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German Pages 248 [249] Year 2008
Bernhard Bornheim
Die russische Haus-Ikone im Wandel der Zeit
BATTENBERG
Die russische Haus-Ikone im Wandel der Zeit Sammlerträume - Eine Kulturgeschichte in Bildern Ein Heiligenbild, eine Szene aus der Bibel, wunderschön auf Holz gemalt. Sinnbild des Glaubens - und doch mehr. Lange ist die Zeit vorüber, in der Ikonen ausschließlich als Bilder religiöser Verehrung geachtet wurden. Heute werden mitunter das künstlerische Niveau und der Kunstgenuss in den Vordergrund gerückt. Ikonen - entstanden aus geistlicher und kultureller Tradition des byzantinisch-orthodoxen Glaubens - sind Bildwerke von beeindruckender Ausstrahlung, der sich kaum einer entziehen kann. Speziell die kleinformatige russische Haus- und Votiv-Ikone erfuhr in Mittel- und Westeuropa im Laufe der 70er und 80er Jahre einen Höhepunkt breit gestreuter Aufmerksamkeit. Durch dieses in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich gewachsene Interesse sind sie zu begehrten Sammlerstücken geworden. Der Autor widmet sich in seinem Werk allen Facetten der Haus-Ikone des Zeitraums vom 15. Jahrhundert bis zum Ende der Zarenzeit 1917, ihrer Bedeutung und ihrer Geschichte, aber auch der Stilentwicklungen. Er gibt praktische Tipps, wie Original und Fälschung zu unterscheiden sind, Hinweise zu Markt und Preis und liefert einen ausführlichen Katalogteil, der, nach räumlichen Aspekten gegliedert, die große Bandbreite der Ikonenkunst eindrucksvoll durch hervorragende farbige Abbildungen illustriert.
Bernhard Bornheim, Jahrgang 1941, studierte Kunstgeschichte, Germanistik und Geographie. Seit 1972 bereist er
orthodox fundierte Länder und veröffentlicht seit 1983 Artikel und Fachbücher über die Ikonen. Auf diesem Sektor fungiert er von 1987 an als Sprecher der Jurygruppen bei internationalen Kunst- und Antiquitätenmessen, unter anderem in Maastricht, und ist seit 1989 tätig als öffentlich bestellter und vereidigter Sachverständiger für Ikonen.
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9 783866 460430
Preis: 39,90 EUR
Bernhard Bornheim
Die russische Haus-Ikone im Wandel der Zeit
Eine Kulturgeschichte in Bildern
Bernhard Bornheim
Die russische Haus-Ikone im Wandel der Zeit
Sarnrn erträume Eine Kulturgeschichte in Bildern
BATTENBERG
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http ://dnb.ddb .de abrufbar.
ISBN 978-3-86646-043-0 1. Auflage 2008 © 2008 Battenberg Verlag in der H. Gietl Verlag & Publikationsservice GmbH • Regenstauf Alle Rechte vorbehalten. (www.battenberg.de}
Das Spannungsverhältnis zwischen dem, was uns aus der christlichen Bilderwelt an Themen vertraut erscheint, und jener dennoch hieratisch „weltfernen" Andersartigkeit, die uns oftmals anrührt beim Anblick ihrer ostkirchlichen Ausprägung im Gefolge des byzantinischen Erbes, das macht die Faszination der Ikone aus. - Nach dem Ersten Weltkrieg, insbesondere als seit 1928 die junge Sowjetunion die offizielle Ausfuhr von Ikonen zur Devisenbeschaffung organisierte, ließen sich Menschen aus dem evangelischen und römisch-katholischen Kulturkreis von dieser Faszination ergreifen. Es entstanden in Skandinavien, Frankreich und den USA erste bedeutende Sammlungen russischer Ikonen, teilweise zusätzlich gefördert von vermögenden Emigranten, meist aber initiiert durch die Bekanntschaft, die westliche Diplomaten in Russland selbst gemacht hatten mit diesen ausdrucksstarken Zeugnissen der religiösen Kunst des christlichen Ostens. In den fünfziger und sechziger Jahren verbreitete sich die Begeisterung für die Ikone auch in der
Schweiz, in England, den Niederlanden, Belgien und der Bundesrepublik Deutschland, zwar zuerst nur unter einer begrenzten Zahl von Kennern, im Laufe der siebziger und achtziger Jahre dann aber fast lawinenartig wie eine Mode. Dies wurde durch Ausstellungen und Händlergeschick möglich, weil nach Jahrzehnten der Ausfuhrrestriktion sich allerlei Schlupflöcher aufgetan hatten und
dann in der Breschnev-Ära ein Export sogar legal wieder zugelassen war, allerdings streng kontrolliert nach dem Kriterium, Kulturgut hohen Ranges im Lande zu behalten. In der Folgezeit tat sich der Sammler denn auch zunehmend schwerer, überzeugende, alte Stücke aus dem 16. und früheren 17. Jahrhundert zu entdecken, und gegen Ende der neunziger Jahre wendete das in der rasant etablierten, kapitalstarken Oberschicht Russlands wieder erwachte nationalhistorische Selbstwertgefühl die Wanderung von Kunstobjekten aus dem einstigen Zarenreich in die entgegengesetzte Richtung. Unter den Fachgaleristen herrscht über diese Entwicklung verständlicher Weise Besorgnis und sie führt zu einer Konzentration auf eine sich deutlich verringernde Zahl spezialisierter und renommierter Händler. Das Gros der nach dem Aufgehen des „Eisernen Vorhangs" aus den Teilen der ehemaligen Sowjetunion eintreffenden Werke religiöser Volkskunst meist des späteren 19. Jahrhunderts kann sie freilich den-
noch nicht interessieren, ihrer allzu anspruchslosen Machart wegen. Aus meiner persönlichen Sicht hat diese einschneidende Veränderung sogar etwas Positives : Während, den Marktgesetzen folgend, die rasch steigenden Preise den Interessentenkreis für „alte" Spitzenstücke stark einschränken werden, kann sich dem Besitzer oder Erwerber solider Arbeiten
anderer Epochen ein neuer Blick eröffnen; vielleicht möchte er nun, um einen intensiveren und individuelleren Zugang zu gewinnen, genauer als ehedem wissen: Aus welchen politischen und religionsgeschichtlichen Zusammenhängen heraus ist meine Ikone eben so erwachsen, wie sie mir entgegentritt? Inwieweit prägten die sozialen Umstände ihr Erscheinungsbild? Welche ganz persönlichen Anliegen bewogen ihren Auftraggeber, die Wahl des/der Dargestellten in dieser besonderen Weise zu treffen? Und was an volksreligiösen Bräuchen und Vorstellungen spricht aus ihr? Die somit faszinierend erweiterte Fragestellung nach dem Woher mag dann der ästhetisch-stilistische Aspekt noch als optisch beglückende Abrundung beschließen. Die bisher - in ihrer Alleinstellung- überbewerteten Faktoren Alter beziehungsweise Feinheitsgrad der Malerei hätten damit ihre sachlich gebotene Einbettung gefunden. Aus dem Augenreiz ist, selbst noch über das religiöse Moment hinaus, ein sprechender Zeitzeuge geworden. Dazu beizutragen und in diesem Sinne eine aktuelle und umfas-
sende Wertorientierung zu geben, soll das Ziel dieses Buches sein, das sich im Übrigen auch als russische Kulturgeschichte in Bildern lesen lässt. Bernhard Bornheim, Puchheim bei München, im Frühjahr 2008
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Teil I Allgemeine Informationen für den Ikonenfreund und Sammler
Die Faszination der Ikone . . .. .. . ... ... ... . .. . .... .... .10
Zur Bildauswahl. ............ . . .. .... . ..... . . ... . ... ... 48 Russische Malweisen ... . ........ .. .. . .... .. . ... . . . . . . .49 - Stile der russischen Ikonenmalerei und ihre Entwicklung (Grafik) ..... . .. .. . ........ . .... . ... 54
Wie eine Ikone entsteht . ... . ... ... . .. . ... . .. . .. . . ..... 14 - Kulturzentren im Alten Russland (Grafik} ............ 55 echt - falsch - original - restauriert . . .... .... ... . . . . .. 20 15. / 16. Jahrhundert
- Zur Frage der Echtheit ........ . .... . .... .. . .. ... ... .. 20 - Zur Frage der Originalität ....... . ................. . .. 24
- Von der liturgischen Gemeinschaft zur Hausfrömmigkeit . .... . ... .. ....... . .. .. ........ 56
Markt und Wert . ... .. .. .. ... . ... ... ... . . . . . .. .... .... .36
- Frühe Haussegen, Feste und Patrone ... .... ... . ... .. 70
Teil II Die russische Haus-Ikone im Wandel der Zeit
17. Jahrhundert
- Pflege und Weiterentwicklung der Tradition . ....... 86 Zum Begriff „Haus-Ikone" und zum Konzept des Buches . . . ... .. ... .. .. .. ....... .44
- Die Stroganovmanier und ihre Resorption .. ... .. .. 104
- Die Jaroslavler Malweise .............. . ............ 112
- Stützen des Glaubens .... . ........ .. .............. .184
- Werke der gehobenen Volkskunst .................. 120
- Von der Wiege bis zur Bahre ........................ 194
- Abendländische Barockeinflüsse: Einfühlende Andacht und memento mori . .. .. ..... 126
Anhang
18. Jahrhundert
Literaturhinweise .. . ................................ 224
Die Individualisierung der Ikone ............ . ........ 136
Ikonen aus Russland und dem Zarenreich in europäischen Museen ... . .................. . ...... 227
Teil III
Ikonografisches Neuland . . ...... .. . . . . ......... . . . .. 142 Spiegel der sozialen Verhältnisse ............. . ....... 152 Vom späten 18. Jahrhundert bis zum Ende der Zarenzeit
Verzeichnis vom Handel unabhängiger Sachverständiger ......... .. ............. . . . ......... 230 Fotonachweis ................. . ... . .................. 230 Erläuterungen zu den Fachbegriffen ........ . ........ 231
- Historisierende Feinmalerei und Hüter des Hauses .. 168 Ikonografisches Register .............. . ........ .. .... 246 - Präsente und Zierden des Hauses ..... . ... .. ....... 176
Der heilige Nikolaus von Moshaisk, Region Moshaisk, 1680-1700; im Verlauf des 18. Jahrhunderts als Fragment eingesetzt in eine neue Tafel
Allgemeine Informationen für den Ikonenfreund und Sammler
Die Gottesmutter von Kasan, Zentralrussland, Mitte 19. Jahrhundert
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Die Faszination der Ikone
Das Interesse an der Ikone - eine manipulierte Erscheinung? Erst langsam und stetig, schließlich aber fast schon sprunghaft war im Laufe der siebziger und achtziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts in ästhetisch sensiblen Menschen des abendländischen Kulturkreises das Interesse an der Bilderwelt der Orthodoxie gewachsen. Ein Zufall? Eine Sammlerlaune vergleichsweise begüterter Wohlstandsbürger? Vielleicht gar eine jener von Museen, Galerien und Auktionshäusern aus unterschiedlichen, jedenfalls aber ökonomischen Gründen direkt oder indirekt gesteuerten Kunstmoden? Gewiss hatte der am Höhepunkt dieser Entwicklung durch eine Vielzahl von einschlägigen Galerien und Messeständen dokumentierte, nicht unbeträchtliche Stellenwert der Ikone im Rahmen des Geschäftes mit Antiquitäten auch damit zu tun, dass der Handel sich bietende Chancen zu nutzen wusste. Auf die damalige Situation bezogen wäre es töricht, den Zusammenhang zu leugnen zwischen den gesellschaftlichen und kirchlichen Verhältnissen in der UdSSR, der wirtschaftlichen Lage in der Türkei und Äthiopien etwa oder den politischen Ereignissen im Libanon und auf Zypern auf der einen Seite und dem Ikonenangebot des Kunstmarktes andererseits. Was russische Exemplare angeht, lässt hinsichtlich der Beschaffungsumstände bereits die Feststellung gewisse Rückschlüsse zu, in welch hohem Maße das zweigeteilte Berlin mit seinen diplomatischen Niederlassungen im Osten, korrespondierend mit einer 10
Vielzahl von Aufkäufern (recht häufig Exilrussen oder -ukrainer) im Westen einerseits, und an zweiter Stelle die Auswandererbewegung über Wien nach Jerusalem zu „Einfallstoren" für den immer beliebteren Kunsthandelsgegenstand Ikone wurden. Mittlerweile haben sich mehrere der Faktoren, welche den seinerzeitigen Ikonen-,,Boom" bedingten, nachhaltig verändert: Das Ende der UdSSR und die neuen ökonomischen wie sozialen Strukturen im Kernland der russischen Föderation brachten gemeinsam mit einem dort grundlegend ins Positive gewandelten Blick auf die eigene Historie eine zwar nicht völlig neue, aber hinsichtlich der Weite des Blickwinkels und der gesellschaftlichen Zusammensetzung der Interessensträger entschieden ansteigende Wertschätzung des nationalen Kulturgutes Ikone mit sich. Diese wiederum fand alsbald in einer strengeren Sichtung und Registrierung auch derjenigen Teile zweiten und dritten Ranges innerhalb des religiös-kulturellen Erbes ihren Niederschlag, die vorher mehr oder weniger vergessen in Museumsmagazinen lagerten; ein spürbarer Rückgang außerhalb des Landes anzutreffender Ikonen von einiger Qualität war die unmittelbare Folge. (Obgleich unter jeweils etwas anderen politischen Vorzeichen, lässt sich Letzteres im Übrigen gleichermaßen für Zypern, Äthiopien und Ägypten sagen.) Hatte in Russland zunächst auch das Wiedererstarken der Patriarchatskirche an dieser Entwicklung wesentlichen Anteil, so verschärfen nunmehr
die Wünsche finanziell kaum zu über bietender, einheimischer „Sammler" aus neureichen Kreisen diese Entwicklung noch mehr. Schon seit der Breschnev-Ära an sich durchaus legal gegen eine moderate Gebühr zur Ausfuhr frei zu bekommende, noch einigermaßen ansehnliche Ikonen älterer Genese sind daher auch in Russland selbst nur mehr schwer zu erwerben, dies gleich gar, wenn es sich um größere Formate handelt. Im Zuge dieses Geschehens reduzierte sich die Zahl einschlägiger Spezialgalerien im Westen beinahe von Jahr zu Jahr, währenddessen einfachste Massenprodukte der Volkskunst des 19. Jahrhunderts, überwiegend über Polen und das Baltikum eingeführt, die kleinen Messen bis hin zu Flohmärkten überschwemmten. Auf der anderen Seite haben Geschmack und Anspruch der nunmehr schon in ein gewisses Alter gekommenen, in den siebziger und achtziger Jahren „entflammten " Sammler in Mittel- und Westeuropa aus Erfahrung und Lektüre sich verfeinert und gehoben, deren Wände und Vitrinen sich gefüllt, während sich das einst sehr geschäftsförderliche Interesse der vormals beträchtlichen Zahl jener verflüchtigte, die doch eher nur einem Trend gefolgt waren. Somit fühlen sich im Abendland heute vor allem zwei Gruppen von Menschen durch die Ikone angesprochen: der gereifte und entsprechend Exquisites suchende, ernsthafte Sammler und der religiös verankerte Mensch, den mehr der gefühlte Gehalt als die aus dem Wissen heraus erschließbare Gestalt
Die Faszination der Ikone
berührt. Nur vereinzelt kommen dazu noch ästhetisch nach vielen Seiten Aufgeschlossene, die es trotz der weit verbreiteten Skepsis bezüglich Fälschungen auf diesem Gebiet wagen, sich dem vielschichtigen Phänomen Ikone zu nähern; und noch seltener sind jene, die den volkskundlichen Hintergründen einzelner Tafeln auf die Spur zu kommen trachten, obwohl gerade darin ein hoher Reiz der Kultobjekte liegen kann.
Die tieferen Ursprünge der Faszination Die Spannungswaage
Der wahre Ursprung jenes Angerührtseins, das schon Goethe angesichts der Ikonen der Großfürstin Maria Pavlovna, der späteren Gemahlin Karl Friedrichs von Sachsen-Weimar, erfasste, liegt jedoch ungleich tiefer; mit einem kommerziell provozierten und geschickt geförderten Interesse alleine ist die Faszination nicht zu erklären, die von einer Ikone ausgeht. Wer ein offenes Auge und ein empfindsames Gemüt hat, kann sich ihr kaum entziehen. Zum guten Teil hat sie ihren Grund in der psychisch - meist unbewusst- als angenehm registrierten Spannungswaage, die ein solches Bild in uns hervorruft. Je ausgeglichener und zugleich intensiver wir das Verhältnis empfinden zwischen dem beruhigend Vertrauten und dem erregend Fremden, um so attraktiver erscheint uns eine Ikone : um so mehr zieht sie uns an. Nicht zuletzt deshalb erfreuen sich beim breiten Publikum eben jene Ikonen größter Beliebtheit, die ein dem „Westler" einigermaßen bekanntes Motiv in einer ihm ungewohnten Malweise zeigen oder umgekehrt. Die anregende Spannung kann aber genauso gut ausgelöst werden durch eine Divergenz von Anheimelndem und Befremdlichem innerhalb des Themas oder des Stils an
sich. Allein schon die Beobachtung dieser Reaktionsweise - jeder möge sie an sich selbst überprüfen -widerlegt die häufig vertretene These von der völligen Andersartigkeit der orthodoxen Bilder, der gemäß die „Exotik" der Ikone ihren Reiz ausmachen müsste.
Das Fremde
Freilich lassen sich gute historische Gründe dafür nennen, die Bilderwelt der Ostkirche als etwas weitgehend in sich Geschlossenes, von der Entwicklung der westlichen Kunst Abgetrenntes zu betrachten: Da schwelte schon seit frühbyzantinischer Zeit die kirchenrechtliche Rivalität zwischen Rom und Konstantinopel, bis sie schließlich 1054 aus vergleichsweise unbedeutendem Anlass zum offenen Schisma führte, zur Trennung der Ostkirchen von der westlichen Christenheit in Theologie und Jurisdiktion. Da war der tief verwurzelte Hass gegen die „Lateiner", die im 13. Jahrhundert die Kreuzzugsidee dazu missbraucht hatten, Konstantinopel zu erobern, zu plündern und mehr als ein halbes Jahrhundert lang (1204 1261) besetzt zu halten. Aufgerührt wurde dieser alte Groll durch die immer wieder erneuerten, von Winkelzügen und Gewalt keineswegs freien Versuche Roms, auf dem Weg über ,,Unionen" mit orthodoxen Teilkirchen seinen Einflussbereich auszuweiten. Heftige religiöse, nationale und zum Teil auch militärisch-politische Aggressionen gegenüber Territorien, über die jene Bestrebungen vorangetrieben wurden, waren die Folge. Eine weitere, gewichtige Ursache für die Isolierung der Orthodoxie ergab sich aus ihrer Einbindung in islamische Großreiche, zunächst in Nordafrika, Palästina und Syrien, dann im Osmanischen Reich ab dem 15. Jahrhundert auch in Teilen Griechenlands und auf dem Balkan, schließlich auch
auf den großen Inseln des östlichen Mittelmeeres. Gleichzeitig konzentrierte sich das Interesse der Potentaten des übrigen Europa vorzugsweise auf dessen westliche Hälfte und auf überseeische Gebiete. Schon das Frankenreich hatte hier- siebenhundert Jahre zuvor - eine neue, im Wesentlichen vom Mittelmeer abgewandte Ausrichtung begonnen. Und schließlich sorgte auch das religiös untermauerte Sendungs- und Selbstbewusstsein Russlands Jahrhunderte lang für Distanz zum Westen und zu seiner religiösen Kunst ; als einzig freie Staatsgewalt ostkirchlicher Ausrichtung, vom fernen Äthiopien einmal abgesehen, begriff man sich ja gerade als Hort der Orthodoxie. Alle diese historischen Gegebenheiten trugen das Ihre dazu bei, dass die Bilderwelt des christlichen Ostens in relativ starker Abgeschiedenheit einen ausgeprägten Eigencharakter entwickelte, der uns in mancher Hinsicht fremd anmutet, auch wenn gestalterische Brücken nicht ganz fehlten. Letztere belegen die kretisch-venezianische Hochkunst und später die Ikonenmalerei der bulgarischen nationalen Wiedergeburt sowie die vergleichsweise schlichteren Bilder der Überlappungszone Karpatenraum. Daneben zogen die zum Teil andersartige Glaubenspraxis und theologische Schwerpunktsetzung der Ostkirchen, speziell ihre Lehre von der Rechtmäßigkeit heiliger Bilder, eine weitere, sehr markante Trennungslinie religiöser Natur zwischen Ost und West, was die darstellende Kirchenkunst angeht. Nicht zu unterschätzen ist ferner der Umstand, dass es in weiten Bereichen des orthodox geprägten Raumes zumindest bis ins 17. Jahrhundert keine profane Malerei von Rang gab, deren progressive Kreativität auf die Gestalt der religiösen Bilder hätte Einfluss nehmen können, wie das in der europäischen Malerei Jahrhunderte lang der Fall war.
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Die Faszination der Ikone
Das Vertraute
Und doch ist man in aller Regel mit der Betonung der Besonderheit der Ikonenmalerei etwas zu weit gegangen. Fußt denn die Bilderwelt des Christentums nicht auf einem gemeinsamen jüdischen und frühchristlichen Fundament literarischer wie auch schon bildhafter Natur, auf das bis zum Ende des ersten Jahrtau sends in einer sehr lang dauernden Phase sich immer wieder berührender Entwicklung aufgebaut wurde? In etwas anderer Weise lassen sich thematisch-gestalterische Verflechtungen noch bis ins 13. Jahrhundert deutlich verfolgen. Die seinerzeit neuartige, seelische Durchdringung der Gesichter, oft mit einem Ausdruck mitempfindenden Leides beispielsweise, kennt die orthodoxe religiöse Kunst Serbiens und Makedoniens etwa ebenso wie die abendländische Gotik. So sehr neue Wege der Westen in der nur halb so großen Zahl der folgenden Jahrhunderte auch beschritt, so reicht jene Basis gemeinsamer Themen in ähnlicher Gestalt doch offenkundig noch aus, im nichtorthodoxen Betrachter von Ikonen das Gefühl für die eine Heimat der christlichen Anschauung wach zu rufen. Daneben wird er auch im Stil der Darstellung so manches entdecken, was ihm aus der Malerei Süd-, Mittel-, und Westeuropas bekannt vorkommt, je nach Entstehungszeit und Provenienz der Ikone einmal mehr, einmal weniger. Denn auch diesbezüglich war die Ikonemalerei als ganze niemals, und regional betrachtet nur selten, wirklich isoliert vom Wandel der Bilder in der katholischen und später der evangelischen Christenheit. Im Übrigen wirkten sich Kontakte zu anderen Kulturen nicht minder aus, wobei vor allem an die islamische Welt des Vorderen Orients und Mittelasiens zu denken wäre.
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Dass sich in der Ikone auf dem Hintergrund der christlichen Gemein samkeiten die ikonografische Eigenart der Ostkirche eindrucksvoll entfaltet, ohne „Katholisches" völlig auszuschließen, dass sie ferner seit Anbeginn und in stets sich wandelnder Weise Orient und Okzident stilistisch in sich vereint, das erklärt einen Gutteil der Anziehungskraft, die sie auf uns ausübt: Freude des Erkennens und verwundertes Staunen halten sich die Waage.
Die Ikone als kulturhistorisches Dokument Über diesem psychologischen Moment sollte man aber nicht vergessen, dass jede Ikone auch ein kulturhistorisches Dokument ist, geprägt von der ethnischen, religiösen, sozialen und zeitgeschichtlichen Eigenart ihres Umfeldes. Wird man sich dessen bewusst, dann beginnen auch solche Ikonen zu ,,leben" und Interesse auf sich zu ziehen, die jene gleichsam „naive" Zuneigung nicht sofort auslösen würden, weil ihre Fremdartigkeit zurückweisend erscheint oder, was häufiger der Fall ist, weil sich die Waage allzu sehr nach der gewohnten westlichen Manier neigt, was Ikonografie beziehungsweise Gestaltung angeht. Im letzteren Falle suchen wir - wie könnte es aufgrund unserer Bildung anders sein - bewusst oder unbewusst sofort nach jener individuellen Originalität und malerischen Perfektion, die uns als Kriterien eines „großen Meisters" gelten. Wir werden sie zumeist nicht finden und uns allzu schnell abwenden. Das gilt für viele Ikonen, die ab dem 17. Jahrhundert im adriatischen Raum, in Griechenland, Kleinasien und auf dem Balkan entstanden, und nicht minder für jene russischen Arbeiten, die nicht der altbekannten Novgoroder oder Moskauer Tradition verpflichtet sind, miniaturhaft ge-
malte Tafeln einmal ausgenommen. Bemüht sich jemand jedoch um einen Einblick in die religiösen, sozialen, politischen und kunstgeschichtlichen Bedingungen, die eine Ikone gerade so werden ließen, wie sie vor Augen steht, dann eröffnet sich ihm ein neues, weites Feld für Entdeckerfreude und Sammelleidenschaft.
