 4, Berlin, 1886, 39-55.
DIE FELDKONSTRUKTION UND VERWANDTE THEMEN
613
In die Mechanikvorlesung im WS 1905 hat HILBERT diese neuen Ergebnisse bereits aufgenommen.182 Er verwies zwar für Details der räumlichen Feldkonstruktion auf seine Arbeit Zur Variationsrechnung, aber im Hinblick auf die Bedürfnisse der Mechanik stellt er die Beziehungen zur Hamilton-Jacobischen Theorie deutlicher heraus. HILBERT sah “die bequeme Ableitung der JakobiHamiltonschen Theorie der dynamischen Diff.Gl”. als eine “der wichtigsten Anwendungen des Unabhängigkeitssatzes”183 an. Diesen Zusammenhang zwischen Hamilton-Jacobischer partieller Differentialgleichung, deren Charakteristiken und der Eulerschen Differentialgleichung bei einem Variationsproblem hatte er schon im Pariser Vortrag im 23. Problem betont. In die Hamilton-Jacobische Differentialgleichung (2) geht die Fläche T = 0 nicht mehr ein, und “ihr genügt daher das Unabhängigkeitsintegral in jedem irgendwie konstruierten Felde”184, also insbesondere auch die Ortsfunktion J(x, y, z), die auf T = 0 verschwindet. Die allgemeine Theorie lehrt, daß diese Lösung eindeutig ist. HILBERT hob hervor, daß damit eine vollkommene Integrationsmethode der Hamilton-Jacobischen Differentialgleichung eines Variationsproblems durch die Zurückführung auf die gewöhnlichen Differentialgleichungen (Eulersche Differentialgleichungen) dieses Variationsproblems vorliegt, und er bemerkte: “Damit haben wir den tiefsten und schönsten Satz aus der Theorie der partiellen Diff. Gl. [Differentialgleichungen]1. Ordnung gewonnen, daß jede solche durch gewöhnliche Diff.Gl. vollständig integriert werden kann.”185 HILBERT nutzte die Tragweite des Unabhängigkeitssatzes, um auch Variationsprobleme mit freien Randwerten zu behandeln, wofür in der Regel allgemeine Felder benötigt werden. Sein exemplarisches Beispiel ist dieses: “Eine Kurve von einer Fläche T(x, y, z) = 0 nach einem Punkt B zu finden, die im Vergleich mit allen von B nach dieser Fläche gezogenen Kurven J =
B
∫T = 0 F ( y', z', y, z, x ) dx
zum Minimum macht.”186 Das von ihm transversal zur Mannigfaltigkeit T = 0 konstruierte Feld eignet sich weiterhin zum Nachweis von Minimalität. Es gibt nur eine Extremale C0
182. Ähnlich auch in den Vorlesungen Theorie der partiellen Differentialgleichungen (WS 1907, 341-371, hier vor allem in der Charakteristikentheorie; WS 1910, 59-189), Gewöhnliche Differentialgleichungen (SS 1912, 137-175; WS 1915, 202-212) und Mechanik und neue Gravitationstheorie (SS 1920, 1-45). Die Seitenangaben beziehen sich auf die Ausarbeitungen im Mathematischen Institut der Universität Göttingen. 183. Mechanik, WS 1905. Vorlesungsnachschrift von E. Hellinger. Mathematisches Institut der Universität Göttingen, 210. 184. Mechanik, WS 1905, 211. 185. aaO., S. 211f. 186. aaO., 207.
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KAPITEL 6
dieses Feldes durch B, und nach Konstruktion schneidet C0 die Fläche T wie erforderlich transversal. Wenn C eine beliebige Vergleichskurve im Felde ist, die von B zur Fläche T geht und diese in A* trifft, dann folgt wie früher für das Unabhängigkeitsintegral J*: J*(C) = J*(C0),
und damit gilt wiederum der Weierstraßsche Darstellungssatz. HILBERT bemerkte noch: “Das Integral J(x, y, z) ist nichts als der Minimalwert von
∫ F ( y', z', y, z, x ) dx , wenn man (x, y, z) mit der Fläche T = 0 verbinden will. […] Es spielt unter verschiedenem Namen in den verschiedenen Theorien eine große Rolle, so ist es in der Theorie der geodätischen Linien die geodätische Entfernung, in der Optik das Eikonal (Lichtzeit), in der Mechanik das Hamiltonsche Integral, u.s.f.”187 6.9 Feldtheorie in Lehrbüchern und Monographien: É. Goursat (1905) und J. Hadamard (1910) 6.9.1 É. Goursat (1905, 1915) DAVID HILBERT hatte bei den Literaturangaben in seiner Vorlesung Differentialrechnung 1899 bemerkt, daß es zum Thema “Lehrbücher wie Sand am Meer gebe”188, daß aber darunter kein den modernen Ansprüchen genügendes deutsches Lehrbuch sei, und im Vorwort zur deutschen Übersetzung des ersten Bandes des Cours d’analyse mathematique189 von ÉDOUARD GOURSAT190 wiederholte der Herausgeber GERHARD KOWALEWSKI (1876-1950) noch 1914: “Man darf wohl sagen, daß es ein gleichwertiges Buch in der deutschen Literatur nicht gibt.”191 GOURSATS Lehrbuch der Analysis stand dabei mit einschlägigen Kursen wie etwa denen von CAMILLE JORDAN (3 Bände, 18821887) und EMILE PICARD (3 Bände, 1891-1896) in einer starken französischen Tradition. Wir lesen hierüber bei DIRK STRUIK (1896-2000): 187. aaO., 212. 188. Kollegheft Differentialrechnung SS 1899, Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung, Cod. Ms. Hilbert 554. 189. Paris, Gauthier-Villars, 2 Bände, 1902-1905. Das Lehrbuch erfuhr bis 1956 fünf Auflagen, die gegenüber der ersten wesentlich erweitert wurden. Die Variationsrechnung befindet sich ab der zweiten Auflage im Band 3. Es gibt bereits 1904 eine zweibändige englische Übersetzung der ersten Auflage durch Hilberts Schüler E.R. Hedrick (Boston, Ginn, 1904-1907). 190. Édouard Goursat, Studium in Paris, Promotion 1881, seit 1885 Professor in Paris. 191. Lehrbuch der Analysis, Band 1, Vorwort, Leipzig, Veit, 1914. Band 2 mit der Variationsrechnung wurde nicht übersetzt.
DIE FELDKONSTRUKTION UND VERWANDTE THEMEN
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The second part of the nineteenth century was the period of the great French comprehensive textbooks on analysis and its applications, which often appeared under the name of Cours d’analyse and were written by leading mathematicians.192 ÉDOUARD GOURSAT war einer der führenden Analytiker der Zeit, und seine Analysisvorlesungen an der Pariser Universität waren berühmt und bildeten die Grundlage für seinen meisterhaften zweibändigen Cours d’analyse mathematique (1902-1905). Der Kurs ist wohl das erste Lehrbuch der Analysis, das auch die Feldtheorie behandelt.193 GOURSAT erklärte im Abschnitt Méthode de Weierstrass für ein Funktionenproblem, das in der ersten Auflage durchgängig zugrunde gelegt wird, in der üblichen geometrischen Weise das Feld: Nous désignerons pour abréger par G toute courbe extrémale, et nous dirons que tout système de courbes G, dépendant d’un paramètre arbitraire, forme un faisceau. Une portion connexe et finie du plan D, située dans la région R, forme un champ de courbes extrémales, ou plus simplement un champ, s’il existe un faisceau de courbes extrémales, tel qu’il passe une courbe du faisceau et seule par chaque point de D.194 Das durch die Schar in D definierte Richtungsfeld wird als stetig und differenzierbar angenommen. Allerdings wird in einer Fußnote (S. 613) angemerkt, daß der übliche Fall analytische Integranden F aufweise, womit auch die Lösungen y = f(x) der Eulerschen Differentialgleichungen in der Umgebung des Ausgangspunktes analytisch sein werden: Si la fonction F est analytique, il en est de même de f(x). Das ist die von HILBERT im Problem 19 des Pariser Vortrages gestellte Frage: “Sind die Lösungen regulärer Variationsprobleme stets notwendig analytisch?”, die man seinerzeit mit der Dissertation von SER195 GEJ BERNSTEIN (1880-1968) aus dem Jahre 1904 als gelöst betrachtete.
192. D.J. Struik, A concise history of mathematics, New York, Dover, 41987, 181. 193. Tome II, chapitre XXIII, Éléments du calcul des variations (590–632), darin der Abschnitt Méthode de Weierstrass (607–631). 194. Cours d’analyse mathematique, t. 2, 1905, 611. “Zur Abkürzung bezeichnen wir eine extremale Kurve durch G, und wir sagen, daß ein System von Kurven G, das von einem beliebigen Parameter abhängt, ein Bündel [Schar] bildet. Ein endlicher und zusammenhängender Teil D der Ebene, der in dem Gebiet R liegt, bildet ein Feld von extremalen Kurven oder einfacher ein Feld, wenn ein Bündel extremaler Kurven derart existiert, daß durch jeden Punkt von D ein und nur eine Kurve des Bündels geht”. 195. Hilbert hatte genauer nach den analytischen Lösungen eines regulären zweidimensionalen Variationsproblems gefragt, d.h. eines Problems mit analytischem Integranden und elliptischer partieller Eulerscher Differentialgleichung. Bernstein hatte in der Arbeit Sur la nature analytique des solutions des équations aux derivées partielles du second ordre (Mathematische Annalen, 59 (1904), 20–76) für eine elliptische, nichtlineare und analytische partielle Differentialgleichung in zwei Variablen gezeigt, daß Analytizität für eine Lösung bereits vorliegt, wenn diese dreimal stetig differenzierbar ist. Es wurden jedoch 1968 Beispiele gefunden, die das seinerzeit nicht nur von Hilbert unterstellte exemplarische Verhalten des zweidimensionalen Falles widerlegen. It is not true that every regular (in modern terminology: elliptic) problem of the calculus of variations […] has a smooth, let alone analytic solution, resümiert S. Hildebrandt in dem Übersichtsartikel “The calculus of variations today” (The Mathematical Intelligencer, 11, 4 (1989), 50–60, 59). Siehe B. Yandell, The Honors Class, Natick, 2002, 373-380.
616
KAPITEL 6
Um jedoch ein Feld in einem Gebiet um einen Extremalenbogen und nicht nur in der Umgebung des Ausgangspunktes dieses Bogens zu gewährleisten, nimmt GOURSAT eine dieser Lösungen dort als regulär an. Anschließend wird die Einbettung eines Bogens G0 in das Feld erläutert (l’arc G0 appartient à un champ), und im folgenden Abschnitt 451 wendet sich GOURSAT der Existenz eines Feldes zu, das eine Extremale umgibt. Unter der Voraussetzung, daß die Extremalenschar y = ϕ (x, λ) bezüglich der Variablen x in einem Intervall (x0, x1) zweimal stetig differenzierbar sei und daß in diesem Intervall weiterhin ∂ϕ (x, λ) ⁄ ∂λ ≠ 0 sei, wird wie bei BOLZA in den Lectures on the calculus of variations (1904) ein die Extremale G0 umgebendes Feld konstruiert. Unter der zusätzlichen Annahme, daß der Integrand analytisch sei sowie die Legendre-Bedingung in der strengeren Form 0
0
(1) R = F pp ( x, y , y ' ( x ) ) > 0
in (x0, x1)
gelte, wird gezeigt, daß man in der Tat eine solche Extremalenschar y = ϕ (x, λ) unter den Lösungen der Eulerschen Differentialgleichung findet. Diese Schar bildet ein Feld, in dem sowohl die (vorausgesetzte) Legendresche als auch die Jacobische Bedingung (2) Q = δ2J(y0, η) > 0
in (x0, x1)
erfüllt sind. Damit ist gezeigt, daß eine Extremale G0 in ein Feld eingebettet werden kann, wenn die Bedingungen von Legendre und Jacobi erfüllt sind. Um eine Schar y = ϕ (x, λ) der gewünschten Art zu einem Extremalenbogen AB zu erhalten wird der von ERNST ZERMELO in seiner Dissertation publizierte Trick benutzt (zuvor schon RUDIO veröffentlicht), der allerdings schon von KARL WEIERSTRAß in Seminaren zur Vorlesung von 1879 gebraucht wurde: um einen Punkt A* auf der betrachteten Extremalen wird ein zentrales Feld konstruiert, das auch als ein allgemeines Feld für den betrachteten Bogen AB angesehen werden kann. Hierzu wird ein Punkt A* (links) so nahe bei dem Ausgangspunkt A des Extremalenbogens AB von G0 gewählt, daß der nächste (rechts) zu A* konjugierte Punkt außerhalb des betrachteten Extremalenbogens liegt. Das auf diese Weise einfach konstruierte zentrale Feld um A* ist ein allgemeines Feld für den Bogen AB von G0. Nachdem das Hilbertsche Unabhängigkeitsintegral eingeführt ist, lassen sich über den Weierstraßschen Darstellungssatz die bekannten hinreichenden Bedingungen angeben, wobei für freie Randwerte noch kurz die Transversalität skizziert wird. In der zweiten, wesentlich überarbeiteten Auflage aus dem Jahre 1915, die auf drei Bände angewachsen ist, sind alle Passagen weggefallen, die sich auf Analytizität in den Annahmen bezogen. Als hinreichende Bedingungen für die Ausführbarkeit der Feldkonstruktion werden die Legendresche und Jacobische Bedingung ((1) und (2)) an die Spitze gestellt:
DIE FELDKONSTRUKTION UND VERWANDTE THEMEN
617
Tout arc d’extrémale pour laquelle les conditions de Legendre et de Jacobi sont vérifiées dans l’intervalle (x0, x1) [au sens strict] appartient à une champ.196 Umgekehrt wird gezeigt, daß in einem Feld die Jacobische Bedingung gilt (S. 608). Jedoch erhellt das Gegenbeispiel F = xy'2, daß in einem Feld die Legendresche Bedingung nicht erfüllt sein muß. Denn die Parallelen zur xAchse bilden hier ein Feld, das im Intervall (–1, 1) die Legendresche Bedingung R = Fpp = 2x > 0
nicht erfüllt. Bei der Darstellung der Feldtheorie hat die zweite Auflage (1915) einige formale Änderung erfahren, da wohl aufgrund einer unzutreffenden Bemerkung WASSILI P. ERMAKOFFS (1845-1922), auf die wir oben bereits eingegangen sind (Abschnitt 4.6.5), bei GOURSAT eine Verschiebung in den einschlägigen Prioritätsauffassungen bewirkt wurde. Der frühere § 452 über das Hilbertschen Unabhängigkeitsintegral (“Formule de M. Hilbert”) ist nun in dem § 639 Satz von Weierstraß (“Théorème de Weierstrass”) aufgegangen. Aber gegenüber diesen äußerlichen Veränderungen sind einige inhaltliche Abweichungen von größerem Belang. Neu ist die Behandlung des Kurvenproblems, jedoch wollen wir uns zunächst den überarbeiteten Abschnitten der Feldtheorie für das Funktionenproblems widmen. In der zweiten Auflage wird die Rolle der transversalen Schar sehr deutlich herausgestellt (§§ 626, 643), wobei der Transversalitätsbegriff (im Sinn von KNESER) bereits bei der Herleitung der ersten Variation für freie Randwerte eingeführt wird. Nach der Darlegung der Weierstraßschen Theorie und einem auf HILBERTS Überlegungen basierenden Zugang zur Darstellung der totalen Variation wird ein Abschnitt (“equation des familles de transversales”, § 643) gebracht, in dem gezeigt wird, daß jede transversale Schar des Problems durch eine Lösung θ = θ (x, y) der Hamilton-Jacobischen Differentialgleichung ∂θ ∂θ (3) Φ ⎛ x, y, ------, ------⎞ = 0 ⎝ ∂x ∂y⎠
dargestellt werden kann und daß umgekehrt jede Lösung dieser partiellen Differentialgleichung eine transversale Fläche liefert. Die Extremalen des Variationsproblems werden als Projektionen der Charakteristiken der partiellen Hamilton-Jacobischen Differentialgleichung in die x,y-Ebene charakterisiert.
196. Cours d’analyse mathematique, t. 3, 606. 2ième édition, 1915. “Jeder Extremalenbogen, für den die Legendresche und Jacobische Bedingung erfüllt sind, läßt sich in ein Feld einbetten”.
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KAPITEL 6
Damit ist der nächste Abschnitt vorbereitet, der den Fall zweier gesuchter Funktionen enthält (“cas de deux fonctions inconnues”, § 644). Jedoch wird dieser Sachverhalt zur Beschreibung der Mayerfelder vorerst nicht benutzt, sondern GOURSAT erklärt, daß die benötigten Felder wie bisher die Erfüllung der Legendreschen und Jacobischen Bedingungen verlangen und daß Lorsque les conditions de Legendre et Jacobi sont vérifiées pour un arc d’extrémale G0, les raisonnements faits pour n = 1 prouvent, en les modifiant un peu sur certain points, qu’on peut trouver d’une infinité de façons un champ d’extrémales entourant G0.197 Die leichten Veränderungen bestehen in der erneuten Anwendung des Tricks, ein “benachbartes” zentrales Feld anstelle des gesuchten Feldes zu konstruieren. Das ist zwar eine elegante Problemlösung, aber damit wird zunächst das Wesen einer allgemeinen Feldkonstruktion kaschiert, zumindest wird die Tatsache, daß eine dieser Flächen θ (x, y) = const als transversale Ausgangsmannigfaltigkeit benutzt werden könnte, an dieser Stelle noch nicht erörtert. Erst am Ende dieses Abschnitts wird konstatiert: Les surfaces θ (x, y) = const [intégrales de l’équation (3)] sont coupées transversalement par ces extrémales.198 Es ist reizvoll, en passant einmal GOURSATS Darstellung unhistorisch zu resümieren, denn seine Herleitung des Weierstraßschen Satzes im Abschnitt Interprétation de la méthode de Weierstrass (§§ 642, 650) benutzt – natürlich aus anderer Sicht – alle die Bausteine der neueren Theorie, ohne daß diese in der uns bekannten Weise zusammenfügt werden. Die ein Feld charakterisierenden Richtungsgrößen erfüllen eine partielle Differentialgleichung (Beltramische Differentialgleichung), und umgekehrt bilden deren Lösungen die Richtungsgrößen eines Feldes. Zu jedem Feld gehört ein Hilbertsches Integral I bzw. ein totales Differential dθ als Integrand dieses Hilbertschen Integrals. Die Funktion θ (x, y) genügt dabei den Beziehungen ∂θ ------ = F ( x, y, u ) – uF u ( x, y, u ) , ∂x
∂θ ------ = F u ( x, y, u ) , ∂y
worin F der Integrand des Variationsproblems ist sowie u = u(x, y) die Gefällefunktion des Feldes bezeichnet und damit Lösung der Beltramischen Differentialgleichung ist. Die Beziehungen entsprechen sowohl HILBERTS Ausgangspunkt (Integrabilitätsbedingungen des Unabhängigkeitsintegrals) als auch CARATHÉODORYS Endpunkt (Fundamentalgleichungen des äquivalenten Variationsproblems), und sie führen nach u aufgelöst, auf eine partielle Diffe197. aaO., 620. 2ième édition, 1915. “Wenn die Bedingungen von Legendre und Jacobi für einen Extremalenbogen G0 erfüllt sind, so zeigen bei geringfügiger Modifikation einiger Punkte die für den Fall n = 1 gemachten Schlüsse, daß man auf unendlich viele Arten ein Extremalenfeld finden kann, das G0 einbettet”. 198. aaO., 623. “Die Flächen θ (x, y) = const [Lösungen der Gleichung (3)] werden von den Extremalen transversal geschnitten”.
DIE FELDKONSTRUKTION UND VERWANDTE THEMEN
619
rentialgleichung für θ (x, y) (Hamilton-Jacobische Differentialgleichung, § 643). Die Funktion θ (x, y) = C ist das allgemeine Integral der Differentialgleichung (4) [ F ( x, y, u ) – uF u ( x, y, u ) ] dx + F u ( x, y, u ) dy = 0 ,
die die transversale Schar des Extremalenfeldes beschreibt (§ 642). Schließlich führt GOURSAT auch das Feldintegral U(x, y) ein, nämlich das längs einer Extremalen erstreckte Variationsintegral (geodätische Länge). Für die beiden Feldarten wird geometrisch erörtert, von wo das Integral ausgehen soll, nämlich allgemein von einer transversalen Mannigfaltigkeit, die speziell auch zum Punkt entarten kann. GOURSAT stellt fest, daß dU = dθ ist, womit U = θ möglich ist (da θ nur bis auf eine Konstante bestimmt ist, so daß die Integrationskonstante als 0 angesehen werden kann). Für die Extremale G0 und eine zulässige Vergleichskurve Γ besteht die folgende Integralgleichheit: (5) J ( G 0 ) =
∫G dθ 0
=
∫Γ dθ
= I(Γ) .
GOURSAT macht bei der Behandlung der Méthode de Weierstrass (§ 642) und Méthode de Darboux-Kneser (§ 652) jeweils in einer Fußnote noch eine sehr interessante Bemerkung, um einen Ausnahmefall dieser Methoden auszuschließen. Das Verschwinden des Integranden F(x, y, u) längs einer Extremalen G0, das die Transversalität stört, läßt sich vermeiden, wenn man einen geeigneten Ausdruck, der beim Funktionenproblem von der Art d ∂v ∂v (6) ----- v ( x, y ( x ) ) = ----- + ----- y' ( x ) dx ∂x ∂x
ist, zum Integranden F des ursprünglichen Variationsproblem hinzufügt, wodurch das Variationsproblem J(y) → extremum nicht geändert wird (§ 621, Remarque 4). Das ist nichts anderes als das Konzept eines äquivalenten Variationsproblems mit dem neuen Integranden F* , das hier benutzt wird, um F* = F + dv/dx > 0 bzw. < 0 zu erreichen. Den Abschnitt Interprétation de la méthode de Weierstrass (§ 642) beschließt GOURSAT mit Bemerkungen über die später als Carathéodorysche Fundamentalgleichungen bezeichneten Relationen. Es sei G(x, y, u) eine beliebige Funktion, die nebst ihrer partiellen Ableitung Gp verschwindet, wenn man u durch eine Lösung u = u(x, y) der partielle Differentialgleichung für die Gefällefunktion des Feldes ersetzt. Ist θ = θ (x, y) eine Lösung der Carathéodoryschen Fundamentalgleichungen (bzw. der daraus hervorgehenden Hamilton-Jacobischen Differentialgleichung ), so hat man für den Integranden F des Variationsproblems die Darstellung ∂θ ∂θ (7) F(x, y, y') = ------ + ------ y' ( x ) + G(x, y, y'), ∂x ∂x
620
KAPITEL 6
wobei die Schar θ (x, y) = const weiterhin die Transversalen zur Extremalenschar bleiben, die man aus y' = u(x, y) erhält. Die entsprechenden Überlegungen für das Parameterproblem finden sich im § 650. Schließlich werden die Betrachtungen für noch ausstehenden Fälle durchgeführt: für zwei gesuchte Funktionen des Funktionenproblems bzw. allgemein für Parameterprobleme. In die zweite Auflage sind die Kurvenprobleme, die zuvor völlig gefehlt hatten, nun mit einem eigenen Teil aufgenommen worden.199 Der allgemeine Feldbegriff (§ 638) wird übernommen. Erst im § 647 (forme générale de l’équation de Euler) wird diskutiert, wann für ein Kurvenproblem ein Extremalenfeld eine schlichte Überdeckung eines Gebietes liefert: Si la fonction F1(x, y, cos θ, sin θ ) ne s’annule pour aucune valeur de θ [θ étant l’angle de la direction positive de la tangente en une point A(x, y) avec l’axe des x ] dans la région R, de tout point de cette région, il part donc une extrémale et seule une dans chaque direction.200 Die Überlegungen werden in einem Abschnitt über hinreichende Bedingungen (“système de conditions suffisantes”, § 650) resümiert. Sofern die zuvor beschriebene Funktion F1 die Bedingung F1 ≠ 0 für alle Punkte A eines Gebietes R erfüllt, so ist dort auch die Weierstraßsche Bedingung (8)
ε(x, y, cosθ, sinθ, cosθ ', sinθ ') > 0
für θ ≠ θ ' + 2kπ
erfüllt, und längs einer Extremalen wird hierdurch die Legendresche Bedingung trivialerweise impliziert. Variationsprobleme, die diese Bedingung erfüllen, nennt GOURSAT regulär (§§ 648–650). Bei regulären Variationsproblem ist damit die Jacobische Bedingung (in ihrer strengen Form) für ein starkes Extremum eines Extremalenbogens hinreichend (§ 650). Im Hinblick auf die Herleitung der hierfür benötigten Weierstraßsche Darstellung der totalen Variation lesen wir: Il est facile maintenant d'entendre la fin du raisonnement du n° 639. […] Si la courbe Γ est une courbe de classe C' du champ Dρ joignant les deux points A et B, on a encore IΓ – IG = 0
∫Γ E ( x, y ;p, q ;x', y' ) dt .
201
199. aaO., t. 3, 2ième édition, 1915. §§ 645-653, im Teil Théorie de Weierstrass, 623–647. 200. aaO., 631. “Wenn die Funktion F1 im Gebiet R für keinen Wert von θ [Winkel zwischen positiven Tangentenrichtung in einem Punkt A und der x-Achse] verschwindet, so geht von jedem Punkt dieses Gebietes genau eine Extremale in jede Richtung aus”. Bei Goursat ist fälschlich F anstelle von F1 gedruckt. F1 ist die im Zusammenhang mit der Eulerschen Gleichung in Weierstraßscher Form für Probleme in Parameterdarstellung definierte Funktion (zu F1 siehe Abschnitt 3.2.5). Diese hinreichende Bedingung für die Lösung des Randwertproblems von Weierstraß haben wir schon bei Bliss (Abschnitt 6.5) gefunden. 201. aaO., 640. “Es ist jetzt leicht, die Absicht des Schlusses aus Nr. 639 zu verstehen. […] Wenn die [Vergleichs]Kurve Γ eine Kurve von der Klasse C' des Feldes Dρ ist und die beiden Punkte A und B verbindet, so hat man wieder I –I = E ( x, y ;p, q ;x', y' ) dt ”. Γ
G0
∫Γ
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An dieser Stelle ging OSKAR BOLZA in seinen Vorlesungen sorgfältiger vor, vgl. Abschnitt 6.4. GOURSAT führte weiter aus, daß im Gegensatz zu Funktionenproblemen die notwendige Bedingung von Weierstraß mit der Legendreschen und Jacobischen Bedingung sogar hinreichend für ein Minimum ist. Unter diesen Annahmen wird gezeigt, daß für ein reguläres Variationsproblem durch eine hinreichend kleine Wahl einer das Feld charakterisierenden Größe (grob gesagt die Streifenbreite) die Existenz eines Feldes in der Umgebung des betrachteten Extremalenbogens gewährleistet werden kann (§ 650). Die geringfügigen Unterschiede zum Funktionenproblem resultieren aus dem Charakter der zulässigen Vergleichskurven: während beim Kurvenproblem jeder Anstieg möglich ist (abgeschlossener Bereich), bleibt dieser beim Funktionenproblem beschränkt, da Parallelen zur y-Achse ausgeschlossen sind (offener Bereich). In der dritten Auflage des Buches 1992 gibt es für die Variationsrechnung keine Änderungen mehr, lediglich in den beigegebenen Aufgaben finden sich einige Modifikationen. 6.9.2 Variationsrechnung in Lehrbüchern der Analysis Feldkonstruktionen waren, wie wir bemerkt hatten, im ersten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts ein beachteter Gegenstand der mathematischen Forschung auf dem Gebiet der Variationsrechnung geworden, der bereits in breit angelegte Lehrbücher eindrang. Schon LEONHARD EULER (1707-1783) hatte die Variationsrechnung in seine analytische Trilogie, genauer in den Band 3 der Institutiones calculi integralis202 aufgenommen. Aber es gibt auch eine Auffassung, die die Variationsrechnung aus den (allgemeinen) Lehrbüchern der Analysis ausschließt. Ein bekanntes deutsches Beispiel für ein Konzept ohne Variationsrechnung wäre die Einführung in die höhere Mathematik von HANS VON MANGOLDT (1854-1925), das seit 1912 zahlreiche Auflagen erlebte, oder neuerdings das von HARRO HEUSER (geb. 1927) geschriebene Lehrbuch der Analysis.203 Aufgenommen worden ist die Variationsrechnung jedoch etwa in die Höhere Mathematik in vier Bänden von ADALBERT DUSCHEK (1895-1957) oder in den umfassenden russischen Kurs von WLADIMIR I. SMIRNOW (1887-1974) Lehrgang der höheren Mathematik.204 Im 19.
202. St. Petersburg 1768-1770, 3 Bände und ein postumer Supplementband; auch in: Opera omnia, I/11-13, Leipzig, B.G. Teubner, 1911-1913. 203. H. v. Mangoldt, später von K. Knopp sowie F. Lösch fortgeführt, Einführung in die höhere Mathematik, Leipzig, S. Hirzel, 1912. 2, später 4 Bände (H. v. Mangoldt hatte bei Weierstraß die entscheidende Vorlesung über Variationsrechnung im Jahre 1879 gehört!); H. Heuser, Lehrbuch der Analysis, Stuttgart, Teubner, 1980. 2 Bände. 204. A. Duschek, Höhere Mathematik, Wien, Springer, 1950-1961. 4 Bände; auch das Lehrbuch der Differentialgeometrie, Bd. 2, Leipzig, Teubner, 1930, von A. Duschek und W. Mayer enthält ein umfangreiches Kapitel Variationsrechnung; W.I. Smirnow, Lehrgang der höheren Mathematik, Moskau, Fismatgis, 1947. Deutsche Übersetzung. 5 Bände.
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KAPITEL 6
Jahrhundert dominierten zwar deutsche Lehrbücher der Variationsrechnung, aber die französischen Lehrbücher der Analysis enthielten dafür oft Abschnitte über die Variationsrechnung. Diese französische Tendenz, die Variationsrechnung in die Lehrbücher der Analysis einzubeziehen, ging sogar so weit, daß 1861 LORENZ LINDLÖFS (1827-1908) Leçons de calcul des variations auch als vierter Band der Leçons sur le Calcul différentiel et integral von FRANÇOIS MOIGNO (1804-1884) erschienen sind.205 Da sich auf den Weierstraßschen Darstellungssatz hinreichende Bedingungen gründen lassen, enthalten von nun an und besonders seit der eleganten Herleitung dieses Satzes im Jahre 1900 durch HILBERT alle einschlägigen Bücher über Variationsrechnung Abschnitte hierüber und gehen mehr oder weniger ausführlich auch auf Feldkonstruktionen ein.206 Zwei Lehrbücher jener Zeit bilden eine Ausnahme: HARRIS HANCOCKS (1867-1943) Lectures on the calculus of variations orientieren sich noch 1904 lediglich an den Vorlesungen von HERMANN AMANDUS SCHWARZ und KARL WEIERSTRAß; die erste Auflage des Kneserschen Lehrbuches der Variationsrechnung kam 1900 zu früh, um den Unabhängigkeitssatz in der von HILBERT gegebenen Darstellung zu berücksichtigen, aber merkwürdigerweise erscheint er substantiell in der ersten Auflage noch im letzten Abschnitt (§ 69), wo kurz zweidimensionale Variationsprobleme behandelt werden; in der erweiterten zweiten Ausgabe von 1925 findet man ihn erst im nunmehrigen Teil über vielfache Integrale (§ 49), aber nun mit Bezug auf HILBERT (vgl. hierzu Abschnitt 4.6.4). 6.9.3 J. Hadamard (1910) Von JACQUES HADAMARD207 erschienen 1910 die Leçons sur le calcul des variations208 als das erste französisches Lehrbuch der neueren Variationsrechnung, das in meisterhafter Klarheit Variationsprobleme behandelte. Allerdings
205. Paris, Mallet-Bachelier, 1861, sowie Paris 1840-1861. 206. H. Hancock, Lectures on the calculus of variations (The Weierstrassian theory), Cincinnati, University of Cincinnati, 1904; A. Kneser, Lehrbuch der Variationsrechnung, Braunschweig, Vieweg, 1900 und 1925. Lehrbücher bis 1935 verfaßten O. Bolza (1904, 1909), J. Hadamard (1910), L. Tonelli (1921), G. Vivanti (1923), G. Bliss (1925), A. Forsyth (1927), L. Koschmieder (1933), M. Morse (1933), C. Carathéodory (1935). E. Goursat, Cours d’analyse mathématique, Paris, Gauthier-Villars, 1905, 21915. Über das Lehrbuch von Bliss und seine Eigenart hat sich Bolza in einem Brief an Kneser (18. 6. 1925) folgendermaßen geäußert: “Er [Bliss] macht dabei in sehr geschickter Weise den Versuch, die Hauptsätze der Variationsrechnung aus einer Reihe von speziellen klassischen Problemen zu entwickeln”. (Cod. Ms. A. Kneser A3. Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung). 207. Jacques Hadamard, lehrte in Paris 1890-1893, in Bordeaux 1893-1897, an der Sorbonne 1897-1909, am Collège de France 1909-1937, ab 1912 auch an der École polytechnique. Eine neuere Darstellung von Hadamards Leben ist: V. Maz’ya, T. Shaposhnikova, “Jaques Hadamard. A universal mathematician”, History of Mathematics, vol. 14, AMS/LMS, 1998. Das Kapitel 12 (365-382) behandelt den Calculus of Variations and Functionals, wobei die eigentliche Variationsrechnung sehr kurz abgehandelt wird. 208. J. Hadamard, Leçons sur le calcul des variations, Tome premier, La variation première et les conditions du premier ordre, les conditions de l’extremum libre, Paris, Hermann, 1910.
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blieb es bei dem einem Band, denn ein weiterer erschien nicht, und die Abschnitte über Variationsrechnung in HADAMARDS späterem Cours d’analyse209 enthalten nur eine elementare Darstellung des Gegenstandes. Wir werfen noch einen Blick auf die Behandlung der Feldtheorie in diesem Lehrbuch der Variationsrechnung. Über die Leistungen von HADAMARD in der Variationsrechnung schrieb PAUL LÉVY (1886-1971)210: Hadamard survint, examina avec une rare perspicacité les difficultés qui subsistaient, et laissa un ouvrage achevé là où il n’avait trouvé qu’une ébauche.211 Diesem Veni, vidi, vici könnte man eher zustimmen, wenn das Zitat die funktionalanalytische Wendung beträfe, die HADAMARD neben anderen der Variationsrechnung erteilte. Aber die Aussage bezieht sich auf die Bemühungen der Mathematiker schlechthin, die Bedingungen für Extremalität klar zu erfassen (insbesondere bei Rotationsflächen!), und sie fällt daher etwas einseitig aus, wenn die bis dahin erzielten Ergebnisse lediglich als ein “erster oder schwacher Entwurf” angesehen werden. Kritisch fällt deshalb wohl JEAN DIEUDONNÉS (1906-1992) indirektes Urteil über die Rolle der Variationsrechnung bei HADAMARD aus, indem er sich auf die entstehende Funktionalanalysis bezieht. Er schreibt in seiner History of Functional Analysis: We must finally mention the first attempts at Functional Analysis of the young Volterra in 1887, […] to which, under the influence of Hadamard, has been attributed an exaggerated historical importance. […] With our experience of 50 years of Functional Analysis we cannot help feeling that, without even barest notions of general topology, these ad hoc definitions were decidedly premature.212 Der Weg der Funktionalanalysis, der zu großen Teilen in der Variationsrechnung seinen Anfang hatte, war vielfältig verzweigt, ehe er seine heutige Gestalt erhielt, und wir beschränken uns im Folgenden auf einige wenige Punkte, die HADAMARDS Auffassungen in unserem Zusammenhang besser erhellen.
209. Paris, Hermann 1925, 1930, Tome 2, 2ième partie, Calcul des variations. 210. Paul Lévy. Studium in Paris, Promotion 1912, lehrte an der École polytechnique von 1920-1950. 211. P. Lévy in: La vie et l’œvre de Jacques Hadamard, Monographie N° 16 de L’Enseignement Mathématique, Genève, 1967, 16. “Hadamard kam, prüfte die bestehenden Schwierigkeiten mit einer seltenen Klarheit und hinterließ dort ein vollendetes Werk, wo er nichts als einen Entwurf gefunden hatte”. 212. J. Dieudonné, History of Functional Analysis, Amsterdam, North Holland, 1981, p. 86f. Allerdings finden sich weder in der von Dieudonné herausgegebenen Geschichte der Mathematik (Abrégé d'histoire des mathématiques 1700-1900, Paris, Hermann, 1978) noch in seinem mehrbändigen Analysislehrbuch (Foundations of modern analysis, New York, Academic Press, 1960) Abschnitte über Variationsrechnung. Auch der Dieudonné nahe stehende N. Bourbaki übergeht bis auf wenige Randbemerkungen die Variationsrechnung in seinen Eléments d'histoire des mathématiques (nouvelle édition), Paris, Hermann, 1974.
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VITO VOLTERRA213 hatte am Internationalen Mathematikerkongreß in Paris 1900 nicht gezögert, das zu Ende gehende Jahrhundert als das der Funktionen zu erklären. Ein Thema, das sich im 19. Jahrhundert in der Theorie der Funktionen immer deutlicher abzeichnete, betraf das “Transformieren” der Funktionen, und es bildete insbesondere im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts einen Ausgangspunkt für die Entwicklung einer allgemeineren Theorie der Funktionen, die in ihrer heutigen Form Funktionalanalysis heißt. VOLTERRA hatte 1887 in mehreren Artikeln über Linienintegrale einen solchen calcolo funzionale ausgearbeitet, dessen Wurzeln in der Variationsrechnung lagen. 1913, in seinem Lehrbuch über allgemeine Analysis, den Leçons sur les fonctions de lignes, erwähnte er diesen Ursprung: Or, si l’on étudie le problème des isopérimètres et si l’on regarde une aire plane comme dépendante de la courbe qui la renferme, on a une quantité qui dépend de la forme d’une courbe, ou ce qu’on appelle aujourd’hui une fonction d’une ligne.214 Auf VOLTERRAS Vorstellungen von funzione delle linee (Funktionen von Linien = Linienintegralen) sind wir schon kurz bei der Besprechung von GEORG PRANGES Dissertation eingegangen (vgl. Abschnitt 6.6.3). Trotz des konkreten Ausgangspunktes von VOLTERRA waren seine Verallgemeinerungen nicht durchweg fruchtbar, insbesondere bei dem etwas schwerfällig angelegten Ableitungsbegriff. Diese Verallgemeinerungen erfuhren daher 1902 die Kritik HADAMARDS, der jedoch insgesamt die Ideen VOLTERRAS begeistert aufgegriffen hatte.215 In einer Arbeit Sur les opérations fonctionelles216 aus dem Jahre 1903 prägte HADAMARD den Begriff fonctionnelle (Funktional) und erkannte bereits jene wesentliche Integraldarstellung für eine stetige Linearform auf C [a, b], die 1909 in dem Satz von FRIEDRICH RIESZ (1880-1956)217 ihre endgültige Form erhielt. Wenn HILBERT am Beginn des 20. Jahrhunderts die Variationsrechnung noch als eine Verallgemeinerung der Differentialrechnung betrachtet hatte, so sah zeitgleich HADAMARD bereits eine längere kausale Entwicklungslinie, die zwingend von der Theorie der
213. Vito Volterra, Studium in Pisa, Vorlesungen an den Universitäten Pisa (1883-1892), Turin (1892-1900), Rom (1900-1931). Als Gegner des Faschismus 1931 aus der Universität Rom ausgeschlossen. 214. Leçons sur les fonctions de lignes. Paris 1913, p. 36. “Aber wenn man das isoperimetrische Problem [Variationsproblem] studiert und wenn man ein ebenes Flächenstücke als abhängig von der Kurve betrachtet, die es einschließt, so hat man eine Größe, die von der Form einer Kurve oder – wie man heute sagt – von einer Linienfunktion abhängt”. 215. “Sur les dérivées des fonctions de lignes”, Bulletin de la Société Mathématique de France, 30 (1902), 40–43; auch in: Oeuvres de Hadamard, Paris, Éditions du CNRS, 1968, vol. 1-4, 401404, Paris, 1968. 216. Comptes Rendus, 133 (1903), 351–354; auch in: Oeuvres de Hadamard, Paris, Éditions du CNRS, 1968. 217. Friedrich Riesz. Studium in Zürich, Budapest, Göttingen und Paris. Ruf 1911 an die Universität Koloszvar, dann 1920 Szeged, Gründer des Janos-Bolyai-Instituts.
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Funktionen zur Variationsrechnung geführt hatte und die sich ebenso notwendig weiter zur Funktionalanalysis fortsetzte. Wir werden von ihm hierüber beispielsweise im Vorwort der Leçons sur le calcul des variations unterrichtet, wo auch gleich die sich ergebenden Konsequenzen für die Feldtheorie genannt werden: Le Calcul des variations n’est autre chose qu’un premier chapitre de la doctrine qu’on nomme aujourd’hui Calcul Fonctionnel et dont le développement sera sans doute l’une des tâches qui s’imposeront les premières à l’Analyse de l’avenir. […] Le point de vue ainsi adopté a entraîné certains changements que je n’ai pu me dispenser d’apporter à la terminologie en usage. Ce n’est pas sans peine que je me suis résigné, en particulier, à m’écarter de la tradition de Weierstrass en renonçant à la locution de champ d’extrémales, d’autant plus que j’ai dû lui substituer plusieurs mots nouveaux (ceux de faisceaux et de régulier). Ce dédoublement est peut-être, cependant, plus conforme à la nature des choses; et, surtout, je n’avais pas le choix: j’étais obligé, par la conception générale de l’ouvrage, telle que je l’ai indiquée dans ce qui précède, d’introduire la locution de champ fonctionnel, consacrée, elle aussi, par l’usage, et qui paraît impossible à remplacer.218 HADAMARD kann als der Begründer des französischen calcul fonctionnel angesehen werden, der sich zu dem italienischen calcolo funzionale gesellte und dessen Themen aufnahm sowie weiterentwickelte. Seit dem Zürcher Mathematikerkongreß 1897, wo HADAMARD in seinem von EMILE PICARD219 verlesenen Vortrag Sur certaines applications possibles de la théorie des ensembles darauf hingewiesen hatte, qu’il y aurait à étudier des ensembles composés de fonctions (daß es nötig wäre, aus Funktionen gebildete Mengen zu studieren), insbesondere in der Variationsrechnung, entwickelte er diese Vorform funktionalanalytischen Denkens.220 Sein Leitgedanke war dergestalt, wie er es 1902 in der Kritik an VOLTERRA ausgedrückt hatte,
218. Leçons sur le calcul des variations, Paris, 1910, vi. “Die Variationsrechnung ist nichts anders als ein Kapitel in der Lehre, die man heute Funktionalanalysis nennt und deren Entwicklung ohne Zweifel eine der Aufgaben sein wird, die sich als die ersten in der zukünftigen Analysis stellen werden. […] Der hier eingenommene Gesichtspunkt hat gewisse Veränderungen nach sich gezogen, die notwendigerweise in die benutzten Terminologie aufzunehmen waren. Im besonderen verlasse ich nicht ohne Bedauern die Weierstraßsche Tradition durch Aufgabe der Redeweise Extremalenfeld, um so mehr als ich es [Extremalenfeld] durch mehrere neue Wörter ersetzen mußte (wie Bündel und regulär). Diese Verdoppelung ist möglicherweise der Natur der Sache besser angepaßt, und vor allem, ich hatte keine Wahl: ich war durch die allgemeine Konzeption des Werkes verpflichtet, so wie ich es im vorhergehenden angezeigt habe, die Bezeichnung champ fonctionnel einzuführen, da sie auch der Gebrauch bestätigte und es unmöglich erschien, sie zu ersetzen”. 219. Charles Emile Picard, Studium in Paris, Promotion dort schon 1877. Lehrte in Toulouse, an der Sorbonne und École normale. 220. Verhandlungen des 1. Internationalen Mathematikerkongresses, Zürich 1897, Leipzig, B.G. Teubner, 1898, 201; auch in: Oeuvres de Hadamard, Paris, Éditions du CNRS, 1968.
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[…] de remplacer utilement ces hypothèses, évidemment particulières, par d’autre plus générales.221 Im Gegensatz zu der mehr deskriptiven analyse générale, wie der etwa von MAURICE FRÉCHET (1878-1973)222 vertretene Zweig des calcul fonctionnel bezeichnet wird, war HADAMARDS Konzept der analyse fonctionelle aus der Variationsrechnung herausgewachsen und daher konstruktiver. Beispielsweise erklärte HADAMARD das Differential eines Funktionals als dessen “Variation”, was deutlich auf die Herkunft seiner Vorstellung verweist. Die Variation wurde als ein lineares Funktional (fonctionnelle linéaire) begriffen, dessen Definition gleichfalls auf HADAMARD zurückgeht. HADAMARDS Begriff des linearen Funktionals unterscheidet sich nicht vom modernen, wenn man berücksichtigt, daß HADAMARD die Stetigkeit aller auftretenden Funktionale noch stillschweigend unterstellte.223 Für HADAMARD war eine Funktion ein eigenständiges Objekt (regarder la fonction elle-même224) einer bestimmten Menge geworden, das beliebigen Verknüpfungen unterworfen werden konnte. Die speziellen Eigenschaften der Funktion (Kurve) interessieren aus dieser Perspektive nicht. HADAMARDS häufiger Schluß, der sofort auf der zweiten Seite des Lehrbuches erscheint, daß ein auf einer bestimmten Klasse K von Funktionen angenommenes Minimum eines Funktionals a fortiori auch auf jeder in K enthaltenen Klasse K* bestehen bleibt, zeigt die neuere Sicht.225 Rückblickend erkennt man in HADAMARDS Bezeichnung champ fonctionnel (etwa: Funktionengebiet) den Ursprung eines Funktionenraums. Da jedoch mit den Elementen des champ fonctionnel auch gerechnet wurde, ist der Begriff enger als der einer Funktionenklasse. Der Zusammenhang mit der Variationsrechnung stellt sich dabei so dar: Champs fonctionnels. – Revenons auparavant sur ce fait que nous avons à faire jouer maintenant à des fonctions le rôle qui appartenait précédemment à des points. Ce n’est plus de ceux-ci, mais de celles là que dépend la quantité dont nous cherchons l’extremum. […] Nous chercherons l’extremum d’une quantité qui dépend d’une ou plusieurs fonctions arbitraires en assujettissant celles-ci à un certain nombre de conditions, ou, comme nous dirons souvent, à se trouver dans un certain champ fonctionnel. Cette dernière locution (manifestement inspirée par l’analogie avec ce qui se passe pour les extrema ordinaires) ne devra d’ailleurs être considérée que comme un synonyme de la
221. “Sur les dérivées des fonctions de lignes”, Bulletin de la Société Mathématique de France, 30 (1902), 40–43; auch in: Oeuvres de Hadamard. “[es sei] zweckmäßig, diese offensichtlich besonderen Annahmen durch allgemeiner zu ersetzen”. 222. Maurice Fréchet. Studium in Paris, lehrte in Poitiers (1910-1919), Strasbourg (1920-1927), Paris (1928-1940). 223. J. Hadamard, Leçons sur le calcul des variations, ch. VI, § 239 Généralisations. Le calcul fonctionnel. Im § 243 steht der spätere Rieszsche Darstellungssatz. 224. “Le calcul fonctionelle” (1912), Oeuvres de Hadamard, Paris, Éditions du CNRS, 1968, 2258. “Betrachte die Funktion selbst”. 225. J. Hadamard, Leçons sur le calcul des variations, 2.
