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German Pages 214 [217] Year 1984
Vom normativen Wandel des Politischen
Schriftenreihe der Hochschule Speyer Band 94
Vom normativen Wandel des Politischen Rechts- und staatsphilosophisches Kolloquium aus Anlaß des 70. Geburtstages von Hans Ryffel
herausgegeben von
Erk Volkmar Heyen
DUNCKER &
HUMBLOT I BERLIN
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Vom normativen Wandel des Politischen: Rechts- u. Staatsphilosoph. Kolloquium aus Anlass d. 70. Geburtstages von Hans Ryffel, [Bern, 17.-19. Juni 1983] / hrsg. von Erk Volkmar Heyen. - Berlin: Duncker und Humblot, 1984. (Schriftenreihe der Hochschule· Speyer; Bd.94) ISBN 3-428-05676-0 NE: Heyen, Erk Volkmar [Hrsg.]; Rechts- und Staatsphilosophisches Kolloquium (1983, Bern; Ryffel, Hans: Festschrift; Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer): Schriftenreihe der Hochschule ...
Alle Rechte vorbehalten
© 1984 Duncker & Humblot, Berlin 41
Gedruckt 1984 bei Buchdruckerei A. Sayffaerth - E. L. Krohn, Berlin 61 Printed in Germany ISBN 3-428-06676-0
INHALT Verzeichnis der Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Erk Volkmar Heyen: Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Geschichte und Philosophie
Dietmar Willoweit: Von der alten deutschen Freiheit. Zur verfassungs geschichtlichen Bedeutung der Tacitus-Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17
Erk Volkmar Heyen: Geschichtsphilosophie oder Ethik? Zur Interpretation des "übergangs von vorgegebener zu aufgegebener Normativität" in Hans Ryffels philosophischer Anthropologie des Politischen .. . . .. .. .. .. ... ... .. . ..... 43
Freiheit und Gleichheit
at/ried Höfle: Gerechtigkeit als gleiche Einschränkung der Freiheit. Eine Begrundungsskizze . .. ..... ... .... . .... .. .. . ..... . ... . ..... .. . . ...... ... ... 57
Gerd Roellecke: Die Unwandelbarkeit des Rechtes: Gleichheit und Unterscheidung. . ..
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Richter und Recht
Hans-Martin Pawlowski: Juristische Methodenlehre und Ethik ...... . . . ......... . ........ . .... 87
Thomas Fleiner: Rechtsvergleichende überlegungen zur Rechtsquellenlehre . . . . . . . . . . . 97
Inhalt
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Menschenwürde und Strafe Hans Schultz:
Der Wandel der Strafrechtslehre und seine politischen Folgen. Eine Causerie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 111 Wal/gang Schild:
Das Verständnis des Missetäters im normativen Wandel des Politischen .............................................................. 117
Natur und Religion Beat Sitter:
über das Recht der Natur im Naturrecht der Gegenwart ..... . ...... 145 Alexander Hollerbach:
Erwägungen zum Verhältnis von Recht und Religion im Hinblick auf eine philosophische. Anthropologie des Politischen ................... 173
Hans Ry//el: Replik . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 183
Schriften von Hans Ryffel ............................................. 207
VERZEICHNIS DER AUTOREN Fleiner, Thomas; Dr. iur., o. Professor am Öffentlichrechtlichen Seminar der
Rechts-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Freiburg i. Ue.
Heyen, Erk Volkmar; Dr. iur. Lic. phi!., Privatdozent fÜr Rechts- und Sozial-
philosophie und Öffentliches Recht an der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer, Wiss. Mitarbeiter des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte in Frankfurt a. M.
Höfte, Ot/ried; Dr. phi!., o. Professor am Internationalen Institut für Sozialphilosophie und Politik der Universität Freiburg i. Ue. Hollerbach, Alexander; Dr. iur., o. Professor am Seminar für Rechtsphiloso-
phie und Kirchenrecht der Universität Freiburg i. Br.
Pawlowski, Hans-Martin; Dr. iur., o. Professor für Bürgerliches Recht,
Zivil~
prozeßrecht und Rechtsphilosophie an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Mannheim
Roellecke, Gerd; Dr. iur., o. Professor für Öffentliches Recht und Rechtsphilo-
sophie an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Mannheim
Ryftel, Hans; Dr. phil., em. o. Professor für Rechts- und Sozialphilosophie
und Soziologie an der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer
Schild, Wal/gang; Dr. iur., o. Professor für Strafrecht, Strafprozeßrecht und
Rechtsphilosophie an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Bielefeld
Schultz, Hans; Dr. iur., em. o. Professor für Strafrecht und Rechtsphilosophie
an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Bern
Sitter, Beat; Dr. phil., Generalsekretär der Schweizerischen Geisteswissen-
schaftlichen Gesellschaft in Bern
Willaweit, Dietmar; Dr. iur., o. Professor am Institut für deutsche und baye-
rische Rechtsgeschichte der Universität Würzburg
VORWORT Hans Rytfel, emeritierter ordentlicher Professor für "Rechts- und Sozialphilosophie, Soziologie" an der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer, wurde am 27. Juni 1983 70 Jahre alt. Ihn zu ehren hieß - das wußte der Herausgeber als sein langjähriger Assistent -, der Sache, von der er sprach und für die er eintrat, Gehör zu verschaffen. So lag es nahe, ein Kolloquium zu organisieren. Es hat vom 17. bis 19. Juni 1983 in Bern - dem Geburts-, Studien- und Wohnort Hans Ryffels - stattgefunden. Die Teilnehmer kamen aus jenem Kreis von Juristen und Philosophen, die sich Hans Ryffel persönlich verbunden wissen und nach seiner Emeritierung das Sachgespräch mit ihm aufrechterhalten haben. Dieser Kontakt läßt sich lokalisieren: im Arbeitskreis baden-württembergischer Rechtsphilosophen und -soziologen, der sich regelmäßig im Frühjahr in Besenfeld (Schwarzwald) trifft und in den auch die Speyerer Hochschule integriert ist, ferner im Tübingerinterdisziplinären Arbeitskreis "Forschungsprojekt Menschenrechte", in den Hans Ryffel in den letzten Jahren einen wesentlichen Teil seiner Arbeitszeit investiert hat, schließlich und nicht zuletzt im großen Schweizer Raum. Zur Durchführung des Kolloquiums hat sich der Herausgeber an Dr. Beat Sitter, Generalsekretär der Schweizerischen Geisteswissenschaftlichen Gesellschaft, gewandt. Mitgewirkt an der Planung hat ebenfalls Prof. Dr. Johannes Schwartländer, der Initiator des genannten Tübinger Arbeitskreises, der dann allerdings leider aus Krankheitsgründen weder am Kolloquium teilnehmen noch einen schriftlichen Beitrag liefern konnte. Aus verständlichen Gründen nicht in der Lage teilzunehmen, sah sich zu seinem Bedauern auch Prof. Dr. Waldemar Schreckenberger, Hans Ryffels Nachfolger in der Vertretung der Rechtsphilosophie an der Hochschule Speyer, jetzt Staatssekretär und Chef des Bundeskanzleramtes in Bann. Beat Sitter hat die Organisation "vor Ort" übernommen und es erreicht, daß die Schweizerische Geisteswissenschaftliche Gesellschaft, deren Vorstandsmitglied Hans Ryffel über lange Jahre gewesen ist, freundlicherweise die Aufenthaltskosten der Referenten getragen hat. Die hier vorgelegte Veröffentlichung ihrer Beiträge - meistens in der Vortragsfassung, yersehen mit Anmerkungen, teils aber auch erheblich ausgebaut - ist durch das finanzielle Entgegenkommen des Verle-
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Erk Volkmar Heyen
gers sehr erleichtert worden. Allen sei ein herzlicher Dank ausgesprochen. Das Rahmenthema des Kolloquiums, das im Titel dieser Veröffentlichung anklingt und zur kritischen Auseinandersetzung einladen sollte, spielt auf eine Hauptthese Hans Ryffels an, den grundlegenden normativen Wandel des Politischen, den er im neuzeitlichen und weltweit sich vollziehenden "übergang von vorgegebenen Ordnungen zu aufgegebenen Ordnungen" sieht. Es ist damit gewissermaßen sein Lebensthema angesprochen: die Frage nach dem Maßstab menschlichen HandeIns, der ein unverfügbarer, allerdings nicht ausformulierbarer Maßstab des Richtigen ist, eines Richtigen, das auch die Ziele betrifft und sich nicht mit instrumenteller Vernunft bescheiden mag; die Frage nach der Verbindlichkeit politischer Ordnung, welche einer Theorie der Selbstbestimmung des Individuums verpflichtet ist, die sich von Recht, Staat und Politik nicht absetzt, sondern im Gegenteil - aus einer philosophischen Anthropologie des Politischen argumentierend - das moderne Individuum unverzichtbar in den Strukturen von Recht, Staat und Politik verankert. Mit der normativen Problematik, vor allem dem Verhältnis von Theorie und Praxis und der Tragweite der Maßstäbe für die Praxis, beschäftigen sich schon die ersten Veröffentlichungen. Darunter befindet sich eine Rezension in einer Studenten-Zeitschrift über Walther Burckhardts "Methode und System des Rechts" (1935), eine in der Substanz nicht unbegründete, aber formal in jugendlichem überschwang geschriebene und, wie Hans Ryffel selbst zugesteht, auch wohl arrogant zu nennende Besprechung, die er sich deshalb glaubte erlauben zu dürfen, weil Burckhardt in den "Rechtsphilosophischen Besprechungen", in denen Hans Ryffel über "Rechtspraxis, Rechtswissenschaft und Rechtsphilosophie" echolos referiert hatte, bohrenden Fragen auswich. Eine erste Ausarbeitung der politisch-philosophischen Konzeption gibt die Dissertation "Das Naturrecht. Ein Beitrag zu seiner Kritik und Rechtfertigung vom Standpunkt grundsätzlicher Philosophie" (1944), die aus einer im Jahre 1941 mit dem Lazarus-Preis der Universität Bern bedachten Arbeit hervorgegangen ist. Die Notwendigkeit der "anthropologischen Rückwendung" wurde dann in· der Antrittsvorlesung "Philosophie und Leben" (1953) als Programm formuliert, und in der Durchführung versuchte Hans Ryffel, wesentliche Ansätze seines philosophischen Lehrers in Bern, Carlo Sganzini (1881-1948), fruchtbar zu machen. Als er im Jahre 1962 von Arnold Gehlen, mit dem er seit den 50 er Jahren im Anschluß an Tagungen in Verbindung stand, überraschend gefragt wurde, ob er Interesse habe, einen - durch Gehlens Berufung nach Aachen freiwerdenden, aber neu umschriebenen - Lehrstuhl für
Vorwort
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Rechts- und Sozialphilosophie in Speyer zu übernehmen, war Hans Ryffel schon seit mehr als 20 Jahren Beamter und zugleich seit 1951 Privatdozent der Philosophie, mit besonderer Berücksichtigung der Rechtsund Staatsphilosophie, an der Historischen-Philosophischen Fakultät der Universität Bern. Zuvor hatte er Philosophie studiert, mit theoretischer Nationalökonomie und Psychologie einschließlich Pädagogik als Nebenfächern, zugleich aber im Hinblick auf einen Brotberuf Rechtswissenschaft, so daß er mit seinem juristischen Studienabschluß - dem Bernischen Staatsexamen als "Fürsprecher", d. h. dem Fähigkeitsnachweis für den Beruf des Rechtsanwalts und des Richters - im Jahre 1938 in den Dienst der eidgenössischen Verwaltung treten konnte. Bis zu seinem Amtsantritt in Speyer im Wintersemester 1962/63 war er zunächst mit Rechtsangelegenheiten des Justiz- und Polizeidepartements befaßt, sodann in der Kriegswirtschaft geschäftsführender Sekretär des Kriegs-, Industrie- und Arbeitsamtes, schließlich Beamter im Volkswirtschaftsdepartement, dort zuletzt Vizedirektor des Bundesamtes für Industrie, Gewerbe und Arbeit. Seine akademische Lehrtätigkeit an der Universität Bern, die er neben seiner hauptamtlichen Tätigkeit durchhielt, umfaßte regelmäßige Vorlesungen über Rechts- und Staatsphilosophie sowie Ethik und Seminarübungen zu philosophischen Klassikern, insbesondere Kant, Rousseau und Hegel. Die Speyerer Berufung erschien Hans Ryffel vor allem deswegen verlockend, weil er hoffen konnte, auch seine langjährige Tätigkeit als Verwaltungsbeamter fruchtbar zu machen, was dann in den Lehrveranstaltungen für die regelmäßigen Hörer (namentlich Rechtsreferendare), in der Mitwirkung an staatswissenschaftlichen Fortbildungstagungen und ab Mitte der 70er Jahre in den von der Hochschule durchgeführten Fortbildungskursen für Führungskräfte der Verwaltung (insbesondere zum Thema "Personal verwaltung und Personalführung") tatsächlich möglich war. An Fortbildungsveranstaltungen in anderen Bundesländern (Hamburg, Nordrhein-Westfalen und Bayern) hat er ebenfalls aktiv mitgewirkt. Zudem konnte er seine Verwaltungserfahrung vom Wintersemester 1965/66 bis zum Sommersemester 1967 sowie in einer schwierigen Übergangsphase im Sommersemester 1969 auch als Rektor nutzen. Während seiner Speyerer Zeit hat Hans Ryffel neben kleineren Arbeiten vor allem zwei umfangreiche Bücher vorgelegt: die "Grundprobleme der Rechts- und Staatsphilosophie. Philosophische Anthropologie des Politischen" (1969) und die "Rechtssoziologie. Eine systematische Orientierung" (1974), beide bei Luchterhand erschienen. Die "Rechtssoziologie" ist aus seinen Lehrveranstaltungen heraus entstanden. Bis zur Schaffung eines besonderen soziologischen Lehrstuhls, der im Sommersemester 1971 mit Renate Mayntz-Trier besetzt wurde und für den
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Erk Volkmar Heyen
sich Hans Ryffel auch als Rektor entschieden eingesetzt hat, gab er regelmäßig eine Einführung in die Soziologie. Als einer der ersten akademischen Lehrer begann er zudem im SS 1966 mit der Durchführung von Vorlesungen und Seminaren über Rechtssoziologie; seit WS 1968/69 fanden sie fast jedes Semester statt. Stets kam es Hans Ryffel darauf an, die philosophischen Problemdimensionen der Rechtswissenschaften und der Sozialwissenschaften herauszuarbeiten und deren Relevanz für die Praxis zu verdeutlichen. Neben regelmäßigen Veranstaltungen zu den Klassikern der Demokratietheorie finden sich auch solche über Probleme des Marxismus (zuerst SS 1965, zuletzt WS 1972/73). Den Sinn für wissenschaftsphilosophische Fragestellungen versuchte Hans Ryffel seit WS 1976/77 bis zu seinem letzten Semester überhaupt (WS 1978/79) durch eine besondere Einführung in die philosophische Anthropologie als Grundlegung der Human- und Sozialwissenschaften zu wecken. Die von ihm allenthalben aufgezeigte normativ-ethische Perspektive macht sensibel gegenüber der ins Unmenschliche rückenden Rationalität neuzeitlicher Wissenschaft, welche immer in Gefahr steht und gerade heute weithin dabei ist, die Freiheit, aus der sie nach Zielsetzung und Verfahren lebt, in ihren Aussagen und Ergebnissen selbstzerstörerisch zu verleugnen und durch ihre Auswirkungen zu erdrücken. Sie macht aber auch sensibel gegenüber fundamentalistischen Repristinationsversuchen, welche die Vernunft und mit ihr die Freiheit in Dogmatisierungen zu ersticken drohen. Hans Ryffel geht es um Erhaltung und Ausbau einer Theorie des soweit wie möglich vernünftig verantworteten Handelns. Dabei ist er sicherlich kein Avantgardist des Normativen, vielmehr gleicht er - der das Matterhorn auch an der Spitze kennt einem erfahrenen Bergführer: bemüht, möglichst viele auf den lohnenden Weg zu bringen, die Gipfelstürmer vor dem Abgrund zu warnen, den allzu früh und leicht Ermüdeten den Sinn des Weges einzuschärfen. Von solcher Hartnäckigkeit zeugen in seiner langjährigen Verwaltungspraxis so manche Auseinandersetzung mit Vorgesetzten, in seiner Wissenschaftspraxis vor allem auch die über hundert Rezensionen (darunter eine Anzahl ausführlicher Rezensionsaufsätze), welche zwar stets zuverlässig und fair informieren wollen, zugleich aber immer auch kritisch sind, auf einem engagierten Standpunkt stehen, der mit Schärfe und Beharrlichkeit artikuliert wird. Das wichtigste in aller Auseinandersetzung dürfte Hans Ryffel die gemeinsame philosophische Haltung sein, die nach den Worten seiner "Rechts- und Staatsphilosophie" in der wechselseitigen "Erziehung als Hilfe zur Selbsthilfe auf dem Weg einer offenen, sich selber bestimmenden gemeinsamen Entfaltung aller Menschen" liegt (S. 341 f.): "Wer die Chance unserer Lage für illusorisch halten und an unheilvolle Entwick-
Vorwort
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lungen glauben wollte, die dem Ende zutreiben, mag eine vielleicht eintretende WirkLichkeit in der Tat in Gedanken vorwegnehmen. Er wird sich über keine noch so schreckliche Katastrophe verwundern. Er wird aber auch nichts Herzhaftes unternehmen, weil für ihn das Ende feststeht. Da aber die Zukunft verschlossen bleibt, und wir alle andererseits die Zukunft durch Wort und Tat, auch durch Unterlassung, stets mitbestimmen, sind die Propheten des Unheils vielleicht die Totengräber des Menschen der Zukunft." Speyer, im April 1984
Erk Volkmar Heyen
Geschichte und Philosophie
VON DER ALTEN DEUTSCHEN FREIHEIT Zur verfassungsgeschichtlichen Bedeutung der Tacitus-Rezeption Von Dietmar Willoweit, Würzburg 1. Einleitung
Unter dem Titel "De libertate Germanica, vulgo Von der Alten Teutschen Freyheit" publizierte im Jahre 1729 ein sonst wenig bekannter mecklenburgischer Baron namens Bernhard von Plessen eine "commentatio historico-politico-juridica", von welcher er behauptete, sie sei in einer Akademie zu "Teutoburg" ohne Präsiden öffentlich erörtert worden!. Die Symmetrie zwischen dem lateinischen und dem deutschen Teil des Titels ist äußerlich geringfügig, aber in charakteristischer Weise gestört. Dem Begriff der "libertas germanica" entspricht ein volkssprachlicher Topos, den der Verfasser offenbar als bekannt voraussetzen darf: über die "alte" Freiheit der Deutschen will er sich äußern - was jedenfalls zu seiner Zeit nur besagen kann: eine in der Tiefe großer historischer Räume aufzusuchende ursprüngliche Freiheit soll das Thema sein. Denn Plessen schreibt am Morgen der Aufklärung, als die Freiheitsidee des Naturrechts politische Kraft gewinnt und der Leser unter der "alten" Freiheit eines ganzen Volkes kaum etwas anderes verstehen konnte als dessen "status naturalis". Daß ein solcher Autor, der trotz solidem Handwerk doch den Epigonen seines Faches zuzurechnen ist, in der Tat unter dem Einfluß naturrechtlichen Denkens steht - worüber noch zu reden sein wird - überrascht nicht. Weniger selbstverständlich ist aber die andere, die historische Komponente seines Werkes. Sie wirft ein Schlaglicht auf eine bisher wenig beachtete Voraussetzung naturrechtlichen Denkens. Der Freiheitsgedanke der frühen Neuzeit, welcher schließlich zur Fixierung von Freiheitsrechten führt, ist nicht nur Idee, sondern lebt von konkreten geschichtlichen Bildern. Der historische Stoff, den diese Freiheitsanschauung vor Augen hat, ist verschiedenartig und nicht überall derselbe. Der Erfahrungshorizont der Kolonialmächte war ein anderer als im Heiligen Römischen Reiche. Wenn hier in litera! "Teutoburg" ließ sich nirgendwo ermitteln. Als Erscheinungsort werden Halle und Magdeburg genannt. Angeblich handelt es sich bereits um eine "editio revisa, correcta multisque in locis aucta" . Eine Vorauflage ließ sich jedoch nicht feststellen. Zum Inhalt des Werkes s. unter 6. 2 Speyer 94
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Dietmar Willoweit
rischen Erzeugnissen historischer, politischer oder juristischer Provenienz zwischen Reformation und Aufklärung von Freiheit die Rede ist, steht meist - ausdrücklich oder unausgesprochen - P. Cornelius Tacitus Pate, dessen Schrift "De origine et situ Germanorum" das Freiheitsdenken in spezifische, national und rechtlich geprägte Bahnen lenkte. Das im Mittelalter in Vergessenheit geratene, erstmals 1470 in Venedig, dann 1473 in Nürnberg gedruckte Werk wurde 1496 durch eine "Germania" betitelte, kirchenpolitische Streitschrift des Enea Silvio Piccolomini in Deutschland rasch bekannt2 • Dieser Umstand und die zeitliche Koinzidenz mit der reformatorischen, gegen den römischen Universalismus gerichteten Bewegung mögen wesentlich dazu beigetragen haben, daß der Bericht des Tacitus nicht nur antiquarische Interessen beflügelte, sondern von Anfang an auch nationales Denken stimulierte und einer einschlägigen Publizistik als Argumentationsarsenal diente. Erinnert sei nur an Jakob Wimpfelings elsässische Probleme betreffende "Germania" und auch an Ulrich von Huttens "Arminius"3. Neben diesen bekannten, relativ gut überschaubaren Ausstrahlungen der antiken Schrift stehen aber jene Langzeitwirkungen im Raum des verfassungspolitischen und staatsrechtlichen Denkens, welche noch einen Plessen erreichen und wenig später Montesquieu zu der Bemerkung veranlassen, aus Tacitus ließe sich ersehen, daß die Engländer die Idee ihrer Regierung von den Germanen bezogen haben4 : "Ce beau systeme a ete trouve dans les bois." über die literar- und geistesgeschichtlichen Stationen, welche das Staatsdenken in der Auseinandersetzung mit der "Germania" des Tacitus von der Textauffindung bis zur Aufklärung durchlaufen hat, wissen wir bisher wenig5. Die folgende Untersuchung setzt sich ein beschränk2 Zur Entdeckungs- und Rezeptionsgeschichte der "Germania" im allgemeinen - unter einem ärgerlich irreführenden Titel - Ludwig Krapf, Germanenmythus und Reichsideologie, 1979, S. 11 ff. m. w. Nachw.; ferner Hans Rupprich, in: Helmut de Boor / Richard Newald (Hrsg.), Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart, Bd. IV /1. Teil, 1970, S. 661 f. u. passim. 3 Jakob Wimpfeling, Germania ad rempublicam Argentinensem, 1501, und Thomas Murner, Ad rempublicam Argentinam Germania nova, 1502, Ed. Straßburg 1874; Ulrich von Hutten, Arminius, 1529, in seinen Opera, Ed. E. Böcking, Bd. IV, Leipzig 1860, S. 407 ff.; Richard Newald, Vier Gestalten aus dem Zeitalter des Humanismus, in: ders., Probleme und Gestalten des deutschen Humanismus, 1963, S. 151 ff.; Emir v. Borries, Wimpfeling und Murner im Kampf um die ältere Geschichte des Elsass, 1926. Grundlegend Paul Joachimsen, Geschichtsauffassung und Geschichtsschreibung in Deutschland unter dem Einfluß des Humanismus, 1910, S. 107 ff.; Krapf (FN 2), S. 102 ff. 4 Charles de Montesquieu, De l'esprit des loix, 5. Buch, 6. Kap.; benutzte Ausgabe: Genf 1749, Val. I, p.259. 5 Insbesondere meint der im Schrifttum geläufige Begriff des "Tacitismus" eine andere, aus den Annalen und Historien desselben Autors abgeleitete,
Von der alten deutschen Freiheit
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tes Ziel. Sie konzentriert sich auf die Kommentare und Schriften, welche direkt der "Germania" des Tacitus gewidmet wurden, soweit sie nicht nur aus philosophischem oder geographischem Interesse entstanden sind. Außerhalb unserer Betrachtung bleiben anderen Themen gewidmete Arbeiten aus dem weiten Spektrum der staatstheoretischen und juristischen Literatur, mögen sie auch auf Tacitus Bezug nehmen.
2. Die wichtigsten Texte und ihre Übersetzungen im frühen 16. Jahrhundert Tacitus' Äußerungen über die innere politische Ordnung der germanischen Stämme finden sich verstreut insbesondere in den Kapiteln 7, 11, 12 und 15, neben welchen ergänzend auch die Betonung der unversehrt gebliebenen äußeren Freiheit in Kap. 37 Beachtung verdient6 • Die wichtigsten Sätze lauten: Kap. 7: "Reges ex nobilitate, duces ex virtute sumunt. Nec regibus infinita aut libera potestas, et duces exemplo potius quarn imperio ... praesunt." Kap. 11: "De minoribus rebus principes consultant, de maioribus omnes, ita tarnen, ut ea quoque quorum penes plebem arbitrium est, apud principes praetractentur." Kap. 12: "Eliguntur in iisdem conciliis principes, qui iura per pagos vicosque reddunt; centeni singulis ex plebe comites consilium simul et auctoritas adsunt." Kap. 15: "Mos est civitatibus ultro ac viritim conferre principibus vel armentorum vel frugum, quod pro honore acceptum etiam necessitatibus subvenit." Kap. 37: "Non 8amnis, non Poeni, non Hispaniae Galliaeve, ne Parthi quidem saepius admonuere; quippe regno Arsacis acrior est Germanorum libertas." Die älteste bekannte Übersetzung der "Germania" stammt von dem - mit Melanchthon bekannten - reformatorischen Volksprediger und Verfasser sozial-utopischer Flugschriften Johann Eberlin7 , der sie 1526 dem Macchiavellismus verwandte Erscheinung, vgl. Else-Lilly Etter, Tacitus in der Zeitgeschichte des 16. und 17. Jahrhunderts, 1966; Gerhard Oestreich, Justus Lipsius als Universal gelehrter zwischen Renaissance und Barock, in: Th. H. Lunsingh Scheurleer / G. H. M. Posthumus Meyjes (Hrsg.), Leiden University in the 8eventeenth Century, Leiden 1975, 8.177 ff., 181 u. passim; zuletzt Michael Stolleis, Arcana imperii und Ratio status, 1980, 8. 12 ff. m. w. Nachw. 6 De origine et situ Germanorum liber, Ed. Erich Koestermann, 1970 (P. Cornelii Taciti libri qui supersunt II, 2 = Bibliotheca scriptorum Graecorum et Romanorum Teubneriana). 7 Eberlin (ca. 1470-1533), aus Günzburg gebürtig. 1489 "magister artium" in Basel, Franziskaner, 1522 in Wittenberg, 1523 reformatorischer Prediger in Basel, Rheinfelden, Ulm. Versucht im Bauernkrieg eine vermittelnde Position
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Dietmar Willoweit
seinem Herrn, dem Grafen Georg II. von Wertheim, widmete. Da diese Arbeit nicht im Druck verbreitet wurde8, kann sie in der Rezeptionsgeschichte des tacitaeischen Werkes keine große Rolle gespielt haben. Auch ist sie nicht vollständig. Der einschlägige Passus aus Kap. 15 fehlt ganz. Im übrigen aber darf sie insofern unser Interesse finden, als sie Aufschluß über den Sprachhorizont gewährt, in welchem die politisch brisanten Passagen des Tacitus verstanden wurden. In Kap. 7 heißt es bei Eberlin9 : "Die konig haben nit ain ungemessen freyen gwalt." Und zu Kap. 11 findet Eberlin folgende, teilweise sinnverfälschende Übersetzung 10 : "Die fursten ratschlagend von den klainern sachen, aber die gantz gmain von den grössern sachen; also doch, das die gmain ire urtail und bschlüsse vor den fursten handlen." Eberlin versucht also, die im Tacitustext unbezweifelbare Mitwirkung der Fürsten an den Gemeindebeschlüssen in den Hintergrund zu rücken. Die angesichts der unhaltbaren Übersetzung schwer zu beurteilende Frage, ob Eberlin sein "vor" räumlich oder zeitlich verstanden wissen sollte, dürfte eher im ersteren Sinne zu entscheiden sein. Lediglich sprachliches Unvermögen werden wir bei dem studierten, auch zur Zeit des Bauernkrieges umtriebigen Manne kaum annehmen dürfen. Die Geschichte der verfassungspolitischen Aktualisierung und Verwertung der "Germania" beginnt also recht früh. Um so bemerkenswerter, daß Eberlin noch nicht auf den später beliebten Gedanken verfällt, den Text in Kap. 37 als Ausdruck eines allgemeinen, den Germanen eigentümlichen Freiheitsgedankens zu interpretieren. In seiner Übersetzung hat "libertas" keine unmittelbare Entsprechungll . Ähnlichen Geistes wie Eberlin war auch der eigenwillig schriftstellernde Sebastian Franck l2 • Er gab 1531 eine aus vielerlei Quellen gespeizu beziehen. 1525 als Prediger von Graf Georg 11. nach Wertheim gerufen. Vgl. ADB, Bd. 5, S. 575; NDB, Bd. 4, S. 247. 8 Sie wurde herausgegeben von M. Radlkajer, Die älteste Verdeutschung der Germania des Tacitus durch Johann Eberlin (1526), in: Blätter für das Bayer. Gymnasialschulwesen, 23 (1857), S. 1 ff. 9 Bei Radlkajer (FN 8), S.5. 10 Bei Radlkajer (FN 8), S.6. Die Zeichensetzung habe ich hier und in den Zitaten anderer Autoren zuweilen vorsichtig modernisiert. 11 Bei Radlkajer (FN 8), S. 14. 12 Franck (1499-1542/43) wurde in Donauwörth geboren. Theologische Studien seit 1515 in 1ngolstadt, seit 1517 als Angehöriger des Dominikanerkollegs in Heidelberg. 1526 reformatorisch tätig werdend, stand Franck jedoch bald, von den Täufern beeinflußt, als Vertreter eines spiritualistischen Kirchenverständnisses in Opposition zu Luther und Zwingli. Lebt 1534/39 in Ulm, seitdem in Basel als Verfasser geistlicher und historischer Schriften und als Drucker. Vgl. ADB, Bd. 7, S. 214 ff.; NDB, Bd. 5, S. 320 f.
Von der alten deutschen Freiheit
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ste Chronik in den Druck, die auch wesentliche Teile der "Germania" paraphrasierend übersetzt. Darin wird die Stellung des Fürsten in Kap. 11 noch stärker als bei Eberlin abgeschwächt13 : "Gemeyne händel nimpt ihr Fürst für die handt, sonder treffenlich händel gelangen an das landtvolck und ir urtheyl, wirt nachmals an Fürsten bracht." Zu Kap. 7 der Germania fällt Franck denn auch die folgende kühne Behauptung ein l4 : "... der könig gewalt ist nit frei und volkomen, sonder muß alles mit des lands stimm, wissen und willen handeln ..." Diese Formel baut einige Jahre später ein anderer Chronist lS weiter aus l6 : "Tantumque abest ut regibus liceat tyranidem exercere, ut etiam nihil audeant constituere in rebus quoque exigui momenti, sed omnia populo sciente et consentiente agere coguntur." Der offenkundige Widerspruch zu Kap. 11 des Tacitustextes stört den Autor nicht. Der Bericht über die germanischen Volksversammlungen scheint manchem nur noch vom Hörensagen bekannt und in jener Zeit schwärmerischer Bewegungen die publizistische Phantasie beflügelt zu haben. In den Kreisen ernsthaft bemühter Humanisten ging es nüchterner zu. Die erste, 1535, im Druck verbreitete übersetzung der "Germania" stammte von einem Angehörigen des Melanchthonkreises, Jakob Micyllus, eigentlich Molsheym l7 • Der Autor begründet sein Unternehmen in der Vorrede einerseits mit der verbreiteten Klage über den Mangel an deutschen historiographischen Werken, andererseits mit den ruhmwürdigen Taten der Altvorderen, die ihre Freiheit stets bewahrt hätten l8 : 13 Sebastian Franck, Germaniae Chronicon, 1531, fol. UI/v. Ausführlich zu diesem Werk Friedrich GottheIt, Das deutsche Altertum in den Anschauungen des 16. und 17. Jahrhunderts, 1900, S. 16 ff. 14 Franck (FN 13), fol. VU/r. IS Es handelt sich um den bei Bischofszell/Thurgau geborenen Huldericus Mutius, von welchem einstweilen nur bekannt ist, daß er 1539, als seine Chronik erschien, Professor in Basel war. Vgl. ADB, Bd. 23, S. 113. 16 Huldericus Mutius, De Germanorum prima origine, moribus, institutis legibus ... libri Chronici, Basel 1539, p. 9. 17 Jakobus Micyllus (Molsheim, auch Moltzer genannt, 1503-1558), aus Straßburg gebürtig. Nach klassischen und historischen Studien und einer Reise nach Wittenberg seit 1524 und erneut 1537 Schulleiter in Frankfurt am Main, dazwischen 1533 und endgültig seit 1547 akademischer Lehrer für klassische Sprachen an der Heidelberger Universität, dort 1556 Rektor. Veröffentlichungen zur griechischen Philologie. Vgl. ADB, Bd. 21, S. 704 ff.; Etter (FN 5),
S.151. 18 Jakobus Micyllus, Der Römische Keyser Historien von dem abgang des
Augusti an biß auff Titum und Vespasianum, von jar zu jar, durch Cornelium Tacitum beschriben ... !tem das Büchlein von der alten Teutschen brauch
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"Es ist nun die freiheyt und das gemeyn regiment der Teutschen eyn solch lange zeit gestanden und lenger dann anderthalb tausent jar erhalten worden ..... "Steiffe handthaber der freyheit" seien die alten Deutschen gewesen l9 . Besonders Arminius habe "die gemeyn freiheyt der Teutschen verthädigt und beschirmbt"20, daher solle man "irer alten tugeten und männlichen thatten lernen und erkennen, und derselben exempel nach ire alte und ererbte freiheyten zu erhalten und zu handthaben sich selber erinnern und vermanen"21. Mit diesem pädagogischen Ziel vor Augen muß sich der Übersetzer dann auch nicht stets an den Wortlaut halten. Vielmehr hat er "hie etwas darzu gesatzt, dort etwas abgebrochen"21. Die Freiheit, welche Micyllus dabei seinen Lesern vor Augen stellen will, hat äußere und innere Aspekte zugleich. Sie meint das Freisein von fremder Herrschaft und doch zugleich den Bestand der ererbten Freiheiten, welche der zeitgenössische Leser nur als Rechte begreifen konnte. Die hier interessierenden Texte lauten auf Deutsch: Kap. 7. "Auch haben ire könig nit aller ding freien gewalt und macht, daß sie thun möchten was sie wollten." 23 Kap 11. "Was nun kleyne und geringe händel seind, daselbst von rathschlagen und tagen alleyn die fürsten mit eynander. Was aber grosse und wichtige sachen seind, da kommen sie all zusammen: doch daß dieselben sachen, über welche die gemeynde auch zu richten und zu sprechen hat, zuletst und entlichen bei der fürsten außgericht und außgetragen werden."24 Micyllus fügt in Kap. 7 einen Halbsatz hinzu, der nicht eigentlich interpretiert - weil der Zusammenhang von freiem Handeln und Willensfreiheit antiker Tradition entspricht -, aber doch in handgreiflicher Weise verdeutlicht, was die alten deutschen Könige jedenfalls nicht durften: tun, was ihnen beliebt. Später wird man eine solche Herrschaft despotisch nennen. Sie ist das Gegenbild richtig verstandener fürstlicher Obrigkeit. Kap. 7 bestätigt also die bestehenden politischen Verhältnisse. Daher verwundert es nicht, daß Micyllus auch im übrigen den Tacitustext mit der politischen Ordnung seiner Zeit tunlichst zu harmonisieren versucht. Ohne Schwierigkeiten gelang ihm dies an jenem neurund leben, auch durch denselben Cornelium Tacitum beschrieben, Mainz 1535, Vorrede fol. 3/v. Weitere übersetzungen sind nicht bekannt, vgl. Franz Jose! Worstbrock, Deutsche Antikenrezeption 1450-1550, Teil I, 1976, S. 147 f. 19 Micyllus (FN 18), Vorrede fol. 4/v. 20 Micyllus (FN 18), Vorrede fol. 5/r. 21 Micyllus (FN 18), Vorrede fol. 4/v. 21 Micyllus (FN 18), Vorrede fol. 5/r. 23 Micyllus (FN 18), fol. 440/r. 24 Micyllus (FN 18), fol. 441/r.
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algischen Punkte, welcher Eberlin Gelegenheit zu einer populistischen Umdeutung gab. Die wichtigen, der ganzen Gemeinde zur Beratung überlassenen Angelegenheiten werden nach Micyllus letztlich doch von den Fürsten entschieden. Diesen Standpunkt konnte Micyllus - wie andere nach ihm - mit gutem Gewissen einnehmen, weil in den frühen lateinischen Ausgaben der "Germania" der erste Absatz des 11. Kapitels nicht mit "praetractentur", sondern durch "pertractentur" beschlossen wird2S • Verständnisprobleme bereitete dagegen die Stelle in Kap. 15, wo davon die Rede ist, daß die Fürsten von den Ihrigen Vieh und Getreide auf freiwilliger Basis erhalten. "Von inen selber, und von mann zu mann" übersetzt Micyllus sinngemäß richtig. Aber er bemerkt in margine, nach der Auffassung etlicher sei es Brauch gewesen, "daz die stett und länder iärlich dem fürsten eyn anzal pferde, getreid und vihes zu geschoß oder steuer geben"26. Staatliche Verhältnisse ohne Steuerpflicht sind im 16. Jahrhundert nicht mehr denkbar. Micyllus sieht keinen Anlaß, aus Kap. 15 Rückschlüsse auf freiheitliche Strukturen der Verfassungsordnung zu ziehen. In Kap. 37 wird "libertas", anders als bei Eberlin, aber in übereinstimmung mit der eigenen Vorrede, wörtlich übersetzt.
3. "Germania"-Kommentare des Melanchthonkreises Die bei den ersten, hier einschlägigen17 Kommentatoren der "Germania", der Schwabe Andreas AlthameTJB und der Preuße JOdOCllS Willich29 , gehörten derselben Generation an wie der übersetzer Micyllus. 2S Folgende Drucke wurden geprüft: Cornelii Taciti historie auguste nec non de situ, moribus et populis germanie libellus, Venedig 1497; P. Cornelii Taciti libri quinque noviter inventi atque cum reliquis eius operibus editi, per Philippum Reroaldum, Rom 1515; Cornelii Taciti De situ, moribus et populis Germanie, Leipzig 1509; P. Cornelii Taciti De moribus et populis Germaniae libellus, Basel 1519 - alle ohne Foliierung. 26 Micyllus (FN 18), fol. 442/v. 17 Grundlegend zur Geschichte der Tacitus-Literatur, die sich zunächst überwiegend der Geographie und Stammesgeschichte Germaniens zuwendet, Joachimsen (FN 3), S. 127 ff.; ebd. auch zu dem ersten, für uns unergiebigen "Germania"-Kommentar des Beatus Rhenanus, Rerum Germanicarum libri tres, Basel 1531. 28 Althamer (um 1500-1539), aus Brenz bei Heidenheim gebürtig. Nach vorwiegend historischen Studien und einem Aufenthalt in Wittenberg 1527 als lutherischer Pfarrer in Nürnberg tätig. Im Jahr darauf in gleicher Funktion in Ansbach, wo er sich intensiv dem Aufbau des evangelischen Kirchenwesens widmete. Verfasser theologischer Schriften. Vgl. ADB, Bd.l, S. 365 f.; NDB, Bd. 1, S. 219. 29 Willich (1501-1552), in Rössel (Ermland) geboren, 1516 an der Universität Frankfurt/Oder immatrikuliert. Seit 1522 Magister für klassische Philologie
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Und nicht anders als dieser waren auch sie nach Wittenberg zu Melanchthon gepilgert, der wesentliche Anregungen zu einer inhaltlichen Auseinandersetzung mit der "Germania" gegeben haben muß3O. Der Druck beider Werke liegt jedoch zwei Jahrzehnte auseinander. Während Althamers Kommentar nach klassischen Studien schon 1521 fertiggestellt ist und nach wohl mannigfaltigen Ergänzungen 1529, doch noch als Jugendwerk, erscheinf1, publiziert der als "Polyhistor" zu bezeichnende Willich seine Kommentierung erst in der Lebensmitte eines reichen Gelehrtendaseins32 • Jurist war weder der eine noch der andere. Wenn sich daher trotzdem bei Willich im Unterschied zu Althamer ausgeprägte verfassungsgeschichtliche und -politische Intentionen und juristische Kategorien feststellen lassen, so mag dies an der unterschiedlichen Lebenssituation der beiden Autoren liegen. Wir dürfen aber auch vermuten, daß der gegen die Jahrhundertmitte schreibende Willich, wenn auch Historiker, doch von der zunehmenden Verrechtlichung der verfassungspolitischen Verhältnisse im Reiche profitieren konnte. Obwohl Althamers Interesse an den verfassungspolitischen Implikationen des Tacitus-Textes noch wenig entwickelt ist, findet sich in seiner Kommentierung schon die Erkenntnis, daß der Beschränkung freier Herrschaftsgewalt im Sinne von Kap. 7 ein Freiheitsgewinn auf seiten des Volkes entsprichf3: "Nec liberam ac infinitarn potestatem regibus concedunt, ut suo arbitrio imperitent, ne avitae libertatis dignitatem, cuius admodum studiosi sunt, amittant,et magis tyrannos quam reges sustinere cogantur."
Freiheit wird hier also durchaus "innenpolitisch" begriffen. und Rhetorik, daneben Studium der Medizin. Etwa 1540 Inhaber einer medizinischen Professur; persönliche Beziehungen zu Melanchthon; in kurfürstlichen Missionen verwendet. Verfasser medizinischer, theologischer und klassisch-philologischer Werke. Vgl. ADB, Bd.43, S. 278 ff. 30 Denn auch der dritte hier zu berücksichtigende Kommentator aus dem 16. Jahrhundert, Beuther, ist ein Melanchthonschüler (s. u.). Zu Melanchthons Geschichtsdenken und seiner Bedeutung für den Humanismus in Deutschland Wilhelm Maurer, Die geschichtliche Wurzel von Melanchthons Traditionsverständnis, in: Zur Auferbauung des Leibes Christi. Festgabe für Peter Brunner, 1965, S. 166 ff.; Ernst Wolf, Philipp Melanchthon. Evangelischer Humanismus, 1961 (Göttinger Universitätsreden, H.30), S. 13 ff.; Joachim Rogge, Melanchthon im Kreise der Humanisten, in: Theologia Viatorum, Bd. VII (Jb. der Kirchlichen Hochschule Berlin 1959/60), S. 130 ff. 31 Joachimsen (FN 27), S. 146 ff.; Gotthelf (FN 13), S. 20 ff. Mir lag die folgende Ausgabe vor: Andreas AZthamer, Commentaria Germaniae [I] in P. Cornelii Taciti libellum de situ, moribus et populis Germanorum, Nürnberg 1536. Auch in Schardius (FN 32), Tom. I enthalten. 32 Jodocus WiZlich (VuiZZichius), In Cornelii Taciti equitis Romani Germaniam commentaria, Frankfurt/Oder 1551. Benutzt habe ich den Abdruck bei Simon Schardius, Historicum opus, Basel 1574, Tom. I, p. 73 sqq. 33 AZthamer (FN 31), p. 108.
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In erster Linie ist es aber die ausdrückliche Erwähnung der "Germanorum libertas" in Kap. 37, welche Althamer zu einem Lobgesang auf den Freiheitswillen der Germanen gegenüber der von außen drohenden Knechtschaft veranlaßt. Äußere und innere Freiheit sind für Althamer nur zwei Seiten derselben Medaille. Von Fremdherrschaft freibleiben heißt zugleich, die eigene, freiheitliche Ordnung bewahren. Der ausführliche Text zu Kap. 37, aus welchem hier nur eine kurze, charakteristische Passage herausgegriffen wird, schließt mit einem überraschenden Blick auf die Verfassungswirklichkeit des Heiligen Römischen Reiches34 : "Nulla gens unquam tenacius coluit libertatem: nemo toties pro hac asserenda cum Romanis conflixit, tot bella sustinuit, tot cl ades accepit aut intulit, toties servitutem repulit, iugum excussit, et se in pristinam libertatem asseruit ... Et sunt Germani etiamnum libertatis observantissimi. Habent liberum imperium, liberas civitates, veteris libertatis argurnenta, nec patiuntur alienum imperium." Die Einheit der sowohl äußere wie innere Aspekte umfassenden Freiheitsidee wird schließlich noch unterstrichen durch das in diesem Zusammenhang auch anzutreffende, auf Arminius bezogene Tacituszitat "liberator haud dubie Germaniae"3S, welches der Nürnberger Druck des Werkes durch die Randbemerkung ergänzt: "Arminius Germanorum Brutus"36. Gegenüber den eher hingeworfenen Bemerkungen Althamers erwekken die Ausführungen Willichs zu Kap. 7 der "Germania" fast den Eindruck eines kleinen Traktats. Der Kommentator bemüht sich um den Nachweis, daß die Könige bei den alten Völkern und nicht anders daher auch bei den Germanen ihrer Tugenden wegen, nicht aufgrund erbrechtlicher Regelungen zu dem höchsten Amt gelangt seien. Als Beispiele nennt er Saul und David, Romulus und Remus, ferner den BabyIonierkönig Nimrod, "qui ocu'tOltpoc'topo~ .•. , id est, plenam et summam potestatem primus affectabat"37. Beiläufig sei darauf hingewiesen, daß dieser Text die Brückenfunktion der humanistischen Literatur, welche von der Anschauung der AnAlthamer (FN 31), S. 246 f. Annales 11, 88, Ed. Erich Koestermann, 1971, Tom. I (P. Cornelii Taciti libri qui supersunt = Bibliotheca scriptorum Graecorum et Romanorum Teubneriana), p. 87. 36 Die Herkunft dieser gelegentlich auch später aufgegriffenen Parömie konnte ich nicht aufklären. Am Sinn des Zitates im vorliegenden Zusammenhang ändert sich freilich nichts, gleichviel, ob es der antiken Literatur oder der des Humanismus entnommen ist. 37 Willich (FN 32), p. 98 = Kapitel XI des Kommentars "De Germanorum regibus, ducibus, eorumque potestate". 34
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tike zum politischen Denken und zum Staatsrecht des 17. Jahrhunderts führt, bezeugt. Denn die antiken Begriffe der "summa potestas" und der Autokratie werden im späten 16. und frühen 17. Jahrhundert zu unverzichtbaren Kürzeln der europäischen Staatstheorie, etwa bei J ean Bodin und Hugo Grotius, aber auch bei den frühen Vertretern des deutschen "Jus publicum", etwa Dominicus Arumaeus und Andreas Knichen 38 • Für unseren Zusammenhang wichtiger ist Willichs Ableitung der Herrschaftsbeschränkung aus der gleichsam amtsweisen übertragung der Königswürde39 : "Et reges Germani ex officio magis quam ex cognatione nobiles erant. Deinde iisdem visum est, ut reges non essent IXU1:0XplX1:0pe, ••• , veluti quibus esset merum imperium, qui essent sui iuris suaeque potestatis et arbitrii absque controversia, id consilii ad vitandam tyrannidem et insolentiam, quae in regia republica frequentior esse consuevit, prudentissime intendebant ... [Duces] quoque non sui iuris et arbitrii erant, sed regis iussa exequebantur." Angesichts der in den deutschen Staaten längst beobachteten Erbmonarchie müßte es nun Willich eigentlich schwerfallen, die Begrenztheit der obrigkeitlichen Gewalt in seiner Gegenwart zu behaupten. Er findet indessen Spuren der alten Freiheit in den ständestaatlichen Strukturen, welche bei Tacitus in Kap. 11 und 12 vorgebildet scheinen. Gericht und Rat, besonders der ausdrücklich genannten "ritterbanck", erweisl!ll, mit welcher Zähigkeit die Freiheit bewahrt wurde40 • Anders ist es natürlich um die Steuerleistungen bestellt, welche seit langem nicht mehr freiwillig erbracht werden. Hier kann der Bericht des Tacitus nicht alls Beweis für wünschbare Rechtsverhältnisse dienen. Er legitimiert den Kommentator jedoch zu einer bitteren, sarkastischen Kritik an der Steuerpraxis seiner Zeit41 : "Ho die multae superindictiones nonnullis principibus non satisfaciunt cum suarum rerum negligentissimi sint ... cum harpiis insatiabilibus multa donent, quasi hoc modo liberalissimi essent. Quare fit, ut subditi omnino exugantur, et utrobique ceu pertusa dolia reliqua esse videantur." Zu Kap. 37 begnügt sich Willich - quellengemäß - mit einer kriegsgeschichtlichen Ausdeutung der "libertas Germanorum". Im letzten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts erscheint ein weiterer Kommentar zur "Germania", der in Aufbau und Inhalt etwa der Konzeption Willichs folgt. Verfasser ist der Historiker und Melanchthon38 Vgl. dazu Helmut Quaritsch, Staat und Souveränität, 1970, und Dietmar WiZloweit, Rechtsgrundlagen der Territorialgewalt, 1975, S. 44 f., 138 ff., 146 f. 39 WiZlich (FN 32), p. 98 sq. 40 WiZZich (FN 32), p. 106 = Kapitel XVI des Kommentars "De consultationibus"; vgl. auch p. 108 = Kapitel XVIII des Kommentars "De principum et
comitum electione". 41 WilZich (FN 32), p. 113 tatum in principes".
=
Kap. XXI des Kommentars "De liberalitate civi-
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schüler Michael Beuther42 , Herausgeber dessen Sohn Johann Michael, der den Text durch Randbemerkungen ergänzt. Worum es dem Autor bei der Beschäftigung mit dem antiken Werk geht, verrät schon die Bemerkung auf dem Titelblatt, der Kommentar sei "nostris temporibus accomodati"43. Die Kommentierung zu Kap. 7 liegt auf der Linie Willichs, gewinnt jedoch zu einer Zeit, da Bodins "Les six livres de la Republique" schon bekannt waren44 , an Präzision45 : "Veteres Germanorum populi suos ad gerenda bella eonstituebant reges ... Ha tarnen, ut illis non infinita, absoluta et libera, sed eertis quibusdam limitibus cireumseripta et eireumsepta imperandi potestas eommitteretur. Atque hine regiam apud illos auetoritatem neque perpetuam fuisse, neque in haeredes, nisi de unanimi proeerum totius gentis eonsensu, transire aut derivari potuisse, satis evidenter apparet ..." Ähnlich wie Willich führt auch Beuther die Institutionen des Ständestaates auf germanische Ursprünge zurück46 : "Ac videtur sane haee a maioribus profeeta eonsuetudo, tarn in universalibus Imperii Germanici, quam in provinciarum singularum publiee indictis eonventibus, ne nune quidem penitus exoleisset, forma vero eongressus et aetionis modus, libertatis non obseuram imaginem aeque prae se tulit ..." Als Sinnbild der alten Freiheit, nicht etwa als Bollwerk feudaler Interessen, erscheinen hier die ständischen Rechte. Daß Beuther dabei, nicht anders als Willich auch, an einen direkten historischen Zusammenhang mit den von Tacitus geschilderten Volksversammlungen denkt, läßt sich noch am Beispiel einer anderen Institution belegen. Die in Kap. 12 genannten "principes" und "comites" verstehen sowohl Willich47 wie auch Beuther48 als direkte Vorgänger der zu ihrer Zeit überall tätigen Vögte, Schultheißen und sonstigen lokalen Richter. 42 Beuther (1522-1587), geboren in Karlstadt/Main, Studium in Marburg und Wittenberg (1539/44) mit engen persönlichen Beziehungen zu Melanchthon; 1542 Magister der Artistenfakultät, 1544 Professor für Geschichte in Greifswald; 1548/58 Rat des Würzburger Bischofs Melchior Zobel, währenddessen in Gesandtschaften verwendet und auf Reisen zwecks juristischer und medizinischer Studien in Poitiers und Padua; 1554 Dr. jur. utr. in Ferrara; 1559 Kirchenrat und Bibliothekar bei Kurfürst Ottheinrich in Heidelberg; 1565 Professor für Geschichte in Straßburg. Verfasser historischer Werke. Vgl. ADB, Bd.2, S. 589 ff.; NDB, Bd. 2, S. 202. 43 Michael Beuther, In Publ. Corno Taciti ... de situ, moribus et populis Germanorum libellum commentarii, Straßburg 1594; Gotthelf (FN 13), S. 34 ff. 44 Das Hauptwerk Bodins erschien erstmals 1576 in französischer, 1586 in lateinischer Sprache. 45 Beuther (FN 43), p.85 sqq. = Kapitel XX des Kommentars "De regibus et ducibus militiae Germanorum". 46 Zu Kap. 11 der Germania Beuther (FN 43), p. 103 sq. = Kapitel XXV des Kommentars "De comitiis, sive publicis conventibus et eonsultationibus Germanorum". 47 Willich (FN 32), p. 108 = Kapitel "De principum et comitum electione".
