Vom Sowjetimperium zum eurasischen Staatensystem: Die russische Außenpolitik im Wandel und in der Wechselbeziehung zur Innenpolitik. Ausgewählte Beiträge [1 ed.] 9783428484867, 9783428084869


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Vom Sowjetimperium zum eurasischen Staatensystem: Die russische Außenpolitik im Wandel und in der Wechselbeziehung zur Innenpolitik. Ausgewählte Beiträge [1 ed.]
 9783428484867, 9783428084869

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VOM SOWJETIMPERIUM ZUM EURASISCHEN STAATENSYSTEM

Ausgewählte Beiträge von Boris Meissner

ABHANDLUNGEN DES GÖTTINGER ARBEITSKREISES

Herausgegeben vom Göttinger Arbeitskreis BAND 11

Vom Sowjetimperium zum eurasischen Staatensystem Die russische Außenpolitik im Wandel und in der Wechselbeziehung zur Innenpolitik

Ausgewählte Beiträge von Boris Meissner

Duncker & Humblot · Berlin

Die in dieser Reihe veröffentlichten Beiträge geben ausschließlich die Ansichten des Verfassers wieder.

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Meissner, Boris:

Vom Sowjetimperium zum eurasischen Staatensystem : die russische Aussenpolitik im Wandel und in der Wechselbeziehung zur Innenpolitik ; ausgewählte Beiträge I von Boris Meissner. - Berlin : Duncker und Humblot, 1995 (Abhandlungen des Göttinger Arbeitskreises ; Bd. II) ISBN 3-428-08486-1 NE: Göttinger Arbeitskreis: Abhandlungen des Göttinger .. .

Der Göttinger Arbeitskreis: Veröffentlichung Nr. 450 Alle Rechte vorbehalten © 1995 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Color-Druck Dorfi GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0720-6844 ISBN 3-428-08486- l Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 @)

INHALT

Vorwort........................................................................................................

7

Die Außenpolitik der Sowjetunion - Grundlagen und Strategien .....

9

Die Wechselbeziehung zwischen der Innen- und Außenpolitik Gorbatschows ......................... .............................................................. .......

37

Vom XXVIII. Parteitag bis zum August-Putsch 1991 und seinen Folgen...........................................................................................................

67

Die Nationalitätenfrage und der Zerfall des inneren Imperiums ........

89

Entwicklung und Ende des sowjetischen Experiments einer osteuropäischen Integration und der Zerfall des äußeren Imperiums.............

101

Die zwei Grundlinien der Außenpolitik Rußlands.................................

135

Die GUS zwischen Hegemonial- und Unabhängigkeitsbestrebungen

173

Die GUS zwischen Integrationsplänen und Krisenerscheinungen.......

219

Das Verhältnis der Sowjetunion und Rußlands zu den baltischen Staaten..........................................................................................................

257

Serbien und Jugoslawien in der russischen Balkanpolitik .....................

277

Die ostmittel- und südosteuropäischen Staaten in der russischen Osteuropapolitik ................................................................................... ......

297

Die Außenpolitik Jelzins im Widerstreit von Innen- und Außenpolitik............................................................................................................

333

Schriftenverzeichnis ............................................ ........................................

