Zeitung - Medium mit Vergangenheit und Zukunft: Eine Bestandsaufnahmne. Festschrift aus Anlass des 60. Geburtstages von Hans Bohrmann [Reprint 2015 ed.] 9783110954890, 9783598114557


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German Pages 277 [280] Year 2000

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Table of contents :
Vorwort der Herausgeber
RETROSPEKTIVE
Unfrisierte Erinnerungen eines d'Ester-Schülers
HISTORISCHE PRESSEFORSCHUNG UND PRESSEARCHIVIERUNG
Heines Tagesberichte für die „Allgemeine Zeitung“. Ein Beitrag zu Geschichte und Bestimmung der Reportage
Pressepolitik am Vorabend des Zweiten Weltkriegs
Die archivierte Zeitung. Zu einer Entwicklungstendenz: Quellenwert versus Medium
Zeitungsarchivierung und die neuen Techniken
ZEITUNGEN: KULTURELLES MEDIUM UND FAKTOR SOZIALER ENTWICKLUNG
Zeitungskultur in Europa. Zum Aufbau eines internationalen Forschungsnetzwerkes zur europäischen Kulturanalyse am Quellenmaterial Zeitung
Technik und ihre publizistische Karriere
Zeitungsmärkte: Ökonomische Grundlegung zentraler Kommunikations- und Kulturräume
Zeitgeber Zeitung. Über ein unterschätztes Medium
Von der Lese- zur Wissensgesellschaft: Die Notwendigkeit eines Diskurses über die Kultur im digitalen Zeitalter. Prolegomena zum Thema „Zeitunglesen - Kulturen der Interpretation“. Ein Essay
PRESSEFORSCHUNG: FORSCHUNGSFELDER UND ZUKUNFTSPERSPEKTIVEN
Gerichtsberichterstattung als Arbeitsfeld der Tageszeitungen
Zeitungen und gesellschaftliche Institutionen. Empirische Analyse und theoretische Reflexion am Beispiel der Wochenzeitung „Das Parlament“
Geschlechterforschung im Bereich der Medien: Kanadische Erkenntnisse
Zeitungsverlage und Zeitungen: Strategien der Modernisierung
Qualitätsmanagement als Zukunftsstrategie für Tageszeitungen
Zeitungsprognosen und Zeitungsentwicklung - historisch und aktuell
Zeitung und Zeitungsforschung - Entwicklung und Perspektiven
ANHANG
Vita von Hans Bohrmann
Personalbibliographie Hans Bohrmann
Autorenverzeichnis
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Zeitung - Medium mit Vergangenheit und Zukunft: Eine Bestandsaufnahmne. Festschrift aus Anlass des 60. Geburtstages von Hans Bohrmann [Reprint 2015 ed.]
 9783110954890, 9783598114557

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Zeitung Medium mit Vergangenheit und Zukunft Eine Bestandsaufnahme

Festschrift aus Anlaß des 60. Geburtstages von Hans Bohrmann

Herausgegeben von Otfried Jarren, Gerd Q Kopper und Gabriele Toepser-Ziegert

K G Säur München 2000

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Zeitung - Medium mit Vergangenheit und Zukunft: eine Bestandsaufnahme ; Festschrift aus Anlaß des 60. Geburtstages von Hans Bohrmann / hrsg. von Otfried Jarren .... - München : Saur, 2000 ISBN 3-598-11455-9

Θ Gedruckt auf säurefreiem Papier / Printed on acid-free paper © 2000 by Κ. G Saur Verlag G m b H & Co. K G München Part of Reed Elsevier Alle Rechte vorbehalten / All rights strictly reserved Jede Art der Vervielfältigung ohne Erlaubnis des Verlags ist unzulässig Foto: © Jürgen Wassmuth, Dortmund Druck/Bindung: Strauss Offsetdruck. Mörlenbach ISBN 3-598-11455-9

INHALT

Vorwort der Herausgeber

7

RETROSPEKTIVE Kurt Koszyk Unfrisierte Erinnerungen eines d'Ester-Schülers

13

HISTORISCHE PRESSEFORSCHUNG UND PRESSEARCHIVIERUNG Horst Pöttker Heines Tagesberichte für die „Allgemeine Zeitung". Ein Beitrag zu Geschichte und Bestimmung der Reportage

27

Gabriele Toepser-Ziegert Pressepolitik am Vorabend des Zweiten Weltkriegs

47

Gert Hagelweide Die archivierte Zeitung. Zu einer Entwicklungstendenz: Quellenwert versus Medium

59

Günther Wiegand Zeitungsarchivierung und die neuen Techniken

67

ZEITUNGEN: KULTURELLES MEDIUM UND FAKTOR SOZIALER ENTWICKLUNG Gerd G. Kopper Zeitungskultur in Europa. Zum Aufbau eines internationalen Forschungsnetzwerkes zur europäischen Kulturanalyse am Quellenmaterial Zeitung

73

Manfred Rühl Technik und ihre publizistische Karriere

93

Jürgen Heinrich Zeitungsmärkte: Ökonomische Grundlegung zentraler Kommunikations- und Kulturräume

105

Claus Eurich Zeitgeber Zeitung. Uber ein unterschätztes Medium

115

Ulrich Pätzold Von der Lese- zur Wissensgesellschaft: Die Notwendigkeit eines Diskurses über die Kultur im digitalen Zeitalter. Prolegomena zum T h e m a „Zeitunglesen - Kulturen der Interpretation". Ein Essay

125

PRESSEFORSCHUNG: FORSCHUNGSFELDER UND ZUKUNFTSPERSPEKTIVEN

U d o Branahl Gerichtsberichterstattung als Arbeitsfeld der Tageszeitungen

135

Otfried Jarren Zeitungen und gesellschaftliche Institutionen. Empirische Analyse und theoretische Reflexion am Beispiel der Wochenzeitung „Das Parlament"

147

Gertrude Joch Robinson Geschlechterforschung im Bereich der Medien: Kanadische Erkenntnisse

163

Klaus-Dieter Altmeppen Zeitungsverlage und Zeitungen: Strategien der Modernisierung

179

Vinzenz Wyss Qualitätsmanagement als Zukunftsstrategie für Tageszeitungen

193

Walter J . Schütz Zeitungsprognosen und Zeitungsentwicklung - historisch und aktuell