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Ausführlich setzt sich dann Beuther mit der schwer begreiflichen Vorstellung auseinander, bei den Germanen seien Steuern und Abgaben nur freiwillig geleistet worden. Das Freiheitsbewußtsein der alten Volksstämme dient als Erklärungsmuster49 : ". .. populi libertatis a maioribus acceptae studiodissimi ac tenacissimi ..." Willichs harter Klage über die Aussaugung der Untertanen hat sich Beuther senior nicht angeschlossen. Sein Sohn fügte daher die Randbemerkung hinzu50 : "Hodie non solemus ultro conferre principibus de nostris facultatibus; sed saepe fit, ut principes etiam valde importune extorqueant a subditis plus quam vel possint vel debeant." Zu Kap. 37 des Tacitustextes findet sich bei Beuther wie schon bei Willich nichts von Belang. Angesichts der häufigen Hinweise auf die Freiheit der Deutschen wird man daraus kaum schließen können, daß sich die "libertas Germanorum" topologisch noch nicht genügend verfestigt habe. Vielmehr dürften die Dinge umgekehrt liegen: daß es der von Tacitus hervorgehobene freiheitliche Sinn der Germanen ist, welcher gegenüber römischen Verknechtungsversuchen die Oberhand behielt, schien evident. Dies können wir nicht zuletzt aus der Art und Weise schließen, wie die Freiheit der Deutschen bei anderen Humanisten, welche sich weniger systematisch mit dem Thema auseinandersetzten, akzentuiert wird. Es geht diesen Autoren regelmäßig darum, die ursprüngliche und fortdauernde Freiheit Deutschlands von jeder Fremdherrschaft zu beweisen51 • Manche Humanisten, unter ihnen Melanchthon und Justus Lipsius, enthalten sich in ihren Kommentaren zur "Germania" jedoch aller außen- und verfassungspolitischen Erwägungen52 • 48 Beuther (FN 43), p. 106 sqq. = Kapitel XXVII des Kommentars "De principum et magistratuum apud Germanos electione". 49 Beuther (FN 43), p. 115 = Kapitel XXXI des Kommentars "De munificentia erga principes et munerum aliunde acquirendorum studio". 50 Beuther (FN 43), p. 115, bei Kapitel XXXI des Kommentars (vgl. FN 49). 51 Vgl. etwa Jakob Wimpfeling, Epitoma Germanicarum rerum, Straßburg 1505; Heinrich BebeI, De laude, antiquitate, imperio, victoriis rebusque gestis veterum Germanorum, 1509; Hieronymus Gebweiler (Gebuilerius), Libertas Germaniae, qua Germanos Gallis, neminem vero Gallum ab christiano natali, Germanis imperasse, certissimis classicorum scriptorum testimoniis probatur, Straßburg 1519. Alle in Schardius (FN 32), Tom. I: BebeI, p. 256 sqq., insbes. p. 274 sq.: "Cap. XV Germani fuerunt liberi sicut hodie sunt"; Wimpfeling, p. 349 sqq., insbes. p.391; Gebuilerius, p. 433 sqq. 52 Vgl. etwa C. Cornelii Taciti de moribus et populis Germanorum liber ... commentariis A. Althameri ... expositus ... clarorum virorum ... observationibus auctus: ... opera S. Fabricii editus ... Priori editioni accesserunt annotationes in Taciturn P. Melanchthonus, Expositio de statu Germaniae ... autore C. Peucero, Commentarius H. Glareani ... , B. Bircameri, Germ. explicatio,
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4. Demokratische und altständische "Germania"-Interpretanonen des 17. und 18. Jahrhunderts Die seit dem Ende des 16. Jahrhunderts rasch voranschreitende Systematisierung nicht nur des staatsrechtlichen, sondern auch des politischen Denkens - es sei nur an Bodin, Lipsius und J ohann Althusius erinnert - prägt auch die Auseinandersetzung mit der "Germania" des Tacitus. Leitstern der nun beginnenden Epoche späthumanistischer Staatswissenschaft ist die "Politik" des Aristoteles, welche den Obrigkeiten reformatorischen Glaubens ein neues, gleichsam wissenschaftlich begründetes Selbstverständnis zu vermitteln vermochte. Im Jahre 1616 erscheint in Leiden eine Landesbeschreibung des alten Germanien, welche schon mit Rücksicht auf ihren Umfang und den verarbeiteten Stoff, vor allem aber wegen ihrer breit ausgefächerten Systematik ohne Vorbild ist'3. Der Verfasser, Philipp ClüveTM, ist in die Wissenschaftsgeschichte als Begründer der historischen Geographie eingegangen. Tatsächlich handelt es sich aber nicht nur um eine deskriptive, sondern um eine politisch wertende Arbeit. Clüver geht bei der Darstellung der germanischen Verfassungsverhältnisse von der aristotelischen Staatsformenlehre mit ihren drei Haupttypen Monarchie, Demokratie, Aristokratie aus. Durch die Verbindung von monarchischen und demokratischen Elementen sei bei den Germanen eine neue Staatsform entstanden55 • Ist damit über das Mischungsverhältnis noch nichts ausgesagt, so ergibt die weitere Lektüre, daß die Freiheit der Germanen vorrangig demokratisch bestimmte Verfassungsformen zur Folge hat: "Libertatem atque ex ea natam Demoeratiam ut plurimum amplexi sunt Germani nostri; adeo, uti uno ferme libertatis nomine atque fama Graeeis juxta ae Latinis monumentis maxime sint eelebrati."
Und nach einem Hinweis auf die "libertas Germanorum" in Kap. 37 der Germania heißt es weiter56: " ... Libertas fortitudinis eerta mater, nutrixque fidissima. A liberorum igitur Germaniae populorum Demoeratia initium faeere, haud iniquium fuerit." Notationes ... J. Goropii ... , Augsburg 1580/79. - Justus Lipsius, C. Cornelii Taeiti opera quae exstant ... eum ... eommentarius aut notis, Leiden 1585. 53 Philipp Clüver, Germania antiqua, Leiden 1616. Vorgelegen hat mir der 1663 in Wolfenbüttel/Braunschweig veranstaltete Nachdruck; GoUhelf (FN 13), S. 39 ff. 54 Clüver (1580-1622), aus Danzig gebürtig. Nach dem Studium der Altertumswissenschaften in Leiden und KriegSdiensten in Ungarn Reisen durch europäische Länder, insbesondere nach England; seit 1615 wieder in Leiden; dort nach der Publikation der "Germania antiqua" zum "Geographus aeademieus" ernannt. Verfasser weiterer einschlägiger Werke. Vgl. ADB, Bd.4, S. 253 f., NDB, Bd. 3, S. 295 f. 55 Clüver (FN 53), Lib. I, Cap. 37, p. 276 sqq. 56 Clüver (FN 53), Lib. I, Cap. 38, p. 279.
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Die Demokratie wird also nicht etwa als Voraussetzung, sondern als Folge der Freiheit begriffen! Daß auch für Clüver die Bewahrung der inneren Freiheit wiederum nur eine Konsequenz der siegreichen Abwehr aller Beherrschungsversuche von außen ist, überrascht angesichts der schon früher beobachteten überzeugungskraft dieses Gedankens nicht. Wenn die demokratischen Strukturen aber in der fortbestehenden Freiheit begründet sind, dann verbleibt den germanischen Fürsten nur eine rechtlich gebundene Herrschaft. Unter Hinweis auf Kap. 7 der "Germania" führt Clüver aus57 : "Prineipatus in demoeraticis Germanorum rebus publicis erat eminens unius auetoritas, reliquorum omnium potestate atque legibus definita ..." Dieses auf bestimmte Rechte, wie z. B. den Vorsitz Gerichten, beschränkte Königtum58 nimmt unter der schattenhafte Züge an, da Clüver, vor allem wegen Quelle, für die meisten germanischen Stämme eine tia" behauptet. Daher gilt59 :
in den öffentlichen Hand aber vollends Kap. 11 und 12 der "pura ... democra-
"Quidpe summa imperii potestas, majestasque apud universum erat populum." Die Volkssouveränität, zu welcher sich Clüver damit bekennt, versteht er nicht als theoretisches Prinzip, sondern als Verfassungswirklichkeit, für die sich ein Vorbild schon bei Aristoteles findef>O: "Ceterum eum tarn absoluta tamque pura fuerit istarum eivitatum demoeratia; principes eorum, sive reges eodem modo ut apud Laeedaemonios, solo nomine tantum fuere reges; re autem ipsa, a:px"i) eorum, nihil aliud fuit, quam imperium bellieum per totam vitam; ut tradit de Laeedaemoniorum regibus Aristoteles Polit. lib. III eap. XIII." Es erübrigt sich fast, noch ergänzend hinzuzufügen, daß Clüver auch Staatswesen ohne jede herrschaftliche Gewalt in Friedenszeiten kennt. Diese These glaubt er aus dem Nebeneinander von "reges" und "duces" in Kap. 7 abieiten zu können61 • Wenn Clüver hierher schließlich noch die Bataver rechnefZ, dann wird vollends deutlich, daß der Autor die überzeugungen seiner politischen Heimat, welche er in den Niederlanden gefunden hat, weder verleugnen will noch kann. Ein Wahlniederländer war es auch, der wenig später die verwirrende Lesart "pertrac(FN 53), Lib. I, Cap.38, p.279. (FN 53), Lib. I, Cap.38, p.284. 59 (FN 53), Lib. I, Cap. 38, p. 281. 60 (FN 53), Lib. I, Cap. 38, p. 283. Das Aristoteleszitat findet sich nach heute üblicher Zählung im 14. Kapitel des 3. Buches der "Politik". 61 Clüver (FN 53), Lib. I, Cap.39, p. 286 sqq. 62 Clüver (FN 53), Lib. I, Cap. 39, p. 290. 57
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tentur" in Kap. 11 der "Germania", welche ein Entscheidungsrecht der Fürsten auch in wichtigen Angelegenheiten ausdrückte, zu "praetractentur", einem bloßen Vorberatungsrecht also, verbesserte63 • Auch in den deutschen Fürstenstaaten gilt Tacitus weiterhin als Kronzeuge alter und fortwirkender deutscher Freiheit. Im Unterschied zu den Niederlanden wird die "Germania" aber weniger in demokratischem als in ständestaatlichem - und das heißt gleichfalls: antiabsolutistischem - Sinne interpretiert. Wichtigster Vertreter dieser früher von Willich und Beuther repräsentierten Richtung ist im 17. Jahrhundert der Wittenberger Gelehrte Georg Kaspar Kirchmayer"". In seinem 1664 erschienenen Kommentar zur "Germania"65 grenzt Kirchmayer bei Kap. 7 seine Position gegenüber Clüver deutlich ab, ohne deswegen auf den freiheitsstiftenden politischen Impuls der tacitaeischen Berichte zu verzichten66 : "Reges hi equidem non solo nomine, ut Atheniensium Spartanorumque, sed re tales olim erant. Fuit potestas illis, attamen ligata, nequaquam libera, aut infinita. Erat auctoritas, sed suadendi magis, quam imperandi. Reges enim illi ex electione sumebantur; non jure sanguinis succedebant. Tantum in eos potestatis multitudo possidebat, quantum vix in illam ipsi. Hoc mutuo invicem vinculo ligabantur." Dieses Prinzip wechselseitiger Bindung muß sich nach ständischen Vorstellungen besonders in der Steuerfrage bewähren. Der einschlägige, oft mit Staunen zur Kenntnis genommene Tacitustext in Kap. 15 der "Germania" dient Kirchmayer als ein hervorragendes Exempel freiheitlicher Verfassungsgestaltung, das er seinen Lesern mit leidenschaftlichen Worten vorstellt7: "Mos est, ait [seil. Tacitus], non lex ... Ex more, non rigore; volentes et ultro, non coacti, ... non per sudorem ac sanguinem paratis nummulis; ad necessitatem, non ad abundantiam, luxum, fluxum, pensitationes conferebant. Equidem necessaria sie tributa esse, ut sine Hs, nec vive re magistratus, nec republica vigere possit, certo constat." 63 C. Cornelii Taciti Opera, quae extant ... Johann Frederieus Gronovius recensuit et suas notas passim adjeeit, Tom. I-lI, Amsterdam 1673, Tom. I p.617 nota 2. - Gronovius (1611-1671), geboren in Hamburg, nach juristischen und humanistischen Studien in den Niederlanden lebend, seit 1658 an der Universität Leiden lehrend. Verfasser zahlreicher Schriften, insbes. zur lateinischen Philologie. Vgl. ADB, Bd.9, S. 721; NDB, Bd. 7, S. 127 f. 64 Kirchmayer (1635-1700) aus Uffenheim/Franken gebürtig. Professor für Rhetorik in Wittenberg. Verfasser historischer und naturwissenschaftlicher Werke. Vgl. ADB, Bd. 16, S. 16. 65 Georg Kaspar Kirchmajerus, In C. C. Tacitum De Germania liber commentarius, Wittenberg 1664. 66 Kirchmayer (FN 65), p. 118. 67 Kirchmayer (FN 65), p. 241.
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Die Abgabenerhebung hat "juste, honeste et absque ruina sub ditorum" zu geschehen68 • Historische Analyse und politische Gegenwartskritik fließen in solchen Darlegungen ununterscheidbar ineinander. Wo die Möglichkeit fürstlichen Machtmißbrauchs generell zur Sprache kommt, überwiegt zwar der historische Akzent. Die Nutzanwendung liegt jedoch auch hier zum Greifen nahe69 : "Clarissimum avitae libertatis testimonium habemus hic. Ne enim vel in civili, vel criminali foro, potestate abuteretur sua rex, vel princeps, multitudine compescuerunt eum, mistionis democraticae retinentissimi." Der Zusammenhang zwischen der Abwehr fremder Beherrschungsversuche und der Bewahrung innerer Freiheit, "ne unus pro arbitrio solo cunctis imperet", ist auch Kirchmayer geläufig70 • Das geschichtliche Hintergrundwissen zu diesem Thema hatte sich nun freilich erweitert. Kirchmayer kann bereits auf das sehr einflußreiche, viel zitierte historische Werk des Speyerer Stadtschreibers Christoph Lehmann71 zurückgreifen, der - wohl nicht zuletzt im Blick auf aktuelle Gefahren - die freiheitliche Staatenordnung der Europäer mit dem despotischen Regime der Orientalen vergleicht72 : "... mit solcher und dergleichen Herrschafft [Verf. meint: wie sie die Orientalen kennen] haben sich die Teutschen und fast insgemein alle Völcker in Europa niemaiß beladen, noch ihren Königen freyen vollkommenen, ungemessenen gewalt zu regiren verstattet ..." Noch in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, als längst naturrechtliches Konstruieren die histoI'Üsche Gelehrsamkeit der Humanisten abgelöst hatte, entsteht ein Kommentar zur "Germania", der erstaunlicherweise methodisch und inhaltlich den älteren Vorbildern folgt. Dabei gehört sein Verfasser, Justus Christoph Dithmar, als Kameralist zu den höheren Rängen seiner Disziplin73 • Möglicherweise durch die an seiner Kirchmayer (FN 65), p. 242. Kirchmayer (FN 65), p. 180 sq. (zu Kap. 11 der "Germania"). 70 Kirchmayer (FN 65), p. 18I.
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71 Lehmann (um 1570-1638), geboren in Finsterwalde, seit 1588 Studium, 1591 Magister in Leipzig. In Speyer seit 1594 an der Ratsschule als Lehrer, seit 1604 als erster Stadtschreiber tätig, wo er sich umfassende archivalische Kenntnisse aneignet; in Reichstagsangelegenheiten und anderen diplomatischen Missionen verwendet. 1629 bis 1637 Rat des Speyerer Bischofs und Erzbischofs von Trier; der lutherischen Konfession wegen dort schließlich ausgeschieden und am Lebensende Syndicus von Heilbronn. Verfasser auch einer Sammlung politischer Sprichwörter und eines Kommentars zur Goldenen Bulle. Vgl. ADB, Bd. 18, S. 132 ff. 72 Chronica der Freyen Reichs Statt Speyr, Frankfurt am Main 1612, Lib. II, Cap. IV, p.62 u. passim. 73 Dithmar (1678-1737), geboren in Rotenburg/Fulda, Studium der Geschichte und Jurisprudenz in Marburg. 1709 Professor der Geschichte in Frankfurt/Oder, seit 1727 dortselbst Inhaber des neuerrichteten Lehrstuhles für Kameralwissenschaften. Verfasser historischer, nationalökonomischer und
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Wirkungsstätte in Frankfurt an der Oder bestehende Tradition der Tacituskommentierung beeinflußf4, erklärte Dithmar die Verfassungsverhältnisse seiner Gegenwart weiterhin aus den germanischen Urzuständen, und dies, trotz des absolutistischen Zeitgeistes, mit ständestaatlichen Akzenten. Zu Kap. 7 der "Germania" bemerkt der Autor1s: "Quare nee de rebus negotiisque publicis pro arbitrio statue re poterant Germanorum reges ... E quibus liquet, imperium summum apud Germanos regibus, proeeribus et populo jam olim eommune, similique fere ratione mixturn ae temperatum fuisse, quae postea omni tempore et in hune usque diem obtinuit." An anderer Stelle, bei der Erläuterung der in Kap. 11 der "Germania" geschilderten Beratungsvorgänge, sagt der Autor im Klartext, in welcher Weise bis zum heutigen Tage die fürstliche Gewalt im Reiche begrenzt ist76 : "Eodem fere modo, quo hodiernum de rebus belli ae pacis in eomitiis Imperii universalibus, de rebus vero minoris momenti et ad singulorum Imperii ordinum innoxiam utilitatem speetantibus in peeuliaribus eonventibus, vel eleetorum (Churfürstentage) vel prineipum (Fürstentage) vel eomitum (Grafentage) vel eivitatum (Städtetage) vel cireulorum (Creißtage) vel eonventibus provincialibus (Landtage) pristinae libertatis indicio, statui solet ..."
5. Absolutistische "Germania"-Interpretationen unter dem Einfluß der aristotelischen "Politik" Die Systemgedanken der aristotelischen "Politik" haben die aus der "Germania" des Tacitus abgelesene Freiheitsidee schließlich weniger gestützt, als gefährdet. Der Staat ist nach AI"Iistoteles etwas Zusammengesetztes, nämlich ein Gebilde, welches aus einer bestimmten Anzahl von Staatsbürgern besteht. Bürger in vollem Sinne des Wortes ist freilich nur, wer in irgend einer Weise an Gericht und Regierung teilnimmt. Vor dem Hintergrund dieser Definition entstand für den Leser der "Germania" ein Problem. Dem Tacitustext war zu entnehmen, daß bei den alten germanischen Völkern an den wichtigsten politischen Entscheidungen und am Gericht das ganze Volk mitgewirkt hatte. Im Verfassungsleben des Heiligen Römischen Reiches dagegen war der Kreis der politisch entscheidungsbefugten Personen eng zu umgrenzen. Am Begriff des Bürgers, wie ihn Aristoteles in Hinblick auf antike Stadtpolizeiwissenschaftlicher Schriften. Vgl. ADB, Bd. 5, S. 259 f.; NDB, Bd.3, S. 746 f. 74 Vgl. die Kommentatoren Willich (0. bei FN 29 und 37 ff.) und Rhode (u. FN 94 f.). 75 Justus Christoph Dithmarus, C. Cornelii Taeiti de situ, moribus et populis Germaniae libellus, eum perpetuo et pragmatieo eommentario ... , Frankfurt! Oder 1725, p.42, nota a. 76 Dithmar (FN 75), p. 67. 3 Speyer 94
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kulturen entwickelt hatte, wurde die Diskontinuität zwischen der alten germanischen und der frühneuzeitlichen deutschen Verfassungsordnung offenbar. Dies um so mehr, als die Plausibilität des aristotelischen Bürgerbegriffs den Zeitgenossen des 17. Jahrhunderts, welche die Niederlande und die deutschen Reichsstädte vor Augen hatten, nicht fraglich warTI.
Daher steht auch der bedeutendste der historisch arbeitenden Aristoteliker im Reich, Hermann Conring78 , ganz auf dem Boden dieser Überzeugung79 : "Cives autem secundum Aristotelem ... est ille, cui in ea civitate cujus est civis, potestas est fungendi magistratu vel deliberativo vel judiciali." Darum ist nicht zweifelhaft, welches "hodie in nostro Germanico imperio veri et genuini propiique sint cives. Ii videlicet, qui potestatem habent judicandi de iis, quae ad ... summam reipublicae ... pertinent". Diese aber, die Inhaber der höchsten Gerichts- und Regierungsbefugnisse, sind nur die Reichsstände selbst. Alle anderen Rechtssubjekte sind als "incolae" und "subditi" anzusprechen&l. Die Lehre von den Reichsständen als einzigen wirklichen Reichsbürgern findet im 17. J ahrhundert auch unter den Vertretern des Reichsstaatsrechts so viele Anhänger, daß sie jedenfalls zeitweise als herrschend zu bezeichnen Ist81 • Sie hätte, abseits der wirklichen politischen Ordnungsprobleme, Schultheorie und juristisches Konstrukt bleiben können. Indessen sind die Rückwirkungen auf den ständischen, historisch begründeten Freiheitsgedanken bald erkannt worden. Schon Bodin, der den Ursprung des Staates in kriegerischer Eroberung fand, nahm an, daß damit die vollkommene Freiheit des einzelnen beseitigt sei82 • Ganz ähnlich kann Conring, nun in Hinblick auf die deutsche Geschichte, den Verlust der ursprünglichen germanischen Freiheit Tl Manfred Riedel, Bürger, Staatsbürger, Bürgertum, in: Brunner / Conze / Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. I, 1972, S. 672 ff., 679 ff. Vgl. insbes. auch Johann Althusius, Politica methodice digesta, 3. Aufl., Her-
born 1614, Cap. V, Rd.-Nr. 1,5,13. 78 Conring (1606-1681), aus Norden/Ostfriesland gebürtig. 1620-1625 historische, naturwissenschaftliche und medizinische Studien in Helmstedt und Leiden. In Helmstedt 1632 Professor für Naturphilosophie, 1634 an der medizinischen Fakultät, 1650 Professor für Politik. Als Leibarzt und Rat in den Diensten mehrerer Herrscher. Verfasser politik- und staatswissenschaftlicher, historischer, theologischer und medizinischer Werke. Vgl. Michael Stolleis (Hrsg.), Hermann Conring. Beiträge zu Leben und Werk, 1983; Dietmar WHloweit, Hermann Conring, in: Michael Stolleis (Hrsg.), Staatsdenker im 17. und 18. Jahrhundert, 1977, S. 129 ff. 79 Hermann Conring, Exercitatio de Germanici imperii civibus, Helmstedt 1641, §§ 5 f. &l Conring (FN 79), § 7. 81 Riedel (FN 77), S. 679 ff.; WHloweit (FN 38), S. 339 ff. 82 Bodin (FN 44), Lib. I, Cap.6.
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unter der fränktischen Herrschaft feststellen83 • Die Geschichte zeigt nur die Konsequenzen dessen, was. Aristoteles lehrt: Wer aufhört, Bürger zu sein, also politisch mitzuentscheiden, verliert seine Freiheit im eigentlichen Sinne des Wortes. Daher ergibt sich als conclusio, daß in der Gegenwart des 17. Jahrhunderts nur die regierenden Landesherren - oder gar nur der Kaiser - Vollbürgerschaft und Freiheit für sich in Anspruch nehmen können. Am Rande sei bemerkt, daß diese Konsequenz in überraschendem Einklang mit der Beobachtung von Walter Jens aus unseren Tagen steht, Tacitussei der Überzeugung gewesen, im römischen Staat vermögen nur "principes" "als einzige die libertas wirklich zu leben ... - alle anderen sind schon abhängig und .in ihrer Freiheit beschränkt"84. Die exklusive Zuweisung aller Freiheit an die Herrschenden dürfte also nicht der Phantasie von Hofpolitologen und -juristen entsprungen, sondern der antiken Literatur richtig entnommen worden sein. Gegenüber demokratischen und altständischen Interpretationen der alten deutschen Freiheit zeichnen sich im 17.J ahrhundert also Gegenpositionen ab. So etwa, wenn sich 1666 - drei Jahre nach dem Neudruck des Clüverschen Werkes im Reich - der Marburger Professor Cyriacus LentuluSJS als Kommentator der "Germania" zu Kap .. 7 wie folgt vernehmen läßt86 : "Imperii dignitatis, necessitatis, et venerationis cognitionem, natura etiam animalculis quibusdam impressit ... Quanto minus civitates hominum, diffusa populorum corpora stare sine ullo gubernatore possunt. Quo minus mirandum, Germanos, quanquam in summa libertate, et ejus tuendae pertinacissimi, regibus tarnen suis aut ducibus paruisse."
Am ausführlichsten hat sich der alte Conring darum bemüht, die freiheitsbestimmte Interpretation und Aktualisierung der Tacitustexte zu widerlegen. In seinem 1678 publizierten "Germania"-Kommentar87 knüpft er an Kap. 11 eine ausführliche verfassungsgeschichtliche Abhandlung, welche alle einschlägigen Quellenstellen verarbeitet und in einem weit ausholenden Gedankengang Tacitus aus sich selbst zu rela83 84
Conring (FN 79), §§ 21 f. Walter Jens, Libertas bei Tacitus, in: Hermes, 84 (1956), S. 331 ff., 342.
85 Lentulus (Lentz), gestorben 1678. Professor für Politik zunächst in Herborn, dann in Marburg; in hessischen Diensten auch politisch tätig. Seit 1645 als Verfasser historischer und politologischer Werke hervortretend. Vgl. Etter (FN 5), S. 166 ff. 86 Cyriacus Lenrulus, Germania ... Politicorum in Tacitum commentariorum complementum, Marburg 1666, p. 150 sq. ~ Hermann Conring, C. Cornelius Tacitus de moribus Germanorum cum notis criticis, Helmstedt 1678 (Opera omnia, Ed. Goebel, Vol. V, p. 253 sqq. Zitate nach dieser Ausgabe). In den Ausgaben von 1635 und 1652 (vgl. Stolleis, FN 78, S. 537) finden sich die hier heranzuziehenden umfassenden Erläuterungen noch nicht.
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tivieren, ja zu widerlegen versucht. Die aristotelische Begrifflichkeit und ein quellenkritischer Empirismus stehen Conring dabei in gleicher Weise zu Gebote. Er dämpft das mit der "Germania" verbundene Freiheitspathos schon durch die einleitende Bemerkung, keine Gesellschaft, auch nicht eine solche von Wilden, könne ohne Gesetze existieren. Die Römer hätten die deutsche Freiheit um so mehr gepriesen, je weniger sie den Verlust ihrer eigenen Freiheit unter den Cäsaren hätten verschmerzen können. Man lese nur Lucans Klage88 : "Libertas ultra Tanaim Rhenumque recessit ... Germanorum Scyticumque bonum." Zwar führe Freiheitsstreben zur Demokratie. Diese sei aber bei den Germanen in reiner Form nicht verwirklicht worden, weil das kriegerische Volk seine Kriege nur unter einem auf Dauer bestellten Befehlshaber erfolgreich führen konnte89• Im übrigen habe die Stimme des Adels größeres Gewicht als die des Volkes gehabt. Alle höheren Ämter seien von Adligen besetzt worden. Conring sucht diese These durch exegetische und historische Argumente zu beweisen, die zu der Feststellung führen90 : "Nullibi enim fit mentio principis alicujus Germanici, ex plebejo ordine profecti." Wenn Conring schließlich in historischen Materialien ständische Gliederungen entdeckt, einen "ordo equestris parum supra plebejum statum elevata", andererseits die allein zur Königswürde zugelassene "familia nobilissima et praecellentissima" und wenige fürstliche Dynastien91, dann ist die Parallele zu den Verhältnissen des 17. Jahrhunderts wiederum perfekt, nun aber unter den Vorzeichen des seinem Höhepunkt zustrebenden Absolutismus.
6. Die "Germania" und der abergang zum naturrechtlichen Freiheitsgedanken Die Protagonisten absoluter Fürstenherrschaft haben den Topos von der alten deutschen Freiheit allerdings nicht mehr aus der Welt schaffen können. Nicht nur, daß er - als Freiheit von fremder Herrschaft begriffen - ohnehin längst seine Dienste in den machtpolitischen Auseinandersetzungen mit Frankreich leistete92 • Auf der Woge naturrecht88 Bei Conring (FN 87), p.289. Der Vers ist Lucanus, De belle civili libri decem, Lib. VII, 433 sqq. (Ed. C. Hosius, Leipzig 1905, S.208) entnommen. 89 Conring (FN 87), p. 289. 90 Conring (FN 87), p. 290. 91 Conring (FN 87), p. 290. 92 Aus der umfangreichen Publizistik zu diesem Thema vgl. insbes. die Anspruchsbegründung bei Aubery, Des justes pretentions du roy sur l'empire,
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lichen Denkens, welche im Laufe des 17. Jahrhunderts die Politologie der Aristoteliker erst aushöhlte und dann zum Einsturz brachte, entfaltete der Gedanke einer ursprünglichen und daher auch den alten Deutschen beschiedenen Freiheit93 eine Überzeugungskraft, der gegenüber historisierende Argumente im Stile Conrings wenig vermochten. An der Frankfurter Universität, ebendort, wo schon Willich und Dithmar ihre "Germania"-Kommentare verfaßt hatten, erschien fünf Jahre vor Conrings oben erörtertem Werk die erste Dissertation zu unserem Thema, welche trotz ihres aristotelischen Gewandes ein neuartiges Verständnis der Freiheitsproblematik erkennen läßt94 • Dem kaum bekannten Verfasser Marcus Rhode - Ordinarius für Rhetorik und Extraordinarius an der Juristenfakultät9S - dient der Topos in Kap. 37 der "Germania" als Einstieg in eine allgemeine Erörterung des Freiheitsbegriffs, der naturrechtlich aufgeschlüsselt wird96• Die als Willens- und Handlungsfreiheit zu bestimmende "libertas naturalis"97 ist von der "libertas civiIis", dem Freiheitszustand in der organisierten "societas civiIis" , zu unterscheiden. Hier steht als Träger der Freiheit zwar der aristotelisch verstandene, also politisch entscheidungsbefugte Bürger im Vordergrund. Die "libertas Germanorum" ist daher nichts anderes als die " ... facultas civium eorundem, ut civium agendi. Seu, quod idem, facultas suffragii inter eos de negotiis status decisive ferendi"98.
Aber der Autor kennt neben dieser "libertas publica" auch einen Raum privater Freiheit, der soweit reicht, wie nicht das "bonum commune" verletzt wird. Und er anerkennt das Volk in einem weiteren Sinne auch als Subjekt der "libertas publica", insofern die ihm gegenüber auszuübende Herrschaftsgewalt begrenzt ist99 : Paris 1667 und die Entgegnungen von Jakob Bernhard Multzius, De libertate omnimoda, quatenus ea cum primis Germaniae competit, Nürnberg 1668; Nikolaus Martinus, Libertas aquilae triumphans, sive de jure quod in imperium regi Galliarum nullum competit schediasma, Frankfurt 1668; Johann Leonhard Sauter, Wiederlegung derer von M. Aubry, Königl. Advoc. u. StaatsRaths so vermeynten und hier beygefügten rechtmässigen Ansprüchen des Königs in Franck:reich auf das Kayserthum, Leipzig 1679. 93 Zum naturrechtlichen Freiheitsgedanken im allgemeinen Diethelm Klippel, in: Brunner / Conze / Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. II, 1975, S. 469 ff.; ferner Jürgen Schlumbohm, Freiheit - Die Anfänge der bürgerlichen Emanzipationsbewegung in Deutschland im Spiegel ihres Leitwortes, 1975, S. 83 ff. 94 Marcus Rhode, Dissertatio de libertate Germanorum, Frankfurt/Oder 1678. 9S Rhode (1640-1715), Verfasser kleinerer juristischer Schriften. Nähere Lebensumstände nicht bekannt. 96 Rhode (FN 94), Thes. III-VIII. 97 Rhode (FN 94), Thes. VI bezieht sich auf Cicero und die Freiheitsdefinition des Florentinus in D. 1, 5, 4 pr. 98 Rhode (FN 94), Thes. XXXIV, XXIV, VII. 99 Rhode (FN 94), Thes. XXV, VIII.
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. ,,[Subjectum] commune populus est imperio limitato, qui regitur, non absoluto, v. g. herili ac despotico. Absolutum enim imperium tribuit ei, qui praeest, facultatem proprio ex judicio statuendi, quae velit, de negotiis ad salutem societatis spectantibus ... Limitatum est, quod juxta praescriptum in legibus fundamentalibus modum debet geri, et quo quidem aliquid una pot estatis translatum est in cives. Quot enim duntaxat rationibus hi verum libertatis characterem indipisci queunt, totidem etiam imperium, alias absolutum, fit limitatum."
Die klar erkannte Wechselbezüglichkeit von Untertanenfreiheit und Herrschaftsbeschränkung zwingt den Verfasser dieser Dissertation schließlich zu einer Auseinandersetzung mit Samuel Pufendorfs Bürgerbegriff, dem er trotz ähnlicher Prämissen zu widerstehen versucht lOO • Denn Pufendorf hatte das Signal gesetzt, welches alle ständischen oder gar absolutistischen Reduktionen des Freiheitsgedankens - und damit auch der "deutschen Freiheit" - Makulatur werden ließ. In Weiterführung älterer Ansätze lOI bestimmte Pufendorf den Bürger als das am Gesellschaftsvertrag beteiligte und in die damit geschaffenen Rechtspositionen nachfolgende Subjekt lO2 • Damit gewann die Interpretation der "Germania" als Veranschaulichung einer das ganze Volk umfassenden ursprünglichen Freiheit neue Plausibilität. Zugleich aber verliert mit dem Ausklang der späthumanistischen Zeit der Tacitustext seine ehemals unverzichtbare Beweisfunktion. Die Idee der Freiheit bedarf im naturrechtlichen Denken der geschichtlichen Begründung nicht mehr. Der eingangs erwähnte Plessen zieht in seiner Dissertationl03 die Konsequenzen, welche sich aus naturrechtlichem Denken für die Frage nach der ursprünglichen und fortdauernden deutschen Freiheit ergeben. Ausdrücklich folgt er Pufendorfs überzeugung, daß von Natur aus alle Menschen gleich und frei seien lO4 • Daran ändert sich im Staate nur insofern etwas, als gemäß den Gesetzen den einzelnen Individuen verschiedene Positionen mit einem unterschiedlichen Maß an Freiheit, die jetzt 100 101
Rhode (FN 94), Thes. XXXV sqq. Bodin (FN 44), Lib. I, Cap.6; Thomas Hobbes, Leviathan, London 1651,
Kap. 21, benutzte Ausgabe: The English works of Thomas Hobbes, Vol. 111, 1839 (Repr. 1962), S. 196 ff. 102 Samuel Pufendorf, De jure naturae et gentium, 1672, Lib. VII, Cap. 11, § 20; benutzte Ausgabe: Frankfurt/Leipzig 1744, Vol. 1-11, hier: Vol. 11, p. 152 sq.; vgl. auch Riedel (FN 77), S.681; Michael Stolleis, Untertan - Bürger Staatsbürger, in: Rudolf Vierhaus (Hrsg.), Bürger und Bürgerlichkeit im Zeitalter der Aufklärung, 1981, S. 65 ff. 103 Vgl. o. bei FN 1. Aus der späteren Literatur seien die Arbeiten Christoph Lugwig Pfeiffers erwähnt: Was ist teutsche Volks freiheit, teutsche Reichsfreiheit und teutscher Fürstenbund, Heilbronn 1786, und: Die teutsche Freyheit nach ihren staatsrechtlichen Verhältnissen und politischen Produkten im .teutschen Reiche staatsrechtlich beleuchtet und freymütig dargestellt, Mannheim 1787. Auf Pfeiffer bezieht sich noch Adolf Waas, Die alte deutsche Freiheit, 1939, S. 2. 104 Plessen (FN 1), Proemium, § IV.
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also nicht mehr exklusiv den politisch Handelnden reserviert ist, zugewiesen werden. Der entscheidende Gedankengang setzt im Kapitel "De Libertate civium Reipublicae Germanicae" wiederum beim Bürgerbegriff an lO5 : "Civium igitur nomine comprehenditur omnis is, qui legibus ac immunitatibus reipublieae gaudet et fruitur, ita ut omnes in illa cives hie nobis die antur, exeepto eapite imperante." Wenn dabei auch im Reich zwischen unmittelbaren und mittelbaren Bürgern - also den Reichsständen und ihren Untertanen! - zu unterscheiden ist, so versteht sich doch die Freiheit beider als "faeultatem naturalem, reIietam ae eompetentem Imperii eivibus tam mediatis quam immediatis, qua Iibere de eis rebus disponere possunt, quae eorum arbitrio ae dispositioni Iiberae, lege civili non fuere exemta" I06 • In diesem Sinne gilt der SatzlO7 : "Omnes igitur in Imperio hae ratione cives et Iiberi sunt." Alle genießen die ihnen im Rahmen der jeweiligen Rechtsstellung nach Maßgabe des Gesellschaftsvertrages, belassene natürliche Fähigkeit, frei über das Ihrige zu verfügen - die einen als Inhaber landesherrlicher Regierungsrechte lO8 , die anderen aber als Eigentümer und Vertragspartner . Plessen greift dabei direkt auf die privatrechtliche Formel der Eigentumsfreiheit zurücklO9 : "... [eives imperii mediati] ... de rebus ae omnibus, quae ad istos speetant, Iibere et pro arbitrio disponere possunt." Unversehens stoßen wir in diesem Gedankengang auf bürgerliche Freiheit im Raume des privaten Rechts. Damit wird zwar ein Thema angeschnitten, das schon Thomas Hobbes kennt. Doch bei ihm liest sich die entsprechende Feststellung S0110: "The Iiberty of a subjeet, Iieth therefore only in those things, which in regulating their aetions, the sovereign hath paetermitted: such as is the liberty to buy, and seIl, and otherwise eontraet with one another ..." 105 Plessen (FN 1), Cap. 11, § I unter Heranziehung sowohl des aristotelischen wie des pufendorfschen Bürgerbegriffs. 106 Plessen (FN 1), Cap. II, §§ II f. 107 Plessen (FN 1), Cap. II, § V. 108 Plessen (FN 1), Cap.III: "De libertate eivium immediatorum speciatim." Hier werden die üblichen Rechtsfragen und Rechte der Reichsstände abgehandelt. 109 Plessen (FN 1), Cap. IV: "De Iibertate civium mediatorum Imp. Rom. Germ. speciatim", § 1. 110 Hobbes (FN 101), Kap. 21, S. 199.
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Plessen dagegen glaubt an ein - beschränktes - Fortleben ursprünglicher Freiheiten, für welche schließlich doch auch Tacitus Zeuge sein darf ul : "Deinde vero haecce Germanorum libertas, mutata temporum et rerumpublicarum ratione valde fuit imminuta, ita, ut hic reliquiae veteris istius libertatis quia paucae sunt, recenseri facHe possint."
Die bürgerliche Freiheit ist zwar von der Sphäre des Öffentlichen, von den staatlichen Regierungsrechten noch nicht prinzipiell geschieden. Es ist noch keine Rede von bürgerlichen Freiheitsrechten gegenüber dem Staat. Den Bürgern als Eigentümern und Vertragspartnern gebührt im Vergleich mit der Freiheit der Herrschenden nur ein Weniger an freier Entfaltung, nicht ein "aliud". Aber die Freiheiten, welche sie genießen, sind identisch mit dem gegebenen Rechtsstatus und insofern - ganz anders als bei Hobbes - rechtlich gesichert. Ich möchte meinen, daß in dieser empirisch-deskriptiven Beobachtung der bürgerlichen Freiheiten der Ursprung der später konstitutionell gesicherten Bürgerfreiheit liegt. Mit anderen Worten: es ist nicht erst die Idee der Menschen- und Bürgerrechte, die wie ein erhellender Blitz in die dunkle Landschaft absolutistischer FürstenwiIlkür fährt und die Freiheit des privaten Rechts schafft. Mit der konstitutionellen Verankerung der Menschen- und Bürgerrechte wird dieser private Freiheitsraum rechtlich abgeschirmt. Aber entdeckt hat man ihn - wie könnte es anders sein - in der Geschichte.
7. Ausblick: Geschichtlichheit und Normativität Eine offene Frage, zu welcher die erörterten Quellen Anlaß geben, soll unseren Gang durch die Geschichte der Tacitusrezeption abschließen. Die hier vorgestellten Autoren haben, jeweils in ihrem Sinne, die germanische Vorgeschichte nicht nur deskriptiv, sondern als eine sinngebende und normstiftende Struktur, ja als einen Fundus von Rechtsgründen begriffen. Selbst ein Gott/ried Wilhelm Leibniz und nach ihm Staatsrechtler von Rang und Namenll2 bedienten sich geschichtlicher Argumente, als es galt, absolute deutsche Fürstenherrschaft zu begründen - wiederum unter Hinweis auf Tacitus, der doch die ursprüngliche Freiheit der germanischen Fürsten von aller kaiserlichen Gewalt bezeugte. Diese Einheit von empirischem und normativem Denken, von geschichtlichem Sein und gegenwärtigem Sollen führt dazu, daß die 111 112
Plessen (FN 1), Cap. IV, § I.
Unter dem Pseudonym Caesarinus Fürstner, De Jure Suprematus ac legationis principum Germaniae, 1678, Kap. 14, p. 54 sqq.; vgl. ferner bei Willoweit (FN 38), S. 154 ff., 159.
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Machtstrukturen der Gegenwart durch die Geschichte in Frage gestellt werden können. Sie gibt damit zugleich auch Rätsel auf. Der Erkenntnisgewinn humanistischer Gelehrsamkeit bestand nicht zuletzt darin, daß geschichtlicher Wandel begriffen und die Differenz zwischen den Zeitaltern schärfer denn je zUVOr wahrgenommen wurde. Daraus zog aber offenbar niemand die Konsequenz einer positivistischen Rechtssetzungsfreiheit. Vielmehr suchte man die prägenden Rechtsstrukturen der Vergangenheit zu ergründen und aus ihnen für die Gegenwart richtige Maßstäbe zu gewinnen. Mehr noch: der geschichtliche Ursprung als Anfang aller Dinge enthält die Wahrheit, welcher spätere Ordnungen entsprechen müssen. Dieses Geschichtsdenken ist bisher am treffendsten für Melanchthon nachgewiesen worden. Wilhelm Maurer charakterisiert es mit den Worten l13 : "Geschichte ist die auf Gott zurückführende Bewahrung eines gottgebenen Wahrheitsgutes, das, sich selber beständig· gleichbleibend, von der menschlichen Erinnerung jeweils neu aufgenommen werden muß." Danach ist Geschichte für diesen großen Humanisten also nicht nur eine Sammlung von guten und bösen Beispielenl14 : "Sondern im Ablauf der Geschichte hat sich ... das der Uroffenbarung Gottes entstammende natürliche Gesetz erhalten und in Ordnungen konkretisiert, die von Menschen nach ihren jeweiligen Erkenntnisgraden und Bedürfnissen gestaltet worden sind und so die geschichtliche Kontinuität wahren." In diesen Erwägungen scheint mir ein wesentliches Element des humanistischen Geschichtsdenkens überhaupt eingefangen zu sein. Ersichtlich handelt es sich nicht um Theologie. Gott als die "causa causans" alles Seienden ist der letzte Grund für die Verbindlichkeit der geschichtlichen Urgestalt. Deren Ordnungen gewinnen damit aber nOrmative Kraft und folglich eine Sollensqualität, die allem gegenwärtig Seienden, auch der Verfassung des Reiches und jeder Herrschaft, zugrunde liegen muß, wenn deren Legitimität nicht grundsätzlich in Frage gestellt werden soll. Während die mittelalterliche Geschichtseschatologie allmählich verblaßt, sucht der Humanismus neue Verläßlichkeit aus der Geschichte zu gewinnen. Er vermochte diesen Dienst solange zu leisten, wie nicht die Erkenntnis mit Hilfe der reinen Vernunft den geschichtlichen Stoff unter rationalen Aspekten ausbeutete. Auch das normative Geschichtsdenken des Humanismus gehört also, um mit Hans Ryffel zu sprechen, zu den "vorgegebenen absoluten Ordnungen", deren Verlust mit der transzendentalen Wende Kants, der Prüfung aller, auch historischer Vernunft an sich selbst, zum Entwurf neuer Maßstäbe des Richtigen zwingt l15 • Es sollte freilich nicht lange 113
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Maurer (FN 30), S. 173. Maurer (FN 30), S. 179.
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dauern, bis sich - in der Gestalt Hegels - auch die kritische Vernunft der Geschichte zuwendete, um aus ihr neue Gewißheit zu erlangen. Hegels Geschichtsmetaphysik mit dem unreflektierten Geschichtsvertrauen humanistischer Autoren auch nur zu vergleichen, scheint problematisch. Was dem Philosophen kaum erlaubt ist, verdient allerdings die Beachtung des Historikers: die Tatsache, daß in ganz verschiedenen Zeitaltern, jedenfalls seit dem ausgehenden Mittelalter bis hin zu den Ideologien des 20. Jahrhunderts, Normen aus den geschichtlichen Ursprüngen gewonnen werden. Vielleicht handelt es sich um eine Komponente normativen Denkens schlechthin.
115 Hans Ryffel, Grundprobleme der Rechts- und Staatsphilosophie. Philosophische Anthropologie des Politischen, 1969, S.303.
GESCHICHTSPHILOSOPHIE ODER ETHIK? Zur Interpretation des "übergangs von vorgegebener zu aufgegebener Normativität" in Hans Ryffels philosophischer Anthropologie des Politischen Von Erk Volkmar Heyen, Speyer/Frankfurt a. M.
I. Der "übergang von vorgegebener zu aufgegebener Normativität" bezeichnet in der philosophischen Terminologie Hans Rytfels einen Wandel im normativen Bewußtsein, einen Meinungswandel hinsichtlich des praktisch Richtigen und der Bestimmungskriterien dieses Richtigen. Auf die Ebene des Politischen (Recht, Staat, Politik) bezogen heißt das: der "übergang von vorgegebenen Ordnungen zu aufgegebenen Ordnungen" wird als ein Wandel in den Ordnungsbegründungen begriffen. Von daher versteht sich, daß der fundamentale normative Wandel des Politischen, welcher in jenem übergang liegt, wesentlich unter philosophiegeschichtlichem Blickwinkel erscheint. Platon, Hobbes, Rousseau und Kant markieren hier entscheidende Erkenntnisstationen in der wachsenden "Freisetzung" des Menschen.! Im "Zerfall der Vorstellungen von einem absolut Richtigen" und damit auch von "vorgegebenen absoluten Ordnungen", mögen sie nun als "göttliche transzendente" oder als "vernünftige immanente" verstanden worden sein, liegt die "große Zäsur" im "Wandel der Richtigkeitsauffassungen"2. "Freiheit" und "Gleichheit" werden als die "Schlüsselbegriffe" ! Vgl. vor allem Hans Ryffel, Grundprobleme der Rechts- und Staatsphilosophie. Philosophische Anthropologie des Politischen, Neuwied 1969, S. 299 ff.; und aus den letzten Jahren ders., Zur Begründung der Menschenrechte, in: Johannes Schwartländer (Hrsg.), Menschenrechte. Aspekte ihrer Begründung und Verwirklichung, Tübingen 1978, S.55-75 (56 ff., 65 ff.); ders., Pluralismus und Staat, in: Staatsorganisation und Staatsfunktionen im Wandel. Festschrift für Kurt Eichenberger, Basel 1982, S. 59-70 (60 ff.); ders., Freiheit und Eigentum, in: Helmut Holzhey / Georg Kohler (Hrsg.), Eigentum und seine Gründe. La propriete et ses fondements (Studia Philosophica, Supplementum 12), Bern 1983, S. 375-394 (380 ff.). 2 Grundprobleme (FN 1), S.299, 301, 305. Menschenrechte (FN 1), S. 57 f.: "Von vorgegebener Normativität sei die Rede, wenn Normen von absoluter Dignität angenommen werden, die sowohl inhaltlich erfüllt als auch mit dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit und Unwandelbarkeit ausgestattet sind und als ein für allemal vorgegeben gelten"; hingegen ist "die Daseinsentfal-
Erk Volkmar Heyen des Wandels erkannt, wegleitend nicht nur für die Entwicklung der politischen Philosophie, sondern auch für die der politischen Institutionen und dies weltweit. "Am Ende dieser Entwicklung", heißt es3, "stehen die moderne Gesellschaft und Kultur, die in verbreiteten und im Kern wohl zutreffenden Formulierungen als dynamisch, demokratisch und pluralistisch bezeichnet werden. Solche Gesellschafts- und Kulturformen . .. scheinen auf dem ganzen Erdball am Anfang eines umfassenden und zunächst stürmischen Siegeszuges zu stehen. Es scheint, daß auch völlig andere kulturelle Formen den im Abendland entstandenen neuen Formen deshalb weichen, weil diese Formen strukturellen Wandlungen des Menschen entsprechen, die, einmal in Gang gebracht, nicht mehr aufzuhalten sind." Die Zielgerichtetheit des universalen "übergangs von vorgegebenen zu aufgegebenen Ordnungen" wird auch an anderer Stelle kräftig unterstrichen: "Auf frühere Stufen der Entwicklung kann man nicht zurückkehren; die Kriterien des Richtigen haben sich in einem unumkehrbaren Prozeß gewandelt, ja man muß sagen, daß sie sich geläutert hätten und das Richtige immer angemessener erscheinen ließen." Erst im großen "Prozeß der Emanzipation" tritt der Mensch als das hervor, "was er eigentlich ist", kommt er dazu, "wirklich er selbst zu sein". Es ist ein "Aufschwung zum Richtigen", und er ist "unvermeidlich". Daher "werden die Tage aller vermeintlich fraglos gegebenen Ordnungen allenthalben gezählt sein"; "es gibt keine Wege zurück".4 Obwohl solche Formulierungen die Zwangsläufigkeit des Entfaltungsprozesses nahelegen, will dieser anscheinend doch vom Menschen bewußt gefördert sein. Denn es ist der Mensch, der als die "treibende Kraft" im Zerfall vorgegebener Ordnungen bezeichnet wird; die "Aufgabe" der "Selbstbestimmung" erfordert sein "unablässiges Bemühen", und ihr hat er "zum Durchbruch zu verhelfen"5. Dieses Nebeneinander tung des Menschen ... bei aufgegebener Normativität grundsätzlich offen und unbeschränkt, wiewohl am Richtigen orientiert". 3 Grundprobleme (FN 1), S.30. Inzwischen, u. a. angesichts der politischen Ereignisse im Iran, klingt die Lageeinschätzung sehr viel weniger zuversichtlich, vgl. etwa Pluralismus (FN 1), S.60. Menschenrechte (FN 1), S. 72 fragt besorgt, ob es "der Weltlauf zu sein scheint", daß "wir uns faktisch in immer Unrichtigeres verstricken". 4 Grundprobleme (FN 1), S.299, 302, 306, 308 f., 337 und 340. Ähnlich entschiedene Formulierungen finden sich auch in ders., C. A. Emges "Richtigkeitslehre". Tragweite und Problematik, in: ARSP, 58 (1972), S.69-96 (91). Später jedoch verblaßt die Ausdrucksweise zusehends. Vom Gedanken aufgegebener Normativität heißt es in Menschenrechte (FN 1), S. 58, er setze sich in der Neuzeit "in immer stärkerem Maße" durch; Pluralismus (FN 1), S.60 sagt "immer deutlicher". Ähnliche teleologische Wendungen finden sich wiederholt auch in Grundprobleme, a. a. 0., z. B. S.311: "immer prägnanter". Neuerdings scheint der Ton wieder kräftiger werden zu wollen, vgl. Freiheit (FN 1), S. 381 f.
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von objektiv-deterministisch und subjektiv-normativistisch erscheinenden Momenten führt mich zur Frage, ob der "Übergang von vorgegebenen zu aufgegebenen Ordnungen" ebenso als geschichtsphilosophische wie auch als ethische These zu interpretieren ist. Ich gehe zunächst auf den ethischen Gehalt ein und kritisiere seine geschichtsphilosophische Umwandung (11.). Sodann betrachte ich den historisch-empirischen Gehalt der implizierten Fortschrittstheorie und kritisiere seinen Eurozentrismus (111.). Schließlich stelle ich die vorgefundene Verbindung von Geschichtsphilosophie und Philosophie des Politischen in die Tradition Kants (IV.). 11.
Die "vorgegebenen Ordnungen" interessieren Ryffel nur als Gegenbild zu den "aufgegebenen Ordnungen", und dementsprechend erscheint es als genügend, sie und ihren Zerfall in Form von "Stilisierungen" zu beschreiben6 • Der Übergang zu "aufgegebenen Ordnungen" bedeutet mehr als den bloßen Zerfall "vorgegebener Ordnungen". Was darüber hinausgeht, ist auch qualitativ etwas anderes als ein Faktum (wie der Zerfall), obwohl der Ausdruck "übergang" insofern ein Kontinuum suggeriert: es ist eine ständig neu zu bewältigende Aufgabe, ein Normativum. Aus dem übergang gibt es kein Entkommen7 : "Ist der Mensch einmal in einen Prozeß so zu verstehender Aufklärung eingetreten, so ist nicht abzusehen, wie dieser je zum Ende kommen oder abgebrochen werden könnte, ohne daß der Mensch auf eine grundsätzlich überwundene Stufe zurückfiele." Daß es sich bei den "aufgegebenen Ordnungen" um eine wesentlich ethische Größe handelt, wird namentlich auch dort deutlich, wo vom "Mißverständnis" des normativen Wandels die Rede ist8• Dieser Vors Grundprobleme (FN 1), S.308, 311, 336, 340. Vergleichbar wiederum Richtigkeitslehre (FN 4), S.7, wo verlangt wird, daß der Mensch die genannten "Wandlungen des Richtigen ... nach Kräften in Gang bringen muß, sobald er ihrer in den ersten Ansätzen ansichtig wird". 6 Von "Stilisierung" spricht Grundprobleme (FN 1), S.299; s. a. Menschenrechte (FN 1), S.58, Freiheit (FN 1), S.381. Entsprechend ausgewählt und schmal ist die beigezogene Literatur. Vgl. namentlich Grundprobleme, a. a. 0., S.26, 281, 338, wo für die soziologische Unterscheidung zwischen früheren statischen und heutigen dynamischen Gesellschaftsstrukturen, welche zur Unterscheidung zwischen vorgegebenen und aufgegebenen Ordnungen in Parallele gesetzt wird (vgl. auch S.459), allein auf Schriften von Richard F. Behrendt verwiesen wird. Weitere Bezugnahmen auf historische oder ethnologische Literatur sind selten, vgl. immerhin S. 164, 168, 460. Die Dynamik des römischen und mittelalterlichen Rechtsdenkens erscheint unterschätzt; neben einer beachtlichen Gesetzgebung gab es auch andere Mittel der bewußten Ordnungsanpassung, wie etwa Fiktionen und Billigkeitsregeln. 7 Grundprobleme (FN 1), S.308. 8 Menschenrechte (FN 1), S. 65 ff., 75; Pluralismus (N.l), S. 62 f., 66; Freiheit (FN 1), S. 381, 384.