Die Freiheit in der Bindung ein verborgener Reiz der Ikone Wer diese zweite Stufe eines nunmehr auch verstandesorientierten Vergnügens erreicht und die ungeheure stilistische Vielfalt der orthodoxen Malerei zu sehen gelernt hat, die ja in einem riesigen Raum vom Weißen Meer bis Palästina und vom Kaukasus bis Äthiopien beheimatet ist, der wird dann früher oder später auch den Reiz der Suche nach der individuellen Handschrift eines Malers oder zumindest regional lokalisierbarer Werkstätten entdecken. Entgegen dem Klischeebild von der strengen Traditionsgebundenheit der Ikonenmalerei, etwa bis hin zum Vorwurf seelenlosen Kopierens über Jahrhunderte, gab es nämlich innerhalb eines gewissen Rahmens zu allen Zeiten Raum für das ästhetische Empfinden eines Malers, ja sogar für Kreativität im westlichen Sinne. Freilich: Während dieses „freie" Arbeiten in früheren Jahrhunderten mitunter ausdrücklich als Kennzeichen der Meisterschaft geschätzt war, wie es zum Beispiel eine russische Quelle aus der Zeit um 1400, Feofan Grek betreffend, belegt, wurde es in eben diesem Russland durch eine Reihe von Erlassen ab der Mitte des 16. Jahrhunderts immer wieder angegriffen. Dies geschah jedoch meist nur insoweit, als die „Originalität" des Gestaltens sich anschickte, den überlieferten Bilderkanon völlig zu verlassen oder in stümperhaften Dilettantismus auszuarten. Solchen Be-
Die Faszination der Ikone
schränkungsversuchen war nur begrenzter Erfolg beschieden, zumal die kirchliche Hierarchie selbst, besonders was ikonografische Streitfragen anging, im Einzelfall wechselnde Standpunkte einnahm. Das Verdikt westlicher Manier gar war selbst im besonders konservativen russischen Reich trotz entsprechender Versuche, zur Mitte des 17. Jahrhunderts etwa, nicht zuletzt wegen der anders gerichteten Wünsche potenter Auftraggeber oder - im laufe des 19. Jahrhunderts beispielsweise - infolge des breiten Volksgeschmackes bezüglich bestimmter Sujets überhaupt nicht durchsetzbar; anderwärts gab es eine solche offizielle Abmahnung ohnehin nicht. So blieb also den Ikonenmalern, in klösterlichen Werkstätten zumeist nicht anders als in Laienartels, ein beträchtlicher Freiraum für die Verarbeitung ikonografischer und stilistischer Anregungen von anderswoher wie auch für die Dokumentation eigenen Gestaltungswillens. Freilich drängte sich dieser fast nie originalitätssüchtig in den Vordergrund, weshalb er dem an die markanten Effekte einer individualistischen „Manier" gewöhnten Auge eines westlichen Betrachters leicht entgeht. Die begabtesten Maler der orthodoxen Welt haben aber diesen je nach Region und Zeit unterschiedlich bemessenen Freiraum sehr wohl zu nutzen gewusst. Es macht Spaß, diesem eher verborgenen Reiz einer Ikone nachzuspüren.
weite, ebenso schwierige Gebiet der theologisch-ikonografischen Hintergründe so vieler Darstellungen angesprochen. Vielmehr ist die fast körperlich spürbare, innere Würde jeder im rechten Geiste gemalten Ikone gemeint, gleich welchen Alters und na-
hezu unabhängig vom jeweiligen Thema. Sie hilft uns jenes tiefe Glaubensgeheimnis intuitiv zu erfassen, als dessen Bild gewordener Ausdruck ein religiös verwurzelter Mensch sie erlebt : göttliche Natur in irdischer Gestalt.
Der religiöse Gehalt Neben dem seelisch bedingten, schlichten Berührtsein durch die Ikone, neben dem ästhetischen Genuss und den Entdeckerfreuden des Kenners sei aber nicht vergessen, was das orthodoxe Bild dem Menschen in religiöser Hinsicht zu geben vermag. Hier ist nicht so sehr das ungemein
Die hl. Dreifaltigkeit - Obere Volga, Mitte 17. Jh .
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Wie eine Ikone entsteht
Die Vielfalt der Techniken Wenn von einer Ikone die Rede ist, dann versteht man den Begriff heute zumeist in seinem engeren Sinne, nämlich als Bezeichnung eines Tafelbildes ostkirchlich-religiöser Thematik. Und sogleich hat man jenes vertraute Bild vor Augen: eine solide Holztafel, in Eitemperatechnik bemalt. Vielleicht fällt dem einen oder anderen noch ein, solche Darstellungen auch schon als Bronzegüsse gesehen zu haben, nicht wenige davon teilemailliert (S. 219). Jene Farbdrucke auf Papier als Ikonen anzusprechen, die Weltkriegsteilnehmer des Öfteren in Bauernkaten zu sehen bekamen, würde gewiss mancher zögern. Und doch kommt ihnen nach der orthodoxen Bilderlehre derselbe religiöse Gehalt zu. Entscheidend ist ganz allgemein nur, ob diese Gottesmutter oder jener Pantokrator als Abbild des Urbildes begriffen werden kann, das in ihm wesenhaft präsent wird und durch eine Beischrift als solches ausgewiesen ist; Material und Technik der Ausführung sind diesbezüglich fast ohne Belang.
Problemfall Skulptur und Relief
Die Einschränkung gilt jenen seltenen, vollplastischen Darstellungen, die seit den Zeiten des Frühchristentums den Geruch des Heidnischen nie ganz verloren haben und den Kirchenbehörden dort, wo sie auftraten, zumindest suspekt erschienen. Für die russischen Gegebenheiten bilden offenbar die geschnitzten Bildnisse 14
des ganzfigurig stehenden heiligen Nikolaus - dem Typus „von Moshaisk" oder „von Zaraisk" zugehörig sowie gleichartige der heiligen Paraskeva eine gewisse Ausnahme; im späteren 17. und im 18. Jahrhundert in der waldreichen Region von Vologda, im mittleren Norden sowie um Kostroma ziemlich beliebt, reduzierte womöglich ihre generelle Einbindung in einen umfangenden Schrein eventuelle Bedenken gegen diese farbig gefassten Halb- bis Dreiviertelskulpturen. Mit ihnen einher gingen zeitgleich im selben Raum hölzerne Flachreliefs verschiedener Thematik, vorwiegend jedoch solche der Gottesmutter (S. 125). Das Flachrelief an sich, entwickelt aus der Sarkophagplastik und aus Bildern des offiziellen Kaiserkultes, nahm in byzantinischer Zeit entgegen der späteren Entwicklung einen breiten Raum im religiösen Gebrauch ein. Während der Marmor größeren Formaten in Kirchen und Kapellen zugeordnet war, dienten für den privaten Bereich als Material vornehmlich das Elfenbein und der mehr oder weniger ins Grünoliv spielende Steatit. (Letzterer wurde in der Novgoroder Hochblüte des 14. / 15. Jahrhunderts weiter verwendet, Walross- und sogar Elfenbeinschnitzereien im Flachrelief finden sich vereinzelt im 16. und 17. Jahrhundert in Moskauer Bojarenbesitz.) Hofkreise und Großklöster benutzten auch pretiöse Kunstwerke aus Gold, vergoldetem Silber, jeweils mit edlen Steinen besetzt, sowie Gruben- und Zellenschmelz-Emaillearbeiten auf Goldgrund. In Georgien blieben Halbreliefikonen üblich, wobei jedoch in der Regel eine getriebene Silberplatte ver-
goldet und auf einem zum Teil geschnitzten Holzkern befestigt wurde.
Andere Techniken und Materialien
Recht bald schon war man von jener alten, schwierigen Technik abgekommen, die man als Enkaustik bezeichnet. Dabei werden Mineralfarben in flüssigem Bienenwachs gelöst, das sich dann, heiß auf Holz aufgetragen, fest mit diesem verbindet. Einige der ältesten und großartigsten Bildwerke der Ikonenkunst gehören diesem Typus an; nach der Jahrtausendwende wurde die Enkaustik nur mehr äußerst selten angewandt. Interessante Sonderformen aus mittelbyzantinischer Zeit sind Marmorintarsien und kleinformatige Mosaikbilder; Letztere wurden offenbar als Geschenke an Personen von hohem Rang vergeben und so auch zur Fflege diplomatischer Beziehungen benutzt. Aus Russland, Griechenland und vom Balkan sind bestimmte Themen, so etwa das Kartuch mit dem Leichnam Christi oder Bilder von Heiligen über ihrer Begräbnisstätte, auch als Stickerei bekannt. Als ferne Vorläufer könnte man jene im ägyptisch-koptischen Raum entstandenen Bildteppiche aus vorikonoklastischer Zeit (6./7. Jh.) empfinden; sie waren allerdings gewebt. Vereinzelt gab es sogar religiöse Bilder aus Keramik. Im bulgarischen Reich dürften die großformatigen, aus einzelnen Platten zusammengesetzten Darstellungen des 9. und 10. Jahrhunderts von Konstantinopel angeregt worden sein. Sie waren Kultbilder,
Wie eine Ikone entsteht
Eitempera auf Holz Der Bildträger
um mit den aus ihm gewonnenen, stabilen Kern- oder Mittelbrettern möglichst die volle Breite abdecken zu können. Für kleinere Formate und geringere Ansprüche tat es auch schon mal das für Trockenschwundkrümmung wie Wurmfraß anfälligere Seitenbrett mit seinen vergleichsweise größeren Sommerholzanteilen an den Oberflächen. Ungünstige Astdurchwüchse waren zu vermeiden, der Harzgehalt sollte nicht zu hoch sein und das Holz durfte sich nicht so leicht durchbiegen oder gar reißen. Linde erwies sich da in mancherlei Hinsicht als günstig und wurde recht häufig verwendet. Jedoch galt auch für dieses wie für andere Hölzer eine lange Lagerung von sieben Jahren und mehr als nötig. Was den Trockenschwund angeht, so war diesem die „offene" Rückseite der Bretter mehr ausgesetzt als die durch Grundierung und Farbauftrag geschlossene Bildfläche. Das Aufbringen einer Lasur, die Abdeckung mit Leder, Leinen oder Samt vermochten die Gefahr nur begrenzt zu reduzieren. So waren Harthölzer besonders geeignet, die Tafel über Jahrhunderte plan zu erhalten. Aus diesem Grunde fand zum Beispiel in der zweiten Hälfte des 17. und im 18. Jahrhundert sowie dann noch einmal ganz am Ende der Zarenzeit in Zentralrussland und in Sankt Petersburg das weit aus dem Süden herbei geholte Zypressenholz öfters Verwendung. Generell aber begnügte man sich mit dem, was die jeweilige Vegetationszone anbot; dies kann unter Umständen mit eine Hilfe sein bei der Lokalisierung der Herkunft von Ikonen. Für den russischen Raum ergibt sich von Süd nach Nord, sehr verallgemeinert, die Abfolge : Zypresse, Ulme, Pappel, Linde, Erle - Linde Kiefer - Fichte - Lärche (im Nordosten).
Als Bildträger wurden für diese uns geläufigste Technik der Ikonenherstellung geeignete Hölzer verwendet : Dick genug musste der Stamm sein,
Das Brett wurde in der Regel vom Auftraggeber gestellt; anders war das in jüngerer Zeit in den Zentren manufakturähnlicher Mengenproduktion. Die-
während die Kacheln armenischer Handwerker des 17. und 18. Jahrhunderts, der islamischen Kunst entlehnt, als dekorative Ensembles zur Wandverkleidung in Kirchen und Kapellen dienten. Zu den Sonderformen muss man auch die Hinterglasikonen Siebenbürgens aus dem 18. und 19. Jahrhundert rechnen. -Ab dem 17. Jahrhundert hält dort, wo der Einfluss der italienischen Malerei stark war, die Öltechnik vereinzelt Einzug in die Ikonenmalerei; die Ukraine und Weißrussland kennen sie seit dem frühen 18. Jahrhundert und nochmals hundert Jahre später gewinnt sie auch im zentralrussischen Raum an Boden. Ölbilder auf Holztafeln und die bald in Massenfertigung entstandenen Farbdrucke auf Weißblechfolie gehen fast immer einher mit einer aus dem Westen übernommenen Darstellungsweise, die sich am akademischen, idealisierenden Realismus oder dem Nazarenerstil orientiert. Im Unterschied dazu erweist sich der IkonenHolzschnitt als zumeist weniger progressiv. All die genannten Techniken im Einzelnen zu erklären, wäre in diesem Rahmen nicht sinnvoll, zumal die überwiegende Zahl der Ikonen auf dem Kunstmarkt jener Ausführungsart zugehört, die spätestens in mittelbyzantinischer Zeit im Kleinformat zu dominieren begann und ab dem 15. / 16. Jahrhundert im mediterranen Gebiet sowie - nicht ganz so durchschlagend - auch in Russland im Kirchenraum dem Fresko „Kon kurrenz" machte: die Temperamalerei auf Holz.
se und der Holzmangel, bedingt durch den Verbleib der Wälder in grundherrlichem Besitz auch noch nach der Landreform, führten im 19. Jahrhundert zunehmend dazu, dass selbst Normalformate aus mehreren, oft recht verschieden breiten Leisten zusammengefügt wurden. In früherer Zeit war die Verbindung von zwei, maximal drei etwa gleich großen Brettern nur bei großen Tafeln für den Kirchenraum notgedrungen zur Anwendung gekommen. Von späten Verfallserscheinungen abgesehen wurden die Bretter so geschnitten, dass die Maserung genau senkrecht verlief. Sorgfältig arbeitende Werkstätten achteten ferner darauf, dass jene Schnittfläche, welche die Vorderseite der Tafel abgeben sollte, nahe am Mittelpunkt der Jahresringe vorbeiführte und dass deren gedachte Achse mit der Mittellinie des Brettes identisch war; so waren die Voraussetzungen für eine möglichst geringe, jedenfalls aber gleichmäßige Krümmung gegeben. Experimente mit dem Verleimen zweier Bretter bei entgegengesetztem Wölbungsscheitel der Wachstumsringe verringerten zwar die Wahrscheinlichkeit des Aufgehens der Brettfuge, führten aber zu einer konkav-konvex gewellten Bildfläche. Schon aus byzantinischer Zeit stammt die Praxis, Letztere in die Tafel einzutiefen, was sowohl praktische (zusätzlicher Schutz) als auch ästhetische Gründe hatte. Das war aber nicht durchgängig üblich. Das Vorhandensein eines so entstandenen „Randes" und seine Form beziehungsweise sein Fehlen kann daher ebenso zur regionalen Einordnung eines Stückes beitragen wie etwa eine aufgesetzte Randleiste samt ihrer Ausgestaltung. Eine zeitliche und räumliche Differenzierung weist auch der Gebrauch von Spannriegeln auf der Rückseite auf. Während sie in Griechenland, sofern überhaupt verwendet, häufig aufgezapft oder -genagelt wurden, passte man sie in Russland in Nuten im Holz ein. Bei kleineren Formaten war bis ins 16. Jahrhundert ein 15
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schmaler, einseitig eingeschobener Riegel üblich, im 17. Jahrhundert kamen oft zwei, je einer von rechts und links, sich jeweils zur Spitze verjüngend, zur Anwendung. Ab dem frühen 18. Jahrhundert wurde das, wie sich zeigen sollte effektivere, Einlassen in das obere und untere Hirnholz häufiger praktiziert. Im ausgehenden 18. und im 19. Jahrhundert fallen relativ breite, profilierte Sperrhölzer von gleichbleibendem Querschnitt auf, wie sie auch im sehr produktiven Malerdorf Palech benutzt wurden; und gegen Ende des Jahrhunderts verzichtet man nicht selten ganz auf die ,,Sponki", besonders im Nordwesten. Ihre Aufgabe, nämlich gegebenenfalls neben der Stabilisierung des Bretterverbundes die konvexe Aufwölbung der Tafel zu reduzieren, erfüllten sie in aller Regel nicht, sie wurden vielmehr seitlich etwas herausgeschoben; zum Glück, denn wären diese harten Riegel {nicht selten Eiche) fix geblieben, hätte das Brettholz den wechselnden Temperatur- und Feuchtigkeitsbedingungen nicht nachgeben können; Risse wären die Folge gewesen. Es ist also ganz und gar nicht sinnvoll, seitlich herausgedrängte Riegel mit Gewalt wieder in die ursprüngliche Position bringen zu wollen.
Die Bereitung des Malgrundes Um das Haften der Grundierung zu verbessern, ritzte man, zumeist rautenförmig, die Oberseite des gesamten Brettes ein. In manchen Gebieten erhielt es jedoch in den späteren Hintergrundpartien Kerbschnittornamente, wie man sie auch von mittelalterlichen Tafelbildern kennt. Das war unter anderem in Ruthenien sowie in der Ukraine verbreitet und kam in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch im zentralen und nordwestlichen Russland für Teile der Produktion in Mode. 16
Um die Luft aus den Poren des Holzes auszutreiben und langfristig die Ebenheit der Grundierung zu sichern, musste heißer Leim in das Holz gerieben werden. Ebensolchen Knochenoder Fischleim mischte man dann mit pulverisiertem Kreidekalk oder Alabaster (weniger ausgehärteter Kalkmarmor) und trug dieses warme Gemisch in einer langwierigen Prozedur in (mindestens sechs) dünnen Schichten auf die Platte auf. Zwischendurch und abschließend wurde poliert. Bis ins 18. Jahrhundert ist diesem Malgrund fast regelmäßig noch eine aufgeleimte Leinwand unterlegt (erkennbar auf S. 89) ; damit wollte man eine elastische Ausgleichsschicht zwischen dem „arbeitenden" Holz und der relativ spröden Kreide schaffen. Mit Sorgfalt ausgeführt erwies sich die Vorsichtsmaßnahme denn auch als äußerst wirkungsvoll, verhinderte sie doch häufig breitere Risse und ein großflächiges Abplatzen der darüberliegenden Schichten selbst bei einer beängstigenden Krümmung des Brettes.
rierte Pause eines Vorbildes mit einem Beutelehen Kohlenstaub betupfte, so dass sich die wesentlichen Linien als enge Punktefolge auf dem Malgrund abzeichneten. Die Tradition festschreibende Erlasse, die konservative Tendenz der sogenannten Altgläubigen sowie die auf rationelle Mengenfertigung abgestellte Arbeitsweise gewisser Werkstätten förderten in Russland ab dem 17. Jahrhundert das Kopieren. Einige Malerhandbücher mit einer Fülle von Vorzeichnungen kamen dem entgegen. Allerdings geht aus mehreren einschlägigen Bestimmungen auch klar hervor, dass das Kopieren für anerkannte Meister nicht verpflichtend war. Je nachdem, ob ein durchgehender Goldgrund aufgelegt werden sollte oder nur eine Vergoldung jener Stellen vorgesehen war, die dann auch in Erscheinung traten, ritzte man die Konturen und wichtigen Binnenlinien nach und verstärkte sie mit Farbe.
Die Vergoldung Das Kreide-Leim-Gemisch trug man auf Zypern, in der Ukraine sowie im 15. / 16. Jahrhundert vereinzelt in Nordwestrussland und zu gewissen Zeiten in Bulgarien zusätzlich so auf, dass sich daraus ein erhabenes Ornament für den gesamten Hintergrund oder nur die Heiligenscheine ergab. Manche nehmen an, dies sei ursprünglich in ärmeren Gegenden der Ersatz für die in den Zentren des byzantinischen Reiches auftretende Ausstattung der Ikonen mit durchbrochen gearbeiteten Silberumhüllungen gewesen.
Die Vorzeichnung Die Vorzeichnung wurde mit Rötel und Kohlestift auf den Kreidegrund skizziert, in früheren Jahrhunderten eher freihändig, später öfters kopierend, wozu man dann auch die perfo-
Ausmaß und Art der Vergoldung richteten sich nach dem Format der Ikone, nach regionalen Traditionen oder zeitlichen Moden, nicht zuletzt aber auch nach den ökonomischen Verhältnissen des Entstehungsgebietes, des Auftraggebers oder der Werkstatt. Blattgold wurde entweder auf eine mit Beize bestrichene Grundierung aus rötlichem Ocker oder Sienaerde gelegt, was einen matten Schimmer ergab, oder auf Bolus-Tonerde, gelöst in wasserverdünntem Eiweiß. Im letzteren Falle erzielte man eine Hochglanzvergoldung. Besonders im 18. und 19. Jahrhundert verbreitete sich daneben in einigen orthodoxen Ländern, begrenzt auf einzelne Malschulen, der großflächige Auftrag einer Goldsuspension mit dem Pinsel, der vorher - in Russland ab dem 17. Jahrhundert zunehmend anstelle der althergebrachten Assisttechnik - nur
Wie eine Ikone entsteht
für Muster und Lichtreflexe auf den Gewändern verwandt worden war. Nach dem Antrocknen und Abbinden des Blattgoldes, das mehrere Tage dauerte, brachte man die Flächen durch Polieren mit Tierzähnen oder Achat zum Glänzen. Legiertes Gold bekam dabei einen Schimmer ins Grüne (Silber) beziehungsweise ins Rate (Kupfer) oder blieb staubig-matt (Zinn). Ab dem 16. Jahrhundert kommt in Russland der sogenannte ,,Zwilling" in Gebrauch, eine Kombination aus je einer Lage Blattsilber und Blattgold.
schleifenden Aufrauens verleiht den Heiligenscheinen gewisser Sinaiikonen des 11./12. Jahrhunderts ein irisierendes Gleißen. Entfernt erinnert daran der Effekt, den man erzielte mittels dicht gescharter, das Licht je nach Einfall diffus streuender Riefen auf goldenen Strahlennimben und Hintergründen, wie das im späteren 19. Jahrhundert in der Nachfolge katholischer und ukrainisch-orthodoxer Bildnisse auch in Kernlanden des Zarenreiches Verbreitung fand.
In manchen Gegenden ersetzte man aus Ersparnisgründen das Gold zur Gänze durch Blattsilber (zum Beispiel für den Hintergrund und die Nimben) und überzog es dann an sichtbaren Stellen mit einem transluziden, rötlich-gelb tönenden Faulbeerabsud, später meist mit Schellack. So konnte man damit Blattgold imitieren. Dunklere Flecken weisen nicht selten auf diese Technik hin. In den armen, kleinbäuerlich strukturierten Gebieten des russischen Nordwestens war dieses kostengünstige Verfahren ab der Mitte des 19. Jahrhunderts nahezu ausschließlich das Übliche, wenn man nicht gleich gar auf grüne Farbe oder Ocker auswich, wie das im Norden schon weit früher nicht ungewöhnlich gewesen war.
Farben und Bindemittel
Einige Stilrichtungen sind unter anderem gekennzeichnet durch ein in den Goldgrund gepunztes Ornament, vornehmlich zur Gestaltung der Nimben. Das gilt beispielsweise für die italokretische „Schule", die von ihr beeinflusste zweite Schule von Pec (Serbien, 17. Jh.) sowie für einige Werkstätten auf dem griechischen Festland. In Russland kam diese rationelle Gestaltungsweise in Anwendung zur Füllung der Flächen zwischen den Gravuren floraler Ornamente auf sogenannten Wandermalerikonen des späten 18. und des 19. Jahrhunderts. Eine raffinierte Technik konzentrisch
An Farbpigmenten kamen Erden (z.B. Ocker, Siena), Minerale (z.B. Lapislazuli, Zinnober, Kupferverbindungen) sowie pflanzliche Stoffe (z.B. Indigo, gelber Faulbeersaft, Krapp, Kohle) zur Anwendung. Auch hier sorgten regionale Gegebenheiten, Geschmacksfragen, Standesdenken und wiederum die Finanzkraft für eine reiche Differenzierung, der man wesentliche Hinweise auf Alter und Herkunft einer Ikone entnehmen kann. Die Farben wurden teils relativ pastos, teils nur sehr dünnflüssig aufgetragen. Wiederholte man Letzteres mehrfach, so erzielte man eben jenes Leuchten der Farbe aus der Tiefe, das viele alte russische Ikonen so faszinierend von geschwinder gefertigten aus jüngerer Zeit absetzt. Eine zur Mitte des 17. Jahrhunderts entwickelte „Spezialiät" mancher Meister, die am Sitz der Stroganov in Solvytschegodsk tätig waren und solcher, die der Jaroslavler Schule zuzurechnen sind, wurde in anderen Teilen Russlands alsbald auch zur Mode : die „Tönung des Goldes". Dazu strich man transluzide, grün oder rot getönte Lasuren über begrenzte Flächen von Blattgold (oder -silber), etwa im Bereich der fantastischen Dachlandschaften dieses Stiles, und erzielte so eine Art „Metallic-Effekt", in der optischen Wirkung vergleichbar den Wismutfarben baro-
cker Skulpturfassungen. Als Bindemittel für die Pigmente diente eine Emulsion aus Wasser, Essig beziehungsweise Feigensaft oder Bier und vor allem Eigelb, wovon die „Eitempera" ihren Namen hat.
Die Maitechnik Während man in byzantinischer Zeit, später zum Teil auch noch in Griechenland und auf dem Balkan als erste Farbschicht einen mittleren Helligkeitswert wählte, der dann partienweise sowohl aufgehellt als auch abgedunkelt wurde, bevorzugte die russische Malerei im Prinzip die sonorsten Werte als Ausgangsbasis, auf die Schicht für Schicht lichtere Flächen aufgelegt wurden. Lediglich Faltenlinien auf sehr hellen Tönen wurden dann noch dunkel nachgezogen, sofern sie nicht ohnehin durch die verstärkte Vorzeichnung markiert waren. Die Aufhellung der Gesichter - ihre Gestaltung war wohl stets dem Meister einer Werkstatt vorbehalten, vom Spezialistentum manufaktureller Fertigung zur Spätzeit einmal abgesehen - erfolgte grundsätzlich auf dieselbe Weise, jedoch gab es dafür zwei recht unterschiedliche Methoden: In beiden Fällen wird zunächst die Gesichtsfläche mit der Grundfarbe (einer Mischung aus Ocker und Siena oder Schwarz) bedeckt und gelegentlich stellenweise gerötet. Im Folgenden wird entweder mit drei oder mehr, im Helligkeitsgrad abgestuften, dünnflüssigen Farben so gearbeitet, dass man ihre Grenzzonen nass in nass durch eine wässrige Lösung verwischt. Diese auf russisch ,,plavka" (plavatj = schwimmen) genannte Manier ergibt völlig fließende Übergänge vom Dunklen zum Hellen. Die plastische Ausformung des Gesichts lässt sich aber auch mit einer Fülle feiner und feinster Strichlein erreichen, die man in stets helleren Werten aufeinander setzt, sei es 17
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parallel oder in Kreuzsehraffen. Sehr häufig wurden die beiden Methoden kombiniert, wobei man sehr verallgemeinernd sagen kann, dass etwa ab der Mitte des 17. Jahrhunderts die .,belebenden Strichlein" immer sparsamer angewandt wurden. Kräftige Akzente setzen nicht selten weißliche .,Hochlichter", in Nordostgriechenland, in Teilen Bulgariens und Rumäniens sowie im Karpatenland eher flächig angelegt und typischerweise scharf kontrastierend mit ganz besonderen Schattenzonen im Augenbereich, an der Kinngrube und an Hals und Bart, auf deren charakteristische, oft stildifferenzierende Ausformung in Russland ebenfalls Wert gelegt wurde.
