Der Erbrechtsentwurf von Friedrich Mommsen: Ein Beitrag zur Entstehung des BGB [1 ed.] 9783428488414, 9783428088416


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Der Erbrechtsentwurf von Friedrich Mommsen: Ein Beitrag zur Entstehung des BGB [1 ed.]
 9783428488414, 9783428088416

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Schriften zur Rechtsgeschichte Heft 67

Der Erbrechtsentwurf von Friedrich Mommsen Ein Beitrag zur Entstehung des BGB

Von

Ingrid Andres

Duncker & Humblot · Berlin

INGRID ANDRES

Der Erbrechtsentwurf von Friedrich Mommsen

Schriften zur Rechtsgeschichte Heft 67

Der Erbrechtsentwurf von Friedrich Mommsen Ein Beitrag zur Entstehung des BGB

Von

Ingrid Andres

Duncker & Humblot • Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Andres, Ingrid: Der Erbrechtsentwurf von Friedrich Mommsen : Ein Beitrag zur Entstehung des BGB / von Ingrid Andres. - Berlin : Duncker und Humblot, 1996 (Schriften zur Rechtsgeschichte ; H. 67) Zugl.: Frankfurt (Main), Univ., Diss., 1995 ISBN 3-428-08841-7 NE: GT

Alle Rechte vorbehalten © 1996 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Werner Hildebrand, Berlin Printed in Germany ISSN 0720-7379 ISBN 3-428-08841-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 ©

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 1995 von der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main als Dissertation angenommen. Danken möchte ich an dieser Stelle zunächst und vor allem meinem verehrten Lehrer und Betreuer dieser Arbeit, Herrn Professor Dr. Hans-Peter Benöhr, der mein Interesse schon in Seminarübungen auf das Gebiet des Erbrechts gelenkt hat und bei dem ich während meiner Promotion als Wissenschaftliche Angestellte tätig war. Stetes geduldiges Engagement hat diese Arbeit entscheidend gefordert. Mein Dank gilt auch Herrn Professor Dr. Jens Peter Meincke für die Anregung des Themas und Herrn Professor Dr. Hans Erich Troje für die Erstellung des Zweitgutachtens. Danken möchte ich auch Frau Professor Dr. Ilse Staff für die hilfreiche Unterstützung bei der Endfassung der Arbeit und meinen Eltern, meinem Bruder, Frau Elisabeth Baur, Frau Edith Rettig sowie Herrn Nikolaos Lavranos für die orthographischen und technischen Korrekturen. Nicht zuletzt möchte ich der Vereinigung von Freunden und Förderern der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main e.V. für die großzügige Unterstützung der Drucklegung der Arbeit und Herrn Professor Dr. Norbert Simon für die bereitwillige Aufnahme in das Verlagsprogramm des Hauses Duncker & Humblot danken.

Mühlheim am Main, August 1995 Ingrid Andres

Inhaltsverzeichnis

Einleitung und Problemstellung

15 Erster

Teil

Mommsens Leben und Werk Zweiter

20

Teil

Geschichte und äußerer Anlaß des Entwurfes

Erstes Kapitel: Ziele der Juristischen Gesellschaft zu Berlin A. Nationale Einheit durch Rechtsvereinheitlichung B. Unterstützung der Kodifikationsbemühungen

26

27 29 36

Zweites Kapitel: Preisaufgabe im Spiegel der Vorarbeiten zum BGB

39

Drittes Kapitel: Preisaufgabe und Anforderungen der Vorkommission im Vergleich

46

A. Umfang der Aufgabe B. Systemfrage C. Inhaltliche Anforderungen

46 48 50

Dritter

Teil

System und Inhalt des Entwurfes Vierter

58

Teil

Zeitgenössische Kritik am Entwurf

Erstes Kapitel: Bewertung durch die Preisrichter A. Vereinigung von Theorie und Praxis B. Bewertung und Gutachten der Vorkommission im Vergleich

70

71 74 83

8

Inhaltsverzeichnis

Zweites Kapitel: Paul von Roth

86

Drittes Kapitel: Hans von Scheel

90

Viertes Kapitel: Gottfried von Schmitt

95

Fünftes Kapitel: Gesamtbetrachtung

99 Fünfter

Teil

Das Erbrecht des Entwurfes im Spiegel der Zeit

Erstes Kapitel: Grundlage des Erbrechts A. Vermögensfahigkeit B. Zeitpunkt des Anfalls C. Universalsukzession D. Vermögensübergang kraft positiven Rechts I. Staat als Garant des Erbrechts 1. Naturrechtliche Betrachtungsweise 2. Rechtsdogmatische Betrachtungsweise II. Beschränkung der Setzungsbefugnis des Staates 1. Die natürlichen menschlichen Gefühle 2. Die Bedürfnisse des Verkehrs 3. Die Geltung in allen "einigermaaßen civilisirten Nationen" 4. Politische Einordnung E. Argumentation um die Entscheidung des BGB F. Mommsens Einfluß Zweites Kapitel: Universalsulczession und Einheit des Vermögens A. Grundlage - Rechtliche Konstruktion und VermögensbegrifF B. Folge - Einheitlichkeit der Erbschaft und deren Bedeutung I. Einheitlichkeit der Erbschaft II. Mißachtung der Zweckbestimmung des Vermögens C. Würdigung - Liberale Aufgabe des Erbrechts und allgemeine Einordnung D. Vorstellungen der Verfasser des BGB und diesbezügliche Kritik E. Mommsens Einfluß Drittes Kapitel: Antrittserwerb und Freiheit des Erben A. Begründung des Antrittsprinzips I. Begründung im Entwurf 1. Gleichheit der Erben beim Anfall der Erbschaft 2. Gleichheit der Erben beim Erwerb der Erbschaft 3. Geringschätzung des preußischen Rechts 4. Freiheit der Erben beim Erwerb der Erbschaft II. Begründung im Gutachten für den Juristentag 1. Geschichtliche Entwicklung

101

101 101 102 102 103 104 104 106 107 109 110 111 112 114 116 120 120 124 124 127 128 131 133 136 137 137 137 139 139 141 142 143

Inhaltsverzeichnis

2. Allgemeine Gründe und deren Einordnung a) Grundlage und der individuelle Mittelpunkt des Erbrechts b) Adressat und die liberale Aufgabe des Erbrechts 3. Fehlen praktischer Gründe a) Argumentation und Resonanz im Juristentag b) Interessen und Ziele III. Begründung des Vonselbsterwerbs nach dem BGB und Reaktion der Öffentlichkeit B. Die ruhende Erbschaft I. Rechtsnatur und Rückwirkungsfiktion 1. Einordnung Mommsens 2. Gesetzgebungstechnik und Praxisorientierung II. Umfang der Rechtsfähigkeit III. Wirkungen des Antritts 1. Vermischung der Vermögensmassen 2. Besitzansprüche und Besitz Viertes Kapitel: Gestaltungsfreiheit und Gesellschaftsordnung A. Testier-, Erb- und Erwerbsfähigkeit B. Nebenbestimmungen eines Testaments I. Familie, Staat und Kirche im Spiegel der unsittlichen und unerlaubten Bedingungen II. Erfüllung und Erflillungsfiktion III. Auflage als Mittel zur Begünstigung von Staat und Kirche C. Vermächtnisrecht I. Ausgestaltung und Erwerb II. Gegenstand des Vermächtnisses III. Versorgung als Zweckgedanke D. Schenkung auf den Todesfall

144 145 148 150 151 157 159 170 170 171 180 181 188 188 191 199 199 203 207 213 217 219 220 223 227 229

Fünftes Kapitel: Verhältnis von gesetzlicher und gewillkürter Erbfolge

234

Sechstes Kapitel: Wirtschaftliche und gesellschaftliche Bedeutung von Ehe und Familie

242

A. Gesetzliche Erbfolge I. Erbrecht der ehelichen Verwandten 1. Verhältnis der Eltern zu den Geschwistern des Erblassers 2. Verhältnis der Geschwister zu den Großeltern des Erblassers 3. Erbfolge ab der 3,Ordnung 4. Beschränkung der Verwandtenerbfolge 5. Beteiligung des Staates 6. Bedeutung und Einfluß auf die Entscheidung des BGB II. Erbrecht bei besonderen Verwandtschaftsbeziehungen 1. Erbrechtliche Wirkung nichtehelicher Verwandtschaft 2. Erbrechtliche Folgen des Reskripts 3. Erbrechtliche Wirkungen nichtiger und ungültig erklärter Ehen 4. Erbrechtliche Folgen der Adoption 5. Gesamtbetrachtung III. Erbrecht des Ehegatten 1. Voraussetzungen 2. Verhältnis zu den Abkömmlingen 3. Verhältnis zu den Aszendenten und Seiten verwandten 4. Einfluß des ehelichen Güterrechts 5. Bedeutung und Wirkung

242 243 245 247 248 250 252 253 254 254 264 270 275 284 286 288 292 296 297 306

10

Inhaltsverzeichnis

B. Pflichtteilsrecht I. Begründung des Pflichtteilsrechts II. Kreis der pflichtteilsberechtigten Personen III. Rechtliche Konstruktion und Schutz des Pflichtteils 1. Schutz gegen Verletzung durch Verfugung von Todes wegen 2. Verteilung der Pflichtteilslast 3. Irrtümliche Übergehung eines Pflichtteilsberechtigten 4. Schutz gegen Verletzung durch Geschäfte unter Lebenden IV. Höhe des Pflichtteils V. Berechnung des Pflichtteils VI. Wegfall des Pflichtteilsrechts VII. Würdigung C. Erbunwürdigkeit und Ausschluß vom Pflichtteil I. Erbunwürdigkeit II. Ausschluß vom Pflichtteil III. Gemeinsamkeiten bei der Ausgestaltung IV. Enterbung aus guter Absicht D. Anrechnung des Vorempfangenen auf den Erbteil Siebtes Kapitel: Bindung des Vermögens A. Erbschaftsvermächtnis und sukzessives Vermächtnis I. Erhaltung des Vermögens II. Grenze der Bindung des Erben III. Regulative im öffentlichen Interesse B. Bodenpolitik und Adelsprivilegien I. Gleichheit der Geschlechter - Erbverzicht adliger Töchter II. Privilegierung von Besitzeinheiten 1. Familienfideikommisse 2. Stamm- und Hausgüter 3. Bäuerliches Güterrecht C. Testamentsvollzieher D. Auseinandersetzungsverbot Achtes Kapitel: Formelle Grenzen der Testierfreiheit A. Testamentsformen B. Formerleichterungen C. Sonderformen für Eheleute I. Gemeinschaftliches Testament II. Erbvertrag Neuntes Kapitel: Autonomie und gerichtliche Kontrolle bei der Nachlaßregulierung

307 308 313 317 317 324 326 330 338 342 345 347 349 350 356 369 372 374 381 381 385 387 390 393 394 395 396 399 399 402 405 408 408 412 417 421 422 430

A. Erbenmehrheit I. Berufung nach Bruchteilen II. Besonderheiten bei der Erbteilung III. Beteiligung des Nachlaßgerichts B. Erbenhaftung I. Grundsatz der unbeschränkten Teilhaftung II. Aufsicht des Nachlaßgerichts

430 430 433 434 436 436 439

Zehntes Kapitel: Rechtlicher Schutz des Erbrechts

447

A. Erbschaftsklage

447

Inhaltsverzeichnis

B. Prozessuale Bezüge

452 Sechster

Teil

Wertvorstellungen und Ziele

455

Erstes Kapitel: Familienbild

456

Zweites Kapitel: Stellung der Frau

459

Drittes Kapitel: Bedeutung der Ehe

461

Viertes Kapitel: Aufgabe des Nachlaßgerichts - Rolle des Staates

465

Fünftes Kapitel: Wirtschaftspolitische Funktion des Erbrechts

473

Sechstes Kapitel: Menschenbild und Sozialmodell

476

Siebtes Kapitel: Staat und Kirche

482

Achtes Kapitel: Wille des Erblassers

485

Neuntes Kapitel: Verhältnis zum überkommenen Recht

488

Siebter

Teil

Äußerlichkeiten und Rechtspolitik

Erstes Kapitel: Unklarheiten und Lücken

Zweites Kapitel: Argumentationsweise und Gesetzgebungstechnik

491

492

494

A Quellen und Autoritäten B. Darstellung der geltenden Rechte C. Entscheidungsfindung und Argumentationsstruktur I. Einfluß der Volksgeistlehre II. Begriffsjurisprudenz und Rechtsschöpfung III. Aufgabe des Gesetzgebers

494 495 496 497 498 501

Drittes Kapitel: Kasuistik und richterliches Ermessen

504

Viertes Kapitel:

Sprache und Stil

507

12

Inhaltsverzeichnis

Achter

Teil

Bedeutung fiir das BGB Quellen- und Literaturverzeichnis

D. Dr. Friedrich Mommsen (1818 - 1892), aus: P. Joh. Claussen, Tyrstrup / P.E. Bruhn, Koldenbüttel (Hrsg.): Aus dem Bilderschatz des Sonntagsboten, I. Lebensbilder, Verlag des Landesvereins für Innere Mission, Bordesholm 1902, S . l l .

Einleitung und Problemstellung

Friedrich Mommsen ist in der Literatur keineswegs unbekannt. Meyers Lexikon widmete ihm 1906 ein Drittel einer Spalte1. Verknüpft wird er allerdings meist mit seinen herausragenden Schriften über die Unmöglichkeit und das Interesse 2, die von Christian Wollschläger 3 und erst in jüngster Zeit von Susanne Würthwein 4 im Zusammenhang dargestellt wurden. Sein Erbrechtsentwurf 5 fand dagegen bisher nur in Fußnoten oder durch kurze lobende Worte Beachtung6, seine Auffassungen wurden allenfalls in Monographien zu speziellen erbrechtlichen Fragen dargestellt. Eine Darstellung im Zusammenhang fehlt dagegen. Dies ist umso bedauerlicher, als Staudinger-Otte 7 ihn bei dem wesentlichen Schrifttum zur Entstehungsgeschichte des Erbrechts aufführten und Buchholz 8 Mommsens Entwurf als Vorlage, die der Redaktor des Erbrechts der ¡.Kommission, Gottfried von Schmitt, weitgehend berücksichtigte, rühmt. Während Mommsens Unmöglichkeitslehre keineswegs unbestrit-

Meyers Großes Konversations-Lexikon, Bd. 14, 6. Auflage 1906, S.51. 2

Beiträge zum Obligationenrecht, 1. Abtheilung: Die Unmöglichkeit der Leistung in ihrem Einfluß auf obligatorische Verhältnisse, 1853, 2.Abtheilung: Zur Lehre vom Interesse, 1855, 3.Abtheilurig: Die Lehre von der Mora nebst Beiträgen zur Lehre von der Culpa, 1855; Erörterungen aus dem Obligationenrecht, l.Heft: Erörterungen über die Regel: Commodum ejus esse debet, cujus periculum est, 1859, 2.Heft: Ueber die Haftung der Contrahenten bei der Abschließung von Schuldverträgen, 1879. 3

Die Entstehung der Unmöglichkeitslehre, 1970.

4

Zur Schadensersatzpflicht wegen Vertragsverletzungen im Gemeinen Recht des 19. Jahrhunderts, 1990. 5

Entwurf eines Deutschen Reichsgesetzes über das Erbrecht nebst Motiven, 1876.

6 So jüngst bei: Fijal, Die Geschichte der Juristischen Gesellschaft zu Berlin in den Jahren 1859 bis 1933, 1991, S.61f. 7

Bd.5, 12.Auflage, 1989, Einl. zu §§ 1922ff., Rn.25.

8

In: Coing: Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte, Bd.III/2, 1982, S.1696.

16

Einleitung und Problemstellung

ten blieb 9 , schien sein Entwurf auch bei zeitgenössischen Autoren allgemeine Anerkennung zu finden. Windscheid, dessen Lehrbuch als Gradmesser für die Beurteilung eines Autors galt 1 0 und der schon Mommsens Unmöglichkeitslehre übernommen und ihr so höchste Autorität für das gemeine Recht gesichert hatte 11 , nannte seinen Entwurf gleich zu Anfang des Erbrechts unter den "Gesamtdarstellungen", die "besonders hervorzuheben sind". Er ordnete ihn bei Werken, die "nicht dogmatische Zwecke verfolgen" ein und stellte ihn neben die Standardschriften von Dalwigk, Gans und Lassalle 12 . Bähr rechnete "vor allem" Mommsens Entwurf zu den "werthvollen Schriften", die er bei seiner Arbeit über das "Erbrecht des bürgerlichen Gesetzbuchs"13, in deren Rahmen er einen Gegenentwurf erstellte, benutzen konnte. Dernburg 14 erwähnte ihn neben Vangerow, Glück, Unger und der Reformschrift Bernhöfts bei den erbrechtlichen Abhandlungen, in denen sich "massenhaftes Material" findet. Selbst Beseler gestand Mommsen "manche auch für das geltende Recht lehrreiche Erörterungen" zu 15 . Zur Darstellung von Mommsens Erbrechtsentwurf boten sich zwei Wege an. Zum einen der gegenwärtige, vom geltenden Recht ausgehende, zum anderen der historische, das damalige Recht zugrundelegende. Dem modernen Leser mag die Frage unter dem Motto: "Was lernen wir aus der Geschichte?" interessanter erscheinen. Aufgabe wäre es dann, die Abweichungen vom geltenden Recht auf ihre heutige Brauchbarkeit und Aktualität zu überprüfen. Aber es waren im wesentlichen drei Erkenntnisse, die den historischen Weg verlockender erscheinen ließen. So war es das Ziel des Preisausschreibens der Juristischen Gesellschaft zu Berlin, das Mommsens Entwurf veranlaßte 16, die Gesetzgebungsarbeiten zu fordern. Darüber hinaus war sein Erbrechtsent-

Wollschläger , Unmöglichkeitslehre, S.lf. 10

Schröder , Abschaffung oder Reform des Erbrechts, 1981, S.70, Fn.53.

11

Wollschläger , Unmöglichkeitslehre, S.2,125.

12

Windscheid/Kipp , Lehrbuch des Pandektenrechts, Bd.3, 9.Auflage, Neudruck der Ausgabe Frankfurt am Main 1906, 1963, § 527, in der Fn. 13

Archiv für Bürgerliches Recht, Bd.3 (1890), S.141ff.(141).

14

System des Römischen Rechts, 2.Teil, 8.Auflage 1912, § 444, Fn.l.

15

System des gemeinen deutschen Privatrechts, 1.Abtheilung, 4.Auflage 1885, § 136, Fn.13.

16

Entwurf, Vorwort, S.III.

Einleitung und Problemstellung

wurf, der im Jahre 1875 entstand und ein Jahr später veröffentlicht wurde, der einzige, der vor Beginn der Kommissionsarbeiten vorlag. Ein ähnlich umfassendes Werk hatte zeitlich viel früher, im Jahre 1820, nur Dalwigk 1 7 vorgelegt. Dalwigk ging aber wie das österreichische Recht vom System der allgemeinen gerichtlichen Erbregulierung aus 18 , weswegen sein Werk am Ende des "liberalen" 19.Jahrhunderts kaum noch Beachtung fand. Die etwa zeitgleich mit Mommsens entstandene Abhandlung Bindings 19 war nicht in Gesetzesform gegossen und ging von der Verwandtenerbfolge aus, so daß sie für das Erbrecht des BGB ebensowenig Bedeutung erlangen würde wie der auf gleicher Grundlage beruhende Code Civil. Die Gegenentwürfe zum 1.Entwurf des BGB, dessen bekanntester und allein vollständiger aus Otto Bährs Feder stammt, kamen zu spät, um im 2.Entwurf noch detailliert berücksichtigt werden zu können 20 . Ausschlaggebend für die Wahl des vom damaligen Recht ausgehenden Weg war, daß Schmitt in der 1. Kommission den zustimmend beschiedenen Antrag stellte, den Entwurf Mommsens benutzen zu dürfen. War Mommsens Entwurf etwa, wie es bei Staudinger anklingt, eine der Hauptgrundlagen unseres Erbrechts, vergleichbar dem Dresdner Entwurf für das Obligationenrecht? War Mommsen einer der "stillen Väter" des BGB? Kam ihm im Erbrecht mehr Einfluß zu als im Obligationenrecht, wo Wollschläger Rabeis These, wonach Mommsen der "Schöpfer der Unmöglichkeitslehre" sei, in Frage gestellt hat 21 ? Aus diesem Blickwinkel gewinnt auch der historische Ansatz Bedeutung für das heutige Recht. Die Frage, ob und warum Mommsens Vorschläge übernommen oder nicht übernommen wurden, schärft die Sinne für die hinter den gesetzgeberischen Entscheidungen stehenden Interessen und erleichtert so das Verständnis des geltenden Rechts. Damit stellt sich zugleich die Frage, ob und inwieweit das Erbrecht überhaupt zum Mittel wirtschaftlicher, politischer oder sozialer Zielvorstellungen werden kann. Ist das Erbrecht von den Grundlagen des Sachenrechts, des Schuldrechts und des Familienrechts abhängig, wie löste dann Mommsen das Problem eines "bodenlosen" Erbrechts? Machte es sich bemerkbar, daß Mommsen bisher nur schriftstellerisch in Erscheinung getreten war und sich politisch unabhängig fühlen konnte,

Versuch einer philosophisch juristischen Darstellung des Erbrechts, 2 Theile.

18 Versuch einer philosophisch juristischen Darstellung, Theil II, S. 198-203, §§ 175ff. 19

Ueber die Hauptgrundlagen des künftigen Erbrechts, in: AcP, Bd.57 (1874), S.399ff, Bd.58 (1875), S.108fF., 153ff. 20

Für Bährs Entwurf: Binder, O t t o B ä h r ( \ S \ l 21

Unmöglichkeitslehre, S.lf.,185. 2 Andres

1895), 1983, S.155-157.

18

Einleitung und Problemstellung

Schmitt dagegen über langjährige legislatorische Erfahrung verfügte, sich als Ministerialbürokrat den Interessen Bayerns verpflichtet sah und für jede dogmatische Frage die Zustimmung seines Justizministers von Fäustle und dessen Nachfolger Leonrod einholte 22 ? Welche Alternativen zum geltenden Recht boten Mommsen und die damalige Erbrechtsdiskussion? Sind sie in der gegenwärtigen Reformdiskussion noch verwertbar? Zur Beantwortung dieser Fragen wird der Leser zunächst kurz mit Leben und Werk Mommsens bekannt gemacht werden, denn "Jurisprudenz charakterisiert sich zutiefst aus und in den Werthaltungen der Menschen, die sie leben" 23 . Sodann soll eine Betrachtung von Anlaß und Entstehungszeit des Entwurfes feststellen, ob und inwieweit die Rahmenbedingungen den Weg zu einer Verwertbarkeit für die Kodifikationsarbeiten eröffneten und vorzeichneten. Nach einem kurzen Überblick über System und Inhalt des nicht überall zugänglichen Entwurfes will eine Gegenüberstellung der zeitgenössischen Kritik einen ersten Eindruck über die Wirkung des Entwurfes und die damaligen Hauptfragen des Erbrechts vermitteln. Der Hauptteil untersucht Übereinstimmungen und Unterschiede mit den Vorschlägen Schmitts, der 1.Kommission, den Kritiken und Gegenentwürfen, dem 2.Entwurf und dem heutigen Recht. Dabei wird es zur Herausarbeitung der verschiedenen Interessen oft unumgänglich sein, auf den ersten Blick unwichtige Details zu betrachten. Zur Abrundung des Bildes werden die späteren Beiträge Mommsens zu den Kodifikationsarbeiten, sein Gutachten zur Frage des Erbschaftserwerbs auf dem 13. Deutschen Juristentag 24 und die Kritik am Ehegüterrecht des 1.Entwurfes 25 einbezogen. Zusammenfassend soll versucht werden, die Ziele und Wertvorstellungen Mommsens und die zu Beginn der Kodifikationsarbeiten mit dem Erbrecht und dessen Ausgestaltung verbundenen Ideen zu würdigen und den Zusammenhang mit der Gesetzgebungstechnik herauszuarbeiten.

Zu Schmitt: Schröder , Abschaffung oder Reform, S.7-12,20f.; Jahnel , Kurzbiographien der Verfasser des Bürgerlichen Gesetzbuchs, in: Schubert , Materialien zur Entstehungsgeschichte des BGB, 1978, S.69ff.(85); Staudinger-Coing , Einleitung, Bd.l, 12.Auflage 1980, Rn.94; Schubert , Einleitung mit Anhang, in: Ders., Die Vorlage der Redaktoren für die erste Kommission zur Ausarbeitung des Entwurfs eines Bürgerlichen Gesetzbuches, Erbrecht, Teil 1, 1984, S.XIff.(XV-XVIII); Mertens , Die Entstehung der Vorschriften des BGB über die gesetzliche Erbfolge und das Pflichtteilsrecht, 1970, S.7-9. 23

Rückert, Bernhard Windscheid und seine Jurisprudenz "als solche" im liberalen Rechtsstaat (1817-1892), in: JuS 1992, S.902ff.(903). 24

Verhandlungen des 13. Deutschen Juristentages, Bd.l, 1876, S.13ff. Das eheliche Güterrecht des Entwurfs eines bürgerlichen Gesetzbuchs für das Deutsche Reich, in: AcP, Bd.76 (1890), S.lölff.

Einleitung und Problemstellung

Abschließend sollen die Bedeutung Mommsens für das Erbrecht des BGB und die heutige Relevanz seiner Vorschläge gewürdigt werden.

Erster

Teil

Mommsens Leben und W e r k Friedrich Mommsen 1 , der leider keinen wissenschaftlichen Nachlaß hinterließ, wurde am 3. Januar 1818 in Flensburg als Sohn des Kaufmanns Fedder Mommsen, der die größte Reederei der Stadt besaß und besonders Handel mit Grönland, Spitzbergen und Westindien betrieb, geboren. 1836 bestand er das Abitur an der lateinischen Schule. Er studierte die Rechtswissenschaften in Kiel, ging 1837/38 nach Berlin, um bei dem hochverehrten Savigny zu hören, und machte 1841 in Kiel das Staatsexamen mit dem 1. Charakter. Er wurde Auskultant und am 29. Februar 1848 Rat beim Schleswiger Obergericht. An der Märzbewegung beteiligte er sich nicht. Bei den Wahlen zur gesetzgebenden Landesversammlung in Kiel wurde er zum Abgeordneten für den 12. Wahldistrikt (Gravenstein) gewählt. Kurz vor Rücktritt der Provisorischen Regierung wurde er zum Chef des Justizdepartements berufen, blieb es während der "Gemeinsamen Regierung" und auch noch einen Monat während der Statthalterschaft. In der Landesversammlung führte er bis zu dessen Auflösung das Vizepräsidium. Mommsen hatte sich der konservativen Partei angeschlossen und stand wohl der liberal-demokratischen Bewegung seiner Zeit eher ablehnend gegenüber. Er trat für die Rechte der Herzogtümer auf Selbständigkeit, Untrennbarkeit und Thronfolge des Mannesstammes ein. Zugleich wollte er an der während des Erhebungsjahres von weiten Kreisen angegriffenen Personalunion zwischen Dänemark und den Herzogtümern festhalten, so lange der Mannesstamm auf dem dänischen Königsthron herrschte. Gleichwohl schloß die dänische Regierung Mommsen nach Beendigung des Krieges im Patent vom 10. Mai 1851 wegen Beteiligung an der

Friedrich Mommsen war nicht der Bruder des am 30. November 1817 als Sohn eines Pfarrers geborenen Theodor Mommsen, wie Landsberg , Geschichte der Deutschen Rechtswissenschaft, 3.Abteilung, 2.Halbband, Text, 1910, S.493, irrig annahm. Zum Folgenden: Saß, Friedrich Mommsen, in: ADB, Bd.52, Nachträge bis 1899, Neudruck der l.Aufl. 1906, 1971, S.462ff.; Voigt , Friedrich Mommsen, in: Schriften der Gesellschaft fiir Flensburger Stadtgeschichte, 1969, S.130f.; Runge, Das Königliche Appellationsgericht für das Herzogtum Schleswig in Flensburg (1852 bis 1867), 1985, S.261-264, insbesondere, S.263f., Fn.2); Wollschläger , Unmöglichkeitslehre, S.l, Fn.2, 124.

1. Teil: Mommsens Leben und Werk

21

schleswig-holsteinischen Erhebung von der Amnestie aus und zwang ihn, seine Heimat zu verlassen. Unter dem Titel "Erörterung über meine Theilnahme an den politischen Begebenheiten in den Jahren 1848 bis 1851" beklagte Mommsen, daß er "keinen Augenblick den Boden des Rechts verlassen hat und nichts getan hat, was gegen die Rechte des Landes und des Landesherrn verstößt... Doch, was der Einzelne zu tragen hat, tritt zurück, wenn man an die Leiden des Ganzen denkt, namentlich an die Leiden des Herzogthums Schleswig, welches jetzt unter dem schweren Druck schrankenloser Willkürherrschafl seufzt. - Was dabei allein trösten kann, ist, daß Gott der Herr, der es zugelassen hat, daß so schwere Trübsale über unser Land hereingebrochen sind, auch die Macht hat, jeden Augenblick uns wieder aufzurichten, daß Er, der Allmächtige und Gerechte, die Geschichte der Völker und Staaten in Seiner Hand hält. Wenn wir uns demüthigen unter Seine gewaltige Hand, so wird Er uns schon erhöhen zu Seiner Zeit (1. Petri 5). Möge Er bald bessere Zeiten über mein jetzt so unglückliches Vaterland heraufführen!" 2

Mommsen wandte sich nach Göttingen, um die akademische Laufbahn einzuschlagen. 1852 promovierte er "Über den Besitz und die Ersitzung körperlicher Teile zusammengesetzter Sachen". Die Arbeit wurde von den Göttinger Professoren Georg Rippentrop und Wilhelm Kraut mit lobenden Worten bedacht. Auf Antrag erhielt Mommsen am 1. August 1853 die Venia legendi für Römisches Recht. Über eine förmliche Habilitationsschrift ist nichts bekannt. In dem Bericht der Göttinger Fakultät an das Kuratorium vom 26. Juli 1853 wurde auf die bereits veröffentlichte Arbeit über "Die Unmöglichkeit der Leistung in ihrem Einfluß auf obligatorische Verhältnisse" (1853) Bezug genommen3. Der Dekan Francke rühmte ihr "gediegene Gründlichkeit der Untersuchung und Besonnenheit der Schärfe des Urtheils" nach. Rippentrop zählte es "unstreitig zu den vorzüglichsten Werken, welche in unserer Zeit über römisches Recht geschrieben worden sind" 4 . Im Vorwort gab Mommsen an, nach seinem früheren Beruf einen Gegenstand mit unmittelbar praktischer Bedeutung gesucht zu haben. Dabei legte er insbesondere Savignys "System des heutigen Römischen Rechts" zugrunde. Die Worte, mit denen er seines Lehrherrn gedachte, könnten auch für die Beurteilung seines Erbrechtsentwurfes relevant werden: "Für die Feststellung der Begriffe ist aber seine (sc. Savignys) Darstellung, insonderheit in Verbindung mit demjenigen, was in dem dritten Bande über die un-

2

Zitiert nach: Saß, ADB, Bd.52, S.462.

3

Auskunft des Universitatsarchivs der Georg-August-Universität Göttingen.

4

Zitiert nach: Wollschläger,

Unmöglichkeitslehre, S.124.

1. Teil: Mommsens Leben und Werk

22

möglichen Bedingungen gesagt ist, von großer Bedeutung. Ueberdies finden sich, namentlich in dem vom Irrthum handelnden Abschnitt... viele Bemerkungen, welche auch für unsere Lehre sehr wichtig sind. Ich ergreife um so lieber diese Gelegenheit, dem Manne, dessen Einfluß für die ganze heutige Gestaltung unserer Rechtswissenschaft von so großer und heilsamer Bedeutung gewesen ist, meinen Dank auszusprechen, als ich noch zu denjenigen gehöre, welchen es vergönnt gewesen ist, durch seine Vorlesungen in das Studium des römischen Rechts eingeführt zu sein" 5 .

1854 wurde Mommsen zum außerordentlichen Professor, 1859 zum ordentlichen Professor ernannt. Er las hauptsächlich Römisches und PandektenRecht. In seiner Göttinger Zeit verfaßte er die beiden Folgebände der "Beiträge zum Obligationenrecht" (1855) und den ersten 1854 wurde Mommsen zum außerordentlichen Professor, 1859 zum ordentlichen Professor ernannt. Er las hauptsächlich Römisches und Pandekten-Recht. In seiner Göttinger Zeit verfaßte er die beiden Folgebände der „Beiträge zum Obligationenrecht" (1855) und den ersten Band der "Erörterungen" (1859). Ihering hatte die "Lehre vom Interesse" mit Freude erwartet, weil Mommsen "im ganzen Lande als einer der gediegensten, scharfsinnigsten und kenntnisreichsten Juristen bekannt. Eine tüchtige Acquisition für die Wissenschaft"

1858 starb Mommsens Gattin nach zwölfjähriger Ehe, aus der vier Kinder hervorgegangen waren. Zwei Jahre später heiratete Mommsen erneut. Nach einjähriger kinderloser Ehe starb seine Frau, ihre Schwester blieb bei Mommsen, führte den Haushalt und erzog die Kinder. 1864, nachdem Dänemark die Herzogtümer Schleswig-Holstein und Lauenburg im Frieden von Wien an Preußen abgetreten hatte, kehrte Mommsen nach Flensburg zurück. Als die Mitglieder des Flensburger Appellationsgerichts wegen der Treue zu dem auf König Christian IX. geschworenen Homagialeid entlassen wurden, konnte Mommsen wieder zu seinem richterlichen Beruf zurückkehren. Er wurde Stellvertreter des Präsidenten Wilhelm Preußer, dem er 1879 seine Erwiderung auf Iherings Angriffe gegen seine Lehre von der culpa in contrahendo 1 "in dankbarer Erinnerung an vielfache

Zum Ganzen: Die Unmöglichkeit der Leistung in ihrem Einfluß auf obligatorische Verhältnisse, Vorwort, S.V,VIIIf. 6

Brief vom 4. Dezember 1854, in: Biermann (Hrsg.), Briefe Rudolf von Iherings an Carl Friedrich von Gerber aus den Jahren 1851-1858, 1907, S.45. 7

S.VII.

Ueber die Haftung der Contrahenten bei der Abschließung von Schuldverträgen, Vorwort,

1. Teil: Mommsens Leben und Werk

23

Anregung und Förderung" widmen sollte. Nach der Auflösung des Appellationsgerichts wurde Mommsen am 1. September 1867 als Oberappellationsgerichtsrat für die neuen Provinzen nach Berlin gerufen. Bereits am 29. Februar 1868 ging er als Präsident des neu errichteten landeskirchlichen evangelisch-lutherischen Konsistoriums nach Kiel. In seinem programmatischen Bericht, den er gelegentlich der Ernennung durch den Kultusminister von Mühler dem König vorlegte, bekannte Mommsen sich als bibelgläubiger evangelisch-lutherischer Christ, der strikt am Augsburger Bekenntnis festhielt und sich für eine Brüderlichkeit zwischen Lutherischen und Reformierten aussprach. Nach Zeitgenossen sah Mommsen es als seine Hauptaufgabe, zwischen den gegenläufigen Interessen im Konsistorium, das einerseits die Vertretung des außerhalb der Landeskirche stehenden preußischen Kultusministers bildete und andererseits aus Gliedern der Kirche bestand und die kirchliche Ordnung zu wahren hatte, zu vermitteln. Die Kirchengemeindeordnung von 1869 / 1876 sei im wesentlichen Mommsens Werk gewesen. Wie stark der staatliche Druck gewesen sei, zeige sich darin, daß diese die Kirche in fast vollständiger Abhängigkeit vom Staat belassen und es bei der Einführung des Zivilstandsgesetzes den Anschein gehabt habe, als habe die Kirchenbehörde mehr die Anerkennung des Zivilstands als die kirchliche Ordnung und die Bedeutung der Taufe zu hüten8. A m 25. Oktober 1876 verlieh die theologische Fakultät zu Kiel Mommsen die Würde eines Dr. theol. honoris causa. Infolge der Verlegung des Oberpräsidiums der Provinz nach Schleswig wurde Mommsen 1879 Kurator der Kieler Universtät, wo er sich beim Ausbau der Institute große Verdienste erwarb. 1884 wurde er zum Mitglied des Preußischen Staatsrates, 1890 zum Oberkonsistorialrat mit dem Rang der Räte 1.Klasse ernannt. Am 1. April 1891 trat Mommsen in den Ruhestand. Bei einer Reise nach Italien, wo er bereits 1843 / 44 einmal gewesen und durch zwei geistliche Reisegefährten religiös geprägt worden war, starb Mommsen am 1. Februar 1892 im Alter von 74 Jahren in Rom. Am 11. Februar 1892 wurde er in Kiel begraben.

Verfasser unbekannt, Schleswig-Holstein-Lauenburgisches Kirchen- und Schulblatt 1891, Nr. 14.

24

1. Teil: Mommsens Leben und Werk

D i e Nachrufe 9 erinnerten hauptsächlich an die Verdienste u m die Landeskirche der vorangegangenen 24 Jahre. Sie versäumten auch nicht, M o m m s e n als eine der bedeutensten Autoritäten der Rechtswissenschaft zu ehren, gedachten aber k a u m seiner gesetzgeberischen Tätigkeit. Diese hatte M o m m s e n erst m i t dem Erbrechtsentwurf, also zur Zeit der Entstehung des B G B , als er Konsistorial-Präsident i n K i e l war, begonnen. A l s Anlaß hatte er i m V o r w o r t betont: "Die große Mangelhaftigkeit des in Beziehung auf das Erbrecht in meiner engeren Heimat Schleswig-Holstein bestehenden Rechtszustandes hatte schon früher die Ueberzeugung in mir hervorgerufen, daß eine umfassende Reform auf diesem Gebiet ein dringendes Bedürfnis sei. Dazu mitzuwirken, daß diesem Bedürfnis abgeholfen werde, war seit Jahren mein Wunsch" 10 . D i e Rechtszersplitterung beklagte M o m m s e n auch i n der 1878 erschienenen A b h a n d l u n g über die Bestimmung des Verhältnisses v o n in- u n d ausländischem Recht i n der Gesetzgebung. D i e Beschreibung gibt Aufschluß über den i n seiner schleswig-holsteinischen Heimat geltenden Rechtszustand u n d den Anlaß seines Tätigwerdens: "Die große Buntscheckigkeit des Rechts zeigt sich besonders auf den Gebieten des ehelichen Güterrechts und des gesetzlichen Erbfolgerechts, indem es kaum ein Statut geben dürfte, welches nicht hierauf bezügliche Bestimmungen enthielte, und indem die spätere Gesetzgebung gerade hier am meisten vor einem Uniformiren und Nivelliren sich gescheut hat. Als ein Beispiel, wie es freilich wohl kaum ein zweites geben dürfte, möge Schleswig-Holstein dienen. Als allgemeines Landrecht gilt freilich für Schleswig das Jütsche Lov, für Holstein das Sachsenrecht; die Geltung dieser Landrechte beschränkt sich im Wesentlichen auf die Landdistricte und auch auf diese nur insoweit, als sie nicht (wie z.B. Dithmarschen, Eiderstedt sc.) eine besondere Organisation als Landschaften sich erworben haben. Die einzelnen Landschaften haben, sofern sie von früher her eine festere politische Organisation haben, ihre besondere Statuten. Ferner haben die Städte ihre Stadtrechte, sei es nun, daß sie, was vielfach der Fall ist, das Lübsche Recht angenommen oder daß sie ein besonderes Stadtrecht erhalten haben. Es kommt vor, daß in den verschiednen Theilen einer und derselben Stadt ein verschiedenes Recht gilt, indem die später der Stadt incorporirten Gebietsteile ihr bisheriges Recht behalten haben. Ueberdies galt bis zur Einverleibung Schleswig-Holsteins in die Preußische Monarchie der Grundsatz, daß diejenigen Personen, welche ei-

Verfasser unbekannt: Schleswig-Holstein-Lauenburgisches Kirchen- und Schulblatt 1892, Nr.6; Kieler-Zeitung, Abendausgabe vom 2., Morgenausgabe vom 3.Februar 1892; Claussen/Bruhn, Aus dem Bilderschatz des Sonntagsboten, I.Lebensbilder, Bordesholm 1902, S.12f.; Reinke, Jahresbericht des Rektors vom 5.März 1892, in: Chronik der Universität Kiel, 1887/88 - 95/96, S.3ff.(4f.). 10

Entwurf, Vorwort, S.III.

.Teil: Mommsens Leben und Werk

25

nen privilegirten Gerichtsstand hatten, in ihren persönlichen Verhältnissen nicht dem localen Recht ihres Wohnorts unterworfen waren. Zugleich ist zu bemerken, daß von allen den verschiedenen Statuten, die in Schleswig-Holstein gelten, nur wenige in Beziehung auf das eheliche Güterrecht und das gesetzliche Erbfolgerecht mit einander übereinstimmen" 11 .

Die Anwendung des in den wissenschaftlichen Abhandlungen favorisierten gemeinen Rechts war im Geltungsbereich des Jütschen Gesetzes verboten, in Holstein galt es nur subsidiär 12 . Frage der vorliegenden Arbeit ist es damit auch, wie Mommsen die unterschiedlichen Gegenstände seiner theoretischen und praktischen Tätigkeit bei der Gesetzgebung vereinbarte.

Wie ist in dem bürgerlichen Gesetzbuch für Deutschland das Verhältniß des inländischen Rechts zu dem ausländischen zu normiren? in: AcP, Bd.61 (1878), S.149ff.(153f.). 12

Dazu auch: Runge, Appellationsgericht, S.34-43 (35); Paulsen, Lehrbuch des Privat-Rechts in den Herzogtümern Schleswig und Holstein, 1834, § 2.

Zweiter

Teil

Geschichte und äußerer Anlaß des Entwurfes

Anlaß für Mommsens Entwurf war ein am 14. Februar 1874 beschlossenes Preisausschreiben der Juristischen Gesellschaft zu Berlin, in welcher der "Entwurf eines Gesetzes über das deutsche Erbrecht nebst Motiven und einer vergleichenden Zusammenstellung der erbrechtlichen Bestimmungen aus den wesentlichsten der in Deutschland gegenwärtig geltenden Gesetzgebungen"1

gefordert wurde. Die Geschichte der Juristischen Gesellschaft wurde erst in jüngster Zeit von Alexander Fijal ausführlich dargestellt 2. Deshalb soll hier nur eine Einordnung des Preisausschreibens in deren Ziele und in die Diskussion über die Ausarbeitung des BGB erfolgen. Intention soll es dabei sein, die Bedeutung eines solchen, nach heutigen Anschauungen merkwürdig anmutenden Mittels zur Unterstützung der Gesetzgebungsarbeiten3 zu belegen.

15.Jahresbericht über die Wirksamkeit der Juristischen Gesellschaft zu Berlin in dem Vereinsjahre 1873-74, S.2. 2

Fijal, Geschichte der Jur.Ges. 3

Der Gedanke, die öffentliche Meinung durch Preisausschreiben an der Rechtsfindung zu beteiligen, hatte seine Blütezeit während der Aufklärung. Er entsprang der sittlichen Zuversicht des Vernunftglaubens und hatte im späteren 18. Jahrhundert zu Preisausschreiben von Akademien und Gesellschaften zu Grundfragen menschlicher Erkenntnis und Gesittung geführt. In Preußen wurden die Preisaufgaben auch zum Mittel des aufgeklärten Gesetzgebers. So wurde die Kritik der Öffentlichkeit etwa auch nach der Veröffentlichung des Entwurfes des PrALR im Jahre 1787 durch ein Preisausschreiben gesucht. Es richtete sich allerdings nicht an alle Bürger, sondern - darin keineswegs seiner Zeit voraus - nur an die philosophischen Rechtsgelehrten und praktischen Juristen, Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 1967, S.325f.,330; Hattenhauer, Einführung in die Geschichte des Preußischen Allgemeinen Landrechts, in: Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794, 1970, S.llff.(21). Ende des 19.Jahrhunderts waren wissenschaftliche Preisausschreiben an Universitäten nicht unüblich. So wurde in Kiel, wo Mommsen Kurator war, der Neu-Schassische Preis ausgeschrieben, Chronik der Universität Kiel, 1891/92, S.8, 1893/94, S.7, 1894/95, S.6f.

1. Kapitel: Ziele der Juristischen Gesellschaft zu Berlin

27

Erstes Kapitel Ziele der Juristischen Gesellschaft zu Berlin Die Juristische Gesellschaft zu Berlin wurde aus der Hoffnung auf ein politisch geeintes Deutschland und auf Reformen des Privat- und Strafrechts am Ende der vielfach pauschal als "Reaktionsjahrzehnt" beurteilten fünfziger Jahre des 19.Jahrhunderts, im "Epochenjahr" 1 1859, gegründet 2. Die Initiative geht auf den Berliner Stadtrichter und Redakteur der seit dem 18. April des gleichen Jahres erscheinenden "Preußischen Gerichtszeitung", die ebenfalls den großen Zielen der "neuen Ära" dienen sollte, auf Carl Christian Eduard Hiersemenzel 3, zurück. Am 4. Mai 1859 hatte er ein Rundschreiben mit der Aufforderung zur Gründung eines juristischen Vereins an 14 Fachkollegen versandt, die in ihrer ersten Zusammenkunft, am 7. Mai 1859, die "Juristische Gesellschaft" ins Leben riefen 4. Ziel war dabei nicht nur, "die Rechtswissenschaft zu fördern und den Juristen einen Vereinigungspunkt zu gewähren", wie es in § 1 der Statuten in ihrer ursprünglichen Fassung von 1859 hieß. Es ging um die Beseitigung der Rechtszersplitterung, um die Kodifikation eines gemeinsamen, den modernen Verkehrserfordernissen entsprechenden Deutschen Rechts. Dies ist erkennbar

1

Diwald, Geschichte der Deutschen, 1978, S.297.

2

Baring, Aus dem Leben der Berliner Juristischen Gesellschaft, in: JZ 1964, S.777f.(777); Die Berliner Juristische Gesellschaft, in: JR 1978, S.133ff.(134), setzt das Gründungsdatum mit Hinweis auf die Veröffentlichung des damaligen Staatsanwalts J.H.v.Kirchmann über die "Wertlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft" mit dem Untertitel: "Ein Vortrag gehalten in der Juristischen Gesellschaft zu Berlin 1847" etwa zwölf Jahre früher an. Scholz, 125 Jahre Juristische Gesellschaft zu Berlin, in: Berliner Anwaltsblatt 1983, S.207ff.(207), mutmaßt in diesem Zusammenhang: "Sicher war dies nicht der erste und einzige Vortagsabend der Gesellschaft. Mag sie, wie in der damals überaus erregten und bewegten Zeit vorstellbar, zunächst nur ein loser Diskussionszirkel gewesen sein, der sich um eine rechtsförmliche Organisation nicht gekümmert und sich allein den aktuellen und bewegenden Problemen jener Zeit gewidmet hat. Sicher ist jedenfalls, wie die im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz verwahrten Akten ausweisen, daß am 7.Mai 1859 ...". Nach Fijal, Geschichte der Jur.Ges., S.6f., handelte es sich definitiv "nur" um einen der zahlreichen Debattiervereine des Vormärz und der Revolutionsphase selbst. 3 Zu Hiersemenzel: Teichmann, in: ADB, Bd. 12, Neudruck der l.Aufl. 1880, 1969, S.392; Fijal, Geschichte der Jur.Ges., S.48-50.

4

Preuß.GerichtsZ 1859 (Nr.9), S.3; Neumann, Zur Geschichte der Juristischen Gesellschaft zu Berlin, in: Festgabe der Juristischen Gesellschaft zu Berlin zum 50-jährigen Dienstjubiläum ihres Vorsitzenden Dr. Richard Koch, S.lff.(lf.);F//ä/, Geschichte der Jur.Ges., S.13f.

2. Teil: Geschichte und äußerer Anlaß des Entwurfes

28

aus den Vorträgen und Diskussionen bis zur Jahrhundertwende 5, für die die Worte des dritten Präsidenten, Richard Koch, früher Richter bzw. Schriftfuhrer der norddeutschen Zivilprozeßkommission, später Reichsbankpräsident, als Kronsyndikus im Herrenhaus und Mitglied zahlreicher von der Reichsregierung berufener Finanz- und Wirtschaftsrechtskommissionen 6, fortgelten. Er hatte die Tätigkeit der Gesellschaft in dem nach 25-jähriger Wirksamkeit erfolgten Rückblick folgendermaßen charakterisiert: "Die Fühlung mit den lebendigen Interessen der Gegenwart ist stetig dadurch erhalten, dass die Vorträge sich weniger die Erörterung abstrakter, rein wissenschaftlicher Themata oder die Auslegung des bestehenden Rechts als die Beurtheilung von Gesetzesentwürfen, die Vertretung oder Prüfung der die Zeit bewegenden Reformvorschläge, die Orientierung in neuen umfassenden Gesetzen zur Aufgabe stellten. Diese Richtung tritt sogleich, in verstärktem Maasse aber seit jener Zeit hervor, als die großen politischen Ereignisse um die Mitte der sechziger und anfangs der siebenziger Jahre der längst von den besten Kräften angestrebten Rechtsreform freies Feld öffneten. Kaum irgend einer der wichtigen Justizgesetz Entwürfe ... aus dieser fruchtbaren, schaffensfreudigen Periode ist in unserer Mitte unbesprochen geblieben, kaum einer der grossen Reformgedanken nicht unter uns zu Worte gekommen." 7

In diesen Worten wird das Mittel zur Schaffung eines modernen Rechts angedeutet: Die Wechselwirkung zwischen Theorie und Praxis. Dieses Ideal der Gesellschaft hatte schon ihr erster Präsident, der Stadtgerichtsrat Julius Graf von Wartensleben 8, der neben Hiersemenzel als der pater societatis gilt 9 , in der Eröffnungsrede der ersten wissenschaftlichen Versammlung hervorgehoben 10 . Dementsprechend umfaßte die auf Preußen beschränkte Mitgliedschaft gemäß § 6 der Statuten Richter, Anwälte, Referendare und Auskultatoren, Justizbeamte, Mitglieder der Zentralbehörden sowie Universitätslehrer.

Eine gegenständlich geordnete Auflistung (bis 1903) findet sich bei Neumann, Geschichte, S.27-36. 6

Zu Koch: Fijal, Geschichte der Jur.Ges., S.95-99; Meyers Großes Konversations-Lexikon, Bd.l 1, Ö.Auflage 1905, S.211f. 7

Rückblick auf die Thätigkeit der Juristischen Gesellschaft zu Berlin während der ersten fünfundzwanzig Jahre ihres Bestehens, in: Bericht über die Feier des 25-jährigen Jubiläums der Juristischen Gesellschaft zu Berlin am X.Mai MDCCCLXXXIV, 1884, S.3ff.(6). g 9

10

Zu Wartensleben: Fijal, Geschichte der Jur.Ges., S.66f. Koch, Rückblick, S.3. Preuß.GerichtsZ 1859 (Nr.25), S.3.

1. Kapitel: Ziele der Juristischen Gesellschaft zu Berlin

29

Besonders auffallend bis zur Jahrhundertwende ist das Ansteigen des Anteils der Rechtsanwälte gegenüber dem Zurückgehen des jugendlichen Elements 11 .

A. Nationale Einheit durch Rechtsvereinheitlichung Bis zur Reichsgründung durch die "großen politischen Ereignisse" - die Kriege Preußens gegen Dänemark (1864), Österreich (1866) und Frankreich (1870/71), gefolgt von der Gründung des Norddeutschen Bundes, bzw. der Kaiserproklamation - ging es um die Rechtsvereinheitlichung als Mittel und Voraussetzung zur Einigung der Nation. Diese auch in der Rede Kochs angedeutete Verbindung zum bürgerlich-liberalen Lager 12 zeigt sich in dem raschen Aufgreifen der Rechtsstaatsidee, die in den sechziger Jahren des 19.Jahrhunderts sozusagen zum Surrogat für die 1848 nicht erreichte politische Partizipation und wesentlicher Bestandteil ökonomischer Entfaltung wurde 13 . So hielt bereits am lO.September 1859 Rudolf von Gneist, seit 1858 Ordinarius der Berliner Universität und seit 1859 Abgeordneter im Preußischen Landtag einen Vortrag über "Kompetenzkonflikte" bei der anzustrebenden Trennung von Verwaltung und Justiz 14 . Die liberale Grundtendenz der Gesellschaft zeigt sich auch in der Mitgliedschaft 15 von Simson, Beseler und Lasker, der 1865 gegen Hiersemenzel als Vertreter der Fortschrittspartei für den vierten Berliner Wahlbezirk ins Abgeordnetenhaus nachgewählt wurde 16 ;

1859/60 1879/80 1899/1900 Rechtsanwälte 24,5% 36,9% 43,7% Juristen im Vorbereitungsdienst 18,6% 7,1% 0% Gerichtsassessoren 24,5% 2% 6,1%, aus: Neumann, Geschichte, S.21, Fn.5, 22, Fn.l; eine tabellarische Übersicht über die Entwicklung der Mitgliederzahlen bis 1933 findet sich bei Fijal, Geschichte der Jur.Ges., S.227; zur Analyse der geringen Beteiligung von Rechtspraktikem ab 1958: Wassermann, Die Berliner Juristische Gesellschaft, in: JR 1964, S.97ff.(98f.). 12

Fijal, Geschichte der Jur.Ges., S.17f., 55; Oxfort, Geleitwort, in: Wilke, 125jährigen Bestehen der Juristischen Gesellschaft zu Berlin, 1984, S.Vf.(V).

Festschrift zum

13

Vgl. Stolleis, Verwaltungsrechtswissenschaft und Verwaltungslehre 1866-1914, in: Jeserich/Pohl/v. Unruh, Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd.3, 1984, S.85ff.(91). 14

Preuß.GerichtsZ 1859 (Nr.43), S.2f.

15

Das erste gedruckte Mitgliederverzeichnis findet sich im 4. Rechenschaftsbericht des Vorstands der Juristischen Gesellschaft zu Berlin fiir das Vereinsjahr 1862/63, erstattet am 11. April 1863, S. 14f. 16 Dazu: Fijal, Geschichte der Jur.Ges., S.69, Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd.3, 2.Auflage 1970, S.320, zur Biographie Fn.63.

30

2. Teil: Geschichte und äußerer Anlaß des Entwurfes

alle Genannten vereinten sich später in der nationalliberalen Partei 17 . Wie sich in der Person von v.Twesten und der Anteilnahme der Gesellschaft an seiner Verletzung in dem Duell mit dem demissionierten Chef des Militärkabinetts, Edwin Graf von Manteuffel, zeigt, fanden von Anfang an auch radikaler gesinnte Denker ein Forum und Anerkennung. Obwohl der Gesellschaft damit aktive und prominente Parlamentarier angehörten, blieben politische und verfassungsrechtliche Fragen, wie etwa der preußische Verfassungskonflikt (1862-1866), die preußischen Maigesetze von 1873 und Bismarcks Sozialistengesetz vom 21. Oktober 1878 nach den schriftlichen Quellen unerörtert. Die Gesellschaft verstand sich als "rein wissenschaftlicher Verein", fern von aller Parteipolitik 18 . Der Grund für diese freiwillige Zurückhaltung war durchaus zeitbedingt: Ein erfolgreiches Wirken setzte gute Beziehungen zu den Spitzen der Justizverwaltung und zum Königshaus voraus. Diese wurden insbesondere durch Graf von Wartensleben geknüpft, dem Anfang der sechziger Jahre sogar der Posten des preußischen Justizministers angeboten wurde. Die enge Verbindung zur Obrigkeit, die der Gesellschaft wohl gerade wegen ihres Strebens nach nationaler Einheit durch Rechtsvereinheitlichung Beachtung schenkte, äußerte sich in Schriftwechseln, der Teilnahme an Sitzungen und der Vorlage von Gesetzesentwürfen, z.B. des Entwurfes eines Strafgesetzbuches für den Norddeutschen Bund durch das Bundeskanzleramt 19 . Bereits in den Jahren bis zur Reichsgründung versuchte die Gesellschaft, den Gesetzgebungsprozeß über die Beobachtung, Darstellung und Kritik von Gesetzgebungsprojekten hinaus zu beeinflussen. So setzte sie gerade für den

17

Huber. Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd.4, 2.Auflage 1969, S.66; zu Beseler. Bd.2, 3.Auflage 1988, S.392, zu Simson: Bd.2, S.393.

18

Wörtlich heißt es im 1 O.Jahresbericht über die Wirksamkeit der Juristischen Gesellschaft zu Berlin in dem Vereinsjahre 1868/69, S.2: "So ungünstig auch während dieses Decenniums die politischen Strömungen dem ruhigen Gedeihen eines rein wissenschaftlichen Vereins waren,..."; zur politischen Abstinenz auch: Daffis, Juristische Gesellschaften und Vereine, in: Stier-Somlo!Elster, Handwörterbuch der Rechtswissenschaft, Bd.III, 1927, S.420ff.(420f.); Dehnicke, Vorwort, in: Wilke, Festschrift zum 125jährigen Bestehen der Juristischen Gesellschaft zu Berlin, 1984, S.VIIff.(XIf). 19

Zum Ganzen: Fijal, Geschichte der Jur.Ges., S.38f, 41f.,44f.,65,67; Fijal mutmaßt sogar (S.70f), daß die Juristische Gesellschaft aus Regierungsloyalität auf eine Gedächtnisfeier fiir Lasker verzichtete. So hatte Bismarck einen Beileidsbeschluß des amerikanischen Repräsentantenhauses wegen unzutreffender Würdigung der Bedeutung Laskers fiir die Besserung der wirtschaftlichen Verhältnisse des deutschen Volkes zurückgesandt. Hintergrund war wohl die Furcht vor Bestärkung der innerdeutschen Opposition.

1. Kapitel: Ziele der Juristischen Gesellschaft zu Berlin

31

genannten Entwurf eines Strafgesetzbuches eine Kommission ein, deren Anregungen von der späteren Gesetzgebung weitgehend realisiert wurden. Die Grundthesen der Kommission zu dem 1864 vorgelegten Entwurf eines "Gesetzes über das Hypothekenwesen und einer Hypotheken-Ordnung für Preußen" wurden von dem Beauftragten des Justizministeriums, dem Geh. Obeijustizrat Dr. von Zur Mühlen, als der wertvollste Beitrag bei den Gesetzesvorarbeiten bezeichnet und fanden auch noch bei der erneuten Aufnahme der Hypothekenreform 1868 Beachtung 20 . Aus dem Streben nach Rechtseinheit folgte die Gesellschaft durch Beschluß vom lO.März 1860 der Anregung des damaligen Privatdozenten von Holtzendorff, einen "Deutschen Juristentag" zu gründen. Er sollte die Ideen seines Vorbilds auf die Juristen der Nation - einschließlich Österreich - ausdehnen: "Eine allgemeine, periodisch wiederkehrende Juristenversammlung würde befähigt sein, neben den positiven Leistungen und Vorarbeiten für gewisse Rechtszweige, das Gefühl der Rechtsgemeinschaft zu beleben, eine Wechselwirkung zwischen Theorie und Praxis herbeizufuhren, einem einseitigen, mikroskopischen Rechtsdogmatismus entgegenzutreten, und fern von allem blinden Zentralisationseifer denjenigen Besonderheiten in den Landesrechten Geltung zu verschaffen, welche in den Eigentümlichkeiten und Verhältnissen ihre objektive Grundlage fanden." 21

Die Verhandlungsthemen waren zunächst statutenmäßig auf das Zivil-, Straf- und Prozeßrecht beschränkt und wurden erst 1906 und 1921 auf das Verwaltungs- und das Verfassungsrecht ausgedehnt. Diese ursprüngliche Selbstbeschränkung beruhte auf der Furcht, bei der Erörterung politischer, kirchlicher und staatsrechtlicher Fragen schwer zu überwindende Gegensätze wachzurufen 22. Die Reaktion auf die Benachrichtigung von der Einladung zum Juristentag zeigt die geänderte politische Grundhaltung der höchsten Justizverwaltungsstellen. Während die konservativen Justizminister Preußens, Kurhessens und Bayerns 1844 die Teilnahme an dem ebenfalls nach Rechtseinheit strebenden 1. Anwaltstag unter fragwürdiger Berufung auf die Souveränität der Einzelstaaten, die Berufsabgrenzung der Allgemeinen Gerichtsordnung, das Verbot

20 21 22

Fijal Geschichte der Jur.Ges., S.40-42. Protokoll vom 10. März 1860, in: Preuß.GerichtsZ 1860 (Nr. 13), S.52. Fijal, Geschichte der Jur.Ges., S.23, m.w.N.