209

Jürgen Wilke Zeitung und Zeitungsforschung - Entwicklung und Perspektiven

231

ANHANG Vita von Hans Bohrmann

247

Wilbert Ubbens Personalbibliographie H a n s Bohrmann

251

Autorenverzeichnis

273

Vorwort

An sich bedürfte die gegenwärtig hier und dort überraschende wissenschaftliche und fachliche Akzentuierung der Tageszeitung als Themengegenstand sicher keiner Rechtfertigung. Doch in der gegenwärtigen Epoche der .Informations- und Kommunikationsrevolution' scheint das Medium Tageszeitung keine Rolle mehr zu spielen und technisch und wettbewerblich bereits durch die elektronischen Medien und neue Informationsdienste der globalen Netze auf Dauer überholt. Vieles scheint in der Tat dafür zu sprechen. Die naiv anmutende Gegenmeinung einiger Wissenschaftler mag sich angesichts der verbreiteten Gewißheit vom Ende der Tageszeitung eher unbedeutend ausnehmen. Deshalb sollten Zweifler vielleicht auf das Urteil eines Mannes hören, der in besonderem Maße durch seine politischen Entscheidungen an der globalen ökonomischen und gesellschaftlichen Durchsetzung der Strategien und Marktbedingungen der .Informationsrevolution' mitgewirkt hat. Er sieht die Lage der Tageszeitungen als die eines Mediums mit bedeutenden Zukunftschancen. Es ist das Urteil eines Mannes, der aufgrund seiner Funktion, seines funktionalen Umfeldes, seiner administrativen Stellung und der Ressourcen, auf die er zurückgreifen kann, als der weltweit bestinformierte Entscheidungsträger zu gelten hat. Dieser Mann bekennt: über die Welt hält er sich außer durch Aktenlektüre, durch laufende Gespräche mit der politischen Elite weltweit und mit seinen Beraterstäben ausschließlich durch Tageszeitungen und einen kurzen abendlichen Blick in das laufende Programm von C N N informiert. Er bekennt, ohne Tageszeitungen wäre er in seiner Urteilsbildung hilflos. So der US-amerikanische Präsident, William J. Clinton, am 13. April 2000 vor der American Society of Newspaper Editors in Washington, D.C. Am Ende einer Fragerunde mit den Journalisten begründete er seine Sicht der Dinge wie folgt (in einer freien und zusammenfassenden Ubersetzung; Auslassungen von Zwischenpassagen wurden nicht eigens gekennzeichnet1): „Heute ist es schwierig eine Zeitung zu publizieren, weil der Wettbewerb mit den Fernsehnachrichten, mit den Nachrichtenquellen des Internet, mit Hörfunknachrichten geführt werden muß - und darüber hinaus gegen eine Woge an Unterhaltung, die ständig gegen die reinen Nachrichten anbrandet. Dies vor einem Hintergrund, in dem alle bisherigen Grenzlinien nicht mehr gelten, sowohl die der Technologien wie auch die der inhaltlichen Kategorien. - Es gibt dennoch eine spezielle Rolle für die altmodischen Tageszeitungen. Eine Rolle, die gleich-

Fundstelle: http://www.whitehouse.gov/library/ThisWeek.cgiPtype = p&date = 6 & b r i e f i n g = 2 Ermittelt am 19.4.2000.

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Vorwort

zeitig von einem Wandel begleitet wird, in dem die Zeitungen übersichtlicher werden, lesbarer und überdies zusätzlich ein Angebot im Internet. Es spricht viel dafür in der Richtung dieses Wandels die Zukunft der Zeitung zu sehen." „Die gegenwärtige Kommunikationsrevolution, die man im Uberblick insgesamt durchaus als positiv bewerten kann, enthält das Risiko, für das Publikum mehr Information als jemals zuvor vorhanden war, aufzubereiten - allerdings ohne hinreichende Perspektive oder Bezugssystem, ohne hinreichende Ausgewogenheit und entsprechenden Hintergrund - wobei die Reihenfolge dieser Defizite beliebig ist." „Das am stärksten beunruhigende Problem, in der gegenwärtigen Kommunikationsland· schafi, besteht dann, sich vorzustellen, die Bevölkerung besitze Informationen in einem Maße, das nicht mehr überboten werden kann, aber es fehlt an einer Methode herauszufinden, was richtig und was falsch ist. Dies wird noch gesteigert durch das weitergehende Problem, eine Information adäquat einzuordnen, selbst wenn man weiß, die Ausgangsinformation ist durchausrichtig.Dies stellt die zentrale Herausforderung für alle Medienschajfenden dar vor dem Hintergrund einer explosionsartigen Vermehrung der Medienkanäle und der wettbewerblichen Vielfalt im Informationszeitalter." „ Tageszeitungen werden wieder ein zunehmendes Gewicht bekommen; dafür gibt es einen besonders eindrucksvollen Grund: das meiste, was die Bevölkerung zum weiteren Verlauf dieses neuen Jahrhunderts zur Kenntnis zu nehmen hat, wird sich auf Fortschritte in der Entwicklung von Wissenschaft und Technologie beziehen. Dieses Wissen jedoch wird brauchbar kaum in die Engpässe eines Fernsehabendprogramms einzupassen sein. Die Fortschritte in Technik und Wissenschaft haben breite Auswirkungen im Politischen und im Sozialen. Dieser Hintergrund aber wird, so widersprüchlich er auf den ersten Blick zu sein scheint, die Voraussetzung dafür liefern, daß die altmodischen Tageszeitungen in den nächsten Jahren wieder an Gewicht gewinnen werden. - Die Menschen brauchen mehr als Fakten. Sie müssen wissen, daß die Berichterstattung zuverlässig ist und sie müssen eine Perspektive erkennen, um Informationen einordnen und ihre Bedeutung nachvollziehen zu können." Zugleich äußert sich so das prominenteste O p f e r der neuen Nachrichten-Welten des Informationszeitalters - zu Einsichten also in mehrfacher Hinsicht befähigt und wohl auch berechtigt. D e m Herausgeberteam lag daran, eine frische und aus dem Gesamtkontext der Medienentwicklung abgeleitete Sicht auf die Tageszeitung als wichtigem Leitmedium auch in der Zukunft zumindest als Option eines weiterhin wichtigen wissenschaftlichen Gegenstandes herauszuarbeiten - und zu weiterer Forschung anzuregen. Daß ein US-Präsident im Verlauf der Vorbereitung des Sammelbandes diese Sicht der Dinge teilt, verändert möglicherweise nicht die Kennzeichnung als Minderheitenperspektive, gibt ihr aber gehörigen Nachdruck. Immerhin hat sich eine eindrucksvolle Autorenschaft gewinnen lassen, die sich für die angezielte Rückkehr zu einer weniger von modischen Trends der Medienforschung bestimmten Themensuche und Problemanalyse aufgeschlossen zeigt. Schaut man überdies auf den Zyklus, in dem Einsichten und Epochenwandel innerhalb der U S A sich in Europa und in Deutschland im Abstand von Jahren oder Halbjahrzehnten verbreiten, so spricht einiges dafür, daß die hier wiedergegebene mächtige Laienmeinung ihre fernen Wirkungen auch hierorts dereinst entfalten wird.

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Vorwort

Der vorliegende Band ist das Ergebnis eines langen und zeitintensiven Prozesses, an dem nicht nur die Autorinnen, Autoren und das Herausgeberteam mitgewirkt haben, es gab erfreulicherweise auch Menschen, die sich bereit erklärten, das Unternehmen finanziell zu unterstützen. Wir dürfen uns für ihre Großzügigkeit bedanken bei der Stiftung Pressehaus N R Z (Essen), bei der VEW Aktiengesellschaft (Dortmund), beim Erich-BrostInstitut für Journalismus in Europa (Dortmund), bei der Stadt- und Landesbibliothek Dortmund, beim Verlag K. G . Saur (München), beim Axel Springer Verlag (Hamburg) sowie bei Herrn Dr. Peter Brummund (Rödermark). Frau Karen Peter (Münster) hat in bewährter Weise und mit großer Aufmerksamkeit die redaktionelle Arbeit unterstützt, war vom Layoutentwurf bis zur Druckvorlagenerstellung an dem Herstellungsprozeß beteiligt und hat mit ihrem Arbeitseinsatz entscheidend zum Gelingen des Projekts beigetragen. Allen anderen hier namentlich nicht erwähnten Helfern danken wir für ihre Unterstützung, ihre Anregungen, ihre Ausdauer, Diskretion und Geduld. Dieser Band ist zugleich eine Festgabe zum 60. Geburtstag von Professor Dr. Hans Bohrmann, dem Direktor des Zeitungsforschungsinstituts der Stadt Dortmund, das er über die längste Zeit seines Berufslebens zu einer zentralen Arbeitsstelle der auf Zeitungen bezogenen Kommunikations- und Medienforschung in Deutschland und auch in Europa befördert hat. Vielen der in diesem Band vertretenen Wissenschaftler(inne)n und Experten war und ist er durch gemeinsame Arbeit, durch kollegiales Miteinander in Verbänden, Universitäten und wissenschaftlichen Gremien ein wichtiger Begleiter und Ratgeber. Sie alle wünschen die Sicherung und Fortentwicklung dieses Arbeitsgebietes, seiner Forschungsgrundlagen und Quellenbestände und danken dem Kollegen Bohrmann auf diese Weise für seinen hervorragenden Beitrag zur Zeitungsforschung. Dortmund/Zürich, im Juni 2000