Die Hochlichter Auch auf den Gewändern sorgen solche Hochlichter für eine Strukturierung der Flächen, teils entsprechend den natürlichen Reflexen auf erhabenen Stoffpartien, teils aber auch im Widerspruch dazu. Sie sind in mehr oder weniger getöntem Weiß ausgeführt oder auch monochrom beziehungsweise in der jeweiligen Komplementärfarbe. Daneben spielen goldene Reflexe eine große Rolle. Hier handelt es sich - im russischen Bereich primär auf Ikonen bis zur ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts - um Blattgold, auf einer genau formentsprechenden Vorzeichnung mit Knoblauchsaft zum Haften gebracht - der lose Rest wird vorsichtig weggebürstet - oder um jene schon besprochene Pulvergoldaufschlämmung, die man mit breiterem Pinsel weich verteilte, mit Dachshaar in feinsten Linien auszog.
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Die Beschriftung Von größter Bedeutung für eine Ikone ist die Beschriftung, genauer gesagt die Benennung der göttlichen Person(en), der Gottesmutter, einzelner Heiliger oder des szenischen Geschehens. Dabei spielt es gar keine Rolle, ob sie sehr flott und großzügig gehandhabt oder zu einem kalligrafischen Schmuckstück (S. 91, S. 129) hochstilisiert wurde : Mit dem Namen des Heiligen, den - auch in Russland traditionell griechischen - Abkürzungen für Christus und die Gottesmutter oder dem Gottestitel wurde das Bild vom irdischen Machwerk zum verehrungswürdigen Abbild transzendenter Natur. Somit erübrigte sich, theologisch gesehen, eine eigene Weihe der Ikone, auch wenn sich dafür in relativ junger Zeit ein eigener, schlichter Ritus entwickelt hat. (Der UrbildAbbild-Lehre zufolge liegt die religiöse Würde der Ikone ja in ihr selbst; sie bedarf also keiner äußeren Heiligung.) Abgesehen von den schon angesprochenen, unwandelbar altgriechisch wiederzugebenden Elementen auf den Ikonen Christi und der Gottesmutter ist Kirchenslavisch das übliche Idiom für Titel und Beischriften in kyrillischen Lettern auf russischen, serbischen und zum Teil bulgarischen Tafeln, auch wenn es in den Grenzbereichen im Südwesten und Süden des russischen Reiches sowie kurz nach der Mitte des 17. Jahrhunderts vereinzelt auch in seinem Zentrum Abweichungen davon gab. Trägt eine Ikone aus dem in Rede stehenden Raum gar keine Beschriftung, so kann sie in einer der katholisch-orthodoxen Überlagerungszonen zwischen der Westukraine, Südpolen und dem Baltikum beheimatet sein und eventuell einer der mit Rom unierten, orthodoxen Glaubensgemeinschaften zugehören. (Syrer, Kopten, Äthiopier,
Armenier und Georgier benutzten jeweils ihre alte Landessprache für die Aufschriften. Rumänisch erscheint bis ins 18. Jahrhundert in kyrillischen, später auch in lateinischen Buchstaben, melkitische Ikonen sind arabisch beschriftet, kretisch-venezianische je nach Auftraggeber mitunter auch in Latein. Ansonsten dominiert das Griechische.) Angesichts der theologischen Grundauffassung der Ostkirchen bezüglich des Wesens einer Ikone kann es nicht verwundern, dass Ikonenmaler, gleich ob Mönche, Nonnen oder Laien, in der Regel nicht auf die Idee kamen, ein heiliges Bild stolz als ihr Werk auszuweisen durch eine Signatur. Nur dort, wo sich Maler primär als Künstler verstanden, wurde auch signiert und zum Teil datiert. Das geschah auf anspruchsvolleren kretischen und zum Teil griechischen Ikonen ab dem 15. Jahrhundert relativ häufig. In Russland wurde diese Praxis unter dem Eindruck der aufgegriffenen Vorbilder aus der abendländischen Spätrenaissance verstärkt im 17. Jahrhundert und bis ins frühe 18. Jahrhundert hinein geübt (S. 141) und dann wieder im 19. Jahrhundert; sie blieb aber dort die Ausnahme. Dagegen erlauben geritzte und geschriebene Vermerke auf den Rückseiten russischer Tafeln oftmals interessante Einblicke in die Entstehungsbedingungen und das soziale wie volksreligiöse Umfeld der Stücke: Dort wird häufig der Auftraggeber, manchmal auch sein Wohnort, das zu malende Thema, das damit beauftragte Werkstattmitglied und gelegentlich der Preis genannt. Außerdem finden sich in Einzelfällen Hinweise auf den Anlass des Fertigungswunsches sowie über die Rolle einer schon länger im Familienbesitz befindlichen Ikone in wichtigen Lebenssituationen (S. 137).
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Die Schutzschicht Manche der einstmals verwandten Farben waren unter Einwirkung von Licht, Luft und Feuchtigkeit nicht sehr beständig, auch drohte speziell auf durchgehendem Silber- oder Goldgrund ein Ablösen der Pigmentschicht. Ein leichtes Bekratzen der Oberfläche konnte schlimme Folgen haben, und im Übrigen wirken Eitemperafarben nach dem raschen Trocknen ausgesprochen stumpf. Ein durchsichtiger, das Licht streuend reflektierender und zugleich schützender Überzug, der überdies die Farben nicht nur belebte, sondern sie durch eine leichte, gleichmäßige Tönung einander näher brachte, konnte alledem abhelfen: die „Olifa". Sorgsam über zwei Jahre aufbereitetes Leinöl mit einer Beimischung aufgelösten Bernsteins (Russland), Oliven- oder Nussöl (mediterraner Raum), versetzt mit Salzen oder Metalloxiden, rieb man mit Fingern und Handballen in mehreren Arbeitsgängen in die Farboberfläche ein; daneben ist auch das Aufschmelzen von Bienenwachs bekannt, das man dann polierte. Bereitung und Auftrag der „Olifa" gehörten zu den gehüteten Werkstattgeheimnissen.
was empfunden wurde, was wir „beschaulich" im Sinne des Kontemplativen nennen würden. Und da sie letztlich der Offenbarung transzendenter Wesenheit im Irdischen diente, wurde vom Maler ein vorbildlicher Lebenswandel erwartet sowie Beständigkeit im Gebet, gleich ob er Mönch oder Laie war. Dass dieser hohe Anspruch, zumal in den letzten Jahrhunderten, nicht immer erfüllt
wurde - einschlägige offizielle Ermahnungen und Augenzeugenberichte beweisen es - , tut dem hehren Charakter dieser künstlerisch-religiösen Arbeit im Grunde keinen Abbruch. Der Legende nach fertigte der Evangelist Lukas ein Abbild der Gottesmutter noch zu ihren Lebzeiten und wurde so zum ersten Ikonenmaler, wie ihn das folgende Bild von Semjon Spiridonov zeigt; (ca. 1680).
Ikonenmalen - eine langwierige Arbeit Wenn man nicht zu viele Trockenstoffe hinzufügte, die ein starkes Nachdunkeln verursachen, konnte das Trocknen der Olifa alleine schon Wochen dauern. Bedenkt man die große Zahl an sonstigen Arbeitsgängen, zwischen deren oftmaliger Wiederholung lange Pausen nötig waren, dann versteht man, dass eine sorgfältig ausgeführte Ikone ein Werk von Monaten war. So gesehen kann es nicht verwundern, dass diese Arbeit, weil allerlei Kunstfertigkeit und ebensoviel Geduld erfordernd, als et19
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Vorsicht ist nichts Unschickliches Häufiger als angesichts anderer Objekte des Kunsthandels und, wie es den Anschein hat, auch ungenierter dem Zweifel Raum lassend, wird bezüglich Ikonen, etwa am Messestand, schon einmal nach deren „Echtheit" gefragt. Diese geradeheraus geäußerte Besorgnis ist freilich fast ausschließlich für den bis dahin wenig damit Befassten bezeichnend, während das Gros der Liebhaber und Sammler solcher Arbeiten des religiös orientierten Kunsthandwerks gerne eine über die Jahre gewachsene Sicherheit an den Tag legt. Dabei haben beide Haltungen aus heutiger Sicht nur bedingt ihre Berechtigung, soweit sie auf Ikonen russischer Herkunft abstellen. In den einen verursacht eben dieselbe Mischung aus Bekanntem und Fremdem, die einen Teil der Anziehungskraft der Ikone ausmacht, jene intuitive Vorsicht, die in dem Maße gar nicht erst aufkommt, wenn man es mit Gegenständen aus dem eigenen Kulturkreis zu tun hat. Nicht durchwegs zu Recht, wie die Praxis jedenfalls über lange Zeit erwies : Im Vergleich zu marktläufigen Falsifikaten in mancher „klassischen" Domäne des europäischen Kunsthandels traten gefälschte Ikonen bis noch vor etwa zwei Jahrzehnten in vergleichsweise recht geringer Anzahl auf. Seither hat der politische, wirtschaftliche und soziale Wandel nach Auflösung der Sowjetunion jedoch auch bezüglich der russischen Ikone in dieser Hinsicht derart gravierende Veränderungen mit sich gebracht, dass sich weder Sammler noch Händler weiterhin in der altgewohnten Sicherheit wiegen sollten. 20
Ein anderer kritischer Punkt betrifft die freilich schon lange übliche, allzu unbedachte beziehungsweise irreführende Gleichsetzung von „echt" und „original", wie sie auch so manches „Zertifikat" von Veräußererseite praktiziert, und das obwohl - oder gerade weil? - der Unterschied einen nicht selten höchst wertrelevanten Faktor berührt.
Zur Frage der Echtheit „Echt" im Sinne von religiös authentisch Als verehrungswürdig und somit als echt empfindet der schlichte orthodoxe Gläubige jede ihm auch nur einigermaßen vertraute und mit den korrekten Titeln und Beischriften versehene Wiedergabe von Bildern Gottes, der Gottesmutter, von Propheten, Vorvätern des Alten Testamentes und Heiligen sowie solcher aus dem Leben Christi, gleich welches Material und welche Technik zu ihrer Herstellung genutzt wurde, moderne Reproduktionsverfahren spätestens seit dem 18. Jahrhundert eingeschlossen. Wohl gab es im alten Russland immer wieder einmal Ansätze von Seiten kirchlicher Autoritäten zu einer restriktiveren Wertung, die nicht zuletzt auf die Wahrung eines soliden kunsthandwerklichen Niveaus abzielten. Aber selbst wenn man solche in Anschlag bringt, kann einem Großteil der nach dem Wiederaufleben der russischen Orthodoxie von der Mitte der Achtziger des vorigen Jahrhunderts an in rapid angewach-
sener Zahl gemalten Tafeln die „Echtheit" im Sinne religiöser Authentizität nicht abgesprochen werden, soweit traditionelle Produktionsstandards eingehalten wurden und die religiöse Zweckbindung nahe liegt.
„Echt" nach den Regeln des seriösen Antiquitätenhandels In Europa (ausgenommen Teile Osteuropas) und in Nordamerika gelten solche „jungen" Arbeiten im seriösen Antiquitätenhandel gleichwohl nicht als „echt", weil dieses Prädikat hier bislang - nur solchen russischen Ikonen vorbehalten ist, die in überlieferter Kunsthandwerksmanier vor 1917 entstanden sind. Das Datum lässt erkennen, dass man die - nach der Oktoberrevolution mit der Wende zum sozialistischen Atheismus als nicht mehr gegeben erachtete - Einbettung der Herstellung von Ikonen in ein religiöses Umfeld für den Bereich des Kunsthandels zum Kriterium für die „Echtheit" gemacht hat (wobei der zeitliche Endpunkt allerdings, faktisch gesehen, knapp zehn Jahre zu früh angesetzt wurde). Wenn also ungeachtet der unbestreitbaren Neufundierung eines solchen Kontextes im neuen Russland erst nach jener Datumsgrenze geschaffenen Ikonen im seriösen Handel das Prädikat ,,echt" nicht zuerkannt wird, so ist dabei eines nicht zu übersehen: Damit wurde im letzten Jahrzehnt des vorigen Jahrtausends, genau genommen, ein unausgesprochener Parameterwechsel bezüglich der Bewertung vorgenommen: Ursprünglich bildete
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ja nicht (wie etwa im Teppichhandel als Grundlage für die Prädikate „alt" und „antik") das durch eine festgelegte, gleichbleibende Anzahl von Jahren nach der Herstellung zu erreichende Merkmal des Alters an sich das Echtheitskriterium, sondern eben die hinter dem fixen Datum stehende Einbettung der russischen Ikone in ein entsprechendes religiös-kulturelles Umfeld. Zum Ende der sechziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts etwa waren solchermaßen als „echt" definierte Ikonen russischer Provenienz aus der Spätzeit damals schließlich gerade einmal vierzig Jahre „alt". Bis auf Weiteres - vielleicht auch nur noch für wenige Jahrzehnte - bleiben aber „neu" gemalte Ikonen unbeschadet ihrer gegebenenfalls feststellbaren religiösen und kunsthandwerklichen Authentizität vom Angebot des renommierten Handels in Galerien und auf Messen ausgeschlossen, weil ihnen nicht zugleich auch das Merkmal der „Antiquität" zukommt.
oberfläche ihre Attraktivität voll entfalten ; deshalb und weil ihnen neben ihrem Glaubensgehalt in besseren Kreisen zumindest auch eine zierende Funktion zukam, wurden sie seinerzeit bereits möglichst sorgsam gehütet. Ein ausgezeichneter Erhaltungszustand von Ikonen feinmalerischen Charakters ist also aus diesem Grunde für sich alleine noch keineswegs ein Indiz für rezente Entstehung; deshalb sind kunsthandwerklich oft hochrangige, neue Ikonen dieser Art auf dem Kunst- und Antiquitätenmarkt in den letzten Jahren mit steigender Tendenz neben
gleichartigen, echten aus dem 19. Jahrhundert anzutreffen, ohne dass dem jeweiligen Endverkäufer grundsätzlich eine Täuschungsabsicht zu unterstellen wäre. Bereits die Vorbilder ihrerseits basierten ja oftmals auf zeichnerischen Vorlagen des 16. und 17. Jahrhunderts, die zumindest als Kopien bis heute überdauerten; die zu deren Umsetzung erforderlichen Fertigkeiten waren in Russland auch nach der Revolution nie ganz verloren gegangen, weil sie nach dem vorläufigen Ende der Ikonenmalerei (zwischen 1917 und 1925) beispielsweise im zentralrussischen
Täuschend „echt" Eine religiöse Zweckbestimmung der in den letzten zwei Jahrzehnten in Russland neu entstandenen Ikonen ist allerdings nicht für alle gleichermaßen uneingeschränkt zu bescheinigen. Vielmehr werden gegenwärtig, anders als bis in den Beginn des 20. Jahrhunderts, Ikonen auch primär für außerreligiöse Zwecke gefertigt, nämlich zur Erfüllung touristischer Souvenirwünsche und zur gezielten Einspeisung in den Antiquitätenmarkt nichtorthodoxer, wohlhabender Länder. Dabei handelt es sich oftmals um szenen- und figurenreiche, in miniaturhafter Manier gemalte Tafeln, die Vorbilder dieser Art aus der Zeit zwischen etwa 1780 und 1900 kopieren und variieren. Schon Letztere konnten nur bei sehr gutem bis makellosem Zustand der Mal21
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Malerdorf Palech auf die Gestaltung von Lackdosen mit klassenkämpferischen, historisierenden oder märchenhaften Themen weiterhin angewandt wurden, und das nicht selten in einer nah verwandten Formensprache. Die sehr vereinzelten, vergleichsweise frühen Wiederbelebungsversuche einer Ikonenmalerei im Miniaturstil mit optisch reizvollen Themen aus den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts lassen denn auch die Nähe zu solchen Märchensujets noch deutlich erkennen (Das Wunder des hl. Theodor Tiron, Bild S. 21), wogegen die fähigsten Künstler der jüngeren Generation Ikonenfein malerstile des 19. Jahrhunderts täuschend ähnlich nachzuahmen verstehen. Man möchte meinen, eine solche Tafel mit ihren Dutzenden kleiner Figuren, ihren zahllosen Details in Landschaft, Architektur und Ornament neu anzufertigen, wäre angesichts der dafür aufzuwendenden Arbeitsstunden ein ökonomisch wenig sinnvolles Unterfangen. Dem ist nicht so: Einerseits erzielen gemäß dem Handelsreglement „echte", also 100 bis 200 Jahre alte Spitzenstück solcher Feinmalerei heute beachtlich hohe Preise und andererseits erlaubt das in dieser Branche des Kunsthandwerks in Russland noch immer recht niedrige Lohnniveau dem versierten Aufkäufer (de facto rezenter) Produkte bei Ikonenvertriebsstellen vor Ort oder bei deren Emissären, im Westen ein Vielfaches des gezahlten Einstandspreises zu erlösen (und dabei unter Umständen die Konkurrenz mit ihren alten, scheinbar vergleichbaren Stücken absatzfördernd dennoch kräftig zu unterbieten) . Laufen Geschäftsgang und Preisbildung in dieser Weise ab, kann von Gutgläubigkeit seitens des Händlers freilich nicht mehr ausgegangen werden.
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Unsichere Altersindizien
Gefälscht
Selbst so mancher Fachmann vermag allerdings dann nicht auf Anhieb neu und alt zu unterscheiden, wenn für letztere Einschätzung etwa ein fraglos ein- bis zweihundert Jahre altes Brett als Bildträger und ein scheinbar über ebenso lange Zeit „gereiftes" Craquele sprechen könnten. Eines unter zahlreichen Mitteln, neue Ikonen vorsätzlich älter scheinen zu lassen, als sie tatsächlich sind, ist nämlich die Wiederverwendung alter Ikonenbretter (meist aus dem 18. und 19., seltener aus dem 17. Jahrhundert). Allerdings ist eine vergleichsweise deutlich jüngere Darstellung auf einer älteren Holztafel per se noch keineswegs ein sicheres Indiz für eine Fälschungsabsicht. Spätestens nämlich seit der Mitte des 17. Jahrhunderts war die Benutzung älterer Bildträger zur Neugestaltung von Ikonenthemen eine nicht selten geübte Praxis, sei es aus ästhetischen Gründen (Übermalungen in einem moderneren Stil) oder aus solchen der Sparsamkeit (vor allem im 19. Jahrhundert), jedenfalls aber mit dem Hintergrund der Pietät, die eine Zweckentfremdung oder Vernichtung der Bretter unansehnlich gewordener Ikonen nicht zuließ. In den letzten Jahren war besagte Übung für Ikonenmalerartels, etwa in Moskau und Jaroslavl, wieder verstärkt festzustellen - aus welchen Motiven auch immer - und die Patriarchatskirche organisiert ihrerseits entsprechende Sammelaktionen alter Bildträger. Aus anderen Gegebenheiten heraus begründet ein künstlich erzeugtes Craquele, wiederum für sich genommen, ebenso wenig zwingend bereits den Fälschungsverdacht: Ein solches wird gerne auch auf unverkennbar neuen und als solche korrekt deklarierten, billigen Ikonen, russischen wie griechischen, der ,,Aura" wegen angestrebt.
Allerdings gehören beide Hilfsmittel, altes Brett und künstliches Craquele, auch zum Erscheinungsbild von problematischen Stücken mit wesentlich älteren Stilmerkmalen: Wegen der für den Verkehrswert im Handel grundsätzlich sehr hohen Bedeutung des Alters eines Stückes, das nach Stilkriterien dem 15. mit 17. Jahrhundert zuzuordnen wäre, geben sich zeitgenössische Werkstätten in Russland bei einem Teil ihrer dem Kunstund Antiquitätenhandel zugedachten Produktion alle Mühe, jene Altersund Gebrauchsspuren artifiziell nachzuahmen, die bei Ikonen aus weit zurückliegenden Epochen in aller Regel zu erwarten sind. Da Restaurierungswerkstätten seit den frühen Jahren der Sowjetunion bis heute sich unausgesetzt mit solchen Schäden an bedeutenden Ikonen - als Zeugen des vaterländischen Kunsterbes - befasst haben und entsprechende Ausbildungsgänge etabliert waren, gibt es heute in Russland genügend Fachkräfte mit einschlägigen wissenschaftlichen Kenntnissen und handwerklichen Fähigkeiten. In diesem Zusammenhang gilt es eine vor allem im Auftrag kirchlicher, aber auch einiger anderer Institutionen in russischen Restaurierungswerkstätten schon seit geraumer Zeit und bis heute geübte Praxis zu erwähnen: Als wertvolles Kulturerbe erachtete Tafeln werden nach Abschluss ihrer Sanierung einmal oder auch mehrfach möglichst exakt, das heißt samt den verbliebenen Schäden, kopiert, gewiss primär um die Originale, etwa in Dorfkirchen, nicht erneut schädigenden Einflüssen auszusetzen, ohne den Gläubigen das gewohnte Verehrungsbild ganz offensichtlich entziehen zu müssen, wie das nach der Revolution - durchaus aus tatsächlich konservatorischen Gründen - geschehen war. Allerdings tauchten in den letzten Jahrzehnten solche hochwertigen Ko-
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pien immer wieder einmal im europäischen Kunsthandel auf und sorgten für Verunsicherung auch unter Kennern. Mehr noch gilt das nach verbreiteter Ansicht für vergleichbare, technisch vielleicht noch besser gemachte Exemplare aus den zwanziger und vor allem dreißiger Jahren, als der junge Sowjetstaat, um den notorischen Devisenmangel zu reduzieren, über Skandinavien, Paris und die USA zusammen mit Originalen von hoher Qualität auch das eine oder andere blendend replizierte Stück in den arrivierten Kunsthandel einschleuste. So manche Ikone aus diesen Konvoluten, in den Jahrzehnten nach dem zweiten Weltkrieg erneut auf den Markt gebracht, entfacht noch heute Widerstreit unter Experten. Den „normalen", schon aus Platzgründen eher auf die moderaten Abmessungen von Hausund Votiv-Ikonen ausgerichteten Sammler muss letztere Gruppe von Falsifikaten jedoch weniger beunruhigen, handelt es sich dabei doch überwiegend um großformatige Ikonostasetafeln. Eines gilt jedenfalls grundsätzlich: Werden unter anderem ,,Holzausbrüche", ,,Wurmschäden", ,,Kantenstöße", ,,Randfarbebeschabungen", ,,Farbablösungen", ein „Berieb des Goldgrundes" und „Nagelspuren" künstlich herbeigeführt, um eine vorgeblich zwei- bis fünfhundert Jahre zurückliegende Entstehungszeit glaubhaft erscheinen zu lassen, so ist von Fälschungen im eigentlichen Sinne des Wortes dann zu sprechen, wenn damit bei Kaufinteressenten wissentlich ein unangemessen hoher Gewinn erzielt oder ein solcher Dritten ermöglicht wird.
Ikonen, die, wie sich gezeigt hat, geeignet sein können, das Vertrauen in die Ikone als reelles Objekt des Kunsthandels auf eine subtilere Weise zu erschüttern, obwohl diese Tafeln nach heutigen Kriterien jenseits der Diskussion um „echt" oder „falsch " liegen. Gemeint sind Stücke, die schon am Ende des 18. und vermehrt ab der Mitte des 19. Jahrhunderts aus einer national-konservativen Motivation heraus erwuchsen: Einige Werkstätten kamen der in gebildeten Kreisen aus unterschiedlichen gesellschaftspolitischen Gründen aufflammenden Liebe zum „Altrussischen" mangels verfügbarer Masse an wirklich alten Stücken dadurch entgegen, dass sie Ikonen im Stil des 16. und 17. Jahrhunderts nach Originalen oder nach Malerhandbüchern „kreierten". Einige namentlich bekannte Spitzenkünstler der Feinmalerdörfer Mstera und Palech, übrigens selbst passionierte Sammler, waren für ihre diesbezüglichen Fähigkeiten geradezu berühmt. Mag sein, der eine oder andere Sammler von damals habe im vollen Bewusstsein der realen Sachlage eine gekonnte Kopie sehr wohl geschätzt, wenn er schon nicht das Original in seine vier Wände holen konnte ; solchen Artefakten wird aber ihre ,,Echtheit" heute generell nicht abgesprochen, auch nicht unter dem Vorzeichen, dass gewiss nicht wenige von ihnen seinerzeit zum Zweck der Bereicherung und Täuschung geschaffen wurden. Schließlich entstanden sie ja vor dem juristisch relevanten Datum, dem Jahr 1917. Die Frage ihrer korrekten zeitlichen Zuordnung (zum 19. Jahrhundert) im geschäftlichen Umgang steht freilich auf einem anderen Blatt; hier liegt potentiell der eigentliche Stein des Anstoßes.