32

2. Teil: Geschichte und äußerer Anlaß des Entwurfes

geheimer revolutionärer, bzw. politischer Vereine und die Kompetenzordnung der Verfassung untersagt hatten 23 , versprachen sie nun die Förderung 24 . Die Juristische Gesellschaft blieb nicht nur durch ihre Mitglieder mit dem Juristentag verbunden; vielmehr ließ sie sich zunächst von Hiersemenzel, dann von ihrem späteren Bibliothekar, dem Stadtrichter und Dozent Rubo, von dessen Tätigkeit berichten und übernahm die Aufgaben, die eine ununterbrochene kontinuierliche Vereinstätigkeit erforderten 25. Bereits am 25. Februar 1861 zeigte sich der erste Erfolg des Juristentages. Durch einen Erlaß des preußischen Königs Wilhelm I. wurde eine Kommission zur Revision des Zivil- und Strafprozeßrechts mit dem Ziel einer "gemeinsamen deutschen Gesetzgebung" eingesetzt. Vorsitzender war Dr. Bornemann, zweiter Präsident des Ober-Tribunals und Präsident der ständigen Deputation des Juristentages, die die Initiative durch Schreiben an den preußischen Justizminister v.Bernuth und die wiener Regierung angeregt hatte 26 . Bis zur Rechtseinheit im Zivilrecht (1. - 24. Deutscher Juristentag, 1860 1898) zeigte sich der Verdienst des Juristentages in der Anregung, Planung und nachhaltigen Förderung zahlreicher, teils erfolgreicher, teils zunächst gescheiterter Gesetzesvorhaben, z.B. auf dem Gebiet des Hypotheken-, Ehegüter-, Zivilprozeß-, Straf-, Handels-, Versicherungs-, Patent-, Urheber-, Notariats-, Obligationenrechts ("Dresdner Entwurf' von 1866) und einer Anwaltsordnung 27 . Insoweit hatten seine Arbeiten, Gutachten und Beratungen für viele Gesetzgebungsfragen die Bedeutung eines juristischen Vorparlaments 28 . Begleitet wurde diese Tätigkeit durch die 1815 am Souveränitätsstreben Württembergs und Bayerns gescheiterte Forderung eines höchsten

23

Weißler, Geschichte der Rechtsanwaltschaft, 1905, S.507-515.

24

Die Schreiben sind abgedruckt bei Hiersemenzel, Zur Geschichte des Deutschen Juristentages Vorwort, in: Schriftfuhreramt der ständigen Deputation, Verhandlungen des ¡.Deutschen Juristentages, 1860, S.IIIff.(X-XVI). 25 2 6

27

Neumann, Geschichte, S.5,20; FijaU Geschichte der Jur.Ges., S.25. Preuß.GerichtsZ 1861, S.57; Neumann, Geschichte, S.6f. FijaU Geschichte der Jur.Ges., S.23f.; Scholz, Berliner Anwaltsblatt 1983, S.209f.

28

Meyers Großes Konversations-Lexikon, Bd. 10, 6.Auflage 1905, S.390; Dqffis, Juristische Gesellschaften, S.421.

1. Kapitel: Ziele der Juristischen Gesellschaft zu Berlin

33

deutschen Gerichtshofs, als Mittel zur Einheit der Rechtsanwendung29, Organ nationaler Integration, Voraussetzung eines Rechtsstaats, bzw. eines Wirtschafts- und Sozialstaats moderner Prägung 30 . Bis zum heutigen Tag spiegeln sich in der Arbeit des Juristentages, vergleichbar mit dem Wirken der Juristischen Gesellschaft, die Entwicklung des Rechts, die Strömungen der Rechtswissenschaft, die Ziele der Gesetzgebung und implizit auch das politische Geschehen31. Auch die "Savigny-Stiftung zur Förderung der vergleichenden Rechtswissenschaft", die im Rechtssinne durch ihre Werte, vor allem die 1861 als Nachfolgerin von Savignys "Zeitschrift für Rechtsgeschichte" gegründete "Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte"32, fortbesteht, verdankte ihre Entstehung der Juristischen Gesellschaft. Der Beschluß zur Gründung dieser allerdings mehr historisch ausgerichteten Institution wurde auf der Gedächtnisfeier für den am 25. Oktober 1861 verstorbenen Gründer der Historischen Rechtsschule gefaßt. Feiern veranstaltete die Juristische Gesellschaft nicht nur zum Gedenken an Verstorbene, sondern auch bei bedeutsamen Schritten auf dem Weg zur deutschen Rechtseinheit. So wurde am 16. März 1867 die erste Sitzung des Norddeutschen Reichstages, am 24. März 1871 das erste Zusammentreten des Deutschen Reichstages und am 14. Februar 1874 die Erweiterung der Reichsgesetzgebungskompetenz auf das gesamte bürgerliche Recht gefeiert 33. Auf diesem Fest des Sieges über die konservativen Vorbehalte wurde nach dem bezeichnenderweise von Lasker gehaltenen Vortrag über "Die Deutsche Rechtseinheit vor und seit dem Erlasse des Verfassungsgesetzes vom 20. Dezember 1873"

29

Scholz, Berliner Anwaltsblatt 1983, S.210. 30

Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd.3, S.974f; zum Streit bei der Ausarbeitung der Verfassung des Deutschen Bundes: Bd.l, 2.Auflage 1967, S.559,548,616f. 31

Fijal, Geschichte der Jur.Ges., S.22, m.w.N. 32

Nach Sinzheimer, Jüdische Klassiker der deutschen Rechtswissenschaft, 1953, S.103, die "berühmteste Zeitschrift Deutschlands". 33

Koch, Rückblick, S.7f.

3 Andres

34

2. Teil: Geschichte und äußerer Anlaß des Entwurfes

"Der unter No.2 der Tagesordnung stehende Vorschlag des Vorstandes zur Ausschreibung der im Programm näher bezeichneten Preisaufgabe ... unter den im Programm angegebenen Bedingungen ohne Diskussion angenommen"34.

Dies war die Preisaufgabe, die Anlaß für Mommsens Erbrechtsentwurf war 3 5 . Weshalb die Juristische Gesellschaft gerade das Erbrecht auswählte, läßt sich nicht mehr feststellen. Anläßlich des Mommsen'schen Entwurfes betonte Roth 1876, daß gerade das Erbrecht dem Gesetzgeber die meiste Veranlassung biete, eine Entscheidung zwischen den abweichenden Richtungen der Landesrechte zu treffen und veraltete Regelungen zu beseitigen. In keinem Rechtsgebiet sei der Landesgesetzgeber aktiver gewesen, um deutschrechtliche Institute dem rezipierten römischen Recht anzupassen oder zwecklose römisch-rechtliche Beschränkungen auszuscheiden36. Hintergrund der Aufgabenstellung der Juristischen Gesellschaft dürfte sein, daß das Schuldrecht bereits im Dresdner Entwurf kodifiziert war, für das Immobiliarrecht preußischen Reformen vorlagen, das Mobiliarrecht nur wenig interessant und das Familien-, insbesondere das Ehegüterrecht, zu zersplittert war. Es sollte wohl ein von politischen Rücksichten unbeeinflußter Vorentwurf für die rechts- und sozialpolitisch brisante Rechtsmaterie des Erbrechts geschaffen werden. Der Vorsitzende der 1.Kommission, der preußische Präsident des Reichsoberhandelsgerichts Pape, bezeichnete es als "noch schwieriger" als das Familienrecht, weshalb es nur einem gründlichen Kenner des deutschen Rechts anvertraut werden dürfe. Mit Schmitt suchte er wohl, von Anfang an einen Vertreter des nach Preußen größten Bundesstaats (Bayern) zu beteiligen . Mommsens Aufgabe war die zweite der insgesamt sieben38 Preisausschreiben, die die Gesellschaft bis 1933, als sie dem Zwang der innenpolitischen

34

Jahresbericht der Jur.Ges.( 1873/74), S. 16; Protokoll des Vortrags von Lasker: S. 13-15.

35 Zur Verbreitung wurde die Preisaufgabe an die Herausgeber der gelesensten deutschen juristischen Zeitschriften und an die Dekane der juristischen Fakultäten sämtlicher deutscher Universitäten übersandt, Jahresbericht der Jur.Ges.( 1873/74), S.2. Sie wurde mit der Festrede Laskers z.B. in Hirth's Annalen des Deutschen Reichs 1874, Spalte 743ff, veröffentlicht. 3 6 Friedrich Mommsen, Entwurf eines deutschen Reichsgesetzes über das Erbrecht nebst Motiven, in: Jenaer Literaturzeitung 1876, S.639ff.(639).

37

Schubert, Entstehungsgeschichte des Bürgerlichen Gesetzbuchs, in: Ders., Materialien zur Entstehungsgeschichte des BGB, 1978, S.27ff,(40f.); zu Pape: Jahnel Kurzbiographien, S.79f. 38

Eine Zusammenstellung findet sich bei Fijal, Geschichte der Jur.Ges., S.203f.; Neumann, Geschichte, S.lOf. (bis 1903, mit Angabe der Preisrichter).

1. Kapitel: Ziele der Juristischen Gesellschaft zu Berlin

35

Verhältnisse erlag und "ruhte" 39 , veranstaltete. Stets lassen Inhalt und Zeit der Ausschreibung das Interesse der Gesellschaft an der Erreichung und Fortbildung einheitlichen deutschen Rechts erkennen 40. So wurde am 11. März 1865 wegen der anstehenden Gesetzgebungsarbeiten sowie den Kontroversen mehrerer der größten Staaten Europas und auf dem 4. Juristentag zu Mainz eine rechtsvergleichende, historisch-dogmatische Darstellung vom Standpunkt der Rechtswissenschaft und der Volkswirtschaftslehre über die Frage: "Ist die körperliche Haft ein zulässiges Exekutionsmittel in Zivilprozeßsachen?" gefordert 41. In der Sitzung vom 9. Juni 1866 wurde der Gerichtsassessor, nun Berliner Stadtrichter, Dr. Paul Ulimann, ein Mitglied der Gesellschaft, durch Professor Dr. Gneist mit dem auf 50 Friedrichsdor dotierten ersten Preis ausgezeichnet. In einem Rückblick auf die zehnjährige Wirksamkeit der Gesellschaft wird der Erfolg deutlich: "Die Personalhaft als Exekutionsmittel im Civilprozesse ist im Wege der Gesetzgebung (Anm.: Gesetz vom 29. Mai 1868) inzwischen aufgehoben worden. Dem Verfasser der Preisschrift muß es zur großen Genugthuung gereichen, daß bei Berathung dieses Gesetzes in der 57.Sitzung des Hauses der Abgeordneten, in Zustimmung der diesfalligen Erklärung des Abgeordneten Grafen zu Eulenburg der Vertreter der Staatsregierung, Geh. Ober-Justizrath Dr.Pape ausdrücklich anerkannte, 'daß diese lichtvolle und übersichtliche Zusammenstellung der Gründe gegen die Beibehaltung des Personal-Arrestes in Preußen die Zahl der Gegner des Personal-Arrestes noch vermehrt habe1. Möge es der Gesellschaft gelingen, in gleicher Weise auch ferner zur Läuterung des Rechtsbewußtseins beizutragen!" 42

Zur gründlichen Erforschung von Teilproblemen des Entwurfes eines Bürgerlichen Gesetzbuches wurde in der Generalversammlung vom 21. April 1894 die dritte Preisaufgabe über die Frage: "Welche Rechtssätze des internationalen Privatrechts eignen sich zur Aufnahme in das künftige BGB? Gesetzesentwurf nebst Begründung und einer vergleichenden Zusammenstellung der einschlagenden Bestimmungen aus den wichtigeren in- und ausländischen Gesetzgebungen" ausgeschrieben. Das vierte Preisausschreiben über "Begriff, Wesen und Behandlung der Wertpapiere nach dem BGB und dessen

Durch die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes zur Unwirksamkeit nationalsozialistischer Unrechtsmaßnahmen gegenüber bürgerlich-rechtlichen Vereinen und die Neugründung eines eingetragenen Vereins im November 1958 konnte der totgeglaubten Altkorporation juristisch das Leben erhalten werden, dazu: Dehnicke, Vorwort, S.VIII; Scholz, Berliner Anwaltsblatt, 1983, S.211-215. 40

Neumann, Geschichte, S.9. 41

6.Jahresbericht über die Wirksamkeit der Juristischen Gesellschaft zu Berlin in dem Vereinsjahre 1864/65, S.2; Deutsche GerichtsZ 1865, S.44. 42

Zum Ganzen: Jahresbericht der Jur.Ges.( 1868/69), S.4.

2. Teil: Geschichte und äußerer Anlaß des Entwurfes

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Nebengesetzen" wurde in der Festsitzung zur Feier des Inkrafttretens des BGB beschlossen43. Preisträger wurden der Rechtsanwalt beim Kammergericht zu Berlin, Dr. Hugo Neumann, ein späterer Chronist der Gesellschaft, und der Gerichtsassessor Dr. Ernst Jacobi. Die 1909, 1914 und 1917 veranstalteten Preisausschreiben betrafen das (Jugend)Strafrecht und das Seekriegsrecht 44 . Die Anerkennung, die diese außerordentlichen Mittel zur Förderung des Vereinszwecks fanden, zeigt sich auch heute noch in dem Bedauern, das Wassermann 45 der jetzigen Beschränkung auf die Veranstaltung von Vorträgen, ohne Anregung oder Förderung anderer wissenschaftlicher Arbeiten, z.B. durch die Veranstaltung wissenschaftlicher Preisausschreiben und die Veröffentlichung preisgekrönter Schriften, entgegenbringt.

B. Unterstützung der Kodifikationsbemühungen Das Preisausschreiben vom 14. Februar 1874 war Ausgangspunkt für eine Reihe von Aktivitäten zur Unterstützung der Gesetzgebungsarbeiten am BGB, die allerdings erst ab 1887, mit der Vorlage des 1.Entwurfes beim Bundesrat durch Pape 46 , in den Mittelpunkt rückten. Bis dahin beschäftigte sich die Juristische Gesellschaft, deren Streben nach nationaler Einigung mit der Reichsgründung 1871 erreicht war, mit der Justizreform und den durch die Vereinheitlichung des Wirtschaftsgebiets und der zunehmenden Industrialisierung und Technisierung verbundenen Rechtsfragen. Während die unmittelbare Anregung legislatorischer Rechtsvereinheitlichung mehr und mehr vom Juristentag übernommen wurde, ging es der alma mater vorwiegend um die Analyse der Bemühungen um die Kodifika-

43

Die Auswahl des Themas war durch eine besondere, am 11.November 1899 aus dem Präsidenten Koch, Geh. Justizräte Professoren Dr. Eck und Dr. Gierke, Senatspräsident Schepers und Geh. Justizrat Dr. Lesse gebildete Kommission erfolgt. Es dürfte maßgeblich auf Koch, dessen Bemühen um den Ausbau des Finanz- und Wirtschaftsrechts und des Giro-, Scheck- und Clearingverkehrs sich in zahlreichen Referaten vor der Juristischen Gesellschaft spiegelt, zurückzuführen sein. 44

Eine Auflistung der Preisaufgaben findet sich bei: Fijal, Geschichte der Jur.Ges., S.203f. 45

JR 1964, S.99.

46

Die Vorlage erfolgte über den Reichskanzler, 16. Bericht Papes an den Reichskanzler vom 27.12.1887 in: Schubert, Materialien, S.309.

1. Kapitel: Ziele der Juristischen Gesellschaft zu Berlin

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tion und Reform der Reichsjustizgesetze (ZPO, StPO, GVG, KO 4 7 ). Insoweit bot die Gesellschaft, die 1884 zur größeren personellen und rechtlichen Festigung die Korporationsrechte beantragt hatte, vor allem auch Kommissionsmitgliedern ein Fachpublikum aus Wissenschaft und Praxis. In wirtschaftlicher Hinsicht fanden insbesondere Fragen des Aktienrechts und des bargeldlosen Zahlungsverkehrs, vor allem durch Richard Koch, den "Vater des modernen Scheckrechts", Beachtung 48 . Unter Sprengung des bürgerlichen Rahmens nahm die Gesellschaft mit Beginn der Bismarck'schen Sozialgesetzgebung die immer drängender werdende soziale Frage auf. Die Referate beschränkten sich zunächst auf die Schilderung der Mißstände und deren Folgen, die Darstellung der Gewerbeordnung und des Krankenversicherungsgesetzes sowie die Betonung der Notwendigkeit sozialgesetzlicher Maßnahmen. Bezeichnenderweise wurde erst in der sozialreformerischen Ära unter Wilhelm II. eine Lösung - Unterstützung des Hilfsbedürftigen durch die Gemeinden als Ausgleich für seine ihr zugute gekommenen wirtschaftlichen Leistungen - vorgeschlagen 49. Solche modernen Sozialstaatsgedanken führten später zur Einsicht, daß es nicht auf die Fürsorge, sondern die gleichberechtigte Einordnung der Arbeiter in die Gesellschaft ankommt 50 . Der l.Entwurf des BGB wurde bis 1893 in 14 Vorträgen analysiert und kritisiert. Beachtung verdient hier insbesondere der schon in der Schrift "Der Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuchs und das deutsche Recht" von Gierke erhobene Vorwurf der Vernachlässigung volkstümlicher Rechtsgewohnheiten. Der 1895 mit den "Protokollen" veröffentlichte 2.Entwurf des BGB wurde durch zehn Vorträge gewürdigt; sieben davon betrafen die von der Gesellschaft angeregte Untersuchung der einzelnen Sachgebiete durch fünf prominente Gelehrte, einen Berliner Lehrer und einen Praktiker. Trotz der Forderung Gierkes nach einer erneuten Umarbeitung fiel der Tenor allgemein positiv aus: Auch in der im Verein assoziierten hauptstädtischen Juristenelite war

Insoweit wurde ein 1868 von Richard Koch über die "Reform des preußischen Konkursrechts" vor der Gesellschaft gehaltenes Referat zur Begründung des reichsrechtlichen Vorhabens herangezogen, Hahn, Die gesammten Materialien zu den Reichs-Justizgesetzen, Bd.4, 1881, z.B. S.67, Fn.2, S.69, Fn.l, S.71, Fn.l. 48

Zum Ganzen: FijaU Geschichte der Jur.Ges., S.57-60,63-65,71-75,80f.,84f.,108.

49

Köhne, "Staat und Armenpflege", 1895, dazu und zum Ganzen: FijaU Geschichte der Jur.Ges., S.77-79. 50

Vgl. Diwald, Geschichte der Deutschen, S.288.

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2. Teil: Geschichte und äußerer Anlaß des Entwurfes

die Stimmung einem baldigen Abschluß der Gesetzgebungsarbeiten aufgrund des 2.Entwurfes geneigt. Den Kontakt zu den Gesetzgebungsgremien stellte die Gesellschaft durch Korrespondenz mit Pape, Einladungen an Mitglieder des Bundesrats, des preußischen Justizministeriums, der Kommissionen und des Reichsjustizamts, dessen Staatssekretäre ihr fast alle angehörten, her. Als Beispiel der Anerkennung der Bemühungen kann gelten, daß Ecks Auseinandersetzung mit der "Behandlung des Erbrechts im Entwürfe des BGB" in der von Struckmann im Reichsjustizamt gefertigten Zusammenstellung der gutachtlichen Äußerungen zum 1.Entwurf an erster Stelle erscheint 51 . Kritisiert wurde z.B. der ungenügende Ersatz der gemeinschaftlichen und damit auch der korrespektiven Testamente durch den Erbeinsetzungsvertrag 52, ein Gedanke, der zur Wiedereinführung ersterer führte. Ob der Erbrechtsentwurf Mommsens die nach Scholz 53 den Preisausschreiben als uneigennützigen Initiativen allgemein zukommende hohe Anerkennung in der Wissenschaft, den Ministerien und vor allem im Gesetzgebungsverfahren teilte, soll Gegenstand der vorliegenden Arbeit sein. Zur Beurteilung dieser Frage soll kurz in Erinnerung gerufen werden, wie weit Anlage, Interessen und Ziele des BGB bereits feststanden.

Eine Auflistung der im Zusammenhang mit der Kodifikation gehaltenen Vorträge findet sich bei: Neumann, Geschichte, S.28-30; zum Ganzen: Fijal, Geschichte der Jur.Ges., S.72,86-89. 52

Zum Ganzen: Zusammenstellung der gutachtlichen Aeußerungen zu dem Entwurf eines Bürgerlichen Gesetzbuchs gefertigt im Reichs-Justizamt, Bd.5, 1967, Neudruck der Ausgabe 1890, S.1,43. 53

Berliner Anwaltsblatt, 1983, S.208.

2. Kapitel: Preisaufgabe im Spiegel der Vorarbeiten zum BGB

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Zweites Kapitel Preisaufgabe im Spiegel der Vorarbeiten zum BGB Als der Bundesrat am 12. Dezember 1873 mit 54 gegen die 4 Stimmen der beiden Mecklenburg und Reuß älterer Linie der Erweiterung der Reichskompetenz auf das gesamte bürgerliche Recht zustimmte, geschah dies unter der Bedingung, daß sofort eine umfassende Kodifikation in Angriff genommen werde 2. Die Verfassungsänderung, die getreu dem liberalen Programm zum viertenmal vornehmlich von den nationalliberalen Juristen und Abgeordneten Eduard Lasker und Johannes Miquel beantragt worden war 3 , stand also unter einem politischen Junktim. Sie wandte sich gegen die Vorbereitung des Gesetzbuches durch Einzelgesetze, wie sie die Reichstagsmehrheit, insbesondere große Teile der Nationalliberalen Partei, angestrebt hatte. Gerade Lasker sah - ganz im germanistischen Geiste Beseler'scher Prägung - in den Einzelgesetzen das Mittel zur Vereinheitlichung der Grundsätze, der Denk- und Ausdrucksweise in einem "deutschen Geist" und damit zur Schaffung eines den modernen Bedürfnissen zugeschnittenen Volksrechts statt eines "bürokratisch-juristischen Gesetzbuches"4. Demgegenüber befürchteten die größeren Bundesstaaten die Zerstörung der Partikularrechtssysteme in ihrer jeweiligen Einheitlichkeit und die bessere Durchsetzbarkeit zentralistischer Tendenzen

Schubert , Entstehungsgeschichte, S.33; ders., Die Entstehung der Vorschriften des BGB über Besitz- und Eigentumsübertragung, 1966, S.13, stellt falschlich auf den 4.12.1873 ab. * 2

Protokoll der Bundesratssitzung vom 12.12.1873, in: Schubert , Materialien, S.159. 3

Die vorhergehenden Anträge waren 1869, 1871 und 1872, nach der 1867 erreichten Ausdehnung der Bundeskompetenz auf das Obligationenrecht, das Strafrecht und das Gerichtsverfahren, gestellt worden. Der Unterschied der zuletzt angenommenen Vorlage bestand darin, daß in der Kompetenzbestimmung über das gerichtliche Verfahren der Zusatz "einschließlich der Gerichtsorganisation" weggelassen war. Eine einschränkende Wirkung hatte dies als selbstverständliche Aussage nicht. Der Verzicht kam aberföderalistischen Bedenken, insbesondere der bayerischen Anhänglichkeit an die Justizhoheit, entgegen, dazu: Laufs, Die Begründung der Reichskompetenz für das gesamte bürgerliche Recht, in: JuS 1973, S.740ff.(744); Geiz, Die deutsche Rechtseinheit im 19. Jahrhundert als rechtspolitisches Problem, 1966, S.160; Huber , Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd.3, S.976, Fn.13. 4 Rede gehalten am 31.5.1872 im Reichstag, teils wiedergegeben bei Schubert , Materialien, S.30f.

2. Teil: Geschichte und äußerer Anlaß des Entwurfes

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Preußens5. Insbesondere Württemberg und Bayern, dessen Verhalten aufgrund der Nominierung des späteren Erbrechtsredaktors Schmitt besondere Beachtung verdient, wollten die Verfassungsänderung auf die Schaffung einer Kodifikation beschränken. Wegen der schwierigen Fassung forderte Sachsen unter Zustimmung Hessens, Braunschweigs und Oldenburgs 6, stattdessen sofort mit der Annahme des Antrags eine Kommission zur Ausarbeitung eines Kodex einzusetzen7. Um die bloße Mitteilung der formalen Sachlage ohne jegliche Stellungnahme, damit Kritik und die Beeinträchtigung des Ansehens des Bundesrats zu vermeiden, vereinbarten die Justizminister der drei Königreiche, die Abgesandten Lübecks und Hessens sowie der preußische Staatsekretär Friedberg eine Erklärung 8 , die der Präsident des Reichskanzleramts, Delbrück, am 2. April 1873 im Reichstag vortrug. Danach beabsichtigten die verbündeten Regierungen, "mit der Publikation der VerfassungsÄnderung eine Kommission zur Aufstellung des Entwurfs eines allgemeinen deutschen bürgerlichen Gesetzbuches einzusetzen"9. Die Reichskompetenz war also nur durch Verständigung über ihre Nutzung zu erreichen. Ohne Widerspruch nahm der Reichstag den verfassungsändernden Antrag am nächsten Tag - nun auch mit den konservativen Stimmen - an. Damit war das künftige Vorgehen beschlossen: Rechtsvereinheitlichung durch eine Kodifi-

5 Schubert, Entstehungsgeschichte, S.30-32.; ders., Das bürgerliche Gesetzbuch von 1896, in: Hofmeister, Kodifikation als Mittel der Politik, 1986, S.llff.(14). Nach dem Bericht von v.Bülow (Mecklenburg-Schwerin) über die Sitzung der Ausschüsse für Verfassung und Justizwesen am 31.3.1873, zusammengefaßtin: Schubert, Materialien, S.157, Fn.53, hätten (nur) Baden und Lübeck vorbehaltlos zugestimmt; bestätigt wird dies durch die entsprechenden Berichte von Krüger (Lübeck) und v.Liebe (Braunschweig), ebenda S.155f.(155), bzw. 157f.(158), dort auch zu den Auffassungen der anderen Bundesstaaten. 6 Das Verhalten Oldenburgs war nach dem Bericht von Krüger, S.156, ablehnend, dem von Liebe, S.158, läßt sich das Gegenteil entnehmen; jedenfalls lag für die Bundesratssitzung am 2.4.1873 keine zustimmende Erklärung vor, Schubert, Entstehungsgeschichte, S.32, Fn.24.

7

Bericht von Liebe, S.157f.; Schubert, Entstehungsgeschichte, S.32. g Dazu: Bericht von v.Krüger, S.156; der dort erwähnte "Hoffmann" ist der hessische Ministerpräsident Karl. v. Hofmann, vgl.: Schubert, Materialien, S.416; Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd.3, S.835. 9

Protokoll der Bundesratssitzung vom 2.4.1873, in: Schubert, Materialien, S.158, statt des Schlußteils "da sie die Herstellung der Einheit des bürgerlichen Rechts in einem Gesetzbuche für Deutschland als das zu erstrebende Ziel... betrachten", erklärte Delbrück: "indem sie davon ausgehen, daß die Einheit des bürgerlichen Rechts in Deutschland der wesentlichste Zweck und das wesentlichste Ziel ... ist", eine Veränderung, gegen die insbesondere Württemberg protestierte, dazu: Schubert, ebenda, Fn.54.

2. Kapitel: Preisaufgabe im Spiegel der Vorarbeiten zum BGB

41

kation unter Leitung des Bundesrats und unter Verzicht auf Einzelgesetze10. Das von Fäustle bildlich beschriebene Ziel war erreicht: Die Kodifikationsfrage konnte in die Hände der Fachleute übergehen, derselben war "der politische Zahn ausgebrochen" 11. Dadurch waren die Partikularinteressen gegenüber der ohnehin unabwendbaren Rechtseinheit maximal geschont12. Schubert 13 kritisiert nicht zu Unrecht, daß die liberalen Parteien des Reichstages diese Taktik nicht rechtzeitig erkannten, rügten und damit auf eine verfahrensmäßige und inhaltliche Mitgestaltung des Gesetzesentwurfes verzichteten 14 . Für Preußen und seinen Ministerpräsidenten, deren zentralistischen Tendenzen es eigentlich vorzubeugen galt, darf dagegen vermutet werden, daß es nie um etwas anderes gegangen war, als um dieses Ergebnis. Es beseitigte nicht nur die seit dem Erwerb von Hannover und Hessen-Kassel bestehende unwirtschaftliche und politisch nachteilhafte Spaltung Preußens in die drei großen Rechtsgebiete des Allgemeinen Landrechts, des gemeinen und des französischen Rechts; es gab vielmehr auch den Nationalliberalen, die als größte Reichtstagsfraktion und durch ihre traditionell kleindeutsche Gesinnung die Verbündeten für die Einheitspolitik Bismarcks waren, ihren Willen und zwar über den ungefährlichen Weg der politischen Entscheidung für ein unpolitisches Gesetzbuch15. Nachdem Fäustle in München mit drei Stimmen die Mehrheit der überwiegend kirchlich und konservativ-partikularistisch eingestellten Ständekammer (Patriotenpartei), die neben der Eigenstaatlichkeit das Immobiliarrecht, vor

10 Schubert , Das bürgerliche Gesetzbuch, S.14; Dölemeyer, in: Coing : Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte, Bd. III/2, 1982, S.1578; Getz , Die deutsche Rechtseinheit, S. 161. 11

Zitiert nach dem Bericht von v. Bülow, S. 157, Fn.53.

12

Zu den diesbezüglichen Zielen Fäustles: Schubert , Bayern und das Bürgerliche Gesetzbuch, 1980, S.10. 13

Das Bürgerliche Gesetzbuch, S.14f. 14

Die im Mai 1872 von Miquel, der die Hinhaltetaktik durchschaute, im Reichstag geäußerte Kritik an der vom Bundesrat beabsichtigten Umgehung des Reichstages und damit der Nation durch die Vorlage eines von einer Kommission der Bundesregierungen entworfenen Gesetzbuches, wurde nicht mehr aufgegriffen. Miquels Vortrag ist teils wiedergegeben bei Schubert , Entstehungsgeschichte, S.30. 15 Jakobs , Wissenschaft und Gesetzgebung im bürgerlichen Recht, 1983, S. 121,124. Er bezeichnet sogar das Verdienst der Nationalliberalen an der Schaffung des BGB als ungewollt und den Ausdruck lex Miquel-Lasker als bedenklich; zu Preußens Zielen auch: Schubert , Entstehungsgeschichte, S.27-29.

2. Teil: Geschichte und äußerer Anlaß des Entwurfes

42

allem aber das Ehegüter- und Erbrecht und damit die Sozialstruktur Bayerns, gefährdet sah, gewonnen 16 und der Bundesrat endgültig zugestimmt hatte, beauftragte der Bundesrat den Ausschuß für Justizwesen, Vorschläge für die Einsetzung der Kommission und die Ausarbeitung des Entwurfes zu machen 17 . Um für ein eventuelles Scheitern des ganzen Werks die Verantwortlichkeit gegenüber der Öffentlichkeit von dem Bundesrat, bzw. dem Justizausschuß zu nehmen und die Autorität hervorragender Juristen für das dem Plenum zu empfehlenden Verfahren hinter sich zu haben, schlugen die Vertreter Preußens (Friedberg, Justizminister Leonhardt) die Einsetzung einer Vorkommission vor. Entgegen der Voten Sachsens (Abeken) und Württembergs (v. Mittnacht), die sich in der Verfassungsfrage wohl ohnehin nur dem Druck der von Preußen gelenkten öffentlichen Meinung gebeugt hatten 18 und nun aus Furcht vor dessen Dominanz auf der sofortigen Berufung einer Hauptkommission beharrten 19 , wurde dieser Antrag in der Ausschußsitzung vom 8. Februar 1874 mit fünf Stimmen angenommen20. Auf Anregung Leonhardts schlug der Ausschuß als Mitglieder vor: die Präsidenten der obersten Gerichte von Bayern (Neumayr), Sachsen (von Weber) und Württemberg (Kübel), den Vortragenden Rat des preußischen Justizministeriums Förster, für den Leonhardt im Plenum wegen Demission den

Da die bayerische Regierung die Entscheidung zur Erhaltung ihrer Stellung von der erst im Herbst 1873 stattfindenden Anhörung der Kammern abhängig gemacht hatte, hatte der Bundesrat die Entscheidung ausgesetzt. Hintergrund war, daß Preußen wegen der Bedeutung der Verfassungsänderung Wert auf die Zustimmung aller größeren Staaten legte, eine Überstimmung Bayerns als offen zu Tage tretenden Dissens vermeiden wollte und die Mehrheit des Justizausschusses zu verhindern suchte, daß die Mittelstaaten im Reichstag einzeln ihre Meinung vertraten und Preußen diesem "Zerfleischungsprozeß" stillschweigend zusah. Die Kammer der Reichsräte hatte den Antrag abgelehnt, woran sich die bayerische Regierung aber nicht gebunden fühlte, zum Ganzen: Schubert, Entstehungsgeschichte, S.32f.; ders., Bayern, S.9f.,13-15, dort auch zur Vermittlerrolle Fäustles zwischen dem König, den Partikularisten einerseits und den Anforderungen der Reichspolitik andererseits; die Erklärung Fäustles vom 8.11.1873 in der 2.Kammer findet sich in: Schubert, Materialien, S.152-154; Bericht von Krüger, Liebe und v.Bülow, S.156f.,158,157, Fn.53. 17

Protokoll der Bundesratssitzung vom 12.12.1873, S.159.

18

Dazu: Schubert, Entstehungsgeschichte, S.29f.

19 Fäustle hoffte gerade umgekehrt darauf, einer preußischen Dominanz mittels Festlegung ihrer Grenzen, Ziele und Methoden durch eine Vorkommission zu begegnen, dazu: Schubert, Entstehungsgeschichte, S.33. 20

Zur ganzen Auseinandersetzung: Schubert, Entstehungsgeschichte, S.33f; Bericht von Hess (Württemberg) über die Sitzung des Justizausschusses vom 13.12.1873; Gegenvorschlag Sachsens; Bericht von Liebe (Braunschweig) über die Sitzung des Justizausschusses vom 8.2.1874, jeweils in: Schubert, Materialien, S. 160-162.

2. Kapitel: Preisaufgabe im Spiegel der Vorarbeiten zum BGB

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Präsidenten des Paderborner Appellationsgerichts (Meyer) nominierte 21 , und als einzigen Theoretiker Levin Goldschmidt, seit 1870 Rat beim Reichsoberhandelsgericht in Leipzig, zuvor Professor in Heidelberg, ab 1875 am Lehrstuhl für Handelsrecht in Berlin 22 . Die Mitglieder waren nach bundesstaatlichen Rücksichten, weniger, um die größeren Rechtsgebiete zu Geltung zu bringen - sonst hätte das preußische Recht nicht so kläglich abschneiden können -, als um des monarchischen Prinzips willen, ausgewählt worden 23 . Am 28. Februar 1874 berief der Bundesrat sie mit der Aufgabe: "über Plan und Methode, nach welcher bei Aufstellung des Entwurfs eines Deutschen bürgerlichen Gesetzbuchs zu verfahren sei, gutachtliche Vorschläge zu machen." 24

Das von Goldschmidt entworfene Gutachten wurde bereits sechs Wochen später, am 16. April 1874, dem Bundesrat vorgelegt, der es am 19. April 1874 dem Justizausschuß überwies. Der Berichterstatter von Liebe pflichtete den Ausführungen der Vorkommission im wesentlichen bei 25 . Am 22. Juni 1874 billigte der Bundesrat seinen Bericht vom 9. Juni 1874 26 . Für das Verfahren zur Ausarbeitung der Kodifikation wurde es wegen des Umfangs der Arbeit und der notwendigen Einheitlichkeit von Denk- und Sprachweise als unerläßlich angesehen, selbständige Einzelarbeit und leiten-

Entscheidend war wohl, daß Leonhardt mit Förster , der bei den Süddeutschen als Zentralist sehr gefürchtet war, keinen Anstoß erregen wollte. Der Bundesrat ersetzte Meyer bereits am 19. März 1874 wegen Krankheit durch den späteren preußischen Justizminister von Schelling, damals noch Präsident des Appellationsgerichts in Halberstadt, zum Ganzen: Schubert , Entstehungsgeschichte, S.34, insbesondere Fn.37; zu Förster auch Meyer, ADB, Bd.48, Neudruck der l.Aufl. 1904, 1971, S.661ff., insbesondere S.668. 22 Pappenheim , ADB, Bd.49, Neudruck der 1. Aufl. 1904, 1971, S. 438ff.; ders.: Levin Goldschmidt , in: ZHR 1898, S.lff. In der Entstehungeschichte, S.34, geht Schubert falschlich davon aus, daß Goldschmidt bei der Einsetzung der Vorkommission noch Professor in Heidelberg war, richtig dagegen: Eigentumsübertragung, S.13f. 23

Thieme , Aus der Vorgeschichte des Bürgerlichen Gesetzbuchs, in: DJZ 1934, S.968ff.(969).

24

Protokoll der Bundesratssitzung vom 28.2.1874, in: Schubert, Materialien, S.163. 25

Bericht des Justizausschusses vom 9.6.1874, in: Schubert , Materialien, S.186ff. (187,197). 2 6

Zum Ganzen: Schubert, Entstehungsgeschichte, S.34-36; ders., Materialien, S. 163, Fn.5, 170, Fn.7; Thieme, DJZ 1934, S.968f; Dölemeyer, Coing-Handbuch, S.1579. Die 14 Sitzungen der Vorkommission fanden in der Zeit vom 18.3. - 15.4.1874, also sogar nur innerhalb von vier Wochen statt. Kübel gelang es, die Interessen der Mittelstaaten, die über die absolute Mehrheit verfugten, weitgehend durchzusetzen und insoweit auch den Entwurf Goldschmidts noch in einigen Punkten abzuändern.

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2. Teil: Geschichte und äußerer Anlaß des Entwurfes

de, kontrollierende, ausgleichende Gesamtarbeit einer aus praktischen und theoretischen Juristen bestehenden Kommission zu verbinden 27 . Politisch begegnete die Ablehnung einer Einzelarbeit der naheliegenden Gefahr einer Reproduktion preußischen Gedankenguts. Bereits in der Reichstagsitzung vom 29. Mai 1872, als es noch um die Verfassungsfrage ging, hatte Mittnacht die Bundesregierungen vor der Unbeeinflußbarkeit eines von nur einem Staat präsentierten, vorgefertigten Entwurfes gewarnt und dabei auf die Erfahrungen mit dem Reichsstrafgesetzbuch, den Reichsjustizgesetzen und der Konkursordnung verwiesen 28 . In der Vorkommission war es mit Kübel wieder ein Vertreter Württembergs gewesen, der die Machtlosigkeit der bloßen Prüfung durch eine Kommission befürchtet und so mit Rückendeckung des sächsischen und bayerischen Justizministers gegen eine Einzelarbeit, die selbstredend auch jetzt nur von Preußen stammen konnte, gekämpft hatte 29 . Am 2. Juli 1874 setzte der Bundesrat die l.Kommission ein. Diese wählte am 29. September 1874 Gottfried von Schmitt als Redaktor des Erbrechts 30 . Sowohl Schmitt als auch die l.Kommission bezeichneten das Gutachten der Vorkommission und den Bericht des Ausschusses als "Auftrag" 31 . Damit wird deutlich, daß trotz fehlender rechtlicher Bindungswirkung die tatsächliche überaus groß war 3 2 . Das Gutachten hatte also für Schmitt die gleiche Bedeutung wie die zwei Monate früher gestellte Preisaufgabe der Juristischen Ge-

27 Gutachten der Vorkommission vom 15.4.1874, in: Schubert, Materialien, S.170ff.(176-178); Bericht des Justizausschusses, S.197. Die Ausarbeitung des Gesetzbuches durch eine Kommission hatte Thibaut bereits 1814 vorgeschlagen, Über die Notwendigkeit eines allgemeinen bürgerlichen Rechts für Deutschland, 1814, in: Hattenhauer, Thibaut und Savigny, 1973, S.34-36,39f. (zitiert nach der Original-Paginierung); Besprechung (Antikritik) der Schrift Savignys, ebenda, S.200ff.(205f.). Die Entscheidung folgte der Tradition bei der Allgemeinen Deutschen Wechselordnung und des Allgemeinen Deutschen Handelsgesetzbuchs, Lüderitz, Kodifikation des bürgerlichen Rechts in Deutschland 1873 bis 1977, in: Vom Reichsjustizamt zum Bundesministerium der Justiz, 1977, S.213ff.(215).

28

Dazu: Schubert, Entstehungsgeschichte, S.28f., insbesondere Fn.7. 29

Dazu: Schubert, Entstehungsgeschichte, S.35; ders., Das Bürgerliche Gesetzbuch, S.16. 30

Protokoll der achten Sitzung vom 29.9.1874, Schriftführer Neubauer, in: Schubert, Materialien, S.222. 31

Schmitt, Begründung des Entwurfes eines Rechtes der Erbfolge für das Deutsche Reich und des Entwurfes eines Einfuhrungsgesetzes, 1879, S.28, insbesondere Fn.2, vgl. auch: S.35,37f. (zitiert nach der Original-Paginierung). Schmitt zitierte Gutachten und Bericht bereits auf S.l, also an prominentester Stelle; zum Ganzen mit Belegen durch Archivmaterial aus dem Nachlaß Schmitts: Schröder, Abschaffung oder Reform, S.28, Fn.31f.,75.

2. Kapitel: Preisaufgabe im Spiegel der Vorarbeiten zum BGB

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sellschaft für Mommsen. Daher soll ein Vergleich der jeweiligen Aufgabenstellung zeigen, inwieweit sie System und Ziele bereits vorgab und insofern wahre Ursache der späteren Kritiken an den Entwürfen war. Von Interesse ist insofern auch, ob ein privatrechtlicher Juristenverein Alternativen bei der Schaflung des BGB sah.

Schröder , Abschaffung oder Reform, S.75, insbesondere Fn.64; vgl. auch: Benöhr , Die Grundlage des BGB, in: JuS 1977, S.79ff.(80); Huber , Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd.4, S.273, spricht vom "Charakter einer die Kommission verpflichtenden Weisung". Nach von Kübel, der im Auftrag der 1. Kommission klären sollte, in welchem Umfang dem Gutachten der Vorkommission Bindungswirkung zukomme, hatte der Bundesrat im wesentlichen nur formell bindend ausgesprochen, daß die Kommission Mitglieder mit der Redaktion des Entwurfes zu beauftragen habe und von den Vorschlägen zum Geschäftsgang nur aus zwingenden Gründen abweichen dürfe. Die Kommission einigte sich ohne prinzipielle Beschlußfassung auf das Festhalten an den Grundprinzipien der Vorkommission, Protokoll der zweiten Sitzung vom 19.9.1874, Schriftführer Neubauer, in: Schubert , Materialien, S.206ff.(207); die Anträge von v. Kübel finden sich in der Anlage Nr.2, S.209ff.

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2. Teil: Geschichte und äußerer Anlaß des Entwurfes

Drittes Kapitel Preisaufgabe und Anforderungen der Vorkommission im Vergleich Nach der Preisaufgabe sollte Mommsen einen kompletten zusammenhängenden Erbrechtsentwurf mit Motiven ausarbeiten. Dem lassen sich Vorgaben bezüglich Umfang, System und Inhalt entnehmen. Insoweit fragt sich also, welche Anforderungen das Kommissionsgutachten und der Ausschußbericht an Schmitt stellten.

A. Umfang der Aufgabe Auch von dem Redaktor des Erbrechts wurde ein kompletter Entwurf mit Motiven gefordert 1. Anders als die Juristische Gesellschaft ging die Vorkommission aber mit Zustimmung des Justizausschusses davon aus, daß das Erbrecht nicht isoliert vom ehelichen Güterrecht geregelt werden könne. Begründet wurde dies mit dem vielfachen Ineinandergreifen und der eigentümlichen Verbindung römischer und germanischer Grundsätze 2. Die 1.Kommission hielt die Verknüpfung der Redaktion beider Materien, deren gleichzeitige Kodifikation auch Mommsen in dem vor Veröffentlichung seines Entwurfes im August 1875 verfaßten Vorwort als wünschenswert erklärte 3 , jedoch für bedenklich und überwies das Güterrecht an den Redaktor des Familienrechts. Hingegen sollte der Erbrechtsredaktor, soweit es das Erbrecht betraf, auch das Recht der Lehen, Stammgüter und Familienfideikommisse und das bäuerliche Güterrecht behandeln und - wie alle Redaktoren - das Einführungsgesetz für seinen Teil entwerfen 4.

1

Gutachten, S. 183.

2

Gutachten, S.179, zustimmend: Bericht des Justizausschusses, S.197. 3

Entwurf, Vorwort, S.V.

4 Protokoll der fünften Sitzung vom 24.9.1874 i.V.m. Protokoll der vierten Sitzung vom 23.9.1874, Schriftführer jeweils Neubauer, und Anlage Nr.5: II, "Anträge, das System des bürgerlichen Gesetzbuchs und die Vertheilung der Redaktionsarbeiten betreffend", von Weber, in: Schubert, Materialien, S.214-218; dazu auch: Rassow, Die Verhandlungen der Kommission zur Ausarbeitung eines bürgerlichen Gesetzbuchs für Deutschland, in: Gruchots Beiträge, Bd.21 (1877), S.167ff. (218f.).

3. Kapitel: Preisaufgabe und Anforderungen der Vorkommission im Vergleich

47

Beides war von Mommsen nicht gefordert. Vor der Veröffentlichung 5 ergänzte er seinen Entwurf jedoch durch ein Einführungsgesetz, in dem er die genannten Materien - ohne Definition der zugrundeliegenden Begriffe grundsätzlich dem Landesrecht überließ. Eine einheitliche Gesetzgebung zog er lediglich für das bäuerliche Güterrecht in Betracht. Bis zur genauen Kenntnis der Partikularrechte sollte das allgemeine Erbrecht nur für die teilbaren Bauerngüter, für die unteilbaren ohne gesetzliche Einzelnachfolge oder Anerbenrecht und für die Teilung des Wertes des dem Anerben zustehenden Hofs gelten. Dabei berief sich Mommsen auf die Übereinstimmung mit den Beschlüssen der "maßgebenden Stelle"6. Sowohl die Vorkommission als auch der Justizausschuß und die 1.Kommission7 hatten aber eine differenziertere Regelung gefordert. Die Vorkommission wollte die Lehen, Stammgüter und die bestehenden Familienfideikommisse als Reste der ständischen Rechtsordnung des Ancien Régime im Landesrecht verkümmern lassen. Diesem Streben nach freiem Eigentum im Immobiliarrecht entsprechend8 sollte dem Gesetzbuch aber die negative Aufgabe der Begrenzung ihrer weiteren Zulassung zukommen. Nur in bezug auf das Recht künftig entstehender Familienfideikommisse und das bäuerliche Güterrecht sollte der Landesgesetzgebung Raum bleiben9. Der Justizausschuß wollte ihr nur das Höferecht, der Kommission aber die Frage der Abschaflung sowie des "Ob" und "Wie" der Einwirkung auf das allgemeine Zivilrecht überlassen 10. Ähnlich wollte die 1.Kommission in bezug auf Stammgüter und Lehen zumindest die Zulässigkeit und das Verhältnis zu den Bestimmungen des BGB reichsrechtlich entscheiden. Bei den Fideikommissen und dem Höferecht behielt sie sich sogar eine weitergehende Regelung vor 1 1 . Auch wenn damit - entsprechend der

5

Entwurf, Vorwort, S.V.

6

Zum Ganzen: Entwurf, S.VIIf., Motive zu § 3.

Das Gutachten der Vorkommission und der Bericht des Justizausschusses dürften Mommsen durch die 1875 erfolgten Veröffentlichungen in verschiedenen Fachzeitschriften (dazu: Schubert, Materialien, S.170, Fn.7, 186, Fn.l) bekannt gewesen sein. Die Vorarbeiten der 1.Kommission wurden kaum publiziert, Dölemeyer, Comg-Handbuch, S.1607. Für die hier entscheidenden Beschlüsse aus dem Jahre 1874 bezog sich Rassow, Gruchots Beiträge, Bd.21 (1877), S.215-217, auf die Beilage zum Reichsanzeiger vom 13.Januar 1877 (!). g Staudinger-Coing, Einleitung, Bd.l, Rn.51,75. 9

I

Gutachten, S.174. °

Bericht des Justizausschusses, S. 188f.

II Protokoll der fünften Sitzung vom 24.9.1874, S.218, i. V.m. Protokoll der dritten Sitzung vom 22.9.1874 und Anlage Nr.3: I."Anträge, den Umfang des bürgerlichen Gesetzbuchs betreffend" von Weber, Planck, in: Schubert, Materialien, S.211-214.

2. Teil: Geschichte und äußerer Anlaß des Entwurfes

48

Prophezeiung Fäustles in der I.Kammer 1 2 - keine vollständige Reichsregelung angestrebt wurde, ist die von Mommsen behauptete Übereinstimmung pauschal bei keiner der in Betracht kommenden "maßgebenden Stellen" gegeben. Festzuhalten bleibt aber, daß Mommsens Entwurf im Umfang voll den Anforderungen an Schmitt entsprach.

B. Systemfrage Für das System des BGB standen nach geltendem Recht im wesentlichen vier Möglichkeiten zur Auswahl: 1. Das System des Preußischen Allgemeinen Landrechts, das sich unter Zugrundelegung des Prinzips des subjektiven Rechts an der gesellschaftlichen Lebensordnung orientierte und das Erbrecht so teils beim Eigentumserwerb, teils bei den wechselseitigen Pflichten von Eltern und Kindern regelte 1 3 ; 2. der Aufbau des österreichischen Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches, welches von derselben Grundlage aus, doch in näherem Anschluß an das römische Institutionensystem, das Erbrecht als eine Spezies der dinglichen Rechte behandelte14; 3. der Aufbau des französischen Code Civil, der sich schlechthin dem römischen Institutionensystem (personae, res, actiones) anschloß und das Erbrecht unter dem Aspekt des Eigentumserwerbs, teils als gesonderten Komplex, teils zusammen mit der Schenkung regelte 15 , und 4. das die privatrechtlichen Befugnisse nach ihrem Herrschaftsobjekt unterscheidende fünfgliedrige Pandektensystem der historischen Schule, nach dem das Erbrecht als unmittelbares Machthaben über die leer gewordene

12

Vgl. die Erklärung vom 8.11.1873, S. 153.

13

Das Erbrecht wurde im I.Teil, der die Privatvermögensrechte der Person als Einzelwesen betraf, 9.Titel, 8.Abschnitt und 12.Titel sowie im II.Teil, das Recht der erweiterten Persönlichkeit betreffend, 2.Titel, 5.-12.Abschnitt, geregelt, dazu: Eccius, Preußisches Privatrecht, Bd.l, 6.Auflage 1892, S.24-26. 14

II.Teil, 1. Abteilung, 8-16.Hauptstück. 15

III.Buch, 1 .Titel; 2.Titel, 5.-9.Capitel.

3. Kapitel: Preisaufgabe und Anforderungen der Vorkommission im Vergleich

49

Stelle einer weggefallenen Persönlichkeit eine systematische Einheit bildete 1 6 . Nach der Vorkommission sollte das System "im Wesentlichen der neueren Doktrin des gemeinen Rechts" folgen 17 . Wie sich aus der nachfolgenden Erläuterung ergibt, war damit mehr die Regelungsmethode - prinzipienmäßig statt kasuistisch - als der Aufbau gemeint 18 . Die diesbezügliche Vorstellung der Vorkommission wird aus der Verteilung des Stoffs unter fünf Redaktoren vollends deutlich. Sie wurde mit der Notwendigkeit der Arbeitsteilung und der Möglichkeit, jedes Hauptgebiet einem vorzugsweise befähigten Juristen zuzuweisen, begründet 19 . Zwar sollte das Sachenrecht zunächst zwei Bearbeitern und die Entscheidung über das "Ob" und "Wie" eines zusätzlichen Allgemeinen Teils nach dem abweichenden Willen des Justizausschusses der Hauptkommission überlassen werden 20 , doch war das fünfgliedrige Pandektensystem des BGB vorgezeichnet. So wird es nach Schmitt auch "einer besonderen Rechtfertigung kaum bedürfen", wenn der Entwurf keinem der übrigen Systeme folgt 21 . Die Preisaufgabe der Juristischen Gesellschaft enthielt keine ausdrückliche Regelung über den Aufbau des Entwurfes. Ihr läßt sich jedoch die Forderung nach einer zusammenhängenden, einheitlichen Arbeit entnehmen. Damit ist die selbständige Stellung des Erbrechts im BGB impliziert. Dies zeigt nicht nur, daß das erstmals beim 1865 in Kraft getretenen Sächsischen Bürgerlichen Gesetzbuch durchgeführte (Heisesche) Pandektensystem in der Privatrechtswissenschaft (abgesehen von der Reihenfolge der Teile) nun unbestritten war 2 2 , sondern insbesondere, daß sich Mommsens und Schmitts Aufga-

16 Dazu: Gierke , Der Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuchs und das deutsche Recht, 1889, S.82.; Staudinger-Coing , Einleitung, Bd.l, Rn.56. 17

Gutachten, S. 176.

18 Anders: Staudinger-Coing , Einleitung, Bd.l, Rn.75. 19

Gutachten, S.178f.

20

Der Justizausschuß (Bericht S.192f.) hielt die von der Vorkommission (Gutachten, S.179) vorgeschlagene Ausarbeitung eines Allgemeinen Teils mit mäßigem Umfang durch Abstraktion allgemeiner Rechtssätze aus dem Besonderen nicht für eine Sache des Gesetzgebers, sondern der Theorie. 21

Begründung, S.36; zu den unterschiedlichen Systemen auch Mertens , Gesetzliche Erbfolge, S.13, m.w.N. 22

Dazu: Dölemeyer, Coing-Handbuch, S.1610. 4 Andres

50

2. Teil: Geschichte und äußerer Anlaß des Entwurfes

benstellung nicht nur i m Umfang, sondern auch i m systematischen Ausgangspunkt - Schaffung eines "selbständigen" Erbrechts - deckten.

C. Inhaltliche Anforderungen I n h a l t l i c h war Schmitts Aufgabe nach dem Gutachten der Vorkommission eine dreifache: "Es ist der Gesamtbestand der innerhalb des Deutschen Reichs geltenden Privatrechtsnormen" dahin zu untersuchen, daß "mit schonender Rücksicht auf das überlieferte Recht und eigentümliche örtliche Verhältnisse die energische und konsequente Durchfuhrung der den Verhältnissen der Gegenwart entsprechenden Rechtsprinzipien verbunden wird". Bei Divergenzen zwischen der "gemeinsamen Grundlage des sogenannten gemeinen Rechts (gemeinen Civilrechts und deutschen Privatrechts)" und den "neueren großen Civilgesetzgebungen, der Landesgesetze und etwaigen Reichsgesetze" ist die Entscheidung zwischen deren Beibehaltung und dem "Ob" und "Wie" der "Ausgleichung" "in erster Linie nach Rücksicht des Bedürfnisses und der Zweckmäßigkeit, in zweiter Linie nach juristisch-logischer Folgerichtigkeit" zu treffen. "Es ist endlich auf richtig^ Formgebung und Anordnung die höchstmögliche Sorgfalt zu verwenden". 23 D e r Justizausschuß faßte zustimmend zusammen, daß "im Wesentlichen das Gegebene zu kodifizieren sei", es um "Ausscheidung, Auswahl und Ausgleichung" ginge. Das teils in Gesetzen, teils in Gewohnheitsrecht, Wissenschaft und Praxis verarbeitete gemeine Recht sei in Gesetzesform zu bringen, womit die Aufgabe der Gesetzesverfasser eine "wissenschaftliche, systematische und sogar künstlerische" sei. Als Hauptaufgabe des technischen Teils der ganzen Arbeit wurde es angesehen, die Rechtsinstitute, die sich aus der Verbindung der Rechtssätze mit den praktisch vorhandenen Verhältnissen ergeben, "scharf aufzufassen und (ihnen) die leitenden Prinzipien zu geben, aus denen sich für die Einzelheiten die Normen ableiten lassen" 24 . D i e letzten Worte sind - fast exakt - die, m i t denen Savigny die Aufgabe der Wissenschaft bezeichnet hatte 2 5 . Der Auftrag, den die 1.Kommission erhielt,

23

Gutachten, S.170f.

24

Bericht des Justizausschusses, S.190,194f. 25

Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, 1814, in: Hattenhauer, Thibaut und Savigny, S.22 (zitiert nach der Original-Paginierung).

3. Kapitel: Preisaufgabe und Anforderungen der Vorkommission im Vergleich

51

war also ein wissenschaftlicher 26. Er war - wie Savigny es für die bei der Kodifikation zu leistende Arbeit ausgedrückt hatte 27 - ein technischer, mit der Besonderheit, daß Rechtseinheit herzustellen war. Damit trat ein, was durch die Entscheidung für ein unpolitisches Gesetzbuch zu erwarten war: Das BGB wurde zu einer Sache der Wissenschaft; demzufolge mußten deren Maximen auch zu den seinen werden. So spricht denn auch aus den Anweisungen der Vorkommission und des Justizausschusses der rechtswissenschaftliche Positivismus der Pandektenwissenschaft, wie sie seit Savigny das 19. Jahrhundert beherrschte. Die Anordnungen spiegeln den von Puchta aus dem jüngeren Naturrecht übernommenen logischen und systematischen Richtigkeitsglauben wider. Vorgaben zu ethischen, politischen, volkswirtschaftlichen Erwägungen fehlen. Die politisch-weltanschauliche Frage und die Möglichkeit zur Rechtsschöpfung im Sinne einer eigentlichen rechtspolitischen, sozialen oder wirtschaftlichen Neuerung wurden nicht erwähnt. Die Rechtstechnik und formelle Rechtsvereinheitlichung standen im Vordergrund. Selbst praktisch-juristische Ziele wie Rechtssicherheit und Beseitigung der Rechtszersplitterung, die für Thibaut 1814 ausschlaggebend gewesen waren 28 , traten zurück 29 . "Entscheidungen" der Gesetzesverfasser wurden überhaupt nur für Divergenzen zwischen den bereits vorhandenen Regelungen erwogen. Nur insoweit galt es also, über die formell-technischen Vorgaben hinaus politisch Stellung zu beziehen. Nach von Kübel wollte Goldschmidt hier dann "alles ganz neu aufbauen" 30 . Wie aber Jakobs31 durch einen Vergleich des endgültigen Gutachtens der Vorkommission mit Goldschmidts Entwurf herausgearbeitet hat, ist diese Beurteilung überspitzt. Nach Goldschmidt sollte die Aufgabe der Kommission nur insofern eine "durchaus freie" 32

2 6 Es ist bezeichnend, wenn Fäustle die Entscheidungen auf die steten Rückversicherungsversuche Schmitts hin seiner "wissenschaftlichen Überzeugung" anheimstellte, das Schreiben vom 18.März 1875 ist abgedruckt bei: Schröder , Abschaffung oder Reform, S.20f., Fn.ll. Schmitt schickte insgesamt 150 Briefe nach München, Schubert , Entstehungsgeschichte, S.42, Fn.64. 27

Beruf, S. 18-20.

28

Uber die Notwendigkeit eines allgemeinen bürgerlichen 34,44,54,56; Antikritik, S.202-204. 29

Rechts,

Dölemeyer , Going-Handbuch, S.1580,1601f.; Thieme, DJZ 1934, S.l970; Benöhr, JuS 1977,

S.80f. 3 0

Zitiert nach Schubert, Entstehungsgeschichte, S.35.

31

Wissenschaft und Gesetzgebung, S. 125f.

32

S.l 2,14,23,26,32-

Gutachtenentwurf, zitiert nach Schubert , Materialien, S.l72, Fn.21.