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première: le champ fonctionnel est, par définition, l’ensemble des fonctions (ou des systèmes de fonctions) qui satisfont aux conditions données.226 HADAMARD untersuchte sowohl Variationsprobleme für Funktionen als auch für Kurven (Flächen). Dabei erscheint die Feldtheorie nur mittelbar, da HADAMARD die Möglichkeit, zwei gegebene Punkte durch eine Extremale zu verbinden, nicht im Hinblick auf den Weierstraßschen Darstellungssatz diskutiert bzw. in der Absicht, ein Feld zu konstruieren, sondern seine Überlegungen erfolgen vornehmlich im Zusammenhang mit der Theorie der konjugierten Punkte (§ 107)227 und stützen sich auf Auflösungssätze (§ 112), die dem Buch als Anhang (pp. 497-511) beigegeben sind: Dans cette nouvelle manière d’opérer [qu’ont fait, indépendamment l’une de l’autre Weierstrass et Darboux] au lieu de parvenir finalement à la condition de Jacobi, nous la prendrons comme point de départ, et nous la supposerons, dès l’abord, vérifiée. Plaçons-nous, pour commencer, dans le cas d’une seule fonction inconnue, λ étant l’extrémale considérée; A, B les deux points donnés entre lesquels elle doit fournir l’extremum de l’intégrale I. […] Les extrémales dépendent ici de deux paramètres. On peut donc, d’une infinité de manières, constituer avec elles des familles à un seul paramètre α. Une telle famille sera dite un faisceau spécial ou, simplement, un faisceau. […] On peut faire passer, par chaque point de cette région, une d’entre elles et une seule, – ou, plus exactement, une et une seule telle que α soit compris entre certaines limites déterminées – la valeur correspondante de α variant continument avec les coordonnées x, y du point, et admettant des dérivées partielles en x, y. Le tracé de cette extrémale Λ, lorsqu’on donne le point (x, y) se nomme la construction de Weierstrass relative à notre problème.228 Die andersartige Einführung eines Feldes hat bei HADAMARD keine didaktischen Motive, sondern ist, wie oben dargelegt wurde, inhaltlich begründete. HADAMARD gebrauchte daher nicht das einschlägige französische Wort champs d’extrémales für Extremalenfelder, sondern spricht von faiscaux spéciaux (speziellen Bündeln). Hier hat er sich, im Gegensatz zum Wort fonctionnel, nicht sprachbildend durchgesetzt. In einem neueren Werk über Variationsrechnung bemerken die Autoren MARIANO GIAQUINTA (geb. 1947) und STEFAN HILDEBRANDT (geb. 1936), die sich in ihren Überlegungen
226. aaO., 41. “Funktionengebiete. Wir kommen vorher auf den Sachverhalt zurück, daß wir jetzt die Funktionen die Rolle spielen lassen werden, die zuvor den Punkten zukam. Es sind nicht mehr diese letzteren, sondern jene ersteren von denen die Größe abhängt, deren Extremum wir suchen. […] Wir suchen das Extremum einer Größe, die von einer oder mehreren willkürlichen Funktionen abhängt und die dabei einer bestimmten Anzahl von Bedingungen unterworfen ist oder, wie wir oft sagen [werden], daß sie sich in einem Funktionengebiet befindet. Diese letzte Redeweise (die offenbar durch die Analogie zu den gewöhnlichen Extrema angeregt wurde) soll als nichts anderes als ein Synonym der ersten Redeweise betrachtet werden: das Funktionengebiet ist gemäß Definition die Menge der Funktionen (oder der Systeme von Funktionen), die die gegebenen Bedingungen erfüllen”. 227. aaO., § 107f., La distance entre deux foyers conjugués (Die Entfernung zwischen zwei konjugierten Punkten).
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beständig Gedanken machen, ob Bezeichnungen treffend benannt wurden sowie dabei die mit jeder wünschenswerten Umbenennung verbundenen Schwierigkeiten erwägen: The notion of a field of curves (extremals) is due to Weierstrass. It has been suggested to leave the term field to the algebrists and to replace it by some more modern expressions, say, foliation (cf. Hadamard, L.C. Young); but, in the whole, analysts seem to stick to the old name.229 Bei der Herleitung der Weierstraßschen Darstellungsformel erscheinen natürlich wieder die bekannten Sachverhalte eines Extremalenfeldes. Die Besonderheit eines Feld für mehrere gesuchte Funktionen (n > 1) wird folgendermaßen klar erläutert: Lorsque l’intégrale contiendra n fonctions inconnues – de sorte que les extrémales dépendront de 2n constantes arbitraires – nous donnerons le nom de faisceau spécial à une famille dépendant de n paramètres […] et composée d’extremales Λ rencontrant traversalement une multiplicité fixe Γ. […] On voit apparaître ici une différence important avec le cas de n = 1. Une famille quelconque (d’extrémales) à n paramètres n’est pas susceptible de former un faisceau. […] Le faisceau sera encore dit régulier dans une région R de l’espace à n + 1 dimensions si on peut faire passer par chaque point de cette région une extrémale spéciale et une seule, dont les paramètres soient des fonctions continues et dérivables des coordonnées de ce point: autrement dit, si on peut effectuer la construction de Weierstrass.230
228. aaO., 360–361. “In dieser neuen Art des Vorgehens [die unabhängig voneinander Weierstraß und Darboux gefunden haben] nehmen wir von vornherein die Jacobische Bedingung als erfüllt an, anstelle [erst] am Ende zu ihr zu gelangen. Betrachten wir zunächst den Fall nur einer unbekannten Funktion, λ sei die betrachtete Extremale; A und B zwei gegebene Punkte, zwischen denen sie ein Extremum des Integrals I […] liefern soll. Die Extremalen hängen hier von zwei Parametern ab. Man kann auf unendlich viele Arten aus ihnen Scharen mit nur einem Parameter α bilden. Eine solche Schar wird ein spezielles Bündel oder einfacher ein Bündel genannt. Dieses Bündel heißt in einem bestimmten Gebiet der Ebene regulär, wenn die Extremalen Λ, die es bilden, sich dort regulär verhalten. Man kann es [dann so] einrichten, daß durch jeden Punkt dieses Gebietes eine und nur eine dieser Extremalen geht, oder genauer, eine und nur eine dergestalt, sofern α innerhalb bestimmten Grenzen genommen wird. Der entsprechende Wert von α ändert sich stetig mit den Koordinaten x, y des Punktes und läßt partielle Ableitungen nach x und y zu. Wenn man sich einen Punkt (x, y) vorgibt, so heißt das Einzeichnen der ihm entsprechenden Extremalen die Weierstraßsche Konstruktion für unser Problem”. 229. S. Hildebrandt, M. Giaquinta, Calculus of variations, vol. I, Berlin, Springer, 1996, 307. 230. Leçons sur le calcul des variations, 363, 364. “Wenn das Integral n unbekannte Funktionen enthalten wird, so daß die Extremalen von 2n willkürlichen Konstanten abhängen, dann bezeichnen wir eine n-parametrige Schar aus Extremalen Λ, die eine gegebene Mannigfaltigkeit transversal schneiden, als spezielles Bündel. […] Man bemerkt hier einen wichtigen Unterschied zum Fall n = 1. Nicht jede n-parametrige (Extremalen)Schar eignet sich als Bündel. […] Das Bündel heißt weiterhin in einem Gebiet R des (n + 1)-dimensionalen Raumes regulär, wenn man durch jeden Punkt dieses Gebietes eine spezielle Extremale und nur diese eine legen kann, wobei die zugehörigen Parameter stetige und differenzierbare Funktionen der Koordinaten dieses Punktes sind: anders gesagt, wenn man die Weierstraßsche Konstruktion ausführen kann”.
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Die letzten Worte dieses Zitats zeigen, daß letztlich auch von HADAMARD solche Felder (faisceau spécial régulier) eingeführt wurden, um die Weierstraßsche Darstellungsformel zur Verfügung zu haben. Wir erwähnen abschließend noch, daß HADAMARD auch für Variationsprobleme mit höheren Ableitungen faisceaux spéciaux definiert hat, sich dabei aber auf den besonderen Fall zentraler Felder beschränkte.231 Es ist bemerkenswert, daß die funktionalanalytische Sicht nur zögernd in Lehrbücher der Variationsrechnung eingedrungen ist. Sowohl bei ADOLF KNESER als auch bei CONSTANTIN CARATHÉODORY fehlt sie, und auch OSKAR BOLZA, der enge Kontakte zu seinem Chicagoer Kollegen ELIAKIM H. MOORE (1862-1832) hatte und sogar einen Artikel über dessen general analysis verfaßte,232 ist bei der klassischen Darstellung geblieben. Charakteristisch hierfür ist auch die Tatsache, daß das Jahrbuch über Fortschritte der Mathematik erst im Jahr 1925 einen Abschnitt Funktionalanalysis aufgenommen hat, und zwar als Unterabschnitt des Kapitels Integralgleichungen. Erst seit 1934 gibt es dort ein eigenes Kapitel Funktionalanalysis. Noch die Monographie Variationsrechnung im Großen von HERBERT SEIFERT (1907-1996) und WILLIAM HUGO THRELFALL (1888-1949) aus dem Jahre 1938 erklärte Funktionalräume sehr anschaulich als Räume, deren Punkte Kurven sind, z.B. den Funktionalraum aller von A nach B laufenden glatten Kurven mit einer Entfernungsdefinition für zwei Kurven. Stationäre Punkte eines solchen Raumes sind von A nach B führende Geodätische.233 In den letzten Jahrzehnten ist die funktionalanalytische Behandlung von Variationsproblem vor allem Gegenstand der nichtlinearen Funktionalanalysis geworden. Eine enzyklopädische Übersicht hierzu gibt etwa EBERHARD ZEID234 LERS (geb. 1940) Nonlinear functional analysis and its application. Auf der Basis lokalkonvexer Räume vom Fréchet-Schwartz-Typ gibt es z.B. eine einschlägige Arbeit Functional theory of geodesic fields and its applications to the calculus of variations of multiple integrals235 von KRZYSTOF GAWEDZKI (geb. 1947), in der ein interessantes Ergebnis die Leistungsfähigkeit sachgemäßer Abstraktionen zeigt. Alle geodätischen Felder sind zur Behandlung freier Randwerte geeignet und nicht nur die Carathéodoryschen Felder, wie HERMANN BOERNER (1906-1982) in seiner entsprechenden Feldkonstruktion behauptet hatte, indem er glaubte, daß nur in dieser Theorie Transversalität
231. aaO., ch. V: Cas des dérivées d’ordre supérieur, § 377 Faiscaux. 232. “Einführung in E.H. Moores “General Analysis” und deren Anwendung auf die Verallgemeinerung der Theorie der linearen Integralgleichungen”, Jahresberichte der DMV, 23 (1914), 248–303. Dieser Arbeit war ein intensiver Briefwechsel mit Moore vorausgegangen, der in der Regenstein Library der University of Chicago aufbewahrt wird. 233. Leipzig, B.G. Teubner, 1938. S. 45f. 234. Berlin, Springer seit 1986, 4 Bände. 235. Studia mathematica, 60 (1971), 245–263.
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KAPITEL 6
definiert werden könne.236 Ähnliche differentialgeometrische Verallgemeinerungen geben z.B. PAUL DEDECKER (geb. 1921), ARNDT LIESEN (geb. 1939) oder URSULA BRECHTKEN-MANDERSCHEID (geb. 1940)237, siehe Abschnitt 7.5. Eine Verallgemeinerung ganz anderer Art hat LAURENCE CHISHOLM YOUNG (1905-2000) in seinem Lehrbuch Lectures on the calculus of variations and optimal control theory angegeben.238 Schließlich wären die neuerdings eingeführten Folierungen und Calibratoren zu erwähnen, die im Kapitel 7 kurz erwähnt werden. Ein sachliches Problem behindert allerdings den Einsatz funktionalanalytischer Methoden bei starken Extrema, denn hier fehlt das wirkungsvolle Analogon einer Reihenentwicklung nach allen relevanten Variablen. Da die Ableitungen dieser Extremalen beliebig sind, lassen sich die Reihenentwicklungen nicht auf eine hinreichend kleine Umgebung des Entwicklungspunktes beschränken. 6.10 Bliss und Mason (1908) Zeitlich wären hier zwei Arbeiten von GILBERT BLISS und MAX MASON einzuordnen, in denen sie die Weierstraß-Hilbertsche Methode auf räumliche Variationsproblem in Parameterdarstellung ausdehnten und insbesondere freie Randwerte bei den Untersuchungen zuließen. Wir sind jedoch im Zusammenhang mit der Feldkonstruktion der Chicagoer Schule hierauf schon im Abschnitt 6.5 eingegangen, so daß wir jetzt nur darauf verweisen. 6.11 Hans Hahn (1909) HANS HAHN239 kam aus der Wiener Schule der Variationsrechnung GUSTAV VON ESCHERICHS (1849-1935)240, in der insbesondere die zweite Variation sowie Lagrangesche Probleme eingehend studiert worden waren. HAHN betrachtete in diesem Geist die Variationsrechnung und förderte sie maßgeblich, aber da er sich letztlich wohl nicht aus der Escherichschen Sicht zu lösen vermochte, gelang ihm auf diesem Gebiet kein wegweisender Durchbruch wie 236. “Über die Extremalen und geodätischen Felder”, Mathematische Annalen, 112 (1936), 187–220, 189. 237. P. Dedecker, Calculus de variations, formes différentielles et champ géodesiques, Colloque International de Géometrie Différentielle, Strasbourg, 1953; A. Liesen, “Feldtheorie in der Variationsrechnung mehrfacher Integrale”, Mathematische Annalen, 171 (1967), 194-218, 273292; U. Brechtken-Manderscheid, “Feldtheorie in der Variationsrechnung mehrfacher Integrale”, Manuscripta mathematica, 7 (1972), 87–102. 238. Philadelphia, Saunders, 1968. 239. Hans Hahn, Studium in Wien, München, Straßburg und Göttingen, Promotion 1902 und Habilitation 1905 in Wien, Professor in Czernowitz 1909, Bonn 1916 und seit 1921 in Wien. 240. Gustav von Escherich, Professor in Wien 1884-1920; Arbeiten zur zweiten Variation und zu Lagrangeschen Problemen.
DIE FELDKONSTRUKTION UND VERWANDTE THEMEN
631
in der Funktionalanalysis. Wie wir gleich sehen werden, hat auch GILBERT BLISS und das noch später als HANS HAHN derart ähnliche Erwartungen an die Theorie der zweiten Variation gehabt. In der Arbeit Über den Zusammenhang zwischen den Theorien der zweiten Variation und der Weierstrass’schen Theorie der Variationsrechnung241 behandelte HAHN wie MAYER (1903) ein Variationsproblem für mehrere gesuchte Funktionen einer unabhängigen Variablen unter Nebenbedingungen:
∫ f ( x, yi, yi' ) dx → extremum , ϕ k ( x, y i, y i' ) = 0 ,
( i = 1, …, n ; k = 1, …, m < n ),
Über die Randwerte wird nicht weiter verfügt. Die auftretenden Funktionen werden als analytisch angenommen. HAHN gab in dieser Arbeit an, wie eine gewisse von ALFRED CLEBSCH (1858), ADOLPH MAYER (1868) und VON ESCHERICH (1898) benutzte Transformation der zweiten Variation aus dem Weierstraßschen Darstellungssatz gewonnen werden kann (siehe unten). Auch BLISS wandte sich ab 1916 diesem Thema zu, und sein Vortrag am International Mathematical Congress 1924 in Toronto resümierte die von ihm gewonnenen Ergebnisse.242 Die Transformation selbst, die eine 1837 von CARL GUSTAV JACOBI für eine gesuchte Funktion angegebene Umformung verallgemeinerte, ist für uns eigentlich nicht von Interesse. Für seine Untersuchungen bediente sich HAHN der Konstruktion eines solchen Feldes, in dem sich die totale Variation durch die Exzeßfunktion ausdrücken ließ. Dabei konnte er einen von VON ESCHERICH gefundenen bilinearen Ausdrucks benutzen, um diese Felder als Mayerfelder zu charakterisieren. Wir unterdrücken hier – wie auch schon zuvor – die sich auf die Nebenbedingungen beziehenden Betrachtungen. In HAHNs Überlegungen finden wir sowohl Elemente der Weierstraßschen Darstellung als auch der Hilbertschen Konstruktion vor, wobei letztere aber aus der Sicht von HENRI POINCARÉ (1854-1912) eingegangen sind. Aus der allgemeinen 2n-parametrigen Extremalenschar der Variationsaufgabe ist eine n-parametrige Schar so zu wählen, daß das zum Problem gehörige Unabhängigkeitsintegral wegunabhängig wird. HAHN ging zunächst nicht von der gesuchten n-parametrigen Extremalenschar yi = yi (x, a1, … , an) aus, sondern von einer herausgegriffenen speziellen einparametrigen Schar yi = yi (x, c),
241. Rendiconti del Circolo Matematico di Palermo, 29 (1910), 49–78. Die zitierten Ergebnisse befinden sich in den §§ 1–2. 242. “The transformation of Clebsch in the calculus of variations”, in J.C. Fields (Ed.), Proceedings of International Mathematical Congress held in Toronto, August 11–16, 1924, Toronto, The University Press, vol. 1, 1928, 589–603, (Reprint 1967). Die Arbeiten von Clebsch und Mayer befinden sich in Crelles Journal, 55 (1858), 69 (1868).
632
KAPITEL 6
(i = 1, … , n). Diese Schar füllte im x,y-Raum eine zweidimensionale Fläche Φ aus. HAHN zeigte, daß das Integral I =
∂y i ( x, c )
- dc ∫ f ( x , y ( x , c ), yx ( x , c ) ) dx + fPi ( x , y ( x , c ), yx ( x , c ) ) ------------------∂c
(für doppelte Indizes gelte hier und im folgenden das Summationsabkommen) in der x,c-Ebene wegunabhängig ist, wenn man obige Schar einträgt. Längs einer auf der Fläche Φ verlaufenden Kurve K ist ∂y i ( x, c ) ∂y i ( x, c ) -------------------- dx + ------------------- dc , ∂x ∂c
womit (1) I =
∫K { f ( x, y , p ( x , y ) ) – pi ( x, y )fPi ( x, y , p ( x , y ) ) } dx + fPi dyi
ebenfalls wegunabhängig wird. Mit p(x, y) ist die Gefällefunktion des Mayerfeldes bezeichnet. HAHN dachte sich dann im x,y-Raum eine sich selbst nicht schneidende geschlosssene Kurve K gegeben.243 Längs dieser Kurve seien die durch sie gehenden Extremalen konstruiert. Die Extremalen sollten die Kurve K nur einmal treffen und sich untereinander (zumindest lokal) nicht schneiden. Unter diesen Umständen bildet diese Schar eine Fläche Φ , die den “Typus einer Zylinderfläche” (sogenanntes Röhrenfeld) hat. HAHN zeigte: “Das Integral (17) [= (1)] erstreckt über eine beliebige, auf f [=Φ ] liegende, geschlossene, die Oeffnung der Zylinderfläche Φ einmal umkreisenden Kurve hat stets denselben Wert.”244 Aus diesem Satz folgerte HAHN weiter die Konstanz eines gewissen bilinearen Ausdrucks entlang der Extremalen einer zweiparametrigen Schar y = y(x, c1, c2), den früher CLEBSCH, MAYER und VON ESCHERICH auf einem komplizierteren Wege erhalten hatten.245 HAHN ermittelte mit Hilfe dieses Resultats die gewünschte n-parametrige Extremalenschar (2) yi = yi(x, a1, … , an),
die ein Mayerfeld in einem Gebiet G bilden soll. Dazu forderte er die Wegunabhängigkeit von (10), so daß der bilineare Ausdruck für alle Parameter aµ, aν (µ , ν = 1, … , n) und nicht nur für die beiden speziellen Parameter c1 und c2 zu verschwinden hatte. Daraus folgten die n(n – 1)/2 Bedingungen 243. Hier findet man Anschluß an die Hilbertsche Feldkonstruktion (1905), wenn wir zwei verschiedene Wege, die die Punkte A (in der Fläche T ) und Q (beliebig im Feld) verbinden, als die geschlossene Kurve C betrachten; siehe Abschnitt 6.8. 244. Rendiconti del Circolo Matematico di Palermo, 29 (1911), 49–78, Zitat p. 53. 245. A. Clebsch, “Über die Reduction der zweiten Variation auf ihre einfachste Form”, Journal für die reine und angewandte Mathematik, 55 (1858), 254–273; G. von Escherich, “Die zweite Variation der einfachen Integrale”, Sitzungsberichte der Wiener Akademie, 57 (1898), 1191-1250. Vgl. auch den Abschnitt 6.7 über Mayer.
DIE FELDKONSTRUKTION UND VERWANDTE THEMEN n
(3)
∂y i ∂F Pi ⎫
⎧ ∂y i ∂F Pi
- ----------- – --------- ----------- = ∑ ⎨⎩ ------∂a v ∂a µ ∂a µ ∂a v ⎬⎭
0,
633
(µ, v beliebig),
i=1
die auch hinreichend für Wegunabhängigkeit sind. Die Gleichungen (3) charakterisieren damit eine schlichte Extremalenschar (2) als ein Mayerfeld, und umgekehrt muß jede solche in G schlichte Schar (3) genügen, um ein Mayerfeld darzustellen. HAHN griff weiter auf die Konstanz des Ausdruckes (3) längs der Extremalen zurück, so daß es genügte, diese Gleichungen (die Lagrangeschen Klammern) für einen speziellen Wert von x zu erfüllen. Mit anderen Worten, die Wegunabhängigkeit des Integrals im (n + 1)-dimensionalen x,yRaum liegt bereits vor, wenn dies in der Hyperebene x = x0 zutrifft. Die Feldkonstruktion (S. 56) selbst erledigte HAHN in der Umgebung einer Hyperebene durch einen Auflösungssatz für die zur Vereinfachung durchweg als regulär analytisch angenommenen Funktionen (2), wobei er für ein beliebiges x = x0 das Verschwinden von (3) unmittelbar erhielt, so daß die Extremalenschar in der Tat dort lokal ein Mayerfeld bildet. Er kann also formulieren: “Jeder genügend kurze, reguläre Extremalenbogen lässt sich mit einem Mayer’schen Felde umgeben”. (S. 57). Regularität bezieht sich hier nicht auf den analytischen Charakter der betrachteten Kurve, sondern drückt das Nichtverschwinden einer gewissen Determinante aus, die sich bei fehlenden Nebenbedingungen auf det f p p reduziert. i k
Interessant ist noch der eingangs schon erwähnte Sachverhalt, der ein Mayerfeld in Zusammenhang mit dem akzessorischen Variationsproblem bringt, das ein zentrales Thema der Wiener Schule war. Zu einem ursprünglichen Variationsproblem Jy =
b
∫a f ( x, y, y' ) dx → Minimum
gesellt sich die Frage nach dem Verhalten der zweiten Variation. Längs einer Minimalen C0 : y = y0(x) darf die zweite Variation nicht negativ sein: 2
0
b
(4) Q ( η ) = δ J ( y , η ) = 2 ∫ Ω ( η, η ) dx ≥ 0 , a
wobei der Integrand Ω (η,η) eine quadratische Form in η ist. Naheliegend ist es nun, ein weiteres Variationsproblem, das ein Minimumproblem für die zweite Variation darstellt und das nach VON ESCHERICH das akzessorische Variationsproblem genannt wird, zu betrachten. Die Eulerschen Differentialgleichungen dieses durch (4) bestimmten akzessorischen Problems Q(η) → Minimum,
(η ≠ 0),
sind linear, und sie wurden von ESCHERICH als das akzessorische System linearer Differentialgleichungen, von BLISS als die Jacobischen Differentialgleichungen (die sie im Fall n > 1 verallgemeinern) und von POINCARÉ als les équations aux variations bezeichnet.
634
KAPITEL 6
Wann ist für eine Lösung η*(x) ≠ 0 dieser Differentialgleichungen im Intervall (a, b) die zweite Variation positiv? Anders gesagt, der entscheidende Punkt ist die Frage, ob die zweite Variation positiv semidefiniten Charakter besitzt bzw. ob Min Q(η) = 0 für η ≠ 0 möglich ist? Dieses Problem, das bei Beachtung des Integrationsintervalls auch globale Auskünfte geben kann (Jacobische Theorie), läßt sich mit Hilfe gewisser unabhängiger Lösungen, die von ESCHERICH konjugierte Lösungen nannte,246 aufklären. Es sind gerade diese konjugierten Lösungen, die HAHN aus den Gleichungen einer Extremalenschar, die ein Mayerfeld bildet, hergeleitet hat: Jede konjugierte Lösung läßt sich durch Differentiation nach dem Scharparameter aus den Gleichungen eines Mayerfeldes gewinnen. Das schlägt eine tragfähige Brücke von der Theorie der konjugierten Systeme im Sinne von ESCHERICH zu den Mayerschen Extremalenscharen für das akzessorische Variationsproblem. Auch BLISS, der trotz der durch die Methoden von WEIERSTRAß und HILBERT für die erste Variation erzielten Fortschritte weiterhin große Erwartungen mit den Untersuchung der zweiten Variation verbunden hatte, startete hier etwa 1916 mit dem Instrumentarium der Feldtheorie (Weierstraß-Hilbertsche Methoden), um einfachere Herleitungen für die Jacobische Bedingung und die auf CLEBSCH zurückgehende Umformung der zweiten Variation zu erhalten, die dann einen Leitfaden bei der Gewinnung hinreichender Kriterien für die Probleme von Lagrange, Mayer oder Bolza bildeten. Seinen Abschiedsvortrag als Vorsitzender der Chicagoer Sektion der AMS beendete er 1919 mit den Worten: The tendency since then [the contributions of Weierstrass and Hilbert] has been to discard the theory of the second variation in favor of the more geometrical theory, but the experiment, so far as I know, has not been completely successful.247 HAHN gelangte mit seinem Satz über die eine Extremalenröhre umkreisenden Kurven zu den Sätzen von CLEBSCH und von VON ESCHERICH, indem er die Röhre auf eine einzige Extremale schrumpfen ließ (siehe die Abb. 6.14 auf Seite 602). Er hat an dieser Stelle unabhängig von POINCARÉ eine wichtige Anwendung der Poincaréschen Integralinvariante gemacht, denn auf POINCARÉS Untersuchungen war HAHN erst durch GUSTAV HERGLOTZ (1881-1953)
246. G. von Escherich, “Die zweite Variation der einfachen Integrale”, Sitzungsberichte der Wiener Akademie, 57 (1898), 1191–1250; Definitionen: akzessorisches System S. 1236, konjugiertes Lösungssystem S. 1246. 247. “Some recent developments in the calculus of variations”, Bulletin of the AMS, 26 (1920), 343–361, 361. Ab Seite 355 stellt Bliss seine Ergebnisse für die zweite Variation (seinen Leitfaden) dar. Die erste einschlägige Arbeit “Jacobi’s condition for problems of the calculus of variations in parametric form” von ihm erschien in dem Bulletin of the AMS, 17 (1916), 195–206. Auch auf dem ICM in Toronto 1924 äußerte sich Bliss in diesem Sinne, wie die Proceedings zeigen.
DIE FELDKONSTRUKTION UND VERWANDTE THEMEN
635
hingewiesen worden, was der während der Korrekturen eingefügten Fußnote 8 zu entnehmen ist. HENRI POINCARÉ hatte den Begriff der Integralinvariante in seiner Himmelsmechanik248 benutzt, und zwar keineswegs im Hinblick auf Differentialgleichungen von Variationsproblemen, sondern für beliebige Systeme von Differentialgleichungen erster Ordnung (insbesondere jedoch für das Dreikörperproblem und für Stabilitätsfragen).249 Wenn die Lösungen des Systems eine solche Abbildung einer Mannigfaltigkeit M auf eine Schar von anderen Mannigfaltigkeiten M* bewirkten, so daß alle über die Mannigfaltigkeiten M* erstreckten Integrale den gleichen Wert haben, dann betrachtete POINCARÉ diese Integrale als relative Integralinvarianten. Das Adjektiv soll darauf verweisen, daß die Invarianz bezüglich eines Weges vorliegt und nicht absolut ist. Wichtige Anwendungen sind in der Variationsrechnung möglich, wobei die Abbildung von M auf M* durch Extremalen vermittelt wird. Die Kenntnis von relativen Integralinvarianten ist bei POINCARÉ grundlegend für die Integrationstheorie der Eulerschen Gleichungen bzw. für die des kanonischen (Hamiltonschen) Systems. Aus anderer Sicht hatten JOHANN RADON (1887-1956)250 und OSKAR BOLZA relative Integralinvarianten eingeführt, indem ersterer darauf hinwies, daß die Invarianz des Unabhängigkeitsintegrals bei Nebenbedingungen nicht für alle, sondern nur für die zulässigen Vergleichsfunktionen erforderlich sei, letzterer jedoch zeigte, daß diese Unterscheidung überflüssig ist.251 PRANGE folgend hat CARATHÉODORY in seiner Geometrischen Optik die Beziehungen zum Satz von Malus herausgestellt (Abschnitt 2.4.4).252 Eine knappe Übersicht über die Integralinvarianten findet sich in dem Buch Analytische Dynamik der Punkte und starren Körper253 von EDMOND TAYLOR WHITTAKER (1873-1956). 6.12 Andere Feldkonzepte Wir sind oben bereits auf die Erweiterung der Weierstraß-Schwarzschen Feldtheorie durch CONSTANTIN CARATHÉODORY eingegangen, der feldartige 248. Les Méthodes nouvelles de la Mécanique céleste, Paris, Gauthier-Villars, 1892-1899. Band 3, Kap. 22. 249. Vergl. auch T. Levi-Civita, “Sulli invariantiarsoluti”, Opere 1, 41-100, Integralinvarianten im Teil 2; siehe K. Reich, Die Entwicklung des Tensorkalküls, Basel, Birkhäuser, 1994, 93. 250. Johann Karl Radon, Studium in Wien, Promotion (zur Variationsrechnung) 1910 und Habilitation 1913 dort, dazwischen kurzzeitig in Göttingen, ab 1919 Professor in Hamburg, Greifswald, Breslau und Wien. 251. Rendiconti del Circolo Matematico di Palermo, 32 (1911), 111–117. 252. Carathéodory, Geometrische Optik, Berlin, Springer, 1937, §§ 26-28; Prange, “Die allgemeinen Integrationsmethoden der analytischen Mechanik”, Encyklopädie der mathematischen Wissenschaften, Band 4/2, Artikel 12 und 13, insbesondere S. 622. 253. Berlin, Springer 1924 (nach der 2. engl. Auflage übersetzt), Kapitel 10 “Hamiltonsche Systeme und ihre Integralinvarianten”, 279-305.
636
KAPITEL 6
Gebilde aus den möglichen Feldern als hervorhebenswert erachtete (Abschnitt 2.4.3). Auf die Ausdehnung des Feldbegriffs bei mehrdimensionalen Variationsproblem werden wir im nächsten Kapitel zu sprechen kommen. An dieser Stelle wollen wir auf weitere Gesichtspunkte beim Erfassen von eindimensionalen Feldern eingehen. 6.12.1 Gelfands Felddefinition Wir haben gesehen, daß bei der Entwicklung des Feldbegriffs der Lösung des Randwertprobleme mehr und mehr Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Bei der Konstruktion des Weierstraßschen Flächenstreifen für ein Festrandproblem hat man es, wenn man so will, mit einem speziellen Randwertprobleme zu tun, das die Frage nach verbindenden Extremalen von einem fest vorgegebenen Punkt zu benachbarten Punkten in seiner Umgebung stellt. Das läßt sich als ein Anfangswertproblem für die Euler-Langrangeschen Differentialgleichungen begreifen, bei dem im Ausgangspunkt eine geeignete Richtung zu wählen ist, um den Ausgangspunkt mit einem gegebenen Endpunkt durch eine Extremale zu verbinden. Wenn auch ein derartiges Anfangswertproblem von vornherein nicht auf Lösbarkeit im Kleinen beschränkt ist, so brachten die in Verbindung mit der Feldkonstruktion beim Flächenstreifen benutzten lokalen Techniken das mit sich. Es ist aber ebenso anschaulich, von vornherein zwei gegebene Punkte zu betrachten und für sie das zugehörige Randwertprobleme zu lösen und auf diese Weise eine Feldkonstruktion durchzuführen. Solche Randwertprobleme haben indes von vornherein eher einen globalen Charakter. Der Feldbegriff bei H.A. SCHWARZ basiert auf Randwertproblemen, allerdings hat SCHWARZ sich nicht um eine allgemeine Feldkonstruktion gekümmert, sondern diese als gegeben unterstellt, aber für Beispiele hat er sie stets bis ins letzte Detail ausgeführt. Bei HADAMARD wird in seinen Leçons sur le calcul des variations (1910) die Behandlung von Randwertprobleme bereits deutlich herausgehoben und unabhängig vom Feldbegriff behandelt. Entsprechende Überlegungen treffen auch auf Freirandprobleme zu. In der Monographie Variationsrechnung im Großen von HERBERT SEIFERT und WILLIAM THRELFALL wird – was bei globalen Betrachtungen nahe liegt – anstelle des Anfangswertproblems vom Randwertprobleme ausgegangen.254 Die russischen Mathematiker ISRAEL MOISEJEWITSCH GELFAND (geb. 1913) und SERGEI WASSILEWITSCH FOMIN (1917-1975) haben 1961 in einem Buch, das 1963 in englischer Übersetzung Calculus of variations255 erschien und auf
254. Leipzig, B.G. Teubner, 1938, 49, 98. – Hier wird übrigens untersucht, wann eine Geodätische eine Kürzeste ist. 255. I.M. Gelfand, S.V. Fomin, Calculus of variations, Translated by R.A. Silverman, Engelwood Cliffs, Prentice Hall, 1963, 21964; russ. Original 1961. Alle Zitate aus der amerikanischen Ausgabe.
DIE FELDKONSTRUKTION UND VERWANDTE THEMEN
637
Vorlesungen von GELFAND an der Moskauer Universität basiert, die Idee eines einschlägigen Randwertproblems zur Grundlage der Felddefinition gemacht. Es ist üblich, sich ein Feld durch eine Kurvenschar geometrisch zu veranschaulichen und es mittels analytischer Bedingungen zu charakterisieren. ISRAIL M. GELFAND256 ging in seinen Vorlesungen über Variationsrechnung an der Universität Moskau etwas anders vor, und dieser Zugang findet sich in dem gemeinsam mit SERGEJ W. FOMIN257 geschriebenen Buch über Variationsrechnung. Das kann man dem Vorwort entnehmen, in dem mitgeteilt wird, daß die ersten Kapitel auf den von GELFAND gehaltenen Vorlesungen basieren, including the theory of fields (presented in a somewhat novel way) (p. iii). Wie üblich wird in dem Abschnitt über hinreichende Bedingungen der Feldbegriff erklärt, wobei aber zunächst noch keine Beziehungen zur Variationsrechnung bestehen, sondern ein Feld wird für Lösungen irgendeines Systems gewöhnlicher Differentialgleichungen zweiter Ordnung definiert. Dabei werden für die Ableitungen der Lösungen eines Systems von n Differentialgleichungen zweiter Ordnung 2n Randbedingungen gestellt, wobei diese als gegenseitig konsistent erklärt werden, sofern eine Lösung, die die an einem Randpunkt gestellte Bedingung erfüllt, auch denen am anderen Randpunkt genügt, und umgekehrt. Wenn nun im Ganzen des in Rede stehenden Intervalls [a, b] für jedes Punktepaar (a', b') im Hinblick auf das eingangs genannte System konsistente Randbedingungen vorgeschrieben sind, so heißt eine solche Schar von gegenseitig konsistenter Randbedingungen, ein Richtungsfeld oder kurz Feld (p. 132). Dann erklären die Autoren für ein Variationsproblem das “Feld eines Funktionals (field of functional)”, aber nicht direkt durch eine Extremalenschar, sondern – wie vorher allgemein dargelegt – durch die zum Problem bzw. zu den entsprechenden Euler-Lagrangeschen Differentialgleichungen gehörigen Randwerte. Zwei in x1 und x2 vorgegebene Randwerte yi' = ψ(xi, y), (i = 1, 2), heißen miteinander konsistent (mutually consistent), wenn jede Extremalenschar des Variationsproblems, die einen der Randwerte annimmt, das auch für den anderen tut. Eine Familie von Randbedinungen schließlich, die in einem Intervall [a, b] konsistente Randwerte besitzt, wird dort ein (Richtungs-) Feld (field of directions) zum Problem genannt. Eine solche Fassung entspricht nicht dem traditionellen Begriff, aber die Verbindung dazu ist naheliegend, und sie hat auch historische Wurzeln: Eine Extremalenschar bestimmt trivialerweise in einem Intervall konsistente Randwerte, und umgekehrt legen solche Randwerte eines Problems in einem Inter256. Israil Moisejewitsch Gelfand, Promotion bei Kolmogorow 1932, Habilitation 1938, lehrte seit 1943 an der Universität Moskau; Arbeitsgebiete Funktionalanalysis, Differentialgleichungen (insbesondere Randwertaufgaben). 257. Sergej Wassiljewitsch Fomin, lehrte an der Universität Moskau.
638
KAPITEL 6
vall eine derartige Schar bzw. deren Anstiege in einem Punkt fest (S. 132). Diese Art von Randwerten konstituiert natürlich ein Feld, so daß es begrifflich auch durch diesen Gedanken erfaßt werden kann. Mit solch einem Richtungsfeld wird das Feld für das Funktional (genauer für die zugehörigen Eulerschen Differentialgleichungen) festgelegt: The family of boundary conditions (37) yi' = ψi (x, y)
(i =1, … , n)
prescribed for every x in the intervall [a, b], is said to be a field of the functional b
∫a f ( x, y ( x ), y' ( x ) ) dx if 1. The conditions (37) are self-adjoint for every x in [a, b]; 2. The conditions (37) are consistent for every pair of points x1, x2 in [a, b]. Die zweite Bedingung beschreibt vermittels der Randwerte die Extremalenschar, während die erste Bedingung sichert, daß diese Schar ein Mayerfeld bildet. Wir gehen nicht näher auf die Definition selbstadjungierter Randwerte ein, die über Bolzaprobleme motiviert wird (S. 137f.), sondern beziehen uns auf den der Definition unmittelbar folgenden Satz 2 (S. 140), der die Selbstadjungiertheit der Randwerte als notwendige und hinreichende Bedingung für Integrabilität des Feldes (im alten Sinn) erkennen läßt. Damit ist der Weg frei, um in bekannter Weise das Hilbertsche Unabhängigkeitsintegral und den Weierstraßschen Darstellungssatz abzuleiten. Die Autoren begründen den Vorteil ihrer Definition auf folgende Weise. In the calculus of variations, by a field (of extremals) of a functional is usually meant an n-parameter family of extremals satisfying certain conditions, rather than a family of boundary conditions of the type just described. […] A field is usually defined not as a family of boundary conditions which are compatible at every two points, but as a set of integral curves of the system […] which satisfy the [boundary] conditions (5) at every point, i.e., as a general solution of the system (5). However it seems to us that our definition has certain advantages, in particular, when applying the concept of a field to variational problems involving multiple integrals. (pp. 141, 133). Wenn sie die Definition auf (eindimensionale) Variationsproblem beziehen, liefern die Autoren ein notwendiges und hinreichendes Kriterium dafür, daß eine Schar von Randbedingungen (für die Ableitungen) eines Variationsproblem auch ein Feld für selbiges darstellt. Zunächst muß die sogenannte Selbstadjungiertheits- und Konsistenzbedingung erfüllt sein, die nichts anderes ausdrückt als die Integrabilität der entsprechenden Lösung der Hamilton-Jacobischen Differentialgleichung. Die ersten Bedingungen führen auf die Euler-
DIE FELDKONSTRUKTION UND VERWANDTE THEMEN
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sche Differentialgleichung, während die zweite Gruppe mit den Lagrangeschen Klammern gleichwertig ist.258 Hieraus geht hervor, daß die Autoren mit vollintegrablen Feldern arbeiten bzw. vollständige Figuren in der Feldtheorie annehmen. Damit dürfte aber der erhoffte Vorteil im Mehrdimensionalen nicht zum Tragen kommen, weil dort bislang das Problem der vollständigen Figur ungelöst ist und durch andere abgeschwächte Feldbegriffe behandelt worden ist (wobei die erste und weitgehendste Abschwächung bereits auf HILBERT selbst zurückgeht, siehe hierzu Abschnitt 5.9 und das folgende Kapitel 7). 6.12.2 Optimale und Weierstraßsche Felder In seinem Calculus of variations and optimal control theory führte MAGNUS R. HESTENES (1906-1991) an: Fields can be characterized in a number of ways. In this section we shall define fields in terms of a principle of optimality. In order to emphasize this fact these fields will be called optimal fields. The theory of dynamic programming applied to problems of the type considered here is equivalent to the theory of optimal fields. The theory of optimal fields is essentially Hamilton-Jacobi theory, and plays a significant role in the theory of geometrical optics.259 Zu dem Variationsintegral J(C) mit der Extremalen C0 gehöre ein Hilbertsches Unabhängigkeitsintegral H, das zwischen den Punkten P1 und P2 erstreckt werde. Mit der Exzeßfunktion gilt dann die Weierstraßsche Fundamentalgleichung
ε
J(C) = H +
∫C ε dx ,
C ist eine zulässige Vergleichskurve, die P1 und P2. verbindet, und H = H (C0). In einem Mayerfeld läßt sich bei positiver Exzeßfunktion aus der Fundamentalgleichung in einer gewissen Umgebung der Extremalen C0 die Beziehung J(C) ≥ W(P2) – W(P1)
gewinnen, wenn W(Pi), (i = 1,2), den Wert der Lösung der S = S(x, y) Hamilton-Jacobischen Differentialgleichung an den jeweiligen Endpunkten P1 und P2 bezeichnet. Man kann nun aus den möglichen Mayerfeldern solche suchen, bei denen diese Beziehung von vornherein erfüllt ist, und genau so faßt HE260 STENES die formale Definition des optimalen Feldes. In dem Buch Calculus of variations von MARIANO GIAQUINTA und STEFAN HILDEBRANDT werden solche Felder noch weiter spezifiziert, indem Mayerfelder mit positiver Exzeß-
258. Siehe hierzu H. Boerner, “Carathéodory’s Eingang zur Variationsrechnung”, Jahresbericht der DMV, 56 (1953), 31-58, Abschnitt 4 bzw. S. 36f. 259. M.R. Hestenes, Calculus of variations and optimal control theory, New York, Wiley, 1966, 287. 260. aaO., siehe 147 und 287.
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KAPITEL 6
funktion Weierstraßsche Felder genannt werden.261 Jedes Weierstraßsche Feld ist offensichtlich ein optimales Feld, aber nicht umgekehrt. Die so spezialisierten Mayerfelder haben einige erwünschte Eigenschaften. In der obigen Beziehung gilt die Gleichheit nur für Extremalen C0 J(C0) = W(P2) – W(P1) = k2 – k1
mit zwei Konstanten ki. Das ist der Knesersche Transversalensatz. Die Weierstraßsche Fundamentalgleichung umschreibt unter der Zusatzannahme im Sinne von CARATHÉODORY ein äquivalentes Variationsproblem mit positiven Integranden, und umgekehrt gewährleistet in einem optimalen Feld ein positiver Integrand des äquivalenten Variationsproblems eine positive Exzeßfunktion. Die Flächen W = W(P) = W(x, y) = const bilden eine transversale Schar zum Extremalenfeld.
261. M. Giaquinta, S. Hildebrandt, Calculus of variations, 2 vols, Berlin, Springer, 1996. Definitionen in Band 1, 335, und Band 2, 225.
KAPITEL 7
AUSBLICKE AUF DIE MEHRDIMENSIONALE VARIATIONSRECHNUNG
Der kürzeste Weg ist nicht der möglichst gerade, sondern der, bei welchem die günstigsten Winde unsere Segel schwellen; so sagt die Lehre der Schiffahrer. FRIEDRICH NIETZSCHE
7.1 Einleitung 7.1.1 Problemstellung Es ist am Ende dieser historischen Arbeit angebracht, einen Schritt zurückzutreten, um die bisher behandelten Felder in einem allgemeinen Zusammenhang zu sehen und zu verstehen. Dazu werfen wir einen Blick auf die mehrdimensionale Variationsaufgabe: (1) J(x) =
i
∫G F ( t , x
α
α
1
n
, x i ) dt ∧ … ∧ dx → Min ,
2
( F = F ( t, x, p ) ∈ C ) ,
mit ν gesuchten zweimal stetig differenzierbaren Funktionen xα = xα(t) von n Variablen ti, die die von uns bisher betrachteten Fälle für ν ≥ 1, n = 1 enthält.1 Die Werte der gesuchten Funktionen x = x(t) sollen zunächst am Rand ∂G eines festen Grundgebiets G als vorgegeben angesehen werden, später werden wir auch freie Randwerte zulassen. Nebenbedingungen werden durchgängig nicht gestellt. Wir betrachten für dieses erweiterte Problem zunächst Extremalenfelder, d.h., wir fragen nach der Möglichkeit, ob sowohl eine Extremalenschar (bzw.
1. Um Einheitlichkeit zu haben, weichen wir von den verschiedenen Bezeichnungen der Originalarbeiten ab. Grundsätzlich behalten wir die historischen Schreibweisen wie f(x1, … , xν) bzw. die Kurzschreibweise f(xα) bei (gelegentlich inkonsequent auch in gemischter Form), auch wenn heute im Sinn der Vektornotation f(x) bzw. f(.) auf Rν geschrieben wird; die angeschriebenen Indizes – insbesondere ihre Spezifizierung in lateinische und griechische Indizes – bieten schlechterdings gute Merkhilfen. Die Unterdrückung des Summenzeichens (Summationsabkommen) war seinerzeit bereits üblich.