Täuschend,aberecht Faktisch ganz ähnlich, rechtlich von den beiden soeben besprochenen Gruppen künstlich gealterter Nachschöpfungen aber klar unterschieden, verhält es sich mit jenen russischen
Fälschungen erkennen Das trostreiche Fazit vorab : Es bedarf großer theoretischer Kenntnisse, eines
beträchtlichen handwerklichen wie malerischen Geschickes, ausgeprägter Sorgfalt und Ausdauer sowie weit gespannter Möglichkeiten bezüglich der Materialbeschaffung, um eine Ikone höheren Alters so zu fälschen, dass selbst profunde Kenner damit in Verlegenheit zu bringen sind. Was muss da nicht alles zusammenpassen: Art, Zustand und Gewicht des Holzes, Brettschnitt, Technik der Brettbearbeitung und Malgrundaufbereitung, Format, die Entscheidung für eine plane Oberfläche oder eine solche mit Bildfeldeintiefung sowie deren Gestaltung im Detail, Stärke und Struktur des Craqueles, chemische Zusammensetzung, Konsistenz und Auftrag der Farbe, Art der Vorzeichnung, Qualität, Gewinnungsweise und Erhaltungszustand des Goldes von Hintergrund und Nimben sowie gegebenenfalls jenes der Hochlichter, Form und Platzierung der Beschriftung - all dies muss neben weiteren Faktoren in sich stimmig sein und mit der Ikonographie sowie stilistischen Merkmalen wie Bildaufbau, Formenschatz, Linienführung, Kolorit und Zierschriftduktus harmonieren. Weil aber der Experte unter Umständen schon auf Grund einer einzigen Diskordanz in Materialbefund, Technik und Stil in der Lage ist, eine Fälschung als solche zu entlarven, und erst recht keine Probleme damit hat, wenn sie sich schon durch einen offenkundigen Mangel an gestalterischem Geschick verrät, nehmen bequeme Betrüger hin und wieder Zuflucht zu einer schon im 19. Jahrhundert in Russland geübten Verfahrensweise: Auf ein originales, älteres, eventuell in der Wurmkiste „nachgereiftes" Brett, dem man noch die eine oder andere zusätzliche Schramme beigebracht hat, wird die drucktechnische Wiedergabe eines stilistisch möglichst zu dessen Entstehungszeit passend ausgeführten Themas aufgezogen, in Tempera vollständig nachgemalt und mit Hochlichtern verse23
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hen. Danach unterzieht man die Oberfläche und schließlich den Firnis einem verkürzten „Alterungsprozess" (,,Über dich freuet sich ... ", Bild, S. 24). Abgesehen von der meist zu „glatten" Farbwirkung ist es hierbei das „Craquele ", das die Täuschung an den Tag bringt. Eine dünne Nadel liefert den Beweis: Was man da aus den feinen, dunklen „Rissen" herausheben kann, ist nicht etwa eingeriebener Schmutz, vermischt mit Olifa, sondern hauchdünnes Papier. Dieser konkrete, freilich eher einfache Fall mag das Vertrauen bestärken, auch andere, gewieftere Machenschaften auf diesem Gebiet seien aufzudecken, vorausgesetzt man geht nur sachkundig und gewissenhaft genug der Überprüfung
aller oben aufgezählten Kriterien nach, auf der Suche nach möglichen Unstimmigkeiten zwischen ihnen. Die weniger tröstliche Botschaft ergibt sich als Kehrseite aus deren Vielzahl aber wohl ebenso einleuchtend von selbst : Auch für einen Beurteilenden ist es angesichts der Fülle ins Auge zu fassender Details nicht immer leicht, zum unzweifelhaft richtigen Ergebnis zu gelangen. Intensives Studium, jahrzehntelange Erfahrung und frequente Praxis gepaart mit regem Meinungsabgleich unter Kennern machen es aber möglich, ernsthafte Fehleinschätzungen weitgehend auszuschließen. Begeistert sich also ein Sammler abseits der weni-
gen wirklich renommierten Ikonengalerien in nachvollziehbarer, aber stets auch ein gewisses Risiko in sich bergender Entdeckerfreude für eine Ikone, verlässt sich primär auf sein Dafürhalten und Gefühl sowie die ihm ad hoc erteilten Auskünfte (gegebenenfalls einschließlich derer im ,,Zertifikat") und gibt letzten Endes eine beträchtliche Summe aus, ohne sich daneben des Beistandes einer optimalerweise vom Handel unabhängigen - ausgewiesenen Fachkraft zu versichern, so ist ihm - man verzeihe das harsche Wort- nicht zu helfen. Ein Kenner und Sammler, erst recht ein Mensch, der sich eher als .,Ikonenfreund" versteht, sollte die grundlegende Frage der Echtheit eines Stückes bereits vor einer schwerwiegenden Entscheidung verlässlich geklärt wissen wollen; juristisch gesehen verhilft dabei das weithin üblicherweise vom Händler bezüglich Echtheit und Alter einer Ikone ausgestellte „Zertifikat" für sich alleine nicht zur erwünschten Sicherheit, würde dies doch eine fundierte Sachkunde und einen einklagbaren Rechtstitel voraussetzen. Erstere ist leider durchaus nicht immer in hinreichendem Maße gegeben, der zweite dann schon gleich gar nicht, wenn keine falsche Information wider besseres Wissen als wesentlich für das Zustandekommen eines Kaufes nachzuweisen ist. Das eine ist aber mit dem anderen untrennbar verquickt.
Zur Frage der Originalität
Was Auskünfte von ökonomisch interessierter Seite betrifft, wird die Situation noch etwas schwieriger, sobald - die Echtheit einer Ikone einmal als gegeben vorausgesetzt- die Frage ihrer Originalität berührt wird. Auch und erst recht wenn es um diesen Punkt geht, sollten freilich nicht a priori unlautere Absichten unterstellt 24
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werden, denn es erfordert unter Umständen viel Muße und ein langwieriges Studieren und Vergleichen eines Objektes - von der Heranziehung wissenschaftlicher Untersuchungsmethoden einmal ganz abgesehen-, bis sich verantwortliche Aussagen über die manchmal recht diffizile Frage seiner Originalität machen lassen. Letztere wird im Wesentlichen von drei Faktoren bestimmt: Alters- und gebrauchsbedingte Veränderungen gegenüber dem Urzustand, historische Überarbeitungen sowie rezente Restaurierungs- oder „Verschönerungs" - maßnahmen sind hierfür ins Auge zu fassen. Sie alle erweisen sich im Übrigen auf dem Sektor Ikone als ebenso wertrelevant wie bezüglich der meisten Gegenstände des Antiquitätenhandels. Der gläubigen Verehrung mögen sie hingegen völlig belanglos erscheinen.
ner Spannungen elastisch ausgleichenden Leinwand zwischen Brett und Kreidegrund verzichtet wurde. Bei recht alten Stücken zeichnet sich eine solche dagegen eher durch schräge Dehnfugen im Kreidegrund über dünnem Brett ab. Umgekehrt werfen Phasen nachfolgend verstärkter Durchfeuchtung mit der Gegenbewegung Stauchfalten auf und führen gelegentlich zu Ablösungstendenzen der Leinwand. Die häufig zur Vermeidung dieser konvex-konkaven Wöl bungsneigungen angewandten Querriegel der Rückseiten (nicht die ins Hirnholz oben und unten eingeschobenen) erwiesen sich in aller Regel als wirkungslos: Sie lockerten sich, wurden teilweise seitlich hinausgeschoben und gingen nicht selten ganz verloren - ohne dass dies ein Verlust in Sachen Originalität oder gar zu beklagen wäre ; im Gegenteil: Erfüllten sie hartnäckig die ihnen zugedachte Aufgabe, traten nicht selten zerstörerische Risse im Brett auf.
Alterungsschäden An Holz, Kreide, Textilfasern, Bindemitteln, natürlichen Pigmenten und trocknenden Lösungen, ja selbst an den meisten Metallen - um die materiellen Bestandteile einer Ikone aufzuzählen - hinterlässt der Zahn der Zeit seine Spuren.
Der Werkstoff Holz
Der Bildträger Holz, ausgesprochen dichte, harte Sorten mediterraner Herkunft ausgenommen, krümmt sich infolge Trockenschwundes an der dagegen weniger geschützten Rückseite je nach dortigem Flächenanteil sommerlicher Halbjahresringe mehr (Seitenbretter) oder weniger (Mittel- und Kernbretter) stark. Abblätterungen und vertikale Dehnungsrisse in der Bildfläche können so verursacht werden, ins besondere dann, wenn auf die Verwendung ei-
Solche, meist vertikal verlaufend, sind jedoch überwiegend dem Aufleimen von Brettfugen geschuldet, befördert durch das individuelle Arbeiten der Tafelkomponenten, wenn man auf Sponki (Querriegel) ganz verzichtet hatte oder wenn diese eben selbst die anfangs feste Bindung zu den zwei, drei oder mehr Brettern verloren. Hatte dies meist schmale, lineare Abblätterungslinien in der Kreide- und Farbschicht zur Folge, so deutet eine über die Fläche gestreute Fülle kleinflächig punktueller, nur oberflächlicher Ablösungen der Pigmentschicht auf eine unzureichende Bindung zwischen zwei Lagen hin, sei es der Farbschicht über dem Blattgold oder die des Goldes selbst über Bolus und Kreide. Die bei Ikonen des 19. Jahrhunderts öfters festzustellenden Ablösungen der relativ pastos aufgesetzten Inkarnatfarben (d. h. der Hautpartien) respektive deren rezente Wiederherstellung gehen auf ein vergleichbares, technisches Defizit zurück.
Da die bäuerlichen Anwesen, bis ins achtzehnte, ja ins neunzehnte Jahrhundert hinein aber auch das Gros der städtischen Gebäude wie die meisten ländlichen Kirchen in Blockoder Ständerbau aus Holz errichtet waren, kann es nicht verwundern, dass Holzschädlingen nicht nur dieses Ambiente, sondern auch die darin aufbewahrten Ikonenbretter als höchst willkommene Lebensgrundlage dienten. Besonders leicht anmutende Ikonenbretter oder solche, aus denen noch heute Holzmehl rieselt, legen Zeugnis davon ab. Es gilt darauf zu achten, ob das „Biotop" noch oder erneut aktiv belebt ist; gegebenenfalls wären mit einem Möbelspezialisten geeignete Schutzmaßnahmen wie etwa das Begasen unter Luftabschluss zu besprechen.
Veränderungen des Firnis
Die als Firnis vor allem in früheren Zeiten (vor der weiten Verbreitung des Schellacks im 19. Jahrhundert) verwandte „Olifa" (wie der Name sagt, auf Ölbasis gewonnen) enthielt oftmals winzige organische Reststoffe, die unter Lichteinfluss dunkelten; ein Zuviel der Zugabe von trocknungs beschleunigenden Substanzen verstärkten diesen Prozess. Mehr noch sorgten Feinstäube aus der Ofenheizung, von Weihrauch und Kerzenruß für eine schrittweise Verfinsterung der ursprünglich nur leicht tönenden, lichttransparenten Deckschicht über den Farben, oftmals bis die Darstellung kaum mehr zu erkennen war: Die Ikonen wurden so zu „schwarzen Brettern" und dies konnte, wie Belege aus dem 19. Jahrhundert zeigen, schon nach zwei bis drei Jahrzehnten eingetreten sein. Als durchaus nicht beabsichtigte Verschlechterung des Ausgangszustandes ist eine solche Patina, und sei sie auch weniger gravierend ausgebildet, keineswegs ein Ausweis der Originalität, den es unbedingt zu bewahren gälte. 25
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Die Erwärmung der Olifa etwa durch immer wieder davor entzündete Kerzen oder gar ihre übermäßige Erhitzung durch Brandereignisse ließen stellenweise dunklere Konkretionen entstehen, die optisch recht störend sein können, oder sie verursachten blasenartige Aufwölbungen, die mitunter Teile der Farbschicht mit erfassten.
fangen - hinterließ nach deren Entfernung andersartige Reminiszenzen: An ihrer Auszier entkleideten Ikonen aus dem späteren 18. und dem 19. Jahrhundert zeigen sich in den Bildpartien Einritzungen entlang der oft scharfen Konturbegrenzungen und mehr noch Schrammen dort, wo Nimben gesondert appliziert worden waren, indem man ihre Laschen durch Schlitze in Risa und Oklad steckte und umbog.
Mechanische Beschlagund Überfangschäden Chemische Prozesse An Ikonen des 15., des 16. und verein-
zelt des frühen 17. Jahrhunderts lassen sich, soweit sie diesbezüglich von „Schönheitsreparaturen" unberührt blieben, oftmals zahlreiche Löchlein finden, die sich, kleine Flächen begrenzend, zu Linien reihen. Es sind Nagellöcher, Zeugen einer aus der Zeit stammenden Beschlages, nach byzantinischer Gepflogenheit zusammengefügt aus dünnen Edelmetallblättchen, und als solche nicht generell einfach „störende Schäden", sondern Spuren, die immerhin noch eine Vorstellung geben vom einstigen, originalen Aussehen. Später bleiben solche Nagellöcher, die mitunter punktuelle Kreidegrundausbrüche im Gefolge haben können, durch die vorwiegende Beschränkung der Metallauszier aufBasmenstreifen über den Rändern auf eben diese und die Schmalseiten beschränkt; dabei sind für das 17. und frühe 18. Jahrhundert diagonal auf die Ecken zulaufende Fixierungslinien aufgrund der dort schräg geschnittenen, getriebenen Metallstreifen kennzeichnend (S. 123), während in den folgenden einhundert Jahren rechtecki begrenzte, schmale Randfolien geradlinig überlappend genagelt wurden. Die rasch wachsende Vorliebe für Risen und Oklade, welche nun wieder alle Flächen bis auf die Personen überdeckten beziehungsweise gar nur mehr Gesichter und Hände aussparten - nun aber mit ganzheitlichen, getriebenen oder geprägten Metallüber26
Nicht auf mechanische Einwirkungen, sondern auf chemische Prozesse geht eine andere Art von Alterungsspuren zurück, sei es dass Oxidationsprozesse auf der Unterseite von Metallbeschlägen ihre Auflagefläche mit erfassten oder dass Mauerfeuchte respektive Ausblühungen von Salpeter und anderen Salzen an den Berührungszonen der Ikonen mit steinernen Sockeln oder Kirchenwänden ihr massives, Pigmente, Kreidegrund und Leinwandschicht betreffendes Zerstörungswerk verrichteten. Dies erklärt, weshalb so viele der in den Handel gelangenden Ikonen erst einmal Materialergänzungen, Einstimmungen oder regelrechte Restaurierungen an den Rändern, insbesondere am unteren und der an diesen angrenzenden Bildzone erfuhren, um damit die optische Ruhe wieder herzustellen. So wichtig verständlicherweise vielen Ikonenfreunden dieser ästhetische Aspekt erscheint, ist für den, der gesteigerten Wert auf Originalität legt, damit freilich bereits eine kritische Grenze berührt; der Purist zieht es speziell bei Ikonen des 15. mit frühen 17. Jahrhunderts vor, die unvermeidlichen Folgen ihres hohen Alters ungeschönt zu lassen (Die Geburt Johannes des Vorläufers, Mitte 16. Jh., Bild S. 27).
Gebrauchsspuren ,,Heilige Medizin ", Berührungsverehrung, Kerzenbrand
Angesichts von Fehlstellen oder Ausbesserungen in goldenen Flächen befleißigen sich manche kommerziellen Veräußerer im Interessenten eine noch gesteigerte Wertschätzung gegenüber der betreffenden Ikone mittels der Information herbeizureden, dies seien Anzeichen einst ganz besonderer Verehrung : Die Gläubigen hätten zu ihrem Nutz und Frommen immer ein wenig Blattgold abgekratzt und zu sich genommen, sich somit gleichsam das Gnade und Beistand sichernde göttliche Licht prophylaktisch einverleibt. Abgesehen davon, dass zahlreiche solchermaßen erklärte Defizite in Wahrheit ganz anderen Ursprungs sind (wovon noch zu reden sein wird), gab es solch eine Praxis im alten Russland zwar sehr wohl, aber zum einen nicht zu jeder Zeit und in allen Regionen gleichermaßen und außerdem blieb dieses aus dem magischen Volksglauben heraus erwachsene Vorgehen meist beschränkt auf die Nimben (Heiligenscheine) jener Nothelfer, denen man ganz allgemein große oder aber in besonderen Anliegen, vor allem Krankheiten, sehr spezielle Wirkmacht zuschrieb. Bei den .,heiligen Ärzten, die kein Geld nehmen", wie Kosmas und Damian etwa, konnte es auch ihre goldglänzenden Behältnisse für die Arznei und das Wundarztbesteck betreffen, schließlich enthielten sie ja sozusagen das Konzentrat ihrer Heilkraft. Weitaus üblicher waren das Küssen und Berühren mit der Hand als Ausdruck der Verehrung. Aber auch diesbezüglich ist eine Übertreibung der Folgen, soweit solches auf die Gesamtheit der Ikonen bezogen wird, oftmals nicht sachgerecht und soll wiederum nur dazu dienen, Beeinträchtigungen plausibel zu machen unter Umkehrung ihrer Wertrele-
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Verputzen Verluste in Details der obersten Malschicht gehen jedoch, nicht zuletzt was Haus-Ikonen betrifft, viel häufiger auf einen alltagsnäheren Aus druck der Wertschätzung zurück: Der schon angesprochenen, schleichenden Verdunkelung der Darstellungen infolge Staub- und Rußbildung durch den Firnis trachteten die Frauen von Zeit zu Zeit mit dem Mittel entgegenzuwirken, das ihnen vertraut war: Gewissenhaftes Putzen war angesagt. Abgesehen davon, dass Partikel je nach Verfahrensweise unter Umständen so erst in die Olifa hineingerie ben wurden, dünnte sie im Laufe der Jahrzehnte dadurch auch aus und verlor so hier und da ihre Schutzfunktion für die Malschicht. Defizite im Bild selbst stellten sich ein.
vanz. Allerdings waren im Einzelfall nicht unwesentliche Substanzverluste beziehungsweise eintrübende Hautfettablagerungen an bestimmten Stellen besonders jener Tafeln nicht zu vermeiden, die in den Kirchen zu eben diesem Zweck als kleinformatige Repliken der schutzwürdigen Bildnisse in bodennaher Position (beispielsweise jene der lokalen Reihe) vor diesen angebracht waren, ausgenommen solche, die man schon vorsorglich weitgehend mit einem Oklad abgedeckt hatte. Weil ihnen ein solcher Schutz in ihrer Mehrzahl fehlte, gilt Gleiches in gesteigertem Maße für Ikonen, welche auf den Proskynetarien des Kirchenraumes im 28
Wechsel der Fest- und Gedenktage des Kirchenjahres mit solchen Gesten der Verehrung bedacht wurden. Als eine der Hauptursachen für Schäden an Ikonen sind schließlich jene Brandschäden zu nennen, die durch das Entzünden von Kerzen oder Lämpchen vor ihnen entstanden. Von kleinflächigen Schmauchspuren über das partielle Verschmoren von Firnis und Farbpartien bis hin zu massiven Substanzverlusten am Brett selbst zeugen mancherlei Spuren von den unglücklichen Konsequenzen, die gerade aus der intensiven Verehrung entsprangen (Sophia, die Göttliche Weisheit, Mitte 17. Jh., Bild S. 28)
Wollte man ferner, gegebenenfalls, Metallüberfängen ihren Glanz wieder verleihen, so führte das Polieren mit erhöhtem Auflagedruck unter reibenden Bewegungen zu Schrammen oder flächigem Abrieb an der darunter von negativen Außeneinwirkungen vermeintlich geschützten Bildfläche. Zugleich nahm jedes Blankscheuern eines durch Oxidation schwärzlich gewordenen Silbers stets aufs Neue eine hauchdünne Schicht des Edelmetalls hinweg, so dass insbesondere im Falle einer nur schwachen Versilberung schließlich eine fleckige Gesamtwirkung nicht mehr zu beheben war. (Die Taufe der Vielen, 1. Hälfte 19. Jh., Bild S. 197). Wer den Originalcharakter des Edelmetallüberfanges seiner Ikone möglichst lange bewahren will, tut auch heute gut daran, sich eine allzu häufige Beseitigung der im Grunde schützenden Oxidationsschicht zu verkneifen; auch früher erstrahlte die Zier nur in größeren Abständen zu ganz feierlichen Anlässen in ihrem vollen Glanz.
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Überarbeitungen, Konservieren und Restaurieren Historische Übermalungen und alte „ Vrezkas"
Während die Mehrzahl der Gemälde westlicher Kunst in adligen oder bürgerlichen Räumen relativ schonend untergebracht waren, unterlagen Ikonen, insbesondere im zentralen und nördlichen Russland sehr beträchtlichen Schwankungen der Temperatur und Luftfeuchtigkeit. Da zudem der Bildträger Holz unter solchen Bedingungen kritischer reagiert als die reine Leinwand, konnten auf die Dauer Schädigungen der Farbfläche vor allem bei jenen Ikonen nicht ausbleiben, die in Kirchen und Bauernkaten ihren Platz hatten. Nun handelt es sich nach orthodoxer Überzeugung aber nicht um profane Arbeiten mit religiöser Thematik, die man nach westlichem Verständnis einfach durch neuere hätte ersetzen können, wenn sie Schäden aufwiesen oder dem Zeitgeschmack nicht mehr entsprachen. Vielmehr ist im Abbild, also der Ikone, das transzendente Urbild auf mystische Weise gegenwärtig. So übergab man ganz und gar nicht mehr ansehnliche Tafeln im äußersten Falle pietätvoll dem Wasser, erbaute ihnen kleine Häuschen am Wegesrand oder vergrub sie; ein Zerstören oder achtloses Wegwerfen kam nie in Frage. Meistens aber ließ man Ikonen sorgfältig überarbeiten, wenn sie Risse aufwiesen, wenn sich durch chemische Prozesse Pigmente stark verändert hatten, wenn die Farbfläche beziehungsweise das Blattgold verputzt war oder abblätterte. Auch das Bedürfnis nach „modischer" Anpassung konnte, ab der Mitte des 17. Jahrhunderts zunehmend häufiger, das Motiv sein für eine teilweise oder völlige Übermalung, wobei Letztere neben dem Stilwandel sogar auch einen Sujetwechsel mit sich bringen konnte, wenn für die gleiche religiöse Aussage
ein anderes Bildkonzept mittlerweile als passender galt. Oft blieb es aber bei partiellen Ausbesserungen und Ergänzungen, sei es am Hintergrund, in den Gewändern, im Ornat oder Inkarnat, und bei begrenzten, geschmacksbedingten Korrekturen, so wenn etwa die Fassade des Fürstenpalastes auf einer Georgsikone aus der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts bald nach 1700 um ein nunmehr als fortschrittlich und „schick" empfundenes Barock-Balustradengeschoss in Jaroslavler Manier aufgestockt und sein einst schindelgedecktes, grünes Dach in größerer Höhe durch vergoldete Platten ersetzt wurde (Bild S. 29).
Selbst an Ikonen, die nicht mehr als 350 Jahre alt sind, lassen sich manchmal bis zu fünf Überarbeitungsphasen ausmachen, wohlgemerkt solche, die im Laufe der Zeit im Ursprungsland selbst ausgeführt worden waren. Stücken dieser Art wird man das Prädikat „original" schwerlich absprechen können. Fragwürdig wird die Sache erst dann, wenn man unter Außerachtlassung aller späteren Malvorgänge solch eine Ikone schlicht in ihre Anfangsgründe datiert, obwohl sich ihr Erscheinungsbild seither doch wesentlich verändert hat.
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ten, runden Kernstück aus dem 17. Jahrhundert mag dafür als Beispiel stehen (Bild S. 30).
Das gilt auch für den Spezialfall der ,,vrezka", einer älteren Ikone oder eines Ikonenfragmentes, die zumeist im 18. oder 19. Jahrhundert in eine neue Tafel eingesetzt wurden, um sie vor dem Verrotten zu bewahren. Dabei hat man nicht selten das ältere Stück dem neuen Umfeld und zugleich dem Zeitgeschmack angepasst, wozu immer größere Partien ergänzt und übermalt werden mussten. In besonderem Maße betrifft dies an sich schon miniaturähnlich kleinfigurige und/ oder szenenreiche Ikonen der Moskauer Tradition des späten 16. 30
und des 17. Jahrhunderts, welchen aus teils ästhetischer, teils aus religiöser Motivation das besondere Augenmerk von stilistisch entsprechend spezialisierten, zentralrussischen Dorfartels (wie Palech und Mstera) galt sowie das der personell oftmals daraus hervorgegangenen Moskauer und nordwestrussischen Altgläubigenwerkstätten. Eine kleine, im 19. Jahrhundert wieder vervollständigte Ikone der Hadesfahrt (Höllenfahrt) Christi , des orthodoxen Osterthemas, mit ihrem aus einem wohl schon sehr angegriffenen Ganzen herausgesäg-
In all diesen Fällen empfiehlt es sich nicht unbedingt, auf der Suche nach dem falsch verstandenen „Original" die jüngeren Elemente entfernen zu lassen in der Hoffnung, der Tafel das Aussehen und die Würde des Urzustandes zurückgeben zu können. Wer die verschiedenen Gründe der Überarbeitung in Rechnung stellt, wird begreifen, dass das, was dann noch übrig bleibt, sehr oft nicht mehr ist als ein trauriges Fragment. Nur selten wurde nämlich eine weitgehend intakte Ikone ausschließlich aus ästhetischen Gründen völlig übermalt und damit optimal konserviert. Man lasse sich von den glänzenden Erfolgen wissenschaftlicher Freilegungsarbeit in Russland nicht blenden, die es heute an einem Moskauer Institut für Einzelfälle sogar schon so weit gebracht hat, das übermalte Bild von dem darüber neu gestalteten schadlos zu trennen, so dass auch Letzteres erhalten bleibt. Dass da unter zum Teil mehreren Malschichten auf Anhieb Museumsreifes zutage tritt, ist aber die große Ausnahme geblieben. Es darf ja nicht übersehen werden, wie oft Ausbesserungen an den jüngeren Malschichten, die darunterliegenden älteren erneut in Mitleidenschaft gezogen haben. Wer also an seiner Ikone Übermalungen vermutet beziehungsweise Teile freilegen lassen möchte, sollte unbedingt den Rat eines speziell ausgebildeten und sehr erfahrenen Restaurators einholen oder ein entsprechend ausgerüstetes wissenschaftliches Institut mit einer Voruntersuchung beauftragen. Dilettantismus ist hier völlig fehl am Platze. Im Übrigen kann man gerade an einer Tafel, die eine oder mehrere Überarbeitungen erfahren hat, seine ganz spezielle Freude haben, ist sie doch ein interessantes historisches Dokument kulturellen Wandels.