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wurf zielt nicht auf eine Lücke im historisch-empirischen Wissen, son~ dern auf eine Fehlhaltung, nämlich die mit dem "Zerfall vorgegebener Ordnungen" einsetzende Leugnung eines jenseits des bloß Wirklichen anzusetzenden, mithin unverfügbaren, verbindlichen Maßstabs des Richtigen. Nur wo solche Mißverständnisse in den Begründungsbemühungen und den institutionellen Umsetzungen vermieden werden, ohne in den "vorgegebenen Ordnungen" zu verharren oder sich in sie zurückzuflüchten, kann es "aufgegebene Ordnungen" im eigentJichen Sinn geben. Der Versuch Ryffels, im Bereich gesellschaftlicher, kultureller und rechtlich-staatlicher Ordnung im Sinne von "Idealtypen" fünf "Grundformen" und drei "Übergangs- und Verfallsformen" zu unterscheiden9 , erscheint daher insofern nicht konsequent, als unter den drei Grundformen der "aufgegebenen Ordnungen" zwei sind, denen ein Mißverständnis des Aufgabencharakters vorgehalten wird: die frühkapitalistische Marktgesellschaft als "aristokratische Entfaltungsgesellschaft" (Hobbes/Locke) und die hochkapitalistische Marktgesellschaft als "Klassengesellschaft im eigentlichen Sinne" (Marx). Die Defizienz dieser Grundformen wie auch der Verfallsformen kann sich nur auf dem Boden einer Begründungstheorie praktischer Philosophie ergeben1o• Die Redeweise vom "Übergang" verschleiert diesen Sachverhalt, weil sie sich historisch gibt und das doch nur zur Hälfte ist (insofern nämlich der Zerfall "vorgegebener Ordnungen" betroffen ist). Zur anderen Hälfte ist sie ethisch zu verstehen, geht es um eine regulative Ideell. Grundprobleme (FN 1), S. 458 ff. Dementsprechend wird gegenüber einer rein historisch-soziologischen Unterscheidung zwischen statischen und dynamischen Gesellschaften eingewendet, daß "die normativen und letztlich metaphysischen Implikationen nicht bedacht werden", auf welche "besonderes Gewicht" zu legen sei, Grundprobleme (FN 1), S.338. 11 Es wundert daher nicht, wenn die zeitliche Bestimmung verschwommen wirkt. Einerseits heißt es, Grundprobleme (FN 1), S. 150: "übergang von den vorgegebenen Ordnungen der Antike und des Mittelalters zu den aufgegebenen Ordnungen der Neuzeit." Der übergang erscheint als inzwischen vollzogen, abgeschlossen. Andererseits wird von einem noch "nicht abgeschlossenen" Prozeß gesprochen und unsere Gegenwart selbst als eine "Epoche des übergangs" gekennzeichnet, vgl. Grundprobleme, a. a. 0., S.93, 306, 338. Ebd., S.465: "Die tatsächliche moderne Gesellschaft im Westen ... ist bei Zugrundelegung unserer Modelle wohl als ein gesellschaftlicher übergang zu begreifen. Zum Teil ist sie in weiten Bereichen Marktgesellschaft, da und dort auch Klassengesellschaft, aber ihr ausgeprägtes Kennzeichen ist die Tendenz zur demokratischen Entfaltungsgesellschaft, die in vielen Bereichen schon verwirklicht ist. Da unsere heutige Gesellschaft auf dem Wege ist, zeigt sie Aspekte der angeführten übergangsformen und schließt das Risiko des Verfalls in sich. Auch Reste einer vorgegebenen Ordnung alter Observanz sind festzustellen und werden zuweilen noch massiv repristiniert." Unsere Gesellschaft hat also von allem etwas, und sollte dies jemals anders werden können? Auch Menschenrechte (FN 1), S.58 wiederholt die Annahme, daß sich "der Gedanke aufgegebener Normativität durchsetzt, wiewohl in einem langen und allmählichen Prozeß, in dem wir auch im Westen anscheinend immer noch mitten inne stehen"; ähnlich Freiheit (FN 1), S.38L 9
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Diese Verbindung von moderner empirischer Wissenschaft mit praktischer Philosophie im traditionellen Verstande spiegelt eine Struktureigentümlichkeit der Ryffelschen philosophischen Anthropologie des Politischen wider. Sie ist bereits in deren Fundament angelegt, in der Verbindung einer "formal-strukturellen", also wissenschaftlich objektivierenden Anthropologie in der Nachfolge vor allem Helmuth Plessners und Arnold Gehlens mit einer "phänomenologisch-existentialen" Anthropologie, welche Wesentliches Carlo Sganzini verdanktu. Letztere wird definiert als eine "Theorie, die die Sinngehalte menschlichen Daseins und deren Voraussetzungen in der Reflexion zu explizieren versucht, z. B. auch die obersten Maßstäbe menschlichen Daseins, mit denen Institutionen gerechtfertigt werden"13. Sie ist also wesentlich Ethik, wenn auch verankert in den anthropologischen Strukturenl4 • Das entspricht der programmatischen Absicht, die Fragestellungen der Philosophie des Politischen "unverkürzt" zu bewahren und nur die Antworten von "unverbindlicher Spekulation" zu befreienl5 .
III. Die Erwartung eines letztlich weltweit vollzogenen "übergangs von vorgegebenen zu aufgegebenen Ordnungen" stützt sich vor allem auf die 12 Vgl. des näheren Grundprobleme (FN 1), S. 103 ff. Die Bezeichnungen finden sich in ders.: Der Beitrag von Arnold Gehlen zur philosophischen Anthropologie in: (0. Hrsg.), Arnold Gehlen zum Gedächtnis (Schriftenreihe der Hochschule Speyer, Bd. 61), Berlin 1976, S. 11-22 (20). Schon Richtigkeitslehre (FN 4), S. 83 f. spricht von einem "objektivierenden strukturellen Außenaspekt" und einem "phänomenalen Innenaspekt" , die einander "komplementär" seien und im "Konzept einen einheitlichen philosophischen Anthropologie" miteinander verbunden werden sollten. Vgl. im ganzen dazu Erk Volkmar Heyen, Zum Verhältnis von philosophischer und wissenschaftlicher Anthropologie, in: ARSP, 64 (1978), S.509-533. 13 Gehlen (FN 12), S. 20. 14 Menschenrechte (FN 1), S.56 unterscheidet eine "systematische" und eine "historische" Betrachtung des normativen Wandels, wobei die "systematische" die der philosophischen Anthropologie ist, also die Ethik mit einschließt. Die ebd., Anm. 5 angesprochenen "Mißverständnisse" in der Interpretation der Ryffelschen Auffassung sind mit dieser Unterscheidung aber noch nicht ausgeräumt, da die Vermischung von empirischen und ethischen Sätzen in der "systematischen" Betrachtung erhalten bleibt. Das muß wohl unvermeidlicherweise wiederholt zur Unklarheit über den Status mancher Aussagen führen. Ein Beispiel: Grundprobleme (FN 1), S. 302 erklärt den Zerfall "vorgegebener Ordnungen" deswegen für "unausweichlich", weil solche Ordnungen "nicht ausgewiesen" werden könnten; ähnlich Menschenrechte, a. a. 0., S.57: ihre Position lasse sich "nicht halten". Diese Erklärung ist rein normativ. Grundprobleme, a. a. 0., S.337 hingegen erklärt den Weg "aufgegebener Normativität" für "unvermeidlich", weil dies im "Vermögen" des Menschen - Richtigkeitslehre (FN 4), S.91 sagt "Verfassung des Menschen"; ebenso Freiheit (FN 1), S.381 - liege. Diese Erklärung kann man "formalstrukturell" , aber auch "phänomenologisch-existential" deuten. 15 Grundprobleme (FN 1), S. 11.
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von der europäischen Entwicklung her bekannte Verknüpfung dieses übergangs mit dem Aufkommen einer wissenschaftlich-technischen Zivilisation, welche ihrerseits im Begriffe, sich auf der Erde durchzusetzen, gesehen wird l6 • Was in der Geschichte Europas als Parallelphänomen auftritt, muß jedoch andernorts und zu anderer Zeit nicht in gleicher Weise in Erscheinung treten. Es setzt einen ganz anderen Grad von Autonomie des Denkens und HandeIns voraus, empirisch-analytische Naturwissenschaft erstmalig systematisch zu entfalten, als sie in ihren anerkannten Ergebnissen und bewährten Verfahrensweisen zu übernehmen und anzuwenden 17 • Japan mag hier der Veranschaulichung dienen l8 : Die Übernahme westlicher Wissenschaft und ihre Perfektionierung in der technischen Umsetzung hat weite Bereiche der gesellschaftlichen und politischen Institutionen hinter westlich anmutenden Verfassungstexten unberührt gelassen. Wissenschaft und Technik werden überwiegend rein instrumental gesehen und sprengen dann den Rahmen der überkommenen normativen Strukturen nicht ohne weiteres (wie denn auch wir eine Lebenshaltung wie etwa Yoga als bloße Körpertechnik übernehmen können). Es scheint demnach, als wiesen die normativen Strukturen gegenüber Wissenschaft und Technik doch eine größere Unabhängigkeit und Standfestigkeit auf. Man kann dafür auch in heutigen soziokulturellen Evolutionstheorien Anhaltspunkte und Rückhalt finden l9 • Bei diesen handelt 16 Ebd., S.302, 336 f.; auf S. 32 ist von einem "Gesamtprozeß wechselseitiger Verflochtenheit die Rede". Mal jedoch sind es "die gesellschaftlichen und kulturellen Wandlungen der Neuzeit", welche den "Anlaß" zum normativen Wandel geben - vgl. etwa Menschenrechte (FN 1), S. 59 -, mal scheint es umgekehrt gewesen zu sein, Pluralismus (FN 1), S. 61 f.: "Der normative Wandel setzt ... das Erkennen und Machen frei"; erst mit ihm entstehen Wissenschaft, Technik und Industrie. 17 Aufschlußreich insofern Benjamin Nelson, Der Ursprung der Moderne. Vergleichende Studien zum Zivilisationsprozeß, Frankfurt a. M. 1977; Man/red Riedel, Die Universalität der europäischen Wissenschaft als begriffs- und wissenschaftsgeschichtliches Problem, in: Zeitschrift für allgemeine Wissenschaftstheorie, 10 (1979), S.267-287. 18 Vgl. etwa Nakayama Shigeru et al. (Hrsg.), Science and Society in Modern Japan. Selected Historical Sourees, Cambridge (Mass.) 1974; Man/red Pahl, Technological Development through Cultural Heritage: The Case of Japan, in: R. E. Vente et al. (Hrsg.), Cultural Heritage versus Technological Development: Challenges to Education, Singapore 1981; Johan Galtung, Struktur, Kultur und intellektueller Stil. Ein vergleichender Essay über sachsonische, teutonische, gallische und nipponische Wissenschaft, in: Leviathan, 11 (1983), S.303-338 (bes. 310 f., 318 ff.); Jase Llompart, Rechtsbewußtsein und Verantwortungsgefühl im Japan der Gegenwart, in: Rechtstheorie, 14 (1983), S. 285-303. 19 Vgl. zum folgenden den Überblick von S. N. Eisenstadt: Neue Trends in der Makro-Soziologie, in: Soziologie in weltbürgerlicher Absicht. Festschrift für Rene König, Opladen 1981, S. 375-387 (378, 383, 385). Aufschlußreich sind
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es sich um Theorien des sozialen Wandels, welche ohne die Annahme eines zielgerichteten gradlinigen Geschichtsverlaufs auszukommen suchen, auch Rück- und Fehlentwicklungen für möglich halten und die Verzerrungen einer naiven, unhistorischen und an westlichen Vorbildern orientierten Modernisierungsliteratur, wie sie nach dem Zweiten Weltkrieg im Blick auf sog. unterentwickelte Länder im Schwange war, zu vermeiden trachten. Man betont inzwischen die "systemische Lebensfähigkeit der sog. Übergangssysteme" und versucht, deren Bewegung "im Begriffsrahmen einer ,Entfaltung' inhärenter traditionaler Kräfte zu analysieren", d. h. die "institutionelle Dynamik" einer Gesellschaft als "in großem Maße durch ihre spezifische historische Erfahrung geformt" anzuerkennen. Dabei muß zwischen den einzelnen sozialen, kulturellen und politischen Teilsystemen eines Gemeinwesens weder unbedingt Kongruenz noch unbedingt Konvergenz bestehen. Sie können sich unterschiedlich ändern und dies in unterschiedlicher Geschwindigkeit. Vom gegenwärtigen Erkenntnisstand der Makrosoziologie geurteilt, erscheint es also nicht gerechtfertigt, zwischen wissenschaftlich-technischer Zivilisation und normativem Wandel eine dermaßen ausrechenbare Dynamik anzunehmen, wie es die These des "Übergangs von vorgegebenen zu aufgegebenen Ordnungen" in ihrem universalgeschichtlichen Anspruch offenbar unterstelltlO. Auch fehlt bei Ryffel bislang jeglicher Hinweis darauf, daß sich im nicht-okzidentalen politischen Denken ein Wandel in den Ordnungsbegrundungen vollzieht, den man als übergang zu "aufgegebener Normativität" in seinem, von "Mißverständnissen" freien Sinne begreifen könnte21• Angesichts einer durch wissenferner Mark Granowetter, The Idea of "Advancement" in Theories of Social Evolution and Development, in: American Journal of Sociology, 85 (1979), S. 489-515; Bernd Baldus, Soziokulturelle Evolution. Ein epistemologisches Modell für die Analyse menschlicher Geschichte, in: Nico Stehr / Volker Meja (Hrsg.), Wissens soziologie (Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie/Sonderheft 22), Opladen 1981, S.206-225. 20 Dies, obwohl ansonsten in "neuzeitlichen Fortschrittsvorstellungen, die einen linearen kontinuierlichen Verlauf der gesellschaftlichen Entwicklung unterstellen", "letzte Reste statischer Züge" erblickt werden, welche "in heutigen Vorstellungen einer allseitig offenen Zukunft keinen Platz mehr haben", s. Grundprobleme (FN 1), S.27. 21 Allerdings fehlt auch die Grundvoraussetzung für solche Hinweise, nämlich die Auseinandersetzung mit jenem außereuropäischen Denken. Sobald derartige philosophische Begegnungen über die Traditionsräume hinweg einmal versucht werden, ergeben sich fruchtbare Fragestellungen. Vgl. etwa Ben-Ami Schartstein et al., Philosophy East/Philosophy West. A Critical Comparison of Indian, Chinese, Islamic, and European Philosophy, Oxford 1978. Ein zweiter Band, der sich u. a. mit Philosophie der Politik, Gesellschaft und Geschichte befassen soll, ist angekündigt. Die Schwierigkeiten des Gesprächs sind natürlich groß; vgl. auch Wilhelm Halbtass, Indien und Europa. Perspektiven ihrer geistigen Begegnung, Basel/Stuttgart 1981, oder Alwin 4 Speyer 94
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schaftlich-technische Zivilisation allein offensichtlich doch nicht ausreichend zu sichernden Zukunft und der vielen enttäuschten Versprechungen in dieser Hinsicht werden tradierte Werte des Seelischen und des Religiösen wiederbelebt und der bislang triumphierenden Modernität wie Zaubermittel zur Wahrung und Stärkung eigener Identität entgegengehalten. Im Gedächtnis der Völker wird manches ruhen, was europäische Einflüsse - auch und nicht zuletzt im Bereich der Ethik nachhaltig abzudrängen imstande sein dürfte. IV.
Der universalgeschichtliche Anspruch der These ist ohne den Hintergrund einer europäischen Fortschrittskategorien verpflichteten Geschichtsphilosophie nicht verständlich22 • Auch hier ist, wenn ich es recht sehe, Kant für die Ryffelsche philosophische Anthropologie des Politischen wegleitend, allerdings unausgesprochen. Dazu einige Erläuterungen. KantE geht davon aus, daß sich im "Spiel der Freiheit des menschlichen Willens", da es doch auch "Naturbegebenheit" ist, ein "regelmäßiger Gang", "allgemeine Naturgesetze" entdecken lassen, sofern man nur genügend Abstand zur verwirrenden Vielfalt menschlicher Intentionen hält und nach der übergreifenden "Naturabsicht" fragt24• Da der Natur kein "kindisches", kein "verworrenes Spiel" zu unterstellen ist25, muß man den vorfindlichen "Antagonism" der subjektiven Absichten, die Diemer (Hrsg.), Philosophy in the Present Situation of Africa, Wiesbaden 1981
(Referate eines anläßlich des 16. Weltkongresses für Philosophie 1978 in Düsseldorf veranstalteten Symposiums). 22 Vg1. Joachim Ritter, Fortschritt, in: ders. (Hrsg.), Historisches Wörter. buch der Philosophie, Bd.2, Basel/Stuttgart 1972, Sp. 1031-1059; Reinhart Kaselleck, Fortschritt, in: atto Brunner et a1. (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon der politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd.2, Stuttgart 1975, S.351-423; Agnes Heller, Die Eigenart der Geschichtsphilosophie aus der Sicht der Wissens soziologie, in: Stehr / Meja (Hrsg.), Wissens soziologie (FN 19), S. 140-152. 23 Werke in sechs Bänden, hrsg. von WilheZm WeischedeZ, Bd.6, Darmstadt 1966. Nachstehend zitiert werden die folgenden Schriften: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784); über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis (1793); Zum ewigen Frieden (1. Auf1. 1795); Erneuerte Frage: ob das menschliche Geschlecht im beständigen Fortschreiten zum Besseren sei (Der Streit der Fakultäten, 1798, 2. Abschnitt). Die Originalpaginierung steht in Klammern. 24 Idee (FN 23), S. 33 f. (A 385 ff.). Ebenso Friede (FN 23), S. 217 ff. (A 47 ff.); Frage (FN 23), S. 355 ff. (A 138 ff.). 25 Idee (FN 23), S.36, 49 (A 389, 409). Gemeinspruch (FN 23), S. 166 (A 274), und Frage (FN 23), S. 354 (A 138), sprechen von "PossenspieI" .
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"ungesellige Geselligkeit" des Menschen dahin verstehen, daß sie es sind, welche eine objektive "gesetzmäßige Ordnung" erzeugen26 • Der Mensch ist, nach der "teleologischen Naturlehre" Kants, dazu bestimmt, seine "Naturanlagen ... einmal vollständig und zweckmäßig auszuwickeln". Das hat er mit anderen Lebewesen gemein. Doch unterscheidet er sich von ihnen gleichwohl wesentlich. "Die Natur hat gewollt: daß der Mensch alles, was über die mechanische Anordnung seines tierischen Daseins geht, gänzlich aus sich selbst herausbringe, und keiner anderen Glückseligkeit, oder Vollkommenheit, teilhaftig werde, als die er sich selbst, frei von Instinkt, durch eigene Vernunft, verschafft hat." Die "höchste Aufgabe" für die "Menschengattung" im "Plan der Natur" ist, "eine innerlich - und, zu diesem Zwecke, auch äußerlich - vollkommene Staatsverfassung zu Stande zu bringen, als den einzigen Zustand, in welchem sie alle ihre Anlagen in der Menschheit völlig entwickeln kann" .27 Kant möchte der Natur einen "Leltfaden"z8 abgewinnen. Zunächst in dem Sinne, daß der Mensch, die Gattung, der "Naturabsicht" unbewußt folgt. Insofern ist der Leitfaden eine Sache der "Erfahrung"29; er stützt sich auf empirisch-historische Argumente 30 , auf "Geschichtszeichen" für eine "Tendenz des menschlichen Geschlechts im ganzen"31. Aber "Leitfaden" ist auch in einem praktischen Sinne gemeint, als Aufforderung, an der Verwirklichung der "Naturabsicht" zu "arbeiten", d. h. ihr "beförderlich" zu sein32 . Das Verhältnis von empirisch gegründeter Erwartung und moralischer Pflicht schwankt in den einzelnen Schriften. Wenn von einer bloßen "Hoffnung" auf Verwirklichung der "Naturabsicht" die Rede ist31, so scheint die "Sicherheit" empirischer Erkenntnis in diesem Feld zu einer theoretischen "Weissagung" nicht auszureichen. Wohl aber reicht die "Sicherheit", um es "zur Pflicht" zumachen, auf den angestrebten Zustand "hinzuarbeiten"34. Die Pflicht, "so auf die Nachkommenschaft Idee (FN 23), S. 37 f. (A 392 f.). Ebd., S. 39, 45, 47 (A 395, 403, 407). Ebenso Gemeinspruch (FN 23), S. 169 ff. (A 277 ff.). 28 Idee (FN 23), S. 34, 48 f. (A 408 f.). 29 Ebd., S.45 (A 404); Frage (FN 23), S.356, 362 (A 141, 150 f.). 30 Vgl. etwa Idee (FN 23), S.48 (A 408 f.); Gemeinspruch (FN 23), S. 168 ff. (A 277 ff.); Friede (FN 23), S. 219 ff. (A 52 ff.); Frage (FN 23), S. 357 ff. (A 142 ff.). 31 Frage (FN 23), S.357 (A 142). 32 Idee (FN 23), S. 34, 45 ff. (A 386, 404 f., 407). 33 Idee (FN 23), S.47, 49 (A 407, 409). Von "Hoffnung" ist auch die Rede in Gemeinspruch (FN23), S. 167 f., 171 (A 275 f., 281; Friede (FN 23), S. 251 (A 104); Frage (FN 23), S.358 (A 143). 34 Friede (FN 23), S.227 (A 65); hier geht es um den "ewigen Frieden". 26
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zu wirken, daß sie immer besser werde" , sieht Kant als eine "angeborne Pflicht", und diese Pflicht könne zumindest so lange nicht gegen die "Klugheitsregel, aufs Untunliche nicht hinzuarbeiten" eingetauscht werden, als die Vergeblichkeit des Bemühens "nicht ganz gewiß", d. h. das Gelingen nicht "demonstrativ-unmöglich" sei3s • In seiner letzten Stellungnahme geht Kant aber doch über die bloße "Hoffnung" auf die "Evolution einer naturrechtlichen Verfassung" deutlich hinaus. Er behauptet nämlich angesichts der Umwälzungen der Französischen Revolution, "dem Menschengeschlechte, nach den Aspekten und Vorzeichen unserer Tage, die Erreichung dieses Zwecks und hiemit zugleich das von da an nicht mehr gänzlich rückgängig werdende Fortschreiten desselben zum Besseren, auch ohne Sehergeist, vorhersagen zu können. Denn ein solches Phänomen in der Menschengeschichte vergißt sich nicht mehr, weil es eine Anlage und ein Vermögen in der menschlichen Natur zum Besseren aufgedeckt hat, dergleichen kein Politiker aus dem bisherigen Laufe der Dinge herausgeklügelt hätte, und welches allein Natur und Freiheit, nach inneren Rechtsprinzipien im Menschengeschlechte vereinigt, ... verheißen konnte". Diese Fortschrittsthese ist für Kant "also ein nicht bloß gutgemeinter und in praktischer Absicht empfehlungswürdiger, sondern allen Ungläubigen zum Trotz auch für die strengste Theorie haltbarer Satz"36. Die behauptete Nähe Ryffels zu Kant scheint mir augenfällig zu sein. Es ist eine Nähe im "Vernunftglauben" und im moralphilosophischen Impetus, in dessen anthropologischer Abstützung und im geschichtsphilosophischen Ausblick (Nähe meint natürlich nicht Ununterscheidbarkeit). Noch ein letzter Gleichklang verdient in diesem Zusammenhang Erwähnung, die gemeinsame Vorstellung nämlich, daß es sich bei allem "Fortschreiten zum Besseren" immer nur um eine "Annäherung" handeln kann37 • In Ryffelscher, Sganzini verpflichteter Ausdrucksweise formuliert: die Differenz von "Maßstab" und "Wirklichkeit" ist unaufhebbar38 • In einer abschließenden Bemerkung würde ich sagen wollen, mir erschiene es vorzugswürdig, wenn die in der "übergangs"-These liegende Vermischung von Ethik und Geschichtsphilosophie klargestellt würde. 3S Gemeinspruch (FN 23), S. 167 f. (A 275, 277); hier geht es um des Menschen "Fortschreiten zum Besseren in Ansehung des moralischen Zwecks seines Daseins". 36 Fra~e (FN 23), S. 361 f. (A 149 ff.). Von "Fortschritt" sprach Kant schon früher, vgl. nur Idee (FN 23), S.46 (A 405), Gemeinspruch (FN 23), S.169 (A 277), Friede (FN 23), S.251 (A 104). 37 Idee (FN 23), S.41, 46 (A 397, 405); Gemeinspruch (FN 23), S.165 (A 271); Friede (FN 23), S.251 (A 104); Frage (FN 23), S. 365 f. Anm. (A 157 f. Anm.). 38 Zuletzt Freiheit (FN 1), S. 383 f.
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Denn in der Vermischung wird nur das Verletzliche ihres ethischen Kerns, das u. a. aus der begrenzten Tragweite und Tragkraft philosophischer Begründungsbemühungen herrührt, mit einem empirisch zweifelhaften, freilich verführerisch wirkenden Zukunfts bild überdeckt39 •
39 Von erfreulicher Ungeschminktheit insofern Menschenrechte (FN 1), S. 72: Das "Fortschreiten zum Richtigeren" ist "nicht ein bloß faktisches, sondern ein gefordertes, ein aufgegebenes, auch und gerade dann, wenn wir uns faktisch in immer Unrichtigeres verstricken sollten"; ähnlich Freiheit (FN 1), S.382.
Freiheit und Gleichheit
GERECHTIGKEIT ALS GLEICHE EINSCHRÄNKUNG DER FREIHEIT Eine Begrundungsskizze Von Otfried Höffe, Freiburg i. Ue.
1. Zur Aujgabe einer zeitgemäßen Gerechtigkeitstheorie Den höchsten Anspruch, den wir an das menschliche Zusammenleben stellen, und den letzten Grund der Rechtfertigung eines Gemeinwesens nennen wir Gerechtigkeit. Dieser Anspruch und Rechtfertigungsgrund läßt sich weder durch andere Ansprüche außer Kraft setzen noch gegen sie aushandeln. Die Gerechtigkeit bezeichnet eine unbedingte, eine sittliche Forderung. Auch wenn die Gesetze und Institutionen einer politischen Gemeinschaft noch so gut Koordination, Effizienz und Stabilität verbürgen, zugleich aber als ungerecht bekannt werden, sind sie aufzuheben oder zu verändern - vorausgesetzt, daß man überhaupt sittliche Forderungen stellt; die Gerechtigkeit ist die Sittlichkeit für das menschliche Zusammenleben. Die so verstandene Gerechtigkeit hat vor allem zwei verschiedene, aber aufeinander bezogene Grundbedeutungen. Im politischen Verständnis ist die Gerechtigkeit der fundamentale Maßstab und das letzte Kriterium der politisch-sozialen Welt, die Gerechtigkeit als Rechts- und Staatsidee. Im personalen Verständnis ist die Gerechtigkeit eine persönliche Grundhaltung im Verhältnis zu den Mitmenschen, wonach man die Forderungen der politisch-sozialen Gerechtigkeit nicht bloß gelegentlich, sondern habituell, und nicht aus Angst vor Strafen, sondern freiwillig verfolgt; dies ist die Gerechtigkeit als Grundeinstellung einer Person, die Gerechtigkeit als persönliche Tugend. Zweifelsohne hat die personale Gerechtigkeit eine große Bedeutung. Als Haltung der Bürger stellt sie beispielsweise eine wichtige Schranke gegen das Abgleiten politischer Gemeinschaften in eklatante Unrechtsverhältnisse dar. Trotzdem konzentrieren sich die folgenden Überlegungen auf die politische Gerechtigkeit, auf die Gerechtigkeit als höchsten Maßstab jeder Rechts- und Friedensordnung unter den Menschen. Damit greifen sie eines der Grundmotive Ryjjelschen Denkens auf, das Nachdenken über eine Idee des Unverfügten, des nicht bloß "norno" , sondern "physei dikaion", des von Natur aus Rechten.
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Eine zeitgemäße Theorie der politischen Gerechtigkeit steht vor allem zwei Problemen gegenüber: argumentationslogisch dem Sein-SollensFehlschluß und theoriegeschichtlich dem Werk von lohn Rawls. Weitere Aufgaben liegen in der Kritik eines strengen Rechtspositivismus und in der Auseinandersetzung mit der Idee der Herrschaftsfreiheit. Kein Beitrag zur Gerechtigkeitstheorie hat in den letzten Jahren eine so intensive internationale Diskussion hervorgerufen, wie Rawls' Theorie der Gerechtigkeit!. Rawls sucht ein Gegenmodell zu der im englischen Sprachraum vorherrschenden Ethik und politischen Philosophie, dem Utilitarismus, für den das höchste Ziel allen HandeIns, auch des politischen HandeIns, im größten Wohlergehen aller Betroffenen liegt. Dadurch wird die Gerechtigkeit zur Funktion des Gesellschaftlichen; das gesamtgesellschaftliche und nicht etwa das persönliche Befriedigungsniveau hat den Vorrang vor der persönlichen Freiheit. Eine Sklavengesellschaft oder ein Polizeistaat, die so geschickt organisiert sind, daß sie zwar stark in den persönlichen Freiheitsraum eingreifen, gleichwohl einen maximalen Gesamtnutzen garantieren, wären nicht nur erlaubt, sondern sogar sittlich geboten. Mit Recht ist Rawls dagegen überzeugt, daß die Idee der Gerechtigkeit für jede einzelne Person unverletzliche Rechte fordert, die selbst durch das Wohlergehen der ganzen Gesellschaft nicht beiseite gesetzt werden dürfen2 • Rawls' Gegenmodell zum Utilitarismus geht von gesellschaftlichen Grundgütern aus, die für jedermann von Nutzen sein sollen. Zu diesen Grundgütern zählt Rawls Rechte und Freiheiten, Chancen und Macht, Einkommen und Wohlstand, schließlich die Selbstachtung. Die Grundordnung einer Gesellschaft gilt dann als gerecht, wenn alle Mitglieder, insbesondere die von Natur aus Benachteiligten, einen möglichst großen Anteil an diesen Grundgütern erhalten. Obwohl Rawls den Utilitarismus verwirft, entpuppt sich seine Theorie der Gerechtigkeit bei näherer Betrachtung als eine halbherzige Alternative zum Utilitarismus. Denn erstens enthält die Liste der gesellschaftlichen Grundgüter heterogene Elemente; während die Rechte und Freiheiten unabhängig vom menschlichen Glücksverlangen definiert werden können, deshalb einen Gegenentwurf zum Utilitarismus möglich machen, sind Chancen, Macht, Einkommen und Wohlstand allgemeine Mittel, um die unterschiedlichen Bedürfnisse und Interessen der Menschen, letztlich ihre Lebenspläne zu erfüllen; eine allseitige Erfüllung ! A Theory of Justice, Cambridge (Mass.) 1971 (dt.: Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt/M. 1975). Vgl. dazu N. Daniels, Reading Rawls. Critical Studies on Rawls' "A Theory of Justice", New York 1975; O. Höfte (Hrsg.), Über John Rawls' Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt/M. 1977. 2 Rawls (FN 1), § 1.
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der Bedürfnisse und Interessen bedeutet aber Glück. Nun kennzeichnet die Verpflichtung der Gerechtigkeit auf das menschliche Glück den Utilitarismus, so daß sich Rawls' Gerechtigkeitstheorie von den gesellschaftlichen Grundgütern her gesehen nicht deutlich genug gegen den Utilitarismus entscheidet. Mehr noch: Rawls' Theorie erscheint als eine neue Spielart des Utilitarismus, die sich von den bisherigen Spielarten vor allem dadurch unterscheidet, daß sie das Glück nicht als direktes, sondern nur als indirektes, als über die gesellschaftlichen Grundgüter vermitteltes Ziel beansprucht. Weiterhin versucht Rawls die Überlegenheit seiner Idee der Gerechtigkeit als Fairness über den Utilitarismus mit Hilfe der Entscheidungstheorie zu erweisen. Eine kritische Nachprüfung zeigt aber, daß der entscheidungstheoretische Ansatz bei einem der Rawlsschen Gerechtigkeitsprinzipien genau zum maximalen Durchschnittsnutzen führt, also zum Utilitarismus und nicht zu Rawls' Maximenregel; Rawls' eigener Ansatz legitimiert die Konkurrenz. Denn unter Rawls' Schleier der Unwissenheit ist die Entscheidung im ursprünglichen Zustand keine Entscheidung unter Ungewißheit, sondern eine unter Unsicherheit. Deren Rationalitätskriterium heißt aber: "Maximiere die Nutzenerwartungen." Nun sind die Nutzenerwartungen gleich dem Durchschnittsnutzen, so daß das Rationalitätskriterium lautet: "Maximiere den Durchschnittsnutzen." Dieses Kriterium entspricht aber gen au dem letzten Maßstab des Utilitarismus3• Drittens sind selbst die Rechte und Freiheiten bei Rawls nicht frei von einem utilitaristischen Einschlag. Sie gelten nämlich als allgemeine Bedingungen für das Verfolgen beliebiger Lebenspläne, werden also - wenn auch auf indirekte Weise - mit dem menschlichen Glück verknüpft und nicht unabhängig von ihm definiert. Weil Rawls zu Recht einen Gegenentwurf zum Utilitarismus sucht, ihm aber nur ein "halbherziges" Gegenmodell gelingt, soll im folgenden eine Gerechtigkeitstheorie skizziert werden, die ein klarer Gegenentwurf zum Utilitarismus ist. Der Gegenentwurf versteht die politische Gerechtigkeit nicht in Begriffen von Bedürfnissen, Interessen und deren Erfüllung, dem Glück. Er definiert die politische Gerechtigkeit ausschließlich in Begriffen von Freiheit. Näherhin behauptet er, daß die Grundidee der politischen Gerechtigkeit weder im maximalen Glück liegt, wie der Utilitarismus annimmt, noch im Rawlsschen Sinn als Fairness zu verstehen ist. Die politische Gerechtigkeit besteht viel3 Vgl. O. Hölle, Sittlichkeit als Rationalität des HandeIns?, in: H. Schnädelbach (Hrsg.), .Rationalität. Philosophische Beiträge, Frankfurt/M. 1984, S. 141174; ders., How Kantian is Rawls' Theory of Justice?, in: Ratio (Dezember 1984).
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mehr in der gleichen Freiheit, genauer: in der gleichen Einschränkung und Sicherung von Handlungsfreiheit. Eine zeitgemäße Gerechtigkeitstheorie hat sich nicht nur mit Rawls und dem Utilitarismus auseinanderzusetzen. Sie muß auch dem SeinSollens-Fehlschluß entgehen, der von vielen leichtfertig mit dem naturalistischen Fehlschluß gleichgesetzt wird. Der Sein-Sollens-Fehlschluß besteht in dem Versuch, vorschreibende oder präskriptive Aussagen (Sollenssätze) allein aus beschreibenden oder deskriptiven Aussagen (Seinssätzen) abzuleiten. Eine solche Ableitung ist aber schon aus formallogischen Gründen nicht möglich. Da Sollensaussagen gegenüber Seinsaussagen per definitionem ein neues Behauptungselement enthalten, kann man sie aus bloßen Seinsaussagen nicht erschließen. Die im folgenden skizzierte Gerechtigkeitstheorie entgeht dem SeinSollens-Fehlschluß dadurch, daß sie in der Gerechtigkeitstheorie argumentationslogisch zwei Begründungselemente voneinander unterscheidet. Auf der einen Seite werden jene Anwendungsbedingungen politischer Gerechtigkeit untersucht, die in einem weiteren Sinne beschreibender und nicht vorschreibender, die deskriptiver, nicht präskriptiver Natur sind. Auf der anderen Seite ist eine Idee der Sittlichkeit vonnöten, und diese hat für den Menschen präskriptive Bedeutung. Da sich das Prinzip der politischen Gerechtigkeit erst aus der Vermittlung der Sittlichkeitsidee mit den Anwendungsbedingungen der Gerechtigkeit ergibt, beruht die Gerechtigkeitstheorie nicht ausschließlich auf deskriptiver Aussage, entgeht also dem Sein-Sollens-Fehlschluß. Komplementär zum Sein-Sollens-Fehlschluß ist der normativistische oder ethizistische Fehlschluß zu vermeiden, dem etwa Hegels gegen Kant gerichteten Vorwurf eines ungeschichtlichen Sollens entspricht. Der normativistische und genauer ethizistische Fehlschluß besteht in dem Versuch, allein aus normativen Überlegungen, insbesondere zum ethischen Prinzip der Sittlichkeit, spezifische oder gar konkrete Verbindlichkeiten abzuleiten. Tatsächlich ergeben normative Überlegungen aber nicht mehr als einen allgemeinsten Beurteilungsmaßstab, der noch mit deskriptiven Grundelementen, dann noch mit spezifischen Sachgesetzlichkeiten und schließlich mit konkreten Bedingungen der jeweiligen Lebenswelt und Handlungssituation vermittelt werden muß, um sachspezifische Verbindlichkeit zu gewinnen. Die folgende Gerechtigkeitstheorie entgeht dem normativistischen Fehlschluß schon dadurch, daß sie ihr Prinzip der Gerechtigkeit nicht aus normativen Überlegungen zur Idee der Sittlichkeit allein, sondern erst aus ihrer Verbindung mit den Anwendungsbedingungen der Gerechtigkeit gewinnt. Weiterhin entgeht sie dem Fehlschluß dadurch, daß die Begründung des höchsten
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Gerechtigkeitsprinzips nur als ein erster Schritt einer Theorie spezifischer und konkreter Gerechtigkeit gilt. Die Begründung von Gerechtigkeitsprinzipien macht nur unter der Voraussetzung einen Sinn, daß es jene Lebenswirklichkeit braucht, auf die sich die Prinzipien beziehen. Die Grundelemente der Lebenswirklichkeit, auf die sich die Gerechtigkeitsprinzipien beziehen, heißen die Anwendungsbedingungen der Gerechtigkeit. Vereinfacht gesagt, besteht die Lebenswirklichkeit der politischen Gerechtigkeit im Recht. Die politische Gerechtigkeit geht daher davon aus, daß es unter den Menschen Rechtsverhältnisse gibt, mehr noch: daß das Bestehen von Rechtsverhältnissen sinnvoll ist. In einem ersten Schritt der Gerechtigkeitstheorie soll genau dies gezeigt werden. Damit wird die Utopie der Herrschaftsfreiheit kritisiert, die auf Rechtsverhältnisse glaubt verzichten zu können. Nun können die Rechtsverhältnisse unter den Menschen unterschiedlich gestaltet sein. Die Idee der politischen Gerechtigkeit bestimmt, unter Anerkennung welcher Prinzipien die Rechtsverhältnisse als vernünftig, als sittlich betrachtet werden können. Das ist der zweite Schritt der Gerechtigkeitstheorie, mit dem die den Utopien der Herrschaftsfreiheit entgegengesetzte Position kritisiert wird, die Auffassung eines strengen Rechtspositivismus, nach dem beliebige Bestimmungen und Strukturen den Rang geltenden Rechts haben dürfen.
2. Die Anwendungsbedingungen politischer Gerechtigkeit Jede Rechtsordnung enthält ein Moment von Freiheitseinschränkung und in diesem formalen Sinn ein Moment von Herrschaft. Selbst eine durch und durch gerechte Rechtsordnung, die die Menschen weder ausbeutet noch unterdrückt oder gar versklavt, enthält nämlich Gebote und Verbote, die sich gegen den erklärten Willen von einzelnen richten und sich notfalls mit Zwang Geltung verschaffen. Man denke nur an die Strafgesetze, die Leib und Leben schützen sollen. Weil eine jede Rechtsordnung die menschliche Freiheit einschränkt, insofern ein Moment der Herrschaft in sich enthält, und weil keiner gern Freiheitseinschränkungen bzw. Herrschaft hinnimmt, ist der immer wieder neue Entwurf von Sozialutopien, die auf jegliche Rechtsordnung und Herrschaft verzichten, oder positiv gewendet, die für eine streng herrschaftsfreie Form des Zusammenlebens eintreten, nur "natürlich". Gewiß hat die Idee herrschaftsfreier Kommunikation für die verschiedenen Philosophen und Sozialtheoretiker eine unterschiedliche Bedeutung. Nicht immer verbindet sich mit der Idee der Herrschaftsfreiheit die Ansicht, das menschliche Zusammenleben könne und solle ohne die Rechts- und
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Staatsordnung auskommen. Sofern aber diese Behauptung vertreten wird, muß man sich fragen, ob sie einer näheren Analyse standhält. Die Theorie der Gerechtigkeit als gleicher Freiheit bestreitet es; denn solche Sozialutopien herrschaftsfreier Kommunikation erweisen sich bei näherer Analyse als widersprüchlich. Freilich muß man sich dann selbstkritisch - fragen, ob eine Theorie politischer Gerechtigkeit nicht ebenso ein widersprüchliches Unternehmen ist, widersprüchlich deshalb, weil die Freiheit, in deren Namen die Rechtsverhältnisse als legitim erklärt werden sollen, durch jede Rechtsordnung eingeschränkt wird, mithin eine Gerechtigkeitstheorie im Namen der Freiheit als unmöglich erscheint. Die Frage nach der Notwendigkeit einer Rechts- und Herrschaftsordnung setzt ein Vorverständnis dessen voraus, was Recht ist. Recht besteht aus Gesetzen (Geboten, Verboten und Verfahrensvorschriften). Seine Bestimmungen betreffen das Zusammenleben, das Mit- und Gegeneinanderleben, von Menschen; einer allein kann vielleicht moralische, aber keine Rechtsgesetze haben. Im Unterschied zu Naturgesetzen gehört zu Rechtsgesetzen ein Moment des Sollens. Auch wenn sie in Kraft getreten sind, werden sie nicht eo ipso befolgt. Ihre Anerkennung ist nicht unabhängig von denen, die den Gesetzen unterworfen sind. Deshalb können Rechtsverhältnisse nur dort bestehen, wo die Betroffenen sie anerkennen oder verweigern können, das heißt dort, wo ihr Tun und Lassen nicht nur nach Naturgesetzen geschieht. Rechtsverhältnisse können nur zwischen Wesen bestehen, denen ihr Handeln zugerechnet werden kann, die für es verantwortlich sind. Das gilt nicht für Tiere oder gar Pflanzen und Mineralien, sondern nur für Menschen. Tiere können und sollen Objekte von Gesetzen sein (Tierschutzgesetzen); sie sind aber nicht Adressaten der Gesetze, das heißt Wesen, denen man Rechtsvorschriften machen kann. In einem grundsätzlichen Sinn zurechnungsfähig ist jemand, der aus sich heraus, ohne äußeren Zwang, Zwecke setzen und die Zwecke mit Hilfe der ihm als sinnvoll erscheinenden Mittel verfolgen kann. Insofern das Handeln zurechnungsfähiger Subjekte nicht aus äußerem Zwang allein erfolgt, ist der Handelnde frei, so, aber auch anders zu agieren; und das, was er tatsächlich tut und läßt, kann ihm zugerechnet werden. Rechtsverhältnisse bestehen also nur zwischen freien Personen. Sind die Menschen aber tatsächlich frei? Mehr noch: Ist es sinnvoll, eine Gerechtigkeitstheorie auf einer so kontroversen Grundlage aufzubauen, wie es die Freiheit darstellt? Zugegeben: Der Mensch steht unter mannigfachen natürlichen, dann auch psychischen und geschichtlichgesellschaftlichen Bedingungen. Der Mensch ist keineswegs frei im Sinne von "indeterminiert". Durch die vielfältigen Bedingungen ist er
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aber weder vollständig noch eindeutig festgelegt. Wegen seiner Erkenntnisfähigkeit und Sprachbegabung kann er sich in ein Verhältnis zu seinen Lebensbedingungen setzen und kraft dieses Selbstverhältnisses die Bedingungen zuerst einmal benennen und in ihren Zusammenhängen erkennen; darüber hinaus kann er die Verhältnisse nach Maßgabe seiner Interessen beurteilen; er kann die Bedingungen sich aneignen und schöpferisch verarbeiten; er kann sie anerkennen oder aber verwerfen und sich dann - allein oder mit anderen, kurz- oder langfristig - um ihre Veränderung bemühen. Weil der Mensch erkenntnisfähig und sprachbegabt ist, kann er sich Vorstellungen von dem machen, was zu seinem überleben notwendig ist und was darüber hinaus zu einem angenehmen und guten Leben gehört. Der Mensch kann sich Ziele und Zwecke setzen, die solchen Vorstellungen entsprechen und sie durch sein Tun und Lassen zu verwirklichen trachten. In diesem Sinn ist der Mensch in seinem Handeln frei, ist er zurechnungsfähig. Die Freiheit, die im Recht vorausgesetzt wird, ist also nicht die moralische Freiheit, die Freiheit des Willens, sondern die Freiheit des HandeIns. Beim Bilden der Vorstellungen, beim Setzen der Zwecke und bei ihrem Verfolgen kann der Mensch erfolgreich sein, aber auch erfolglos bleiben. Er kann seine Zwecke aufgrund widriger Umstände oder deshalb verfehlen, weil er Zwecke verfolgt, deren Mittel sich gegenseitig ausschließen; weil er beispielsweise auf großem Fuße leben und gleichzeitig durch Sparen reich werden will. Andererseits kann der Mensch methodische Verfahren zur Bildung der Vorstellungen, zum Setzen der Zwecke und vor allem zur Verwirklichung seiner Zwecke entwickeln, ferner kann er die Verfahren zu Fertigkeiten, Künsten und Wissenschaften ausbilden. Dort, wo dem Menschen die Zurechnungsfähigkeit grundsätzlich bestritten wird, dort müßte ihm auch die Erkenntnis- und Sprachfähigkeit abgesprochen werden. Das steht aber nicht nur nicht im Einklang mit der Erfahrung. Es widerspräche sich auch selbst. Denn das Absprechen ist selbst eine Weise des Sprechens, sogar eine hoch elaborierte Weise, widerlegt also die Behauptung der Nichtsprachfähigkeit durch die Tat. Weiterhin wäre zwar das Recht, aber auch jenes alternative Zusammenleben überflüssig, das - gemäß der Utopie der Herrschaftsfreiheit - der Freiheit verpflichtet ist. Dort, wo die erste Anwendungsbedingung von Recht und Gerechtigkeit, die Handlungsfreiheit, entfällt, nimmt man sich auch jede Möglichkeit einer Kritik an Recht und Gerechtigkeit. Die Zurechnungsfähigkeit allein schafft aber keine Rechtsprobleme; der einsame Robinson keImt kein Recht. Das Recht setzt voraus, daß es
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mehr als ein zurechnungsfähiges Wesen gibt; als zweite Anwendungsbedingung gehört zum Recht das Miteinanderleben; das Recht ist von seinem Ursprung her ein soziales Phänomen oder, wie manche zu sagen vorziehen, eine Form von Interaktion und Kommunikation. Mit den beiden Momenten der Zurechnungsfähigkeit und des Miteinanderlebens wird das Entscheidende der Anwendungsbedingungen genannt und die Diskussionen vieler Zusatzprobleme zur Makulatur. Der im Laufe der Geistesgeschichte immer wieder auflebende Streit, warum die Menschen miteinander leben, ob ihr Zusammenleben friedlicher oder aggressiver Natur ist und wo die Gründe möglicher Aggressivität liegen - all diese anthropologischen, teilweise auch geschichtsphilosophischen Fragen, all diese empirischen oder spekulativen Probleme mögen bei der Anwendung der Gerechtigkeitsprinzipien von Bedeutung sein; bei ihrer letzten Begründung sind sie aber überflüssig. Auch die Frage, warum zurechnungsfähige Subjekte miteinander leben, braucht auf der fundamentalsten Ebene der Gerechtigkeitsbegründung nicht erörtert zu werden. Das heißt nicht, daß es nicht vielfältige Gründe für das Zusammenleben gebe: die Begrenzung der Erde, die die Menschen als gemeinsamen Lebensraum miteinander teilen müssen; die Hilfsbedürftigkeit von Kindern, die Fortpflanzung, die Erleichterung des Wirtschaftens durch Arbeitsteilung oder die Sprachbegabung, die nicht nur die Fähigkeit, sondern auch das Interesse am Miteinanderreden meint. Doch handelt es sich hier um Zusatzaspekte, die zwar für konkrete Rechtsverhältnisse, aber nicht für die Grundfrage entscheidend sind, warum es überhaupt Rechtsverhältnisse braucht. Insofern es dem Recht auf seiner fundamentalsten Ebene um das Miteinanderleben zurechnungsfähiger Subjekte geht, sind Bedürfnisse und Interessen, die nicht handlungsrnächtig werden, fundamentalrechtlich gesehen zuerst einmal unerheblich. Recht wird nicht erst deshalb notwendig, weil Bedürfniswesen zusammenleben; denn auch Tiere haben Bedürfnisse und leben doch nicht in Rechtsgemeinschaften. Das Recht ist nur dort eine unverzichtbare Institution, wo die Koexistenz von Freiheitswesen auf dem Spiel steht. Daher ist im Gegensatz zum Utilitarismus die Rechtsgemeinschaft in erster Linie keine Solidargemeinschaft der Bedürftigen, sondern eine Freiheitsgemeinschaft zurechnungsfähiger Personen. Sobald es um mehr als ein handlungsfreies Wesen geht, kann das Handeln, das der eine vorhat, in einen Gegensatz zum Handeln des anderen treten. Beispielsweise will jemand ein bestimmtes Gebiet bewirtschaften, das wegen des günstigen Klimas und des fruchtbaren Bodens auch von anderen gesucht wird. So tritt die Freiheit des einen in einen Konflikt mit der Freiheit des anderen. Allgemein: Sobald es mehr
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als ein handlungsfreies Wesen gibt, ist eine unbegrenzte Handlungsfreiheit aller nicht mehr möglich. Und dies ist der genaue Grund, der in letzter Instanz das Recht notwendig macht: Das Recht braucht es, weil die Handlungsfreiheit des einen in einen Gegensatz zur Handlungsfreiheit des anderen treten kann, deshalb die Koexistenz unbegrenzter Freiheit unmöglich ist und die Art und Weise der Koexistenz bestimmt werden muß. Das Recht braucht es dort. wo das Zusammenleben nicht ständig eitel Liebe und Freundschaft ist, es vielmehr auch Konflikte geben kann. Dabei bleibt es sich gleich, woher im Einzelfall die Konflikte kommen; Böswilligkeit oder Schädigungsabsichten sind keineswegs notwendigerweise vorausgesetzt; der Grundbegriff des Rechts ist die Konfliktmöglichkeit, nicht die Aggression. Den Vertretern der Sozialutopien herrschaftsfreier Kommunikation muß man in dem Punkt zustimmen, daß durch das Recht die menschliche Freiheit eingeschränkt wird. Widersprechen muß man aber der Ansicht, eine solche Einschränkung sei überflüssig, ja sogar freiheitsfeindlich. Tatsächlich ist eine Koexistenz unbegrenzter Handlungsfreiheit nicht bloß wenig wünschenswert, sondern sogar in einem strengen Sinn undenkbar. Und die Undenkbarkeit beruht nicht auf irgendwelchen Zusatzargumenten, über die sich beispielsweise liberalistische und marxistische Philosophen immer wieder streiten. Die Nichtdenkbarkeit gründet nämlich weder auf der Voraussetzung, der Mensch sei von Natur aus egoistisch, ungesellig, machtbesessen oder gewalttätig, noch auf der Voraussetzung einer Knappheit jener Güter, die der Mensch zur Befriedigung seiner Bedürfnisse und Interessen braucht. Die Grenzen menschlicher Freiheit kommen nicht erst von außerhalb der Freiheit. Sie beginnen weder mit der Güterknappheit noch mit den Wachstumsgrenzen. Sie liegen auch nicht in einer - vielleicht ökonomisch bedingten - Verschlechterung des Menschen, selbst nicht in einer Verbindung all dieser Faktoren. Die Grenzen der Freiheit gründen schon in der Freiheit, nach eigenem Gutdünken Zwecke zu setzen und zu verfolgen; sie gründen in der menschlichen Handlungsfreiheit. Ohne die Einschränkung und gleichzeitige Sicherung der Handlungsfreiheit, ohne eine verbindliche Rechtsordnung, ist die Freiheit von jedermann jederzeit von der Vernichtung durch die Freiheit anderer bedroht; eine unbegrenzte Freiheit, ein Recht auf alles, entpuppt sich in sozialer Perspektive als ein Recht auf nichts, genauer: kein Recht auf irgendetwas. Eine vernünftige Gestaltung des menschlichen Zusammenlebens besteht deshalb nicht in der überwindung aller Rechts- und Staatsverhältnisse, nicht in einem Jenseits von Recht und Staat, sondern in deren sittlichen Gestaltung.
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3. Das Prinzip politischer Gerechtigkeit Nachdem die Anwendungsbedingungen der Gerechtigkeit skizziert sind, ist das genuin normative Element zu erörtern, das Prinzip der Sittlichkeit. Unter dem gesuchten Prinzip der Sittlichkeit ist nicht der letzte Grund dafür zu verstehen, daß ein Mensch sittlich handeln kann. Die Frage nach der Bedingung der Möglichkeit eines sittlichen Subjekts gehört in die personale Ethik. Im Zusammenhang der politischen Gerechtigkeit ist dagegen ein Begriff und letzter Maßstab der Sittlichkeit gesucht. Beides: Begriff und Maßstab, sind in der Geschichte der Philosophie heftig umstritten. In der neuzeitlichen und zeitgenössischen Philosophie werden vor allem vier Bestimmungen vertreten. Bei Hobbes finden wir als Maßstab der Sittlichkeit (des Guten) das Selbstinteresse oder eigene Wohlergehen; der Utilitarismus definiert die Sittlichkeit vom Wohlergehen aller Betroffenen; nach Kant heißt der höchste Maßstab kategorischer Imperativ; die Kommunikations- und Diskursethiker schließlich vertreten die ideale Kommunikationsgemeinschaft bzw. den zwanglosen Diskurs als höchstes Kriterium. Unter dem kategorischen Imperativ versteht Kant jenes schlechthin höchste Gebot, das ohne jede Einschränkung, das unbedingt gültig ist. Der kategorische Imperativ steht im Gegensatz zu technischen Imperativen der Geschicklichkeit, die nur unter Voraussetzung gewisser Absichten gelten, und im Gegensatz zu den pragmatischen Imperativen der Klugheit, die bestimmte Handlungen als Mittel zum eigenen Glück gebieten. Der kategorIsche Imperativ fordert nämlich zu Handlungen auf, die nicht im bezug auf etwas anderes, sondern als solche und für sich selbst gut sind. Weil er jede subjektive Absicht, auch die allgemeinste, das Glück, ausschließt, ist er objektiv, allgemein und notwendig gültig. Mit der Aufforderung zum sittlichen Handeln nennt er das höchste Kriterium; es lautet: "handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde"4. In der zeitgenössischen Diskussion ist Kants Maßstab der Sittlichkeit wieder aufgegriffen worden. Man findet ihn - allerdings mit einschneidenden Veränderungen - als Prinzip der Verallgemeinbarkeit von Handlungsgrundsätzen5; er steckt in Rawls' Gerechtigkeitstheorie sowie in den DiskurstheorIen von Apel, Habermas6 und der Erlanger Schule7 • 4 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: Kants Werke, hrsg. von der Preussischen Akademie der Wissenschaften, Bd. IV, Berlin 1903, S. 421. 5 Vgl. R. M. Hure, Freedom and Reason, Oxford 1963 (dt.: Freiheit und Vernunft, Düsseldorf 1973); M. G. Singer, Generalization in Ethics, 2. Aufl., London 1971 (dt.: Verallgemeinerung in der Ethik. Zur Logik moralischen Argumentierens, Frankfurt/M. 1975).