642
KAPITEL 7
das entsprechende Richtungsfeld) als auch die zugehörige transversale Schar (bzw. das geodätische Feld) konstruiert werden kann. Gewisse ausgezeichnete transversale Scharen liefern in einem Gebiet G sogenannte vollständige Figuren, nämlich genau dann, wenn durch jeden Punkt von G eine Extremale gelegt werden kann, die durch diese Schar transversal geschnitten wird. Die Extremalen bilden dann selbst ein Feld und die Figur, die sich aus ihnen und den Transversalen ergibt, heißt vollständige Figur des Variationsproblems. (CARATHÉODORYS Problem der vollständigen Figur eines Variationsproblems bzw. eines Mayerfeldes im mehrdimensionalen Fall). In seiner großen ActaArbeit von 1929 bemerkte CONSTANTIN CARATHÉODORY (1873-1950), der zur mehrdimensionalen Variationsrechnung beigetragen hat: “Das Problem dagegen, ‘ausgezeichnete’ geodätische Felder zu konstruieren, d.h. solche, durch welche vollständige Figuren unseres Variationsproblems erzeugt werden, konnte noch nicht ausgeführt werden.”2 Die in Rede stehenden Mannigfaltigkeiten sind einfach zu hochdimensional, um bei ihnen die Verhältnisse des eindimensionalen Falls nachzubilden. Man wird sich im allgemeinen damit begnügen, daß die Transversalen lediglich die betrachtete Extremale transversal schneiden. An dieser Stelle steht die Variationsrechnung noch heute. Wir untersuchen also die Frage, ob es nicht zweckmäßiger sei, dieses Konzept im Mehrdimensionalen zu verändern; m.a.W., ob wir den Schritt ins Mehrdimensionale mit einer Änderung des Feldbegriffs verbinden sollten, ähnlich wie wir beim Übergang von einer zu mehreren gesuchten Funktionen im eindimensionalen Fall vom Extremalenfeld zum Mayerfeld wechselten. 7.1.2 Kurzer historischer Überblick über die mehrdimensionale Feldtheorie Bevor wir uns der mehrdimensionalen Feldtheorie selbst zuwenden, die sachgemäß im Formalismus des Cartanschen Kalkül dargestellt wird, skizzieren wir noch kurz (und unzureichend) deren Vorgeschichte.3 Ein schon sehr früh studiertes zweidimensionales Variationsproblem war das der Minimalflächen, das ausführlich von JOSEPH LOUIS LAGRANGE (1736-1813) in mehreren Arbeiten behandelt wurde, wobei auch die zugehörige partielle Differentialgleichung aufgestellt wurde.4 Diese Differentialgleichung war Gegenstand zahlreicher Untersuchungen (JEAN BAPTIST MEUSNIER (1754-1793) 1776, GASPARD MONGE (1746-1818) 1784, ADRIEN MARIE LEGENDRE (1752-1833) 1787 oder ANDRÉ MARIE AMPÈRE (1775-1836) 1820), spätere Untersuchungen haben aber oft den Boden der Variationsrechnung verlassen und sich ledig-
2. “Über die Variationsrechnung bei mehrfachen Integralen”, Acta Szeged, 4 (1929), 193-216, Zitat S. 194; auch in: Gesammelte mathematische Schriften, Bd. 1, München, Beck, 1954, 402. 3. Siehe auch den Übersichtsartikel von K. Reich, “Die Geschichte der Differentialgeometrie von Gauß bis Riemann” (1828-1868), Archive for History of Exact Sciences, 11, 4 (1973), 273382. 4. Miscel. Soc. Taurinensia, Bd. 2, 1760-1762; auch in: Oeuvres,14 Bde, Paris, 1867-1892.
AUSBLICKE AUF DIE MEHRDIMENSIONALE VARIATIONSRECHNUNG
643
lich mit der Integration der partielle Differentialgleichung oder mit den geometrischen Eigenschaften der Minimalflächen beschäftigt.5 Die Bezeichnung Minimalfläche kommt zunächst per (historischer) Definition solchen Flächenstücken zu, deren mittlere Krümmung verschwindet, woraus noch nicht die Minimalität des entsprechenden Flächeninhalts folgt, sondern nur, daß Minimalflächen der entsprechenden Eulerschen Differentialgleichung genügen. HERMANN AMANDUS SCHWARZ (1843-1921) hatte in seiner sogenannten Festschrift6 mit Hilfe der Normalvariation ein Feld zu dem Problem der Minimalfläche konstruiert und betont, daß die Untersuchung der zweiten Variation nicht ausreichend sei, um auf ein Minimum schließen zu können, sondern daß man hierzu ein Feld mit der damit verbundenen Gültigkeit des Weierstraßschen Darstellungssatzes benötige. Diesem Ziel dienten auch die durch ihn aufgestellten – wie wir heute sagen würden – Eigenwertkriterien. Eine solche Feldkonstruktion für Flächen im R3 ist aufgrund der Kodimension 1 noch anschaulich zu leisten (etwa als diffeomorphes Bild paralleler Ebenen); bei Rotationsflächen, die SCHWARZ gleichfalls betrachtet und für die er im Fall der Catenoide ein allgemeines zweidimensionales Feld konstruiert hatte, liegen die Dinge noch einfacher – aber solche mathematisch zutreffenden Urteile erfolgen aus der gegenwärtigen Sicht und ignorieren die historischen Entwicklungsschwierigkeiten (siehe Abschnitte 3.7.2 und 3.8). GUSTAF KOBB (1863-1934) dehnte in zwei Arbeiten Sur les maximum et les minimum des intègrales doubles7 als einer der ersten die Weierstraßsche Methode auf Doppelintegrale aus, aber ADOLF KNESER (1862-1930) wies in seinem Enzyklopädie-Artikel Variationsrechnung darauf hin, daß zwar eine zur Weierstraßschen Exzeßfunktion analoge Funktion eingeführt wurde, aber letztlich nur Variationen in einer engeren Nachbarschaft benutzt werden.8 KNESER selbst hatte in der ersten Auflage seines Lehrbuches der Variationsrechnung (1900) den letzten Abschnitt (S. 263-306) den “Extrema von Doppelintegralen” gewidmet und dabei mehrere Beispiele behandelt (Minimalflächen, Gleichgewichtsfiguren u.a.). Vergleichsflächen sind bei ihm solche, die aus der Normalvariation (S. 286, 294) hervorgehen, was für viele Anwendungen ausreicht. Die Bevorzugung der Normalvariation erscheint auf den ersten Blick einschränkend, aber da eine tangentiale Variation letztlich auf
5. Eine aktuelle Übersicht gibt die zweibändige Monographie von U. Dierkes, S. Hildebrandt, A. Küster und O. Wohlrab, Minimal surfaces, Berlin, Springer, 1992; etwas älter ist das Standardwerk von J.C.C. Nitsche, Vorlesungen über Minimalflächen, Berlin, Springer, 1975. 6. H.A. Schwarz, “Über ein die Flächen kleinsten Inhalts betreffendes Problem der Variationsrechnung [“Festschrift”]”, Acta Societatis scientiarum Fennicae, 15 (1885), 315-362; auch in: Gesammelte Mathematische Abhandlungen, Bd. 1, Berlin, Springer, 1890, 223-269. 7. Acta mathematica, 16 (1892), 65-140; 17 (1893), 321-344. 8. A. Kneser, “Variationsrechnung”, Encyclopädie der mathematischen Wissenschaften, Bd. 2/ 1, Leipzig, B.G. Teubner, 1899-1916, S. 618ff.
644
KAPITEL 7
Umparametrisierungen der Fläche hinausläuft, macht sie sich gegebenenfalls nur mit höheren Ordnungen bemerkbar.9 Ein Feld wird bei KNESER durch das Nichtverschwinden der zu der Extremalenschar gehörigen Funktionaldeterminante definiert (S. 296), und anschließend wird die Weierstraßsche Methode resümiert (S. 296), was zur Erklärung der Exzeßfunktion führt (S. 302). Eine Feldkonstruktion selbst erfolgt noch nicht. Die veränderte zweite Auflage des Buches (1925) enthält als 7. Abschnitt “Extrema von vielfachen Integralen” (S. 305-370) und darin den § 49 (S. 328-336) mit hinreichenden Bedingungen und Transversalitätsbetrachtungen. Das Feld wird wie zuvor erklärt, jetzt für den R3 (S. 329), dann werden die Transversalitätsbedingungen eingeführt (S. 331). Die Existenz eines Mayerfeldes bleibt zunächst undiskutiert, jedoch wird für ein solches Feld der verallgemeinerte (Knesersche) Transversalensatz gezeigt: eine Transversalenröhre schneidet auf den Feldextremalen Stücke mit gleichem Integralwert aus (S. 331). Für den R3 wird der Weierstraßsche Darstellungssatz mit Hilfe des Hilbertschen Unabhänigkeitsintegrals gefolgert (womit implizit Mayerfelder zugrunde gelegt werden) (S. 332f.), die dann folgenden Seiten machen die Weierstraßschen Bedingungen etwas handlicher (S. 333335). Zusammen mit der Jacobischen Bedingung (S. 333), die gewährleistet, daß ein Flächenstück in ein singularitätenfreies Feld einbettbar ist, wird schließlich die Weierstraßsche Methode auf mehrfache Integrale ausgedehnt. OSKAR BOLZA (1847-1942) ging erst in der deutschen Ausgabe Vorlesungen über Variationsrechnung (1909) und dort auf den letzten Seiten auf “Hinreichende Bedingungen für Extrema von Doppelintegralen” ein (S. 683-687) und erweiterte mit Hilfe des Hilbertschen Unabhängigkeitssatzes bzw. der entsprechenden Differentialgleichung für die Gefällefunktion die hinreichenden Bedingen auf Doppelintegrale (S. 686). DAVID HILBERT (1862-1943) selbst hatte durch seine Doktoranden NADESCHDA GERNET (1877-1943) und JOHANN OSWALD MÜLLER (1877-1940) angestrebt, das bislang im Zentrum der Untersuchungen stehende sogenannte “einfachste Variationsproblem” durch sein Forschungsprogramm sowohl auf mehrere Funktionen als auch auf mehrere unabhängige Variablen auszudehnen. Allerdings waren die Ergebnisse nicht ganz befriedigend, da die Gernetsche Dissertation (1901) mit zentralen Feldern anstelle von allgemeinen Mayerfeldern arbeitete und MÜLLER die Behandlung des allgemeinen Falls in der mehrdimensionalen Variationsrechnung nicht gelang und er deshalb auf das spezielle isoperimetrische Variationsproblem im R3 auswich (1902), vgl. Abschnitte 5.6.3, 6.6.2 und 6.6.3. Eine Dissertation von GEORG PRANGE (1885-1941) Die Hamilton-Jacobische Theorie für Doppelintegrale (Göttingen 1914), die zwar schon 1906 in Angriff genommen worden war, aber aus gesundheitlichen Gründen erst 1915 abgeschlossen werden konnte, widmete
38.
9. Sie hierzu etwa J. Jost, Differentialgeometrie und Minimalflächen, Berlin, Springer, 1994,
AUSBLICKE AUF DIE MEHRDIMENSIONALE VARIATIONSRECHNUNG
645
sich der Übertragung auf Doppelintegrale. Diese Überlegungen unterscheiden sich von den nachfolgend vorgestellten und sind daher bereits im Abschnitt 6.6.3 erörtert worden. 7.2 Das Hilbertsche Unabhängigkeitsintegral in der mehrdimensionalen Variationsrechnung: die Ansätze von Carathéodory und de Donder-Weyl Eine Eigentümlichkeit der Variationsrechnung mehrfacher Integrale besteht darin, daß sich in ihr verschiedene Ansätze machen lassen, um – problemorientiert gesagt – ein Hilbertsches Unabhängigkeitsintegral zu erhalten. Der lineare de Donder-Weylsche Ansatz zeichnet sich durch seine technische Einfachheit aus, wobei die Legendre-Transformation a priori dem Formalismus dieses Ansatzes entspricht. Dieser Ansatz ist in der mathematischen Physik gut einsetzbar, und aus diesem Gebiet heraus ist er auch entwickelt worden. Der nichtlineare Carathéodorysche Ansatz ist technisch aufwendiger, beispielsweise erscheint in ihm eine verallgemeinerte Legendre-Transformation, die sich allerdings im eindimensionalen Fall nicht auf die übliche Legendre-Transformation reduziert. Die Komplexität des Carathéodoryschen Ansatzes hat die Meinung befördert, daß nur er zur Behandlung freier Randwerte geeignet sei. Allerdings hat 1945 LEON VAN HOVE (1924-1990) in einer Arbeit Sur la construction des champs de Carathéodory et leur construction par les méthodes de charactéristiqus10 den de Donder-Weylschen Ansatz benutzt, um Carathéodorysche Felder zu konstruieren, und er hat damit mittelbar frei Ränder in der de Donder-Weylschen Theorie behandelt. Da von den in die jeweiligen Ansätze eingehenden n Funktionen bis auf die Einbettungsbedigungen (auf der Extremalen) n-1 Funktionen beliebig gewählt werden können, bieten sich hier Freiheitsgrade für die Konstruktion der jeweiligen Felder, die weiteren Forderungen genügen können, so daß die Leistungsfähigkeit der Felder sich entsprechen könnte. Wir wollen dem historischen Ablauf folgen und mit der Feldtheorie von CARATHÉODORY beginnen, die Weylsche Theorie anschließen, um dann die vereinheitlichte Lepagesche Feldtheorie zu diskutieren und kurze Ausblicke auf weitere Verallgemeinerungen geben. 7.2.1 Carathéodorys Determinanten Ansatz CARATHÉODORY griff die Thematik mehrfacher Integrale bereits 1917 in einem sehr kurzem Bericht Über die geometrische Behandlung der Extrema von Doppelintegralen11 auf und verfolgte von einem anderem Gesichtspunkt 10. Bulletin de l’Académie Belgique, classe des sciences, 5e serie, tome 31 (1945), 625-638. 11. Verhandlungen der Schweizer Naturforschenden Gesellschaft, 99. Jahresversammlung, Teil II, Zürich, 1917, 127-129; auch in: Gesammelte mathematische Schriften, Bd. 1, München, Beck, 1954, 371-373.
646
KAPITEL 7
die in den oben genannten Arbeiten behandelte Thematik. Er betrachte das Variationsproblem (1) J =
∫ ∫ F ( x, y, z, zx, zy ) dx dy
→ extremum,
für eine Fläche C : z = z(x, y), wobei er zunächst keine Randwerte vorschrieb. Danach führte er eine zweiparametrige Kurvenschar (Röhrenfeld) ein, (2) S(x, y, z) = λ, T(x, y, z) = µ,
die sich im Laufe der Untersuchungen als transversale Schar erweisen wird. Auf einer beliebigen Fläche C : z = z(x, y) schneide die Röhre ein Flächenstück A aus, für das das Variationsintegral (1) die Form hat (3) J =
F
∫ ∫A --∆- dλ dµ ,
∂( S, T ) dabei ist ∆ die Funktionaldeterminante ----------------- , wobei die Überstreichungen ∂( x, y )
andeuten, daß in (2) für z die Fläche z = z(x, y) gesetzt wurde. Damit dehnte CARATHÉODORY die Methode des steilsten Abstiegs, die er ein Dutzend Jahre zuvor in seiner Dissertation (1904) eingesetzt hatte (siehe Abschnitt 2.3.1), auf zweidimensionale Variationsprobleme aus. Ein Integralelement von (3) hat die Form ( ∆ ≠ 0 ) F ( x, y, z ( x, y ) ) ------------------------------------ dλ dµ ∆
und ist in einem festen Punkt (x, y) eine Funktion Φ von zx, zy : Φ = Φ (zx, zy). Wenn diese Funktion Φ in einem festen Punkt (x, y) ein Extremum haben soll, so muß dort notwendigerweise (4) Φ z ≡ ∆F z – F ∆ z = 0 , x
x
x
Φ z ≡ ∆F z – F ∆ z = 0 , y
y
y
gelten, und eine Legendresche bzw. Weierstraßsche Bedingung sichert dann tatsächlich schwache bzw. starke Extremalität. Verlangt man von der Schar (2) jetzt, daß sie beständig Röhren konstanten Querschnitts liefere, so wird F/∆ eine Funktion von λ und µ, wobei eine geeignete Transformation die Normierung F/∆ = 1 ergibt. Das führt neben der Normierungsbedingung und den modifizierten Gleichungen (4) auf (5) F = ∆, Fz = ∆z , x
x
AUSBLICKE AUF DIE MEHRDIMENSIONALE VARIATIONSRECHNUNG
647
Fz = ∆z , y
y
aus denen “man die ganze Variationsrechnung für Doppelintegrale mit geringer Mühe entwickeln kann”.12 Diese Methode hat CARATHÉODORY dann für eindimensionale Variationsprobleme im Frank/Mises, Die Differential- und Integralgleichungen der Mechanik und Physik (1925)13 im Kapitel “Variationsrechnung” dargestellt (vgl. Abschnitt 2.3.6); für mehrfache Integrale ist er erst in der Arbeit Über die Variationsrechnung bei mehrfachen Integralen14 1929 darauf zurückgekommen. Zwei frühere Arbeiten15 beschäftigten sich mit dem Formalismus kanonischer Transformationen, und diese der Feldtheorie ferner liegende Thematik beherrschte auch das gesamte erste Kapitel der genannten Arbeit von 1929. Erst im zweiten Kapitel beginnt die eigentliche Variationsrechnung und gelangt über die bekannte Argumentation für F/∆ bis zur Aufstellung einer Exzeßfunktion für gewöhnliche und kanonische Koordinaten (§§ 24 und 26). Geodätische Felder werden eingeführt, und es werden die entsprechenden Differentialgleichungen hierfür aufgestellt (§ 27): (6) F – ∆ = 0, (F = F(ti, xα, piα), i = 1, … , n; α = 1, … , ν ), ∂ ⎛F -------⎞ = 0 , ∂p ⎝ ∆⎠
bzw. (7) F = ∆ Fp
iα
∂∆ = ---------- , ∂p iα
oder in den von CARATHÉODORY definierten Größen Piα (kanonische Größen i
∂
i
i
∂
i
zu den piα), Φ (korrespondiert zu F) sowie Sα = --------α S , S j = ------j S ausge∂x ∂t drückt: i
i
(8a) S α = S j Pjα, i
(8b)Φ det⏐ S j ⏐ = 1
12. aaO., 129, bzw. S. 373. 13. Braunschweig, Vieweg, 1925. 14. Acta Szeged, 4 (1929), 193-216; auch in: Gesammelte mathematische Schriften, Bd. 1, München, Beck, 1954, 401-426. 15. “Über die kanonischen Variablen in der Variationsrechnung mehrfacher Integrale”, Mathematische Annalen, 85 (1922), 78-88; “Über ein Reziprozitätsgesetz der verallgemeinerten Legendreschen Transformation”, Mathematische Analen, 86 (1922), 272-275; beides auch in: Gesammelte mathematische Schriften, Bd. 1, München, Beck, 1954, 383-395, 396-400.
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KAPITEL 7
(§§ 13, 27). CARATHÉODORY nennt eine ν-parametrige Schar Si(t, x) = λi ndimensionaler Flächen (also die transversale Schar zu der Extremalenschar) ein geodätisches Feld, wenn sie den Gleichungen (6) bzw. (8) genügt. Schließlich wird gezeigt: Wenn ein geodätisches Feld eine Fläche transversal schneidet, so ist diese notwendig eine Lösung der Euler-Lagrangeschen Differentialgleichungen. CARATHÉODORY bemerkte, daß er das Problem der vollständigen Figuren im Mehrdimensionalen noch nicht lösen könne. Diese Darstellung war der Ausgangspunkt für die Feldkonstruktion von HERMANN BOERNER (1906-1982), der zudem in weiteren Arbeiten die mehrdimensionale Variationsrechnung mit Hilfe des Cartanschen Kalküls sehr durchsichtig dargestellt hat.16 CARATHÉODORY hat sich in einem Brief an MAX BORN (1882-1970) aus dem Jahre 1935 über seine Arbeiten zur kanonischen Form der Variationsprobleme geäußert und dabei auch deren möglichen Nutzen für die Physik in Betracht gezogen: “Durch eine Arbeit von Weyl,[17] die ich heute erhalten habe, sehe ich, dass Sie sich in einer Arbeit, die ich nicht kenne, des Hilbertschen unabhängigen Integrals für mehrfache Integrale bedient haben. Nach der Arbeit von Weyl zu urteilen, vermute ich, dass Sie die kanonischen Veränderlichen für diesen Fall,[18] die ich mit sehr viel Mühe vor 12 Jahren gefunden habe, nicht kennen. Meine Arbeiten sind leider nicht sehr gut geschrieben und gründen sich auf eine komplizierte Transformation. Es ist aber der richtige Ersatz für die Legendresche Transformation, die auch Weyl benutzt, und die hier wertlos ist. […] Es ist möglich, dass das eine oder andere meiner beiden Formelsysteme (das in der Acta Szeged ist formal das elegantere)[19] für die Physik von Nutzen sein kann.”20 7.2.2 Der Divergenzansatz von de Donder und Weyl THÉOPHILE DE DONDER (1872-1957) hatte 1913 in einer Arbeit Sur le théorème d’ invariance de Hilbert21 das Hilbertsche Unabhängigkeitsintegral 16. Boerners Feldkonstruktion und die Einbettung einer Extremalen für den Carathéodoryschen Ansatz findet sich in der Arbeit (Habilitationsschrift) “Über die Extremalen und geodätischen Felder in der Variationsrechnung der mehrfachen Integrale”, Mathematische Annalen, 112 (1936), 187-220. 17. H. Weyl, “Observations on Hilbert’s independence theorem and Born’s quantization of field equations”, The Physical Review, 46 (1934), 505-508. 18. C. Carathéodory, “Über die kanonischen Veränderlichen in der Variationsrechnung der mehrfachen Integrale”, Mathematische Annalen, 85 (1922), 78-88; sowie: “Über ein Reziprozitätsgesetz der verallgemeinerten Legendreschen Transformation”, Mathematische Annalen, 86 (1922), 272-275; auch in: Gesammelte mathematische Schriften, Bd. 1, München, Beck, 1954, 383-395, 396-400. 19. C. Carathéodory, “Über die Variationsrechnung bei mehrfachen Integralen”, Acta Szeged, 4 (1929), 193-216; auch in: Gesammelte mathematische Schriften, Bd. 1, München, Beck, 1954, 401-426. 20. Brief an Born vom 24.1.1935, Staatsbibliothek Berlin, Nl. Born 105. 21. Comptes rendus, 156 (1913), 868-870.
AUSBLICKE AUF DIE MEHRDIMENSIONALE VARIATIONSRECHNUNG
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in die mehrdimensionale Variationsrechnung übertragen, indem er Bedingungen nannte, die den Integranden, der Ableitungen bis zur zweiten Ordnung enthalte durfte, zu einem exakten Differential machten.22 HERMANN WEYL (18851955) hat 1934 in einer Note Observations on Hilbert’s independence theorem and Born’s quantization of fields equations23 einen ähnlichen Ansatz für ein invariantes Integral vorgeschlagen, der lediglich Ableitungen erster Ordnung im Integranden (Lagrange-Funktion) betrachtete und damit übersichtlicher war. In der 1935 folgenden Arbeit Geodesic fields in the calculus of variations for multiple integrals24 ging WEYL der von CARATHÉODORY inzwischen aufgeworfenen Frage nach, welchen Beziehungen es zwischen diesem Ansatz und seinem eigenen gebe (S. 607). Es handelt sich letztlich um die von JACQUES HADAMARD (1865-1963) bemerkten Eigentümlichkeit der mehrdimensionalen Variationsrechnung, daß es zahlreiche hinreichende Bedingungen in der Feldtheorie gebe,25 von denen man aber letztlich eine zum Nachweis benötige. Der Lepagesche Ansatz klärt den Sachverhalt der Vielfalt auf. Aber die Frage stellt sich, welches die angemessene Bedingung ist bzw. welcher Ansatz zu wählen ist. Hier liegt die Wurzel für BOERNERS Behauptung, daß die Carathéodorysche Theorie für freie Randwerte die Theorie der Wahl sei.26 WEYL hat für die drei Standpunkt, die man in feldtheoretischen Untersuchungen hinsichtlich der auftretenden Variablen einnimmt, folgende Symbolik benutzt (§ 3): i) Alle erscheinenden Variablen (in F oder Ω usw.) sind unabhängig. Dann werden die Ableitungen nach diesen Variablen durch entsprechende untere Indizes kenntlich gemacht. ii) Werden die Größen xiα durch ein Richtungsfeld ersetzt und somit Funktionen von t und x, dann werden die entsprechenden Ableitungen nach t und x durch runde ∂ gebildet. Es ist überdies gelegentlich zweckmäßig, diese Ersetzung in einer Funktion f(ti, xα, xiα) kurz durch die Beklammerung [f] anzuzeigen und auf die ausführlichere Form f(ti, xα, xiα(t, x)) mit der Angabe der Argumente zu verzichten. iii) Betrachtet man schließlich Funktionen auf Flächen C : x = x(t), dann werden die (partiellen) Ableitungen nach t durch steiles d bezeichnet.
22. aaO., 870. 23. Physical Reviews, 46 (1934), 505-508, 505. 24. Annals of Mathematics, 36 (1935), 607-629. 25. “Sur une question de calcul des variations” und “Sur quelques questions de calcul des variations”, Bulletin de la Societé Mathématique de France, 30 (1902), 253-256 und 33 (1905), 73-80. 26. Erstmals in H. Boerner, “Über die Extremalen und geodätischen Felder in der Variationsrechnung der mehrfachen Integrale”, Mathematische Annalen, 112 (1936), 187-220, Zitat S. 189, Fußnote 6; auch im Marburger Kolloquium im Februar 1939 nachdrücklich wiederholt.
650
KAPITEL 7
Wir werden diese Bezeichnungen auch in den Arbeiten anderer Autoren benutzen. WEYL ging von Flächen Si = Si(t, x), (i = 1, … , n), aus und bildete ein Integral über den Divergenzausdruck div S = ∂Si/∂ti, das mittels des Gaußschen Satzes in ein Randintegral verwandelt werden kann:
∫G divS dt
(1)
=
∫∂G Sn do ,
(n äußere Einheitsnormale).
Für feste Randwerte liefert das Randintegral stets denselben Wert, womit das Integral auf der linke Seite in der Tat ein invariantes Integral ist (S. 609). WEYL setzte div S = D. Ein Richtungsfeld (2) x i
α
α
= ξ i ( t, x ) ,
für das (3) F = D α (die Argumente sind ti, xα, x i ),
F
xi
α
= D
xi
α
gilt, heißt geodätisch. Für eine beliebige Fläche C läßt sich das verallgemeinerte (Weylsche) Unabhängigkeitsintegral nun so schreiben. (4) I ( C ) =
⎧
∫C ⎨⎩ F + Fx
α i
⎛ ∂x α ⎞⎫ α ⎜ --------i – x i ( t, x )⎟ ⎬dt , ⎝ ∂t ⎠⎭
und falls I(C) = J(C0) gilt, so folgt für die totale Variation (5) ∆J = J(C) - J(C0) = J(C) - I(C) = =
∫C ε dt
und hieraus das Weierstraßsche Kriterium, daß die Bedingung ε ≥ 0 bzw. ≤ 0 mit einem die in Rede stehende Extremale einbettenden Feld hinreichend für ein starkes Extremum ist, wobei (6) ε(ti, xα, dxβ/dt j, ξkγ) = F(ti, xα, dxβ/dt j) – F(ti, xα, ξjβ) – (dxα/dti – ξiα) F
xi
α
(t j, xβ ξkγ)
ist (S. 611). WEYL konstruierte dann zum einen im Kleinen mittels der Cauchyschen Charakteristikentheorie und zum anderen mit der Potenzreihenmethode ein einbettendes Feld (§§ 17-18, 21). Dazu ist die Hamilton-Jacobische Differentialgleichung i
∂S (7) -------i + H ( t, x, S x ) = 0 ∂t
AUSBLICKE AUF DIE MEHRDIMENSIONALE VARIATIONSRECHNUNG
651
mit der Hamiltonfunktion H = H(t, x, y) zu lösen. Bis auf die Einbettungsbedingungen (1.8a) können in (7) n-1 der n Funktionen Si beliebig gewählt werden. Die Gleichungen (8) x i
α
= – H α ( t, x, S x ) yi
bestimmen das geodätische Feld (S. 610). Der § 12 bringt einige interessante Gedanken über die Art der mehrdimensionalen Felder, die bereits in der vorangehenden Note über das Hilbertsche Unabhängigkeitsintegral27 erörtert worden waren (§§ 2, 4 und 6). WEYL erinnerte an den einfachsten Fall eines Variationsproblems für eine Funktion einer unabhängigen Variablen, wo man die Einbettung mit den dabei üblichen schlichten Feldern von Extremalen (fields of extremals) erledigt, die ein Richtungsfeld induzieren. WEYL begann daher auch im allgemeinen Fall mit einem schlichten Extremalenfeld und führte im Punkt (t, x) den Gradienten der durch ihn gehenden Feldextremalen C : x = x(t) ein: α
dx α (9) --------i = x i ( t, x ) . dt
Ein solches Gradientenfeld der Extremalen (gradient field of extremals) ist auch durch die Euler-Lagrangeschen Differentialgleichung bestimmt. Sei umgekehrt ein beliebiges geodätisches Feld gegeben. Dann wird man ein entsprechendes Feld von Flächen dazu nur dann finden, wenn (9) vollständig integrabel ist, d.h. wenn für alle i, k (i ≠ k) gilt 2 α
2 α
d xd x(10) -----------= -----------i k k i dt dt dt dt
α = 1, …, v ,
bzw. die entsprechende Beziehung für die rechten Seiten in (9) gilt. WEYL α α schlug vor, ein geodätisches Feld x i = x i (t, x), das der Euler Lagrangeschen Differentialgleichung ∂ β ∂ (11) ------i F α + x i --------β F α – F α = 0 , x ∂t xi ∂x xi
α = 1, …, v ,
genügt, extremales Richtungsfeld (extremal slope field) zu nennen, gleichgültig ob es voll integrabel sei oder nicht (S. 615). Diese Bemerkung ist von Wichtigkeit, weil hier jene Verallgemeinerungen einsetzen, die aus analytischer Sicht die starke Integrabilitätsforderung abschwächen oder die aus geometrischer Sicht die vollständige Figur im Sinn von CARATHÉODORY aufgeben. Analytisch läßt sich die Reduzierung noch weiter treiben, denn Integrabilität ist aus geometrischen Gründen lediglich auf der eingebetteten Extremalen erforderlich und nur die Extremale selbst, aber nicht das Feld muß die Gleichung (11) erfüllen.
27. Physical Reviews, 46 (1934), 505-508.
652
KAPITEL 7
WEYL folgerte aus seinem Feldbegriff weiter, daß wegen der zweimaligen stetigen Differenzierbarkeit von F(t, x, p), der Legendre-Transformation sowie der Feldbedingung (3b) aus i
∂S (12) yiα = F α = --------α xi ∂x
für alle α und β die Beziehung i
i
∂S ∂S - = ----------------, (13) ---------------α β β α ∂x ∂x ∂x ∂x
(i = 1, … , n),
bzw. die entsprechende Beziehung für die linke Seite yiα von (12) folgen müsse, sofern ein extremales Richtungsfeld vorliegen solle. Er bemerkte: Thus the essential modifications imposed upon the classical concept of an extremal field appeared as dropping off integrability [= (10)] and replacing it by the new conditions (25) [= (13)]. (p. 615) 7.2.3 Ein Vergleich der Ansätze im Hinblick auf freie Randwerte Es lohnt sich, CARATHÉODORYS Ansatz aus der Weylschen Sicht zu betrachten (§§ 8-10), d.h. die Verbindung mittels eines Hilbertschen Unabhängigkeitsintegrals zu erörtern.28 Das erweiterte Unabhängigkeitsintegral wird bei CARATHÉODORY mit dem Ansatz i
i
α
i ∂S ∂S dx ( t, x ) (1) D = det dS -------------------- = det ------k- + --------α -------k k ∂t ∂x dt dt
gebildet (n = 2 auf S. 646). Damit hat das Integral (2) I(C) =
∫C D dt
für alle Vergleichsflächen C mit fest vorgegebenen Randwerten den gleichen Wert; aber mehr noch: wenn S(t, x) = λ als Abbildung betrachtet wird, die ein Flächenstück Ct in Cλ überführt, wobei der Rand ∂Ct von Ct in den Rand ∂Cλ des Flächenstücks Cλ übergeht (d.h. ∂Ct und ∂Cλ liegen auf derselben “Röhre” von S-Flächen), so sind die entsprechenden Integrale (2) gleich: (3)
∫C D dt = ∫C t
D dλ . λ
Dieser Sachverhalt läßt sich so interpretieren: Durch den Rand ∂Cλ geht eine Röhre R aus S-Flächen, und für alle Vergleichsflächen C, deren Ränder ∂C auf R liegen, hat (2) denselben Wert. Damit lassen sich Freirandprobleme behandeln. Sei etwa R* eine Röhre, auf der (oder auf der teilweise) freie Randwerte zugelassen sind, und es liege (zumindest lokal) R so im Innern von R*, daß R und R* wenigstens den Rand ∂C0 der Extremalen gemeinsam haben. 28. Hilbert selbst hatte bereits in seinen Notizheften eine allgemeine Form des Unabhängigkeitsintegral im mehrdimensionalen Fall vorgeschlagen, Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung, Cod. Ms. D. Hilbert 600:3, S. 24 (vgl. Abschnitt 5.9).
AUSBLICKE AUF DIE MEHRDIMENSIONALE VARIATIONSRECHNUNG
653
Dann läßt sich der Weierstraßsche Darstellungssatz hierauf ausdehnen, sofern der Integrand des Variationsproblem für die zulässigen Vergleichsflächen “zwischen” R und R* das Vorzeichen nicht wechselt, was insofern keine schwerwiegende Einschränkung bedeutet, da der Integrand bereits beim Aufstellen des Unabhängigkeitsintegral innerhalb der Röhre R dieser Forderung unterworfen war: (4) ∆J = J(C) – J(C0) = J(C*) + J( C˜ ) – J(C0) = J(C*) – I(C0) + J( C˜ ) = J(C*) – I(C*) + J( C˜ ) =
∫C∗ ε dt + ∫C˜ F dt ≥ ∫C∗ ε dt ,
C* bezeichnet den durch die Röhre R ausgeschnittenen Teil von C (mithin ∂C*⊂ R), und C˜ bildet den restlichen ringförmigen Teil C \ C*, der zwischen R und R* liegt.
Abb. 7.1. Freie Randwerte für Flächen z = z(x,y); die Mannigfaltigkeit für die freien Randwerte ist durch ϕ = 0 gegeben. In der Carathéodoryschen Theorie bilden die S-Flächen Randmannigfaltigkeiten (Röhren) mit gleichem Integralwert.
Diese Eigenschaft hat insbesondere BOERNER lediglich der Carathéodoryschen Theorie zusprechen wollen, was aber nicht ganz zutreffend ist.29 Grob gesagt legt der Carathéodorysche Ansatz den S-Funktionen stärkere Bedingun-
29. H. Boerner, “Carathéodorys Eingang zur Variationsrechnung”, Jahresbericht der DMV, 56 (1953), 31-58.
654
KAPITEL 7
gen auf, was beispielsweise solche Röhrenflächen zur Folge hat, die bequem zur Definition der Transversalität benutzt werden können. Da der Weylsche Ansatz weniger von den S-Flächen fordert, also damit technisch besser zu handhaben ist und deshalb von den Physikern vorgezogen wurde, könnten durch weitere Forderungen an die Weylschen S-Funktionen, auch noch Transversalitätsforderungen erfüllt bzw. freie Randwert behandelt werden. Der theoretische Physiker THÉOPHILE DE DONDER hatte 1913 diesen Ansatz erstmals publiziert (allerdings in allgemeinerer Form mit zweiten Ableitungen) und MAX BORN hat in einer quantenmechanischen Arbeit On the QuantumTheory of the Electromagnetic Field30 eine einfachere Form dieses Ansatzes aufgegriffen und HERMANN WEYL hierdurch angeregt, einen solchen Divergenzansatz zu studieren.31
Abb. 7.2. Röhrenfeld und freie Randmannigfaltigkeiten in der Carathéodoryschen Theorie.
Analog der eben für den Carathéodoryschen Ansatz erläuterten Technik lassen sich offensichtlich auch für den Weylschen Ansatz auf einer Mannigfaltigkeit R* freie Randwerte behandeln, nämlich dann, wenn R* die zylindrische Röhre R = ∂G × R1 in ∂C0 berührt. HILBERTS begrifflich klare Fassung seines verallgemeinerten Unabhängigkeitsintegrals läßt diese Möglichkeit unmittelbar erkennen (vgl. Abschnitt 5.9) 7.2.4 Der Zusammenhang der beiden Ansätze In der belgischen Schule der Variationsrechnung hat insbesondere THÉOLEPAGE (1901-1991) mit Hilfe des Kalküls der alternierenden Differentialformen eine elegante algebraische Beschreibung aller möglichen
PHILE
30. Proceedings of the Royal Society, A 143 (1934), 410-437; auch in: Ausgewählte Abhandlungen, Bd. 2, Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, 1963, 486-513. 31. H. Weyl, “Observations on Hilbert’s Independence Theorem and Born’s Quantization of Field Equations”, Physical Review, 46 (1934), 505-508, und “Geodesic fields in the Calculus of variations for multiple integrals”, Annals of Mathematics, 36 (1935), 607-629.
AUSBLICKE AUF DIE MEHRDIMENSIONALE VARIATIONSRECHNUNG
655
Feldtheorien im Rahmen der “klassischen” Variationsrechnung ausgearbeitet (siehe folgenden Abschnitt 7.3.1), die in konstruktiver Sicht in der Rundschen Theorie erörtert werden (siehe Abschnitt 7.4.3). Der Ansatz von LEPAGE läßt sich problemlos auf differentialgeometrische und topologische Ansätze übertragen (siehe hierzu 7.4.4). Bevor wir diese Verallgemeinerungen untersuchen werden, wollen wir aus differentialgeometrischer Sicht den Zusammenhang der beiden Ansätze von CARATHÉODORY und DE DONDER sowie WEYL betrachten. ERNST HÖLDER (1901-1990) hat 1939 in einer wichtigen Arbeit Die infinitesimalen Berührungstransformationen der Variationsrechnung32 die Feldkonstruktion für die Carathéodorysche Theorie unter differentialgeometrischen Gesichtspunkten neu ausgeführt. Ein wesentliches Hilfsmittel war dabei eine gewisse Punkttransformation TH im t,x-Raum Rn+ν, die heute nach ihm benannt wird. Solche Transformationen führen Extremalen wieder in Extremalen ebenso wie Transversalen in Transversalen über (was eine Folge der Koordinatenunabhängigkeit des Variationsproblems ist). Die umkehrbar eindeutigen Punkttransformationen T im t,x-Raum Rn+ν lassen sich unter gewissen Voraussetzungen33 zu Berührungstransformationen Te bzw. TE in einem Raum Rn+ν +nν ausdehnen, d.h. der Transformation T wird punktweise durch seine Stellungen piα bzw. Piα ein Flächenelement e bzw. E zugeordent, das die Transformation T nun im Punkt (t, x) zusätzlich trägt, wobei insgesamt Flächenstreifen wieder in solche übergehen. Die ν-dimensionalen Flächenelemente e(t, x, p) der Extremalen und die n-dimensionalen Flächenelemente der Transversalen E(t, x, P) bleiben in ihrer transversalen Schnittbeziehung erhalten. Denn ein Integrand f eines Integrals geht unter der Transformation T in T ( f ) = Df über, wenn D (≠ 0) die einschlägige Funktionaldeterminante ist. Bezeichnen F bzw. ∆ die Integranden des Extremalintegrals bzw. des Unabhängigkeitsintegrals, so ist T ( F – ∆ ) = F – ∆ = D ( F – ∆ ), womit die Forderung an den äquivalenten Integranden F - ∆ ≥ 0, durch die die Transversalität (Minimalität der Differenz) punktweise definiert wird, auch nach der Transformation gültig bleibt. Die Gleichungen der Schar Si(t, x) = λi und die zugehörigen Stellungsgrößen Piα sind natürlich zu transformieren, aber die analytischen Beziehungen sind kovariant, d.h. sie haben im Hinblick auf den transformierten Integranden die alte Form. Von BOERNER (1936) und WEYL (1935) lagen Feldkonstruktionen für Carathéodorysche und de Donder-Weylsche vor.34 LÉON VAN HOVE bemerkte hierzu: 32. Jahresbericht der DMV, 49 (1939), 162-178. 33. Wir unterdrücken hier diese technischen Forderungen, die in einer Umgebung der Extremalen erhoben werden und letztlich auf Auflösungsbedingungen hinauslaufen, siehe aaO., 173. 34. Boerner, “Über die Extremalen und geodätischen Felder in der Variationsrechnung der mehrfachen Integrale”, Mathematische Annalen, 112 (1936), 187-220; Weyl, “Geodesic fields in the calculus of variations of multiple integrals”, Annals of Mathematics, 36 (1935), 607-629.
656
KAPITEL 7
En 1935, Weyl a construit un champ de la première espèce, enveloppant la variété xi = 0 supposée extrémale. Un an plus tard, Boerner enveloppait une extrémale quelconque dans un champ géodésique de Carathéodory; il utilise, comme Weyl l’avait fait, la méthode des caractéristiques de Cauchy, mais les calculs sont longs. Hölder simplifie la construction de Boerner par un changement de variables; il montre qu’on est ramené à construire un champ pour un problème d’intégrale simple.35 Wir wollen jedoch erwähnen, daß die Höldersche Transformation eine weitaus größere Tragweite als diese spezielle Anwendung besitzt. Der formale Apparat der Transformation findet sich bereits bei CONSTANTIN CARATHÉODORY und ALFRED HAAR (1885-1933),36 aber es war erst ERNST HÖLDER, der aus der Sicht der Lieschen Berührungstransformationen die Verbindung zwischen der Hamiltonschen und Lieschen Beschreibung der Strahlensystemen und Wellenflächen im Hinblick auf Variationsprobleme aufzeigte und insbesondere eine auftretende Funktion F als Liesche charakteristische Funktion einer eingliedrigen Gruppe von Berührungstransformationen erkannte, deren Bahnkurven mit den Extremalen des Variationsproblems zusammenfallen. Obwohl CARATHÉODORY HÖLDER bescheinigte, “hierdurch wird ein recht verwickelter Tatsachenbestand endgültig aufgeklärt”37, verfeinerte STEFAN HILDEBRANDT (geb. 1936) diese Sicht, indem er mit der Äquivalenz des Fermatschen und Huygensschen Prinzips das Bild bidual auffächerte. Bei HILDEBRANDT erscheinen Beschreibungen des gleichen Sachverhalts aus vier Blickwinkeln, die wir gedrängt hier zusammenstellen: i) Euler-Lagrange (bestimmt durch die Lagrangefunktion L(t, x, p)) Die Extremalen ergeben sich aus den Euler-Lagrangeschen Differentialgleichungen eines Variationsproblem mit der Lagrangefunktion L ohne Nebenbedingungen; die Transversalen erhält man aus den Carathéodoryschen Fundamentalgleichungen; Extremalen und Transversalen bilden Mayerfelder. ii) Hamilton (bestimmt durch die Hamiltonfunktion H(t, x, y)) Die Extremalen sind Projektionen der Lösungen des kanonischen Differentialgleichungssystems, die die Eulergleichungen eines Variationsproblems mit dem Integranden yx' - H ohne Nebenbedingungen bilden; die Hamilton-Jacobi35. 1935 hat Weyl ein Feld für den ersten Fall konstruiert, das die als Extremale vorausgesetzte Mannigfaltigkeit xi = 0 einbettet. Ein Jahr später hat Boerner eine beliebige Extremale in ein geodätisches Feld von Carathéodory eingebettet; er benutzte wie Weyl die Cauchysche Charakteristikenmethode, aber die Rechnungen sind lang. Hölder vereinfachte die Boernersche Konstruktion durch einen Variablenwechsel; er zeigte, daß sich die Feldkonstruktion auf die eines einfachen Integrals zurückführen läßt. “Sur la construction des champs de Donder-Weyl par la méthode des caractéristiques”, Bulletin de l’Académie Royal de Belgique, 31 (1945), 278-285, Zitat S. 280. 36. Haar, “Über adjungierte Variationsprobleme und adjungierte Extremalflächen”, Mathematische Annalen, 100 (1928), 481-502; Carathéodory, “Über die kanonischen Veränderlichen in der Variationsrechnung der mehrfachen Integrale”, Mathematische Annalen, 85 (1922), 78-88. 37. Carathéodorys Rezension der Hölderschen Arbeit im Zentralblatt für Mathematik, 21 (1939), 414.
AUSBLICKE AUF DIE MEHRDIMENSIONALE VARIATIONSRECHNUNG
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sche Differentialgleichung bestimmt das transversale Feld, die charakteristische Kurven der partiellen Differentialgleichung fallen mit den Extremalen zusammen. iii) Huygens-Lie (bestimmt durch die Liefunktion F(t, x, v), F = 1/H) Die Extremalen sind Lösungen des Liesystems, welches sich als Eulergleichungen eines Variationsproblems mit dem Integranden vt' – F(t, x, v) mit einer Nebenbedingungen ergibt. Die Vessiotsche Gleichung beschreibt das transversale Feld. iv) Herglotz38 (bestimmt durch die Herglotzfunktion W(t, x, τ), W = 1/L) Die Extremalen sind Lösungen eines Herglotzsystems, welches mit den Eulergleichung eines Variationsproblems mit dem Integranden W mit einer Nebenbedingung zusammenfällt, das transversale Feld wird durch die charakteristischen Gleichungen ermittelt. Für weitere Einzelheiten siehe Hildebrandt, On Hölder's transformation oder die zusammenfassende Darstellung in Giaquinta/Hildebrandt, Calculus of variations, vol. 2.39 Die Höldersche Transformation TH greift eine Boernersche Idee aus dessen Feldkonstruktion auf, daß nämlich in der n-parametrigen Schar ν-dimensionaler Flächen Si(t, x) = λi, die die transversale Schar bilden sollen, n-1 der Flächen bis auf die unverzichtbaren Einbettungsbedingungen beliebig sind, also weitgehend willkürlich gewählt werden können. HÖLDER folgt BOERNER, ' macht aber die Si (t, x) = λi' (i' = 2, … , n) sofort zu neuen Koordinatenebenen; die Transformation besteht genauer aus: 1
TH : t1 = t , S
i'
i'
= t ,x = x.