Otfried Jarren

Gerd G. Kopper

Gabriele Toepser-Ziegert

Universität Zürich

Universität Dortmund

Institut für Zeitungsforschung der Stadt Dortmund

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RETROSPEKTIVE

Kurt Koszyk

Unfrisierte Erinnerungen eines d'Ester-Schülers

„Ich habe meiner Person niemals soviel Wichtigkeit beigemessen, daß es mich verlockt hätte, anderen die Geschichten meines Lebens zu erzählen." Diesem Motto Stefan Zweigs im Vorwort zu seinen Erinnerungen „Die Welt von Gestern", die 1944 postum erschienen, wäre ich allzu gern gefolgt. Aber jüngere Kollegen haben offenbar ein stärkeres Bedürfnis, das Gestern unseres Faches, das seinen Namen in den letzten Jahrzehnten geradezu chamäleonhaft veränderte, immer wieder aus unterschiedlichen Perspektiven auszubreiten (vgl. Kutsch/Pöttker 1997; Bohrmann 1997). Wenn nicht nun einer meiner Nachfolger zu ehren wäre, der sich um die Geschichte der Disziplin verdient gemacht hat, wäre ich dem neuerlichen Begehren nicht nachgekommen. Sei's drum. Wer Zeitungswissenschaft studieren wollte, hatte 1949 keine große Auswahl. Nur Berlin, München und Münster hatten den Kahlschlag des Krieges überstanden. In Berlin konnte Emil Dovifat (1890-1969), der noch bei Karl Bücher (1847-1930) in Leipzig studiert hatte, seine Lehrtätigkeit erst mit der Gründung der Freien Universität wieder aufnehmen (Sösemann/Stöber 1998). Er gehörte zu den Mitbegründern der C D U in Berlin und war von Juli bis Oktober 1945 der erste, dann von den Sowjets abgesetzte Chefredakteur der CDU-Zeitung „Neue Zeit". Auch Karl d'Ester (1881-1960) traf 1946/47 durch zeitweilige Amtsenthebung in München der besatzungspolitische Bannstrahl (Roegele 1997; Starkulla/Wagner 1981; Klutentreter 1984: V-XXXV). Der Meinecke-Schüler Walter Hagemann (1900-1964), ebenfalls Mitbegründer der CDU, wurde 1946 an die Universität Münster berufen. Er kam aus dem praktischen Journalismus, war vor 1933 Auslandsredakteur und von 1934 bis 1938 Chefredakteur des Franz von Papen (1879-1969) nahestehenden Berliner Zentrumsblattes „Germania" und 1945/46 beim amerikanischen Zonenblatt „Die Neue Zeitung" gewesen.1 Alle drei Fachvertreter habe ich als Lehrende bzw. bei meinem Berliner Habilitationsverfahren (1967/68) kennengelernt. Wohl ausgestattet mit Entlastungszeugnis (ARN.SK Dortmund - 8536) vom 27. Januar 1949 und einer Bescheinigung für politisch Unbelastete (ARN.SK Dortmund - 255a) vom 28. Januar 1949 des Haupt-Entnazifizierungs-Ausschusses für den Bereich des Stadtkreises Dortmund, begann ich im Mai 1949 in Münster meine studentische Karriere. Das war wenige Monate nach der Währungsreform und gut 4 Monate vor der ersten

Vgl. Walter Hagemann t (1964). Der Text hält sich deutlich zurück beim politischen Umdenken Hagemanns und dessen Übertritt in die D D R 1960. Ähnlich Roegele 1997: 74.

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Kurt Koszyk Bundestagswahl, an der ich als noch nicht 21jähriger nicht teilnehmen durfte. Im M ä r z 1945 war ich als erst 15jähriger immerhin für den Wehrdienst gefragt, weil Reichsjugendführer A r t h u r Axmann (1913-1996) meinen Jahrgang dem „Führer" zu seinem letzten Geburtstag schenken wollte. Z u m G l ü c k waren wir seit dem 12. April 1945 unter amerikanischer Besatzung. N a c h einem zweijährigen Aufenthalt im Sauerland und meinem Besuch der Oberschule für Jungen, Attendorn, kehrten wir im O k t o b e r 1945 in das zerstörte D o r t m u n d zurück. D e r Schulbetrieb begann dort erst wieder im Mai 1946. Das Stadt-Gymnasium, das im Dritten Reich H i t l e r - G y m n a s i u m hieß, verließ ich im Februar 1949 mit dem „Zeugnis der Reife". D i e Zulassungsbescheinigung der Universität Münster stellte mich v o m Schutträumen frei, offenbar, weil ich mich in dieser Disziplin am lädierten D o r t m u n d e r Ersatz-Schulgebäude, dem ehemaligen D o r t m u n d e r Brüder-Krankenhaus an der Bornstraße, tief im N o r d e n der Stadt, ausreichend bewährt hatte. A m 23. M ä r z 1949 erhielt ich, ausweislich der „Arbeitsamtfreistellungsbescheinigung" laut § 13 des Kontrollratsbefehls N r . 3 b z w . Verfügung 3 0 7 / M p / 6 0 1 / 1 4 (Aktenzeichen des Arbeitsamtes D o r t m u n d II, 6 1 0 3 / 0 4 ) für die Dauer des Studiums einen ähnlichen Dispens. Zuvor, am 18. M ä r z , hatte mir das Dekanat der Philosophischen Fakultät der Universität Münster mitgeteilt, daß es möglich sei, mich zuzulassen. Die Vorlesungen begannen am 25. April 1949. Eine U n t e r k u n f t fand ich an der Nordstraße 34 (Miete 25 D M , 20 % meines Monatswechsels). Mit der Bahn pendelte ich dienstags und freitags zwischen D o r t m u n d und Münster. Erfaßt mit der H o c h s c h u l - N u m m e r 5288, besuchte ich in Münster Vorlesungen seit der ersten Mai-Woche. Insgesamt fünf Stunden brachte ich in den Kollegs von Walter Hagemann zu (Zeitungskunde I, D e r Film als publizistische Erscheinung, Die englischamerikanische Presse und Rundfunkkundliches Kolloquium), die zum Teil mittags in der Orthopädischen Klinik stattfanden. Die ungünstige Stunde ließ m a n c h e n Studenten ein Mittagsschläfchen machen oder schwänzen, was Hagemann mit dem geflügelten W o r t quittierte: „Ich sehe welche, die nicht da sind." Wichtiger als die Lehrveranstaltungen scheinen dem jungen Adepten der Wissenschaft nach den Hungerjahren die Mahlzeiten gewesen zu sein. Jedenfalls berichtete ich den Eltern brieflich über das Mensa-Essen und die i m m e r noch hilfreiche Schwedenspeisung, der wir uns schon in der Schule erfreuen durften. 1 9 4 6 / 4 7 hatte ich bei der Stenographenschaft G r o ß - D o r t m u n d zwei Kurse in Verkehrsschrift absolviert. Das war eine damals für einen Journalisten wichtige Fertigkeit; denn es gab noch keine Diktiergeräte, ganz zu schweigen von N o t e b o o k s oder anderen elektronischen Hilfsmitteln. Selbst Schreibmaschinen gehörten nicht allgemein zur studentischen Ausrüstung. Kopiergeräte waren u n b e k a n n t . Alle E x z e r p t e m u ß t e n handschriftlich gefertigt werden. Ich stenographierte in Vorlesungen mit und übertrug alles in Schulkladden, später Ringbücher. M n e m o t e c h n i s c h hatte das gewiß Vorteile, lernte man doch auf das Wesentliche zu achten und zu protokollieren. I m m e r noch besitze ich die Mitschriften von Hagemanns Zeitungskunde I bis IV und der Filmvorlesung sowie von den d'Ester'schen Vorlesungen „Wirtschaftliche und technische Grundlagen des Zeitungswesens", „Öffentliche Meinung", „Das internationale Zeitungswesen", „Struktur der ausländischen Presse" und „Geschichte der Zeitungswissenschaft". Hagemann, dessen Eigenart ich v. a. in der Ü b u n g zur englisch-amerikanischen Presse und im Rundfunkkundlichen Kolloquium beobachten k o n n t e , fiel mir durch seine