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Wie kann man den Streit um den richtigen Maßstab der Sittlichkeit vorurteilsfrei und auf methodischem Weg lösen? Zuerst ist der Begriff der Sittlichkeit zu klären, dann können wir mit Hilfe der Begriffsklärung die Kontroverse um den Sittlichkeitsmaßstab zu lösen suchen. Die Frage nach dem letzten Maßstab beginnt mit einer - hier nur angedeuteten - Begriffsanalyse; die normative Ethik und politische Philosophie basiert auf der heute so genannten Metaethik, obwohl die Sache selbst älter ist. Auch Aristoteles' "Nikomachische Ethik" und Kants "Grundlegung" und "Kritik der praktischen Vernunft" beginnen mit "metaethischen" Elementen. Unter Sittlichkeit versteht man den schlechthin höchsten Anspruch, den wir an die menschliche Praxis stellen, sei es in ihrer personalen, sei es in ihrer politisch-sozialen Dimension. Im Fall der Sittlichkeit personaler Praxis spricht man von Moralität, im Fall der Rechts- und Staatsordnung von politischer Gerechtigkeit. Bevor man in die Auseinandersetzung um die inhaltliche Bestimmung der Sittlichkeit eintritt, kann man deshalb folgendes sagen: Sittlichkeit meint das schlechthin oder ohne Einschränkung Gute, etwas, das nicht erst zu oder für etwas anderes, das vielmehr an und für sich selbst gut, das unbedingt verbindlich ist. Uneingeschränkt oder unbedingt verbindlich ist aber nur eine Praxis, die nicht von den mehr oder weniger zufälligen Absichten eines Menschen oder Menschentyps abhängt, die vielmehr allgemein (universal) gültig ist. Das bedeutet, positiv formuliert, daß die strenge Verallgemeinerbarkeit einer Praxis das Merkmal ihrer Sittlichkeit darstellt. Insofern läßt sich die angedeutete Konkurrenz in der philosophischen Ethik zugunsten Kants entscheiden. Mit dem Begriff des kategorischen Imperativs hat Kant das Wesen der Sittlichkeit richtig bestimmt; es bezeichnet eine uneingeschränkt gültige Verbindlichkeit. Darüber hinaus hat er mit dem Kriterium der Verallgemeinerung den letzten Maßstab der Sittlichkeit getroffen. Das höchste Kriterium liegt nicht im individuellen oder kollektiven Wohlergehen; es liegt in der strengen Verallgemeinerung der zugrundeliegenden Prinzipien8• Wendet man diesen Maßstab auf den Bereich des Rechts an, so ergibt sich das Gerechtigkeitsprinzip, das höchste Kriterium der politischen Gerechtigkeit. Das Gerechtigkeitsprinzip folgt aus der Vermittlung von zwei (methodisch, nicht notwendigerweise in der Wirklichkeit) verschie6 K.-O. Apel, Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft und die Grundlagen der Ethik, in: ders., Transformation der Philosophie, Bd. 11, Frankfurt/ M. 1973, S.358-435; J. Habermas, Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt/M. 1983. 7 Vgl. F. Kambartel (Hrsg.), Praktische Philosophie und Wissenschaftstheorie, Frankfurt/M. 1974. 8 Zur näheren Kant-Interpretation vgl. O. Höfte, Immanuel Kant, München 1983, Kap. 9.
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denen Elementen, den Anwendungsbedingungen von Recht und Gerechtigkeit auf der einen Seite mit dem Prinzip der Sittlichkeit auf der anderen. Da das Prinzip der Sittlichkeit normative Bedeutung hat, die Anwendungsbedingungen in einem weiteren Sinn deskriptiver Natur sind, folgt das Prinzip aus der Verbindung normativer mit deskriptiven Elementen, und die Gerechtigkeitsbegründung entgeht dem Sein-SollensFehlschluß. Durch die Verbindung des Verallgemeinerungsprinzips mit der Rechtsaufgabe, die Grundstruktur der Freiheitsgemeinschaft zu gestalten, ergibt sich das höchste Kriterium, der Gerechtigkeitsmaßstab für das Recht. Während sich mit der Rechtsaufgabe die Utopie der Herrschaftsfreiheit als Rechts- und Staatstheorie kritisieren läßt, wird mit dem Gerechtigkeitsprinzip ein strenger Rechtspositivismus verworfen, nämlich die Vorstellung, der Rechts- und Verfassungsgeber dürfe Beliebiges in den Rang geltenden Rechts erheben. So tritt an die Stelle der Herrschaftsfreiheit nicht die Willkürherrschaft. Vielmehr werden beide Ansichten, die der Herrschaftsfreiheit und die der Willkürherrschaft, verworfen. Gegen jene wird die Notwendigkeit einer Rechts- und Staatsordnung, gegen diese die der Gerechtigkeit und gerechten Herrschaft behauptet. Und nur diese Verbindung von grundsätzlicher Legitimation und ebenso prinzipieller Limitation von Herrschaft im Begriff der gerechten Herrschaft wird der philosophischen Begründungsaufgabe gerecht. Denn nicht, weil er die Notwendigkeit positiven Rechts und seiner öffentlichen Sicherung herausstellt, ist der Rechtspositivismus zu verwerfen, sondern weil er diese richtige Legitimationsaufgabe nicht im Zusammenhang der Limitation von Herrschaft sieht, während umgekehrt die Utopien der Herrschaftsfreiheit die Limitation behaupten, ohne die Notwendigkeit einer Rechts- und Staatsordnung und in diesem Sinne von Herrschaft anzunehmen. Dem sittlichen Anspruch auf strenge Verallgemeinerung genügt nur eine Rechtsordnung, die erstens die wechselseitige Bedrohung menschlicher Handlungsfreiheiten aufhebt und sie zweitens so aufhebt, daß die Handlungsfreiheit nicht nur für die Mächtigen garantiert wird, wobei die Macht nicht allein körperlicher, sondern auch seelischer, wirtschaftlicher oder intellektueller Art sein kann. Eine streng allgemeine Aufhebung der wechselseitigen Freiheitsbedrohung geschieht dort, wo die unbegrenzte Handlungsfreiheit eines jeden so weit eingeschränkt wird, wie es notwendig ist, um dieselbe Handlungsfreiheit jedes anderen zu ermöglichen. Die Aufhebung gegenseitiger Freiheitsbedrohung liegt dort vor, wo die Einschränkung der Handlungsfreiheit allgemeinen Grundsätzen folgt, die für alle Personen streng gleich sind. Die politische Gerechtigkeit ist deshalb der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die
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Handlungsfreiheit des einen mit der Handlungsfreiheit jedes anderen nach streng allgemeinen Gesetzen vereinigt werden kann. Das Prinzip der wechselseitigen Einschränkung und Sicherung von Handlungsfreiheit nach allgemeinen Gesetzen nenne ich kürzer das Prinzip der gleichen Freiheit. Sein Grundgedanke verdankt sich Kants Rechtslehre, besonders den Einleitungsparagraphen A-C9• Die politische Gerechtigkeit ist ihrem philosophischen Begriff nach die grundsätzliche Ermöglichung von Handlungsfreiheit in sozialer Perspektive. Sofern das menschliche Zusammenleben in seiner Grundstruktur sittlich (wir können auch sagen: vernünftig) sein will, muß es Rechtscharakter annehmen und das Recht nach dem Prinzip der politischen Gerechtigkeit gestaltet werden. Gerechte Rechtsverhältnisse sind keine zufälligen und schon gar nicht willkürlichen Einrichtungen; sie sind, sittlich betrachtet, notwendig. Das bedeutet freilich nicht, daß jede positive Rechtsbestimmung sittlich erlaubt oder gar sittlich geboten sei. Ganz im Gegenteil ist das Prinzip der gleichen Freiheit der höchste Maßstab, an dem alles positive Recht zu messen ist und sich als legitim ausweist. Rechtsverhältnisse sind dann gerechtfertigt, wenn sie jenes Maß an Freiheit ermöglichen, das mit demselben Freiheitsrnaß aller anderen nach streng allgemeinen Gesetzen verträglich ist. Mit Hilfe des Prinzips der gleichen Freiheit wird die Sittlichkeit (Vernünftigkeit) und nicht die positive Geltung, auch nicht die Wohlfahrtsgemäßheit von Rechtsverhältnissen beurteilt. Jene Rechts- und Staatsordnung ist in einem grundlegenden Sinn gerecht, die eine Freiheitsgemeinschaft nach streng allgemeinen Gesetzen ermöglicht. Das Prinzip des gleichen Rechts begründet einen höchsten subjektiven Anspruch, nämlich den Anspruch jedes handlungs freien (zurechnungsfähigen) Subjekts, mit jedem anderen unter Rechtsverhältnissen zu leben, die dem Prinzip der politischen Gerechtigkeit genügen. Aus dem Gerechtigkeitsprinzip folgt auch die Befugnis des Rechts zu zwingen. In der Zwangsbefugnis liegt daher keine vernunftwidrige Gewalt, keine sittlich illegitime Anmaßung der positiven Rechtsordnung, vielmehr ein unverzichtbares Element jedes Rechts, das gerecht sein will. So paradox es zuerst erscheinen mag: Ohne die Zwangsbefugnis läßt sich ein Recht, das auf die gleiche Freiheit verpflichtet ist, nicht denken. Daher sind noch einmal alle Sozialutopien zurückzuweisen, die auf jegliche Herrschaft, mithin auch auf den Zwangscharakter des Rechts verzichten, und zwar mit jenem Argument, auf das sich die Utopien selber berufen, mit dem Argument der Freiheit. Denn nach dem Prinzip der gleichen Freiheit ist jede Handlung gerecht, die mit der 9
Vgl. Hötte (FN 8), Kap. 10.
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Freiheit der anderen nach allgemeinen Gesetzen vereinbar ist. Weil eine solche Handlung gerecht ist, hat man auch die Befugnis, sie auszuführen, und jede Handlung, die in diese Befugnis eingreift, ist ungerecht. Weil jeder, der einen anderen an seinen erlaubten Handlungen hindert, unrecht tut, ist der Zwang, der das illegitime Hindernis verhindert, eine Bedingung der Möglichkeit einer legitimen Freiheitsgemeinschaft und deshalb selber legitim. Mit dieser grundsätzlichen Rechtfertigung der Zwangsbefugnis werden allerdings nicht jede Art und jedes Maß von Zwang sittlich erlaubt. Rechtens ist der Zwang nur soweit, wie er der Unrechts abwehr dient. Jeder darüber hinausgehende Zwang ist selber ein Unrecht.
4. Die Menschenrechte als mittlere Prinzipien politischer Gerechtigkeit Das Prinzip der gleichen Freiheit fordert, jede Rechtsordnung nach universal gültigen Grundsätzen einzurichten. In derartigen Grundsätzen wird das letzte Prinzip politischer Gerechtigkeit gemäß den verschiedenen Grundaspekten der politisch-sozialen Welt aufgefächert. Solche spezifischen Grundsätze oder mittleren Prinzipien sind die universalen Bedingungen des Miteinanderlebens zurechnungsfähiger Wesen; sie sind die Bedingungen der gegenseitigen äußeren Anerkennung von Personen. Weil es sich um universale Bedingungen des menschlichen Zusammenlebens handelt, kommen sie dem Menschen, vom Standpunkt der politischen Gerechtigkeit her gesehen, vor und unabhängig von jeder positiven Gesetzgebung zu. Sie heißen deshalb auch Menschenrechte: angeborene, natürliche, unveräußerliche und unverletzliche Rechte jedes Menschen als Menschen. Die Menschenrechte sind Ansprüche, die jeder einzelne gegen seine Mitmenschen und gegen die staatlichen Gewalten besitzt. Weil es sich um Ansprüche handelt, die jedem Menschen als solchem zukommen, gehören sie zu dem, was die Rechtsordnung dem Menschen schuldet. Die Menschenrechte gründen nicht erst in freiwilligen und über das Geschuldete hinausgehenden Handlungen der politisch-sozialen Liebe. Ganz im Gegenteil stellen sie ein wesentliches Element einer gerechten Rechts- und Staatsordnung dar. Weil die Menschenrechte mittlere Prinzipien der politischen Gerechtigkeit sind, darf keine Rechtsordnung auf ihre Anerkennung verzichten. Auch wenn die Gesetze und die Institutionen einer politischen Gemeinschaft noch so gut innere und äußere Sicherheit, auch wenn sie Koordination, Effizienz und Stabilität, selbst wenn sie darüber hinaus das
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wirtschaftliche Wohlergehen verbürgen, zugleich aber im Widerspruch mit den Menschenrechten stehen, sind sie nach Maßgabe der Menschenrechte zu verändern. Die Menschenrechte fungieren als Schutz von Minderheiten und von Benachteiligten; sie sichern die Gleichberechtigung derjenigen, die nicht die wirtschaftlichen, politischen, religiösen und sprachlich-kulturellen Überzeugengen der Mächtigen oder der Mehrheit teilen. Deshalb sind die Menschenrechte Vorgaben im Sinne von Fundamentalkriterien oder normativen Leitprinzipien jeder Rechtsordnung. Zu den Menschenrechten zähle ich drei Gruppen von Rechten: die persönlichen Freiheitsrechte, die politischen Mitwirkungsrechte, dann die Sozial- und Kulturrechte. Diese Dreiteilung richtet sich gegen die vielfachen Versuche, die mittleren Prinzipien politischer Gerechtigkeit auf eine dieser Gruppen zu verkürzen. Eine solche Verkürzung widerspricht dem Prinzip der gleichen Freiheit und ist deshalb illegitim. Wer die persönlichen Freiheitsrechte bestreitet, nimmt dem Menschen den Anspruch auf einen streng persönlichen Handlungsraum, der gegen jegliche Beeinträchtigung anderer freizuhalten ist. Ohne die persönlichen Freiheitsrechte sind weder das Überleben noch ein angenehmes und humanes Leben möglich. Das beweist am deutlichsten das erste Freiheitsrecht, das Recht auf die Unverletzlichkeit von Leib und Leben. Gewiß können sich die Rechtsverhältnisse nicht darum kümmern, daß die Menschen ewig am Leben bleiben und nicht wegen Krankheiten, Unfällen oder Alters gebrechlich werden und schließlich sterben. Wohl können und sollen sie dafür Sorge tragen, daß Leib und Leben vor Übergriffen von Mitmenschen und auch des Staates geschützt werden. Das entsprechende Menschenrecht der Unverletzlichkeit von Leib und Leben fordert vom Staat ein doppeltes: einerseits im bezug auf die Mitmenschen das Verbot von Mord und Totschlag, von Vergewaltigung, körperlicher Verstümmelung und Mißhandlung, auch von psychischer Unterdrückung; die entsprechenden Bestimmungen des Strafrechts sind daher von menschenrechtlicher Bedeutung. Das Menschenrecht der Unverletzlichkeit von Leib und Leben fordert aber auch, in bezug auf den Staat selbst, den Schutz vor willkürlicher Verhaftung und Bestrafung, so das verfassungsgeschichtlich wohl älteste ausdrückliche Menschenrecht ("habeas corpus"); darüber hinaus fordert es das Verbot von grausamen Strafen und von Folter. Neben dem Recht auf die Unverletzlichkeit von Leib und Leben gehören zu den persönlichen Freiheitsrechten die Religions-, Glaubens- und Gewissensfreiheit, das Recht auf persönliches Eigentum, die Meinungsund Pressefreiheit, die Freiheit von Kunst und Wissenschaft, die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit usw.
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Insofern ein Gemeinwesen eine Verfassung, Gesetze und eine Regierung braucht, verbietet das Prinzip der gleichen Freiheit sowohl politische Diskriminierungen in Form einer politisch minderwertigen Unterschicht als auch politische Privilegien in der Form einer politisch höherwertigen Oberschicht. Positiv gewendet fordert das Prinzip der gleichen Freiheit die freie und gleiche Mitbestimmung aller Bürger bei der Verfassungsgebung, der Gesetzgebung und der Regierung. Da diese gleiche staatsbürgerliche Freiheit das Wesensmerkmal der Demokratie als Staatsform ausmacht, kann man pointiert sagen: die Demokratie hat den Rang eines Menschenrechts. Außenpolitisch betrachtet, fordern die gleichen politischen Mitwirkungsrechte das Selbstbestimmungsrecht aller Völker, so daß auch dieses Recht menschenrechtliche Dignität hat. Weiterhin muß eine politische Gemeinschaft, die es mit den Freiheitsrechten und den Mitwirkungsrechten ernst meint, sich auch um jene generell gültigen empirischen Bedingungen kümmern, ohne die man die Freiheits- und Mitwirkungsrechte überhaupt nicht oder nur zum geringen Teil realisieren kann. Es gehört daher zur politischen Gerechtigkeit, für jene Rahmenbedingungen wirtschaftlicher, sozialer, kultureller und politischer Natur Verantwortung zu übernehmen, die die Verwirklichung der Freiheits- und Mitwirkungsrechte unmöglich machen, die sie verhindern oder ungebührlich erschweren. Im Gegensatz zu Kritikern der Idee der sozialen Menschenrechte bzw. der Idee der Sozialstaatlichkeit lO trägt eine politische Gemeinschaft auch für die Rahmenbedingungen Mitverantwortung, unter denen die Arbeitsverhältnisse bestimmt, unter denen Einkommen, Bildung und soziale Stellung erworben, verwendet und weitergegeben werden; sie trägt Verantwortung für die Rahmenbedingungen der Berufswelt, für Situationen wie Alter, Krankheit und Unfall. Freilich dürfen die Sozialrechte nicht auf Kosten der Freiheits- und der Mitwirkungsrechte verfolgt werden. Denn sie sind als Bedingung ihrer Verwirklichung, nicht aber als deren Beeinträchtigung menschenrechtlich legitim. Die Sozialrechte begründen deshalb weniger einen Anspruch auf Versorgung als einen Anspruch auf die Ermöglichung und den Schutz persönlicher und politischer Freiheit; sie legitimieren weniger den Wohlfahrtsstaat als den freiheitsfunktionalen und demokratiefunktionalen Sozialstaat.
5. Strategien politischer Gerechtigkeit Eine Theorie politischer Gerechtigkeit verstehe ich als ein Stück praktischer Philosophie, die nach Aristoteles unter der Devise steht: "ta 10 Vgl. etwa R. Nozick, Anarchy, State .and Utopia, New York 1974 (dt.: Anarchie, Staat und Utopie, München o. J.).
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telos ou gnosis alla praxis"u. Danach zielt eine Gerechtigkeitstheorie letztlich nicht auf Erkenntnis, sondern auf Handeln, hier auf die konkrete Gerechtigkeit. Daher könnte man gegen die bisherigen Überlegungen einwenden, daß selbst in ihrer Auffächerung in Menschenrechte die politische Gerechtigkeit als gleiche Freiheit nur zum geringen Teil ein konkretes Tun und Lassen gebietet und daß die skizzierte Gerechtigkeitstheorie zu formal ist, um ihrer Praxis, der Rechts- und Staatsordnung, dienen zu können. Der Vorwurf des Formalismus ist ein Teil der HegeIschen Kritik an Kants und Fichtes transzendentaler Prinzipienbegründung des Rechts. Später hat der Vorwurf Max Scheler zum Entwurf seiner materialen Wertethik inspiriert12• Insbesondere bei Hegel steht hinter dem Formalismus-Vorwurf eine vielschichtige Problematik, zu der ich hier nur wenige Bemerkungen machen kann. Zum einen bestreitet Hegel nicht Kants Idee einer Freiheitsgemeinschaft nach universalen Gesetzen. So wird nach Hegel im Recht das "Ich als allgemeine Person aufgefaßt ... worin Alle identisch sind". Und zur Erläuterung und Begründung fährt Hegel fort 13 : "Der Mensch gilt so, weil er Mensch ist, nicht weil er Jude, Katholik, Protestant, Deutscher, Italiener u. s. f. ist." Gegen Kant legt Hegel aber darauf Wert, daß der Vernunftstandpunkt "nicht einfach vom Himmel fällt", sondern sich geschichtlichen Prozessen verdankt, in denen sich das Bewußtsein der Menschen und ihre gesellschaftlichen Verhältnisse verändern; so sind die Menschenrechte nach einem langen weltgeschichtlichen Prozeß, der vom orientalischen Reich über das griechische und das römische zum germanischen Reich führte, schließlich durch die Französische Revolution zur grundsätzlichen Verwirklichung gekommen.· In diesen Aussagen liegt Hegels große Einsicht, gewiß; sie stellen aber weniger ein Gegenmodell als eine Ergänzung zu einer Prinzipienbegründung dar. Zum anderen hat Hegel ein ähnliches Problem wie die bisher skizzierte Gerechtigkeitstheorie: Der Gedanke, daß der Mensch als Mensch zählt, ist in mittlere Prinzipien aufzufächern, und solche mittleren Prinzipien, wie die Menschenrechte, stellen erst allgemeine normative Kriterien dar, auf die die Rechtsordnung verpflichtet ist, ohne daß eine konkrete Ordnung definiert oder gen au angegeben würde, was hier und jetzt politisch zu tun und zu lassen ist. So sind die Menschenrechte Prinzipien politischer Gerechtigkeit im Sinne von Fundamentalnormen, besser: von allgemeinen Beurteilungs- und Gestaltungsprinzipien. Die Menu Ethica Nicomachea, hrsg. von Bywater, 1894 (dt.: Nikomachische Ethik, Leipzig 1921), Buch I, Kap. 1, 1095 b 5 f. 12 Formalismus in der Ethik und materiale Wertethik, 2 Bde., Halle 19131916. 13 Grundlinien der Philosophie des Rechts, hrsg. von J. Hof/meister, 4. Aufl., Hamburg 1955, § 209.
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schenrechte sind Verbindlichkeiten zweiten Grades, aus denen die konkreten Verbindlichkeiten ersten Grades nicht syllogistisch abgeleitet werden können. Es handelt sich vielmehr um Prinzipien, nach deren Maßgabe die politisch-sozialen Verhältnisse wahrgenommen und beurteilt, entworfen und tatsächlich eingerichtet oder weiterentwickelt werden müssen. So vollendet sich die Verwirklichung der politischen Gerechtigkeit erst dort, wo man die politischen Strukturen, wo man die Rechtspflege, dann auch das Bildungswesen, die Wirtschafts- und Arbeitswelt tatsächlich nach Maßgabe der Menschenrechte gestaltet. Um diese Gestaltung vornehmen zu können, braucht es nicht nur die Menschenrechte, sondern auch eine Kenntnis der Lebensverhältnisse und ihrer Sachgesetzlichkeiten. Deshalb stellt sich die Aufgabe, die Menschenrechte mit den Funktionsanforderungen von Politik, Gesellschaft und Wirtschaft sowie mit deren jeweiliger konkreter Situation zu vermitteln, die in den verschiedenen Ländern und zu verschiedenen Zeiten sehr unterschiedlich sein kann. Die konkrete Gerechtigkeit muß für solche Unterschiede offen sein; die Menschenrechte als universal gültige Prinzipien der politischen Gerechtigkeit fordern keine unterschiedslos gleiche Gestaltung der rechtlich-staatlichen Verhältnisse in aller Welt. Erst in der geschichtlich konkreten, daher geschichtlich verschiedenen Vermittlung und Anerkennung der Menschenrechte vollendet sich ihre Verwirklichung. Die Prozesse öffentlicher Entscheidungsfindung, die sich dieser ethisch-pragmatischen Grundaufgabe zeitgenössischer Politik stellen, lassen sich als "Strategien politischer Gerechtigkeit" bezeichnen. Ihnen kommt es darauf an, Prinzipien politischer Gerechtigkeit mit den Funktionsanforderungen hochkomplexer Industriegesellschaften und ihrer jeweiligen geschichtlich-gesellschaftlichen Situation methodisch zu vermitteln. Erst mit der Einsicht in diese Aufgabe 14 vollendet sich die Theorie der politischen Gerechtigkeit.
14 Vgl. O. Höfte, Strategien der Humanität, Freiburg/München 1975; Taschenbuchausgabe: Frankfurt/M. 1985.
DIE UNWANDELBARKEIT DES RECHTES: GLEICHHEIT UND UNTERSCHEIDUNG Von Gerd Roellecke, Mannheim Hans Ryffel gehört zu den Rechtsphilosophen, die zeitlebens im Wandel des Rechtes die Stetigkeit und Kontinuität gesucht haben. Ich gehe der gleichen Frage nach, aber von einem anderen Standpunkt aus.
Ich erörtere mein Problem nicht philosophisch, sondern theoretisch, man könnte auch sagen: soziologisch und politisch. Rechtsphilosophie auf der einen und Rechtstheorie oder Rechtssoziologie auf der anderen Seite behandeln zwar nicht verschiedene Objekte, sie unterscheiden sich aber in der Betrachtungswelise. Die Rechtsphilosophie fragt nach dem letzten, gerechtigkeitsstiftenden Sinn und insofern nach der Richtigkeit des Rechtes. Die Rechtstheorie (oder Rechtssoziologie) dagegen unterläuft diese Frage und fragt weiter nach dem Slinn oder der Funktion der Gerechtigkeit des Rechtes, aber nicht, um die Gerechtigkeit auszuhebeln oder zu desavouieren, sondern, um das Recht abzugrenzen. Für die Rechtstheorie ist die Gerechtigkeit einfach eine Grenze des Rechtes. Insofern ist die Frage nach der Abgrenzung des Rechtes gleichsam die nichtnormative Kehrseite der Gerechtigkeit des Rechtes. Der Rechtstheoretiker betrachtet also nicht ein anderes Recht als der Rechtsphilosoph, sondern dasselbe Recht nur von einer anderen Seite. Natürlich ist Theorie nicht gleich Theorie und Rechtssoziologie nicht gleich Rechtssoziologie. Deshalb müßte ich eigentlich den theoretischen Rahmen begründen, in dem ich argumentiere. Ich beschränke mich darauf, mich der Systemtheorie, besonders in der Version Niklas Luhmannst, anzuschließen. Die Systemtheorie knüpft an einen Tatbestand, der ebenso unleugbar wie einfach zu formulieren ist, an den Tatbestand der überkomplexität der Welt, genauer: an die Differenz zwischen Handlungsmöglichkeiten und Realisierungschancen. Seit ich mich mit Rechtstheorie beschäftige, hat mich kein Wort so tief beeindruckt wie Luhmanns 2: "Alles könnte anders sein - und fast nichts kann ich ändern." 1 Siehe N. Luhmann, Komplexität, in: ders., Soziologische Aufklärung 2. Aufsätze zur Theorie der Gesellschaft, Opladen 1975, S. 204 ff.; ders., Rechtssoziologie. 2 Bde., Reinbek bei Hamburg 1972, bes. S. 31 ff.
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Daß ich im Rahmen der Systemtheorie argumentiere, hat zwei Konsequenzen. Einmal werde ich oft von System sprechen. Dann ist immer "System" im Sinne der Systemtheorie gemeint, also ein Interaktionszusammenhang plus Differenz zur Umwelt. Zum anderen benutze ich einen systemtheoretischen Normbegriff. Unter Norm verstehe ich mit Luhmann "Erwartungen von Erwartungen". In der Sache werde ich zunächst versuchen, die Lage unseres Rechtssystems zu skizzieren. Dabei wird sich zugleich das Problem ergeben, mit dem wir es zu tun haben, und der Stand der rechtstheoretischen Erörterung dieses Problems. Daran hoffe ich einige weiterführende überlegungen anschließen zu können.
I. Mit unserem Rechtssystem meine ich vor allem das christlich-abendländische Recht, also nicht nur das deutsche; aber natürlich benutze ich vor allem das deutsche Recht als Beispiel. Von diesem unserem Rechtssystem müssen wir feststellen, daß es unübersehbar viele Normen hat, also Bündel von Erwartungen von Erwartungen. Diese Unübersichtlichkeit zwingt zu der Frage: Was konstituiert die Einheit der Vielfalt? Die prinzipielle Antwort ist seit dem Altertum bekannt: die Gerechtigkeit. Seit dem Altertum wird die Gerechtigkeit auch als. Gleichbehandlungsgrundsatz beschrieben, so daß wir sagen können: Der Gleichheitssatz konstituiert die Einheit des Rechtes. Die Einheit des Rechtes bezieht sich aber nicht nur auf das sinngebende, konstituierende Prinzip, sondern auch auf die Umwelt des Rechtssystems, das heißt auf die anderen Subsysteme der Gesellschaft und. auf das Gesellschaftssystem insgesamt. Soweit der Gleichheitssatz den Sinn des Rechtes koristituiert, muß er deshalb nicht nur nach innen wirken, sondern auch nach außen. Das tut er auch. Nach innen räumt,der Gleichheitssatz Widersprüche aus, stimmt Normen aufeinander ab, erlaubt Dogmatik usw. Nach außen dagegen, also bezogen auf die Gesamtgesellschaft und die anderen gesellschaftlichen Subsysteme, wirkt der Gleichheitssatz politisch. Politisch zielte und zielt der Gleichheitssatz auf die Aufhebung der ständischen Vorrechte' und der Klassenunterschiede, auf gleiche Teilnahme aller am Prozeß der politischen Willensbildung und auf gleiche Menschenrechte für alle. Das begann mit der politischen Gleichheit aller 2 N. Luhmann, Komplexität und Demokratie, in: ders., Politische Planung. Aufsätze zur Soziologie von Politik und Verwaltung, 2. Aufl., Opladen 1975, S. 35 ff. (44).
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Freien in der griechischen Polis, ging über die Gleichheit vor Gott im Christentum und die natürliche allgemeine Menschengleichheit der Aufklärung und endete bei der Bildungsgleichheit, also bei der Forderung, alle Bürger sollten in gleicher Weise an der Bildung - was immer man darunter versteht - teilhaben. Aber die Bildungsgleichheit zeigt, wo das politische Problem des Gleichheitssatzes heute liegt. An sich gilt immer noch der Satz aus der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789: "Soziale Unterschiede dürfen nur im gemeinen Nutzen begründet sein." Das war funktional gedacht und überbrückte rechtliche Gleichheit und soziale Ungleichheit mit dem Begriff des Gemeinwohls, in dem sich der Gedanke von Leistung und Gegenleistung noch erhalten hat. Auf die Bildungsgleichheit läßt sich der Satz der Menschen- und Bürgerrechte aber nicht anwenden. Bildung ist überhaupt nicht in den Kategorien von Gemeinwohl, Arbeitsteilung und Gegenseitigkeit zu fassen, weil sie ein Interdependenzphänomen und nicht knapp ist. Jeder kann so gebildet sein, wie er will, ohne einen anderen benachteiligen zu müssen. Daher kann man Bildung auch nicht verteilen. Wenn heute gleichwohl sehr viel von "Chancengleichheit im Bildungswesen" gesprochen wird, so bedeutet das nur, daß sich der Gleichheitssatz weitgehend verselbständigt hat und deshalb zum Problem geworden ist. Der Gleichheitssatz ist auf eine Ordnung angewiesen, die Normen enthält, mit denen man unterscheiden kann. Derzeit können wir beobachten, daß sich der Gleichheitssatz von der Ordnung von Leistung und Gegenleistung löst. Das ist das moderne politisch-philosophische Problem des Gleichheitssatzes: Die traditionelle Frage: wie ist Gleichbehandlung möglich? hat sich überlebt. Wichtig geworden ist: wie sind Unterscheidungen möglich? Die rechtsinternen Funktionen des Gleichheitssatzes hatte ich schon angedeutet. Der Gleichheitssatz räumt Widersprüche aus, stimmt Normen untereinander ab und erlaubt Dogmatik. Nach Meinung von AdalbeTt Podlech verteilt der Gleichheitssatz überdies die Rechtfertigungslast: Gleichbehandlung brauche man nicht zu begründen, Ungleichbehandlung müsse begründet werden3• Das ist aber schon eine hochmoderne Interpretation des Gleichheitssatzes, die freilich auf sehr unsicherer Basis beruht, nämlich auf einem Vertrauen in die Stabilität und Fairneß der rechtsprechenden Instanzen, das es eigentlich seit über 500 Jahren nicht mehr geben dürfte. Aus theologischen und organisatorischen Gründen gibt es seit der Reformation so etwas wie staatliche Gewaltenteilung, also die relative Verselbständigung und Ausdifferenzierung von staatlichen Organen, 3 A. Podlech, Gehalt und Funktionen des allgemeinen verfassungsrechtlichen Gleichheitssatzes, Berlin 1971, bes. S. 77 ff.
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die in Wirklichkeit aufeinander angewiesen sind. Im ewigen Landfrieden von 1495 beispielsweise übertrugen Reichstag und Kaiser dem Reichskammergericht die Aufgabe der Rechtsprechung. Damit gab es jedoch zwei verschiedene Institutionen für Gesetzgebung und Rechtsprechung, nämlich Kaiser und Reichstag auf der einen und das Reichskammergericht auf der anderen Seite - und damit wurde das Recht kontingent, zufällig. Zufälliges Recht war aber damals noch schwerer zu ertragen als heute. Deshalb mußte das Recht neu gerechtfertigt werden: mit dem Gedanken der Rechtssicherheit, der im 16. und 17. Jahrhundert ein dogmatischer Topos wurde, weil mit der Möglichkeit der Rechtsetzung, also der Gesetzgebung, in hohem Maße Ungleichbehandlung ermöglicht wurde. Rechtssicherheit bedeutet, daß der Gleichheitssatz nicht mehr auf eine gott gewollte Ordnung oder eine "Natur der Sache", sondern auf Rechtsnormen, auf gesetztes Recht selbst bezogen wird. Wenn man aber den Gleichheitssatz auf die Rechtsnormen selbst bezieht, dann kann er nicht mehr die Begrenzung und Widerspruchsfreiheit gewährleisten, die mit der Berufung auf den Gleichheitssatz immer gemeint war und ist. Mit der Anerkennung des Gedankens der Rechtssicherheit wurde der Widerspruch im Recht öffentlich, damit selbst Recht, und dadurch wurde die einheitsstiftende Wirkung des Gleichheitssatzes in Frage gestellt. 11.
Natürlich hat man dieses Problem früh gesehen und nach Lösungen gesucht. Das neue Naturrecht der Aufklärung meinte, die Lösung in den grundlegenden allgemeinen Prinzipien des geordneten Zusammenlebens gefunden zu haben, der Gesetzespositivismus hielt sich an den Grundsatz "auctoritas non veritas facit legern", und nach dem Zweiten Weltkrieg meinte man, nicht die Inhalte, sondern die Verfahren der Rechtsfindung gewährleisteten die Richtigkeit und Gerechtigkeit des Rechtes, das heißt: Gleichbehandlung. Aus zeitlichen Gründen gehe ich davon aus, daß diese Konzeptionen theoretisch nicht befriedigen, und wende mich sofort dem Versuch zu, das Problem der einheitsstiftenden Wirkung des Gleichheitssatzes noch einmal von vorn aufzurollen. Am isolierten Einzelfall kann man das Gleichheitsproblem nicht diskutieren, wie schon earl Schmitt festgestellt hat4• Man benötigt mindestens zwei Fälle. Wenn man zwei Fälle hat, dann besteht die einheitsstiftende Wirkung des Gleichheitssatzes darin, daß man diese beiden Fälle miteinander vergleichen und bei Gleichheit gleich entscheiden kann. Das gilt aber nicht nur räumlich gleichzeitig, es gilt auch inder 4
C. Schmitt, Verfassungslehre, München/Leipzig 1928 (Neudruck 1957),
S.155.
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Zeit. Der bloße Zeitablauf rechtfertigt es grundsätzlich nicht, ungleich zu behandeln. Daraus folgt: Wenn gleiche Fälle immer gleich entschieden würden und wenn der Zeitablauf irrelevant ist, dann könnte es keinen Wandel im Recht geben. Es gibt aber einen Wandel im Recht. Frage deshalb: Wie ist er zu deuten? Die Unwandelbarkeit des Rechtes ist freilich die Grundannahme archaischer oder ständischer Rechtsordnungen. In Deutschland war das Bewußtsein von der Unwandelbarkeit des Rechtes bis zur Reformation ungebrochen und baute sich seitdem nur langsam ab. In der Praxis galt der Grundsatz bis in das 19. Jahrhundert. Auf Reichsebene konnte noch im 18. Jahrhundert kein neues Recht gesetzt, sondern nur das gute alte Recht verbessert werden. Rechtshistorisch hat das übrigens eine betrübliche Folge: Soweit das gute alte Recht schriftlich fixiert war, hob man es bei Verbesserungen nicht auf, sondern ergänzte es nur durch neues Recht, wie heute noch im Fall der amerikanischen Verfassung. Die Unwandelbarkeit des Rechtes war übrigens nicht nur ein Postulat, sie machte das Recht tatsächlich unbeweglicher. Das kann man am "case law" beobachten. Das "case law" ist einmal unbeweglich, weil es den Richtern an der übersicht über alle möglichen Fälle fehlt. Selbst bei bestem Gedächtnis und bester Ausbildung kann ein Richter nicht wissen, ob es nicht doch irgendwo Fälle gibt, die anders entschieden worden sind als sein Fall und die ihn mit seiner Entscheidung unter Umständen blamieren. Also sucht er Rückendeckung bei Leitfällen, von denen er nur ganz vorsichtig abweicht. Zum anderen ist "case law" unbeweglicher, weil Richter, die über ihre eigenen Fälle entscheiden, ihre eigenen Fälle bewerten und zugleich über die Richtigkeit ihres eigenen Tuns und das ihrer Standesgenossen entscheiden müssen. Das gebietet Zurückhaltung. Freilich, auch das "case law" wandelt sich. In diesem "sich" steckt das Problem. Daß sich Recht überhaupt wandelt, ist nicht erstaunlich. Jede Rechtsordnung unterliegt Einflüssen von außen, zum Beispiel Kriegen und Eroberungen, und in solchen Fällen muß sich das System anpassen. Das ist mit "normativer Wandel" aber nicht gemeint. Gemeint ist das "sich" des Wandels, der rechtsendogene Wandel. Im Falle des "case law" wird dieser Wandel in der Regel mit neuen Problemen erklärt, denen sich eine Rechtsordnung stellen müsse. Und als Technik wird angegeben, einmal könne der Richter im "case law" dadurch einen Rechtswandel herbeiführen, daß er Sachverhalte, die grundsätzlich gleich seien, gleichwohl unterscheide, und zum anderen dadurch, daß er eine RechtsregeI, die er bisher angewandt habe, ausdrücklich aufgebe. Wenn das im wesentlichen richtig beobachtet ist, dann wird die durch den Gleichheitssatz konstituierte Unwandelbarkeit des Rechtes offenbar durch
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Unterscheidungen konterkariert und dann scheint es die Unterscheidung zu sein, die den Wandel des Rechtes organisiert. Die Frage ist dann nur noch, ob das auch für ein "Gesetzesrecht" gilt. In den freiheitlichen westlichen Verfassungen, deren Recht durch kodifizierte Gesetze geprägt ist, sind heute die Bürger nicht mehr nur vor dem Gesetz gleich, sie sind auch im Gesetz gleich. Der Gesetzgeber muß die Bürger gleich behandeln. Er ist an den Gleichheitssatz gebunden, und zwar - beim Gesetzgeber noch deutlicher als beim Richter nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich. Theoretisch müßte unser gesetztes Recht daher so unwandelbar sein wie das "case law". Das ist nicht kritisch gemeint. Stabilität und Kontinuität müssen sein. Aber gerade deshalb muß man fragen, wie es bei aller durch den Gleichheitssatz bewirkten Stabilität und Kontinuität zum Wandel des Rechtes kommt.
III. Die verfassungsdogmatischen Antworten sind geläufig. Man spricht vom Ermessen des Gesetzgebers, von seinem Prognosespielraum und von seiner demokratischen Legitimation. Gemeinsam ist diesen Antworten freilich, daß sie den Gleichheitssatz nicht ganz ernst nehmen. Letztlich versuchen sie, die Ungleichbehandlungen wie im Absolutismus mit Dezisionen zu rechtfertigen. Das mag dogmatisch ausreichen, ist aber theoretisch unbefriedigend, weil individueller Wille für maßgeblich erklärt wird und der individuelle Wille letztlich unerforschlich ist. Deshalb muß man nach den Gründen für die Möglichkeit des Wandels fragen. Ein Grund liegt auf der Hand. Er besteht in der Differenzierung der Zuständigkeiten der Entscheidungsorgane. Die Gerichte müssen dem Gesetzgeber Spielraum lassen, weil sie sonst nichts mehr zu entscheiden haben und umgekehrt. Allein die Verteilung der rechtlichen Entscheigungen auf mehrere Instanzen schließt also eine feste Verbindung der Rechtsentscheidungen untereinander aus. Der Gleichheitssatz bindet diese Entscheidungen nur ganz locker. Die Einheit des Rechtssystems, die er konstituiert, ist ein wackliges Gerüst. Aber immerhin: das Rechtssystem ist ein Gerüst. Man kann - um den Vergleich fortzuführen - sagen, daß die dogmatischen Lehrsätze die Balken sind. Das Problem ist aber, was die dogmatischen Balken verklammert. Meine Antwort ist: die Unterscheidung. Ich will versuchen, das am Beispiel der Sein-Sollen-Unterscheidung zu verdeutlichen. Die Sein-Sollen-Unterscheidung klingt sehr plausibel und sie hatte beträchtlichen publizistischen Erfolg. Woran lag das?
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Sicherlich nicht an der Begründung, die Kant dafür gegeben hat. Kants Begründung in der Kritik der reinen Vernunft ist mehr als dürftig. Kant sagt dort, das Sollen sei etwas, was in der ganzen Natur sonst nicht vorkommes. Das ist zwar richtig, gilt aber für jede Identität. Jeder von uns kommt in der ganzen Natur sonst nicht vor. Die Identität von Sollenssätzen kann deshalb die Sein-Sollen-Unterscheidung nicht begründen. Ich meine, die Sein-Sollen-Unterscheidung hatte aus ganz anderen Gründen Erfolg. Einmal erlaubte sie es, das Recht über ein spekulatives systematisches Gedankengebäude mit der gesamten Gesellschaft zu verbinden. Das Recht hatte einen durch das Verhältnis von kognitivem Erkennen und praktischem Handeln bestimmten Ort in der Weltsicht des deutschen Idealismus. Zum anderen erlaubte die Sein-Sollen-Unterscheidung dem Recht, Frieden mit dieser Welt zu machen. Kant ist gewiß für die Freiheit der Feder eingetreten, aber sein Erfolg in einer Zeit und bei Leuten, die mit der Freiheit der Feder nicht viel im Sinne hatten, sollte zu denken geben. In der Tat war die Sein-Sollen-Unterscheidung ausgezeichnet geeignet, jede Herrschaft als Sein zu interpretieren, an der sich das Sollen bricht. Ich darf in diesem Zusammenhang an den Streit erinnern, der im 19. Jahrhundert um den Rechtssatzcharakter von Organisationsnormen geführt wurde. Dieser Streit, ebenso wie der Streit um die Allgemeinheit des Gesetzes, zeigte aber bereits an, daß die Sein-Sollen-Unterscheidung dogmatisch nicht mehr ausreichte. Sie wurde deshalb auf seltsame Weise aufgebrochen, nämlich durch eine Unterscheidung, welche die Sein-Sollen-Unterscheidung gleichsam karikierte; durch die Unterscheidung zwischen Recht und Wirklichkeit, besonders zwischen Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit. Die Parallele zur Sein-Sollen-Unterscheidung ist offenkundig. Aber nur das Verfassungsrecht entspricht dem Sollen. Die Verfassungswirklichkeit ist ein Unbegriff, der Sein und Sollen vermengt, aber in einer spezifischen Weise. Unter Verfassungswirklichkeit versteht man besondere politische Erfahrungen, von denen man behauptet, sie seien unabänderlich und verdrängten deshalb das Verfassungsrecht. In der Regel wird diese Konzeption mit dem überlegenen Gestus dessen vorgetragen, der den Kinderglauben an die Wirksamkeit von Normen nicht mehr teilt und der sieht, wie die Verhältnisse in Wirklichkeit sind. Dieser überlegene Gestus erlaubt es zugleich, die Verfassungswirklichkeit als Offenheit für alle und alles zu interpretieren, vor allem als Hoffnung für eine sichere und bessere Zukunft. Deshalb schwingt bei Verfassungswirklichkeit immer so etwas wie Fortschritt 5 I. Kant, Critik der reinen Vernunft, B 575, in: ders., Werke in sechs Bänden, hrsg. von W. Weischedel, Bd. II, Darmstadt 1963, S.498. fi Speyer94
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mit. Und so kommt es, daß als Synthesis aus der Sein-Sollen-Unterscheidung der Verfassungswandel hervorgeht, und zwar als Wandel zum immer Besseren, zum immer Fortschrittlicheren. Die jeweilige Wende zielt gleichsam immer nach vorn. Darin steckt die Normativität des Wandels des Politischen. Aber diese Konzeption des Verfassungswandels befriedigt nicht. Der Widerspruch zur Sein-Sollen-Unterscheidung und die ideologische Komponente sind zu offenkundig. Daß trotzdem niemand gegen die SeinSollen-Unterscheidung und die Konzeption des Verfassungswandels protestiert, sondern daß bei des sogar immer wieder Beifall erhält, zwingt zu der Frage: warum? Ich nenne drei Gründe. Der erste Grund ist, daß jede Unterscheidung, auch die Sein-SollenUnterscheidung selektiert, auswählt. Dadurch, daß Unterschiede behauptet werden, werden Gleichheiten und Ähnlichkeiten gleichsam abgedunkelt, zurückgedrängt. Die Unterscheidung bringt Ähnlichkeiten zum Verschwinden, und zwar dadurch, daß die Unterschiede isoliert werden. Das bietet zugleich die Möglichkeit, die Unterschiede mittelbar zu machen. Der zweite Grund ist der Prozeßcharakter der Unterscheidung. Da nicht alles unterschieden und nicht alles isoliert werden kann, muß man fragen: Nach welchen Kriterien sind Unterscheidungen möglich? Welche Unterscheidungen sind relevant? Die Antwort ergibt sich aber nicht aus der einzelnen Unterscheidung, sondern aus dem Prozeß der Unterscheidungen, aus den vielen Unterscheidungen, die bereits getroffen wurden und die künftig möglich sind. Man muß sich diesen Prozeß so vorstellen wie das Ausspielen der Meisterschaft in der Fußball-Bundesliga. Jedes einzelne Bundesligaspiel ist natürlich schon sehenswert. Aber wie sehenswert ein Bundesligaspiel ist, wird durch die früheren Spiele und durch Spiele auf ganz anderen Plätzen letztendlich bestimmt. Es kommt praktisch in jeder zweiten Saison vor, daß über Abstieg oder Aufstieg und über die deutsche Meisterschaft nicht dort entschieden wird, wo die Abstiegskandidaten oder der deutsche Meister spielen, sondern dort, wo die sogenannten Verfolger gewinnen oder verlieren. Ähnlich ist es mit den Unterscheidungen. Relevant werden sie durch frühere und künftige Unterscheidungen. Den dritten Grund für den Erfolg der Sein-Sollen-Unterscheidung sehe ich darin, daß sie ein ambivalentes Verhältnis zwischen Recht und Moral konstituiert. Einerseits erlaubt sie es, die seit der Aufklärung notwendige Unterscheidung zwischen Recht und Moral aufrechtzuerhalten und zu verschärfen. Andererseits erlaubt sie aber auf einer sehr hohen Abstraktionsebene die Verbindung von Recht und Moral, wie die Naturrechtsdiskussion in der Bundesrepublik nach dem Zweiten Welt-
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krieg zeigt. Aber wie die Verbindung von Recht und Moral genau stattfindet, kann ich auch nicht sagen, höchstwahrscheinlich über das, was man öffentliche Moral nennt. Das ist eine Moral, die zwar nicht das individuelle Handeln bestimmt, die das Individuum sogar völlig kalt läßt, die aber die öffentliche Resonanz und das öffentliche Gerede steuert. Aktuelles Beispiel ist die Friedensdiskussion. Diese öffentliche Moral verteilt Aufmerksamkeit und öffentliche Anerkennung. Um beim Beispiel "Frieden" zu bleiben: Privat mag man noch so kriegerisch und gewalttätig sein, wenn man als "Friedenskämpfer" auftritt, kann man sich sogar mit Rechtsbrüchen Aufmerksamkeit und Anerkennung verschaffen und so das Recht zur Anpassung an die öffentliche Moral zwingen, bis das Thema verbraucht ist.
Richter und Recht
JURISTISCHE METHODENLEHRE UND ETHIK Von Hans-Martin Pawlowski, Mannheim Das besondere Interesse Hans Ryffels gilt den Folgen des Wandels "von der vorgegebenen zur aufgegebenen Ordnung"!. Er wendet sich daher mit Nachdruck gegen alle Lehren und Theorien, die bei politischen und rechtlichen Entscheidungen auf den Gedanken der Richtigkeit verzichten wollen und sich auf mehr technische Kriterien zurückziehen: auf unterschiedliche Zweckmäßigkeiten, letztlich beliebige Konfessionen u. a. m. Ryffels Interesse gilt der normativen Substanz! Von daher ist ihm auch meine "Methodenlehre für Juristen"2 suspekt, da sie nach seinem Eindruck die normativen Aspekte "zu wenig" beachtet, wie er mir höflich sagte. Ich möchte die Gelegenheit benutzen, unsere Diskussion darüber fortzuführen - nicht zuletzt deshalb, weil ich den Arbeiten des Jubilars viel verdanke. Gerade, weil ich mit Ryffel davon ausgehe, daß Politik und Rechtswissenschaft darauf ausgerichtet sein müssen, richtige soziale Entscheidungen zu erarbeiten und zu verwirklichen, halte ich es in Ergänzung und Ausarbeitung dieses Ansatzes für erforderlich, die besonderen technischen Voraussetzungen und Bedingungen dieser "Richtigkeit" zu reflektieren, die sich aus der vorhandenen rechtlichen Organisation ergeben - was zu einer Methodenlehre für Juristen führt. Die Richtung meiner Überlegungen mögen zwei Erzählungen aus dem politisch-juristischen Komplex verdeutlichen. Zunächst ein politisches Beispiel. Man denkt jetzt in der Bundesrepublik daran, Anreize für Investitionen dadurch zu schaffen, daß man die Besteuerung von Unternehmensgewinnen von vornherein auf die Gewinnentnahmen beschränkt. Da aber eine derartige Maßnahme die bisherige Verteilung von Einkommen und Besitz zuungunsten der sozial schlechter gestellten Gruppen ändert, soll sie von vornherein mit einer Beteiligung der Arbeitnehmer am Betriebsvermögen verbunden werden. Und das nicht nur, weil man nur so dem politisch gefährlichen "Vorwurf" der sozialen Unausgewogenheit entgegentreten kann, sondern weil man diese Koppelung für "richtig" hält - für gerecht. Diese Bestrebungen leiden allerI H. Ryffel, Grundprobleme der Rechts- und Staatsphilosophie. Philosophische AnthropOlogie des Politischen, Neuwied/Berlin 1969, S. 93, 190, 338 ff. 2 Heidelberg/Karlsruhe 1981.