355

VORWORT Für Boris Meissner, der am 10. August 1915 in Pieskau (Pskov) geboren wurde, bedeutete die Umwandlung Rußlands in das Sowjetsystem und das Selbständigwerden der Baltischen Staaten einen frühen und tiefgreifenden Einschnitt in sein Leben. Er ist den Problemen dieses Raumes ständig verbunden geblieben. Gegenstand seines wissenschaftlichen Forschens und Schaffens wurden die politischen, zeitgeschichtlichen und rechtlichen Entwicklungen der Sowjetunion und Rußlands und der - anderen - Staaten Osteuropas und des Baltikums. Im Geleitwort zu der ihm zum 70. Geburtstag 1985 gewidmeten Festschrift ist dargestellt, daß die Osteuropaforschung der Nachkriegszeit mit seinem Namen untrennbar verbunden ist. Die sich über eine große thematische Breite erstreckenden zahlreichen und umfangreichen Veröffentlichungen dazu sind dort und an anderen Stellen immer wieder als bedeutendes wissenschaftliches Lebenswerk gewürdigt worden. Seither ist ein Jahrzehnt vergangen. In dieser Zeitspanne hat das kommunistische Zwangssystem seine Macht verloren und ist beseitigt worden, die Sowjetunion hat sich aufgelöst, Rußland übernahm von ihr die Rolle einer Großmacht, die Baltischen Staaten gewannen wieder ihre wirkliche Souveräntität zurück, andere folgten in die Selbständigkeit. Boris Meissner hat diese Entwicklung von ihren Wurzeln an wissenschaftlich begleitet und mit seinen Publikationen an seinen Erkenntnissen teilhaben lassen. Seine Veröffentlichungen in diesem Jahrzehnt 1985-1995, die in dem diesem Sammelband beigegebenen Verzeichnis aufgeführt sind, haben ein derartiges Gewicht und einen solchen Umfang, daß schon allein das Schaffen dieser zehn Jahre ein mit ehrfürchtigem Respekt zu würdigendes Lebenswerk ist. In dem hier vorgelegten Band sind aus diesen seinen Schriften anläßlich seines 80. Geburtstages Beiträge aus seiner Feder ausgewählt und zusammengefaßt worden, die den Wandel vom Sowjet- Imperium zum Eurasischen Staatensystem untersuchen und erklären. Die Reihe der Beiträge nimmt ihren Ausgang bei den Grundlagen und Strategien der Außenpolitik der späten Sowjetunion und behandelt dann mit Aufsätzen aus den letzten Jahren die Außenpolitik Rußlands in ihrer Wechselwirkung zur Innenpolitik; sie wird mit der eigens für diesen Band geschriebenen Untersuchung zur Außenpolitik Jetzins im Widerstreit von Innen- und Außenpolitik abgeschlossen. Mit der historischen Rückbesinnung, den umfassenden Kenntnissen der

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Vmwort

Entwicklungen in diesem Jahrhundert, dem tiefen Verständnis der rechtlichen, politischen und wirtschaftlichen Zusammenhänge und der wissenschaftlichen Verarbeitung neuesten Materials vermittelt Boris Meissner seine Einsichten in das gesamte politische Geschehen in dem früher von der Sowjetunion eingenommenen Raum. Der Jubilar hat mit seinen Kenntnissen, Einsichten und Erfahrungen auch unmittelbar an den politischen Entwicklungen teilnehmen können. Sein Rat hat den Bundeskanzler und die Mitglieder seines Stabes bei den schicksalsträchtigen Aufgaben begleitet, die Zustimmung der Sowjetunion zur Wiedervereinigung Deutschlands zu erreichen, und er ist bei Staatsbesuchen aus Rußland stets ein gesuchter Gesprächspartner. Unermüdlich wirkt er in vielen leitenden Gremien - Vorständen und Leitungsausschlissen - von Institutionen der Ostrechtsforschung. Boris Meissner widmete sich in den letzten zehn Jahren zudem der Gründung von gesonderten Studiengruppen: der "Studiengruppe für gegenwartsbezogene Baltikumforschung", der "Interdisziplinären Studiengruppe für die Deutschen in Rußland und in der Sowjetunion", der "Studiengruppe für gegenwartsbezogene Kaukasusforschung" und der "Studiengruppe für gegenwartsbezogene Ukraineforschung"; weitere Studiengruppen für Kasachstan und Mittelasien, die Wolga-UralRegion und für Sibirien sind in Vorbereitung. In den Studiengruppen wird über die Entwicklung in diesen Regionen wissenschaftlich fundiert, in Anhindung an die aktuellen politischen Verhältnisse, beraten. Sie bilden ein Element, Forschungslücken institutionell und personell schließen zu helfen. Seit nunmehr 30 Jahren leitet er als Präsident den Göttinger Arbeitskreis, und als Vorsitzender des Direktoriums bestimmt er die Arbeit von dessen Institut für Deutschland- und Osteuropaforschung in Göttingen. Der Göttinger Arbeitskreis fühlt sich deshalb geehrt, diesen Band seinem verdienten Präsidenten zum 80. Geburtstag als Dank für seine umfassende wissenschaftliche Arbeit herauszugeben.