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Unfrisierte Erinnerungen

eines d 'Ester-Schülers

konservative Argumentation und bald durch sein Plädoyer für die Wiederaufrüstung unangenehm auf. Als Mitglied der noch in Wilhelminischer Zeit eingeschulten Generation verhielt er sich ziemlich autoritär und zeigte ausgesprochen professorales Selbstbewußtsein. Begegnete man ihm auf der Straße, nahm er den Studenten scheinbar gar nicht wahr und erwiderte den Gruß ziemlich unnahbar. In der Sprechstunde gab er sich dagegen mir gegenüber jovial. Während Seminardiskussionen reagierte er häufig ungehalten und mit einem warnenden „Mein lieber Freund", was manchen der davon Betroffenen veranlaßte, nach München abzuwandern. Dort traf ich u. a. Walter Ebel (1921-1999), Walter J . Schütz und Bernd M. Aswerus (1909-1979) wieder. Das Münsteraner Institut, das im Dienststempel noch „für Zeitungswissenschaft" hieß, bezeichnete sich auf den Mitgliedskarten bereits als „für Publizistik". Ich erhielt übrigens die ominöse Mitglieds-Nummer 7. Außerdem erwarb ich am 22. November 1949 die Mitgliedskarte Nummer 476 des „Germanistischen Instituts der Westfälischen LandesUniversität", wo als Ordinarien Benno von Wiese und Jost Trier, später Erich Trunz, ferner William Foerste und Clemens Heselhaus lehrten. Benno von Wiese behandelte zum 200. Geburtstag des Dichters bis zum Sommersemester 1950 den jungen Goethe sowie Faust I und Π, eine Veranstaltung, die man nach seiner Aussage erst vom fünften Semester an zu verstehen in der Lage war. Meine Aktivitäten in der englischen Literaturwissenschaft, bei Ordinarius Hermann Heuer, der 1950 nach Freiburg im Breisgau ging und durch Edgar Mertner ersetzt wurde, weist das Studienbuch anhand der noch bis 1951 praktizierten Testate der Lehrenden nach. Die Studenten „queueten" zu diesem Zweck am Ende des Semesters im Hörsaal beim Professor. N u r einmal erlebte ich, daß Benno von Wiese, der zuletzt mit einem ungewöhnlich großen Stempel hantierte, das Testat verweigerte. Eine Publizistikstudentin erschien ihm mit rot lackierten Fingernägeln zu stark geschminkt und mußte mit rotem Kopf abziehen. So streng waren damals die Bräuche. Was wunden es, daß „Benno" Ende der 60er Jahre in Bonn arg „geprüft" wurde. Trier und von Wiese brillierten übrigens damals neben dem Mathematiker Behnke in einer gefeierten Aufführung von Grabbes „Scherz, Satire und tiefere Bedeutung". Neben Hagemann erlebte ich an der Rosenstraße 9 den Dovifat-Schüler, Privatdozenten und „planmäßigen wissenschaftlichen Assistenten" Wilmont Haacke 2 , der sich 1954 an die Hochschule für Sozialwissenschaften in Wilhelmshaven umhabilitierte und mit dieser 1962 an die neu errichtete Fakultät für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften der Georg-August-Universität zu Göttingen umgesetzt wurde. Haacke war durch seine zweibändige „Feuilletonkunde" (Leipzig 1943/44) im Fach bekannt. 1951 bis 1953 ließ er ihr ein dreibändiges „Handbuch des Feuilletons" folgen, dessen Manuskript schon Grundlage seiner Veranstaltung „Der Kulturteil der Tagespresse" im Sommersemester 1950 war. In einer der Sitzungen empfahl Haacke wärmstens, einmal die Universität zu wechseln und v. a. Karl d'Ester und München kennenzulernen. Weniger diesem Rat als der Tatsache, daß ein Konabiturient im Sommer 1951 sein Freijahr als katholischer Theologe dort verbringen wollte, ist mein gleichzeitiger Wechsel an die Isar zuzuschreiben. Eigentlich wollte ich, schon aus Kostengründen, nach einem Semester wieder in Münster antreten. Doch jeder, der es mit Karl d'Ester zu tun

Zu den Querelen bei Haackes Promotionsverfahren vgl. Sösemann/Stöber 1998: 130-139.