52

2. Teil: Geschichte und äußerer Anlaß des Entwurfes

sein, als der Gesetzesentwurf "unter freier Berücksichtigung" 33 der vorhandenen Gesetzbücher und Gesetzentwürfe verfaßt werden sollte. Der Meinungsgegensatz zu der Kommissionsmehrheit betraf also nur dieses Verhältnis, nicht aber die Ablehnung der Rechtsschöpfung zugunsten der prinzipiellen Beibehaltung des vorhandenen Rechts 34 . Nur dieses Verständnis des Standpunktes Goldschmidts wird auch seiner Persönlichkeit gerecht. So sah er "im römischen Recht das Muster, aus dem juristische Bildung ebenso gewonnen werden könne, wie künstlerische aus der Antike", und in seinem "Handbuch des Handelsrechts" das Mittel zur Überwindung der durch das Allgemeine Deutsche Handelsgesetzbuch gegebenen Gefahr der Loslösung der Gegenwart von der Vergangenheit, der Vorstellung "als bedürfe es zum Verständnis des Jetzt eines Zurückgehens auf das Einst nicht mehr", als sei es nicht "das Ergebnis einer Entwicklung, die zu ihm gefuhrt hat und von ihm aus weiterfuhren wird" 3 5 . Im Bericht des Justizausschusses betonte von Liebe zwar, daß die Arbeit keine bloß kompilatorische sei 36 , doch darf diese Aussage nicht losgelöst aus ihrem Zusammenhang mit den oben zitierten Anweisungen gesehen werden. Daraus wird deutlich, daß Schuberts Urteil 3 7 , von Liebe habe die allzu konservative Tendenz der Vorkommission abgeschwächt und die Kommission auf ihre vornehmlich gesetzgeberische Aufgabe hingewiesen, nicht zutrifft. Vielmehr hat er den Akzent der noch ambivalenten Richtlinie noch mehr auf Bewahrung gelegt 38 .

Die Aufgabe beschränkte sich also auf die Beschreibung des Programms des rechtswissenschaftlichen Positivismus. Der Gesetzgeber, der sie erfüllen

33

"Vorschläge" von Goldschmidt vom 28.3.1874 für die von der Vorkommission zu fassenden Beschlüsse, in: Schubert, Materialien, S.165ff.(165); zur Streichung dieser Worte in den Vorschlägen des Gutachtens, vgl. dort, S.182. 34

Insofern ist Schuberts Urteil, Entstehungsgeschichte, S.35, Kübel, der eng am bestehenden Recht festhalten wollte, habe sich durchgesetzt, oberflächlich, zitiert er doch selbst die damit nicht zu vereinbarenden Äußerungen Goldschmidts: "die partikularistische Seite ist durch Sachsen und Württemberg energisch vertreten, hat aber bisher nicht viel ausgerichtet ...", es sei "eine ausreichende wissenschaftliche Vertretung... herbeizuführen" und er halte in der alles entscheidenden Personalfrage von den Romanisten ... Windscheid und Bruns ..., von den Germanisten Roth und Laband oder Stobbe" für geeignet (Brief vom 20.3.1874 an seine Frau und vom 9.4.1874 an Minister Jolly (Baden), in: Schubert, ebenda, S.35f., Fn.42). Schuberts Randbemerkung, daß diese Ausführungen "nicht voll" mit den Berichten von v. Kübel "harmonisieren", dürfte der darin zum Ausdruck kommenden Homogenität der Vorkommission in bezug auf die Substanz des Gutachtens nicht gerecht werden, Insoweit ist auch der nach Schubert zwischen von Kübel und Goldschmidt hinsichtlich der Zahl der Praktiker angeblich bestehende Streit bedeutungslos. 35

Pappenheim, ADB, S.443,440; vgl. auch: Ders., ZHR 1898, S.17-25.

3 6

Bericht des Justizausschusses, S. 194.

37

Entstehungsgeschichte, S.36. 38

S.216.

Jakobs, Wissenschaft und Gesetzgebung, S.127, insbesondere Fn.323; Lüderitz, Kodifikation,

3. Kapitel: Preisaufgabe und Anforderungen der Vorkommission im Vergleich

53

wollte, mußte zum Gelehrten werden, wenn er es nicht schon von vornherein war. Dadurch mußte er von seiner wahren Aufgabe, den ethischen, politischen und volkswirtschaftlichen Erwägungen, abgelenkt werden 39 . Damit war die spätere Kritik am Fehlen einer Reform und am Festhalten an dem gemeinen Recht römischen und deutschen Ursprungs, vorgezeichnet. Dies gilt umso mehr, als die Mitglieder der 1.Kommission natürlich durch die Schule der Pandektenwissenschaft gegangen waren, also nur die Ausbildung des technischen Elements des Rechts gelernt hatten. Gerade ihre Wahl zeigt das Streben nach Vermeidung rechtspolitischer Reformen. Es ist bezeichnend, wenn Roth dankbar für die vorhandene wissenschaftliche Verarbeitung des Rechtsstoffs betonte, daß "nicht neues Recht zu finden oder legislative Politik zu treiben" 40 sei. Windscheid 41 selbst erkannte kurz vor seinem Ausscheiden aus der Kommission im Jahre 1884, daß die konservativen Züge des BGB darauf beruhten, daß sich die Wissenschaft die ausschlaggebende Stimme bei der Gesetzgebung angemaßt hatte 42 . Die Vorkommission begründete die konservative Tendenz damit, daß das BGB zugleich "den berechtigten Wünschen der deutschen Nation, den Interessen aller Einzelstaaten, den Anforderungen der Wissenschaft und der Rechtsübung" entsprechen sollte 43 . An diesem Streben nach Ausgleich hatte auch bei der Veröffentlichung des Gutachtens niemand etwas auszusetzen. Es war anscheinend allgemein klar, daß die im Bundesrat vertretenen Einzelstaaten Neuerungen über das BGB nicht gestattet hätten. So hatte auch der eigentliche Urheber der Verfassungsänderung, die Nationalliberale Partei, der bezeichnenderweise auch Goldschmidt angehörte 44, das Kodifikationsvorhaben nie mit bestimmten inhaltlichen Reformen verbunden; Rechtseinheit allein war schon schwierig genug zu erreichen 45. Soweit dies politisch durch-

39

Vgl. nur: Jakobs , Wissenschaft und Gesetzgebung, S.47. 40

Uber den Stand der Bearbeitung des deutschen (Zivilgesetzbuchs, in: Hirth's Annalen des Deutschen Reichs 1876, S.931ff.(940). 41

Zu Windscheid: Landsberg , Geschichte, S.854ff.; S.43 l,445ff.; Falk, Ein Gelehrter wie Windscheid, 1989.

Wieacker , Privatrechtsgeschichte,

42

Die Aufgaben der Rechtswissenschaft, in: Oertmann, Gesammelte Reden und Abhandlungen, 1904, S.100ff.(l 12); dazu: Rückert, JuS 1992, S.907f. 43

Gutachten, S. 170.

44

Pappenheim, ADB, S.445f.; ders., ZHR 1898, S.38-40.

45

Dazu: Benöhr, JuS 1977, S.80f; Dölemeyer , Going-Handbuch, S. 1602; vgl. auch: Zitelmann, Zur Begrüßung des neuen Gesetzbuches, in: DJZ 1900, 2ff.(3); Lüderitz, Kodifikation, S.216.

2. Teil: Geschichte und äußerer Anlaß des Entwurfes

54

setzbar schien, waren und wurden weiterhin die sozialen und rechtspolitischen Forderungen des aufstrebenden "staatstragenden" Bürgertums durch die Verfassungen sowie die Gesetzgebung des Reichs und der Einzelstaaten verwirklicht. Die bürgerliche Gleichheit war bereits im wesentlichen hergestellt, eine gewisse rechtsstaatliche Garantie nun auch durch die Reichsverfassung gegeben, die feudale Rechtsordnung des Ancien Régime im wesentlichen aufgelöst; ihre Reste sollten im Landesrecht verkümmern. Insoweit galt es also, Errungenes zu sichern 46 . Solche überwiegend politischen Rücksichten hätten aber die Juristische Gesellschaft, einen privaten Verein, nicht gehindert, nach Reformen auf dem Gebiet des Erbrechts zu suchen. Sie forderte aber einen Entwurf nebst "einer vergleichenden Zusammenstellung der erbrechtlichen Bestimmungen aus den wesentlichsten der in Deutschland gegenwärtig geltenden Gesetzgebungen"47.

Damit war klar, daß auch die Juristische Gesellschaft nicht geradezu auf der Jagd nach Ideen für rechtspolitische Neuerungen war. Die Preisaufgabe schloß eine Rechtsschöpfung zwar nicht so ausdrücklich aus wie das Gutachten der Vorkommission, praktisch war es aber unmöglich, in der vorgegebenen Zeit von nur zehn Monaten neben einer Zusammenstellung des geltenden Rechts auch noch einen das ganze Erbrecht umfassenden Reformvorschlag auszuarbeiten. So sollte denn, wie an späterer Stelle noch darzulegen sein wird, auch Mommsen ein "Opfer der Kritik der falschen Adressaten" werden. Die Parallelität der Preisaufgabe zu den Anforderungen des erst zwei Monate später abgefaßten Gutachtens der Vorkommission ist unter zweierlei Gesichtspunkten bemerkenswert: In politischer Hinsicht läßt sie sich mit der konsequenten Durchführung der bereits beschriebenen liberalen Grundhaltung der Juristischen Gesellschaft, die insoweit nicht im "politischen Vakuum" stand, begründen. Gerade in der Festrede, die dem Beschluß des Preisausschreibens voranging, hatte Lasker das schon von Thibaut 48 betonte Dogma "Ohne Rechtseinheit keine Reichs-

46

Staudinger-Coing, Einleitung, Bd.l, Rn.27f.; Dölemeyer, Coing-Handbuch, S.1602; vgl. auch: Kaufmann, Rechtspositivismus, in: HRG, Bd.4, 1990, Spalte 321ff.(324); Haiisch, Die sozialen Vorstellungen der Verfasser des Bürgerlichen Gesetzbuches, 1959, S.13. 47

48

Jahresbericht der Jur.Ges. (1873/74), S.2. Über die Notwendigkeit eines allgemeinen bürgerlichen Rechts, S.33f; Antikritik, S.202-204.

3. Kapitel: Preisaufgabe und Anforderungen der Vorkommission im Vergleich

55

einheit" hervorgehoben 49. Aus dieser Mittel-Zweck-Betrachtung heraus war es nur folgerichtig, das primäre, gerade erreichte Ziel nicht mehr zu gefährden. Zugleich wird die allgemeine Zurückhaltung gegenüber der Forderung nach Reform durch ein Bürgerliches Gesetzbuch bestätigt. In wissenschaftstheoretischer Hinsicht zeigt sich durch das Streben nach Aufzeichnung des bestehenden Rechts, daß die Juristische Gesellschaft grundsätzlich an der Rechtsquellenlehre der historischen Schule, der geschichtlichen Ansicht von der Entstehung des Rechts in der Überzeugung des Volkes, festhielt 50 . Diese Lehre hatte Savigny in Abkehr von der Traditionsfeindschaft des späten Vernunftrechts gegründet 51. Nach seiner Auffassung war die Aufzeichnung als naturgemäß technische Arbeit Aufgabe der Wissenschaft; einzige Aufgabe des Gesetzgebers war demgegenüber die Reform durch neue, aus politischen Gründen notwendiger Gesetze. Eine Kodifikation dürfte es danach gar nicht geben. Der Wissenschaft fehlte die Kompetenz für die Schaffung verbindlicher Gesetze, der Gesetzgeber war nicht das für das technische Element zuständige Organ der Volksüberzeugung 52. Insoweit zeigt sich in der Forderung der Juristischen Gesellschaft - Kodifikation als Aufgabe des Gesetzgebers - das innerhalb der historischen Schule geänderte Verständnis des Verhältnisses von Recht und Gesetz53 und die Wende von der Volksgeistro-

49

Jahresbericht der Jur.Ges.( 1873/74), S.14.

50 Wieackers Ansicht, nach der die historische Schule mit dem Revolutionsjahr 1848 untergegangen sei (Privatrechtsgeschichte, S.416), kann demnach nicht gefolgt werden. 51 Geistesgeschichtlich stand Savignys Volksgeistlehre wohl auf dem Boden der Geschichtsphilosophie Herders, wonach die Völker Vollstrecker eines Entwicklungsplanes der Menschheitsgeschichte zur Verwirklichung der vollen Humanität sind, zur Problematik: Wieacker , Privatrechtsgeschichte, S.385,390-395; Wegmann , Die Begründung des Erbrechts im 19.Jahrhundert, 1969, S.42-44; zurückhaltender: Jakobs , Wissenschaft und Gesetzgebung, S.26-32, jeweils m.w.N. 52 Beruf, S. 16-20; System des heutigen römischen Rechts, Bd.l, 1840, S.17f.,39-44,50; dazu: Jakobs , Wissenschaft und Gesetzgebung, S.45-47, 160f.; Schröder , Das Verhältnis von Rechtsdogmatik und Gesetzgebung, in: BehrendslHenckel, Gesetzgebung und Dogmatik, 1989, S.37ff.(54f.).

53

Die Entwicklung hat Jakobs , Wissenschaft und Gesetzgebung, S.63-76, dargestellt. Danach ging der Wandel darauf zurück, daß Puchta und Savigny die Frage nach der Herkunft der Volksüberzeugung nur im negativen Sinne, durch die Ablehnung des bloßen Faktums der Gewohnheit als Entstehungsgrund, beantworteten und so der Spekulation öffneten. So konnte die Gewohnheit unter dem Einfluß Stahls vom "Kennzeichen" (Savigny , System, Bd.l, S.35, den Ausdruck vom "Gewohnheitsrecht" benutzte er im Beruf, S.13f., für das im Bewußtsein des Volkes lebende Recht)

2. Teil: Geschichte und äußerer Anlaß des Entwurfes

56

mantik zur nationalpolitischen Forderung des Tages. Die Ausrichtung an der nationalen Notwendigkeit entsprach der erstmals 1843 ausgesprochenen "nationalen Rechtslehre" 54 Beselers. Nach Beseler, der selbst Mitglied der Juristischen Gesellschaft war, war die Rezeption des römischen Rechts in ihrer Allgemeinheit ein Nationalunglück 55 . Veranlaßt durch die gelehrten Juristen habe es das deutsche Rechtsleben ohne Bedürfnis und unter dem lebhaftesten Widerstand des Volkes fast erdrückt 56 . Das römische Recht war für Beseler anders als für Savigny 57 nicht Juristenrecht in Fortsetzung des Volksrechts, sondern nur aufgrund der Gewohnheit formell gültig 5 8 . So konnte Beseler über eine Begründung, "historischer ... als die historische Schule" 59 einen "großen, constituirenden Act der Gesetzgebung"60 fordern, der die Vorherrschaft des römischen Rechts beseitigte und zum Volksrecht zurückführte. Auch wenn die Rezeption wohl ein gemeineuropäisches Bedürfnis war, zumindest der Gegensatz zu dem national eigenen Recht im 19.Jahrhundert durch jahrhundertelange Übung des fremden Rechts nicht vorhanden gewesen sein dürfte 61 , bleibt doch, daß Beseler die Wissenschaft in

zum Mittel der Positivierung der Volksüberzeugung neben dem Gesetz werden. Um das Gewohnheitsrecht mit zu erfassen, sprach Stahl unter Berufung auf die historische Schule nicht nur vom Gesetz, sondern vom Recht als einer selbständigen äußeren Macht, "gelöst vom inneren Rechtsbewußtsein der Gemeinschaft". Für die ohne die Volksüberzeugung bedeutungslose Gewohnheit war diese Bezeichnung unschädlich. In bezug auf das Gesetz entfernte sie sich aber von Savigny, für den das Gesetz ungeachtet seiner Verbindlichkeit nur Recht sein konnte, wenn es mit der Volksüberzeugung übereinstimmte. Durch diese "gedankliche Ungenauigkeit" konnte das Gewohnheitsrecht, das für Savigny als unmittelbarer Ausdruck der Volksüberzeugung im Rang vor der Wissenschaft und Gesetzgebung gestanden hatte, wieder neben die Gesetzgebung zurücktreten und das nicht von der Volksüberzeugung getragene Gesetz als Recht angesehen werden. Damit konnte der Gesetzespositivismus Einzug halten. 54

So von Beseler selbst genannt in: Volksrecht und Juristenrecht, 1843, im sog. Ersten Nachtrag 1844, S.15; zur langjährigen Migliedschaft in der Juristischen Gesellschaft 1 .Teil, 1.Kapitel, A. und Verzeichnis der Miglieder am 1.4.1874, in: Jahresbericht der Jur.Ges. (1873/74), S.17f.(17). 55

Volksrecht, S.42.

56

Volksrecht, S.76.

57

Beruf, S.37; System, Bd. 1, S.86.

58

Volksrecht, S.76f,84f. Wie in Fn.53 deutlich wurde, berührte die Bedeutung der Gewohnheit für die Entstehung des Rechts zwar die Grundansicht der historischen Schule, veränderte sie aber nicht. 59

Erster Nachtrag, S. 15. 60

Volksrecht, S.235.

3. Kapiel: Preisaufgabe und Anforderungen der Vorkommission im Vergleich

57

den Dienst der Politik stellte. Damit konnte die an der nationalen Notwendigkeit ausgerichtete Argumentation hervorbrechen, die durch Savignys Erörterung der fehlenden inneren Notwendigkeit ohnehin nicht zu bekämpfen

Das Tor zum Gesetzespositivismus, in dem der Wissenschaft nur eine dienende Rolle zukommt, war geöffnet. Eine völlige Loslösung von der geschichtlichen Ansicht der Entstehung des Rechts ist in der wissenschaftlich ausgerichteten Preisaufgabe aber ebensowenig zu sehen, wie in den offiziellen Forderungen nach einer Zusammenstellung der gegenwärtigen Ergebnisse der Wissenschaft. Die Anforderungen der Preisaufgabe bilden also keine Alternative, sondern entsprechen denjenigen, die die Vorkommission und der Justizausschuß an Schmitt gestellt hatten. Insoweit hätte also auch Mommsens Entwurf Grundlage der Beratungen zum BGB sein können. Rückblickend auf die Intentionen der Juristischen Gesellschaft und das Urteil von Scholz 63 zeigt sich, daß die Preisaufgabe zur Erreichung ihres Ziels geeignet war. Sie schuf die Grundbedingungen für die Unterstützung der Kodifikationsarbeiten und für eine hohe Anerkennung, insbesondere auch im Gesetzgebungsverfahren. Bevor im einzelnen auf die Bedeutung des Entwurfes Mommsens für das BGB eingegangen wird, soll eine kurze Darstellung von Inhalt und System zur generellen Orientierung dienen.

Dazu: Jakobs, Wissenschaft und Gesetzgebung, S.86-91; Wieacker, S.410. 6 2

Dazu: Jakobs, Wissenschaft und Gesetzgebung, S.20-22.

63

Dazu oben bei 2.Teil, l.Kap., B.

Privatrechtsgeschichte,

Dritter

Teil

System und Inhalt des Entwurfes

Mommsens Entwurf besteht aus 531 nicht überschriebenen Paragraphen und einer 364-seitigen Begründung. Schon äußerlich erscheint er damit weniger schlank als die nur 410 bzw. 415 Bestimmungen umfassenden Entwürfe Schmitts und der 1.Kommission und als das in 463 Paragraphen zusammengefaßte geltende Erbrecht. Wie die mehrfachen Verweise auf das Obligationen-, das Familienrecht etc. zeigen, sah Mommsen seinen Entwurf der Preisaufgabe entsprechend als selbständigen Teil eines nach dem fünfgliedrigen Pandektensystem gegliederten BGB. Dabei ging er davon aus, daß eine Kodifikation des Erbrechts vor der der anderen Teile möglich sei und der Rechtszustand bis zur Fertigstellung durch das Einführungsgesetz, das er dem Entwurf vor der Veröffentlichung voranstellte, geregelt werden könne. Wo die Beibehaltung eines auch erbrechtlich relevanten Instituts in einem anderen Teil zu entscheiden sei, sollte bis dahin das Landesrecht gelten. Das "Reichsgesetz über das Erbrecht" sollte ausschließlich, das gemeine Recht auch nicht subsidiär, gelten (§ 2 EinfG) 1 . Systematisch teilt sich Mommsens Entwurf in zehn, meist weiter nach römischen und noch einmal nach arabischen Zahlen untergliederten, "Abtheilungen". 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.

"Allgemeine Bestimmungen" (§§ 1 -16), "Von der gesetzlichen Erbfolge" (§§ 17 - 45), "Von der testamentarischen Erbfolge" (§§ 46 - 188), "Von der Erbfolge aus Erbverträgen und dem Erbverzicht" (§§ 189 - 213), "Von der ruhenden Erbschaft und dem Erwerb der Erbschaft" (§§ 214 - 243), "Von dem Rechtsverhältnis der Erben" (§§ 244 - 335), "Von den Einzel-Vermächtnissen" (§§ 336 - 442),

So auch: Entwurf, S.406, Motive zu § 405.

3. Teil: System und Inhalt des Entwurfes

59

8. "Von dem Erbschaftsvermächtnis und dem successiven Vermächtnisse" (§§ 443 -467), 9. "Von dem Pflichtteile" (§§ 468 - 524), 10. "Von dem Rechte auf eiblose Verlassenschaften" (§§ 525 - 531). Dieser Aufbau und die Wahl der Überschriften folgte weitgehend dem Sächsischen Gesetzbuch. Dieses wiederum folgte der Anordnung der bewährten neueren Rechtslehrer, da sie die Lehren und einzelne Teile derselben nach Verwandtschaft und Zusammenhang aneinander anschlössen2. Mommsen rechtfertigte den Aufbau allenfalls, wenn er vom gängigen Aufbau der Pandektenlehrbücher abwich, insoweit Streitigkeiten oder wo keine Regelungen bestanden. Aus den diesbezüglichen Erläuterungen wird deutlich, daß es ihm neben einer klaren, folgerichtigen, zusammenhängenden Darstellung auf die nicht näher spezifizierte "Sitte" ankam. Danach wollte er darauf Rücksicht nehmen, wo "ein Jeder" die Vorschriften nach den gängigen Abhandlungen suchen wird 3 . In Anlehnung an §§ 1999 - 2010 Sächs.Gsb. stellte Mommsen seinem Entwurf in §§ 1 - 16 "Allgemeine Bestimmungen" voran. Dabei ging es um die Fixierung der Grundbegriffe und eine allgemeine Übersicht über die leitenden Prinzipien, die sich später oft fast wortgleich als Einleitung des betreffenden Abschnitts wiederfanden. Von den leitenden Prinzipien wurde die Bruchteilsgemeinschaft (§ 3), die Konkurrenz von testamentarischer und gesetzlicher Erbfolge (§ 4 II), das Überlebensprinzip, die Erbfähigkeit des nasciturus (§ 8), das Antrittsprinzip und die Vererblichkeit des Antritts- und Ausschlagungsrechts im Zweifelsfall (§ 10) festgelegt. Abweichend vom sächsischen und gemeinen Recht4 regelte Mommsen im Allgemeinen Teil auch, und zwar nur hier, die Erbunwürdigkeit (§§ 12 - 16), da ihr die Bedeutung der Erbunfahigkeit zukomme. Auch die "Zweite Abtheilung" begann mit "Allgemeinen Bestimmungen" (§§ 17 - 21). Danach trat die gesetzliche Erbfolge ein, soweit keine wirksame

Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuchs für das Königreich Sachsen nebst allgemeinen Motiven und Inhaltsverzeichnis, 1860, Nachdruck 1960, S.443. 3

Entwurf, S.261, vor § 189.

4

Windscheid, Lehrbuch des Pandektenrechts, Bd.3, 3.Auflage 1874, § 669 (dort auch kritisch zum Begriff der Erbunwürdigkeit, Fn.3), behandelte die Erbunwürdigkeit als Anhang zum gesamten Erbrecht, da sie sich auf jeglichen erbschaftlichen Erwerb (gesetzliche und gewillkürte Erbfolge sowie Vermächtnisse) beziehe.

3. Teil: System und Inhalt des Entwurfes

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letztwillige Verfügung, worunter Mommsen nach der Legaldefinition in § 498 I mit einer damals verbreiteten Terminologie 5 Testamente und Erbverträge verstand, vorlag. Zur "Erbfolge der Verwandten" (§§ 22 - 40) waren die durch eine (der Geburt nachfolgende) Ehe miteinander verbundenen Verwandten berufen. Sie wurden nach dem reinen Parentelsystem bis zur 6."Klasse", also bis zu den Großeltern der Urgroßeltern und deren Abkömmlingen, zur Erbfolge berufen. Dieses verband Mommsen mit dem Repräsentationssystem, dem Eintrittsrecht nach Stämmen und dem Liniensystem. Hier regelte Mommsen auch das Erbrecht der unehelichen, adoptierten, aus einer nichtigen oder ungültig erklärten Ehe stammenden und durch Reskript legimierten Kinder. Der Ehegatte bekam neben Abkömmlingen ein Viertel, neben Verwandten der 2.Klasse ein Drittel, neben der 3.Klasse die Hälfte, sonst die ganze Erbschaft ( § § 4 1 - 4 5 ) . Den Bestimmungen über die testamentarische Erbfolge stellte Mommsen in den Motiven eine Einleitung voran, in der er auf die Übereinstimmung mit dem "gemeinen, d.h. dem Römischen Recht" und die "wichtigsten und eingreifendsten" Abweichungen, die er zum Teil in der Einleitung des Abschnitts über die "Erbeinsetzung" (§§ 133 - 147) wiederholte, hinwies 6 : 1. Die Abschaffung der Regel nemo pro parte testatus, pro parte intestatus decedere potest (§ 17), 2. die Beseitigung der Unterscheidung zwischen Testament und Kodizill (§§ 84, 336), 3. die Gültigkeit der Testamente ohne Erbeinsetzung (§ 84), 4. die Abschaffung der Pupillar- und der Quasipupillar-Substitution und 5. die Beschränkung des gemeinschaftlichen Testaments auf Ehegatten (§ 156).

Begründet auf: C. 6, 23, 19. Da der Erbvertrag nicht einseitig widerruflich ist, rügte schon Windscheid, Pandektenrecht, Bd.3, § 538, insbesondere Fn.2, die Ungenauigkeit. Vgl. zur heutigen Terminologie § 1937 BGB, dazu: Motive zu dem Entwürfe eines Bürgerlichen Gesetzbuches für das Deutsche Reich, Bd.V, 1888, S.6, vor §§ 1753,1754; Brox, Erbrecht, 15.Auflage 1994, Rn.91. Zum besseren Verständnis soll hier von der Sammelbezeichnung "Verfügung von Todes wegen" ausgegangen werden. 6

Entwurf, S. 171f., Motive vor § 46 und S.229, Motive vor § 133.

3. Teil: System und Inhalt des Entwurfes

61

Bei der testamentarischen Erbfolge regelte Mommsen Testier- und Erbfähigkeit, Form, Inhalt, Auslegung, Aufhebung, Eröffnung, Bekanntmachung und Vollziehung der Testamente. Die Testierfahigkeit begann mit dem vollendeten 18.Lebensjahr. Zur Zeit der Testamentserrichtung Geisteskranke, insoweit Bevormundete, Verschwender, für die ein später stattgegebener Entmündigungsantrag gestellt war, Taube, die nicht lesen und Stumme, die nicht schreiben konnten, waren testierunfähig (§§ 46 - 53). Erbfähig waren alle rechtsfähigen Personen sowie erlaubte Vereine und Gesellschaften ohne Korporationsrechte. Hier regelte Mommsen auch den heute in §§ 6, 7 BeurkG vorgesehenen Ausschluß der Gerichts-, Urkundspersonen, Notare, Zeugen, deren Ehegatten, Verwandte und Verschwägerte von der testamentarischen Erbfolge und die Erbunfähigkeit von Ehebrechern und Blutschändern (§§ 54 - 58). Als Testamentsformen (§§ 59 - 83) kannte Mommsen die Erklärung zu gerichtlichem Protokoll oder Übergabe der Testamentsurkunde an das Gericht, die richterliche oder notarielle Beglaubigung und die außerordentlichen Testamentsformen. Bei den letzteren wurden auch Formerleichterungen in bezug auf die Anordnungen für die Teilung unter Abkömmlingen geregelt (§§ 82 f.). Diese systematisch wohl besser in den Abschnitt über die Erbteilung passenden Bestimmungen nahm Mommsen hier auf, weil zumindest von einer stillschweigenden förmlichen Einsetzung der Abkömmlinge auf die gesetzlichen Erbteile auszugehen sei7. Wie sich diese Annahme mit der zuvor propagierten Formstrenge vereinbaren läßt, bleibt Mommsens Geheimnis. "Von selbst" verstand sich nach Mommsen das Willensdogma, wonach der Inhalt des Testaments nur galt, soweit er vom Erblasser wirklich gewollt ist (§ 85). Wo der Wille fehlte (Gewalt, Erklärungsirrtum) oder vom Recht nicht anerkannt werden konnte (Rechts-, Sittenverstoß), war das Testament ungültig; wo er nicht frei gebildet worden war (Drohung, Motivirrtum), war es anfechtbar. Dabei sollte es sich auch ohne ausdrückliche Regelung wieder "von selbst" verstehen, daß das Anfechtungsrecht denjenigen, die ein Interesse an der Beseitigung des Testaments hatten, zustand8. Eine genauere und insoweit weniger Anlaß zu Streit bietende Regelung als § 2065 BGB traf Mommsen in bezug auf den Einfluß des Willens eines Dritten. Danach durfte

7

Entwurf, S. 197, Motive zu §§ 82-83.

8

Zum Ganzen: Entwurf, S. 197, Motive zu § 85, S. 198, Motive zu § 86.

3. Teil: System und Inhalt des Entwurfes

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der Erblasser ihm zwar nicht schlechthin die Wahl von Person und Gegenstand der Zuwendung, wohl aber die Auswahl und Teilung des Vermächtnisgegenstandes überlassen und die Gültigkeit der Zuwendung von einer Potestativhandlung abhängig machen. Überantwortete der Erblasser ihm die Auswahl des Bedachten unter mehreren genannten Personen oder die Bestimmung der Erbteile, galten nach den Regeln der alternativen (§§ 134, 349) bzw. der unbestimmten (§ 140) Zuwendung alle, soweit kein anderer Erblasserwille erkennbar war, zu gleichen Teilen bedacht. Ausdrücklich regelte Mommsen die Grundsätze der falsa demonstratio non nocet (§ 89) und der beschränkten Wirkung der Ungültigkeit, wobei aber offen blieb, ob die Aufrechterhaltung der gültigen Verfügungen zwingend war oder wie nach § 2085 BGB nur widerlegbar vermutet wurde. Wiederum im Anschluß an das Sächsische Gesetzbuch und Windscheids Pandekten regelte Mommsen in einem Abschnitt die "Eröffnung, Bekanntmachung und Vollziehung der Testamente" (§§ 172 - 188). Bei der Eröffnung und Bekanntmachung folgte er inhaltlich fast wörtlich den §§ 2223 - 2229 Sächs.Gsb., nahm darüber hinaus aber einige "allgemeinere" Bestimmungen über das Verfahren auf (§§ 177 - 179). Dazu bemerkte Mommsen, daß die Gültigkeit des Testaments nicht von der Einhaltung des Verfahrens abhänge und eine detaillierte Regelung daher unnötig, eine bloße Instruktion im Interesse der Beteiligten aber nicht ausreichend sei9. Immerhin neun Vorschriften (§§ 180 - 188) widmete Mommsen dem Testamentsvollzieher. Dies war insofern keineswegs selbstverständlich, als etwa das Preußische Landrecht, das Österreichische und das Zürcher Gesetzbuch keine oder nur eine sehr kurze spezielle Einzelregelung enthielten 10 . Den größten Raum im Rahmen der testamentarischen Erbfolge nahmen die "Nebenbestimmungen des Testaments" ein. In §§ 95 - 124 wurde die Zulässigkeit und die Erfüllung von Bedingungen, Zeitbestimmungen und Auflagen geregelt. Den Bestimmungen über die "Auslegung der Testamente" stellte Mommsen die Überlegung voran, daß sich das Gesetz auf die allgemeinsten Prinzipien zu beschränken habe und nur häufig vorkommende und gleichartige einzelne Fälle hervorheben könne 11 . Als Prinzipien sah er die Auslegung nach dem zumindest angedeuteten, auch durch formlose außertestamentarische Erklä9

Entwurf, S.257, Motive zu §§ 177-179.

10

Dazu: Coing , Europäisches Privatrecht, Bd.2, 1989, § 130.

11

Entwurf, S.226, Motive vor § 125.

3. Teil: System und Inhalt des Entwurfes

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rungen zu ermittelnden Willen des Erblassers, im Zweifel zugunsten des Bedachten, den Grundsatz des favor testamenti und den Wegfall sich widersprechender Verfugungen (§§ 125 - 127). Die einzelnen Auslegungs- und Ergänzungsregeln der .§§ 128 - 132 entsprachen den §§ 2066 - 2071 BGB. M i t einer Verfügung zugunsten eines bestimmten gemeinnützigen Zwecks galten gleichmäßig die diesen fordernden Behörden, Anstalten oder Vereine im Wohnbezirk des Erblassers mit der Pflicht zur zweckentsprechenden Verwendung bedacht. Die §§ 133 - 147 enthalten detaillierte Auslegungs- und Ergänzungsregeln über das Vorliegen und den Umfang der "Erbeinsetzung". Sie entsprechen weitgehend wörtlich den §§ 2166 - 2184 Sächs.Gsb. und stellten sich wie Konkretisierungen der §§ 2087 - 2093 BGB dar. Nach der Legaldefinition der §§ 4, 148 war der Nacherbe unter der Bedingung, daß der zunächst ernannte Erbe oder dessen Erbe die Erbschaft nicht erwerben kann oder will, eingesetzt. M i t der gemeinrechtlich nicht unumstrittenen Terminologie 12 war Mommsens "Nacherbe" also der heutige "Ersatzerbe". Die Ausgestaltung der §§ 148 - 155 entsprach weitgehend den §§ 2097 2099 BGB, folgte aber noch mehr der Kasuistik des römischen Rechts in der Fassung der §§ 2187 - 2195 Sächs.Gsb. Inhaltliche Abweichungen kehrten zum römischen Recht zurück. Die Vorschriften über den Erwerb der Erbschaft, zu denen auch zehn Bestimmungen über das Anwachsungsrecht gehörten, stellte Mommsen den verschiedenen Berufungsgründen als gemeinschaftliche gegenüber. Daraus wird deutlich, daß der Entwurf keine verschiedene Arten von Erbschaftserwerb und Erben kannte 13 , sondern einheitlich die Erklärung des Willens, Erbe zu sein, nach der Legaldefinition in §§ 10, 219 die Antretung der Erbschaft, voraussetzte. Eine der seltenen Stellen, an denen Mommsen seinen Aufbau rechtfertigte, war die Einordnung der Vorschriften über die Erbverträge und den Erbverzicht hinter die gesetzliche und die testamentarische Erbfolge. Dahinter stand wohl der Streit über die juristische Natur des Erbvertrages. Während noch am Anfang des 19. Jahrhunderts die auch in ältere Kodifikationen 14 eingegangene 12

Dazu: Windscheid, Pandektenrecht, Bd.3, § 557, Fn.l. Zum besseren Verständnis wird im folgenden von der heutigen Terminologie ausgegangen. 13

Dazu: Schmitt, Begründung, S.36. 14

Vgl. z.B.: § 1249 ABGB.

3. Teil: System und Inhalt des Entwurfes

64

Theorie eines (obligatorischen oder dinglichen) Vertrages über die Übertragung des künftigen Vermögens des "Erblassers" vorherrschte, entwickelte Hartmann 1860 wieder die ältere französische Theorie, wonach der Erbvertrag aus einem Testament und der Verpflichtung, dieses nicht zu widerrufen, bestehe. Nach Mommsen war Hartmanns Ansicht nicht mit der gemeinrechtlichen Formlosigkeit der Erbverträge und "der Auffassung des Lebens" zu vereinbaren. Er folgte der von Hasse entwickelten und im deutschen Rechtskreis herrschend gewordenen Theorie 15 , wonach der Erbvertrag einen Berufüngsgrund schuf 46 . Mommsen beschränkte ihn anders als das heutige Recht personell auf Eheleute und nach der Legaldefinition des § 191 sachlich auf einseitige Erbverträge zugunsten des anderen Ehegatten, bzw. zweiseitige Erbverträge mit gegenseitiger Zuwendung. Bestimmungen zugunsten Dritter waren nur neben solchen Verfügungen wirksam. Der Erbverzicht war gleichsam das "negative Gegenstück". Obwohl Mommsen ihn nur auf das Intestaterbrecht bezog, ordnete er ihn nicht bei der gesetzlichen Erbfolge ein. Damit sollte dort ein "äußerliches" Zerreißen des Zusammenhangs vermieden werden und die Einordnung nach der schon erwähnten Rücksicht auf die "Sitte" dort erfolgen, wo "ein Jeder die Vorschriften ... suchen wird" 1 7 . Gleiches galt für die "der Strenge nach" in das Obligationenrecht gehörende Bestimmung über die Ungültigkeit eines Vertrages über den Nachlaß eines noch lebenden Dritten oder eines gegenüber einem Dritten erklärten Erbverzichts 18 . Beim Rechtsverhältnis der Erben behandelte Mommsen neben den Wirkungen des Erbschaftsantritts die Erbengemeinschaft, die Erbenhaftung, den rechtlichen Schutz des Erbrechts und die Veräußerung der Erbschaft. Im "Verhältnis der Erben zu den Gläubigern" (§§ 251 - 275) ging Mommsen mit dem gemeinen Recht 19 von einer unbeschränkten Haftung nach dem Verhältnis der Erbteile aus. Als Ausnahme und damit als "Rechtswohltat" wirkte das Nachlaßverzeichnis (Inventar) und die Gütertrennung.

15 Zur Entwicklung: Unger, System des österreichischen allgemeinen Privatrechts, Bd.6, 1864, § 26, insbesondere Anm.2-4 (wie Hartmann)\ Schmitt, Begründung, S.490-494; Coing, Privatrecht, §126. 16

Entwurf, S.264, Motive zu § 189, S.135, Motive zu § 4.

17

Entwurf, S.261, vor § 189.

18

Entwurf, S.274, Motive zu § 208.

19

Dazu: Windscheid,

Pandektenrecht, Bd.3, §§ 606f.

3. Teil: System und Inhalt des Entwurfes

65

Die Regelung der Erbengemeinschaft erscheint mit nur 24 Bestimmungen (§§ 276 - 299) geradezu unterentwickelt. Mommsen regelte hier nur die "Erbtheilung" und die "Anrechnung des Vorempfangenen auf den Erbteil". Dagegen brauchte er für den "rechtlichen Schutz des Erbrechts" 25 Paragraphen ziemlich langen Umfangs. Gemäß §§ 300 - 302 hatte jeder (Mit)Erbe die Erbschaftsklage auf Anerkennung seines Erbrechts und Herausgabe gegen jeden, der dem Erben die Erbschaft ganz, teilweise oder auch nur einen einzelnen Erbschaftsgegenstand unter Behauptung einer eigenen Berechtigung an der Erbschaft oder ohne einen Rechtsgrund vorenthielt. Dafür galten die Regeln der Eigentumsklage mit Modifikationen bei der Haftung und dem Recht auf die Nutzungen und Verwendungen je nach Gut- oder Bösgläubigkeit des Erbschaftsbesitzers. Ausführlich wurden die Beweislast (§§ 303 - 308), das Verhältnis zu den Einzelklagen (§§ 317 - 321) und der provisorische Schutz des Erbrechts geregelt (§§ 322 - 324). Die "Veräußerung der Erbschaft" (§§ 325 - 335), die bis zur Bundesratsvorlage als Untertitel des Kaufrechts geregelt war, plazierte Mommsen mit den "neueren Lehrbüchern", dem Sächsischen und dem Zürcher Gesetzbuch im Erbrecht, weil die zugrundeliegenden Geschäfte unter Lebenden verschiedenartig sein könnten, Gegenstand aber jeweils die Erbschaft sei 20 . Inhaltlich orientierte er sich wie die §§ 2371 ff. BGB im wesentlichen am gemeinen Recht 21 , in der Fassung der §§ 2372 - 2381 Sächs. Gsb. Für Form, Haftung des Veräußerers nach Vertragsschluß und wohl auch Erfüllung verwies Mommsen auf das zugrundeliegende Geschäft. Die erleichterte Erfüllung des Erbteilskaufs (§ 2033 I 2 BGB) war ihm unbekannt. Der Erwerber sollte alle Vor- und Nachteile des Erben tragen 22 und für Erbschaftsschulden und Vermächtnisse wie bei der Schuldübernahme haften. Bei Verkauf des Erbteils stand jedem Miterben, im Interesse der Freiheit des verfügenden Erben allerdings erst ab Antritt der Erbschaft, ein Vorkaufsrecht zu. Dadurch konnte er den Erwerber durch Rückzahlung des Kaufpreises von der Teilung ausschließen 23 . M i t der siebten und achten Abteilung und der zugehörigen 90-seitigen Begründung widmete Mommsen fast ein Viertel seines Entwurfes und seiner Motive den Vermächtnissen. Nach den Legaldefinitionen in §§ 6, 443 unter-

20

Entwurf, S.353, Motive zu § 325.

21 22

23

Dazu: Windscheid, Pandektenrecht, Bd.3, § 621. Entwurf, S.353, Motive zu § 325, S.357, zu §§ 330,334. Entwurf, S.354, Motive zu § 326.

5 Andres

66

3. Teil: System und Inhalt des Entwurfes

schied er nach dem Gegenstand der Zuwendung zwischen dem Einzelvermächtnis, das einzelne Vermögensvorteile, und dem Erbschaftsvermächtnis, das die Erbschaft, bzw. einen ideellen Teil derselben erfaßte. Das Wesen des Vermächtnisses sah Mommsen abweichend von § 2004 Sächs.Gsb. weniger in der Begründung einer Singularsukzession, als in der Vermittlung durch eine andere Person 24. Er kannte also kein Vindikationslegat. Die Bestimmung des Gegenstandes des Vermächtnisses überließ er dem Obligationenrecht (§ 352). Abweichend von den meisten neueren Rechten und Entwürfen 25 , die die Vermächtnisse als Teil des Testamentsrechts regelten, hielt Mommsen mit dem sächsischen Recht äußerlich an der herrschenden gemeinrechtlichen Doktrin fest und legte der Anordnung - ungeachtet seiner Worte - den Gegensatz von Universal- und Singularsukzession mit der strikten Trennung von Erbschaft und Vermächtnis zugrunde 26 . So bestimmte Mommsen in §§ 336 393 isoliert die Person des Bedachten, des Verpflichteten, Form, Inhalt, Anfall, Erwerb und Aufhebung des Einzelvermächtnisses. Bei der Ausgestaltung verwies er weitgehend auf die Regeln der Erbeinsetzung 27. Wie dort ging er vom Antrittsprinzip aus (§ 374), Formerleichterungen sah er nur bei Vermächtnissen bis zum zehnten Teil des Nachlasses vor (§ 337). Inhaltlich strebte Mommsen also Angleichung zwischen Erbschaft und Vermächtnis an. So hatte er schon in der besagten Einleitung der testamentarischen Erbfolge darauf hingewiesen, daß eine über die Erbeinsetzung hinausgehende Bedeutung nicht zu vermeiden, aber auch kein Übelstand, bei den Bestimmungen über das Vermächtnis aber jeweils ein Verweis nötig sei. Den größten Raum des Vermächtnisrechts nahmen die "Besonderen Arten der Einzelvermächtnisse" (§§ 394 - 439) ein. Dabei kannte Mommsen im Anschluß an das sächsische Recht das Vermächtnis einer dem Stück nach bestimmten Sache, des Rechtes an einer Sache, eines Inbegriffs von Sachen, einer Gattungssache, Summe und Quantität, des Lebensunterhalts, einer jährlichen Rente, einer Forderung, Schuld und der Befreiung von einer solchen, 24

Entwurf, S.136, Motive zu § 6. 25

Z.B.: Bluntschli, Privatrechtliches Gesetzbuch für den Kanton Zürich, Bd.4, 1856, Inhaltsverzeichnis, B, 7. Abschnitt, 4. Kapitel, B; I 12, 1. Abschnitt PrALR; Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuchs für das Großherzogthum Hessen nebst Motiven, 3.Abtheilung, 1845, l.Theil: Gesetzesentwurf, Inhalt, 3.Abteilung, 6. Abschnitt. 26

Schmitt, Begründung, S.36f. So etwa in § 360 für die Nebenbestimmungen.

3. Teil: System und Inhalt des Entwurfes

67

der Ausstattung für eine Ehe, der Erbschaft eines Dritten und das Wahlvermächtnis. Der Erbschaftsvermächtnisnehmer erhielt nach §§ 6, 443 einen schuldrechtlichen Anspruch auf Hinterlassung oder Herausgabe (eines ideellen Teils) der Erbschaft gegen den Erben. Wenn Mommsen das Erbschaftsvermächtnis, nach der gemeinrechtlichen Terminologie der Fideikommißlehre auch Universalfideikommiß genannt, von der Darstellung der übrigen Vermächtnisarten trennte, wollte er wohl mit Windscheid 28 schon systematisch hervorheben, daß der Erbschafts-, anders als der Einzelvermächtnisnehmer an die Stelle des Erben trat (§ 457). Das Erbschaftsvermächtnis bildete also den Ersatz für die heutige Nacherbschaft, die Mommsen im Anschluß an die römische Regel semel heres, Semper heres nicht kannte. Das sukzessive Einzel- oder Erbschaftsvermächtnis konnte für mehrere nacheinander angeordnet werden. M i t der Begründung, daß die Schenkung auf den Todesfall kein eigenes Rechtsinstitut sei, aber auch nicht stillschweigend übergangen werden könne 29 , regelte Mommsen sie nicht in einem besonderen Abschnitt, sondern als Anhang zu den Vermächtnissen (§§ 440 - 442). Er folgte damit wieder dem Sächsischen Gesetzbuch und Windscheids Pandekten. Obwohl die gesonderte Behandlung des Pflichtteilsrechts am Ende des Erbrechts keineswegs selbstverständlich war, nahm Mommsen zu diesem Aufbau keine Stellung. Meist wurde das Pflichtteilsrecht bei der Berufung zur Erbschaft, und zwar je nach der Betonung der Wirkungen entweder nach der gesetzlichen Erbfolge als gesetzliche Berufung gegen den Willen des Erblassers 30 oder wegen der Wirkungen auf lebzeitige Verfügungen und dem Bezug zur testamentarischen Erbfolge, z.B. über die Enterbung, hinter dieser 31 oder bei den inneren Erfordernissen des Testaments32, geregelt. Eine gesonderte Behandlung fand es im Anschluß an die neueren Rechtslehrer im Sächsischen

28

Pandektenrecht, Bd.3, §§ 659,662, dort auch zur Terminologie. 29

Entwurf, S.429, Motive zu §§ 440-442. 30

So z.B.: Windscheid,

31

So z.B.: Puchta, Pandekten, 7. Auflage 1853, Inhaltsverzeichnis, 8.Buch, 2.Kapitel, III,

Pandektenrecht, Bd.3, Inhaltsverzeichnis, 2.Kapitel, IV und § 575, Fn.l.

S.XIVf. 32

So z.B. Hess.E. (wo nichts anderes angegeben ist, ist der Hess.E. des Erbrechts gemeint), Inhalt, 3.Abtheilung, 4.Abschnitt, S.Vf.

3. Teil: System und Inhalt des Entwurfes

68

Gesetzbuch. Dafür sprach, daß einige Wirkungen, z.B. die Ungültigkeit von Verfügungen oder die Begründung eines persönlichen Anspruchs gegen den eingesetzten Erben, nicht zur testamentarischen Erbfolge paßten. Für das sächsische Recht waren die Verständlichkeit, die Anerkennung des Erbvertrages als zusätzlicher Berufungsgrund und die Abkehr vom Noterbrecht für die neuartige Anordnung maßgebend33. Zumindest das letzte Argument paßte nicht für Mommsens Entwurf, der weitgehend dem gemeinen Recht folgte. So schien er das Pflichtteilsrecht auch immanent weitgehend nach dem Vorbild von Windscheids Pandekten34 zu gliedern. Eine Abweichung fand sich nur insoweit, als Mommsen bei der Größe auch die Berechnung des Pflichtteils behandelte, nicht vom "Gerechtfertigte(n) Ausschluß", sondern der "Ausschließung vom Pflichttheil" sprach und zwischen dem Schutz des Pflichtteilsrechts gegen Verletzung durch letztwillige Verfügung und durch Geschäfte unter Lebenden unterschied. Wie schon bei der Schenkung von Todes wegen deutlich wurde, ging er wohl davon aus, daß die Schenkung im künftigen Gesetzbuch nicht insgesamt bei den Erwerbsarten des Eigentums, den obligatorischen Verträgen oder im allgemeinen Teil, sondern mit der älteren Lehre an verschiedenen Stellen behandelt werde. Daraus wird das Streben erkennbar, mit dem Sächsischen Gesetzbuch eine einfache, zusammenhängende Anordnung zu schaffen 35. Die erblosen Verlassenschaften standen dem Staat und nur bei besonderer Verbundenheit des Erblassers seiner Heimatgemeinde oder milden Stiftungen zu. Im Einführungsgesetz sah Mommsen Übergangsvorschriften vor und sprach dem Entwurf grundsätzlich ausschließliche Geltung zu. Einen Vorbehalt zugunsten der Landesrechte machte er außer bei den Stammgütern, Lehen, Familienfideikommissen und bestimmten Bauerngütern nur bei der Einkindschaft. In bezug auf die Erbfolge in landes- und standesherrliche Häuser sollten die Statuten, Hausgesetze und Familienverträge weitergelten. Zusammenfassend gesehen zeigt also schon ein kurzer Blick auf System und Inhalt des Entwurfes, daß Mommsen weitgehend dem gemeinen Recht folgte und auch dort, wo er inhaltlich abwich, am überkommenen System

33

Arndts, Lehrbuch der Pandekten, 8.Auflage 1874, Inhalt, 5.Buch, 3.Kapitel und Anm. zu § 591; Unger, System, Inhalt, 3.Kapitel, S.VIIf.; Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuchs für das Königreich Sachsen, S.451f. 34

Bd.3, Inhaltsverzeichnis, 2.Kapitel, IV B. 35

Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuchs für das Königreich Sachsen, S.449-451.

3. Teil: System und Inhalt des Entwurfes

69

festhielt. Umgekehrt beruhten diesbezügliche formelle Differenzen weniger auf inhaltlichen Abweichungen vom gemeinen Recht, als auf Gründen des Zusammenhangs und der Verständlichkeit.

Vierter

Teil

Zeitgenössische K r i t i k am Entwurf

Zu Mommsens Entwurf liegen vier umfassende Stellungnahmen vor 1 : eine allgemein gehaltene der Preisrichter der Juristischen Gesellschaft, eine unter dem Blickwinkel der wesentlichen erbrechtlichen Prinzipien durch Paul von Roth, eine aus nationalökonomischer Sicht durch Hans von Scheel und eine des Erbrechtsredaktors Schmitt, der auf Mommsens Bedeutung für seinen Entwurf einging.

Inwieweit Mommsens Vorschläge in den Gegenentwürfen und Kritiken zum 1. Entwurf berücksichtigt wurden, soll bei der Darstellung des Entwurfs erörtert werden.

1. Kapitel: Bewertung durch die Preisrichter

71

Erstes Kapitel Bewertung durch die Preisrichter Die Bearbeitung der auf 1500 M k dotierten Preisaufgabe mußte bis zum 20. Dezember 1874 beendet sein. Es spricht wohl für ihre Schwierigkeit, weim nur zwei Erbrechtsentwürfe eingingen 1 : am 12. Dezember 1874 Mommsens Arbeit in zwei Heften unter dem Motto "Frisch gewagt" und am 18. Dezember die Konkurrenzschrift, von der leider nur feststellbar ist, daß sie den Poststempel von Berlin trug, drei Hefte umfaßte und unter dem Motto "Wer sagt, was er weis, wer thut, was er kann, der ist ein ehrlicher Mann" stand2. In der Sitzung vom 9. Januar 1875 wurden auf Vorschlag des Vorstandes fünf Mitglieder der Juristischen Gesellschaft nach Stimmenmehrheit der Anwesenden schriftlich als Preisrichter gewählt 3 : Karl Georg Bruns (1816 - 1880)4, der als Nachfolger Savignys nach Berlin berufen worden war. Geprägt durch Wächters Orientierung an den praktischen Bedürfnissen und durch Hegels Drang zu einer philosophischen Begründung nahm Bruns gegenüber der historischen Schule Savignys eine freiere Stellung ein und sah die geschichtliche Methode als Mittel zur Betonung der praktischen Aufgabe des Rechts und der Rechtswissenschaft. Der Gesetzgeber sei nur formal und in bezug auf die Sanktion selbständig, der Rechtsstoff sei ihm dagegen geschichtlich vorgegeben.

Im Vergleich dazu waren bei dem ersten Preisausschreiben über die Haft als Exektionsmittel im Zivilprozeß fünf Schriften, eine sogar in englischer Sprache, eingegangen, Jahresbericht der Jur.Ges. (1868/69), S.3. 2

Die Namen der Verfasser waren nur in einem mit dem Motto der Arbeit versehenen Umschlag beigefügt. Nach der Beurteilung wurde nur der der preisgekrönten Schrift beiliegende Umschlag geöffnet und der Name des Verfassers bekanntgegeben. 3

Jahresbericht der Jur.Ges. (1873/74), S.2; 1 Ö.Jahresbericht über die Wirksamkeit der Juristischen Gesellschaft zu Berlin in dem Vereinsjahre 1874-75, S.2f. 4 Zu Bruns : Landsberg , ADB, Bd.47, Neudruck der 1. Aufl. 1903, 1971, S.306ff; Bruns , NDB, Bd.2, Nachdruck der 1955 erschienen l.Aufl., 1971, S.685.

4. Teil: Zeitgenössische Kritik am Entwurf

72

Der Savigny-Schüler und Begründer der rechtsvergleichenden Methode Rudolf von Gneist (1816 - 1895)5, dem Gierke bestätigte, vielleicht wie nie ein anderer Gelehrter, "ohne selbst in leitender Stellung das Staatsleben zu beherrschen, ... der Gesetzgebung seines Landes den Stempel seines Geistes aufgedrückt" 6 zu haben. Gneists Erfolg als Professor, Schriftsteller und 20 Jahre amtierender Präsident des Deutschen Juristentages wird auf seine für die damalige Zeit seltene und meisterhafte Verbindung von Theorie und Praxis zurückgeführt. Der Obertribunalsrat und spätere Geh. Obeijustizrat und Landgerichtspräsident Johannes Struckmann (1829 - 1899), der als nationalliberales Mitglied des Reichstages von 1874 - 1878 neben Gneist in den Justizkommissionen zur Vorberatung des Gerichtsverfassungsgesetzes, der Zivil- und Strafprozeßordnung gesetzgeberische Erfahrung sammeln konnte7. Der Obertribunalsrat und spätere Hilfsarbeiter im preußischen Justizministerium Felix Vierhaus, der die "Reform des Civilrechtes" im Sinne "thunlichster Rechtseinigung" verstand. Beim Vergleich mit den bestehenden Rechten wollte er die Kritiker zum Schutz vor dem "nationalen Unglück" des Scheiterns der Rechtseinheit auf die Prüfung der "Brauchbarkeit" des 1.Entwurfes beschränken 8. Letztlich Karl Dorn (1816 - 1893)9, den Weißler als den angesehensten Rechtsanwalt seiner Zeit bezeichnet. Dorn war zwar nie Abgeordneter, wurde aber von der Justizverwaltung in die Kommission zur Beratung des Strafgesetzbuches und der Prozeßordnung berufen und auch sonst wurde seine Ansicht oft eingeholt. 5

Zu Gneist, z.B.: Kleinheyerl Schröder, Deutsche Juristen aus fünf Jahrhunderten, 1989, S.102ff.; Scheerbarth, Rudolf von Gneist, in: Männer der Deutschen Verwaltung, 1963, S.135ff.; Hatschek, in: ADB, Bd.49, Neudruck der 1. Aufl. 1904, 1971, S.403ff.; Böhmert, Rudolf von Gneist, in: Der Arbeiterfreund 33 (1895), S.133ff. 6

Gedächtnisrede von Gneist (1896), zitiert nach: Kleinheyerl Schröder, Deutsche Juristen,

S.105. 7

Zu Struckmann: Schwarz, MdR - Biographisches Handbuch der Reichstage, 1965, S.476; Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Deutschen Reichstages, 2.Legislatur-Periode.II.Session 1874/75, Bd.2, 1875, S. 1067,1329; Mann, Biographisches Handbuch für das preussische Abgeordnetenhaus 1867-1918, 1988, S.379. g Vierhaus, Zur Entstehungsgeschichte des Entwurfes eines Bürgerlichen Gesetzbuches für das Deutsche Reich, in: BekkerlFi scher, Beiträge zur Erläuterung und Beurtheilung des Entwurfes eines Bürgerlichen Gesetzbuches für das Deutsche Reich, Heft 1, 1888, S.80-82. 9

Zu Dorn: Weißler, Geschichte der Rechtsanwaltschaft, S.563f.

1. Kapitel: Bewertung durch die Preisrichter

73

Wie schon die Formulierung der Preisaufgabe zeigt auch die Zusammensetzung des Preisrichterkollegiums, daß die Juristische Gesellschaft nicht nach rechtspolitischer Neuerung strebte. Nach der wissenschaftlichen und politischen Gesinnung der Mitglieder war die Auszeichnung einer auf Auswahl und Ausgleich unter den bestehenden Rechten angelegten Arbeit zu erwarten. Gleichzeitig spiegelt sich in den Personen, ihren Werken und in der Zusammensetzung des Kollegiums das bereits erwähnte Streben der Juristischen Gesellschaft, modernes Recht durch die Verbindung von Theorie und Praxis zu schaffen, wider. So war es auch Bedingung für eine Ergänzungswahl, daß die Kommission wieder aus zwei Obertribunalsräten, zwei Professoren und einem Rechtsanwalt bestehen würde 10 . Diese Ziele - Ausgleich und Vereinigung von Theorie und Praxis - wurden denn auch zum Maßstab der Bewertung der Konkurrenzschriften. Die Preisrichter, die nach Stimmenmehrheit zu entscheiden hatten, ließen die beiden eingesandten Konkurrenzschriften zirkulieren und tauschten schriftlich ihre Meinungen aus 11 . Die einzelnen Voten sind nicht mehr feststellbar. Erhalten ist nur die kurze Erklärung, die Dorn in der Sitzung vom 15. Mai 1875 im Namen der Kommission abgab. Darin stellte er dem Entwurf Mommsens die Konkurrenzschrift gegenüber und führte aus: "dass die Arbeit mit dem Motto 'Frisch gewagt' durch die klare und übersichtliche Anlage, sowie durch die sorgfaltige und gleichmässige Durcharbeitung der einzelnen Fragen sich auszeichnet; dass der Verfasser seinen Entwurf des Gesetzes nicht auf abstrakte, ideale Prinzipien gebaut, sondern auf eine Vereinigung und Ausgleichung der bestehenden Rechte nach Massgabe der gegenwärtigen Wissenschaft und Praxis, sowie des modernen Bewusstseins und des praktischen Lebensbedürfnisses gerichtet hat, und dass die dadurch nothwendig gewordenen neuen Sätze und Vorschläge grossentheils annehmbar und jedenfalls beachtenswerth erscheinen; dass auch die genauen, ausserordentlich fleissig durchgearbeiteten Motive bei jeder Frage eine gewissenhafte Zusammenstellung des Römischen Rechts, der gemeinrechtlichen Praxis und der Grundsätze der neueren Gesetzbücher enthalten, und daran eine einfache praktische Prüfung der Rechts- und Zweckmässigkeits-Gründe geknüpft ist; dass somit diese Arbeit in vorzüglicher Weise der hier gestellten Preisaufgabe entspricht;"

10

Jahresbericht der Jur.Ges. (1874/75), S.3. Das Streben nach Vereinigung von Theorie und Praxis zeigte sich schon bei dem ersten Preisausschreiben über die Zulässigkeit der Haft als Exekutionsmittel. Auch dort mußten zwei von fünf Preisrichtern Berliner Professoren sein, auch damals fiel die Wahl auf Bruns und Gneist, 7. Jahresbericht über die Wirksamkeit der Juristischen Gesellschaft zu Berlin in dem Vereinsjahre 1865/66, S.2f. 11 Jahresbericht der Jur.Ges. (1873/74), S.2; 17. Jahresbericht über die Wirksamkeit der Juristischen Gesellschaft zu Berlin in dem Vereinsjahre 1875-76, S.2.

4. Teil: Zeitgenössische Kritik am Entwurf

74

die Konkurrenzschrift dagegen "mit Schärfe auf die Grundprinzipien eingeht, dass sie namentlich in dem Hefte 'Erörterungen' eine eingehende und erfolgreiche Benutzung der heutigen Literatur mit einer Reihe treffender Gesichtspunkte de lege ferenda ergiebt, und dass die Vorlage unter anderen Konkurrenz-Verhältnissen des Preises nicht unwerth erschienen sein würde; dass sie indessen sowohl in Betreff der Durcharbeitung der Ideen zu praktischen Resultaten, als in Betreff der Redaktion des GesetzesEntwurfes der anderen Arbeit nachsteht" 12 .