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Die rezente „vrezka" Die vorhin schon angesprochene Verfahrensweise, ältere Ikonen oder Ikonenfragmente in neuere Tafeln einzusetzen, wurde schwerpunktmäßig in den siebziger und achtziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts im Kunsthandel nachvollzogen, jedoch nicht wie einst aus konservatorischen Gründen. Vielmehr kommt es vor, dass größere Tafeln sich als nicht gut verkäuflich erweisen, sei es dass sie zwar nur stellenweise Schäden erlitten haben, der Gesamteindruck dadurch aber gravierend beeinträchtigt ist oder dass sie im Ganzen thematisch und stilistisch in Relation zu ihrem Format nicht hinreichend überzeugen. Wenn man sich in solch einem Falle dazu entschließt, die Ikone zu zerschneiden und den attraktivsten Teilstücken einen neuen Rahmen zu geben, ist das vielleicht verständlich. Freilich kommt so manchem solcherart entstandenen Thema keine echte Eigenständigkeit im Rahmen des orthodoxen Bilderkanons zu. Aber man kann sich immerhin auf den Standpunkt stellen, auf diese Weise sei ein bezüglich der Malerei durchaus originales Stück Ikonentradition erhalten geblieben. Das gilt vorzugsweise für einzelne Randszenen von Festtagsikonen oder für Teile von Mehrfelderikonen, weil sie thematisch auch sonst für sich alleine auftreten, folglich kompositorisch fast immer in sich abgeschlossen sind und nur selten mit Nachbarbildern so korrespondieren, dass sie ohne diesen Kontext wesentlich an Reiz verlören. Für eine aus dem Zusammenhang des Passionskranzes einer größeren Festtagsikone isolierte Szene trifft das erste Argument nur bedingt zu; sie mag deshalb als Anreiz zur eigenen Meinungsbildung über den Charakter moderner „vrezkas" dienen (Pilatus verhört Christus, Ende 18. Jh. Bild S. 31). Gerade dem finanziell etwas eingeschränkteren Interessenten bietet sich hier gelegentlich eine Chance, be-
sonders dann, wenn Kirchenikonen durchaus guten Stils in Bestandteile zerlegt wurden. Unter kulturhistorischem Aspekt ist diese Verfahrensweise speziell in solchen Fällen zweifellos dennoch zu bedauern. Das vehement erwachte Interesse finanziell potenter Kreise des neuen Russlands gerade an - früher nicht immer ganz leicht zu veräußernden - Ikonen von monumentalen Dimensionen, die einiges an repräsentativer Wirkung versprechen, hat besagter Tendenz mittlerweile freilich ein rasches Ende gesetzt, jedenfalls was ältere Stücke bis in den Anfang des 18. Jahrhunderts hinein betrifft. Was danach entstand, genießt diesen „Schutz" freilich noch nicht gleichermaßen. Generell ist der „portionsweise" Verkauf in ein umfangendes Brett neu eingesenkter Teile ehemals größerer Bilderensembles, eingeschränkt auf
den kommerziellen und juristischen Standpunkt, so lange unbedenklich, wie der Kunde über den Sachverhalt unmissverständlich informiert wird; das bedeutet unter anderem auch darauf zu verzichten, den Eindruck zu erwecken, es handle sich um eine alte „vrezka", die diese Behandlung schon vor 150 Jahren und mehr erfahren hat. Besonders problematisch erscheint die noch immer feststellbare Neigung, mit neu aus diversen Einzelteilen geschaffenen, messingumhüllten Zusammmenstellungen den Anschein original auf uns gekommener, kleinformatiger Reisediptychen und -triptychen zu erwecken. Damit ist nicht die öfters geübte, sofern offen dargelegt zumindest diskutable Praxis gemeint, den verwaisten Mittelteilschrein eines Haustriptychons neu zu bestücken mit einer Tafel, die thematisch wie stilistisch den erhaltenen Flügeln in etwa gerecht wird. 31
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Das Reinigen Eine sehr beklagenswerte Wahrheit soll an dieser Stelle nicht verschwiegen werden: Nur allzu oft sind es gerade die untauglichen Versuche für ihre Auftraggeber preisgünstig arbeitender, autodidaktischer „Restauratoren" oder darin selbst dilettierender Händler, deren ökonomisch motiviertes Bemühen um optische Verschönerung aus Ikonen „Schwerbeschädigte" macht; und das betrifft nicht selten solche Ikonen, die an sich noch recht viel von ihrer originellen Substanz bewahrt haben, aber durch die schon erörterten Alterungs- und Gebrauchsspuren unansehnlich wirken, so wie sie sind. Dabei ist die von mangelnder Sachkenntnis und ebenso geringer Geduld bestimmte Abnahme alter, nachgedunkelter Firnisse die Hauptquelle allen Übels. Mit unge eigneten beziehungsweise zu stark dosierten Lösungsmitteln getränkte Kompressen durchweichen nicht nur den alten, finsteren Firnis, sondern die oberen Farbschichten gleich mit, zumal er in diese üblicherweise ohnehin ein wenig eingedrungen war. Hatte, wie in früheren Zeiten da und dort regional, im 18. und 19. Jahrhundert aber relativ verbreitet der Brauch, anstatt Blattgold die Tönung mittels einer rötlichen Olifa oder Schellack über Blattsilber (rein oder legiert) den „Goldgrund" konstituiert, so geht dieser durch ein solches Vorgehen ganz oder weitgehend verloren, ohne dass in der Regel Zonen dunklerer Firniskonkretionen restlos zu beseitigen wären. Der aus alledem resultierende, klägliche Anblick der angegriffenen und stumpfen Bildfläche weicht im Folgenden nicht selten einem restauratorischen Übereifer. Es gehören Fingerspitzengefühl und Erfahrung dazu, durch einen neuen Firnis in etwa den Originalton der Ursprungszeit wieder herzustellen und eine auch im übertragenen Sinne zu ,,gelackte" Oberfläche zu vermeiden. Außerdem reagieren im schlimmsten 32
Falle Reste alter und neuer Firnislagen so miteinander, dass hässliche Grauschleier das Bildnis verunklaren.
Das Restaurieren Der begreifliche Wunsch, eine Ikone zu besitzen, die „alt" und „schön" zugleich ist, verleitet häufig dazu, optische Korrekturen, sprich Ergänzungen, in einem Maße ausführen zu lassen, die ihren Originalcharakter weit mehr bedrohen als die eine oder andere Verwischung oder Fehlstelle. Glätte und fehlende Patina rauben solchen Produkten allzu bemühter Restauration vieles von ihrer ursprünglichen Würde. Kunden, Händler und Restauratoren - rühmliche Ausnahmen stets ausgenommen sind gegen diese Anfechtungen gerade auf dem Ikonensektor leider selten gefeit. Das Schließen von Rissen und kleineren Ausbrüchen, das vorsichtig andeutende Nachziehen verputzter Binnen- und Konturlinien, das Retuschieren kleinerer Flächen ausgedünnter Farbe ist damit freilich ebenso wenig gemeint wie ein Aus bessern im Randbereich, wo häufig Schäden durch Beschläge und Brand entstanden sind. Selbst eine Überbrückung großflächigerer Fehlstellen erscheint aus ästhetischen Gründen unter Umständen gerechtfertigt, wobei aber einer Restaurierung der Vorrang zu geben ist, die das Bild zwar optisch schließt, als Ergänzung aber zweifelsfrei erkennbar bleibt. Der Ausstrahlung und Erfassbarkeit mancher ehrwürdigen Ikone schadet es aber auch nicht, darauf zu verzichten (Bild S. 27). Dagegen erscheint es in jedem Falle höchst problematisch, wenn solche Partien in größerem Umfang täuschend nachgemacht werden, die für den Aufbau einer Szene, den Ausdruck einer Person entscheidend sind. Zumindest das Wort „original" sollte man dann nicht mehr gebrauchen. Ganz und gar muss das für jene
Fälle gelten, in denen ausgezeichnet ausgebildete Restauratoren in Russland nur mehr ganz fragmentarisch erhaltene, wenn auch alte Stücke ziemlich ikonographie- und stilgerecht zu einem dem Anschein nach nahezu perfekt überkommenen, in Wahrheit aber überwiegend neu geschaffenen Ganzen ausbauen. Auf dem nicht entschieden auf Niveau bedachten Sektor des Marktes kann man solchermaßen übel täuschende Ikonen leider immer häufiger finden. Bedauerlicherweise verwenden aber auch in unseren Landen selbst geschulte Kräfte manchmal überschießende Energie auf eine möglichst weitgehende Wiederherstellung von Verlorenem (wenn auch nicht in solch extremem Umfang). Nur ein erfahrener und renommierter Galerist wird als Gesinnungsfreund des kundigen Sammlers -vordergründig gegen das eigene Interesse - sie darin nicht bestärken. Und er wird, so er ein Stück schon restauriert übernommen hat, dem Kunden diesbezügliche Erkenntnisse nicht vorenthalten; darin liegt geradezu ein Qualitätsmerkmal der vertrauenswürdigen Vertreter dieser Antiquitätenbranche, erfahrbar unter anderem durch offen ausgeschilderte Hinweise auf den Erhaltungszustand bei Gelegenheit von Ausstellungen und Messen.
Das „Freilegen des Weißgrundes" So irritierend mitunter eine Hintergrunderneuerung in Pulvergold und allzu umfassende, vielleicht auch noch schwach ausgeführte Ausbesserungen und Ergänzungen an neutralen Flächen wirken, so problematisch ist andererseits die gerne geübte Praxis, die Farbe am darstellungslosen Fond und Rand gleich ganz abzunehmen, wenn sie angegriffen ist. Und auf diesem Felde sind auch Händler
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der „Oberklasse" von „Sünden" nicht ganz freizusprechen, selbst wenn sie manchmal nur innerlich widerstrebend in vorauseilender Dienstfertigkeit den ihnen wohlbekannten, diesbezüglichen Wünschen noch immer allzu vieler ,,Ikonenfreunde" nachkommen. Wird auf diese Weise die vorher vielleicht heillos gestörte Ruhe des optischen Gesamteindruckes zurückgewonnen, mag das ja noch seine Berechtigung haben. Oftmals geht es aber gar nicht so sehr darum. Vielmehr möchte man aus einem modernen, dem effektvollen Kontrast zugetanen Ästhetizismus heraus die eigentliche Darstellung sich möglichst klar vom Weiß der Kreide abheben lassen. Dies umso mehr als die seit dem Ende des 17. Jahrhunderts für die freien Flächen russischer Ikonen häufig verwandten Oliv-Ockerund Brauntöne dem gegenwärtigen Schönheitsempfinden (angeblich) nicht sehr entsprechen. Ob der so entstehende Eindruck die Ausdruckskraft der Darstellung wirklich steigert oder ob nicht vielmehr das allzu helle, ,,kahle" Umfeld sie einengt und im doppelten Wortsinn klein macht, mag am Beispiel einer im 19. Jahrhundert in eine neue Tafeleingesetzten, gut 100 Jahre älteren Ikone jeder für sich selbst entscheiden. Deren bei dieser Gelegenheit freilich bereits erneuerte - Randfarbe hat man rezent wieder entfernt (Die Gottesmutter Pokrov und das Wunder des hl. Romanos, Bild S. 33). Zum Vergleich: eine eindrucksvolle Ikone des frühen 17. Jahrhunderts, im 19. Jahrhundert ebenfalls als vrezka behandelt, der man später noch einen neuen, freilich etwas stilfremden Goldrand samt Beschriftung gegönnt hat (Über dich freuet sich ... " mit Festtagsszenen, Bild S. 34). Noch ein anderer Aspekt spielt für das in Rede stehende Prozedere eine Rolle : Manchen ist der Nebeneffekt willkommen, dass Ikonen nach der wie man beschönigend sagt -,,Freile-
gung des Weißgrundes" älter wirken als sie sind. (Tatsächlich war die Zeit weiß grundiger Ikonen jedoch bereits um 1500 passe.) Man mag im einen oder anderen Fall die Eleganz oder auch Strenge der solchermaßen betonten Konturen bewundern und angetan sein von der vermeintlich gesteigerten Intensität der Farben. Etwas für die Ästhetik und Theologie der Ikone sehr Wichtiges ist jedoch verloren: die Einbindung des Bildes in die Harmonie sanft gestufter Farben, die über den Rand hinaus und in die Tiefe hinein einen imaginären Raum von schwebender Unbestimmtheit entstehen ließ. Der stattdessen erzeugte „Rah-
men" mag zwar unseren abendländischen Sehgewohnheiten vertraut erscheinen, er widerspricht aber der orthodoxen Überzeugung, dass - entgegen einer weit verbreiteten Missdeutung der Wendung von der Ikone als „Fenster zur Ewigkeit" - diese ihrem Wesen nach nicht quasi als ein Guckloch ins Jenseits hinaus zu verstehen ist, sondern als Medium, durch welches das Heilige aus einer anderen Welt an uns heran tritt. Was die Tilgung der - entgrenzenden - Farbe von Hintergrund und Rand angeht, ist daher unseres Erachtens die Frage der Originalität auf einer viel grundlegenderen Ebene und somit wesentlicher berührt als etwa 33
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durch gewisse Ausbesserungen und Übermalungen älteren und jüngeren Datums.
Information und Rat Die sorgfältige Betrachtung der Bildoberfläche unter sehr schräg einfallendem Tages- oder Kunstlicht, das Studium der Farbe hinsichtlich Art, Reflexionsstärke und Auftrag, die Analyse des Pinselstrichs und des Craqueles vermögen dem nicht ganz Unerfahrenen hin und wieder schon einen gewissen Eindruck vom Ausmaß jüngerer Korrekturen zu geben. In vielen Fällen verschafft darüber die Benutzung einer ausnehmend starken Lupe, die Wirkung von UVoder Mischlichtlampen, vielleicht auch eine Röntgenuntersuchung noch einiges mehr an Klarheit, wenn auch manche sehr gute Restaurierung selbst unter diesen Umständen nur dem geübten Auge erkennbar wird. Im Übrigen mag man sich bezüglich Herkunft, Datierung und Thema einer Ikone fürs Erste auf die Auskünfte des Handels verlassen, vorausgesetzt er stützt sich auf eine fest etablierte, reine Fachgalerie, die schon über Jahre und Jahrzehnte als niveaubewusst Anerkennung gefunden hat, in der Regel auf bedeutenden, jurybegleiteten Messen vertreten ist, und deren Betreiber über Impetus und Muße genug verfügt, sich auf seinem Kunsthandelssektor durch Eigenstudium und Meinungsaustausch auf dem laufenden zu halten. Auch der renommierte „Großhandel" kann aufgrund seiner langfristig bewährten Mittlerfunktion zwischen internationalen Anbietern und wählerischen Händlern als Kunden in wesentlichen Punkten dem beschriebenen Profil entsprechen. Die - freilich nicht allzu zahlreichen - Ikonengaleristen dieses Schlages sind gewiss zu-
erst einmal, aber fast ausnahmslos eben nicht nur Händler, sondern auch Liebhaber ihres Objektes und Kenner der Materie. Von Geschäftsleuten, die im Wesentlichen auf den Absatz über Wanderausstellungen oder Hausbesuche bauen und dabei weniger den ernsthaften, versierten Sammler als vielmehr Menschen im Auge haben, deren Begeisterung für Ikonen sich bei Gelegenheit anfachen lässt, ist dieselbe zeitaufwändige Beschäftigung mit dem gesamten historisch-kulturellen und konservatorischen Umfeld ihres Verkaufsgegenstandes kaum zu erwarten, geht sie doch, realistisch betrachtet, nicht nur an ihren primären Interessen, sondern auch an ihren Möglichkeiten vorbei. Wer meint, es wäre nicht verfehlt, bei allem Vertrauen zu einer der zuerst definierten Quellen, sich eventuell zusätzlich hin und wieder von einem handelsunabhängigen, somit von mehr oder weniger subtilen, kommerziellen Verflechtungen freien Fachmann beraten zu lassen, der sei auf entsprechende Experten verwiesen. Sie dürften noch etwas nüchterner informieren, speziell etwa bezüglich der diffizilen Frage des Originalitätsgrades einer Ikone, und können erweiterte Sicherheit geben durch eine Expertise aus neutraler Feder, die sich mit dem Sujet, der Malweise und Entstehungszeit, etwaigen gestalterischen Finessen und ikonografischen Besonderheiten, dem Erhaltungszustand, Überarbeitungen eingeschlossen, und den kulturgeschichtlichen Hintergründen eines ansprechenden Stückes befasst. Solche Experten werden entweder erfahrene Kustoden staatlicher oder kommunaler Museen sein, die sich als solche freilich in aller Regel schriftlicher Äußerungen und dezidierter Wertangaben aus dienstrechtlichen Gründen enthalten müssen; in manchen Fällen mag aber eine klare mündliche Sachauskunft
bereits genügen. Im Übrigen wende man sich, was Deutschland betrifft, gleich an „öffentlich bestellte und vereidigte Sachverständige für Ikonen" der Industrie- und Handelskammern. {Namen und Anschriften finden sich auf Seite 230 .) Es ist in diesem Zusammenhang nämlich dringend nötig, über die einschlägige deutsche Rechtslage aufzuklären: Als „Sachverständiger" oder „Experte" für welches Gebiet auch immer kann sich danach nämlich ohne irgendeinen überprüftermaßen zu erbringenden Nachweis von Sachkunde jeder betiteln, dem danach ist respektive der sich davon etwas verspricht. Die imponierendsten verbalen Zusätze {,,international renommiert" etc.), der eindrucksvollste Stempel und das schönste Expertisenformular ändern an der damit verbrämten Unverbindlichkeit des besagten, selbst zugelegten Titels keinen Deut. Dass dieser Sachverhalt weithin unbekannt ist, hat schon so manche unliebsame Überraschung nach sich gezogen. Es soll aber sehr wohl auch gesagt sein, dass es neben den Experten einschlägiger Museen der öffentlichen Hand und den „vereidigten Sachverständigen" der IHKs in diesem lande und benachbarten Staaten noch einige wenige andere Menschen gibt, die als wirkliche Sachkenner ohne kommerziellen Hintergrund Achtung verdienen, auch wenn sie kein Amt oder juristisch belastbarer Titel nach außen hin legitimiert.
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Markt und Wert
Der Maler
Was macht den Wert einer Ikone aus, wonach orientiert sich ihr Preis? Ein Kriterium, das für die Taxierung europäischer Gemälde von ausschlaggebender Bedeutung ist, entfällt im Ikonenhandel weitgehend: Name und Geltung des Malers. Eine Einstellung zur eigenen Tätigkeit vergleichbar mit jener, die den früh- und hochmittelalterlichen Schöpfern religiöser Kunstwerke im Westen eigen war, ließ den Gedanken an eine Signatur als stolzen Ausdruck künstlerischen Selbstbewusstseins erst gar nicht aufkommen. Vor allem in früherer Zeit und im monastischen Bereich galt das Malen einer Ikone als demütiger Dienst für Gott und die Gemeinschaft, teils wurde es aber auch als Handwerk fast wie jedes andere empfunden, zu dessen Ausführung zwar einiges Geschick erforderlich war, dessen Ergebnis seinen Wert aber letztlich nicht aus der aufgewandten Kunstfertigkeit bezog, sondern aus der sakralen Würde der Darstellung selbst. Dort allerdings, wo der aus dem Geist der Renaissance geborene Gedanke künstlerischen Ingeniums Eingang fand in die orthodoxe Welt, treten auch Datierungen und Signaturen auf: im italo-kretisch geprägten Mittelmeerraum ab dem 15. Jahrhundert relativ häufig, vereinzelt auch in Griechenland und an den Küsten des Balkan, ferner in der russischen „Stroganovschule", zeitweise in den Zarenwerkstätten im 17. Jahrhundert und über dieses hinaus in den polnisch-westrussischen Grenzregionen. Einen etwas anderen Hintergrund haben daneben jene Na36
mensnennungen, die sich ab dem 18. Jahrhundert auf Volkskunstikonen südslavischer Gebiete und vereinzelt auch auf Arbeiten des großrussischen Kernlandes finden, seien sie nun von dörflichen Laienartels, in Nonnenklöstern oder von der Hand schlichter Gemeindepriester geschaffen. Hier paart sich naive Freude am eigenen Werk mit einer gewissen Werbeabsicht. Die relative Seltenheit signierter Ikonen trägt auf der Ebene der Haus-Ikone in der Regel nur dann dazu bei, den Preis eines solchen Exemplars um ein Vielfaches zu steigern, wenn es sich um die weithin bekannten Namen kreativer Neuerer des 17. Jahrhunderts von zugleich hohem kunsthandwerklichen Rang handelt, wie das etwa für Semjon Spiridonov, Simon Uschakov, Kirill Ulanov oder Gurij Nikitin gelten kann, um nur einige der bedeutendsten zu nennen. Zwar konnte die russische Wissenschaft in jüngster Zeit - mehr auf Auftrags- und Matrikelbücher als auf Signaturen gestützt - in beachtlichem Umfang Malerfamilien bis ins frühe 18. Jahrhundert hinein dokumentieren, die über mehrere Generationen hinweg an bestimmten Orten oder in Arbeitsgruppen tätig waren (S. 138), und eine solche Gewissheit bezüglich einer Ikone (S. 136, 140) mag dem historisch interessierten Sammler durchaus einen gesteigerten Reiz vermitteln, den wiederum ein kundiger Händler bis zu einem gewissen Grade zu nutzen verstehen wird. Jedoch treten Zuschreibungen, vage Begriffe wie „Umkreis des ... ", ,,Art des ... ", die im Gemäldehandel ei-
ne oft unrühmliche Rolle spielen, im Zusammenhang mit Ikonen glücklicherweise nur sehr selten auf.
Der Malstil
Hier sind es zwei andere Kriterien, die gelegentlich in vergleichbarer Weise preisbestimmend sein können wie der Klang bekannter Namen für den Bereich der westlichen Malerei: das Alter und die „Schule". Und hier wie dort - man muss das ansprechen kommt es zuweilen zu einer irrationalen Überbewertung solch scheinbar „handfester" Angaben. Wie so manches schwächere Werk eines ,,großen Meisters" der abendländischen Malerei nicht die Qualität guter Bilder von namenlosen Zeitgenossen erreicht, genauso wenig garantieren die Reizworte „Novgorod", ,,Moskauer Schule", ,,Zarenwerkstätten" oder „Palech" von vorneherein und unter allen Umständen etwas außergewöhnlich Schönes. Zweifellos übertreffen Ikonen dieser berühmten, russischen Stilrichtungen in der Regel vieles andere. Aber wie oft schon taucht ein glänzendes Meisterwerk dieser Malstile überhaupt noch im Handel auf? Wenn es sich jedoch um ein eher beiläufig gemaltes Stück durchschnittlicher Qualität handelt, dann sollte die klangvolle Herkunftsund Stilbezeichnung einen unvoreingenommenen Ikonenfreund nicht daran hindern, einer ansprechenden Tafel weniger spektakulärer Provenienz den Vorzug zu geben. Was die über tatsächliche Niveaudifferenzen hinwegsehende Wertschätzung be-
Markt und Wert
stimmter Stilrichtungen angeht, verhält es sich mit dem Ikonenmarkt auf den ersten Blick nicht anders als mit der pauschalen Thronerhebung ganzer Malergruppen und Epochen im Gemäldehandel. Im Übrigen ist noch darauf hinzuweisen, dass die Belegung charakteristisch ausgeprägter, russischer Stilrichtungen mit dem Wort „Schule", genau genommen, nicht immer zu Recht erfolgt: Zum einen war die über weite Entfernungen reichende Mobilität von Teilen der Ikonenmaler zu allen Zeiten recht beträchtlich, sei es, wie in früheren Jahrhunderten überwiegend, wegen ihrer gefragten Qualität (primär als Freskanten - die Ausstattung der solchermaßen gezierten Kirchen mit Ikonen lief gleichsam nebenher - }, sei es aufgrund des regen personellen Austausches zwischen anspruchsvollen Malzentren im 17. Jahrhundert (Stroganovmaler von Cholmogory / Jaroslavl / Moskauer Zarenwerkstätten) oder dass im 19. Jahrhundert Wandermaler wegen ihrer flexiblen, äußerst preisgünstigen Produktionsweise die ihnen eigene Manier in einer armen, bäuerlichen Abnehmerschaft von Süd bis Nord verbreiten konnten. Andererseits erlangten aber auch gewisse Themen in ganz speziellen Kompositionsweisen, die zunächst tatsächlich aus einer regionalen „Schule" heraus entwickelt worden waren, so große Beliebtheit, dass sie auch in ganz anderen Gegenden nachgeahmt wurden, und das in recht unterschiedlichem Niveau. Herkunftsangaben beziehen sich im Zusammenhang mit Ikonen folglich zuerst immer nur auf die Ursprungsregion oder -werkstätte eines klar umrissenen Stils und sagen nicht unbedingt etwas über ihren faktischen Entstehungsort, es sei denn, dieser würde noch durch zusätzliche Kriterien als wahrscheinlich belegt.