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Kurt Koszyk bekam, wird bestätigen, wie stark sein väterliches Naturell dem Studenten Geborgenheit versprach. In der Tat empfand ich dies - nach der kühl-distanzierten Art Hagemanns, der wohl nur bei gewissen Damen auftaute - als einen Gewinn. Von dem Konflikt zwischen den Lehrenden in Münster und in München über den Namen des Faches, wußte ich nichts. Erst nach meinem Studium hörte ich, wohl von Günter Kieslich (1924-1971), 1955-1959 wissenschaftlicher Assistent in Münster, daß ich von Hagemann als „Abtrünniger" eingestuft worden war. Bevor ich nach München ging, muß ich mich mit Albert Wand (1893-1955) unterhalten haben (Lindemann 1986). Von ihm erfuhr ich, daß d'Ester vor dem Ersten Weltkrieg Oberlehrer am Realgymnasium in Hörde und mit dem ersten Direktor der Stadt- und Landesbibliothek Dortmund, Erich Schulz, eng befreundet gewesen war. Als Frucht dieser Freundschaft ist das 1926 gegründete Institut für Zeitungsforschung der Stadt Dortmund zu betrachten, dessen Leiter ich als Nachfolger von Albert Wand im September 1957 wurde. Wand, aus dem Eichsfeld stammend, hatte ebenfalls am Dortmunder Stadt-Gymnasium sein Abitur abgelegt. E r war Historiker und wurde 1919 an der Universität Münster mit der von Aloys Meister betreuten Dissertation „Die Frankfurter Zeitung und die Marokko-Frage bis zur Konferenz von Algeciras" promoviert. Vermutlich war Wand anwesend, als Karl d'Ester am 28. Februar 1920 seine akademische Antrittsvorlesung als Privatdozent für Zeitungskunde im Auditorium Maximum der Universität Münster hielt. Möglicherweise hat Wand auch schon im Wintersemester 1919/20 bei dem im August 1919 für Zeitungsgeschichte und Zeitungsforschung habilitierten d'Ester eine Vorlesung gehört. Jedenfalls bestand seither eine für d'Ester charakteristische freundschaftliche Beziehung, die anläßlich der großen Presseausstellung (PRESSA) in Köln 1928 intensiviert worden war. Dieser Kontakt erwies sich nach 1946 als lohnend, seit Wand das „Westfälisch-Niederrheinische Institut für Zeitungsforschung" im Rahmen der Stadt- und Landesbibliothek unter dem Direktor Karl Nobbe betreute. Die im Krieg stark dezimierten Bestände des Instituts konnte Wand durch Ankäufe, u. a. aus der Sammlung d'Ester, in den ihm bis zu seinem Tode verbliebenen Jahren ergänzen, v. a. seit der formalen Trennung von der Stadt- und Landesbibliothek 1952. Für März/April des Jahres hatte mich Wand zu einem Praktikum in das damals in der Dorstfelder Villa Schulte-Witten untergebrachte Institut eingeladen, das nur aus einem neben dem Lesesaal gelegenen und mit Büchern vollgestopften Raum bestand, in dem mit Wand noch der Diplom-Bibliothekar Homann saß, der die Aufgabe hatte, nach der Trennung der Bibliotheken, die nach der alten preußischen Systematik mit „Ak" signierten Bestände aus dem Magazin zu sichern. So türmten sich in dem Arbeitsraum Bücherstapel, zwischen denen Wand, sichtlich von der Parkinson-Krankheit gezeichnet, sein Mittagessen einnahm. Die Zeitungsbestände des Instituts waren zum Glück ausgelagert. Von dort mußte der Magazinarbeiter Ebert die von Benutzern bestellten Bände per Handkarre nach Dorstfeld befördern. Bei der damals bereits begonnenen Arbeit an meiner Dissertation erfreute ich mich des Privilegs, im Bunker am Aschenplatz die für mein Thema erforderlichen Bände einsehen zu dürfen. Seit dem fünften Semester befaßte ich mich mit dem Gedanken zu promovieren. Mich reizte eine Arbeit über die „Neue Rheinische Zeitung" (1848/49), von der damals ein fast vollständiges Exemplar mit Hilfe einer Stiftung der „Westfälischen Rundschau" hatte erworben werden können. Bevor ich mit

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Unfrisierte Erinnerungen eines d 'Ester-Schülers

d'Ester darüber sprach, holte ich mir Rat von Albert Wand, der mir jedoch empfahl, den im Institut über den Krieg geretteten Bestand der SPD-Presse des Ruhrgebietes zu untersuchen. D'Ester für dieses Thema zu gewinnen, erwies sich als leicht. Ich hatte meinen Doktorvater am 30. April 1951, kurz nach meiner Ubersiedlung von Münster nach München, besucht und mit ihm eine Seminararbeit über John Miltons „Areopagitica" vereinbart, die ich als Nebenfach-Anglist (der Münchner Ordinarius Wolfgang Clemen nannte uns „Schmalspur-Anglisten") während meines Oxford-Aufenthaltes im Michaelmas Term 1950 studiert hatte. Das infolge Diabetes leicht erregbare Naturell d'Esters lernte ich vier Wochen später bei einer heftigen Diskussion in der Fachschaft Zeitungswissenschaft kennen. Dr. Herbert Zachäus von der „ Q u i c k " , der im Februar 1936 in Leipzig mit einer Studie über „Die thüringischen Zeitungen 1912-22" promoviert worden war, hatte sich zum Arger d'Esters über den fragwürdigen Nutzen seines Studiums für den Beruf des Journalisten geäußert. Erst viel später erfuhr ich von den Kontroversen zwischen Hagemann sowie Dovifat und d'Ester um den Namen des Faches, seinen Gegenstand und den Status (Koszyk 1975; d'Ester 1951,1957). An der 1956 gegründeten Fachzeitschrift „Publizistik" beteiligte sich d'Ester nicht. Z u m Glück erfuhr er wegen seines Todes nicht mehr, daß die 1984 in Bochum herausgegebene Auswahl seiner Schriften von dem ahnungslosen Herausgeber als „publizistikwissenschaftlich" bezeichnet worden ist. Die Gegnerschaft zu Hagemann dürfte damit begonnen haben, daß der Münsteraner Professor (vergebens) versuchte, den Lehrstuhl des zeitweilig amtsenthobenen d'Ester für sich zu sichern. Uber das, was sich in Münster tat, war der Münchner Institutsleiter gewiß gut unterrichtet. Ich erfuhr erst Anfang der 60er Jahre, daß das Disziplinarverfahren gegen Hagemann nicht nur politische Gründe hatte. Als Leiter des Dortmunder Instituts wurde ich damals vom nordrhein-westfälischen Kultusminister ersucht, nach Düsseldorf Kopien von Hagemann-Beiträgen aus der Berliner „Germania" zu liefern. Das lehnte ich ab, weil mir solche politische Schnüffelei gegen einen meiner akademischen Lehrer zuwider war. U m so erstaunter war ich, als ein sich mir gegenüber als Erforscher seiner katholischen Verbindung ausgebender Student die Such-Arbeit für das Ministerium besorgte, wie ich den von ihm bestellten Kopien entnehmen konnte. Daß die Maßnahmen nicht nur politischer Natur waren, enthüllten mir die beim Oberlandesgericht H a m m in einem Meineidsverfahren gegen Hagemann geführten Akten. Daß ich diese Akten einsehen konnte, war Zufall. Das Gericht hatte mich als seinen Gutachter in einem Rechtsstreit zwischen der „Buerschen Zeitung" und dem „Westdeutschen Tageblatt", Dortmund, wegen der fristlosen Kündigung eines Maternlieferungsvertrages bestellt. Das Gelsenkirchener Blatt beanstandete nämlich die von Hagemann im „Westdeutschen Tageblatt" veröffentlichten Leitartikel, die mit den Matern auch in die „Buersche Zeitung" übernommen wurden. Für den Rechtsanwalt der „Buerschen Zeitung", Josef Hermann Dufhues (1908-1971), gutachtete übrigens Günter Kieslich. Bei der Analyse des Dortmunder Blattes mußte ich feststellen, daß die Hagemann-Beiträge schon lange vor dem Kündigungstermin die gleiche beanstandete Tendenz aufwiesen, also eine fristlose Kündigung nicht gerechtfertigt war. Das Gericht folgte meinem Gutachten Zurück nach München. Dort erlebte ich eine kleine Aufregung, als 1953 „Die Insel des zweiten Gesichts" von Albert Vigoleis Thelen erschien. Dieser damals erfolgreiche