A. Vereinigung von Theorie und Praxis Die Gegenüberstellung der "abstrakten, idealen Prinzipien" und der "Vereinigung und Ausgleichung ... nach Massgabe der gegenwärtigen Wissenschaft und Praxis, ... des modernen Bewusstseins und des praktischen Lebensbedürfnisses" zeigt, daß mit der Vereinigung von Theorie und Praxis mehr als die Verbindung des gemeinen römischen und deutschen Privatrechts, der Landesgesetzgebungen und der Erkenntnisse der Theorie und Praxis des Rechts gemeint war. Die Kluft zwischen der "Theorie", d.h. der Rechtswissenschaft, und der "Praxis", d.h. dem allein in lebendiger Geltung stehenden, anzuwendenden Recht 13 , war ein Schlagwort des 19. Jahrhunderts 14, das insbesondere an zwei Stellen immer wieder zu finden ist: - beim Einfluß der historischen Rechtsschule und - als Argument für die Notwendigkeit einer Kodifikation. Überwiegend 15 wurde die Schuld an der "Mißachtung der Wissenschaft" durch die Praxis der historischen Schule zugewiesen16. Jahresbericht der Jur.Ges. (1875/76), S.2. 13

Statt aller: Goldschmidt, Rechtsstudium und Prüfungsordnung, 1887, S.74; zur Abgrenzung vgl.auch: Beseler, Volksrecht, S.308-313. 14

Erstmals fand es sich 1828 bei Mühlenbruch, Rechtliche Beurteilung des Städelschen Beerbungsfalles. Dort hieß es: "Nichts ist gewöhnlicher, als die allgemein hingeworfene Behauptung der Praktiker: es sei doch im praktischen Leben vieles ganz anders, als man es in den Schriften und Vorträgen der Theoretiker, und selbst in den neuem Gesetzbüchern, finde", S.6. 15

Zu zeitgenössischen Urteilen, s. unten. Aus neuerer Zeit: Kantorowicz, Was ist uns Savigny?, in: Recht und Wirtschaft, Bd.l (1912), S.47ff.(51); Wilhelm, Zur juristischen Methodenlehre im 19.Jahrhundert, 1958, S.34; Wolf, Grosse Rechtsdenker der deutschen Geistesgeschichte, 4.Auflage 1963, S.520.

1. Kapitel: Bewertung durch die Preisrichter

75

Bekanntlich war für Savigny "ein zweyfacher Sinn" dem Juristen unentbehrlich: der historische und der systematische. Ziel der historischen Methode war es, die gegebenen Rechtsregeln bis zu ihren Wurzeln zu verfolgen, das organische Prinzip zu entdecken und die noch lebende von der schon abgestorbenen, nur noch geschichtlichen Materie abzusondern. Stoff der Rechtswissenschaft sollten die drei Elemente des gemeinen Rechts sein, das römische, das germanische Recht und die neueren Modifikationen beider Rechte. Nach der dogmatischen Methode sollte jeder Begriff und jede Rechtsregel in lebendiger Verbindung und Wechselwirkung mit dem gesamten Rechtssystem betrachtet werden. Die Rechtswissenschaft habe die leitenden Prinzipien, von denen aus die Beziehungen zwischen den juristischen Begriffen und Sätzen zu ermitteln seien, zu erarbeiten 17. Gerade in der Mißachtung dieses Programms durch die Lehr- und Forschungstätigkeit wurde überwiegend der Grund für die Kluft zur Praxis gesehen: statt Suche nach dem Entwicklungsgang einzelner Institute und Dogmen historische Akribie; statt Erforschung des dreifachen Stoffs des gemeinen Rechts romanistischer Purismus. So vereinigten sich Anhänger und Gegner der historischen Schule, Germanisten und Romanisten in der Klage um das Bildungsstreben, das über dem Mittel den Zweck aus den Augen verlor, sich mit der bloßen Aufklärung und Kenntnis des entlegenen Details sowie der unschöpferischen Betriebsamkeit im Sammeln juristischer Antiquitäten begnügte und nicht nach Sinn und Nutzen für die rationale Erfassung und Fortbildung des geltenden Rechts fragte.

Eine Gegenüberstellung mit den Meinungen, nach denen der historischen Rechtsschule ein starker oder zumindest geringer Einfluß auf die Gerichtspraxis zukam, findet sich bei Scheuermann, Einflüsse der historischen Rechtsschule auf die oberstrichterliche gemeinrechtliche Zivilrechtspraxis bis zum Jahre 1861, 1972, S.3-7. 17

Beruf, S.48,112-118; dazu: Benöhr, Politik und Rechtstheorie: Die Kontroverse ThibautSavigny vor 160 Jahren, in: JuS 1974, S.681ff.(683).

76

4. Teil: Zeitgenössische Kritik am Entwurf

Das Schulhaupt selbst mußte denn auch das "Hauptübel" des Rechtszustandes in der "stets wachsenden Scheidung" zwischen der Theorie, die durch "einseitige Werthschätzung des Neuen Viele dahin geführt habe, sich vorzugsweise in einzelnen, abgerissenen Gedanken und Meinungen zu ergeben und über dieser Zersplitterung den zusammenhängenden Besitz des Ganzen" der Wissenschaft aus den Augen zu verlieren, und der Praxis, die die abirrenden theoretischen Bestrebungen nicht auf die rechte Bahn zurückgeführt habe 18 ,

sehen. So schrieb er zur Abwendung dieses Zustands sein "System des heutigen römischen Rechts". Dieses aber wiederum erweckte durch den Titel, die stillschweigende Übergehung vieler Modifikationen des römischen Rechts, verbunden mit einer quellenmäßigen Darstellung desselben ebenso wie die Werke anderer Romanisten den Eindruck, als wollten sie durch die historische Schule das bislang geltende durch das reine römische Recht verdrän-

Während die Praxis einer Darstellung des gemeinen Rechts in der Gestalt, wie es sich während der drei Jahrhunderte der Rezeption umgeformt, mit Partikulargesetzen vermischt und in zahllosen Konsilien fortgebildet hatte, bedurft hätte, "consumierte" die Wissenschaft nach den Worten Iherings ihre "Hauptkraft an Aufgaben, die auch ein Philologe hätte lösen können" 20 ; manche Sätze würden, gestützt auf die Autorität des Corpus Iuris als Sätze des geltenden Rechts hingestellt, vor deren "wirklicher Anwendung diejenigen, die sie lehren, hoffentlich selbst zurückbeben würden"; es herrsche ein "civilistischer MumienCultus" 21 .

Thibaut sprach von "civilistisch-rechtshistorischer Linsenzählerei", beklagte die Träumereien von der Wahrheit des historisch Entstandenen, die "nüchterne, steife, antiquarische, von

18

System, Bd. 1, S.XXIII-XXV.

19

Savigny selbst schrieb: "Daher wird denn auch eine Darstellung des heutigen Römischen Rechts, wozu dieses Werk zunächst bestimmt ist, nur weniger Zusätze bedürfen, um zugleich als Darstellung des gemeinen Rechts für Deutschland gelten zu können", System, Bd.l, S.5; zum Ganzen: Scheuermann, Einflüsse der historischen Rechtsschule, S.33-38.

90

Unsere Aufgabe, in: Jherings Jahrbücher, Bd.l (1857), S.lff.(24). 21

Jherings Jahrbücher, Bd.l (1857), S.30f.; ders.: Scherz und Emst in der Jurisprudenz, Nachdruck der 13.Auflage 1924, 1964, S.347-363,327, Fn.12.

1. Kapitel: Bewertung durch die Preisrichter

77

der Gegenwart abfuhrende Richtung", die Vernachlässigung der Dogmengeschichte, die "für die Praxis, und für das Verstehen der Rechtsansicht der neuesten Zeit von der höchsten Bedeutung" sei. Der akademische Unterricht sei durch die "Sucht mit ... Microligien um sich zu werfen", die "zu einer pragmatischen Rechtsgeschichte gar nicht gehören", "die "verkehrte Nachahmung der Philolo-

Kierulff bemerkte ein unhistorisches und unpraktisches Streben, "die deutsche besondere Gestaltung des gemeinen Rechts zu läugnen, und dasselbe auf den Justinianeischen Standpunkt absolut zu fixiren", was "jeden lebendigen Fortschritt des Rechts hemmt" und womit für den "Praktiker 'theoretisch' und 'unpractisch' für gleichbedeutend gilt" 2 3 ,

und eindringlichst brachte Stahl die Kritik auf den Punkt: "Wenn die geschichtliche Ansicht in ihrer Lebendigkeit Wissenschaft und Praxis versöhnt, so ist sie es auch, die, starr und abstrakt aufgefaßt, die Kluft weiter befestigt, ... Selbst wo die neue Richtung durchdrang, ist bis jetzt nur eine treue Auffassung des Vergangenen oder äußerlich noch Bestehenden erreicht worden, ohne daß das Band mit den gegenwärtigen Verhältnissen und ihrem Bedürfnisse erkannt wäre. Dahin führt der unläugbare Satz: daß ein unauflöslicher Zusammenhang der Zeiten besteht, wenn er schulmäßig angewendet wird" 2 4 .

Die Liste der Klagen ließe sich noch lange fortsetzen. Noch in den Motiven zum Sächsischen Gesetzbuch wurde kritisiert, daß die historische Richtung der Rechtswissenschaft das römische Recht "nicht blos bei den Nichtjuristen, sondern auch bei einem großen Theile der practischen Juristen unbeliebt gemacht" habe und ein "Mißgeschick" sei, da die Rechtswissenschaft doch "blos dann fortschreiten kann, wenn sie in allen Theilen gleichmäßig bearbeitet wird". Selbst in dieser beschränkten Richtung seien die Ergebnisse "im Verhältnisse zu dem herbeigeschafften gelehrten Apparate, auf jeden Fall für das practische Recht nur sehr geringfügig, weil sie blos darin bestehen, daß einigen wenigen Rechtssätzen, welche als römische gegolten haben, der römische Ursprung und die ihnen deshalb zugeschriebene Anwendbarkeit nicht zukommt, während dabei ganz dahingestellt bleibt, ob diese Sätze nicht auch oh-

Ueber die sogenannte historische und nicht-historische Rechtsschule, in: AcP, Bd.21 (1838), S.391ff.(408-414,417). 23

Theorie des Gemeinen Cilvilrechts, 1839, S.XX. 24

Die Philosophie des Rechts, Bd.l, 6.Auflage 1963, Vorrede zur ersten Auflage 1829, S.XIVff.(XXIf).

78

4. Teil: Zeitgenössische Kritik am Entwurf

nedem gerechtfertigt werden können und namentlich in unser Rechtsbewußtsein übergegangen sind" 25 .

In neuerer Zeit hat Scheuermann nachgewiesen, daß die Gerichtsurteile quellenkritische Untersuchungen und ab der Jahrhundertmitte auch vereinzelte Versuche, die Dogmengeschichte der Rechtsanwendung fruchtbar zu machen, aufweisen. Es wurden aber nicht ganze Epochen der deutschen Rechtsgeschichte mit Nichtachtung gestraft, insbesondere wurde das reine römische Recht nicht unbesehen übernommen. Vielmehr blieb die Anwendung des gemeinen Rechts in der Gestalt, die die Praktiker des usus modernus pandectarum dem "Konglomerat von römischen und deutschen Recht" gegeben hatten, vorherrschend. Die Lehren der historischen Schule fanden nur Beachtung, wo sie den Bedürfnissen der Zeit entsprachen 26. Nach Scheuermann hat die historische Schule die Entfremdung von Theorie und Praxis nur begünstigt. Die Ursache sah er zum einen darin, daß die Professoren es seit den Zeiten des Heineccius mehr und mehr als ihre Aufgabe ansahen, eigene Rechtsanschauungen zu entwickeln und diese der Praxis als Regeln vorzuschreiben, zum anderen in der zu Beginn des 19.Jahrhunderts schon weit fortgeschrittenen funktionalen Scheidung der Juristen in zwei voneinander unabhängige Berufsstände (Rechtslehrer und Richter/Rechtsanwälte). Diese sei durch den Rückgang der Aktenversendung, damit der Mitgliedschaft der Professoren in den Spruchfakultäten und der Beteiligung an der praktischen Rechtsfindung seit der zweiten Hälfte des 18.Jahrhunderts hervorgerufen worden 27 . Aufgabe der vorliegenden Arbeit ist es nicht, die Frage nach der Ursache der Entfremdung von Theorie und Praxis endgültig zu entscheiden. Festzuhalten bleibt nur, daß die Juristische Gesellschaft mit dem Streben nach Vereinigung beider Bereiche auf ein gängiges Problem reagierte. Sie griff damit einen in den 50-er Jahren einsetzenden "Wendepunkt der Rechtswissenschaft" 28 auf, in der der Ruf nach einer Wissenschaft des gelten-

Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuchs für das Königreich Sachsen, S.467f. Einflüsse der historischen Rechtsschule, S. 19-26,29-33,43-58,111-114. 27

Einflüsse der historischen Rechtsschule, S.7f.; zum Rückgang der Aktenversendung auch: Goldschmidt, Rechtsstudium, S.105. 2

So der Titel der Klageschrift von Kuntze, 1856.

1. Kapitel: Bewertung durch die Preisrichter

79

den im Sinne des angewendeten Rechts 29 , nach einer naturhistorischen, praktischen, produktiven Jurisprudenz 30 laut wurde und sich die historische Rechtsschule ihrer von ihr vernachlässigten Elemente besann. Namentlich gehörten hierzu die Fort- und Umbildung des Rechts, einzelner Institute und Dogmen seit Justinian durch Theorie und insbesondere gerichtliche Praxis und die Zusammenhänge zwischen Kultur-, Wirtschafts- und Rechtsgeschichte 31 . Relevant für das Verständnis der Bewertung des Mommsen'schen Entwurfes ist nur, wie die Juristische Gesellschaft das Problem lösen wollte, wie sie also das richtige Verhältnis zwischen Theorie und Praxis sah. Erinnern wir uns dazu an die Äußerungen, die darauf Bezug nehmen: In der Eröffnungsrede der ersten Versammlung erläuterte Wartensleben: "Den Praktikern soll durch den Beitritt zur Gesellschaft die Gelegenheit geboten werden, von den neueren Erscheinungen auf dem Gebiet der Rechtswissenschaft Kenntnis zu erhalten und ihre Erfahrung bei der Anwendung der Gesetze mitzuteilen; den Rechtslehrern dagegen, von jenen Erfahrungen Kenntnis zu nehmen und ihrerseits zur Verbreitung einer wissenschaftlichen Behandlung des Rechts beizutragen" 32 .

Holtzendorff begründete die Einführung eines Juristentages mit der Notwendigkeit: "das Gefühl der Rechtsgemeinschaft zu beleben, eine Wechselwirkung zwischen Theorie und Praxis herbeizuführen, einem einseitigen, mikroskopischen Rechtsdogmatismus entgegenzutreten, und fern von allem blinden Zentralisationseifer denjenigen Besonderheiten in den Landesrechten Geltung zu verschaffen, welche in den Eigentümlichkeiten und Verhältnissen ihre objektive Grundlage fanden" 33 .

und Koch betonte im Rückblick auf das 25-jährige Bestehen der Gesellschaft, daß

Kierulff, 30

Theorie, S.XXIV,188, insbesondere in der Fn.

Ihering, in: Jherings Jahrbücher, Bd. 1 (1857), S.3f., 18,26.

31 Landsberg, Geschichte, S.750f.; Wilhelm, Einflüsse der historischen Rechtsschule, S.12.

Juristische Methodenlehre, S.30; Scheuermann,

32

Preuß.GerichtsZ 1859 (Nr.25), S.3.

33

Protokoll vom 10. März 1860, in: Preuß.GerichtsZ 1860 (Nr. 13), S.52.

80

4. Teil: Zeitgenössische Kritik am Entwurf

"Die Fühlung mit den lebendigen Interessen der Gegenwart ... stetig dadurch erhalten (ist), daß die Vorträge sich weniger die Erörterung abstrakter, rein wissenschaftlicher Themata oder die Auslegung des bestehenden Rechtes als die Beurteilung von Gesetzesentwürfen, die Vertretung oder Prüfung der die Zeit bewegenden Reformvorschläge, die Orientierung in neuen umfassenden Gesetzen zur Aufgabe stellten." 34

M i t den Worten Savignys zusammengefaßt, hieß die Forderung der Juristischen Gesellschaft: Die "Theorie muß praktischer und unsere Praxis wissenschaftlicher werden" 35 . Die Wissenschaft sollte nicht Selbstzweck, sondern dem geltenden Recht und dessen Anwendung dienstbar sein. Sie sollte das Recht lehren und bereichern, das die Praxis anwendet. Diese sollte ihrerseits die Wissenschaft geistig anregen, nähren und aus deren Methoden, der Suche nach einer Gesamtübersicht des historischen und dogmatisch-systematischen Zusammenhangs, lernen. "Vereinigung und Ausgleichung der bestehenden Rechte nach Massgabe der gegenwärtigen Wissenschaft und Praxis" bedeutete insoweit also dreierlei: - gleichmäßige Berücksichtigung der geltenden Rechte, - Verarbeitung der Erkenntnisse der Wissenschaft und der Praxis, insbesondere also der Auffassung der Gerichte und vor allem - Verbindung dieser bisher jeweils nur einseitig beachteten Erkenntnisquellen, also Gesetzesfindung durch Verflechtung der geltenden Rechte und insbesondere auch der Entscheidungskriterien von Wissenschaft und Rechtsanwendung. Danach traf Mommsen seine Regelungen also nicht einseitig durch historisch, dogmatisch-systematische Betrachtung oder durch Orientierung an den Bedürfnissen der Gegenwart; vielmehr bezog er die wissenschaftliche Methode auf das geltende Recht und erfaßte dieses im systematischen Zusammenhang. Nach der Bewertung der Preisrichter müßte Mommsen also historische Antiquitäten ebenso wie geltende Rechtsgrundsätze, die sich nicht historisch begründen lassen, ausgeschieden haben. So fand denn auch die Orientierung

Rückblick, S.6. 35

Beruf, S. 127.

1. Kapitel: Bewertung durch die Preisrichter

81

des Entwurfes am "modernen Bewusstsein" und dem "praktischen Lebensbedürfnis" besondere Anerkennung 36 . Zur völligen Klärung der Bedeutung der Äußerungen der Mitglieder der Juristischen Gesellschaft, insbesondere auch des Urteils der Preisrichter, soll hier neben diesem mehr methodischen noch kurz ein anderer, mehr thematischer Aspekt des Strebens nach Vereinigung von Theorie und Praxis beleuchtet werden, der als Argument für die Kodifikation laut wurde 37 und sich gerade auch in Preußen besonders stark zeigte: die Trennung von Theorie und Praxis durch Kodifikationen. Gerade in der Feier des Verfassungsgesetzes vom 20.Dezember 1873, in der die erbrechtliche Preisaufgabe beschlossen wurde, hatte Lasker in seinem Vortrag betont, daß es Ziel des zu schaffenden Werks sei, den Unterschied zwischen dem wissenschaftlichen, fremden, gemeinen Recht, dem Juristenund Einheitsrecht sowie dem nationalen Recht, dem Volks- und Territorialrecht, zu beseitigen38. Auch wenn es Lasker primär darum ging, das wissenschaftliche, gemeine Recht als Träger der Rechtseinheit vor dem Verfassungsgesetz darzustellen 39 , wird doch auch der Unterschied zum "praktischen" Recht angedeutet. Klar wird er durch einen Blick auf die privatrechtliche Situation im Deutschen Reich: Für ungefähr zwei Drittel des Reichsgebiets hatte das gemeine Privatrecht nur noch historisches Interesse; in dem Drittel, das den "Ländern des gemeinen Rechts" verblieb, und das noch nicht einmal die Hälfte der Einwohnerzahl Deutschlands umfaßte 40 , war es teils durch Partikulargesetze beseitigt worden. Ungeachtet des Schwindens seiner praktischen Anwendbarkeit beschäftigten sich Lehre und Studium vornehmlich mit dem gemeinen, insbesondere dem römischen als dem "wissenschaftlichsten" Recht; die streng

Jahresbericht der Jur.Ges. (1875/76), S.2. 37

Z.B.: Sohm, Die deutsche Rechtsentwicklung und die Codifikationsfrage, in: Zeitschrift für das Privat- und öffentliche Recht der Gegenwart, Bd.l (1875), S.245ff.(279); Goldschmidt , Rechtsstudium, teilweise Wiederholung des "Vortrags über die Notwendigkeit eines Deutschen Civilgesetzbuchs" (1872), S.124ff.(124). -lo Jahresbericht der Jur.Ges. (1873/74), S. 13,16. 39

Jahresbericht der Jur.Ges. (1873/74), S.13. Lasker bezeichnete das gemeine Recht als "wissenschaftliche Befriedigung des Einheitsdranges". 4 0 Eine Übersicht über das vor Inkrafttreten des BGB in Deutschland geltende Recht findet sich in der Denkschrift zum Entwurf eines Bürgerlichen Gesetzbuchs, dem Reichstage vorgelegt, 1896, 1.Anlage, S.450-454.

6 Andres

4. Teil: Zeitgenössische Kritik am Entwurf

82

romanistische Wissenschaft des Pandektenrechts war die eigentliche Privatrechtswissenschaft Deutschlands. Das partikuläre und damit das anzuwendende praktische Recht wurde demgegenüber vernachlässigt, die wissenschaftliche Literatur war nach Gehalt und Form - zumindest im Durchschnitt untergeordnet 41. Gerade in bezug auf das Preußische Landrecht, dem für die Mitglieder der Juristischen Gesellschaft vorwiegend geltenden Recht, hatten belehrende Reskripte des Justizministeriums, umfassende Kasuistik sowie das Verbot der Auslegung nach bisherigem Recht und der zweckorientierten Gesetzesabweichung 42 lange von einer wissenschaftlichen Behandlung abgehalten43. Als sie durch Savignys Vorträge ab 1819 und die Revisionsarbeiten ab 1817 angeregt wurde, fand sie ebenso wie das 1826 eingeführte Pflichtstudienfach des Preußischen Landrechts kaum Beachtung. Handwerksarbeit, Buchstabeninterpretation, Formalismus, Präjudizienentscheide 44 waren die Folge 45 . Goldschmidt, der diesen Zustand 1886 in einem Vortrag vor der Juristischen Gesellschaft auf das eindringlichste schilderte 46 , hatte zur Behebung im Gutachten der Vorkommission gefordert: "erhebliche Mängel würden die vielbeklagte Trennung der Theorie und Praxis verewigen, Gediegenheit nach Inhalt und Form dagegen würde die Wissenschaft in höherem Grade als bisher dem Ausbau und der Ergründung des bestehenden

Sohm, Zeitschrift für das Privat- und öffentliche Recht der Gegenwart, Bd.l (1875), S.267273,276f.,279; Goldschmidt, Rechtsstudium, S.124. 42

Publikations-Patent vom 5.Februar 1794, Epilog, abgedruckt in: Koch, Landrecht für die Preußischen Staaten, Bd.l, 7.Auflage 1878, S.lff.(17).

Allgemeines

43

Bis 1798 hatte nach §§ 47f. der Einleitung des PrALR sogar die Gesetzkommission das Monopol der Gesetzesauslegung. Die Wissenschaftsfeindlichkeit wurde auch teils aus § 6 der Einleitung des PrALR abgeleitet, wonach auf die Auffassungen von Rechtslehrern und Gerichten keine Rücksicht genommen werden durfte. Wie aber Koch-Johow, Allgemeines Landrecht, Bd.l, Anm.lO, unter Berufung auf die Entstehungsgeschichte überzeugend darlegte, sollte damit nur den Responsen und Präjudizien die gesetzesvertretende Wirkung genommen werden. 44

Zur Abwendung der durch die Aufhebung der §§ 47f. der Einleitung des PrALR auftretenden Gefahr für Rechtseinheit und Rechtssicherheit wurde das Verbot des § 6 der Einleitung zugunsten der Präjudizwirkung bei Entscheidungen des Obertribunals modifiziert, dazu: Koch-Johow, Allgemeines Landrecht, Bd.l, Anm.58, zu § 46 der Einleitung. 45

Zur Entwicklung: Goldschmidt, Rechtsstudium, S.77-86,96,105-123. Die Schrift über das Rechtsstudium (Fn.14), ist aus diesem Vortrag hervorgegangen, ebenda,

S.5.

1. Kapitel: Bewertung durch die Preisrichter

83

Rechts zufuhren, zugleich zwischen dieser Wissenschaft und der Rechtübung heilsame Wechselwirkung herstellen" 47 .

Ziel war also, den Gegensatz von Wissenschaft und Praxis durch eine Kodifikation zu überwinden; Voraussetzung, daß diese den Faden zum historisch gewachsenen Recht nicht abschneidet. Wenn Mommsen die "bestehenden Rechte" nach dem Urteil der Preisrichter nach "Massgabe der gegenwärtigen Wissenschaft und Praxis" vereinigte, hieß dies demnach auch, daß er das gemeine Recht, den Hauptgegenstand der Wissenschaft, und das kodifizierte Recht, den Hauptgegenstand der Praxis, in beachtlicher Weise verband, also ein "gemeinsames Thema" fand. Ihm wurde insofern außerdem bestätigt, das kodifizierte nicht nur in der bisher üblichen oberflächlichen Weise, sondern auch nach historischen und dogmatisch-systematischen Kriterien betrachtet, zur Ausgleichung also die wissenschaftliche Methode fruchtbar gemacht zu haben. Nach dem Urteil der Preisrichter scheint sich zu bestätigen, was zu erwarten war: Mommsen arbeitete nach wissenschaftlichen Methoden, suchte das bisher geltende Recht, entwarf aber kein neues und nahm somit nicht die Stufe zur gesetzgeberischen Reform.

B. Bewertung und Gutachten der Vorkommission im Vergleich Wie schon angedeutet wurde, erinnert die Formulierung des Urteils der Preisrichter an die vom Justizausschuß gebilligte (dreifache) Aufgabe der Vorkommission 48 . Bei einem genaueren Vergleich mit den Anforderungen des Gutachtens wird die Parallelität offenkundig: So entsprach die "klare und übersichtliche Anlage" der höchstmöglichen Sorgfalt auf die richtige Formgebung und Anordnung, die "sorgfaltige und gleichmässige Durchfuhrung in den einzelnen Fragen" der energischen und konsequenten Durchfuhrung der Rechtsprinzipien,

Gutachten, S.171. Gutachten, S.170f.; Bericht des Justizausschusses, S. 191.

4. Teil: Zeitgenössische Kritik am Entwurf

84

die "gewissenhafte Zusammenstellung des Römischen Rechts, der gemeinrechtlichen Praxis und der Grundsätze der neueren Gesetzbücher" in den "genauen, ausserordentlich fleissig durchgearbeiteten Motiven" der Untersuchung des Gesamtbestandes der innerhalb des Deutschen Reichs geltenden Privatrechtsnormen, und schließlich entsprachen die durch die Suche nach Vereinigung und Ausgleichung "nothwendig gewordenen" großteils annehmbaren, jedenfalls beachtenswerten "neuen Sätze und Vorschläge" und die an die Motive anknüpfende "einfache praktische Prüfung der Rechts- und Zweckmässigkeits-Gründe"der im Gutachten geforderten bei Divergenzen notwendigen Entscheidung nach Bedürfnis und Zweckmäßigkeit.

Der Bewertungsmaßstab der Preisrichter schien also die (dreifache) Aufgabe des Gutachtens der Vorkommission gewesen zu sein, zumindest hätte er es sein können. Auffallend ist, daß die Preisrichter bei der Beurteilung der Konkurrenzschrift 49 auf eine "Reihe treffender Gesichtspunkte de lege ferenda" hinwiesen. Der Gegenentwurf scheint also, zumindest nach dem Urteil der Preisrichter, mehr auf Reform angelegt gewesen zu sein als der Mommsens, bei dem gerade gelobt wurde, daß er nicht auf "ideale Prinzipien" 50 aufbaue 51. Gleichwohl wurde Mommsens Entwurf wegen der besseren "Durcharbeitung der Ideen zu praktischen Resultaten" und "Redaktion" vorgezogen und als in "vorzüglicher Weise" der gestellten Preisaufgabe entsprechend ausgezeichnet. Wie nach der Preisaufgabe und der Geisteshaltung der Preisrichter zu erwarten war, wurde also die Arbeit geehrt, die den Interessen der liberalen Mittelschicht, den Vorstellungen über Rechtseinheit als Mittel zur Reichseinheit, entsprach.

49

Daß die Auszeichnung des Mommserischen Entwurfes keine Notlösung war, zeigt sich darin, daß die Juristische Gesellschaft bei einer anderen Preisaufgabe durchaus nicht davor scheute, keine der eingesandten Arbeiten eines Preises zu würdigen. Sie betraf die gesetzgeberische Gestaltung des die Strafbarkeit betreffenden Rechtsirrtums und wurde am 1 O.Januar 1914 ausgeschrieben, dazu: Fijal, Geschichte der Jur.Ges., S.204. 5 0 Das Lob, nicht auf "abstrakte Prinzipien" aufzubauen, kann auch eine Kritik an der sich auf logische Konstruktionen beschränkenden Begriffsjurisprudenz enthalten, dazu: Hattenhauer, Die geistesgeschichtlichen Grundlagen des deutschen Rechts, 1983, Rn.407-411. 51

Jahresbericht der Jur.Ges. (1875/76), S.2.

1. Kapitel: Bewertung durch die Preisrichter

85

Damit wurde die Person ausgezeichnet, die - wie die Preisrichter in ihrer abstrakten, vom konkreten Inhalt losgelösten Bewertung - mehr Wert auf Rechtstechnik, formelle Rechtsvereinheitlichung und Festhalten am Bestehenden als auf Reformen legte.

4. Teil: Zeitgenössische Kritik am Entwurf

86

Zweites Kapitel Paul von Roth Der Münchener Professor Paul von Roth (1820 - 1892) war der einzige Vertreter des deutschen Rechts in der 1.Kommission, der er bis zum Ende der Beratungen im Jahre 1889 angehörte. Wie Schmitt war Roth von Bayern vorgeschlagen worden. Seine Rolle in der Kommission ist noch nicht ausreichend erforscht. Oft wurde Roth vorgeworfen, kein Interesse an konstruktiven Problemen gezeigt, das deutsche Recht nicht ebenso entschieden wie Windscheid das römische Recht und dessen Dogmatik vertreten und durch seine passive Haltung zu der doktrinären, romanischen Fassung des 1.Entwurfes beigetragen zu haben1. Diese Beurteilung geht vor allem auf von Amira zurück, der Roths Werk und Persönlichkeit nach den neueren Forschungen Gagnérs 2 allzu negativ gegenüberstand. Fest steht, daß Schmitt Roth in einem Brief an Fäustle vorwarf, durch sein abweichendes Stimmverhalten die Position Bayerns geschwächt zu haben3. Roth, der an fast allen Kommissionssitzungen teilnahm, war wohl eher auf eine wissenschaftliche Durchdringung des Stoffes bedacht. Ausweislich seiner Tagebuchaufzeichnungen wurden seine Hoffnungen enttäuscht4.

Amira, in: ADB, Bd.53, Nachträge bis 1899, Neudruck der l.Aufl. S.538ff.(545,547f.); folgend: Schubert, Eigentumsübertragung, S.22f., m.w.N.

1907,

1971,

2

Zielsetzungen und Werkgestaltung in Paul Roths Wissenschaft, in: Gagneri Schlosserl Wiegand, FS für Hermann Krause, 1975, S.276ff.(286,450); dazu: JahneU Kurzbiographien, S.83. 3 Der Brief vom 31.12.1874 ist teils abgedruckt in: Schubert, Materialien, S.48, Fn.96. Wie wichtig die Stimme Roths war, zeigt ein Blick auf die Verhältnisse innerhalb der Kommission. Schmitt hatte bereits im Justizausschuß gegenüber der von Preußen angestrebten Erhöhung der Zahl der Kommissionsmitglieder von neun auf zwölf erreicht, daß Bayern zwei der letztendlich elf Mitglieder entsenden durfte. Damit hatten die nicht-preußischen Rechtsgebiete mit insgesamt sechs Stimmen die Mehrheit. Als Windscheid 1883 ersatzlos aus der Kommission ausschied, zahlte das Votum Papes bei Stimmengleichheit doppelt. Dadurch entstand ein Übergewicht der preußischen Rechtsgebiete, was nach Schmitt der Grund für den engen Anschluß des 1. Entwurfes an das preußische Recht war, zum Ganzen: Mertens, Gesetzliche Erbfolge, S.7, insbesondere Fn.33; Schubert, Entstehungsgeschichte, S.48f.; die Beschlußfassung der Kommission ist geregelt in § 10 der von Schmitt entworfenen Geschäftsordnung vom 4.10.1881, Entwurf, Beratung und Text abgedruckt in: Schubert, Materialen, S.266AF.

4

Dazu: Schröder, Abschaffung oder Reform, S.l lf.; Gagner, Zielsetzungen, S.450, insbesondere Fn.672.

2. Kapitel: Paul von Roth

87

Roth äußerte seine Kritik am Entwurf Mommsens5 ein Jahr nach Erscheinen des dritten und letzten Teils seines "Bayrischen Civilrechts". Noch 1872 hatte er hervorgehoben, daß er die Kodifikation erst dann für wünschenswert und ausführbar halte, wenn ihr durch eine "Enquête" über die Rechtszustände in den einzelnen Ländern und eine gesetzgeberische "Unifikation" der Partikularrechte vorgearbeitet worden sei. Zu den Kodifikationsarbeiten gehöre es dann, das Recht der so geschaffenen großen Rechtsgebiete wiederum durch eine "Enquête" zusammenzustellen und zu vereinheitlichen 6 . Mit diesem Maßstab schien er denn auch Mommsens Entwurf, der eben ein Beitrag zum Gesetzbuch sein sollte und wollte 7 , zu beurteilen. So begrüßte Roth zwar die systematische Anordnung und Durcharbeitung der einzelnen Rechtssätze, warf Mommsen aber die fehlende Berücksichtigung des Bayerischen und Württembergischen Landrechts und kleinerer Statuten, "die gerade für das Erbrecht von Bedeutung sind und sich auf grössere Rechtsgebiete ausgedehnt haben, wie Lübisches Recht, Mainzer Landrecht, Solmser Landordnung (Frankfurt und Hessen Darmstadt) u.a." vor 8 . Ganz im reformfeindlichen konservativen Sinne der Vorkommission und des Justizausschusses betonte Roth, daß es gerade im Erbrecht um Vereinheitlichung und Ausscheidung veralteter Institute gehe9. Durch eine Gegenüberstellung des gemeinen, französischen, österreichischen und preußischen Rechts fand er im wesentlichen sieben Problembereiche, für die noch keine Übereinstimmung bestehe und für die der Unterschied mehr als nur formeller Natur sei: die Testamentsform, die Konkurrenz von testamentarischer und gesetzlicher Erbfolge, die Anerkennung von Erbverträgen, das Noterbrecht, die Zulässigkeit von Resolutivbedingungen und Endterminen bei Erbeinsetzungen, das Ehegattenerbrecht und die Nachlaßregulierung. Wie für Savigny sollte der Weg von der Feststellung der Hauptprinzipien zur Detailregelung führen. Auf dieser Grundlage setzte sich Roth mit den Vorschlägen Mommsens auseinander, denen er weitgehend zustimmte. Roth befürwortete die Beschränkung des Privattestaments auf die außerordentlichen Fälle der Testamentserrichtung (§§ 78 ff), die Zulässigkeit der Konkurrenz verschiedener Delationsgründe (§§4, 141) sowie die Gleichstellung von auflösend bedingter

5

Jenaer Literaturzeitung 1876, S.639ff.

6 Unifikation und Codifikation, in: Zeitschrift für Reichs- und Landesrecht mit besonderer Rücksicht auf Bayern, Bd.l (1872), S.lff.( 18-27). 7

g

Mommsen, Entwurf, Vorwort, S.V. Jenaer Literaturzeitung 1876, S.641.

9

Dazu auch oben bei 2.Teil, l.Kap., A und 3.Kap., C.

4. Teil: Zeitgenössische Kritik am Entwurf

88

oder befristeter Erbeinsetzung (§§ 98, 117) und der Belastung mit einem Erbschaftsvermächtnis (§§ 446, 457). Roth befürwortete auch die Anerkennung des Bedürfnisses eines Ehegattenerbrechts (§§ 41 ff.) und bewertete die Lehre vom Pflichtteilsrecht und seiner Geltendmachung (§§ 468 fif.) als einen wertvollen Beitrag für die Kodifikation 10 . Hauptkritikpunkt Roths war, daß Mommsen die entscheidenden Prinzipienfragen bei der Regelung der Erbverträge und der Nachlaßregulierung nicht eingehend genug motiviert habe. Diesen Mangel führte Roth darauf zurück, daß Mommsen vor der Feststellung der leitenden Grundsätze einen detaillierten Entwurf vorgelegt habe, bzw. vorlegen mußte 11 . Für Roth war es inkonsequent, den Erbvertrag zu verwerfen und den Erbverzicht zuzulassen. Völlig prinzipienlos sei es, Eheleuten wiederum den Abschluß eines Erbvertrages zu gestatten (§ 189) und den Erbverzicht auf das gesetzliche Erbrecht zu beschränken (§ 209). "Gar nicht einverstanden" war Roth mit Mommsens Regelung der Nachlaßregulierung. Sie führe zu einer Vermehrung der gerichtlichen Tätigkeit, obwohl diese nach nicht näher spezifizierter "Übereinstimmung" auf die Fälle des überwiegenden öffentlichen Interesses zu beschränken sei. Die Voraussetzungen der gerichtlichen Erbregulierung würden weit gefaßt (§§ 215 Nr. 3, 4; 280). Durch das Antrittsprinzip (§§ 10, 219) trete bei jedem Nachlaß der Fall der ruhenden Erbschaft (§ 214) ein. Das Nachlaßgericht müsse zwar theoretisch nur in bestimmten Fällen von Amts wegen (§ 215), sonst nur auf Antrag der Interessenten (§ 231) einen Vertreter bestellen, praktisch könne es den Nachlaß aber auch sonst nicht herrenlos liegen lassen, womit die Bestellung eines Vertreters zur Regel würde. Zudem würde die gerichtliche Tätigkeit durch die Notwendigkeit obervormundschaftlicher Aufsicht vermehrt. Das bedeute aber nicht, daß der ipso /wre-Erwerb grundsätzlich vorzuziehen sei. Da der Erbe die kraft Gesetzes erworbene Erbschaft ausschlagen könne, sei aber das von Mommsen für das Antrittsprinzip angeführte Motiv, daß niemand gezwungen werden könne, Erbe zu werden 12 , nicht maßgebend. Die Entscheidung müsse vielmehr auf Zweckmäßigkeitsgründen beruhen; durch statistische Angaben sei zu bestimmen, welches Prinzip die größere Reduk-

10

Jenaer Literaturzeitung 1876, S.642.

11

Zum Ganzen: Jenaer Literaturzeitung 1876, S.639-641.

12

Mommsen, Entwurf, S.284, Motive zu § 219.

. Kapitel:

von

t

89

tion und Abkürzung gerichtlicher Tätigkeit gewähre; außerdem sei die künftige Regelung der Justizorganisationsgesetze abzuwarten 13. Auffallend ist, daß Roth sich stets dem Preußischen Landrecht anschloß. Er betrachtete es nach eigenem Bekunden als den "Mittelpunkt des gesetzgeberischen Fortschrittes", weil es "die rechte Mitte hält zwischen dem vielfach unbrauchbaren und veralteten gemeinen Recht und den in der französischen Gesetzgebung verkörperten Grundsätzen des älteren Deutschen Rechts" 14 . Dementsprechend schien er es unausgesprochen als Maßstab für die Bewertung des Entwurfes Mommsens zugrundezulegen, wenn er die Übereinstimmung bei der Beschränkung des Privattestaments und der "bahnbrechenden" Ausformung des Ehegattenerbrechts einerseits und die Abweichung beim Erbvertrag andererseits hervorhob 15 .

13

Zum Ganzen: Jenaer Literaturzeitung 1876, S.641-643. 14

Jenaer Literaturzeitung 1876, S.639; schon früher hatte Roth die Vorzüglichkeit der preußischen Gesetzgebung, insbesondere des Allgemeinen Landrechts, hervorgehoben, Zeitschrift für Reichs- und Landesrecht, Bd.l (1872), S.9,13-15. 15

Jenaer Literaturzeitung 1876, S.641 f.

90

4. Teil: Zeitgenössische Kritik am Entwurf

Drittes Kapitel Hans von Scheel Hans von Scheel (1839 - 1901) nahm den Entwurf Mommsens "äußerlich als Anhaltspunkt..., um den volkswirtschaftlichen Standpunkt zu betonen"1. Als Schüler Hildebrands war er Anhänger der historischen Methode, die in Abkehr von der Smith'schen klassischen Lehre die Notwendigkeit des sittlichen Elements sowie die enge Beziehung zwischen Wirtschaftstheorie und Rechtswissenschaft betonte und den Staat als Werkzeug der Nation zur Förderung aller Zwecke, welche durch die freiwillige Anstrengung des Einzelnen nicht entsprechend erreicht werden können, sah2. Er war Teilnehmer der Eisenacher Versammlung am 6./7. Oktober und Mitglied des 1873 aus diesem Kreis entstandenen Vereins für Sozialpolitik 3 . Ziel war die Lösung der sozialen Frage, die Scheel zumindest als erster Nationalökonom als Widerspruch zwischen formalrechtlicher Freiheit und Gleichheit und tatsächlicher Entwicklung der Gesellschaft formulierte 4 . Die Anhänger dieser Wirtschaftspolitik wurden von den "Liberalen" und der konservativen Öffentlichkeit als "Kathedersozialisten" bezeichnet, da sie den Staat nicht nur als eine Einrichtung zur Aufrechterhaltung der Ordnung betrachteten 5. Vielmehr sollte der Staat als das "großartigste sittliche Institut zur Erziehung des Menschenge-

Volkswirtschaftliche Bemerkungen zur Reform des Erbrechts, in: Hirth's Annalen des Deutschen Reichs 1877, S.97ff.(98). 2

Ingram, Geschichte der Volkswirtschaftslehre, 1905, S.264 -267.

3 Teilnehmerliste der Eisenacher Versammlung, abgedruckt in: Boese, Geschichte des Vereins für Sozialpolitik 1872 - 1932, 1939, S.243ff.(246). In Meyers Großes Konversations-Lexikon, Bd.9, S.1031, wurde Scheel noch in der 5.Auflage von 1897 zu den Initiatoren der Versammlung gezählt. Die Einladung, abgedruckt in: Boese, ebenda, S.241f., hatte er allerdings - entgegen Schröder, Abschaffung oder Reform, S.356 - nicht mitunterschrieben. 4 Die Theorie der sozialen Frage, 1871, S.16; vgl. auch: Hirth's Annalen 1877, S.104. Roscher, Geschichte der National-Ökonomik in Deutschland, 1874, S.1046, und Winkel, Die deutsche Nationalökonomie im 19.Jahrhundert, 1977, S.161, gestanden Scheel sogar zu, den Zwiespalt erstmals umfassend behandelt zu haben, kritisch Schröder, Abschaffung oder Reform, S.39, Fn.ll, 127, Fn.29. 5 Zur Prägung dieses Begriffs durch Heinrich Bernhard Oppenheim, ein Mitglied des volkswirtschaftlichen Kongresses, und zum unsicheren Umgang damit Schröder, Abschaffung oder Reform, S.358f.

. Kapitel:

von Sch

91

schlechts" die Gesellschaft mit Hilfe sozialer Reformen auf friedlichem Wege umbilden und so eine Revolution verhindern 6 . Scheel sah gerade in der Erbordnung den Teil der Eigentumsordnung, in dem die staatliche Gesetzgebung ihrem Einfluß am nachdrücklichsten Geltung verschaffen, so auf die Bildung der Erbsitte und damit auf soziale Reform hinwirken könne. Aufgabe des Erbrechts müsse dabei die Mitwirkung an drei Zielen sein: - Festigung der Familie, - Festigung des Kleinvermögens, - Volkswirtschaftliche Gerechtigkeit. Von diesem Ansatzpunkt aus untersuchte im Hinblick auf das Erbrecht des Ehegatten, Verwandten, die verschiedene Behandlung ihrer wirtschaftlichen Natur, den Pflichtteil, teiligung des Staates.

Scheel den Entwurf Mommsens der Kinder und der entfernteren der Hinterlassenschaften nach die Fideikommisse und die Be-

Hauptpunkt seiner Kritik war, daß der Entwurf auf einem eklektischen Verfahren, orientiert an der besseren Bewährung in der Praxis und allgemeinen Erwägungen der Zweckmäßigkeit, Billigkeit und gesunden Vernunft, beruhe und dadurch ein "etwas modernisirtes Erbrecht des Corpus juris" sei. Mommsen halte damit im Grunde an dem Recht aus der Niedergangszeit des Römervolks fest und beschränke sich auf Kodifikation, statt die vorhandenen Grundlagen des Erbrechts einer prinzipiellen Prüfung zu unterwerfen und eine nach dem Wesen der Sache begründete und an Prinzipien, die der jetzigen Kulturperiode entsprechen, orientierte Reform vorzunehmen 7. Damit war gerade die von den Preisrichtern gelobte und von Roth noch stärker geforderte Beschränkung auf die wissenschaftliche Arbeit des Aus- und Angleichens der bestehenden Rechte der Ausgangspunkt von Scheels Kritik. So beanstandete Scheel, daß Mommsen seine Regelung des Ehegattenerbrechts ( § § 4 1 f.) unter ausdrücklichem Verzicht auf die Aufstellung eines bestimmten Prinzips als das "Zweckmäßigste" und "Angemessenste" bezeichnete8. Aus dem Bedürfnis nach wirtschaftlicher Sicherung der Frau, aus ihrer

Eröffnungsrede Gustav von Schmollers zur Eisenacher Versammlung, abgedruckt in: Boese, Verein für Sozialpolitik, S.6fF.(6,8). 7

Zum Ganzen: Hirth's Annalen 1877, S.99-101,107.

8

Entwurf, S.167, Motive zu §§ 41,42.

4. Teil: Zeitgenössische Kritik am Entwurf

92

erhaltenden und erziehenden Tätigkeit in der Familie sowie aus ihrer Bedeutung als nächste Mitarbeiterin und Wirtschafterin des Mannes folge die Notwendigkeit eines die Interessen der Frau stärker berücksichtigenden Erbrechts. Scheel schlug die Einräumung des Nießbrauchs der Frau am Nachlaß des Mannes, der wirtschaftlichen Basis der Familie, zumindest bis zur Mündigkeit der Kinder oder beim Zusammentreffen mit Verwandten zweiten Grades, vor. Die aus Roths "konservativ-kompilatorischem" Blickwinkel gerühmte Fortschrittlichkeit des Ehegattenerbrechts 9 reichte ihm also nicht aus. Die mechanische Verteilung des Nachlasses unter den Kindern nach Köpfen und Wertportionen führe zwar zur rechnerischen Gleichheit, keineswegs aber zur wirtschaftlichen Gerechtigkeit. Das Intestaterbrecht müsse zumindest durch Bevorzugung der unmündigen vor den mündigen und den zur Unternehmensfortführung qualifizierten und willigen gegenüber den anderen Erben von einem Notbehelf für die Vermögensverteilung zu einem wirklichen Stellvertreter rationeller testamentarischer Bestimmungen werden. Der Ausdehnung der Parentelenordnung bis zur 6.Klasse (§31) mit dem einfachen Argument, daß der Kreis der erbfähigen Verwandten sonst zu sehr beschränkt würde und genausowenig für wie gegen die Streichung der 6.Klasse spreche 10, verkenne, daß nicht allein eheliche Verwandtschaft, sondern nur die wirtschaftliche und sittliche Zusammengehörigkeit mit dem Erblasser (Jen Grund des Erbrechts bilde. Ab der 4.Klasse sei der Staat als Repräsentant des Wirtschaftswesens, welches das Eigentum des Erblassers geschützt und seinen Erwerb gefördert habe, der Armenbezirk oder ein staatlicher Erbfonds der besser legitimierte Erbe. Das Erbteil käme dadurch leidenden Mitbürgern statt einer nicht mehr existierenden Stammesgemeinschaft zugute 11 . Die Beteilgung des Staates würde durch ein Intestaterbrecht ab der 4. Ordnung von einem Notbehelf zu einem Mittel zur Beseitigung des prinzipiell verwerflichen bzw. unsittlichen Instituts der "erblosen" Verlassen-

9

I

Jenaer Literaturzeitung 1876, S.640,642. °

II

Mommsen, Entwurf, S. 163, Motive zu § 31.

Dazu auch: Scheel, Eigenthum und Erbrecht, in: Deutsche Zeit- und Streitfragen, Jahrgang 6 (1877), Heft 96, S.5,15f.,29f.

. Kapitel:

von Sch

93

Schäften (§§ 525 ff.) und der "lachenden Erben". Sie sollte durch Erbschaftssteuern 12 verstärkt werden. Im "Rechtsverhältnis der Miterben" (§§ 276 ff.) vermißte Scheel eine gründliche und prinzipielle Erörterung der verschiedenen Behandlung der Hinterlassenschaften nach ihrer wirtschaftlichen Natur. Er forderte insbesondere ein System der Mitbeteiligung am Grundeigentum, das, wie etwa das Rentenprinzip, kleineren Grundbesitz vor Teilung und Belastung mit Hypotheken schützte. Mommsen verkenne den Zweck des Pflichtteilsrechts. Dieses solle den Mißbrauch des Eigentums und die Verletzung der mit der Testierfreiheit verfolgten Interessen der Familie und der Volkswirtschaft verhindern. Nach Scheel forderten diese Ziele auch eine größere Einschränkung der Substitutionen, als Mommsen sie im Anschluß an das moderne römische Recht annehme. Zumindest zeitlich und generationsmäßig unbeschränkte Fideikommisse seien als Perpetuierung von Eigentum sowie den gegenwärtigen volkswirtschaftlichen und politischen Interessen widersprechende Anhäufung von Vermögensmassen zu verbieten, bestehende zu begrenzen 13. Daß Mommsen hier wie später Schmitt "Opfer der Kritik am falschen Adressaten" wurde, die Preisaufgabe die Beschränkung auf Kodifikation durch eklektisches Verfahren zumindest nahegelegt und dadurch von Reformversuchen abgelenkt hatte, kann insofern dahinstehen, als Scheel die Methode grundsätzlich verwarf. Der Grund für die von den Preisrichtern und Roth abweichende Bewertung lag in der Divergenz der wirtschaftspolitischen Vorstellungen. So war zwar auch Gneist - aus dem volkswirtschaftlichen Kongreß kommend - Teilnehmer der Eisenacher Versammlung und Mitglied des daraus hervorgehenden Vereins für Sozialpolitik, doch wurde gerade seine reservierte Haltung von dem reformfreudigen linken Flügel, dem

Die Erbschaftssteuer sah Scheel als durch unentgeltliche Übertragung von Vermögen veranlaßte Vermögenssteuer, deren Berechtigung er aus drei Aspekten, einem juristischen, einem sozialpolitischen und einem volkswirtschaftlichen, die auch das Erbrecht des Staates näher begründen, ableitete: 1. Gesetzliche und testamentarische Erbfolge sind positive staatliche Schöpfungen, die das Eigentum erweitern, 2. Das Erbrecht ermöglicht eine künstliche Regulierung der Verteilung des Volksvermögens und 3. Vermögen entsteht nur durch die staatliche Institution des Privateigentums und die Tätigkeit der Gesamtheit, i.w.S. die Konjunktur, dazu: Die Erbschaftssteuer, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, Bd.24 (1875), S.233ff.(247-250). 13

Zur ganzen Kritik: Hirth's Annalen 1877, S.102-108.

94

4. Teil: Zeitgenössische Kritik am Entwurf

tendenziell auch Scheel zuzurechnen war, kritisiert 14 . So hatte Gneist zu Freuden der liberalen Presse bereits in der Debatte nach Schmollers Eröffnungsrede ein Recht des Staats auf Umwandlung der wirtschaftlichen Gesetze mit Hinweis auf die Smith'schen "ewigen Wahrheiten" bestritten und eine Ethisierung der Volkswirtschaft als "Widerspruch im Ausdruck" bezeichnet15. Sein Ideal war, den Verein zu einem nationalökonomischen Seitenstück des Juristentages zu machen, also vor allem die Tätigkeit der Verwaltung auf wirtschaftlich-sozialem Gebiet zu beeinflussen 16. Die soziale Frage wurde nur unter dem Blickwinkel des wirtschaftspolitisch liberalen Standpunkts betrachtet, dem Staat und damit dem Gesetzgeber aber kern umfassender Einfluß auf die Verteilung des Eigentums eingeräumt. Das Eibrecht sollte damit entgegen Scheel17 eher die Eigentumsordnung schützen als die Güterverteilung für die Zukunft gestalten.

14

Bereits bei der Einladung zur Eisenacher Versammlung hatte der Initiator, der damalige Chefredakteur des "Hamburgischen Correspondenten", Julius v. Eckhardt, wegen der nur zum Teil den volkswirtschaftlichen Zielen der Kathedersozialisten entsprechenden Ansichten Gneists Bedenken erhoben. Die andauernde Kritik der jüngeren Mitglieder führte sogar dazu, daß Gneist schon 1873 den Vereinsvorsitz niederlegte, dazu: Boese, Verein für Sozialpolitik, S.3f., 14-17,21f. 15

Boese, Verein für Sozialpolitik, S. 11 f.

16 So das Urteil Lujo Brentanos, der sich selbst als Repräsentant des linken Flügels fühlte, dazu: Boese, Verein für Sozialpolitik, S.20f. 17

Hirth's Annalen 1877, S. 100.

4. Kapitel: Gottfried von Schmitt

95

Viertes Kapitel Gottfried von Schmitt Schmitts Leben und durch die Freundschaft zu Fäustle geförderte Karriere wurden schon mehrfach beschrieben 1. Anders als Mommsen verfügte Schmitt über langjährige Erfahrung auf dem Gebiet der Gesetzgebung. So hatte er neben seiner erfolgreichen richterlichen Tätigkeit ab 1863 als liberales 2 Mitglied der bayerischen Abgeordnetenkammer am Entwurf der bayerischen Zivilprozeßordnung, ab 1869 im bayerischen Justizministerium an deren Einführung und ab 1871 als stellvertretender, meist leitender, Vorsitzender der Bundesratskommission an der Revision des von Preußen vorgelegten Justizministerialentwurfes mitgewirkt. Als Anerkennung seiner legislatorischen Leistungen, die sich bei der KO und dem GVG fortsetzen sollten, durfte Schmitt ab März 1874 als Ministerialrat die Interessen Bayerns im Justizausschuß des Bundesrats, in dem er bisher die bayerischen Stimmführer beraten hatte, vertreten. Hier nahm er auch an den Beratungen über das Gutachten der Vorkommission teil und war Mitunterzeichner des diesbezüglichen Berichts. Bei Schmitt geht es nicht um Bewertung oder Kritik des Entwurfes Mommsens, sondern um dessen Bedeutung für seine eigene Arbeit, wobei Gemeinsamkeiten und Unterschiede im einzelnen aber erst im Hauptteil gewürdigt werden sollen. Wie bereits ausgeführt, betrachtete Schmitt das Gutachten und den Bericht des Justizausschusses als "Auftrag". So hatte sich der "Entwurf des Rechtes der Erbfolge" daran "zu halten", daß "weder dem künftigen Gesetzbuche noch einem Haupttheile desselben eines der innerhalb des Deutschen Reichs geltenden Gesetzbücher oder einer der für einen deutschen Einzel-Staat oder für den Bereich des ehemaligen deutschen Bundes ausgearbeiteten Gesetzentwürfe unmittelbar zu Grunde gelegt werden" 3 . Dies schloß aber nicht aus, von dem für das Deutsche Reich ausgearbeiteten Entwurf von Mommsen auszugehen. Von einer Zugrundelegung sah Schmitt aber ab, weil

Nachweise oben bei Einleitung, Fn.22. 2

Da die einzige öffentliche Äußerung aus dieser Zeit nicht ergiebig ist und die drei 1867 im Club der liberalen Mittelpartei gehaltenen Vorträge den Entwurf eines neuen Zivilprozesses betrafen, ist eine genauere Beurteilung in dieser Hinsicht nicht möglich, dazu: Schröder , Abschaffung oder Reform, S.ll. 3

S.190.

Schmitt , Begründung, S.35; Gutachten, S.171, zustimmend: Bericht des Justizausschusses,

96

4. Teil: Zeitgenössische Kritik am Entwurf

Mommsen sich seinerseits ziemlich eng an das Sächsische Gesetzbuch angeschlossen habe4. Abgesehen von wenigen größeren Fragen, z.B. jener der gesetzlichen Erbfolge und der Schuldenhaftung, die sich durch ausgedehnte Inanspruchnahme des Nachlaßgerichts auszeichne, enthielte sein Entwurf nur vereinzelte Abweichungen, zumeist im Sinne der Rückkehr zum gemeinen Recht. Nach den Vorschlägen der Vorkommission durfte die Kommission aber "über die Benutzung bereits vorliegender Gesetzgebungsarbeiten als etwaiger Grundlagen für einzelne Theile des Entwurfs" entscheiden5. Am 4. Oktober 1875 teilte der Vorsitzende Pape "die Benutzung des Mommsen'schen Erbrechts-Entwurfs" mit 6 . Offenbar hatte Schmitt also seit dem letzten Zusammentritt der Kommission im September 1874 beantragt, den Entwurf berücksichtigen zu dürfen. Daraus läßt sich schließen, daß er ihn noch vor der erst 1876 erfolgten Drucklegung durchgesehen hatte und von ihm beeindruckt war. In der späteren Begründung seines Entwurfes bezeichnete Schmitt Mommsens Arbeit als "in vielen Beziehungen verdienstvoll" 7 . Schon allein, daß er die Frage der Zugrundelegung bei den Kommissionsberatungen überhaupt einer Erörterung wert hielt, zeigt, welch große Bedeutung er ihm für seine eigene Arbeit beimaß8. Dementsprechend legte er auch bezüglich der Quellenverarbeitung die ihm selbst gestellte Aufgabe nach Untersuchung des Gesamtbestandes der Privatrechtsnormen 9 als Maßstab an, wenn er bemängelte, daß Mommsen die in Deutschland geltenden Gesetze nur zum Teil berücksichtigt habe. Das abschließende Urteil klingt wie der Versuch einer vorweggenommenen Rechtfertigung vor dem Vorwurf, er selbst habe dem "Auftrag" zuwider keine "neue und eigenartige" 10 Arbeit geleistet: "Da der gegenwärtige Entwurf, abweichend von Mommsen, insbesondere den römischen Standpunkt bei der hereditas fideicommissaria verläßt, den Einsetzungsvertrag unbeschränkt gestattet, das Parentelsystem nur mit wesentlichen

Diesen Zwischenschritt verkennt Mertens, Gesetzliche Erbfolge, S.12f. 5

Gutachten, Anlage: Vorschläge, VII. 1., S. 182f.

6

Protokoll der ersten Sitzung von 1875 vom 4.10.1875, Schriftführer Neubauer, in: Schubert, Materialien, S.222f.(222f). 7

Begründung, S.35. g

Das betont auch Mertens, Gesetzliche Erbfolge, S.12f.

9

1

Gutachten, S.170; zustimmend: Bericht des Justizausschusses, S.190f. °

Bericht des Justizausschusses, S. 190.

4.Kapitel: Gottfried von Schmitt

97

Modifikationen annimmt, in der Qualifikation des Pflichttheilsanspruchs dem Gedanken des österreichischen Rechts folgt, die Erwerbung der Erbschaft kraft Rechtens statuirt, und, was die Regulirung des Nachlasses betrifft, die Mitwirkung des Nachlaßgerichts für die Regel ausschließt: konnte von der Annahme des Mommsenschen Entwurfs als Grundlage der Bearbeitung keine Rede sein" 11 .