Das Alter im Verhältnis zu anderen Wertfaktoren Einzelne Richtungen der europa1schen Malerei können nahezu unabhängig von ihrem historischen Alter auf dem Kunstmarkt durch den wechselnden Zeitgeschmack und händlerisches Geschick im Preisgefüge modegleich emporgetragen werden, wogegen für die Bewertung von Ikonen ihre Entstehungszeit doch einen ziemlich konstanten Faktor abgibt. Das hat zum einen damit zu tun, dass sich Geist und Gestalt der Ikone aus mannigfachen politischen wie kulturhistorischen Gründen im 16. Jahrhundert in weiten Teilen der orthodoxen Welt spürbar zu ändern begannen. Büßt die Ikone von da an, grob gesagt, einen Teil ihres byzantinischen Erbes an hieratischer Größe oder höfisch-kosmopolitischer Eleganz ein - wenn auch, wie gerade im russischen Raum, nicht selten zugunsten neuer, belebender Elemente - so sorgt in dem zur orthodoxen Führungsmacht aufstrebenden Russland andererseits ab dem späten 15. Jahrhundert zunächst ihre sich ausweitende Beheimatung nun auch im privaten, nichtliturgischen Umfeld für eine Steigerung der Produktion, deutlich wahrnehmbar seit dem 17. Jahrhundert. Noch ungleich mehr wirkt sich die sprunghafte demografische Entwicklung ab der Mitte des 18. Jahrhunderts aus, die ein geradezu lawinenartiges Anwachsen nach sich zieht. Beides zusammen macht den ausnehmend hohen Rang halbwegs erklärlich, der vor 1600 gemalten Tafeln prinzipiell eingeräumt wird. Der über die Welt der Ikonen nicht näher informierte Kunstliebhaber wird jedoch mit dem wahren Kenner die Freude an der lebendigen Vielfalt der Ikonenmalerei des 17. bis hinein ins 18. Jahrhundert teilen, für die nur blind ist, wer im hohen Alter eines Stückes an sich allzu einseitig den ausschlaggebenden Wertmaßstab sieht.
Dazu kommt, dass von da an die Chance sich rapide verbessert, ein Stück von gutem Erhaltungszustand erwerben zu können. Ein möglichst geringes Ausmaß an Schäden, Restaurierungen und Retuschen, also die Frage der Originalität (siehe S. 24f.} spielt für den Preis der Ikone vom 17. Jahrhundert an aufwärts verständlicherweise eine etwas größere Rolle als bei älteren Exemplaren. Für die Thematik gilt vom gleichen Entstehungszeitraum an: Reizvolle szenische Darstellungen, etwa aus dem Jahresfestkreis (z.B. S. 111), ikonografisch Ausgefallenes (z.B. S. 129), hymnische und mystische Spezifica der Ostkirche (z.B. S. 28) oder auch populäre Heilige haben einen höheren Preis als anderes von gleicher Qualität. Der Drachentöter Georg zum Beispiel (S. 59) ist so gefragt, dass man für sein Bildnis vergleichsweise ca. 30% bis 40% mehr bezahlen muss, obwohl Ikonen dieses Themas in allen orthodoxen Ländern in außerordentlicher Zahl gemalt wurden. Demgegenüber tritt spätestens gegen Ende des 17. Jahrhunderts die Bedeutung der Provenienz als Wertmaßstab zurück: In Griechenland - den Athos ausgenommen - und auf den Ionischen Inseln verlieren sich die letzten Spuren des anspruchsvollen kretischen Stils in einer barockisierenden Ikonenmalerei, auf dem Balkan und im südostslavischen Raum dominiert die Volkskunst; in Russland hatte sich die Novgoroder Malweise in abgelegenen Teilen der ehemaligen Nordprovinzen der längst bedeutungslos gewordenen Stadt noch erkennbar bis in die erste Jahrhunderthälfte tradiert, in Einzelfällen (z.B. S. 99, S. 101) in manchen Grundzügen sogar noch einige Zeit länger; dann aber ging auch sie auf in der zweiten Phase der Stilmischung in Russland. Deretwegen macht es fortan gleichermaßen nicht mehr viel Sinn, von „Moskauer Schule" zu sprechen, es sei denn, man 37
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möchte den Begriff auf jene Teile der zentralrussischen Produktion beziehen, die in besonders konservativer Weise (z. B. S. 95) den „modernen" Barock- und Rokokotendenzen (z.B. S. 117} widerstanden. Noch aber hielten sich ausgeprägte Regionalstile (z.B. S. 121), ja manche entwickelten sich sogar erst zu voller Blüte. Freilich tritt in Relation zum delikaten Erscheinungsbild der gemeinhin gefragten „Kabinettstücke" die innere Kraft bäuerlicher, mitunter grobexpressiver Tafeln wie beispielsweise aus dem karelischen Norden Russlands (z. B. S. 164} nur langsam und vereinzelt ins Bewusstsein der Ikonenfreunde, was im Gegenzug etwa für die volkstümlich bodenständigere Spielart der galanten Spätbarockmanier, wie sie im Karpatenraum gepflegt wurde (z.B. S. 13 5) nicht minder gilt. Dass so manche Stilrichtung des 17. mit 19. Jahrhunderts bislang im Beliebtheitsgrad hinter der Feinmalerei wie auch der konservativen zentralrussischen Gestaltungsweise zurückbleibt, kann Anreiz und Hoffnung sein für den, der ein Stück von ausgeprägtem Eigencharakter zu moderatem Preis in sein Heim holen möchte. Diese Vielzahl jeweils in ihrer Art interessanter und nach unserem Empfinden insofern gleichwertiger Malweisen ist mit dafür ausschlaggebend, dass bei Ikonen ab dem 17. Jahrhundert andere Kriterien die Preisgestaltung entscheidender beeinflussen als das Alter: Neben der Thematik kommt nun verstärkt der materielle und künstlerische Wert der Ausstattung einer Ikone (Gold- und Silbertreibarbeit, z. T. besetzt mit Steinen, Silberfiligran, Email, Perlen usw.) ins Spiel (z. B. S. 139, S. 181). Ganz spezieller, preisrelevanter Wertschätzung erfreut sich die schon um 1600 einsetzende, im 18. und 19. Jahrhundert jedoch besonders zahlreich vertretene Feinmalerei: An ihr bewundert man 38
die miniaturhaft ausgeführten Details, insbesondere auf den ungemein figuren- und szenenreichen Monatsbeziehungsweise Jahresikonen sowie auf den Vita- (z. B. S. 203} und Festtagstafeln (z.B. S. 207). Im Übrigen wird an ihnen eine generelle Tendenz deutlich, was die Bedeutung des Formates für den Wert einer Ikone angeht: Während man bei Stücken aus der Zeit bis etwa 1600 seit jeher, dem monumentalen Charakter früherer Malweisen adäquat, größere Tafeln sehr wohl zu schätzen weiß (in speziellen Fällen und seitens russischer Käufer in den letzten Jahrzehnten zunehmend auch noch im Falle von gut ein halbes Jahrhundert jüngeren Großformaten), werden aus den letzten zwei bis drei Jahrhunderten häufiger Ikonen mit beschränkteren Maßen bevorzugt, und zwar nicht zuletzt solche, deren Virtuosität der eher schwerpunktlosen, flächendeckenden Detailverliebtheit auf kleineren Flächen eben besser zur Geltung kommt.
Der Erhaltungszustand All diese wertrelevanten Aspekte werden jedoch - freilich teils mehr, teils weniger stark - überlagert von dem schon angesprochenen Faktor der Erhaltung in einem möglichst originalen Zustand beziehungsweise vom Ausmaß, in dem diesem Beeinträchtigungen widerfuhren. Es erweist sich jedoch als heikle Aufgabe, hierzu wirklich hilfreiche Aussagen zu machen. Vor allem drei Gründe sind es, die es fragwürdig erscheinen lassen, das, was sich bezüglich des Erhaltungszustandes einer Ikone objektiv feststellen lässt, im Hinblick auf deren Marktwert verallgemeinert kategorisierend zu gewichten: Erstens nimmt die kommerziell wertmindernde Bedeutung von nicht schadlos original auf uns gekommenen Partien - umgekehrt proportional zu deren Wahr-
scheinlichkeit- zu, je jünger ein Stück ist, andererseits reduzieren solche Mängel den reellen Preis aber auch graduell von eher großflächig monumentalen Kompositionen hin zum feinmalerisch Delikaten - hier aus Gründen der Ästhetik und optischen Erfassbarkeit. Zweitens können im Laufe der Zeit so verschiedenartige Defizite an ein und derselben Tafel kombiniert auftreten, dass die wertrelevante Beeinträchtigung nicht mehr von einer Klassifizierung der Einzelfaktoren abgeleitet werden kann. Von höchstem Belang ist jedoch letztlich der dritte Grund: Jeder Betrachter wird schließlich seinen ganz individuellen Maßstab anlegen, der sich einer Generalisierung entzieht : Ist der eine ungeachtet so mancher Mängel und Schäden gerade darüber entzückt, dass an der Ikone „nichts gemacht" wurde, das noch Vorhandene also vollkommen ursprünglich ist, so empfindet der andere vielleicht die betonte Kontrastierung der eigentlichen Darstellung mit dem gleichsam rahmenden Weiß des von seiner etwas angegriffenen Farbüberdeckung an Hintergrund und Rand „befreiten" Kreidegrundes als äußerst reizvoll; und dem Dritten ist es am liebsten, wenn eingehende restauratorische Bemühungen seine Ikone wieder vollends so erscheinen lassen, wie sie sich kurz nach ihrer Fertigstellung einst vermutlich präsentierte. Dieser Problematik sehr wohl bewusst, soll hier zum Zweck einer groben Orientierungshilfe dennoch der Versuch gewagt werden, eine Abstufung der Wertrelevanz von Verlusten an originaler Substanz und Veränderungen gegenüber dem Ursprungscharakter anzugeben. Zwar ist bei diesem Unterfangen nie ganz auszuschließen, dass eine gewisse Meinungssubjektivität mit hereinspielt, aber im Wesentlichen resultiert die folgende Klassifizierung aus dem Durchschnitt der im Umgang mit dem seriösen Handel über einen lan-
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gen Zeitraum getroffenen Beobachtungen. Die Qualitätsgrade sind absteigend angeordnet : A (so gut wie) perfekte Erhaltung der materiellen und gestalterischen Substanz der Entstehungszeit (gegebenenfalls nach Abnahme des nachgedunkelten, alten Firnis und seiner ton- und reflexionsgerechten Erneuerung) (Beispiel S. 65) B {fast) vollkommene Erhaltung der Kompositionselemente und Beschriftungen bei alters- und gebrauchs bedingten Defiziten (Ausbrüche, Nagelspuren, Kerzenbrandschäden, Goldgrundabrieb) an den neutralen Flächen von Hintergrund und Rand (Beispiel S. 89) / im 19. Jahrhundert eingesetzter, (weitestgehend) original erhaltener Darstellungskern einer Ikone des 16. bzw. 17. Jahrhunderts mit neuer Randgestaltung aus der Überarbeitungszeit (Beispiel S. 34) C größere (15 ./frühes 16. Jh.), begrenzte {16. Jh.), mehrere kleinflächige (17./frühes 18. Jh.), kleine {spätes 18./19. Jh.) Fehlstellen auch in der Darstellung selbst als solche belassen oder bei Nahsicht bewusst erkennbar bzw. gekonnt originalgetreu restauriert (Beispiel S. 57) / im 19. Jahrhundert eingesetztes Ikonenfragment (Darstellungskern) des 16./17. Jhs., dabei zurückhaltend partiell überarbeitet, seither unberührt {Beispiel S. 93) / Ikone des 17. mit 19. Jahrhunderts mit rezent annähernd stilgerecht erneu erter Randfarbe und Beschriftung bei ansonsten (weitgehend) originaler Erhaltung D im Darstellungskern an mehreren Stellen (16./erste Hälfte 17. Jh.), vereinzelt (zweite Hälfte 17./18. Jh.), punktuell gestreut (19. Jh.) restauriert, Hintergrund und Randfarbe unter Verlust der originalen Beschriftung auf den Kreidegrund ab-
genommen oder nicht stilgerecht erneuert (Beispiel S. 13) / im 19. Jahrhundert eingesetztes, älteres Fragment mit umfangreicheren Auffrischungen von damals, seither wieder abgenommene Randfarbe oder einige neue Ausbesserungen E in wesentlichen Partien umfangreich fachgerecht ergänzte oder begrenzt, aber ungeschickt restaurierte Darstellung mit oder ohne „Freilegung des Weißgrundes" an Hintergrund und Rand F Ikonen, deren originaler Charakter aufgrund gravierender, großflächiger Schäden, unsachgemäßer oder zu weit reichender Restaurierungsbestrebungen nicht mehr erfassbar ist. So weit es themengebunden irgend möglich war und nicht etwa aus Informationsgründen die Heranziehung andersartiger Beispiele geboten erschien, galt für dieses Buch das Bestreben, bezüglich des Erhaltungszustandes vorzugsweise Ikonen der Kategorie A und B zu präsentieren.
Die Rolle des Händlers Es ginge freilich an der Realität vorbei, wollte man Thema, Alter, Malweise, Malqualität, Ausstattung und Erhaltungszustand der Ikone quasi als feste Größen einerseits und die Trends der Nachfrage andererseits schon als ausschlaggebend für den Preis erachten. Vielmehr sind darüber hinaus noch einige Faktoren auf der Seite des Kunsthandels mit von Belang. Sehr wesentlich ist fraglos, was der Galerist selbst für ein Stück anlegen musste. Von der einst in diesem Zusammenhang wichtigen Bedeutung der politischen Situation in orthodoxen Ländern war bereits an anderer Stelle die Rede. Heute ist von größerem Belang, ob möglichst direkte Einkaufswege genutzt werden können, ob der Händler zeitlich flexibel genug
ist, allerlei Angebote an den verschiedenen Handelsplätzen, sprich auch bei diversen Versteigerungshäusern, persönlich und nur notfalls via Internet in Augenschein zu nehmen, ob er in größerem Stil Ware hereinzunehmen pflegt oder ob er in der Regel nur einige wenige Stücke über den Zwischenhandel erwirbt, ferner ob er aufgrund langfristig gewachsener Kontakte zu Sammlern und ihren Erben ab und an Stücke zurückerwerben kann, die in der Hochblüte der europäischen Ikonengeschäfte den Besitzer gewechselt hatten. Schließlich gehört zu einer erfolgreichen Geschäftspolitik mehr und mehr auch der Mut, beherzt und tief in die Tasche zu greifen, wenn sich etwas ganz Besonderes bietet, ohne dass schon vorab klar wäre, wer dafür als Käufer in Frage kommt. Ebenso viel Courage verlangt es, auf Verdacht ein „schwarzes Brett" zu erwerben oder eine an sich nicht unansehnliche Übermalung abnehmen zu lassen, jeweils in der vagen Hoffnung, die - nicht ganz billigen - Bemühungen erfahrener Restauratoren würden ein möglichst gut erhaltenes, möglichst altes Stück zutage fördern. All dies muss nicht unbedingt gegen den kleineren Händler sprechen, denn dem erlauben unter Umständen geringere Geschäftsausgaben für Miete, Personal, Reisespesen, Messe-Standmieten, Versicherung und Werbung eine günstige Kalkulation. Und doch zeichnet sich auf dem Ikonenhandel im Großen und Ganzen der gleiche Trend ab wie sonst in der Wirtschaft auch: die Tendenz zur Konzentration. Darauf hin drängt noch ein weiterer Umstand: Nicht zu vergessen sind schließlich das fachliche Niveau und das Renommee eines Galeristen sowie der Umfang des von ihm gebotenen Service. So mancher nimmt von einem scheinbar oder tatsächlich preiswerten Kauf doch lieber Abstand, wenn all das nicht gegeben ist, was man von einem Kunsthandelsgeschäft mit Niveau erwarten darf: ein qualitätvolles, breites Angebot in ei39
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ner standortfesten Galerie, unaufdringliche, aber fundierte Beratung, die Beigabe einer ausführlichen Expertise (die sich auch um wahrheitsgemäße Aussagen zu Details des Erhaltungszustandes nicht herumlaviert), auf Wunsch zudem die Vermittlung des Rates unabhängiger Fachleute oder versierter Restauratoren sowie Informationen über aktuelle Fachliteratur, die diesen Namen verdient. Ein gutes Haus wird dem Kunden ferner die Gewissheit vermitteln, er könne mit einer dort erworbenen Ikone jederzeit wiederkommen, wenn er sich aus irgend einem Grunde einmal von ihr trennen möchte. Es sei im Übrigen darauf hingewiesen, dass einige Händler selbst ganz spezielle Vorlieben haben. Das garantiert einerseits ein besonders qualifiziertes Angebot in dieser Richtung, andererseits mag aber bei diesem Händler eine solche Tafel eher wohlfeil zu erwerben sein, deren Charakter er selbst vielleicht weniger schätzt. Und schließlich sollte man sich Gedanken machen über jene Zeiten des Jahres, in denen bestimmte Branchen des Kunsthandels traditionsgemäß eine starke Nachfrage erleben. Wer quasi „antizyklisch" kauft, kann davon profitieren. Dabei nähert man sich der richtigen Taktik, wenn man die gängige Börsenregel einfach umkehrt, die da lautet : ,,In month of May give it away."
renzen im Preisgefüge feststellen, die sehr wohl auf regionale Unterschiede der Nachfrage zurückzuführen sind. Dies gilt sowohl im internationalen Vergleich als auch innerhalb Deutschlands. Ausschlaggebend hierfür ist nicht allein - obgleich zunehmend die ungleichmäßige Verteilung des frei verfügbaren Kapitals; vielmehr spielen graduelle Abstufungen hinsichtlich der Aufgeschlossenheit für das Kunstobjekt Ikone in diesem Zusammenhang ebenso eine Rolle wie ethnisch und kulturhistorisch bedingte, regionale und nationale Vorlieben ästhetischer Natur. Sie bestimmen nicht nur generell den Stellenwert der Ikone gegenüber anderen Kunstgegenständen, sondern sie bewirken auch, dass eine gewisse Art von Ikonen hier vielleicht wenig gefragt, dort aber hoch geschätzt wird. Neigt beispielsweise der britische Sammler mehr zur byzantinisch-altrussischen Austerität, so erfreut man sich in romanischen Mittelmeerländern wie im neuen Russland an einer üppigen Auszier, ohne sich am Nazarenerstil des 19. Jahrhunderts zu stören, der oft in Verbindung damit auftritt; in Mitteleuropa wiederum begeistern sich viele für die grazile Feinmalerei. Es würde zu weit führen, diese Erscheinungen in ihren Details darzulegen, zumal sie selbst dann nur pauschalierend behandelt werden können. Dennoch schien es angezeigt, auch diesen nicht unwichtigen Preisfaktor wenigstens noch zu erwähnen.
Regionale Unterschiede der Nachfrage Angebot und Nachfrage regeln den Preis. Dass diese Maxime auch in prinzipiell marktwirtschaftlich strukturierten Ländern aus mancherlei Gründen nicht ganz so generell gilt, weiß jeder, der mit der Wirtschaft vertraut ist. Der Kunsthandel macht da keine Ausnahme. Und doch lassen sich auf dem Ikonenmarkt deutliche, in manchen Fällen sogar verblüffende Diffe40
Subjektivisrnen auf der Nachfrageseite Mitunter sind es individuelle Vorlieben seitens der Interessenten, die sich entschieden preissteigernd auswirken können: Weiß ein Händler um die ganz speziellen Präferenzen eines seiner Stammkunden, so dass er ziemlich sicher von einem Wiederverkauf ausgehen kann, dann wird er nicht zö-
gern, bei sich bietender Gelegenheit zum Erwerb eines einschlägigen Objektes auch etwas mehr anzulegen, als er das sonst täte; eine ebenfalls über dem Normalen liegende Gewinnmarge wird ihn darin bestätigen. Dabei kann es sich hinsichtlich Material, Technik oder Herkunftsgebiet um grundsätzlich eher ausgefallene Sammelgebiete handeln, um ein ganz bestimmtes Themenspektrum oder es ist etwa ein Sammler mit breit gefächertem Interesse dafür bekannt, gerade solche Gegenstände zu suchen, die sich keiner allgemeinen Gunst erfreuen; deshalb ansonsten vom Kunsthandel vorsichtshalber gar nicht erst angekauft, werden sie auf die Dauer zu ausgesprochenen Raritäten. In diesen Zusammenhang gehört auch nochmals der Hinweis auf die in den letzten ein bis zwei Jahrzehnten virulent gewordene Wiederentdekkung eines wesentlich auf das künstlerische Erbe abzielenden Nationalstolzes durch die neue (?), jedenfalls seit der Ära Jelzin immens kapitalkräftig auftretende Oberschicht Russlands. Da Kirche und Staat im Zarenreich trotz eines gewissen, in geänderten Organisationsformen zum Ausdruck gekommenen Wandels seit der Zeit Peters Ibis zu den Verfolgungen der kommunistischen Periode gleichsam als ein aufeinander bezogenes Doppelgestirn empfunden wurden, kann es nicht verwundern, wenn nach dem Wiederaufleben des Patriarchates nunmehr unter dem Vorzeichen des besagten Neo-Historismus die Ikone als der auch in einem Hause sichtbarste Inbegriff der russisch-orthodoxen Tradition ins Blickfeld jener finanziell potenten Kreise geraten ist. Die Konsequenz : Dort bevorzugte Objekte - neben großformatigen, alten Kirchenikonen sind das Haus-Ikonen mit Okladen, mit kunsthandwerklichem Raffinement und teuren Materialien oftmals in Art-Deco-Manier ausgestattet, tauchen bei Versteigerungen in Lon-
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don oder New York erst gar nicht mehr auf oder sie werden (wie Porzellan, Silber, Bilder der russischen Avantgarde und Seestücke von Ajvasovskij} mit teilweise horrenden Geboten per Fernauftrag weggekauft. Spezielle Großauktionen für Ikonen und russische Kunst, einst eine der wesentlichen Nachschubquellen des Einzelhandels, haben diese Funktion weitgehend verloren. Weniger nachvollziehbar scheint bisher, wo jene kleinformatigeren Stücke des 17. und 18. Jahrhunderts, vornehmlich Hausund Votiv-Ikonen, verbleiben, die vordem in nennenswertem Umfang meist über den Zwischenhandel in Berlin ihren Weg nach Westen gefunden haben. So wirkt sich ein fast aus dem Nichts entwickeltes, nationales Faible zum Leidwesen nicht weniger .. alter", dem Mittelstand zuzurechnender Ikonenfreunde ganz gravierend auf die aktuelle Preisgestaltung des Handels aus. Was dem gegenüber, etwas salopp gesagt, als „der ganz normale Wahnsinn" erscheinen mag, trägt von Fall zu Fall auf seine Weise ebenfalls dazu bei, dass noch zugängliche Tafeln zu deutlich höheren als den „üblichen" Summen den Besitzer wechseln; der Effekt ist „hausgemacht": Wer kennt sie nicht, die Phasen hingerissener Zuneigung? Und wer hätte nicht auch schon erfahren, wie solche bei bedachtem Zuwarten, genauerem Hinsehen und näherem Vertrautwerden oftmals abklingen, bis sie, im günstigsten Falle, schließlich auf einem Niveau gelassenen Angetanseins zur Ruhe kommen. Nein, nicht von Liebesdingen ist hier die Rede, sondern von den Fieberschüben eines leidenschaftlichen Sammlers. Ein gewiefter Händler mit psychologischer Spürnase wird stets verlockt sein, die Kulminationspunkte der „Hab-Gier" - verstanden in dem wörtlichen Sinne eines heftigen Besitzbegehrens - die er bei seinem Gegenüber diagnostiziert, auf der Stelle
zu medikamentieren nach dem Motto „hohe Dosis, hoher Preis". Ein kluger Händler dagegen kalkuliert den regelmäßigen Kurvenverlauf eines solchen Schubes ein und mäßigt seinen (beruflich an sich legitimierten) spontanen Impetus zur Profitmaximierung, um im Nachhinein nicht selbst als habgierig zu erscheinen, wenn die passionierte „Hab-Gier" des Interessenten auf das Normalmaß abgesunken ist. Andernfalls riskiert er vielleicht, einen Dauerkunden zu verlieren, zumindest aber fürs Erste dessen vertrauensvolle Verbundenheit und damit das Fundament, auf dem eine langfristige Beziehung zur wechselseitigen Zufriedenheit errichtet wird (womit sich wiederum Parallelen zum Eingangsvergleich herstellen ließen). Ein Galerist diesen Schlages ermöglicht es dem Kunden, das „Objekt seiner Begierde" für eini-
ge Tage in den eigenen vier Wänden auf sich wirken und seinen Entschluss reifen zu lassen. Gewiss schließt ein solcher Prozess auch das Nachdenken über die finanzielle Seite ein, möglicherweise zum -vordergründigen, weil nur kurzfristigen Nachteil des Händlers. Schon des Öfteren war „an lebenden Objekten" zu studieren, wie groß die Amplitudendifferenz der subjektiven Wert-Schätzung einer Ikone seitens des Ikonenliebhabers im Verlaufe seiner Begeisterungswallung sein kann. Ein finanziell messbares Minus um die 20% bis 30% zum Ausklang hin ist da schon einmal zu verzeichnen - woran dann freilich eine Einigung scheitern könnte, letztlich aber, wie ausgeführt, zum dauerhaften Wohle beider Seiten in einer guten Händlersammler-Beziehung.