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dings daran, daß bisher noch niemand ein funktionsfähiges Modell vorgelegt hat, das die Arbeitnehmer in einer Art und Weise am Unternehmenseigentum beteiligt, die nicht in anderer Hinsicht zu Konsequenzen und Folgen führt, die man aus den verschiedensten Gründen für nachteilig hält. Der normative Grundsatz, daß man die Arbeitnehmer an den auch von ihnen produzierten Werten "beteiligen" soll, war und ist weithin unbestritten - und er war es auch schon zu einer Zeit, als man noch nicht an die Änderung der Besteuerung dachte, die eine derartige Beteiligung noch dringlicher erscheinen läßt. Es ist aber auch nicht zu übersehen, daß es nicht der "böse Wille" der bisherigen Regierungen war - nicht ihr Votum für die Profitgier -, was bisher die Einführung einer derartigen Vermögensbeteiligung der Arbeitnehmer verhindert hat. Entscheidend war vielmehr, daß man - auch heute - noch nicht weiß, wie eine derartige Beteiligung in einer Weise eingeführt werden kann, die nicht zahlreiche "Nachteile" nach sich zieht. Und ich möchte schon vorweg bemerken, daß ich bezweifle, ob es der Sache dient, wenn Regierungen und Parteien schon dann mit derartigen Plänen an die Öffentlichkeit treten - und sich damit festlegen -, wenn noch nicht abzusehen ist, ob sie "praktisch" (technisch) durchführbar sind. Ein juristisches Beispiel für die Problematik, die ich hier ansprechen will, bieten u. a. die sog. Ethik-Kommissionen, die in den letzten Jahren in der Bundesrepublik eingerichtet worden sind. Diese Kommissionen aus Ärzten und Juristen haben u. a. nach den Grundsätzen der "Helsinki-Deklaration" von 1964 (revidiert 1975 in Tokio) die ethische Vertretbarkeit biomedizinischer Experimente zu beurteilen, was u. a. für die Vergabe von Forschungsmitteln von Bedeutung ist. Nach diesen Grundsätzen dürfen z. B. Versuche nur mit solchen Personen durchgeführt werden, die sich freiwillig dazu bereit erklärt haben. Und das schließt - verständlicherweise - Versuche mit Insassen von Gefängnissen und anderen Anstalten weitgehend aus, da bei ihnen begründete Zweifel an der "Freiwilligkeit" der Zustimmung bestehen - obwohl man andererseits daran zweifeln kann, ob sich "Selbstgefährdungen zum Gelderwerb" als "ethisch richtiger" darstellen als "Selbstgefährdungen zum Straferlaß". In unserem Zusammenhang ist von Interesse, daß für Versuche mit Kindern - selbstverständlich - besonders scharfe Maßstäbe gelten. Die Einrichtung der Ethik-Kommissionen und noch mehr die durch sie induzierte "Stimmung" hat daher dazu geführt, daß u. a. die pharmazeutische Industrie dazu übergegangen ist, Arzneimittel für Kinder - die unstreitig an Kindern getestet werden müssen - in Entwicklungsländern testen zu lassen, weil dort derartige Versuche einfacher durchzuführen sind. Man beginnt in diesem Zusammenhang heute von "Experimentalkolonialismus" zu sprechen. Nun wird es vielleicht Men-
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schen geben, die es für besser halten, das derartige Versuchsrisiken nicht Unseren Kindern, sondern fremden Kindern auferlegt werden. Man wird aber davon ausgehen können, daß die ethisch motivierten Initiatoren der Ethik-Kommissionen diese "Folge" normativ als "falsch" beurteilen. Derartige Erscheinungen lassen also daran zweifeln, ob das Abstellen auf ethisches - und das heißt doch: verantwortliches - Handeln tatsächlich zu verantwortlichem Handeln führt. Denn wenn z. B. die Pharma-Industrie angesichts der faktischen Beschränkung der Versuchsmöglichkeiten im Inland auf Versuche im Ausland ausweicht, so will sie damit zwar zunächst wirtschaftlichen Nachteilen vorbeugen, die sich aus späteren Pannen oder Skandalen ergeben können, deren Wahrscheinlichkeit ohne diese Versuche höher ist. Sie wird damit aber durch diese wirtschaftlichen Zusammenhänge zum anderen auch dazu veranlaßt, der Sache nach verantwortlich zur handeln - und zwar gewissermaßen verantwortlicher als die auf Verantwortlichkeit ausgerichteten Wissenschaftler. Denn der Schutz vor späteren "Pannen" durch Gesundheitsgefährdungen VOn Patienten gehört eben auch zur Wahrnehmung der Verantwortung. Das Problem, das diese Beispiele andeuten, ist allgemein - philosophisch - in dem Kontext der Beziehungen von "Sein" und "Sollen" zu verorten. Und es sei daran erinnert, daß bei Kant das Recht nicht allein dem Reich der Freiheit (des Sollens oder der Norm) zugeordnet wird, sondern einen gewissen Mischcharakter aufweist: Es muß Freiheit und Notwendigkeit (Sollen und Sein) verbinden, was zu dem bekannten Problem der "Kausalität VOn Freiheit" führt. Im praktischen Gebrauch begnügt man sich mit einfacheren Bildern. So geht man beim praktischen politischen und juristischen Denken und Argumentieren weithin von der Vorstellung aus, daß es verschiedenartige Komplexe oder Zusammenhänge von Normen "gebe" VOn Sollenssätzen, Imperativen oder hypothetischen Urteilen -, die man so oder so rechtfertigen, begründen, ableiten oder setzen müsse oder könne. Und man unterscheidet dann die Rerchtsnormen dadurch (und nur dadurch) VOn anderen Normen, daß sie vom Staat - also VOn bestimmten Organisationen - mehr oder weniger sanktioniert werden. Diese Vorstellung führt dann zu zwei Klassen VOn Problemen, die unabhängig voneinander diskutiert werden können (und in gewisser Hinsicht müssen) - und damit zu zwei unterunterschiedlichen Diskussionszusammenhängen: nämlich zur Diskussion über die Normen bzw. über die "riChtigen Entscheidungen" einerseits und zu der mehr technisch verstandenen Diskussion über die Realisierung dieser Normen (über die "zweckmäßige Sanktionierung") andererseits. Und hier scheint mir die Quelle für viele Mißverständnisse und Mißerfolge im Umgang mit dem Recht zu liegen. Ich habe nämlich den Eindruck gewonnen, daß sich rechtliche (juristische) und ethische oder
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moralische Normen nicht nur und nicht vornehmlich durch die Art ihrer Sanktionierung unterscheiden, sondern auch und vor allem durch die Art ihrer Wirkungsweise. Und das bedeutet, daß man bei Diskussionen über die "normative Substanz" des Rechts die bestehenden - faktischen - Möglichkeiten seiner Verwirklichung nie außer Betracht lassen darf. Man muß auch über die "normative Substanz" des Rechts bereits gewissermaßen "technisch" argumentieren - übrigens mit dem Vorteil, daß dadurch eine Anzahl "denkbarer" normativer Lösungen oder Entscheidungen bereits ausgeschieden werden, also mit dem Vorteil der "Reduktion von Komplexität", um ein Modewort zu gebrauchen. Die Unterschiede der Wirkungsweise ethischer und rechtlicher Normen mag hier ein Beispiel aus dem Eherecht verdeutlichen. Das Bundesverfassungsgericht hatte zunächst die Verfassungsmäßigkeit des § 1568 des neuen Eherechts bejaht, der festlegt, daß nach fünf jähriger Trennung der Ehegatten die Scheidung einer Ehe auch dann nicht mehr abgelehnt werden darf, wenn dies für einen der Ehegatten eine besondere Härte darstellt. Das Gericht hatte dann über einen Fall zu entscheiden, in dem sich eine Ehefrau nach Ablauf dieser Frist mit allen Mitteln gegen eine Scheidung wehrte und für den Fall der Scheidung mit Selbstmord drohte. Sachverständigengutachten bestätigten, daß das Scheidungsverfahren bereits zu schweren psychosomatischen Störungen geführt hatte und daß bei einer endgültigen Scheidung die Gefahr eines Selbstmordes drohte. Das Bundesverfassungsgericht stellte daraufhin fest, daß unser Recht von (Verfassungs-)Rechts wegen die Möglichkeit geben müsse, die Scheidung in derartigen Fällen hinauszuschieben3• Unter ethischen oder moralischen Aspekten betrachtet überzeugt dieses Urteil völlig. Jeder von uns würde wohl in diesem Falle dem scheidungswilligen Ehemann geraten haben abzuwarten. Aber: Kurz nach Erlaß dieses Urteils hörte man von den Familien-Gerichten, daß jetzt eine Anzahl von Ehefrauen im Scheidungsverfahren damit drohen, sich im Falle einer Scheidung umzubringen. Dies ist zwar - hart gesagt - solange nicht schlimm, solange dies nur vorgetragen wird. Bedenkt man aber, daß sich die Ehefrauen jetzt in 3 Instanzen gewissermaßen "öffentlich" auf diesen Entschluß festlegen müssen, wenn ihr Vortrag Erfolg haben soll, daß sie Sachverständige von der Ernsthaftigkeit ihres Entschlusses überzeugen müssen usf., dann wird deutlich, daß die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts einen Anreiz zu selbstgefährdendem Verhalten bietet. Was als ethische oder moralische Aufforderung (als "Imperativ") richtig ist, kann als "Rechtssatz" zu völlig anderen Folgen führen. Dies nämlich deshalb, weil "ethische" oder "moralische" Normen Ziele beschreiben, ohne die Mittel festzulegen, mit deren 3
Vgl. BVerfG in: Zeitschrift für das gesamte Familienrecht, 1981, S. 15 ff.
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Hilfe diese Ziele zu verwirklichen sind. Rechtssätze, die nicht nur ein bestimmtes Verhalten "verbieten", legen dagegen vor allem "Mittel" fest. Und diese Mittel können dann zur Erreichung sehr unterschiedlicher Ziele eingesetzt werden. Diese Unterschiede in der Wirkungsweise ethischer und juristischer Normen sind bisher wenig beachtet worden - wahrscheinlich weil man bei dem Vergleich der Funktionsweise sittlicher und rechtlicher Normen meist an "Verbotsnormen" dachte, bei denen tatsächlich nur der Unterschied der Sanktion ins Auge fällt. Wenn Morde, Täuschungen oder andere unangenehme Verhaltensweisen verhindert werden sollen, dann braucht man sich in der Tat nur darüber Gedanken zu machen, welche Mittel geeignet sind, die Rechtsgenossen an diesem Verhalten zu hindern: "Negative Urteile" bieten in jeder Hinsicht weniger Probleme als positive Urteile. Geht es aber um die Gewährleistung "positiven Handelns" - um "Erfolge" -, dann reichen derartige Überlegungen nicht mehr aus. Es genügt dann nicht, daß der Gesetzgeber anordnet, daß die Rechtsgenossen so oder so handeln "sollten" usf. - und das vor allem deshalb nicht, weil sich die Bürger mit den Zielen des Gesetzgebers nicht - innerlich - zu identifizieren brauchen. Alle Normen, die nicht Verbotsnormen sind, geben den Rechtsgenossen nur Informationen darüber, wie sie ihre eigenen Ziele möglichst effektiv erreichen können. Knüpft daher der Gesetzgeber Rechtsfolgen, die eine Anzahl Bürger aus den unterschiedlichsten Gründen für erstrebenswert halten (wie z. B. den Ausspruch einer Scheidung) an unerwünschte Verhaltensweisen (wie z. B. an das Beschimpfen oder Schlagen des Ehepartners als "Anzeichen" der Zerrüttung), dann wird die Zahl dieser Verhaltensweisen zunehmen - ob der Gesetzgeber das will oder nicht. Derartige Beispiele ließen sich leicht vermehren. Man kann nun davon ausgehen, daß unsere Richter ihre Phantasie und ihren Erfindungsgeist einsetzen werden, um derartige "Mißbräuche" rechtlicher Normen zu bekämpfen. Sie werden versuchen, derartige Normen, die sich in anderen Zusammenhängen als sinnvoll und segensreich darstellen, so anzuwenden, daß möglichst die "Ziele" erreicht werden, denen diese Normen nach den Vorstellungen ihres Urhebers (des Gesetzgebers) dienen sollten - in unserem Beispiel des Eherechts also: dem Ziel der Verhütung von Selbsttötungen usf. Die Richter können dies aber mit Erfolg nur dadurch erreichen, daß sie immer häufiger nicht mehr so reagieren, wie sie es nach den bisher begründeten Erwartungen eigentlich müßten, sondern indem sie die Umgehungstechniken der Parteien durch eigene Erfindungen konterkarieren: indem sie sich mehr an den Zielen des Gesetzgebers als an den von ihm zur Verfügung gestellten Mitteln orientieren. Dies führt aber zu eigentüm-
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lichen Verwicklungen und Widersprüchen. Derartige Reaktionen der Richter waren "normal" (systemkonform), als die "richtigen Ziele" im wesentlichen unstreitig waren, als man in vorgegebenen Ordnungen lebte, in Glaubensgemeinschaften, in denen man "wußte", was "richtiges Leben" war. Der Wandel von der vorgegebenen zur aufgegebenen Ordnung, den Ryffel vielfach dargestellt hat, drückt sich aber gerade darin aus, daß dieser Konsens über die (inhaltlichen) Ziele nicht mehr besteht - oder positiv ausgedrückt, daß wir die Bürger nicht mehr auf inhaltlich festgelegte Ziele verpflichten, sondern den "Glauben" freigeben, übrigens auch den "Glauben" der Richter. Wir halten es für "richtig", die unterschiedlichen überzeugungen und Vorstellungen unserer Bürger als "gleichberechtigt" anzuerkennen. Und wir haben daher unserem Gemeinwesen eine Verfassung gegeben, nach der nicht die Obrigkeit oder der Staat von den vorgegebenen Ordnungen her bestimmt, wie man richtig zu leben hat. Wir haben vielmehr unsere Institutionen so verfaßt, daß die Bürger in vielfältiger Auseinandersetzung und Zusammenarbeit den Weg zum richtigen Leben selbst suchen und bahnen. Daher scheidet für uns auch die Möglichkeit aus, einer Gruppe - wie den Richtern - die Kompetenz zuzusprechen, die Wege zu diesem Ziel nach ihren Vorstellungen festzulegen. Diese können bei ihrer Aufgabe, Streitigkeiten zwischen Bürgern zu entscheiden, vielmehr nur auf die Gesetze zurückgreifen, d. h. auf den im Gesetzgebungsverfahren erarbeiteten und erzielten Kompromiß - schon weil sie selbst nicht verpflichtet sind, sich mit dem "Glauben" der Urheber dieser Gesetze zu identifizieren. Ihr Amt ist Wahrung der Legalität, der äußeren übereinstimmung, nicht der Moralität, der Ausrichtung auf inhaltlich bestimmte Ziele. Man muß sich also darüber klar sein, daß der Wandel von der vorgegebenen zur aufgegebenen Ordnung nicht nur eine "geistesgeschichtliche Erscheinung" ist, etwas, was sich nur in den Köpfen der Menschen vollzogen hat. Dieser Wandel hat vielmehr seinen Ausdruck in unseren Institutionen gefunden, und er bestimmt daher deren Verständnis - deren Interpretation. Unsere staatliche Ordnung und unsere staatlichen Organisationen sind nach diesem Wandel nicht (mehr) - gewissermaßen ontologisch - als Ausprägungen der vorgegebenen (heiligen!) Ordnung zu verstehen; sie sind nicht richtig und sie nehmen nicht in Anspruch, richtig zu sein. Sie stellen sich jetzt vielmehr als (Hilfs-)Mittel dar, die es uns ermöglichen, den Weg zum Richtigen (zum richtigen Leben) zu suchen, uns darüber auseinanderzusetzen und zu verständigen. Keiner der Beteiligten kann danach für sich in Anspruch nehmen, "das Richtige" bereits zu besitzen und allein im Recht zu sein - sei es nun ein Privatmann oder ein Amtsträger oder sei es ein "Organ", eine Institution. Ja, auch unsere Verfassung beschreibt nicht etwa einen Fundus
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des bereits erreichten "Richtigen", den es jetzt noch durch weitere Bemühungen anzureichern gilt. Sie grenzt vielmehr "nur" Handlungsbereiche ab, garantiert Handlungsvoraussetzungen und eröffnet dadurch Handlungsmöglichkeiten. Und sie gewährleistet durch die Regelung von Zuständigkeiten die Möglichkeit von Auseinandersetzung und Zusammenarbeit in Richtung auf die - gemeinsame - Erarbeitung der (aufgegebenen) richtigen Ordnung. Auch unsere Verfassung ist (noch) nicht "richtig", sondern "nur" Hilfsmittel auf dem Weg zum Richtigen - und zwar ein Mittel, das je nach dem Stande unserer Erkenntnis verbessert werden kann und muß (wenngleich es sich empfehlen mag, Verfassungen seltener zu verbessern als andere Gesetze). Denn als "aufgegebene Ordnung" ist die Gerechtigkeit - das Richtige - ein Ziel, das der einzelne nicht von sich aus erreichen kann, sondern - wenn überhaupt - nur im Zusammenwirken aller Bürger. Diese überlegungen bedürfen allerdings einer Ergänzung. Sie ergeben ersichtlich nur Sinn, wenn der Begriff des "Richtigen" nicht nur eine Leerformel ist. Denn die Rede über den Wandel von der vorgegebenen zur aufgegebenen Ordnung soll ja gerade das Mißverständnis ausräumen, daß jetzt an die Stelle der früheren Bindung an die überkommene gottgegebene Ordnung die willkürliche Setzung getreten sei: die Meinung oder der persönliche Glaube, oder - technisch gesprochen -, daß jetzt an die Stelle des Rechts die Macht der Mehrheit getreten sei, sorgfältig bewahrt durch die Hilfe gedungener Werbeagenturen. Was bleibt aber nun als Kriterium des Richtigen? Denn ohne Kriterien bleibt auch die Rede von der Ausrichtung auf das Richtige bloße Ideologie, Verschleierung der Willkür durch die Verabsolutierung der eigenen Wünsche. Ryffel verweist hier bekanntlich auf eine "philosophische Anthropologie des Politischen" und hofft, daß die Zeit nicht mehr fern sei, "in der Kommentare und Lehrbücher der Rechtsdogmatik nicht mehr nur von Juristen, sondern in Verbindung mit Vertretern etwa der Nationalökonomie, Psychologie, Psychiatrie, Pädagogik und Soziologie ... , der Biologie, Medizin, der Architektur und technischer Disziplinen verfaßt werden"". Aber gerade hier stellt sich das Problem der Rechtswissenschaft. Ich stimme dabei Ryffel zunächst darin zu, daß die Gerechtigkeit eine zu ernste Sache ist, um sie - allein - den Juristen zu überlassen, um es etwas scherzhaft auszudrücken. Dennoch ist nicht zu verkennen, daß die zitierte Versammlung aller Wissenschaften zur Vervollständigung der Rechtsdogmatik nicht die Lösung des Problems bieten kann - was Ryffel auch nicht verkennt. Dabei ist entscheidend, daß eine derartige Versammlung der Fakultäten überhaupt nicht geeignet ist, gemeinsame Kriterien der Richtigkeit zu liefern - oder tech4
Rechtsphilosophie (FN 1), S. 503.
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nisch genauer: daß sie es nur um den Preis tun kann, sich wiederum in den Rahmen einer - vermeintlich - vorgegebenen Ordnung einzufügen und von daher zu verstehen. Alle diese Wissenschaften besitzen ZWar für sich Kriterien der Richtigkeit, auf die sie sich in ihren Diskussionen beziehen. Und wenn Ryffel seine Rechts- und Staatsphilosophie mit Ausführungen zum Verhältnis von Theorie und Praxis beschließt, so weist er damit auf den Ort hin, an dem gemeinsames Handeln und Entscheiden und damit Gemeinsamkeit stattfindet (oder auch nicht). Aber aus diesem gemeinsamen Handeln und Entscheiden ergeben sich jedoch noch keine "gemeinsamen Kriterien" - solange man weiterhin "den Glauben" freigibt. Auch die Versammlung der Wissenschaften liefert "gemeinsame Kriterien" nur in der Form der wissenschaftlichen Weltbilder, d. h. in der Form des "Glaubens". Kriterien für das "gemeinsam Richtige", um das es bei der aufgegebenen Ordnung geht, können sich also nur in dem (und für den) ZUSammenhang der jeweiligen Einzelwissenschaften ergeben - d. h. aUS dem Zusammenhang der jeweiligen "Dogmatik". Dogmatik ist aber, wie Gerd Roellecke in seiner Rektoratsrede über "Philosophie oder Sozialtheorie"s eindringlich hervorgehoben hat, dadurch bestimmt, daß sie das ausklammert, was wir nicht mehr oder noch nicht besitzen. Sie bietet daher aber auch nur Urteile, die auf ihren Zusammenhang begrenzt und durch ihre Voraussetzungen bedingt sind, d. h. sie bietet keine "allgemein richtigen Urteile". Wir können dann diese Einzelwissenschaften zwar äußerlich - organisatorisch - zusammenführen, nämlich durch die Bildung und Einrichtung von Organisationen und Institutionen und so der Ausrichtung auf das "gemeinsam Richtige" hin, Rechnung tragen. In diesem Zusammenhang erbringen dann die Einzelwissenschaften ihren Beitrag zu dem "gemeinsamen Richtigen", wenn sie zunächst ihre eigenen Kriterien für das "Rechte" ausarbeiten und fortentwickeln: wenn sie ihre eigene Dogmatik ausarbeiten - ihre Rechtsdogmatik, ihre Psychiatrie usf. Und wir wissen alle, daß in dieser Hinsicht im einzelnen viel zu tun ist. Denn unsere "Wissenschaften" befinden sich alle in einem Zustand, in dem wir nicht davon ausgehen können, daß wir selbst dieses bedingt Richtige bereits erreicht haben. Sie enthalten Widersprüche, Ungereimtheiten usf.; sie enthalten aber auch eine Reihe von - relativ sicheren - Erkenntnissen und Feststellungen darüber, waS nicht geht, eine Anzahl erprobter oder bewährter Hilfsmittel sowie eine Reihe von mehr oder weniger plausiblen Vorschlägen und Entwürfen zu neuen Verhaltensweisen, die erprobt werden könnten. Diese Beiträge der Einzelwissenschaften geben dann bei der Suche nach dem aufgegebenen gemeinsam Richtigen, das wir neu herstellen 5
In: Rechtstheorie, 13 (1982), S. 393 ff.
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wollen, Anstöße zu weiteren Aktivitäten. Da sie aber zunächst nur jeweils bedingte Urteile bieten, müssen wir ihnen gegenüber auf die ----' relativ sicheren - negativen Urteile der anderen Einzelwissenschaften zurückgreifen. Denn "falsche Urteile" versprechen ersichtlich keine Hilfe auf dem Weg zum "gemeinsam Richtigen". Dasmag dann zu einem gegebenen Zeitpunkt dazu führen, daß z. B. die eingangs wünschenswerte Beteiligung der Arbeitnehmer amProduktionsvermögen nicht eingeführt wird, weil sie z. B. im Hinblick auf die ökonomischen Steuerungsmechanismen Probleme aufwirft, die mit den heutigen Mitteln (noch) nicht zu lösen sind. Daraus ergibt sich aber nur, daß es sich zu dem jetzigen Zeitpunkt nicht empfiehlt, die vorhandene Ordnung an dieser Stelle zu "verbessern", sondern eher dort, wo bereits Verbesserungsvorschläge erarbeitet worden sind, die weniger Probleme aufwerfen. Dabei bleibt aber offen, ob es morgen nicht richtig sein kann, diese Beteiligung der Arbeitnehmer einzuführen - wenn nämlich die Steuerungsprobleme gelöst oder aus anderen Gründen obsolet geworden sind. Diese kurze Skizze der - arbeitsteiligen - Zusammenarbeit auf das aufgegebene gemeinsam Richtige hin müßte im einzelnen naturgemäß genauer ausgearbeitet werden - was hier nicht geschehen kann. Sie läßt aber bereits erkennen, daß sich das, was wir im Eingang mit der Wendung "normative Substanz" angesprochen haben, von der Rechtswissenschaft her gesehen als Ausrichtung auf Widerspruchslosigkeit (und somit auf Allgemeinheit) und auf Verbesserung darstellt. Unter ethischen Aspekten würde man vielleicht von "Vervollkommnung" sprechen, politikwissenschaftlich von "Frieden und Freiheit" usf. Von besonderer Bedeutung ist dabei, daß sich nach dieser Skizze die Beiträge zum "Normativen" und zum "Positiven", jeweils Gegebenen, zum Sollen und zum Sein - nicht eindeutig voneinander trennen lassen und daher auch nicht auf verschiedene Akteure verteilt werden können. Die einzelnen Akteure erbringen vielmehr je ihren Beitrag zum allgemein Richtigen - ihren Anstoß und ihren Einspruch -, ohne daß einer von ihnen eine besondere Vorzugsstellung beanspruchen könnte, seien es nun die Rechtswissenschaft, Ökonomie, Biologie oder sei es die Philosophie. Die Diskussion über das "allgemein Richtige" muß jeweils alle Beiträge berücksichtigen. Es sei aber auch bemerkt, daß diese "Gleichheit" oder "Gleichwertigkeit" der Akteure angesichts der Ausrichtung auf "Verbesserung" oder "Vervollkommnung" es nicht ausschließt, sondern vielmehr gebietet, die unterschiedlichen Beiträge nach "Qualitätsmaßstäben" zu beurteilen, die ihrerseits wieder "normative" und "positive" Elemente verbinden - die also auf "Sachlichkeit" und "Sachangemessenheit" und auf innerdogmatische Widerspruchslosigkeit (Ökonomie und ähnliches mehr) abstellen. Dieser Beurteilung unterliegt dabei auch das jeweilige Verfahren der arbeitsteiligen Zusammenarbeit auf das
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gemeinsam Richtige hin - wie z. B. das Gesetzgebungsverfahren oder die Wissenschaftsorganisation. So wäre z. B. zu überlegen, ob man die am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Parteien nicht darauf verpflichten müßte, Wünschbares erst dann als politische Zielbestimmung (d. h. als "Programmpunkt" und damit als "Handlungsziel" und nicht (nur) als Ausgangspunkt) in den Prozeß der staatlichen Willensbildung einzuführen, wenn seine "Machbarkeit" in einer von ihnen akzeptierten Art dargelegt ist - weil nämlich sonst die Gefahr besteht, daß sie sich schließlich aus "politischen Gründen" mit Scheinlösungen begnügen müssen. Aber das ist ein weites Feld.
RECHTSVERGLEICHENDE ÜBERLEGUNGEN ZUR RECHTSQUELLENLEHRE Von Thomas Fleiner, Freiburg i. Ue.
1. Allgemeine Rechtsgrundsätze und Wertvorstellungen als Rechtsquellen Welches Recht ist für den Richter, namentlich den Verwaltungsrichter, maßgebend? Muß er sich einzig und allein an das positive, gesatzte Recht halten, oder gibt es für ihn weitere Rechtsgrundsätze, die seine Rechtsprechung beeinflussen, aber nicht ausdrücklich im positiven Recht verankert sind? Dies ist die erste Frage, die wir uns im folgenden stellen wollen. Die Rechtsquellenlehre beeinflußt die Gesetzgebungstätigkeit in verschiedener Hinsicht. Geht man beispielsweise davon aus, daß das Gesetz als Rechtsquelle gegenüber den anderen Rechtsquellen nicht nur Vorrang hat, sondern daß es überdies auch einen absoluten Gesetzesvorbehalt etwa im Sinne des strafrechtlichen Grundsatzes "nulla poena sine lege" gibt, d. h., daß das Gesetz die einzig anerkannte Rechtsquelle ist, führt dies zu einer unabsehbaren Flut der Gesetze. Die Gesetze erhalten einen Absolutheitscharakter, der jegliche Initiative und Kreativität lähmt, die Bürokratie verstärkt und das Verantwortungsbewußtsein der Verwaltung untergräbt. Räumt man der richterlichen Rechtsfindung neben dem Gesetz einen ebenso bedeutsamen Stellenwert ein, wird man die Gesetze anders formulieren, als wenn man die Kompetenzen des Richters und der Verwaltung bei der Rechtsanwendung möglichst einengen muß. Nach Artikel 38 des Statuts des Internationalen Gerichtshofes gelten als für diesen Gerichtshof verbindliche Rechtsquellen: die internationalen Verträge, das Gewohnheitsrecht, die von den modernen Staaten anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätze. Auch wenn wir die Rechtsprechung der modernen Gerichte auf die Frage des Gesetzesvorbehaltes überprüfen, stellen wir fest, daß sich die Gerichte in grundlegenden Fragen nicht nur auf die Gesetze oder auf das Gewohnheitsrecht abstützen, sondern auf allgemeine Rechtsgrundsätze. Dazu gehören z. B. Verfahrensgrundsätze, das Prinzip des Gesetzesvorbehaltes, das Gewaltentren7 Speyer 94
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nungsprinzip und in vielen Staaten die ungeschriebenen Freiheitsrechte. Wir wollen uns nun die Frage stellen, auf welche Rechtsquellen die Gerichte verschiedener Länder diese allgemeinen Rechtsprinzipien zurückführen. Art. 6 der französischen Menschenrechtserklärung legte fest: "La Loi est l'expression de la volonte generale. Tous les citoyens ont le devoir de concourier personellement ou par leur representants a sa formation." Und Art. 5 bestimmte: "Tout ce qui n'est pas defendu par la loi ne peut etre empeche et nul ne peut etre contraint de faire ce qu'elle n'ordonne pas." Diese Menschenrechtserklärung war zweifellos die einzig mögliche und richtige Antwort gegenüber der absoluten Herrschaftsgewalt des Königs, die an keine Gewaltenteilung gebunden war und es der Krone möglich machte, ihre Prärogativen willkürlich zu handhaben. Allerdings entsprach diese absolute Herrschaftsgewalt keineswegs den mittelalterlichen Vorstellungen. Im Mittelalter gab es vielmehr drei verschiedene Arten von Rechtsquellen: das ungesetzte Recht in der Gestalt des Weistums, die von den Rechtsgenossen vereinbarte Satzung, das vom Herrscher oder von der Obrigkeit befohlene Recht, das sog. Rechtsgebot. Im Zeichen des Absolutismus und unter dem Einfluß der Souveränitätslehre Bodins und Hobbes' wurden dann das alte Weistum einerseits und die VOn den Rechtsgenossen vereinbarte Satzung andererseits zurückgedrängt. Geblieben ist nur das von der Obrigkeit befohlene Recht. Mit der französischen Revolution wurde an die Stelle des von der Obrigkeit gebotenen Rechts die vom demokratischen Gesetzgeber vereinbarte Satzung gesetzt. Das alte Weistum und die auf Grund der Prärogativen der Krone erlassenen Gebote blieben aber als Rechtsquellen ausgeschlossen. Daß eine Rechtstheorie, die als einzige Rechtsquelle das positive Gesetz anerkennt, großes Unheil anrichten kann, dies hat der nationalsozialistische Staat mit aller Deutlichkeit gezeigt. Deshalb bestimmt Art. 20 Abs. 3 des Bonner Grundgesetzes auch ausdrücklich: "Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetze und Recht gebunden." Damit wird eine neue, wichtige, aber ebenso ungeklärte Rechtsquelle eingeführt, die gewissermaßen gleichberechtigt neben das Gesetz tritt. Einig ist man sich in der Bundesrepublik zwar darüber, daß mit dem Begriff "Recht" jedenfalls die verfassungsrechtlichen Grundrechte angesprochen werden!. Inwieweit geht aber der Begriff Recht über die im Grundgesetz positiv! Vgl. den Kommentar zum Grundgesetz von Maunz / Düng, München, Art. 20 (1983), Abschnitt VII, Nr. 21 ff.
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rechtlich verankerten Grundsätze hinaus? Wird mit anderen Worten allein mit den Grundrechten des Grundgesetzes der Begriff "Recht" im Sinne von Art. 20 des Grundgesetzes abgedruckt? Für Wolff / Bachof beispielsweise sind damit auch jene Rechtsgrundsätze angesprochen, die von allen billig und gerecht denkenden Menschen akzeptiert werden2 • So hat vor allem die Rechtsprechung wesentliche allgemeine Rechtsgrundsätze des Verwaltungsrechts entwickelt, die sie zum Teil aus der Lehre, zum Teil aber auch aus der früheren Rechtsprechung der Gerichte ableitet. Es handelt sich also weitgehend um eigentliches Richterrecht 3• Da in Frankreich die Menschenrechtserklärung von 1789 nach wie vor Teil der geltenden Verfassung ist, gilt auch der dort ausgesprochene Grundsatz des absoluten Prinzips der Gesetzmäßigkeit weiterhin. Trotzdem haben die französischen Gerichte, namentlich der "Conseil d'Etat", Mittel und Wege gefunden, um wichtige allgemeine Rechtsgrundsätze in ihre Rechtsprechung einzubringen. Zunächst stellt sich in Frankreich nämlich die Frage, ob der Menschenrechtserklärung wie auch der Präambel der Verfassung von 1946 positive Rechtsgeltung zukommen. Die Verfassung der 5. Republik beginnt nämlich mit den Worten: "Le peuple franc ais proclame solennellement son attachement aux Droits de l'homme et aux principes de la souverainete nationale tels qu'ils ont ete definis par la Declaration de 1789, confirmes et completes par le preambule de la constitution de 1946." In diesen beiden Erklärungen finden sich neben dem Grundsatz des Vorranges des Gesetzes u. a. die Freiheitsrechte und gewisse Sozialrechte wie z. B.: "La nation garantit l'egal acces de l'enfant et de l'adulte a l'instruction, a la formation professionelle et a la culture." Hingegen finden sich weder in der Menschenrechtserklärung noch in der Präambel der Verfassung von 1946 allgemeine Verfahrensgrundsätze. Solche Verfahrensgrundsätze hat nun aber der "Conseil d'Etat" sowohl im letzten wie auch in diesem Jahrhundert wesentlich entwickelt und erweitert. Im Gegensatz zum Verwaltungs recht der Bundesrepublik Deutschland, das sehr stark von der Lehre und der Gesetzgebung beeinflußt wird, ist das Verwaltungsrecht in Frankreich fast nur eine Sache der Rechtsprechung des "Conseil d'Etat". Dieser hat im Rahmen stiner Rechtsprechungsbefugnis einige elementare Grundsätze des Verwaltungsrechts entwickelt, die von höchster Bedeutung sind. Ohne gesetzliche oder verfassungsrechtliche Grundlage hat er verfahrensrechtliche Prinzipien wie z. B. "audiatur et altera pars", "nemo judex in causa sua" etc. aus den "principes generaux du droit" abgeleitet4 • Zu 2 3
Wolft / Bachof, Verwaltungs recht I, 9. Aufl., München 1974, S. 120 ff. (§ 25). Vgl. z. B. H. Maurer, Allgemeines Verwaltungs recht, München 1980, S. 50 ff.
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diesen allgemeinen Rechtsgrundsätzen gehören nach französischer Rechtsauffassung neben den Grundsätzen eines fairen Verfahrens auch die Freiheitsrechte, das Legalitätsprinzip, das Rückwirkungsverbot und der Schutz wohlerworbener Rechte. Der Conseil d'Etat leitet diese allgemeinen Rechtsgrundsätze aus dem "Droit commun" ab, das durch ihn im Rahmen seiner Jurisdiktionsgewalt weiterentwickelt werden kann. Seit der 5. Republik kommt diesen Prinzipien faktisch Verfassungsrang zu. Sie stehen somit über dem eigentlichen GesetzS. In der Schweiz wurde das Gesetzmäßigkeitsprinzip in Anwendung von Art. 4 der Bundesverfassung sowie im Rahmen des Grundsatzes der Gewaltenteilung entwickelt. Art. 4 BV mußte auch für die Anwendung elementarer Verfahrensgrundsätze, wie z. B. "nemo judex in causa sua" oder "audiatur et altera pars", zu Gevatter stehen. Allerdings hat das Bundesgericht nie offenbart, woher es die Befugnis nimmt, ein derart weitgehendes Prinzip über den Weg der extensiven Auslegung aus der Verfassung abzuleiten. Es hat sich aber offenbar davor gescheut, unabhängig von Verfassung und Gesetz Rechtsprinzipien anzuwenden, die für Richter wie auch für Gesetzgeber zu gelten haben. Deshalb bemüht es sich auch wohl darum, gewissermaßen ungeschriebene Grundrechte in die Verfassung hineinzuinterpretieren. Es ist offensichtlich der Meinung, positives Recht bzw. quasi-positives Recht wie das ungeschriebene Verfassungsrecht werde eher als Rechtsquelle akzeptiert als irgend welche allgemeinen Rechtsgrundsätze. Allerdings findet sich in der Rechtsprechung des Bundesgerichtes kaum eine Rechtfertigung für die "Erfindung" sogenannter ungeschriebener Verfassungsrechte. Es hat somit das positive Gesetz wie auch die Verfassung weitgehend als einzig geltende Rechtsquelle anerkannt, hat aber die allgemeinen Rechtsgrundsätze mit Hilfe der extensiven Verfassungsinterpretation aus einer "fiktiven" Verfassung hergeleitet. Es geht somit davon aus, daß neben dem Gewohnheitsrecht ausschließlich das positive, gesatzte Recht Rechtsquelle sein kann. Der Grundsatz der "parliamentary supremacy" im Rahmen des englichen Verwaltungsrechts hat zur Folge, daß die vom Parlament erlassenen "statutes" in der Rechtsquellenlehre den obersten Rang einnehmen. Andere Rechtsquellen gelten nur, soweit sie den vom Parlament erlassenen "statutes" nicht widersprechen. Es gilt somit der Grundsatz des absoluten Vorranges des Gesetzes, nicht aber der des absoluten Vorbehaltes des Gesetzes. Neben dem Parlament haben deshalb auch noch die Krone und die im Namen der Krone rechtsprechenden Gerichte ursprüngliche Jurisdiktions- und damit auch Hoheitsgewalt. 4 Vgl. G. Vedel, Droit administratif, 5. Aufl., Paris 1973, S. 278, 588; vgl. Entscheid des CE vom 5. Mai 1944. 5 Vedel (FN 4), S.284.
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Die englischen Gerichte leiten ihre allgemeinen Rechtsgrundsätze wie "res judicata", "estoppeI" , "audiatur et altera pars", "duty to give reasons", "the right to get a hearing" etc. aus dem "common law" ab. Die im englischen Verwaltungsrecht weit vielfältigeren Rechtsmittel wie "habeas corpus", "mandamus" und "certiorari" wurden aus den Prärogativen des Königs entwickelt und bilden nun Teil des "common law". Ältere Common-Law-Tradition haben die eigentlich privatrechtlichen Rechtsmittel gegen die Verwaltung wie "injunction" und "prohibition"6. Soweit die verfahrensrechtlichen Grundsätze Teil der allgemeinen Rechtsgrundsätze sind, können diese entsprechend der englischen Rechtstradition auf die Prinzipien der sog. "natural justice" zurückgeführt werden. In den USA hat der "Supreme Court" in der Tradition des großen Richters Marshall neben der Verfassung die natur rechtlichen Grundsätze des Liberalismus als wegleitend für die amerikanische Rechtsprechung anerkannt. Soweit sich die verfahrensrechtlichen Grundsätze nicht unmittelbar aus den "Bill of Rights" ableiten lassen, anerkennen die amerikanischen Gerichte selbstverständlich auch die Grundsätze der "natural justice"7.
2. Vorverfassungsrechtliche Wertprinzipien, namentlich das Rechtsstaatsprinzip Anlaß zu grundlegenden Auseinandersetzungen ist neben den allgemeinen Rechtsgrundsätzen namentlich auch die Frage, ob dem Recht gewissermaßen vor- oder überrechtliche Wertprinzipien vorangehen, welche z. B. für die Interpretation des Rechts von Bedeutung sind oder welche herangezogen werden müssen, wenn Ermessen auszufüllen ist. In diesem Zusammenhang stellt sich namentlich die Frage, ob und inwieweit der Begriff des "Rechtsstaates" gewissermaßen als zusätzliche Rechtsquelle herangezogen werden darf. Soweit für mich die Tradition des englischen und des französischen Rechts überblickbar ist, scheint dort diese Diskussion nicht notwendig, weil einerseits die Jurisdiktionsgewalt der "Kings (Queens) Bench" bzw. des "Conseil d'Etat" genügt, im Rahmen ihrer Rechtstradition Rechtsgrundsätze anzuwenden; andererseits enthalten die Menschenrechtserklärung wie auch die traditionellen Rechtsprinzipien des "common law" genügend Wertgrundlagen, um das bestehende Grundgesetz zu interpretieren. Allerdings findet sich namentlich in der englischen RechtVgl. H. W. R. Wade, Administrative Law, Oxford 1982, S. 413 ff. Vgl. K. C. Davis, Administrative Law Treaties, Bd.4, San Diego 1983, §§ 20 ff.; W. Gellhorn, Administrative Law, New York 1982, S. 434 ff. 6
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sprechung immer wieder etwa der Hinweis, daß im Land nicht Menschen, sondern das Recht zu regieren habe: "Government of Law, not Government of men". Aus diesem Grundsatz leiten die Gerichte letztlich auch ihr Recht ab, selbst die Regienmg ihres Landes zur Rechenschaft zu ziehen. Zwar genießt die Krone in England Immunität gegenüber dem Gericht; der Grundsatz "The King can do no wrong" ist aber lediglich als prozessuales Immunitätsrecht zu verstehen. Er enthebt die Königin nicht von ihrer Verpflichtung, für die Herrschaft des Rechts zu sorgen und sich selber an das Recht zu halten. Im Rahmen einer interessanten Studie hat George Valtuena kürzlich untersucht, inwieweit das schweizerische Bundesgericht sich auf den Rechtsstaatsbegriff stützt. Dabei kommt er zu folgendem bemerkenswerten Ergebnis8 : "Quoi qu'il en soit, il ressort de nos observations que le concept de l'Etat de droit est une notion normativement feconde. Sollicite tantöt pour completer le catalogue des droits constitutionnels non ecrits, tantöt pour faire respecter certains principes aux autorites, le concept semble se mouvoir au-dessus de l'ordre juridique positif, auquel il n'aurait ainsi pas de comptes a rendre. Respectueux neanmoins de cet ordre, autant que soucieux d'ameliorer et garantir les droits individuels, le concept apparait comme une sorte de correctif du pouvoir etatique. Röle dynamique s'il en est, on ne s'etonnera des lors pas de la necessite qu'a un tel concept de s'extraire du carcan rigide de droit." Aus dem Rechtsstaatsprinzip hat das Bundesgericht unter anderem das Legalitätsprinzip (BGE 80 I 325), den Grundsatz der Gewaltenteilung (BGE 98 I a 73) sowie die ungeschriebenen Grundrechte der Verfassung (BGE 89 I 92) abgeleitet. Wie gefährlich solche allgemeinen, letztlich erst im 19. Jahrhundert entwickelten Wertvorstellungen sein können, zeigt ein Aufsatz, den earl Schmitt im Jahre 1934 zum Thema "Nationalsozialismus und Rechtsstaat" veröffentlicht hat. Er schreibt9 : "Es gibt Dutzende und aber Dutzende von Rechtsstaaten, einen feudalen, einen ständischen, einen feudal-ständischen, einen rein bürgerlichen, einen liberal-demokratischen, einen sozialen, einen nationalliberalen, einen faschistischen usw. Rechtsstaat ..."; und sodann: "Wir bestimmen also nicht den Nationalsozialismus von einem ihm vorgehenden Begriff des Rechtsstaates, sondern umgekehrt den Rechtsstaat vom Nationalsozialismus her. Dies heißt mit anderen Worten: das gesamte deutsche Recht, einschließlich der weitergeltenden, positiv nicht aufgehobenen Bestimmungen, muß ausschließlich und allein vom Geist des Nationalsozialismus beherrscht 8 La notion de l'Etat de droit, in: Notice d'information, Nr.20, 1982, Institut CETEL, S. 59. 9 Juristische Wochenschrift, 1934, S. 713 ff. (717).
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sein. Das ist das erste Auslegungsprinzip." Der Rechtsstaatsbegriff läßt sich also offenbar je nach dem für den liberalen, den nationalsozialistischen und wohl auch den sozialistischen Staat verwenden. Solche inhaltsleeren Begriffe, die nur vermeintlich einen Inhalt haben, soUten aber doch wohl nicht als Rechtsquellen für die Auslegung und Anwendung des positiven Rechts verwendet werden. Schließlich dürfen wir auch nicht übersehen, daß in vielen anderen Staaten zum Teil religiöse, zum Teil parteipolitische Prinzipien für die Auslegung und Anwendung des Rechts herangezogen werden. Ganz ausgeprägt ist dies in den islamischen Staaten der Fall, die lediglich den Koran als Rechtsquelle anerkennen1o • Ähnlich der israelische "High Court of Justice": Er hält sich zwar an die Common-Law-Tradition der englischen Gerichte und anerkennt die Rechtsmittel des englischen Verwaltungsrechts, die er zum Teil im Interesse des Rechtsschutzes sogar wesentlich erweitert hat. Findet er aber weder in der Tradition des "common law" noch in den Erlassen der Knesset allgemeine, für seinen Fall geltende Rechtsgrundsätze, beruft er sich auf die Tradition des religiösen Rechts, nämlich der Halakha ll .
3. Bedeutung allgemeiner Rechtsprinzipien Was für grundsätzliche Überlegungen lassen sich aus diesen rechtsvergleichenden Darstellungen ableiten? Einmal läßt sich feststellen, daß nirgendwo das positive Gesetz alleinige Rechtsquelle ist. Stets haben die Gerichte neben dem Gesetz andere Rechtsgrundsätze für ihre Rechtsprechung angewandt. Diese Rechtsgrundsätze haben sie entweder aus der Tradition hergeleitet, oder sie haben sie durch extensive Verfassungsinterpretation in die Verfassung hineininterpretiert. Neben den allgemeinen Rechtsgrundsätzen wurden aber auch die ideologischen Grundlagen von Verfassung und Staat zur Interpretation des Rechts herangezogen. Gerade dieses Ausfüllen des Rechts mit zusätzlichen Werten kann aber besonders gefährliche Auswirkungen haben. Schließlich zeigt sich, daß Staaten, die dem Gesetz eine besondere Wichtigkeit einräumen und die Jurisdiktionsgewalt des Gerichtes gewissermaßen nur aus dem Gesetz ableiten, es für notwendig erachtet haben, die Verfahrensgrundsätze des Verwaltungsrechts in besonderen Rechtserlassen niederzulegen. Andere Staaten, wie z. B. England, Frankreich oder die USA, stützen sich weitgehend auf die Tradition der "natural justice" Vgl. J. Schacht, Islamic Law, Oxford 1979, S. 112 ff. Vgl. die Entscheidung des "High Court of Justice" von Israel im Elon March Case, HCJ 390/79; M. Schamjar, Military Government and Administered Territories, Jerusalem 1982, S.415. 10
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und begnügen sich damit, das Verfahrens recht nur teilweise oder nur beschränkt auf der Gesetzesebene zu regeln. Damit stellt sich die für uns grundsätzliche Frage, ob wir nicht vermehrt versuchen sollten, statt durch extensive Auslegung der Verfassung oder durch die Entwicklung eines mehr oder weniger gefestigten Rechtsstaatsbegriffes dem Gericht eine ursprüngliche Jurisdiktionsgewalt zuzusprechen, die es ihm ermöglicht, im Rahmen seiner Befugnisse fallbezogene Rechtsgrundsätze zu entwickeln, d. h. - sei es auf Grund der alten Tradition, sei es auf Grund seiner heutigen gegenwartsbezogenen Erkenntnisse - Recht im eigentlichen Sinne zu sprechen und notfalls auch zu setzen. Dabei müssen wir dem Richter nicht die Befugnis geben, im Sinne von Art. 1 ZGB wie ein Gesetzgeber zu entscheiden. Denn wir müssen wieder vermehrt dazu kommen, anzuerkennen, daß nicht nur das Gesetz, sondern auch die Entscheide des Richters, wie auch seine von ihm anerkannten Rechtsgrundsätze, Rechtsquellen im eigentlichen Sinne sind. 4. Das Gesetz als einzige Grundlage der Staatsgewalt Der Gesetzesabsolutismus hat nicht nur dazu geführt, das Gesetz als oberste Rechtsquelle anzuerkennen, ihm neben dem Gewohnheitsrecht totale Ausschließlichkeit zuzusprechen. Er hat in gewissen Staaten auch dazu geführt, daß das Gesetz als einzige Grundlage anerkannt wird, aus der sich Staatsautorität ableiten läßt. Eine grundsätzliche Ausnahme macht wiederum England. Im englischen Verwaltungsrecht gelten neben den Gesetzen, d. h. den "statutes" auch die Prärogativen der Krone als Grundlagen für Rechtsquellen, z. B. das Recht der Krone, Korporationen wie Gemeinden zu bilden und diesen Gemeinden Befugnisse zu übertragen, oder das Recht der Krone, Verträge abzuschließen, soweit diese Verträge nicht den "statutes" widersprechen. Überdies leitet sich das Recht der Gerichte, über Handlungen der Verwaltung zu entscheiden, von einer alten Prärogative des Königs als oberstem Richter des Volkes ab. Auf Grund der kontinentaleuropäischen Rechtstradition läßt sich hingegen staatliche Hoheitsgewalt nur aus der Verfassung und aus dem Gesetz ableiten. Das Gesetz ist Rechtsgrundlage jeglicher Staatsgewalt. So sagt das Bundesgericht in BGE 104 Ia 233: "Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtes ist eine gesetzliche Grundlage, d. h. eine generell abstrakte Norm, die sich ihrerseits als verfassungsmäßig erweist, in erster Linie für die Einschränkung verfassungsmäßiger Rechte der Bürger und für die Auferlegung von Pflichten erforderlich. Der Gesetzesvorbehalt ist jedoch nicht nur auf diese Art behördlichen HandeIns be-
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schränkt, sondern kann in weiteren Bereichen der staatlichen Tätigkeit, so z. B. auf dem Gebiet der leistungsgewährenden Verwaltung, Geltung beanspruchenl2 • Im Bereich der staatlichen Organisation ist eine gesetzliche Grundlage für jedes Verfahren erforderlich, in welchem rechtlich bindende Entscheide, zustande kommen, sei es auf dem Gebiet der Gesetzgebung, der Rechtsprechung oder der Verwaltung." Hoheitsgewalt muß somit immer auf ein Gesetz zurückgeführt werden können. Selbst die Befugnis des Richters, nach ZGB im Falle einer Gesetzeslücke "wie ein Gesetzgeber" zu entscheiden, ist in einem Gesetz festgelegt. Ohne Gesetz gibt es keine Staatsgewalt. Wenn wir allerdings näher hinschauen, stellen wir fest, daß trotz allem das sogenannte Vorbehaltsprinzip der Gesetzmäßigkeit nicht strikt durchgeführt wird. Das Bundesverwaltungsgericht der Bundesrepublik beispielsweise anerkennt die Subventionierung als rechtmäßig, selbst wenn sie nicht in einem formellen Gesetz vorgesehen ist, sondern sich auf das Haushaltsgesetz abstützen läßt 13• Demgegenüber fordern aber Vertreter der Lehre, solche Subventionen müßten in einem Gesetz im formellen Sinne vorgesehen sein, welches nicht nur die Höhe des Gesamtbetrages der Subvention regle, sondern auch die Verteilungsgrundsätze. Diese Tendenz scheint sich auch in der Schweiz mehr und mehr durchzusetzen. Dies ist wohl u. a. auch darauf zurückzuführen, daß wir in der Schweiz keine Haushaltsgesetze haben, sondern vom Parlament ohne Referendum genehmigte Voranschläge. Durch diese Ausdehnung des Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit auf die Leistungsverwaltung erhält das Parlament eine bessere Kontrollmöglichkeit (z. B. Forschungsgesetz), andererseits wird auf diese Weise die Gesetzesinflation noch wesentlich vermehrt. In England gehört das Vertragsabschlußrecht zu den Prärogativen der Krone. Diese kann allerdings keine Subventionsverträge abschließen, wenn der entsprechende Betrag vom Parlament im Rahmen des Budgets nicht genehmigt wurde. Auch in Frankreich besteht im Vergleich zur Schweiz, aber auch zur Bundesrepublik, ein viel weitergehendes Vertragsabschlußrecht der Verwaltung. Dies vor allem deshalb, weil der Richter, der den Verwaltungsakt wegen "exces de pouvoir" oder Verletzung des Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit aufheben kann, keine entsprechende Kompetenz gegenüber den "contrats administratifs" besitzt l4 • Ein weiterer interessanter Einbruch in die Lehre vom absoluten Gesetzesvorbehalt ist das Satzungsrecht der Gemeinden. Die Gemeinden 12 13 14
Vgl. dazu im einzelnen BGE 103 Ia 376 ff. E. 3 b, 5 u. 6, 402 E. 3 a. Vgl. dazu Maurer (FN 3), S.77. Vedel (FN 4), S.296.
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haben nach der schweizerischen Auffassung ein ursprüngliches Recht auf Autonomie. Dieses Recht schließt die Befugnis ein, über den Weg von autonomen Satzungen rechtsverbindliche Vorschriften zu erlassen, ohne daß eine gesetzliche Ermächtigung der Gemeinde diese Befugnis delegiert. Auf Grund der Rechtsprechung des Bundesgerichtes über die Gemeindeautonomie steht den Gemeinden gewissermaßen die Restmacht, die "residual power" des Staates zu. Sie können ohne besondere gesetzliche Grundlage in Rechte und Pflichten der Bürger eingreifen. Allerdings bedürfen diese Eingriffe auf der Ebene der Gemeinde einer Rechtsgrundlage, beispielsweise in Form eines Gemeindereglementes. Wie die Rechtsprechung des Bundesgerichtes zu den ungeschriebenen Verfassungsrechten, entbehrt auch die Rechtsprechung zur Gemeindeautonomie einer ausdrücklichen positivrechtlich verankerten Grundlage. Das Bundesgericht leitet sie aus dem Prinzip des demokratischen Aufbaus der Kantone ab. Es anerkennt gewissermaßen, daß die Gemeinden eine ursprüngliche, staatliche Hoheitsgewalt ausüben können, ohne hierfür durch ein Gesetz ermächtigt zu sein. Ähnliche Rechte hatten bis 1974 zumindest gewisse "Iocal authorities" nach der englischen Tradition. Zu einer Prärogative des Königs gehört auch sein Recht, Korporationen zu schaffen. Von diesem Recht hat er vor allem im Mittelalter Gebrauch gemacht und dadurch viele traditionelle "boroughs" errichtet. Diese "boroughs" konnten ursprüngliche Rechte wahrnehmen. Sie konnten sog. "bylaws" erlassen, die zwar die "statutes" des Parlamentes nicht verletzen durften, aber keine zusätzliche gesetzliche Grundlage benötigten. Eine ganz andere Stellung hatten die Gemeinden im früheren französischen Recht inne. Nach der Rechtsprechung des "Conseil d'Etat" des letzten Jahrhunderts waren die Gemeinden weitgehend den Privatpersonen gleichgestellt. Das heißt, sie unterstanden nicht der Jurisdiktionsgewalt des "Conseil d'Etat", sondern dem Privatrecht. Im Rahmen des Privatrechts konnten sie nun weitgehend autonom schalten und walten und autonome Regelungen vorsehen. Die Französische Revolution hat dann allerdings auch die Gemeinden dem radikalen Zentralismus der Jakobiner unterworfen. Und seit 1789 ist Frankreich bestrebt, durch verschiedene Verfassungs- und Gesetzesgrundsätze die Gemeindeautonomie wieder einigermaßen zu etablierents • Ein weiterer Einbruch bildet das Polizeirecht. Die im deutschen Verwaltungsrecht bestens bekannte polizeiliche Generalklausel findet sich allerdings in anderer Form sowohl im französischen und im englischen Verwaltungsrecht. Im englischen Verwaltungsrecht gehört die Aufgabe, 15
Vgl. Laubadere / Venezia / Gaudemet, Manuel de Droit administratif,
12. Aufl., Paris 1982, S. 177 ff.
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für die Sicherheit der 13ürger zu sorgen, zu einer traditionellen Prärogative l6 : "The powers of a constable qua peace officer, whether conferred by common or statute law, are exercised by hirn by virtue of his office and cannot be exercised on the responsibility of any person but hirnself." In Frankreich sind sowohl die "maires", wie auch die "prefets" und die Regierung, Träger der Polizeigewalt, die weitgehend gesetzlich geregelt ist. Lediglich der staatliche Notstand steht der Regierung, d. h. dem Präsidenten zu. Dieser entscheidet über den Notstand. Er kann in diesem Fall auch bestimmte Gesetze außer Kraft setzen (Art. 16 der Verfassung). 5. Zusammenfassung
Die rechtsvergleichende Untersuchung zeigt, daß der zum Teil in der Rechtsphilosophie vertretene Gesetzespositivismus und -absolutismus in dieser Form sich nirgends in der Praxis durchsetzen konnte. Immer mußten die Gerichte auf Grund von überlegungen entscheiden, die im positiven Recht nicht ausdrücklich verankert waren. Solcher Realität sollte auch die Rechtsphilosophie Rechnung tragen. Namentlich die angelsächsischen Gerichte zeigen schließlich, daß auch die Gerichtsbarkeit an der ursprünglichen Staatsgewalt teil hat. Die Gerichte gehören zur dritten Gewalt im Staat. Die Rechtslehre, aber auch die Rechtsphilosophie, sollte dieser Tatsache vermehrt Rechnung tragen und somit den in der Rechtsprechung entwickelten Rechtsgrundsätzen vermehrt Beachtung schenken. Im übrigen wäre es für Rechtsphilosophie, Gesetzgebung und Rechtsprechung sinnvoll, sich vermehrt mit den Grundsätzen zu befassen, von denen sich unsere Gerichte seit mehreren hundert Jahren haben leiten lassen; Grundsätze, welche aber nicht nur die Gerichte, sondern auch die Gesetzgeber in ihrer Tätigkeit lenken sollten.
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Wade (FN 6), S. 132.