Die grundsätzliche Übereinstimmung mit der Geisteshaltung Mommsens, zumindest der von Scheel bemängelten Reformfeindlichkeit, zeigt sich auch mittelbar in der Reaktion Schmitts auf Scheels Kritik, die er nach eigenem Bekunden kannte 12 . Schmitt erwähnt den Nationalökonomen inhaltlich an drei Stellen: bei den Angriffen auf das Rechtsinstitut der Erbfolge 13 , der Beschränkimg der Testierfreiheit 14 und des Intestaterbrechts 15. Obwohl Scheel sich an anderer Stelle ausdrücklich von sozialistischen Umsturzplänen distanziert und auf liberale Gewährsmänner berufen hatte 16 , und er gerade 1877 zum Regierungsrat und Mitglied des statistischen Amts des Deutschen Reichs nach Berlin berufen worden war 1 7 , bezeichnete Schmitt ihn als (Halb)Sozialisten 18 . Wie Schröder umfassend nachgewiesen hat, wollte er mit dieser " Abdrängung in die linke Ecke" verhindern, sich mit den Argumenten politisch liberaler und wirtschaftlich der kathedersozialistischen Richtung nahestehender Reformer, die ab der Mitte der 70-er Jahre das Erbrecht zur Lösung der sozialen Frage einsetzen wollten, auseinandersetzen zu müssen19. So lehnte Schmitt jegliche Beschränkung der Verwandtenerbfolge ab, um auch nur den "Schein einer Konzession", die der großen Mehrzahl des Volkes "unverständlich oder widrig erschiene", zu vermeiden. Insofern war er also sogar noch zurückhal-

11

Zum Ganzen: Begründung, S.35f.

12

Begründung, S.35. 13

Begründung, S.30f.

14 15

Begründung, S.51. Begründung, S.590.

16

Deutsche Zeit- und Streitfragen, Jahrgang 6 (1877), Heft 96, S.6,29.

17

Schröder , Abschaffung oder Reform, S. 126f,309.

18 19

Begründung, S.30f. Abschaffung oder Reform, insbesondere S.158f.,301f. ,356-359, 381f.

7 Andres

98

4.Teil: Zeitgenössische Kritik am Entwurf

tender als Mommsen, räumte allerdings ein, daß eine sehr vorsichtige Beschränkung der Parentelen noch tragbar wäre, die 5.0rdnung aber z.B. noch Verwandte 5.Grades erfasse 20.

20

Begründung, S.592, insbesondere auch Fn.l.

5. Kapitel: Gesamtbetrachtung

99

Fünftes Kapitel Gesamtbetrachtung Insgesamt gesehen zeigt sich durch die Auszeichnung und die Kritiken, daß der Entwurf Mommsens und die Art, wie er die Aufgabe gelöst hat, nur bei dem "Reformer" Scheel Ablehnung, in der Juristenwelt aber großen Anklang fand. Die ausdrückliche Anerkennung erfolgte nicht nur durch angesehene Juristen, sondern mit Schmitt und Roth auch durch Mitglieder der 1.Kommission. Mommsen kann insofern als Repräsentant zumindest jener Juristen, die sich mit gesetzgeberischen Fragen beschäftigten, angesehen werden. Auffallend ist, daß in den Kritiken sowohl in formeller als auch in materieller Hinsicht immer wieder die gleichen Punkte angesprochen wurden. In redaktioneller Hinsicht wurde bemängelt, daß Mommsen die Erbgesetze der Einzelstaaten nicht genügend umfassend berücksichtigt und die Prinzipienfragen nicht immer ausreichend motiviert habe. Dagegen wurden die systematische Anordnung und die Durcharbeitung der einzelnen Rechtssätze weitgehend gelobt. Inhaltlich ging es meist um das Erbrecht des Ehegatten, insbesondere der Frau, das Intestaterbrecht und das Verhältnis zur testamentarischen Erbfolge, das Pflichtteilsrecht, die Erbverträge, die Fideikommisse bzw. die begrenzte Erbeinsetzung und die Erwerbsart. Auch die Ausgestaltung der Nachlaßregulierung schien ein Problembereich des Erbrechts gewesen zu sein. Dabei fiel auf, daß sowohl Roth als auch Schmitt Mommsen eine zu ausgedehnte Inanspruchnahme des Nachlaßgerichts vorwarfen. Die Rolle des Staates scheint also eine rechtspolitisch brisante Frage gewesen zu sein, wobei Roth auch die Bezüge zu den Testamentsformen andeutete. Dagegen war die verschiedene Behandlung der Hinterlassenschaften nach ihrer wirtschaftlichen Natur und die Beteiligung des Staates an der Erbschaft nur Thema der volkswirtschaftlichen Betrachtung Scheels, nicht aber der weniger auf soziale Reformen als auf Konstruktion und Auswahl fixierten Juristen. Unter besonderer Rücksicht auf die nach den Kritiken als relevant erachteten Problembereiche soll im folgenden versucht werden, anhand des Mommsen'schen Entwurfes ein Bild des Erbrechts am Ende des gemeinen Rechts zu zeichnen. Ziel ist es dabei, die Verzahnung des Entwurfes mit den Problemen der Zeit und der Rolle des Erbrechs bei ihrer Lösung darzustellen. Dabei soll

100

4. Teil: Zeitgenössische Kritik am Entwurf

auch gezeigt werden, inwieweit die Vorschläge Mommsens in die Kodifikation Eingang fanden oder weshalb von ihnen abgewichen wurde.

Fünfter

Teil

Das Erbrecht des Entwurfes im Spiegel der Zeit

Erstes Kapitel Grundlage des Erbrechts An die Spitze seines Entwurfes stellte Mommsen die gewiß als fundamental gedachte Bestimmung: " M i t dem Tode einer Person ( § 7 ) geht das Vermögen derselben auf Andere über"

(§1).

A. Vermögensfähigkeit Die Bestimmung hätte gemeint sein können als Bekräftigung des Grundsatzes, daß jeder Todesfall einen Erbfall bewirkt, jeder also ohne Ausnahme während seines ganzen Lebens vermögensfähig ist. Dagegen spricht, daß die erbrechtlichen Beschränkungen, etwa bei Hauskindern oder bei durch den sog. bürgerlichen Tod zur Strafe oder als Straffolge Rechtlosen, die bereits mit dem Eintritt der Vermögensunfahigkeit beerbt wurden, längst beseitigt waren 1. Ausnahmen bestanden teils noch für Klosterangehörige 2. Daß

Dazu: Schmitt, Begründung, S.60, m.N.; vgl. auch: Arndts, Pandekten, § 469; Roth, Bayrisches Civilrecht, 3.Teil, 1875, § 296 I 1; zur Entwicklung auch: Staudinger-Boehmer, Bd.5, Teil 1, 11.Auflage 1954, § 1922, Rn. 13-25. Die Vermögensunfahigkeit der Hauskinder wurde bereits im klassischen Recht eingeschränkt, dazu auch: Käser, Das römische Privatrecht, 2. Abschnitt, 2. Auflage 1975, § 229. 2

Z.B.: II, 11 § 1199 PrALR, wo allerdings streitig war, ob der Erbfall sofort eintrat, dazu: KochHinschius, Allgemeines Landrecht, Bd.4, 6.Auflage 1880, Anm.30; w.N. bei: Roth, Bayrisches Civilrecht, § 296 I 1, 2 B, und Schmitt, Begründung, S.l 149-1151.

102

5. Teil: Das Erbrecht des Entwurfes im Spiegel der Zeit

Mommsen an prominenter Stelle auf sie Bezug nehmen wollte, erscheint aber umso weniger wahrscheinlich, als § 7 I für die Berufung zur Erbfolge ausdrücklich nur den Tod oder die Todeserklärung voraussetzte. Die Vermögensfahigkeit wurde also gerade nicht positiv verlangt, weil eben jeder vermögensfahig war. Die zusätzliche Hervorhebung in § 1 wäre also überflüssig.

B. Zeitpunkt des Anfalls Hauptaussage der den Allgemeinen Teil einleitenden Bestimmung könnte es sein, festzulegen, daß im Zeitpunkt des Todes der Fall der Beerbung eintritt, also der Anfall des Vermögens des Verstorbenen erfolgt. Diesen Inhalt legte ihr Schmitt 3 bei, und mit diesem Inhalt finden sich Vorschriften in vielen Gesetzbüchern, wie z.B in I, 9 § 367 PrALR, § 536 ABGB und Art.l Hess.E. M i t allein dieser Aussage wäre § 1 aber - zumindest aus heutiger Sicht selbstverständlich und überflüssig, zumal § 9 detaillierte Regelungen über den Zeitpunkt des Erbanfalls enthielt. Auch die genannten Vorschriften anderer Gesetze enthielten noch darüber hinausgehende Regelungen. So bestimmte beispielsweise I, 9 § 367 PrALR die Erwerbsgründe sowie die Gleichstellung von Tod und Todeserklärung und § 536 ABGB die Unvererblichkeit einer noch nicht angefallenen Erbschaft.

C. Universalsukzession Um die Bedeutung des § 1 für Mommsen zu klären, müssen die Ausführungen in den Motiven genauer untersucht werden: "Wenn ... das Recht das Vermögen eines Verstorbenen nicht auseinander fallen, sondern als Einheit, als ein Ganzes auf Andere übergehen läßt (Universalsuccession), so beruht dies auf Vorschriften, die in gewisser Weise als positive Vorschriften bezeichnet werden müssen, die aber zugleich so sehr in den natürlichen menschlichen Gefühlen und in den Bedürfnissen des Verkehrs begründet sind, daß sie sich in größerer oder geringerer Ausbildung bei allen einigermaaßen civilisirten Nationen finden und daß es in dieser Beziehung einer besonderen Motivierung nicht bedarf' 4 .

3

Begründung, S.782.

4

Entwurf, S. 135, Motive zu §§ 1-3.

1. Kapitel: Grundlage des Erbrechts

103

Wollte Mommsen in § 1 also den römisch-rechtlichen Grundsatz der Universalsukzession festlegen? Dafür könnte sprechen, daß § 1 dem § 1999 Sächs.Gsb. nachgebildet zu sein schien und die einzige Abweichung darin bestand, daß dort nicht vom "Vermögen", sondern von "Vermögensrechten" gesprochen wurde, um beide Arten der Sukzession, neben der Universalsukzession auch die Mommsen gerade unbekannte Singularsukzession (Vindikationslegat), zu erfassen 5. Dagegen ist aber einzuwenden, daß wie in § 2001 Sächs.Gsb.6 erst in § 2 im Zusammenhang mit der Definition des Erben von dem Vermögen als "ein Ganzes" die Rede war. So beschränkten sich die obigen Ausführungen auch nicht auf § 1, sondern stellten den ersten Absatz der zusammengefaßten Motive zu §§ 1 - 3 dar. Ferner widerspräche sich Mommsen mit der Fixierung des Prinzips der Gesamtrechtsnachfolge in § 1. In § 10 und § 219 legte er nämlich das deutsch-rechtliche Antrittsprinzip fest, wonach, wie § 244 ausdrücklich bestimmte, der Vermögensübergang, also Erbschaftserwerb und Universalsukzession, gerade nicht "mit dem Tode" erfolgten. § 1 könnte demnach nur die Fiktion der Rückwirkung des Erbschaftsantritts enthalten. Deren gesetzliche Festlegung lehnte Mommsen aufgrund ihrer nur theoretischen Bedeutung und allenfalls irritierenden Wirkung jedoch ausdrücklich ab7.

D. Vermögensübergang kraft positiven Rechts Da Mommsen keine Ungenauigkeit unterstellt werden soll, scheint es also, daß § 1 tatsächlich nur sichern sollte, daß das Vermögen trotz des Todes seines Inhabers nicht seine rechtliche Bedeutung verliert, sondern fortbesteht, indem es an andere fällt. Weshalb Mommsen diese lehrbuchhafte Belehrung über Zweck und Wesen des Erbrechts besonders betonte, wird durch eine Analyse der Motive klar, die in ihrer schlagwortartigen Kürze mehr wie Behauptungen als Begründungen klingen und, wie bereits deutlich wurde, Grund und Form des Vermögensüberganges vermengen.

Siebenhaar , Commentar zu dem bürgerlichen Gesetzbuche für das Königreich Sachsen, Bd.3, 1865, Anm. zu § 1999. 6 Auch in der Anm. von Siebenhaar , Commentar, Bd.3, insbesondere Fn.3 kommt zum Ausdruck, daß erst § 2001 Sächs.Gsb. die Universalsukzession definitiv festlegte. 7 Entwurf, S.279, Motive zu § 214. Dagegen kann mit Siebenhaar , Commentar, Bd.3, schon bei § 1999 Sächs.Gsb. von der "Universalsuccession" gesprochen werden, da § 2259 Sächs.Gsb. die Rückwirkung des Erbschaftsantritts ausdrücklich festlegte.

104

5. Teil: Das Erbrecht des Entwurfes im Spiegel der Zeit

1. Staat als Garant des Erbrechts Der Fortbestand des Vermögens nach dem Tod seines Inhabers beruht auf positivem Recht, als solches bedarf er einer ausdrücklichen Garantie durch das Gesetz. Dies scheint der Gedankengang Mommsens gewesen zu sein.

1. Naturrechtliche Betrachtungsweise Die Berufung auf das "positive Recht" kann bedeuten, daß Mommsen die naturrechtliche Herleitung des Erbrechts aus denselben Gründen wie Montesquieu 8 , Fichte, Schaumann, von Knoblauch, von Droste-Hülshoff und andere Naturrechtslehrer ablehnte. Diese Richtung setzte sich im Naturrecht ab etwa 1780, das generell als liberale politische Theorie bezeichnet wird, durch und hielt sich bis ins 19. Jahrhundert hinein. Sie wollte das Erbrecht aus dem Naturrecht herausnehmen, weil die unbeschränkte Vererbung im liberalen Eigentumsbegriff unerwünschte Rechte, vor allem die auf die Feudalverfassung zurückgehenden, wie z.B. Familienfideikommisse, konservieren würde. Ziel war die Beseitigung der Ungleichheiten, die Gleichbehandlung der Erben und die Privatisierung des Eigentums. Da gleichzeitig die Verwirklichung des freien Eigentums garantiert werden sollte, gingen diese Naturrechtler von der Herrenlosigkeit des Nachlasses aus und überließen die Regelung des Erbrechts dem positiven Recht, obwohl sie grundsätzlich einen übergreifenden Geltungsanspruch des Naturrechts erhoben und daher Enthaltsamkeit des positven Rechts hätten fordern müssen9. Es spricht aber nichts dafür, daß Mommsen mit der Charakterisierung des Vermögensübergangs als "positives Recht" auf die Naturrechtslehren und deren Ziele zurückgriff. Schon in der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts hatten

De l'esprit des lois, in Oeuvres complètes, herausgegeben von Caillois, Bd.2, 1951, 26,6, dazu: Hattenhauer, Zur Dogmengeschichte des Erbrechts, in: Jura 1983, S.9ff.(15),68ff.(68); Klippel, Familie versus Eigentum, in: SZGerm, Bd.101 (1984), S.117ff.(S.143,146f.), der allerdings aus der Trennung von droit politique und droit civil falschlich ableitet, daß Montesquieu seine naturrechtlichen Erwägungen nicht auch auf Thronfolgeordnungen bezog. 9

Zum Ganzen: Klippel, SZGerm, Bd.101 (1984), S.136-152.

1. Kapitel: Grundlage des Erbrechts

105

Rechtsphilosophen wie Hegel 10 , Stahl 11 und Ahrens 12 nach einer Neubegründung des Erbrechts gesucht, weil die Preisgabe an das positive Recht 13 zum Einfallstor für diejenigen Lehren, die das Privaterbrecht zur Umgestaltung der Gesellschaft oder zur Lösung der sozialen Frage abschaffen oder zumindest einschränken wollten 14 , geworden war 1 5 . Zudem zeigt schon die Bezeichnung der Epoche zwischen 1860 und 1890 als "rechtswissenschaftlicher Positivismus", daß die Juristenwelt rechtsphilosophische Argumentationen grundsätzlich ablehnte 16 . Deutlich wird dies etwa in der Abweisung der vom Naturrecht propagierten "Urrechte" des Menschen und der daraus entwickelten Persönlichkeitsrechte durch Savigny 17 und die Pandektistik 18 . Daß der Savigny-Schüler Mommsen einen philosophischen Rekurs anstrebte und auf naturrechtlicher Basis argumentieren wollte, ist daher wenig wahrscheinlich.

10

Grundlinien der Philosophie des Rechts, 1821, §§ 159,171,178 (Begründung des Intestaterbrechts mit dem gemeinsamen Familienvermögen). 11

Die Philosophie des Rechts, Bd.2, 1.Abteilung, Ö.Auflage 1963, S.499f. (Intestaterbrecht als

Ausfluß des Familienbandes). 12

Die Rechtsphilosophie oder das Naturrecht, 4. Auflage 1852, S.355f.,601f. (Testierfreiheit als Ausfluß des Persönlichkeitsrechts). 13

Schröder , Abschaffung oder Reform, S.426, sieht die aus dem Standpunkt des Naturrechts resultierende Herrenlosigkeit der Sachen des Verstorbenen als entscheidend an, überzeugend dagegen: Klippel , SZGerm, Bd.101 (1984), S.156, insbesondere Fn.196. 14

Zu den verschiedenen Richtungen der Angriffe: Schröder , Abschaffung oder Reform; Strunck, Der Gedanke der Erbrechtsreform seit dem 18. Jahrhundert, 1935; Hattenhauer , Jura 1983, S.73f. 15 Zur gesamten Entwicklung: Klippel , SZGerm, Bd.101 (1984), S.152-168, mit Hinweis darauf, daß die naturrechtliche Anerkennung der Testierfreiheit durch die schrittweise Verwirklichung des "freien Eigentums" möglich wurde und "unerwünschte Rechte" teils weiterhin nur dem positiven Recht zugewiesen wurden, S. 166f. 16

Während die h.M. mit Wieacker , Privatrechtsgeschichte, S.413-415, davon ausgeht, daß die Zeit des rechtswissenschaftlichen Positivismus ein "rechtsphilosophisches Vakuum" enthielt, betont in neuerer Zeit wieder Klippel , SZGerm, Bd.101 (1984), S.153-156, daß der Strom der publizierten Naturrechtssysteme im 19.Jahrhundert zwar dünner wurde, aber nicht abriß. Zum Meinungsstand: Schröder , Abschafiung oder Reform, S.389-400,487f. 17

System, Bd.l, S.335-338; vgl. auch: Beruf, S.13,48.

18 Vgl. dazu: Klippel , SZGerm, Bd.101 (1984), S.155; ders., Historische Wurzeln und Funktionen von Immaterialgüter- und Persönlichkeitsrechten im 19.Jahrhundert, in: ZNR 1982, S.132ff.(137f. ); Scheuermann , Einflüsse der historischen Rechtsschule, S.58f, jeweils m.N.

5. Teil: Das Erbrecht des Entwurfes im Spiegel der Zeit

106

2. Rechtsdogmatische Betrachtungsweise Näher liegt die Annahme, daß Mommsen auf diejenigen Autoren Bezug nahm, die im "positiven Recht" nur ein Hilfsmittel zur rechtsdogmatischen Konstruktion des Vermögensübergangs sahen. Dies ist umso wahrscheinlicher, als dieser Versuch insbesondere von Savigny, der bereits für das Obligationenrecht stärkstes Vorbild Mommsens gewesen war 1 9 , unternommen wurde. Schon bei der Herleitung des Problems zeigen sich Ähnlichkeiten. Mommsen ging davon aus, daß das Vermögen als Komplex von Rechten und Verbindlichkeiten allein durch die Person seines Inhabers als Einheit zusammengehalten wird, mit dessen Tod also auseinanderfallen müßte 20 . Folge wäre, daß die Rechte und Schulden untergingen, die Sachen herrenlos und damit der allgemeinen Okkupation preisgegeben würden. Dies sollte durch die "positiven Vorschriften" verhindert werden. Fast die gleichen Worte finden sich bei Savigny 21 . Zur Erklärung führte Savigny aus, daß das Vermögen durch den Tod des Inhabers seine unmittelbare Grundlage verlöre, die entferntere, der Staat als "leibliche Gestalt" der geistigen Volksgemeinschaft, deren Bildung "die höchste Stufe der Rechtserzeugung" darstelle, aber fortdauere. Dadurch werde der Untergang des Vermögens verhindert und der Weg zur "Neuverteilung" durch positives Recht eröffnet. Aufgabe des Staates sei es, durch dieses die Herrschaftsbereiche der einzelnen Individuen abzugrenzen. Damit komme ihm eine Gesamtherrschaft, dem Einzelnen als "organischen Teil" des Staats aber nur eine zeitlich begrenzte Teilherrschaft zu 2 2 . Ob Mommsen von diesen Überlegungen Savignys mit den zugrundeliegenden kantischen Vorstellungen des Rechts als Grenze 23 ausging und nur seine

19

Wollschläger,

Unmöglichkeitslehre, S.123.

20

Entwurf, S.135, Motive zu §§ 1-3. Der Tod bedeutet also nichts anderes als der Wegfall des Trägers von Rechten, Pflichten und Rechtslagen. Dieser individualrechtliche Gesichtspunkt liegt auch dem BGB zugrunde, dazu: Schmitt, Begründung, S.33f.; Staudinger-Boehmer, Erbrecht-Einleitung, Bd.5, Teil 1, 11. Auflage 1954, § 1, Rn.2. 21

System, Bd. 1, S.380.

2 2

System, Bd.l, S.22,367f.,380f.

23

Zum nach h.M. starken Einfluß Kants auf Savigny: Schröder, Abschaffung oder Reform, S.406f., m.w.N.; Wolf, Rechtsdenker, S.484; Wieacker, Privatrechtsgeschichte, S.397f.

1. Kapitel: Grundlage des Erbrechts

107

Autorität verschwieg 24 , läßt sich nicht feststellen. Sehr wahrscheinlich ist aber, daß er wie Savigny den Staat als "Grundlage und Garant des Erbrechts" sah. Dafür spricht die Darstellung des Problems durch einen anderen Savigny-Schüler, durch Georg Friedrich Puchta 25 , die wie eine Anregung Mommsens zur Formulierung des § 1 klingt: "Durch die Vorschrift eines Übergangs auf Überlebende wird der Untergang beseitigt." 26

Dafür spricht auch noch eine weitere Überlegung, die sich aus den weiteren Begründungsversuchen Mommsens ergibt.

II. Beschränkung der Setzungsbefugnis des Staates M i t der Gründung des Erbrechts auf die unvergängliche Natur des Staates, in welchem "alles Recht" als positives Recht seine "Realität und Vollendung" erhalte, erweckte Savigny den Eindruck, dem Staat einen gewissen Einfluß oder gar eine Setzungsbefugnis zukommen zu lassen27. Verstärkt wurde diese Vorstellung durch seine Erklärung, daß es zwei Möglichkeiten für die Fortexistenz des Vermögens gebe: den Fortbestand als Privatvermögen und die Umwandlung in Staatsvermögen. Die "Diskussion" beschränkte Savigny auf die Feststellung, nur den Rechtübergang in ein neues Privatvermögen behandeln zu wollen, da dieser allein dem Privatrecht angehöre und im römischen Recht anerkannt sei 28 . Es kann hier dahinstehen, ob Savigny tatsächlich auf die Aufgabe des Gesetzgebers, die Schaffung neuer, nicht historisch gewachsener aber aus politischen Gründen notwendiger Gesetze, verweisen oder ob der grundsätzliche Gegner legislativer Willkür nur die theoretischen Möglichkeiten, die sich

24 Ausdrücklich zitierte Mommsen nur Bd.3 (Entwurf, S.209f., Motive zu § 100, S.219, Motive zu § 113), nie den hier relevanten Bd. 1 von Savignys System.

25

Zu Puchta\ Landsberg , Geschichte, S.439ff. 2 6

Vorlesungen über das heutige römische Recht, Bd.2, 5.Auflage 1863, § 446.

27

So Brater, zitiert bei: Schröder , Abschaffung oder Reform, S.265; wohl auch: Unger, System, Einleitung, insbesondere Anm.1,2; vgl. auch: Hattenhauer , Jura 1983, S.70. 98 System, Bd.l,S.381f.

108

5. Teil: Das Erbrecht des Entwurfes im Spiegel der Zeit

durch die Ablehnung des Naturrechts ergaben, aufzeigen wollte 29 . Jedenfalls hatte er das Problem zumindest aufgezeigt. In bezug auf den Mommsen'schen Entwurf konnte unter den Worten des § 1 nichts anderes als die Grundentscheidung zugunsten des Übergangs des Vermögens auf Privatpersonen, also der Beerbung natürlicher Personen durch andere Privatrechtssubjekte, verstanden werden. Die Möglichkeit der Umwandlung in Staatsvermögen und damit der Abschaffung des Privaterbrechts erwähnte Mommsen nicht. Gesetzespositivistische Erwägungen können nicht der Grund für diese Zurückhaltung gewesen sein. Wenn es sie schon gab, sollten sie den Richter von der Kontrolle der Rechtmäßigkeit einer Vorschrift, nicht aber den Gesetzgeber von der Legitimation grundlegender Entscheidungen befreien 30. Hatte Mommsen das durch seine Konstruktion entstehende Problem der staatlichen Setzungsbefugnis und damit der Willkürlichkeit und Angreifbarkeit seiner Entscheidung vielleicht gar nicht gesehen? Dafür spricht, daß es bei der Aufgabe, einen Erbrechtsentwurf unter Zusammenstellung der geltenden Gesetze zu erarbeiten, nicht gerade nahe lag, die Möglichkeit der Abschaffung des Privaterbrechts zu bedenken31. Dann hätte Mommsen aber zumindest durch die von ihm verwendete Literatur darauf aufmerksam werden müssen32. Vor allem aber zeigt die Zurückhaltung und Vorsicht, die in der Darstellung seiner Konstruktion zu spüren ist, daß er sich des Problems voll bewußt war. So wurden die Vorschriften des Vermögensübergangs als (nur) "in gewisser Weise" positiv bezeichnet. Zugleich wurden Argumente angeführt, welche die damit gegebene Setzungsbefugnis wieder einschränken, so das bei dem Gedanken an die Willkürlichkeit der Entscheidung aufkommende Unbehagen und die Zweifel an ihrer Richtigkeit wieder verdrängen und den Weg zu ihrer Angreifbarkeit versperren (sollten) 33 .

29

So Schröder, Abschaffung oder Reform, S.265f., vgl. aber auch: S.415,435f.,490, wo diese Auffassung wieder in Frage gestellt wird. 30

Dazu: Schröder, Abschaffung oder Reform, S.390. 31

Auch der oft zitierte Siebenhaar, Commentar, Bd.3, sah in der Anm. zu § 1999, dem "ungenannten" Vorbild des § 1, "unbedenklich" von einer Begründung des Erbrechts ab, weil das Sächsische Gesetzbuch nur die Aufgabe der Darstellung des geltenden Rechts gehabt habe. 32

Beispielsweise zitierte Mommsen, Entwurf S.497, Motive zu §§ 526-530, Bluntschli, Privatrechtliches Gesetzbuch, Anm. zu § 1964. Gerade dort erörterte Bluntschli aber auch seinen (abgelehnten) Vorschlag des Privaterbrechts der Heimatgemeinde neben Verwandten ab der 2.Parentel, wobei er sozialistische und kommunistische Bestrebungen ansprach (S.70f.).

1. Kapitel: Grundlage des Erbrechts

109

Wie dem späteren Preisrichter Bruns 34 schien Mommsen die bloße Erklärung aus dem positiven Gesetz also als Verzicht auf "alle innere vernünftige Begründung". Daher berief er sich auf die "natürlichen menschlichen Gefühle", die "Bedürfnisse des Verkehrs" - Schlagworte, die bei der Analyse seiner Motive noch öfters eine Rolle spielen werden - und die allgemeine Geltung in allen "einigermaaßen civilisirten Nationen" 35 .

1. Die natürlichen menschlichen Gefühle Auf den ersten Blick scheint die Bezugnahme auf die "natürlichen menschlichen Gefühle" nur die schlagwortartige Behauptung einer (angeblich) allgemein verinnerlichten Wahrheit zu sein. Im Vergleich mit der Argumentation gegen das Erbrecht als bloß positives Recht durch andere Autoren zeigt sich aber, daß dort ähnliche Formulierungen darüber hinausgehend teils die Bindung der Generationen aneinander bezeichneten, teils die Ablehnung der älteren naturrechtlichen Theorie enthielten. Gerade Bruns, der die Vermögensverhältnisse der einzelnen als objektive Bestandteile des Gesamtvermögens auffaßte und so das Erbrecht ähnlich wie Savigny aus dem sozialen Leben ableitete, bezeichnete die Idee der Herrenlosigkeit als "durchaus unnatürliche". Sie gelte zwar "in der Regel als die natürliche, die nur durch positives Gesetz wegen der Unzuträglichkeit des allgemeinen Okkupationsrechts geändert werde", beruhe aber auf einer "atomistischen Auffassung des einzelnen, die ihn aus dem wesentlichen Zusammenhange der Gattung (Menschengeschlecht), in dem er durch seine Natur steht, herausreißt" 36.

33 Das Argument, auch Siebenhaar begründe die Notwendigkeit des Erbrechts gerade nicht (Fn.31), ist damit hinfällig. Die "problematische" Bezeichnung des Erbrechts als "positives Recht" und eine, sei es auch nur schlagwortartige Argumentation, finden sich bei Siebenhaar gerade nicht.

34

Das Pandektenrecht, in: Kohler , V. Holtzendorffs Encyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung, Bd.l, Ö.Auflage 1904, § 86. 35

Entwurf, S.135, Motive zu §§ 1-3.

3 6 Das Pandektenrecht, § 86; ders., Verhandlungen des 14. Deutschen Juristentages, Bd.l, 1878, S.72ff.(74,79f.); ebenso, mit Hinweis auf die "allgemeine Rechtsüberzeugung": Unger , System, Einleitung, insbesondere Anm.1,2; vgl. auch: Dernburg , System, § 444, insbesondere Fn.3.

110

5. Teil: Das Erbrecht des Entwurfes im Spiegel der Zeit

Darüber hinaus führe das Erbrecht dazu, daß sich das Vermögen in "einfacher, ruhiger Kontinuität durch die Reihe der Generationen hindurchzieht" 37 . Die Bezugnahme auf die "natürlichen menschlichen Gefühle" war also insbesondere auch in der Pandektistik - soweit eine Argumentation überhaupt für nötig gehalten wurde - ein übliches Argument zur Begründung des Erbrechts, das "selbstverständlich" nur ein Privaterbrecht sein konnte.

2. Die Bedürfnisse des Verkehrs Gleiches gilt für das Argument der "Bedürfnisse des Verkehrs". Sie würden "auf die empfindlichste Weise geschädigt", wenn die Sachen des Verstorbenen herrenlos werden würden 38 . Der Tod des Gläubigers würde den Schuldner befreien und damit "fortwährend Tausende von Werthen" vernichten. Umgekehrt würde der Tod des Schuldners zum Verlust der Forderung des Gläubigers führen und so dessen Kredit gefährden. Die Herrenlosigkeit stünde also "mit der Natur und dem Inhalte einer Menge von Rechtsverhältnissen, namentlich obligatorischen, die von vornherein auf ganze Generationen berechnet sind, in direktesten Widerspruch" 39 . Ein sicherer Geschäftsverkehr und dauernde Unternehmungen wären damit ausgeschlossen40. Der Hinweis auf die "Bedürfnisse des Verkehrs" war also ein Bekenntnis zu den wirtschaftspolitischen Interessen des auf Güter- und Kapitalumlauf, Geschäftsbeziehungen und einen florierenden Handel angewiesenen bürgerlichen Mittelstands. Am deutlichsten sprach Dernburg denn auch von den "Bedürfnissen der bürgerlichen Gesellschaft". Er stellte darüber hinaus auch den Bezug zur Eigentumsordnung her: Durch die Vererblichkeit werde das Eigentum zur dauernden Grundlage der Familien, die zu erwerben und zu erhalten verstehen 41.

37

Bruns, Pandektenrecht, § 86.

38

Wächter, Pandekten, Bd.2, 1881, § 268.

39

Bruns, Pandektenrecht, § 86; ders., Verhandlungen, Bd.l, S.80. 40

Puchta, Vorlesungen, § 446. 41

System, § 444, zum dort ebenfalls angesprochenen Verhältnis zwischen Familienerbrecht und Testierfreiheit weiter unten.

1. Kapitel: Grundlage des Erbrechts

111

3. Die Geltung in allen "einigermaaßen civilisirten Nationen" Das letzte Argument enthält wiederum eine auffällige Anlehnung an die Ausführungen Savignys im "System". Danach finde sich die Umwandlung in Staatsvermögen nicht selten in den Staaten des Orients, im christlichen Europa dagegen nur in beschränkterer Weise, nämlich in Form von Erbschaftssteuern 42. Freilich unterschlug Savigny hier die seit den St.-Simonisten 43 gerade auch in Westeuropa einsetzenden Angriffe auf das Erbrecht 44 . Ahnlich dürfte auch die "Argumentation" Mommsens, Nationen, die ein Privaterbrecht nicht kennen, als "unzivilisiert" abzuwerten, als Leugnung des Problems zu verstehen sein. Dem entspricht denn auch, daß er das Privaterbrecht als so selbstverständlich darstellte, daß es "einer besonderen Motivirung nicht bedarf' 4 5 . Interessanterweise findet sich der Hinweis auf die "Interessen der Civilisation" wiederum auch bei den Pandektisten46. Insgesamt gesehen erinnert Mommsens Argumentationsstruktur, die Beschränkung der Staatsbefugnisse durch bestimmte vorgegebene Bedürfnisse, wieder an die Vorgehensweise Puchtas: Nachdem Puchta festgestellt hatte, daß der Untergang der Vermögensrechte des Verstorbenen durch die Vorschrift des Übergangs auf Überlebende beseitigt wird, führte er zugleich aus, daß sie sich im Recht aller Völker fände, die zufallige Aneignung dem Rechtsgefühl, das bestimmten Personen einen Anspruch auf die Güter einräume, widerspreche und das Vermögen sonst bereits zu Lebzeiten des Erblassers nur eine höchst prekäre Existenz hätte 47 . Mommsen griff mit seinen "Argumenten" für die Fortexistenz des Vermögens nach dem Tod des Inhabers also Schlagworte auf, mit denen vornehmlich die Pandektisten die Notwendigkeit des (Privat)Erbrechts mehr als eine Selbstverständlichkeit darstellten, als tatsächlich begründeten und gegen die

42

System, Bd. 1, S.382.

43

Zu deren Zielen: Schröder , Abschaffung oder Reform, S. 174-184,287; Klippel , SZGerm, Bd. 101 (1984), S.157. 44

Vgl. die Kritik von Hattenhauer , Jura 1983, S.70; Schröder , Abschaffung oder Reform, S.416. 45

Entwurf, S.135, Motive zu §§ 1-3.

46

Z.B.: Wächter , Pandekten, Bd.2, § 268.

47

Vorlesungen, § 446.

5. Teil: Das Erbrecht des Entwurfes im Spiegel der Zeit

112

Angriffe, die bezeichnenderweise gar nicht erwähnt wurden, verteidigten. Es waren Argumente, die vornehmlich auf Interessen des bürgerlichen Mittelstandes anspielten und so insbesondere den Mitgliedern der Juristischen Gesellschaft, den unmittelbaren Adressaten des Entwurfes, sofort einleuchten mußten.

4. Politische Einordnung Darüber hinaus waren dies aber auch Argumente von tendenziell Nationalliberalen, die die positivrechtliche Grundlage des Erbrechts nutzbar machen wollten, um die soziale Frage durch Einschränkungen der Privaterbfolge anzugehen. Sie wandten sich damit ausdrücklich gegen kommunistische und sozialistische Bestrebungen zur Abschaffung des Erbrechts. So argumentierte Pfizer 48 ähnlich wie Mommsen: "Obgleich nun aber von Naturrechtswegen das Eigenthum eines Verstorbenen Demjenigen zufallt, der zuerst Besitz davon ergreift, so ist doch Vererbung des Eigenthums an Diejenigen, welche dem Besitzer die Nächsten und Liebsten sind, etwas dem natürlichen Gefühle so Entsprechendes und Billiges, ... daß ein positives Erbrecht in keinem auch nur halbwegs geordneten Zustande der Gesellschaft lang ausbleiben kann." 49

Bei Hilgart 5 0 hieß es: "... durch seinen Tod hört die rechtsfähige Person (das Subjekt des Rechts und des Willens) völlig auf, und mit ihr sollte mithin, nach strenger Konsequenz auch das Recht selbst, welches ohne rechtsfähige Person nicht gedacht werden kann, ganz erlöschen, so mag das frühere Eigenthum des Verstorbenen als herrenloses Gut betrachtet werden. Aber diese Folgerung schien den Gesetzgebern aller Zeit und Länder der bürgerlichen Ordnung und der natürlichen Billigkeit zu widerstreben." 51

48

Zu Pfizer: Schröder, Abschaffung oder Reform, S.277f.,300, m.w.N.

49 50

51

Gedanken über Recht, Staat und Kirche, l.Theil, 1842, S.62f. Zu Hilgart: Schröder, Abschaffung oder Reform, S.278-280, m.w.N. Zitiert nach: Schröder, Abschaffung oder Reform, S.261.

1. Kapitel: Grundlage des Erbrechts

113

Bluntschli 52 betonte, teils gerade auch in der von Mommsen zitierten Anmerkung zu § 1964 Zürch.Gsb. 53 , daß " . . . die geschichtliche Vertheilung der Güter vor allen Dingen anerkannt werden (muß). Zu dieser ... gehört das Erbrecht auch." Wie die "natürlichen Eigenschaften" vererbt werden, überliefert es "das Recht und den Erwerb der früheren Geschlechter den Nachkommen" und schützt "den Zusammenhang der Vergangenheit mit der Gegenwart" 54 . "Die socialistische Läugnung und Beseitigung des Erbrechtes ... muß ... entschieden mißbilligt werden. Würde die Erblichkeit des Eigenthums aufgehoben, so würde dadurch mindestens der halbe Werth ... und die Sicherheit des Eigenthums mit zerstört". Jeder Angriff auf das Erbrecht muß daher als ein "Angriff auf die Familie und auf die Civilisation" bekämpft werden 55 . "Es ist nicht wahr, dass das Erbrecht eine willkürliche Erfindung der Gesetzgeber sei,... . Das menschliche Erbrecht hat in der Erblichkeit der Menschennatur seinen sicheren Grund" 56 , in der "Gemeinschaft der Race des Erblassers mit den Erben", wobei die Kinder "von Natur auf die Erbschaft ihrer früher versterbenden Eltern angewiesen" 57 sind.

Der eingangs aus den Motiven Mommsens zitierte Satz enthält also das grundsätzliche Bekenntnis zu einem Privaterbrecht. Er war Ausdruck der Ablehnung sozialistischer oder kommunistischer Forderungen nach Abschaffung dieses Erbrechts durch die Anspielung auf "typische" Argumente der bürgerlichen Mitte. Daß Mommsen sich nicht offen mit den Angriffen auseinandersetzte und, wie im Vorgriff auf spätere Ausführungen angemerkt sei, die sozialpolitischen Erwägungen der genannten Nationalliberalen nicht aufgriff, zeigt bereits hier die konservative Reformfeindlichkeit Mommsens, die Scheel später rügen sollte. Allerdings muß Mommsen insoweit doch zugute gehalten werden, daß eine grundsätzliche Infragestellung des Privaterbrechts und damit eine ausführlichere Begründung nach der Preisaufgabe nicht nahe lag, zumal innerhalb von nur zehn Monaten die wesentlichsten geltenden Gesetzgebungen zusam-

52

Zu Bluntschli: Schröder , Abschaffung oder Reform, S.210,215,280-283,300f., m.w.N.

53

Dazu oben bei Fn.32. 54

Eigenthum, in: Bluntschli/Brater, Deutsches Staats-Wörterbuch, Bd.3, 1858, S.297ff.(318); Das Erbrecht und die Reform des Erbrechtes, in: Gesammelte kleine Schriften, Bd.l, 1879, S.233ff.(235-237). 55

Eigenthum, S.321; vgl. auch: Privatrechtliches Gesetzbuch, Bd.4, Anm. zu § 1964, S.71.

56

Das Erbrecht und die Reform, S.235f.

57

Privatrechtliches Gesetzbuch, Bd.4, Anm. zu § 1964, S.68,71.

8 Andres

114

5. Teil: Das Erbrecht des Entwurfes im Spiegel der Zeit

mengestellt werden mußten. Deshalb drängt sich die Frage auf, wie Schmitt, der für die gleiche Arbeit fünf Jahre in Anspruch nahm 58 , und die Diskussion zum 1.Entwurf des BGB mit dem Problem umgingen.

E. Argumentation um die Entscheidung des BGB Interessanterweise kehren die genannten Argumente in ähnlicher Form bei Schmitt wieder. Auch er sprach davon, daß sozialistische und kommunistische Bestrebungen nach Abschaffung des Privaterbrechts der "menschlichen Natur", dem steten Absterben und der steten Erneuerung der Generationen sowie dem "Güterwechsel" widersprächen. Zudem wäre "Kredit, die Achse des Verkehrs, ... unmöglich, wenn das Besitzrecht des Einzelnen auf zwei Augen steht". Der Verkehr zwischen den Völkern müßte aufhören, solange nicht alle anderen Staaten folgen. Anders als Mommsen mied Schmitt aber den Begriff "positives Recht". Er versuchte, jeden Gedanken, der eine staatliche Setzungsbefugnis auch nur möglich erscheinen ließ, von vornherein abzuschneiden. So bezeichnete er die Idee der Auflösung aller Verhältnisse beim Tod als "ungeheuerlich", die Testierfreiheit als Anerkennung der "Unabhängigkeit der privatrechtlichen Disposition" und das Familienerbrecht als in der "Natur der Dinge" begründetes Recht, dem der Staat im Wege der Gesetzgebung zu formeller Geltung verhilfe. Ihm stehe es aber nicht zu, Erbrechte für sich oder Privatpersonen zu begründen 59 . Savignys Konstruktion, wonach der Staat alles zusammenhält, findet sich zwar mit Zitat auch bei Schmitt, doch ging er vom Fortbestand des Nachlasses als Privatvermögen aus und nahm sie als Argument für den Übergang auf Privatpersonen. Damit unterschlug er, daß Savigny nur den Vermögensübergang konstruiert, dann aber den auf Privatpersonen in Frage gestellt hatte 60 . Die genannten Autoren der reformerischen Mitte, die die Privaterbfolge zur Lösung der sozialen Frage beschränken wollten, fielen der unlängst von Schröder umfassend nachgewiesenen "Taktik" zum Opfer: Pfizer wurde ne-

58

Entwurf und Begründung wurden 1879 fertiggestellt. 59

Zum Ganzen: Begründung, S.32f. 6 0

Begründung, S.33; dazu: Schröder, Abschaffung oder Reform, S.414-417; unkritisch: Mertens, Gesetzliche Erbfolge, S.27.

1. Kapitel: Grundlage des Erbrechts

115

ben die Sozialisten und Halbsozialisten gestellt 61 ; die Vorschläge Hilgarts und Bluntschlis wurden mit der Notwendigkeit, den Schein einer Konzession an soziale Bestrebungen zu vermeiden, abgewiesen62. Schmitt drängte sie also nach links ab, um eine argumentative Auseinandersetzung zu umgehen 63 . In den Vorberatungen der 1.Kommission wurde die Frage der Zulassung der Privaterbfolge gar nicht angesprochen 64. Wie sich aus einer Randbemerkung zu den "Angriffen auf das Rechtsinstitut der Erbfolge" im privaten Vortragsmanuskript Schmitts ergab, beschloß die Kommission 1886, daß sie sich "laut Auftrags" nur mit der Kodifikation des geltenden Rechts zu befassen habe 65 . Auch keiner der Kritiker des 1.Entwurfes äußerte diesbezüglich Bedenken. Insoweit dürfte die Vermutung Mengers 66 zutreffend sein, die den Wiener Kathedersozialisten zu seiner berühmten Kritik: "Das bürgerliche Recht und die besitzlosen Volksklassen" veranlaßte und die von Mertens 67 übernommen wurde: Jene, die vom sozialistischen Standpunkt die Abschaffung des Privaterbrechts forderten, interessierten sich fast ausschließlich für die wirtschaftliche Seite, nicht aber für die juristischen Fachfragen einer Kodifikation und verfügten nicht über das zur Kritik unentbehrliche juristische Fachwissen. Menger selbst bezeichnte es als "freundlichen Gedanken", einen unmittelbaren Angriff auf das Privateigentum zu vermeiden und durch die Beseitigung des Erbrechts zu "neuen Formen des menschlichen Daseins" überzugehen. Da das Erbrecht das Eigentum jedoch nur über den Tod hinaus ausdehne und eine Beurteilung vom "Standpunkt sozialistischer Rechtsideen" ignorieren würde, daß die Verfasser des 1.Entwurfes von den geltenden privatrechtlichen Prinzipien ausgehen sollten, beschränkte sich Menger auf den Nach-

61

Begründung, S.31.

62

Begründung, S.590, insbesondere Fn. 1,8, 592.

63 Ein weiteres Argument Schmitts war nach Schröder der positiv besetzte Wert der Vereinheitlichungskodifikation. "Ganz Linke" wurden überhaupt nicht ernst genommen; zur ganzen Taktik: Abschaffung oder Reform, S.179f.,204-219,290f.,298-302.

64

S.26.

Dazu auch: Schröder , Abschaffung oder Reform, S.21,145; Mertens , Gesetzliche Erbfolge,

65 Dazu: Schröder , Abschaffung oder Reform, S.28,145, mit Hinweis auf Archivmaterial aus dem Nachlaß Schmitts. 66

Das bürgerliche Recht und die besitzlosen Volksklassen, 5.Auflage 1927, S.2.

67

Gesetzliche Erbfolge, S.26.

116

5. Teil: Das Erbrecht des Entwurfes im Spiegel der Zeit

weis, daß der Entwurf die Besitzlosen auch auf dieser Grundlage unangemessen benachteilige 68 . Die 2.Kommission, die nur auf die Kritiken reagierte, sah demnach keine Veranlassung, die Existenzberechtigung des Privaterbrechts anzuzweifeln 69 .

F. Mommsens Einfluß Zusammenfassend ergibt sich, daß Mommsen das Privaterbrecht in den zitierten Motiven mehr in seiner Bedeutung darstellte, als dessen Notwendigkeit begründete. Dies entsprach der gängigen Vorgehensweise in der Pandektenliteratur, soweit dort überhaupt ein erklärender Satz geäußert wurde. Die Nichtbefassung der 1. und 2.Kommission mit der Abschaffung des Erbrechts ist politisch verständlich. Die Mitglieder waren Vertreter des liberalen Bürgertums, das gerade im Begriff war, sich aus feudaler Bevormundung zu befreien. Sie brauchten das die Bürgerfreiheit flankierende Eigentum und damit das Privaterbrecht als ökonomische Stütze, um der auf den Großgrundbesitz gegründeten Macht des Adels etwas entgegensetzen zu können. Dem vom Adel beherrschten Staat gesetzlich ein Erbrecht zuzubilligen, war demnach undenkbar 70 . Um so merkwürdiger ist es, daß Schmitt sich 1879, wenn auch teils verfälschend, in der Begründung seines Teilentwurfes und 1886 in dem bereits erwähnten privaten Vortragsmanuskript relativ ausführlich mit den Angriffen auf das Erbrecht befaßte, obwohl er zu Beginn der Kommissionsarbeiten noch keine Veranlassung zur Vorlage oder zur Rückfrage bei Justizminister Fäustle gesehen hatte 71 . Woher kam diese Diskrepanz zu den Kommissionen und insbesondere zu dem hier interessierenden Mommsen'schen Entwurf? Die Antwort kann nicht allein darin liegen, daß Schmitt mehr Zeit hatte. Immerhin verfaßte Momm-

68

Zum Ganzen: Das bürgerliche Recht, S.2f.,229.

69

Vgl. dazu: Mertens, Gesetzliche Erbfolge, S.26; Schröder, Abschaffung oder Reform, S. 145.

70

Hetmeier, Grundlagen der Privaterbfolge in der Bundesrepublik Deutschland und in der DDR, 1990, S.44; vgl. auch: Mertens, Gesetzliche Erbfolge, S.26,152; Koschaker, Europa und das römische Recht, 4.Auflage 1966, S.286. 71

Dazu: Schröder, Abschaffung oder Reform, S.20f.,27-29,145,159.

1. Kapitel: Grundlage des Erbrechts

117

sen 364 Seiten Motive, womit er auch die Frage der Existenzberechtigung des Privaterbrechts zumindest etwas ausfuhrlicher hätte behandeln können. Auch mußte die Begründung Schmitts nicht etwa einer breiten Öffentlichkeit gerecht werden. Sie war vielmehr für die Kommission und damit, wie der Entwurf Mommsens, unmittelbar für liberal Gesinnte bestimmt 72 . Wie Schröder durch einen Vergleich der verwendeten Literatur überzeugend nachgewiesen hat 73 , reagierte Schmitt insbesondere auf drei Autoren, die sich nach 1874 im Hinblick auf das Kodifikationsvorhaben mit der Begründung des Erbrechts auseinandergesetzt hatten: Baron 74 , Bruns 75 und, was hier vor allem von Interesse ist, Scheel. Scheels Kritik am Entwurf Mommsens wurde bereits dargestellt 76. Gerade auch sie wurde von Schmitt unter der Überschrift "Angriffe auf das Rechtsinstitut der Erbfolge" zitiert 77 . Hauptangriffspunkt Scheels war die Reformfeindlichkeit Mommsens: Sein Entwurf verkenne die volkswirtschaftliche Aufgabe des Erbrechts. Daraus ergibt sich, daß Mommsen insofern "Negativbeispiel" für Schmitt sein mußte. Sein Entwurf zeigte ihm, daß die Reformfeindlichkeit Kritik hervorrief und war damit indirekt Mitauslöser des Begründungszwangs. Die abstrakten Angriffe wurden durch Mommsens Entwurf beispielhaft veranschaulicht. Zwar hatte Scheel nicht die Abschaffung des Privaterbrechts gefordert, aber die Frage der Aufgabe des Erbrechts gestellt und die Einnahme eines prinzipiellen Standpunkts gegenüber der Eigentumsordnung, dessen hinreichende Motivierung sowie die ausdrückliche Berücksichtigung reformerischer Ideen verlangt 78 . Für den unsicheren Schmitt mußte dies umso mehr Anlaß für die "Auseinandersetzung" auch mit der Begründung des Erbrechts gewesen sein,

72

Die später veröffentlichten "Motive" stimmen nicht ganz mit den Begründungen der Teilentwürfe, die zunächst nur als Beratungsgrundlage dienen sollten, überein, vgl. dazu: Gutachten, S.179, Anlage: Vorschläge, VII.3., S.183; Bericht des Justizausschusses, S.197; Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuches für das Deutsche Reich, 1.Lesung, 1888, S.IV-VI; Schröder , Abschaffung oder Reform, S. 144,390. 73

Abschaffung oder Reform, S.123-144,157-159.

74 75

76

Angriffe auf das Erbrecht, in: Deutsche Zeit- und Streitfragen, Jahrgang 6 (1877), Heft 85. Verhandlungen, Bd. 1, S.72-103. Dazu oben bei 4.Teil, 3.Kap.

77

Begründung, S.30; zitiert wurden auch die Schriften: "Erbschaftssteuern und Erbrechtsreform", 2. Auflage 1877, ebenda, und "Eigenthum und Erbrecht", S.31. 78

Hirth's Annalen 1877, S.99.

118

5. Teil: Das Erbrecht des Entwurfes im Spiegel der Zeit

als mit Baron 79 und Bruns 80 , dem Gutachter des Mommsen'schen Entwurfes, sogar angesehene Pandektisten dieses Problem aufgriffen und in den politischen Kontext stellten. Der Einfluß des Mommsen'schen Entwurfes auf Schmitt läßt sich also folgendermaßen zusammenfassen: Die Kritik an der Enthaltsamkeit Mommsens veranschaulichte Schmitt die Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit reformerischen Ideen. Sie zeigte ihm, daß es nicht nur auf Konstruktionsfragen, sondern auch auf eine grundsätzliche Stellungnahme zum Zweck und damit auch auf eine Begründung des Erbrechts ankam. Bloß schlagwortartige Behauptungen reichten nicht aus, eine ausdrückliche Auseinandersetzung mit den Angriffen auf das Erbrecht war unvermeidlich. Die Art, wie Schmitt eine längst gefundene und für ihn selbstverständliche Entscheidung nachträglich legitimierte, zeigt, daß er im Grunde genauso reformfeindlich wie Mommsen war. So stellte er abweichende Positionen, statt sie völlig zu ignorieren, schief dar und umging die Auseinandersetzung damit ebenso wie Mommsen. Dessen Zurückhaltung gegenüber dem Begriff des "positiven Rechts" steigerte sich unter dem Druck des Verteidigungszwangs zur Ablehnung. Daher mied Schmitt diesen Begriff, der Angreifbarkeit bedeutete, und daher vermischte er Savignys Gedanken. So konnte er sich nur auf die "Natur der Dinge", also die "Selbstverständlichkeit, von der man nicht spricht", berufen 81 . Dies war damit eine verdeckt politische Argumentation, mit der die Diskussion der sozialen Frage aus den Beratungen ausgeklammert werden sollte 82 . Die "Ehrlichkeit", die der unter keinem Legitimationszwang stehende Mommsen sich hatte leisten können, mußte bei Schmitt hinter Entstellung und Verschleierung zurücktreten.

79

Deutsche Zeit- und Streitfragen, Jahrgang 6 (1877), Heft 85, insbesondere S.34; zu Baron: Schröder, Abschaffung oder Reform, S.356f., Fn.4. Of)

Verhandlungen, Bd.l, S.72-81. 81

82

Dazu: Schröder, Abschaffung oder Reform, S. 144,159,427f.,414-416,490. Hetmeier, Grundlagen, S.44.

1. Kapitel: Grundlage des Erbrechts

119

Im Ergebnis wählte Schmitt also nur einen anderen Weg, um die Auseinandersetzung ebenso wie Mommsen zu umgehen; in der grundsätzlich extrem konservativen Haltung beider, die den Interessen des liberalen Bürgertums entgegenkam, bestand dagegen kein Unterschied.

120

5. Teil: Das Erbrecht des Entwurfes im Spiegel der Zeit

Zweites Kapitel Universalsukzession und Einheit des Vermögens Während das ältere deutsche Recht eine Reihe von Spezialsukzessionen zuließ 1 , war oberster Grundsatz des römischen Rechts, daß die Erben den Nachlaß als universitas 2 erhielten. Durch die Rezeption erlangte die Universalsukzession fast allgemeine Geltung3. Auch Mommsen regelte zu Beginn seines Allgemeinen Teils, zugleich nach seinem grundsätzlichen Bekenntnis zum Privaterbrecht, daß der Erbe in das Vermögen als "ein Ganzes" eintrat (§ 2).

A. Grundlage - Rechtliche Konstruktion und Vermögensbegriff In den zitierten Motiven zu §§ 1 - 3 trennte Mommsen nicht zwischen der Frage des "Wie" und des "Ob" des Vermögensübergangs. Dieses Vorgehen war insofern konsequent, als die juristische Form des Übergangs wegen der Definition des Vermögens als "Einheit von Rechten und Pflichten" 4 nur als Gesamtrechtsfolge denkbar ist: Wenn das Vermögen ein "Ganzes" bildet und als solches auf den Erben übergehen soll, kommt ein Zerfall in verschiedene Komplexe und damit der Übergang durch eine Reihe von Spezialsukzessionen nicht in Betracht.

Nur Lewis, Die Succession des Erben in die Obligationen des Erblassers nach deutschem Recht, 1864, S.IV, ging auch für das ältere deutsche Recht von einer Universalsukzession aus. Richtig ist zwar, daß ein Vermögenskomplex kraft einheitlichen Titels überging (Hübner, Grundzüge des Deutschen Privatrechts, 4.Auflage 1922, § 102 III), aber eben keine Einheit im römischen Sinne. Da anders als bei der Singularsukzession auch nicht nur eine Nachfolge in einzelne Sachen oder Rechte erfolgte, soll hier mit Stobbe, Handbuch des Deutschen Privatrechts, Bd.5, 2. Auflage 1885, § 278 III, von Spezialsukzessionen gesprochen werden. 2 Afr., D. 50, 16, 208; Windscheid, 1 Ö.Auflage 1992, §65 I 1.

Pandektenrecht, Bd.3, § 528; Käser, Römisches Privatrecht,

3 Stobbe, Deutsches Privatrecht, Bd.5, § 278 III; Gerber, System des Deutschen Privatrechts, 17.Auflage 1895, §297. 4

Entwurf, S. 135, Motive zu §§ 1-3, vgl. auch: S. 157, zu § 30.

2. Kapitel: Universalsukzession und Einheit des Vermögens

121

M i t der Betonung der "Einheitlichkeit" des Vermögens lehnte Mommsen zugleich die wohl zuerst von Brinz 5 vertretene Auffassung ab, wonach "Vermögen" nur ein Kollektiv bezeichnete. Da der Erblasser das ganze Vermögen demzufolge nur als Summe seiner einzelnen Bestandteile habe, könne es auch nur so auf den Erben übergehen. Dieser bekomme zwar das ganze Vermögen, aber nur alle Rechte und Schulden auf einmal 6 . Universalsukzession wäre nicht mehr als gleichzeitiger Erwerb einer Summe von Rechten und Pflichten durch einen Vorgang. Bei dieser Konstruktion wären die Besonderheiten der Universalsukzession aber nicht erklärbar. Es bliebe offen, weshalb anders als bei der Singularsukzession auch unveräußerliche Rechte auf die Erben übergehen und weshalb es bei den subjektiven Voraussetzungen des Rechtserwerbs auf die Person des Erblassers ankommt 7 . Nach Mommsen hingegen war das Vermögen mit der herrschenden Lehre 8 als Einheit anzusehen, die Universalsukzession also nicht nur eine successio per universitatem, sondern auch eine successio in Universitäten?. Die unterschiedlichen Formen des Vermögensübergangs und ihre Vor- und Nachteile erwog er nicht. Mommsen ging wie selbstverständlich von dem auf Gleichförmigkeit und Gleichheit der Gütermassen aufbauenden Vermögensbegriff des römischen Rechts aus. Ebensowenig wie mit den verschiedenen Möglichkeiten der Sukzession setzte sich Mommsen mit den Bildern, Phrasen und Vergleichen auseinander, die sich um eine Erklärung der unmittelbaren Fortsetzung und Kontinuität der Rechte und vor allem der Verbindlichkeiten bemühten. Der Übergang der

5 Brinz, Lehrbuch der Pandekten, Bd.2, 1.Auflage 1860, §§ 150ff.; später noch vertreten in: Bd.3, 1 .Abtheilung, 2.Auflage 1886, § 357, insbesondere Anm.2, vgl. auch: Bd.l, 2.Auflage 1873, § 129. 6 Im Ergebnis ebenso: Klöppel, Beiträge zur Erläuterung und Würdigung des Entwurfs eines bürgerlichen Gesetzbuches - Das Familien- und Erbrecht des Entwurfs zum bürgerlichen Gesetzbuch, in: Gruchots Beiträge, Bd.33 (1889), S.338ff.(360). 7

Pernice, Vermögen und Universalsuccession, in: Kritische Vierteljahresschrift fur Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, Bd.21 (1880), S.232ff.(265f.); Bruns, Pandektenrecht, § 95. g Z.B.: Savigny, System, Bd.l, S.383; Windscheid, Lehrbuch des Pandektenrechts, Bd.l, 3. Auflage, 2. Abdruck, 1873, § 42; Neuner, zitiert nach: Birkmeyer, Ueber das Vermögen im juristischen Sinne, 1879, S.28. 9

Diese doppelte Bedeutung der Universalsukzession hervorhebend: Savigny, System, Bd.l, S.384; Hasse, Ueber Universitas juris und rerum, und über Universal- und Singular-Succession, in: AcP, Bd.5 (1830), S.lff.(23,54); Staudinger-Boehmer, Bd.5, Teil 1, § 1922, Rn.104-106. Zusammengefaßt findet sich der ganze Streitstand bei: Birkmeyer, Ueber das Vermögen, S.27-31.