Damit reduziert sich die partielle Differentialgleichung 1. Ordnung für die Si(t, x) auf eine Gleichung für lediglich eine Funktion. LEPAGE hatte diese Transformation im Rahmen seiner Theorie im Kalkül der alternierenden Differentialformen behandelt,40 und VAN HOVE hat in LEPAGES Darstellung bemerkt, daß die transformierte Differentialform (wir unterdrücken hier und im folgenden die Überstreichungen) Ω = dS1 ∧ dt2 ∧ … ∧ dtn
in den neuen Koordinaten auf zweifache Weise gedeutet werden kann, nämlich zum einen als Carathéodorysche Form (zu (3.1)) 38. Gustav Herglotz (1881-1953), Promotion 1902 in München, Habilitation 1904 in Göttingen, Professor in Göttingen, Wien und Leipzig. 39. Journal of Science of Tokyo University, 1 (1994) 1-24 bzw. Calculus of variations, vol. 2, ch. 10, 3, 565-604. 40. Für Erklärungen der benutzten Bezeichnungen des Cartanschen Kalküls siehe Abschnitt 7.2.2 und 7.3.
658
KAPITEL 7
ΩC = dS1 ∧ dS2 ∧ … ∧ dSn
mit Si' = ti''
und zum anderen als de Donder-Weylsche Form (zu (2.1)) ΩD = dSi ∧ (dt)i
mit Si' = const
( (dt)i bedeutet in dt fehlt dti ),
angesehen werden kann. VAN HOVE hat die zweite Auffassung weiter verfolgt und gezeigt, daß mit diesem speziellen de Donder-Weylschen Ansatz ein in Rede stehende Extremale eingebettet werden kann, genauer für die Höldertransformatierte Extremale läßt sich ein einbettendes de Donder-Weylsches Feld konstruieren, daß schließlich ein Carathéodorysches Feld wird, wenn man es auf die ursprünglichen Koordinaten zurückrechnet: Le champ obtenu [vérifié dS1 ∧ dt2 ∧ … ∧ dtn] est donc également géodésique; si nous revenons aux anciennes variables, il reste géodésique, mais cesse en général d'être un champ de De Donder-Weyl.41 Aus diesem Sachverhalt heraus, der Äquivalenz der Ansätze aufzeigt, folgt unmittelbar, daß die häufig als Vorzug der Carathéodoryschen Theorie herausgestellten Möglichkeit, allein freie Randwerte zu behandeln, nicht ganz zutreffen kann. Wir haben hiermit die beiden Eckpfeiler vorgestellt, auf denen der Bau der mehrdimensionalen Feldtheorie errichtet wurde. Hierbei hat sich insbesondere die belgische Schule um THÉOPHILE DE DONDER und THÉOPHILE H.J. LEPAGE hervorgetan, in der schließlich eine einheitliche Theorie entworfen wurde, die die beiden vorgestellten speziellen Ansätze umfaßt. LEPAGE hatte bereits 1933 begonnen, vermittels des Cartanschen Kalküls eine allgemeine Feldtheorie zu entwickeln. Zur Erinnerung: 1929 hatte CARATHÉODORY seine Feldtheorie nach der Skizze von 1917 entwickelt, zu der BOERNER 1936 die oben erwähnte Feldkonstruktion mit dem Einbettungsbeweis für die betrachtete Extremale geliefert hat. 1934 lag WEYLS Ansatz vor, die ausführlichere Darstellung nebst Einbettung einer betrachteten Extremalen in ein lokal konstruiertes Feld folgte ein Jahr später. Auf dem Internationalen Mathematikerkongreß in Oslo 1936 berichtete LEPAGE über die von ihm inzwischen geschaffene einheitliche Feldtheorie. Der Abstrakt im Tagungsband beginnt mit den Worten: Les champs géodésiques introduits par M. H. Weyl, dans l’étude des conditions d’extremum d’une intégrale multiple dépendant de plusieurs fonctions inconnues, différent des champs géodésiques de M. Carathéodory. La raison de cette différence s’explique aisément en utilisant la théorie des formes dif-
41. Das erhaltene Feld [das dS1 ∧ dt2 ∧ … ∧ dtn erfüllt ] ist damit ebenfalls geodätisch; wenn wir wieder zu den alten Variablen zurückkehren, bleibt das Feld geodätisch, aber hört im allgemeinen auf, ein de Donder-Weylsches Feld zu sein. “Sur les champs de Carathéodory et leur construction par la méthode des caracéristiques”, Bulletin de l’Académie Royal de Belgique, 35 (1945), 625-638, Zitat p. 637.
AUSBLICKE AUF DIE MEHRDIMENSIONALE VARIATIONSRECHNUNG
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férentielles symboliques.42 LEPAGES Theorie wird Gegenstand des folgenden Abschnitts 7.3 sein. 7.3 Lepagesche Felder Bei der Übertragung von einfachen Variationsproblemen auf solche mit mehreren unabhängigen Veränderlichen läßt sich der Cartansche Kalkül der alternierenden Differentialformen vorteilhaft einsetzen, da er eine elegante Verallgemeinerung der Integralrechnung auf mehrere Veränderliche zuläßt.43 Insbesondere für das Unabhängigkeitsintegral, das mit dem Stokesschen Satz (1)
∫Ω
∂C
=
∫ dΩ
(C Mannigfaltigkeit mit Rand ∂C )
C
in enger Verbindung steht, ist der Kalkül sachgemäß und führt schließlich auf eine elegante Darstellung der Theorie.44 7.3.1 Champs géodésiques Die Möglichkeiten des Cartanschen Kalküls in der Variationsrechnung mehrfacher Integrale hat erstmals THÉOPHILE H.J. LEPAGE ausgenützt, als er verschiedenen Feldtheorien der mehrdimensionalen Variationsrechnung vereinheitlichen wollte. Bereits in der frühen Arbeit Sur certaines formes différentielles extérieur et la variation des intégrales doubles45 von 1933 wird von LEPAGE auf diesen Kalkül zurückgegriffen. In der Arbeit Sur les champs géodésique du Calcul des Variations von 1936 bemerkte er: Pour arriver à ce but, j’utilise les méthodes de calcul des formes symboliques de différentielles; elles permettent, je pense, d’exposer toute la théorie de la manière la plus simple. Pour fixer les idées, et aussi pour simplifier quelque peu les notations, je considère une intégrale double du calcul des variations.46
42. Comptes rendus du Congrès international des Mathématiciens, Oslo 1936, tome 2, Conférences de Sections, Oslo, 1937, 47. “Die geodätischen Felder, die von Herrn H. Weyl in der Arbeit über die Bedingungen des Extremums eines mehrfachen Integrals, das von mehreren gesuchten Funktionen abhängt, eingeführt wurden, unterscheiden sich von den geodätischen Feldern des Herrn Carathéodory. Der Grund für diese Verschiedenheit ergibt sich ganz natürlich bei der Anwendung der Theorie der symbolischen Differentialformen [Cartanscher Kalkül]”. 43. Den Cartanschen Kalküls hat z.B. E. Kähler in seiner Monographie Einführung in die Theorie der Systeme von Differentialgleichungen, dargestellt (Leipzig, B.G. Teubner, 1934). 44. Die Gültigkeit des Stokesschen Satzes wird durchweg angenommen, d.h., wir legen solche Grundgebiete G und entsprechend berandete Mannigfaltigkeiten C zugrunde, für die der Satz gilt. 45. Comptes rendus, 197 (1933, 2), 1718-1720. 46. Bulletin de l’Académie Royale Belgique, 22 (1936), 716-729, 1036-1046, Zitat p. 718. “Um diesen Zweck zu erreichen, benutze ich die Methode des symbolischen Kalküls der Differentialformen; er erlaubt, meiner Meinung nach, die ganze Theorie in einfachster Weise darzustellen. Um den Vorstellungen eine bestimmte Richtung zu geben und auch um ein wenig die Bezeichnungen zu vereinfachen, betrachte ich ein Doppelintegral der Variationsrechnung”.
660
KAPITEL 7
LEPAGE bediente sich hier noch des zweidimensionalen Falles als eines exemplarischen Beispiels, was zu Beginn des 20. Jahrhunderts durchaus üblich war (man denke z.B. an das 23. Problem in HILBERTS Pariser Vortrag). Der entscheidende Punkt in den weiteren Ausführungen ist die Tatsache, daß LEPAGE erkannt hat, daß das Hilbertsche Unabhängigkeitsintegral algebraisch durch zwei Kongruenzbedingungen charakterisiert werden kann.47 Wir betrachten hierzu als Beispiel ein eindimensionale Variationsproblem für Kurven C : x = x(t). Das entsprechende Variationsintegral: (2) J C =
∫ f ( t, x
α
α , x· ) dt ,
(α = 1, … , ν) ,
C
ist durch die Differentialform (3) ω = f(t, x, p) dt
im t,x,p-Raum ℜ2ν + 1 bestimmt. Anstelle von JC wird formal ∫ω betrachtet. Das Extremalenfeld wird durch die Lösungen C : x = x(t) des Pfaffschen Systems (4) ωα ≡ dxα − pαdt = 0,
(α = 1, … , ν),
mit einem entsprechenden Richtungsfeld pα = pα(t, x), (α = 1, … , ν), beschrieben. Nun kann man ω durch eine allgemeinere Differentialform Ω mit folgender Beschaffenheit ersetzen, ohne die Lösungsmannigfaltigkeit des Problems zu verändern. Man geht zu einem äquivalenten Problem über: (5) Ω ≡ ω
(mod ω1, … , ων)
bzw. (5a) Ω = ω + Aα (t, x, p) ωα + Aαβωαωβ + …
(Summationsabkommen). Ω ist dabei genau dann die zu einem Hilbertschen Unabhängigkeitsintegral gehörige Differentialform, wenn sie die Gestalt (6) fdt + Aα (dxα − pαdt).
aufweist. Der Ansatz (5a) liefert damit ein Unabhängigkeitsintegral, wenn in ihm (7) A α = f
p
α
(α = 1, … , ν)
47. aaO., No. 7 und 9.
AUSBLICKE AUF DIE MEHRDIMENSIONALE VARIATIONSRECHNUNG
661
gewählt wird und die restlichen Koeffizienten der ω verschwinden. LEPAGE hat nun bemerkt, daß die Bedingung (7) gleichwertig zu der algebraischen Forderung (mod ω1 , … , ων),
(8) dΩ ≡ 0
ist bzw. zu (8a) dΩ ≡ ( df
p
α
– f α dt ) ω α . x
Eine Differentialform Ω, deren Differential dΩ verschwindet, heißt geschlossen und ihr Differential selbst total. Substituiert man in Ω ein beliebiges Richtungsfeld pα = pα(t, x), (α = 1, … , ν), was durch eckige Klammern notiert wird, und verlangt man weiter, daß [Ω], (5a), mit den gewählten A für dieses Richtungsfeld ein totales Differential sei, (9) d [Ω] = 0,
so würde LEPAGE ein solches Richtungsfeld pα = pα(t, x), (α = 1, … , ν), geodätisch (champ géodésique) nennen. Die zugehörige Extremalenschar verallgemeinert offensichtlich das Mayerfeld (champ du Mayer), da von der Integrabilität des Feldes keine Rede mehr ist. Allerdings muß die betrachtete Extremale C0 : x = x0(t) sich in das Feld einbetten lassen, das betrachtete Richtungsfeld muß also wenigstens auf C0 integrabel sein (aber nicht auf anderen Extremalen). LEPAGE definiert für den von ihm zunächst ins Auge gefaßten zweidimensionalen Fall (Variationsproblem (2.1.1)) mit dem Richtungsfeld [pα, qβ], (α, β = 1, … , ν),48 das verallgemeinerte Feld so: Tout champ [pα, qβ], intégrable ou non, pour lequel la forme [Ω] est une différentielle totale (symbolique) exacte, c'est-à-dire pour lequel on a d[Ω] = 0,
sera appelé champ géodésique relatif à la forme Ω .49 Daß die Lepagesche Erweiterung sinnvoll ist, zeigt der Sachverhalt, daß in einem derartigen Feld, das die betrachtete Extremale C0 einbettet, ein verallgemeinerter Weierstraßscher Darstellungssatz für die totale Variation gilt: 48. Lepage kürzt hierdurch das durch die pα und qβ , (α, β = 1, … , ν), bestimmte Richtungsfeld ab; in ausführlicherer Notation wäre pα = p1α und qβ = p1β zu schreiben. 49. Sur les champs géodésiques du Calcul des Variations, in: Bulletin de l’Académie Royale Belgique. 22 (1936) 716-729, 1036-1046, Zitat p. 726. “Jedes Feld [pq], integrabel oder nicht, für welches die Form [Ω] ein (symbolisches) totales Differential ist, d.h., für das d[Ω] = 0 gilt, wird geodätisches Feld zur Form Ω genannt”.
662
KAPITEL 7
∫ ε ( t, x, p, p ) dt .
(10) J C – J C = 0
C
C ist eine im Feld verlaufende Vergleichsfläche, und der Extremalen C0 werden die Werte des Richtungsfeldes anstelle ihrer eigenen Ableitungen zugeordnet. Wir zitieren hierzu aus LEPAGES entscheidender Arbeit von 1936: Parmi toutes les formes Ω ≡ ω (mod ω1, … , ων) toutes celles pour lesquelles on prend Xα = fqα , … , Yα = − fpα ,
α = 1, 2, … , ν,
les Aαβ demeurant arbitraires, donnent lieu à la congruence dΩ ≡ 0 (mod ω1, …, ων ).50 (Die X und Y sind Koeffizienten von dx und dy in Differentialformen θα, (α = 1, … , ν), mit denen LEPAGE die Form Ω darstellte: Ω = f dx dy + ωαθα). LEPAGE bemerkte, daß sich die Einsicht ((5) bzw. (8)) ausgezeichnet eignet, um Variationsprobleme ins Mehrdimensionale auszudehnen; PAUL DEDECKER (geb. 1921) spricht hier von une congruence mystérieuse.51 Allgemein wird das Hilbertsche Unabhängigkeitsintegral ∫ Ω bei LEPAGE G
im Kalkül der alternierenden Differentialformen aus einem Differential der Art (11) Ω = Fdt1 ∧ … ∧ dtn – (–1)i F
ik
pi
α
ω α ∧ d(i) – (–1)i+k A αβ ω α ∧ ω β ∧ d(ik) + …
(Summationsabkommen jetzt für alle doppelt erscheinenden griechischen bzw. lateinischen Indizes: α, β = 1, … , ν; i, k = 1, … , n ≥ 2 ) hergeleitet. Dabei sind die höheren Glieder in den ωα, α = 1, … , ν, weggelassen. Es bedeuten im Einzelnen d(i) = dt1 ∧ …. ∧ dti−1 ∧ dti ∧ dti+1 ∧ … ∧ dtn, (12) d(ik) entsprechend, usw. für die in (11) weggelassenen Ausdrücke,
ωα = dxα − piαdti. ik
Die Größen A αβ , die Funktionen von t, x und p sind, werden schiefsymmetrisch notiert: ik
ki
(13) A αβ = – A αβ ,
ik
ik
A αβ = – A βα .
50. aaO., 721. “Unter allen Formen Ω ≡ ω (mod ω1, … , ων) führen diejenigen, für die man Xα = fqα , … , Yα = − fpα , α = 1, 2, … , ν, nimmt, die Aαβ sind übrigens beliebig, auf die Kongruenz dΩ ≡ 0 (mod ω1, … , ων)”. 51. L’étude de ceux-ci permet de saisir la signification des congruences introduites par Lepage et qui pouvaient paraître comme une sorte de deus ex machina. “Calcul des variations et topologie algébrique”, Mémoires de la Société Royale des Sciences de Liège, Liège, 1957. Quatrième série. Tome XIX, fasc. I, 1-216, Zitat p. 9.
AUSBLICKE AUF DIE MEHRDIMENSIONALE VARIATIONSRECHNUNG
663
Die Form (11) ist bereits so angesetzt, daß die Kongruenzen (5) und (8) auch im mehrdimensionalen Fall erfüllt werden. Um in der wie im eindimensionalen Fall üblichen Art zu einem Richtungsfeld im betrachteten Gebiet G zu kommen, müßte man eine ν-parametrige Extremalenschar (14) xα = xα (t1, … , tn, λ1, … , λν),
(α = 1, … , ν ),
die das Gebiet G schlicht überdeckt und für die damit also 1
v
∂( x , …, x ) (15) ------------------------------- ≠ 0 in G ∂( λ 1, …, λ v )
gilt, auswählen. Durch die partiellen Ableitungen nach den Variablen ti der Extremalen (14) wird jedem Punkt (t, x) aus G eine Richtungsgröße piα = piα(t, x) zugeordnet. Weil sich wegen (15) die Schar (14) lokal nach dem Parameter auflösen läßt, haben wir auch (16) λα = λα (t, x,),
(α = 1, … , ν ),
und damit kann das Richtungsfeld piα = piα(x, y) analytisch als Ortsfunktion aufgeschrieben werden: α
α
∂x ( t, x ( t, λ ) ) ∂x ( t, x ) -. = -------------------(17) piα = --------------------------------i i ∂t ∂t λ = λ ( t, x )
Die Verallgemeinerung von LEPAGE im mehrdimensionalen Fall zielt darauf ab, von dem Richtungsfeld (17) keine Integrabilität zu verlangen. Diese ließe sich durch die Koeffizienten A von (11) ausdrücken, aber LEPAGE verlangt 1936 von den A lediglich, daß durch ihre Wahl d[Ω] verschwindet bzw. daß das Richtungsfeld die Form Ω zu einer geschlossenen macht. LEPAGE führte in der Arbeit von 1942 Champs stationaires, champs géodésiques et formes intégrables52 schließlich stationäre Felder ein. Er bezeichnete jetzt damit alle Felder, die eine Form Ω integrabel machen, d.h. für die (18) d[Ω] = 0
gilt (S. 77). Er griff dabei in der Benennung auf den Begriff der Stationarität der Differentialrechnung zurück. Ein Feld, das eine gewisse Form Ω integrabel macht, muß dies bei einer anderen Form Σ, die ebenfalls durch die Lepagesche Kongruenzen (entsprechend jenen (5), (8) und (9) im eindimensionalen Fall) bestimmt wurde, nicht tun, abgesehen von dem Fall n < 2 oder ν < 2, in dem es nur eine solche Form Ω gibt. In der durch diese Kongruenzen bestimmten Menge von Formen gibt
52. Bulletin de l’Académie Royale Belgique, 28 (1942), 73-92, 247-265.
664
KAPITEL 7
es jedoch eine spezielle Form Ω*, die sich durch minimalen Rang auszeichnet und die zur Carathéodoryschen Feldtheorie führt.53 LEPAGE verwendete in dieser, seiner letzten Arbeit zur Feldtheorie den von CARATHÉODORY geprägten Begriff geodätisches Feld (champ géodésique) jetzt nur für diese Form Ω*. 7.3.2 Boerners Beitrag Auf LEPAGES elegante Darstellung aufbauend hat HERMANN BOERNER54 die Vorteile des Kalküls auch bei der Behandlung des einfachen Variationsproblems benutzt (vgl. S. 660): J( C) =
∫C ω
=
∫ C f dt
→ extremum.
Er hat so LEPAGES Theorie in der Arbeit Variationsrechnung aus dem Stokesschen Satz55 nicht nur für diese Aufgabe in neuartiger Weise hergeleitet, sondern BOERNER hat auch für den mehrdimensionalen Fall durch die Konstruktion eines Feldes (im Kleinen) neue Gesichtspunkte eingebracht, die wir unten im Abschnitt 5.2 behandeln werden. Die Lepagesche Forderungen motivierte BOERNER etwas anders, indem er auf die benötigte Invarianz der Stokesschen Formel gegenüber zulässigen Parametertransformationen zurückgriff (S. 712). Die Kongruenzen (1) Ω ≡ ω
(mod ω1 , … , ων) ,
(2) dΩ ≡ 0
(mod ω1 , … , ων)
legen im eindimensionalen Fall (eine unabhängige Veränderliche) das Unabhängigkeitsintegral vollständig fest, während im mehrdimensionalen Fall unbestimmte Ausdrücke mit mehreren ων hinzutreten (was der Grund für die unterschiedlichen Feldtheorien in diesem Fall ist). PAUL FUNK56 (1886-1964) bezeichnete diese Kongruenzen (1) und (2) treffend als Anpassungsbedingungen. Aus algebraischer Sicht gehören vermöge (1) und (2) die Differentialformen Ω − ω und dΩ dem durch die Pfaffschen Formen ωi erzeugten Ideal ℑ im Ring ℜ der Differentialformen an.57 53. 2γ désignat la classe de la forme intégrable [Ω]. […] Dans un champ de Weyl γ est égal 2, dans un champ de Carathéodory γ est égal à 1. “Sur les champs géodésiques des integrales multiples du calcul des variations”, Comptes rendus du Congrès international des Mathématiciens Oslo 1936, Bd. 2, Oslo, 1937, 48. 54. Hermann Boerner, 1924-1928 Studium in München, Göttingen, Berlin und Leipzig, Promotion bei L. Lichtenstein 1931, Dozent in München 1936 (Habilitation “Über die Extremalen und geodätischen Felder in der Variationsrechnung der mehrfachen Integrale”, Mathematische Annalen, 112 (1936), 187-220), 1943 apl. Professor München. Nachruf von J. Heinold und A. Kerber, Jahresbericht der DMV, 86 (1984), 109-114. 55. Mathematische Zeitschrift, 46 (1940), 709-719. 56. Paul Funk, Variationsrechnung und ihre Anwendung in Physik und Technik, Berlin, Springer, 1962, 415. 57. Siehe hierzu E. Kähler, Einführung in die Theorie der Systeme von Differentialgleichungen, Leipzig, B.G. Teubner, 1934.
AUSBLICKE AUF DIE MEHRDIMENSIONALE VARIATIONSRECHNUNG
665
Wie sieht die Lepagesche Definition eines Feldes bei BOERNER aus? Die Feldkurven bestimmen sich im eindimensionalen Fall aus dem System (1.4), α
(3) ωα ≡ dxα − pαdt = 0
d-------x α = p ( t, x ) , dt
bzw.
(α = 1, … , ν),
wo die pα(t, x) Gefällefunktionen sind. Ersetzt man in irgendeinem Ausdruck des t,x,p-Raumes (in einem ℜ2ν+1) die unabhängige Variable p durch eine Funktion von t und x (also durch eine Gefällefunktion bzw. ein Feld), so ergibt sich ein Ausdruck im t,x-Raum (in einem ℜν+1), und dieser Übergang wird üblicherweise durch eckige Klammern notiert. BOERNER hob unter den Feldern diejenigen hervor, die geodätisch sind: “Die Eulerschen Gleichungen ergaben sich, indem dieses Differential [von Ω] gewissermaßen längs einer Kurve zum Verschwinden gebracht wurde. Man gelangt zu hinreichenden Bedingungen für das Minimum, wenn man solche Felder betrachtet, daß dieses Differential in einem Gebiet des ℜν+1 [des t,xRaumes] verschwindet. Man nennt ein Feld ein geodätisches Feld, wenn d[Ω] = 0, d.h. [Ω] ein vollständiges Differential ist. Es ist df α p d [ Ω ] = [ … ] = ⎛ --------- – f α⎞ dtω α + ⎝ dt x ⎠
⎛ df p β
df α⎞ p
- – ---------⎟ ω α ∑ ⎜⎝ -------α β dx dx ⎠
∧ ω β .”58
α 1) ergeben, gehe ich später noch ein. Weshalb interessiert man sich für vollständige Figuren bzw. für diese Felder? Deren Nützlichkeit hatten unsere Ausführungen über den Königsweg von CARATHÉODORY aus der analytischen Sicht bereits aufgewiesen, da äquivalente Variationsprobleme – die letztlich über das Feld definiert werden – besonders übersichtliche Extremalitätsaussagen ermöglichen. Geometrisch läßt sich die Bedeutung eines Extremalenfeldes nebst zugehörigen Transversalen anhand der Gaußschen Koordinaten u,v auf einer Fläche eindrucksvoll veranschaulichen. Ich folge der Darstellung von GASTON DAR14 BOUX (1842-1917) in den Leçons sur la théorie des surfaces (1887) . Die jeweiligen Parameterlinien u = const und v = const sind lokal kürzeste Linien auf der Fläche. Mit dem Linienelement ds in den geodätischen Gaußschen Koordinaten u, v bzw. mit (10) ds2 = du2 + m2dv2
folgt innerhalb des durch die Koordinaten erfaßten Gebietes, d.h. innerhalb des Feldes, als Länge J(C) einer beliebigen, A und B verbindenden Vergleichskurve C
14. Paris, Gauthier-Villars, 1887.
702
(11) J ( C ) =
ANHANG B
∫A
2
2
2
du + m dv .
Innerhalb des Feldes liege kein Schnittpunkt der Koordinatenlinien. In Jacobischer Terminologie heißt das, daß keine konjugierten Punkte vorhanden sind. Da die geodätische Linie C0 etwa durch die Koordinatenlinie v = const definiert werden kann, hat man weiterhin: (12) J ( C 0 ) =
B
∫A
2
du .
Also gilt (13) ∆J = J(C) − J(C0) =
B
∫A [
2
2
2
2
du + m dv – du ] ≥ 0,
bzw. der auf der Fläche von A nach B längs einer Geodätischen genommene Weg ist in der Tat der kürzeste.
Abb. A9. a) Der „schöne Lehrsatz“ aus dem Manuskript der Disquisitiones generales von Gauß; b) Der durch Kneser in der Variationsrechnung verallgemeinerte Sachverhalt in dessen symbolischer Darstellung (Extremalen als Gerade).
Wenn weiterhin auf der Fläche lauter kürzeste Linien von gleicher Länge l zum einen von einem Punkt Q der Fläche aus oder zum anderen von einer Kurve K unter einem rechten Winkel aus gezogen werden, so ergeben die Endpunkte dieser Strecken eine Linie Kl , die die kürzesten Linien unter einem rechten Winkel schneidet und eine transversale (d.h. orthogonale) Koordinatenlinie zu den Geodätischen ist. Diesen Sachverhalt finden wir bei CARL FRIEDRICH GAUß (1777-1855), der ihn einen “schönen Lehrsatz” nannte, und zwar bereits in einem Manuskript von 1825 (also drei Jahre vor dem Druck der Disquisitiones generales circa superficies curvas, 1828); für allgemeine Variationsprobleme hat ihn ADOLF KNESER 1900 in seinem Lehrbuch der Variationsrechnung aufgestellt. Allgemeiner als in unserem Beispiel, (13), gilt für die totale Variation ∆J: In jedem Feld haben wir für beliebige Vergleichsfunktionen C, die ganz inner-
ANHANG
703
halb dieses Feldes von A nach B verlaufen, die fundamentale Weierstraßsche Darstellung (14) ∆J = J(C) – J(C0) =
∫C ε dt .
Die Exzeßfunktion ε wird dabei aus dem Integranden gebildet, wobei in sie nur Werte der Vergleichsfunktion sowie Feldfunktionen eingehen; die Extremale C0 selbst erscheint in der totalen Variation nicht mehr. Genauer haben wir für die Exzeßfunktion: (15)
ε = L – [L] – ( x· – ψ ) [ Lp ] ,
und ich werde Ihnen gleich HILBERTS Beweis hierfür mitteilen. Die Schreibweise [L] zeigt an, daß die Funktion L(t, x, p) im Feld ψ(t, x) betrachtet wird: [L] = L(t, x, ψ(t, x)). Mit Hilfe der Exzeßfunktion, (15), kann das Vorzeichen der totalen Variation ∆J bestimmt werden. Ein hinreichendes Kriterium (WEIERSTRAß) liegt damit auf der Hand: “Für positive bzw. negative Exzeßfunktionen liegt im Feld starke Extremalität vor (und a fortiori auch schwache)”. Anmerkung: In der Optik haben wir aufgrund konvexer Strahlenflächen eine positive Exzeßfunktion. Zeitlich sind wir mit diesem Ergebnis im Jahre 1879, in dem die Darstellungsformel (14) in der berühmten Vorlesung von WEIERSTRAß über Variationsrechnung erstmals angegeben worden ist. Wie eine Durchsicht der beiden Weierstraßschen Vorlesungen aus den Jahren 1875 und 1877, die dieser vorausgingen, zeigt, hatte WEIERSTRAß in jenen Jahren klar erkannt, daß für reguläre Extremalen C0 : x = x0(t) (d.h. für C0 gilt δ2J(x0, ξ) > 0 für alle ξ ≠ 0) Extremalität nur dann gewährleistet werden kann, wenn sie im schwachen Sinn verstanden wird, während die Frage nach starken Extrema zunächst ein offenes Problem blieb. Wir haben hier einen Markstein der Variationsrechnung vor uns, der beispielsweise durch die dabei aufgeworfene Frage, was eine allgemeine Funktion sei, auch über die Variationsrechnung hinaus von Bedeutung ist. Die Klassen der Funktionen, durch die die engere bzw. weitere Nachbarschaft charakterisiert sind und die auf die schwache bzw. starke Extremalität führen, weisen bereits auf die aufkeimende Funktionalanalysis mit ihren Funktionenräumen hin. Die Entwicklung der Feldtheorie ist in dem Abhängigkeitsgraphen auf S. 694 skizziert. WEIERSTRAß selbst beschränkte sich auf den Fall einer gesuchten Funktion einer Variablen. Dabei nannte er ein Feld, bei dem alle Extremalen von einem Punkt P ausgehen, einen Flächenstreifen; wir würden von einem zentralen oder stigmatischen Feld sprechen. In modernen Darstellungen der Feldtheorie wird das allgemeine Feld für eine gesuchte Funktion
704
ANHANG
einer Variablen, bei dem die Extremalen von einer Kurve anstelle eines gemeinsamen Punktes ausgehen, ERNST ZERMELO (1871-1953) zugeschrieben, der es in seiner Dissertation (1894) beschrieb und hierzu den Kunstgriff eines “vorgezogenen Ausgangspunktes” durch einen auf der in Rede stehenden Extremalen wenig vor P befindlichen Punkt P* benutzte. Dieser Trick machte aus einem zentralen Feld für den Ausgangspunkt P* ein allgemeines Feld hinter P*. Allerdings hatte schon FERDINAND RUDIO (1856-1929) einen ähnlichen Sachverhalt 1881 in seiner Habilitationsschrift angeführt. Letztlich geht der allgemeine Feldbegriff aber auf Seminare von WEIERSTRAß zurück, und die von RUDIO und ZERMELO benutzten Kunstgriffe spiegelen den Fortgang der einschlägigen Weierstraßschen Vorlesungen in Seminaren wider, hier im Hinblick auf die Ausdehnung des Feldbegriffs. In der Geschichtsschreibung wurde ebenfalls die Tatsache übersehen, daß auch HERMANN AMANDUS SCHWARZ mit allgemeineren Feldern für eine gesuchte Funktion gearbeitet hat, nicht nur im Fall des Problems der Fläche kleinsten Inhalts (in der “Festschrift” von 1885), sondern auch in seinen Vorlesungen, von denen ich zwei aus den Jahren 1896 und 1898 in der Mitschrift von JOHN CHARLES FIELDS (1863-1932) gefunden habe. Es ist jener FIELDS, der die gleichnamige Medaille gestiftet hat und der als “Postdoc” die letzten Jahre des 19. Jahrhunderts in Berlin verbrachte und dabei zahlreiche Mitschriften (genau: 126 Vorlesungsmitschriften) aus dieser nicht nur für die Berliner Mathematik hoch interessanten Zeit angefertigt hat. Der Leipziger ADOLPH MAYER war dann derjenige, der Felder mehrerer gesuchter Funktionen einer Veränderlichen untersuchte. Während die an WEIERSTRAß anschließenden Entwicklungen von SCHWARZ, MAYER, BOLZA, KNESER oder CARATHÉODORY entweder von den Extremalen oder den Transversalen ausgingen und dabei mehr die geometrische oder mehr die analytische Seite der Feldtheorie ausbauten, führte HILBERT 1900 in die Untersuchungen einen weiteren Gesichtspunkt ein, der vielleicht am ehesten durch den Begriff “formal” zu charakterisieren ist. Im Königsweg von CARATHÉODORY, (3), war uns das Integral (18) I =
B
∫A dS
begegnet, das innerhalb eines gewissen Gebietes G vom Wege C unabhängige Werte lieferte, so daß für die zu untersuchende Extremale C0 gilt: (19) I(C) = I(C0).
Auch in der Darbouxschen Betrachtung, (12), erschien ein solches Integral I in der Form (20)
B
∫A
2
du .
ANHANG
705
Es handelt sich in beiden Fällen um einfache Beispiele für das sogenannte invariante oder Unabhängigkeitsintegral, das HILBERT in seinem berühmten Pariser Vortrag im August 1900 im 23. Problem vorgestellt hat und das er übrigens erst wenige Wochen zuvor in seiner Vorlesung über “Flächentheorie” gefunden hatte. Paßt man ein invariantes Integral I(C) an das Variationsintegral J(C) derart an, daß man für die Extremale C0 Gleichheit hat, (21) J(C0) = I(C0),
dann folgt für jede ganz im Unabhängigkeitsgebiet G (d.h. im Feld) von A nach B verlaufende Vergleichskurve C (22) ∆J = J(C) – J(C0) = J(C) – I(C0) = J(C) – I(C) =
∫C ε dt .
Das ist eine sehr kurze und elegante Herleitung der Weierstraßschen Darstellungsformel, deren Gültigkeit an die Unabhängigkeit des Integrals I(C) in G gebunden ist. Die Unabhängigkeitsforderungen für den eindimensionalen Fall und den Fall der Codimension 1 lassen sich für eine gesuchte Funktion in der von HILBERT im Vortrag skizzierten Weise leicht erledigen; für den Fall mehrerer gesuchter Funktionen benötigt man allerdings Mayerfelder. Dieser Sachverhalt wurde anfänglich von HILBERT unterschätzt, jedoch nach der Veröffentlichung von MAYERS erweitertem Feldkonzept (1903) auch von HILBERT selbst konstruktiv behandelt (1905). KNESER hat die Verbindung seiner Auffassung zu der von HILBERT vermöge der Transversalität aufgeklärt, entsprechende Briefe KNESERS aus dem Jahre 1900 befinden sich in Göttingen. Werfen wir abschließend noch einen kurzen Blick auf die mehrdimensionale Variationsrechnung von ν gesuchten Funktionen von n unabhängigen Variablen. Hier geht es im Rn+ν um die Bestimmung hochdimensionaler Extremalenfelder Cρ : x = x(t,ρ) sowie einer zugehörigen transversalen Schar S(t, x) = λ. Wenn wir diese Mannigfaltigkeiten Cρ durch Richtungsfelder ψ(t, x) mit α
∂x -------- = ψ iα ( t, x ) i ∂t
beschreiben, so verlangt die Existenz einer Schar im anschaulichen geometrischen Sinn analytisch gedeutet die Integrabilität der zugehörigen Richtungsfelder. Eine solche Bedingung ist analytisch eine ziemlich einschränkende Forderung, da für die Feldfunktionen ψiα (t, x) gelten soll: ∂ψ iα ( t, x ) ∂ψ kα ( t, x ) - = ------------------------, (23) ----------------------k i ∂t ∂t
(i, k = 1, … , n, i ≠ k ; α = 1, … ,ν) .
Auf der in Rede stehenden Extremalen C0 kann auf die Integrabilitätsbedingung natürlich nicht verzichtet werden, denn aus geometrischen Gründen müssen sich auf C0 die durch das Feld definierten Stellungsgrößen zu einer Fläche
706
ANHANG
schließen. Mit anderen Worten, wenigstens die Extremale C0 : x0 = x0(t) = x(t, 0) der Schar muß sich in das Richtungsfeld einbetten lassen: α
∂x 0 (24) --------i = ψ iα ( t, x ). ∂t
Was benötigen wir aber außerhalb dieser Extremalen C0? Sehen wir von der geometrischen Eigenschaft des Feldes ab, für ein Variationsproblem eine vollständige Figur zu liefern, so haben wir Freiheitsgrade für die Konstruktion eines Feldes gewonnen. Mehr noch, das gegebene Richtungsfeld muß sich keineswegs zu einer Fläche schließen bzw. integrabel sein. Akzeptieren wir diese formale Ansicht, dann lassen sich Richtungsfelder gegebenenfalls durch bequemere analytische Forderungen bestimmen, wobei die oben ausgeführten Überlegungen grundsätzlich bestehen bleiben können, so daß also insbesondere die zentrale Weierstraßsche Darstellungsformel weiterhin gültig sein und wiederum auf ein einfach zu handhabendes hinreichende Kriterium führen wird. In der mehrdimensionalen Feldtheorie sind verschiedene klassische Feldtheorien ausgearbeitet worden (DE DONDER (1872-1952) 1913; CARATHÉODORY 1917, 1924; WEYL (1885-1955) 1935; allgemein von THÉOPHILE LEPAGE (1901-1991) 1936) (siehe die tabellarische Aufstellung auf S. 709) und unter differentialgeometrisch-topologischen Gesichtspunkten haben PAUL DEDECKER (geb. 1921) 1953, ARNDT LIESEN (geb. 1939) 1967 , KRZYSZTOF GAWEDZKI (geb. 1947) 1970 sowie URSULA BRECHTKEN-MADERSCHEIDT (geb. 1940) 1972 die Idee des Hilbertschen Unabhängigkeitsintegrals bzw. einer geschlossenen Differentialform auf Mannigfaltigen übertragen. Den Verzicht auf die Integrabilität hat HERMANN BOERNER 1936 in seiner Habilitationsschrift ausgenutzt, um für den Carathéodoryschen Ansatz solche verallgemeinerte Felder zu konstruieren, für die noch die Weierstraßsche Darstellungsformel gilt. Diese Felder nannte BOERNER geodätisch. Für den De Donder-Weylschen Ansatz hat ROLF KLÖTZLER (geb. 1931) 1970 durch analytische Forderungen, bei denen letztlich ebenfalls auf Integrabilität verzichtet wird, sog. erweiterte Felder eingeführt und sie gleichfalls bis zur Konstruktion verfolgt. Schließlich haben in den 70er Jahren russische Autoren Felderweiterungen, wie sie KLÖTZLER vorgenommen hat, für die funktionalanalytische Behandlung von Variationsproblemen formal vorgeschlagen, ohne aber Felder selbst zu konstruieren (WADIM FEDOROWITSCH KROTOW (geb.1932), nach 1960).15 Eine ähnliche Erweiterung, die in natürlicher Weise aus der Unterhalbstetigkeit eines Kurvenfunktionals folgt, wie sie vor allem in den 20er Jahren von LEONIDA TONELLI systematisch entwickelt worden ist, um allgemeinere Funktionenklassen behandeln zu können, läßt sich auch in einer
15. Siehe etwa A.D. Ioffe, V.M. Tichomirow, Theorie der Extremalaufgaben, Berlin, DVW, 1979.
ANHANG
707
einschlägigen Arbeit von ANDRÉ ROUSSEL (1904-1992) aus dem Jahre 1926 finden. Aus verschiedenen Perspektiven heraus sind also mehrere Forschungsprogramme nebeneinander betrieben worden. Etwa um 1905, also bereits vor allen diesen Programmen, hatte DAVID HILBERT in seine mathematischen Notizhefte einen Eintrag gemacht, der unveröffentlicht geblieben ist. HILBERTS Zeilen nehmen den Gedanken einer erweiterten Feldtheorie vorweg: “Bemerkungen zu meiner Methode der unabhängigen Integrale in der Variationsrechnung. Wir gingen bei der Methode der unabhängigen Integrale von der Fragestellung aus, die Funktionen [für das Richtungsfeld] p,q derart zu bestimmen, dass der Wert des [invarianten] Integrals J∗ =
∫
{ F + ( z x – p )F p + ( z y – q )F q } dw
(Ω)
nur durch die Randkurve des Gebiets Ω und die daselbst vorgeschriebenen Werte von z vorgeschrieben sei, d.h. von der Wahl der Funktion z innerhalb Ω unabhängig werde. Stellen wir statt dessen nur die Forderung, dass jenes Integral J* für alle Funktionen z mit den nämlichen Randwerten einen grösseren Wert erhalte als für die vorgelegte Funktion, so treten an Stelle der partiellen Differentialgleichungen nunmehr die entsprechenden partiellen Differentialungleichungen. Da sich indessen an diese die nämlichen Schlussfolgerungen, wie vorhin knüpfen lassen, so zeigt sich schliesslich, dass das Kriterium nur die Lösung des Randwertproblems für partielle Differentialgleichungen verlangt. Die damit angedeutete Methode läuft darauf hinaus, das p,q-Feld derart einzurichten, dass die betreffende Funktion z das [invariante] Integral J* zu einem Minimum macht.”16 Worum geht es hier? Zu jedem invarianten Integral gehört ein Richtungsfeld. Die Feldfunktionen p = p(x, y), q = q(x, y) für den zweidimensionalen Fall, den HILBERT im Auge hat, werden so bestimmt, daß das invariante Integral für die betrachtete Extremale C0 minimal wird. Im Feld werden den Punkten einer geometrischen Mannigfaltigkeit M durch die Feldfunktionen p,q weiterhin gewisse Stellungsgrößen zugeordnet, aber diese Größen werden aufgrund der Hilbertschen Forderung im allgemeinen nicht mit den Tangentialelementen an M übereinstimmen. Entspricht in natürlicher Weise einem Punkt P einer stetig differenzierbaren Mannigfaltigkeit ein Tupel (x, y, z, zx, zy), das sein Tangentialelement bestimment, so wird diesem Punkt durch die Feldfunktionen formal ein Tupel (x, y, z, p(x, y), q(x, y)) zugeordnet. Eine solche Zuordnung, die die Tangentialelemente durch Feldgrößen ersetzt, wollen wir für eine
16. D. Hilbert, Mathematische Notizhefte, 3 Hefte, Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung, Cod. Ms. D. Hilbert 600:3, S. 24.
708
ANHANG
Mannigfaltigkeit M durch die Bezeichnung [M] kenntlich machen. Offenbar ist [C0] = C0, da die Extremale C0 ins Feld eingebettet ist. Gilt nun für das Unabhängigkeitsintegral I(C) nicht mehr die Invarianz-, sondern HILBERTS Minimalforderung, dann gilt anstelle der früheren Gleichheit für alle zulässigen Vergleichsflächen im Feld: I(C) ≥ I(C0)
bzw. ∆I ≥ 0 .
Jetzt folgt ∆J = J(C) – J(C0) = J(C) – I(C0) + I(C) – I(C) = J(C) – I(C) + ∆I ≥ J(C) – I(C) =
˜
∫C ε dt ,
oder kurz (25) ∆J ≥
˜
∫C ε dt .
ε
Ist nun die Exzeßfunktion positiv – und es spielt dabei keine Rolle, ob die den Vergleichsflächen zugewiesenen Tupeln Stellungsgrößen für Tangentialelemente sind oder nicht –, dann wird auch die totale Variation ∆J positiv sein. Definitionsgemäß verschwindet ∆J für die Vergleichsfläche C = C0, so daß wir in der Tat einen verallgemeinerten Weierstraßschen Darstellungssatz folgern können und das gewünschte hinreichende Kriterium zur Verfügung haben: Starke Extremalität innerhalb des Feldes liegt bei positiver bzw. negativer Exzeßfunktion vor.
ε
ANHANG
709
Tab. A2. Ein ungefährer Überblick über die Entwicklung der Feldtheorie bei mehrfachen Integralen
Treten wir am Ende einige Schritte zurück, um die historischen Überlegungen mit etwas Abstand überblicken zu können. Für eindimensionale Variationsprobleme einer gesuchten Funktion liefern hinreichend kleine Stücke einer regulären Extremalen (δ2J > 0) stets schwache Extrema (WEIERSTRAß 1875). Für den Nachweis starker Extremalität muß jedoch ein Feld konstruiert werden (WEIERSTRAß 1879). Lokal ist das für reguläre eindimensionale Variationsprobleme möglich, so daß der Weierstraßsche Darstellungssatz Aussagen über ein starkes Extremum erlaubt. Im Falle mehrerer gesuchter Funktionen einer Veränderlichen bedarf man eines Mayerfeldes, das aus der Lösungsmannigfaltigkeit der Euler-Lagrangeschen Differentialgleichungen mittels der sogenannten Lagrangeschen Klammern eine solche Mannigfaltigkeit aussucht, die nicht nur ein Extremalenfeld bildet, sondern zu der auch noch eine transversale Schar existiert (MAYER
710
ANHANG
1903). Die korrespondierenden geometrischen Anschauungen laufen auf den Carathéodoryschen Begriff der vollständigen Figur hinaus, die durch das Extremalenfeld sowie die zugehörige Schar der Transversalen gebildet wird. Für mehrdimensionale Variationsprobleme sind in der Regel die auftretenden hochdimensionalen Mannigfaltigkeiten analytisch schwer zu beherrschen, so daß man hier für mehrere gesuchte Funktionen zwar den Begriff der vollständigen Figur aufgibt, aber den Weierstraßschen Darstellungssatz beibehalten will. So wird das anschauliche geometrische Bild einer vollständigen Figur aufgelöst und durch formale analytische Forderungen nicht nur ersetzt, sondern verallgemeinert. Die eben beschriebene Abschwächung bezieht sich lediglich auf die Extremalenschar und läßt sich vielleicht schlagwortartig als Übergang von den geometrischen Vergleichsflächen C zu analytischen Gebilden [C] charakterisieren. Lassen sich für die zugehörige transversale Schar in gleicher Weise Abschwächungen vornehmen, d.h. läßt sich von S zu [S] übergehen? Meines Wissens ist eine solche Frage bislang noch nicht behandelt worden. Transversalität und freie Randbedingungen hängen eng zusammen, so daß sich der Nutzen einer derartigen Verallgemeinerung vor allem beim Behandeln von Variationsproblemen mit freien Randwerten zeigen würde. Auf solche Variationsprobleme bin ich nicht eingegangen, aber ich will am Ende andeuten, wie ich mir eine solche Erweiterung vorstelle. Wir legen zunächst der Einfachheit halber ein eindimensionales definites Minimalproblem zugrunde, der Integrand des Problems sei also positiv. Ein zur in Rede stehenden Extremalen gehöriges geodätisches Feld sei konstruiert, und S(t, x) = λ bezeichne die transversale Schar dieses Feldes. Soll sich nun die Extremale C0 auf einer Randmannigfaltigkeit R frei bewegen können, so sind die Integralwerte der Vergleichskurven C, deren Rand ∂C zum Rand von ∂C0 benachbart ist, mit dem Integralwert der Extremalen C0 zu vergleichen. Das von einem festen Punkt A zu einem variablen Punkt P auf der transversalen Schar mit dem Parameter λ erstreckte Integral (29) J ( C ) =
P(λ)
∫A
L dt
wird infolge des positiven Integranden mit wachsendem λ selbst auch größer werden. In den von BOERNER und KLÖTZLER ausgearbeiteten Theorien nimmt man nun an, daß die durch den Rand ∂C0 der Extremalen gehende und durch λ* bestimmte Transversale S* dort von der freien Randmannigfaltigkeit R berührt wird, wobei weiter vorausgesetzt wird, daß der freie Rand R nur Transversalen mit λ > λ* schneiden kann (vergl. Abbildung 7.2). Also ergeben Verschiebungen auf dem freien Rand R stets positive Integralzuwächse, denn eine Verschiebung des Randes ∂C der Extremalen auf derselben Transversalen bewirkt keine Änderungen, aber auf dem “Zwischenstück” von der Transversalen bis
ANHANG
711
zum freien Rand R, ergeben sich für die totale Variation ∆J aufgrund des positiven Integranden stets positive Zuwächse. Weil unter diesen Annahmen die totale Variation nur dann verschwindet, wenn der Rand ∂C der Vergleichskurve C auf dem freien Rand R liegt und die Vergleichskurve C selbst Extremale ist, kann das Berühren der Transversalen durch den freien Rand R als naturgemäße Entsprechung für Transversalität angesehen werden.