Göttingen, den 10. August 1995

Dietrich Rauschning Alfred Eisfeld

DIE AUSSENPOLITIK DER SOWJETUNipN GRUNDLAGEN UND STRATEGIEN I. Die außenpolitische Doppelstrategie der Sowjetunion als Folge ihres Aufstiegs zur Weltmacht

Der Zweite Weltkrieg hat sich mit seinen Folgen in zweierlei Hinsicht auf die außenpolitische Lage der Sowjetunion ausgewirkt. Erstens hat das kommunistische Rußland jene Machtstellung in Europa und Asien wiedergewonnen, die das zaristische Rußland im Krimkrieg (1853-1856) und im russisch-japanischen Krieg (1904-1905) eingebüßt hatte. Das Sowjetimperium, das mit dem Vorfeld seines engeren Machtbereichs bis zur Mitte Europas reicht, übertrifft als Großmacht der räumlichen Ausdehnung und militärischen Stärke nach das Russische Reich bei weitem. Die erweiterte Machtbasis und der Besitz von Kernwaffen haben der Sowjetunion zweitens den Aufstieg zu einer Weltmacht ermöglicht, was das zaristische Rußland selbst auf dem Höhepunkt seiner Macht niemals gewesen ist. Der Aufstieg der Sowjetunion zur Weltmacht hat sich in drei Etappen vollzogen. Die Ausgangsbasis bildeten die Zugeständnisse, die Stalin auf den Gipfelkonferenzen von Jalta und Potsdarn von seinen Verbündeten erreichen konnte. Diese Erfolge konnte er in der Konfrontation mit dem Westen weiter ausbauen und festigen. Die entscheidende qualitative Veränderung des Kräfteverhältnisses zugunsten der Sowjetunion ist aber erst unter Chruschtschow durch den Besitz der Wasserstoffbombe und interkontinentaler Raketenwaffen erfolgt. Die militärische Basis der sowjetischen Weltmachtstellung ist unter Breschnew im Zeichen der Entspannung durch eine forcierte Aufrüstung weiter ges'tärkt worden. Dabei haben die Vergrößerung des Potentials an strategischen Raketenwaffen ohne Vernachlässigung der konventionellen Streitkräfte und der Ausbau der Flotte die Voraussetzung für eine globale Machtausweitung geschaffen.1 Der vorliegenden Abhandlung liegt die gekürzte und aktualisierte Fassung des Beitrages des Verfassers im Sammelband "Kontinuität und Wandel in den Ost-West-Beziehungen" (Modeme Welt. Jahrbuch für Ost-West-Fragen 1983), Köln 1983, zugrunde, veröffentlicht in: Kaiser, K.; Schwarz, H.-P. (Hrsg.): Weltpolitik. Strukturen- Akteure-Perspektiven, 2. Aufl., Bonn 1987, S. 435-460. 1 Vgl. Gertler, Johannes: Die Rolle der Streitkräfte in der sowjetischen Außenpolitik, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 17-18/ 82, S. 14.