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Kurt Koszyk Schelmenroman behandelt u. a. amüsante Vorgänge rund um die P R E S S A (Thelen 1953: 345-347). Thelen, ein rheinischer Landsmann d'Esters, erwähnt in dem sonst seinem Exil auf Mallorca gewidmeten W e r k retrospektiv seinen zeitweiligen J o b als „wissenschaftlicher F ü h r e r durch die kulturhistorische Abteilung der P R E S S A , Kölns R u h m und Ruin": „Monatelang hatte er dem Stabe der Gelehrten Karl d'Ester, Günther Wohlers und Albert Bruckner angehört und die Abteilung aufbauen helfen. E r wußte, was in jeder Vitrine stand und lag, und drum wußte er auch, daß da alles falsch lag oder stand." D'Ester hatte sich nach Thelen von seinem Kollegen Wohlers, der „größten und sympathischsten Bierkanone", die je an einer deutschen Hochschule doziert habe, „totschwätzen" lassen, so daß in der Eile der Geschäfte bis zur Eröffnung der P R E S S A nichts ausgewechselt worden sei. U b e r diese Behauptung des mit dem Fontane-Preis der Stadt Berlin 1954 ausgezeichneten Autors war d'Ester empört, wie ich von seiner Sekretärin und Adoptivtochter Gertrud Schnippe hörte, die, wie ich, ursprünglich aus Hörde stammte. Als ich Frau Schnippe erzählte, daß ich als zweites Nebenfach Anglistik und als Prüfer Wolfgang Clemen gewählt hatte, meinte sie, mich vor dem Rigorosum bei ihm warnen zu müssen. Clemen habe etwas gegen die Zeitungswissenschaft. Nachdem ich meine Dissertation eingereicht hatte, und sie offenbar angenommen worden war, erhielt ich vom Dekan der Philosophischen Fakultät unter dem 19. Juni 1953 mit zehn anderen Kandidaten, darunter einem weiteren Zeitungswissenschaftler, die „Einladung zur mündlichen Doktorprüfung". Ich vereinbarte die Rigorosa bei Hans-Heinrich Borcherdt, Karl d'Ester und Clemen - in dieser Reihenfolge - für den 23./24. Juni 1953. Eine Woche später mußten wir, schön aufgereiht, beim Dekan antreten und die Promotionsurkunden in Empfang nehmen. Den D r u c k meiner Dissertation sagte mir sechs W o c h e n später, ich war inzwischen zwei W o c h e n in Jugoslawien gewesen, der Leiter des D o r t m u n d e r Stadtarchivs, Horst Oskar Swientek, zu. Weniger Erfolg hatte ich bei Zeitungen und beim N W D R mit meinen Bewerbungen, die mir außer Autographen von Erich Brost, Adolf Grimme, Hans Zehrer und Fritz Brühl nichts einbrachten. So kam ich dann, nach einem Anruf vom Chefredakteur der „Westfälischen Rundschau", Walter Poller (1900-1975), in der Redaktion unter, in der ich 1950-1953 Ferienvolontariate absolviert hatte. Das anfängliche Gehalt von 250 D M wurde zum Ende 1953 auf 375 D M erhöht. Erst während meiner Tätigkeit in der Pressestelle der Vereinigten Elektrizitätswerke Westfalen A G seit Sommer 1955 wurde mir eine Chance eröffnet, wieder Anschluß an die Presseforschung zu finden. D e r kaufmännische Direktor der V E W , Paul Sattler (1894-1965), der im Kuratorium der Konzentration A G saß, regte an, daß ich eine Geschichte der SPD-Presse aus Anlaß des 10jährigen Bestehens der Konzentration A G verfassen sollte. Zunächst war wohl an eine Art Festschrift gedacht (vgl. Oschilewski 1956; Appelius 1999). Ich vereinbarte aber mit dem zuständigen Pressechef der SPD, Fritz Heine (geb. 1904), eine solide wissenschaftliche Studie. Den Text legte ich dem Auftraggeber im Juli 1957 vor. Offenbar wurde er von dem mir namentlich nicht genannten Gutachter aus der S P D heftig kritisiert und wegen seiner wissenschaftlichen Tendenz abgelehnt. U m meine Arbeit zu publizieren, suchte ich die Hilfe der damals gegründeten Deutschen Presseforschung in Bremen. Lutz Mackensen (1901-1992) besuchte mich am

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Unfrisierte Erinnerungen eines d'Ester-Schülers 24. Mai 1958 im Dortmunder Institut, das sich seit März im mittlerweile gesprengten Neubau am Dortmunder Hansaplatz befand. Zwischenzeitlich hatte ich mein Manuskript Friedrich Stampfer (1874-1957), dem ehemaligen Chefredakteur des Berliner „Vorwärts", vorgelegt, der sich im Gegensatz zu den anonymen Gutachtern positiv äußerte. Diesem Urteil folgte Alfred Faust (1883-1961), der Pressechef des Senats der Freien Hansestadt Bremen, der bis 1933 sozialdemokratischer Reichstagsabgeordneter gewesen war. In Bremen trat auch Hans Jessen (1897-1979) für die Drucklegung ein, so daß „Zwischen Kaiserreich und Diktatur. Die sozialdemokratische Presse von 1914-1933" als Bd. 1 der Reihe der Deutschen Presseforschung, damals im Verlag Quelle & Meier (Heidelberg), erscheinen konnte. Habent sua fata libelli. Das gilt für viele meiner Bücher. Dieser Band landete über einen Münsteraner Verlag schließlich bei Schünemann in Bremen. Um es einzufügen: Die Geschichte der deutschen Presse, 1966-1972 herausgegeben von Fritz Eberhard (1896-1982), 1986 von Bernd Sösemann, fiel der Pleite des Berliner Colloquium Verlags zum Opfer und ist nun - ein typischer Longseller - bei Volker Spiess (Berlin) zu haben. Da auch meine Stresemann-Biographie inzwischen von Kiepenheuer & Witsch (Köln) verramscht wurde, teile ich das Autorenschicksal mit Karl d'Ester, dessen Werke immer wieder in Antiquariatskatalogen auftauchen. Ein Auslandsstudium war 1950, als ich mich entschlossen hatte, wenigstens ein Term in England zu verbringen, nicht leicht zu organisieren. Zunächst war über den Deutschen Akademischen Austauschdienst (Bonn) die Finanzierung zu sichern. Dazu reichte ich am 30. August 1950 Fachgutachten der Professoren Hagemann, Heuer und Trier ein. Die Bank Deutscher Länder bzw. die Rhein-Ruhr Bank (früher Dresdner Bank), Filiale Bonn, genehmigte den Umtausch von 900 DM, die mein Vater zahlte, in 75 englische Pfund, die bei Barclays Bank, High Street, Oxford, deponiert wurden und von denen ich monatlich 25 Pfund abheben durfte. Die Erteilung der Visa für Belgien und Großbritannien erledigte das Re-Education Department des Landcommissioner's Office in Düsseldorf. Da ich in Oxford nur bei einem einjährigen Aufenthalt Mitglied eines College hätte werden können, mußte ich mir selbst eine Unterkunft besorgen, die ich im Boarding House der Miss Meredith-Smith für wöchentlich 3 Guineas an der 165 Woodstock Road fand ohne zu ahnen, daß ich 1977/78 Visiting Research Fellow am ebenfalls an der Woodstock Road gelegenen St. Antony's College werden würde. Da war die Nummer 165 verlassen und verfallen. In Anbetracht der knappen Finanzmittel kam für mich eine 5-Pfund-Note im November 1950 als ein unerwarteter Geldsegen, den ich dem Leiter der „Brücke" in Dortmund, Mr. Frederick J. Brand, verdankte. Der Betrag half mir, eine Woche in London zu verbringen. Im Vergleich zu den Formalitäten für die England-Reise gestaltete sich 1956 meine Bewerbung um die Nachfolge von Albert Wand schwieriger. Die im Dortmunder Rat vertretenen Parteien optierten zunächst für zwei andere Kandidaten, von denen einer am Ende das Rennen zu machen schien. Mein größtes Handicap waren meine nur 27 Jahre. Soweit ich die Interna erfuhr, einigten sich schließlich die Fraktionsvorsitzenden von SPD (Ewald Görshop, 1887-1962) und CDU (Heinrich Raskop, 1904-1985) auf mich, aus Gründen, die ich nicht genau kenne. Raskop (Bohrmann 1994, 1998) wurde von seinen Fraktionskollegen deshalb kritisiert, und die CDU verließ meinetwegen für einige 19