Abb. A. 10. Freie Ränder und allgemeine Transversalität. R ist der freie Rand und K eine beliebige Kurve, die R in ∂C0 berührt.
Die Vorteile, die eine Abschwächung der Transversalität liefern könnte, ergeben sich aus dem Sachverhalt, anstelle der Transversalen als geometrische Objekte (im traditionellen Sinn), die für mehrdimensionale Probleme eine Transversalenröhre bilden, ein im analytischen Sinn weniger eingeschränktes transversales Feld zu benutzen. Ein solches (mehrdimensionales) transversales Feld müßte lediglich auf dem Rand ∂C0 der Extremalen C0 integrabel sein, bzw. nur dort müßten die Transversalen der Hamilton-Jacobischen partiellen Differentialgleichung genügen, ansonsten brauchten sie nur die Carathéodoryschen Fundamentalgleichungen (8) zu erfüllen. Beispielsweise ließe sich zwischen die durch den Rand der Extremalen ∂C0 gehende Transversale S* und den freien Rand R eine beliebige Kurve K einschieben, auf der der Rand ∂C der Vergleichskurven anstatt auf R verschoben wird. Den Punkten von K werden natürlich anstelle ihrer Stellungsgrößen die Werte der transversalen Feldfunktionen zugeordnet. Mithin hätten wir hier gegebenenfalls die Möglichkeit, eine gegenüber der Transversalen S* und dem freien Rand R besser beherrschbare Mannigfaltigkeit K einzuführen.
712
ANHANG
Mit dieser lediglich angerissenen offenen Frage für Variationsprobleme mit freiem Rand habe ich die Mathematikgeschichte verlassen, und schon daher ist es angebracht, meine mathematikhistorischen Betrachtungen abzuschließen. FRIEDRICH NIETZSCHE (1844-1900) hat gegenüber historischen Betrachtungen einmal den Vorbehalt gemacht: “Nur insoweit Historie dem Leben dient, wollen wir ihr dienen.”17 Bescheidener dürfen wir für unsere Absichten “Leben” durch “Mathematik” ersetzen und die Historie darauf beziehen. In diesem Sinne würde ich mich als Mathematikhistoriker freuen, wenn Sie in meinen Ausführungen eine Bestätigung der Bemerkung CONSTANTIN CARATHÉODORYS sehen könnten, die er 1936 in einem Vortrag anläßlich einer Tagung zum 300jährigen Bestehen der Harvard University gemacht hat: I will be glad if I have succeeded in impressing the idea that it is not only pleasant and entertaining to read at times the works of the old mathematical authors, but that this may occasionally be of use for the actual advancement of science.18 Lassen Sie mich schließlich noch die Schlußworte meines Vortrags “Wie und zu welchem Ende studiert man Geschichte der Mathematik”19 wiederholen, in denen ich 1990 hier in Hamburg anläßlich der Tagung zum 300jährigen Bestehen der Hamburger Mathematischen Gesellschaft sagte, daß die gerade erwähnte Bedingung von FRIEDRICH NIETZSCHE sich in HENRI POINCARÉS (1854-1912) Überzeugung widerspiegele: “Die Zukunft der Mathematik erschließt sich aus dem Studium der Vergangenheit und den gegenwärtigen Bedingungen des Wissens selbst”. Ich endete daher so: “Wer Verantwortung für die Mathematik tragen will, kann ein Studium ihrer Geschichte nicht verwerfen”. Dem habe ich auch heute nichts hinzufügen.
17. F. Nietzsche, “Vom Nutzen und Nachteil der Historie”, Werke (hrg. G. Colli und M. Montinari). Bd. 1, Berlin, de Gruyter, 1972, 241-281. 18. C. Carathéodory, “The beginning of research in the Calculus of Variations”, Osiris, 3 (1937), 224-240; auch in: Gesammelte mathematische Schriften, Bd. 2, München, Beck, 1955, 93-107, Zitat S. 101. 19. Mitteilungen der Mathematischen Gesellschaft in Hamburg, 12, 4 (1991) 1093-1106 (Festschrift zum 300 jährigen Bestehen der Gesellschaft).
CHRONOLOGIE einiger wichtiger Daten
Die Werke der Alten sind der Nordstern für jedes künstlerische und literarische Streben. Geht der auch unter, so seid ihr verloren. ARTHUR SCHOPENHAUER, Aphorismen
1690 1694 1696 1718
1744 1786 1808 1828 1828-32 1834-35 1837 1855 1868
1879
Huygens “Traite de la lumière” (geschrieben um 1678); Joh. Bernoulli arbeitet mit orthogonalen Kurvenscharen; Brachistochronenproblem; Veröffentlichung einer Lösung des Brachistochronenproblems mit dem Nachweis der Hinlänglichkeit durch Johannes Bernoulli; Euler benutzt äquivalente Variationsprobleme zur Reduzierung der Ableitungen im Problem; Legendre formt die zweite Variation um, indem er die Idee äquivalenter Probleme benutzt; Orthogonalitätsrelation von Strahl und Wellenfläche im Satz von Malus; Gauß benutzt in den “Disquistiones generales” geodätische Koordinatensysteme; Hamiltons “Essay on the theory of systems of rays”; Hamiltons Arbeiten über Dynamik “On a general method in dynamics”; Jacobis Arbeit über dynamische Probleme “Zur Theorie der Variations-Rechnung” (Hamilton-Jacobi Theorie); Bonnet untersucht geodätische Linien; Beltrami findet ein Unabhängigkeitsintegral und eine partielle Differentialgleichung für die zugehörige Gefällefunktion, Verallgemeinerung der Hamilton-Jacobischen Differentialgleichung auf allgemeinere Variationsprobleme; entscheidende Vorlesung von Weierstraß, in der er erkannte, daß die Methode der Entwicklung keine hinreichenden Bedin-
714
1885 1888
1889 1894
1894 1900 1900 ca. 1905 1900-05
1903
1904 1904
1906 1913
1917
CHRONOLOGIE
gungen für starke Extrema liefert; hinreichende Kriterien für starke Extrema aufstellt mit Hilfe des Flächenstreifens (= zentrales Feld, später auch allgemeines Feld für ein einfaches Integral mit einer gesuchten Funktion); Festschrift von Schwarz mit einem zweidimensionalen Feld für das Problem der Minimalflächen; Zusammenfassung von Rudios Habilitationsschrift (1881) gedruckt, in der ein allgemeines Feld für ein einfaches Integral mit einer gesuchten Funktion konstruiert wird; Minimalitätsnachweis von Darboux in geodätischen Koordinaten; Zermelos Dissertation enthält die Konstruktion eines allgemeinen Feldes mittels eines “vorgezogenen Punktes” für einfaches Integral mit einer gesuchten Funktion (bereits bei Weierstraß zu finden, von Rudio auch publiziert); Knesers Transversalensatz; Hilberts Unabhängigkeitsintegral im Pariser Vortrag (23. Problem); Lehrbuch von Kneser, Transversalitätsbegriff; allgemeine Felder (unveröffentlichte Eintragung Hilberts in seinem Notizheft); Feldkonstruktionen von Osgood, Bolza, Bliss, Mayer, Hilbert u.a. für eine gesuchte Funktion einer Veränderlichen publiziert; A. Mayers allgemeine Feldkonstruktion für einfaches Integral mit mehreren unbekannte Funktionen (Extremalenfeld mit transversaler Schar = Mayer-Feld); Bliss behandelt Feldkonstruktionen als Randwertprobleme; Felder werden über die zugehörigen Richtungsfelder erfaßt; Methode des steilsten Abstiegs von Carathéodory (indirekte Verfahren), Verallgemeinerung der Idee von Joh. Bernoulli aus dem Jahre 1718; Ausdehnung lokaler Aussagen entlang einer Extremalen (Bolza nach Vorarbeiten von Osgood); de Donders Ansatz für ein Hilbertsches Unabhängigkeitsintegral für mehrfaches Integral mehrerer gesuchter Funktionen (wobei der Integrand auch zweite Ableitungen enthalten durfte); Determinanten-Ansatz von Carathéodory für mehrdimensionale Probleme;
CHRONOLOGIE
1935 1935 1936 1936 1936-42
1939
1945 1953
715
Born benutzt in der Quantentheorie einen Divergenz-Ansatz für mehrfache Integrale; “Königsweg” von Carathéodory (Fundamentalgleichungen); Weyl greift den Divergenz-Ansatz auf und konstruiert dazu ein Feld; Boerner konstruiert für Carathédorys Ansatz ein Feld und schwächt die Bedingungen ab (geodätisches Feld); Lepage gibt mit Hilfe des Kalküls der alternierenden Differentialformen (Cartanscher Kalkül) eine einheitliche Feldtheorie an, die auch die Ansätze von Carathéodory und de Donder-Weyl umfaßt; Ernst Hölder zieht Liesche Berührungstransformationen in die Feldkonstruktion ein und reduziert die mehrdimensionale Konstruktion auf eine eindimensionale; Feldkonstruktionen von van Hove; Differentialgeometrisch-topologische Erweiterungen (Dedecker u.a.).
ÜBERSICHT ÜBER DIE WICHTIGSTEN FELDARTEN DER VARIATIONSRECHNUNG
DANKSAGUNGEN
If a man be gracious and courteous to strangers, it shows he is a citizen of the world, and that his heart is no island cut off from other lands, but a continent that joins to them. FRANCIS BACON, Essays (1625)
Die bekannte Zeile von JOHN DONNE (1572-1631), daß kein Mensch eine Insel, nicht isoliert im Leben und Arbeiten sei, trifft besonders auf Historiker zu: denn zum einen fußt deren Arbeit auf Sachverhalten und Ergebnissen der Vergangenheit, zum andern wird deren gegenwärtige Arbeit – auch wenn sie häufig allein an Schreibtischen in Archiven, Bibliotheken und Arbeitszimmern erfolgt – letztlich vielfältig unterstützt. Das ist auch bei mir der Fall gewesen. Zunächst danke ich der Deutschen Akademie der Naturforscher, Leopoldina, die mir durch die Verleihung ihres Förderpreises und den damit verbunden Forschungsmitteln in großzügiger Weise ermöglicht hat, meine Untersuchungen zur Geschichte der Feldtheorie durchzuführen, insbesondere Herrn Dr. habil ROLAND RIEDEL für die angenehme Zusammenarbeit. Eine Folge dieser Förderung war ein zweisemestriger Gastaufenthalt am Mathematischen Institut der Universität Bonn, wo ich in Herrn Prof. Dr. STEFAN HILDEBRANDT nicht nur einen ausgezeichneten Kenner der Variationsrechnung zum Gesprächspartner hatte, sondern auch einen historisch überaus kenntnisreichen Mathematiker, der meine Arbeiten mit Interesse verfolgt und gefördert hat. In ähnlicher Weise habe ich meine Arbeit durch Forschungsaufenthalte an den Universitäten Münster (Prof. Dr. PETER ULLRICH) und Toronto (Prof. Dr. CRAIG FRASER) vertiefen können, und ich habe auch die Möglichkeit gehabt, am Institut Mittag-Leffler, Djursholm, zu recherchieren. Schließlich hat die Volkswagenstiftung mir die Möglichkeit geboten, in einem Forschungsaufenthalt (Research in Pair) gemeinsam mit Prof. Dr. CRAIG FRASER einige Wochen am Mathematischen Forschungsinstitut in Oberwolfach zu arbeiten. In besonderer Weise möchte ich Prof. Dr. DAVID ZITARELLI von der Temple University in Philadelphia, Pennsylvania, für die ausgiebig und bereitwillig erteilten Auskünfte zur amerikanischen Mathematikgeschichte danken. Die Ergebnisse meiner mathematikgeschichtlichen Forschung zur Geschichte der Feldtheorie sind schließlich in einer Arbeit zusammengefaßt
720
DANKSAGUNGEN
worden, mit der ich mich an der Universität Hamburg am Institut für Geschichte der Naturwissenschaften habilitiert habe (jetzt “Schwerpunkt der Geschichte der Naturwissenschaften, Mathematik und Technik” im Department Mathematik). Ich danke der Direktorin des Instituts, Frau Professor Dr. KARIN REICH, für ihr stetes Interesse am Fortgang meiner Arbeit sowie für die Geduld, mit der sie meine Arbeit begleitet hat, und nicht zuletzt für ihre zahlreichen hilfreichen Aufmunterungen. Meinen herzlichen Dank verdient auch Frau BRIGITTE SCHLAG vom Sudhoff-Institut der Universität Leipzig, die mich tatkräftig in vielen technischen Dingen unterstützt hat, die aber darüber hinaus in meiner Abteilung des Instituts auch eine angenehme Arbeitsatmosphäre zu schaffen wußte, die dem Fortgang der Arbeit dienlich gewesen ist. Ebenfalls danke ich meinen Söhnen THORALF und HELGE THIELE für Übersetzungen aus dem Schwedischen und für Hilfe bei der Korrektur. Zu besonderem Dank bin ich Herrn Prof. Dr. EBERHARD KNOBLOCH, TU Berlin, verpflichtet, dessen Interesse meine Arbeit von Anfang an begleitet hat und dem es in erster Linie zuzuschreiben ist, daß diese Untersuchungen gedruckt erscheinen. Schließlich möchte ich allen denen, die mir auf irgendeine Art behilflich waren, herzlich danken. Es sind folgende Personen und Institutionen, die mir Auskünfte erteilt und Literaturangaben gemacht haben: Dr. Th. Becker, Universitätsarchiv Bonn; Herr Th. Csanády, Universitätsbibliothek Graz; Prof. Dr. C. Fraser, University of Toronto, Ontario; Frau H. Bertram, Bibliothek des Mathem. Instituts Gießen; Dr. G. Betsch, Universität Tübingen; Dr. C.W. Domanski, Universität Lublin; Herr O.M. Gugler, Universitätsbibliothek Wien; Frau D. Geithner, Bibliothek des Sudhoff-Instituts der Universität Leipzig; Frau Dr. J. Green-Barrow, Open University, UK; Herr H. Hadan †, Bibliothek des Mathem. Instituts der Humboldt-Universität, Berlin; Prof. Dr. S. Hildebrandt, Universität Bonn; Prof. Dr. A.D. Ioffe, Universität Haifa; Dr. E. Keßler, Universitätsarchiv Heidelberg; Prof. Dr. M. Kneser †, Universität Göttingen; Prof. Dr. E. Knobloch, TU Berlin; Dr. W. Knobloch, Archiv der Berlin-Brandenburgische Akademie; Dr. T. Koetsier, Vrije Universiteit Amsterdam; Prof. Dr. J.-L. Koszul, Strasbourg; Frau M. Köstler, Poggendorff-Redaktion, Leipzig;
DANKSAGUNGEN
721
Frau Krause, Staatsbibliothek Berlin, Haus 2; Prof. Dr. E. Kreyszig, Ottawa, Ontario; Prof. Dr. B. Luderer, TU Chemnitz; Prof. Dr. Ü. Lumiste, Universität Tartu; Frau I. Letzel, Leipzig; Bibliothek des Mathematischen Instituts der Universität Leipzig; Herr M. Mattmüller, Bernoulli-Edition, Basel; Prof. Dr. W. Moritz, Universitätsarchiv Heidelberg; Frau Sandy Muhl, Universitätsarchiv Leipzig; Frau B. Mund, UB Göttingen, Handschriftenabteilung; Dr. F. Nagel, Bernoulli-Edition, Basel; Frau Dr. M. Nakane, Seijo University, Tokio; Dr. A. Skirde, Universität Bochum; Frau R. O’Sullivan, Regenstein Library, Chicago, Illinois; Frau Prof. Dr. K. Parshall, University of Pennsylvania, Charlottsville, Pennsylvania; Prof. Dr. M. von Renteln, Universität (TH) Karlsrueh; Dr. H. Rohlfing, UB Göttingen, Handschriftenabteilung; Prof. Dr. Werner Schmidt, Universität Greifswald; Dr. W. Schultze, Universitätsarchiv der Humboldt-Universität, Berlin; Frau Dr. S. Slembek, Universität Strasbourg; Dr. J. Smolka, Universitätsarchiv München; Dr. Schwabel, Bibliothek des Math. Instituts der Universität Wien; Frau C. Seip, Mathematisches Institut der Universität, Marburg; Herr J. Thamm, Bibliothek der Leopoldina Halle; Frau V. Tschiersich, Bibliothek des Mathematischen Instituts der Universität Leipzig; Prof. Dr. P. Ullrich, Universität Koblenz; Frau Dr. M. Unser, Springer-Verlag, später Bibliothek der ETH Zürich; Dr. G. Vanpaemel, Universität Leuven; Frau Dr. Y. Voegeli, Bibliothek ETH Zürich; Prof. Dr. K.O. Widman, Mittag-Leffler-Institut Djursholm; Frau Dr. U. Winter, Staatsbibliothek Berlin, Haus 1; Herr A. Zahoransky, Universitätsarchiv Freiburg; Prof. Dr. D. Zitarelli, Tempel University Philadelphia, Pennsylvania; Dr. H. Zotter, Universitätsbibliothek Graz.
722
DANKSAGUNGEN
Bibliotheken der Mathematische Institute von Universitäten, Hochschulen und Akademien Berlin (HU), Bonn, Bochum, St. John’s College Cambridge, Chicago, MittagLeffler Institut Djursholm, Göttingen, Gießen, Leopoldina Halle, Leipzig, Münster, Tübingen, Wien, Zürich (ETH-Bibliothek). Archive der Universitäten, Technische Hochschulen bzw. Akademien Bonn, Berlin-Brandenburgische Akademie Berlin, Humboldt-Universität Berlin, Braunschweig, Chicago, Clausthal, Freiburg, Göttingen, Graz, Hannover, Leopoldina Halle, Leipzig, München, Toronto (University of Toronto) Staatsbibliothek Berlin, Handschriftenabteilung (vormals die Handschriftenabteilungen der Häuser 1 und 2). Rüdiger Thiele
LITERATUR
Es bedarf vieler Gedanken, um einen festzuhalten. STANISLAW JERZY LEC
1. Vorlesungsmitschriften und nicht veröffentlichte Quellen Nl. = Nachlaß SS = Sommersemester WS = Wintersemester Ms. = Manuskript
AQ = Autumn quarter SQ = Summer quarter WQ = Winter quarter Cod. = Codex (Handschriftensammlung)
Bernoulli, Jacob Meditationes, Annotationes, Animadversiones Theologicae & Philosophicae, a me JB. concinnatae & collectae ab anno 1677, Universitätsbibliothek Basel, Ms LI a 3. Bernoulli, Nicolaus I Modus inveniendi aequationem differentialem completam ex data aequatione differentiali incompleta, unveröffentlicht, Universitätsbibliothek Basel, Bernoulli-Edition. Bessel-Hagen, Erich WS 1932
Variationsrechnung, teils maschinenschriftlich, teils von BesselHagens und fremder Hand, 192 Blatt, Inhalt Universitätsarchiv Bonn, Nl. Bessel-Hagen 255, 2.
WS 1943
Variationsrechnung, hand- und maschinenschriftlich, ca. 250-300 Blatt, Universitätsarchiv Bonn, Nl. Bessel-Hagen 255, 1.
Notizen zur Transversalität, Universitätsarchiv Bonn, Nl. Bessel-Hagen 255, 5.
724
LITERATUR
Bliss, Ames Gilbert Lecture notes von Bliss’ Vorlesungen im Mathematical Department, University of Chicago: SQ 1922
Lectures on the Calculus of Variations, Lectures delivered at the University of Chicago during Summer quarter 1922; Sect. I: An exact copy of Bliss’ own notes, Sect. II: A transcript from shorthand notes taken in the classroom, containing also all questions and answers and dismissions.
SQ 1933
The Calculus of Variations, Multiple Integrals, Lectures delivered at the University of Chicago during the Summer quarter 1933.
AQ 1934
The Calculus of Variations in three Space, Lectures delivered at the University of Chicago during the Autumn quarter 1934.
WQ 1935
The problem of Bolza in the Calculus of Variations, Lectures delivered at the University of Chicago during the Winter quarter 1935.
AQ 1938
The Calculus of Variations in three-space, Revised lectures delivered at the University of Chicago during the Autumn quarter 1938 and in preceeding years.
Bolza, Oskar 1901
Lectures on the Calculus of Variations. Mitschrift von Walter Wilson Hart; unpaginiert, Inhaltsverzeichnis, Anhang: Beispiele; University of Chicago, Library.
Bolza, Albrecht, Geschichte der Gesamtfamilie – Bolza aus Barna, Maschinenschriftliche Vervielfältigung, Berichtigte und ergänzte 2. Auflage, Würzburg, 1939, UB Freiburg. Carathéodory, Constantin SS 1906
Variationsrechnung. Stenographiert von W. Prinz. 243 Seiten, am Ende unvollständig. Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Cod. Ms. Math.-Archiv 75.
WS 1917
Variationsrechnung, gehalten in Göttingen. Ausgearbeitet von Käthe Sander, 365 Seiten. Prof. Dr. S. Hildebrandt, Bonn.
WS 1918
Variationsrechnung, gehalten in Berlin. Ausgearbeitet von Erich Bessel-Hagen, 5 Hefte, kein Inhaltsverzeichnis. Archiv der Universität Bonn, Nl. Bessel-Hagen.
LITERATUR
SS 1915
725
Partielle Differentialgleichungen erster Ordnung. Ausgearbeitet von Paul Buchner und Helene Staehelin. [Kapitel: Zusammenhang der partiellen Differentialgleichungen erster Ordnung mit der Variationsrechnung] 168 Seiten, maschinenschriftlich. - Mathematisches Institut der Universität Göttingen, - Universitätsbibliothek Basel, Handschriftenabteilung.
Promotions- und Habilitationsunterlagen Anträge, Gutachten; Decanat Fleischmann 1905-05, Universitätsarchiv Göttingen. Chern, Shiing-Shen Spring 1951 Differential geometry, Mimeographed lecture, 96 S. Mathematical Department of the University of Chicago, QA 3.C53, no. 13. Courant, Richard SS 1927
Variationsrechnung. Maschinenschriftliche Ausarbeitung, Mathem. Institut der Universität Göttingen.
SS 1929
Variationsrechnung I,
WS 1929
Variationsrechnung II. Maschinenschriftliche Ausarbeitungen, Mathem. Institut der Universität Göttingen.
1962
Calculus of Variations. Revised and amended by J. Moser 1962. 281 Seiten, Typoskript. Courant Institute, New York University.
Gutachten von Hilbert 3 Blatt, maschinenschriftliche Ausarbeitung Courants (?) mit Hilberts Korrekturen. Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Cod. Ms. D. Hilbert 465: 3/1 - 3/3. Dedekind, Richard Notizen zur Variationsrechnung, 7 Blätter. Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Nachlaß Dedekind V, 35. Herglotz, Gustav WS 1912
Konzept Variationsrechnung für eine Vorlesung, gehalten an der Universität Leipzig, lose Blätter, nicht paginiert,
726
LITERATUR
Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Cod. Ms. Herglotz, Gruppe B, 107. SS 1923
Kanonische Differentialgleichungen. Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Cod. Ms. Herglotz, Gruppe B, 6.
??
Geodätische Linien und Newtonsche Bewegungsgleichungen. Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Cod. Ms. Herglotz Gruppe A, 10.
Hilbert, David Vorlesungsverzeichnisse (1895 - 1932) der Universität Göttingen. Bericht des Math. Vereins Göttingen 1877-1913, 1920 - 1921. Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, H. lit. Part IV 218/2. Liste der sekretierten Vorlesungsausarbeitungen D. Hilberts. Math. Institut der Universität Göttingen. Verzeichnis der Cod. Ms. D. Hilbert Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen. Spezialinventar zur Geschichte der Mathematik und Naturwissenschaften an der Universität Göttingen von 1880-1933, bearbeitet von Martin Fimpel unter Mitarbeit von D. Busse u.a. Universitätsarchiv Göttingen: Göttingen 2002. II.B.4, 438-484; Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung, Cod. Ms. Math.-Arch., 605-615. Verzeichnis meiner Vorlesungen 1886 - 1923, 46 Jahre [unvollständig]. Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Cod. Ms. D. Hilbert 520. Ergänzte Preprint-Fassung der Hilbert-Edition, Göttingen. WS 1895
Partielle Differentialgleichungen, 4st. - Kollegheft, 122 Seiten. Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Cod. Ms. D. Hilbert 545. - Ausarbeitung C. Noble. ca. 450 Seiten, Inhaltsverzeichnis, Math. Institut der Universität Göttingen.
WS 1898
Kollegheft Mechanik I und II, 4st. [Seiten 88-95 (Hamilton und Jakobisches Princip), 105-114 (Hamilton-Jakobische Theorie); §16 bezieht sich auf Variationsrechnung, am Beginn der Vorlesung wird die Vorlesung Variationsrechnung für den Sommer 1899 angekündigt.] Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Cod. Ms. D. Hilbert 553.
SS 1899
Kollegheft Einführung in die Variationsrechnung, 2st. 89 Seiten;
LITERATUR
727
Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Cod. Ms. D. Hilbert 555. WS 1899
Kollegheft Flächentheorie, 2st. Einleitung in die Flächentheorie, 75 Seiten. Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Cod. Ms. D. Hilbert 557.
SS 1900
Kollegheft Flächentheorie, 2st. Ausgewählte Kapitel aus der Flächentheorie, 43 Seiten. Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Cod. Ms. D. Hilbert 557. Seminar Flächentheorie (WS 1899, SS 1900). Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Cod. Ms. D. Hilbert 570/11.
WS 1900
Kollegheft Theorie der partiellen Differentialgleichungen, 4st. 153 Seiten, [Abschnitte Variationsrechnung, auf diese wird vorn von Hilbert hingewiesen] Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Cod. Ms. D. Hilbert 558.
[1901]
Konzept zum Vortrag der DMV in Hamburg, betrifft bei ihm angefertigte Dissertationen (Nobel, Hedrick, Gernet, Müller, Hamel), 8 Blatt. Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Cod. Ms. D. Hilbert 587.
SS 1901
Vorlesungen über die Theorie der [linearen] partiellen Differentialgleichungen, 4st. [auch: Anwendungen der Theorie…] Bezüge zur Variationsrechnung. - unbekannter (vermutlich) skandinavischer Mitschreiber der Vorlesung, 295 S. Mittag-Leffler-Institut, Djursholm. - Ausarbeitung dieser Vorlesung von A. Andrae, Math. Institut der Universität Göttingen.
SS 1903
Gewöhnliche Differentialgleichungen, 4st. Ausarbeitung von W. Prinz. 259 Seiten (Steno). Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Cod. Ms. Math. Arch. 65.
WS 1903
Partielle Differentialgleichungen, 4st. Ausarbeitungen von E. Tieffenbach und W. Prinz (Steno), letztere 387 Seiten. - Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Cod. Ms. Math. Arch. 65; - von Hilbert korrigierte Übertragung im Math. Institut der Universität Göttingen.
728
LITERATUR
WS 1904
Bestimmte Integrale und Fourier’sche Reihen, 2st. 230 Seiten, Bezüge zur Variationsrechnung. Staatsbibliothek Berlin, Nachlaß Born (nicht von Born geschrieben).
WS 1904
Variationsrechnung, 4st. - Ausarbeitung von E. Hellinger 454 Seiten, Inhaltsverzeichnis; Math. Institut der Universität Göttingen - Zusammenfassung der Vorlesung von 1904/05, ausgearbeitet von E. Hellinger (Korrekturen von Hilbert), 15 Seiten, Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Cod. Ms. D. Hilbert 555. Variationsrechnung, 4st. Ausgearbeitet von O. Toeplitz. Göttingen Winter 1905/06 [sic]. 74 Seiten, ohne Inhaltsverzeichnis. Math. Institut der Universität Bonn. Variationsrechnung, 4st. Stenographische Ausarbeitung von W. Prinz. Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Cod. Ms. Math.-Arch. 68.
[1905]
Zur Variationsrechnung. 5 Blätter mit Rechnungen im Zusammenhang mit dem Artikel in den Göttinger Nachrichten von 1905 bzw. Math. Annalen 1906. Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Cod. Ms. D. Hilbert 674.
SS 1905
Einführung in die Theorie der Integralgleichungen. Ausgearbeitet von E. Hellinger. Abschrift, teilweise von M. Born selbst. 279 Seiten, Bezüge zur Variationsrechnung. Staatsbibliothek Berlin, Nl. Born 1814.
WS 1905
Mechanik, 4st. Ausgearbeitet von stud. math. Ernst Hellinger. 288 Seiten, Inhaltsverzeichnis; [§ 11 Integralprinzipien (mit Variationsrechnung) § 15: Methoden der Variationsrechnung] - Math. Institut der Universität Göttingen; - Staatsbibliothek Berlin, Nl. Born 1815.
WS 1905
Einleitung in die Theorie der partiellen Differentialgleichungen, 2st. [Teil III: Methode der Integralgleichungen]. Ausgearbeitet von E. Hellinger, ca. 320 Seiten. Mathematisches Institut der Universität Göttingen.
WS 1907
Theorie der partiellen Differentialgleichungen, 4st. 73 Seiten, Inhaltsverzeichnis [Kapitel V: Methode der Variationsrechnung] Math. Institut der Universität Göttingen.
WS 1909
Theorie der partiellen Differentialgleichungen, 4st. Ausgearbeitet von R. Courant. 235 Seiten, Inhaltsverzeichnis [Kap. III: Methode der Variationsrechnung]
LITERATUR
729
Mathem. Institut der Universität Göttingen. SS 1912
Gewöhnliche Differentialgleichungen, 4st. Maschinenschriftliche Ausarbeitung; [Teil III: Variationsrechnung, S. 139-ca. 178]; Math. Institut der Universität Göttingen.
WS 1912
[Einführung in die Theorie der] Partielle[n] Differentialgleichungen, 2st. Ausarbeitung von B. Baule. Math. Institut der Universität Göttingen.
SS 1915
Variationsrechnung, 4st. Lediglich als Einlage in der Vorlesung von 1904 vorhanden. Math. Institut der Universität Göttingen.
WS 1915
Differentialgleichungen, 4st. Maschinenschriftliche Ausarbeitung. [§ 15 Geodätische Linie (methodische Gesichtspunkte); § 18 Das Unabhängigkeitsintegral, S. 202 - 220] Math. Institut der Universität Göttingen.
SS 1916
Partielle Differentialgleichungen, 2st. Maschinenschriftliche. Ausarbeitung mit einer einseitigen Einlage zum Kriegsende 1918. Math. Institut der Universität Göttingen.
WS 1916
Die Grundlagen der Physik II. - Maschinenschriftliche Ausarbeitung von Bär, 193 Seiten und Inhaltsverzeichnis; Nl. Hückel 2.11, Staatsbibliothek Berlin; - Maschinenschriftliche Ausarbeitung von Scherrer, 183 Seiten und Inhaltsverzeichnis, Nl. Born 1818, Staatsbibliothek Berlin.
SS 1920
[Höhere] Mechanik und neue Gravitationstheorie, 4st. Ausgearbeitet von A. Kratzer. - maschinenschriftliche Kopie, 129 Seiten, 1. Kapitel Variationsrechnung, Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Cod. Ms. D. Hilbert 562; - maschinenschriftliche Kopie mit Korrekturen Hilberts, Math. Institut der Universität Göttingen; - handschriftliche Kopie Staatsbibliothek Berlin, Nl. Hückel 2.13.
SS 1921
Geometrie und Physik, 4st. [in Hilberts eigenem Verzeichnis: Einsteinsche Gravitationstheorie] 114 Blatt, [S. 51 - 56 über geodätische Linien]; - Staatsbibliothek Berlin, Nachlaß Hückel, 2.14; - Archiv der Universität Bonn, Nl. Bessel-Hagen.
WS 1922
Mathematische Grundlagen der Quantentheorie, 2st.
730
LITERATUR
Maschinenschriftliche Ausarbeitung von Nordheim und Heckmann. 97 Seiten, Inhaltsverzeichnis, Nl. Born 1820, Staatsbibliothek Berlin. WS 1926
Mathematische Methoden der Quantentheorie, 2st. Maschinenschriftliche Ausarbeitung von Nordheim, 125 S., Inhalt (wenig Variationsrechnung). Nl. Born 1822, Staatsbibliothek Berlin.
Vortragsmanuskript Kopenhagen, März 1921, 2 Hefte, insges. 29 S., kein Inhalt, Cod. Ms. D. Hilbert 589, Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung. Vortragsmanuskript Hamburg, 1921, 3 Hefte mit Einlage, insges. 120 S., kein Inhalt. Cod. Ms. D. Hilbert 596, Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung. Mappe Mechanik und Gravitationstheorie (1920). Cod. Ms. D. Hilbert 562, Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung. Mappe Über Gravitation (enthält Korrektur der Arbeit Grundlagen der Physik, I. Bl. 23-29) Cod. Ms. D. Hilbert 634, Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung. Mappe Zur Physik. Cod. Ms. D. Hilbert 657, Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung. Mappe Quantentheorie. Cod. Ms. D. Hilbert 666, Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung. Briefe an D. Hilbert von V.A. Anissimoff in Cod. Ms. D. Hilbert 6; von O. Bolza in Cod. Ms. D. Hilbert 37; von M. Born in Cod. Ms. D. Hilbert 40A; von C. Carathéodory in Cod. Ms. D. Hilbert 55; von A. Einstein in Cod. Ms. D. Hilbert 92b; von A. Hurwitz in Cod. Ms. D. Hilbert 160; von A. Kneser in Cod. Ms. D. Hilbert 180; von A. Mayer in Cod. Ms. D. Hilbert 246; von G. Mie in Cod. Ms. D. Hilbert 254; von H. Minkowski in Cod. Ms. D. Hilbert 258; von E. Zermelo in Cod. Ms. D. Hilbert 447.
LITERATUR
731
Briefe von Hilbert an A. Hurwitz in Cod. Ms. Mathematik. Archiv 76; A. Kneser in Cod. Ms. A. Kneser A 17. Briefentwürfe Hilberts Cod. Ms. D. Hilbert 457, alles in Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung. Dissertationen und Habilitationen: Entsprechende Gutachten in den Promotionsakten des Decanats, Universitätsarchiv Göttingen: Bd. 186b: Hedrick; Bd. 187b: Noble, Hamel; Bd. 188b: Gernet, Lütkemeyer, Ritz, J. Müller, Mason, Kellogg; G Vol. I (1905-08): Gillespie; C Vol. I (1906-12): Crathorne, Courant; P Vol. II (1910-20): Prange; Bd. 190a: Carathéodory. Dissertationen zur Variationsrechnung: Hamel (Georg), Über die Geometrien, in denen die Geraden die Kürzesten sind, Göttingen, 1901. Hedrick (Earle Raymond), Über den analytischen Charakter der Lösung von Differentialgleichungen, Göttingen, 1901. Noble (Charles A.), Eine neue Methode in der Variationsrechnung, Göttingen, 1901. Kellogg (Oliver Dimon), Zur Theorie der Integralgleichungen und des Dirichlet’schen Princips, Göttingen, 1902. Gernet (Nadeschda), Untersuchungen zur Variationsrechnung. Über eine neue Methode in der Variationsrechnung, Göttingen, 1902. Richter gen. Müller (Johannes Oswald), Über die Minimaleigenschaft der Kugel, Göttingen, 1902. Mason (Charles Max), Randwertaufgaben bei gewöhnlichen Differentialgleichungen, Göttingen, 1903. Gillespie (David C.), Anwendungen des Unabhängigkeitssatzes auf die Lösung von Differentialgleichungen der Variationsrechnung, Göttingen, 1906. Crathorne (Arthur R.), Das räumliche isoperimetrische Problem, Göttingen, 1907. DeWeese Cairns (William), Die Anwendung der Integralgleichungen auf die zweite Variation bei isoperimetrischen Problemen, Göttingen, 1907. Hellinger (Ernst), Über Orthogonalinvarianten quadratischer Formen von unendlich vielen Variablen, Göttingen, 1907.
732
LITERATUR
König (Robert), Die Oscillationseigenschaften der Eigenfunktionen der Integralgleichungen mit definitem Kern und das Jacobische Kriterium der Variationsrechnung, Göttingen, 1907. Prange (G.), Die Hamilton-Jacobische Theorie für Doppelintegrale (mit einer Übersicht der Theorie für einfache Integrale), Göttingen, 1915. Hildebrandt, Stefan SS 1966
Lineare elliptische Differentialgleichungen. Vervielfältigtes maschinenschriftliches Manuskript des Vortragenden. Mathematisches Institut, Universität Mainz; Prof. Dr. S. Hildebrandt, Bonn.
SS 1978
Variationsrechnung. Konzept einer an der Universität Bonn gehaltenen Vorlesung Prof. Dr. S. Hildebrandt, Bonn.
Husserl, Edmund Beiträge zur Theorie der Variationsrechnung (Dissertation). Wien 1882. 56 S. Handschriftlich. Universitätsbibliothek Wien. Jacobi, Carl Gustav Jakob WS 1837
Jacobi’s Variations-Rechnung. Ausgearbeitet von Rosenhain (Original?). 144 Seiten. Prof. Dr. Hildebrandt, Bonn. Abschrift der Ausarbeitung von Rosenhain. 120 Seiten; von Weierstraß der Akademie für Werkausgabe Jacobi übergeben, Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie Berlin.
Kneser, Adolf WS 1916
Relativitätstheorie. Maschinenschriftliches Vorlesungskonzept, 179 S., kein Inhalt. Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung, Cod. Ms. A. Kneser D4.
Sammlung zur Dorpatschen Universität, u.a. Statut der Universität und Knesers Erinnerungen an Dorpat (in: Breslauer Zeitung 13.4.1918). Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung, Cod. Ms.- A. Kneser C3.
LITERATUR
733
Briefe an Adolf Kneser von O. Bolza in Cod. Ms. A. Kneser A 3; C. Carathéodory in Cod. Ms. A. Kneser A 4, C 4:1; R. Courant in Cod. Ms. A. Kneser A 5, C 4:2; D. Hilbert in Cod. Ms. A. Kneser A 17; A. Mayer in Cod. Ms. A. Kneser A27; G. Prange in Cod. Ms. A. Kneser A 32; H. Weyl in Cod. Ms. A. Kneser A 45. Krull, Wolfgang WS 1961
Variationsrechnung. Maschinenschriftliche Ausarbeitung von A. Liesen einer an der Universität Bonn gehaltenen Vorlesung. Mathematisches Institut der Universität Münster.
Mayer, Adolph WS 1902
Vorlesungen über Variationsrechnung. Vorlesungsausarbeitung von E. Geinitz. 216 Seiten, Inhalt. Mathematisches Institut, Universität Leipzig.
ab 1869
22 Kolleghefte Variationsrechnung, 28 Kolleghefte Mechanik, sowie Kolleghefte gewöhnliche und partielle Differentialgleichungen. Mathematisches Institut, Universität .Leipzig.
1870
Kollegheft Jacobischer Multiplikator. Mathematisches Institut, Universität Leipzig.
Vorlesungsnachschriften von Mayer im Mathematischen Institut der Universität Leipzig: WS 1859
Variationsrechnung, gehalten von O. Hesse in Heidelberg;
SS 1864 SS 1872
Variationsrechnung, gelesen von Richelot in Königsberg; Variationsrechnung, gehalten von P. Gordan in Gießen nach Mitschrift von M. Pasch.
Minkowski, Hermann SS 1907
Vorlesungen über Variationsrechnung. ca. 230 Seiten (maschinenschriftlich), Inhaltsverzeichnis; Math. Institut der Universität Göttingen.
734
LITERATUR
Müller, Johannes (eigentlich Richter) Über die Kugel in der modernen Mathematik, Antrittsvorlesung am 14.7.1909 in Bonn, handschriftlich, 29. S. Universitätsarchiv Bonn, Nl. Bessel-Hagen B.-H. 325. Richter, Johannes siehe Müller Schwarz, Hermann Amandus WS 1882
Vorlesungen über Minimalflächen, 47 Seiten, 20 Seiten Anhang, kein Inhaltsverzeichnis. Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie, Nl. Schwarz 144.
WS 1887
Vorlesungen über Minimalflächen, 137 Seiten, kein Inhaltsverzeichnis. Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie, Nl. Schwarz 145.
WS 1896
Vorlesung Variationsrechnung, Mitschrift Fields, 3 Hefte, 251 Seiten, kein Inhaltsverzeichnis. Archive of the University of Toronto, Fields Papers, B72-0024/ 003.
WS 1898
Vorlesung Variationsrechnung, Mitschrift Fields, 2 Hefte, kein Inhaltsverzeichnis. Archive of the University of Toronto, Fields Papers, B72-0024/ 003.
SS 1903
Vorlesung Variationsrechnung, Ausarbeitung Toeplitz, abgebrochene Ausarbeitung, 33 Seiten. Archiv der Universität Bonn, Nl. Toeplitz.
Briefwechsel: K. Weierstraß und H. A. Schwarz - Berlin-Brandenburgische Akademie, Nl Schwarz 1175; 1224. Maschinenschriftliche Kopien (Bieberbach) im - Math. Institut Münster, - Mittag-Leffler Institut, Djursholm. Sommerfeld, Arnold SS 1897
Variationsrechnung, ausgearbeitet von O. Blumenthal. 411 Seiten, Inhaltsverzeichnis. [§14 Weierstrass’sches Kriterium] Math. Institut der Universität Göttingen.
LITERATUR
735
Stern, Moritz Abraham SS 1880
Variationsrechnung. Stenographische Ausarbeitung einer in Göttingen gehaltenen Vorlesung von E. Grimsehl. Bibliothek des Mathematischen Instituts der Universität Hamburg.
Weierstraß, Karl (Variationsrechnung stets vierstündig, im SS 84 jedoch fünfstündig) Vorlesungen nach dem Verzeichnis in den Mathematischen Werken, Bd. 3 (1903), sowie der im Institut Mittag-Leffler, Djursholm, vorhandenen Aufstellung sowie nach den Vorlesungsankündigungen des Berliner Universitätsarchivs ergänzt. Hörerverzeichnis der Vorlesungen über Variationsrechnung (nach Quästurakten) des Archivs der Humboldt-Universität Berlin. SS 1865
Variations-Rechnung, vorgetragen von Herrn Prof. Weierstraß im Sommersemester 1865 [auf Seite 1 wird 1867? genannt]. Ausgearbeitet von Herrn Schwarz, 260 Seiten, ohne Inhaltsverzeichnis. Math. Institut der Universität Bonn.
SS 1867
Variations-Rechnung, vorgetragen von Herrn Prof. Weierstraß im Sommersemester 1867, ausgearbeitet von Herrn L. Kiepert. Abschrift von Schwarz mit dessen Korrekturen, 83 Seiten, ohne Inhaltsverzeichnis. Math. Institut der Humboldt Universität Berlin, Ww 131.
WS 1869
[keine Mitschrift bekannt]
SS 1872
[es gibt Mitschrift Ott mit unbekanntem Verbleib]
SS 1875
Variationsrechnung, gehört bei Herrn Professor Weierstrass, Berlin 1875. Ausarbeitung von Hettner, nach einer Abschrift von C. Weltzien; mit Zusätzen einer Ausarbeitung der Vorlesung von 1882 durch H. Burkhardt. 446 Seiten, Inhaltsverzeichnis. Math. Institut der Universität Göttingen. Variationsrechnung. Sommer 1875. 282 Seiten, kein Inhalt; Abschrift einer Vorlesung aus Scherings Bibliothek (mittels Copierbuch). Mittag-Leffler-Institut, Djursholm.
736
LITERATUR
Stenographische Mitschrift Gegenbauer. 3 Bogen, nicht vollständig erhalten. Math. Institut der Universität Wien. Mitschrift Mittag-Leffler, mehrere Hefte. Mittag-Leffler-Institut, Djursholm. Geometrische Aufgaben im Mathem. Seminar [o.J.] Mitschrift Mittag-Leffler. Mittag-Leffler-Institut, Djursholm; [vgl. hierzu Zur Dioptrik (Vortrag 1856), Math. Werke, Bd. 3, S. 175 - 178]. SS 1877
[es gibt Mitschrift von H. von Mangoldt mit unbekanntem Verbleib]
SS 1879
Vorlesungen über Variationsrechnung. Ausarbeitung von C. Runge. - Original Runge im Math. Institut der Universität Göttingen, kein Inhalt; - stenographische Mitschrift Runges, Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Cod. Ms. Runge 56. - Nachschrift im Mittag-Leffler-Institut, kein Inhalt. Variations-Rechnung gelesen von Prof. Dr. Weierstraß. Berlin, Sommer-Semester 1879. Ausarbeitung Jac. Haenlein. 569 Seiten, mit Nachträgen 600 Seiten (nur Nachtrag I in Mitschrift enthalten), Inhaltsverzeichnis I-XVI; Math. Institut der Humboldt-Universität Berlin, W 824/22. Variationsrechnung von Prof. Weierstrass, Sommer 1879. Ausarbeitung F. Rudio nicht paginiert; - Mittag-Leffler-Institut, Djursholm, 101 Seiten im Hochformat; - Staatsbibliothek Berlin, Ms. Germ. 1671. Theorie der Variationsrechnung. Ausgearbeitet von L. Heffter. 357 Seite, mit Bleistiftkorrekturen. Staatsbibliothek Berlin, Ms. Germ. 2247. Theorie der Variationsrechnung. Vorlesungen gehalten im Sommer-Semester 1879 von Prof. Dr. K. Weierstrass. Ausarbeitung des Berliner Math. Vereins (redigiert von H. Maser). Maschinenschriftliche Kopie. Inhalt, 238 Seiten; - Mathematisches Institut der Humboldt-Universität Berlin, Ww 163; - Mittag-Leffler-Institut, Djursholm; - Handschriftliche Kopie, 341 Seiten, - Mathematisches Institut der Humboldt-Universität Berlin, W 824/21;
LITERATUR
737
- Prof. Dr. S. Hildebrandt, Bonn; Handschriftliche Kopie, Besitzvermerk Howe. 203 Seiten und Inhalt. Nachschrift bezieht sich auf eine Ausarbeitung von Stäckel 1882, einige entsprechende Zusätze, etliche leere Seiten. Staatsbibliothek Berlin, Ms Germ 4° 2248; - Abschrift von A. Mayer, verglichen mit der Ausarbeitung O. Hölders von 1899, nebst einem Anhang aus der Vorlesung 1882. Math. Institut der Universität Leipzig; Abschrift Netto (?), Math. Institut Gießen, W 108, autographiertes Exemplar, am Titel SS 1884 in 1879 korrigiert, 209 Seiten, Inhaltsverzeichnis; Abschrift des Math. Vereins Berlin, 316 Seiten, Inhaltsverzeichnis, Inhaltsverzeichnis, TH Darmstadt; Abschrift von Max Nath von 1883, entspricht ganz der des Berliner Math. Vereins, 238 Seiten, Math. Institut der Humboldt-Universität Berlin, W 824/21a. Variationsrechnung. Stenogramm mit lateinischen Überschriften nur Teil 1, nicht paginiert UB Berlin, Handschr. Koll. 274; erworben 1943; [Bolza? Es gibt in der UB Berlin eine weitere Mitschrift über Anwendungen der ellipt. Funktionen mit Besitzervermerk Bolza!]. [es gibt Mitschriften von O. Bolza (s.o.) und O. Hölder mit unbekanntem Verbleib]. SS 1882
Vorlesungen über Variationsrechnung gehalten von Prof. Dr. Weierstrass. Ausarbeitung H. Burkhardt. 337 Seiten, Inhalt; Math. Institut der Universität Bochum. Abschrift von H. A. Schwarz nebst dessen Verbesserungen. 168 Seiten, Inhalt. Math. Institut der Humboldt-Universität, Berlin. Abschrift von G. Mascardi von 1904 der Schwarzschen Abschrift nebst dessen Berichtigungen in der Ausfertigung des stud. math. R. Rothe). 375 Seiten, Inhalt, Institut Mittag-Leffler, Djursholm. Stenographische Mitschrift von A. Migotti. - UB Graz, Nachlaß Viktor Dantscher, I 1991, 201 Bl. - Transkription Prof. Dr. E. Kreyszig, Ottawa, Ont. Wiedergabe der Schlußworte von Weierstraß in der Vorlesung von 1882 durch H. A. Schwarz.