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Die Außenpolitik der Sowjetunion - Grundlagen und Strategien

Als Folge dieser Entwicklung ist seit Chruschtschow ein wesentlicher Wandel in der sowjetischen Außenpolitik festzustellen gewesen. Diese hat zwar ihren ursprünglichen kontinentalen Charakter nicht ganz eingebüßt, ist aber in stärkerem Maße eine Weltpolitik geworden. Bei ihrer Gestaltung wirkte sich ein gegenüber Stalin wesentlich verändertes Weltbild aus, in dem den Vereinigten Staaten und den Entwicklungsländern der Dritten Welt Schlüsselstellungen zukamen. Der Übergang von einer kontinentalen zu einer globalen Außenpolitik, den Chruschtschow eingeleitet hatte, ist von seinen Nachfolgern zielbewußt fortgesetzt worden. Dabei ist ein wachsendes Wehrnachtbewußtsein festzustellen gewesen, von dem die so\\jetische Außenpolitik unter Breschnew in verstärktem Maße bestimmt war. Dieser Entwicklung entsprach die Feststellung des so\\jetischen Außenministers Gromyko auf dem XXIV. Parteitag der KPdSU 1971, daß es "keine irgendwie bedeutende Frage gibt, die man heute ohne die Sowjetunion oder gar gegen sie lösen könnte" 2. Er hat diese Feststellung in seiner Rede auf der Tagung des Obersten Sowjet der UdSSR im Juni 1983 wiederholt3. Das neu errungene Weltmachtbewußtsein kam auch im außenpolitischen Teil des ZK-Berichts, der von Breschnew auf dem XXV. Parteitag 1976 erstattet wurde, deutlich zum Ausdruck. Er wies auf die wachsende Macht und den damit verstärkten Einfluß des Weltsozialismus unter Führung Moskaus hin und erklärte: "Es gibt wohl keinen Teil der Erde, dessen Verhältnis bei der Gestaltung unserer Außenpolitik nicht auf diese oder jene Weise berücksichtigt werden müßten"4 . Sowohl von den So\\jetführern als auch von den so\\jetischen Ideologen und Wissenschaftlern ist in den letzten Jahren immer häufiger auf die tiefgehenden Veränderungen der Kräfteverhältnisse in der Welt zugunsten der So\\jetmacht hingewiesen worden. In diesem Zusammenhang wird eine "Umgestaltung der internationalen Beziehungen" gefordert, die diesen Veränderungen im vollen Umfange Rechnung tragen sol( Die So\\jetunion ist nicht nur eine Supermacht, sie ist auch eine Universalmacht besonderer Art, die sich aufgrund ihrer ideologisch bedingten außenpolitischen Zielsetzung und inneren Machtstruktur tiefgehend von normalen Großmächten unterscheidet. Sie bildet nicht nur eine vom Sowjetpatriotismus erfüllte neue Inkarnation des Russischen Reiches. Sie ist auch die Basis der kommunistischen Weltbewegung und damit die "Hauptkraft des 2 Pravda vom 4.4.1971. 3 Pravda vom 16.6.1983. 4 Pravda vom 25.2.1976.

5

Vgl. Lebedew. N. J.: Eine neue Etappe der internationalen Beziehungen, Berlin (Ost)

1978, S. 47 ff.