Kurt Koszyk Zeit den Kulturausschuß. Die der C D U nahestehenden „Ruhr-Nachrichten" (Verleger Lambert Lensing) belegten mich eine Zeitlang mit einem Informations-Boykott, den ich aber bald beheben konnte, nachdem ich Lensing (1889-1965) besucht und seinen Adoptivsohn Florian, den heutigen Verleger des Blattes, kennengelernt hatte. Auch bei der C D U schien sich der Unmut allmählich zu legen. Daß Vorbehalte gegen mich latent weiterwirkten, sollte ich 1963 erfahren. Sie im Interesse des von mir geleiteten Instituts zu überwinden, versuchte ich durch verschiedene Aktivitäten. Indirekt hilfreich war gewiß die Unterstützung durch Emil Dovifat, der mich seit 1958 zu Vorträgen in seine Zeitungsfachlichen Fortbildungskurse einlud, die zeitweise im Düsseldorfer Landtag, später in Hassels stattfanden und seit 1960 in der Reihe „Journalismus" des Deutschen Instituts für publizistische Bildungsarbeit erschienen. In dieser Reihe erschien übrigens 1999 die mir zu meinem 70. Geburtstag gewidmete Festschrift. In den Zeitungsfachlichen Fortbildungskursen lernte ich den Dovifat-Schüler Karl Bringmann (1912-1994), einen der Verlagsdirektoren der „Rheinischen Post", kennen, der sich in den 70er Jahren als mein Mentor beim Aufbau des Dortmunder Studienganges Journalistik erweisen sollte. Am 13. November 1959 besuchte ich den Geschäftsführer des Bundesverbandes der Deutschen Zeitungsverleger, Egon Frhr. von Mauchenheim (1918-1984), in Bonn. Ihn konnte ich für die Unterstützung der bald als Beilage zum Verbandsorgan „ZV & ZV" erscheinenden „Dokumentation für Presse, Rundfunk und Film" gewinnen. Der B D Z V übernahm die Druckkosten. Einen Mißklang gab es, als Mauchenheim, wohl veranlaßt durch Walther Jänecke (1888-1965), den ich nie persönlich kennenlernte, einen bei mir angeforderten Beitrag über die Presse im Dritten Reich ablehnen mußte. Die Hintergründe sollte ich einem Brief Jäneckes vom 8. Februar 1963 entnehmen. Ihm war von Lambert Lensing der Band 1 der Schriftenreihe „Journalismus" mit meinem Vortrag „Das Ende des Rechtsstaates 1933/34 und die deutsche Presse" zugeleitet worden/ Bei Jänecke erregte Anstoß, was ich aus den in der „Deutschen Presse" und dem „Zeitungsverlag" veröffentlichten Berichten über das Verhalten der Vertreter des Vereins Deutscher Zeitungsverleger, darunter Jäneckes (1933), geschlossen hatte. Er bemängelte, daß ich die Initiative, die Zielsetzung der geführten Verhandlungen und das damals zunächst erreichte Ergebnis „in einem falschen Licht erscheinen" lasse. Als Jänecke in seinem Beitrag zum „ZV & ZV" (13/1963) den offenbar auf mich gemünzten Begriff der „Legendenbildung" verwandte, reagierte ich mit einem Brief am 16. Mai 1963 deutlich, weil mich dieser Vorwurf besonders hart traf. Ich verwies darauf, daß zum Zeitpunkt der Verhandlungen des VDZV-Präsidiums mit Hitler das Ermächtigungsgesetz verabschiedet war, seit Wochen außer der KPD-Presse „auch alle demokratischen Zeitungen der SPD und einige des Zentrums sowie anderer Parteien verboten" sowie „Maßregelungen von politischen Gegnern des Nationalsozialismus an der Tagesordnung" waren. Angesichts dieser Tatsachen fehlte mir jedes Verständnis für die damalige Haltung des Präsidiums, die ich mir nur mit einem besonderen äußeren Druck zu

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A u c h als H . 39 der v o m K u l t u r a m t der Stadt D o r t m u n d hrsg. „ D o r t m u n d e r V o r t r ä g e " erschienen. D i e von J ä n e c k e beanstandete Passage auf S. 15. Z u r R o l l e J ä n e c k e s vgl. auch Schulze 1994: 20-23.

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Unfrisierte Erinnerungen eines d'Ester-Schülers erklären versuchte. Jänecke betonte aber, man sei nicht zu Hitler „zitiert", sondern „gebeten" worden. Besonders problematisch, so betonte ich gegenüber Jänecke, erschien mir das VDZVVotum zugunsten des Juden-Boykottes drei Tage vor dem 1. April 1933: „Uber die Wirkung der Abwehrreaktion im Ausland war man offenbar unbesorgt. Unsere jüdischen Mitbürger werden allerdings angesichts dieser massiven Drohungen der Auffassung gewesen sein, daß die Verfasser solcher Aufrufe entweder mit Blindheit geschlagen oder böswillig waren." Die letzte Antwort Jäneckes an mich vom 7. Juni 1963 bezeichnete den „Aufruf gegen die Greuelhetze" dagegen als einen „im Zuge dieser Entwicklung unwichtigen Vorgang, nämlich der Entschließung des Präsidiums des VDZV gegen die erstmals - mit ausgesprochen wirtschaftspolitischen Tendenzen! - aus dem Ausland gegen Deutschland gesteuerte Greuelhetze". Die deutschen Zeitungsverleger seien damals keineswegs Befehlsempfänger von Goebbels gewesen - proklamierten also offenbar freiwillig aus bloß „nationalem" Interesse. Angesichts der Ahnungslosigkeit gegenüber den ersten Schritten zur Judenverfolgung und der Solidarisierung damit, verschlug es mir die Sprache. Jänecke kündigte in seinem Brief an, er werde die Herausgeber der „Publizistik", Dovifat, Haacke und Kieslich, informieren. Meine zahlreichen Publikationen in der Zeitschrift belegen allerdings, daß dies keine Konsequenzen für mich hatte. Die mir übertragene Rezension von Oron J. Haies Buch „The Captive Press in the Third Reich" schloß ich, an die Kontroverse mit Jänecke denkend, mit dem Satz: „Es gibt gleichzeitig Kunde von einer irrenden und schwachen Generation, zu der auch deutsche Pressewissenschaftler, Verleger und Journalisten gehörten." (Koszyk 1964) Karl d'Ester, dessen Rat ich mir in dieser Situation gern geholt hätte, war zu dieser Zeit bereits drei Jahre lang tot. Er starb 1960 an meinem 31. Geburtstag. Ein letztes Mal hatte ich ihn 1957 an seinem Alterssitz im oberbayerischen Aurach bei Fischbachau besucht. Zu meiner Überraschung erschien bei dieser Gelegenheit der von mir verehrte ehemalige Dortmunder Generalmusikdirektor Wilhelm Sieben (1881-1971). Die beiden alten Herren waren befreundete Nachbarn (vgl. Schaub 1997). Für unser leibliches Wohl sorgte Maria Becker, Gertrud Schnippes Tante, die den Junggesellen d'Ester betreute. Auch sie stammte aus Hörde. Ich konnte mich deshalb beinahe zu Hause fühlen. Wer kann da noch nach den Gründen fragen, weshalb ich mich für meine letzten Jahre in München niedergelassen habe?