738
LITERATUR
Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie, Nl. Schwarz 242. [es gibt Mitschrift von Bennecke mit unbekanntem Verbleib] SS 1883
Über Minimalflächen. Vorlesungen gehalten im mathematischen Seminar der Universität Berlin [von] Prof. Dr. K. Weierstraß. Ausgearbeitet von P. Stäckel. handschriftlich 101 Seiten. Mittag-Leffler-Institut, Djursholm.
SS 1884
Vorlesungen über Variationsrechnung. 425 Seiten, Inhalt. St. John’s College, Cambridge. Theorie der Maxima und Minima. Autographierte Fassung einer Mitschrift von E. Jahnke. Besitzvermerk Thieme. Math. Institut der Humboldt-Universität Berlin, W 824/23. Variationsrechnung. Mitschrift G. Wallenberg. Hefte III-V. University of Chicago, Regenstein Library. Variationsrechnung (6.5. - 2.8.1884). Ausarbeitung von W. Howe. Abschrift eines Nichtmathematikers, Bleistiftkorrekturen [Schwarz?]. 217 Seiten, 2 Seiten Nachtrag zur Vorlesung aus einem Heft von Stäckel. Staatsbibliothek Berlin, Ms. Germ. 4° 2246.
Notizen von Schwarz, aufgeschrieben in einer Vorlesung von Weierstraß am 10.5.1884. Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie, Nl. Schwarz 448. Notizen für eine Werkausgabe (?) von Weierstraß vom 1.4.85. Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie, Nl. Schwarz 426). WS 1886
Theorie der Maxima und Minima, gehalten im Mathematischen Seminar der Universität. Mittag-Leffler-Institut, Djursholm.
[1927]
Mathematische Werke, Band VII. Akademische Verlagsgesellschaft Leipzig. Vorlesungen über Variationsrechnung. Bearbeitet von Rudolf Rothe.
Briefwechsel: K. Weierstraß und H. A. Schwarz - Berlin-Brandenburgische Akademie, Nl Schwarz 1175; 1224. Maschinenschriftliche Kopien (Bieberbach) im - Math. Institut Münster, - Mittag-Leffler Institut, Djursholm. Mittag-Leffler mit verschiedenen Mathematikern über Weierstraß, Mittag-Leffler Institut, Djursholm.
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739
Zermelo, Ernst Promotionsunterlagen Zermelo mit Gutachten von H.A. Schwarz Universitätsarchiv Humboldt-Universität Berlin, WS 1893. WS 1928
Vorlesungsmanuskript Variationsrechnung, 4st. handschriftlich, teilweise stenographiert, Universitätsarchiv Freiburg Nl. Zermelo C 129/159.
2. Gesammelte Werke und Briefwechselausgaben d’Alembert (Jean le Rond), Opuscules mathématiques, 7 Bde, Paris, 1761-1780. Beltrami (Eugenio), Opere matematiche, 2 Bde, Mailand, Hoepli, 1902-1904. Bernoulli (Daniel), Die Werke von Daniel Bernoulli, hrg. von der Naturforschenden Gesellschaft in Basel, Basel, Birkhäuser, seit 1982, 8 Bände geplant (Schriftenreihe Die gesammelten Werke der Mathematiker und Physiker der Familie Bernoulli). Bernoulli (Johann), Opera omnia, 4 Bde, Lausanne und Genf, Bousquet, 1742, (Reprint Hildesheim, Olms, 1968); auch in Die Werke von Johann I Bernoulli und Nikolaus II Bernoulli, Basel, Birkhäuser, seit 1955 (Schriftenreihe Die gesammelten Werke der Mathematiker und Physiker der Familie Bernoulli). Bernoulli (Johann), Der Briefwechsel von Johann Bernoulli, 3 Bde, O. Spieß et al. (Hrg.), Basel, Birkhäuser, 1955-1992 (Schriftenreihe Die gesammelten Werke der Mathematiker und Physiker der Familie Bernoulli). Bernoulli (Jakob), Opera, 2 Bde, G. Cramer (Hrg.), Genf, Cramer, 1744; auch in Die Werke von Jakob Bernoulli, Basel, Birkhäuser, seit 1969, D. Speiser et al., (Hrg.), 6 Bde. geplant (Schriftenreihe Die gesammelten Werke der Mathematiker und Physiker der Familie Bernoulli). Bernoulli (Jakob), Der Briefwechsel von Jacob Bernoulli, D. Speiser (Hrg.), Basel, Birkhäuser, 1993 (Schriftenreihe Die gesammelten Werke der Mathematiker und Physiker der Familie Bernoulli). Born (Max), Ausgewählte Abhandlungen, 2 Bde, Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, 1963. Mit einer Bibliographie. Carathéodory (Constantin), Gesammelte mathematische Schriften, 5 Bde, München, Beck, 1954-1957. Mit einer Bibliographie. Euler (Leonhard), Opera omnia Euleri, 4 Serien mit geplanten 80 Bde, davon z.Zt. 76 erschienen, Leipzig, B.G. Teubner, Zürich, Orell Füssli, Basel, Birkhäuser; seit 1911. Fermat (Pierre de), Oeuvres, P. Tannery et Charles Henry (publiés par), Paris, Gauthier-Villars, 1891-1922; dans la Collection Sciences dans l’histoire, traduit par P. Tannery, commentés par R. Rashed et. al, Paris, Blanchard, 1999. Fresnel (Augustin Jean), Oeuvres complètes, 3 tomes, Henri de Senarmont (Ed.), Paris, Imprémerie Imperial, 1866. Gauß (Carl Friedrich), Werke, 12 Bde, Leipzig, Berlin, 1863-1930, Reprint Hildesheim, Olms, 1973.
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A
99, 162, 229, 336, 430, 431, 575, 690, 694, 696, 697, 700. Bernoulli (Johann) (1667-1748), 8, 12, 14, 18, 21, 29-35, 37-43, Alexandrov (Pavel S.) (1896-1982), 45-49, 51-54, 58, 63, 74, 75, 438. 80, 85, 86, 89, 99, 133, 147, Ampère (André Marie) (1775-1836), 162, 164, 198, 229, 321, 336, 662. 431, 516, 575, 675, 713, 714. Andrae (Albert) (1878-?), 441, 456. Bernoulli (Nikolaus I) (1687-1759), Anton (Ludwig) (1868-?), 526. 37, 45, 58, 60, 61, 62, 431, 433, 565. Apollonius (260 v.Chr.-190 v.Chr.), 29. Bernoulli (Nikolaus II) (1695-1726), 58, 62. Armsen (Moritz) (geb. 1947), 671. Bertrand (Joseph) (1822-1900), 9, Armsen (Paul) (1906-?), 138. 105, 214, 346, 615. Arndt (Friedrich) (1817-1866), 183. Bessel-Hagen (Erich) (1898-1946), 13, 15, 108, 138, 293, 309, 597. Bianchi (Luigi) (1856-1928), 292, 320, 345. B Bieberbach (Ludwig) (1886-1982), 160, 244, 245, 247, 255, 438. Biermann (Kurt-R.) (1919-2002), Bacon (Francis) (1561-1626), 719. 141, 145, 155, 287. Baire (René) (1874-1932), 67. Biermann (Otto) (1858-1909), 144. Basnage (Henri de) (1656-1719), 8, Bill (Earl Gordon) (1884-1979), 309, 36, 39. 542, 591. Becker (Oskar) (1889-1964), 88. Birkhoff (George D.) (1884-1944), Behnke (Heinrich) (1898-1979), 64. 511. Bellmann (Richard E.) (1920-1984), Blaschke (Wilhelm) (1885-1962), 694. 298, 330, 337, 593 Beltrami (Eugenio) (1835-1900), Blasendorff (Max) (1855-?), 292, 112, 133, 343, 344, 345, 418, 295. 434, 435, 436, 457, 463, 694, Bliss (Gilbert Ames) (1876-1951), 699, 713. 12, 29, 218, 309, 311, 317, 354, Bemelmans (Josef) (geb. 1949), 103. 405, 428, 468, 507, 509, 528Bennecke (19. Jh.), 172. 530, 532, 536-538, 542-545, 556, 571, 572-575, 577-579, Bernoulli (Jakob) (1657-1705), 8, 30, 35, 36, 38, 39, 43, 58, 91, 94,
782
PERSONENVERZEICHNIS
581, 591, 620, 630, 631, 634, 694, 714. Blumenthal (Otto) (1876-1944), 406, 415, 416, 437, 452, 497. Boehm (Karl) (1873-1958), 507, 508. Boelling (Reinhard) (geb. 1944), 239. Boerner (Hermann) (1906-1982), 25, 63, 73, 79, 109, 111, 114-116, 138, 139, 277, 629, 648, 649, 653, 655, 658, 664-666, 668, 671, 675-681, 699, 706, 709, 710, 715. Bohr (Niels) (1885-1962), 484. Bolza (Oskar) (1857-1942), 11, 18, 24, 26, 51, 69, 78, 86, 87, 94, 97, 101, 102, 121, 147, 156, 159, 172, 175, 189, 198, 201, 209, 218, 311, 316, 317, 376, 444, 463, 506, 509, 513, 524, 526, 528, 529, 531, 536-538, 543, 545, 551-560, 562-564, 567, 575, 588, 591, 592, 621, 623, 629, 634, 635, 644, 694, 696, 699. Bonnet (Pierre Ossian) (1819-1892), 214, 335, 346-349, 379, 713. Borchardt (Carl Wilhelm) (18171880), 144, 150, 183, 334. Borda (Jean Charles de) (17331799), 29. Born (Max) (1882-1970), 114, 416, 446, 464, 465, 473, 485, 503505, 648, 654, 503-505, 715. Böttger (?-1916?), 380. Bourbaki (1934/35-?), 623. Boy (Werner) (1879-?), 586. Boyd (19./20. Jh.), 554. Brechtken-Maderscheidt (Ursula) (geb. 1940), 630, 673, 706. Brendel (Martin) (1862-1939), 98. Brianchon (Charles-Julian) (17831864), 346. Brioschi (Francesco) (1824-1897), 174. Broglie (Louis de) (1892-1987), 321, 329, 405, 462, 490.
Browder (Felix) (geb. 1927), 438. Brunacci (Vincencio) (1768-1818), 92, 93, 434. Bruns (Ernst Heinrich) (1848-1919), 113, 329, 410. Burkhardt (Heinrich) (1861-1914), 172, 174, 189, 237, 238, 254, 409. Busemann (Herbert) (1905-1995), 187.
C Cairns (William de Weese) (18711955), 441, 442. Cantor (Georg) (1845-1918), 185, 231, 235, 236. Cantor (Moritz) (1829-1920), 182, 519. Carathéodory (Constantin) (18731950), 11, 15, 18, 22, 23, 29, 30, 34, 40, 45, 46, 51, 52, 6391, 93-117, 119-126, 128-133, 136-139, 146, 169, 174, 182, 219, 245, 246, 256, 287, 291, 297, 298, 328-330, 338, 345, 350, 352, 364, 367-369, 377, 378, 380, 382, 384, 396, 427, 432, 433, 434, 439, 440, 463, 465, 467, 469, 477, 502, 505, 507, 509-511, 514, 516, 539541, 544, 546, 547, 559, 564, 570, 571, 591, 608, 618, 629, 635, 640, 642, 645, 646-649, 651, 652, 655, 656, 658, 664, 666, 667, 673-675, 677, 690, 694, 697, 699, 700, 704, 706, 709, 710, 712,714, 715. Carnot (Lazare) (1753-1823), 389. Cartan (Elie) (1869-1951), 345, 515. Casorati (Felice) (1835-1890), 689, 690. Cauchy (Augustine-Louis) (17891857), 111, 164, 234, 344, 567.
PERSONENVERZEICHNIS
Cesari (Lamberto) (1910-1990), 68, 230. Chasles (Michel) (1793-1880), 346. Chern (Shiing-Shen) (geb. 1911), 346, 425, 437, 515. Christoffel (Elwin) (1829-1900), 514. Clebsch (Rudolf Alfred) (18331872), 9, 149, 202, 203, 241, 252, 294, 316, 354, 363, 517, 522, 529, 600, 632, 634. Coral (Max) (1905-1989), 311. Courant (Richard) (1888-1972), 109, 368, 392, 398, 403, 411, 441, 448, 457, 461, 495, 502, 503, 690. Crathorne (Arthur) (1876-1946), 441, 442, 445.
D Damköhler (Wilhelm) (geb. 1906), 119, 138. Dantscher (Viktor) (1847-1921), 188, 233. Darboux (Jean Gaston) (1842-1917), 12, 64, 133, 312, 316, 320, 345, 349, 350-353, 396, 619, 627, 628, 694, 701, 714. Debever (Robert) (1915-1998), 668, 669, 709. Dedecker (Paul) (geb. 1921), 381, 630, 662, 672, 677, 706, 715. Dedekind (Richard) (1831-1916), 142. Dehn (Max) (1878-1952), 609. Delisle (Alfons) (?-1882), 171, 172. Delaunay (Charles) (1814-1872), 9, 114, 284. Demokrit von Abdera (etwa 460360/370 v. Chr.), 475, 479. Descartes (René) (1596-1650), 40, 58, 59, 324, 336, 345. Dido (Königin von Karthago), 593.
783
Dienger (Joseph) (1818-1894), 365, 366. Dieudonné (Jean) (1906-1992), 623. Dini (Ulisse) (1845-1918), 234, 538, 550, 551. Dirichlet (Johann Peter) (18051859), 471. Dirksen (Enno Heere(n)) (17881850), 180, 182. Dodel (Schwester von J. Müller) (20. Jh.), 597. Dombrowski (Peter) (geb. 1928), 337. Donder (Théophile de) (1872-1957), 446, 508, 509, 515, 648, 654, 655, 658, 667, 706, 709, 714. Donne (John) (1572-1631), 719. Dorofejewa (Alla Wladimirowna) (geb. 1935), 23, 430. Dresden (Arnold) (1882-1945), 513, 556. Drobisch (Moritz Wilhelm) (18021896), 518. Dugac (Pierre) (1926-1999), 132, 142, 165. Dupin (Charles) (1784-1873), 326. Durège (Heinrich) (1821-1893), 158, 247. Duren (William Larkin) (geb. 1905), 26, 571. Duschek (Adalbert) (1895-1957), 621.
E Edinson (Thomas) (1847-1931), 575. Egorov (Dimitri) (1869-1931), 609. Ehrhorn (Magnus) (1856-?), 204, 410. Einstein (Albert) (1879-1955), 66, 151, 463, 479, 483, 485, 490. Eisenstein (Gotthold) (1823-1852), 306.
784
PERSONENVERZEICHNIS
Encke (Johann Franz) (1791-1865), 181, 247, 335. Engel (Friedrich) (1861-1941), 159. Engelsman (Steven) (geb. 1949), 59, 61, 62. Erdmann (Georg) (19. Jh.), 65, 166, 294. Ermakoff (Wassilii Petrowitsch) (1845-1922), 311-315, 365, 430, 617. Escherich (Gustav von) (1849-1935), 64, 96, 190, 294, 354, 363, 630-634. Euler (Leonhard) (1707-1783), 14, 15, 22, 29, 30, 36, 58, 59, 60, 67, 72, 86, 89-91, 96, 133, 154, 161, 180, 183, 203, 335-337, 340, 379, 412, 430, 432, 433, 463, 464, 473, 530, 621, 656, 689, 713.
Fraser (Craig) (geb. 1951), 314, 328, 331, 418, 566, 719. Fréchet (Maurice) (1878-1973), 446, 450, 626. Fredholm (Ivar) (1866-1927), 406, 446. Frénet (Fréderic Jean) (1816-1900), 346. Fresnel (Augustin-Jean) (17881827), 686. Frobenius (Georg) (1849-1917), 108, 173, 267, 304-306, 308. Fuchs (Lazarus) (1833-1902), 167, 173, 200, 298, 303, 310, 355. Fues (E.) (1893-1970), 516. Fujiwara (Matsusaburo) (18811946), 545. Funk (Paul) (1886-1969), 277, 441, 442, 664, 668.
F
G
Faraday (Michael) (1791-1867), 478. Federer (Herbert) (geb. 1920), 683, 709. Feigl (Georg) (1890-1945), 141. Fermat (Pierre de) (1601-1665), 40. Fiedler (Ernst) (1861-?), 355. Fiedler (Wilhelm) (1832-1912), 305. Fields (John Charles) (1863-1932), 24, 258, 259, 261, 263, 265268, 704. Finsler (Paul) (1894-1970), 82, 138, 514, 571-573. Fischer (Emil) (1852-1919), 263. Fleischmann (Kurt) (1889-?), 380. Fomin (Sergei Wassilewitsch) (19171975), 636, 637. Fontane (Theodor) (1819-1898), 7. Forsyth (Andrew Russel) (18561942), 69, 159, 317, 509. Frank (Philipp) (1884-1966), 69, 72, 109, 114, 488, 608.
Galilei (Galileo) (1564-1642), 30, 55. Gauß (Carl Friedrich) (1777-1855), 12, 49, 71, 114, 133, 151, 181, 204, 336-348, 351-353, 379, 396, 407, 444, 471, 694, 702, 713. Gawedzki (Krzystof) (geb. 1947), 629, 671, 673, 706. Gegenbauer (Leopold) (1849-1903), 156, 159, 190, 453. Géhéniau (Jules) (1909-1991), 666. Geinitz (E.) (1881-?), 526. Geiser (Carl Friedrich) (1843-1934), 398. Gelfand (Aleksander) (1906-1968), 542. Gelfand (Israel Moisejewitsch) (geb. 1913), 573, 636, 637, 636, 637. Georgiadou (Maria) (geb. 1952 ), 63. Gernet (Nadeschda) (1877-1943), 170, 312, 314, 392, 401, 430,
PERSONENVERZEICHNIS
440, 441, 443, 444, 468, 528, 541, 564, 585-592, 595, 597, 644. Giaquinta (Mariano) (geb. 1947), 26, 438, 627, 639, 684. Gillespie (David) (1877-1935), 441, 443, 445, 496. Giusti (Enrico) (geb. 1940), 680. Goebb (Margaretha) (1892-1963), 99. Goldschmidt (Benjamin Carl Wolfgang) (1807-1851), 187, 291. Goldstine (Herman H.) (1913-2004), 23, 24, 26, 85, 218, 308, 311, 354, 360, 517, 527. Goßler (Gustav von) (1838-1902), 358. Goursat (Édouard) (1858-1936), 315, 429, 511, 536, 553, 581, 614616, 618, 619, 620. Grattan-Guinness (Ivor) (geb. 1941), 390. Graves (Lawrence M.) (1896-1973), 230, 532. Gray (Jeremy) (geb. 1947), 438. Greve (Anton) (1857-?), 203, 204, 410. Grüß (Gerhard) (1902-1950), 215, 219, 509. Gustav (Adolf, König von Schweden) (1594-1632), 356. Gutzmer (August) (1860-1924), 441.
H Haar (Alfred) (1885-1933), 656. Hadamard (Jaques) (1865-1963), 69, 112, 150, 151, 163, 316, 330, 332, 350, 368, 509, 536, 542, 559, 591, 593, 598, 601, 623629, 630, 636, 649, 673, 682. Haenlein (Jakob) (1859-1919), 174, 208, 217.
785
Hahn (Hans) (1878-1934), 64, 68, 299, 388, 423, 441, 512, 552, 569, 601, 630-634, 669. Hamburger (Meyer) (1839-1903), 267. Hamel (Georg) (1877-1854), 102, 255, 256, 269, 401, 441, 586. Hamilton (William Rowan) (18051865), 15, 23, 36, 50, 102, 103, 111, 112, 113, 121, 133, 319, 320, 322-329, 331, 333, 343, 490, 508, 516, 598, 656, 667, 699, 713. Hancock (Harris) (1867-1943), 69, 174, 175, 261, 268, 310, 311, 509, 554, 555, 622. Harper (William Rainey) (18561906), 553. Hart (Walter) (20. Jh.), 555, 557, 560. Hartmann (Eduard von) (18421906), 293. Harvey (Reese) (geb. 1941), 683. Heckmann (Gustav) (1898-1996), 488. Hedrick (Earl Raymund) (18761943), 86, 360, 368, 393, 401, 441, 443, 513, 581, 614. Hegel (Gottfried Wilhelm) (17791831), 182, 293. Heine (Eduard) (1821-1881), 550. Heisenberg (Werner) (1901-1976), 490. Hellinger (Ernst) (1883-1950), 413, 503. Helmholtz (Hermann von) (18211894), 423. Hensel (Kurt) (1861-1941), 355. Herglotz (Gustav) (1881-1953), 98, 416, 634, 657. Hermann (Jakob) (1678-1733), 59. Heron von Alexandrien (etwa 200 n. Chr.), 7. Hertz (Heinrich) (1857-1894), 488. Herzberger (Maximilian) (18991982), 508, 515, 516.
786
PERSONENVERZEICHNIS
Hesse (Otto) (1811-1874), 9, 149, 182, 519, 520. Hestenes (Magnus R.) (1906-1991), 230, 507, 530, 532, 571, 639. Hettner (Georg) (1854-1914), 158, 172, 174, 189, 190, 214. Heuser (Harro) (geb. 1927), 621. Hilbert (David) (1862-1943), 12, 14, 16, 22, 23, 25, 63, 64, 66, 74, 86-89, 94, 97, 99, 102, 103, 142, 148, 151, 167, 168, 170, 187, 198-200, 257, 310, 312, 314-316, 321, 334, 344, 353, 354, 364, 368, 369, 375, 376, 378, 384, 387-392 395, 397407, 409-416, 418, 420-427, 434-436, 437-453, 455-495, 497-499, 501-506, 509, 510, 512-516, 522, 527-529, 531, 536-541, 543, 547-549, 551, 555, 557, 564, 569, 570, 572575, 584, 585-590, 592, 597, 598, 608-615, 617, 621, 623, 634, 644, 652, 660, 667, 675, 687, 690, 694-696, 703, 705, 707, 709, 714. Hilbert (Franz) (1893-1969), 587. Hilbert (Käthe) (1864-1945), 404, 452, 497, 499, 586. Hildebrandt, Stefan (geb. 1936), 26, 103, 104, 110, 112, 208, 433, 615, 627, 639, 656, 674, 684, 719. Hill (Vicky) (geb. 1960), 99. Hirsch (Arthur) (1866-1948), 381. Hofmann (Joseph Ehrenfried) (19001973), 59. Hölder (Ernst) (1901-1990), 148, 167, 168, 327, 392, 536, 655, 656, 674, 678, 709, 715. Hölder (Otto) (1859-1937), 148, 156, 172, 208, 209, 224, 225, 518, 525. Holmgren (Erik) (1872-1943), 406, 446. Hopf (Eberhard) (1902-1983), 119. l’Hospital (Guillaume Marquis de) (1661-1704), 35, 336, 431.
Hove (Leon van) (1924-1990), 645, 655, 657, 658, 673, 674, 715, 809. Howe (Willy) (1864-?), 172, 240, 242, 204, 292. Hurwitz (Adolf) (1859-1919), 158, 397, 398, 403, 415, 592, 593. Husserl (Edmund) (1858-1938), 293f. Huygens (Christiaan) (1625-1695), 12, 33, 36, 37, 45, 46, 63, 105, 121, 133, 199, 321, 431, 713.
I Ioffe (Alexander D.) (geb. 1938), 677, 682, 683.
J Jacobi (Carl Gustav Jacob) (18041851), 9, 12, 19, 29, 31, 86, 103, 111, 112, 132, 146, 149, 154, 161, 168, 181, 184, 202, 204, 252, 286, 294, 316, 321, 325, 328, 331-335, 345, 346, 359, 396, 434, 474, 510, 520522, 530, 572, 600, 605, 612, 627, 631, 667, 713. Jacobi (Moritz Heinrich) (18011874), 333. Jahnke (Eugen) (1861-1921), 172, 240. Jellet (John Hewitt) (1817-1888), 270. Jordan (Camille) (1838-1922), 234, 250, 350, 538, 595, 614. Jost, Jürgen (geb. 1956), 272. Juschkewitsch, siehe Yushkevich.
PERSONENVERZEICHNIS
K Kähler (Erich) (1906-2000), 659. Kant (Immanuel) (1724-1804), 489, 493. Kantor (Jean-Michel) (geb. 1946), 438. Kellogg (Oliver) (1878-1932), 401, 441, 456. Kiepert (Ludwig) (1846-1934), 132, 156, 172, 183, 185. Kirchberger (P.) (20. Jh.), 440. Kirchhoff (Gustav) (1824-1887), 359. Klein (Felix) (1849-1925), 66, 99, 108, 114, 143, 146, 150, 153, 158, 159, 171, 206, 207, 249, 255, 256, 299, 319, 329, 335, 338, 398, 409, 410, 451, 475, 504, 518, 522, 553, 556. Klötzler (Rolf) (geb. 1931), 26, 79, 96, 111, 277, 438, 518, 527, 673, 679, 680, 681, 706, 709, 710. Kluge (Richard) (1902-?), 512. Kneser (Adolf) (1862-1930), 12, 19, 23, 24, 25, 28, 49, 50, 69, 71, 73, 78, 82, 84, 85, 87, 93, 102, 112, 145, 174, 186, 191, 213, 224, 225, 271, 276, 310, 311, 315, 335, 337, 341, 344, 354, 355-382, 385-393, 396, 410, 421, 430, 434, 441, 465, 506, 507, 509, 510, 512, 522, 529, 532, 536, 537, 539, 546, 548, 559, 562, 564, 566, 567, 570, 573, 597, 617, 619, 623, 643, 666, 689, 690, 694, 702, 704, 705, 714. Knoblauch (Johannes) (1855-1915), 145. Knobloch (Eberhard) (geb. 1943), 356, 720. Knopp (Konrad) (1882-1957), 621. Kobb (Gustaf) (1863-1934), 232, 509, 643. Kober (Hermann) (1888-1973), 380.
787
Koch (Helge von) (1870-1924), 406. Koebe (Paul) (1882-1945), 153. Koenigsberger (Leo) (1837-1921), 160, 247, 293, 453, 507, 671. Kolmogorov (Nikolaevich) (19031987), 23. König (Robert) (1885-1978), 441, 442. Kopernikus (Nikolaus) (1473-1543), 493. Koschmieder (Lothar) (1890-1974), 358, 380, 381, 509, 510. Kötter (Ernst) (1859-1922), 251, 282. Kötter (Fritz) (1857-1912), 356. Kowalewskaja (Sonja) (1850-1891), 149, 158, 159, 161, 239, 251. Kowalewski (Gerhard) (1876-1950), 512, 521, 614. Kratzer (Adolf) (1893-1983), 400, 486. Kretschmer (Ernst) (1888-1964), 686. Kreyszig (Erwin) (geb. 1922), 233. Kronecker (Leopold) (1823-1891), 151, 158, 355, 356, 358, 379. Krotow (Wadim Fedorowitchs) (geb. 1932), 26, 683, 706. Krull (Wolfgang) (1899-1971), 672. Kubota (Tadahiko) (1885-1952), 545. Kummer (Ernst Eduard) (18101893), 35, 147, 158, 160, 199, 247, 255, 292, 295, 297, 303, 304, 320, 355. Kürschák (Joseph) (1864-1933), 381.
L Lacroix (Sylvestre) (1765-1843), 164, 432. Lagrange (Joseph Louis) (17361813), 15, 22, 29, 86, 92, 93, 132, 133, 154, 161, 180, 183,
788
PERSONENVERZEICHNIS
202, 229, 294, 331, 340, 344, 363, 430, 432, 434, 506, 530, 531, 603, 634, 641, 656. Lamarle (Anatole Henri Ernest) (1806-1875), 271. Landau (Edmund) (1877-1938), 99, 267. Landsberg (Georg) (1865-1912), 82. Larew (Gillie Aldah) (1882-1977), 609. Laue (Max von) (1879-1960), 357. Lawlor (Gary) (geb. 1961), 40. Lawrentjew (Michail A.) (19001980), 509. Lawson (Herbert Blaine) (geb. 1942), 683. Lebesgue (Victor-Amédée) (17911875), 9, 690. Lecat (Maurice) (1884-1957), 17, 292, 315, 512. Legendre (Adrien Marie) (17521833), 86, 91-93, 101, 154, 161, 181, 330, 363, 376, 433, 642, 657-664, 666, 667, 672, 675-677, 689, 713. Leibniz (Gottfried Wilhelm) (16461716), 8, 31, 36, 46, 58, 105, 162, 164, 336, 431, 696. Lenard (Philipp) (1862-1947), 488. Lepage (Théophile) (1901-1991), 654, 655, 706, 709, 715. Lévy (Paul) (1886-1971), 623. Lewy (Hans) (1904-1988), 509. Lichtenberg (Georg Christoph) (1742-1799), 7, 186. Lichtenstein (Leon) (1878-1933), 138, 286, 287, 664. Lie (Sophus) (1842-1899), 105, 188, 207, 357, 445, 496, 518, 522, 652. Liebmann (Heinrich) (1874-1939), 410, 525. Liesen (Arndt) (geb. 1939), 630, 672, 706. Lindeberg (Jarl Waldemar) (18761932), 91.
Lindelöf (Lorenz) (1827-1908), 176, 251, 255, 260, 261, 270, 280, 281, 283, 284, 287-290, 694. Lindelöf (Ernst) (1870-1946), 280. Lindemann (Curt) (1889-?), 380. Lindemann (Ferdinand) (von) (18521939), 99, 150, 397, 398. Liouville (Joseph) (1809-1882), 350. Lipschitz (Rudolf) (1832-1903), 377, 514. Littlewood (John) (1885-1977), 114. Ljusternik (Lasar) (1899-1981), 509. Lohmeyer (Ernst) (1890-1946), 358. Lösch (Friedrich) (1903-1982), 621. Lotze (Hermann) (1817-1881), 355. Lumiste (Ülo) (geb. 1929), 366. Lütkemeyer (Georg) (1878-1929?), 401, 440, 586. Lützen (Jesper) (geb. 1951), 331.
M Mac Lane (Saunders) (1909-2005), 319, 405. Mainardi (Gaspare) (1800-1879), 9. Majer (Ulrich) (geb. 1942), 470. Malmsten (Carl Johan) (1839-1886), 157. Malus (Étienne Louis) (1775-1812), 135, 295, 326, 713. Mangoldt (Hans von) (1854-1925), 172, 205, 409, 621. Manià (Basilio) (1909-1939), 32. Mascardi (G.) (20. Jh.), 150, 152, 232, 238. Maschke (Heinrich) (1853-1908), 554. Maser (Hermann) (1856-1902), 172, 208, 209. Mason (Max) (1877-1961), 429, 441, 456, 528, 549, 574, 575, 591, 630.
PERSONENVERZEICHNIS
Maxwell (James Clerk) (1831-1879), 478. Mayer (Adolph) (1839-1908), 12, 25, 145, 156, 158, 159, 207, 224226, 238, 239, 241, 252, 294, 314, 325, 354, 362-366, 369, 392, 396, 401, 410, 429, 444, 466, 506, 507, 517-527, 528, 530, 531, 535-537, 540, 555, 568, 569, 571, 585-587, 590, 591, 605-608, 609, 610, 631, 632, 634, 669, 694, 700, 704, 705, 709, 714. Mayer (Walther) (1887-1948), 508. Maz’ya (Vladimir) (geb. 1937), 22. McShane (Edward James) (19041989), 154, 179, 571. Mehmke (Rudolf) (1857-1944), 506. Meißner (H.) (17. Jh.), 78. Melville (Herman) (1819-1891), 697. Menger (Karl) (1902-1985), 167. Mertens (Franz Josef) (1840-1927), 158. Meusnier (Jean Baptist) (17541793), 642. Meyer (Heinrich) (1829-?), 172. Michelson (Albert Abraham) (18521932), 478. Mie (Gustav) (1868-1957), 491. Migotti (A.) (20. Jh.), 233. Minding (Ernst Ferdinand Adolf) (1806-1885), 344, 379. Minkowski (Hermann) (1864-1909), 30, 64, 66, 87, 104, 156, 330, 398, 450, 501, 502, 504, 593, 594. Mirimanov (Dimitry), (1861-1945), 311 Mises (Richard Edler von) (18831953), 69, 72, 109, 114, 608. Mittag-Leffler (Gösta) (1846-1927), 143, 145, 147, 152, 158, 159, 190, 192, 193, 195, 196, 201, 205, 208-210, 232, 311, 362. Möbius (August Ferdinand) (17901868), 518. Moigno (François Napoléon) (18041884), 280, 287, 432, 621.
789
Molk (Jules) (1857-1914), 239. Monge (Gaspard) (1746-1818), 153, 344, 345, 346, 459, 642. Moore (Eliakim Hastings) (18621932), 553, 555, 629. Morrey (Charles B. jr.) (1907-1984), 690. Morse (Marston) (1892-1977), 509, 511, 532, 571. Müller (Hella) (geb. 1945), 164. Müller (Johannes) (vormals Richter) (1877-1940), 248, 401, 415, 440, 441, 443, 444, 592-597, 609, 644. Mullinger (James) (1834-1917), 239.
N Nagel (Ernest) (1901-1985), 689. Nagumo (Michio) (1905-1999), 68. Nakane (Michiyo) (geb. 1958), 328, 331. Natani (Leopold) (1819-1905), 247. Nath (Max) (1859-1913), 208. Nazim (Ahmet) (1912-1976), 138. Netto (Eugen) (1846-1919), 232, 241. Neumann (Carl) (1832-1925), 401, 523, 524. Neumann (Franz) (1798-1895), 520. Newton (Isaac) (1643-1727), 51, 58, 485, 493, 689. Nietzsche (Friedrich) (1844-1900), 641, 712. Nitsche (Johannes) (geb. 1925), 285. Noble (Charles Albert) (1867-1962), 86, 401, 441, 443, 586. Noether (Emmy) (1862-1935), 589. Nordheim (Lothar Wolfgang) (18991988), 516, 488. Nowakowski (Andrzej) (21. Jh.), 532.
790
PERSONENVERZEICHNIS
O Ohm (Georg) (1789-1854), 182. Ohm (Martin) (1792-1872), 149, 181-183, 247. Olbers (Heinrich Wilhelm) (17581840), 338. Osgood (William Fogg) (18641943), 24, 26, 218, 310, 312, 317, 360, 393, 410, 411, 512, 529, 536, 537, 545, 546, 548553, 558, 562, 567, 571, 572, 581, 714. Ott (19. Jh.), 172.
Prange (Georg) (1885-1941), 136, 319, 320, 322, 325, 423, 441, 445, 446, 496, 515, 569, 597599, 601-605, 625, 644. Pringsheim (Alfred) (1850-1941), 99. Prinz (Wilhelm) (20. Jh.), 100. Puisseux (Victor-Alexandre) (18201883), 346.
Q Quetelet (Lambert Adolphe) (17961874), 326.
P Pascal (Ernesto) (1865- 1940), 159, 368, 369, 393, 512. Pauc (Christian) (geb. 1911), 167. Pauli (Wolfgang) (1900-1958), 475. Paulsen (Friedrich) (1846-1908), 355. Paz (L. la) (1887-1985), 394. Peano (Giuseppe) (1858-1939), 234, 362, 506. Perron (Oskar) (1880-1975), 75, 99. Picard (Emile) (1856-1941), 428, 572, 614, 625. Picasso (Pablo) (1881-1973), 686. Planck (Max) (1858-1947), 66, 108, 145, 298. Plateau (Joseph Antoine) (18011883), 250, 288, 291. Plücker (Julius) (1801-1868), 149, 327. Poincaré (Henri) (1854-1912), 136, 150, 164, 240, 316 423, 445, 496, 513, 631, 633, 635, 636, 667, 712. Poisson (Simeon) (1781-1840), 432, 518, 522.
R Radó (Tibor) (1895-1965), 394. Radon (Johann) (1887-1956), 356, 357, 635. Rayleigh (Lord) (1842-1919), 359. Reeb (Georges) (1920-1992), 679. Reich (Karin) (geb. 1941), 720. Reid (William T.) (1907-1977), 532. Remmert (Reinhold) (geb. 1930), 164. Ricci-Curbastro (Gregorio) (18531925), 514. Richelot (Friedrich) (1808-1875), 520, 523. Riedel (Roland) (geb. 1937), 719. Riemann (Bernhard) (1826-1866), 132, 150, 152, 255, 412, 514. Riesz (Friedrich) (1880-1956), 624. Roberts (Ralph A.) (19. Jh.), 270. Rockafeller (Tyrell) (geb. 1935), 683. Rothe (Rudolf) (1873-1942), 22, 146, 147, 156, 169, 173-175, 191, 228, 232, 237, 238.
PERSONENVERZEICHNIS
Roussel (André) (1904-1992), 26, 111, 277, 675, 681, 682, 707, 709. Rudio (Ferdinand) (1856-1929), 23, 172, 208-210, 212, 224, 232, 293, 303-308, 543, 549, 616, 694, 704, 714. Rund (Hanno) (1925-1993), 670, 671. Runge (Carl) (1856-1927), 143, 150, 151, 156, 159, 207, 209-212, 224, 292, 504.
791
Schopenhauer (Arthur) (1788-1860), 713. Schottky (Clara) (19. Jh.), 295. Schottky (Friedrich) (1851-1935), 66, 108, 141, 188, 295, 357. Schrödinger (Erwin) (1887-1961), 321, 324, 329, 405, 463, 490. Schur (Friedrich) (1856-1932), 357, 389. Schwartz (Laurent) (1915-2002), 690. Schwarz (Hermann Amandus) (1843-1921), 12, 20, 24, 25, 26, 63, 64, 66, 67, 108, 144-146, 148, 151, 153, 154, 156, 158, 160, 167, 170174, 183, 185, S 186, 188, 202, 204, 206, 212, 217, 227, 232-235, 237, 238, 240, 242-251, 254-273, 275Sander (Käthe) (20. Jh.), 104, 105, 283, 285-289, 292, 297-301, 107, 701. 303, 309, 311, 338, 362, 396, Sarrus (Frédéric) (1798-1858), 432. 408, 409, 445, 509, 536, 537, Schaefer (Clemens) (1878-1968), 549, 551, 553, 554, 557, 592, 359, 381. 593, 622, 643, 694, 695, 704, 709, 714. Schafheitlin (Paul) (1861-1924), 35. Schwarz (Josepha von) (1909-1957), Scheeffer (Ludwig) (1859-1880), 138, 297. 159, 202, 206, 207, 231, 362, 363. Schwarzschild (Karl) (1873-1916), 487. Scheibner (Wilhelm) (1826-1908), 334, 520, 523, 524. Seifert (Herbert) (1907-1996), 509, 629, 636. Schellbach (Karl Heinrich) (18041892), 183, 589. Seliwanoff (Dimitrii Fedorowitsch) (1855-1932), 355. Schelling (Friedrich Wilhelm) (17751854), 20. Serret (Joseph Alfred) (1819-1885), 346. Scherer (Wilhelm) (1841-1886), 355. Shaposhnikova (Tatyana) (geb. Schering (Ernst Christian) (18331946), 22. 1897), 189, 190. Siegmund-Schultze (Reinhard) (geb. Schlag (Brigitte) (geb. 1941), 720. 1953), 235. Schlömilch (Oskar) (1823-1901), Sinclair (Mary) (1878-1955), 556. 181. Schmidt (Eduard) (1803-1832), 409. Slaught (Herbert E.) (1861-1937), 554. Schmidt (Erhard) (1876-1959), 64, 66, 74, 77, 108, 245, 286, 357, Smirnow (Nikolai Wasiljewitsch) (1900-1966), 509. 456. Schnuse (Heinrich Christian) (1835- Smirnow (Wladimir I.) (1887-1975), 621. 1872?), 182. Sobolew (Sergei L.) (1908-1989), Schönflies (Arthur) (1853-1923), 690. 188.
792
PERSONENVERZEICHNIS
Sommerfeld (Arnold) (1868-1951), 409, 410. Spitzer (Simon) (1826-1887), 9. Stäckel (Paul) (1862-1919), 19, 46, 97, 161, 169, 296, 339, 365, 389, 463, 590. Staude (Otto) (1857-1922), 355-357. Stegmann (Friedrich Ludwig) (18131891), 195, 340, 412. Steiner (Jacob) (1796-1863), 99, 149, 150, 185, 187-189, 230, 231, 251, 255. Steinhaus (Hugo) (1887-1972), 441. Steinitz (Wolfgang) (1905-1967), 21. Steklow (Wladimir Andrejewitsch) (1864-1924), 354. Stephens (Eugene) (20. Jh.), 577, 578. Stern (Moritz Abraham) (18071894), 203, 204, 409, 519. Stolz (Otto) (1842-1905), 453. Stone (Marshall Harvey) (19031989), 194. Strauch (Georg Wilhelm) (18111868), 182, 195. Struik (Dirk) (1894-2000), 346. Study (Eduard) (1862-1930), 99, 319, 320, 324, 597. Stumpf (Carl) (1848-1936), 293. Sussmann (Héctor J.) (geb. 1946), 50. Synge (John Lighton) (1897-1995), 324, 330.
Thomson (William) (1824-1907), 471. Threlfall (William) (1888-1949), 509, 629, 636. Tichomandritzkij (Matveij) (18441921), 251. Tichomirow (Wladimir Michailowitsch) (geb. 1934), 23, 675, 682, 683. Todhunter (Isaac) (1820-1884), 11, 180, 191, 338, 432. Toepell (Michael) (geb. 1951), 63, 389. Toeplitz (Otto) (1881-1940), 13, 267, 268, 597. Tonelli (Leonida) (1885-1946), 67, 68, 133, 167, 368, 509, 571, 578, 591, 682, 690, 706. Townsend (Edgar Jerome) (18651955), 440. Troutman (John L.) (21. Jh.), 535.
U Ullrich (Peter) (geb. 1957), 152, 154, 158, 159, 245, 719. Underhill (Anthony) (1877-1945), 556. Unser (M.) (21. Jh.), 304. Usai (Guiseppe) (1880-1965), 512.
T
V
Taylor (Brook) (1685-1731), 38. Temple (George) (1901-1992), 26. Thiele (Helge) (geb. 1975), 720. Thiele (Thoralf) (geb. 1970), 720. Thieme (Georg) (1831-1910), 165. Thomae (Johannes Karl) (18401921), 247.
Valentin (Georg) (1848-1926), 188. Valentine (Frederik Albert) (19112003), 444, 564. Valéry (Paul) (1871-1945), 685. Varga (Ottó) (1909-1969), 514. Veblen (Oswald) (1880-1960), 554.
PERSONENVERZEICHNIS
Velte (Wolfgang) (geb. 1928), 673, 679. Venske (Oswald) (1867-1939), 246, 258, 293, 297, 298. Verbeek (Johannes) (20. Jh.), 380. Viterbi (Adolfo) (1873-1917), 410. Vivanti (Gulio) (1859-1949), 509. Voegeli (Yvonne) (21. Jh.), 304. Volterra (Vito) (1860-1940), 410, 446, 598, 599, 624, 625.
W Wallenberg (Georg) (1864-1924), 143, 239, 240-242. Wangerin (Friedrich Heinrich) (1844-1933), 453. Weber (Hans) (1910-?), 138. Weber (Heinrich) (1842-1913), 145, 365, 366, 397, 409. Weierstraß (Karl) (1815-1897), 12, 15, 18, 19, 22, 23, 24, 25, 26, 29, 35, 50, 51, 65, 69, 78, 86, 89, 99, 101, 124, 129, 130, 133, 140-175, 178-188, 191-207, 220, 223-251, 254-259, 266, 268, 270, 272, 273, 275, 277279, 281-283, 285-287, 292, 294, 295, 297, 299-303, 304, 306, 308, 309, 310-317, 330, 338, 340, 350, 352, 354, 355, 362, 327, 376, 391, 395, 402, 408, 413, 418, 421, 430, 444, 445, 471, 509, 517, 536-538, 543, 546, 548-550, 553-560, 562, 563, 566, 568, 571, 572, 575, 591, 593, 595, 605, 616, 618, 622, 627, 628, 634, 667, 682, 689, 690, 692, 694, 695, 698, 703, 704, 709, 713, 717. Weltzien (Karl) (1852-1928?), 189. Weyr (Emil) (1848-1894), 293. Weyl (Gertrud) (20. Jh.), 380. Weyl (Hermann) (1885-1955), 398, 400, 401, 446, 451, 452, 495-
793
498, 648-652, 654-656, 658, 667, 668, 671, 706, 709, 715. Whittaker (Edmond Taylor) (18731956), 635. Whittemore (James Kelsey) (18781964), 411. Widman (Anders) (1865-1959), 179. Wilhelm II (Kaiser von Deutschland) (1859-1941), 358. Wilkins (Ernest J.) (geb.1923), 311. Willems (Jan C.) (geb. 1939), 50. Wilson (Norman Richard) (18791944), 556. Wittsack (Paul) (1862-?), 507. Wolf (Emil) (geb.1922), 464. Wuensch (Daniela) (geb. 1960), 485.