Menschenwürde und Strafe
DER WANDEL DER STRAFRECHTSLEHRE UND SEINE POLITISCHEN FOLGEN Eine Causerie Von Hans Schultz, Thun/Bern Zwei Rechtsdisziplinen bilden immer wieder Gegenstand philosophischer Erörterungen: das Staats- und das Strafrecht. Nachdenken über den Staat und seine rechtliche, durch Zwang gesicherte, durchsetzbare und deshalb einigermaßen verläßliche Ordnung, Hans RyffeZ nennt sie die maßgebliche!, führt zu den Grundfragen menschlicher Existenz. Es berührt das Verhältnis des einzelnen zur Gemeinschaft, führt zur Rechtfertigung und Begrenzung sozialen Zwanges, sowie auf die Idee der Gerechtigkeit und deren Verwirklichung. Vielleicht bestärken diese Überlegungen die Einsicht, daß eine solche Ordnung mit ihren Mängeln notwendig ist für die Gesamtheit von Menschen, Freigelassene der Schöpfung nach Herder, die in Frieden miteinander leben wollen, als "homines bonae voluntatis". So spricht Ulpian in den Digesten von der Gerechtigkeit als der "constans et perpetua voluntas ius suum cuique tribuendi". Darauf weist Ryffel hin, wenn er betont, das Recht sei dem Menschen nicht gegeben, sondern aufgegeben2 • Beat Sitter kommt von der Existenzphilosophie Heideggerscher Prägung zu einem ähnlichen Ergebnis3 • Wird das Strafrecht als Teil der rechtlichen Sanktionen verstanden, bezieht es seine Rechtfertigung aus der Begründung der Notwendigkeit des Rechts überhaupt, die soeben skizziert wurde. Dennoch wird, in verhängnisvoller Herauslösung des Strafrechts aus dem Ganzen von Staat und Rechtsordnung für Strafrecht und Strafe nach einer besonderen Begründung gesucht, die weder der Zivil-, noch der Verwaltungs- oder gar der Steuerrechtler für nötig halten. Strafe und Strafrecht nachzusinnen wird offenbar angeregt von der bestürzenden Feststellung, daß die Strafe von Rechts wegen in die Güter des einzelnen eingreift, in sein Vermögen, seine Ehre, seine Freiheit und sogar in sein Leben, in Güter, ! H. Ryffel, Grundprobleme der Rechts- und Staatsphilosophie. Philosophische Anthropologie des Politischen, Neuwied/Berlin 1969, S. 163 f., 186, 343 f. 2 So schon H. Ryffel, Das Naturrecht. Ein Beitrag zu seiner Kritik und Rechtfertigung vom Standpunkt grundsätzlicher Philosophie, Bern 1944, S. 126. 3 B. Sitter, Naturrecht in der Perspektive der Philosophie der Existenz M. Heideggers, in: ARSP, Supplementa 1/2, 1982, S. 351 ff.
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welche der Staat sonst mit seinem Recht und seinen Behörden unter Straffolge vor Beeinträchtigung schützt. Deshalb scheint strafrechtlicher Zwang besonderer Begründung zu bedürfen, allein er ist nur eine der stärksten Formen staatlichen Zwanges. Es ist nicht erstaunlich, daß, von diesen Problemen bedrängt, der Mensch die Rechtfertigung von Recht und Strafe einer übermenschlichen Instanz zuschiebt, wie es schon Hammurabi von BabyIon tat, indem er sich als von den Göttern berufener Friedensstifter, als Schützer der Schwachen, Witwen und Waisen bezeichnete. Ebensowenig ist erstaunlich, daß Strafrechtler oft im System einer bestimmten Philosophie Grund und Halt gesucht haben. Noch in den dreißiger Jahren versuchte Hans Welzel philosophische Einsichten unmittelbar der Strafrechtspflege fruchtbar zu machen4• Unter Berufung auf Nicolai Hartmann ging er davon aus, menschliches Handeln sei seiner sachlogischen Struktur wegen zweckgerichtetes Vorgehen und schreite nach dem Bestimmen eines Zieles über die Bereitstellung der zu dessen Erreichung erforderlichen Mittel zur Ausführung. Diesen Handlungsaufbau bezeichnete Welzel, wiederum Hartmann folgend, als finale Handlung, ein Modell menschlichen Verhaltens, das sich übrigens schon bei Aristoteles in dessen Nikomachischer Ethik findet. Die ontologisch vorgegebene Handlungsweise fordere, daß im systematischen Aufbau der strafbaren Handlung, dem allgemeinen Verbrechensbegriff, der Vorsatz als Teil des Tatbestandes und nicht mehr, wie bisher, als Schuldform angesehen werde. Diese Ansicht setzte sich durch als personale Unrechtslehre, doch nicht ihrer philosophischen Begründung wegen, sondern aus strafrechtssystematischen Erwägungen. Aussagen über die allgemeine Bedeutung staatlichen Strafens finden sich beinahe nur in philosophischen oder strafrechtlichen Erörterungen. Die Strafgesetze sind zurückhaltender. Sehen wir von den einleitenden Bestimmungen kommunistischer Strafgesetze mit ihren weitausholenden gesellschaftspolitischen Zielsetzungen ab, sprechen sich die Gesetze kaum über die sie rechtfertigenden überlegungen oder über ihre Ziele aus. Eine Ausnahme bildete die "Constitutio criminalis bambergensis", die "mater Carolinae", von 1507 in Art. CXXV mit der dem Richter erteilten Anweisung, "die straff nach gelegenheyt und ergernus der ubeltat, auss lieb der gerechtigkeit und umb gemeynes nutz willen zu orden und zu machen". Gustav Radbruch zeigte in seinen "Elegantiae juris criminalis" die Herkunft dieser Anleitung aus ciceronischem Denkens. 4 H. Welzel, Kausalität und Handlung, in: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft, 51 (1931), S. 703 ff.; ders., Studien zum System des Strafrechts, in: ebd., 58 (1939), S. 491 ff.; jetzt auch in ders., Abhandlungen zum Strafrecht und zur Rechtsphilosophie, Berlin/New York 1975, S.7 ff. bzw. 120 ff.
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Mit der Gerechtigkeit und dem allgemeinen Nutzen sind die Leitmotive angeschlagen, die noch heute, wenngleich in geminderter Heftigkeit, die Diskussion über den Sinn der Strafe bestimmen: Soll mit der Strafe ausgleichende, vergeltende Gerechtigkeit geübt werden, wie Hugo Grotius es sah, wenn er mit einem für Jahrhunderte maßgebenden "dictum" die Strafe als "malum passionis quod infligitur ob malum actionis" bezeichnete6 , eine Auffassung, die Kant und Hegel beriefen und die nicht zuletzt dem Liberalismus zur Begrenzung staatlicher Zwangsgewalt diente? Oder soll die Strafe einen sozial als erstrebenswert angesehenen Zweck, wie den der Besserung des Täters, verfolgen, ein Gedanke, der - Ansichten der griechischen Sophistik aufnehmend - sich ebenfalls bei Grotius findet? Die wissenschaftlichen Auseinandersetzungen über den Sinn staatlicher Strafe bestimmten lange Zeit die Diskussion. Zu einer allgemeinen Änderung der kriminal politischen Ansichten kam es erst, nachdem die heute zu Unrecht vielgeschmähte Aufklärung die Wirklichkeit der StrafrEichtspflege ihrer Zeit kritisch betrachtete und Abhilfen vorschlug: das Legalitätsprinzip gegen willkürliche Verhaftung und Bestrafung, die Abschaffung VOn Folter, Körper- und Todesstrafe, die Gewährung ausreichender Verteidigungsmöglichkeiten. Diese Tendenz verstärkte sich, seitdem im ausgehenden 19. Jahrhundert, mit dem 1876 erschienenen "Uomo delinquente" von Cesare Lombroso als Markstein, neben die Strafrechtsdogmatik als Normwissenschaft die Kriminologie als Tatsachenwissenschaft trat. Sie erforschte die Persönlichkeit der Straffälligen und die Ursachen ihrer Delinquenz, überdies das Wirken der Strafjustiz und des Sanktionenvollzuges, neuestens mit Vorliebe die Art und Weise, wie Strafbestimmungen entstehen, nicht selten der zeitgemäßen, auch von Ryffel angeprangerten Neigung nachgebend, die Soziologie zur heimlichen Nachfolgerin der Sozialphilosophie werden zu lassen. Außerdem rückten diese Forschungen, system theoretisch unternommen, die jedem Praktiker wohlbekannte Filterwirkung der Strafrechtspflege ins Licht: Nur ein Teil - bei einigen Delikten, wie im Straßenverkehr, sogar nur ein sehr kleiner - aller verübten Delikte wird den Behörden der Strafverfolgung bekannt; keineswegs werden alle Urheber der angezeigten Taten ausfindig gemacht, für einzelne Delikte, wie Diebstähle, nur eine geringe Zahl, und von den ermittelten Tätern werden nicht alle in Strafverfolgung gezogen, beurteilt oder gar verurteilt. 5 G. Radbruch, Lieb der Gerechtigkeit und Gemeiner Nutz. Eine Formel von Johann von Schwarzenberg, in: ders., Elegantiae Juris Criminalis, 2. Aufl., Basel 1950, S. 70 ff. 6 H. Grotius, De iure belli ac pacis libri tres, liber II, cap. XXIV 1.
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Ein kleiner methodischer Exkurs sei gestattet: die frühere kriminologische Forschung ging das Phänomen der Kriminalität wie eine Krankheit an. Gelänge es, die Ursachen der Kriminalität zu ermitteln und zu beseitigen, so könnte die Kriminalität an der Wurzel bekämpft und beseitigt werden. Unter dem Zeichen solchen mechanistischen Verständnisses des Menschen wurde die Kriminologie während Jahrzehnten betrieben, zerstritten in die Anhänger der ausschlaggebenden Bedeutung der Anlage oder der der Umwelt. Erst nach dem Zweiten Weltkriege verdrängte der Begriff des zur Kriminalität führenden Faktors den der Ursache. Damit wurde eine Frage aktuell, auf die Ryffel in seiner Rechtsoziologie immer wieder hinweist: die des besonderen Forschungsgegenstandes der Humanwissenschaften. Max Scheler hat darauf aufmerksam gemacht, daß der menschliches Verhalten erforschende Mensch stets von einem bestimmten Verständnis seiner selbst ausgeht7• Diese grundlegende Vorwegnahme läßt sich auch in der Kriminologie nicht ausklammern. Sie führt zur Frage nach der Eigenart des Menschen als weltoffenes und deswegen der Norm bedürftiges Wesen. Unausgesprochen trägt die Faktorentheorie mit ihrer Suche nach bloßen Wahrscheinlichkeiten zukünftigen kriminellen Verhaltens einer Auffassung Rechnung, die den Menschen nicht als völlig mechanisch bestimmt ansieht, sondern ihm, bei aller Bedingtheit seines Verhaltens durch Anlage, Geschichte und die jeweiligen sozialen Verhältnisse, Freiheit als Fähigkeit zur Selbstbestimmung zuspricht. Doch zurück zu den Wirkungen der kriminologischen Forschungen. Sie führten zu einer Ernüchterung aller derer, die sich mit Strafrecht und Kriminalpolitik zu befassen hatten. Zu deutlich war geworden, welche Nachteile eine Strafverfolgung für alle von ihr Betroffenen, oft selbst für das zu schützende Opfer, mit sich bringt und welche Nachteile der Freiheitsstrafe anhaften. Zu offen war die oft auf verschlungenen Wegen polizeilicher und staatsanwaltschaftlicher Praxis herbeigeführte Auslese derer, die schließlich bestraft werden, geworden. Die Strafrechtspflege verlor ihre Unbefangenheit und damit ihr gutes Gewissen, welches deren Träger Radbruch zufolge haben sollten. Vergeltung als Sinn oder Wesen der Strafe wurde verpönt. Die Strafe wurde in die Richtung sozialer Hilfe geleitet. Zum Schutz des Betroffenen soll der Ausgleichsgedanke die Strafe begrenzen und sie derart der Idee der Gerechtigkeit unterstellen. Die staatliche Strafe und gar eine freiheitsentziehende wurde nur als "ultima ratio" zugelassen. Obschon in der Theorie die Verbindung von Strafe als Zwangseinwirkung, das unvermeidlich Repressive an ihr, mit dem Gedanken sozialer Hilfe als Hochzeit von Feuer und Wasser bezeichnet und angezweifelt wird, zei7
M. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, München 1949, S. 86 f.
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gen die Reformen zahlreicher Strafgesetzbücher unserer Zeit, daß diese Auffassung sich in der Rechtswirklichkeit durchzusetzen beginnt, wenigstens als Postulat, so wenig wie möglich zu schaden. Wie kaum irgendwelche andere zeitgenössische Juristen entsprechen die Strafrechtler der von Ryffel aufgestellten Forderung eines desengagierten Engagements für ihre Disziplin. Ihre Diskussionen geben ein Beispiel dafür ab, daß Wertungskonflikte gemildert und begrenzt werden können durch eingehendere Abklärung der zu beurteilenden Tatsachen. Ob das Erschrecken der Strafrechtler über das von ihnen verwaltete Mittel sozialer Kontrolle von den Bürgern geteilt wird, steht dahin. Doch auf allen Gebieten zeichnet sich der Laie gegenüber dem Wissenschaftler durch ein nur punktuell einsetzendes Urteil und eine je nach der Situation sprunghaft wechselnde Beurteilung aus. Allein gesetzgebungspolitisch haben die kriminologischen Forschungen die Blickrichtung grundlegend verändert. Noch etwas sei angemerkt als Erfahrung kriminalpolitischer Bemühungen: Zu einer von wissenschaftlichen Forschungen vorbereiteten Änderung des Rechts gehört eine entsprechende Aufnahmebereitschaft der Öffentlichkeit. Die Zeit der Großen Koalition in der Bundesrepublik der ausgehenden sechziger Jahre war die Zeit für die damals vorgelegten Neuerungen des Alternativ-Entwurfes eines Strafgesetzbuches, die zu einem guten Teil, besonders im Recht der Sanktionen, in das jetzt geltende bundesdeutsche Strafgesetz eingingen. Dann kam die Terrorwelle und es bereitet heute Schwierigkeiten, nur die erreichten Milderungen zu bewahren. Wie Ende 1980 die den Auffassungen des Alternativ-Entwurfes entsprechenden Revisionsvorschläge zum Schweizer Sexualstrafrecht bekannt wurden, erhob sich ein Sturm der Entrüstung, wenngleich nicht einzig wegen des veränderten politischen Klimas. Oder: Wie verschieden war die Bereitschaft zur Verfassungsgesetzgebung in der Schweiz 1848 und 1874, wie mühsam schleppt sich das Unternehmen der Totalrevision der Verfassung heute dahin! Zum Problemkreis des normativen Wandels des Politischen gehört außer der Änderung sozial-ethischer Anschauungen sowie sorglicher Vorbereitung neuer Gesetze offenbar und nicht zuletzt der günstige Augenblick: "kairos" .
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DAS VERSTÄNDNIS DES MISSETÄTERS IM NORMATIVEN WANDEL DES POLITISCHEN Von Wolfgang Schild, Bielefeld Die Rede vom "normativen Wandel des Politischen" spielt auf eine Grundthese des Werkes von Hans Ryffel an, die unter 1. erinnert werden und zugleich entfaltet werden soll auf das daraus folgende Verständnis des Missetäters!. An drei philosophischen Positionen möchte ich sodann unter 2. bis 4. deutlich machen, wie schwer es dem geschichtlichen Prozeß dieses normativen Wandels des Politischen gefallen ist (und vielleicht bis heute fällt), die Konsequenzen für das Strafrecht zu ziehen. Die dafür herangezogenen Autoren sind John Locke, Immanuel Kant und Georg Wilhelm Friedrich Hegel; sie stehen aber nur für die Formulierung von Problemen, die man auch bei anderen Philosophen herausarbeiten könnte; diesbezüglich sind die drei Gewählten zufällig auserkoren. Daß freilich von Locke über Kant zu Hegel ein Fortschritt der Problemtiefe und philosophischen Stringenz der Argumentation (gerade unter Sicht des normativen Wandels des Politischen) aufgezeigt werden kann, ist ein anderes Thema. Als Schlußbemerkung schließlich wird unter 5. die Auffassung von Ryffel zugleich als Zusammenfassung vorgestellt.
1. Ausgangspunkt und Fragestellung Beginnen möchte ich mit Ryffels These vom normativen Wandel des Politischen und eine seiner Formulierungen zum Ausgangspunkt meiner überlegungen machen. In seiner "Einstiegs-Gabe" für das Projekt, in dessen Rahmen ich seine Bekanntschaft machen durfte, nämlich in dem von Johannes Schwartländer geleiteten Tübinger Menschenrechts-Arbeitskreis, hat Ryffel seine These zusammengefaßt. Dort heißt es2: "Der normative Wandel, den die modernen Menschenrechte voraussetzen und als dessen Erzeugnisse sie recht eigentlich zu gelten haben, ist, auf ! Die Begriffe "Missetäter" und "Strafrecht" werden in einem weiten Sinne gebraucht, nämlich als Oberbegriff, der Verbrecher, Abweichler, Sünder, böser Mensch und die Sanktionsverhängung umfaßt, ohne auf die näheren Differenzen Rücksicht zu nehmen. 2 H. Ryffel, Zur Begründung der Menschenrechte, in: J. Schwartländer (Hrsg.), Menschenrechte. Aspekte ihrer Begründung und Verwirklichung, Tübingen 1978, S. 55 (56 ff.).
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eine knappe Formel gebracht, der übergang von vorgegebener zu aufgegebener Normativität ... [Diese] beiden Grundformen von Normativität sowie deren Sinn und Tragweite ergeben sich aufgrund philosophisch-anthropologischer überlegungen. Zu solchen überlegungen veranlaßt uns aber gerade der normative Wandel. Von vorgegebener Normativität sei die Rede, wenn Normen von absoluter Dignität angenommen werden, die sowohl inhaltlich erfüllt als auch mit dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit und Unwandelbarkeit ausgestattet sind und als ein für allemal vorgegeben gelten. Das Absolute ist gleichsam in eine gegliederte Ordnung ausgefaltet. Im Rahmen der vorgegebenen Ordnung ist die Entfaltung des Menschen festgelegt, je nach Maßgabe der inhaltlichen Ausgestaltung dieser Ordnung zudem in ungleicher Weise für die einzelnen.... Doch läßt sich die Position vorgegebener Normativität nicht halten, wir müssen zu aufgegebener Normativität übergehen. . .. Für den Menschen als ein Wesen in gegebener Welt, über die er nicht selbstherrlich verfügt, und zudem als ein Wesen, das auch sich selbst gegeben ist - d. i. eine Umschreibung der Endlichkeit -, kann es keine sowohl inhaltlich erfüllten als auch allgemeingültigen und unwandelbaren Normen geben. Normen können weder den Weltlauf noch das normative Potential des Menschen ein für allemal vorwegnehmen. Der Abstand zwischen den vorgegebenen Maßstäben und der Wirklichkeit mag noch so groß sein, inhaltlich erfüllte Maßstäbe sind nie absolut. In der menschlichen Daseinsverfassung sind zwar Maßstab und Wirklichkeit aufeinander bezogen, doch bleiben sie grundsätzlich getrennt. ... Bei dieser Sachlage sind auch die obersten Normen, die höchsten Maßstäbe, nicht vorgegeben, sondern - wie wir formulieren können - aufgegeben. Erst recht gilt dies für die abgeleiteten Normen, die die unmittelbar anwendbaren sittlichen und rechtlichen Ordnungen ausmachen. Um die Normen ist immer neu zu ringen, sie bedürfen der Anpassung und Änderung oder gar der Neufassung im ganzen .... Ordnungen sindrevisionsbedürftig und auch -fähig. Bedeutsam ist vor allem, wie das Verhältnis des Menschen zu den Ordnungen bei aufgegebener Normativität zu sehen ist. Während bei vorgegebener Normativität ... die Daseinsentfaltung des Menschen durch die Ordnung vorgezeichnet ist, ist sie bei aufgegebener Normativität grundsätzlich offen und unbeschränkt, wiewohl an Richtigem orientiert. Solche Daseinsentfaltung steht ferner allen Menschen in gleicher Weise zu. Denn die normative Orientierung ist ein Wesenszug des Menschen und ist nicht an ein Vorgegebenes gebunden, das auch ungleiche Entfaltung festlegen kann. Wir können auch sagen, allen komme die gleiche Freiheit zu, d. h. aber Freiheit zu aufgegebenem Richtigen. Dies gilt auch für den Entwurf und Aufbau der Ordnungen. Dieser ist Aufgabe aller Betroffenen, weshalb grundsätzlich alle an der Stiftung der Ordnungen beteiligt sind."
Das Verständnis des Missetäters
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In seinem rechtsphilosophischen Hauptwerk, dessen Untertitel "Philosophische Anthropologie des Politischen" nach eigener Ansicht eigentlich der Haupttitel sein sollte3, hat Ryffel diesen Unterschied bzw. den Wandel näher dargestellt. Einige Hinweise darf ich - als übergang zum Thema - hier einfügen. So heißt es dort ausdrücklich, daß es entgegen der Auffassung von vorgegebener Normativität nun unmöglich sei, ein inhaltlich erfülltes absolut Richtiges zu formulieren, da dies mit dem Wesen des Menschen nicht vereinbar sei: denn der Mensch sei nicht der Schöpfer der Welt. Das Absolute bleibe stets vorausgesetzt, sei niemals endgültig zu fixieren. "Gäbe es ein Absolutes, so wäre der Mensch schon in dieser Welt im Himmel oder in der Hölle."4 Für das Wesen des Menschen folgert Ryffel daraus: der Mensch könne nicht ausdefiniert werden, er sei immer ein sich selbst überschreitendes Wesen; jede Erfassung des Menschen weise den Menschen zugleich über ihn hinaus auf ein Absolutes; der Mensch sei das "Potentialitätswesen", sei ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält; "was im Rahmen menschlicher Selbstentfaltung noch als human vertretbar zu gelten habe, läßt sich nicht von vornherein festlegen"s. Aus diesem Grunde ist der Mensch für Ryffel das Wesen der Verantwortung, das sich stets in Frage stellen (lassen) müsse; damit das Wesen, dessen Sein in untrennbarer Verbindung zum Sollen (zum Verpflichtetsein) steht und deshalb stets in der Dimension der Schuld. Ryffel spricht von der Ur-Schuld als einem Wesensmoment des Menschen6 • Damit kann der übergang zum Thema vollzogen werden; und zugleich das Problem in Worten, die Ryffel selbst verwendet hat, formuliert werden. Da das Richtige nicht mehr in einer vorgegebenen Ordnung, sondern in jedem Menschen selbst innewohne, so "gilt es für jeden, und jeder muß sein wahres Wesen zur Entfaltung bringen"', d. h. sein in ihm potentiell gegebenes Gute selbst verwirklichen, was zugleich heißt: sichselbstverwirklichen (sich-selbstbestimmen). Die Rede ist somit - trotz allen normativen Wandels - von einem "wahren Wesen" des Menschen, das Ryffel auch als Grund der Menschenrechte erkennt8 : "Normativ gesehen, besagen im Grunde die Menschenrechte: jedem soll die Möglichkeit eingeräumt werden, wahrhaft Mensch zu sein. Das heißt des nähern: sei du selbst wahrhaft Mensch und trachte danach, auch andern zu wahrhaftem Menschsein zu verhelfen." Konsequent unterscheidet 3 H. Ryf/el, Bedingende Faktoren der Effektivität des Rechts, in: Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie, 3 (1972), S. 225 (226 Anm. 1). 4 H. Ryffel, Grundprobleme der Rechts- und Staatsphilosophie. Philosophische Anthropologie des Politischen, Neuwied/Berlin 1969, S. 237,238,239,298. 5 Ryf/el, Rechtsphilosophie (FN 4), S. 114 f., 117, 122, 126,312. 6 Ryf/el, Rechtsphilosophie (FN 4), S.312, 133 ff., 155. , RYf/el, Rechtsphilosophie (FN 4), S.305. 8 RYf/el, Begründung (FN 2), S.61.
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Wolfgang Schild
Ryffel deshalb zwischen dem "eigentlichen Menschen, der gut ist, und dem bloß faktischen Menschen, der dem Bösen verfällt": zwischen diesen könne "ein Abgrund klaffen"9. Das Thema dieser Ausführungen ist nun genau dieser Unterschied und damit das Verhältnis zwischen diesem "eigentlichen, wahren, wesentlichen Menschen" und dem "bloß faktischen Menschen". Ist der letztere im wesentlichen kein Mensch (mehr)? Oder inwieweit ist er es (noch)? Was ist ein solcher "unwahrer", "uneigentlicher" Mensch? Oder andersrum: welche Bedeutung (Qualität, Struktur) kommt dem "eigentlichen, wahren, wesentlichen" Menschsein zu? Warum ist der gute Mensch der wesentliche und der böse Mensch es nicht (bzw. was ist dieser dann)? Die Antwort, die Ryffel selbst auf diese Fragen gegeben hat, möchte ich einstweilen (bis unter 5.) zurückstellen; und zunächst diese Fragen an die drei erwähnten Denker stellen, somit mit Locke beginnen. 2. J ohn Locke
Locke geht in seinen "Zwei Abhandlungen über die Regierung"l0 von dem Zustand der Natur aus; mit dem Ziel, politische Gewalt so richtig begreifen zu können, wobei "politische Gewalt" für ihn das Recht bedeutet, für die Regelung und Erhaltung des Eigen(tum)s Gesetze auch mit Todesstrafdrohung zu schaffen und diese auch zugunsten des Gemeinwohls durchzusetzen (§ 3). Dieser Naturzustand ist ein Zustand vollkommener Freiheit und Gleichheit (§ 4); trotzdem aber kein Zustand der Zügellosigkeit, sondern ein den natürlichen Gesetzen unterworfener Zustand: "Und die Vernunft, der dieses Gesetz entspricht, lehrt die Menschheit, wenn sie sie nur befragen will, daß niemand einem anderen, da alle gleich und unabhängig sind, an seinem Leben und Besitz, seiner Gesundheit und Freiheit Schaden zufügen soll. Denn alle Menschen sind das Werk eines einzigen allmächtigen und unendlich weisen Schöpfers, die Diener eines einzigen souveränen Herrn, auf dessen Befehl und in dessen Auftrag sie in die Welt gesandt wurden. Sie sind sein Eigentum, da sie sein Werk sind, und er hat sie geschaffen.... Und da sie alle mit den gleichen Fähigkeiten versehen wurden und alle zur Gemeinschaft der Natur gehören, so kann unter uns auch keine Rangordnung angenommen werden, die uns dazu ermächtigt, einander zu vernichten, als wären wir einzig zum Nutzen des anderen geschaffen .... Wie ein jeder verpflichtet ist, sich selbst zu erhalten und seinen Platz nicht vorsätzlich zu verlassen, so sollte er aus dem gleichen Grunde, und wenn seine 9
Rytfel, Rechtsphilosophie (FN 4), S. 306.
Dieses Werk wird in der Ausgabe von W. Euchner (Frankfurt a. M. 1967) zitiert; dabei beziehen sich - soweit nichts anderes angegeben ist - die bloßen Paragraphennummern auf das II. Buch. 10
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eigene Selbsterhaltung nicht dabei auf dem Spiel steht, nach Möglichkeit auch die übrige Menschheit erhalten" (§ 6). Noch mehr: in diesem vom natürlichen (und vernünftigen) Gesetz gebundenen Naturzustand ist "die Vollstreckung [dieses Gesetzes] in jedermanns Hände gelegt" (§ 7). Jeder darf den Verbrecher, der das Gesetz übertritt und ihn an Freiheit, Gesundheit, Vermögen - "was ich unter der allgemeinen Bezeichnung Eigentum zusammenfasse" (§ 123)11 - bedroht, nicht nur abwehren (kraft des Rechts auf Selbsterhaltung), sondern diesen auch bestrafen, "um damit zu verhindern, daß [das Verbrechen] noch einmal begangen werde" (§ 11). Dabei kann freilich oft aus Wut, Verzweiflung oder Bosheit das Maß der Strafe überschritten werden, die angestrebte Bestrafung zu (neuern) Verbrechen werden, das nun seinerseits zur Sanktionierung ermächtigt, usf. Es droht somit stets, daß der Naturzustand zum Kriegszustand wird: "Diesen Kriegszustand zu vermeiden ... , ist ein gewichtiger Grund, weshalb sich die Menschen zu einer Gesellschaft zusammenschließen und den Naturzustand verlassen" (§ 21; vgl. §§ 124-126). Diese von Locke "bürgerlich" oder "politisch" bezeichnete Gesellschaft hat also das "Ziel, die Unzuträglichkeiten des Naturzustandes, die sich notwendigerweise ergeben, wenn jeder sein Richter in eigener Sache ist, zu vermeiden und ihnen abzuhelfen, indem eine allen bekannte Autorität eingesetzt wird, die jedes Mitglied der Gesellschaft anrufen kann, wenn es ein Unrecht erlitten hat oder ein Streit entstanden ist" (§ 90). Dabei kann diese politisch-bürgerliche Gesellschaft nur entstehen, wenn "jedes einzelne ihrer Mitglieder seine natürliche Gewalt aufgegeben und zugunsten der Gemeinschaft in all denjenigen Fällen auf sie verzichtet hat, die ihn nicht davon ausschließen, das von ihr geschaffene Gesetz zu seinem Schutz anzurufen. Auf diese Weise wird das persönliche Strafgericht der einzelnen Mitglieder beseitigt, und die Gemeinschaft wird nach festen, stehenden Regeln zum unparteiischen und einzigen Schiedsrichter für alle. Durch Männer, denen von der Gemeinschaft die Autorität verliehen wurde, jene Regeln zu vollziehen, entscheidet sie alle Rechtsfragen ... und bestraft jene Vergehen, die von irgendeinem Mitglied gegen die Gesellschaft begangen werden, mit den vom Gesetz vorgesehenen Strafen" (§ 87). Es bedarf jedenfalls eines "ursprünglichen Vertrages", damit die politisch-bürgerliche Gesellschaft, die Locke auch "Staatswesen" nennt, entstehen kann. Ihre Ordnung ist somit nicht vorgegeben, sondern aufgegeben: es muß der Vertrag gemeinsam abgeschlossen werden, die Gesellschaft im eigentlichen Sinne "gegründet" werden. Das Motiv zum Ab11 Vgl. dazu W. Schild, Begründungen des Eigentums in der Politischen Philosophie des Bürgertums: Locke-Kant-Hegel, in: J. Schwartländer / D. Willoweit (Hrsg.), Das Recht des Menschen auf Eigentum, Kehl a. Rh. 1983, S. 33 (33 ff.) (m. w. N.).
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schluß des Vertrages leitet Locke aus dem Interesse jedes einzelnen ab: "Obwohl [jeder] im Naturzustand ein solches Recht hat, so ist doch die Freude an diesem Recht sehr ungewiß, da er fortwährend den übergriffen anderer ausgesetzt ist. Denn da jeder im gleichen Maße König ist wie er, da alle Menschen gleich sind und der größere Teil von ihnen nicht gen au die Billigkeit und Gerechtigkeit beachtet, so ist die Freude an seinem Eigentum, das er in diesem Zustand besitzt, sehr ungewiß und sehr unsicher. Das läßt ihn bereitwillig einen Zustand aufgeben, der bei aller Freiheit voll von Furcht und ständiger Gefahr ist" (§ 123). Locke spricht sogar davon, daß die Menschen zur politisch-bürgerlichen Gesellschaft "gezwungen" werden (§ 127): freilich nur in eigenem Interesse, aus Klugheit, nicht aus irgend einer Verpflichtung l2 • Durch den ursprünglichen Vertrag gelangt das "Staatswesen zu der Gewalt, für die einzelnen überschreitungen, die unter den Mitgliedern der Gesellschaft begangen werden und die es der Bestrafung für wert erachtet, das Strafmaß festzusetzen, das man für angemessen hält (also zu der Macht, Gesetze zu erlassen) und zugleich zu jener Gewalt, jegliches Unrecht zu bestrafen, das einem der Mitglieder von jemandem zugefügt wird, der nicht zu dieser Gesellschaft gehört (also zu der Macht über Krieg und Frieden), und das alles zur Erhaltung des Eigentums aller Mitglieder dieser Gesellschaft, soweit es möglich ist" (§ 88). Die Ordnung der politisch-bürgerlichen Gesellschaft muß durch die Legislative gesetzt und durch die Exekutive gesichert und durchgesetzt werden. Freilich bedeutet dies nicht Willkürfreiheit: sondern Gesetzgeber und Vollstrecker sind an den Grund ihrer Existenz gebunden, an den ursprünglichen Vertrag der im vom natürlichen Gesetz geordneten Naturzustand lebenden Menschen. Diese geben zwar durch den Abschluß des Vertrages manche Rechte, die sie nach dem natürlichen Gesetz haben, auf (§§ 129, 130). "Doch geschieht das nur mit der Absicht jedes einzelnen, um damit sich selbst, seine Freiheit und sein Eigentum besser zu erhalten .... Man kann deshalb auch nie annehmen, daß sich die Gewalt der Gesellschaft oder der von ihr eingesetzten Legislative weiter erstrecken soll als auf das gemeinsame Wohl" (§ 131). Vor allem gilt das natürliche Gesetz weiter: "Die Verpflichtungen des natürlichen Gesetzes hören nicht etwa in der Gesellschaft auf, sondern werden in vielen Fällen nur enger gezogen. Man hat ihnen durch menschliche Gesetze bekannte Strafen hinzugefügt, um ihre Beachtung zu erfüllen. So steht das Gesetz der Natur als Symbol einer ewigen Regel für alle Menschen, für Gesetzgeber wie auch für alle anderen. Die Vorschriften, die sie für die Handlungen anderer Menschen geben, müssen ebenso wie ihre eigenen Handlungen und die der anderen mit dem 12
Vgl. aber Schild, Begründungen (FN 11), S.40.
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Gesetz der Natur, d. h. mit dem Willen Gottes, der in ihnen zum Ausdruck kommt, vereinbar sein, und da das fundamentale Gesetz der Natur die Erhaltung der Menschheit ist, kann keine menschliche Zwangsmaßnahme gut oder gültig sein, die diesem Gesetz widerspricht" (§ 135). Locke verlangt deshalb "den Gesetzen der Natur nachgebildete positive Gesetze" CI § 92). Darüber hinaus ist die Legislative verpflichtet, "nach öffentlich verkündeten, stehenden Gesetzen und durch anerkannte, autorisierte Richter für Gerechtigkeit zu sorgen und die Rechte der Untertanen zu entscheiden" (§ 136). Insgesamt sind dies die Grenzen der Legislative, die "gesetzt sind ... durch das Vertrauen, das die Gesellschaft und das Gesetz Gottes und der Natur in sie gelegt haben" (§ 142)13. Auch das Strafrechtl4 der politisch-bürgerlichen Gesellschaft ist zwar positives Recht l5 , kann aber im wesentlichen nur dem natürlichen Gesetz nachgebildet sein (I § 92). Der Grund für Strafe geht deshalb über den ursprünglichen Vertrag hindurch zu dem natürlichen Recht eines jeden, Verbrecher zu bestrafen. Damit ist es erforderlich herauszuarbeiten, was dieses Strafrecht nun eigentlich begründet. Nämlich: "Mit seiner übertretung des natürlichen Gesetzes erklärt der Missetäter, nach einer anderen Vorschrift als der der Vernunft und allgemeinen Gleichheit zu leben, die Gott den Menschen zu ihrer gegenseitigen Sicherheit als Maßstab für ihre Handlungsweise gesetzt hat. Er wird eine Gefahr für die Menschheit, denn er lockert und zerreißt jenes Band, das sie vor Unrecht und Gewalttätigkeit schützen soll. Da dies einem Vergehen gegen das ganze Menschengeschlecht gleichkommt, gegen seinen Frieden und seine Sicherheit gerichtet ist, die vom Gesetz der Natur festgelegt wurde, darf aus diesem Grunde jeder Mensch kraft seines Rechtes, die Menschheit im allgemeinen zu schützen, Dinge, die ihm schaden, abwehren oder, wenn nötig, vernichten" (§ 8) (wobei Locke vor allem an den Mörder denkt, der "gegen die Existenz" feindselig vorgeht, vgl. § 16). Also: durch dieses "Abweichen vom rechten Wege der Vernunft" "erklärt [der Missetäter], von den Prinzipien der menschlichen Natur abzuwei13 Dazu vgl. E. H. Riedel, Die Eigentumsgarantie als Problem der allgemeinen Staatslehre und des Verfassungsrechts am Beispiel Großbritanniens, in: Schwartländer / Willoweit (Hrsg.), Eigentum (FN 11), S. 129 (136 ff.); Schild, Begründungen (FN 11), S. 36. Zum philosophischen System von Locke insgesamt vgl. R. Brandt (Hrsg.), John Locke, Berlin/New York 1981; ders., John Locke, in: O. Höfte (Hrsg.), Klassiker der Philosophie, Bd. I, München 1981, S. 360 ff.; H. Klenner, Mister Locke beginnt zu philosophieren oder Das Ende der Revolution, in: J. Locke, Bürgerliche Gesellschaft und Staatsgewalt, Leipzig 1980, s. 295 ff.; R. Rotermundt, Das Denken John Lockes, Frankfurt/New York 1976 (jeweils m. w. N.). 14 Dazu siehe W. v. Leyden, Locke's Strange Doctrine of Punishment, in: Brandt, Locke (FN 13), S. 13 ff. 15 Was sich vor allem im Recht der Obrigkeit zeigt, "durch ihre eigene Autorität von einer Bestrafung abzusehen" (§ 11).
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chen und ein schädliches Geschöpf zu sein" (§ 10). Der Missetäter verleugnet die "Vernunft, die den Menschen von Gott als gemeinsame Regel und Richtschnur gegeben wurde" , erklärt "der gesamten Menschheit den Krieg" und darf deshalb "wie ein Löwe oder Tiger vernichtet werden, wie eines jener wilden Raubtiere, mit denen der Mensch weder in Gemeinschaft noch in Sicherheit leben kann" (§ 11). Den Missetäter darf man somit "aus demselben Grunde töten, aus dem man einen Wolf oder einen Löwen tötet, Denn solche Menschen sind nicht durch das gemeinsame Gesetz der Vernunft gebunden und kennen keine anderen Regeln als die der rohen Kraft und Gewalt. Sie dürfen deshalb wie Raubtiere behandelt werden, wie jene gefährlichen und schädlichen Geschöpfe, die einen mit Sicherheit vernichten, sobald man in ihre Gewalt fällt" (§ 16). Der Missetäter unterbietet das Niveau der Humanität, wird (zumindest ihm vergleichbar) ein wildes Tier, das vernichtet werden darf. Locke nennt deshalb den Missetäter auch "entartet" (§§ 10, 128), "da er letzHich von seiner eigenen Art zu derjenigen des Tieres herabsinkt" (§ 172). Er ist aus der Art des Menschlichen geschlagen, eigentlich kein Mensch mehr, sondern eben ein Tier. Der von Ryffel angesprochene Unterschied von "eigentlichem, wahrem, wesentlichem" Menschen und "bloß faktischem" Menschen erhält somit bei Locke ein fundamentales Gewicht, wird zu einem substantiellen Unterschied. Der Missetäter oder allgemeiner: derjenige, der vom rechten Weg der Vernunft abweicht, verliert seine Menschlichkeit und wird zu einer Bestie, die zu vernichten ist. Denn er vergeht sich damit "gegen das gesamte Menschengeschlecht" (§ 8), gegen die "Prinzipien der menschlichen Natur" (§ 10); und vergeht sich damit im Grunde gegen sich selbst. Er vernichtet selbst seine menschliche Natur. Das Abweichen vom Wege der Vernunft bedeutet also nicht nur das übertreten des natürlichen Gesetzes der Vernunft, das Gott als Maßstab des Zusammenlebens gegeben hat (vgl. §§ 8, 11), sondern das Heraustreten aus der Menschheit selbst. Der Missetäter ist wirklich "bloß faktisch" Mensch, d. h. er schaut so aus wie ein Mensch; eigentlich aber ist er eine auf untermenschlichem Niveau stehende Bestie. Sogar noch mehr: wenn der Mensch "die Vernunft abstreift, die ihn fast den Engeln gleichmacht, [kann er es] zu einer Wildheit und Rohheit bringen, die weit unter dem Niveau des Tieres steht" (I §§ 58, 56). Der wahre, eigentliche, wesentliche Mensch dagegen ist derjenige, der vernunft gemäß handelt und damit das natürliche von Gott gegebene Gesetz einhält. Denn der Mensch ist von Gott geschaffen und zwar als sein Ebenbild: und "worin auch sonst das Ebenbild Gottes bestanden haben mag, die Vernunft war jedenfalls ein Teil davon" (I § 30). Diese Vernunft ("als die Stimme Gottes in ihm", I § 86) begründet sein Recht, ja die Pflicht, als Beauftragter des Schöpfers die Schöpfung zu nutzen (I § 86)
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und damit auch das Eigentumsrecht (I § 86; §§ 25 ff.); und letztlich seine Qualität als Mensch. Denn die Freiheit des Menschen beruht auf seiner Vernunft (§ 63). Locke steht somit zwischen der Vorgegebenheit und der Aufgegebenheit der Ordnung, auf dem Standort der natürlichen Vernunftordnung, ähnlich wie Rousseau, für den Ryffel ein vergleichbares Ergebnis herausgestellt hat l6 . Die Struktur des alten theologischen Naturrechts "ens et bonum convertuntur"17 - ist beibehalten, inhaltlich fundiert nun in der Vernunft des Menschen. Denn das göttliche Naturgesetz wird in eine untrennbare Verbindung zur Vernunft gebracht: es ist vom Menschen durch seine "durch die Offenbarung bestätigte Stimme der Vernunft" leicht erkennbar (§§ 31, 6, 32,124), weshalb Offenbarung und Vernunft zu demselben naturgesetzlichen Ergebnis kommen (§§ 25, 52), was Locke ermöglicht, in der Argumentation manchmal nur auf die Vernunft (§§ 31, 57,104,118), dann wieder auf das "Gesetz der Natur und der Vernunft" (§ 96) oder allein auf das "Naturgesetz" (§§ 6, 135) zu verweisen, auch "die Natur" im Sinne von "Gott" zu gebrauchen (§§ 168,26,182). Man kann auch sagen: Locke leitet die Aufklärung ein, indem er die überkommene theologische Begründung zwar aufrechterhält'8, aber umformuliert zu einem System der menschlichen Vernunft; welches Vorgehen den Nachfolgern ermöglichte, die theologische Argumentation überhaupt fallen zu lassen und nur mehr auf die Vernunft als das Wesen des Menschen abzustellen, ja das ganze Programm der Aufklärung sogar darin zu sehen, die Theologie abzuwerfen und zum eigentlichen Menschsein - der Vernunft - zu kommen. Betrachtet man Locke von dieser Aufklärung her oder geht man überhaupt auf die Aufklärung nach Locke ein, dann wird deutlich, wie sehr zwar diese naturrechtliche Struktur der Argumentation weiterlebt, aber durch die Umformulierung zu einem System der Vernunft trotzdem fundamentale Veränderungen erlebt. Denn im klassischen Naturrecht war auch der Missetäter, der kein Mensch im eigentlichen Sinne (mehr) war, weiterhin eingeordnet in die Schöpfung Gottes, woran auch nichts ändern konnte, daß er des Teufels war und seine Missetat auf teuflischem Einfluß hin begangen hatte l9 . Auch der Teufel war zwar Widersacher Gottes, aber kein Gegengott (weshalb die Kirche notwendig die Ketzer als die Teufelsanbeter bekämpfen mußte). Es galt sogar, den Missetäter durch geistliche Betreuung, Zuspruch, wohl auch durch Folter zur UmRyttel, Rechtsphilosophie (FN 4), S. 303 f. Vgl. dazu E. Heintel, Die naturrechtliche Fundierung des Ordogedankens in der Tradition, in: Schwartländer (Hrsg.), Menschenrechte (FN 2), S. 19 ff. (m.w.N.). 18 Dazu vgl. Schild, Begründungen (FN 11), S. 38 ff. 19 Siehe dazu W. Schild, Alte Gerichtsbarkeit, München 1980, S. 103 ff. 16
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kehr zu bewegen und durch die Hinrichtung zu retten. Er starb auch für die anderen, nicht nur weil dadurch Gottes Zornesreaktionen abgewendet wurden, sondern auch, weil er sie durch sein mahnendes Beispiel im Glauben bestärken sollte: er starb deshalb auch vor den anderen. So war er aber nicht nur der Böse, sondern auch "der Arme" - wie ihn manche Halsgerichtsordnungen nennen -, stets auch ein Fall menschlicher Tragik, für den Jesus Christus ebenfalls gestorben war. Vergleichbares galt für den Narren: er stand zwar gleichfalls außer der menschlichen Ordnung, weshalb seine Stellung nicht allzu positiv gesehen werden darf. Trotzdem war er eingeordnet in das Ganze der Schöpfung und Anlaß, Gott zu preisen für seine Mahnung an die Endlichkeit des Menschen. Allmählich ging aber diese Einbindung in die göttliche Schöpfungsordnung verloren. Der Un-Vernünftige - und zwar in vergleichbarer Weise der Missetäter und der Narr - verliert seine Menschlichkeit und fällt unter das Niveau der Humanität. Er ist wie ein Tier zu behandeln und damit - da auch das Tier jede Substanz verliert, da es unvernünftig ist (man denke nur an Descartes!) - wie eine Sache. Dies hat Konsequenzen für die Straftheorie. Schon bei Locke durfte nur gestraft werden, "um damit zu verhindern, daß [ein Verbrechen] noch einmal begangen werde" (§§ 11, 8; I § 92), d. h. "einerseits um durch das Beispiel der Bestrafung, die ihm von jedem droht, andere von der Verübung des gleichen Verbrechens abzuschrecken", "andererseits um die Menschen vor den Angriffen [dieses] Verbrechers [in der Zukunft] zu schützen" (§ 11), vor allem dadurch, daß ihm Schmerz (Schaden, übel) zugefügt wird, soviel "wie es notwendig ist, ihn seine Tat bereuen zu lassen, um [ihn] dadurch ... davon abzuhalten, ein gleiches Unrecht [wieder] zu begehen" (§ 8)20. Aber diese Präventionstheorie ist bei Locke noch eingebunden in die naturgesetzliche Ordnung des Naturzustandes und damit fundiert in der Vergeltung der Verletzung dieses natürlichen Gesetzes. Mit Wegfall des theologischen Unterbaues mußte bei den Aufklärern auch die Vergeltung fallen: der Missetäter konnte zum Objekt und damit zum Mittel der Verbrechensbekämpfung gemacht werden. Seine Vernichtung wurde als Schauspiel der Grausamkeit zur Abschreckung zelebriert, er wurde wie ein Stück Vieh abgeschlachtet und zur Schau gestellt. Es wurden eigene Regiebücher für die Hinrichtung geschrieben, usw. Die Aufklärung hat also zunächst eine Verschärfung des Strafrechts gebracht; und auch die dann allmählich einsetzende Milderung kann nicht im eigentlichen Sinne als Humanisierung begriffen werden. Denn es wurde nicht (oder nicht primär) von der Menschlichkeit des Verbrechers her argumentiert, sondern von der Effektivität der Verb rechensbekämpfung her: grausame Hinrichtungen würden die Zuschauer 20 Dazu v. Leyden, Doctrine (FN 14), S. 113 ff.
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verrohen, daher gerade das Gegenteil des Erstrebten bewirken; zweckmäßiger sei es, die Verbrecher zu öffentlichen Arbeiten zu verurteilen und so gleich materiell auszunützen; oder zumindest in Gefängnissen einsitzen zu lassen und damit zum Schauobjekt der Familien zu machen, die - Vater mit den zu erziehenden Kindern - am Sonntag "Verbrecher schauen" gehen konnten, zur abschreckenden Erziehung der Jugend lichen. Dabei konnte die Verbrechensbekämpfung auch beim Verbrecher selbst ansetzen; und ermöglichte eine Wissenschaft im strengen exakten Sinne, da ja ihr Objekt eben: Objekt war. Hier ließe sich manches zur Lehre vom geborenen Verbrecher (bis hin zu den heute so modernen genetischen Theorien) sagen, auch - in bezug auf den Narren, der nun zum Geisteskranken wird - zur deterministischen Psychologie. Wie überhaupt der Geisterkranke in eine enge Beziehung zum Verbrecher gebracht wird (man denke an die Lehre vom moralischen Irresein) und schlechthin ausgeschlossen, interniert wird. Angemerkt sei noch, daß mit dem Fortschritt der Wissenschaften vom Menschen-Objekt das Interesse an der Erzeugung von Menschlichkeit einsetzt und zunimmt. Damit ist nicht nur das Streben nach dem Homunculus gemeint; sondern auch die Heilung des Geisteskranken und die Besserung (Disziplinierung) des (geborenen) Verbrechers, die beide auf das Niveau der Humanität gebracht werden können und sollen. Damit beginnt eine Dynamik, die schließlich zur soziologischen Schule der Kriminologie führt, die das Entstehen des Verbrechens (und des Wahnsinns) auf gesellschaftliche Ursachen zurückführt und diesen durch Erziehung entgegenzuwirken versucht, ja sie aufzuheben trachtet. Gleichfalls nur angemerkt sei, daß die Lehre vom Gesellschaftsvertrag nicht unbedingt eine Humanisierung des Verbrechers (oder des Geisteskranken) brachte. Letzterer schied bereits im Ansatz als möglicher Vertragspartner aus, blieb also stets im Naturzustand. Für ersteren galt dasselbe, wenn man die Theorie vom geborenen Verbrecher vertrat; andernfalls verlor er die Qualität als Vertragspartner durch seine Tat, erlitt darmt (zumindest) den bürgerlichen Tod und wurde dem besonderen Gewaltverhältnis des Strafvollzugs unterstellt, in dem er keinerlei Rechte innehatte; wobei diese Konsequenz manchmal sogar als sein eigener Wille bei Abschluß des Vertrages bestimmt wurde.
3. Immanuel Kant Auch bei Kant wird der Verbrecher - wie der Geisteskranke - bloß als passiver Schutzgenosse aufgefaßt, dem also das Moment der Selbständigkeit21 fehlt; doch ist dies nicht so bedeutend, da der Gesellschafts-
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vertrag für Kant nicht als geschichtliches Faktum, sondern als "bloße Idee der Vernunft" aufgefaßt wird, "die aber ihre unbezweifelte (praktische) Realität hat: nämlich jeden Gesetzgeber zu verbinden" (XI 153)22. Deshalb schließen die Menschen auch nicht nur aus bloß egoistischem Interesse an Schutz, Sicherheit und Frieden einen Gesellschaftsvertrag ab, obwohl Kant durchaus vergleichbare Argumente verwendet, wenn er z. B. ausführt: Im Naturzustand "gibt jeder sich das Gesetz, und es ist kein äußeres, dem er sich, samt allen anderen, unterworfen erkennte ... [Jeder] ist sein eigner Richter, und es ist keine öffentliche machthabende Autorität da, die, nach Gesetzen, was in vorkommenden Fällen eines jeden Pflicht sei, rechtskräftig bestimme" (VIII 753 f.); so bestehe ein "Zustand, in welchem ein jeder selbst Richter über das sein will, was ihm gegen andere recht sei, aber auch für dieses keine Sicherheit von andern hat, oder ihnen gibt, als jeder seine eigene Gewalt" (VIII 756 Anm.). Doch im Unterschied zu Locke leitet Kant aus diesem Zustand die Pflicht ab, eine "rechtliche Verbindung unter öffentlichen Gesetzen" einzugehen (VIII 478) und den anderen ein Leben "im Recht", d. h. im Rahmen einer Rechtsordnung zu ermöglichen (VIII479)23. Stets argumentiert Kant deshalb nicht von einem wirklichen Vertrag und tatsächlich dahinterstehenden Motiven der ihn abschließenden Menschen, sondern von vornherein auf der Vernunftsebene. Für unser Thema stellt Kant jedenfalls klar, daß auch dem Verbrecher die Menschenwürde zuzuerkennen ist. Es muß "auf Achtung für die Menschheit in der Person des Missetäters" Rücksicht genommen werden (VIII487). Deshalb kann der Verbrecher wie jeder Mensch überhaupt "nie bloß als Mittel zu den Absichten eines anderen gehandhabt werden, sowider ihn seine angeborene Persönlichkeit schützt, ob er gleich die bürgerliche einzubüßen gar wohl verurteilt werden kann" (VIII 453). Kant lehnt deshalb jede substantielle Präventionstheorie24 ab: "Aus 21 Dazu siehe W. Schild, Freiheit - Gleichheit - "Selbständigkeit" (Kant): Strukturmomente der Freiheit, in: J. Schwartländer (Hrsg.), Menschenrechte und Demokratie, Kehl a. Rh. 1981, S. 135 ff. 22 Kant wird zitiert nach der Ausgabe von W. Weischedel in XII Bänden (Frankfurt a. M. 1964) mit Band und Seite. Zusätzlich werden die Reflexionen zur Moralphilosophie aus dem Nachlaß, die als Band XIX von Kants gesammelten Schriften von der Akademie der Wissenschaften der DDR, Berlin 1954, herausgegeben wurden, nur mit der Nummer (Nr.) zitiert, die Vorarbeiten und Nachträge aus dem Nachlaß (veröffentlicht als Band XXIII von Kants gesammelten Schriften, Berlin 1955) mit XXIII und Seite; die Nachschriften der Vorlesungen Kants, die als Band XXVII von Kants gesammelten Schriften, Berlin 1974 ff., veröffentlicht sind, werden wie folgt zitiert: Vorlesung 1776 (?) von G. Powalski als: VP; 1784/85 von G. L. Collins als: VC; 1793/94 von J. F. Vigilantius als VV; 1784 von G. Feyerabend als VF; 1783 (?) von Ch. C. Mrongovius als VM. 23 Vgl. dazu W. Schild, Die Menschenrechte als Sinnräume der Freiheit und ihre Sicherung im Recht, in: J. Schwartländer (Hrsg.), Modernes Freiheitsethos und christlicher Glaube. München/Mainz 1981, S.246 (253 ff.).
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[der] Strafe einigen Nutzen für [den Verbrecher] selbst oder seine Mitbürger zu ziehen", dürfe erst gedacht werden (freilich auch: sollte gedacht werden im Sinne der Strafklugheit, die pragmatisch denkt, vgl. VIII 487 Anm.), wenn er wegen des kategorischen Imperativs der Strafgerechtigkeit vorher für strafbar befunden worden sei, da er verbrochen, das Recht gebrochen habe (VIII 453, 487)25. In dieser These, die Kant zum eigentlichen Überwinder der Aufklärung macht, weil er die Kritik der Vernunft leistet, damit die Aufklärung über sich selbst und ihre Grenzen aufklärt, ist der von Ryffel angesprochene Abgrund zwischen dem "wahren, eigentlichen, wesentlichen" Menschen und dem "bloß faktischen" Menschen überbrückt: auch der letztere ist nicht bloß faktisch Mensch, sondern im normativen Sinne mit Menschenwürde ausgestattet; auch er ist als Mensch anzuerkennen. Gleiches gilt für den Geisteskranken! Anzumerken ist, daß Kant in seiner Schrift über "Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft" diese Konsequenz auch für das "radikale Böse in der menschlichen Natur" gezogen hat: wenn ein Mensch das subjektive Prinzip der Selbstliebe in seine Maxime aufnimmt und über das moralische Gesetz stellt, damit also moralisch böse ist (VIII 684 f.), müsse diese "in einer freien Willkür gesucht werden, mithin zugerechnet werden" können (VIII 686, 690 ff.)26. Man kann auch sagen: der Mensch, der unvernünftig handelt, unmenschlich handelt (weil er eine Tat begeht, die nicht verallgemeinert werden kann und damit menschliche Sozialität ausschließt)27, ist und bleibt wesentlich Mensch, ihm kommt die wesentliche Qualität der Würde zu. Der Grund dieser Menschheit (Menschlichkeit) Hegt deshalb nicht in dem, was der Mensch tut und/oder will; sondern liegt darin, daß der Mensch "ein mit praktischem Vernunftvermögen und Bewußtsein der Freiheit seiner Willkür ausgestattetes Wesen" und damit "Person" ist, daß er sich als diese Person "in diesem Bewußtsein ... unter einem Pflichtgesetze und im Gefühl (welches dann das moralische heißt)" sieht (XII 677). Der Mensch ist zwar als Vernunftwesen be24 D. h. eine Theorie, die das Wesen der Strafe in der Mittelfunktion für den Präventionszweck bestimmt. Zur Abgrenzung von relativer und absoluter Straftheorie vgl. W. Schild, Strafe - Vergeltung oder Gnade? in: Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht, 99 (1982), S.364 (364 ff.). 25 Zu Kants Theorie vgl. jüngst (jeweils m. w. N.) M. Forschner, Kant versus Bentham; O. Höfte, Kants Begründung des Rechtszwangs und die Kriminalstrafe; H. Oberer, über einige Begründungsaspekte der Kantischen Strafrechtslehre; alle in: R. Brandt (Hrsg.), Rechtsphilosophie der Aufklärung, Berlin/New York 1982, S. 335 ff., 376 ff., 399 ff. 26 Zu Kants Lehre vom radikalen Bösen vgl. J. Schwartländer, Der Mensch ist Person, Stuttgart 1968, S. 219 ff. 27 Dazu siehe Schild, Strafe (FN 24), S. 369 ff.