122

5. Teil: Das Erbrecht des Entwurfes im Spiegel der Zeit

juristischen 10 , vermögensrechtlichen 11, substantiierten 12 oder gar der individuellen 13 Persönlichkeit fanden keinerlei Erwähnung. Der Gedanke der ideellen Personeneinheit zwischen Erblasser und Erbe ist nur unter den Blickwinkel der philosophisch beeinflußten Auslegung der Quellen der Spätzeit nachvollziehbar 14 . So hieß es in der meist zitierten 48.Novelle nur: "quamquam nostris legibus una quodammodo persona videtur esse heredis et eius qui hereditatem in eum transmittit,...". Der deutliche Hinweis auf das "Gewissermaßen" zeigt, daß nicht die Identität der Subjektivität von Erblasser und Erbe definiert, sondern nur ein in der Sprache der Novellen nicht außergewöhnliches vergleichendes Bild gegeben werden sollte. Im übrigen kennzeichneten die Römer mit persona noch nicht technisch das individuelle Rechtssubjekt, sondern jeden Menschen 15 . Auch von der Repräsentation des Erblassers durch den Erben 16 sprach Mommsen nicht. Er ging zwar in den Motiven zur Erbenhaftung davon aus, daß der Erbe die Vertretung des Erblassers übernehme 17, meinte damit aber nur die Gleichheit der rechtlichen Stellung. Soweit ersichtlich wurde der Ausdruck repraesentare auch in den Quellen nirgends gebraucht 18. Der Repräsentationsgedanke scheint aber in § 547 ABGB, der einzigen gesetzlichen Vorlage Mommsens, welche die Konstruktionsfrage aufgriff, festgelegt zu sein. Dort hieß es, daß der Erbe den Erblasser vorstelle und beide in Bezie10

Puchta, Pandekten, § 446 und Vorlesungen dazu.

11 Scheurl, Die Erbschaft vor, in und nach ihrem Übergang an den Erben, in: Beiträge zur Bearbeitung des Römischen Rechts, 1853, S.lff.(3f., 18,37); Neuner, Die heredis institutio ex re certa, 1853, S.1,7; Randa, Verhandlungen des 13. Deutschen Juristentages, Bd.l, 1876, S.198ff.(202); ohne besondere Energie: Arndts, Pandekten, § 464, insbesondere Anm.l, § 521, insbesondere Fn.3.

12

Ihering, Die Lehre von der hereditas jacens, in: Abhandlungen aus dem Römischen Recht, 1844, S.147ff.( 153,229). 13

Kuntze, zitiert nach: Wegmann, Begründung des Erbrechts, S.68-71, insbesondere S.70f.; vgl. auch Northoff ("ideelle Personeneinheit"), zitiert nach: Unger, System, § 2, Anm.9. 14

Dazu: Käser: Das römische Privatrecht, 2.Abschnitt, § 281 I 1; kritisch auch: Windscheid, Pandektenrecht, Bd.3, § 528, Fn.7. 15 Eccius, Preußisches Privatrecht, Bd.4, 6.Auflage 1893, § 243; vgl. auch: Unger, System, § 2, Anm.9; Käser, Das römische Privatrecht, l.Abschnitt, 2.Auflage 1971, § 64 I 1, 2.Abschnitt, § 206 I lf. 16

Mayer, Die universelle Nachfolge von Todeswegen nach dem heutigen römischen Rechte, 1840, § 1; vgl. auch: Dernburg, System, § 445 If. 17

Entwurf, S.303, Motive zu § 256. Ebenso: Unger, System, § 2, Anm.8.

2. Kapitel: Universalsukzession und Einheit des Vermögens

123

hung auf einen Dritten für eine Person gehalten würden. Wie aber Unger durch einen Vergleich mit § 1462 und § 1464 ABGB zeigte, war der Ausdruck des "Vorstellens" auch hier nur eine eigentümliche Bezeichnung für die Gleichheit der rechtlichen Stellung. Ebenso diente das - grundlos auf die Beziehung zu Dritten beschränkte - Bild der Personenidentität nur zur Verdeutlichung der Fortsetzung der Vermögensrechte, nicht aber der Persönlichkeit des Erblassers 19. Nach Mommsen trat der Erbe in das Vermögen des Erblassers ein (§ 2). Diese Auffassung dürfte auch am ehesten dem römischen Recht entsprechen. In den Quellen wird von einem "succedere", und zwar von "succedere in locum", "in ius", "in universum (omne) ius defuncti" oder einer "continuatio dominii" 2 0 und gerade in der 48.Novelle von einem "succedere in bona" gesprochen. Wie bei Mommsen ist also von einem "Eintreten an die Stelle" oder "in die Rechte des Erblassers" die Rede 21 . Diese wenig ideelle Erklärung läßt sich auf die schlagwortartige Aussage "Der Mensch vergeht, das Vermögen besteht" zusammenfassen. Erstmals wurde die These von der Fortdauer des Vermögens durch Savigny im System formuliert und wie in Vorahnung künftiger Einwände hinzugefügt: "Durch diese Ansicht wird also das ursprüngliche Verhältnis völlig umgekehrt. Denn anstatt daß ursprünglich der Mensch als die Substanz gedacht werden muß, das Vermögen als Accidens, indem es die Freyheit des Menschen nur modificirt durch Erweiterung, so erscheint uns nunmehr das Vermögen als das Bleibende und Wesentliche, zu welchem sich die einzelnen Inhaber nur als vorübergehende, wechselnde Beherrscher verhalten." 22

Das Vermögen ist also das Bleibende, die Subjekte wechseln. Die Unsterblichkeit ist eine rein sachliche des Begründeten, nicht eine persönliche des Begründers. M i t diesem "schlichten Gedanken" 23 versuchten neben dem

19

Unger , System, § 2, insbesondere Anm.8f. 2 0

So z.B.: Paul., D. 28,2, 11.

21

Mit Quellennachweisen: Käser, Das römische Privatrecht, 1.Abschnitt, §§ 158 I, 54 III 2; 2.Abschnitt, § 198 III; Bernhöft, Zur Reform des Erbrechts, 1894, S.32; Eccius, Preußisches Privatrecht, Bd.4, § 243. 2 2

23

Bd. 1, S.384f.; zu dieser Stelle auch: Hattenhauer, Jura 1983, S.70. Unger, System, § 2, Anm.7.

124

5. Teil: Das Erbrecht des Entwurfes im Spiegel der Zeit

Preisrichter Bruns 24 insbesondere auch die von Mommsen am meisten zitierten Autoren, Unger, Siebenhaar und Windscheid, die eine ideelle Erklärung sogar ausdrücklich ablehnten, den Vermögensübergang zu erklären 25 . Daß Mommsen hier sein Vorbild fand, läßt sich mangels Zitaten nur vermuten. Auch alle sonst verwendeten Lehrbücher und Kommentare hielten sich bei der Charakterisierung der Universalsukzession zurück. Dies war insofern nicht verwunderlich, als das Prinzip der Universalsukzession weitgehend unumstritten war. Festzuhalten bleibt, daß Mommsen Fragen der Konstruktion wohl der Wissenschaft überlassen wollte.

B. Folge - Einheitlichkeit der Erbschaft und deren Bedeutung Anders als Schmitt und die Kommissionen hielt Mommsen zwei Folgen der Universalsukzession für besonders erwähnenswert 26: - Keine Rücksicht auf die Herkunft der Vermögensgüter bei ihrer Vererbung (§ 30 S.l) und - Kein Recht der Erben, gewisse Bestandteile der Erbschaft als Voraus in Anspruch zu nehmen (§ 30 S.2). Da diese Regelungen nur einen rein negativen Inhalt aufweisen, kommt ihnen nur belehrender Charakter zu. Die Bedeutung scheint sich in bloßer Klarstellung zu erschöpfen. Zur genaueren Beurteilung soll ein Blick in die Motive geworfen und eine nähere Analyse der Aussagen versucht werden.

I. Einheitlichkeit

der Erbschaft

M i t § 30 S.l lehnte Mommsen zunächst die Unterscheidung zwischen erworbenem und ererbtem Gut des Erblassers ab 27 .

24

Pandektenrecht, § 95.

25

Unger, System, § 2, insbesondere Anm.7-9; Siebenhaar, Commentar, Bd.3, Anm. zu § 2001; Windscheid, Pandektenrecht, Bd.3, § 528, insbesondere Fn.6f. 2 6 Die von Mertens, Gesetzliche Erbfolge, S.28, insbesondere Fn.32, hief zusätzlich betonte Gleichheit der Erben nach § 29 I des Mommserischen Entwurfes bezieht sich auf die gleiche Größe der gesetzlichen Erbteile der Geschlechter und ist daherrichtigerweise bei der gesetzlichen Erbfolge zu behandeln. 27

Entwurf, S. 157, Motive zu § 30.

2. Kapitel: Universalsukzession und Einheit des Vermögens

125

Im früheren deutschen Recht blieb die Testierfreiheit auch nach ihrer grundsätzlichen Anerkennung zunächst auf fahrende Habe und Geld beschränkt. Dann wurde sie derart erweitert, daß das Erbgut nicht ohne Zustimmung der Familie an Fremde vergeben werden konnte und nur das vom Erblasser selbst erworbene Vermögen, nun allerdings auch Grundbesitz, seiner freien Verfügung unterlag. Dieser Grundsatz blieb bis in die Neuzeit für die Gestaltung des Pflichtteilsrechts in zahlreichen deutschen Partikularrechten maßgebend, womit wie im Recht der französischen coutumes meist ein bestimmter Teil des ererbten Guts der freien Verfügung entzogen wurde 28 . Es ging also um Testierbeschränkungen, um die Bindung des Erbguts an die Familie. Es ging also nicht, wie Mommsen zu glauben schien, um die unterschiedliche Vererbung von erworbenem und ererbtem Gut und die unterschiedliche (gesetzliche) Erbfolge je nach dem Ursprung des Vermögens. M i t § 30 S.l wollte Mommsen auch ausschließen, daß bei ererbtem Gut des Erblassers nach der Herkunft des Vermögens von väterlicher oder mütterlicher Seite unterschieden wurde. Dieser Grundsatz bezog sich anders als der vorgenannte tatsächlich auf eine unterschiedliche Vererbung je nach Ursprung des Vermögens, auf das Fallrecht des deutschen Rechts. Der Rechtspruch "Das Gut bleibt bei dem Blut, woher es gekommen" führte bei kinderloser Ehe zu einem Rückfall des Vatererbe, besonders der Liegenschaften, an die väterliche, des Muttererbe an die mütterliche Familie (patema patemis , materna matemis) 29. In den neueren Rechten hatte das Fallrecht weitgehend an Bedeutung verloren. Die berühmte französiche fente , wonach der Nachlaß, wenn der Erblasser keine Nachkommen, Geschwister oder Abkömmlinge derselben hinterläßt, in eine väterliche und eine mütterliche Hälfte zerlegt wird (Art. 746, 733 CC.), bedeutet keine sachliche Aufteilung nach der Herkunft der Güter, sondern eine ideelle Halbierung, also eine "quotativ typisierende" Abwandlung des alten Fallrechts 30 . M i t § 30 S. 1 wollte Mommsen also die ganze Erbschaft als "einheitliches Vermögen" aufgefaßt wissen, wie es "auch der Anschauung entspricht, welche sich auf Grund des Römischen Rechts in Deutschland Bahn gebrochen hat" 31 . 28

Zur Entwicklung und zum Geltungsbereich dieses Grundsatzes: Staudinger-Boehmer , Erbrecht-Einleitung, Bd. 5, Teil 1, § 14, Rn.21. 2 9

Staudinger-Boehmer , Bd.5, Teil 1, § 1922, Rn.109; Stobbe, Deutsches Privatrecht, Bd.5, §§278 III, 291 I. 30

Staudinger-Boehmer , Bd.5, Teil 1, § 1922, Rn.113. 31

Mommsen, Entwurf, S. 157, Motive zu § 30.

126

5. Teil: Das Erbrecht des Entwurfes im Spiegel der Zeit

Auch das in § 30 S.2 angesprochene Recht, gewisse Gegenstände als Voraus in Anspruch zu nehmen, war deutschen Ursprungs 32 . So wurden beispielsweise bei der Beerbung eines Mannes die für den Gebrauch von Männern bestimmten Sachen (Heergewedde) an die nächsten männlichen, bei der Beerbung einer Frau die für Frauen bestimmten Gegenstände (Gerade) an die nächsten weiblichen Verwandten vererbt 33 . M i t § 30 S.2 wollte Mommsen "mannigfache Nachklänge" an diese "außer Gebrauch" gekommenen Bestimmungen, wie sie z.B. noch im Nordstrander Landrecht oder dem Recht der Landschaft Fehmarn vorhanden seien, beseitigen, was nur "als wünschenswert erscheinen" könne 34 . Mommsen hätte noch §§ 1899, 1903 Zürch.Gsb. und II, 1 §§ 502 - 539 PrALR nennen können. Die preußischen Bestimmungen enthielten detaillierte subsidiäre Bestimmungen zu den Provinzialgesetzen und Statuten über "Heergeräthe, Gerade oder Nistel", verfolgten allerdings die Tendenz, die Spezialsukzessionen auf ein geringes Maß zurückzuführen 35 . Bereits bei der Schlußrevision hatte Svarez einen ähnlichen Wunsch wie Mommsen geäußert: "Dies §§. dienen bloß zur Direktion für die Verfasser der Provinzialgesetzbücher. Hoffentlich werden aber diese die ganze, auf unsere jetzige Zeit und Sitten gar nicht mehr passende altdeutsche Gerade- und Nistel-Succession abschaffen." 36

Dieser Wunsch sollte sich langsam erfüllen. Das subsidiäre Erbrecht des Fiskus in Heergeräthe und Gerade wurde durch Kabinettsordre vom 21. Juni 1805 37 aufgehoben. Durch besondere Gesetze in einzelnen Provinzen, teils

32

Es darf nicht etwa mit dem heutigen Vorausvermächtnis des § 2150 BGB verwechselt werden, vielmehr war es Ausdruck der Spezialsukzession. 33

Stobbe, Deutsches Privatrecht Bd.5, §§ 278 III, 293; Gerber, System, § 296.

34

Entwurf, S. 157f, Motive zu § 30.

35 Dernburg, Bd.3, 1880, §98.

Lehrbuch des Preußischen Privatrechts und der Privatrechtsnormen des Reichs,

3 6 Abgedruckt bei: Koch-Hinschius, Allgemeines Landrecht, Bd.3, 6. Auflage 1879, Anm.49 zu II, 1 § 502. Im gedruckten Entwurf hieß es allerdings, daß die Bestimmungen aufgrund der Verbreitung von Nistel, Gerade und Heergeräthe und der Unzahl der durch sie veranlaßten Streitigkeiten nötig seien, ebenda.

3

Abgedruckt bei: Koch-Hinschius, Allgemeines Landrecht, Bd.3, hinter II, 1 § 502.

2. Kapitel: Universalsukzession und Einheit des Vermögens

127

zeitgleich mit der Entstehung des Mommsen'schen Entwurfes 38 , wurde das Institut selbst beseitigt 39 .

II. Mißachtung der Zweckbestimmung des Vermögens M i t der Entscheidung für die Einheit des Vermögens und damit für die Universalsukzession lehnte Mommsen also deutsch-rechtliche Grundsätze ab. Sicherlich entsprach dies seinem oft erhobenen Anspruch auf Rechtssicherheit und Rechtsklarheit. Auch zeigt sich Mommsens Tendenz, außer den größeren Gesetzgebungen die in seiner schleswig-holsteinischen Heimat geltenden Partikularrechte heranzuziehen. Insoweit dürfte sich die schon im Vorwort des Entwurfes und seiner Biographie zum Ausdruck gekommene Heimatverbundenheit und seine richterliche Tätigkeit in Schleswig, die ihm diese Rechte vertraut machen mußte, bemerkbar machen. Soweit es angesichts des Umfangs der Aufgabe und der Kürze der Zeit möglich war, schien Mommsen sich also um Vollständigkeit bemüht zu haben. Damit muß Roths 40 Kritik an der mangelnden Berücksichtigung kleinerer Statuten relativiert werden. Neben diesen mehr vordergründigen Argumenten lassen sich bei näherer Betrachtung aber auch grundsätzliche inhaltliche Positionen erkennen. So wurden mit der Gleichförmigkeit und Einheitlichkeit der Vererbung der Sachgüter wiederum liberale Ziele verfolgt. Sie spiegelte nämlich die grundsätzliche Rechtsgleichheit aller Bürger in der Uniformität ihrer wirtschaftlichen Güter wider 41 . Wie das Privaterbrecht die Freiheit, so flankiert die Universalsukzession die Gleichheit der Bürger. Ein Blick auf die ökonomischen Auswirkungen lenkt die Aufmerksamkeit noch auf einen weiteren Aspekt: Mit der Ablehnung des Zerfalls des Vermögens in verschiedene Komplexe wurde, zumindest bei der gesetzlichen Erbfolge, eine Berücksichtigung der unterschiedlichen wirtschaftlichen und kulturellen Zweckbestimmung des Vermögens unmöglich. Während es gerade Sinn und Zweck der deutschrechtlichen Spezialsukzessionen gewesen war, den Nachlaß nach der natürlichen Verschiedenheit seiner Gegenstände und der Eignung der Nachfolger

38

So für die rechts der Elbe gelegenen Teile der Provinz Sachsen durch Gesetz vom 22. Mai 1874, Dernburg, Preußisches Privatrecht, § 98, Fn.2. 39

§293.

Dazu: Dernburg,

Preußisches Privatrecht, § 98, Fn.2; Stobbe, Deutsches Privatrecht, Bd.5,

40

Jenaer Literaturzeitung 1876, S.641. 41

Vgl. dazu: Staudinger-Boehmer , Bd.5, Teil 1, § 1922, Rn.104.

128

5. Teil: Das Erbrecht des Entwurfes im Spiegel der Zeit

zur Fortsetzung der Aufgaben des Erblassers zu unterscheiden 42, wird durch die Universalsukzession alles nach gleichen Regeln vererbt. Kapitalvermögen, Grundeigentum, Hausrat etc. gehen als Ganzes oder nach Bruchteilen (§ 3) ungeachtet der jeweiligen Geeignetheit auf den oder die Erben über. Damit bedeutete die Ablehnung der Spezialsuk Zessionen also auch größtmögliche Zurückhaltung gegenüber der Bestimmung der Verwendung und der Verteilung der Vermögensgüter und damit geringstmögliche Einflußnahme auf die Gestaltung des sozialen und wirtschaftlichen Lebens. Das Fehlen besonderer Bestimmungen über die Nachfolge der Töchter und Söhne in die persönliche Habe der Mutter bzw. des Vaters zeigt darüber hinaus, daß es Mommsen nicht auf die damit verbundene Stärkung des Familiengefühls und des Traditionsbewußtseins ankam. Den immateriellen Wert solcher Bestimmungen erwog er überhaupt nicht, ihm kam es allein auf die rein rechtliche Betrachtung des Nachlasses als Zusammenfassung von Rechten und Pflichten und die Gleichheit der Erben, insbesondere auch der Geschlechter (§ 29 I), an.

C. Würdigung - Liberale Aufgabe des Erbrechts und allgemeine Einordnung Die Betrachtung des Nachlasses als rein rechtliche Zusammenfassung von Rechten und Pflichten dürfte die Berechtigung der Forderung Windscheids 43 , wonach Juristen, Politiker, Volkswirte etc. bei der Gesetzgebung zusammenwirken müssen, bestätigen. Darüber hinaus läßt sich die vom Volkswirt Scheel gerügte wirtschaftspolitische Enthaltsamkeit als Mittel zum Zweck bewerten: Mommsen ging mit keinem Wort auf die These seines späteren Kritikers ein, wonach gerade die rein formale Gleichheit zur Gefahrdung der Existenz der wirtschaftlich Schwächeren und damit zur sozialen Frage geführt hatte. Aufgabe seines Erbrechts war nicht deren Lösung durch die Gestaltung der Güterverteilung für die Zukunft. Vielmehr kam es ihm darauf an, den Einfluß des Staates bei der Verteilung des Eigentums möglichst gering zu halten. Ganz im wirtschaftspolitisch-liberalen Sinn diente sein Erbrecht nur dem Schutz, nicht aber der Gestaltung der Eigentumsordnung.

42

43

Gerber, System, § 297; Staudinger-Boehmer, Die Aufgaben der Rechtswissenschaft, S. 112.

§ 1922, Bd.5, Teil 1, Rn.108.

2. Kapitel: Universalsukzession und Einheit des Vermögens

129

Dogmatisch gesehen war Scheels Kritik also auch eine Kritik an dem nirgends explizit angegriffenen römisch-rechtlichen Grundsatz der Universalsukzession. Sie war die Mißbilligung der Vorstellung, daß die Vermögensrechte nicht nur durch die zufallige äußere Vereinigung in der Hand eines Einzelnen, sondern durch die Persönlichkeit ihres Inhabers zusammengehalten werden und damit eine Einheit bilden. Der Wunsch nach der Unterscheidung des Nachlasses nach der Verschiedenheit seiner Gegenstände und der Geeignetheit der Erben zu deren Übernahme war damit auch ein Plädoyer für die deutsch-rechtlichen Spezialerbfolgen. Auf diesem Hintergrund gewinnt es auch an Bedeutung, daß Mommsen die Bestimmungen der neueren Gesetzbücher über Sondererbfolgen verschwieg. Daß er sich nicht mit dem preußischen Recht auseinandersetzte, leuchtet insofern ein, als es die besonderen Sukzessionsarten nur ergänzend zum Partikularrecht regelte, zu ihrer Reduzierung tendierte und daher nicht grundsätzlich von seiner Auffassung abwich. Verwunderlich ist aber, daß er das Zürcher Recht, das Sondererbfolgen konstitutiv begründete, überhaupt nicht erwähnte. Aufgrund der häufigen Heranziehung wäre es zu einfach, von einer bloßen Unkenntnis Mommsens auszugehen. Vielmehr läßt eine genauere Betrachtung auf ein "taktisches Verschweigen" schließen: Das zitierte Nordstrander Landrecht stammte aus dem Jahre 1582, die in Frage stehenden Bestimmungen Fehmarns beruhten auf einer Verordnung von 1563 44 . Auf den ersten Blick erweckte Mommsen also den Anschein, daß die Vorzugsrechte allein in völlig veralteten Rechten vorkamen, ihre Abschaffung also tatsächlich nur als "wünschenswerth" erscheinen konnte. Durch das Verschweigen der neueren Rechte konnte er sich daher auf eine einleuchtende Behauptung zurückziehen und sich damit einer argumentativen Auseinandersetzung, bei der grundsätzliche Positionen hätten bezogen werden müssen, entziehen. Zusammenfassend gesehen muß Mommsen allerdings zugute gehalten werden, daß die Universalsukzession durch die Rezeption weitgehend Geltung erlangt hatte, in der Durchführung am wenigsten Schwierigkeiten bereitet und den Träger des Nachlasses in einer dem Rechtsklarheitspostulat entsprechenden Weise festlegt, was den Interessen der Gläubiger des Erblassers und des wirtschaftlichen Verkehrs entspricht. Damit zeigt sich die Kongruenz der "Gründe" für das Erbrecht 45 einerseits und für die Universalsukzession andererseits. So finden sich interessanterweise die fiir das Erbrecht genannten Argumente bei denjenigen Pandektisten, die sich insoweit der Diskussion

44

Paulsen , Lehrbuch, §§ 2 IV, V 2, 190-192.

45

Dazu oben bei 5.Teil, l.Kap. D II 1 und 2. 9 Andres

130

5. Teil: Das Erbrecht des Entwurfes im Spiegel der Zeit

entzogen, als Begründung der Universalsukzession. Beispielsweise sah Keller die Gesamtrechtsnachfolge als "das wesentliche Organ, wodurch der rechtliche Zusammenhang zwischen den auf einander folgenden Generationen von Menschen vermittelt wird" 4 6 , was der Begründung des Erbrechts mit den "natürlichen menschlichen Gefühle" entsprach. Nach Windscheid war die Universalsukzession keine "metaphysische Notwendigkeit", sondern eine rein praktische Rücksicht "zuerst auf die himmlischen, und dann aber auch auf die irdischen Gläubiger", ohne die "der Antheil eines jeden Erwerbers an den Schulden erst durch Schätzung des an ihn Gelangten bestimmt werden" müßte 47 . Damit wurde die Universalsukzession wie das Erbrecht mit den "Bedürfnissen des Verkehrs" begründet. Andererseits konnte Puchta, der das Erbrecht ungewöhnlich ausfuhrlich begründete, bei der Universalsukzession keine neuen Argumente mehr anfuhren, sondern nur auf die Notwendigkeit des Übergangs der Obligationen verweisen 48 . Erklärend muß hinzugefügt werden, daß Puchta im Gegensatz zu Windscheid 49 mit der h.M. 5 0 davon ausging, daß Obligationen sich nicht von ihrem Subjekt trennen ließen und daher nur durch Universalsukzession, nach seiner Konstruktion durch den Übergang seiner Persönlichkeit, übertragbar seien 51 . Insofern wird nochmals deutlich, weshalb Mommsen die Motive zum "ob" und "wie" des Vermögensübergangs vermengte. Er war insoweit ganz der (herrschenden) römisch-rechtlichen Auffassung verfangen, wonach Erbrecht, Vermögensbegriff und Universalsukzession unauflösbar miteinander verbunden waren und sich gegenseitig bedingten. Nach diesen Feststellungen läßt sich in bezug auf die Konstruktion der Universalsukzession ergänzen, daß es nach Mommsen "das Recht" war, das "das Vermögen eines Verstorbenen nicht auseinanderfallen, sondern als Ein-

46

Pandekten, 1861, §455.

47

Pandektenrecht, Bd.3, § 528, Fn.2,5.

48

Vorlesungen, § 446.

49

Zu dessen Argumentation: Wegmann, Begründung des Erbrechts, S.94f. 50

Gegen die Zulässigkeit der Singularsukzession in Obligationen auch: Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Bd.3, 1840, S.15, Fn.(f); Hasse, AcP, Bd.5 (1830), S.21; zum ganzen Streit: Wegmann, Begründung des Erbrechts, S.35-37,92-95, m.w.N. 51 Vorlesungen, §§ 280,446, zu Puchtas Konstruktion der Universalsukzession oben bei 5.Teil, 2. Kap. A.

2. Kapitel: Universalsukzession und Einheit des Vermögens

131

heit, als ein Ganzes auf Andere übergehen läßt" 52 . Damit war also auch die rechtsdogmatische Konstruktion des "Ob" kongruent zu der des "Wie" des Vermögensübergangs: Hilfsmittel war jeweils das positive Recht. Insofern verwischte er Savignys Gedanken, der allein die Fragen nach Grund, Art und juristischer Form des Vermögensübergangs voneinander zu trennen suchte53.

D. Vorstellungen der Verfasser des BGB und diesbezügliche Kritik Wie Mommsen ging Schmitt von der römisch-rechtlichen Vorstellung der Einheit des Vermögens aus. In Anlehnung an Savigny 54 und mit "allen geltenden Rechten" definierte er das Vermögen als eine "alle Rechte und Verbindlichkeiten derselben Person umfassende(n), aber vom rechnerischen Aggregat der Bestandteile verschiedene(n) höhere(n) Einheit" und kam so zur Universalsukzession. Schon 1875 hatte Schmitt in einer Vorlage betont, daß es den geltenden Anschauungen widerspreche, an die unterschiedliche Zweckbestimmung oder Herkunft der Nachlaßgegenstände allgemeine Rechtsfolgen zu knüpfen. Im Entwurf verwarf er das germanische Recht nur noch knapp: Sein Rechtsgedanke sei nicht verwertbar, da der Gegenwart dessen reale Unterlage fehle. "So weit man" die Berücksichtigung der Herkunft der Güter oder eines Voraus für die Söhne oder Töchter "zulassen will", würde sie zur Erbteilung gehören und "vorzugsweise der Landesgesetzgebung zu überlassen sein" 55 . Die 1.Kommission teilte Schmitts Auffassung. Mit Rücksicht auf die fundamentale Bedeutung hielt sie es über Schmitt hinaus für zweckmäßig und angemessen, die zwingende Natur der Universalsukzession zu betonen (§ 1749 I I 1.Entwurf) 56 . Die Kritiker des 1.Entwurfes stritten sich weniger um die grundsätzliche Berechtigung der Gesamtnachfolge als um die Notwendigkeit ihrer gesetzli-

52

Entwurf, S.135, Motive zu §§ 1-3.

53

System, Bd. 1, S.380-385.

54

System, Bd. 1, S.375f., Schmitt selbst zitierte Savigny allerdings nicht. 55

Zum Ganzen: Vorlage Nr. 17 von 1875, Bemerkungen § 2 IV; in der Vorlage Nr.5 von 1876, in: Schubert , Erbrecht, Teil 2, 1984, S.889ff., ging Schmitt wie selbstverständlich von der Universalsukzession aus, Vorschlag Nr.l, S.l (zitiert nach der Original-Paginierung); Begründung, S.33f.,579,622. 56

Protokoll der 13.Sitzung vom 25.10.1875; Motive, Bd.V, S.3, zu §§ 1749-1752.

132

5. Teil: Das Erbrecht des Entwurfes im Spiegel der Zeit

chen Regelung. Dabei traten die unterschiedlichen Auflassungen über die Aufgaben der Gesetzgebung zu Tage. Während teils die fundamentale Bedeutung der Art des Vermögensübergangs betont wurde 57 , wurde die Universalsukzession überwiegend für derart selbstverständlich gehalten, daß eine ausdrückliche Erwähnung im Gesetz lehrbuchhaft und unnötig sei. Das Gesetz habe lediglich die genaueren Normen festzusetzen, unter welchen der Übergang von Todes wegen erfolge, nicht aber in das Gebiet der wissenschaftlichen Forschung überzugreifen 58. Nur Bernhöft griff den Grundsatz selbst an und dabei auf das Problem der Aushöhlung der Stellung des Erben und die Übernahme seiner Aufgabe durch die Gerichte über. Bis Justinian sei die Stellung des Erben durch Liquidation der Erbschaft, Schuldenhaftung und Recht auf den Überschuß gekennzeichnet gewesen. Diese Folgen seien durch den Übergang der Rechte und Pflichten durch Universalsukzession vermittelt worden. Im gemeinen Recht sei die Liquidation und Haftung durch den Erben wegen der Anerkennung des Testamentsvollstreckers und der Möglichkeit gerichtlicher Erbschaftsregulierung nur noch eine Frage der Zweckmäßigkeit; geblieben sei nur das Recht auf den Überschuß, der aber auch dem Staat zufallen könne. Ein Erbe sei damit nicht mehr notwendig, wenn er vorhanden sei, sei er nicht unbedingt Universalsukzessor. Daher bestehe kein Bedürfnis mehr für die Universalsukzession. Sie widerspreche wegen der altrömischen Formulaijurisprudenz dem Willen des Erblassers, hindere die Entwicklung eines modernen Erbrechts und zwinge zu einer Reihe komplizierter Institute, wie z.B. des beneficium inventarii, des beneficium seperationis oder des Antrittserwerbs. Wie Scheel betonte Bernhöft, daß es nicht unberechtigt sei, wenn das römische Erbrecht für manche gemeinrechtliche Mißstände verantwortlich gemacht werde. So sei die Teilung nach Bruchteilen für gewisse Vermögensstücke, insbesondere Landgüter, ungeeignet. Sie führe meist zum Verkauf unter Wert und widerspreche dem Familiengefühl sowie dem Erblasserwillen. Daher sei das Prinzip der Universalsukzession aufzugeben. Nach dem "heutigen" Rechtsbewußtsein müsse der Nachlaß zunächst als selbständiges Vermögen erhalten bleiben und erst nach der Befriedigung der Nachlaßgläubiger nach dem Willen des 57

Petersen, Die Berufung zur Erbschaft und die letztwilligen Verfügungen überhaupt nach dem Entwürfe eines Bürgerlichen Gesetzbuches für das Deutsche Reich, in: BekkerlFi scher, Beiträge zur Erläuterung und Beurtheilung des Entwurfes eines Bürgerlichen Gesetzbuches für das Deutsche Reich, Heft 16, 1889, S.34f.; Eck, Die Stellung des Erben, dessen Rechte und Verpflichtungen in dem Entwürfe eines Bürgerlichen Gesttzbuches für das Deutsche Reich, ebenda, Heft 17, 1890, S.lf. 58

Z.B.: Baron, Das Erbrecht in dem Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuchs für das deutsche Reich, in: AcP, Bd.75 (1889), S.176ff.(S.215); Goldschmidt, Kritische Erörterungen zum Entwurf eines Bürgerlichen Gesetzbuchs für das Deutsche Reich, Heft 1, 1889, S. 116; Bernhöft, Zur Reform des Erbrechts, S.41.

2. Kapitel: Universalsukzession und Einheit des Vermögens

133

Erblassers verteilt werden. Die Stellung des Erben sollte sich nur noch durch die Befugnis zur Nachlaßregulierung oder zur Einwirkung auf den Nachlaßverwalter von der des Vermächtnisnehmers unterscheiden 59. Ähnliche Gedanken lassen sich aus einem Artikel in der Rostocker Zeitung vom 5. April 1889 entnehmen. Dort wurde die Streichung des § 1749 I I 1.Entwurf gefordert. Begründet wurde dies damit, daß kein Bedürfnis dafür bestehe, für jeden Nachlaß einen Erben zu haben und dem Willen des Erblassers nicht ohne Not Schranken gesetzt werden dürften 60 . Die 2.Kommission kümmerte sich nicht um diese grundsätzlichen Einwendungen. Sie überdachte nur, ob in § 1749 I 1.Entwurf die Worte "als Ganzes" zu streichen seien und der Begriff der Erbschaft nur durch Inhalt und Form der einzelnen Rechtssätze klarzustellen sei. Dabei beschränkte sie sich auf das bereits dargestellte Konstruktionsproblem der Pandektisten, ob der Schwerpunkt auf den Übergang einer Vermögenseinheit, die Fortsetzung der Persönlichkeit oder das succedere per universitatem zu legen sei. Schließlich überwies sie das "Problem" der Redaktionskommission61, welche die Worte (§ 1922 BGB) und so letztlich die Konstruktion Mommsens beibehielt. § 1749 I I 1.Entwurf wurde als selbstverständlich und im Hinblick auf § 1753 l.Entwurf überflüssig gestrichen 62.

£. Mommsens Einfluß Die Kritiken lassen auch Schlüsse auf eine bisher außer Acht gelassene Frage zu: Die Gesetzgebungstechnik Mommsens, die in einem späteren Kapitel umfassend gewürdigt werden soll. Bereits hier sei bemerkt, daß auch Mommsen sich den Vorwurf von Goldschmidt und Baron, wonach Definitionen der Wissenschaft vorzubehalten seien 63 , gefallen lassen müßte. Damit

59

Zum Ganzen: Bernhöft , Zur Reform des Erbrechts, S.32-50. 6 0

Zusammenstellung der gutachtlichen Aeußerungen, Bd.5, S.5.

61

Protokolle der Kommission für die zweite Lesung des Entwurfs des Bürgerlichen Gesetzbuchs, Bd.V, 1899, S.6573f., zu §§ 1749-1751. 62

Eine versteckte Berücksichtigung der Zweckbestimmung des Vermögens, ein Rest des Geradeprinzips, dürfte sich nicht nur in der älteren Fassung der Eigentumsvermutung des § 1362 II BGB, wie Mitteis/Lieberich, Deutsches Privatrecht, 1981, § 18 I 1 annehmen, finden. 63

Dazu oben bei Fn. 5 8.

5. Teil: Das Erbrecht des Entwurfes im Spiegel der Zeit

134

trifft auch auf ihn die Vermutung Bernhöfts zu, nach der die ausdrückliche Sanktion des Prinzips "wohl dem persönlichen Wunsche der Redaktoren entsprang, eine Konstruktion, an die sie als Juristen gewöhnt waren, gegen alle Anfechtungen zu sichern" 64 .

Bei einer derart allgemeinen Verfangenheit in römisch-rechtliche Konstruktionsfragen kann von einem direkten Einfluß Mommsens auf Schmitt und das BGB keine Rede sein. Er hat allenfalls mit dazu beigetragen, daß die Universalsukzession als selbstverständlich angesehen wurde. Da Mommsen der einzige war, der vor Schmitt eine ähnliche Aufgabe wie dieser zu bewältigen hatte, und so nicht einfach durch Nichtbeachtung übergangen werden konnte, hätte ein Reformvorschlag oder zumindest eine Diskussion der Berechtigung der Universalsukzession wahrscheinlich dazu geführt, daß auch Schmitt sich damit auseinandergesetzt hätte. Andererseits darf nicht verkannt werden, daß Mommsen mit umfassenden Reformvorschlägen insbesondere bei der Juristischen Gesellschaft und Schmitt wohl nicht die allgemeine Anerkennung gefunden hätte, die ihm tatsächlich zuteil wurde. Einer Überlegung wert gewesen wäre aber eine zeitgemäße Berücksichtigung des Ursprungs des Vermögens. So hätte beispielsweise bestimmt werden können, daß das Vermögen des vorverstorbenen Ehegatten im Falle der Wiederheirat des Überlebenden an die gemeinsamen Abkömmlinge fiel. Außer durch ein aufschiebend bedingtes Erbschaftsvermächtnis hätte dieses Ziel durch eine Sondererbfolge nach dem überlebenden Ehegatten erreicht werden können. Im letzteren Fall wäre eine Ausgestaltung als Testierbeschränkung zwar mit der liberalen Grundtendenz des Entwurfes unvereinbar gewesen, zum Schutz der Abkömmlinge hätte aber zumindest eine Ersatzpflicht des neuen Ehegatten für die durch dieses Vermögen erlangten Vorteile statuiert werden können. Denkbar wäre auch eine Abwandlung des aus der altgermanischen Auffassung der Schenkung als beschränkter und rückfallbarer Erwerb stammende und in einzelnen deutschen Partikularrechten auftretende droit de retour gewesen. Dieses hatte beispielsweise dazu geführt, daß die Morgengabe, die der Mann der Frau als Zeichen der vollzogenen Ehe schenkte, bei Auflösung der Ehe zurückfiel 65 . Der zugrundeliegende Gedanke hätte derart ins "Moderne" übertragen werden können, daß Geschenke des Ehegatten durch Sondererbfolge an diesen oder seine Aszendenten fielen, wenn der bedachte Ehegatte starb und die Ehe kinderlos geblie-

64

Zur Reform des Erbrechts, S.41 65

Dazu: Mitteis!Lieberich,

Deutsches Privatrecht, §§ 49 I 2, 16 I 2 d).

2. Kapitel: Universalsukzession und Einheit des Vermögens

135

ben war. Der Rückfall der Hornungsgabe des Vaters bei Tod seines unehelichen Kindes 66 wäre zwar angesichts des Art. 6 V GG heute nicht mehr diskutabel, Ende des 19.Jahrhunderts aber keinesfalls unvorstellbar gewesen. Die völlige Übergehung dieses Gedankens durch Mommsen erstaunt umso mehr, als nach Art. 747 CC. jegliche Geschenke bei Tod eines kinderlosen Deszendenten an den gebenden Aszendenten zurückfielen. In bezug auf den Schenkungs- oder Erberwerb unehelicher Kinder wurde dieses droit de retour durch Art. 766 CC. sogar auf die ehelichen Deszendenten des schenkenden vorverstorbenen Elternteils erweitert 67 . Daß Mommsen die Sondereibfolgen des sonst so oft zitierten Code Civil - abgesehen vom Adoptionsrecht 68 - keines Gedankens würdigte, sondern jegliche Berücksichtigung des Ursprungs des Vermögens mit dem Hinweis auf die Einheitlichkeit der Erbschaft nach römischen Recht unterband, zeigt nochmals, wie sehr er sich diesem verpflichtet fühlte und wie ängstlich er - wie Scheel nachwies vordergründig - dem formalen Gleichheitsgedanken anhing.

66

Dazu: Mitteis/Lieberich,

Deutsches Privatrecht, §§ 49 I 2, 21 II 2.

67

Zum Rückfallrecht des Code Civil: Zachariä von Lingenthal , Handbuch des Französischen Civilrechts, Bd.4, 5. Auflage 1853, § 608; Staudinger-Boehmer, Bd.5, Teil 1, § 1922, Rn.113. 68

Dazu unten bei 5.Teil, 6.Kap. A II 4.

136

5. Teil: Das Erbrecht des Entwurfes im Spiegel der Zeit

Drittes

Kapitel

Antrittserwerb und Freiheit des Erben Die erste Abweichung des heutigen BGB von Mommsen zeigt sich bei der Gestaltung des Erbschaftserwerbs. Während Mommsen ganz im Sinne des auch in seiner schleswig-holsteinischen Heimat geltenden1 römisch-rechtlichen Antrittsprinzips erläuternd zu § 10 per Legaldefinition bestimmte: "Die Erwerbung einer angefallenen Erbschaft geschieht durch die Erklärung des Willens, Erbe zu sein (Antretung der Erbschaft)" (§219 I),

geht § 1942 BGB von dem deutsch-rechtlichen Grundsatz des Vonselbsterwerbs aus. Nach Mommsen gab also erst die Annahmeerklärung, nach dem BGB schon die Berufung ein Recht an der Erbschaft. Bei Mommsen war der Erwerb also aufschiebend, im BGB dagegen auflösend bedingt. Die Annahmeerklärung bedeutet heute nur den Verzicht auf das Ausschlagungsrecht. Der Vorstellung, daß das Vermögen infolge des Erbfalls seinen Träger wechsele, entspricht es wohl am ehesten, den Erwerb mit dem Anfall der Erbschaft zeitlich zusammenfallen zu lassen. So schlug Schmitt bereits 1876 in den Vorberatungen vor, den Nachlaß kraft Gesetzes von selbst, ipso iure, auf den Erben übergehen zu lassen2 und bezeichnete die gegensätzliche Regelung Mommsens als eine der Hauptabweichungen von seinem Entwurf 3 . Die 1.Kommission schloß sich den Vorschlägen Schmitts an und bestätigte sie 1887 in den Hauptberatungen. Die Kritiker des 1.Entwurfes nahmen auf das Prinzip des Vonselbsterwerbs kaum Bezug, wodurch auch die 2.Kommission ohne Auseinandersetzungen daran festhalten konnte. Aufgrund dieser Diskrepanz fragt sich, wie Mommsen seine nochmals 1876 in einem Gutachten für den 13. Deutschen Juristentag zur Frage:

1

Paulsen, Lehrbuch, §§ 172,174; Esmarch, Handbuch des Erbrechts im Herzogthume Schleswig, 1842, §§ 53,52, wies daraufhin, daß der römische Begriff der Suität veraltet sei und daher auch für die sui das Antrittsprinzip gelte; vgl. dazu auch unten bei Fn.lOf. 2 Vorlage Nr.5 von 1876, Vorschlag Nr.l, Bemerkungen §§ 1-3, S.l-11. Mit überwiegender Mehrzahl hatten die Redaktoren in der 12.Konferenz vom 23.1.1875 für den Antrittserwerb gestimmt, Protokoll teils abgedruckt in: Schubert, Materialen, S.247. 3

Begründung, S.36, dazu oben bei 4.Teil, 4.Kap.

3. Kapitel: Antrittserwerb und Freiheit des Erben

137

"Soll in dem gemeinsamen bürgerlichen Gesetzbuch für Deutschland bestimmt werden, daß der Erbschaftserwerb ipso jure stattfinde?"

von ihm propagierte 4 Entscheidung begründete und wie er die zeitliche "Lücke" zwischen Erbfall und Antritt mit dem Grundsatz der Universalsukzession vereinbarte 5.

A. Begründung des Antrittsprinzips Zur besseren Bewertung der Argumente sollen die Begründungen im Entwurf und im Gutachten für den Juristentag gegenübergestellt werden.

I. Begründung im Entwurf Die noch nicht einmal eine Seite umfassenden Motive zu § 219 I folgten dem dreistufigen Aufbau, an dem sich Mommsen bei fast allen Erläuterungen orientierte: - Darstellung des römischen Rechts, - Gegenüberstellung der neueren Gesetzbücher, - inhaltliche Argumentation. Diesem Aufbau soll im folgenden nur in Grundzügen gefolgt, darüber hinaus aber versucht werden, Mommsens Gedankengang inhaltlich zusammenhängend nachzuvollziehen. 1. Gleichheit der Erben beim Anfall der Erbschaft Bei der Darstellung des römischen Rechts6 betonte Mommsen die Unterscheidung zwischen den durch Antritt erwerbenden heredes voluntarii und den sui heredes. Bei letzteren trete der Erwerb ipso iure ein und könne nur durch das beneficium abstinendi wieder rückgängig gemacht werden.

4

Verhandlungen, Bd.l, S.13ff.

5 Die Entwicklung des Anfall- und des Antrittsprinzips wurde in der Dissertation von Brenne, Erbanfall- und Erbantrittsprinzip in der neueren deutschen Privatrechtsgeschichte, 1959, umfassend dargestellt. Dort findet sich insbesondere auch eine Zusammenstellung, aber kaum eine Würdigung der Argumente, die auf dem Juristentag und bei den Gesetzgebungsarbeiten für den einen oder anderen Grundsatz geltend gemacht wurden. 6

Entwurf, S.283, Motive zu § 219.

138

5. Teil: Das Erbrecht des Entwurfes im Spiegel der Zeit

Die erste Abweichung Mommsens vom römischen Recht ergibt sich aus dem Verweis auf die Gleichstellung der Erben durch § 10, der dem § 2010 Sächs.Gsb. nachgebildet war. Danach sollte im Anschluß an das ältere deutsche Recht und die neueren Gesetzbücher7 durch den Anfall allgemein ein vererbliches Recht entstehen. Ziel war dabei die Verhinderung des "bedenkliche(n)" Wegfalls der Berufung der extranei bei Tod vor Antritt der Erbschaft, dem schon das neuere römische Recht durch die Bestimmungen über die Transmission entgegengetreten war 8 . Bei näherer Betrachtung zeigt sich, daß die Frage, ob mit dem Anfall der Erbschaft ein vererbliches Recht des Erben entsteht, im Grunde ein Problem der Ausgestaltung und nicht der Begründung des Antrittsprinzips ist. Der Hinweis in den Motiven zu § 219 I ist daher systematisch unpassend. Weshalb hielt Mommsen ihn hier also einer Betonung wert? Zum einen wollte er wohl die bisher erreichten Ergebnisse repetieren: Die Berufung zur Erbfolge sollte nicht nur die Möglichkeit des Erbschaftserwerbs, sondern zumindest allgemein ein vererbliches Recht auf die Erbschaft geben. Damit war zugleich das hier interessierende Problem nach den Anforderungen an deren Erwerb eingeleitet. Es stellte sich nämlich zwangsläufig die Frage, ob der Anfall wie im deutschen Recht auch bereits ein Recht an der Erbschaft begründet oder ob, wie im römischen Recht, zusätzlich eine Annahmeerklärung nötig war. Wie die Betonung der Gleichstellung der Erben gegenüber dem römischen Recht zeigt, erwähnte Mommsen die durch den Anfall der Erbschaft erfolgende Entstehung eines vererblichen Rechts wohl nicht nur aus stilistischen Gründen. Vielmehr scheint es, daß er seine angeblich "freie Stellung" gegenüber dem römischen Recht, deren er sich im Vorwort zu seinem Entwurf rühmte 9 , belegen wollte. So wurde in den Motiven zu § 10 auch die Übereinstimmung mit dem "älteren Deutschen Recht" hervorgehoben. Was Mommsen dort nur andeutete10, erläuterte er im Gutachten: Der Grundsatz "Der Todte erbt den Lebendigen" habe sich durch die Vererblichkeit des Rechts auf die Erbschaft partikularrechtlich, namentlich in Holstein, in "modificirter 7

Richtig zitiert wurden, Entwurf, S.139, Motive zu § 10: I, 9 § 370 PrALR, Art. 781 CC., §§ 537,809 ABGB, §§ 1968,2083 Zürch.Gsb., Art.225,235 Hess.E., 2010 Sachs. Gsb. 8

Entwurf, S. 139f., Motive zu § 10.

9

Entwurf, Vorwort, S.IV.

10

Im Entwurf, S.139, Motive zu § 10, schien Mommsen davon auszugehen, daß in Holstein das Prinzip des Vonselbsterwerbs galt.

3. Kapitel: Antrittserwerb und Freiheit des Erben

139

Weise" erhalten 11 . Da das deutsche Recht überhaupt keine Gesamtnachfolge gekannt habe, bestritt Kühnast 12 später diese auch vom Reichsgericht 13 behauptete Weitergeltung des deutsch-rechtlichen Grundsatzes. Da sie zudem nur die Ausgestaltung und nicht das Prinzip betrifft, darf sie nicht überbewertet werden. Wichtiger ist die Begrüßung der Gleichstellung der Erben. Sie zeigt, worauf es Mommsen bei der Abweichung vom römischen Recht wirklich ankam: auf die dem liberalen Ideal entsprechende Gleichheit der Erben.

2. Gleichheit der Erben beim Erwerb der Erbschaft Auch die Erwägungen zur Art des Erbschaftserwerbs beginnen mit dem Hinweis auf die Gleichbehandlung der unter väterlicher Gewalt des Erblassers stehenden und der übrigen Erben durch die neueren Gesetzbücher. Die Unterscheidung des Zürcher Gesetzbuches, wonach gesetzliche Erben die Erbschaft von Rechts wegen (§ 1986), Testaments- und Vertragserben durch Antritt erwarben (§§ 2082, 2123), wurde nur in einem Satz abgelehnt: Für eine Differenzierung fehle es an einem "inneren Grund" 14 ; ein schlagwortartiges Argument, das uns noch des öfteren begegnen wird. Hier zeigt sich wieder das Streben nach Gleichstellung der Erben und die konkrete Bedeutung des liberalen Gleichheitsideals für Mommsen: Ungleichbehandlungen und damit Ausnahmen bedurften eines besonderen Grundes.

3. Geringschätzung des preußischen Rechts Erstes "Argument" Mommsens für das Antrittsprinzip war die Berufung auf die "meisten neueren Gesetzbücher" 15. Entgegen sonstiger Exaktheit wies die Auflistung der Gesetzesstellen aber einige Mißverständnisse und Mängel auf.

Verhandlungen Bd.l, S.14. Nach Paulsen, Lehrbuch, § 174, sollte der Erwerb der Erbschaft bei Tod des Erben vor Antritt rechtlich vermutet werden, womit die Erbschaft auf den Erbeserben überginge. Schmitt, Begründung, S.804, leitete daraus ab, daß in Schleswig-Holstein im Grunde das Prinzip des Vonselbsterwerbs gelte. Für Schleswig aufgrund einer gegenteiligen Entscheidung gegen die Vermutung: Esmarch, Handbuch, § 53. 12

Das Erbrecht des Entwurfes eines bürgerlichen Gesetzbuches für das Deutsche Reich, 1888, S.47; ders., Erbrechtliche Studie des Entwurfs eines bürgerlichen Gesetzbuchs für das deutsche Reich, in: Gruchots Beiträge, Bd.32, S.666, wo fälschlicherweise S.149 statt S.139 des Entwurfes Mommsens zitiert wurde. 13

RGZ7, 135.

14

Entwurf, S.284, Motive zu § 219.

1

E n t w u r f , S . 2 , Motive zu § 2 1 .

140

5. Teil: Das Erbrecht des Entwurfes im Spiegel der Zeit

So legten zwar Art. 226 ff. Hess.E. das Antrittsprinzip fest; auch kann Mommsen die Außerachtlassung des im österreichischen Rechts wegen eigentümlichen Verlassenschaftsabhandlung nach §§ 797 ff. ABGB bestehenden Streits um die Konstruktion des Erbschaftserwerbs nicht vorgeworfen werden 16 ; die Berufung auf § 2250 Sächs.Gsb. hätte aber einer genaueren Einordnung bedurft. I m Widerspruch zu dem dort festgelegten Antrittsprinzip sollte der Berufene nämlich gemäß § 2265 Sächs.Gsb. nach Ablauf der gesetzlichen Deliberationsfrist als Erbe gelten. Daher ordnete beispielsweise von Kräwl, der sich 1877 in einer Stellungnahme zur Diskussion des Juristentages mit der Frage des Erbschaftserwerbs befaßte, das sächsiche Recht dem altdeutschen Anfallprinzip zu 1 7 . Wie sich aber ein Vergleich mit der früheren Regelung, nach der der Antritt innerhalb eines Jahres rückgängig gemacht werden konnte, zeigt, beruhte § 2265 Sächs.Gsb. nur auf praktischen Erwägungen: Zwar war angesichts der durch § 2328 Sächs.Gsb. stets gegebenen Haftungsbeschränkung auf den Nachlaß ein solches beneficium restitutionis in integrum nicht mehr nötig, das Bedürfnis nach Rechtsklarheit bestand aber weiterhin 18 . Nicht zutreffend war die Berufung auf Art.774 ff. CC. Diese regelten zwar die Annahme und Ausschlagung der Erbschaft, aber nur im Sinne des BGB. Die Annahme erklärte nur den Willen, die Rechte an der gemäß Art. 724 CC. kraft Gesetzes erworbenen Eibschafi auszuüben. Die Ausschlagung bedeutete nicht die Weigerung, das Recht aus der Berufung geltend zu machen, sondern nur die Aufgabe der erworbenen Rechte und damit Befreiung von der Haftung für die Erbschaftsverbindlichkeiten 19. So konnte der Referent Kammerpräsident Petersen (Straßburg i. E., also französisches Rechtsgebiet) in der 3.Sitzung der 1. und 2.Abteilung des 13.Deutschen Juristentages auch die im Gutachten Mommsens wiederholte Einordnung des französischen Rechts unter zustimmenden Rufen als "ganz offenbaren Irrthum" bezeichnen. Unzutreffend erscheint angesichts gegenteiliger Äußerungen in Entwurf und Gut-

16

Wie der oft zitierte Unger, System, § 36, ging Mommsen ohne Bedenken vom Antrittsprinzip aus; wohl für ipso iure Erwerb: Binding, AcP, Bd.57 (1874), S.408; eine Zusammenstellung der Meinungen findet sich bei: Stubenrauch, Commentar zum österreichischen allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuche, Bd.l, 8.Auflage 1902, § 548, Anm.I, Fn.5.

17 Soll in dem gemeinsamen bürgerlichen Gesetzbuche für Deutschland bestimmt werden, daß der Erbschaftserwerb ipso jure stattfinde?, in: AcP, Bd.60 (1877), S.272ff.(278f.,283,286f.). 18

Brenne, Erbanfall- und Erbantrittsprinzip, S.64f.; Siebenhaar, Commentar, Bd.3, Anm. zu § 2265. 19

LingenthaU Handbuch, Bd.4, § 609.

3. Kapitel: Antrittserwerb und Freiheit des Erben

141

achten 20 allerdings Petersens Vermutung 21 , Mommsen gehe davon aus, daß das deutsche Recht keine Ausschlagung kenne. Aus dieser der sonstigen Gewissenhaftigkeit widersprechenden Knappheit und Fehlerhaftigkeit läßt sich wohl schließen, daß sich Mommsen wohl nicht genauer mit der Frage des Erbschaftserwerbs befaßte. Das auch in seiner Heimat geltende Antrittsprinzip schien ihm selbstverständlich gewesen zu sein. Das Fehlen einer Auseinandersetzung mit der gegenteiligen Lösung der I 9, §§ 367 ff. PrALR zeigt darüber hinaus, wie wenig er im Gegensatz zu seinem Kritiker Roth 2 2 dieses Gesetzbuch schätzte und wie sehr er demgegenüber auch hier im römischen Recht, auf dessen genaue Darstellung er großen Wert legte, verfangen war. Die von den Preisrichtern gelobte "Vereinigung von Theorie und Praxis" erschöpfte sich hier in der bloßen Darstellung des Preußischen Landrechts. Im Grunde war sie nur ein Trugbild, das die Geringschätzung des Preußischen Landrechts und die Hochachtung des römischen Rechts und damit die Ursache der beklagten Trennung verdeckte.

4. Freiheit der Erben beim Erwerb der Erbschaft Inhaltlich beschränkte sich die Begründung des Antrittsprinzips auf einen lapidaren Satz: "Es ist... klar, daß man, zumal da die Annahme der Erbschaft zugleich Verpflichtungen nach sich zieht, Niemanden nöthigen kann, Erbe zu werden. ... Es kann sich daher nur fragen: soll man annehmen, daß es zu dem Erwerb der Erbschaft einer darauf bezüglichen Willenserklärung bedarf, oder ..., daß der zur Erbfolge Berufene ... berechtigt ist, ... den ipso jure eingetretenen Erwerb ... wieder rückgängig zu machen? ... Muß man anerkennen, daß Niemand gegen seinen Willen oder auch nur ohne seinen Willen effectiv Erbe werden kann, so ist es auch consequent, daß man zum Erwerb der Erbschaft eine Willenserklärung fordert." 23

Da der Erwerb der Erbschaft auch Verbindlichkeiten nach sich zog, galt es nach Mommsen also, den Willen der Erben weitmöglichst zu berücksichtigen und damit ihre Freiheit nicht zu gefährden. Das bloße Recht zur Ausschla20

Entwurf, S.284, Motive zu § 219; Verhandlungen, Bd.l, S.14. 21

Zum Ganzen: Verhandlungen des 13. Deutschen Juristentages, Bd.2, 1876, 3.Sitzung der 1. und 2.Abtheilung, S.138ff.(141f.). 22 23

Jenaer Literaturzeitung 1876, S.639. Entwurf, S.284, Motive zu § 219.

142

5. Teil: Das Erbrecht des Entwurfes im Spiegel der Zeit

gung wurde diesem Anspruch nicht gerecht. Es enthielt die "Nötigung", also den Zwang, Erbe zu bleiben oder auszuschlagen. Die Entscheidung für das Antrittsprinzip bedeutete für Mommsen die Entscheidung für die Freiheit der Erben und damit wiederum die Entscheidung für ein liberales Erbrecht. Gleichheit der Erben bei Anfall und Erwerb, Freiheit bei Erwerb der Erbschaft. Dies waren also die Ziele, die Mommsen bei der Ausgestaltung von Anfall und Erwerb der Erbschaft anstrebte. Seine Argumentation bildet damit ein Musterbeispiel für die Verwirklichung liberaler Ideale.

II. Begründung im Gutachten für den Juristentag Ausführlicher als im Entwurf konnte und mußte Mommsen seine Entscheidung für das Antrittsprinzip in seinem neunseitigen Gutachten für den 13. Deutschen Juristentag begründen. Dieser fand 1876, also im Jahr der Veröffentlichung seines Entwurfes, statt. Hier galt es, überzeugend darzulegen, was im Entwurf als mehr oder weniger selbstverständlich dargestellt worden war. Weshalb der Juristentag die Frage des Erbschaftserwerbs einer Erörterung wert hielt, läßt sich mangels ausdrücklicher Begründung nur vermuten. Petersen erwähnte am 29. und 30. August 1876 in seinem Referat und in seinem Plenarbericht, daß die Zivilgesetzkommission über die Frage des Erbschaftserwerbs beraten, Derscheid mit der Aufnahme einer Statistik beauftragt 24 und er seinerseits von "einem Mitgliede" der Kommission "statistische Notizen" erhalten habe 25 . In der Vorlage für die 1.Kommissionssitzung von 1876, die am 18. September stattfand 26, erläuterte Schmitt in einer Fußnote, daß ihm die Gutachten von Jung 27 , Mommsen und Randa 28 erst während des Drucks zugänglich gemacht worden seien29. Daraus läßt sich schließen, daß der Juristentag mit der Kommission in Verbindung stand und vermutlich

24

Verhandlungen, Bd.2, S. 152f.

25

Bericht in der 2.Plenarsitzung, Verhandlungen des 13. Deutschen Juristentages, Bd.2, 1876, S.416ff.(419). 26

Protokoll der ersten Sitzung von 1876 vom 18.10.1876, Schriftführer Neubauer, in: Schubert,

Materialien, S.224ff.(224). 27

oe 2 9

Verhandlungen des 13. Deutschen Juristentages, Bd.l, 1876, S.22ff. Verhandlungen, Bd. 1, S. 198ff. Vorlage Nr.5 von 1876, S.2, Fn. 1.

3. Kapitel: Antrittserwerb und Freiheit des Erben

143

durch deren Beratung zu der Fragestellung verlanlaßt worden war. Durch seine Vorarbeit wollte er also die Gesetzgebungsarbeiten unterstützen und damit sein Ziel, die Rechtseinheit, fördern. Der Aufbau von Mommsens Gutachten entsprach der Argumentationsweise im Entwurf.