Y Yandell (Benjamin H.) (geb. 1951), 438. Yoshiye (Takuyi) (1874-1948/49?), 545. Young (Laurence Chisholm) (19052000), 443, 628, 630. Yushkevich (Adol’f Pavlovich) (1906-1993), 21, 23.
Z Zeidler (Eberhard) (geb. 1940), 629. Zenodorus (2. Jh. v. Chr.), 29. Zermelo (Ernst) (1871-1953), 23, 64, 101, 114, 160, 218, 224, 225, 227, 232, 293, 298-303, 306, 308, 309, 312, 317, 360, 362, 388, 410, 441, 512, 536, 542, 549, 566, 616, 694, 704, 714. Zitarelli (David) (geb. 1941), 719. Zoll (Otto) (1878-?), 401, 441, 586.
SACHVERZEICHNIS
Man beachte, daß die im Sachverzeichnis erfaßten Schlagwörter eine gewisse sprachliche Spannweite des Begriffs zu berücksichtigen haben, so daß Einträge wie für “Äquivalenz von Variationsproblemen” und “äquivalente Variationsprobleme” oder wie für “Legendresche Bedingung” und “LegendreBedingung” und “Bedingung von Legendre” wie üblich lediglich unter einem gemeinsamen Schlagwort zu finden sind. In erster Linie wäre hier auf solche zentralen Begriffe wie Extremale, Feld, Variation u.a. nebst ihren Komposita hinzuweisen. Um das Register effektiver zu machen, sind solche Begriffe häufig auch in einem weiteren Sinn erfaßt worden, indem etwa “Unabhängigkeitsforderung” und “Unabhängigkeitsbedingung” unter einem Stichwort erscheinen, auch wenn ihr Sinn letztlich nicht ganz gleich ist. Solches Subsumieren bündelt jedoch den begrifflichen Zugriff, und der Leser wird ggf. das im Register genannte Stichwort an der angegebenen Stelle in einer weiteren oder etwas geänderten Form finden. Allerdings ist größeren sprachlichen Unterschieden wie bei “invariantes Integral” und “Unabhägigkeitsintegral” und “wegunabhängiges Integral” Rechnung getragen worden.
A
Analysis der unendlich vielen Variablen, 449, 450. analytische Fortsetzung, 152. analytischer Standpunkt, 517. Abstand, 542. anormales Variationsproblem, 97. Aktion, 113. Anpassungsbedingung, 407, 419, akzessorisches Variationsproblem, 421, 500, 664. 286, 354, 363. Anstieg der Extremale, Differentialallgemeine Lösung, 600, 612. gleichung, 345. allgemeine Lösung der HamiltonApproximation, sukzessive, 257, Jacobischen Differentialglei278. chung, 332, 335. Approximationssatz, Weierstraßallgemeines Feld, 61. scher, 165, 234, 235, 236, 248. allgemeinste Problem der Variationsäquidistant, 81, 84. rechnung, 170. Analogie von Optik und Mechanik, äquidistante Kurven, 82, 104, 105. 37, 462, 490. äquidistante Schar, 71, 85, 95, 105. analyse fonctionnel, 626. Äquidistanzforderung, 72, 80, 83, 101. analyse générale, 626.
796
SACHVERZEICHNIS
äquivalente Variationsprobleme, 72, 83, 90, 94, 96, 97, 116, 122, 123, 124, 463, 464, 476, 477, 503, 505, 510, 532, 660, 681. Äquivalenz von Variationsproblemen, 475, 514, 618, 619, 640, 660, 681. Äquivalenz, lokale, 514. arithmetische Beweisführung, 153. Auflösungssatz für Gleichungen, 234. Auflösungssatz impliziter Funktionen, 550, 559, 565, 568, 572. Ausgangsmannigfaltigkeit, transversale, 377. Ausgangswellenfläche, 328. Ausnahmefall bei isoperimetrischen Variationsproblemen, 64. Axiom von der Existenz einer Kurvenlänge, 481. axiomatische Auffassung, 110. axiomatische Methode, 403, 492. Axiomatisierung, 398, 399.
B Begriff der Lösung, sinngemäße Erweiterung, 88. Beltramische Differentialgleichung (für Richtungsfeld), 397, 421, 457, 569, 618. benachbarte (Vergleichs)Kurven, 353. Bertrandsche Behauptung, 347. Bertrandsche Einwand (bzgl. konjugierter Punkte), 214. Bertrandsche Einwand bei kürzesten Linien (Bonnet), 214. Bertrandsches Kurvenpaar, 105. Berührungstransformation, 82, 105, 103, 110, 324, 327, 328, 464, 512, 655, 656, 674, 700, 715. Berührungstransformationen, eingliederige Gruppe, 656, 674.
Beschränkung durch Ungleichungen, 444. Bewegungsgleichung (Extremalen), 333, 360. Beweis, einfachster, 404. Beziehung von Mathematik und Physik (Hilbert), 472. Beziehungen Weierstraß und Steiner, 187. Bildfläche, 328. Bodenfeld, 380. Boernersche Konstruktion, 656. Bogenelement in geodätischen Polarkoordinaten, 341, 351, 353. Bohr-Festspiele, 489. Bohrsche Postulate, 489. Bolza-Problem, 382, 383, 506, 532, 533, 634. Brachistochrone (Zykloide), 29-54, 104, 197, 259, 267, 319, 696. Brachistochrone, Normale der, 51. Brachistochrone, Randwertproblem der, 51. Brachistochronenproblem, 8, 10, 12, 14, 16, 19, 21, 29-54, 119, 175, 179, 181, 186, 197, 198, 222, 237, 243, 259, 321, 399, 431, 575, 694, 696, 697, 698, 713. Brachistochronenproblem, analytische Fassung, 31. Brachistochronenproblem, Aufgabe (1696), 31. Brachistochronenproblem, Minimalitätsnachweis, 52ff. Brachistochronenproblem, verallgemeinertes, 380. Brachistochronenproblem, Vergleichsbahnen, 31. Brechungsgesetz, Veranschaulichung durch Joh. Bernoulli, 691. Brechungsindex, 323, 325, 423, 424. Brennfläche (Kaustik), 291f., 545. Brennlinie, 545. Brennpunkt, 396, 379, 545. Briefwechsel Weierstraß-Schwarz, 244, 245.
SACHVERZEICHNIS
Bündel von Strahlen, 37.
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correspondierender Punkt, siehe konjugierter, 190, 199, 216. criss-cross curves, siehe Feld, 265.
C C0-Norm, 123, 337. C1-Norm, 123, 337. calcolo funzionale, 624. calcul fonctionnel, 625, 626. Calibration, 683, 684. Calibrator, 630. Carathéodorysche Formeln, 467. Carathéodoryscher Ansatz, 645, 668. Cartanscher Kalkül, 515, 547, 642, 648, 658, 659, 676, 715. Catenaria, siehe auch Kettenlinie, 261, 291. Catenoid, 270, 280-282, 288, 643. Cauchysche Integrationsmethode, 608. Cayleysche Maßbestimmung, 150. champ d’extrémales, 618. champ fonctionnel (Hadamard), 316, 625, 626, 627. champ géodésique, 658. champ réguliere d'èxtrémales, 89. characteristic function (Hamilton), 324, 327, 329, 331, 332, 344. Charakteristiken (Cauchy), 134, 135, 425, 459, 656. Charakteristiken als Extremalen, 381, 386. Charakteristiken der Hamilton-Jacobische Differentialgleichung, 617. Charakteristikentheorie (Cauchy), 104, 107, 119, 134, 381, 459, 650, 656, 678, 679. charakteristische Funktion (Hamilton), 113, 324, 327, 329, 331, 332, 344, 462. charakteristische Funktion (Lie), 656, 674. Conoid, 336.
D δ-Kalkül, 15, 432. Darstellungssatz für die totale Variation, siehe Weierstraßscher Darstellungssatz. de Donder-Weylscher Ansatz, 645, 668. definites Variationsproblem, 87, 88. Delaunaysche Aufgabe, 151, 169, 246, 248, 253, 297, 298. Descartessche Maxime, 404. Differential, exaktes, 313, 649. Differential, totales, 315, 437, 458, 618, 661. Differential, vollständiges, 665, 677. Differential, vollständiges (Malus), 326. Differentialform, 661. Differentialform, Differential einer, 661. Differentialform, geschlossene, 661, 663. Differentialform, integrable, 663. Differentialformen, Ring der, 664. Differentialgeometrie, 345f. Differentialgleichung, MongeAmpére-Typ, 595. Differentialgleichungen der Variationsrechnung, 112. Differentialoperator, selbstadjungierter linearer elliptischer, 287. Differentialungleichung, 497, 501. Differentiation im Mehrdimensionalen, Symbolik (Weyl), 649. Differentiation nach dem Scharparameter, 58. Dilatation, 105. direkte geometrische Methode, 99.
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SACHVERZEICHNIS
direkte Methode (Verfahren) der Variationsrechnung, 39, 52, 64, 68, 70, 74, 85, 86, 99, 109, 113, 202, 368, 401, 443, 449. Direktrix (Drehachse), 260, 289. Dirichletsche Prinzip, 86, 88, 200, 241, 415, 441, 442, 450, 471. Dirichletsches Prinzip, abstrakte Form, 450. Dirichletsches Problem, 399, 401, 410, 412. diskontinuierliche Lösungen, 74, 116. Diskontinuität der Quantentheorie, 493. Doppelbrechung, 325. Doppelintegral, 239, 241, 254, 279, 441, 444, 445, 593, 604, 643, 645, 659. Dreieck Hoher Hagen-BrockenInselsberg, 344. Dreiecksungleichung, erweiterte, 197. Dualität von Lichtstrahl und Wellenfronten, siehe jeweils Lichtstrahl und Wellenfront.
E Eckenbedingung (Erdmann), 161, 166, 176. Eigenwert, 286f., 321. Eigenwertkriterium, 257, 278, 286, 643. Eigenwertproblem, 139, 491. Eigenzeit der Zeitlinie, 482. Eikonal, 113, 329, 410, 614, 717. einbetten (in ein Feld), 128, 352, 377, 425, 499, 508, 546, 575, 616, 656, 675, 678, 679, 681, 706. Einbettung, 508. Einbettungsbedingung, 645, 651. Einbettungssatz, 383, 384, 387.
Einhüllende (siehe auch Enveloppe) einer Kurvenschar, 105, 216, 312. Einhüllende (siehe auch Enveloppe) von Extremalenscharen, 335, 545. Einhüllende (siehe auch Enveloppe) von Lösungskurven, 355, 545. Elementverein, 110, 324. Emissionstheorie, 323, 324. Entfernung, geodätische, 136. Entfernung, optische, 136. Enveloppe, 105, 216, 312, 360f., 459, 460, 486, 487. Enveloppensatz, 104, 105. Ergodentheorie, 515. erste Variation, 175, 178, 183, 185, 233, 293, 340, 416, 417, 424, 463, 471, 551, 634, 693, 688. erweiterte Felder, 79. Erweiterung des Lösungsbegriffs, 88. Euler-Lagrangesche Differentialgleichung, 17, 36, 38, 71, 75, 84, 86, 89, 90, 91, 107, 127, 128, 153, 154, 161, 187, 196, 213, 217, 220, 229, 230, 242, 254, 259, 263, 269, 292, 294, 301, 302, 305, 313, 315, 316, 340, 364, 377, 382, 391, 396, 397, 415, 424, 425, 435, 436, 437, 443, 457, 458, 463, 465, 469, 470, 471, 474, 477, 482, 483, 484, 486, 496, 505, 507, 528, 529, 530, 541, 542, 543, 544, 549, 560, 561, 572, 573, 577, 578, 587, 588, 595, 607, 616, 635, 636, 637, 648, 651, 656, 657, 665, 669, 676, 677, 690, 693, 700. Euler-Lagrangesche Differentialgleichung, allgemeine Lösung, 600. Eulersche Differentialgleichung, siehe Euler-Lagrangesche Differentialgleichung. Eulersche Differentialgleichung in du Bois-Reymondsche Form, 578.
SACHVERZEICHNIS
Eulersche Differentialgleichung in Haarsche Form, 578. Eulersche Differentialgleichung in Weierstraßscher Form, 175, 177, 187, 196, 215, 220, 268. Eulersche Differentialgleichung, Randwertprobleme für, 690. Evolute, 105, 360. Evolvente, 105. Existenz von Lösungen, 414, 425, 438. Existenz, Arten der, 413. Existenzbeweis (20. Hilbertsches Problem), 88. Existenzbeweis für Minima (Hilbert), 564. Existenzsatz von Picard (Randwertprobleme), 572. Existenzsätze, 368. Experimentalmathematik, 249. Extrema von Funktionalen, 7ff. Extrema, Auffassungen von, 25, 88, 117. Extrema, schwache, 25. Extrema, starke, 25. Extremalaufgabe, 8. Extremale, 37, 49, 314, 333, 354, 365, 370, 371, 372, 373, 377, 392, 408, 421, 431, 542, 547, 604, 655, 656, 665, 681, 683, 698, 700, 704, 710, 715. Extremale, Projektion der Charakteristiken, 617. Extremale, analytische, 216, 465. Extremale, Approximation einer, 186, 241. Extremale, benachbarte, 310. Extremale, Berandung, 604. Extremale, eingebettete, 395, 408, 499, 616. Extremale, geknickte, 65, 90, 97. Extremale, lokal längs einer, 551. Extremale, lokale Aussagen, 155. Extremale, reguläre, 126, 233, 364, 703, 709. Extremale, schwache, 294.
799
Extremale, starke, 68, 87, 101, 130, 354, 694. Extremalen, geschlossene, 124. Extremalenbogen, 347, 352, 353, 361, 364, 371, 375, 376, 508, 616. Extremalenbogen, normal und anormal, 354. Extremalenbogen, Parameterdarstellung des, 364. Extremalenbogen, regulärer, 364. Extremalenbüschel, 129. Extremalenfeld, 34, 51, 79, 126, 127, 128, 147, 148, 163, 178, 184, 213, 217, 270, 273, 308, 309, 319, 341, 355, 421, 429, 502, 513, 528, 641, 644, 651, 666, 673, 674, 677, 678, 697, 701, 709, 710, 715. Extremalenfeld für geknickte Extremalen, 65. Extremalenfeld, allgemeines (Kneser), 391. Extremalenfeld, Existenz, 117, 573. Extremalenfeld, geometrische Bedeutung, 701. Extremalenfeld, Röhrenfeld, 136. Extremalenfeld, siehe auch Schar, 536, 541, 543, 567, 573, 579, 582, 615, 625, 628. Extremalenfeld, singuläres, 46. Extremalenfeld, uneigentliches, 550. Extremalenfeld, zentrales (stigmatisches), 117, 129. Extremalenfeld, zentrales lokale Konstruktion, 214, 673. Extremalenfeld, zweidimensionales, 551. Extremalenröhre, 602. Extremalenschar, 37, 48, 115, 128, 134, 335, 346, 370, 384, 408, 409, 418, 419, 426, 467, 516, 529648, 669, 674. Extremalenschar, einparametrige, 70. Extremalenschar, feldartige, 129, 134-137, 291, 292.
800
SACHVERZEICHNIS
Extremalenschar, n-parametrige, 91, 316. Extremalenschar, schlichte, 700. Extremalenschar, siehe auch Feld, 539, 541, 543, 549, 565, 573, 574, 577, 604, 608, 609, 611, 620, 638, 640. Extremalenschar, singuläre Punkte, 309. extremales Denken, 7, 685. Extremalintegral, eindimensionales, 327. Extremalität, 475. Extremalität, Art der, 10. Extremalität, lokale, 38. Extremalitätsnachweis, 191, 215. Extremaloide, 578. Extremaloidenschar, 578. Extremalprinzipien, 491. Extremalprobleme, 29, 450. Extremum, absolutes, 167, 191, 197, 199, 202, 213. Extremum, Begriff des, 337, 392. Extremum, Existenz des, 184. Extremum, Hinlängigkeitsbeweis für ein schwaches, 215. Extremum, Hinlängigkeitsbeweis für ein schwaches (Scheeffer), 206. Extremum, Hinlänglichkeitsbeweis für starkes, 209, 217, 236. Extremum, relatives, 199, 213. Extremum, schwaches, 7, 123, 124, 147, 154, 161, 162, 168, 176, 197, 202, 207, 337, 338, 354, 375, 376, 384, 392, 692, 703. Extremum, starkes, 25, 101, 102, 119, 122, 123, 124, 154, 161, 162, 166, 168, 209, 306, 316, 337, 338, 351, 354, 375, 376, 384, 392, 692, 703, 709. Extremwertaufgabe im Rn, 699 Extremwertaufgabe, Gegenbeispiel von Peano, 362. Extremwertintegral, 599, 600. Extremwertproblem für Polygone, 186.
Extremwertprobleme, 691. Exzeßfunktion (E-Funktion), 65, 75, 77, 94, 100-104, 121, 122, 125, 130, 147, 162, 168, 177, 178, 210, 211, 214, 220, 222, 226229, 231, 237, 238, 242, 254, 262, 263, 265, 279, 280, 297, 298, 301, 303, 305, 307, 311314, 317, 351. 391, 500, 501, 505, 511, 535, 562, 569, 597, 605, 631, 639, 640, 643, 644, 647, 650, 670, 672, 678, 703, 708. Exzeßfunktion, modifizierte (Zermelo), 227, 228, 301. Exzeßfunktion, verallgemeinerte (Hilbert), 500, 501. Exzeßfunktion, Zusammenhang mit der Funktion F1, 237f., 242, 297.
F faiscau, 615, 627. faiscau spécial, 627, 628, 629. faisceau de courbes extrémales, 615. faisceau régulier (Hadamard), 316. faisceau spécial (Hadamard), 316. Fall, freier, 53, 54ff. Fallgesetz, 35, 37, 53ff. Familie von Lösungskurven, 355. Familie von Lösungskurven, Einhüllende, 355. familles de transversales, 617. familles parallèles géodesiques régulières, 89. Feld, 50, 127, 162, 166, 217, 221, 229, 237, 246, 259, 261, 275, 285, 289, 303, 307-311, 313, 316, 327, 335, 352, 354, 365, 378, 384, 387, 395, 481, 498, 506, 526, 538, 547, 577, 579, 584, 615, 617, 618, 637, 644, 673, 681. Feld (Bliss), 572.
SACHVERZEICHNIS
Feld Feld Feld Feld Feld Feld
(Gelfand), 637. (Lepage), 675, 676. (Osgood), 549. für Funktionenprobleme, 557. für Kettenlinen, 261. für Parameterprobleme, 557, 560. Feld geodätischer Linien, 351. Feld von Extremalen, 111, 342. Feld, allgemeines, 23, 61, 163, 214, 223, 225, 237, 249, 261, 263, 265, 276, 303, 309, 311, 369, 542, 560, 568, 597, 703, 704, 714, 715. Feld, Ausdehnung des Feldbegriffs, 704. Feld, Debeversche Bedingung, 669. Feld, diffeomorphes Bild, 40, 276. Feld, diffeomorphes Bild des Parameterbereichs, 562. Feld, diffeomorphes Bild eines allgemeinen, 276. Feld, differentialgeometrisch-topologisches, 715. Feld, ebenes, 486. Feld, einbettendes, 545, 668, 669, 671, 678. Feld, erweitertes, 79, 706, 707, 714. Feld, Existenz im Kleinen, 538, 545, 551, 560, 561. Feld, Funktions- (Prange), 604. Feld, geknickte Extremalen, 465. Feld, geodätisches, 12, 25, 127, 328, 396, 547, 629, 642, 647, 648, 650, 651, 656, 657, 661, 664, 665, 666, 667, 668, 670, 672, 673, 675, 677, 678, 680, 706, 710, 717. Feld, geodätisches (zweidimensional), 277. Feld, geologische Veranschaulichung, 551. Feld, geometrisches Bild, 36, 46. Feld, Hauptfeld, 423. Feld, hydrodynamische Deutung, 277, 423.
801
Feld, integrables, 500. Feld, Jacobisches, 347. Feld, Konstruktion, 104, 107, 111, 127, 212, 217, 219, 223, 234, 308, 377, 673. Feld, Konstruktion (Bolza), 560, 567. Feld, Konstruktion (Gernet), 590. Feld, Konstruktion (Hahn), 633. Feld, Konstruktion (Hilbert), 610, 611, 632. Feld, Konstruktion (Mayer), 569. Feld, Konstruktion mit vorgezogenen Punkt, 163, 212, 222, 223, 225, 227, 261, 262, 303, 305, 308, 317. Feld, Kugelfeld, 596. Feld, Mayer-, 137, 308f., 314, 325, 350, 381, 392, 396, 408, 409, 423, 426, 443, 465, 467, 468, 474, 481, 502, 515, 531, 535, 540, 541, 542, 545, 547, 567, 570, 573, 586, 588, 589, 601, 603, 608, 609, 618, 632, 633, 634, 639, 642, 644, 656, 661, 670, 673, 675, 700, 704, 705, 709, 714, 715. Feld, mehrdimensionales, 537, 636, 706. Feld, mehrere Funktionen, 605, 628. Feld, mehrfache Integrale, 257. Feld, optimales, 639, 640, 717. Feld, p-Feld, 474, 496, 497, 536. Feld, quasi-geodätisches, 671. Feld, Querfeld, 423. Feld, räumliches, 309, 384-386. Feld, reguläres, 90. Feld, Röhren-, 134, 601, 632. Feld, singularitätenfreies, 644. Feld, stationäres, 663. Feld, transversales, 317. Feld, verallgemeinertes, 25, 661, 680, 694. Feld, verschiedene Arten, 717. Feld, vollintegrables, 277, 516, 639, 651, 676.
802
SACHVERZEICHNIS
Feld, vollständig integrables, 277, 516. Feld, vorgezogene Punkt, 704, 717. Feld, Weierstraß, 40, 90, 640. Feld, wirbelfreies, 422. Feld, zentrales, 23, 61, 163, 211, 212, 214, 217, 223, 236, 242, 259, 262, 264, 305, 308, 309, 310, 311, 314, 317, 392, 396, 409, 443, 528, 539, 540, 542, 560, 568, 587, 589, 591, 618, 703, 714. Feld, zweidimensionales, 408, 643, 714. Feld, zweidimensionales (Lepage), 660. feldartig, 635. Feldbegriff, 17, 18. Feldbegriff (Carathéodory), 646, 652, 678. Feldbegriff (Lepage), 659-663. Feldbegriff (Schwarz), 263. Feldbegriff (Weierstraß), 192, 202, 214, 242. Feldbegriff (Weyl), 652, 674. Feldbegriff, Abschwächung, 675, 681. Feldbegriff, variierter, 137. Felder, Typen von, 380. Feldextremale, 385, 605, 666. Feldfunktion, 434, 437, 467, 499. Feldintegral, 344, 354, 460, 619. Feldkonstruktion, 396, 397, 425, 428, 444, 466, 467, 505, 533, 539, 542, 548, 552, 560, 563, 567, 569, 575, 577, 585, 591, 621, 636, 644, 655, 658, 664, 673, 675, 678, 694, 706, 714. Feldkonstruktion (Boerner), 658, 664, 678, 679. Feldkonstruktion (Carathéodory), 655, 658, 674, 677, 679. Feldkonstruktion (Debever), 670. Feldkonstruktion (Liesen), 672. Feldkonstruktion (Weyl), 655, 658, 674. Feldtheorie (Young), 533.
Feldkonstruktion, allgemeines Feld aus einem zentralen Feld, 61. Feldkonstruktion, mehrdimensionale, 709, 715, 717. Feldkonstruktion, mehrere gesuchte Funktionen, 466. Feldkonstruktion, räumliche, 591. Feldkonstruktion, Unterschiede bei der, 466. Feldkonstruktion, vorgezogener Punkt, 539, 542, 618. Feldkurve, 128, 266, 665. Feldkurve, eingebettete, 585. Feldlinien, 423. Feldtheorie, 12, 13, 15, 16, 22, 325, 335, 352, 364, 369, 370, 438, 440, 443, 536, 595, 634, 693. Feldtheorie (Kneser), 369. Feldtheorie (Rund), 671. Feldtheorie (Weierstraß), 160, 168, 189, 207. Feldtheorie, analytische Sicht, 406. Feldtheorie, analytischer Zugang, 15. Feldtheorie, Anfang der, 30. Feldtheorie, Ansätze der mehrdimensionalen, 706, 709. Feldtheorie, Ausdehnung (mehrdimensional), 496. Feldtheorie, Carathéodorysche, 30, 50, 72, 89, 104, 114. Feldtheorie, einheitliche (Lepage), 709, 715. Feldtheorie, Entwicklung der, 694, 695, 709. Feldtheorie, erweiterte, 675. Feldtheorie, geometrische, 30, 42. Feldtheorie, geometrische Deutung, 15, 406. Feldtheorie, geometrische Form, 352. Feldtheorie, Geschichte der, 22. Feldtheorie, klassische, 89. Feldtheorie, optische, 326. Feldtheorie, parametrische, 566. Feldtheorie, Weierstraß-Hilbertsche Methode, 61.
SACHVERZEICHNIS
Fermatsches Prinzip, 112, 119, 120, 322, 385, 476, 490, 698, 700. Festschrift für Weierstraß, 248, 249, 251, 253, 257, 272-287, 643, 704. field, siehe Feld. figuratrice, siehe Figuratrix, 330. Figuratrix, 329, 330. Finslersche Geometrie, 52, 236, 437, 514, 673. Finslersche Metrik, 437. Fläche in Parameterdarstellung, 340. Fläche kleinsten Inhalts, 704. Fläche, krumme, 339, 341. Fläche, Krümmung einer, 341. Fläche, reguläre (Kneser), 383. Fläche, transversale, 543. Flächen, unendlich benachbarte, 251. Flächendarstellung, 336. Flächenfunktional, 285. Flächeninhalt, Variation des, 281. Flächenproblem, 688. Flächenschar, 279, 285, 648. Flächenstreifen, siehe auch Streifen, 23, 162, 163, 177, 207, 211, 215, 217-221, 225^, 231, 236, 270, 301, 305, 306, 310, 341, 396, 408, 417, 538, 567, 636, 703, 717. Flächenstreifen, Existenz, 177, 214, 215, 229, 305. Flächenstreifen, gürtelförmiger, 276. Flächenstück, 342, 351, 604. Flächenstück, Normale eines, 271. Flächentheorie, 455. Flugbahn eines Vogels, 187. Foliation, 628. Folierung, 35, 37, 56, 630. fonctionelle, 624. Fourieranalysis, 235. Fourierreihen, 235. Fredholmsche Funktionalgleichung, 403, 447. Fredholmsche Sätze, 491. Fredholmscher Integraloperator, 449.
803
freie Randwerte, 355, 384, 645, 649, 652, 654, 658, 695, 710, 711, 712. freier Fall, 53, 54ff. freier Fall, Extremalen und Synchronen, 55. Freirandprobleme, siehe freie Randwerte. Fresnelsche Strahlenfläche, 102. Fundamentalgleichungen (Carathéodory), 80, 83, 101, 121, 122, 125, 127, 344, 510, 566, 618, 619, 656, 665, 677, 680, 684, 699, 711. Fundamentalgrößen E, F, G, 344. Fundamentallemma, 340. Funktion, 626. Funktion F1, 175, 177, 189, 196, 197, 201, 214, 215, 226, 228, 263, 374, 376, 560, 562, 573, 620. Funktion von Funktionen, 403. Funktion, analytische, 194, 364, 371, 465, 546. Funktion, Begriff der, 180. Funktion, charakteristische, 462. Funktion, differenzierbare, 166. Funktion, Entwicklung willkürlicher nach Eigenfunktionen, 388. Funktion, erzeugende, 324. Funktion, Gegenbeispiel nicht-differenzierbare, 166. Funktion, halbstetige, 67. Funktion, mehrdeutige, 164. Funktion, Minimalfunktion, 471. Funktion, reguläre (Kneser), 364, 371, 372. Funktion, stetige, 166, 213, 450. Funktion, stetige aber nicht differenzierbare, 228, 248. Funktion, trigonometrische Darstellung, 235, 251. Funktion, unterhalbstetige, 67. Funktion, willkürliche, 166, 168, 193, 195, 235. Funktional, 403.
804
SACHVERZEICHNIS
Funktional, lineares (fonctionelle linéaire), 626. Funktionalanalysis, 316, 623ff. Funktionaldeterminante (Jacobi), 334. Funktionalräume (Threlfall, Seiffert), 629 Funktionenfunktion, 403. Funktionenproblem, 19, 21, 124, 94, 131, 170, 364, 365, 425, 427, 620, 621, 688. Funktionenraum, 626. Funktionenraum, Vervollständigung, 690. Funktionsbegriff, 8. Funktionsbegriff (Dirichlet), 164. Funktionsbegriff (Euler), 164. Funktionsbegriff (Weierstraß), 164. Funktionsbegriff, allgemeiner, 25. Funktionsbegriff, analytischer, 14. Funktionsbegriff, geometrischer, 14. Funktionsfeld, 604. funzione delle linee, 624.
G Gaußsche Gleichungen, 344. Gaußsche Koordinaten, 701, 713. Gaußsche Theorie der geodätischen Linien, 357. Gaußsches Netz, orthogonales, 422, 423. Gefälle, geodätisches, 77, 79, 82, 101. Gefällefunktion, 345, 397, 419, 428, 434, 457, 503, 512, 569, 573, 582, 601, 618, 644, 665, 713. Gefällefunktion (slope function), 582. Gefällekurve, 98, 110. Gefällskurvenfeld, 508. geknickte Extremale, 65, 74, 187. geknickte Lösungen, 187.
Geodäsie, 338. geodätisch äquidistant, 71, 82, 83. geodätisch äquidistante Kurven, 694. geodätisch parallel, 55. geodätisch-äquidistante Flächen, 71, 95, 100, 115. geodätisch-äquidistante Kurven, 82, 100, 103, 106, 128. Geodätische, 319, 345, 348, 350-355, 380, 434, 482, 629, 636, 702, 713. Geodätische, Abstand zwischen ihnen, 347. Geodätische, Schar von, 347. geodätische Äquidistante, 72, 73, 74, 95, 98, 107, 108, 114, 666. geodätisches Dreieck, 340, 346. geodätische Entfernung, 136, 421, 422, 437, 462, 614, 619. geodätische Koordinaten, 12, 351, 353. geodätische Krümmung, 346. geodätische Linie, 39, 119, 214, 303, 320, 346, 347, 351, 352, 357, 361, 373, 396, 410, 421, 422, 434, 435, 437, 481, 513, 556, 614, 666, 713. geodätische Linien auf Mannigfaltigkeiten, 357. geodätische Null-Linie, 482. geodätische Parallelen, 89, 90. geodätische Parallelkoordinaten, 93, 352, 341, 342, 351. geodätischer Abstand, 344. geodätischer Abstieg, 502. geodätischer Bogen, 373. geodätischer Gradient, 77. geodätisches Feld, 12, 115, 328. geodätisches Gefälle, 32, 45, 49, 70, 71, 77, 79, 82, 90, 675. geodätisches Koordinatensystem, 55, 396. geodesic coverings, 533. Geometrie, 399. Geometrie, innere, 339. Geometrie, nichteuklidische, 345.
SACHVERZEICHNIS
Geometrie, nichteuklidische (Klein), 150. Geometrie, pseudo-euklidische, 481. Geometrie, stetigkeitsfreier Aufbau, 389. Geometrie, synthetische, 147f. geometrische Optik, 111, 112, 119, 133, 134, 319, 321, 324, 329, 515, 516, 539. geometrischer Abstand, 481. geometrisches Variationsproblem, 129. Geradenbüschel, 327. Gesamtkrümmung, 339. Geschwindigkeitspotential, 422. Gleichgewichtsfiguren, 643. Gleichgewichtsfigur flüssiger Körper, 290. Glycerin-Lösung (Schwarz), 250. Goldschmidtsche Lösung, 187, 260, 291. Gradientenfeld, 651. Granattrichter, Problem des, 259, 267. Gravitationspotentiale, 480. Gravitationspotentiale, Maßbestimmung als, 473, 483. Gravitationstheorie, 485. Greenscher Satz, 463. Grenzbedingungen, 253. Grenzformel (Prange), 598, 599, 601, 603. Grenzkreistheorem, 114. Groninger Programm (1697), 31, 54. Großkreis, konjugierte Punkte, 352. Grundfunktion, 116, 119. Grundfunktion, positive Homogenität der, 129. Grundgleichungen der Physik (Hilbert), 480. Grundproblem der Variationsrechnung, 16, 687. Gruppentheorie in der Variationsrechnung, 445.
805
H Hadamard-Lévysche Ableitung, 603. Halbstetigkeit, 368, 682. Hamilton-Funktion, 73, 73, 113, 130, 131, 423, 484, 488, 544, 599, 656, 674. Hamilton-Jacobi Formalismus, 402. Hamilton-Jacobi Theorie, 357, 381, 385. Hamilton-Jacobische Differential(un)gleichung, verallgemeinerte, 500, 501. Hamilton-Jacobische Differentialgleichung, 16, 71, 73, 80, 84, 85, 104, 105, 111, 113, 126, 127, 131, 134, 135, 137, 314, 324, 325, 328, 331, 332, 333, 343, 344, 378, 379, 386, 392, 393, 396, 418, 427, 436, 457, 458, 462, 466, 467, 469, 474, 475, 482, 486, 490, 500, 501, 529, 536, 541, 542, 543, 577, 598, 600, 604, 608, 612, 617, 619, 650, 657, 699. Hamilton-Jacobische Differentialgleichung, Verallgemeinerung durch Kneser, 391. Hamilton-Jacobische Differentialgleichung, vollständiges Integral, 600, 613. Hamilton-Jacobische Differentialungleichung, 680, 707, 711. Hamilton-Jacobische Differentialungleichung, Randwertprobleme, 707. Hamilton-Jacobische Theorie, 74, 89, 97, 133, 426, 439, 441, 458, 461, 464, 470, 488, 613, 635, 674, 683, 713. Hamilton-Jacobische Theorie für Doppelintegrale, 441. Hamilton-Jacobische Theorie, führende Rolle, 473, 488. Hamiltonsche Mechanik, 319. Hamiltonsches Integral, 614.
806
SACHVERZEICHNIS
Hamiltonsches Prinzip, 463, 478, 483, 484, 490, 505. Hauptgleichungen (Koenigsberger), 507. Heisenbergsche Deutung, 491. Herglotz-Funktion, 657. Hilbert als Formalist, 398. Hilbert-Form, 514. Hilbertraummethoden, 450. Hilberts 19. und 20. Problem, 412. Hilberts Notizhefte, 495-501. Hilberts 20. Problem (allgemeine Randwertaufgabe), 200, 690. Hilberts 23. Problem (Variationsrechnung), 314, 390, 391, 402, 414, 438, 660. Hilberts 24. Problem, 404, 494. Hilberts Vortrag in Paris (1900), 344, 375, 388, 389, 398, 399, 402, 411, 412, 415, 421, 424, 425, 439, 443, 444, 468, 476, 494, 506, 529, 536, 540, 585, 587, 613, 660, 705, 714. Hilbertsche Methode, 316, 574, 634. Hilbertsche Theorie, 133. Hilbertsches Unabhängigkeitsintegral, siehe Unabhängigkeitsintegral und invariantes Integral. hinreichende Bedingungen für Extrema, 16, 362, 365, 367, 391, 644, 649, 665, 671, 678, 680, 692, 694, 703, 714. hinreichende Bedingungen (Weierstraß), 147, 162, 171, 176, 191, 197, 202, 205, 206, 210, 211, 213-215, 217, 236, 262, 263, 279, 296, 297, 306, 308, 311, 555, 574. hinreichende Bedingungen für starke Extrema, 395, 407, 421, 429, 469, 470, 471, 535, 560, 620, 621. hinreichende Bedingungen für starke Extremalität (Hilbert), 555. hinreichende Bedingungen für starke Minimalität (Kneser), 376, 383, 387.
hinreichende Bedingungen für starke Minimalität (Weierstraß), 350, 376, 384, 390. hinreichende und notwendige Bedingungen bei parametrischen und nichtparametrischen Problemen, 228, 242, 253, 279. hinreichendes Kriterium für schwache Minimalität, 354, 362. hinreichendes Kriterium für starke Minimalität, 347, 349, 350, 376. Hüllen, extremale, 379. Hüllensatz (Kneser), 361. Hüllensatz (Zermelo), 360. Huygenssches Prinzip, 47, 83, 112, 119, 120, 327, 335, 700.
I Ideal im Ring der Differentialformen, 664. Idee, regulative (Kantisch), 493. Indikatrix, 102, 107, 121, 329, 330. indirekte Methode der Variationsrechnung, 39, 86, 113, 714. Infimum, 166, 200, 413. Integrabilität, 432, 433, 498, 497, 705. Integrabilität auf der Extremalen (geodätisches Feld), 277. Integrabilitätsbedingungen, 127, 128, 396, 397, 418, 436, 463, 457, 500, 516, 540, 544, 569, 585, 601, 607, 651, 661, 663, 677, 678. Integrabilitätsfragen, 58. Integral der Eulerschen Differentialgleichung, intermediäres, 425, 436, 437, 445, 458, 463, 466. Integral, invariantes, 375. Integral, wegunabhängiges, 354, 408, 418, 419, 428, 427, 437.
SACHVERZEICHNIS
Integralbegriff, Erweiterung durch Weierstraß, 167, 212, 235. Integralgleichungen, 399, 400, 401, 406, 442, 446, 447, 448, 456. Integralgleichungen, Theorie der, 286, 388. Integralinvariante, 134, 135, 137, 513, 515, 602, 603, 634, 635. Integralinvariante, absolute, 423, 603. Integralinvariante, Poincarésche, 423. Integralinvariante, relative, 136, 601, 602, 535. Integrand, regulärer, 373. Integrationskonstanten, diskontinuierliche, 486. Integrationstheorie (Cauchy), 344. Invarianten, metrische, 437. invariantes Integral, 93, 97, 117, 375, 397, 407, 423, 425, 427, 462, 497, 505, 510, 528, 531, 547, 569, 577, 583, 618, 650, 674, 675, 676, 680, 683, 694. invariantes Integral (Hilbert), 93, 97, 117, 375. Invarianzeigenschaften, 418, 480. Invarianzforderung gegenüber Parameterdarstellung, 428. irreguläres Variationsproblem, 97. Isochronenproblem, 43. isoperimetrische Eigenschaft der Kugel, 170, 233, 239, 248, 257, 593. isoperimetrische Eigenschaft des Kreises, 99, 231. isoperimetrische Nebenbedingung, 86. isoperimetrische Probleme, 7, 10, 14, 38, 175, 177, 179, 210, 211, 214, 217, 225, 241, 242, 259, 278, 304. isoperimetrische Variationsprobleme im R3, 644. isoperimetrisches Problem, 410, 430.
807
J Jacobi-Felder, 347. Jacobische Bedingung (konjugierte Punkte), 128, 178, 191, 192, 193, 196, 202, 210, 216, 276, 578, 591, 593, 596, 605, 616, 617, 618, 620, 621, 628, 634, 644. Jacobische Differentialgleichung, 213, 425, 633. Jacobische Dynamik, 521. Jacobische Form des Maupertuisschen Prinzips, 132. Jacobische Frage, 379. Jacobische Integrationsmethode, 110, 331. Jacobische Theorie, 425, 518, 548, 634, 694. Jacobischer Formalismus, 213. Jacobisches Kriterium, 335, 351, 363, 369, 370, 376, 384, 387, 390, 504, 527.
K kanonische Differentialgleichung, 656. kanonische Koordinaten, 423. kanonische Transformation, 110, 131, 477, 647, 648. kanonischen Gleichungen, 103, 127, 128, 131, 132, 133, 134, 135, 137, 332. kanonischer Parameter, 328. Kaustiken, 516. Kegelfeld, 380. Keilfeld, 380. Kettenlinie, 175, 184, 187, 251, 257, 259, 261, 267, 268, 282, 288, 291, 292. K-Funktion(al), 25, 682.
808
SACHVERZEICHNIS
klassisches Variationsprinzip, 38. Knickbedingung (Erdmann), 330. Kobersche Methode, 380. Kongruenzbedingungen (Lepage), 660, 663, 664, 667. Königsweg von Carathéodory, 15, 73, 96, 114, 116, 119, 377, 477, 505, 544, 566, 679, 694, 699, 701, 704, 714. konjugierter Punkt, 12, 102, 111, 161, 176, 181, 191, 192, 193, 199, 204, 211, 213, 214, 216, 218, 219, 241, 242, 251, 258, 260, 262, 263, 281, 282, 284, 286, 288, 294, 297, 303, 305, 307, 312, 331, 335, 346, 347, 349, 351, 354, 357, 363, 379, 380, 425, 466, 545, 548, 552, 578, 627, 694, 702. Konstruktion eines Feldes, 302, 377, 673. Konstruktion von Lindelöf, 260f., 280, 284, 289, 291, 292. Kontrolltheorie, 90. Koordinaten, homogene, 24. Koordinaten, krummlinige, 370, 373, 384, 385, 552. Koordinaten, Normal-, 384. Koordinatenlinien, 481. Koordinatensystem, 406, 464, 480. kritischer Punkt, 9. krumme Linien, System von, 342. krummlinige Koordinaten, 370, 373, 384, 385, 464. krummlinige Koordinaten (Kneser), 464. Krümmung, geodätische, 346. Krümmung, mittlere, 643. Krümmungsmaß, 339. Krümmungsradius, 105. Kuhn-Tucker-Bedingungen, 527. Kurve, beliebige, 236. Kurve, diskontinuierliche (geknickte), 298. Kurve, funktional darstellbare, 218. Kurve, funktionale Darstellung, 364, 382.
Kurve, geodätische, 292. Kurve, geometrische, 59. Kurve, mechanische, 59. Kurve, Normale einer, 215, 270. Kurve, physikalisch „sinnlose“, 243. Kurve, reguläre, 193, 195, 197, 371,382, 383. Kurve, rektifizierbare, 201. Kurve, transzendente, 59. Kurvenfeld, 538. Kurvenintegral, Verallgemeinerung, 564. Kurvenintegral, wegunabhängiges, 600. Kurvenlänge, 481. Kurvenlänge, imaginäre, 481. Kurvenproblem, 19, 21, 124, 131, 170, 241, 558, 620, 617, 688. Kurvenschar, 58, 605. Kurvenschar (konjugierte Punkte), 213. Kurvenschar, äquidistante, 502. Kurvenschar, Darstellung, 59ff. Kurvenschar, einparametrige, 70, 431. Kurvenschar, Modulus einer, 59-61 Kurvenschar, variierte, 230, 305. Kurvenschar, zweiparametrige, 646. Kurvenscharen, orthogonale, 431. kürzeste Ankunftszeit, 323. kürzeste Fallzeit, 31ff. kürzeste Linie, 9, 15, 49, 104, 106, 107, 336, 337, 338, 339, 340, 341, 342, 350, 351, 352, 372, 399, 566, 693, 694, 701. kürzeste Linie auf einer Fläche, 175, 179, 184, 193. kürzeste Linie, Differentialgleichung der, 339. kürzeste Verbindungslinie, 693. kürzester Abstand, 265. kürzester Abstieg, 186. kürzester Lichtweg, 7, 323. kürzester Weg, 641.
SACHVERZEICHNIS
L
809
Lepagesche Feldtheorie, 609, 615, 645, 659-663, 664. 667, 671, 679. Lepagesche Forderungen, siehe KonLagrange-Funktion, 113, 132, 649, gruenzbedingungen. 656. Lepagesche Theorie, 13, 609, 615, Lagrange-Problem, 91, 114, 115, 645, 659-663, 664. 667, 671, 401, 506, 507, 530, 532, 634. 679. Lagrangesche Differentialgleichung, Lepagescher Ansatz, 649, 659ff. siehe auch Euler-Lagrangesche, letzte Multiplikator, 334, 335, 458, 416, 417. 468, 474. Lagrangesche Forderung der Definitletzte Multiplikator (Euler), 335. heit, 363. Librationsbewegung, zweidimensioLagrangesche Integrationstheorie, nale, 486. 459. Librationsviereck, 487. Lagrangesche Klammern, 127-129, 134-138, 291, 528, 540, 541, Lichtausbreitung, 35, 119, 329. 543, 545, 547, 567, 577, 588, Lichtbahn, 700. 603, 607, 609, 639, 670, 700, Lichtbrechung, 197, 295. 709. Lichterregung, 120. Lagrangesche Klammern, geometriLichtstrahl, 37, 120, 121, 321, 322, sche Deutung, 515. 323, 327, 335, 431, 529, 700. Lagrangesche Kurvenschar, 231. Lichtstrahl (als Normale an WellenLagrangesche Multiplikatorenregel, fläche), 323. 401, 531. Lichtstrahl, Bündel, 700. Lagrangesche Variation, 175. Lichtstrahl, Krümmung, 322. Lagrangescher Formalismus, 11, Lichtstrahlen, 543. 109, 133. Lichtstrahlen (Feld), 295. Lagrangescher Variationskalkül, Lichtwelle, 121, 335. 133. Lie-Funktion, 657. Lampenproblem, 65, 66. Liesystem, 657. Laplacescher Operator, 286f. Legendre-Bedingung, 49, 75, 77, 93, Liesche Dilatation, 83. 129, 161, 178, 189, 194, 231, Lindelöfsche Konstruktion, 694. 504, 616, 617, 618, 620, 646, Lindemannsche Methode, 380. 673, 682. linearer normierter Raum, 692. Legendre-Bedingung, verschärfte, Linearform, stetige (Integraldarstel197, 202, 219. lung, Riesz), 624. Legendresche Bedingung, siehe hin- Linie, geodätische, 344. reichende Weierstraßsche Linienelement in geodätischen KoorBedingung, 376. dinaten, 351. Legendresche Bedingung, strenge Linienelement, irreguläres, 118. Form, 578. Linienelement, Klassifikation, 118. Legendre-Transformation, 75, 100, Linienelement, positiv (negativ) 113, 126, 130, 327, 645, 652. regulär, 128, 130. Legendre-Transformation, verallgeLinienelement, quadratische Form meinerte, 645. des, 481.
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SACHVERZEICHNIS
Linienelement, reguläres, 97, 118. Linienelement, singuläres, 118. Linienelement, starkes, 122, 130. Liniengeometrie, 329. Linienintegral, 624. Linienintegral, verallgemeinertes, 507. Linienintegral, wegunabhängiges, 436. Linienkoordinaten, 326, 327. Liouvillscher Satz, 515. lokale Extremalität, 38. lokale Störung, 36. Lösung, verschiedene Arten, 689. Lösungen, analytische, 615. Lösungen, konjugierte (v. Escherich), 634. Lösungskurven, Existenz, 302. Lösungskurven, Schar, 302.