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stimmt: aber "in dieser Qualität erkennt er sich nicht durch Erfahrung. Denn die [se] kann ihm nie die unbedingte Notwendigkeit dessen, was er sein soll, [lehren]; sondern nur empirisch, was er ist oder unter empirischen Bedingungen sein soll. Sondern er erkennt an sich selbst aus reiner Vernunft (apriori) (die Menschheit in ihm), nämlich das Ideal der Menschheit" (XII 673 Anm.). Diese "vollkommene Menschheit" (XII 673 Anm.) ist die kategorische Forderung der Vernunft selbst, die der Mensch im Gewissen als einem "Faktum der Vernunft" erfährt. Er erfährt sich damit als in eine Pflicht genommen und in unbedingter Weise zur Verantwortung aufgerufen. Die "Menschheit in ihm" ist dieses kategorische Sollen, also Aufgabe und Ziel seiner Verantwortungsfreiheit. Aber daß er in dieser unbedingten Weise überhaupt aufgerufen ist, daß er unter diesem kategorischen Sollen überhaupt steht und stehen kann: gerade darin liegt seine sittliche Freiheit, seine Personalität und damit seine Würde28. Der Unterschied zwischen wesentlichem wahrem Menschen und bloß faktischem Menschen kann somit nur in einer Modifikation überhaupt beibehalten werden: die "Wahrheit" des Menschen ist die Richtigkeit (Vernünftigkeit) seines HandeIns (und Wollens), seiner Praxis; ist somit das Sollen, das jedem Menschen aufgegeben ist. Das Wesen des Menschen besteht gerade darin, zu diesem Sollen aufgerufen zu sein, also in der Differenz von Sein und Sollen zu stehen. Man kann auch sagen: die Wahrheit des Menschen ist seine Würdigkeit im Sinne sittlicher Vollkommenheit; dazu ist er aufgerufen. Daß er unter dieser Forderung steht, macht seine Würde aus, die deshalb eine Würde ohne Würdigkeit isf9. Auch wen die Lehren der Sittlichkeit nicht erfreuen, verdient trotzdem, ein Mensch zu sein. Dabei ist freilich dieser Mensch niemals "bloß faktisch" im Sinne von "empirisch": Kant stellt klar, daß der Mensch als Sinneswesen zu einer der Tierarten gehört (VIII 550), wobei er diese "QuaHtät seiner Tierheit" "in seiner animalischen Natur" erhalten soll (VIII 553). Diesbezüglich kommt ihm keine Würde zu; sondern nur, wenn er "seiner Persönlichkeit nach, d. i. als mit innerer Freiheit begabtes Wesen (homo noumenon) gedacht" wird und damit als "ein der 28 Dazu vgl. überzeugend Schwartländer, Mensch (FN 26), S. 122. Vgl. in diesem Zusammenhang auch VV 593: "Man denkt sich den Menschen zuvörderst als Ideal, wie er sein soll und sein kann, bloß nach der Vernunft, und nennt diese Idee homo noumenon: dies Wesen denkt man sich zu einem andern, so, als werde dies andere von ihm eingeschränkt; dies ist der Mensch im Zustand der Sinnlichkeit, den man homo phänomenon nennt. Dies ist die Person und jenes ist bloß eine personifizierte Idee, wo der Mensch bloß unter dem moralichen Gesetze, hier aber als phänomenon, der vom Gefühl von Lust und Schmerz affiziert und durch das noumenon zur Pflichtleistung gezwungen werden muß." Der Mensch hat somit "ein doppeltes Wesen". 29 Zu diesem Terminus siehe J. Schwartländer, Demokratie Verwirklichung oder Gefährdung der Menschenrechte?, in: ders. (Hrsg.), Demokratie (FN 21), S. 189 (189 ff.).
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Verpflichtung fähiges Wesen" (VIII 550). In dieser Qualität kommt er freilich nur "in moralisch-praktischen Verhältnissen [vor], wo die unbegreifliche Eigenschaft der Freiheit sich durch den Einfluß der Vernunft auf den innerlich gesetzgebenden Willen offenbar macht" (VIII 550). Was der Mensch seinem Wesen nach ist, können wir niemals theoretisch erkennen; denn wenn wir uns auf uns selbst zurückziehen, um das Wesen des Menschen als unser Menschsein selbst zu erfassen, begreifen wir unsere Freiheit und die unbedingte Verpflichtung, die Menschheit in uns, aber auch in jedem anderen, als Zweck anzuerkennen. "Mensch" und "Menschheit" sind praktische Begriffe, in denen wir uns selbst mit unserer Praxis wiederfinden müssen, damit sie richtig (und/oder wahr) werden können. "Freiheit ist eine bloße Idee, deren objektive Realität auf keine Weise ... in irgend einer möglichen Erfahrung dargetan werden kann ... Sie gilt nur als notwendige Voraussetzung der Vernunft in einem Wesen, das sich eines Willens, d. i. eines ... Vermögens, sich zum Handeln ... nach Gesetzen der Vernunft ... zu bestimmen, bewußt zu sein glaubt" (VII 96): damit "eine brauchbare und erlaubte Idee zum Behufe eines vernünftigen Glaubens" (VII 100). Dieser Glaube ist vernünftig: weil in ihm Vernunft selbst praktisch wird; und zwar als Faktum (VII 155, 141) der autonomen Willensbestimmung. "Daß... wir Menschen ... frei sind, beweiset der kategorische Imperativ in moralisch-praktischer Absicht, wie durch einen Machtspruch der Vernunft, ohne daß diese doch die Möglichkeit dieses Verhältnisses einer Ursache zur Wirkung in theoretischer begreiflich machen kann, weil beide übersinnlich sind" (VIII 394 Anm.). Das "Sein" des Menschen ist dieses "Faktum des Sollens" und damit niemals ein bloßes Faktum. Auch der Missetäter, der böse Handelnde/Wollende ist und bleibt deshalb Mensch als Menschenwürde30 ; wir sind verpflichtet, ihn als solchen anzuerkennen, weil wir auch ihn als aufgerufen ansehen müssen - da es keinen Grund zum Gegenteil geben kann! -, in unbedingter Verantwortung die Menschheit in ihm zu verwirklichen. Auch wenn er in seiner Bosheit die Menschheit in ihm verfehlt, bleibt er notwendig menschliches Wesen, dem die personale Würde zuerkannt werden muß: denn anders könnten wir ihm dieses Verfehlen gar nicht zusprechen. Nur wer Mensch ist, kann seine Menschheit verfehlen; indem er seine Menschheit verfehlt, verwirklicht er ebenso seine Freiheit, die seine Würde begründet. Man kann sogar sagen: seine Würde besteht gerade auch darin, die Menschheit in ihm und damit sich selbst verfehlen zu können. Was zugleich bedeutet: daß der Mensch seine Würde und damit seine Menschlichkeit niemals verfehlen kann. In seiner Religionsschrift stellt Kant 30 Vgl. dazu zuletzt M. A. Cattaneo, Menschenwürde und Strafrechtslehre der Aufklärung, in: Brandt (Hrsg.), Rechtsphilosophie (FN 25), S.321 (321 ff.); s. a. die Hinweise in FN 25.
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deshalb als Konsequenz fest, daß ein schlechthin böser Wille - eine gleichsam boshafte Vernunft - für den Menschen nicht angenommen werden könne, weshalb der Mensch niemals ein teufliches Wesen werden könne (VIII 683 f.): der Mensch sei niemals ganz böse (VP 230), sondern könne nur indirekt böse sein (VC 441, VM 1558). Noch deutlicher wird Kant in einer Anmerkung zur "Allgemeinen Anmerkung von den rechtlichen Wirkungen aus der Natur des bürgerlichen Vereins" (VIII 441 Anm.): "Eine jede Übertretung des Gesetzes kann und muß nicht anders, als so erklärt werden, daß sie aus einer Maxime des Verbrechers (sich eine solche Untat zur Regel zu machen) entspringe; denn, wenn man sie von einem sinnlichen Antrieb ableitete, so wäre sie nicht von ihm, als einem freien Wesen, begangen, und könnte ihm nicht zugerechnet werden: wie es aber dem Subjekt möglich ist, eine solche Maxime wider das klare Verbot der gesetzgebenden Vernunft zu fassen, läßt sich schlechterdings nicht erklären.... So viel wir einsehen, ist ein dergleichen Verbrechen einer förmlichen (ganz nutzlosen) Bosheit zu begehen Menschen unmöglich, und doch (ob zwar bloße Idee des Äußerstbösen) in einem System der Moral nicht zu übergehen." Jedenfalls könne der Mensch niemals "äußerst-böse" werden, er könne seine Anlagen zum Guten nicht vernichten oder vertilgen, sondern sie nur zweckwidrig gebrauchen (VIII 675; vgl. auch 690 ff., 695 f.). Deshalb bleibe "der Vernunftursprung ... dieser Verstimmung unserer Willkür ... , dieses Hanges zum Bösen, uns unerforschlich": "Das Böse hat nur aus dem Moralisch-Bösen (nicht den bloßen Schranken unserer Natur) entspringen können; und doch ist die ursprüngliche Anlage (die auch kein anderer als der Mensch selbst verderben konnte, wenn diese Korruption ihm soll zugerechnet werden) eine Anlage zum Guten; für uns ist also kein begreiflicher Grund da, woher das moralische Böse in uns zuerst gekommen sein könne. - Diese Unbegreiflichkeit zusamt der näheren Bestimmung der Bösartigkeit unserer Gattung drückt die Schrift in der Geschichtserzählung dadurch aus, daß sie das Böse, zwar im Welt anfange, doch nöch nicht im Menschen, sondern in einem Geiste von ursprünglich erhabener Bestimmung voranschickt: wodurch also der erste Anfang allen Bösen überhaupt als für uns unbegreiflich ... , der Mensch aber nur als durch Verführung ins Böse gefallen [ist]" (VIII 693 f.). Die daraus folgende Konsequenz hat Kant selbst ebenfalls ausgesprochen: als verführtes Wesen sei der Mensch "nicht von Grund aus (selbst der ersten Anlage zum Guten nach) verderbt, sondern als noch einer Besserung fähig ... vorgestellt, und so [ihm], der bei einem verderbten Herzen doch immer noch einen guten Willen hat, Hoffnung einer Wiederkehr zu dem Guten, von dem er abgewichen ist, übrig gelassen wird" (VIII 694). Oder anders gesagt: es darf kein Mensch, auch der böseste nicht, abgeschrieben werden, aus der Menschheit ausgeschlossen werden;
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und zwar nicht nur deshalb nicht, weil wir "das Urteil, das der Täter ein böser Mensch sei, nicht mit Sicherheit auf Erfahrung gründen" können (VIII 666), sondern aus den genannten grundsätzlichen Erwägungen (vgl. auch VIII 696). Denn: "auch in dem größten Bösewicht ist noch ein Keim des guten Willens" (VC 418, VM 1541), jedes Laster ist heilbar und begründet Hoffnung (VP 230). Freilich muß auch die andere Seite berücksichtigt werden: kein Mensch kann seine wahre Menschlichkeit (Heiligkeit, Vollkommenheit, vgl. VIII 696 f., 712 ff.) verwirklichen und damit die Menschheit in sich personifizieren. So kommt kein Mensch auf Erden zur Vollendung oder Erlösung; und auch nicht zur Verdammung. Die Spannung zwischen Sein und Sollen, Tierheit und Vernünftigkeit, bleibt mit Notwendigkeit bestehen, der kategorische Imperativ kann über seine Formalität nicht hinauskommen. Auf diese Weise entsteht aber auch die Solidarität aller Menschen: sie alle sind aufgerufen, gemeinsam die Aufgabe des Sollens - ein Reich des Sollens (der Vernunft, der Freiheit, der Zwecke an sich) zu gründen - zu erfüllen. Nur von hier aus kann auch im übrigen die Postulatenlehre Kants begriffen werden, die klarstellt, daß Erlösung nicht gemacht werden kann, daß daher nur (aber immerhin) die moralisch begründete (und damit: vernünftige) Hoffnung auf Erlösung postuliert werden kann. Die Vernunft erweist sich als vernünftiger Glaube. Allerdings ist festzuhalten, daß Kant diese grundlegenden Erkenntnisse über die Freiheit des Menschen und seine Würde nicht im Ganzen seines Systems durchhält, sondern das Verhältnis von Menschenwürde und "Menschheit in ihm" an manchen Stellen ganz im oben dargelegten Sinne des Naturrechts zerschlägt in eine Qualität des Menschlichen, die auch vernichtet werden kann, und damit in den Abgrund zwischen wahrem Menschen und Un-Menschen treibt. So spricht Kant von der allgemeinen Pflicht des Menschen zur Vollkommenheit, näherhin von der Pflicht, "sich aus der Rohigkeit seiner Natur, aus seiner Tierheit, immer mehr zur Menschheit ... empor zu arbeiten ... , um der Menschheit, die in ihm wohnt, würdig zu sein" (VIII 517). Eine Verletzung dieser Pflicht bedeutet deshalb "die Menschheit in seiner Person abwürdigen" (VIII 555). Kant formuliert noch schärfer: der Betreffende erweise sich als der Menschheit unwürdig (XXIII 359), er sei nichtswürdig, verliere allen inneren Wert und könne höchstens als Instrument für andere,. deren Sache er geworden sei, angesehen werden (VV 604); schließlich sogar: er werfe seine Person weg und erniedrige sich unter das Tier (VM 1520), er verdiene nicht mehr, daß er Mensch sei (VC 391, VM 1520). Als Beispiel nennt Kant die Lüge: sie bedeutet "Wegwerfung und gleichsam Vernichtung seiner Menschenwürde" (VIII 562).
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Nun könnte man in bezug auf unser Thema (des Problems des Missetäters) darauf hinweisen, daß die genannten Stellen aus der Tugendlehre der "Metaphysik der Sitten" stammen: und daß man doch mit Kant die Differenzierung von Tugend- und Rechtslehre bedenken müsse. Aber der Rückfall in das alte Naturrechtsdenken zeigt sich bei Kant gerade in der Verbindung von Moral und Recht bezüglich dieser Probleme. So bezeichnet Kant die Lüge als "Verbrechen an seiner eigenen Person" (VIII 555, 563). Neben der Lüge ordnet Kant auch die "crimina carnis", die Wiedervergeltung der Untreue, die Versäumung der Elternpflicht, die Wegwerfung unter des anderen despotische Gewalt (Nr. 7596) und auch die "vaga libido", welche das weibliche Geschlecht um alle Ansprüche bringt (Nr. 7840), als Fälle ein, "wo jemand Unrecht tut, ohne eine bestimmte Beleidigung irgend einer Person" (Nr.7596), wo "man kann unrecht handeln, ohne einem Anderen Unrecht zu tun" (Nr. 7028). Denn diese genannten Handlungsweisen sind "formaliter unrecht", weil "deren Maxime eine Laesion des menschlichen Geschlechts ist" (Nr. 7840). Durch sie wird herbeigeführt ein "Verletzung der Menschheit (der Persönlichkeit d. i. der Zurechnungsfähigkeit) in ihm" (XXIII 358), d. h. in dem Handelnden; und Kant stellt ausdrücklich klar: dies sei eine Verletzung der Menschheit in ihm ,,~m Puncte des Rechts" (XXIII 358). Der so Handelnde verletzt damit nicht bloß Tugendpflichten, sondern eine Rechtspflicht: nämlich die gegen sich selbst. Dementsprechend beginnt Kant die Einteilung der Rechtspflichten in seiner "Metaphysik der Sitten" mit der Pflicht: "Sei ein rechtlicher Mensch (honeste vive). Die rechtliche Ehrbarkeit (honestas iurdica) bestehet darin: im Verhältnis zu anderen seinen Wert als den eines Menschen zu behaupten, welche Pflicht durch den Satz ausgedrückt wird: ,mache dich anderen nicht bloß zum Mittel, sondern sei für sie zugleich Zweck'. Diese Pflicht wird im folgenden als Verbindlichkeit aus dem Rechte der Menschheit in unserer eigenen Person erklärt werden (lex iusti)" (VIII 344). Nicht umsonst ist diese Rechtspflicht - deren Inhalt auf die dritte Formulierung des kategorischen Imperativs (VII 61) hinweist - von Kant als die erste gereiht: denn sie ist die höchste (VV 604), weil die "oberste Bedingung aller Pflichtgesetze" überhaupt, "weil das Subjekt sonst aufhören würde, ein Subjekt der Pflichten (Person) zu sein und zu Sachen gezählt werden müßte" (XXIII 390). Der so Handelnde verletzt durch seine Tat nicht (nur) Andere, sondern (auch und vor allem) sich selbst als Menschen, die Menschheit in ihm: er entwürdigt sich selbst. In diesem Zusammenhang greift Kant zur Kennzeichnung des Unrechts überhaupt auch auf die Termini "Beleidigung" und "Entehrung" zurück, so etwa in dem Satz: "Der Diebstahl beleidigt andere und entehrt sich selbst" (Nr. 7082).
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Die Begründung für dieses Recht der Menschheit inder eigenen Person gibt Kant mit dem bereits angesprochenen "doppelten Wesen" des Menschen: der "homo phaenomenon" werde durch den "homo noumenon" eingeschränkt und rechtlich gebunden an die Vernunftsidee des Menschen (der Menschheit) (VV 593). Dadurch könne der Mensch nicht als Eigentümer über sich aufgefaßt werden, sondern - ein Gedanke, der an Locke erinnert - nur als Verwalter der Menschheit in seiner Person (VP 192). Die Konsequenzen eines solchen "Verbrechens an der eigenen Person" sind vernichtend: wer die Menschheit in ihm verletzt, hat nicht mehr die Rechte der Menschheit (Nr.7594). Deshalb muß z. B. Bestialität eines der "crimina carnis" (vgl. dazu Nr. 7594; VP 214 ff., VC 390 ff., VV 632, VM 1519 ff.), also der "strafbaren Verbrechen an der Menschheit überhaupt" (VIII 488) - "durch Ausstoßung aus der bürgerlichen Gesellschaft auf immer [bestraft werden], weil [der Täter] sich selbst der menschlichen unwürdig gemacht hat" (VIII 488). Der Täter verdient es also nicht mehr, unter Menschen zu leben, ein Mensch zu sein: und diese Konsequenz findet sich in einem "Anhang erläuternder Bemerkungen" in der "Metaphysik der Sitten", die doch an anderer Stelle - wie erwähnt - die Menschenwürde des Verbrechers unbedingt zu achten fordert! Aber noch mehr der Widersprüche: Kant kennt trotz der unverlierbaren Persönlichkeit des Verbrechers - die er an anderer Stelle (Nr. 7881) als "juristische Würde (dignitas)" bezeichnet - ein "Eigentumsrecht gegen den, der sich durch ein Verbrechen seiner Persönlichkeit verlustig gemacht hat" (VIII 397). Danach wird der Verbrecher "zwar im Leben erhalten, aber zum bloßen Werkzeuge der Willkür eines anderen (entweder des Staats, oder eines anderen Staatsbürgers) gemacht. Wer nun das letztere ist (was er aber nur durch Urteil und Recht werden kann), ist ein Leibeigener ... und gehört zum Eigentum eines anderen, der daher nicht bloß sein Herr ... , sondern auch sein Eigentümer ... ist, der ihn als eine Sache veräußern und nach Belieben (nur nicht zu schandbaren Zwecken) brauchen, und über seine Kräfte ... verfügen kann" (VIII 451). Dabei leitet Kant diesen Absatz mit den Worten ein: "Ohne alle Würde kann nun wohl kein Mensch im Staate sein ... außer, wenn er sich durch sein eigenes Verbrechen darum gebracht hat" (VIII 451): also hat der Verbrecher seine Würde verloren? An anderer Stelle wird Kant deutlicher: die "servitus absoluta" (Knechtschaft, Leibeigenschaft, Sklaverei) degradiere die Menschheit (Nr.7884), sie sei der "Tod der Person, aber das Leben des Tieres" (Nr.7886); weshalb sie nur bei Todesverbrechen zulässig sei (Nr. 7886, 7640) oder bei einem "delicto inexpiabili et animo deliquendi incorrigibili" (Nr. 7884), wozu Kant freilich in der "Metaphysik der Sitten" auch den Diebstahl zählt, da nach dem "ius talionis" der Dieb "auf gewisse Zeit oder, nach Befinden, auch auf immer in den Sklavenstand
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[kommt]" (VIII 454 f.). Noch mehr: es findet sich sogar die Reflexion Kants: "Weil der Mörder selbst dem Dasein anderer Menschen gefährlich ist, so verliert er gänzlich das Recht eines Menschen und ist vogelfrei" (Nr.7913). Der Widerspruch zur sonstigen Konzeption Kants von Verbrechen und Strafe bleib~l: wie kann Bestialität oder sonst ein Unrecht ohne Beleidigung einer anderen Person Unrecht sein, wenn Kant doch allgemein nur auf die Form abzustellen verlangt, "ob die Handlung sich mit der Freiheit des anderen nach einem allgemeinen Gesetze zusammen vereinigen lasse" (VIII 337)? .Wie kann Kant in der "Metaphysik der Sitten" diese "crimina carnis" sogar ausdrücklich als "strafbare Verbrechen" darstellen (VIII 488) oder die Leibeigenschaft (Sklaverei) des Diebes als gerechte (d. h. mit dem kategorischen Imperativ vereinbare, ja aus ihm ableitbare) Strafe für Diebstahl verlangen (VIII 454 f.)? Es bleibt nur der Hinweis darauf, daß Kant hier eindeutig noch Einflüssen des alten Naturrechtsgedankens unterlag, die sich auch z. B. darin zeigen, daß diese "unnatürlichen Verbrechen" ("weil sie an der Menschheit selbst ausgeübt werden") (VIII 488) zugleich als "innerlich häßlich" (VP 214 f.), also auch ästhetisch, (ab)qualifiziert werden. Systematisch lassen sich diese Widersprüche mitsamt des alten Naturrechts leicht beseitigen32 ; also mit einer Argumentation mit Kant gegen Kant. Dabei kann man sich auf den ersten Blick auch auf ausdrückliche Stellen Kants beziehen. So unterscheidet er zwischen dem "inneren" und dem "äußeren" Recht: die Verbrechen an der eigenen Person seien dem Bereich des ersteren zuzuordnen (VV 594), begründeten bloß die Befugnis, "sich selbst zu zwingen" (XXIII 276). "Diese werden nicht juridisch betrachtet, denn das Recht betrifft nur das Verhältnis gegen andere Menschen", "ich handele nicht wider die Gerechtigkeit, wenn ich wider mich selbst handele" (VM 1479). Daher würden diese Verbrechen an der eigenen Person zwar bestraft, aber nicht mit einer Rechtsstrafe: "Wer der Menschheit in seiner eigenen Person Abbruch tut und sich also von ihr trennt oder mit ihr bricht, den verläßt die Menschheit wiederum, d. i. er kann in seinen eignen Augen nicht die Würde eines Menschen haben. Verachtung ist auch seine äußere, aber nicht bürgerliche Strafe" (Nr. 7290). Diese "Verachtung ist die äußerste Bestrafung eines Menschen, der noch ein wenig Ehre hat" (VP 193): weil sie ihm vor Augen stellt, daß er seine Menschheit so erniedrigt hat, daß er nicht mehr wert ist, ein Mensch zu sein (VC 419, VM 1480, 1541). Die letzten Zitate zeigen freilich, daß Kant zwar für das Strafrecht das Naturrechtsdenken auf31 Vgl. Schild, Strafe (FN 24), S.372, Anm.25. Zum Ganzen siehe auch Oberer, Begründungsaspekte (FN 25), S. 399 ff.; W. Schild, Ende und Zukunft des
Strafrechts, in: ARSP, 70 (1984), S.71 (76 ff.). 32 In diese Richtung wohl O. Höfte, Immanuel Kant, München 1983, S. 238 f.
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gegeben hat, dieses aber im Grundsätzlichen weiter aufrechterhält. So bleibt es bei der genannten Notwendigkeit einer systematisch bereinigenden Interpretation. 4. Georg Wilhelm Friedrich Hegel
Zuletzt soll ein kurzer Blick auf Hegel geworfen werden. Seine Qualifizierung des Verbrechers ist bekannt und wird allgemein - selbst von denen, die Hegel sonst ablehnend gegenüber stehen - gelobt: "Der Verbrecher [wird] als Vernünftiges geehrt" (§ 100 Anm.)3J. Hegel zieht daraus die Konsequenz: in der Handlung des Verbrechers - also dem Verbrechen - "als eines Vernünftigen Handlung liegt, daß sie etwas Allgemeines, daß durch sie ein Gesetz aufgestellt ist, das er in ihr für sich anerkannt hat, unter welches er also als unter sein Recht subsumiert werden darf" (§ 100). Da somit der Verbrecher fremde Freiheit verletzt, will er überhaupt die Verletzung der Freiheit: daher auch die seiner eigenen Freiheit; er will damit auch seine Bestrafung. In den Vorlesungsmanuskripten heißt es dementsprechend: "Was Beccaria verlangt, daß der Mensch nämlich seine Einwilligung zur Bestrafung geben müsse, ist ganz richtig, aber der Verbrecher erteilt sie schon durch seine Tat. Es ist ... der eigene Wille des Verbrechers, daß die von ihm ausgehende Verletzung aufgehoben werde" (§ 100 Zusatz). Diese These Hegels mag gut gemeint sein. Doch sie ist nicht haltbar. Das Verbrechen kann niemals als vernünftige Handlung anerkannt werden, kann niemals als "etwas Allgemeines" und als Recht anerkannt werden. Es ist seinem Begriffe nach unvernünftig und un-rechP'. Oder - wie Hegel selbst an anderer Stelle sagt -: ein Verbrechen (z. B. ein Diebstahl) ist eine Handlung, die dem Begriff des menschlichen Tuns nicht entspricht (ebensowenig wie ein kranker Leib dem Begriff des Leibes entspricht) (8,323). Daher ist das Verbrechen auch in sich nichtig. Die erforderliche Ehrung des Verbrechers als eineS Vernünftigen kann demnach nicht in dieser Konsequenz liegen. Um mit Kant zu sprechen: "Der Hauptpunkt des Irrtums ... dieses Sophismas besteht darin: daß man das eigene Urteil des Verbrechers (das man seiner Vernunft notwendig zutrauen muß)... für einen Beschluß des Willens ansieht" (VIII 458)35, D. h. der Verbrecher wird dann als Vernünftiger geehrt, wenn 33 Hegel wird zitiert nach der Ausgabe von E. Moldenhauer / K. H. Michel in 20 Bänden (Frankfurt a. M. 1970) mit Band und Seite; bloße Paragraphenhinweise beziehen sich auf die "Grundlinien der Philosophie des Rechts"
(1821).
Vgl. Schild, Strafe (FN 24), S. 369 ff. 35 Vgl. auch Regel 4,225: "Es kann der Fall sein, daß man sich seines allge-
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meinen Willens nicht bewußt ist. Der Mensch kann glauben, es gehe etwas vollkommen gegen seinen Willen, ob es gleich doch sein Wille ist. Der Ver-
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man ihm zutraut,in seiner Handlung selbst Un-Recht zu sehen und deshalb die Aufhebung dieses Un-Rechts zu akzeptieren; und zwar in der Form der Strafe, da dieses Un-Recht als von ihm in Freiheit gesetzt und damit ihm zurechenbar anerkannt wird. Oder anders gesagt: der Verbrecher wird dann als Vernünftiges geehrt, wenn er zur Verantwortung für seine Tat zugelassen und gezogen wird36 • Nicht im Zeitpunkt der Tat will der Verbrecher die Strafe, sondern in dem Zeitpunkte, wo er die Qualität seiner Tat als eines Unrechts erkennt und anerkennt, daß sie aufgehoben werden muß; bzw. wenn er erkennt, daß die Strafe über ihn gerecht war, zu Recht verhängt worden ist. In diesem Verantwortungswillen erweist er sich als Vernünftiger; und nicht vorher. Im übrigen hat Hegel dies an anderer Stelle selbst so gesehen: "Ein Verbrecher, welcher bestraft wird, mag die Strafe, die ihn betrifft, als eine Beschränkung seiner Freiheit betrachten; in der Tat ist jedoch die Strafe nicht eine fremde Gewalt, der er unterworfen wird, sondern nur die Manifestation seines eigenen Tuns, und indem er dies anerkennt, so verhält er sich hiermit als ein Freier" (8, 304): und zwar deshalb, weil die Strafe nur Manifestation des eigenen Tuns sein kann, wenn dieses Tun von Freiheit und Vernunft her begriffen wird; denn nur dann ist das Verbrechen der aufzuhebende Selbst-Widerspruch. "So ist die Strafe Wiederherstellung der Freiheit, und der Verbrecher sowohl ist frei geblieben oder vielmehr frei gemacht, als der Strafende vernünftig und frei gehandelt hat" (2, 480). Daher ist die HegeIsche Straftheorie in § 100 abzulehnen; oder vielmehr: der Inhalt des§ 100 ist als Straftheorie abzulehnen. Nähere Betrachtung ergibt nämlich, daß die Ausführungen Hegels in § 100 und damit im Rahmen des Teiles, den Hegel "Das abstrakte Recht" nennt, noch überhaupt keine Theorie der Strafe (und des Verbrechens) sein wollen37 • brecher, der bestraft wird, kann allerdings wünschen, daß die Strafe von ihm abgewendet werde; aber der allgemeine Wille bringt es mit sich, daß das Verbrechen bestraft wird. Es muß also angenommen werden, daß es im absoluten Willen des Verbrechers selbst liegt, daß er bestraft werde. Insofern er bestraft wird, ist die Forderung vorhanden, daß er auch einsehe, er werde gerecht bestraft, und wenn er es einsieht, kann er zwar wünschen, daß er von der Strafe als einem äußerlichen Leiden befreit ist, aber insofern er zugibt, daß er gerecht bestraft. werde, stimmt sein allgemeiner Wille der Strafe bei" (ähnlich auch 4, 242, 244). 36 In diesem Sinne Schild, Strafe (FN 24), S.378; im Ganzen ausgeführt bei W. Schild, Der Strafrichter in der Hauptverhandlung, Heidelberg/Hamburg 1983. 37 Vgl. W. Schild, Die Aktualität des HegeIschen Strafbegriffs, in: E. Heintel (Hrsg.), Philosophische Elemente der Tradition des politischen Denkens, Wien/ München 1979, S. 199 ff.; ders., Das Gericht in Hegels Rechtsphilosophie, in: überlieferung und Aufgabe. Festschrift für E. Heintel, Bd.lI, Wien 1982, S. 267 ff.; ders., Strafrichter (FN 36); ders., Ende und Zukunft (FN 31); K. Seelmann, Hegels Straf theorie in seinen "Grundlinien der Philosophie des Rechts" , in: Juristische Schulung 1979, S. 687 ff.
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Denn dazu bedarf es sowohl des Moments der Zurechnung, die Hegel im Teil "Die Moralität" abhandelfS, als auch der bürgerlichen Gesellschaft und des Staates, die im Teil "Die Sittlichkeit" dargestellt werden39 • Sondern Hegel thematisiert40 in der Lehre vom "Unrecht" den notwendigen übergang von dem an-sich-seienden Dasein der Freiheit - und "Dasein des freien Willens" ist für Hegel das "Recht" (vgl. § 29) - zu dem fürsich-seienden Dasein der Freiheit, also vom freien Willen, der sich zunächst unmittelbar verwirklicht, zum freien Willen, der sich auf sich selbst zurückgeworfen erkennt und sich selbst zum Gegenstande nimmt. Zu letzterem ist er deshalb gezwungen, weil seine unmittelbare Realisierung zwar zunächst Eigentum41 und Vertrag begründet, aber dann in weiterem Gange seiner Verwirklichung eben als Unrecht ins Dasein tritt und damit in Selbst-Widerspruch gerät. Dieses Umschlagen von Recht in Un-Recht wird besonders deutlich bei der Reaktion auf Unrecht, nämlich bei der vergeltenden Rache, die trotz ihres Rechtscharakters als Vergeltung sich als maßlose Rache und damit als Un-Recht erweist; erweisen muß, denn der freie Wille, der frei ist wegen seiner Vernünftigkeit und Allgemeinheit, entfaltet sich in dieser Sphäre des abstrakten Rechts als besonderer Wille der Willkür und Zufälligkeit, d. h. der (möglichen) Unvernunft und Unfreiheit. Womit offenbar wird, daß eine Welt der Freiheit nicht unmittelbar, sondern nur vermittelt über Selbstreflexion (Moralität, Gewissen) hervorgebracht werden kann. Oder anders, aber wieder mit Hegel selbst gesagt: eine Straftheorie, die sich nur von § 100 her verstehen würde, kann nur "abstrakt" sein, sich nur auf "abstraktes Un-Recht" beziehen, deshalb, weil sie nur den Gedanken des Unrechts, aber nicht den des Verbrechens (der nur im Zusammenhang mit Zurechnung, bürgerlicher Gesellschaft und Staat entfaltet werden kann), kennt, also von letzteren Inhalten abstrahiert. Eine Straftheorie, die den gesamten Gedankengang Hegels (bis zum Staat) aufnimmt und verwertet, müßte z. B. berücksichtigen, daß das Verbrechen überhaupt erst in der bürgerlichen Gesellschaft als Verletzung der "Rechtsgüter" begrifflich erfaßt werden kann42 ; weshalb aber der Zustand dieser Gesellschaft Einfluß auf die konkrete Gestalt des Strafrechts gewinnt. "Wenn die Gesellschaft sicher, ein ruhiger Zustand vorhanden ist, so werden die Verbrechen dadurch zu ganz einzelnen her38 Dazu W. Schild, Der strafrechts dogmatische Begriff der Zurechnung in der Rechtsphilosophie Hegels, in: Zeitschrift für philosophische Forschung, 35 (1981), S.445 (445 ff.). 39 Dazu Schild, Gericht (FN 37), S. 269 ff. 40 Zum Systembau Hegels siehe W. Schild, Juristisches Denken und Hegels Rechtsphilosophie, in: Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht 1978, S. 5 (5 ff.). 41 Dazu Schild, Begründungen (FN 11), S. 52 ff. 42 VgI. die Hinweise in FN 37.
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abgesetzt": es geht ihr Charakter als Allgemeines und damit verführerisches Exempel verloren43 • "Durch die Festigkeit der Gesellschaft erhält das Verbrechen die Stellung eines bloß Subjektiven, das nicht so aus dem besonnenen Willen, als aus natürlichen Antrieben, aus eigentümlichen Momenten entsprungen scheint. ... Dadurch wird dem Verbrechen der Charakter genommen, in welchem es seine Zurechnung erhält.... Das Verbrechen wird als kein Geltendes, als ein Unbedeutenderes gesetzt, und so wird die Strafe gemildert. Denn durch die Strafe wird nur die Ungültigkeit des Verbrechens gesetzt. In der Gesellschaft haben aber die Verbrechen an sich schon kein Gelten."44 Für unser Thema zeigt die Art und Weise (also die Methode) des Philosophierens Hegels, daß das Unrecht - und nimmt man den übergang von Moralität zur Sittlichkeit dazu: das Böse (als böses Gewissen) - nur innerhalb des freien Willens thematisiert werden können. Hegel ist über das Problem, ob der Missetäter Mensch ist oder nicht, von vornherein hinaus. Die Sphäre des objektiven Geistes, innerhalb derer Unrecht und Böses überhaupt erst ihren systematischen (und d. h. begrifflichen) Ort haben (können), setzt die Herausbildung des freien vernünftigen Willens voraus. Deshalb kommen Unrecht und Böses nur als Momente der Vernunft selbst in Betracht: jeweils als formelles abstraktes Moment, das als solches keine eigenständige Substanz haben, aber auch nicht beseitigt und vernachlässigt werden kann zugunsten irgendeiner substantiellen Vernunft. Sondern sie sind Momente der Vernunft selbst, die in ihr aufgehoben und vermittelt sind. Der Staat - und das heißt für Hegel: der Wille eines jeden Menschen, Staat zu sein, damit in einer freien Welt, die die Freiheit aller Menschen anerkennt und sichert, leben zu wollen45 - ist vermittelt über Unrecht und Böses, enthält beides in sich, indem er sie aufhebt (und z. B. als Verbrechen bestraft); und nur weil er sie in sich hat, kann er als substantielle Vernunft und als Reich der Freiheit begriffen werden. Um Mißverständnisse auszuschließen: der Staat ist substantielle Vernunft und Reich der Freiheit nur, soferne er Unrecht und Böses aufgehoben hat. Dies hat er nur, wenn Unrecht und Böses auch im Verhältnis der Einzelstaaten zueinander aufgehoben sind; d. h. wenn die Idee des 43 So G. W. F. Hegel, Vorlesungen zur Rechtsphilosophie (Hrsg. K. H. IZting), Stuttgart-Bad Canstatt 1964, Bd. IV, S. 550 f. 44 Hegel, Vorlesungen (FN 43), Bd. 111, S. 663 f. Zu den Konsequenzen für das Problem der geforderten Ehrung des Verbrechens als eines Vernünftigen vgl. nur Schild, Strafrichter (FN 36), S. 86. 45 Dazu W. Schild, Savigny und Hegel, in: Anales de la Catedra Francisco Suarez, 18/19 (1978/79), S.271 (271 ff.); ders., Die "Objektivität" des Geistes als Thema der Rechtsphilosophie Hegels, in: Objektivierung des Rechtsdenkens. Gedächtnisschrift für I. Tammelo, Berlin 1984, S.377 (387 ff.); ders., Der Staat unter Staaten, Manuskript.
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Staates - wie § 259 ausdrücklich sagt, was freilich stets vergessen wird - sich in einer Weltordnung verwirklicht hat, in der jeder Mensch frei sein kann. Nur in einem solchen "Welt-Staat" (einer Weltordnung)46 ist der objektive Geist an sein Ende gekommen: dann ist die Freiheit zur "Wirklichkeit einer Welt" gestaltet (10, 303), das Reich der Vernunft verwirklicht, in dem auch die Unvernunft aufgehoben ist. Aber selbst dann wird der objektive Geist stets auf dem Boden der Endlichkeit stehenbleiben, wird stets die Seite äußerlichen Erscheinens an sich haben (10, 303). Denn die Weltordnung, die die Freiheit verwirklicht, erkennt sich in der Geschichte stehend: nicht umsonst endet die "Rechtsphilosophie" Hegels mit der Weltgeschichte (d. h. der Geschichte dieser Weltordnung). "Der denkende Geist der Weltgeschichte" - d. h. die Philosophie (der Geschichte) - streift seine eigene Weltlichkeit ab (10, 353), gerade indem er die Weltlichkeit und Endlichkeit des objektiven Geistes (und damit auch des Reichs der verwirklichten Freiheit, nämlich: eines jeden Reichs der verwirklichten Freiheit) erkennt und darin erkennt, daß dieses Reich selbst nur an sich ist und die Seite äußerlichen Erscheinens an sich hat (§ 483). Der denkende Geist erkennt die Grenze und Endlichkeit seiner Vernunft, was er freilich nur unter einer Voraussetzung kann (die er auch erkennt): nämlich daß er sich selbst als geschenkt und getragen vom Absoluten begreift, als dieses Wissen des absoluten Geistes, das "ebensosehr als vom Subjekte ausgehend und in demselben sich befindend als objektiv von dem absoluten Geiste ausgehend zu betrachten" ist (10, 366). 5. Schlußbemerkung
Darin wird offenbar, wieso Vernunft und Unvernunft, guter und böser Mensch in letzter und tiefster Dimension gleich sind: weil in gleicher Weise gegründet in dem Absoluten. Menschliche Vernunft bleibt immer notwendig Unvernunft, hat jene stets mit Notwendigkeit in sich: der objektive Geist ist nicht der absolute Geist, um mit Hegel zu sprechen. Der kategorische Imperativ ist stets formal, wie Kant es ausdrückt, dessen Auffassung in diesem Zusammenhang nur mit seiner Postulatenlehre dargestellt werden kann. Auf den theologischen Hintergrund der Theorie Lockes wurde von vornherein hingewiesen. Die menschliche Vernunft vermag nicht, trotz allen guten Willens, die Menschheit zu erlösen, den Menschen in Vollkommenheit zu verwirklichen. Und aus diesem Grunde kann es keinen "wahren, eigentlichen, wesentlichen Menschen" geben, der als existierendes Individuum vom bloß faktischen Menschen durch den qualitativen Abgrund einer Menschlichkeit getrennt wäre47 • 46 Dazu Schild, Staat
(FN 45).
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In diesem Ergebnis glaube ich mich auch mit Ryffel voll zu treffen. In seiner Rechtsphilosophie hat er mit deutlichen Worten klargestellt, daß die Menschenwürde jedem Menschen in seinem Selbstverwirklichungswillen zuzuerkennen ist48 , daß also auch der bloß faktische Mensch in vollem Sinne Mensch ist und bleibt. Auch der tiefste Grund dafür ist angegeben: weil der Mensch der Ort des Absoluten sei49 •
47 Jeder Versuch, den wahren Menschen qualitativ-inhaltlich zu bestimmen (zu erzeugen), muß in Terror führen. Zum Nationalsozialismus (in diesem Verständnis) siehe W. Schild, Die nationalsozialistische Ideologie als Prüfstein des Naturrechtsgedankens, in: Das Naturrechtsdenken heute und morgen. Gedächtnisschrift für R. Marcic, Berlin 1983, S.437 (437 ff.). 48 Rytfel, Rechtsphilosophie (FN 4), S. 314. 49 Rytfel, Rechtsphilosophie (FN 4), S. 326 ff.
Natur und Religion
ÜBER DAS RECHT DER NATUR IM NATURRECHT DER GEGENWART Von Beat Sitter, Bern Vor gut zwanzig Jahren stellte W. Maihofer zwei gegenläufige Fragen unmittelbar nebeneinander: Einerseits forderten die aus Existenzphilosophie, Ideologiekritik und positivistischer Rechtstheorie gewonnenen Einsichten zu prüfen heraus, ob sich "die Frage nach dem Naturrecht heute ... denn überhaupt noch sinnvoll stellen" lasse. Doch drängte andererseits der Blick auf das seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges wieder erblühte Naturrechtsdenken zur Frage, ob gar eine neue "Besinnung auf diese mit dem Begriff Naturrecht umschriebene alte Sache" ins Haus stehei. Beide Fragen sind ungeschmälert aktuell. Die erste deswegen, weil faktisches Naturrechtsdenken nach wie vor auf Kritik stößt, die es nicht allein als in seiner Durchführung irrig und verfehlt, sondern überhaupt als unnötig, ja der Suche nach menschenmöglicher Wahrheit und Richtigkeit abträglich von sich weist 2• Die zweite Frage muß aus grundsätzlichen Erwägungen (also nicht etwa nur deshalb, weil sich die Anwendungsbedingungen naturrechtlicher Normen laufend ändern) eingehend bedacht werden, denn Naturrecht läßt sich heute nicht länger als Inbegriff universeller und unwandelbar vorgegebener materialer Handlungsprinzipien verstehen, es muß vielmehr als zwar unverfügbare, doch stets neu zu konkretisierende Idee begriffen werden. Als Prozeßdenken ist es zu charakterisieren, das unausgesetzt zur Überprüfung und, wo nötig, zur Veränderung von Normen in der "politischen Sphäre"3 W. Maihofer, Naturrecht als Existenzrecht, Frankfurt a. M. 1963, S. 12. Als exemplarischen Beleg für die Aktualität des Naturrechtsdenkens vgl. Das Naturrechtsdenken heute und morgen. Gedächtnisschrift für Rene Mareie, Berlin 1983. Darin kritisch im angetönten Sinne o. Weinberger, Die Naturrechtskonzeption von Ronald Dworkin, S. 497-515. Vgl. auch die Naturrechtskritik bei H. Albert, Traktat über rationale Praxis, Tübingen 1978, bes. S.69-74. 3 Den Ausdruck "politische Sphäre" übernehme ich von H. Ryffel, Das Naturrecht. Ein Beitrag zu seiner Kritik und Rechtfertigung vom Standpunkt grundsätzlicher Philosophie, Bern 1944, S. 19 u. öfter. Er benennt jenen sozialen Bereich, in welchem die Auseinandersetzung zwischen unterschiedlichen Vorstellungen betreffend die Zulässigkeit bzw. die Unzulässigkeit sozialer Verhaltens entwürfe stattfindet, wobei alle diese Vorstellungen wirklich maßgeblich zu werden verlangen; jene Sphäre also, in welcher schließlich festgeI
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10 Speyer9.
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antreibt4• Das soll im folgenden gezeigt und in der Anwendung auf einen vordringlichen Aspekt unserer eigenen geschichtlichen Lage: auf unseren Umgang mit der Natur, verdeutlicht werden. 1. Der Begriff "Naturrecht"
Der Ausdruck "Naturrecht" ist bekanntlich vieldeutig. So wird eine vorläufige Begriffsbestimmung unerläßlich. Zu zeigen, ob und wie weit sich für sie mit Erfolg argumentieren läßt, bleibt Aufgabe der späteren Ausführungen. Vorweg steht fest, daß diese Begriffsbestimmung nicht willkürlich sein darf, sich vielmehr in eine reiche Tradition einreihen, demzufolge eine Grundlage herausheben muß, die, wenn nicht allen, so doch den in der Geistes- wie in der politischen Geschichte am meisten wirksam gewordenen Abschattungen des Naturrechtsbegriffes gemeinsam ist. Versuchen wir, das von der griechischen Antike bis in unsere Tage reichende Naturrechtsdenken auf einen Nenner zu bringen, so können wir sagen: "Naturrecht" meint stets einen prinzipiell unverfügbaren Grund und Maßstab für die Richtigkeit von Normen sozialer Ordnung im weitesten Sinne. Immer ist Naturrechtsdenken vom Verlangen getrieben gewesen, für soziale, insbesondere für politische Ordnungen einen unverbrüchlichen Maßstab zu gewinnen, nach dem Menschen sich richten können, um sich nicht selber zu verlieren - eine Stütze also für den sich als endlich, d. h. als irrtumsfähig, unzuverlässig, sich selber gefährdend erfahrenden, hingegen immer auch auf individuelle wie gemeinschaftliche Freiheit bedachten Menschen. Die Absichten, Macht zu kontrollieren, Richtlinien für die Gestaltung neuer, gerechterer Ordnungen oder die billige Lösung unerwarteter Konflikte zu finden, Argulegt wird, was für Grundsätze und Normen in einer gegebenen Gesellschaft RedJ.tskraft erlangen und vom Staate durchgesetzt werden (vgl. ebd., S.2127). Ryftels Schriften verdankt die vorliegende Arbeit viel; zitiert werden im folgenden, neben der Arbeit aus dem Jahre 1944: Grundprobleme der Rechtsund Staatsphilosophie. Philosophische Anthropologie des Politischen, Neuwied/Berlin 1969; Zur Rolle des "Absoluten" in der Philosophie der Politik, in: Mensch und Recht. Festschrift für Erik Wolf, Frankfurt a. M. 1972, S.2856; Das Problem des Naturrechts heute (1956), in: W. Maihojer (Hrsg.), Naturrecht oder Rechtspositivismus?, Darmstadt 1972, S.494--526; Rechtssoziologie. Eine systematische Orientierung, Neuwied/Berlin 1974. 4 So ist in analoger Weise für O. Höfte "das Naturrecht kein schlechthin vorgegebener, von einer demokratischen Sinnstiftung unabhängiger Wertekanon" . Als "zeitgemäße Gestalt eines philosophischen Naturrechtsdenkens" gelten ihm "sittlich-politische Diskurse". Sie lassen sich "auf die konkreten Probleme des jeweiligen Sachbereichs" ein, berücksichtigen "die einschlägigen Erfahrungen und einzel wissenschaftlichen Erkenntnisse" und wägen "die Argumente des Für und Wider gegeneinander" ab. Vgl. Naturrecht und positives Recht: Wider eine gängige Alternative, in: Merkur 1983, S. 621 f.
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mente für Änderung oder Umsturz geltender Ordnungen zu gewinnen, waren und sind dabei in unterschiedlichem Maße bestimmend5• Wie sofort ersichtlich, fehlt die Komponente der Universalität in der getroffenen Begriffsbestimmung. War sie in der Tradition auch mehrheitlich mit dem Naturrechtsbegriff verbunden, fehlte sie doch an prägnanter Stelle6 • Explizit führe ich sie daher hier ein, so daß denn für uns als vorläufige Begriffsbestimmung gelten soll: Mit "Naturrecht" meinen wir einen prinzipiell unverfügbaren, universell verpflichtenden Grund und Maßstab für die Richtigkeit von Normen sozialer Ordnung in weitestem Sinne. 2. Zur Motivation des Naturrechtsdenkens Wer in die Reflexion über das Naturrecht eintreten möchte, sieht sich, noch bevor er die ersten Schritte getan hat, mit dem - zuweilen unverhohlen zynischen - Einwand konfrontiert, er wende sich müßiger Beschäftigung zu; im politischen Alltag handle es sich nicht darum, wer in einem gegebenen Streitfall für sich beanspruchen dürfe, objektiv im Rechte zu sein; es gehe vielmehr um die stets vorläufige und prekäre Ausmarchung von Machtpositionen, bei welcher Verständnis für das durchschnittliche, von Interessen und Emotionen abhängige Verhalten der Kontrahenten, politische Klugheit, staatsmännisches Geschick, dezisionistisches Vermögen, auch wohl Gerissenheit und verwandte Qualifikationen den Ausschlag gäben. Die Besinnung auf abstrakt-allgemeine sittlich-politische Prinzipien und deren Konkretisierung im besonderen Falle habe hier wenig zu suchen, auch wohl keine Aussichten auf Erfolg. Abgesehen davon, daß dieser Einwand die pädagogischen Aspekte grundsätzlicher sittlicher Reflexion bloß in den Wind schlägt, ist ihm gegenüber festzustellen, daß wir uns ein derartiges Politikverständnis einfach nicht mehr leisten können. Zu offensichtlich stehen wir vor globalen Gefährdungen - ökologischer wie machtpolitischer und, in der 5 Vgl. Weinberger (FN 2), S.497; R. Marcic, Natural Law Called in Question, in: Das Naturrechtsdenken heute und morgen (FN 2), S. 969. 6 So etwa bei Aristoteles, der, wie J. Ritter meint, das Naturrecht niemals im Sinne des späteren Denkens dem positiven Recht "als ein zweites an sich und immer gültiges Recht" entgegensetzt, für den Naturrecht vielmehr auch wenn es grundsätzlich das Recht des Menschen meint, seiner vernünftigsozialen Natur entsprechend zu leben - im Positiven wurzelt und entsprechender Wandlung fähig ist; vgl. J. Ritter, "Naturrecht" bei Aristoteles. Zum Problem einer Erneuerung des Naturrechts, in: ders., Metaphysik und Politik. Studien zu Aristoteles und Hegel, Frankfurt a. M. 1963, bes. S.149, 156, 163. Hinzuweisen ist jedoch auch auf die für unser Jahrhundert kennzeichnenden Konzeptionen eines geschichtlichen Naturrechts, etwa bei R. Stammler, E. Fechner, E. Spranger; vgl. neben Maihafer (FN 1), S. 12 f., die entsprechenden Beiträge im Sammelband "Naturrecht oder Rechtspositivismus?" (FN 3).
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Folge, militärisch-strategischer Art -, die ihre Wurzeln in der fehlenden Bereitschaft, uns auf gemeinsame Verbindlichkeiten zu besinnen und die eigenen Ansprüche entsprechend einzugrenzen, schlagen. Eine wirklich maßgebliche, d. h. auch durchsetzbare internationale politische Friedensordnung, nicht weniger eine weltweite Ordnung unserer Produktions- und Verteilsysteme sowie Konsumgewohnheiten im Interesse gerechterer Lebensbedingungen für unsere benachteiligten Mitmenschen sowie der Erhaltung unserer Erde als Existenzgrundlage der Menschheit überhaupt - beide bedürfen sie einer verpflichtenden Grundlage, die über alle geschichtlich-konkreten Regelungen hinausführt: eines Maßstabes eben, auf den wir uns in allen Konflikten noch gemeinsam beziehen, um, idealerweise, in der Preisgabe selbstsüchtiger Standpunkte eine Einigung ohne Gewalt zu erzielen. Diese "konkrete Utopie" ausschlagen heißt, sich für die rasche Annäherung an apokalytische Zustände entscheiden; sie als Richtmarke allen HandeIns "im Dienste am Humanum"7 anerkennen, verlangt Eintreten auf natur rechtliche Gedankengänge. Denn eben dies ist der Mittelpunkt zeitgenössischen Naturrechtsdenkens: die Vorstellung eines in der Tat weltweit verbindlichen Bezugspunktes, dessen Geltung rational einsichtig gemacht werden kann. Die Vorstellung impliziert nicht nur, daß Konflikte überhaupt und also über alle politischen wie kulturellen Divergenzen hinweg sich beilegen lassen, sondern, darüber hinaus, daß dies unter Verzicht auf Gewalt, mittels rationaler Argumentation im Dialog möglich ist. Sie nährt die Zuversicht, daß sich soziale Ordnungen aller Stufen als Friedensordnungen etablieren lassen8• Eine weitere Überlegung spricht dafür, sich auf das Naturrechtsdenken einzulassen. Sie ist so einfach wie die eben angestellte. Wo immer im sozialen Bereich Normen nicht sittlich irrelevante Verhaltensmöglichkeiten regeln - etwa entscheiden, ob im Straßenverkehr grundsätzlich links oder rechts gefahren wird -, treten sie mit dem Anspruch auf Richtigkeit auf. Richtigkeit meint dann offensichtlich weder nur Zweckmäßigkeit noch bloße Sachangemessenheit, vielmehr Legitimität, also moralische Ausweisbarkeit einer Zumutung an jedes einzelne Mitglied einer Gemeinschaft. Eben deshalb läßt sie sich in Frage stellen, und zwar in sämtlichen Bereichen und auf allen Stufen bis hinauf zu den Grundsätzen eines jeglichen Normensystems, welches die Daseinsweise einer Gemeinschaft regelt. Der Maßstab zur Beurteilung der Rich7 A. Hollerbach, Das christliche Naturrecht im Zusammenhang des allgemeinen Naturrechtsdenkens, in: F. Böckle / E.-W. Böcken!örde (Hrsg.), Naturrechtsdenken in der Kritik, Mainz 1973, S.36. 8 Vgl. B. Sitter, Kritizistische Kritik am Naturrecht - ein Ritt gegen Windmühlen? In: Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie, 28 (1981), S. 33 f.