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Weltsozialismus". In dieser Eigenschaft strebt sie die Errichtung eines "sozialistischen Weltstaates" als Vorstufe zu einer kommunistischen Weltgesellschaft in Gestalt der "klassenlosen Gesellschaft" an. In ihr soll ein einheitliebes Menschheitskollektiv die lebendige Vielfalt von Staaten und Völkern ersetzen6. Die Verwirklichung dieser Zielsetzung würde faktisch die sowjetische Weltherrschaft bedeuten. Vom sowjetischen Standpunkt erscheint der Verzicht auf dieses Endziel, das zur Legitimation sowohl der unbeschränkten Herrschaft der KPdSU nach innen als auch nach außen dient, nicht denkbar. Andererseits ist sich die Kreml-Führung bewußt, daß die Weltherrschaft für die sowjetische Seite auch bei einer größeren Machtentfaltung weder erreichbar noch wünschenswert ist. Dagegen wird eine Welthegemonie, d. h. eine weltweite Vorherrschaft der Sowjetunion, offenbar von einem Teil der sowjetischen Führungselite, die eine globale Politik der Stärke befürwortet, als ein erstrebenswertes und zugleich realistisches Fernziel angesehen. Diese Einstellung und die außenpolitische Praxis lasse'n deutlich erkennen, daß die Sowjetunion weiterhin als eine expansive und nicht als eine saturierte Großmacht anzusehen ist. Im Hinblick auf die bewegenden Kräfte, welche den expansiven Charakter der sowjetischen Außenpolitik bedingen, werden meist zwei Auffassungen vertreten. Nach der einen Auffassung ist die sowjetische Außenpolitik eine reine Machtpolitik, nach der anderen ist sie überwiegend durch die weltrevolutionären Züge der marxistisch-leninistischen Ideologie bedingt. Mit der ersten Auffassung wird meist die These verbunden, daß es sich bei der Sowjetpolitik, soweit sie expansiver Natur ist, nur um eine Fortsetzung der imperialistischen Politik des zaristischen Rußland handeln würde7. Als Beispiele werden die sowjetische Politik im Ostseeraum, gegenüber Polen, auf dem Balkan und im Mittelmeerraum, im Nahen, Mittleren und Fernen Osten genannt. Sicher läßt sich diese Auffassung im Hinblick auf die Einwirkungen bestimmter konstanter Faktoren vertreten, denen auch die zaristische Außenpolitik unterlag. Diese betreffen erstens die geographischen Gegebenheiten des Landes und den besonderen Charakter Rußlands als eines Vielvölker6 Vgl. Meissner, Boris: Die sowjetische Außenpolitik zwischen Expansion und Entspannung, in: Elemente des Wandels in der östlichen Welt. Modeme Welt. Jahrbuch für Ost-West-Fragen, Köln 1976, S. 202. 7 So gehen z. B. Pächter, Heinz: Weltmacht Sowjetunion. Außenpolitische Strategie in drei Jahrhunderten, Oldenburg 1968, und Ruehl, Lothar: Rußlands Weg zur W-eltmacht, Düsseldorf und Wien 1981, von einer ungebrochene n Kontinuität der zaristischen ·und sowjetischen Außenpolitik aus.

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staates. Sie ergeben sich zweitens aus einem bestimmten historischen Schicksal und den dadurch bedingten politisch-staatlichen und geistig-kulturellen Traditionen, die sich durch die marxistisch-leninistische Ideologie zeitweilig zurückdrängen, aber nicht überwinden ließen. Die geographischen Gegebenheiten bilden nur einen Teil jener konstanten Faktoren, die auf die Außenpolitik eines Landes einwirken. Ihnen kommt aber im Falle Rußlands eine ganz besondere Bedeutung zu. Die Entwicklung des russischen Staates ist durch die grenzenlose Weite des eurasischen Kontinents ohne natürliche Grenzen und durch den fehlenden Zugang zum offenen Meer wesentlich beeinflußt worden. Aus dieser kontinentalen Lage leitete sich das Streben Rußlands nach den offenen Weltmeeren und der niemals ruhende Drang zur erobernden und kolonisierenden Expansion ab. Bei der räumlichen Ausdehnung, die aufgrund dieser geographischen Gegebenheiten erzielt wurde, handelte es sich dennoch um die Ergebnisse einer großräumigen, aber regional begrenzten Strategie. Trotz des gewaltigen Gebietszuwachses blieb Rußland eine Kontinentalmacht. Vorn nördlichen Polarmeer abgesehen, ist Rußland unter zaristischer Herrschaft der entscheidende Durchbruch zu den Weltmeeren versagt geblieben. Daran hat sich auch unter bolschewistischer, d. h. kommunistischer Herrschaft bisher nichts geändert. Der Unterschied zwischen der russischen Landmacht und den angelsächsischen Seemächten, insbesondere zu den Vereinigten Staaten, besteht trotz aller Veränderungen der militärischen Technik weiter fort. Die Großrussen, d. h. die staatstragende russische Nation und die meisten anderen Völker Rußlands, sind ihrer Veranlagung nach kontinental, aber der russische Staat wird als Großmacht zur Maritirnität getrieben. Dieser Drang zur Maritimität muß anwachsen, wenn die So~etunion ihrer neu errungenen Weltmachtstellung gerecht werden will. Das Auftreten der sowjetischen Kriegsmarine auf sämtlichen Meeren der Welt läßt dies in den letzten Jahren deutlich erkennen. Der Aufbau einer Hochseeflotte, die auf ein Flottenprogramm zurückgeht, das bereits vor dem Ersten Weltkrieg entworfen wurde und das bereits Stalin verwirklichen wollte8, zeigt, daß die sowjetische Kriegsmarine in erster Linie als Instrument einer globalen außenpolitischen Strategie gedacht ist. Das zwingt die Sowjetunion, nach Stützpunkten im Bereich der Dritten Welt Ausschau zu halten, da sich die wichtigsten Zugänge zu den Weltmeeren weiterhin ihrer Kontrolle entziehen. Seit dem Ersten Weltkrieg ist als dritte Dimension der Luftraum hinzugetreten. Die So~etunion ist nicht nur zu einer großen Luftmacht 8 Vgl. Rohwer, Jürgen: Admiral Gorshkov and the lnfluence of History upon Sea Power, in: Proceedings/Naval Review 1981, S. 158 ff.