M Malus, Satz von, 135, 295. Mathematischer Verein (Berlin), 208, 209, 214, 215, 218, 221, 224, 243, 299, 304, 310. Maupertuissches Prinzip, 132. Maximum, 200. Maximum und Minimum, Jacobi über, 349. Maxwellsche Gleichungen, 484. Mayer field, 527. Mayerfeld, 134, 137, 170, 308f., 325, 350, 381, 392, 396, 408, 409, 423, 426, 443, 465, 467, 468, 474, 481, 504, 515, 518, 531, 535, 540, 541, 542, 545, 547, 567, 570, 573, 586, 588, 589, 601, 603, 608, 609, 618, 632, 633, 634, 639, 642, 644, 656, 661, 670, 673, 675, 700, 704, 705, 709, 714, 717. Mayerfeld, lokales, 511.
Mayerian set of extremals, 568. Mayer-Problem, 381, 387, 460, 506, 518, 531, 532, 634. Mayerschar, 568, 603. Mayersche Determinante, 518, 519, 608. Mayersche Extremalenschar, 396, 429, 528, 568. Mayersche Integrationstheorie, 518. Mayersches Reziprozitätsgesetz, 527. Mechanik, analytische, 333, 521. Mechanistik, 478. Mengenlehre (Cantor), 236. méthode de adjonction, 25, 675, 681. Methode der geodätisch-äquidistanten Flächen, 71. Methode der unendlich vielen Variablen, 450. Methode des steilsten Abstiegs, 352, 502. Methode, direkte, 85. Methode, Hilbertsche, 86, 87. Methode, indirekte, 86. Methode, Weierstraßsche, 86, 89, 90. Metrik eines Variationsproblems, 692. Minimale, Hinlänglichkeit für eine schwache (Weierstraß), 207. Minimale, schwache, 40, 125. Minimaleigenschaft der Kugel, 440, 444. Minimalfläche, 25, 119, 148, 153, 187, 246, 248, 250, 256, 257, 260, 268-271, 273, 276-287, 473, 642, 643. Minimalfläche, Differentialgleichung der, 153. Minimalfläche, Feld, 276, 282. Minimalfläche, Tangentialebene einer, 284. Minimalfläche, Zusammenhang mit analytischen Funktionen, 154. Minimalfläche, zweite Variation, 257. Minimalität, starke, 505.
SACHVERZEICHNIS
Minimalitätsnachweis (Darboux), 352, 714. Minimalproblem, 403, 474. Minimalproblem, definites, 710. Minimum, 166, 200, 413. Minimum, absolutes für Brachistochronenproblem, 197, 198. Minimum, schwaches, 75, 231, 316. Minimum, starkes, 316, 338, 699. Modelle, Gipsmodelle, 250, 251. Mongesche Differentialgleichung, 383, 458, 459, 460, 469, 482, 495, 497. Morse-Theorie, 350. Multiplikatorenregel, 96, 97, 527.
N Nachbarschaft von Funktionen (Weierstraß), 175, 316. Nachbarschaft, engere, 123, 129, 643. Nachbarschaft, weitere, 123. Nachbarschaftsbegriff (Variationsproblem), 8, 124, 175, 236, 300, 316, 337, 373, 692, 693. Nachbarschaftsbegriff, stark und schwach, 373. Naturbeschreibung, doppelter Weg, 474. natürliche Randbedingungen, 505. Navigationsproblem von Zermelo, 299. Nebenbedingungen bei Variationsproblemen, 17, 18, 21, 94. Nebenbedingungen in Ungleichungsform, 564, 592. Nebenbedingungen, Ungleichungen in Gleichungen umgewandelt, 527. negative Krümmung, 349, 351. Newtonsches Variationsproblem, 180, 195, 267, 379.
811
nicht-euklidische Räume, 513. nichtparametrisches Variationsproblem (Funktionenproblem), 21. Niveauflächen (Wellenflächen), 323. Niveaulinie, 683. Normalvariation, 271f., 365, 643. Normalkongruenz, 666. Normalkoordinaten, 370, 384, 385. Notizhefte (Hilbert), 398, 399, 404, 405, 407, 415, 438. notwendige Bedingung, vierte (Weierstraß), 209-211, 219, 221, 226, 233, 258, 263, 267, 311. notwendige Bedingungen (Weierstraßsche Theorie), 196, 205, 214, 219, 233, 300, 304. notwendiges und hinreichendes Kriterium für Extrema, 395. Null-Linie, 481, 482, 483.
O optimale Steuerung, 50. Optimalitätsaussage, 439. Optimierung, dynamische (Bellman), 683. optische Äquidistanz, 133. optische Distanz, 136, 700, 707. optische Entfernung, 136, 700, 707. orthogonale Kurvenschar, 46, 48, 58. orthogonale Schar, 345. orthogonale Trajektorie, 61, 105. Orthogonalität, 372, 543. Orthogonalität zwischen Strahl und Wellenfläche, 325, 326, 713. Orthogonalitätsrelation (Strahl und Welle), 713. Orthogonaltrajektorie, 322, 353. Osculations-Invarianten, 300. othogonale Trajektorie, 322, 353.
812
SACHVERZEICHNIS
P Paradoxon der Variationsrechnung, 154, 180. Paralellkurven, 105, 502. Parallelkoordinaten, Gaußsche, 370, 385. Parameterbereich, diffeomorphes Bild des, 197. Parameterdastellung eines Variationsproblems, 123f. Parameterlinien, 423. Parameterlinien, Netz von, 342. Parameterproblem, 188, 189, 364, 428, 688. Parameterproblem (Kurvenproblem), siehe auch parametrisches Variationsproblem. parametrisches Variationsproblem (Kurvenproblem), 19, 21, 23, 129. Parameterlinien, 701. Pariser Vortrag Hilberts, 344, 375, 388, 389, 398, 399, 402, 411, 412, 415, 421, 424, 425, 439, 443, 444, 468, 476, 506, 529, 536, 540, 585, 587, 613, 660, 705, 714. Pfaffsche Form, 514, 660, 664. Pfaffsches System, 660, 676, 678. Plateausches Problem, 269. Poincarésches Lemma, 206. Polarkoordinaten, 343. Polarkoordinaten, Gaußsche, 370, 385. Ponterjaginsches Maximumprinzip, 532. Potentialfunktion, 422. Potentialgleichung, Randwertaufgabe, 471. Potenzreihen bei Weierstraß, 152. prästabilierte Harmonie, 404, 448, 472, 473, 85. principal function (Hamilton), 599. principle of varying action, 329.
Prinzip der Geradeaus-Bewegung, 422. Prinzip der kleinsten Wirkung (Aktion), 323, 329, 357, 379, 521, 656. Prinzip der kleinsten Wirkung (Maupertuis), 463, 474. Prinzipien, mechanische, 410. Problem der Kurvenlänge, 228. Problem von Delaunay, 114. Problem von Zermelo, 114. Projektionssatz (Hilbertraum), 451. Proportionenlehre, 389. Pseudogeometrie, 481, 482, 484. Punktepaarfunktion, 327, 599, 604.
Q quadratische Form, definite, 118. quadratische Form, indefinite, 118. quadratische Form, semidefinite, 118. Quantelung, 493. Quantenbahnen, 489. Quantenbedingung, 487, 489. Quantenmechanik, 381, 402, 455, 461, 462, 470, 478, 479, 485, 486, 490, 492, 493, 571. Quantenmechanik, Korrespondenz zur Optik, 490. Quantenphysik, 404, 462. Quantrix, 462, 487.
R Randbedingung, nicht sachgemäße, 690. Randbedingungen bei Variationsproblemen, 94.
SACHVERZEICHNIS
Randbedingungen, 21. Randbedingungen, feste, 17. Randbedingungen, freie, 542, 613, 629. Randbedingungen, konsistente (Gelfand), 637. Randbedingungen, natürliche, 542. Randwertaufgabe, Lösbarkeit (parametrisch: F1 ≠ 0), 563, 567, 572, 573, 636. Randwerte, freie, 18, 384. Randwerte, selbstadjungierte, 638. Randwertprobleme, 401, 410. Randwertprobleme bei der Kettenlinie, 290. Randwertprobleme bei Feldkonstruktion, 561, 573, 629. Randwertprobleme der Eulerschen Gleichung, 111. Randwertprobleme, Behandlung von, 447. Regularitätsbedingungen, 673. Regularitätsbereich, 119. relative Integralinvariante, 136. Relativitätstheorie, 381, 399, 402, 404, 455, 469, 470, 473, 474, 478, 479, 482, 485, 492, 493, 571. Relativitätstheorie, Geometrisierung, 469. Richtungsbeschränkung, 376, 377. Richtungsbeschränkungen (im Feld), 217, 223, 237, 376. Richtungsfeld, 49, 51, 101, 313, 408, 420, 421, 424, 466, 482, 497f., 536, 538, 546, 577, 585, 615, 637, 642, 650, 651, 661, 662, 663, 669, 697, 705, 706, 707, 717. Richtungsfeld, extremales, 651, 652. Richtungsfeld, geodätisches, 661. Richtungsfeld, vollintegrables, 546. Richtungsgröße, 618. Riemannsche Fläche, 152f. Riemannsche Krümmung, 481. Riemannsche Metrik, 52.
813
Rieszsche Darstellungssatz, 450. Ritzsches Verfahren, 449. Röhre, 652, 653. Röhrenfeld, 134, 136, 601, 632, 646, 654. Röhrenfläche, 271, 654. Rotationsfläche mit geringsten Widerstand, 379. Rotationsfläche, 104. Rotationsfläche, minimale, 104, 175, 179, 184, 187, 203, 238, 257, 259, 263, 268, 270, 282, 290. Rotationskörper, 296.
S Satz von Gauß bzw. Stokes, 650, 659. Satz von Gauß (über geodätische Linien), 341f., 352, 373, 385, 513, 566. Satz von Gauß (über kürzeste Linien), 566. Satz von Gauß über Geodätische, Verallgemeinerung durch Kneser, 385. Satz von Gauß-Bonnet, 346. Satz von Hopf-Rinow, 694. Satz von Jacobi (allg. Integral), 612. Satz von Jacobi (konjugierte Punkte), 176. Satz von Jacobi (vollständige Lösung), 332. Satz von Malus, 329, 567, 635, 713. Satz von Schwarz, 84, 127, 544, 547. Satz von Weierstraß (Existenz von Extrema), 450. Schar konsistenter Randbedingungen, 637. Schar kürzester Linien, 341. Schar von Brachistochronen, 697. Schar von Extremalen, 46. Schar von Integralkurven, 391.
814
SACHVERZEICHNIS
Schar von Parameterlinien, orthogonale, 343. Schar von Synchronen, 46. Schar von Transversalen, 51, 52, 79, 314, 315, 657. Schar von Vergleichskurven, 15. Schar von Zykloiden, 51, 57. Schar, äquidistante, 71. Schar, feldartige, 635. Schar, orthogonale, 345, 348. Schar, transversale, 51, 52, 79, 314, 315, 353, 371. schnellster Abstieg, 31. Schnitt, geodätischer, 672. Schrödinger-Gleichung, 321, 462, 490. Schrödingersche Theorie, 491. schwache Extrema, 25. Schwarzscher Satz, 84, 127, 544, 547. Seifenblasenexperimente, 250, 256, 269. sphärisches Bild, 285. Sphäroid, 336. Stabilität, dynamische, 379. Standardproblem der Variationsrechnung, 17. Standardschluß der Variationsrechnung, 236. Standardsituation, 263f. starke Extrema, 25. starre Lösung, 96. steilster Abstieg, 70, 74, 90, 502, 646, 675, 714. steilster Abstieg, Methode, 32, 36, 45, 70, 74, 90, 352. Steiner-Preis, 150. Stellungsgröße, 681. Steuerproblem, 532. Steuerung, optimale, 694. Stokesscher Satz, 659. Strahl, 325. Strahl, zulässiger, 121. Strahlenabbildung, 119, 136. Strahlenabbildung, optische, 326.
Strahlenbrechung, atmosphärische, 36, 320, 321, 360. Strahlenbündel, homozentrische, 325. Strahlenbüschel, 329. Strahlenfeld, 424. Strahlenfläche, 121. Strahlenkongruenz, 134, 325. Strahlenmannigfaltigkeit, 134. Strahlenoptik, 321, 327, 328. Strahlensystem, 319, 320, 323, 326, 423, 656. Strahlensystem, optisches, 296. Strecke (in Pseudogeometrie), 482. Streifen, siehe auch Flächenstreifen, 538, 549, 550, 551, 552, 561, 563, 565, 567, 636. Streifenbedingung, 460. Streifenbreite, 621. Stromlinien, 422, 423. Supremum, 200. Synchrone, 46, 48-54, 58.
T Tachystoptote, 31. Temperaturgleichgewicht, 414. Tensor-Analysis, 514. theorema egregium, 339, 340. totale Variation, 347, 349, 361, 374, 376. Trägheitsbahn, 337. Trajektorie, orthogonale, 61, 432, 481. Tranformationsgruppen, Verbindungen zu, 381. Transformation von Clebsch, 316. Transformation von Hölder, 656, 657. Transformation, kanonische, 331, 512.
SACHVERZEICHNIS
Transformationsgruppe, eingliederige, 327. Transformationsgruppe, infinitesimale, 327. transversal, 71, 75, 76, 78, 80, 81, 89, 90, 354, 370, 373, 376, 377, 393, 421, 423, 529, 543, 575, 605, 628. Transversale, 61, 78, 85, 103, 107, 128, 319, 355, 373, 377, 378, 386, 392, 409, 605, 619, 655, 665, 698, 704, 711. transversale Ausgangsmannigfaltigkeit, 377. transversale Beziehung zwischen Strahl und Wellenfläche, 325. transversale Feldfunktion, 711. transversale Fläche, 601, 699. transversale Hyperfläche, 570. transversale Kurve, 84, 409, 467. transversale Kurvenschar, 46, 51, 52. transversale Mannigfaltigkeit, 543, 547, 577. transversale Richtung, 104, 107. transversale Schar, 73, 77, 79, 85, 89, 90, 104, 115, 126, 127, 128, 134, 314, 315, 350, 353, 371, 408, 418, 423, 427, 431, 509, 511, 529, 542, 543, 567, 568, 573, 609, 617, 640, 642, 646, 647, 657, 673, 674, 675, 683, 699, 700, 709, 710, 711, 714, 717. transversale Schar, Abschwächung, 710, 711. transversale Schar, Existenz, 567. transversale Wellenfront, 700. Transversale, geodätische, 666. Transversalenröhre, 386, 644. Transversalenröhre, 711. Transversalensatz (Kneser), 50, 82, 85, 105, 107, 128, 353, 355, 372, 384, 387, 397, 568, 577, 640, 644, 666, 702, 714. transversales Durchqueren, 70, 89, 90. Transversalflächen, 325, 393, 467.
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Transversalität, 18, 25, 70, 80, 81, 133, 372, 383, 384, 387, 392, 393, 394, 396, 505, 542, 547, 587, 616, 617, 644, 654, 665, 675, 694, 711. Transversalität, Konzept, 355, 383386, 541, 575, 610. Transversalität, verallgemeinerte (Kneser), 383-386. Transversalitätsbedingung in kanonischer Form, 136. Transversalitätsbedingung, 80, 81, 83, 103, 429. Transversalitätsbedingung, allgemeine, 383, 384. Transversalitätsbegriff, 542, 617. Transversalitätsforderung, 72, 80, 100, 103. Transversalitätsgleichung, 79. trigonometrische Reihe, 235, 248.
U Überdeckung mit Kreisscheiben, 237. Überdeckung, schlichte, 383. Umgebung einer Kurve, 241. Umgebungsbegriff (stark und schwach), 236. Umkehrproblem (Hirsch), 381. Unabhängigkeitsbedingung, 407, 408, 419, 421, 499, 500. Unabhängigkeitsbedingung (Hilbert), 277. Unabhängigkeitsbedingung (Lepage), 665, 668. Unabhängigkeitsfeld, 62, 468, 497. Unabhängigkeitsfeld (Hilbert), 573, 598, 601, 604, 605, 610, 612. Unabhängigkeitsforderung, 547. Unabhängigkeitsintegral, 396, 399, 406, 414, 416-419, 421-424, 426-431, 433, 434, 437, 459, 462, 463, 464, 466, 468, 487,
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SACHVERZEICHNIS
497, 501, 502, 503, 505, 506, 509, 510, 511, 513, 514, 515, 526, 527, 529, 540, 547, 548, 551, 569, 572, 573, 576, 577, 585, 601, 606, 608, 609, 610, 613, 615, 616, 617, 618, 638, 639, 644, 645, 648, 652, 653, 655, 660, 662, 671, 672, 694, 705, 706, 707, 708, 713, 714. Unabhängigkeitsintegral (Carathéodory), 652, 653, 655. Unabhängigkeitsintegral (Hilbert), 25, 73, 77, 78, 94, 104, 25, 314, 315, 329, 344, 353, 375, 384, 386, 387, 389. Unabhängigkeitsintegral (Weyl), 650. Unabhängigkeitsintegral, erweitertes (Hilbert), 707, 708. Unabhängigkeitsintegral, Motivierungen, 462. Unabhängigkeitsintegral, räumliches, 429. Unabhängigkeitsintegral, verallgemeinertes, 498, 499. Unabhängigkeitssatz, 406, 414, 415, 418, 427, 439, 441, 459, 498, 502, 507, 508, 569, 576, 607, 612, 644, 667. Unabhängigkeitssatz und Flächentreue, 512. Undulationstheorie, 323, 324. Uniformisierung, 152. Uniformisierungsproblem, 240, 254, 460. Unterschied Infimum und Minimum, 689.
Variation der Endpunkte, 205. Variation eines Doppelintegrals, 203. Variation eines dreifachen Integrals, 287. Variation mehrfacher Integrale, 254. Variation, allgemeine, 228. Variation, analytische, 228, 242. Variation, Clebsche Transformation der zweiten, 363. Variation, Dreiecksvariation, 229. Variation, erste, 175, 178, 183, 185, 233, 193, 340, 416, 417, 424, 463, 471, 551, 634, 688, 693. Variation, Eulersche, 229. Variation, geometrische, 12. Variation, hinreichend kleine, 191, 262. Variation, irreguläre, 228. Variation, Lagrangesche, 175, 229, 242. Variation, Legendresche Methode bei der zweiten, 363. Variation, mechanische, 11. Variation, positive zweite, 259. Variation, reguläre, 195. Variation, schwache, 101, 191, 202, 203, 213, 215, 230, 231, 300, 302. Variation, starke, 191, 213, 233, 300, 302. Variation, totale, 11, 16, 100, 102, 123, 168, 176, 177, 180, 191, 195, 202, 206, 262, 267, 272, 314-316, 347, 349, 361, 374, 376, 395, 407, 417, 429, 500, 535, 541, 569, 597, 620, 631, 650, 661, 681, 703, 708, 711. Variation, unendlich kleine, 190. Variation, unfreie, 177. V Variation, Weierstraßsche, 162, 229, 262. Variation, willkürliche, 235. Variation, 167, 196, 212, 236. Variation, zulässige, 191. Variation als Differential eines Funk- Variation, zweite, 161, 167, 176, tionals, 626. 178, 181, 188-190, 195, 196, Variation als lineares Funktional, 199, 202-204, 231, 232, 233, 626. 241, 246, 250, 257-259, 283,
SACHVERZEICHNIS
286, 294, 300, 302, 313, 338, 354, 361, 362, 363, 369, 383, 395, 416, 434, 447, 527, 548, 569, 630, 634, 692, 713. Variation, zweite (Jacobischer Form), 207. Variation, zweite (Legendresche Form), 175. Variation, zweite des Flächeninhalts, 250. Variationen, unfreie, 564. Variationsaufgabe, reguläre, 200. Variationsformel bei veränderlichen Grenzen (erste Variation), 598. Variationsintegral, 49, 107, 132, 409, 418, 619, 639. Variationsintegral, definierte Metrik, 236. Variationsintegral, totaler Zuwachs, 313, 314. Variationsprinzip, klassisches, 14, 38. Variationsproblem für Doppelintegrale, 593. Variationsproblem für Kurven bzw. Funktionen, 18. Variationsproblem für zwei gesuchte Funktionen, 314. Variationsproblem in funktionaler Darstellung, 252. Variationsproblem in Parameterdarstellung, 161, 205. Variationsproblem in Parameterdarstellung (Bolza), 201. Variationsproblem mit festen Randwerten, 170. Variationsproblem mit freien Randwerten, 170, 355, 375, 384. Variationsproblem mit höheren Ableitungen, 380. Variationsproblem mit mehreren gesuchten Funktionen, 241. Variationsproblem, akzessorisches, 286, 354, 363, 633, 634. Variationsproblem, allgemeines, 384, 385.
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Variationsproblem, allgemeinstes (Mayer), 529, 531, 605. Variationsprobleme, Ansätze bei mehrdimensionalen Problemen, 709, 714f. Variationsproblem, äquivalentes, 15, 377, 618, 619, 640. Variationsproblem, Äquivalenz (Bolza), 377. Variationsproblem, Aufstellen eines, 475. Variationsproblem, befreites, 418, 476. Variationsproblem, Bolzasches, 364. Variationsproblem, definites, 87, 88. Variationsproblem, eindimensionales, 709, 715. Variationsproblem, einfachste Aufgabe, 370, 383. Variationsproblem, einfachstes (Bolza), 557. Variationsproblem, einfachstes (Hilbert), 461. Variationsproblem, einfachstes einer oder mehrerer Funktionen, 251. Variationsproblem, einfachstes in Parameterdarstellung, 241, 252. Variationsproblem, funktionales, 374. Variationsproblem, Funktionendarstellung, 537, 557, 558, 560, 570, 620. Variationsproblem, Gaußsches, 447. Variationsproblem, geometrisches, 10, 692, 693. Variationsproblem, homogenes, 132, 382. Variationsproblem, inhomogenes, 131, 382. Variationsproblem, invariantes, 381. Variationsproblem, Jacobisches, 487, 496. Variationsproblem, Maßbestimmung eines, 409. Variationsproblem, Mayersches, 381, 382, 387.
818
SACHVERZEICHNIS
Variationsproblem, mechanisches, 10, 692, 693. Variationsproblem, mehrdimensionales, 386, 394, 641, 709, 710, 717. Variationsproblem, mehrere gesuchte Funktionen einer Variablen, 709, 717. Variationsproblem, nichtparametrisches, 217, 223. Variationsproblem, Paramaterdarstellung, 537, 558, 560, 570, 620. Variationsproblem, parametrisches, 223, 374. Variationsproblem, positiv definites, 119, 122, 201. Variationsproblem, quadratisches, 363. Variationsproblem, quadratisch homogenes, 132. Variationsproblem, quadratisch inhomogenes, 131. Variationsproblem, reguläres, 88, 620, 621. Variationsproblem, reguläres (19. Hilbertsches Problem), 302. Variationsproblem, Variationen (Hilbert), 461. Variationsprobleme, äquivalente, 15, 72, 377, 418, 427, 433, 434, 463, 503, 505, 510, 532, 618, 619, 640, 694, 699, 701, 713. Variationsrechnung als einheitliche Fassung von Mechanik und Optik, 14. Variationsrechnung als führende Disziplin, 403, 491. Variationsrechnung, Aufbau (nach Weierstraß), 242, 246, 252, 258. Variationsrechnung, Aufgabe, 412. Variationsrechnung, direkte Methode, 36. Variationsrechnung, Grundproblem, 687. Variationsrechnung, indirekte Methode, 36.
Variationsrechnung, mathematisches Bild physikalischer Bereiche, 36. Variationsrechnung, mehrdimensionale, 13, 603. Variationsrechnung, Ordnung durch, 456. Variationsrechnung, Paradoxon der, 680. Variationsrechnung, Standardproblem, 688. Variationsrechnung, Verbindung Mechanik-Optik, 36, 321. Variationsrechnung, Weierstraßsche, 173, 299. Variationsrechnung, Zusammenhang Differentialgleichungen usw., 434, 457. Variationsrechnung, Zusammenhang mit Liescher Gruppentheorie, 445, 496. Variierbarkeit, 246. Vergleichselemente, 8. Vergleichsflächen, differentialgeometrische, 285. Vergleichsfunktion(-kurven), 8, 10, 15. Vergleichsfunktion, reguläre, 236. Vergleichsfunktion, zulässige, 70, 163, 166, 212, 213, 230, 265, 300, 315. Vergleichsfunktionen, 688. Vergleichskurve, 126, 395. Vergleichskurve(-funktion), zulässige, 8, 10, 15. Vergleichskurven, Menge der zulässigen, 337, 375, 382. Vergleichskurven, Schar, 15. Vergleichsschar, 286. Verhältnis klassische Mechanik und geometrische Optik, 321, 322, 329. verschärfte notwendige Bedingung (Jacobi), 102. verschärfte notwendige Bedingung (Legendre), 101.
SACHVERZEICHNIS
verschärfte notwendige Bedingung (Weierstraß), 101. Viererpotential, elektromagnetisches, 480, 483. vollständige (totale) Variation, 337. vollständige Differentialgleichung, 335. vollständige Figur, 46, 50, 70, 71, 108, 110, 111, 108, 127, 128, 328, 396, 408, 431, 463, 467, 510, 541, 546, 604, 639, 642, 648, 666, 673, 675, 678, 680, 700, 701, 704, 710, 717. vollständige Lösung der HamiltonJacobische Differentialgleichung, 332, 333, 335. vollständiges Integral, 331, 335, 435, 600. vorgezogener Punkt für die Feldkonstruktion, 98, 163, 212, 222, 223-225, 227, 261, 262, 303, 305, 308, 317. Vorlesungszyklus von Weierstraß, 147ff. Vorzeichen höherer Glieder, 250.
W Wärmeleitungsgleichung, 414. wave surface, 329. Wechsel zwischen Parameter- und Funktionenproblem, 364. Weglänge, optische, 326. wegunabhängiges Integral, 61, 93, 345, 704. wegunabhängiges Integral (Hilbert), 325, 326, 354. Wegunabhängigkeit, 91, 397, 420, 424, 437, 466, 503, 508, 528, 541, 569, 577, 587, 588, 589, 601, 694. Weierstraß-Woche, 245. Weierstraß-Ennepersche Abbildungsformeln, 154.
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Weierstraß-Feld, 717. Weierstraßsche Bedingung, 646. Weierstraßsche Bedingung, strenge Form, 577. Weierstraßsche Darstellungssatz (für die totale Variation), 23, 94, 98, 100, 126, 130, 222, 225, 376, 384, 386396, 397, 407, 408, 416, 417, 421, 429, 434, 444, 500, 501, 509, 513, 528, 535, 538, 539, 540, 541, 547, 549, 562, 563, 574, 575, 577, 588, 592, 597, 609, 615, 616, 617, 618, 620, 621, 627, 628, 629, 631, 638, 639, 643, 644, 650, 653, 661, 666, 669, 678, 679, 680, 703, 706, 708, 710. Weierstraßscher Darstellungssatz bei erweiterter Sicht des Feldes, 563, 708. Weierstraßscher Darstellungssatz bei freien Randwerten (Kneser), 376. Weierstraßscher Darstellungssatz, verallgemeinerter, 500, 501, 708. Weierstraßsche Exzeßfunktion (siehe auch Exzeßfunktion), 100, 104, 122, 130. Weierstraßsche Fundamentalformel (siehe auch Darstellungssatz), 94, 98, 100, 126, 130, 222, 225. Weierstraßsche Konstruktion, 209, 217, 221, 229, 231, 306, 308, 314, 316, 384, 387, 513, 597, 628. Weierstraßsche Kriterium, 650. Weierstraßsche Methode, 86, 317, 574, 634, 644, 672, 674. Weierstraßsche Strenge, 395. Weierstraßsche Theorie der Variationsrechnung, 100, 191, 258, 310, 311, 357, 375, 381, 384, 391, 392, 427, 428, 430. Weierstraßscher Fundamentalsatz, 222, 225, 376, 384, 386. Weierstraßsches Kriterium, 444, 586, 621.
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SACHVERZEICHNIS
Wellenfläche, 431, 516, 529, 539, 541, 543, 656, 698, 700. Wellenfläche, Normale einer, 330. Wellenfläche, orthogonale, 543. Wellenfläche, Tangentialebene einer, 327. Wellenfläche, Wellenfront, 36, 45, 46, 47, 49, 121, 133, 295, 296, 319, 322, 323, 325, 326, 327, 328, 329, 330. Wellenfront, Ausbreitungsgeschwindigkeit, 329. Wellenfront, siehe auch Wellenfläche, 36, 45, 46, 47, 49. Wellenmechanik, 321. Wellenoptik, 321, 490. Wellentheorie des Lichts, 462. Wellenvorgang, 327. Weltfunktion, Miesche, 483. Weltgleichung, 495. Wirbelsatz (v. Helmholtz), 423. Wirkung, 323. Wirkungsfunktion, 113, 462. Wirkungsgröße h, 487. Wirkungsintegral, 132. Wirkungsprinzipien, 321.
Z Zeitlinie (in Pseudogeometrie), 482. Zeitscheide, 483. zentrales Feld, 61. zulässige Strahlen, 121. zulässige Verbindungslinie, 353. zulässige Vergleichselemente, Klasse der, 180, 300. zulässige Vergleichsfunktionen (kurven), 10, 17, 96, 97. Zusammenhang der Euler und Hamilton-Jacobische Differentialgleichungen, 528.
Zusammenhang des Unabhängigkeitsfeldes mit der HamiltonJacobischen Gleichung, 598. Zusammenhang Eulersche und part. Hamilton-Jacobische Differentialgleichung, 396. Zusammenhang Variationsrechnung und partielle Differentialgleichungen, 328. zweite Variation, 11, 91, 114, 161, 167, 176, 178, 181, 188, 189, 190, 195, 196, 199, 202-204, 231-233, 241, 245, 250, 257, 259, 283, 294, 300, 302, 313, 338, 361, 362, 363, 369, 383, 395, 417, 434, 447, 527, 548, 569, 630, 634, 692, 713. zweite Variation in Jacobischer Form, 206. zweite Variation, positive, 162, 168, 181. zweite Variation, positiver semidefiniter Charakter, 634. Zykloide (auch Zyklois), 32, 33, 34, 35, 45, 46, 47, 53, 187, 197, 237.
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Einleitung ......................................................................................................... 7
KAPITEL 1 DAS BERNOULLISCHE BRACHISTOCHRONENPROBLEM UND DIE ANFÄNGE DER FELDTHEORIE 1.1 Das Brachistochronenproblem................................................................. 29 1.2 Johann Bernoullis Lösungen ................................................................... 34 1.2.1 Die Lösung von 1697 (Curvatura radii in diaphanis).................... 34 1.2.2 Jacob Bernoullis Lösung ................................................................ 38 1.2.3 Die Lösung von 1718 (Remarques) ............................................... 39 1.2.4 Johann Bernoullis hinreichender Beweis (die “geometrische Feldtheorie”) ................................................................................ 42 1.2.5 Die Synchronen............................................................................... 45 1.2.6 Ein Hinlänglichkeitsbeweis im Stile Johann Bernoullis................ 52 1.3 Der Sonderfall: freier Fall ....................................................................... 54 1.4 Historischer Exkurs über Kurvenscharen................................................ 58 KAPITEL 2 DER “KÖNIGSWEG” IN DIE FELDTHEORIE 2.1 Carathéodorys Zugang zur Variationsrechnung ...................................... 63 2.2 Eine (mathematische) Skizze der tragenden Idee................................... 69 2.3 Die Herausbildung der geometrischen Methode (die geodätisch Äquidistanten) ....................................................................................... 74 2.3.1 Die Dissertation von 1904 als Ausgangspunkt .............................. 74 2.3.2 Die Rolle der Transversalität.......................................................... 78 2.3.3 Die Entwicklung der direkten Methode ......................................... 85 2.3.4 Äquivalente Variationsprobleme..................................................... 90 2.3.5 Vorlesungen über Variationsrechnung ............................................ 98
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2.3.6 Die Darstellung der direkten Methode im Frank/Mises .............. 109 2.4 Die analytische Wende .......................................................................... 111 2.4.1 Vorbemerkungen ........................................................................... 111 2.4.2 Eine problemorientierte Rekonstruktion der Wende.................... 116 2.4.3 Carathéodorys Darstellung ........................................................... 123 2.4.4 Die “Geometrische Optik” (1937)................................................ 133 2.5 Dissertationen und Habilitationen ......................................................... 138 KAPITEL 3 DIE WEIERSTRAßSCHE WENDE: VON DER ZWEITEN VARIATION ZUM FLÄCHENSTREIFEN 3.1 Über die mathematischen Auffassungen von Weierstraß und deren Auswirkungen...............................................................................................141 3.2 Zur Quellenlage bei Weierstraß............................................................. 155 3.3 Der mathematische Hintergrund............................................................ 161 3.4 Karl Weierstraß: Mathematische Werke, Band 7 (Vorlesungen über Variationsrechnung) ............................................. 169 3.4.1 Vorgeschichte ................................................................................ 169 3.4.2 Inhalt des Bandes 7 der Mathematischen Werke (Variationsrechnung).................................................................. 175 3.5. Die Vorlesungen von Weierstraß über Variationsrechnung ................. 179 3.5.1 Das historische Umfeld ................................................................ 179 3.5.2 Die Vorlesungen über Variationsrechnung ................................... 183 3.5.2.1 Vorlesung SS 1865, privatim 4h ........................................... 183 3.5.2.2 Vorlesung SS 1867, privatim 4h ........................................... 185 3.5.2.3 Vorlesung WS 1869, privatim 4h ......................................... 188 3.5.2.4 Vorlesung SS 1872, privatim 4h ........................................... 188 3.5.2.5 Vorlesung SS 1875, privatim 4h ........................................... 189 3.5.2.6 Vorlesung SS 1877, privatim 4h ........................................... 205 3.5.2.7 Vorlesung SS 1879, privatim 4h ........................................... 207 3.5.2.8 Vorlesung SS 1882, privatim 4h ........................................... 232 3.5.2.9 Vorlesung SS 1884, privatim 5h ........................................... 239 3.5.2.10 Vorlesungen WS 1887 und WS 1889, privatim 4½h und 3h ............................................................................... 243 3.6 Der Briefwechsel zwischen Weierstraß und Schwarz (1866-1893) ..... 243 3.6.1 Über die Quellenlage .................................................................... 243 3.6.2 Die Variationsrechnung und verwandte Themen im
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Briefwechsel............................................................................... 249 3.7 Hermann Amandus Schwarz (1843-1921)............................................ 255 3.7.1 Die Vorlesungen über Variationsrechnung und Minimalflächen .......................................................................... 257 3.7.1.1 Vorlesung Variationsrechnung SS 1888................................ 257 3.7.1.2 Vorlesung Variationsrechnung WS 1896 .............................. 258 3.7.1.3 Vorlesung Variationsrechnung WS 1898 .............................. 263 3.7.1.4 Vorlesung Variationsrechnung SS 1903................................ 267 3.7.1.5 Die Vorlesungen über Minimalflächen im WS 1882 und WS 1887........................................................... 269 3.7.2 Die “Festschrift” von 1885 und verwandte Arbeiten .................. 272 3.8 Einschub: Die Anregung von Lorenz Lindelöf (1827-1908) ............... 287 3.9 Dissertationen und Habilitationen im Umkreis von Weierstraß und Schwarz ............................................................................................... 292 3.9.1 Edmund Husserl (1882)................................................................ 293 3.9.2 Friedrich Edmund Maximilian Blasendorff (1883) ..................... 295 3.9.3 Paul Eduard Wilhelm Howe (1887) ............................................. 296 3.9.4 Oswald Venske (1891).................................................................. 297 3.9.5 Ernst Zermelo (1894).................................................................... 298 3.9.6 Ferdinand Rudio (1881, 1898) ..................................................... 303 3.10 Zur Rezeption der Weierstraßschen Feldtheorie................................. 309 KAPITEL 4 WELLENFLÄCHEN, GEODÄTISCHE UND TRANSVERSALEN 4.1 4.2 4.3 4.4
Allgemeines ........................................................................................... 319 William Rowan Hamilton (1805-1865) ................................................ 322 Carl Gustav Jacob Jacobi (1804-1851) ................................................. 331 Gauß’ Arbeiten über kürzeste Linien aus der Sicht der Variationsrechnung.............................................................................. 336 4.4.1 Vorgeschichte ................................................................................ 336 4.4.2 Carl Friedrich Gauß (1777-1855)................................................. 338 4.4.3 Mindings und Beltramis Rezeption.............................................. 343 4.5 Der Beitrag der französischen Schule der Differentialgeometrie......... 345 4.5.1 Allgemeines................................................................................... 345 4.5.2 Ossian Bonnets Beitrag ................................................................ 346 4.5.3 Der Minimalitätsnachweis von Darboux...................................... 350 4.6 Adolf Kneser (1862-1930) .................................................................... 354
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4.6.1 Zum Leben Adolf Knesers .......................................................... .354 4.6.2 Die Hinwendung zur Variationsrechnung .................................... 359 4.6.3 Das Lehrbuch der Variationsrechnung ......................................... 363 4.6.3.1 Allgemeines ............................................................................ 363 4.6.3.2 Zur Vorgeschichte des Lehrbuches ........................................ 365 4.6.3.3 Die erste Auflage (1900)........................................................ 369 4.6.3.4 Themen der Forschung zwischen den beiden Auflagen des Lehrbuches (1900-1925) ............................................ 378 4.6.3.5 Die zweite Auflage (1925) ..................................................... 382 4.6.4 Hilbert und Kneser........................................................................ 387 4.6.5 Über den Einfluß von Knesers Lehrbuch..................................... 392 KAPITEL 5 HILBERTS UNABHÄNGIGKEITSINTEGRAL UND MAYERFELDER 5.1 Einleitung............................................................................................... 395 5.2 David Hilbert (1862-1943) .................................................................... 397 5.3 Die Variationsrechnung in Hilberts Werk ............................................. 400 5.3.1 Zur Periodisierung von Hilberts Werk ......................................... 400 5.3.2 Der Begriff des Unabhängigkeitsintegrals ................................... 406 5.3.3 Einige Bemerkungen zur Geschichte der Variationsrechnung in Göttingen ............................................................................... 409 5.3.4 Hilberts Konzept ........................................................................... 411 5.4 Das Unabhängigkeitsintegral in Hilberts Vorlesungen über Variationsrechnung ................................................................................. 414 5.4.1 Die Einführung des Unabhängigkeitsintegrals in Hilberts Vorlesungen................................................................................ 414 5.4.2 Eine hydrodynamische und optische Veranschaulichung ............ 421 5.4.3 Vorbereitung des Pariser Vortrags (Problem 23).......................... 424 5.4.4 Das Unabhängigkeitsintegral in parametrischer Form................. 425 5.5 Einige historische Bemerkungen........................................................... 430 5.5.1 Jacob und Johann Bernoulli (1654-1705 und 1667-1748) .......... 431 5.5.2 Leonhard Euler (1707-1783) ........................................................ 432 5.5.3 Adrien-Marie Legendre (1752-1833) ........................................... 433 5.5.4 Eugenio Beltrami (1835-1900) ..................................................... 434 5.5.5 Shiing-Shen Chern (geb. 1911) .................................................... 437 5.6 Bemerkungen zum Hilbertschen Forschungsprogramm Variationsrechnung.............................................................................. 437
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5.6.1 Zur Darstellung des Programms................................................... 437 5.6.2 Allgemeine Bemerkungen zu den Dissertationen ........................ 439 5.6.3 Die Dissertationen zur Feldtheorie............................................... 443 5.7 Beziehungen zu den Integralgleichungen ............................................. 446 5.8 Hilberts Vorlesungen über Variationsrechnung und verwandte Gebiete ................................................................................................ 451 5.8.1 Überblick....................................................................................... 451 5.8.2 Variationen über ein Thema ......................................................... 455 5.8.3 Unabhängigkeitsfelder .................................................................. 465 5.8.4 Anwendungen in der modernen Physik ....................................... 469 5.8.4.1 Ein Blick auf Hilberts naturphilosophische Anschauungen................................................................... 472 5.8.4.2 Variationsrechnung in der Mechanik, Relativitätstheorie und Quantenmechanik ...................................................... 478 5.8.4.3 Variationsrechnung und physikalisches Einheitsideal .......... 491 5.9 Die mathematischen Notizhefte ............................................................ 495 5.10 Bemerkungen zur Rezeption ............................................................... 501 5.10.1 Hilberts Umfeld .......................................................................... 501 5.10.2 Forschung und Forschungsberichte ............................................ 506 5.10.3 Kurzer Überblick zu Lehrbüchern und einigen Forschungsberichten .................................................................. 509 5.10.4 Einige Anwendungen.................................................................. 513 5.11 Adolf Mayer (1839-1908) ................................................................... 517 5.11.1 Stellung von Mayer in der Variationsrechnung.......................... 517 5.11.2 Adolph Mayers wissenschaftliche Vita ...................................... 518 5.11.3 Mayers Arbeiten zur Variationsrechnung ................................... 525 5.11.4 Mayers Beitrag zur Feldtheorie (Mayer-Felder) ........................ 527 5.11.5 Das allgemeinste Problem der Variationsrechnung (Mayer- und Bolza-Probleme)................................................... 529 KAPITEL 6 DIE FELDKONSTRUKTION UND VERWANDTE THEMEN 6.1 Der mathematische Hintergrund............................................................ 535 6.1.1 Gründe für Feldkonstruktionen und ein erster chronologischer Überblick ................................................................................................. 535 6.1.2 Der Feldbegriff (eindimensionaler Fall)....................................... 538 6.2 Die Feldkonstruktion (mathematischer Überblick)............................... 541
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6.2.1 Zur Konstruktion von Feldern für Funktionen einer Veränderlichen ........................................................................... 541 6.2.2 Zur Konstruktion mehrdimensionaler Felder ............................... 546 6.3 William F. Osgood (1900)..................................................................... 548 6.4 Oskar Bolza (1904) ............................................................................... 553 6.4.1 Bolza und die Variationsrechnung in Chicago............................. 553 6.4.2 Das Ithaca-Kolloquium 1901 und seine Folgen .......................... 556 6.4.3 Feldkonstruktionen von Bolza...................................................... 560 6.5 Gilbert A. Bliss (1904) .......................................................................... 571 Anhang..................................................................................................... 578 6.6 Dissertationen zur Feldtheorie bei Hilbert............................................ 584 6.6.1 Nadeschda Gernet (1901) ............................................................. 585 6.6.2 Johannes Müller (1902) ................................................................ 592 6.6.3 Georg Prange (1914)..................................................................... 598 6.7 Adolf Mayer (1903)............................................................................... 605 6.8 David Hilbert (1905) ............................................................................. 609 6.9 Feldtheorie in Lehrbüchern und Monographien: É. Goursat (1905) und J. Hadamard (1910)....................................... 614 6.9.1 É. Goursat (1905, 1915) ............................................................... 614 6.9.2 Variationsrechnung in Lehrbüchern der Analysis ........................ 621 6.9.3 J. Hadamard (1910) ...................................................................... 622 6.10 Bliss und Mason (1908) ...................................................................... 630 6.11 Hans Hahn (1909)................................................................................ 630 6.12 Andere Feldkonzepte ........................................................................... 635 6.12.1 Gelfands Felddefinition .............................................................. 636 6.12.2 Optimale und Weierstraßsche Felder.......................................... 639 KAPITEL 7 AUSBLICKE AUF DIE MEHRDIMENSIONALE VARIATIONSRECHNUNG 7.1 Einleitung............................................................................................... 641 7.1.1 Problemstellung............................................................................. 641 7.1.2 Kurzer historischer Überblick über die mehrdimensionale Feldtheorie ................................................................................. 642 7.2 Das Hilbertsche Unabhängigkeitsintegral in der mehrdimensionalen Variationsrechnung: die Ansätze von Carathéodory und de Donder-Weyl ....................................................................................... 645 7.2.1 Carathéodorys Determinanten Ansatz .......................................... 645
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7.2.2 Der Divergenzansatz von de Donder und Weyl........................... 648 7.2.3 Ein Vergleich der Ansätze im Hinblick auf freie Randwerte ...... 652 7.2.4 Der Zusammenhang der beiden Ansätze...................................... 654 7.3 Lepagesche Felder ................................................................................. 659 7.3.1 Champs géodésiques..................................................................... 659 7.3.2 Boerners Beitrag ........................................................................... 664 7.4 Lepages Theorie und ihre Beziehung zu anderen Ansätzen ................ 666 7.4.1 Spezielle Ansätze .......................................................................... 666 7.4.2 Debevers Ergebnis ........................................................................ 668 7.4.3 Runds allgemeine Feldtheorie ...................................................... 670 7.4.4 Differentialgeometrische und topologische Erweiterungen ......... 672 7.5 Erweiterungen der Feldtheorie .............................................................. 673 7.5.1 Geodätische Felder und erweiterte Feldtheorie............................ 673 7.5.2 Die Boernersche Sicht .................................................................. 675 7.5.3 Klötzlers erweiterte Feldtheorie ................................................... 679 7.5.4 K-Funtionale und Calibratoren ..................................................... 681 ANHANG Vom Nutzen der Feldtheorie für die Variationsrechnung ........................... 685 Chronologie.................................................................................................. 713 Übersicht über die wichtigsten Feldarten in der Variationsrechnung......... 717 Danksagungen .............................................................................................. 719 LITERATUR 1. Vorlesungsmitschriften und nicht veröffentlichte Quellen ..................... 723 Bernoulli, Jacob....................................................................................... 723 Bernoulli, Nicolaus I ............................................................................... 723 Bessel-Hagen, Erich ................................................................................ 723 Bliss, Ames Gilbert ................................................................................. 724 Bolza, Oskar ............................................................................................ 724 Carathéodory, Constantin ........................................................................ 724 Chern, Shiing-shen .................................................................................. 725 Courant, Richard ..................................................................................... 725 Dedekind, Richard................................................................................... 725 Herglotz, Gustav...................................................................................... 725 Hilbert, David .......................................................................................... 726
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Hildebrandt, Stefan.................................................................................. 732 Husserl, Edmund ..................................................................................... 732 Jacobi, Carl Gustav Jakob....................................................................... 732 Kneser, Adolf .......................................................................................... 732 Krull, Wolfgang....................................................................................... 733 Mayer, Adolph......................................................................................... 733 Minkowski, Hermann.............................................................................. 733 Müller, Johannes (eigentlich Richter)..................................................... 734 Richter, Johannes siehe Müller ............................................................... 734 Schwarz, Hermann Amandus.................................................................. 734 Sommerfeld, Arnold................................................................................ 734 Stern, Moritz Abraham............................................................................ 735 Weierstraß, Karl....................................................................................... 735 Zermelo, Ernst ......................................................................................... 739 2. Gesammelte Werke und Briefwechselausgaben ..................................... 739 3. Literatur zur Geschichte der Variationsrechnung und Bibliographien..................................................................................... 741 4. Sekundärliteratur...................................................................................... 742 Aufstellung abgekürzt gebrauchter Zeitschriften mit ihren vollständigen Titeln ............................................................................ 742 Sekundärliteratur .......................................................................................... 742 REGISTER 1. Personenregister....................................................................................... 781 2. Sachregister.............................................................................................. 795