1. Geschichtliche Entwicklung Wie im Entwurf wurde fast das erste Drittel des Gutachtens von der Schilderung der "geschichtlichen Entwicklung" beherrscht 30. Die Fortbildung des römischen Rechts wurde insbesondere hinsichtlich der Transmission der den heredes voluntarii angefallenen Erbschaft von der Klassik über Theodosius II. bis zu Justinian beschrieben 31. Die Breite der Darstellung fallt besonders bei einem Vergleich zu den Gutachten von Jung und Randa auf. Sie folgten ebenfalls dem Antrittsprinzip, verwendeten aber auf die Darstellung des römischen Rechts nur wenige Sätze32. Der Umfang bei Mommsen bestätigt die schon im Entwurf zum Ausdruck gekommene Favorisierung des römischen Rechts gegenüber den neueren Gesetzbüchern. Deren Bestimmungen wurden anders als bei Randa nicht detailliert erörtert, sondern gleichsam als neuere geschichtliche Entwicklung nur vergleichend einander gegenübergestellt. Wie im Entwurf wurde das französische Recht fälschlicherweise und das sächsische ohne Diskussion dem Antrittsprinzip zugeordnet. Ebenso betonte Mommsen auch hier, daß nach allen Gesetzbüchern, die dem Antrittsprinzip folgten, bereits mit der Berufung ein vererbliches Recht auf die Erbschaft entstehe. Den Grund dafür sah er aber nicht in der Notwendigkeit der Gleichbehandlung der Erben, sondern dem "natürlichen Billigkeitsgefühl" 33 . Da Mommsen hier wohl keine grundsätzlich andere Argumentation anstrebte, kann sie als Bestätigung des im Entwurf gefundenen Ergebnisses gewertet werden: Die Gleichheit war für Mommsen das Natürliche, Selbstverständliche, die Ungleichheit dagegen etwas Naturwidriges, Anormales.

10 Verhandlungen, Bd.l, S.13-15. 31

Verhandlungen, Bd.l, S.13f.

32

Jung , Verhandlungen, Bd.l, 23f.; Randa , ebenda, S.198, erwähnte sogar nur das Prinzip. Jung verwies allerdings für "umständliche Forschungen und eingehende Vergleichungen der einschlagenden verschiedenen Gesetzgebungen", die nach seiner Meinung die Grenzen des Gutachtens überstiegen, auf den "treffliche(n)" Entwurf von Mommsen, ebenda, S.23. 33

Verhandlungen, Bd. 1, S. 14.

144

5. Teil: Das Erbrecht des Entwurfes im Spiegel der Zeit

Inhaltlich entsprach die geschichtlich-vergleichende Darstellung im Gutachten also einer Mischung und ausführlichen Erläuterung der Motive zu § 10 und § 219. Als Ergebnis formulierte Mommsen aber noch nicht einmal, daß die meisten neueren Gesetzbücher dem Antrittsprinzip folgten, sondern nur, daß sich die rechtlichen Folgen der Berufung nicht auf die Möglichkeit zum Erbschafiserwerb beschränken dürften. Damit leitete Mommsen hier ausdrücklich zu der Frage, ob sie schon zum Erwerb führe, über 34 .

2. Allgemeine Gründe und deren Einordnung Nach der geschichtlich-vergleichenden Darstellung ging Mommsen zu den "allgemeinen Gründen", den theoretischen Erwägungen, über 35 . Aus diesen lassen sich über den Entwurf hinaus grundsätzliche sozialpolitische Positionen erkennen. Aufschlußreich ist hier Mommsens ebenso einzigartiger wie oft gerügter 36 Vergleich des Erben mit einem Beschenkten: "Muß man selbst in Betreff der Schenkung sagen, daß sie Niemandem gegen seinen Willen aufgenöthigt werden kann ('non potest liberalitas nolenti acquiri' L. 19 § 2 D. de donat.), so muß dies in noch weit höherem Grade von der Erbschaft gelten, deren Erwerb Verpflichtungen nach sich zieht" 37 .

Mathematisch gesprochen galt also: Erbschaft = Schenkung + Verpflichtung. Petersen wandte in der Sitzung des nicht anwesend war und daher seinen ein, daß diese "vollständige Analogie" ung nicht mehr entspreche. Zwar sei

34

Verhandlungen, Bd.l, S.15.

35

Verhandlungen, Bd.l, S.15f.

Juristentages, in der Mommsen selbst Vorschlag nicht verteidigen konnte 38 , heutzutage der allgemeinen Anschaudas römische Testament, das aus der

36

Petersen, Verhandlungen, Bd.2, S.145f.; Makower, ebenda, S.155f.; Kräwl, AcP, Bd.60 (1877), S.273f. Auch die Anhänger des Antrittsprinzips schreckten vor diesem Vergleich zurück. Nur Advocat Heinsen (Hamburg) griff ihn in abgeschwächter Form mit dem Hinweis auf, daß "es auch bei sonstigen Gelegenheiten von ihm (sc. dem Erben) abhänge, ob er die Activa und resp. die Passiva übernehmen will oder nicht", Verhandlungen, Bd.2, S.163. 37 Verhandlungen, Bd.l, S.15. Die von Kräwl, AcP, Bd.60 (1877), S.273, zitierte Stelle betrifft ausschließlich die Darstellung des römischen Rechts und nicht die eigene Argumentation. Als Ausgangspunkt einer Beurteilung ist sie daher ungeeignet.

38

Verhandlungen, Bd.2, S.144; wegen fehlender Unterstützung wurde dies besonders von Jung, ebenda, S.162, bedauert.

3. Kapitel: Antrittserwerb und Freiheit des Erben

145

Adoption und der Aufnahme in die Familie entstanden sei, ursprünglich eine Art von Vertrag gewesen, anders als bei einem solchen und damit auch der Schenkung sei inzwischen aber allgemein anerkannt, daß das Recht des Erben schon vor der Annahmeerklärung vererblich sei 39 . Kräwl, der sich wie die Mehrheit der Abteilung des Juristentages 40 für den Vonselbsterwerb aussprach, betonte, daß es bei der gesetzlichen Erbfolge an der Willenserklärung des "Schenkers", des Erblassers, fehle 41 . a) Grundlage und der individuelle Mittelpunkt des Erbrechts Bereits die Diskussion des Juristentages ging über solch dogmatisch-konstruktive Bedenken hinaus. So stellte Petersens Korreferent, der Justizrat Makower (Berlin, also preußisches Rechtsgebiet), den Bezug des Mommsen'schen Vergleichs zu den rechtspolitischen Grundlagen des Erbrechts her. Die Schenkung sei ein reiner Willensakt. In bezug auf die Erbschaft bedeute dies, daß sie durch Rechtsakte von Fall zu Fall vermittelt würde: Der Erblasser könnte den Nachlaß nach freiem Willen offerieren, der Erbe nach freiem Willen annehmen oder ausschlagen. Die testamentarische Erbfolge wäre die prinzipale, die gesetzliche die stillschweigende Willenserklärung und das Noterbrecht ein auferlegter Zwang. Damit wäre das Erbrecht eine auf dem Willen des Einzelnen beruhende positive willkürliche Schöpfung des Staates. Unter Hinweis auf die Angriffe gegen die Berechtigung des Erbrechts nahm Makower so die übermäßige Berücksichtigung des Willens bei der Frage des Erbschaftserwerbs und insbesondere den Mommsen'schen Vergleich zum Anlaß, "klar auszusprechen, daß das Erbrecht" nicht auf willentlicher, sondern "naturrechtlicher Grundlage beruht und wie das Eigenthum und die Ehe von dem Staate als bestehende allgemeine Institution anerkannt und zum Zwecke seiner Sicherung näher geregelt wird". Demgemäß sei die gesetzliche Erbfolge das "natürliche Gesetz", die testamentarische eine zugelassene Abweichung und das Noterbrecht die Schranke der Willkür. Der Vergleich zur Schenkung sei insbesondere deshalb verfehlt, weil der Nachlaß kein Produkt des Willens, zumindest der Staat zur Annahme verpflichtet und der gesetzliche Erbe gegebener, nur ausschlagungsberechtigter, Rechtsnachfolger sei 42 .

39

Verhandlungen, Bd.2, S. 145f.

40

Die Abteilung entschied, den Beschluß der Plenarversammlung nur zur Kenntnisnahme vorzulegen, weshalb insofern kein Abstimmungsergebnis vorliegt, Verhandlungen, Bd.2, S.170f. 41

AcP, Bd.60 (1877), S.274.

42

Makower, Verhandlungen, Bd.2, S.155f. 10 Andres

146

5. Teil: Das Erbrecht des Entwurfes im Spiegel der Zeit

M i t der gleichen Angst, die sich bei Schmitt bemerkbar machte, nur mit einem anderen Mittel, der "Flucht ins Naturrecht", bekämpfte Makower also die Mommsen'sche Vorstellung von der positivrechtlichen Grundlage des Erbrechts 43 , die er in die Konstruktion des Erbschaftserwerbs, den Vergleich zur Schenkung, hineininterpretierte. Ob diese Zusammenhänge von der Art des Erbschaftserwerbs und dem Verhältnis von gesetzlicher und testamentarischer Erbfolge zwingend sind und insbesondere auf den Entwurf Mommsens zutreffen, soll an späterer Stelle geprüft werden. Erwähnt sei nur, daß Petersen die Notwendigkeit einer vorherigen Klärung des besagten Verhältnisses mit dem Hinweis, daß beispielsweise das Preußische Landrecht und das italienische Recht den Vorrang der testamentarischen Erbfolge und dennoch den Grundsatz des Vonselbsterwerbs favorisierten, abgelehnt hatte 44 . Hier kommt es aber zunächst nur darauf an, welche Vorstellungen Mommsen mit dem Antrittsprinzip verband. Zur genaueren Klärung ist noch ein anderer Bezug zu den Grundlagen des Erbrechts erwähnenswert, der auf der hier interessierenden Sitzung von Professor Kuntze (Leipzig) betont wurde und sich später in ähnlicher Form bei Kräwl findet. Kuntze bezeichnete die Frage des Erbschaftserwerbs als eine "große soziale Prinzipienfrage". Der Vonselbsterwerb beruhe auf dem "Prinzip der Familienhaftigkeit", der Vorstellung, daß im Grunde die Familie Inhaberin des Vermögens sei 45 . Kräwl hob später hervor, daß auch der ipso /wre-Erwerb der sui, der offenbar auf einem Recht auf die väterliche Erbschaft beruhe, meist die Regel gewesen sei. Jedenfalls sei dieses Recht auf die Erbfolge im deutschen Recht als Ausdruck der innigen Verbindung auf alle Familienmitglieder ausgedehnt worden. Damit sei davon auszugehen, daß es sich mit Hegel 46 auf die Gemeinsamkeit des Familienvermögens gründe 47 . Dieses "Prinzip der Familienhaftigkeit" wurde nach Kuntze von dem Kontinuitätsgrundsatz un-

Mit Rücksicht auf diese Zusammenhänge scheint es zu vordergründig, Makowers Argumentation mit Heinsen, Verhandlungen, Bd.2, S.163, als bloße "petitio principii" abzuwerten. 44

Verhandlungen, Bd.2, S. 143.

45

Verhandlungen, Bd.2, S. 165.

46 47

Dazu oben bei 5.Teil, l.Kap. D I 1 und Wegmann, Begründung des Erbrechts, S.9f. AcP, Bd.60 (1877), S.273f.

3. Kapitel: Antrittserwerb und Freiheit des Erben

147

terstützt 48 . Bereits Petersen hatte diesen "besonders durchschlagenden" Grund für das Erbrecht hervorgehoben. Er bewahre den "Zusammenhang zwischen den verschiedenen Generationen" und erhalte die Vermögensrechte entsprechend der "Forderung, die der Verkehr bei jeder irgendwie höheren Stufe der Cultur ganz gebieterisch stellt" 49 . Damit ist der Bezug zu den Grundlagen des Erbrechts vollends hergestellt. Die gleichen Gründe, die Mommsen für das Erbrecht anführte, finden sich hier für den Grundsatz des Vonselbsterwerbs. Zwar erklärte Petersen, daß auch das römische Recht mittels der hereditas iacens und der Fiktion der Rückbeziehung des Antritts "mit besonderer Energie" auf eine solche Kontinuität hingewirkt, damit aber zu endlosen Streitigkeiten Anlaß gegeben habe 50 . Demgegenüber sei die Fiktion beim Vonselbsterwerb - Rückbeziehung der Ausschlagung - "natürlicher und einfacher als die künstliche Methode, mit der man im römischen Recht die Continuietät herzustellen sucht" 51 . Bezeichnenderweise erwähnte Mommsen diese Zusammenhänge von Begründung des Erbrechts und Art des Erbschafiserwerbs überhaupt nicht. Lediglich bei der Ablehnung einer unterschiedlichen Behandlung der Erben, des ipso /wre-Erwerbs der gesetzlichen Erben oder der Deszendenten, betonte er, daß es schon zweifelhaft sei, ob die "Idee des Familien-Gesammteigenthums" dem älteren deutsch-rechtlichen Grundsatz zu Grunde liege, sie jedenfalls im "gegenwärtigen Rechtsbewußtsein" keinen Boden mehr finde 52 . Damit erklärt sich, weshalb es nach dem Entwurf an einem "inneren Grund" für die Unterscheidung fehlte 53 .

48

Verhandlungen, Bd.2, S.165.

49

Verhandlungen, Bd.2, S.150,417f.

5 0 Die Probleme der hereditas iacens bildeten auch für Makower, Verhandlungen, Bd.2, S.157, ein Argument gegen das Antrittsprinzip. 51 Verhandlungen, Bd.2, S. 151,418; ähnlich sah Professor Brunner, ebenda, S.160f., sie "vom Gesichtspuncte der Oeconomie des Rechts entschieden (als) das Praktischere". 52

Verhandlungen, Bd. 1, S. 16.

53

Entwurf, S.284, Motive zu § 219. Mit dem Fehlen eines "inneren Grundes" lehnten auch Jung, Verhandlungen, Bd.l, S.24, und Randa, ebenda, S.201, die Unterscheidung zwischen den sui und den extranei bzw. den einzelnen Berufungsarten ab. Während Jung dies ähnlich wie Mommsen mit den "total veränderten politischen und sozialen Anschauungen von Familienrecht und väterlicher Gewalt" begründete, begnügte sich Randa mit der schlagwortartigen Behauptung.

148

5. Teil: Das Erbrecht des Entwurfes im Spiegel der Zeit

Wie schon bei der ausnahmslosen Statuierung der Universalsukzession unternahm Mommsen also auch hier keinen Versuch, die Bande der Generation und damit die Kontinuität, die ihm als "natürliche menschliche Gefühle" zur Begründung des Eibrechts gedient hatten, durch einen Vonselbsterwerb der gesetzlichen Erben zu stärken. Allein schon die grundsätzliche Existenz eines Erbrechts reichte ihm also aus, um diese Ziele zu erreichen. Worauf es Mommsen dagegen bei dessen inhaltlicher Ausgestaltung ankam, wird wiederum durch die Parallele zur Schenkung deutlich. Die Berufung zum Erben wird damit als besonderer Akt der Liberalität angesehen. Wie es bei der Vergabe des "Geschenks", der Erbschaft, auf den Willen des "schenkenden" Erblassers ankommt, muß es auf der Gegenseite ihres Erwerbs auf den Willen des "beschenkten" Erben ankommen 54 , umso mehr, als das "Geschenk" auch Verbindlichkeiten umfaßt. Den Mittelpunkt des Mommsen'schen Entwurfes bildet also das Individuum, dessen freien Willen weitmöglichst Rechnung zu tragen ist. Daher muß er bei der inhaltlichen Ausgestaltung des Erbrechts Vorrang haben. b) Adressat und die liberale Aufgabe des Erbrechts Der Vergleich von Erbrecht und Geschenk schärft noch den Blick für einen bisher kaum beachteten Aspekt des Mommsen'schen Erbrechts: den vorgestellten Adressatenkreis. Bisher wurde rein äußerlich davon ausgegangen, daß dies die liberalen Mitglieder der Juristischen Gesellschaft waren. Nun soll der Versuch einer genaueren Analyse des Adressatenkreises unternommen werden. Neben der soeben behandelten sozialpolitischen Stärke des Anfallprinzips, der Festigung der Familienbande, wurde in der besagten Sitzung des Juristentages auch auf eine sozialpolitische Schwäche hingewiesen: Der Grundsatz des Vonselbsterwerbs zwinge die Erben von überschuldeten Nachlässen zu dem Weg zum Gericht und vermehre so die Lasten der Armut. Damit sei er ein Prinzip des Pauperismus und der Sozialpolitik, das Antrittsprinzip dagegen eine Warnung - "Du sollst Rechte übernehmen, die möglicherweise Dir nachtheilig werden". Die kommende (schlechte) Zeit werde zu solch einer

54

Mit diesem Argument, freilich ohne die Analogie zur Schenkung, hatte Bluntschli, Privatrechtliches Gesetzbuch, Anm. zu §§ 1986,2082,2123, die Unterscheidung zwischen Antrittsprinzip bei testamentarischer und Vonselbsterwerb bei gesetzlicher Erbfolge als der "innern Notwendigkeit des Familienerbrechts" entsprechend begründet

3. Kapitel: Antrittserwerb und Freiheit des Erben

149

gesetzgeberischen Warnung immer mehr Anlaß geben, der Antrittsgrundsatz sei also das zukunftsorientierte System55. Drückte Mommsen in der Festlegung des Antrittsprinzips also seine Sorge für die Zukunft aus? Wollte er damit die Lasten der Armut verringern, im Grunde zur Lösung der sozialen Frage beitragen? War er zumindest hier nicht so sozial enthaltsam wie Scheel behauptete? Dafür spricht, daß er den Vonselbsterwerb damit ablehnte, daß die Inanspruchnahme der vor Überschuldung schützenden Rechtswohltat des Inventars kein ausreichender Risikoausgleich, sondern mit Initiative, Kosten und Mühen verbunden sei 56 . Bedenklich stimmt insoweit aber wieder der Vergleich von Erbrecht und Geschenk. Nach dem von Mommsen so oft zitierten "allgemeinen Rechtsbewußtsein" ist ein Geschenk ein unentgeltlicher Vorteil. Demnach ging er davon aus, daß die Erbschaft im Ergebnis meistens einen Vorteil bringe. Mommsens Erbrecht wendet sich also an den Besitzenden57. Überschuldung und Ausschlagung waren für ihn keine Last der Armut, sondern eine ohne ihren Willen auferlegte Last der Erben. Dies wird auch aus der genauen Formulierung Mommsens deutlich. So betonte er in einem Satz mit der Nennung der Umstände der Inventarerrichtung, daß sie "wider Willen sich zu machen, der Natur der Sache nach Niemand genöthigt werden kann". Auch die Bezugnahme auf das Argument Kochs 58 , wonach die Laune eines Bettlers nicht zu Umständen und Kosten nötigen darf, macht deutlich, daß Mommsen mit dem

55 Rechtsanwalt von Schultes (München), Verhandlungen, Bd.2, S.158f.; deutlicher, aber zur Stärkung des Bandes der Generationen gleichwohl das Anfallprinzip bevorzugend: Kuntze, ebenda, S.165f.; ebenfalls illustrativer als Schultes, aber wegen der Beweislast der Gläubiger gegen das "Prinzip des Pauperismus": Johanny (Wien), ebenda, S.166f. 56

Verhandlungen, Bd.l, S.15.

57

Insofern kann es dahingestellt bleiben, ob sich das Antrittsprinzip generell an den Nichtbesitzenden wendet oder, wie Petersen entgegnete, das Erbrecht als Vermögensrecht stets den Besitzenden im Auge hat und die Gefahr für die Nichtbesitzenden, durch Nachlässigkeit Schulden zu übernehmen, auch von diesem Standpunkt betont werden kann, Verhandlungen, Bd.2, S.167. 58

Das preußische Erbrecht aus dem gemeinen deutschen Rechte entwickelt, 1866, § 142, Fn.7.

150

5. Teil: Das Erbrecht des Entwurfes im Spiegel der Zeit

Antrittsprinzip keine Sorge für die Zukunft, sondern nur für die unfreiwillige Belastung des Erben treffen wollte 59 . Die Entlastung der Armut war also nur zufallige Folge des Mommsen'schen Entwurfes. Wie schon in den Motiven deutlich wurde 60 , kam es ihm nur darauf an, den der liberalen Grundtendenz widersprechenden "Zwang" zur Ausschlagung von dem Erben fernzuhalten und seine Freiheit zu wahren. Den Zwang zum Antritt sah Mommsen nicht: Dieser war für ihn keine Belastung, sondern freie Entscheidung, die Möglichkeit des Erwerbs eines "Geschenks". Insgesamt gesehen fügt sich Mommsens Vergleich des Beschenkten und des Eiben vollständig in die bisherigen Erkenntnisse über seinen Entwurf ein und bestätigt diese. Der Staat war der Garant des Erbrechts, welches wiederum liberale Ziele zu verfolgen hatte und demgemäß individualistisch auszugestalten war.

3. Fehlen praktischer Gründe Über den Entwurf hinaus diskutierte Mommsen im Gutachten die "praktischen Gründe" für den Vonselbsterwerb. Diese sollten den Ausschlag geben, wenn sie "so erheblich sind, daß die theoretischen Bedenken dagegen zurücktreten müssen". Namentlich führte er an 61 : - Schnelle Entscheidung über die Person des Erben, - Sofortige Möglichkeit der Disposition über die Erbschaft oder einzelne Erbschaftsgegenstände durch den Erben und - Vererblichkeit der Erbschaft bei Tod des Erben vor Antritt. In Mommsens Erläuterung werden die Interessenkonflikte zwischen den Beteiligten, insbesondere zwischen Erbe und Gläubiger, und damit auch die Zusammenhänge zwischen Prinzip und Ausgestaltung deutlich. Daher sollen in diesem Rahmen auch die Detailregelungen des Entwurfes Berücksichtigung finden.

59

Zum Ganzen: Verhandlungen, Bd.l, S.15f. Das Zitat Kochs ist die einzige Stelle, in der Mommsen auf die "Nötigung" zur Ausschlagung einer ipso iure angefallenen Erbschaft hinwies. Jung, Verhandlungen, Bd.l, S.25, Bd.2, S.162, betonte, daß dieser Nötigung kein Grund für die gesetzliche Vermutung des Erwerbswillens gegenüberstehe. Auch Heinsen, ebenda, Bd.2, S.164, akzentuierte die Belastung mit Mühe und Kosten. 60

Entwurf, S.284, Motive zu § 219, zitiert oben bei Fn.23.

61

Verhandlungen, Bd. 1, S. 16f.

3. Kapitel: Antrittserwerb und Freiheit des Erben

151

a) Argumentation und Resonanz im Juristentag Zum ersten Punkt bemerkte Mommsen, daß das Ausschlagungsrecht den Erben bei sofortiger Klage des Gläubigers zu einer voreiligen Entscheidung drängen 62 und den Gläubiger mit unnützen Kosten belasten würde. Aus Billigkeitsgründen sei daher schon im römischen Recht für die sui heredes ein spatium deliberando eingeführt worden 63 . Damit sei die Entscheidung über die Person des Erben an eine Frist gebunden. Gleiches gelte aber für das Antrittsprinzip, da die Gläubiger dem Erben eine gerichtliche Annahmefrist setzen lassen könnten 64 . Im Entwurf, der ansonsten nur eine vom Erblasser festgesetzte (§ 230), im Einklang mit "der richtigen" gemeinrechtlichen Ansicht 65 aber keine gesetzliche Antrittsfrist kannte, hatte Mommsen diese Möglichkeit in § 231 vorgesehen. Danach sollte das Erbschaftsgericht auf Antrag der Erbschaftsgläubiger, der Vermächtnisnehmer oder der nachberufenen Erben 66 eine angemessene, mindestens zweimonatige und auf Antrag des Erben verlängerbare Frist festsetzen.

Durch diese Möglichkeit der Beschleunigung des Antritts 67 führe das Anfallprinzip nur dann zu einer schnelleren Entscheidung, wenn wie bei I 9, §§ 383f., 412 PrALR oder §§ 1988, 1990 Zürch.Gsb. eine gesetzliche Ausschlagungsfrist vorgesehen würde 68 . Damit hatte sich Mommsen wieder die Möglichkeit geschaffen, die Argumente gegen die Zwangserbenstellung anzuführen: Da sich die Gesetzgebung damit von der "Natur der Sache" entferne, dringe sie nur langsam in das "allgemeine", "natürliche Rechtsbewußtsein"

62 Petersen , Verhandlungen, Bd.2, S. 148f., wandte ein, daß die Hauptgefahr nicht im Verlust der Erbschaft, sondern sowohl beim Anfall- als auch beim Antrittsprinzip in der Übernahme einer überschuldeten Erbschaft liege. 63

Ulp. D. 28, 8, 7 und 8.

64

Verhandlungen, Bd. 1, S. 17.

65 Nachweise finden sich bei Mommsen nicht. Ebenso entschied aber z.B.: Windscheid , Pandektenrecht, Bd.3, § 598; Puchta, Pandekten, § 498. 66 Auf den Streit in der gemeinrechtlichen Literatur, welche Personen in den Kreis der berechtigten Antragsteller einzubeziehen waren, dazu z.B.: Windscheid , Pandektenrecht, Bd.3, § 598, insbesondere Fn.5, ließ Mommsen sich nicht ein. 67

Vgl. Mommsen, Entwurf, S.292, Motive zu §§ 231-233.

68 Nach Petersen, Verhandlungen, Bd.2, S.149f., 168,420, sollte der Erbe allenfalls nach Ablauf der Veijährung des Ausschlagungsrechts als Erbe gelten. Die Deliberationsfrist hatte für ihn also nur den Sinn, daß der Erbe nach Ablauf die Prozeßkosten zahlen mußte.

152

5. Teil: Das Erbrecht des Entwurfes im Spiegel der Zeit

ein. Daher entstünde die "große Gefahr" der Versäumung der Ausschlagungsfrist und dazu "sehr leicht" die der Inventarfrist 69 . Diese Ausfuhrungen schärfen den Blick für Mommsens Konsequenz bei der Durchfuhrung des Antrittsprinzips im Entwurf. So zeigt sich die Prinzipientreue bei der Ablehnung einer gesetzlichen Ausschlagungsfrist, wie sie insbesondere auch im Sächsischen Gesetzbuches (§ 2265), das bei den sonstigen Fristenregelungen als Vorbild diente 70 , vorgesehen war. Zwar sind Mommsens Ausfuhrungen hier noch etwas unklar, wenn er für eine Ausschlagungsfrist auch auf I, 9, §§ 383ff., 412 PrALR und §§ 1990 ff. Zürch.Gsb., die doch gerade das Anfallprinzip betrafen, vewies. Doch zeigte Mommsen dann, daß es ihm um den Schutz des Erben vor einer alsbald von selbst ohne richterliche Androhung eintretenden Folge (Erbschaftserwerb) ging 71 . Vollends deutlich wird Mommsens Folgerichtigkeit, wenn er an den Ablauf der gerichtlichen Frist in expliziter Abkehr vom justinianischen Recht 72 den Verlust des Erbrechts knüpfte (§ 231) 73 . Dahinter stand wiederum der Gedanke, daß "man vernünftigerweise Niemanden nöthigen kann, gegen seinen Willen eine Erbschaft anzunehmen" 74 . Zusätzlichen Schutz billigte er dem Erben durch die richterliche Androhung des Verlusts des Erbrechts zu. Bemerkenswert ist, daß Mommsen hier auf dem Standpunkt des klassischen Rechts beharrte, obwohl er wie das justinianische Recht das beneßcium inventarii gewährte (§§ 256 ff.). Gerade diese Möglichkeit der Haftungsbeschränkung hatte nämlich, zumindest wenn die Frist auf Antrag der Gläubiger oder Vermächtnisnehmer gesetzt worden war 7 5 , zur Umkehr der Bedeutung des Frist-

69

Verhandlungen, Bd. 1, S. 17f.

70

§ 230 war identisch mit § 2264 Sächs.Gsb.; § 233 mit § 2268 Sächs.Gsb.; § 232 nur klarstellender formuliert als § 2267 Sächs.Gsb. und § 231 entsprach fast § 2266 Sächs.Gsb. Wohl gerade im Hinblick auf § 2265 Sächs.Gsb. und C. 6, 30, 22, 14 wurde nur zusätzlich das Fehlen einer gesetzlichen Ausschlagungs- bzw. einer Antrittsfrist klargestellt. 71

Entwurf, S.291f., Motive zu §§ 231-233.

72

C. 6, 30, 22, 14.

73

Der Verlust des Erbrechts trat auch ein, wenn der Erbe nicht innerhalb einer gerichtlich gesetzten Frist eine von seinem Handeln abhängige Bedingung erfüllte. 74

Entwurf, S.292f., Motive zu §§ 231-233.

75

Da es bei einem Antrag durch nachberufene Erben nicht darum ging, einen Schuldner zu finden, sondern eventuell selbst zur Erbfolge zu gelangen, wurde insoweit mit Fristablauf vielfach eine stillschweigende Ausschlagung angenommen. Mommsen lehnte eine derartige Differenzierung wegen der bei mehreren Anträgen entstehenden Verwicklungen ab, Entwurf, S.292, Motive zu §§ 231-233, ohne Nachweise für die Gegenmeinung. Vertreten wurde diese für Substituten beispielsweise von Puchta, Pandekten, § 498; dagegen Windscheid, Pandektenrecht, Bd.3, § 598, insbesondere Fn.7, m.w.N.

3. Kapitel: Antrittserwerb und Freiheit des Erben

153

ablaufs gefuhrt 76 . Mommsen schien sie also nicht zum Schutz des Erben auszureichen. Damit zeigt sich, daß er bei der Interessenabwägung zur Bevorzugung des Erben, insbesondere vor den Gläubigern und Vermächtnisnehmern, tendierte: Sie wurden damit vertröstet, daß ihr Recht auf Fristsetzung ihnen zumindest zeige, wer nicht Erbe sei, sie aber kein schutzwürdiges Interesse auf Inanspruchnahme einer bestimmten Person hätten 77 .

Makower ließ sich von Mommsens Ausführungen im Gutachten überhaupt nicht beeindrucken. Er betonte, daß das Anfallprinzip "zahllose Erklärungen" und "kostspielige Verhandlungen" spare 78. Petersen gab zwar zu, daß die Gläubiger durch eine Annahmefrist oder die Möglichkeit der Fristsetzung genügend gesichert seien 79 , darüber hinaus aber zu bedenken, daß sich die Bevölkerung beim Vonselbsterwerb überhaupt nicht angewöhnen würde, den Gläubigern die dilatorische Einrede entgegenzuhalten, das Antrittsprinzip aber zu deren Hinhaltung verleite 80 . Gefolgt von Brunner 81 und Makower 82 ging er davon aus, daß Überschuldung (und Abwesenheit des Erben) Ausnahmefalle seien. Wie sich aus der geringen Zahl der Ausschlagungen in den Gebieten des Vonselbsterwerbs ergebe, sei der Erwerbswille der Regelfall. Von diesem müsse das Gesetz ausgehen. Darüber hinaus bestünde die Gefahr der Übernahme einer verschuldeten Erbschaft auch beim Antrittsprinzip, insbesondere wenn der Erbe auf Annahme verklagt sei 83 . Sie sei damit keine Frage des Prinzips, sondern der Durchführung. Daher seien insoweit bei beiden Prinzipien Schutzmaßregeln, etwa durch die Beschränkung der Haftung des Erben nötig 84 .

76 Zur Entwicklung: Honsell/Mayer-Maly/Selb , Römisches Recht, 4.Auflage 1986, § 173 II 4; Käser , Römisches Privatrecht, § 71 II 3: ders., Das römische Privatrecht, 1.Abschnitt, § 175 III, 2. Abschnitt, § 291 II 4. 77

Entwurf, S.293, Motive zu §§ 231-233.

78

Verhandlungen, Bd.2, S. 156f. 79

Verhandlungen, Bd.2, S.417.

80

Nach Johanny, Verhandlungen, Bd.2, S.166, zeigte sich diese Tendenz beim österreichischen Prinzip derförmlichen gerichtlichen Einweisung. 81

8?

Verhandlungen, Bd.2, S. 160f. Verhandlungen, Bd.2, S. 157f. Verhandlungen, Bd.2, S. 148f.

84

Verhandlungen, Bd.2, S. 149f.,151-153,167f.,418-420.

154

5. Teil: Das Erbrecht des Entwurfes im Spiegel der Zeit

Von Schlütes und Heinsen wandten sich gegen die Aussagekraft der Statistiken. Letzterer bemängelte, daß sie keine Auskunft über die Schäden, die durch Unterlassung der Ausschlagung und Benefizialantretung entstanden seien, böten. Zwar bilde dennoch die Liquidität des Nachlasses die Regel, dem Annehmenden sei im Einklang mit der Rechtsregel "Schweigen steht dem Tun nicht gleich" aber eher eine Erklärung zuzumuten als dem Ausschlagenden85. Darüber hinaus bezweifelte von Schuhes sogar den Ausnahmecharakter der Überschuldung. Die geringe Zahl der Ausschlagungen könne auf verschiedenen Gründen beruhen, vor allem werde bei Kenntnis der Überschuldung eine ausdrückliche Ausschlagungserklärung nicht für nötig gehalten . Petersen wiederum verteidigte sich damit, daß es in den Gebieten des Anfallprinzips in der Bevölkerung keine Klagen gegeben habe 87 . Die ganze "Diskussion", die hier nicht weiter dargestellt werden soll, macht deutlich, daß die Argumente beliebig einsetzbar und insofern nicht überzeugend sind. Die schnelle Entscheidung über die Person des Erben kann jedenfalls über beide Systeme erreicht werden. Im Entwurf dienten Mommsen dazu auch die §§ 223 - 227. Danach durften Antritt und Ausschlagung zur Rechtsklarheit und zum Schutz des Erben vor unüberlegten Erklärungen außer der Inventarerrichtung keine Vorbehalte, Zeitbestimmungen oder Bedingungen enthalten (§§ 224, 226 I). Im Einklang mit I, 9, §§ 395 ff. PrALR und Art. 233, 348 Hess.E. sollte die Beschränkung auf einen Teil der Erbschaft ungültig sein (§§ 223, 226 I). Andernfalls könnten in bezug auf die dem Erben auferlegten Lasten, insbesondere wohl Vermächtnisse, gegen den Willen des Erblassers "Schwierigkeiten und Unbequemlichkeiten" entstehen88, also das Verkehrsinteresse, die Rechtsklarheit und nicht zuletzt die Verwirklichung des Erblasserwillens gefährdet sein. Indem Mommsen die teilweise Antretung oder Ausschlagung insgesamt für ungültig erklärte, divergierte er vom römischen Recht, das ihre Wirkung auf die ganze Erbschaft erstreckte 89 . Bemerkenswert ist, daß er diese Abweichung nur beim teilweisen Antritt erwähnte. Da der Antritt den Verlust des Ausschlagungsrechts zur Folge gehabt hätte (§ 225) und - wie die Ausschlagung - mit dem gemeinen Recht nur durch

85

Heinsen, Verhandlungen, Bd.2, S.163f. 8 6

Von Schultes, Verhandlungen, Bd.2, S. 158f.

R7

Verhandlungen, Bd.2, S. 169.

88 Zum Ganzen: Entwurf, S.288f., Motive zu §§ 222-226. 89

Paul. D. 29, 2, lf. und 10 sowie 80, 1; Ulp. D 28, 6, 10, 3; Windscheid, Pandektenrecht, Bd.3, § 602; Koppen, System des heutigen römischen Erbrechts, 1862, S.341-343.

3. Kapitel: Antrittserwerb und Freiheit des Erben

155

Wiedereinsetzung in den vorigen Stand widerruflich gewesen wäre (§ 227), konnte Mommsen sie wie den Verlust des Erbrechts bei Ablauf der gerichtlich gesetzten Antrittsfrist (§231) mit der Gefahr ungewollter Verpflichtungen, also der Notwendigkeit der Verbesserung des Erbenschutzes, begründen. Auch die angeblich allgemein angenomme90 Ungültigkeit der teilweisen Ausschlagung fugte sich nahtlos in die Gesamtkonzeption des Entwurfes ein: Wie beim teilweisen Antritt stand dem Erben die Möglichkeit des Antritts weiterhin offen, während ihm die Erstreckung auf die ganze Erbschaft die freie Willensentscheidung, grundsätzlich unwiderruflich (§ 227), abgeschnitten hätte. I n bezug auf die sofortige Disposition über die Erbschaft oder einzelne Erbschaftsgegenstände führte M o m m s e n aus, daß sie auch beim Antrittsp r i n z i p m ö g l i c h sei, w e n n die Annahmeerklärung nicht an eine bestimmte F o r m gebunden würde. Sie liege dann zumindest i n der vorgenommenen Handlung. Dementsprechend zeugen auch Mommsens Bestimmungen i m E n t w u r f v o n Einfachheit, Flexibilität, dem Streben nach Rechtsklarheit u n d Erleichterung des Antritts für den Erben. So konnte der Antritt nach § 221 im Anschluß an das gemeine Recht, § 2251 Sächs.Gsb. und § 2082 Zürch.Gsb. durch ausdrückliche oder stillschweigende Erklärung erfolgen, wenn nur der Erwerbswille eindeutig erkennbar war. Im Streben nach Vereinfachung des Rechts hielt Mommsen das zumindest im österreichischen Recht umstrittene 91 Ausreichen einer stillschweigenden Willenserklärung keiner Begründung wert. Die ausdrückliche Erklärung mußte anders als nach preußischem und teilweiser Ansicht im österreichischem Recht 92 nicht gerichtlich und nach "Deutschem Rechtsbewußtsein" abweichend von Art. 778 CC. auch nicht schriftlich erfolgen 93 . Zur Klarheit über die Ernstlichkeit und damit letztlich zum Schutz des Erben sollte die Abgabe aber nur gegenüber einem Beteiligten, die Antretung oder Ausschlagung zudem nur nach Kenntnis von Anfall der Erbschaft und Delationsgrund wirksam sein (§ 222). Daß Antritt und Ausschlagung abweichend von Konstantin C. 6, 9, 9 wie im

90

Zum Ganzen: Entwurf, S.289f., Motive zu §§ 222-226. Weshalb Mommsen nicht auf die Abweichung vom gemeinen Recht einging, ist umso weniger erklärlich, als der oft zitierte Siebenhaar , Commentar, Bd.3, Anm. zu § 2258 und § 2255, die Abweichung des sächsischen Rechts vom gemeinen Recht bei der teilweisen Ausschlagung und die Übereinstimmung beim teilweisen Antritt erkannte und Mommsen seinerseits die letztgenannte Kongruenz betonte, also wohl auch hier Siebenhaars Kommentar benutzte. 91

Daß Mommsen diesen Streitstand kennen mußte, zeigt sich darin, daß er in den Motiven zu §221, S.286, in anderem Zusammenhang die insoweit relevante Stelle bei Unger , System, § 36, Anm. 12, zitierte. 92

Zitiert wird zu diesem Streitstand Unger , System, § 36, Anm. 12 (vgl. die vorige Fn.). Entwurf, S.286f., Motive zu § 221.

156

5. Teil: Das Erbrecht des Entwurfes im Spiegel der Zeit

klassischen Recht grundsätzlich nur nach Anfall möglich waren, verzögerte die Entscheidung wegen der geringen Voraussetzungen nicht 94 . Um einen vielleicht längere Zeit dauernden, unnötigen Schwebezustand zu vermeiden, konnte ein unter einer Bedingung, die nicht "nur" den Wegfall des Erstberufenen betraf, eingesetzter Erbe die Ausschlagung schon vor Bedingungseintritt erklären (§ 226). Damit konnte die Erbschaft sofort an den Nachberufenen fallen 95 .

Da so die sofortige Disposition des Erben auch beim Antrittsprinzip möglich war, bliebe nur die Unveräußerlichkeit des Rechts auf die Erbschaft einzuwenden. Dieses sollte aber in Übereinstimmung mit dem neueren römischen Recht und den neueren Gesetzbüchern mangels eines gegenteiligen Bedürfnisses nicht in den Geschäftsverkehr einbezogen werden, zumal der Erbe ansonsten den Schuldner bestimmen könnte 96 . Diese Zielsetzung zeigt sich auch darin, daß der Erbe nach § 226 nicht zugunsten eines Dritten auf die Erbschaft verzichten konnte. Anders als Art. 780 CC. und Art. 231 Hess.E. sah Mommsen nach der Ausdrucksweise und dem Willen des Erben in einem solchen Verzicht nämlich nicht die Annahme durch Übertragung des damit erworbenen Rechts an der Erbschaft auf einen (zu verpflichtenden) Dritten, sondern eine unzulässige bedingte Ausschlagung 97 . Die Möglichkeit der Veräußerung des Rechts auf die Erbschaft erwog er bei diesen Konstruktionsfragen überhaupt nicht.

Wie Mommsen sah Petersen, daß die schnelle Verfügungsbefugnis des Erben auch über das Antrittsprinzip zu erreichen sei 98 . Makower dagegen blieb skeptisch: Die Notwendigkeit der Einbeziehung der pro herede gestio führe zu Abgrenzungsschwierigkeiten gegenüber bloßen Erhaltungsmaßregeln; beim Anfallprinzip könne dagegen stets eine ausdrückliche (schriftliche) Erklärung gefordert werden 99.

94

Zum Ganzen: Entwurf, S.287f., Motive zu §§ 222-226. Die Gültigkeit einer vor Anfall erfolgten Antretung oder Ausschlagung sei daher ohne "praktischen Nutzen". Eine vollwirksame Antretung sei wegen der Möglichkeit des Todes vor Anfall ohnehin unmöglich. Eine Ausnahme sah Mommsen für den Fall vor, daß der aufschiebend bedingt eingesetzte Erbe die provisorische Einweisung in den Erbschaftsbesitz verlangte (§§ 222,323). 95

Entwurf, S.288, Motive zu §§ 222-226.

9 6

Verhandlungen, Bd. 1, S. 18f.

97

Entwurf, S.289f., Motive zu §§ 222-226.

98

Verhandlungen, Bd.2, S. 147,417, allerdings mit unzutreffendem Verweis auf Jung statt auf Mommsen. 9 9

Verhandlungen, Bd.2, S. 157.

3. Kapitel: Antrittserwerb und Freiheit des Erben

157

In der Vererblichkeit der ipso iure erworbenen Erbschaft sah Mommsen insofern keinen überwiegenden Vorteil, als das Recht auf die Erbschaft ohnehin vererblich sei (vgl. §§ 10 II, 232). Zwar sei das Schicksal der Erbschaft beim Antrittsprinzip von dem des sonstigen Erbenvermögens unabhängig, womit es von der Gesetzgebung abhänge, ob das Recht auf die Erbschaft auch auf die testamentarischen oder nur auf die gesetzlichen Erben des Erben übergehe und ob den Substituten der Vorrang vor den Transmissaren einzuräumen sei, diese Ungebundenheit sei aber kein Nachteil. Bemerkenswert ist Mommsens Geringachtung der Interessen der Noteiben des Eiben. So sah er die Gefahr, daß sich ihr Pflichtteil durch den Nichtantritt der Erben des Erben verringert, als "nicht sonderlich groß". Jedenfalls zwinge sie nicht zum Anfallprinzip, da ihr durch besondere, nicht genauer bezeichnete und auch im Entwurf nicht auffindbare Vorschriften begegnet werden könne 100 . Die Frage des Schutzes der Erbeserben wurde scheinbar auch von den Gegnern des Antrittsprinzips als unproblematisch angesehen, jedenfalls in der Diskussion nicht mehr aufgegriffen. Nur Makower ging nicht auf die Modifizierung des römischen Rechts ein. Er entgegnete, daß das Anfallprinzip die "verwickelten Streitigkeiten" über die Transmission abschneide101. Mommsens Ausführungen und die spätere Diskussion der Abteilung des Juristentages zeigen, daß die Verwirklichung der eingangs genannten Ziele nicht allein vom Anfallprinzip, sondern dessen Ausgestaltung abhängt. Durch entsprechende Vorschriften lassen sie sich auch durch das Antrittsprinzip erreichen. Zusammenfassend läßt sich also mit Kuntze sagen: "Es stehen sich praktische und praktische Erwägungen gegenüber" 102 . b) Interessen und Ziele Auch wenn die praktischen Gründe für Mommsen nicht den Ausschlag gaben, werden in der Diskussion doch die Interessen deutlich, an denen er sein Erbrecht und damit, wie sich schon gezeigt hat und im folgenden noch zeigen wird, auch seinen Entwurf ausrichtete: Zum einen Rechtsklarheit über die Person des Erben zum Schutz der Gläubiger und Vermächtnisnehmer. Dieser ging aber nicht so weit, daß eine Ausschlagungsfrist, deren Versäumung zur Zwangserbenstellung führen würde, 100

Verhandlungen, Bd.l, S.19-21.

101

Verhandlungen, Bd.2, S. 157.

102

Verhandlungen, Bd.2, S. 165.

158

5. Teil: Das Erbrecht des Entwurfes im Spiegel der Zeit

statuiert wurde. Die Möglichkeit, den Erben insoweit durch eine Beschränkung der Haftung zu schützen, wurde überhaupt nicht erwogen. Vielmehr wurde es den Gläubigern zugemutet, den Erben auf Annahme zu verklagen. Ihre Interessen wurden also nur insoweit berücksichtigt, als es die Willensfreiheit der Erben zuließ. Weitere Beachtung fand die Freiheit des geschäftlichen Verkehrs, die wiederum nur aus "immanenten" wirtschaftsliberalen Gründen, zum Schutz der Gläubiger, eingeschränkt werden durfte. Daß Mommsen aber auch hier vorrangig die Interessen der Erben verfolgte, wurde durch die Übergehung der später von Makower hervorgehobenen Abgrenzungsprobleme deutlich. Dadurch blieb nämlich eine Gefahr für die Gläubiger unausgesprochen: Sie trugen die Beweislast für den Antritt 1 0 3 und damit das Prozeßrisiko. Schließlich kam es Mommsen auf den Schutz der Erbeserben und damit auch auf die weitmöglichste Berücksichtigung des Erblasserwillens an. Dies ließ sich aus der Gewichtung der Vererblichkeit des Antrittsrechts und der Begründung bei der Ausgestaltung schließen. So wurde der Übergang auch auf die testamentarischen Erbeserben unter anderem damit begründet, daß der Erblasser wohl nicht an die eigene Verbundenheit zu den gesetzlichen Erben des Erben, sondern allenfalls an den Übergang durch dessen Person hindurch gedacht, da er andernfalls eine fideikommissarische Substitution angeordnet hätte 104 . Im Anschluß an § 2195 Sächs.Gsb. und § 155 räumte Mommsen den Transmissaren den Vorrang vor den Substituten ein. Entscheidend sei - der das zu Beweisende im Grunde voraussetzende formelle Grund -, daß es durch die Transmission an der Voraussetzung der Substitution, dem Wegfall der ersten Berufung, fehle; zugleich wurde aber die Vereinbarkeit mit dem mutmaßlichen Willen des Erblassers überprüft 105 . Mit diesen Entscheidungen wollte Mommsen wohl auch wiederum seinem Anspruch auf Rechtssicherheit und Rechtsklarheit gerecht werden. Insgesamt gesehen scheint der Aufbau des Gutachtens ein Beleg für die gelobte Vereinigung von Theorie und Praxis zu sein. Inwieweit hier aber wirklich von einer "Vereinigung" gesprochen werden kann, wird in der Wer103

Vgl. nur: Heinsen, Verhandlungen, Bd.2, S.167. 104

Verhandlungen, Bd.l, S.19f. In den Motiven zu § 10 findet sich insoweit keine Begründung. Damit zeigt sich wiederum, daß sich Mommsen erst im Gutachten genauer mit der Frage des Erbschaftserwerbs auseinandersetzte. 105 Verhandlungen, Bd.l, S.20; Entwurf, S.242, Motive zu § 155. Der dortige Hinweis auf die Übereinstimmung von § 155 mit I, 12 § 462 PrALR wurde im Gutachten, ebenda, Fn.l, berichtigt (§ 465) und, da das Preußische Landrecht dem Anfallprinzip folgte, als wenig überzeugend erkannt.

3. Kapitel: Antrittserwerb und Freiheit des Erben

159

tung, nach der die praktischen Gründe nur dann entscheidend sein sollen, wenn sie "so erheblich sind, daß die theoretischen Bedenken dagegen zurücktreten müssen" 106 , deutlich. Darin bestätigt sich, was Petersen an allen drei Gutachten rügte und was gleichermaßen dem Entwurf vorzuwerfen, allerdings auch durch die Preisaufgabe vorgegeben war: Mommsen ging davon aus, daß Ausgangspunkt der Gesetzgebung das gemeine Recht und eine Abweichung nur bei besonderen Gründen gerechtfertigt sei. Damit wurde nicht nur dem Gegner die Beweislast zugeschoben107, sondern zugleich bestätigt, was schon bei der (Nicht)Berücksichtigung des Preußischen Landrechts 108 deutlich wurde: der grundsätzliche Vorrang der Theorie gegenüber der Praxis.

III. Begründung des Vonselbsterwerbs nach dem BGB und Reaktion der Öffentlichkeit Wie bereits ausgeführt 109 , wurden Schmitt die Gutachten von Jung, Mommsen und Randa erst während des Drucks der Vorlage zugänglich gemacht, so daß er sie insoweit nicht mehr berücksichtigen konnte. Aber auch in der endgültigen Begründung des in § 302 seines Entwurfes festgelegten Anfallprinzips erwähnte er die Gutachten nur in einer Fußnote und hob zugleich hervor, daß sich das Plenum des Juristentages "mit überwiegender Mehrheit" für den ipso iure-Erwerb ausgesprochen habe 110 . Dies war wohl mit der Anlaß für ihn, die Begründung der Vorlage weitgehend wörtlich als Begründung für seinen Entwurf zu übernehmen, den Gutachten also keinen entscheidenden Einfluß zukommen zu lassen.

106

Verhandlungen, Bd.l,S.16.

1 07

So Petersen, Verhandlungen, Bd.2, S.144,416f.

108 Dazu oben bei 5.Teil, 3.Kap. A I 3. 109

Dazu oben bei Fn.29. 110

Fn.l.

Begründung, S.803, Fn.l, Erwähnung fifiden die Verhandlungen auch in Fn.3 und S.812,

160

5. Teil: Das Erbrecht des Entwurfes im Spiegel der Zeit

Die Bedeutung der Frage der Erwerbsart für Schmitt zeigt sich darin, daß er sie zum Gegenstand einer Vorlage machte, die geltenden Rechte über fünfeinhalb Seiten zusammenstellte 111 , insoweit Gutachten einholte 112 und den Ausnahmecharakter der Ausschlagung statistisch nachzuweisen suchte 113 . Aufgabe soll hier aber weniger eine vollständige Darstellung der Argumentation Schmitts, als die Untersuchung seiner Argumentationsweise, insbesondere im Hinblick auf die Überzeugungskraft gegenüber Mommsen und die Hintergründe der unterschiedlichen Entscheidungen bilden. Wie Mommsen unterteilte Schmitt seine Begründung nach der Zusammenstellung der geltenden Rechte in einen theoretischen und einen praktischen Teil. Die "prinzipielle Begründung" 114 gliederte er in Grund der Erbbrechtigung, Gegenstand und Natur der Erbschaftserwerbung. Da das - auch von Mommsen ausdrücklich abgelehnte - deutsche Familieneigentum sowie das römische Gewaltverhältnis nicht mehr bestehe, die Erbeinsetzung entgegen Binding 1 1 5 kein Verwandtschaftsverhältnis begründe und der Abschluß eines Erbvertrages keine Erwerbserklärung, sondern nur das Recht, Erbe zu werden 116 , enthalte 117 , lasse sich der Vonselbsterwerb nicht aus dem Grund der gesetzlichen oder gewillkürten Erbfolge ableiten 118 .

111

Begründung, S.803-808.

112 So für Norwegen und Italien, das Schmitt entgegen Randa, Verhandlungen, Bd. 1, S. 198,215, wie Petersen, ebenda, Bd.2, S.141, dem Prinzip des Vonselbsterwerbs zuordnete, Begründung, S.803, Fn.3. 113 Statt auf Derscheid, der nach Petersen von der Kommission mit der Aufnahme einer Statistik für Colmar beauftragt worden war (dazu oben bei 5.Teil, 3.Kap. A II), verwies Schmitt auf die Ausfuhrungen von Petersen und ergänzte sie nur durch Zahlen vom Stadtgericht Berlin, Begründung, S.812, Fn.12. 114

Vorlage, Nr.5 von 1876, S.7-9; Begründung, S.808-811.

115

Binding., AcP, Bd.57 (1874), S.409f.

116

Begründung, S.493.

117

Auch Mommsen, Entwurf, S.135, Motive zu § 4, S.284, zu § 219, S.264, zu § 189, sah im Erb vertrag nur einen Delationsgrund (dazu oben bei 3. Teil), also ein Recht auf die Erbschaft und damit keine Rechtfertigung für eine Zwangserbenstellung. 118

Begründung, S.808; identisch mit: Vorlage Nr.5 von 1876, S.7f.

3. Kapitel: Antrittserwerb und Freiheit des Erben

161

Beim Anfallprinzip werde die Erbschaft selbst, beim Antrittsprinzip das Recht zum Erwerb unwillkürlich erworben. Da Justinian das Prinzip der unbedingten Schuldenhaftung des Erben aufgegeben habe, bestehe im gemeinen Recht kein Grund, den unwillkürlichen Eigentumserwerb anders als beim (Vindikations)Vermächtnis abzulehnen 119 . Die damit angedeutete Inkonsequenz der Gesamtkonzeption bei der Übernahme des Antrittsprinzips kann Mommsen nicht vorgeworfen werden. Das Vindikationslegat war ihm unbekannt, stattdessen gestaltete er den Erwerb der Vermächntisse in §§ 374 - 378 parallel zu dem der Erbschaften, teils sogar mit Verweisen, aus. Das Ausreichen der Inventarerrichtung hatte er wegen der damit verbundenen Kosten und Umstände gerade abgelehnt 120 . "Näher" als die Begründung des Vonselbsterwerbs aus dem Gegenstand lag nach Schmitt aber die Erklärung aus seiner "Natur als einer unmittelbar sukzessiven Erwerbung". Wegen der Notwendigkeit der Unmittelbarkeit der Rechtsnachfolge beziehe das Antrittsprinzip die Wirkungen der Erwerbung, das Anfallprinzip die Erwerbung oder Ausschlagung selbst zurück. Die erste Fiktion sei juristisch folgerichtiger, die zweite komme aber dem Ziel näher 121 und habe nur negativen Inhalt. Zudem sei die Konstruktion des Antrittsprinzips logisch widersprüchlich. Da die Erbschaft bereits vor Antritt zugunsten des Erstberufenen geschützt werde, habe er mehr als ein Recht auf, nämlich ein suspendiertes Recht an der Erbschaft. Dieses sei wegen des Rückbezugs der Wirkungen des Antritts aber zugleich resolutiv beschränkt 122 . Auch Mommsen suchte die Rechte des Erben durch das Nachlaßgericht oder einen Nachlaßpfleger bereits vor Antritt (§§ 215, 217) zu sichern und auch er bezog zur Konstruktion der Universalsukzession dessen Wirkungen auf den Zeitpunkt des Todes zurück 123 . Überzeugen kann Schmitts Kritik aber dennoch nicht. Da sich zumindest aus dem Blickwinkel des Nachberufenen eine aufschiebende in eine auflösende Bedingung umwandelt, läßt sich die gleiche

119

Begründung, S.808f.; identisch mit: Vorlage Nr.5 von 1876, S.8.

120

Dazu oben bei 5.Teil, 3.Kap. A II 2 b).

121

Bis hierher sind die Ausführungen in Vorlage Nr.5 von 1876, S.8; Begründung, S.809 identisch.

122

Weshalb die Erläuterungen zur Fiktion des Rückbezugs in der Begründung, S.809-811, umfassender als in der Vorlage sind, läßt sich nur vermuten. Da sich das Buch über den "Erbschaftserwerb" von Remda, dessen Argumentation Schmitt ausdrücklich ablehnte, nicht in seinen im Nachlaß vorhandenen Bücherverzeichnissen von 1875 und 1877, abgedruckt bei: Schröder, Abschaffung oder Reform, S.509-516, findet, hat er es möglicherweise erst nach der Vorlage erhalten. Wahrscheinlich sah er sich auch durch die Argumentation Petersens (dazu oben bei 5.Teil, 3.Kap. A II 2 a) bestärkt. 123

Entwurf, S.279, Motive zu § 214.

11 Andres

162

5. Teil: Das Erbrecht des Entwurfes im Spiegel der Zeit

Widersprüchlichkeit nämlich auch beim Anfallprinzip konstruieren: Wenn der Erstberufene später ausschlägt, gilt jener ab Erbfall als Erbe. Während Mommsen die Erwerbsart zu einer grundsätzlichen Frage der Willensfreiheit erhoben hatte, sah Schmitt den Willen des Berufenen wie Roth in seiner Kritik am Mommsen'schen Entwurf 4 2 4 bei der resolutiven Erwerbung des Vonselbsterwerbs ebenso gewährleistet wie bei der suspensiven des Antrittsprinzips. Diese Ausführungen finden sich wie die vorhergehenden zur Suspensivbedingung erst im Entwurf 1 2 5 . Sie scheinen ohne Zitat von Petersen, der sie mit der gleichen Verknüpfung in seinem Referat entwickelt hatte 126 , übernommen worden zu sein. Über Petersen hinaus bezeichnete Schmitt die Problematik der Erwerbsart aber als eine bloße Konstruktionsfrage 1 2 7 . An späterer Stelle, bei den "praktischen Vorzügen" des Vonselbsterwerbs, wiederholte er seine bereits in der Vorlage geäußerte Kritik an der angeblichen Beeinträchtigung der Willensfreiheit des Erben, in der er auch auf die scheinbar mit der Inventarerrichtung verbundenen Mühen anspielte. Sie klingt wie eine Ablehnung der Begründung Mommsens, deren Kerngedanke Schmitt zur Zeit der Vorlage schon aus dem Entwurf bekannt sein mußte: "Daß in dem Behaltenmüssen der Erbschaft, welche man nicht aufgiebt, eine Art von Zwang gegen die Erben liege, findet der Jurist; dem Volksbewußtsein ist die Empfindung fremd. Von einer Gefahrdung des Erben, der mit der Erbschaft zugleich und kraft Gesetzes das zwiefache Recht empfangt, sich zu entschlagen oder nur mit beschränkter Haftung zu übernehmen, kann endlich keine Rede sein." 1 2 8

Möglicherweise spielte Schmitt hier auf die vielbeklagte Trennung von Theorie und Praxis an. Mommsen würde damit zum lebensfremden Theoretiker degradiert, Schmitt sich dagegen als praxisorientierter Gesetzgeber rühmen. Dafür spricht die Breite der Ausführung, mit der er aufzuzeigen suchte, wie sich die Ausgestaltung des Antrittsprinzips unter Aufgabe eigener Prinzipien den Folgen des Vonselbsterwerbs annähere. So werde die Transmission im Widerspruch zur Vorstellung des Antritts als persönlicher Willenshandlung anerkannt und die Manifestation der Absicht, die Erbschaft behalten zu wollen, zum Wesensgehalt

124 125

126

Jenaer Literaturzeitung 1876, S.643. Begründung, S.809f. Verhandlungen, Bd.2, S. 147.

127

Begründung, S.811. 1 9R

Vorlage Nr.5 von 1876, S . l l ; Begründung, S.813.