Der hl. Johannes, der Vorläufer, mit Szenen seiner Vita, Rostov um 1700 41
Markt und Wert
Aktuelle Preiskategorien Bedenkt man all diese Faktoren - objektive Gegebenheiten, deren subjektive Gewichtung und völlig individuelle Aspekte-, welche in mannigfacher Überlagerung den Wert einer bestimmten Ikone definieren sollen, so dürfte eines klar geworden sein: Die Vielzahl der Variablen sachbedingter, persönlicher, regionaler und geschmacksabhängiger Natur erfordern die Nennung einer jeweils großen Spanne, wenn über „handelsübliche" und zugleich „korrekte" Preise befunden werden soll. (Die Festlegung auf einen möglichst präzisen Wert, wie sie von einem amtlichen Schätzer oft verlangt ist, wird unter diesen Vorzeichen zum Albtraum, wie jeder verstehen wird.) Nun soll aber, um dem verständlichen Interesse gewiss nicht weniger Leser auf Wunsch des Verlages zu entsprechen, zumindest eine grundlegende Orientierungshilfe auch zu diesem Gesichtspunkt der in Sammlerkreisen so beliebten, russischen Haus -Ikone gegeben werden. Dazu erscheint es sinnvoll, jene Preiskategorien heranzuziehen, die sich im Handel als solche Gruppierungen tatsächlich abzeichnen. Deren natürlich nicht exakten Trennschärfen sollen Überlappungsmargen gerecht werden.
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Ein zwangsläufig nivellierendes, erzielbare Spitzenwerte und erfahrene Minima außer Acht lassendes und regionale Unterschiede einebnendes Verfahren ist selbstverständlich so zu verstehen, dass die einzelne Ikone nur als Beispiel für einen möglichst großen Kreis annähernd vergleichbarer Stücke steht. Der reale Preis speziell dieser einen abgebildeten Ikone bei einem ganz bestimmten Galeristen kann somit nicht Gegenstand des Interesses sein. Besonders wichtig erscheint in diesem Kontext der Hinweis, dass der Erhaltungszustand eines ganzseitig wiedergegebenen Stükkes insoweit bewusst unberücksichtigt bleibt, als er aus dem Bild nicht ohnehin klar ersichtlich ist. Denn nur so kann die individuelle Ikone noch für eine hinreichende Zahl anderer als Exempel dienen. Bevor die blanken Zahlen sprechen, noch eines als Richtschnur: Im Zusammenwirken mit den Besitzern und Bildleihgebern war der Autor bestrebt, für die ganzseitige Publikation möglichst hochwertige, jedenfalls aber hinsichtlich der Originaliät überdurchschnittlich gut erhaltene Ikonen auszuwählen. Ganz im Gegensatz zum Gros der entweder relativ jungen oder volkskunsthaft schlichten, durch Schäden sowie unkundige beziehungsweise ausufernde Restaurierungen beeinträchtigte Stükke, die auf mancherlei Weisen auf den
weniger qualitätsbewussten Sektor des Marktes gelangen, haben solch exquisite Stücke aus Sammlerhand und Galeriebestand gerade in den letzten Jahren aus den schon erläuterten Gründen einen beträchtlichen Wertzuwachs erfahren, Tendenz weiter steigend. (Ikonen aus Museumsbeständen blieben im Übrigen deshalb außen vor, weil sie fast ausnahmslos außerhalb der Reichweite von Freunden der orthodoxen Bilderwelt als privaten Kaufinteressenten liegen.) Die nachfolgende Aufstellung basiert auf Erfahrungen, die im Gespräch mit namhaften privaten Sammlern, mehr noch auf internationalen Messen und bei renommierten, sachkundigen Galeristen im laufe der Jahre 2003 mit 2007 im mittel- und westeuropäischen Raum zu gewinnen waren. (Die Angaben verstehen sich in Euro.)
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14.000 - 20.000
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18.000 - 30.000
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3.500
3.000 - 6.000 5.200 -10.000 9.000 - 15.000
Entsprechende Farbsymbole sind den ganzseitigen Abbildungen zugeordnet.
Die russische Haus-Ikone im Wandel der Zeit
Die russische Haus-Ikone im. Wandel der Zeit
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Zum Begriff „Haus-Ikone" und zum Konzept des Buches
Zum Begriff „Haus-Ikone" und zum Konzept des Buches Die Ikone im liturgischen Kontext Wie die Orthodoxie ihren religiösen Kern in der Gottesnähe sieht, welche die Gläubigen im Mitvollzug der Liturgie in der Gemeinschaft erfahren, so hat auch die Ikone ihren genuinen Platz im Kirchenraum. Dort nimmt sie den Menschen hinein in die eucharistische Einheit mit dem Göttlichen, mit den körperlosen himmlischen Wesen und dem Erlösungswerk von den Zeiten der Vorväter an bis zum Wirken Jesu aufErden, in seinen Tod und seine Auferstehung. Im Zusammenspiel mit den Fresken vermittelt die Kirchenikone in einem seit dem 14./15. Jahrhundert immer ausgebreiteteren Bildprogramm „das Heilige den Heiligen", denn der Mitfeiernde steht ja in Kommunio mit den bereits verschiedenen Glaubenszeugen, die im Fresko um ihn sind und für ihn eintreten werden bei der Wiederkunft des Herrn, wie es ihm der Deesisrang der Ikonostase versichernd vor Augen führt. In diesen, den Glaubensgrund ausmachenden Zusammenhang gehören die Ikonostasetafeln, ferner jene, die dem Gang des Kirchenjahres folgend im Wechsel auf den Verehrungspulten ausgelegt werden, sowie die Ikonen des unmittelbar liturgischen Gebrauchs : Altar- und Segenskreuze, Prozessions- und Fahnenikonen, nicht zu vergessen die gestickten Bilder des Kelchvelums oder des Karfreitagstuches . Verschiedene Formen der Reiseikonostase ließen es zu, den liturgischen Raum auch unterwegs zu vergegenwärtigen, und KalenderIkonen leisteten den Zeremonianten 44
ursprünglich Hilfestellung bei der Wahl der jeweiligen Tagesgebete.
Individuelle Verehrungspraxis in der Kirche Einen kleinen Schritt weg von der gemeinschaftlichen Gotteserfahrung in der Liturgie und hin zu individuellen Andachtsformen erlaubten dann schon die kleinformatigen Repliken vor den thematisch entsprechenden großen Tafeln des .,lokalen Ranges" der unteren Reihe in der Ikonostase sowie die von ihr getrennt, meist vor Säulen platzierten Ikonen; diese sind den Bildern der katholischen „Nebenaltäre" in ihrer realen Bedeutung für einzelne Gläubige nicht ganz unähnlich, machten sie es doch möglich, gelegentlich eines kurzen Besuches in der Kirche, sozusagen en passant und das nicht selten auch während des Gemeindegottesdienstes - seiner ganz persönlichen Wertschätzung eines speziellen heiligen Abbildes Ausdruck zu verleihen. Die erleichterte Möglichkeit des Berührens, des Aufsteckens von Kerzen davor oder des Verweilens im Gebet führen bereits hinein in einen gewissen persönlichen Bezug nun nicht zum Göttlichen als Ganzem, sondern zu individuell aus der jeweiligen Lebenssituation heraus als wesentlich empfundenen Aspekten und Personen der jenseitigen Welt. Allerdings bleibt diese gesonderte Andacht noch immer eingebettet in „die Kirche", in den liturgischen Raum und damit zugleich in die darin sichtbar werdende „Gemeinschaft der Heiligen".
Ikonen mit theologischem oder politischem Gehalt Zwei andere Gruppen von Ikonen beschritten, jeweils historisch begründet, schon relativ früh - in Russland vorwiegend im 16. Jahrhundert- den Weg aus dem unmittelbar gottesdienstlichen Zusammenhang hinaus in eine etwas anders ausgerichtete Öffentlichkeit: Das gilt einmal für den Bereich der theologisch-didaktischen und mystischen Sujets, in denen Differenzen der Glaubensauffassung oder mahnende Absichten zum Ausdruck kommen; erinnert sei an den „Triumph der Orthodoxie", den Streit um die Pskover „Vierteilige", die .,Vision des Kirchendieners Tarasij" von einem drohenden Strafgericht über Novgorod oder die Szene der .,Belehrenden Gottesmutter", im Kontext mit der heftigen Auseinandersetzung, die um Berechtigung oder Verwerflichkeit von Bautenschmuck und Landbesitz klösterlicher Gemeinschaften geführt wurde. Daneben stehen Tafeln, welche die enge Verbindung von Kirche und Herrschaftsmacht zeigen und nicht zuletzt der Verherrlichung Letzterer dienen, sei es „Der Kampf der Novgoroder mit den Susdalern", .,Die streitbare Kirche " (zur Untermauerung des Führungsanspruches Russlands in der Orthodoxie zu Zeiten Ivans IV.) oder, gleichsam als Nachzügler, das Bild der Gottesmutter von Vladimir, der „Mutter der russischen Erde" mit dem „Stammbaum des Moskauer Reiches".
Zum Begriff „Haus-Ikone" und zum Konzept des Buches
Die Haus-Ikone Ikonografische und funktionelle Überschneidungen mit der Kirchenikone
Von all diesen, entweder im engeren Sinne kirchlichen oder auf theologisch-politische Öffentlichkeitswirkung angelegten Ikonen setzt sich die ,,Haus-Ikone" grundsätzlich durch ihren unzweifelhaft persönlichen, privaten Glaubensbezug ab, auch wenn thematisch und ikonografisch sehr häufig keine Unterschiede festzustellen sind. Letzteres trifft nicht nur, wie leicht einzusehen, für Gottesbilder und solche der Gottesmutter zu, sondern es haben beispielsweise nicht wenige Sujets der kirchlichen Festtagsreihe unter bestimmten volksreligiösen Vorzeichen Eingang gefunden in den Bereich der primär im Hause, in der Familie wurzelnden Frömmigkeit. Zugleich bewahren gewisse Objekte der Hausfrömmigkeit auch ihrer Funktion nach noch engen Kontakt zum Ursprung in der Kirchengemeinschaft: Für besondere Anlässe, für freudige und öfter noch für bedrückende, die einen priesterlichen Besuch geraten sein lassen, werden Kreuze bereit gehalten, mit denen der Geistliche rituellen Segen spendet. Andererseits findet die große Zahl der Votiv-Ikonen ihren endgültigen Platz schließlich wieder im Kirchenraum; an speziell dafür bereiteten Aufstellungsorten, oftmals auf Sockeln und Brettern entlang der Wände, ebendort an Nägel gehängt oder rund um Säulen und Ffeiler platziert, manchmal auch in ikonostaseartigen Gestellen gesammelt, stehen sie ein für den Dank oder die Bitten ihrer Stifter in besonderen Anliegen.
Die Ikone als Hauszier
Freilich wird man nicht umhin können zuzugeben, dass insbesondere
ausnehmend fein gemalte Ikonen des späten 18. und des 19. Jahrhunderts nicht zuletzt als Ausweis der Kunstsinnigkeit und gesellschaftlichen Stellung des Auftraggebers im Heim besser Situierter - zumindest auch zur Zierde des Hauses gereichen sollten. Und doch bleibt noch eine Differenz zu jenen, den jeweiligen Zeitgeschmack oder rückwärts gewandten Sammeleifer bezeugenden Gemälden in abendländischen Bürgerhäusern und Palais, deren religiöse Thematik nicht selten nur mehr Anlass, wenn nicht gar Vorwand für anders gerichtete Bestrebungen von Mäzen und Künstler waren.
Richtpunkte alltäglicher Glaubenspraxis
Bei den einfachen, meist als Kleinlandwirte oder in niederen Diensten stehenden Menschen - und sie stellten ja im alten Russland zu allen Zeiten die überwältigende Mehrheit waren freilich in aller Regel wesentlich schlichtere Ikonen zu finden, nämlich jene der „schönen Ecke" im Hause, als Mittelpunkt der außerliturgischen Glaubensbezeugungen vergleichbar dem süddeutschen „Herrgottswinkel". Auf sie gerichtet beteten die Hausinsassen zu regelmäßigen Zeiten, wobei das „Gebet" oftmals auf die Geste eines dreimaligen Bekreuzigens, verbunden vielleicht mit einigen kurzen Formeln, beschränkt sein mochte, an sie wandten sie sich in besonderen Anliegen, ihr zuerst widmete ein eintretender Gast seinen ehrerbietigen Gruß. Gottesbilder, vorzugsweise solche Christi des Erlösers oder Allherrschers {S. 67) beziehungsweise des Mandylions, solche der Gottesmutter (u. a. S. 155) und des heiligen Nikolaus (S. 141) fanden dort nahezu in jedem Haushalt gleichermaßen ihren Platz, ergänzt bisweilen durch Ikonen regional oder aus persönlichem Bezug be-
sonders verehrter Heiliger. Die unmittelbare Gegenwart der Dargestellten nicht nur als Helfer, sondern auch als moralische Instanzen empfand man in den vielfach nur zwei- oder gar einräumigen Katen als so real. dass man ihre Bildnisse verhängte, wenn sich vor ihren Augen nur allzu Menschliches anbahnte.
Mahnung und Aufruf zur inneren Betrachtung
Deutlich verschieden von der Funktion, als Richtpunkte im Vollzug sich erschöpfender, nahezu unreflektierter Glaubenspraxis zu dienen, förderten gewisse Themen, obschon sie nicht allenthalben und nicht zu jeder Zeit gleichermaßen vertreten waren, eine versenkende Betrachtung mit Blick auf die Endlichkeit des Daseins. Eine solche Art der religiösen Verinnerlichung mutet nicht nur katholisch an, sondern sie wurde in der Tat im Zuge des Eingangs entsprechender Sujets zur Barockzeit über die dem Zarenreich neu inkorporierte Ukraine von da her angestoßen. Darstellungen ähnlich einem „memento mori" {Sei deines Todes eingedenk! S. 129), das „Weine nicht über mich Mutter", ein Wiederaufgreifen der an sich schon in den gotischen wie byzantinisch-serbischen Darstellungen wurzelnden, nachvollziehenden Leidversenkung des 14. Jahrhunderts, ,,Christus der Weinstock" {S. 135), neue Varianten der Gottesmutter der Passion {S. 133}. kleinformatige Darstellungen des jüngsten Gerichtes, später dann der Passionskranz auf Festtagsikonen, ,,Der Tod des Armen und des Reichen" {S. 113) oder die ,,Gottesmutter unverhoffte Freude" wie auch die im ausgehenden 18. und im 19. Jahrhundert in Russland häufiger denn je wiedergegebene Kreuzigung waren geeignet, das Erlösungswerk des Gottessohnes und den eigenen Tod im Sinne der „Erbauung" auf 45
Zum Begriff „Haus-Ikone" und zum Konzept des Buches
sich wirken zu lassen. Die „Himmelsleiter des Johannes Klimakos" (S. 185), obwohl monastischen Ursprungs, oder die mystisch anmutende „Reine Seele" (S. 187) mochten auch dem einen oder anderen Laien Ansporn zu rechtem Denken und Handeln sein.
Liturgische Themen in der privaten Sphäre
Manche Menschen, wie etwa die ,,priesterlosen Altgläubigen", wählten Bilderensembles, welche die Hereinnahme ganzer Liturgietexte oder liturgienaher Hymnen in den häuslichen Umkreis ermöglichten, so zum Beispiel das „Vater unser" (S. 191) und ,,Hoch preiset meine Seele ... " (S. 189). Festtagsikonen (S. 207) holten die Hauptfeste des Kirchenjahres in ihrer Bildform ins eigene Heim. Ein anderer Typus lässt gar den gesamten liturgischen Raum, vertreten durch das Bildprogramm und die äußere Form einer Kirchenikonostase, im bescheidenen Zuhause erstehen (S. 193).
Beistand, Trost und Hilfe in der Not- Votiv-Ikonen
In schwierigen Lebenslagen schenkten Zufluchtsbilder Trost oder Zuversicht, sei es „Das Entschlafen der Gottesmutter" beim Herannahen des Todes (S. 219) oder eine der zahlreichen Ikonen heiliger Geburten (S. 70, S. 195), wenn ein neuer Erdenbürger erwartet oder erhofft wurde. Arme vertrauten ihre Gesundheit den „Heiligen Ärzten, die kein Geld nehmen" an (S. 63), so man sich nicht gleich mit einem ganzen Sortiment spezialisierter Nothelfer (S. 215) umgab. Ob das Ausbleiben geeigneter Heiratskandidaten (S. 205) oder das einer Leibesfrucht (Gottesmutter von Kasan; Joachim und Anna), ob ehelicher Zank bedrückte oder sexuelle Zügellosig46
keit (u. a. Johann Mnogostradalnij ; Maria von Ägypten, S. 165), Trunksucht (Binfantin), Hexerei und Liebeswahn (Kyprian und Justina), die Sorge um die Kinder (Nikolaus S. 157; Schutzengel S. 200), drohender Einzug zum Militär oder Gefahren im Kriegseinsatz (u. a. Demetrius S. 117; Johann der Krieger), Begriffsstutzigkeit oder mangelnder Lerneifer (Gottesmutter „Mehrung des Verstandes") die Aufzählung nähme so bald kein Ende : Für jedes Anliegen fanden sich passende Patrone. Im Vorfeld als Ausdruck der Bitte in Auftrag gegeben (oder bereits vorgehalten), im Falle des günstigen Ausganges als Dankeszeichen fand ein Großteil dieser Votiv-Ikonen letztlich in der Kirche seinen Platz und stand doch für ein ganz privates Anliegen als Ausdruck individueller Frömmigkeit. Gleiches gilt für die Darstellungen spezieller Ständepatrone, im bäuerlichen Umfeld zu allererst natürlich des Regenmachers und Bewahrers vor Unwetter, Elias (S. 99; S. 103), von Förderern der Fruchtbarkeit der Felder wie Artemij Verkolskjij (S. 145), der Beschützer der Pferde, Floms und Laurus (S. 123), und der Rinder, Blasius und Modestus, und nicht zuletzt des landwirtschaftlichen Generalpatrons, des heiligen Georg (S. 29).
Hüter des Hauses
In den Umkreis des schon magisch geprägten Volksglaubens einzuordnen sind die apotropäisch aufgefassten Hüter des Hauses : Ob nun beispielsweise die „Gottesmutter vom nicht verbrennenden Dornbusch" (S. 171) die angesichts der Blockbauweise stets lauernde Brandgefahr fernhalten oder ob das „Alles sehende Auge Gottes" (S. 173) Diebe abschrecken sollte, etwa wenn die Familie gerade bei der Feldarbeit war, in jedem dieser Fälle brachte der spezielle Titel, der an
sich auf einem ganz anderen Hintergrund fußt, die schlichten Gläubigen dazu, diesen Ikonen eine Unheil bannende Kraft zuzuschreiben. - In diesem Zusammenhang sei kurz noch auf die vergleichbare Bedeutung der Volksethymologie für das Patronat mancher der schon angesprochenen Schutzheiligen hingewiesen: So begründete etwa die missverstehende Deutung der Silbe Bin- (Vin- = russisch Wein) im Namen des heiligen Binfantin (= Bonifatius) dessen Popularität unter den Frauen als - in der Realität freilich nur allzu oft überstrapazierter - Bewahrer ihrer Männer vor exzessivem Alkoholgenuss. Wer sich eine „himmlische Generalversicherung" ins Haus holen wollte, konnte dies mit einem späten und für das Denken in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kennzeichnenden Ikonentypus tun (Bild S. 47). Auf ihm finden sich die göttliche Dreifaltigkeit und die Fürbitte beim Mensch gewordenen Erlöser und künftigen Weltenrichter jeweils gleich doppelt, und schon grüßen aus dem Paradies die Gruppen derer, welche die irdischen Prüfungen bereits gottgefällig durchgestanden haben. Zur Aufrichtung jener, die den Nöten auf Erden noch ausgesetzt sind, erzählt eine Vitaikone en miniature vom mannigfaltig rettenden Eingreifen, das der Freund des kleinen Mannes, der heilige Nikolaus, Menschen wie ihnen schon angedeihen ließ. Mit der Gesamtheit der Heiligen, derer in der Abfolge aller Tage des Jahres kirchlich gedacht wird, steht ferner eine Vielzahl jeweils „spezialisierter" Unterstützer zur Wahl (siehe auch S. 215). Die oftmals als Beistand in schwierigen Lebenssituationen gedeuteten Festtagsbilder (siehe auch S. 206) werden ebenso vergegenwärtigt, wie die Geschehnisse der Passion die Tugend geduldigen Leidertragens vor Augen stellen. Und nicht weniger als 98 Gnadenbilder der Gottesmutter, die sich als wundertätige Hilfen ja be-
Zum Begriff „Haus-Ikone" und zum Konzept des Buches
reits erwiesen haben, dienen der Stärkung frommer Zuversicht, dominiert vom „Brandschutzbild" des ,,nicht verbrennenden Dornbusches" {oben Mitte, auch S. 171) und einem anderen Gottesmutterbildnis mit dem vielversprechenden Titel „Freude aller, die in Bedrängnis sind" (unten Mitte, auch S. 175).
Ikonen als Geschenke
Nun gab es neben Mühen, Plagen und Gefahren aber immer wieder auch Anlass zur Freude, und in Russland versteht man bekanntlich aus vollem Herzen zu feiern. Dabei durfte in besonders wichtigen Momenten ein frommes Geschenk nicht fehlen : Die Geburtsikone, die Taufikone mit dem Namenspatron, eventuell zugeschnitten auf das Körpermaß oder die Fußlänge - auch die „Taufe Jesu" {S. 101) wurde zu dieser Gelegenheit immer als passend empfunden - , die Hochzeitsgabe, häufig eine Festtagsikone (S. 207} oder die Darstellung der Umarmung von Joachim und Anna als Ausdruck des Glückwunsches zu künftigem Kindersegen; schon etwas weiter gedacht sollte das Präsent einer Ikone mit Samon, Gurij und Aviv {S. 205} den ehelichen Frieden bewahren helfen. In der Qualität der Ausführung spiegelte sich nicht selten der ökonomische Status von Geber und Beschenktem wider. Folglich gab es auch ausgesprochen repräsentative Geschenke : So dachte man etwa einen Satz erlesener "Tabletki" {Bilder der Fest- und Gedenktage des Jahreskreises im kleinen Format, doppelseitig auf gestärkte Leinwand gemalt und durch eine Schatulle geschützt) einem geistlichen Würdenträger zu, ließ fürstliche Gedenkpräsente für den hohen Dienstadel anfertigen {S.177} oder überreichte einer Dame eine mit dem aktuellsten Chic umkleidete Gottesmutterikone (S. 183) nicht anders als ein Schmuckstück. 47
Zur Bildauswahl - Danksagung
Ein noch nicht angesprochenes, weites Feld der privaten Frömmigkeitsäußerungen manifestiert sich in Reliquien-, Amulett- und Schmuckikonen; Erstere sind schon seit dem 14. Jahrhundert im russischen Raum belegt, Beispiele für Letztere sind die in immenser Zahl im 18. und 19. Jahrhundert-wie übrigens auch jetzt wieder in der Technik des Maleremails in Rostover Werkstätten gefertigten Stücke Dazu kommen mancherlei Zwischenformen, die Sakral- und Schmuckcharakter zu verbinden wussten, wie das für die über dem bischöflichen, nichtliturgischen Ornat getragene „Panhagia" zutrifft oder für die Gruppe der vorwiegend dem 15. und 16. Jahrhundert zugehörenden „Korsunkreuze". Da diese Ausweise meist individueller Frömmigkeit ein großes eigenständiges Gebiet für sich darstellen und hinsichtlich des Formates wie der verwandten Materialien den Rahmen gesprengt hätten, soll auf sie in diesem Buch nicht eingegangen werden. Schon die im vorhergehenden Abschnitt angesprochenen Gruppierungen der russischen Haus-Ikone konnten in dem auf Beschränkung angelegten ersten Überblick nur jeweils mit einigen wenigen Beispielen belegt werden. So manches Nähere wird den Texten zu den Einzelbildern zu entnehmen sein. Deren Zusammenstellung versucht der Verwirklichung dreier Ziele nahe zu kommen: Die in ihren Hintergründen und Themen so reiche Vielfalt der russischen HausIkone soll aufgefächert werden in Zusammenschau mit der stilistischen Entwicklung ab etwa 1500 bis in den Anfang des 20. Jahrhunderts. Um des 48
im Titel zum Ausdruck kommenden Fokus willen ist eine ganz strikt chronologische Abfolge allerdings gelegentlich hintangestellt zugunsten der geschlossenen Betrachtung übergreifender Sachgesichtspunkte. Die zur Durchführung dieses verschränkten Ansatzes vorgenommene Bildauswahl verfolgt zusätzlich die ehrgeizige Absicht, dem Betrachter und Leser so weit wie möglich Ikonen vor Augen zu führen, die in ihrem Ursprungszustand noch erfahrbar sind, das heißt denen man ihr Alter sehr wohl ansehen kann, die aber von nennenswerten Restaurierungen und Verschönerungen unberührt auf uns gekommen sind. Dieses unterfangen ist mittlerweile so schwierig geworden, dass ich seiner Realisierung anfänglich mit Skepsis gegenübertrat. Zwar erfuhr ich bereitwillige Unterstützung durch mir bekannte Sammler, vermochte es aber letztlich vor allem dadurch zu verwirklichen, dass einige namhafte Galeristen nicht nur tatkräftig, sondern auch großzügig zu Hilfe kamen. Ersteres bezieht sich auf ihre Bereitschaft, nicht etwa nur Ikonen aus dem eigenen Fundus aufnehmen zu lassen, sondern weit darüber hinaus Beispiele aus breit gestreutem, privatem Eigentum für das Buch zu erschließen. Hätten sie im Übrigen nicht völlig auf einen finanziellen Abgleich für die Bildrechte und sogar für ihnen selbst erwachsene Kosten verzichtet wie die meisten privaten Eigentümer auch, so hätte sich das Projekt kaum ökonomisch vertretbar durchführen lassen. Dazu, dass dies doch gelang, trug ferner die Uneigennützigkeit von Fotografen bei, die Vergütung ihrer Rechte am Bild betref-
fend. Angesichts der großen, freundschaftlichen Hilfsbereitschaft und des wirtschaftlichen Entgegenkommens habe ich allen privaten Sammlern und kommerziellen Unterstützern aufrichtig zu danken. In besonderem Maße gilt das für Roman und Marianne Franke, Fotografen Oettingenstraße 36 80538 München Ikonengalerie Christine Hahn Hinter der Grieb 2 93047 Regensburg Ikonengalerie Th. Mönius Kurfürstendamm 59/60 10707 Berlin Ikonengalerie J. Morsink Keizersgracht 454 1016 GE Amsterdam Atelier Schneider, Gemälde- und Antiquitätenfotografie Stauffenbergstraße 43 10785 Berlin Ikonengalerie T6th Nieuwe Spiegelstraat 68 1017 DH Amsterdam Ikonengalerie Horst Schmied, Restaurator Am Höhenweg 10 94086 Bad Griesbach Schließlich sei noch dem Verlag gedankt, ohne dessen vertrauensvolle Ermunterung ich wohl nicht noch ein weiteres Mal ein Buchprojekt in Angriff genommen und ohne dessen verständnisvoll gewährte Konzeptionsfreiheit die Arbeit nicht dieselbe Freude gemacht hätte.