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tigkeit eines gegebenen Normensystems kann nicht wieder in diesem selber liegen; er ist, bezogen auf dessen Positivität, überpositiv. Andererseits läßt sich die Frage nach diesem Maßstab nicht von der Hand weisen; unverbrüchlich treibt die vernünftig-kritische und sittliche Natur des Menschen sie hervor, wenn nicht spontan, so doch spätestens in der Erfahrung eigenen oder fremden Leidens an als nicht gerechtfertigt empfundenen Zumutungen. Grenzen wir diese überlegungen auf den Bereich des Rechts ein, läßt sich die Aussage verteidigen, jede positive Rechtsordnung verlange geradezu nach naturrechtlicher Ausweisung9•
3. Zur Kritik am Naturrechtsdenken Eine eingehende Auseinandersetzung mit der Kritik am Naturrechtsdenken würde Zielsetzung und Rahmen dieser Arbeit sprengen. Andererseits soll doch zumindest exemplarisch belegt werden, daß die gängige Naturrechtskritik reflektiert worden ist, wenn wir das Naturrecht auf seine Funktion im Zusammenhang des normativen Wandels in der politischen Sphäre hin untersuchen. Ein Aufsatz, den o. Weinberger erst kürzlich veröffentlicht hat lO , bietet sich als Exempel an, und zwar deshalb, weil Weinberger wesentlichen Elementen der oben geschilderten Motivation für das Naturrechtsdenken zustimmt (S.497), sich hingegen zu demonstrieren anschickt, daß man, auch wenn diese Elemente ernst genommen werden, nicht auf die Naturrechtsidee zurückzugreifen braucht. Ins Visier nimmt Weinbergers Kritik die Naturrechtskonzeption von R. Dworkin, in einem ersten Schritt dessen Behauptung, die obersten Prinzipien des Rechts seien nicht wieder in positiven Systemen zu finden. Weinberger verteidigt die Gegenthese. Er legt dar, wie sich alle Rechtsprinzipien "direkt auf Rechtsquellen (Rechtsvorschriften, Präzedenzien), indirekt auf Rechtsvorschriften oder Präzedenzien, indem Prinzipien aus diesen durch Abstraktion gewonnen werden können, und auf die Kompetenz des Richters, für seine Entscheidungen gegebenenfalls neue Grundsätze zu kreieren", stützen (S. 501). Man wird zu9 Naturrechtsdenken stellt, mit H. Welzel zu sprechen, die notwendige Rechtsfrage an das Recht (Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, 4. Aufl., Göttingen 1962, S.237). Der nämliche Gedanke prägnant bei O. Hölle: Naturrecht ist legitime und notwendige Idee, kann doch jede positive Rechtsordnung in dreifacher Hinsicht auf Richtigkeit befragt werden: 1. Soll überhaupt Ordnung sein? - 2. Ist eine positive Ordnung richtig unter Sach- und Verfahrensgesichtspunkten? - 3. Regelt die Ordnung die richtigen Bereiche menschlich sozialen Daseins? - Antwort auf diese drei Fragen erteilt nicht wieder das positive Recht. Vgl. Das Naturrecht angesichts der Herausforderung durch den Rechtspositivismus, in: Das Naturrechtsdenken heute und morgen (FN 2), S. 307 f. 10 Weinberger (FN 2). Hier und im folgenden werden Belege direkt im Text durch in Klammern gesetzte Seitenzahlen gegeben.
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stimmen, doch gleichzeitig bemerken, daß der Hinweis auf dem Richter übertragene Kompetenz dann und nur dann genügt, wenn unterstellt wird, mit des Richters Kompetenz sei auch schon über die Richtigkeit eines durch ihn "neu geschaffenen" Grundsatzes entschieden. Eben dies ist mit Fug und Recht in Frage zu stellen. Kompetenzdelegationen allein verbürgen nicht einmal Sachangemessenheit, geschweige denn Sittlichkeit. Weinberger ist zuzugeben, daß neben Rechtsregeln auch "Rechtsprinzipien, deren Bedeutung für das Rechtsleben nicht strittig ist, zum positiven Recht gehören" (S. 515), sofern sie in diesem selber oder aber durch die Judikatur explizit gemacht werden. Doch schon Weinbergers Beispiel: der Verweis auf Art. 1 Abs.1 Satz 1 des Bonner Grundgesetzes (S.500), müßte stutzen machen. Die Garantie der unverletzlichen Menschenwürde ist zwar geschichtliche Errungenschaft, für uns indessen ein Grundsatz, den wir auch mit dem Blick auf die Vergangenheit als für alle Zeiten verbindlich erachten, mochte er nun faktisch erfaßt und anerkannt worden sein oder nicht. Weinberger überspringt das mit dieser Feststellung verbundene Problem nicht erkannter, wiewohl sittlich verbindlicher Grundsätze, wenn er versichert, nicht behaupten zu wollen, "es existiere eine vollständige Liste aller Rechtsprinzipien zusammen mit der Gesamtheit ihrer relativen Gewichte", das Rechtssystem sei vielmehr "in dieser Richtung offen und die Gesamtheit der relativen Gewichte nicht angebbar", weil dies bedeutete, "daß man alle denkbaren Dezisionen vorwegnehmen könnte" (S. 502). Eben die Entwicklung und Rechtfertigung bisher nicht bekannter oder die Abwandlung geläufiger Rechtsgrundsätze läßt sich ohne naturrechtliche, d. h. die Grenzen des positiven Rechts sprengende Reflexion nicht durchführenll . Ein Zweites: Zu den wiederkehrenden Einwänden gegen das Naturrechtsdenken gehört die Behauptung, Naturrechtssätze seien Leerformeln, die keinerlei - das heißt aber gleich viel wie beliebige - Kriterien für Entscheidungen in konkreten Fällen an die Hand gäben. Mit 11 Dies liegt doch auch in Weinbergers Hinweis auf die Begründungsbedürftigkeit neuer Grundsätze. Selbstverständlich anerkennt Weinberger die Forderung, "daß im Rechtsleben auch inhaltliche Begründungen gegeben werden sollen", und er expliziert: "So sollte z. B. eine neue ratio decidendi sicherlich durch entsprechende begründende überlegungen gestützt werden" (502). Woher, so ist doch zu fragen, nehmen solche überlegungen ihren Ausgang? Daß dies nicht wieder nur unter Beizug positiv-rechtlicher Bestimmungen und Usanzen geschehen kann, liegt auf der Hand und hat eben zu jenem Artikel an der Spitze des Schweizerischen Zivilgesetzbuches Anlaß gegeben, der den Richter in Fällen, da weder Gesetz rioch Gewohnheitsrecht eine Entscheidungshilfe bieten, zum Gesetzgeber macht. Er bleibt zwar an bewährte Lehre und überlieferung gebunden, bewegt sich indessen gerade damit auf einem Boden, der nicht fixes Terrain, vielmehr wandlungs- und entwicklungsfähige Grundlage bleibt (vgl. Art. 1 ZGB).
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diesem Einwand hat sich u. a. P. Rohs erfolgreich auseinandergesetzt l2 • Er bediente sich seinerseits eines sprachanalytischen Gedankenganges. Dieser gipfelt in der Feststellung, der Einwand der Leerformel fordere stillschweigend, ein Satz, solle er sinnvoll sein, müsse gleich selber die Gebrauchsregeln für die in ihm auftretenden Prädikatoren explizieren. Natürlich ist diese Forderung unhaltbar, was sich unmittelbar etwa daran ablesen läßt, daß, bestünde sie zu Recht, auch ein Satz wie "Hunde haben vier Beine", isoliert betrachtet, sinnleer bliebe (S. 195). Tatsächlich leidet Naturrechtskritik dann an einem hermeneutischen Defizit, wenn sie einzelne Naturrechtssätze diskutiert, ohne deren Kontext zu berücksichtigen. Paradebeispiel hierfür sind die immer wieder auftauchenden Kritiken an der bekannten Naturrechtsformel "suum cuique". Unbeachtet bleibt, daß diese Formel nur Kürzel ist für den Gedanken, den sie vergegenwärtigen soll. Dessen maßgebliche Fassung, die wir bekanntlich Ulpian verdanken, lautet: "iustitia est constans et perpetua voluntas, ius suum cuique tribuendi" (Dig. 1. 1. 10 (pr.)). Die Fortsetzung, in welcher das Kürzel tatsächlich auftaucht, hat offenbar explizierende, nicht jedoch konstitutive Funktion; sie verdeutlicht insbesondere, daß, was für das Verhältnis zwischen Behörde und Bürger gilt, auch im Verhältnis unter Bürgern Platz greifen soll, institutionalisiert, so betrachtet, bereits in der römischen Kaiserzeit das Prinzip der sogenannten Drittwirkung. Für unseren Zusammenhang ist entscheidend, daß die Formel "suum cuique" nicht eigenständig, sondern eingebettet in den Kontext einer Umschreibung dessen, was Gerechtigkeit ist, erscheint, also auch in diesem Zusammenhang ausgelegt werden muß. Eine derart adäquate Auslegung verbietet geradezu, was immer wieder getan wird, wenn man "suum cuique" als Leerformel kritisiert: nämlich die Formel als materiale Norm aufzufassen, aus der sich mittels Deduktion Entscheidungen für den konkreten Fall. gewinnen ließen. Ulpians Satz ist vielmehr formale Richtlinie; sie schreibt vor, wie vorzugehen und was zu berücksichtigen ist, will man Gerechtigkeit verwirklichen. Sie dient als Prozeßanweisung, nicht hingegen als sachliche Prämisse. Ihre Leistung wird folglich verkannt, wenn behauptet wird, sie liefere die Voraussetzung dafür, beliebige inhaltliche Entscheidungen zu rechtfertigen. Zur Begründung dieser These folgendes: In Ulpians Satz ist "voluntas" Apposition zu "iustitia", qualifiziert diese somit näher als Wille oder Bestreben, das seinerseits als unwandelbar (constans) und beständig (perpetua) bestimmt wird. Angesprochen ist die "voluntas" eines jeden, der mit Gerechtigkeit befaßt ist: Gesetzgeber, Richter, aber auch, wie Dig. 1. 1. 10 (1) nahelegt, jeder Bür12 P. Rohs, Wie wissenschaftlich ist die wissenschaftliche Naturrechtskritik?, in: Philosophische Rundschau, 16 (1969), S. 185-213.
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ger13 • Zwar gibt sich die Gleichsetzung von "iustitia" und "voluntas" als Seinsaussage. Erfahrung lehrt uns hingegen, daß mit dem genannten beständigen Bestreben faktisch nicht gerechnet werden kann; im Lichte dieser Erfahrung wandelt sich die Aussage in ein Postulat, das alle angeht, die mit dem Recht umgehen und von ihm betroffen sind. Wenn Gerechtigkeit mit Willen, Absicht, Bestreben in Verbindung gebracht wird, dann einmal, um anzudeuten, daß sie nicht schon fertig zur Verfügung steht, sondern sich nur in einem ununterbrochenen und unendlichen Prozeß (constans et perpetua voluntas) verwirklicht. Zum andern bezeichnet "iustitia" als "voluntas" eine Voraussetzung, die der Mensch selber erfüllen muß: in einer bestimmten Haltung. Gerechtigkeit bietet demzufolge zwei gleich wesentliche Aspekte: Sie ist als geforderte Haltung immanent und positiv aufgefaßt; als Ziel hingegen bleibt sie transzendent, ein überpositives Ideal. Beide Aspekte bringt Cicero schön zum Ausdruck, wenn er zuerst in "De inventione" schreibt: "Iustitia est habitus animi ... suam cuique tribuens dignitatem" (2, 53, 160), und später in "De officiis" erläutert: "Sed nos veri iuris germanaeque iustitiae solid am et expressam effigiem null am tenemus, umbra et imaginibus utimur. Eas ipsas utinam sequeremur" (III, 17, 69). Gegenstand des beständigen und festen Willens ist eine Handlung: die Zuteilung (tribuendi), die wiederum ein doppeltes Objekt besitzt. Sie soll dafür sorgen, daß einem jeden - die Maxime gilt somit universell - das zukomme, was ihm zunächst als Rechtsgenossen überhaupt (ius) , sodann insbesondere in seiner ganz persönlichen Lage (suum) gebührt. Was dieses Gebührende näherhin ist, steht nicht nur nicht zum vornherein fest, sondern wird offensichtlich auch nicht als durch Deduktion aus materialen Prämissen auffindbar vorgestellt - andernfalls müßte die Gerechtigkeitsformel lauten: "iustitia est suum cuique tribuendi". Indem "voluntas" für Gerechtigkeit ausschlaggebend wird, sie zugleich aber so gedacht ist, daß sie nie in einem endgültigen Ziel Erfüllung findet, wird, jedenfalls implizit, angenommen, das Gebührende lasse sich nie ein für allemal und also absolut richtig erfassen. Für den Rechtsfindungsprozeß bedeutet dies, daß er nicht ausschließlich an positive Bestimmungen gebunden bleibt. Wird Gerechtigkeit als Bestreben, jedem das Seine zuzuteilen, geübt, fällt Gesetzgebern wie Richtern zwar die Pflicht zu, sich beim Ordnen von Beziehungen unter den Rechtsgenossen an die anerkannten positiven Kriterien zu halten; sie müssen aber, um dem Anspruch in Ulpians Formel zu genügen, überdies erwägen, ob diese Kriterien immer noch das richtige Maß an die Hand geben. Sie müssen, anders gesagt, über die positive Ordnung hin13 "Iuris praecepta sunt haec: honeste vivere, alterum non laedere, suum cuique tribuere" (Dig. 1.1.10 (1)).
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ausblicken, indem sie sich auf Gerechtigkeit als unendliches Ziel ausrichten. Jetzt liefert Ulpians Formel ein Kriterium, das entscheiden hilft, welche Ordnungen als richtig bezeichnet werden können, denn im Lichte dieser Formel sind Ordnungen, die sich der überprüfung ihrer Angemessenheit und, in der Folge, einer allfälligen Modifikation widersetzen, offensichtlich ungerecht. Ulpians Satz ist, so verstanden, alles andere als eine Leerformel, viel eher eine "Regel, die zu erkennen gibt, wer gerecht und wer ungerecht handelt", und die "bei der Arbeit an den zwischenmenschlichen Beziehungen ebenso unentbehrlich wie die Wasserwaage und das Lot beim Bauen" ist l4 •
4. Naturrechtsdenken als Prozeßdenken: Die Naturrechtsidee bei Hans Ryjjel Noch bevor G. Radbruch mit seinen ebenso ergreifenden wie bedeutungsschweren "Fünf Minuten Rechtsphilosophie" im Jahre 1945 die zweite Renaissance des Naturrechts in unserem Jahrhundert gleichsam einläutetel5 , hatte Ryffel, ausgehend von einer systematischen Auseinandersetzung vor allem mit der jüngeren Naturrechtsgeschichte, eine eigenständige Naturrechtstheorie entworfen, welche die wichtigsten Elemente des später aufblühenden Naturrechtsdenkens und seinen Fortgang bis heute vorwegnahm. Insbesondere die Aufgabe, nach einer Möglichkeit der Vermittlung von Verbindlichkeit und Geschichtlichkeit zu suchen, formulierte Ryffel explizit in der Fragel6 : "Wie können absoluter Maßstab und aktuell wirkliche Maßgeblichkeit miteinander verbunden werden?" Nicht akademische Neugier trieb ihn dabei an, vielmehr von allem Anfang an das Interesse, die Konsequenzen gelungener Vermittlung für eine sinnvolle Gestaltung politischer Praxis auszumachen. 14 A. Troller, Grundriss einer selbstverständlichen juristischen Methode und Rechtsphilosophie, Basel/Stuttgart 1975, S. llO; vgl. 107. Trollers überlegungen sind für den hier versuchten Gedankengang wichtig geworden. Im Grundsätzlichen teilen die hier vertretene Auffassung J. Llompart, Gerechtigkeit als geschichtliches Rechtsprinzip, in: ARSP, 67 (1981), S.45; I. Tammelo, Theorie der Gerechtigkeit, Freiburg/München 1977, S.24; dieser unterstützt von K. Larenz, Richtiges Recht. Grundzüge einer Rechtsethik, München 1979, S.189, Anm.23: Mit Recht kritisiere Tammelo Kelsens Vorwurf, der auf der falschen Annahme beruhe, "daß die Formeln dazu bestimmt seien, konkrete Entscheidungen aus ihnen abzuleiten. In der Tat ist das nicht ihr Sinn. Sie wollen nichts anderes sein als erste gedankliche Hinweise auf das, was der Ausdruck ,Gerechtigkeit' meint, keine Definition und erst recht keine unmittelbar anwendbaren Regeln". 15 Wieder abgedruckt im Anhang zu G. Radbruch: Rechtsphilosophie, 7. Aufl., hrsg. von E. Wolf, Stuttgart 1970, S. 335-337. 16 Ryffel 1944 (FN 3), S.40. Alle Arbeiten RYffels, auf die hier Bezug genommen wird, sind in FN 3 verzeichnet; ich zitiere sie, sofern erforderlich, im Text unter Angabe des Erscheinungsjahres, das von der Seitenzahl gefolgt ist.
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Ryffel greift für seine Untersuchung auf die von seinem philosophischen Lehrer C. Sganzini entwickelte "universale Verhaltenslehre" zürück und wendet sie auf den Bereich von Recht und Staat an. Grundkategorie der universalen Verhaltenslehre, welche ",Verhalten' als die letzte ... Struktur, auf die anscheinend alles Wirkliche und Denkbare zurückgeführt werden kann" (S.19), begreift, ist Antizipation, verstanden als auf Verwirklichung dringender Entwurf konkreten Verhaltens. Beim Menschen treten, im Unterschied zu nichtmenschlichem Seienden, Antizipation und Verwirklichung auseinander, d. h. Antizipationen können reflektiert, zum Gegenstand von Entscheidungen gemacht werden. Doch bleiben die Bestrebungen zur Verwirklichung stets hinter den Antizipationen zurück; einer vollständigen Verwirklichung stehen nicht Beachtetes, Nebenfolgen, unvorhergesehene Ereignisse, aber auch fehlendes subjektives Vermögen entgegen. Eben dadurch werden Antizipationen für sie anvisierendes Verhalten zu Maßstäben, ist menschliches Verhalten grundsätzlich maßstabgebunden. Selbst wenn man die Verwirklichung einer Antizipation als vollständig gelungen annehmen wollte, die so realisierte Antizipation bliebe doch immer wiederum Ausgangspunkt neuer, weiterreichender Antizipationen: Sie kann auf ihren Sinn, auf ihre Richtigkeit hin befragt werden. "Im Grenzfall kann der im Vollzug der Verhaltungen ganz oder teilweise überwundene, aber immer wieder neu geschaffene Gegensatz von Antizipation und verwirklichtem Verhalten ins Absolute gesteigert werden, so daß eine Verwirklichung von vornherein ausgeschlossen scheint. Diese absolute Antizipation" - mit Kant ließe sich von der Idee sprechen17 - , "die im Kulturmenschen zwar nicht als ständige und tatsächliche Erlebniswirklichkeit, wohl aber als Möglichkeit da ist, macht das Wesen von Geist aus" (S.21). Die Analyse der Grundstruktur menschlichen Verhaltens, die hier geboten wird, tönt dem heutigen Leser vertraut. Sie verträgt sich mit den zentralen Ergebnissen der anthropologischen Forschung philosophischer, aber auch sozialwissenschaftlicher oder biologischer, insbesondere humanethologischer Ausrichtung in unserem Jahrhundert. In diesem Sinne darf sie als gesichert gelten. Eine unmittelbare und wichtige Entsprechung findet sie in M. Heideggers existentialer Analyse des Daseins, die den Menschen darstellt als Möglichsein, das eingebunden bleibt in die Spannung zwischen, einerseits, dem stets überschießenden Entwurf existentieller Möglichkeiten und, andererseits, dem existential wie faktisch beschränkten Felde für die Verwirklichung solcher Möglichkeiten l8 • 17 Vgl. Kritik der reinen Vernunft, B 373 f., 377, 383, 536 f., 835 f.; auch die wichtige Anmerkung zum Unterschied von Denken und Erkennen ebd., B XXVII; schließlich: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten BA 81, Anm., sowie BA 108 f.
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Die von Ryffel nachgezeichnete Grundstruktur liegt aber auch späteren kommunikations- und argumentationstheoretischen Untersuchungen zugrunde. So einmal als Ermöglichung des einen der beiden von K. O. Apel hergeleiteten grundlegenden regulativen "Prinzipien für die langfristige moralische Handlungsstrategie des Menschen", welches fordert, "in der realen die ideale Kommunikationsgemeinschaft zu verwirklichen"; zum andern als Voraussetzung des von der Habermasschen Diskurstheorie in den Vordergrund gerückten Vorgriffs "auf die ideale Sprechsituation" als wenngleich kontra faktisch unterstellter, so doch notwendiger, weil konstitutiver "Bedingung vernünftiger Rede"19. Besonderes Interesse verdient Ryffels Analyse deshalb, weil sie, anders als auch etwa Kant, mithilft, den Boden für eine allgemein gültige, weil auf den Menschen als empirisches Wesen bezogene Theorie der Verpflichtung zu bereiten, so zwar, daß sie - zunächst jedenfalls ohne metaphysische oder religiöse Setzungen auskommt. Natürlich ist für Ryffel die Sozialität des Menschen ein zentrales Element, wenn er seine Theorie der Verpflichtung ausarbeitet; doch wurzelt diese letztlich in der allgemeinsten Struktur des menschlichen Verhaltens: Die Antizipation - Ryffel ersetzt dieses Wort bald einmal durch den präziseren Ausdruck "Verhaltensentwurf"20 - trägt wegen ihrer grundsätzlichen Distanz zur ihr entsprechenden Verwirklichung für diese den Charakter des Gesollten, damit des Richtigen - einer Instanz, die den auf Verwirklichung Bedachten in Pflicht nimmt. Sie wird, bezogen auf eine Vielzahl gleich bzw. ähnlich gelagerter Fälle möglichen Verhaltens, zur Norm. Als weiterer Faktor in der Konstitution von Verpflichtung spielt mit, daß in einer gegebenen Situation immer wenigstens zwei, in der Regel mehrere unterschiedliche Antizipationen möglich sind. Das nötigt zur Auswahl unter ihnen, die, ihrerseits eine Antizipation, nicht anders als im Hinblick auf Richtigkeit getroffen werden kann (1944, S. 22 f.). Diese Grundstruktur mit ihrer Verpflichtungsfunktion verdeutlichend, können wir sagen: Die Intention jeder Wahl unter verschiedenen Verhaltensentwürfen steht, formal gesprochen, prinzipiell fest, und dies unabhängig davon, ob der einzelne Mensch dem seitens der biologischen Entwicklungstheorie in allen Fällen unterstellten Selbsterhal18 Sein und Zeit, 13. Auf!., Tübingen 1976, S. 42 f. und passim; Vom Wesen des Grundes, 4. Aufl., Frankfurt 1955, S. 46 f. Hierzu interpretierend B. Sitter, Dasein und Ethik. Zu einer ethischen Theorie der Existenz, Freiburg!München 1975, S. 92 f., 102 f. 19 K. O. Apel, Transformation der Philosophie, Bd. II: Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft, Frankfurt 1973, S.431. J. Habermas, Wahrheitstheorien, in: H. Fahrenbach (Hrsg.), Wirklichkeit und Reflexion, Pfullingen 1973, S. 258 f. 20 1944, S. 22; vg!. Anm.7 auf S. 135.
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tungstrieb - den der Mensch ja kraft seiner Selbstbezogenheit ebenfalls reflektieren und überspielen kann - folgt oder nicht. Die Wahl ergreift stets jene Verhaltensmöglichkeit, die unter irgendeinem Aspekt als richtig erscheint; menschliches Verhalten ist grundsätzlich auf Richtiges bezogen. Darin liegt, daß der Mensch das, was er als richtig erkannt hat, nicht zugleich als falsch gelten lassen kann. Weil er sich jedoch in seinem Wahlhandeln als frei erfährt, steht ihm offen, das als richtig Erkannte nicht anzuerkennen, d. h. ihm nicht zu folgen. Das praktisch Richtige tritt ihm daher als Verpflichtung gegenüber; seine Mißachtung trifft ihn als Schuld. Der Mensch - jeder Mensch - ist so aus seinem Wesen heraus verpflichtet und verantwortlich21 • Grundsätzlich kann keiner anders denn als verantwortliche Person, als autonom vorgestellt werden. Diese Einsicht besagt nicht, daß tatsächlich jeder Mensch sich jederzeit als autonome Person verhält, wohl hingegen, daß er - die erforderliche geistige und charakterliche Reife vorausgesetztjederzeit Autonomie verwirklichen kann22 • Der explizite Einbezug der Sozialität des Menschen führt uns einen Schritt weiter: Der Mensch lebt zusammen mit bzw. in Bezug zu Mitmenschen. Verhaltens entwürfe lassen sich darum nicht als isolierte Handlungen auffassen, stehen vielmehr in Konkurrenz mit anderen Entwürfen, was spätestens manifest wird, wenn mehrere Entwürfe sich auf gleiche Gegenstände des HandeIns beziehen. Sollen - um nicht gleich den Hobbesschen Naturzustand heraufzubeschwören - Verwirrung vermieden, gesellschaftliches Dasein überhaupt möglich werden, bedarf es der Vermittlung konkurrierender Entwürfe in einer gemeinsam zu findenden Ordnung. Hierfür sind Normen - wiederum, doch nun auf Meta-Stufe, Verhaltensentwürfe - erforderlich, die darüber befinden, welche Verhaltensentwürfe auf der, wie wir sagen wollen, Grundstufe zulässig sind. Solche Ordnung erzwingt Rechtfertigung, auf beiden Stufen, d. h. aber erneut Bezugnahme auf Richtiges. Der Rechtfertigungsprozeß ist unabschließbar, einmal weil sich die Stufen mit der Ausweitung des gesellschaftlichen Feldes vervielfachen - im Zeitalter weltweiter Interdependenz bis hinauf zur Menschheit als ganzer; zum anderen grundsätzlich, weil Richtigkeit überhaupt zwar stets Ziel bleibt, 21 Man kann diese Darstellung als Interpretation des alten Naturrechtsprinzips "bonum est faciendum et male vitandum" auffassen. Dieses Prinzip erweist sich dann als alles andere denn eine bedeutungslose Leerformel, bringt vielmehr die im Menschen angelegte Normgebundenheit und Verpflichtungsfähigkeit zum Ausdruck. 22 Richtigkeitsbezogenheit ist praktisches Korrelat der existenzialen Struktur der Wahrheitsbezogenheit, wie sie von einem phänomenologischen Ansatz her E. Tugendhat herausgearbeitet hat (Der Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger, Berlin 1967, S. 316-327). über die wiederum praktischen Konsequenzen der Wahrheitsbezogenheit des Menschen vgl. Sitter (FN 18), S.116 -131.
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sich jedoch angesichts der Endlichkeit und Geschichtlichkeit des Menschen, insbesondere der sich stets wandelnden Umstände seines Daseins, nie ein für allemal bewerkstelligen läßt. Damit bleibt das .. absolut Richtige"23 für konsequentes Denken Verpflichtung zur ständigen Suche nach dem ..hie et nune" praktisch Richtigen, das hingegen niemals beanspruchen darf, die Idee des absolut Richtigen voll und ganz zu realisieren. Die Idee des absolut Richtigen und die in ihr liegende unbedingte Verpflichtung sowie der damit gesetzte Ansporn zu gemeinsamem Entwurf und Verwirklichung des jeweils Richtigen machen das aus, was Ryffel den Naturrechtslehren der Tradition, die auf materiale normative Bestimmungen höchster sittlich-politischer Prinzipien zielen, als unverlierbare Naturrechtsidee entgegensetzt24 • Das Thema, das Ryffel 1944 anschlug, ist für sein weiteres Denken maßgebend geblieben. Er hat es entfaltet, variiert, in Bezug zu anderen zeitgenössischen Denkmodellen gesetzt, auf seine Folgen nicht allein für politische Philosophie, sondern auch für die freiheitlich-demokratische Praxis untersucht. Auf die Naturrechtsidee ist er 1956 nochmals ausdrücklich zurückgekommen (vgl. FN 3). Hier nimmt er, wenngleich unter Beibehaltung der in der universalen Verhaltenslehre herausgearbeiteten Grundstruktur menschlichen Verhaltens (S.522), eine Analyse der Struktur des Rechts zum Ausgangspunkt. Wie für andere, gehört für Ryffel zur Struktur des Rechts immer Anmaßung des Richtigen25 , damit eine Zumutung an die Rechtsgenossen, faktische Regelungen zu akzeptieren, zu legitimieren, zu kritisieren und zu verändern (S.499-503). "Das Richtige ist der Sprengstoff des Rechts" (S. 506) - dieser Satz bildet den Tenor der transzendental reflektierenden Darlegungen, die, aufbauend auf dem Faktum des Wertpluralismus in Gesellschaften, welche gemeinsamer, immer jedoch aufgegebener Ordnung bedürfen, bis zur Einsicht in die notwendige Unterstellung eines .. Gemeinsamen" (eines .. humanen Grundes", S. 521) reicht, das als absolutes Ziel die Bewältigung der Konflikte konkurrierender Wert- bzw. Grundhaltungen als ohne Autoritarismus und repressive Gewalt möglich denken läßt (S.519, 524). Dieses Gemeinsame bleibt für jeden faktischen Richtigkeitsanspruch zugleich unverfügbare und transzendente Verpflichtung; im Rückgang auf es als Grund möglicher Verständigung muß faktischer 23 Für die Diskussion und einen Vorschlag zur Auflösung der Schwierigkeiten, die sich mit der Rede vom "absolut Richtigen" verbinden, vgl. B. Sitter, Plädoyer für das Naturrechtsdenken. Zur Anerkennung von Eigenrechten der Natur, Basel 1984, Abschnitt 1.3. 24 Vgl. 1944, S. 23-26, 40 f.; 109-129, bes. 114. 25 Drei Beispiele für viele: Larenz (FN 14), S. 13, 18 f.; Marcic (FN 5), S. 976 f.; R. Zippelius, Das Wesen des Rechts, 2. Aufl., München 1969, S. 66 f.
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Wertpluralismus überwunden werden. Der Fortgang zur Forderung absoluter Richtigkeit ist auch hier wiederum notwendig. "Der Mensch strebt letztlich überall zur Vollendung und zum Einklang: zum Einklang seiner selbst und zum Einklang mit der Welt und den Mitmenschen. Dies ist der im Wesen des Menschen begründete unverlierbare Sinn des Naturrechts, dessen eigentliche Intention deshalb aus dem Wesen der Sache gerechtfertigt ist."26
5. Einbezug der Natur in das Naturrechtsdenken Seit Descartes' für lange Zeit exemplarisch gewordener Trennung von Geist und Körper konzentriert sich das Naturrechtsdenken europäischer Herkunft auf den Menschen. Natur - ich will unter diesem Begriff im folgenden an das verstehen, was von selbst, d. h. ohne Zutun des Menschen existiert, alles also, was dem Menschen vor seiner kulturellen Tätigkeit und in diesem Sinne unverfügbar vorgegeben ist - Natur wird vorwiegend zum Gegenstand der Erkenntnis und der Beherrschung, die - von Bacon über Marx zu Marcuse und den unreflektierten Technologen unserer Tage - als idealerweise total vorgestellt wird, um durch sie das größtmögliche, ja das endgültige Glück der ganzen Menschheit zu sichern. Daß der Mensch immer Teil der Natur bleibt, von da her sich nicht zu deren absolutem Herrscher schickt, sondern wenn auch als spezifisch ausgestattetes, so doch als partielles System in einem umfassenden ökologischen Systemkomplex existiert - dies wird im Naturrechtsdenken wie überhaupt in der Ethik nicht bedacht. So kann nicht verwundern, daß es im Gefolge der grundsätzlichen Kritik am theoretischen wie praktischen Vermögen des von aller Transzendenz abgelösten Menschen, insbesondere im Spiegel der vielfältigen Ideologiekritik und im Zusammenhang mit dem Vorherrschen positivistischer Grundhaltung in der Wissenschaft gerade auch vom Recht, seine frühere Bedeutung verliert, sieht man ab von der einschlägigen Tradition in der Katholischen Kirche. Auch die im Anschluß an den Zweiten Weltkrieg und vorab im 26 (1956) 1972, S.523. Eine Parallelstelle aus Kants Schlußanmerkung zur "Grundlegung der Metaphysik der Sitten" drängt sich hier geradezu auf: "Nun ist es ein wesentliches Prinzip alles Gebrauchs unserer Vernunft, ihr Erkenntnis bis zum Bewußtsein ihrer Notwendigkeit zu treiben. '" Es ist aber auch eine eben so wesentliche Einschränkung eben derselben Vernunft, daß sie weder die Notwendigkeit dessen, was da ist, oder was geschieht, noch dessen, was geschehen soll, einsehen kann, wenn nicht eine Bedingung, unter der es da ist, oder geschieht, oder geschehen soll, zum Grunde gelegt wird. Auf diese Weise aber wird, durch die beständige Nachfrage nach der Bedingung, die Befriedigung der Vernunft nur immer weiter aufgeschoben. Daher sucht sie rastlos das Unbedingtnotwendige, und sieht sich genötigt, es anzunehmen, ohne irgend ein Mittel, es sich begreiflich zu machen; glücklich gnug, wenn sie nur den Begriff ausfindig machen kann, der sich mit dieser Voraussetzung verträgt" (BA 127 f.).
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Hinblick auf die inhumanen Exzesse faschistischen Umgangs mit dem Recht27 in Gang gekommene Rückbesinnung auf die Unverzichtbarkeit naturrechtlicher Reflexion bleibt anthropozentrisch geprägt. Seit wenigen Jahren erst ist ein Umdenken aufgekommen, das, wenn nicht ausgelöst, so doch mitgetragen wird von der Erfahrung, daß die Menschheit im Begriffe ist, die natürlichen Bedingungen ihres Daseins in weltweitem Ausmaß und zumindest auf sehr lange Zeit hinaus zu vernichten. Angesichts dieser Sachlage muß das Naturrechtsdenken, weil es sich an der Idee des absolut Richtigen orientiert, daraufhin befragt werden, ob länger richtig sei, es ausschließlich mit naturrechtlicher Rechtfertigung von Normen für den zwischenmenschlichen Bereich zu befassen. Diese Frage ist zu verneinen. Zur Stützung dieser Behauptung möchte ich drei Argumente ins Feld führen. Das erste Argument knüpft an H. L. A. Harts nur scheinbar bloß naturalistischen Entwurf eines "minimum content of natural law" an28 • Hart fragt, unter Voraussetzung bestimmter empirischer Eigenschaften des Menschen, nach jenen inhaltlichen Normen, die jede Gesellschaft anerkennen muß, soll menschliches Überleben möglich sein. Diese Normen 27 Wir haben allen Grund, nicht zu verdrängen, daß in unserer Zeit nicht minder dringender Anlaß gegeben ist, die Unverzichtbarkeit des Naturrechts zu bedenken. Nur wenn wir dies tun und uns darüber klar zu werden suchen, wie weit wir selber in solch gegebenen Anlaß verstrickt sind, scheint mir der Hinweis auf ein historisches unsittliches Geschehen möglich, ohne daß wir ins Pharisäerhafte abgleiten. 28 Siehe The Concept of Law, 10. Auf!., Oxford 1979, S. 189 ff. Von einem bloß scheinbar naturalistischen Entwurf ist m. E. darum zu sprechen, weil Hart zwar gestützt auf deskriptiv erhobene natürliche Eigenschaften des Menschen darlegt, welchen inhaltlichen Bedingungen ein jedes Rechtssystem genügen muß, für die faktische Annahme und damit Geltung dieser Bedingungen indessen auf den Überlebenswillen des Menschen rekurriert (187 f.). Mit dem Überlebenswillen wird - gleichgültig, ob bloß hypothetisch - ein Faktor ins Spiel gebracht, der sich zwar auch beobachten und insofern als natürlich gegeben ansehen läßt, welcher indessen dem reflexionsfähigen Menschen, der seinen Tod, aus welchen Gründen immer, wollen und herbeiführen kann, zur Disposition steht. Auch wenn der Entschluß zum Leben faktisch nicht ständig neu ge faßt wird, ist er doch existential unausgesetzt möglich, kann also jederzeit aktualisiert werden, wird es auch immer wieder. Der Überlebenswille des Menschen hängt, so betrachtet, zumindest auch von einer Wertentscheidung, einer Wahl ab, ist also an Richtigkeit überhaupt orientiert und enthält damit ein normatives, nicht länger nur naturalistisch aufklärbares Element. Ganz deutlich wird dies, wenn K. Jaspers, bezogen auf den Menschen, von der "Würde, sich im Äußersten selber den Tod geben zu können", spricht (in: Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, 1962, S.474, zit. bei R. P. Horstmann, Menschenwürde, in: J. Ritter / K. Gründer [Hrsg.], Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. V, Basel/Stuttgart 1980, Sp. 1126). Für eine Interpretation der Möglichkeit des Todes als Siegel der endlichen Freiheit des Menschen, die an M. Heideggers Analytik des Daseins anknüpft, vgl. Sitter (FN 18), S. 236 f. sowie die im Index unter dem Stichwort "Tod" verzeichneten Stellen.
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erweisen sich, wird die These des allgemeinen überlebenswillens akzeptiert, als unverfügbar und notwendig, sind insofern Naturrecht. Ich verzichte darauf, sie hier zu referieren, lege dagegen Gewicht auf die Feststellung, daß für das überleben des Menschen nicht, wie man das aus Harts Darlegungen schließen könnte, allein gesellschaftliche, sondern ebensosehr, ja primär natürliche Bedingungen maßgebend sind. Das klingt bei Hart selber deutlich an, wenn er sich zum Ziele setzt, "über einige ganz offensichtliche Allgemeinheiten bezüglich der menschlichen Natur und der Welt, in der die Menschen leben", nachzudenken, um zu naturrechtlichen Verhaltensprinzipien vorzustoßen, "die ihre Grundlage in elementaren Wahrheiten bezüglich menschlicher Wesen, deren natürlicher Umwelt und Strebensziele finden"29. Hart selber läßt sich nicht weiter über die durch die Natur gesetzten Existenzbedingungen aus. Das ist indessen angesichts der Verletzbarkeit der Natur, ja deren notorischer und fortschreitender Zerstörung durch die zivilisatorische Tätigkeit des Menschen offensichtlich nicht richtig. Setzen wir mit Hart - und mit der biologischen Verhaltensforschung - den überlebenswillen als gut bewährte Hypothese voraus, dann müssen wir heute fragen, inwiefern sich aus der ökologischen Verflochtenheit des Menschen, der sich mit in der bisherigen Geschichte unerhörten Machtmitteln ausgestattet hat, Verhaltensnormen herleiten lassen, die nicht weniger unbeliebig sind als jene sozialen Regelungen, welche Hart zum Mindestgehalt des Naturrechts zählt. Es würde sich bei diesen Regelungen um Normen handeln, die in jeder Gesellschaft und in der ganzen Menschheit durchgesetzt werden müßten - um Naturrecht. Das zweite Argument betrifft den eben genannten Machtzuwachs, welchen der Mensch seinen weitreichenden wissenschaftlichen Erkenntnissen und der auf diesen aufbauenden technischen Kultur verdankt. Geht man einmal davon aus, daß der Mensch, solange sich seine Eingriffe in natürliche Zusammenhänge nur lokal und zeitlich eingeschränkt auswirkten, die Natur nicht eigens in die Reflexion seiner sittlichen Verantwortung aufzunehmen brauchte - eine Annahme, die an sich problematisch bleibt und faktisch bekanntlich, jedenfalls in auße;1"europäischen Kulturkreisen, durchaus nicht immer zutrifft -, so erweist sich diese Zurückhaltung heute als offensichtlich nicht länger richtig. Wir haben unsere natürliche Umwelt als Inbegriff von miteinander 29 Harts Text liest sich im Original folgendermaßen: "Reflection on some very obvious generalizations - indeed truisms - concerning human nature and the world in which men live, show that as long as these hold good, there are certain rules of conduct which any social organization must contain if it is to be viable" (188). "Such universally recognized principles of conduct which have a basis in elementary truths concerning human beings, their natural environment, and aims, may be considered the minimum content of Natural Law" (189).
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vielfältig verknüpften Systemen aufzufassen gelernt, in welchem sich Eingriffe eben wegen der ökologischen Vernetzung regional und global niederschlagen. Sie verstärken sich gegenseitig, ohne daß wir das Ausmaß solcher Synergie und Kumulation immer vorauszusehen, zu kontrollieren und zu begrenzen vermöchten. Die Folgen unseres wissenschaftlich angeleiteten, vorwiegend utilitaristisch bestimmten technischen HandeIns wirken sich langfristig aus; sie stellen, im äußersten Fall, die Existenz der natürlichen Umwelt überhaupt in Frage. Noch wenn wir nur darauf aus sind, für uns und die uns folgenden Generationen die natürlichen Grundlagen für ein lebenswertes, ja für ein Dasein schlechthin zu erhalten, müssen wir Natur als solche in unseren Verantwortungsbereich einbeziehen. Dazu verpflichtet uns unsere Vernünftigkeit, unsere Wahrheitsbezogenheit. Im unkontrollierten Verfolgen unserer kurzfristigen und vordergründigen Interessen geraten wir mit der Natur in einen ernsthaften Konflikt, der sich nicht wieder nur im Rekurs auf unsere eigenen geschichtlichen Interessen lösen läßt, indem wir vielmehr die Natur als eigene, von uns unabhängige Instanz anerkennen, d. h. bereit sein müssen, unser Verhalten zu ihr Normen zu unterstellen, die für uns nicht länger beliebig verfügbar sind - die mithin naturrechtlichen Charakter tragen und der Natur eigene Rechte zuerkennen. Das gilt auch dann, wenn wir es sind, die diese Normen erkennen und zu positiver Geltung bringen3O • Das dritte Argument geht von der schlichten, wiewohl zeitweise anscheinend verschütteten Erkenntnis und Erfahrung aus, daß der Mensch so in seine natürliche Umwelt hineingestellt ist, daß er auf Gedeih und Verderben mit ihr verbunden bleibt. Was immer er ist, sie gewährt ihm die hierfür notwendigen natürlichen Bedingungen; so daß denn auch die höchsten und am weitesten gesteckten humanen Ziele zerfallen, so30 Das Argument, gesteigertes Wissen und Können impliziere vermehrte und qualitativ veränderte Verantwortung, wurde in verschiedene Richtungen ausgearbeitet, immer aber mit dem Ziel, die enorm gewachsene Verfügungsrnacht des Menschen an ihre unverfügbaren Grenzen zu binden; so in den Beiträgen zu D. Birnbacher (Hrsg.), Ökologie und Ethik, Stuttgart 1980 (F. Fraser-Darling, L. H. Tribe, M. Rock, D. Birnbacher, J. Feinberg, R. Spaemann). Sodann bei H. Jonas, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frankfurt a. M. 1979; ders., Auf der Schwelle der Zukunft: Werte von gestern und die Welt von morgen?, in: Was für morgen lebenswichtig ist, Freiburg/Basel/Wien 1983, S.5-32; H. Lenk, Erweiterte Verantwortung. Natur und künftige Generationen als ethische Gegenstände, in: Das Naturrechtsdenken heute und morgen (FN 2), S.831846; ders.; Verantwortung für die Natur. Gibt es moralische Quasirechte von oder moralische Pflichten gegenüber nichtmenschlichen Naturwesen?, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 1983, H.3, S. 1-17; R. Maurer, Ökologische Ethik?, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 1982, H.l, S.17-39; K.-M. Meyer-Abich, Vom bürgerlichen Rechtsstaat zur Rechtsgemeinschaft mit der Natur, in: Scheidewege, 12 (1982), S. 581-605; R. Spaemann, Die Aktualität des Naturrechts, in: Naturrecht in der Kritik (FN 7), Mainz 1973, S.262 -276; G. M. Teutsch, Tierversuche und Tierschutz, München 1983.
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bald die natürliche Grundlage, auf der allein sie sich aufbauen und der Verwirklichung entgegenführen lassen, stark beeinträchtigt oder verschwunden ist. Nie wird der Mensch zum Gott, der aus dem Nichts erschüfe; nur umzuwandeln vermag er, was ihm in irgendeiner Weise schon immer vorgegeben ist. Auf die "Herbeiführung eines status quo minus" läuft letztlich alles hinaus, was er, in die Natur eingreifend, unternimmt3l • Diese unaufhebbare Abhängigkeit von den natürlichen Bedingungen seiner Freiheit bietet nur einen, freilich prominenten Aspekt seiner wesentlichen Endlichkeit. Ihn unbeachtet zu lassen, bedeutet Aufhebung bereits der Möglichkeit von Freiheit, Verantwortung und Glück. Angesichts der so gearteten "Stellung des Menschen im Kosmos" ist es offensichtlich nicht richtig, wenn der Mensch sich verhält, als stünden ihm alle nichtmenschlichen Naturwesen für die Stillung seiner wie immer gearteten Bedürfnisse zu beliebiger Verfügung. Es ist falsch, wenn er mit dem, was ihm natürlicherweise vorgegeben ist, so umspringt, als vermöchte er es zu schaffen oder auch nur zu ergänzen. Wie weit er auch sein wissenschaftliches, technisches und ästhetisches Können vorantreibt, niemals ist ein Kunstprodukt einem Naturwesen gleichzusetzen; im Unterschied zu diesem bleibt jenes ganz in die Verfügungsmacht des Menschen gestellt32. Auch wenn er es usurpieren zu können glaubt, kommt dem Menschen doch nie das Recht zu, mit der Natur nach Belieben zu verfahren. Er erfährt dies spätestens dann, wenn diese sich seinem Zugriff verweigert, indem sie zugrunde geht und damit auch ihm die Existenzmöglichkeit entzieht. Das "letzthinnige Veto ... gegen die Utopie" liegt unabänderlich in der Macht der Naturll. Doch nicht darauf kommt es mir 31 R. Spaemann, Technische Eingriffe in die Natur als Problem der politischen Ethik, in: Scheidewege, 9 (1979), S.488 (wieder abgedruckt in: Ökologie und Ethik [FN 30]). Spaemann wird auch hier sehr konkret: Was insgesamt lebenswert oder -unwert ist, können wir nicht entscheiden, weil wir immer an unsere Kenntnis, unser Wissen gebunden bleiben. Das führt etwa dazu, daß es uns nicht erlaubt ist, im Hinblick auf kommende Generationen, irgend eine Tierart zu opfern. "Da wir selbst keine natürlichen Arten neu schaffen können, haben wir die Pflicht, die natürlichen Arten in einer für die Arterhaltung erforderlichen Anzahl von Exemplaren weiterzugeben" (489 f.). Und wir dürfen nicht vergessen: "Das Leben ist älter als der Mensch. Er kann Leben bis heute nur vernichten, nicht schaffen" (488). Die "Fortdauer der Kultur hängt daran" , daß bei der durch den Menschen herbeigeführten kulturellen Transformation des natürlich Vorgegebenen "keine irreversiblen Veränderungen des natürlichen Substrats dieser Symbiose vorgenommen werden" (488). 32 Birnbacher kann ich nicht zustimmen, wenn er Artefakt und Naturwesen bezüglich ihres Selbstzweck-Charakters auf ein und dieselbe Stufe hebt. Vgl. ders., Sind wir für die Natur verantwortlich?, in: Ökologie und Ethik (FN 3D),
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jetzt an, wie andere zu zeigen, daß der Mensch schon nur aus Eigennutz und, etwas weiter gedacht, im Hinblick auf seine Nachkommen gehalten ist, pfleglich mit der Natur umzugehen; sondern darauf, vor Augen zu führen, daß die niemals ursprünglich verfügbare Vor- und Mitgegebenheit der nichtmenschlichen Naturwesen diesen eine Eigenständigkeit vermittelt, welche sie auch außerhalb menschlicher Zwecksetzungen zu einem "Zweck an sich selbst" macht. Nicht anders als der Mensch selber, so kann man, Heideggers Daseinsanalytik abwandelnd, sagen, sind sie in ihr "Dasein" geworfen34 ; insofern verbindet sie mit jenem eine ursprüngliche Gleichheit, aus der sich ihr Existenzrecht als allen menschlichen Eigeninteressen gegenüber grundsätzlich prioritär dartun läßt. Dieser Grundsatz gilt auch dann noch, wenn zugleich feststeht, daß er verletzt werden muß, weil der Mensch nicht anders als unter Nutzung der nichtmenschlichen Naturwesen existieren kann. Es ist falsch, seine Geltung mit dem Hinweis auf dieses Faktum einfach aufzuheben. Weil er trotzdem gilt, setzt er menschlicher Nutzung unverfügbare, in diesem Sinne naturrechtliche Grenzen. Freilich stürzt er den Menschen auch in Konflikte. Sich diesen zu entziehen, gelingt indessen nur um den Preis der Wahrhaftigkeit und - im Hinblick auf die Richtigkeitsbezogenheit des Menschen - der Rechtschaffenheit. Es ist mithin falsch, wenn der Mensch die Spannung verkürzt oder wegdiskutiert, in der allein er human da zu sein vermag: als "Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will", also auf Kosten anderen Lebens, anderer Naturwesen, und zugleich verantwortlich für diese - in der "Selbstentzweiung des Willens zum Leben", der sich selber und anderes Leben nur erzeugt, schützt und bewahrt, indem er anderes Leben, anderes nichtmenschliches Seiendes verbraucht3s • Es ist für den auf Wahrheit und Richtigkeit bezogenen Menschen offensichtlich nicht richtig, sich aus der mit dieser einsehbaren Spannung gegebenen Verantwortung hinauszustehlen, wenn auch der Umfang solcher Verantwortung nicht leicht und nie endgültig abzuschätzen ist und es mühsam, unbequem und schwer sein mag, sie auf sich zu nehmen und zu ertragen.
33 Jonas, 1979 (FN 30), S.332. So ist denn zuletzt nicht wichtig, was der Mensch kann, sondern was die Natur erträgt; ebd., zit. bei Lenk (FN 30), S.840. 34 Diese Konstruktion bei A. Burckhardt, Kant, Wittgenstein und das Verhältnis der relativen Ethik zur absoluten: Zur Begründung einer ökologischen Ethik, in: Zeitschrift für Evangelische Ethik, 27 (1983), S.417. 3S A. Schweitzer, Kultur und Ethik, Kap. XXI, in: Gesammelte Werke in fünf Bänden, hrsg. von R. Grabs, Bd. 11, Zürich o. J., S. 375 ff., bes. S.377, 381, 387. Vgl. Bd. I, S. 243 f.
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6. Erste Vberlegungen zu einer naturrechtlichen Regelung menschlichen Umgangs mit der Natur Mit dem dritten der Argumente, die verdeutlichen sollten, inwiefern es nicht länger richtig ist, das Naturrechtsdenken nicht auch auf das Verhältnis des Menschen zur Natur als solcher auszuweiten, haben wir das Feld für eine naturrechtliche Regelung dieses Verhältnisses bereits betreten. Ohne es schon nach allen Richtungen ausmessen zu können, möchte ich doch drei seiner Aspekte, die mir besonders wichtig scheinen, herausheben und diskutieren. Der erste Aspekt betrifft die Gleichheit, die uns mit allem nichtmenschlichen Seienden, so weit es sich uns erschließt, verbindet. Sie läßt sich, ontologisch, als Gleichheit in der Existenzweise im Sinne der "Geworfenheit" auffassen, naturgeschichtlich als Gleichheit im Existenzgrund. Es gibt, außerhalb menschlicher Wertsetzungen, keinen von Natur aus einsichtigen Grund, die Existenz des einen Seienden jener eines anderen vorzuziehen36 ; auch das evolutionstheoretische Prinzip der Selektion verhindert nicht Existenz als solche, sondern wirkt, auf Existentes immer schon Bezug nehmend, als Optimierungsprinzip, also existenzfördernd. Wir können darum sagen, daß grundsätzlich jedem Seienden ein gleiches Existenzrecht zukomme, wobei unerheblich bleibt, ob der Mensch ein solches Recht explizit anerkennt oder nicht. Daß die verschiedenen Seienden darüber hinaus ganz unterschiedlich konstituiert und ausgestattet sind, daß insbesondere der Mensch kraft seiner Befähigung zu vernünftiger Einsicht und Moralität eine Sonderstellung unter allem Seienden innehat, wird damit so wenig bestritten wie seine besondere Verantwortlichkeit, die aus eben dieser Sonderstellung resultiert, oder eben die Notwendigkeit, anderes Seiendes zu nutzen, um das eigene Dasein zu fristen. Verständnis für die grundsätzliche Eigenständigkeit alles Seienden und die diesbezügliche Gleichheit nötigt nun aber gerade den einsichts fähigen und verantwortlichen Menschen, sein Verhalten zu nichtmenschlichem Seienden im Lichte jener Gleichheit zu normieren. Das hat zur Folge, daß er den Gleichheitsgrundsatz, welcher fordert, "Gleiches entsprechend seiner Gleichheit auch gleich, und Verschiedenes entsprechend seiner Verschiedenheit auch verschieden zu 36 Vgl. hierzu Schweitzer, der zwischen den verschiedenen Stufen des Lebens keine Wertunterschiede anerkennen will. Wo es sie gibt, sind sie Ausfluß von Beliebigkeit und Willkür seitens des Menschen, der für sich den Status eines Maßes aller Dinge beansprucht; vgl. FN 35, Bd. II, S. 389. Umfassender, weil allgemein formuliert und nicht nur auf Lebendes bezogen, dafür differenzierter, schreibt F. Böckle, daß Werte immer kontingent bleiben, auch die selbsterklärte Vorrangstellung des Menschen. "Eine bloße Prioritätenerklärung vor anderen bekannten Werten hebt die Kontingenz eines Wertes nicht auf." Vgl. Wiederkehr oder Ende des Naturrechts?, in: Naturrecht in der Kritik (FN 7), S.308.
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