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aufgerückt. Ihr ist als erster Macht der Durchbruch in den kosmischen Raum geglückt. In der Weltraumfahrt hat sie sich bisher der amerikanischen Weltmacht als ebenbürtig erwiesen. Als Luft- und Raketenmacht hat sie den Abstand vermindert, den sie als Seemacht weiter besitzt. Die Rechtfertigung für diese Weltmachtpolitik ergibt sich ans der oben erwähnten weltrevolutionären Zielsetzung, die der zaristischen Außenpolitik fremd war. Das zaristische Rußland, soweit es eine expansive Politik betrieb, strebte eine dominierende Stellung im europäischen Mächtekonzert, dagegen nicht eine weltweite Hegemonie an. Als konservative Großmacht war das zaristische Rußland an der Erhaltung und Festigung des bestehenden Staatensystems interessiert. Hinter dieser Grundeinstellung traten die imperialen Bestrebungen zurück9 . Dagegen hat der Expansionsdrang der Sowjetunion trotz der stärkeren Verankerung im globalen Staatensystem und der größeren weltwirtschaftliehen Verflechtung im Zeichen der Entspannung nicht nachgelassen. Die bestehende internationale Ordnung wird von ihr weiterhin als ein Übergangssystem angesehen, das mit Hilfe der von ihr verfolgten außenpolitischen Doppelstrategie von Grund auf umgestaltet werden soll. Zu einer kontinentalen eurasischen Großraumpolitik hat sich eine in ferne Räume ausgreifende Weltpolitik hinzugesellt. Die kontinentale Strategie geht dabei von einer bestimmten räumlichen Beschränkung aus und konzentriert sich auf die Sowjetunion und Osteuropa. Sie strebt eine Konsolidierung und Stärkung der Sowjetmacht durch eine beschleunigte Integration des engeren sowjetischen Hegemonialbereichs an. Die globale Strategie ist dagegen durch das Weltmachtstreben der Sowjetunion, das auf eine Vergrößerung des sowjetischen Einflußbereichs gerichtet ist, bestimmt10. Sie dient dazu, die Voraussetzungen für eine weltweite Machtpolitik unter Ausnutzung revolutionärer Situationen zu schaffen. Sie geht damit über eine staatliche und nationale Interessenpolitik, auch wenn diese weitgesteckte integrationspolitische Ziele verfolgt, hinaus. Aus den unterschiedlichen mittelfristigen Zielsetzungen beider Strategien und der stärkeren Betonung einer global oder regional bestimmten hegemonischen Politik haben sich in zunehmendem Maße Widersprüche ergeben. Sie sind am Ausgang der Breschnew-Ära besonders deutlich zum Ausdruck gekommen. Unter seinen Nachfolgern haben sie sich zunächst noch verstärkt und zu Schwankungen in der taktischen Durchführung der jeweiligen Strategie beigetragen. 9 Vgl. Wittram, Reinhard: Das russische Imperium und sein Gestaltswandel, in: Rußland, Eurocfa und der deutsche Osten, München 1960, S. 59 ff. 1 Vgl. Meissner, Boris: Weltmacht Sowjetunion. Die Doppelstrategie von Entspannung und Revolution, München 1982.