Russische Malweisen
Wenn es um verschiedene Stilrichtungen innerhalb der russischen Ikonenmalerei geht, ist es hilfreich, sich drei Tatsachen vor Augen zu halten: 1. Über die Jahrhunderte hinweg lässt sich ein genereller Stilwandel sehr wohl feststellen; allerdings legt er sich eher wie ein Schleier über die eigenwillige Vielfalt der Gesamtproduktion, überformt sie hier mehr, dort weniger und oft auf recht eigene Weise. Hier wirkt sich der Umstand aus, dass in diesem kulturell nur selten wirklich zentralistisch beherrschten Staatsgebilde die prägende Kraft einer dominierenden Kapitale über lange Phasen der Geschichte nur relativ schwach ausgeprägt war. Impulse zum Fortschreiten der Stilentwicklung ka men wechselweise aus regionalen Zentren Russlands und solchen des weiten orthodoxen Kulturraumes selbst oder aus der Hochkunst jeweils führender europäischer, zum Teil auch orientalischer und zentralasiatischer Regionen. 2. Man muss sich hinsichtlich des Begriffes Stilentwicklung darüber im Klaren sein, dass es sich hierbei nicht um auf breiter Front in zeitlichem Gleichmaß dahinströmende Wellen handelte. Es sind nicht so sehr die mehr oder weniger großen Verzögerungen gegenüber der gesamteuropäischen Entwicklung, die hier ins Gewicht fallen, als vielmehr gravierende Unterschiede zwischen den verschiedenen Gebieten Russlands selbst, was Tempo und Ausmaß des Fortschreitens angeht. Einern raschen Voraneilen
hier kann hartnäckiger Stillstand anderwärts gegenüberstehen, so dass die eine Gegend etwa noch den Novgoroder Stil aus der Zeit des europäischen Mittelalters tradierte, als jene bereits Elemente des Barock aufgriff: eine Differenz von 200 Jahren Stilgeschichte, wenn man so will. 3. Nur in seltenen Fällen hat die Bezeichnung „Schule" im Hinblick auf Ikonen von stilistischer Verwandtschaft echte Berechtigung im Sinne der für die abendländische Kunstgeschichte geläufigen Wortbedeutung. Im Übrigen spricht man wohl besser von „Malweise" und meint mit den zugeordneten Namen eine Summe von Charakteristika, die zu einem in etwa umreißbaren Zeitraum in einer bestimmten Region (z. B. ,,Vologda", ,,Obere Volga"), in einem speziellen sozialen Umfeld (,,Stroganovmanier", ,,serbisch- / südrussische Wandermaler") oder bekannten Malerartels (,,Rüstkammerwerkstätten", ,,Palech") besonders prägnant in Erscheinung trat. Das vielfach zähe Festhalten an einmal beliebt gewordenen Darstellungsweisen sowie die nicht unbeträchtliche Mobilität angesehener Maler und die kommerziell orientierte Bereitschaft, erfolgreiche Gestaltungsweisen von anderswoher aufzugreifen, führten dazu, dass unter Umständen Ikonen ganz ähnlicher Art zeitlich und räumlich fernab der „Ursprünge" dieser oder jener Malweise entstehen konnten. Das gilt besonders für die Praxis in bedeutenden Werkstätten wichtiger Städte oder in hochspezialisier-
ten dörflichen Artels ab dem 17. Jahrhundert. So war es zum Beispiel durchaus möglich, dass in den Moskauer Zarenwerkstätten um ca. 1680 nebeneinander eine „Jaroslavler" Geburt Christi, eine „Moskauer" Verkündigung, ein Christus Emmanuel im „Uschakov-Stil" und ein Kriegerheiliger mit Nachklängen der „Stroganov-Schule" entstanden. So bezeichnet das Wort „Malweise" also nicht eine absolut feststehende lokale Herkunft, wenn auch der erfahrene Fachmann aufgrund weiterer Kriterien des Öfteren eine solche dennoch zu präzisieren vermag. Dies alles vorausgesetzt und in dem Bewusstsein, wie problematisch eine solch weitgehende Verallgemeinerung ist, soll nun ein ganz knapper Überblick über die russischen Malweisen in ihrer zeitlichen Abfolge gegeben werden: War vor dem Mongolensturm des 13. Jahrhunderts in den fürstlichen Zentren der „Kiever Rus", in Kiev, Novgorod, Tschernigov, Smolensk und Vladimir-Susdal, die Gestaltungsweise byzantinischer und russischer Künstler im Allgemeinen noch nicht zu homogenen Lokalstilen zusammengewachsen, so weisen im 14./15. Jahrhundert manche Mittelpunkte der Teilfürstentümer und das bereits von einem großbürgerlichen Patriziat beherrschte Novgorod wie gleichermaßen seine Schwesterstadt Pskov ein stilistisch klares Profil auf. Der erste Jaroslavler Stil, um nur ein Beispiel zu nennen, mit seinem eher provinziellen Hang zum flächenfüllenden Gewand de kor verlor sich freilich schon bald spurlos. Gleiches gilt 49
Russische Malweisen
für die expressive Kühnheit der gleichsam von innen erglühenden, violetten und grünblauen Töne jener Tafeln aus der Blütezeit der Handelsstadt Pskov mit ihrer Vorliebe für die kurze Diagonale und den exzentrischen Schwerpunkt. Anderes hielt sich dort im 16. Jahrhundert noch für eine Weile: Parallelsehraffen ähnlich überdecken dünne Goldassiste weithin die dunklen Gewandpartien, und opulente Perlenreihen kontrastieren mit leuchtendem Rot (S. 61), wie das auch in spätbyzantinischen Fresken zu sehen ist. Andererseits erklärt sich aus den engen Handelsbeziehungen mit westlichen Hansestädten das eine oder andere abendländisch-mittelalterlich anmutende Detail, ein oftmals elegant bewegter Figurenstil und manche kompositorische Freizügigkeit. Auch nur gelegentlich noch findet sich bis zum Beginn des 17. Jahrhunderts eine Spur der Kunst von Tver, einer früh ausgeschalteten Rivalin Moskaus im Bestreben, ,,die russische Erde" wieder zu „sammeln". In einem sehr milden, fast blassen Gesamtkolorit von lichtgrauer Tönung bildet ein verwaschenes Blau den Widerpart zu einem ins Karmesin spielende Zinnoberrot. Gerundete, kaum einmal durchschwingende Konturen umfangen weiche Körper, denen ein Knochenbau zu fehlen scheint. Kraftvoll heben sich daneben die klar voneinander abgegrenzten Flächen reiner, leuchtender Farben ab, die im stolzen Novgorod üblich waren (S. 59), durch gerade, harte Binnenlinien sparsam rhythmisiert und oft kombiniert zu einem Vierklang von gelbem Ocker, Weiß, intensivem Zinnober und bläulichem Hellgrün, das durch Weißhöhung nicht selten einen pastellfarbenen Schimmer erhält. Noch ein Jahrhundert nachdem die Stadt unter den wiederholten Schlägen des Großfürstentums Moskau zur Bedeutungslosigkeit herabgesunken war, nämlich noch am Ende des 17. Jahrhunderts, malt man in Teilen der ehe50
maligen Provinzen Groß-Novgorods im Norden Russlands diesen betont flächigen, gerade in seiner Sachlichkeit so hoheitsvollen Stil (S. 101). Von anderer Natur ist da die Moskauer Malweise, die vom Ende des 14. bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts unterschiedliche byzantinische und serbische Anregungen verarbeitet. Dabei ließ sich die überragende innere Erhabenheit der Ikonen Andrej Rublevs nicht halten, sondern die Richtung gab vielmehr Dionisij an mit überlängten, gemessen bewegten Figuren, kleinen, runden Köpfen und einer starken Neigung zum Erzählerischen, zur vielfigurigen Szene. Seine faszinierend lichte Palette, korrespondierend mit nahezu gleichzeitigen Arbeiten der Schule von Decani (Serbien) und kretischen Meistern, wich freilich schon bald satteren Farben, oft beherrscht vom Komplementärkontrast Rot-Grün (S. 64). Eine detailreiche Kulisse breitet sich aus, häufig interessant, aber ohne allzu große kompositorische Funktion, wenngleich wichtig zur räumlichen Trennung zeitlich aufeinander folgender Ereignisse (S. 91), wie dies auch in der islamischen Mogulkunst des 17. Jahrhunderts praktiziert wird. Mit der (teilweisen?) Verlegung der Malerwerkstatt des Metropoliten Makarij von Novgorod nach Moskau und dem zunehmenden Einfluss der neuartigen Bildauffassung von Künstlern aus dem wirtschaftlich noch immer starken, dem westlichen Europa zugewandten Pskov hatte sich in Moskau zur Mitte des 16. Jahrhunderts bereits eine weitere Malrichtung angebahnt: Sie bevorzugte das kleine Format, eine malflächenparallele, gleichsam kulissenhafte Staffelung mehrerer Ebenen (S. 95), wobei stilisierte Felsen stets für mehr Raumtiefe sorgen als die dünnwandigen Architekturfassaden; allerlei Gebäudeteile, strukturiert noch durch mannigfache Tor- und Fensteröffnungen, ergeben zusammen mit der kleintei-
ligen Felszeichnung ein flächendeckendes Muster von teppichartiger Wirkung, in dem die Personen nahezu aufgehen (S. 111). Dies ist auch der frühe Stil der „Zarenwerkstätten ", der Malstuben in den Rüstkammern des Moskauer Kreml, die gegen Ende des 16. Jahrhunderts durch Boris Godunov intensive Förderung erfuhren. Freilich entstehen hier, vermutlich angeregt durch den betont traditionsverbundenen Habitus herbeigebrachter, serbischer Ikonen, auch monumental aufgefasste Bilder (S. 69), aber es ergeben sich rasch Verbindungen zu einem anderen, orientalisch angehauchten Stil: Die sogenannte Stroganovschule kam im letzten Drittel des 16. Jahrhunderts zunächst im Nordosten in Solvytschegodsk auf, der Residenz der gleichnamigen Familie an der Kama. Zu Recht wird diese Geschmacksrichtung mit Mitgliedern dieser Sippe in Verbindung gebracht, welche als Exploratoren und Händler im Staatsmonopoldienst einen kometenhaften Aufstieg genommen hatten. Es kann kaum einen Zweifel geben, dass persische Miniaturen und mittelasiatische Ornamentik hinter den ungemein grazilen, fast morbiden Gestalten stehen, die beinahe schwebend sich auf einer imaginären Bühne vom blanken, neutralen Hintergrund, mit scharfer, teils einfacher, teils manieriert flattriger Kontur abheben. Gelegentlich führen auch die feinen Details einer idyllischen Landschaft den Blick zum tief liegenden Horizont in großer Feme. Dünne, grafisch aufgefasste Blattund Blütenmuster spielen über die Gewänder hin, meist ebenso mit Goldlösung aufgetragen wie die reichen Borten, die Harnischzier der Krieger und die zarten Phantasiegewächse, die mitunter vor der dunkleren Bodenfläche einen zweiten Akzent setzen. Über gefragte Künstler der zweiten in dieser Manier arbeitenden Malergeneration wie vor allem den erst in Solvytschegodsk, später dann in Jaroslavl und den Mos-
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kauer Kremlwerkstätten tätigen Semjon Spiridonov kommt diese Bildauffassung an die Obere Volga und in den zentralrussischen Raum, wo sie auf verschiedene Weise variiert und integriert wird (S. 19, S. 109). Wie schon gegen Ende des 15. Jahrhunderts, so fließen auch fast einhundert Jahre später noch einmal Elemente des klassischen Novgoroder Stils mit der Moskauer Malweise zusammen. Dieser Novgorod-Moskauer Mischstil bleibt bis ins 18. Jahrhundert hinein für Teile Nordrusslands, insbesondere für die Region Vologda und das Onegagebiet sowie die Region Obere Volga bestimmend. Dabei nimmt Letztere im Laufe der Zeit freilich zunehmend Anleihen aus dem Jaroslavler Hochstil, von dem noch zu reden sein wird, während die beiden anderen Zonen sich durch eine große Vielfalt freier, sich vom einengenden Kanon ganz unterschiedlich lösender Inventionen auszeichnet (S. 121); dabei nimmt sowohl diese gestalterische Unbekümmertheit als auch eine gewisse provinzielle Ungelenkheit, generalisiert gesagt, von Süd nach Nord zu. Noch darüber hinaus, in Karelien, kulminiert beides in der Eigenwilligkeit einer liebenswert naiven, aber bisweilen zugleich expressiven Volkskunst (S. 165). Es mag den Vorlieben eines eingefleischten Bewunderers „der" russischen Ikone widerstreben: Bei aller kunsthandwerklichen Schlichtheit solcher Werke erblüht in ihren besten Exemplaren ab etwa 1600 über anderthalb Jahrhunderte ein in der orthodoxen Malerei auf diesem Niveau eher seltenes Potential individueller Kreativität. Selbst die Großklöster des mittleren und hohen Nordens machten sich als grundherrliche Auftraggeber solcher dörflichen „Bauernmaler" -Werkstätten nicht selten deren bodenständige Qualitäten für die Herstellung von Ikonen als Pilgerandenken zunutze, obwohl in ihren eigenen Malstuben fast ausschließlich eine Hochstilkul-
tur gepflegt wurde, welche Moskauer, Stroganov- und (ab der Mitte des 17. Jahrhunderts) Jaroslavler Vorbilder einarbeitete. In der Mitte des 17. Jahrhunderts erfassen die russische Ikonenmalerei wieder durchgreifende Neuerungen. Da ist einmal jene ganz charakteristische Architekturstaffage, die zuerst das zu jener Zeit führende Handelszentrum Jaroslavl aus flämischen Spätrenaissance-Anregungen unter Einfluss der Schule von Ferrara entwickelt, vermittelt über abendländische Stiche und Drucke (S. 113). Nahe der Bildfläche geben kräftig gegliederte Pfeiler den Blick frei auf perspektivische Innenräume mittlerer Tiefe, in denen sich die Personen bewegen, gekleidet in voluminöse Gewänder mit Hochlichtern, welche mit breitem Pinsel aufgesetzt sind. Die gelegentlich zu beobachtende Absicht, Mensch oder Tier halb abgewendet von schräg hinten als (,,in sich spiralig gedrehte") ,,figura serpentinata" ins Bild zu setzen, ist dem Vorbild des europäischen Manierismus geschuldet (der Teile der postbyzantinischen, kretisch-venezianischen Ikonenmalerei schon seit geraumer Zeit erfasst hatte). Vorkragende Architrave sind von Balustraden gekrönt, hinter denen sich Haubendächer aufschwingen (S. 157). Und allenthalben hat man den Bauteilen aufragende Kartuschen appliziert (S. 115). Dieser Jaroslavler Stil wird durch oftmals hier wie da tätige Künstler ihre Signaturen auf Fresken und Ikonen belegen, dass sie sich nun im westlichen Sinne auch als solche verstehen - in den Moskauer Zarenwerkstätten mit einer überfülle an Details und unter Verwendung von außerordentlich viel schmückendem Gold prunkvoll ins Extrem getrieben. Fast gleichzeitig dringen Gestaltungsweisen des italienischen Barock nach Moskau, nicht zuletzt befördert durch den Anschluss der katholisch beeinflussten Ukraine. Von daher und aus
niederländischen Druckwerken erklärt sich der „ Uschakov-Stil", benannt nach dem bekanntesten jener Maler der Rüstkammern des Kreml, welche sich - zum Ärger der kirchlichen Obrigkeit - eine mehr oder weniger vorsichtige Anpassung der Ikonenmalerei an die europäische Kunst zum Ziel gesetzt hatten. Abgesehen von einer stärkeren Körperhaftigkeit und einem weniger abstrahierten Faltenwurf äußert sich dies vor allem in einer realitätsnäheren Lichtführung und einer natürlicheren Gestaltung des ,,Inkarnates", also der Gesichter, Arme und Beine (S. 127). Mit dem Regierungsantritt des deutschfreundlichen Zaren Peter I war dem Barock bald nach 1700 endgültig das Tor geöffnet; zu dem nunmehr aus dem französischen und polnischen Adelsportrait übernommenen Faltenwurf gesellte sich das Barockornament mitteleuropäischer Prägung (S. 140, S. 177), was nicht verwundern kann, wenn man weiß, in welchem Umfang zum Beispiel Augsburger Silber für den russischen Hofadel geordert wurde und wie sehr die italienischen Baumeister zaristischer Großprojekte etwa die spätbarocke Rocaille verwandten; selbst die Vorliebe des Adels für chinesisches Porzellan spiegelt sich in der religiösen Kunst wider: in jenen blautönigen Ikonen nämlich, wie man sie vom späten 17. bis ins Ende des 18. Jahrhunderts als Besonderheit antreffen kann (S. 157). Dieser Geschmackswandel wurde getragen von Petersburger Hof- und großstädtischen Adelskreisen sowie, was die Ikonenmalerei angeht, unter anderem auch von ukrainischen Theologen auf so manchen russischen Bischofssitzen. So förderten etwa in Rostov die Metropoliten einen ,,modernen", ausgesprochen rokokohaften Stil, in dem, abgesehen von Ikonen, vor allem religiöser Zierrat in Maleremailtechnik über das 18. und 51
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19. Jahrhundert hinweg in enormem Ausmaß produziert wurde. Gegen all diese Neuerungen formierte sich eine nationalkonservative Opposition. Neben den ungebildeteren Bischöfen Groß-Russlands, auf dem Lande lebenden Grundbesitzern und einem maßgeblichen Teil der Moskauer Adelsfamilien sind auch jene Altgläubigen dazu zu rechnen, welche sich aufgrund ihnen untragbar erscheinender Reformen 1667 endgültig von der Patriarchatskirche losgesagt hatten. Schon zu Beginn des 18. Jahrhunderts fällt in manchen Gegenden eine Rückkehr zu einer traditionelleren Art auf, wenn auch nunmehr stärker grafisch ausgerichtet auf die Linie gestellt und unter deutlicher Reduzierung des Kolorits; Kostroma , das zuvor von der Jaroslavler Kunst bestimmt war, entwickelt zu dieser Zeit unter Rückgriff auf die altüberlieferte Ikonographie noch einmal einen charakteristischen, freilich etwas herben Eigenstil, dominiert von kantigen Konturen, heftigen Hell-Dunkel-Kontrasten und starken weißen Akzenten, die in manchen Fällen selbst die ansonsten eher „altrussich" dunklen Gesichter geisterhaft bleich wirken lassen. Ebenfalls aus dem Umfeld, welches aus antimodernistischer Gesinnung das „altrussische Erbe" wieder hochhalten wollte, wenn auch nicht allein aus diesem Publikum, rekrutierte sich anfangs wohl der Kundenkreis jener Artels, die eine mehr traditionsverpflichtete Feinmalerei gegen Ende des 18. und im 19. Jahrhundert pflegten. Sie vereinigte Elemente verschiedener Malweisen des ausgehenden 16. und des 17. Jahrhunderts in sich, vornehmlich solcher, die einer miniaturähnlichen Gestaltungsweise entgegenkamen: die szenisch auf einander bezogenen Personengruppen und die dekorative Kulisse als „russisch" empfundener Gebäude des Moskauer Stils {S. 171), die reiche Chrysogra52
phie der Stroganovmaler, die Tendenz zur kleinteiligen Flächenfüllung der Zarenwerkstätten und Jaroslavls sow ie die bizarren Türmchen, welche die Überfeinerung des Jaroslavler Stils durch Semjon Spiridonov kurz vor 1700 mit sich gebracht hatte (S. 19). Aus dem Kloster Sija in der Nähe seines Geburtsortes Cholmogory unweit Archangelsk stammt übrigens eines der maßgeblichen Malerhandbücher, an denen sich die neuen Miniaturisten orientierten, das andere war das „Stroganov"-Malerhandbuch, das schon um 1600 entstanden sein dürfte. Nach diesen „altehrwürdigen" Vorlagen arbeiteten Werkstätten im seinerzeit bereits geachteten, ob seiner feinmalerischen Spitzenprodukte heute aber unter Sammlern überaus geschätzten Malerdorf Palech im ehemaligen Gouvernement Vladimir (S. 170}; daneben dienten diese Vorlagen jedoch auch im ebenfalls zentralrussischen Mstera (S. 168) sowie in Werkstätten der beiden Hauptstädte und im ausgehenden 19. Jahrhundert in solchen von Altgläubigen in Nordwestrussland als Hilfsmittel. Vom südlichen Zentralrussland bis zum Karpatenraum sind im späten 18. und im 19. Jahrhundert schlicht ausgeführte, aber nicht selten groß aufgefasste Bilder verbreitet, zu deren Kennzeichen gepunzte Muster auf den Gewändern und golden getönten Blattsilbergründen gehören, ferner eine Betonung der Kontur und das etwas aggressive Orangerot der Ränder. Man führt sie häufig auf „serbische", richtiger wohl „südrussische Wandermaler" zurück, sollte aber nicht außer Acht lassen, dass deren Manier auch in Choluj, einem vorwiegend auf Billigproduktion ausgerichteten Malerdorf in der Mitte Russlands sowie in nordwestrussischen, bäuerlichen Nebenerwerbsbetrieben jeweils leicht variiert aufgegriffen wurde. Daneben entstehen mit lockerer Hand schnell hingesetzte Bilder
sehr schlichter Art, abgestellt auf die Wirkung dunkler Linien und Konturen in Verbindung mit kaum strukturierten Flächen von nicht zu übersehendem Orange, Gelb, Rot und Blau. Diese häufig in Öl oder einer Mischtechnik ausgeführte, skizzenhafte Volkskunst ist wirtschaftlich und kulturell verarmten Klöstern sowie dörflichen Artels zuzuschreiben, welche dem Geschmack und mehr noch den äußerst beschränkten finanziellen Möglichkeiten großer Teile der Landbevölkerung gewiss entgegenkamen. Damit ist bei Weitem noch nicht die beglückende Vielfalt der Malweisen erschöpft, welche bestimmten Regionen verpflichtet sind. Aber neben der - im Osten der Ukraine oftmals mit reliefiertem Hintergrund und in deren Westen meist wesentlich volkskunsthafter unverändert dominierenden - ,,Barock-,, und „Rokokoikone", dem mächtiger werdenden Strom der Feinmalerei und den immer zahlreicheren Produkten primitiver Herstellungsweise verblasst ab dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts die Charakteristik regionaler Gestaltungsweisen allmählich und geht auf in einer umfangreichen Produktion vereinfachenden Nachvollzuges. Wirklich Neues tritt erst wieder in den zwanziger und dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts hinzu, als städtische Moskauer und Petersburger, aber auch einige klösterliche Werkstätten zunächst die abendländischakademische Malweise des idealisierenden Realismus für in Öl auf Holz gehaltene, alsbald äußerst populäre Bilder Christi und der Gottesmutter heranziehen und dann den ebenso „modernen" Nazarenerstil deutscher Herkunft entdecken, womit sie auf Anhieb ebenfalls beträchtlichen Erfolg haben. Gegen das dahinter stehende, gesamtchristliche Schwärmertum richtete sich wenig später zwar eine weitere nationalkonserva-
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tive Bewegung, durch die eine etwas monumentalere Bildauffassung in Anlehnung an den Moskauer Stil der Zeit um 1600 gefördert wurde {S. 217), aber wohl erst ab der Jahrhundertmitte führte dieser Jkonenhistorismus" zum nahezu kopierenden Nachgestalten alter Stücke, teilweise im Auftrag interessierter Intellektueller, die auch Originale des 15. mit 17. Jahrhunderts zu sammeln begonnen hatten. Im Malerdorf Palech, von dem schon die Rede war, schloss man sich vor allem in der Darstellung von Einzelthemen aus der Festtagsreihe dieser Richtung bis zu einem gewissen Grade an, huldigte aber auf Ikonen seiner „zweiten Zeit" gegen Ende des Jahrhunderts aufs Neue dem rufbegründenden Eigenstil mit einem sich über alle Flächen breitenden Schleier feiner Ornamente in energischen Pastelltönen vor cremeweißem Grund {S. 53). Die Palecher Tradition lebt heute noch fort ; allerdings waren es mehr als ein halbes Jahrhundert lang keine Ikonen mehr, die in einem auf die Spitze getriebenen Miniaturstil dort gemalt wurden, sondern Märchen, Legendenszenen und sozialistische Historienbilder auf Lackdosen und Tabletts. Seit den späten achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts jedoch erfuhr diese Feinmalermanier an ihrem Ursprung und mancherorts sonst auch zur Gestaltung religiöser Themen eine vehemente Wiederbelebung. Dabei hat man allerdings durchaus nicht nur die beachtliche Zahl der russisch-orthodoxen „Neugläubigen" als Abnehmer im Auge.
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Stile russischer Ikonenmalerei und ihre Entwicklung (ab ca. 1450)
Stile russischer Ikonenm.alerei und ihre Ent-wicklung (ab ca. 1450) 1700
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[Erarbeitung: B. Bornheim]
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Kulturzentren im Alten Russland
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