3. Kapitel: Antrittserwerb und Freiheit des Erben

163

der Erwerbshandlung. Dies zeige sich etwa bei der Wertung der pro herede gestio und insbesondere der Nichtausschlagung in bestimmter Frist als Antritt 1 2 9 . Da Mommsen das Fehlen der Ausschlagung abweichend von § 2265 Sächs.Gsb. gerade nicht als Annahme sah (§ 231), kann ihm die von Schmitt gerügte Inkonsequenz insoweit nicht vorgeworfen werden. Auch insofern kann Schmitts Argumentation also nicht voll überzeugen. Wie aber schon die Diskussion auf dem Juristentag zeigte, mag Schmitt im Ergebnis darin zugestimmt werden, daß die praktischen Unterschiede zwischen Anfall- und Antrittsprinzip nicht allzu groß waren. Da die Frage der Erwerbsart dort aber auf die Ebene der "sozialen Prinzipienfrage" erhoben worden war, es damit um mehr als bloß theoretische Konstruktion ging, enttäuscht die Oberflächlichkeit seiner Argumentation. Dies gilt umso mehr, als Schmitt von dem in seiner bayerischen Heimat geltenden Antrittsprinzip 130 abwich und sich dem Recht des politischen Gegners Preußen anschloß. Bei näherer Betrachtung schien die Degradierung zur Konstruktionsfrage, die sich erst im Entwurf, also nach Kenntnis der Diskussion fand, aber wieder ein Mittel Schmitts gewesen zu sein, solch gesellschaftspolitisch relevanten Fragen auszuweichen. Im Vergleich zur Vorlage erweiterte er die Überlegungen zu den jeweils notwendigen Fiktionen und zur Inkonsequenz bei der Ausgestaltung des Antrittsprinzips, insbesondere in bezug auf die Transmission. Neu waren die Gegenüberstellung der suspensiven bzw. resolutiven Bedingung und die Schlußfolgerung der damit gleichen Berücksichtigung des Willens. Die Notwendigkeit der Verringerung der Lasten der Armut, die soziale Frage, war für ihn also ebensowenig Thema wie für Mommsen. Die Erweiterung der Begründung sollte damit wohl nur dazu dienen, zu verdeutlichen, daß Schmitt sich an das liberale Besitzbürgertum, das Mommsen durch den Vergleich der Erbschaft mit einem "Geschenk" geradezu ausdrücklich anzusprechen schien, wandte. Im Gegensatz zu Mommsen schien er sogar den Schein einer Konzession an die mit dem Antrittsprinzip verbundenen sozialpolitischen Ideen, die später nochmals von Baron 1 3 1 , den er zu den Sozialisten gestellt hatte, hervorgehoben werden sollten, vermeiden zu wollen. Insofern bestätigt sich das schon bei der Begründung des Erbrechts gefundene Ergebnis: Wie Mommsen wandte auch Schmitt sich an das liberale Bürgertum. Während Schmitt aber unter politischen Zwängen und unter dem Druck der

129

Begründung, S.810f.; weitgehend identisch mit: Vorlage Nr.5 von 1876, S.9, wo nur die Erörterungen zur Transmission ausführlicher sind. Für die letztgenannte Fiktion wurden insbesondere C. 6, 30, 22, 14 und § 2265 Sächs.Gsb. zitiert. 130

Roth , Bayrisches Civilrecht, § 363 B.

131

AcP, Bd.75 (1889), S.251, dazu unten.

164

5. Teil: Das Erbrecht des Entwurfes im Spiegel der Zeit

Öffentlichkeit stand, konnte Mommsen ohne solche Rücksichten frei konstruieren und so auf den ersten Blick sozialreformerische Entscheidungen treffen. Wie wenig sich Schmitt auf solche Fragen einlassen wollte, wird auch aus folgender Schlußfolgerung deutlich: "Würde sich der Gedanke der Erbschaftserwerbung kraft Rechtens jeder Möglichkeit einer prinzipiellen Begründung entziehen: so wäre die Thatsache, daß derselbe innerhalb wie außerhalb des Deutschen Reichs- und Rechtsgebietes die überwiegende Geltung behauptet, kaum möglich gewesen, wie viele Gründe der Zweckmäßigkeit auch dafür sprechen" 132 .

Im Vergleich zu Mommsen zeigt sich darin auch ein gesetzestechnisch unterschiedlicher Ausgangspunkt, mit dem sich Schmitt, der schon gesetzgeberische Erfahrung gesammelt hatte, anscheinend wieder auf die Ebene des praxisorientierten Gesetzgebers begeben wollte: Für Mommsen war die "prinzipielle Begründung" überwiegender Maßstab, für Schmitt nur notwendige Hürde zur Berücksichtigung der "praktischen Vorzüge". Inhaltlich führte Schmitt insoweit im wesentlichen die gleichen Argumente an wie die Gegner des Antrittsprinzips auf dem Juristentag. Namentlich spreche für den ipso iure-Erwerb: Erstens, die Einheit und Einfachheit des Rechts, insbesondere durch den Wegfall besonderer Vorschriften über die Erwerbshandlung, der zweifelhaften Frage des Subjekts der hereditas iacens und der zeitlich unterschiedlichen Beurteilung von Anfall und Erwerb. Zweitens, die bessere Lage des Erben, die sich durch die Übereinstimmung des Gesetzes mit dem regelmäßigen Willen des Erben, dem Gefühl des Laien, dem bereits zitierten Volksbewußtsein und der "natürlichen Auffassung", die Mommsen im Gutachten gerade für das Antrittsprinzip angeführt hatte, ergebe. Drittens, die bessere Lage der Erbschaftsgläubiger durch die Erleichterung des Beweises und die Beschleunigung der Entscheidung der Erben durch die sonst mögliche Inanspruchnahme 133 . Insgesamt gesehen sind also auch Schmitts "praktische Gründe" nicht allzu überzeugend. Angesichts der Breite der Zusammenstellung der Rechte enttäuscht die Oberflächlichkeit der Begründung. Gegenüber der Vorlage scheint 132

Begründung, S.811. 133

Zum Ganzen: Begründung, S.811-813; identisch mit: Vorlage Nr.5 von 1876, S.lOf.

3. Kapitel: Antrittserwerb und Freiheit des Erben

165

sie nur durch die Diskussion auf dem Juristentag, insbesondere die Argumentation Petersens ergänzt zu sein, ohne daß dieser ausdrücklich zitiert wurde. I m Gegensatz zu Mommsen schien es Schmitt eher auf die Sicherung der Gläubiger als auf den Schutz des Erben anzukommen. Ein gemischtes System und damit eine Ungleichbehandlung der Erben lehnte Schmitt wegen der Vielzahl der möglichen Unterscheidungen, der geringen Verbreitung und wegen der Größe des Rechtsgebiets aus "Zweckmäßigkeitsrücksichten" und "inneren Gründen", insbesondere wohl auch aus politischen Rücksichten auf die Länderinteressen, ab 1 3 4 . Die 1. Kommission übernahm im wesentlichen die Begründung Schmitts. Auch sie erachtete die praktischen Vorzüge des "Systems des ALR" für überwiegend, insbesondere empfinde das "Volksbewußtsein" die "dem Rechtsverständigen auffallend" erscheinende "Art von Zwang gegen den Erben ... kaum". Über Mommsen und Schmitt hinaus betonte sie auch die Interessen der Schuldner des Erblassers. Diese könnten sich meist an den endgültigen Erben wenden und würden nicht mehr auf die umständliche Hinterlegung verwiesen. Die theoretischen Erwägungen waren zwar anders als bei Schmitt den praktischen nachgeordnet, entsprachen ihnen inhaltlich aber weitgehend. Insbesondere wurde die Bedeutung des Willens des Erben als Voraussetzung für das Behaltenmüssen und damit die Tendenz zur Konstruktionsfrage unterstrichen. Bemerkenswert ist, daß es die Kommission dahingestellt bleiben ließ, ob der Grundsatz des Entwurfes dem älteren deutschen Recht entspreche; jedenfalls würde dies nur für die gesetzliche Erbfolge und mittels künstlicher Konstruktionen allenfalls noch für den Erbvertrag gelten 135 . Gierke, der die Übernahme des Vonselbsterwerbs als "ein gewichtiges und durchaus begründetes Zugeständnis an das nationale Recht" bezeichnete, sah hierin eine feierliche Verwahrung gegen den "Verdacht einer Parteinahme für das deutsche und wider das römische Recht" 136 .

134

Begründung, S.813; Vorlage Nr.5 von 1876, S.ll.

135

Zum Ganzen: Motive, Bd. V, S.485-487, Einleitung zu §§ 2025fF.

136

Entwurf, S.548.

5. Teil: Das Erbrecht des Entwurfes im Spiegel der Zeit

166

Neben den Bundesregierungen 137 stimmten wie Gierke auch die meisten Kritiker des l.Entwurfes mit den bereits bekannten Argumenten dem Vonselbsterwerb zu 1 3 8 . Die "anomale" Zwangslage des Erben wurde als nicht entscheidend gesehen 139 oder wegen der praktischeren Fiktion des Anfallprinzips hingenommen 140 . M i t Blick auf den Mommsen'schen Entwurf ist ein von der 2.Kommission nicht aufgegriffener 141 Vorschlag von Jakubetzk y 1 4 2 und insbesondere von Schmitts Heimatland Bayern 143 bemerkenswert. Danach sollte die in § 2029 Hs.2 1.Entwurf vorgesehene Ausschlagungs- in eine Antrittsfrist umgewandelt werden, die Erbschaft also wie bei Mommsen (§ 231) bei fehlender Annahme mit Ablauf der Erklärungsfrist als ausgeschlagen gelten. Für das Antrittsprinzip sprachen sich mit Einschränkungen Baron, allgemein insbesondere Bähr und Kühnast aus. Ersterer sah unter Berufung auf Petersen den Willen des Erben auch beim Vonselbsterwerb gewahrt, lehnte aber im Gegensatz zu Schnitt und der 1.Kommission das Vorliegen einer bloßen Konstruktionsfrage ab. Ähnlich wie Mommsen im Gutachten ging er davon aus, daß die Gläubiger bis zum Ablauf der Ausschlagungsfrist, die erst mit Kenntnis des Berufungsgrundes beginne (§ 2030 I I 1.Entwurf), nicht genügend gesichert seien und der Gesetzgeber vor allem dem Berufenen nicht die Kosten und Lasten der Ausschlagung, der Inventarisierung und Liquidierung aufdrängen dürfe. Etwas anderes gelte im Interesse der Erhaltung der ökonomischen Ehre des Erblassers, des Nutzens seiner Güter für die bürgerliche Gesellschaft und nicht zuletzt auch zugunsten der Gläubiger aber bei den pflichtteilsberechtigten Erben, also den Abkömmlingen, Eltern und Ehegatten. Da ihnen das Erbrecht nur bei sittlicher Schuld entzogen werden könnte, könnten auch sie sich dem Erbrecht nicht entziehen, die sittliche Pflicht werde zur Rechtspflicht. Ohne Unterschied auf den Berufungsgrund gelte daher wie im klassischen römi-

Zusammenstellung der Aeußerungen der Bundesregierungen zu dem Entwurf eines Bürgerlichen Gesetzbuchs gefertigt im Reichs-Justizamt, Neudruck der Ausgabe 1891, 1967, Bd.l, S.186f.; Bd.2, S.43. 138

Zusammenstellung der gutachtlichen Aeußerungen, Bd.5, S.l 17f. 139 140

141

So Vollert, zitiert nach: Zusammenstellung der gutachtlichen Aeußerungen, Bd.5, S.l 17. Klöppel, Gruchots Beiträge, Bd.33 (1889), S.360f. Vgl.: Protokolle, Bd.V, S.7666-7669, zu § 2029.

142

Bemerkungen zu dem Entwürfe eines Bürgerlichen Gesetzbuches für das Deutsche Reich, 1892, S.327, zu §2025. 3

Zusammenstellung der Aeußerungen der Bundesregierungen, Bd.l, S.l86.

3. Kapitel: Antrittserwerb und Freiheit des Erben

167

sehen Recht das Anfallprinzip ohne Ausschlagungsrecht. Dabei stellte Baron wieder den Bezug zu den Grundlagen des Erbrechts her: Die Gesetzgebung müsse den nichtbesitzenden Klassen, wo die Ausschlagung in der Regel nur wegen der Einsicht der Gläubiger unterbliebe, und der Einheit der Familie in den aufeinanderfolgenden Generationen gerecht werden 144 . In seinem Gegenentwurf übernahm Bähr von Mommsen ausdrücklich § 9 (im Gegensatz zu § 2042 1.Entwurf Nachberufüng im Zeitpunkt der Ausschlagung), § 221 S.2 (Unwirksamkeit des Antritts gegenüber einem Unbeteiligten), § 229 (Selbständigkeit der Erbteile) und § 231 (Verlust des Erbrechts bei Ablauf der gerichtlichen Antrittsfrist) 145 . Aber auch die anderen Vorschriften entsprachen sich weitgehend. Im Gegensatz zu Baron, der von drei Gutachten gesprochen 146 und Petersen zitiert hatte, erwähnte er die Verhandlungen des Juristentages aber nicht. Formulierung und Argumentationsweise glichen aber sehr der bereits im Entwurf angedeuteten Begründung Mommsens im Gutachten. Auch Bähr sah es als unnatürlich, "Jemanden gesetzlich zu nöthigen, um ein Recht nicht zu erwerben" und hob die mit dem Inventarrecht verbundenen Belästigungen hervor. Daher erachtete auch er die "namentlich für Rechtsunkundige" bestehende Gefahr, durch Versäumnis der erschwerend in öffentlich beglaubigter Form gegenüber dem Nachlaßgericht zu erklärenden Ausschlagung (§ 2032 1.Entwurf) "wider Willen Erbe zu werden und dadurch in Nachtheile zu gerathen, für überwiegend". Wie Mommsen ging er davon aus, daß dies entscheidend sei, da der Vonselbsterwerb nicht konsequent durchführbar sei und beide Prinzipien mit praktisch erstrebenswerten Folgen verknüpft werden könnten. Bähr betonte mit Mommsen die Notwendigkeit der Transmission 147 sowie die Bedeutung der Annahme (§§ 2029, 2057 l.Entwurf) und der ruhenden Erbschaft (§§ 2058 f. 1.Entwurf) für den Vonselbsterwerb 148. Auch sei das damit verbundene Recht auf sofortige Verwaltung und Verfügung aufzugeben, da die Möglichkeit der

144

Baron , AcP, Bd.75 (1889), S.246-254.

145

Gegenentwurf zu dem Entwürfe eines bürgerlichen Gesetzbuches für das Deutsche Reich, 1892, Bd.V, §§ 1801 II, 1807 III, 1812f.; ders., Zum Erbrecht des bürgerlichen Gesetzbuchs, in: Archiv für Bürgerliches Recht, Bd.3 (1890), S.141ff.(§§ 4 S.2, 10 III,16f., S.149-154). 146

AcP, Bd.75 (1889), S.246.

147

Bähr zitierte § 10 II des Mommserischen Entwurfes, lehnte die Transmission aber als dem "natürlichen Rechtsgefiihle" widersprechend ab, wenn der berufene Erbe verschollen war, Archiv für Bürgerliches Recht, Bd.3 (1890), S.146f.,153. 148

Zum Ganzen: Archiv für Bürgerliches Recht, Bd.3 (1890), S. 144-149.

168

5. Teil: Das Erbrecht des Entwurfes im Spiegel der Zeit

Geschäfisführungsklage (§ 2056 ¡.Entwurf) den Nachberufenen nicht vor einer Bereicherung des ausschlagenden Erben schütze 149 . Nach Kühnast war ein willenloser Erbschaftserwerb mit der Testierfreiheit unvereinbar. Da die Ausschlagungsfrist des § 2030 1.Entwurf aber mit der Kenntnis des Erben vom Berufungsgrund beginne, sei das bewußte Unterlassen der Ausschlagung eine willentliche Annahme. Dem Anfallprinzip läge also kein willenloser, sondern nur ein gesetzlicher Erwerb zugrunde 150 . Seine vielumworbene germanische Grundlage sei zweifelhaft, weil in dem deutschrechtlichen Grundsatz "der Todte erbt den Lebendigen" nicht mehr als die Möglichkeit der Besitzerlangung, zu deren Verwirklichung immer noch ein Willensakt des Erben erforderlich sei, gesehen werden könne. Der Entwurf sei als eigenartige Entwicklung römischer Anschauungen klassischer Zeit abzulehnen. So sei die Berufimg anders als im römischen Recht kein gesetzliches Angebot zur Erbfolge, kein selbständiges Erwerbsmoment, sondern als die "subjektive Beziehung der causa hereditaria" rechtlich bedeutungslos. A n die Stelle des sicheren römischen Antritts trete die Umkehr der Annahmewirkungen; an die der Vererblichkeit des Rechts aus der Berufung ein eigenes Recht des Erbeserben auf Ausschlagung des erworbenen Erbrechts (§§ 2042, 2025 1 .Entwurf). Die ruhende Erbschaft gäbe es auch im Entwurf (§§ 2038 und 2026 1 .Entwurf) 151 . Wegen des geringen Widerstandes konnte die 2.Kommission das Anfallprinzip billigen 1 5 2 . Ob das BGB, wie es bei Kühnast anklang und später Brenne aufzuzeigen suchte 153 , wegen der weitgehenden Berücksichtigung des Preußischen Allgemeinen Landrechts das Ergebnis der durch vernunftrechtliches Denken weitergebildeten Grundsätze des römischen Erbrechts ist, mag hier dahinstehen. Festzuhalten bleibt, daß Mommsen durch das Beharren auf dem An-

149

Anhalt forderte, daß der ausschlagende Erbe über seine Geschäftsführung eidlich zu bestärkende Rechnung legen und auch zu dringlichen Veräußerungen die Genehmigung des Nachlaßgerichts einholen muß, Zusammenstellung der Aeußerungen der Bundesregierungen, Bd.l, S.186. Die 2.Kommission erörterte diesen Vorschlag nicht. 150

Diese Entwicklung übersieht Brenne, Erbanfall- oder Erbantrittsprinzip, S.85f., bei der Wiedergabe des Standpunkts von Kühnast. 151

Zum Ganzen: Kühnast, Das Erbrecht des Entwurfs, S.37-50; ders., Gruchots Beiträge, Bd.32, S.656-669. 152

Protokolle, Bd.V, S.7666, zu § 2025.

153

Erbanfall- und Erbantrittsprinzip, S.94.

3. Kapitel: Antrittserwerb und Freiheit des Erben

169

trittsprinzip hier zumindest stärker als das BGB am römischen Recht festhielt. Nicht überzeugend ist ein von K r ä w l 1 5 4 hervorgehobener Aspekt, der Mommsen zu einem Reformer erheben würde: Das Antrittsprinzip soll in bezug auf die sui eine totale Neuerung sein. Wie aber bereits ausgeführt, war es durchaus verbreitet. Die im Einklang mit der Vorkommission und dem Justizausschuß erhobene Forderung Kräwls, am geltenden Recht festzuhalten 1 5 5 , kann bei der Frage Erwerbsart ohnehin nicht entscheiden: Auch die allgemeine Einführung des ipso /wre-Erwerbs kann als Neuerung, beispielsweise für die Gebiete des gemeinen oder französischen Rechts, gewertet werden. Während bei den Gesetzgebungsarbeiten vornehmlich praktische Gründe entscheidend waren, waren sie für Mommsen nur Maßstab zur Korrektur eines theoretisch vorzuziehenden Ergebnisses. Hierin dürfte wohl auch der Hauptgrund für die unterschiedlichen Entscheidungen liegen. Mommsen war ohne jegliche gesetzgeberische Erfahrung. Er war vornehmlich Theoretiker, der versuchte, praktisches Recht zu schaffen, wobei er wohl die aus seiner richterlichen Tätigkeit gesammelten Erfahrungen einzubringen suchte, sich aber vom Historismus der Pandektenwissenschaft nicht frei machen konnte. Schmitt, dessen Begründung die 1.Kommission weitgehend übernahm, war insoweit, wohl durch seine gesetzgeberische "Routine", unbefangener, aber, wie die Überlegungen zur sozialen Frage zeigten, auch berechnender. Wie insbesondere auch ein Vergleich von § 231 des Mommsen'schen Entwurfes mit der starren Regelung des § 2030 1.Entwurf, wonach die Ausschlagungsfrist wie in § 1944 BGB sechs Wochen, in bestimmten Fällen sechs Monate betragen sollte, zeigt, kam es Schmitt und der 1.Kommission inhaltlich mehr auf die Interessen der Nachlaßgläubiger, der Schuldner des Erblassers und der Nachberufenen als auf die individuellen Bedürfnisse des Erben

154 155 156

AcP, Bd.60 (1877), S.285-287. Kräwl, AcP, Bd.60 (1877), S.285. Schmitt , Begründung, S.817-819; Motive, Bd.V, S.498; Denkschrift, S.381.

5. Teil: Das Erbrecht des Entwurfes im Spiegel der Zeit

170

B. Die ruhende Erbschaft Die Schwebezeit zwischen Erbfall und Erbschaftserwerb war Quelle der von Petersen 157 beklagten endlosen Streitigkeiten. Sie beruhten auf dem Versuch, das Antrittsprinzip mit dem Grundsatz der Universalsukzession zu vereinbaren. Es fragte sich, ob die ruhende Erbschaft überhaupt vermehrt oder vermindert werden konnte und ob, bejahendenfalls, sich die persönlichen Voraussetzungen nach der Person des Erblassers oder des Erben richten sollten. Zur Regelung dieser praktischen Probleme schlug Mommsen als § 214 vor: "Eine Erbschaft, welche von dem Erben noch nicht angetreten ist (ruhende Erbschaft), kann durch Erwerbungen gemehrt oder durch Verpflichtungen gemindert werden, sofern dies ohne Willenshandlung des Erwerbers oder des Verpflichteten möglich ist. Eine von dem Erblasser begonnene Ersitzung kann fortgesetzt und vollendet werden, während die Erbschaft ruht. Die Gültigkeit der Erwerbungen bestimmt sich nach der Persönlichkeit des Erblassers. Die rein persönlichen Rechte und Verbindlichkeiten des Erblassers erlöschen sofort mit dem Tode desselben."

I. Rechtsnatur und Rückwirkungsfiktion Eine der berühmtesten Kontroversen bildete die Frage der Rechtsnatur der hereditas iacens. Die Pandektisten betrachteten das Vermögen als Inbegriff von subjektiven Rechten, die nach herkömmlichen Vorstellungen als Ausdruck der Willensmacht oder Willensherrschaft den Bezug zu einem bestimmten Rechtssubjekt forderten. Der bisherige Inhaber war aber gestorben, der neue hatte noch nicht erworben. Damit begann die Suche nach dem Rechtssubjekt der hereditas iacens 158.

157

Verhandlungen, Bd.2, S. 151.

158

Eine ausfuhrliche Zusammenstellung der Meinungen findet sich bei: Brenne, Erbanfall- und Erbantrittsprinzip, S.46-58; Wegmann, Begründung des Erbrechts, S. 108-111; Roth, Bayrisches Civilrecht, § 393.

3. Kapitel: Antrittserwerb und Freiheit des Erben

171

1. Einordnung Mommsens Die Kontroverse beruhte darauf, daß das Corpus Iuris widersprüchliche Äußerungen der klassischen Juristen überlieferte. Mommsen stellte sie in den Motiven zu § 214 einleitend gegenüber. Danach sollte einerseits die hereditas iacens selbst als Person gelten und zwar in der Weise, daß sie die Persönlichkeit des Erblassers repräsentiert 159 , andererseits sollte der Erbe mit Antritt so angesehen werden, als ob er schon im Augenblick des Todes des Erblassers Erbe geworden wäre 160 . Im Gegensatz zu den herkömmlichen theoretischen Abhandlungen behandelte Mommsen nun nicht beide Grundsätze getrennt voneinander, sondern fragte, wie sie sich zueinander verhalten. Der ersten Quellengruppe entnahm er, daß die hereditas iacens eine "juristische Person" 1 6 1 sei, für deren Rechtsverhältnisse die Person des Erblassers maßgeblich sei. Die Rückwirkungsfiktion sollte nicht zur Maßgeblichkeit der Person des Erben führen, sondern hatte "im Wesentlichen nur eine Bedeutung für die durch den Erwerb der Erbschaft eintretende Universalsuccession im Ganzen... Es soll nicht so angesehen werden, als ob zuerst die hereditas jacens dem Erblasser und dann der Erbe wieder die hereditas jacens succedire, sondern es soll immer der Erbe als unmittelbarer Successor des Erblassers betrachtet werden" 162 .

Sie sollte also nur der rechtstechnischen Konstruktion der Unmittelbarkeit der Nachfolge dienen. Da Mommsen nicht explizit auf den Theorienstreit um die Rechtsnatur der hereditas iacens und die Bedeutung der Rückwirkungfiktion einging, fragt sich, wo er seine Autoritäten fand. Für Savigny, dessen Sukzessionsbegriff Mommsen übernommen hatte, war es die "einfachste und natürlichste Behandlung", die hereditas iacens als das Vermögen des noch unbekannten Erben anzusehen. Die Fiktion der Erbschaft als selbständige Person oder als Repräsentantin des Verstorbenen sei nach der

159

Gai. D. 28, 5, 31, 1; Ulp. D. 41, 1, 33,2 und 34; Herrn. D. 41, 1, 61 und Flor. D. 46, 1, 22.

160

Flor. D. 29, 2, 54; Paul. D. 50, 17, 138 und Cels. D. 50, 17, 193.

161 Nach heutiger Anschauung wurde die ruhende Erbschaft erst im gemeinen Recht als selbständiges Rechtssubjekt (juristische Person) konstruiert. Die von Mommsen zitierten Stellen waren dagegen keine Fiktion, sondern nur Versuche der Klassiker, ein vorübergehend subjektloses Vermögen zu veranschaulichen, Käser , Das römische Privatrecht, 1. Abschnitt, § 177 I, 2. Abschnitt, § 293 I; Römisches Privatrecht, § 72 I. 162

Zum Ganzen: Entwurf, S.278f., Motive zu § 214.

5. Teil: Das Erbrecht des Entwurfes im Spiegel der Zeit

172

Zusammenstellung in Gai. 28, 5, 31, l 1 6 3 gleichbedeutend. Sie hätte den Römern nur dazu gedient, die Gültigkeit der Erwerbungen durch die zur ruhenden Erbschaft gehörenden Sklaven sofort beurteilen zu können 164 . M i t dem Wegfall des Sklavenrechts sei der Zweck dieser Fiktion entfallen 165 . Praktisch bedeutsam sei nur noch die Rückwirkungsfiktion. Sie gewährleiste die zeitliche Unmittelbarkeit der Rechtsnachfolge. Danach stehe rückwirkend mit Antritt der Erbschaft fest, nach wessen Person sich die Rechtsverhältnisse der hereditas iacens richten166. Mommsen löste sich also offensichtlich von Savigny, wenn er die hereditas iacens als juristische Person qualifizierte und der Rückwirkungsfiktion jede praktische Bedeutung absprach. Er setzte sich zwar nicht ausdrücklich mit Savignys Quelleninterpretation auseinander, es klingt aber wie eine konkludente Ablehnung, wenn er kritisierte, daß die Wirksamkeit der eintretenden juristischen Tatsachen bei der Rückwirkungsfiktion "vorläufig in suspenso" bliebe 167 . Es schien ihm also auf die Vermeidung von Schwebezuständen, Rechtssicherheit sowie Schnelligkeit und Leichtigkeit des Verkehrs anzukommen. Zudem hätte die Rückbeziehung der Wirkungen des Antritts auf den Zeitpunkt des Erbfalls eine inkonsequente Annäherung an die Rechtsfolgen des ipso /wre-Erwerbs dargestellt. M i t der Qualifizierung der hereditas iacens als juristische Person folgte Mommsen den Autoren, die die durch den Wegfall des natürlichen Subjekts entstehende "Lücke" durch die Fiktion eines Subjekts schließen wollten. Insofern war wegen der unklaren Nebeneinanderstellung in Gai. D. 28, 5, 31, 1 streitig, ob der Erblasser als fortlebend zu denken oder ob die Erbschaft selbst zu personifizieren war.

163

Quia creditum est hereditatem dominam esse, defuncti locum obstinere.

164

Florentin meine in D. 46, 1, 22 nicht, daß die ruhende Erbschaft eine juristische Person sei, sondern, daß sowohl zur Erfassung der hereditas iacens als auch zu der Erklärung von municipium, decuria und societas mit Fiktionen unterschiedlicher Art gearbeitet werde. 165

Insoweit folgend: Scheurl, Die Erbschaft, 4f.,8,ll. In diesem beschränkten Sinne sah also auch Savigny wie später Ihering (dazu unten) das Verhältnis von Persönlichkeits- und Rückwirkungsfiktion als eine Frage der historischen Entwicklung, allerdings in umgekehrter Richtung und nicht innerhalb des römischen Rechts. 166 Zum Ganzen: System des heutigen Römischen Rechts, Bd.2, 1840, S.363-373, insbesondere Fn.(f),(m), Bd.3, S.9, insbesondere Fn.(a). 6

E n t w u r f , S . 2 9 , Motive zu § 2 4 .

3. Kapitel: Antrittserwerb und Freiheit des Erben

173

Da die Obligation wesensmäßig untrennbar mit dem Berechtigten und Verpflichteten verbunden sei, bestritten vornehmlich Puchta, der junge Ihering und Scheurl, daß der hereditas iacens in jener Stelle eine selbständige, von der des Erblassers verschiedene, Persönlichkeit gegeben werde 168 . Sie meinten, ein Teil seiner Persönlichkeit lebe in der Erbschaft fort und gehe auf den Eiben über 169 . Streitig war wiederum, ob die fortlebende Persönlichkeit eine juristische Person war und wie sich die Persönlichkeits- zu der Rückwirkungsfiktion verhielt 170 . Puchta charakterisierte die fortlebende Persönlichkeit als "juristische Persönlichkeit", also als juristische Person. Die Persönlichkeitsfiktion sei für die Wirkung der einzelnen Veränderungen innerhalb der Erbschaft entscheidend. Die Rückwirkungsfiktion beziehe sich dagegen auf den Eintritt der Wirkung des Erwerbs des Erbrechts, also auf die Erbfolge im Ganzen. Sie gewährleiste so die Unmittelbarkeit der Nachfolge, die Puchta wie Savigny als Natur der Sukzession betrachtete 171 . Der junge Ihering ging davon aus, daß die "substantiierte Persönlichkeit" zwar juristische Person, daß sie aber in Umfang und Erwerbsfahigkeit auf den

168 Puchta , Pandekten, § 446, Fn.a); Ihering , Die Lehre von der hereditas jacens, S. 187-189, mit ausdrücklichem Verweis auf Savigny , S.189, Fn.l); Scheurl , Die Erbschaft, S.19, insbesondere Fn.13. 169

Puchta , Pandekten, §§ 446,447 und Vorlesungen dazu; Cursus der Institutionen, Bd.3, 4.Auflage 1857, § 303; Darüber hinaus wies Ihering , Die Lehre von der hereditas jacens, S.152f.,162-167, daraufhin, daß die Interessen der Gläubiger den Fortbestand der Passiva verlangten, womit auch die Aktiva fortdauern müßten und das römische Recht den Nachlaß als universitas behandelt habe; ähnlich rühmte sich Scheurl , Die Erbschaft, S. 12-19, einer "tieferen Einsicht": Wie Savigny und Mommsen ging er davon aus, daß der durch die Aufeinanderfolge der Generationen vermittelten Unvergänglichkeit der Staatsgesellschaft nach dem Grundgedanken des Erbrechts die durch den Wechsel der Subjekte vermittelte Unvergänglichkeit der Vermögensverhältnisse entsprechen müsse. Da sich bei den Obligationen die aktive und die passive Seite ausglichen, setze ihre Erhaltung die Betrachtung des Vermögens als universitas voraus. Diese sei aber nur als Machterweiterung der Person des Vermögenssubjekts denkbar, womit die vermögensrechtliche Persönlichkeit des Erblassers fortdauern müsse. 170

Die naheliegende Konsequenz, die Kontinuität durch den Eintritt des Erben in die fortlebende Persönlichkeit des Erblassers gewahrt zu sehen und der Rückwirkungsfiktion jegliche Bedeutung abzusprechen, wurde nicht gezogen, vgl. dazu: Windscheid , Die ruhende Erbschaft und die vermögensrechtliche Persönlichkeit, in: Kritische Überschau der deutschen Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, Bd.l (1853), S. 181(204, Fn.l). 171

Pandekten, §§ 446,447,450 und Vorlesungen dazu; Cursus der Institutionen, § 303. Puchta warf Savigny vor, daß gerade Ulp. D. 41, 1, 34 der beschränkten Bedeutung der Fiktion widerspräche, und er das Fundamentalprinzip des Erbrechts verkenne: Die Repräsentation der Person des Erblassers durch den Erben, die mit der Fiktion ihrer Fortdauer in der Erbschaft identisch sei, Vorlesungen, § 447.

174

5. Teil: Das Erbrecht des Entwurfes im Spiegel der Zeit

Inbegriff der vererblichen Rechtsverhältnisse beschränkt sei und die Tendenz habe, Sache zu werden. Er begründete die Rückwirkungsfiktion nicht mit der Unmittelbarkeit der Erbfolge, sondern wie die Persönlichkeitsfiktion mit der Nichtexistenz subjektloser Rechte. Daher versuchte er, den Widerspruch nicht auf funktionellem, sondern auf historischem Weg zu lösen. Da die Erbschaftsgläubiger nach der im älteren Recht geltenden Rückwirkungsfiktion zeitlich nicht vor Erbantritt hätten befriedigt werden können, sei sie von Julian durch die Fiktion der Fortdauer der Persönlichkeit des Erblassers abgelöst worden 172 . Nach Scheurl erstrebte die "vermögensrechtliche" Persönlichkeit nicht die Bildung, sondern nur den Fortbestand eines ganz gewöhnlich durch Willensunterwerfung zur Befriedigung der Bedürfnisse eines Individuums entstandenen Vermögens, das im Erben möglichst bald einen neuen Herrn finden solle. Es ginge also nicht darum, einem außerhalb des Vermögens liegenden Zweck eine selbständige, dauernde Existenz und juristische Handlungsfähigkeit durch sich ständig erneuernde Organe zu geben. Die "vermögensrechtliche" Persönlichkeit sei daher nicht als "juristische", sondern nur als "fingierte" Person zu bezeichnen 173 . Da der Erbe nicht Sukzsessor der hereditas, sondern des Verstorbenen sei, müsse er während des Zeitraums der ruhenden Erbschaft so betrachtet werden, als hätte er die als fortdauernd zu denkende Person des Erblassers bereits in sich aufgenommen. Scheurl ging also wie Puchta vom Sukzessionsbegrifif Savignys und der Vereinbarkeit von Persönlichkeitsund Rückwirkungsfiktion aus. Er wollte aber auch die einzelnen Rechtsverhältnisse der hereditas iacens in der Regel nach der Person des Erben beurteilen und der Rückwirkungsfiktion so auch eine praktische Bedeutung beilegen. Aus Gründen der Zweckmäßigkeit und der Billigkeit sollte die Persönlichkeit des Erblassers entscheiden, wenn andernfalls bereits gültig erzeugte Rechtswirkungen aufgehoben werden müßten 174 . Ziel Scheurls war also die Gültigkeit der während der hereditas iacens abgeschlossenen Rechtsgeschäfte 175.

172

Zum Ganzen: Die Lehre von der hereditas jacens, S. 167-185, 227-239, insbesondere S.235f. 1 73

Die Erbschaft, S.2,4-11,18,21. Da Scheurl (S.lOf.) aus einem Verweis Puchtas schloß, daß auch dieser die hereditas iacens von den auf dauerhafte rechtliche Bedeutung angelegten juristischen Personen unterschied, beurteilte er die Abweichung nur als sprachliche. 174

Zum Ganzen: Die Erbschaft, S.49-74. Insofern erreichte Scheurl auch die angestrebte Annäherung zwischen der regelmäßigen gesetzlichen und der regelwidrigen testamentarischen Erbfolge (S.51f.). 175 Vgl. dazu: Steinlechner, Das schwebende Erbrecht und die Unmittelbarkeit der Erbfolge nach römischem und österreichischem Recht, l.Theil, 1893, S.76; Wegmann, Begründung des Erbrechts, S.l 16f.

3. Kapitel: Antrittserwerb und Freiheit des Erben

175

In etwas modifizierter Form kam Lassalle 1861 nochmals auf den Gedanken des Fortlebens des Erblassers zurück 176 . Ausgehend von der unbeschränkten Testierfreiheit und dem Vorrang der gewillkürten Erbfolge sah er das Wesen des römischen Erbrechts in der Willensidentität zwischen Erblasser und Erben. Die hereditas iacens sei daher die fortbestehende Willenssubjektivität des Erblassers, die bereits im Erben "wohne" und über dem ihr unterworfenen Vermögen "schwebe" 177 . Mommsen sprach nicht von der Willenssubjektivität, aber von der Repräsentation der Persönlichkeit des Erblassers. Diese Worte wurden auch als Ausdruck für die Subjektivierung des Erblassers benutzt 178 . So klingt es denn auch wie eine Ignorierung des Erbfalls, wenn Mommsen es - im Gegensatz zu Savigny - als "das Natürlichste" betrachtet, "daß man das Vermögen, so lange es kein neues Subject bekommen hat, als Vermögen des Verstorbenen betrachtet, da die darin enthaltenen Rechte von ihm hinterlassen und ein Ausfluß seiner Rechtsfähigkeit sind, und daß man einstweilen Alles, soweit thunlich, fortgehen läßt, wie es bisher war" 1 7 9 .

Dementsprechend ließ Mommsen die Fortsetzung einer vom Erblasser begonnenen Ersitzung zu. Auch der Versuch, den Widersprüchen in den Quellen und der Unmittelbarkeit der Sukzession durch die funktionelle Unterscheidung von Rückwirkungs- und Persönlichkeitsfiktion gerecht zu werden, entsprach der Konstruktion der meisten Vertreter dieser Linie. Die Durchführung, Bezug auf den Erwerb der Erbschaft im Ganzen, bzw. die einzelnen Rechtsverhältnisse der hereditas iacens , scheint ihr Vorbild in Puchta zu finden.

17 6 Landsberg , Geschichte, S.728, bezeichnete die Theorie Lassalles gegenüber den im folgenden dargestellten neueren Lehren geradezu als Rückfall in die rein "aphoristisch-spekulative Behandlung des Rechts nach Hegel'scher Denkschablone". Freilich erkannte er (S.729-731), daß sich Lassalle durch den Vorbehalt der Übereinstimmung von Individual- und Allgemeinwillen des Gesetzes sozialpolitisch gesehen dem revolutionären Staatsabsolutismus näherte. Dadurch konnte Lassalle soziale Eigentumsschranken rechtfertigen, etwa für die Neuzeit das Übergewicht des Testaments verwerfen, das Erbrecht an den Willen des Staates verweisen und so zur Staatsinstitution machen. Dies führte dazu, daß Schmitt , Begründung, S.30, ihn zu den "Erbrechtsabschaffem" stellte; kritisch dazu: Schröder , Abschaffung oder Reform, S. 189-195,428-430. 177

Das System der erworbenen Rechte, 2.Theil, 1861, S.3,341. Im Vorgriff auf spätere Ausführungen sei bereits hier daraufhingewiesen, daß daher nur Lassalle der hereditas iacens Willensfahigkeit zusprechen konnte. 178

Ihering , Die ruhende Erbschaft, z.B. S.187; vgl. auch (Person): Puchta , Vorlesungen, § 447; Scheurl, Die Erbschaft, S.51. 1

E n t w u r f , S.279, Motive zu §214.

176

5. Teil: Das Erbrecht des Entwurfes im Spiegel der Zeit

Andererseits fehlen bei Mommsen die charakteristischen Ausdrücke der "Fortdauer der Persönlichkeit des Verstorbenen in seiner Hinterlassenschaft" 180 oder der Beseelung "durch Wiedererweckung der ... Persönlichkeit" 1 8 1 . Die ursprüngliche Klangfarbe ist kaum zu erkennen. Die Betrachtung als "Vermögen des Verstorbenen" könnte eine bloße Redewendung darstellen. So suchte Mommsen den Bezug zum Erblasser auch nicht für metaphysische Erklärungen, sondern eben nur zur Beurteilung der Rechtsverhältnisse der ruhenden Erbschaft, insbesondere der persönlichen Erwerbsvoraussetzungen. Auch die Universalsukzession erklärte er nicht durch die bezeichnende Konstruktion der Aufnahme der in der ruhenden Erbschaft fingierten Persönlichkeit durch den Erben, sondern nur durch den Übergang des Vermögens auf ein neues Subjekt 182 . M i t der insoweit "nüchternen" Betrachtung könnte Mommsen den Autoren nahestehen, die die Erbschaft selbst personifizierten 183 . So hatte z.B. Windscheid betont, daß die Quellen auch von der Erbschaft als domina sprächen. Aus der Nebeneinanderstellung bei Gai. D. 28, 5, 31, 1 folge nicht, daß beid e m a l dasselbe gesagt sein solle. Die fehlende Verbindung spreche sogar dafür, daß die letzten Worte nur eine Glosse seien. M i t persona sei nicht die Persönlichkeit, sondern das menschliche Individuum in seiner Erscheinung gemeint. Es solle nur bildlich ausgedrückt werden, daß die Beziehung des Vermögens zum Erblasser die zum Erben überwiege, was insbesondere für die persönlichen Erwerbsvoraussetzungen praktisch bedeutsam sei. Konsequenterweise lehnte Windscheid die Vorstellung, daß die Erbschaft die Person oder die Persönlichkeit des Erblassers darstelle, ausdrücklich ab 1 8 4 . "Am nächsten" zu Puchta sprach er der Rückwirkungsfiktion jegliche praktische Bedeutung ab. Der Erbe bekomme das Vermögen erst mit Antritt. Da er es aber dem Effekt nach wie im Todeszeitpunkt erhalte und die Selbständigkeit des Vermögens unnatürlich sei, sei die Rückbeziehung nur Ausdruck des naheliegenden Gefühls, die Person des Erblassers unmittelbar mit der des

180 Puchta, Pandekten §§ 446f. und Vorlesungen dazu; Ihering, Die Lehre von der hereditas jacens, S.157; Scheurl, Die Erbschaft, S.19. 1 81

Scheurl, Die Erbschaft, S.21.

182 Dazu oben bei 5.Teil, 2.Kap. A. 183

So z.B.: Mühlenbruch, Ausfuhrliche Erläuterung der Pandecten nach Hellfeld, Fortsetzung des Commentars von Christian Friedrich von Glück, Bd.43 (1843), S.40-55; Arndts, Pandekten, § 465, insbesondere Anm.l. 184 Die ruhende Erbschaft, S.191, insbesondere Fn.3-5, 192f.; Pandektenrecht, Bd.3, § 531, insbesondere Fn.9,1 lf.

3. Kapitel: Antrittserwerb und Freiheit des Erben

177

Erben zu verknüpfen. Für die Kontinuität der Rechtsnachfolge reichte es Windscheid, daß zwischen dem Erblasser und dem Erben kein anderer Berechtigter stand. Eine unmittelbare Nachfolge hielt er abweichend von der herkömmlichen Vorstellung nicht für erforderlich 185 . Praktisch suchte auch Mommsen die Verbindung zum Erblasser nur zur Beurteilung der Rechtsverhältnisse der ruhenden Erbschaft, insbesondere der persönlichen Erwerbsvoraussetzungen. Er sprach aber in bezug auf die von Windscheid angeführten Quellen von der Repräsentation der Persönlichkeit des Erblassers durch die Erbschaft und hielt an der Notwendigkeit der Unmittelbarkeit der Sukzession fest. Es läßt sich also nicht eindeutig bestimmen, ob Mommsen den Erblasser oder die Erbschaft als Subjekt der hereditas iacens ansah. Wie bei vielen Schriftstellern 186 finden sich beide Formulierungen nebeneinander. Weit wichtiger als der stets betonte Streit um den Gegenstand ist die Frage nach dem Zweck der Personifizierung. Insoweit ist der Unterschied zwischen Subjektivierung von Erbschaft oder Erblasser nebensächlich. Vielmehr kommt es auf einen Gegensatz an, der sich innerhalb der Personifikationstheorie in bezug auf die juristischen Personen überhaupt findet und die Frage nach den subjektlosen Rechten berührt. Ausgehend davon, daß es keine Rechte ohne Subjekte gab, diente die Personifizierung dazu, Rechten, die nicht an ein menschliches Individuum geknüpft waren, ein Subjekt und damit rechtlichen Bestand zu verschaffen. Auf dem Boden der grundsätzlichen Anerkennung subjektloser Rechte und Verbindlichkeiten war dagegen alleiniger Zweck, den Einklang mit dem Begriff des subjektiven Rechts herzustellen 1 8 7 . So personifizierte Windscheid, der diesen Zwiespalt am deutlichsten veranschaulicht, die Erbschaft nur, um dem auch hier nicht verschonten

185

Die ruhende Erbschaft, S.203-205; Pandektenrecht, Bd.3, § 531; ebenso: Rudorff, Vorlesungen, §§ 448-450, Anm.7.

in: Puchta,

186 Vgl. z.B.: Arndts , Pandekten, § 465, insbesondere Anm.1,2, der zwar die hereditas zur juristischen Person (dazu oben Fn.183), aber auch zur Repräsentantin des Verstorbenen machte. Allerdings erklärte er dann eindeutig, daß die hereditas Eigentümerin sei und der Bezug auf den Erblasser (nur) zur Erfassung des Nachlasses als Einheit diene; w.N. bei: Steinlechner , Das schwebende Erbrecht, S.38-41.

187

Steinlechner , Das schwebende Erbrecht, S.41f.; vgl. auch: Schirmer , Handbuch des Römischen Erbrechts, Teil 1, 1863, S.22, insbesondere Fn.42; Windscheid , Pandektenrecht, Bd.3, § 531, Fn.12. 12 Andres

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5. Teil: Das Erbrecht des Entwurfes im Spiegel der Zeit

"natürlichen Gefühl" entsprechend einen Bezugspunkt für die Rechte und Pflichten zu finden und so dem herkömmlichen Rechtsbegriff zu genügen. Er betonte, daß die hereditas iacens im Grunde ein subjektloses Vermögen sei, dessen einzelne Bestandteile durch die Souveränität des Rechts als Einheit zusammengehalten würden 188 . Der Anerkennung subjektloser Rechte näherte sich 1871 auch Ihering für das "heutige" römische Recht. Er ging davon aus, daß der Daseinszweck des Rechts, soweit es nicht auf die individuellen Bedürfnisse des Trägers zugeschnitten gewesen sei, über das Subjekt hinausrage. Die Rechtsordnung könne daher die Fortdauer der passiven Seite des Rechts, der Gebundenheit des Objekts, anerkennen, wenn die aktive Seite, die Herrschaft des Subjekts, vorübergehend wegfalle und das Recht folglich untergehe. In dieser Vorstufe zum Vollrecht würden die Vermögensrechte nicht durch die Konstruktion einer juristischen Person, sondern durch die Zweckbestimmung, dem künftigen Rechtssubjekt, dem Erben, zu dienen, zusammengehalten189. Kernfrage ist also, ob Mommsen eine Tendenz zum subjektlosen Recht nachzuweisen ist. Nach § 230 sollte der Erblasser dem Erben eine Antrittsfrist setzen können, um zu verhindern, daß sein Nachlaß "zu lange herrenlos bleibt" 1 9 0 . Danach schien Mommsen davon auszugehen, daß die Rechte und Pflichten zeitweilig eines Subjekts entbehrten. Es wären dann bloße Zweckmäßigkeitsgründe und Rücksichten auf überlieferte Begriffe, die ihn dazu bewogen hätten, es als "das Natürlichste" anzusehen,

188 Den Unterschied zu den Korporationen und Stiftungen sah Windscheid wie Scheurl und Ihering darin, daß die ruhende Erbschaft keinen außerhalb ihrer selbst liegenden Zweck verfolge. Dies sei aber ebenso unwesentlich wie die dadurch bedingte Verschiedenartigkeit der rechtlichen Behandlung. Jedenfalls rechtfertige die gemeinsame Eigenart, jeweils ein Vermögen ohne menschliches Subjekt zu sein, entgegen Scheurl die einheitliche Bezeichnung als juristische Person, Die ruhende Erbschaft, S.186-190; Pandektenrecht, Bd.3, § 531, insbesondere Fn.10, Bd.l, § 49. 189

Passive Wirkungen des Rechts, in: Jherings Jahrbücher, Bd.10 (1871), S.387ff.(390,393395,420). Die Betonung des Zwecks erinnert an das "Zweckvermögen" von Brinz, der zwar juristische Personen nicht anerkannte, aber den Zweck der subjektlosen Erbschaft, den Eintritt der Erbfolge, selbst personifizierte, Lehrbuch der Pandekten, Bd.l, §§ 59-62. Neben den dargestellten Meinungen standen noch zahlreiche andere, die aber nur in unwesentlichen Punkten abwichen oder erst nach der Veröffentlichung des Entwurfes Mommsens vertreten wurden. Hierzu gehört die interessante Konstruktion Steinlechners. Danach war der Erwerb ein sukzessiv entstehendes Rechtsgeschäft, das mit der Berufung begann und mit dem Antritt vollendet wurde. Eine hereditas iacens mit einer eigenen Persönlichkeit als Zwischenstadium gab es also nicht, Das schwebende Erbrecht, S.408-445. Entwurf, S . 2 9 , Motive zu § 2 .

179

3. Kapitel: Antrittserwerb und Freiheit des Erben

"das V e r m ö g e n , so lange es k e i n neues Subject b e k o m m e n hat, als V e r m ö g e n des Verstorbenen" 191, z u b e t r a c h t e n , w i e es a u c h W i n d s c h e i d t a t , d a d i e s e l b s t ä n d i g e E x i s t e n z des subjektlosen Vermögens ein Ausnahmezustand sei192. M i t ähnlicher

Argu-

m e n t a t i o n u n d F o r m u l i e r u n g suchten auch K o p p e n , Schirmer u n d Pagenstec h e r d e n B e z u g des s u b j e k t l o s e n V e r m ö g e n s z u m E r b l a s s e r ,

lehnten

aber

jegliche Fiktion ab193. Andererseits erklärte M o m m s e n : " D i e A n n a h m e der j u r i s t i s c h e n Persönlichkeit der Erbschaft hat n u r den Z w e c k , den Uebergang des Vermögens als eines Ganzen a u f den Erben z u v e r m i t t e l n u n d zugleich durch Zusammenhalten des Vermögens als E i n h e i t den G l ä u b i g e r n ihre Befriedigung zu sichern" 194. D i e B e t o n u n g des Z w e c k s d e r F i k t i o n k ö n n t e d a f ü r s p r e c h e n , d a ß sie d e n zur Erbschaft gehörenden Rechten u n d Pflichten rechtlichen Bestand verleih e n s o l l t e , d a s S u b j e k t a l s o a l s r e c h t s l o g i s c h e N o t w e n d i g k e i t des V e r m ö g e n s a n g e s e h e n w u r d e . H e r r e n l o s w ä r e d a s V e r m ö g e n d a m i t n u r i n s o w e i t , a l s es k e i n natürliches Subjekt hatte195.

191

Entwurf, S.279, Motive zu § 214.

192

Die ruhende Erbschaft, S. 187. 193

Koppen und Schirmer folgerten aus Ulp. D. 41, 1, 33, 2 und 34 sowie Gai. 28, 5, 31, 1, daß das Vermögen "vor Antritt des Erben insofern noch als Vermögen des Verstorbenen betrachtet werden (muß), als die Rechte, aus denen es besteht, von ihm hinterlassen und eine Ausfluß gerade seiner Rechtsfähigkeit sind", Koppen , System, S.210 (zur Subjektlosigkeit S.214), bzw, daß man zur Beurteilung der "persönlichen Rechtsfähigkeit des Interessenten ... naturgemäß an die Person des Erblassers ... gewiesen (werde), indem einmal kein anderes Subjekt vorhanden ist, an das man anknüpfen könnte, und dann die bereits begründeten Vermögensverhältnisse selbst zum Theile noch von der Rechtsfähigkeit des Verstorbenen getragen werden müssen", so Schirmer , Handbuch, S.21f. (zur Subjektlosigkeit auch S.14f.). Der letzte Halbsatz zeigt allerdings, daß auch Schirmer sich nicht vollständig von der Idee der fortlebenden Persönlichkeit des Erblassers lösen konnte, dazu: Windscheid , Pandektenrecht, Bd.3, § 532, Fn.12. Pagenstecher sprach wie Mommsen von der "Repräsentation des Erblassers durch die Erbschaft". Das fortdauernde Vermögen halte als gesetzliches Band die einzelnen dazugehörigen Sachen zusammen und repräsentiere einen dominus , Beiträge zur Bearbeitung des Römischen Rechts, von Dr. Ch. G. Adolf von Scheurl , Rezension, in: Kritische Zeitschrift für die gesammte Rechtswissenschaft, Bd.l (1853), S.21ff.(23-25). 1 94

Entwurf, S.280, Motive zu § 214. 195

Zu den verschiedenen Möglichkeiten der Auslegung dieses auch in den Quellen gebrauchten Begriffs: Steinlechner , Das schwebende Erbrecht, S. 13-25.

5. Teil: Das Erbrecht des Entwurfes im Spiegel der Zeit

180

Es scheint also, daß Mommsen es geradezu darauf anlegte, sich keiner der Meinungen eindeutig zuordnen zu lassen. Er übernahm mit der Nebeneinanderstellung die Zweifel und Unklarheiten der Auslegung von Gai. D. 28, 5, 31, 1 in seinen Entwurf, ohne sich auf den Streit, den sie bei den Pandektisten ausgelöst hatten, einzulassen. Unklar ist, ob er das Gewicht auf den ersten oder den zweiten Halbsatz legte, also die Erbschaft personifizierte oder den Erblasser fortleben ließ, und ebenso unklar ist, ob er zum subjektlosen Recht tendierte. Feststellen läßt sich nur, daß Mommsen nicht völlig mit dem Begriff des subjektiven Rechts brach und im Rahmen der zuvor gängigen Vorstellung 196 blieb: Die ruhende Erbschaft war eine juristische Person, die sich im Augenblick des Antritts in einen bloßen Erwerbsgegenstand verwandelte und als reines, unmittelbares Rechtsobjekt, als universitas, Gegenstand des Erbrechts wurde 197 .

2. Gesetzgebungstechnik und Praxisorientierung Mommsen begrenzte seine Fragestellung auf das Verhältnis von Persönlichkeits- und Rückwirkungsfiktion. Wie die obige Darstellung zeigte, griff er damit das einzige Problem heraus, in dem die verschiedenen Meinungen zu unterschiedlichen praktischen Ergebnissen führten. Fast alle Autoren gingen unabhängig davon, ob sie den Erblasser oder die Erbschaft personifizierten oder das Vermögen als subjektlos behandelten, davon aus, daß die Rechtsverhältnisse der hereditas iacens nach der Person des Erblassers zu beurteilen seien. Nur Savigny wollte die Person des Erben zählen lassen. Damit mußte er der Rückwirkungsfiktion praktische Bedeutung zukommen lassen. Die von Mommsen gewählte Fragestellung machte also nicht nur ein genaueres Eingehen auf die verschiedenen Auffassungen überflüssig, sondern zeigte auch seinen Sinn für die Bedürfnisse der Rechtsklarheit. Damit bewies er seine Fähigkeit, begriffliches Denken des Theoretikers vom praktischen Denken des Gesetzgebers zu scheiden. In diesem Sinne betonte er, er habe den Satz, "daß die hereditas jacens als juristische Person zu betrachten sei, nicht in den Entwurf aufgenommen, weil es sich hierbei im Grunde nur um eine juristische Construction handelt".

196

197

Dazu: Scheurl, Die Erbschaft, S.lf. Dazu oben bei 5.Teil, 2.Kap. A.

3. Kapitel: Antrittserwerb und Freiheit des Erben

181

Ebenso erklärte er von seinem Standpunkt aus konsequent, daß der Satz, "daß es, sowie der Erbe die Erbschaft annimmt, angesehen wird, also ob er schon im Augenblick des Todes des Erblassers Erbe geworden wäre, ... wesentlich nur eine theoretische Bedeutung (hat) und ... deshalb nicht in das Gesetz (gehört)".

Was bei der Universalsukzession nur vermutet werden konnte, wird hier deutlich ausgesprochen: Konstruktionsfragen verwies Mommsen weitgehend an die Wissenschaft. Auf die Frage der Rechtsnatur der hereditas iacens ging er nur insoweit ein, als er sie als "juristische Person" und zwar, was bei der Rechtsfähigkeit relevant wird, "beschränkten Umfangs" charakterisierte 198 . Dies war zumindest ein Versuch, mit dem herkömmlichen Begriff des subjektiven Rechts im Einklang zu bleiben. Insofern konnte er den "Theoretiker in sich" also nicht ganz verdrängen. Da die rechtstheoretische Bedeutung der Streitfrage, bei der es um das Wesen der juristischen Personen und der Fiktionen, die Definition des subjektiven Rechts sowie die Möglichkeit subjektloser Rechte und damit um die Grundlagen der Rechtsordnung ging 1 9 9 , von jedem namhaften Wissenschaftler eine Stellungnahme erwartete, darf diese "Inkonsequenz" nicht überbewertet werden. Ausgangspunkt Mommsens war also das reine römische Recht mit all seinen Unklarheiten. Nur weil ein (scheinbarer) Widerspruch geklärt werden mußte, konnte er es nicht in dieser Form als Gesetz übernehmen. Da aber alle dazu verbreiteten Theorien zu demselben Ergebnis führten, mußte sich Mommsen keiner eindeutig zugesellen. Vielmehr konnte er als Gesetzgeber in § 214 S.3 die Übereinstimmung formulieren und in den Motiven die insbesondere bereits bei Gaius angedeutete Widersprüchlichkeit fortschleppen. Freigehalten von allen "modernen", begrifflich-systematischen Konstruktionsversuchen schien ihm das reine römische das praktische Recht gewesen zu sein. II. Umfang der Rechtsfähigkeit Wie aus den Differenzierungen in der Bezeichnung deutlich wurde, bestanden bei der hereditas iacens in bezug auf den Umfang der Rechtsfähigkeit Besonderheiten gegenüber sonstigen juristischen Personen. Mommsen motivierte die Nichtaufnahme der Qualifizierung als juristische Person in das Gesetz auch damit, daß 198

Zum Ganzen: Entwurf, S.279, Motive zu § 214. 1

Brenne , Erbanfall- und Erbantrittsprinzip, S.46f.

5. Teil: Das Erbrecht des Entwurfes im Spiegel der Zeit

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"die juristische Persönlichkeit nur in einem beschränkten Umfange angenommen werden kann"200. Zur Erklärung der ,tBeschränkungen ,, faßte er die in der gemeinrechtlichen Literatur weitgehend anerkannten Eigenarten der hereditas iacens zusammen. Die praktisch relevanten Folgen formulierte er dann in § 214. So sei erste Besonderheit der ruhenden Erbschaft die Begrenztheit des Zwecks. Dieser bestünde nur darin, die Erbschaft zur Vermittlung des Übergangs auf den Erben und zur Befriedigung der Gläubiger als Einheit zusammenzuhalten. Die hereditas iacens sei daher nur insofern juristische Person, als sie "Trägerin der auf den Erben übergehenden Rechtsverhältnisse" sei, dagegen müßten die rein persönlichen Rechte und Verbindlichkeiten mit dem Erbfall erlöschen (§ 214 S.4). Da die Erbschaft nicht juristisch willens- und handlungsfähig sei, verstehe es sich "von selbst", daß nur von einer Willenshandlung unabhängige Rechte und Verbindlichkeiten begründet werden könnten (§ 214 S . l ) 2 0 1 . Während die Quellen hier stehengeblieben und einem Vertreter nur sehr beschränkte Verwaltungsbefugnisse zugesprochen hatten, gewährte Mommsen der hereditas iacens durch einen gerichtlich bestellten Vertreter mittelbar juristische Willens- und Handlungsfähigkeit. Der Vertreter hatte die Rechte und Pflichten eines Vormunds, wobei im Anschluß an § 1985 Zürch.Gsb. und I, 9 §§ 473 ff. PrALR insbesondere alle zur Erhaltung des Nachlasses notwendigen Verwaltungs- und Vertretungshandlungen gestattet waren 202 . Gemäß § 214 S.2 konnte die hereditas iacens eine vom Erblasser begonnene Ersitzung fortsetzen und vollenden. Konstruktives Problem war, daß die Ersitzung den Besitz voraussetzte und dieses "factische Verhältnis" wiederum die "natürliche Basis des Wollens" hatte 203 . Der Besitz schloß also zwei Elemente in sich ein: Die tatsächliche Gewalt über die Sache und einen bestimmten Willen, den Mommsen in den Motiven zu § 249 für den "juristischen

2 0 0

Entwurf, S.279, Motive zu § 214.

201

Zum Ganzen: Entwurf, S.280, Motive zu § 214. 202

Entwurf, S.282f., Motive zu § 217. Abweichend von Siebenhaar, Commentar, Bd.2, Anm. zu § 2248, gestattete Mommsen dem Vertreter nicht den Erwerb einer dem Erblasser angefallenen Erbschaft, vgl. auch: Schmitt, Begründung, S.967. 9

Entwurf, S.298, Motive zu § 249, S.280, zu § 214.

3. Kapitel: Antrittserwerb und Freiheit des Erben

183

Besitz" näher als den "Willen, ... für sich zu besitzen" 204 bezeichnete. Damit folgte Mommsen der seit Savignys Werk über "Das Recht des Besitzes" (1803) 205 in der gemeinrechtlichen Literatur herrschenden Vorstellung, wonach der "juristische Besitz" {civilis possessio) die tatsächliche Gewalt und den Willen, die Sache zu beherrschen, (corpore et animo) voraussetzte und von der bloßen Innehabung (