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II. Die Frage der Abgrenzung zwischen den Wirkungsbereichen der beiden Strategien

Die Unterschiede im Hinblick auf die Wirkungsbereiche der beiden außenpolitischen Strategien der Sowjetunion kommen in zwei zentralen Begriffen zum Ausdruck. Beide Begriffe haben sich in der außenpolitischen Theorie der Sowjetunion ab 1956 herausgebildet, da das Verhältnis zwischen dem "Kapitalismus" und "Sozialismus" vom sowjetischen Standpunkt unter zwei Blickwinkeln betrachtet werden kann. Auf der einen Seite sieht man in ihnen zwei Lager, d. h. räumlich fest umgrenzte Bereiche, zwischen denen eine begrenzte Kooperation möglich ist, die sich aber in unversöhnlicher ideologischer Feindschaft gegenüberstehen. Auf der anderen Seite erblickt man in ihnen zwei sich überschneidende und miteinander ringende Weltsysteme. Zu jener Zeit, als der Ostblock noch eine monolithische Einheit bildete, war es üblich, ihn als "sozialistisches Lager" zu bezeichnen. Seit der sowjetischen Regierungserklärung vom 30. Oktober 195611 bürgerte sich für ihn die Bezeichnung "sozialistische Gemeinschaft" ein. Auf dem XX. Parteitag der KPdSU im Februar 1956 war schon das Bestehen eines "sozialistischen Weltsystems" postuliert worden12, zu dem neben den "sozialistischen Staaten" auch die nicht herrschenden kommunistischen Parteien und die eng mit ihnen verbundenen Kräfte gezählt werden. Das Parteiprogramm von 196113 charakterisierte das "sozialistische Weltsystem", das die "größte Errungenschaft" der kommunistischen Weltbewegung genannt wurde, als "eine soziale, wirtschaftliche und politische Gemeinschaft souveräner Völker, die den Weg des Sozialismus und Kommunismus gehen, geeint durch ihre gemeinsamen Interessen und Ziele und durch die festen Bande der internationalen sozialistischen Solidarität". Im Artikel 30 der Bundesverfassung der UdSSR von 197714 wird die Sowjetunion als "Bestandteil des sozialistischen Weltsystems, der sozialistischen Gemeinschaft" bezeichnet, d. h. beide Begriffe werden fast gleichgesetzt. In der DDR ist der Begriff der "sozialistischen Staatengemeinschaft", der im Hinblick auf die Kohäsion der Gemeinschaft weniger besagt, stets dem Begriff der "sozialistischen Gemeinschaft" vorgezogen worden.

11 Wortlaut in: Pravda vom 31.10.1956. 12 Text des ZK-Berichts in: Pravda vom 15.2.1956. 13 In: Meissner, Boris: Das Parteiprogramm der KPdSU 1901--1961, Köln 1962, S. 155. 14 In: Brunner, Georg; Meissner, Boris (Hrsg.): Verfassungen der kommunistischen Staaten, Paderborn 1979, S. 385 ff.

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Eine klare räumliche Abgrenzung zwischen dem engeren Begriff der "sozialistischen Gemeinschaft" und dem weiteren Begriff des "sozialistischen Weltsystems", die aus der Sowjetverfassung nicht hervorgeht, konnte inzwischen durch den ZK-Bericht auf dem XXVI. Parteitag der KPdSU 1981 15 und durch die Neufassung des Parteiprogramms auf dem XXVII. Parteitag 1986 gewonnen werden. Der "sozialistischen Gemeinschaft" gehören danach außer der Sowjetunion und den europäischen Volksdemokratien Polen, Tschechoslowakei, Ungarn, Rumänien, Bulgarien, DDR auch die asiatischen Volksdemokratien Mongolei, Vietnam, Laos sowie Kuba an. Zu diesem engeren Kreis werden das von sowjetischen Truppen besetzte Afghanistan und das von vietnamesischen Truppen besetzte Kampuchea nicht gezählt. Dagegen werden als sozialistische Staaten außerhalb der Gemeinschaft Jugoslawien, Albanien, die Volksrepublik China und Nordkorea angesehen. Eine Zeitlang hatten sich die Sowjetunion und die Volksrepublik China gegenseitig die Eigenschaft von sozialistischen Staaten in Frage gestellt. Eine ähnliche Haltung haben sie beide zeitweilig gegenüber Jugoslawien emgenommen. Von den außereuropäischen Staaten, die zum Bestand der sozialistischen Gemeinschaft gehören, sind die Mongolei, Kuba und Vietnam, nicht aber Laos, Mitglieder des Rats für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW). Die Mongolei weist eine besonders starke Abhängigkeit von der Sowjetunion auf. Sie ist aber, ebenso wie Nordkorea, nicht nur mit der Sowjetunion, sondern auch mit der Volksrepublik China durch einen zweiseitigen Bündnisvertrag verbunden. Die Sowjetunion verbindet dagegen nur mit Vietnam ein zweiseitiger Vertrag über Freundschaft und Zusammenarbeit, der einem Bündnisvertrag nahekommt, nicht aber mit Kuba und Laos. Ein solcher Vertrag liegt auch nicht mit Kampuchea vor. Dafür hat die DDR solche Verträge mit diesen drei Ländern abgeschlossen. Die "sozialistische Gemeinschaft" oder das "sozialistische Weltsystem" ist im engeren Sinn eine interkontinentale Staatenverbindung. Sie stellt allerdings nur in ihrem europäischen Kernbereich, zu dem die Mongolei hinzutritt, einen regional geschlossenen Bereich dar, der aufgrund seiner verstärkten vertraglichen Bindungen als ein so-wjetischer Hegemonialverband bezeichnet werden kann. Die sowjetische Außenpolitik hat sich in ihrer ideologischen Grundstruktur, von einer Modifizierung der Koexistenz- und Kriegslehre abgesehen16, 15 Pravda vom 24.2.1981. 16 Vgl. Meissner, Boris: Das Entspannungskonzept der Hegemonialmacht Entspannungsbegriff und Entspannungspolitik aus der Sicht der Sowjetunion, in: Schwarz., Hans- Peter; Meissner, Boris (Hrsg.): Entspannungspolitik in Ost und West, Köln 1979, S. 7 ff.

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auch im Zeichen der Entspannung nicht verändert. Sie ist weiterhin als die Verschmelzung einer nationalistisch bestimmten Machtpolitik und eines weltrevolutionären Expansionsstrebens anzusehen. Verändert hat sich die Stellung der So~etunion innerhalb des Staatensystems durch ihren Aufstieg zu einer Weltmacht. Als eine militärische Supermacht besitzt sie jetzt die notwendigen Mittel, um eine weltweite Machtpolitik zu betreiben. W eltrevolutionäre Aktionen dienen dabei dazu, die Erreichung konkreter machtpolitischer Ziele zu fördern. Die So~etunion geht bei den Beziehungen mit Staaten außerhalb der "sozialistischen Gemeinschaft" vom Prinzip der "friedlichen Koexistenz" aus. Für den so~etischen Hegemonialbereich fmdet dagegen das Prinzip des "proletaris