Im Laufe der Jahrzehnte begegnete ich vielen inzwischen verstorbenen Fachvertretern: - dem greisen Otto Groth (1875-1965) in seiner Wohnung nahe dem Münchner Hirschgarten (Anker 1996). - Ernst Meier (1893-1965), der mich in Dortmund - offenbar auf der Suche nach einem Nachfolger für den Nürnberger Lehrstuhl - besuchte. - Edgar Stern-Rubarth, der mir mit Gamaschen und Stöckchen mit Elfenbein und Silberknauf wie aus einer anderen Epoche vorkam. - Kurt Baschwitz (1886-1968), bis 1933 Geschäftsführer des Reichsverbandes der deutschen Presse, der das Exil in Amsterdam überlebte und das dortige Presseinstitut mit Dirk H. Couvee aufbaute; die ich beide im März 1960 besuchte. 21

Kurt Koszyk - Franz Ronneberger (1913-1999), der mich vor seiner Nürnberger Zeit besuchte und sichtlich bedrückt über seine Verwicklungen seit 1939 berichtete (vgl. Rühl 1997). An zwei Zusammenkünfte erinnere ich mich besonders lebhaft. Anläßlich der Antrittsvorlesung von Henk Prakke (1900-1992) am 27. Mai 1961 in Münster, war ich mit Emil Dovifat in einem Hotel unweit des Münsteraner Doms untergebracht. Dovifat war die Aufgabe zugefallen, den neuen Kollegen einzuführen. Aber das Thema des Niederländers „Uber die Entgrenzung der Publizistik und die Rückblende als publizistisches Moment im Kulturwandel", insbesondere der Begriff „Rückblende", bereitete ihm sichtlich Pein (Prakke 1961). Das überraschte mich, weil mir von seinen Schülern die rhetorischen Fähigkeiten des angeblich durch Schauspielunterricht Geschulten gerühmt worden waren. Wie ich bald auch von Mitarbeitern des Berliner Instituts erfuhr, waren die gefeierten Vorlesungen allerdings Ergebnis akribischer Vorbereitung. Die Institutsbesatzung hatte zu diesem Zweck jeweils komplett präsent zu sein und ging auf „Tauchstation", um jederzeit die Wünsche des Ordinarius Dovifat erfüllen zu können. Seine besondere Fähigkeit scheint es gewesen zu sein, zum Erstaunen des Auditoriums, mit Fakten zu jonglieren, die ihm tatsächlich erst kurz zuvor zugeliefert worden waren. Dovifat wußte 1961 auch in Münster zu charmieren. Er vergaß nicht, Frau Prakke einen Blumenstrauß zu überreichen. Die etwas unhandlichen Chrysanthemen erstand er am Prinzipalmarkt. Auf meinen Einwand, er hätte die Blumen doch zustellen lassen können, sah er mich von oben herab geradezu tadelnd an und sagte: „Dann sieht das doch keiner." Ganz anders geartet, aber ebenso effektiv und zielstrebig, war der Enthusiast Henk Prakke. Von kleiner Gestalt und behende, kümmerte sich der spät berufene, als Verleger erfolgreiche Niederländer um jedes Detail seiner kontinuierlichen PR-Aktionen. Sein wichtigstes Anliegen faßte er in den Begriff „Entgrenzung", der wohl auch seiner Reiselust entgegenkam. Eines Tages, im Frühjahr 1963, tauchte er unverhofft in meinem Dortmunder Büro auf. Seine Augen leuchteten, als er erzählte, er sei auf dem Wege nach Karthago, um sich seinem Lieblingsthema, der „Urpublizistik" zu widmen. Meine überraschte Frage, warum er dann in Dortmund Station mache, beantwortete er mit dem Hinweis auf eine im Museum am Ostwall gezeigte Nachrichtentrommel aus Ozeanien, die mir bis dahin entgangen war (Prakke 1963). Bei einem Besuch in Belgien hatte meine Vertreterin in der Institutsleitung, Margot Lindemann (1926-1991), den Leuvener Kollegen Nabor De Voider ( O F M ) kennengelernt und ihm die Ubersetzung der „Soziologie der Zeitung" zugesagt, die 1959 in deutscher Sprache erscheinen konnte (Voider 1959). Ich besuchte De Voider (1909-1967) zweimal auf Reisen nach England. Er war ein großer Erzähler von Anekdoten, bei denen er sich zu meiner Verwunderung nie wiederholte. Unter dem frischen Eindruck einer vatikanischen Delegation, die ihm zufällig in Leuven 1961 begegnete, berichtete er mir kurz danach Ende Juni über den niederschmetternden Eindruck, den die von De Voider herumgeführten drei italienischen Herren durch einen etwas angeheiterten Frater in einem Kloster erhalten hatten. De Voider entnahm erst später der ihm am Ende der Tour überreichten und von ihm achtlos eingesteckten Visitenkarte, wen er da gutmütig betreut hatte: den Mailänder Kardinal Montini, der 1963 als Paul VI. Papst wurde. De Volders Kommentar: „Da können wir was erleben." Auch sonst war sein Katholizismus durchaus

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Unfrisierte Erinnerungen

eines d 'Ester-Schülers

flämisch-rustikal. Er kam vom Land und hatte so seine Vorurteile gegen Franzosen und Holländer („sportive Barbaren"). Als er mir von seinem Bruder, ebenfalls Franziskaner, als einem „wahren Heiligen" erzählte, fragte ich ihn, was ein wahrer Heiliger sei. De Voider: „Das Gegenteil von mir!" Bei unserem Besuch in Antwerpen, wo er mich zu einer Hafenrundfahrt (mit Genever) einlud, schlug er vor, den Wagen in der Nähe des Bordells abzustellen. Dort sei immer Platz, weil die Belgier nicht gesehen werden wollten. Ich folgte dem Rat und fand meinen VW später rasch wieder, weil in der Nähe eine rundliche Dame immer noch auf Kundschaft wartete. Anders geartete, aber ebenso lustige Erlebnisse hatte ich mit dem Wiener Ordinarius Kurt Paupie (1920-1981), über den in der österreichischen Hauptstadt noch manche Anekdote umläuft. Eß- und trinkfreudig erlebte ich den Beleibten, v. a. in seiner Hütte im Almtal bei Grünau, als überaus gastfreundlich, was seine Finanzen vermutlich ebenso strapazierte wie die vielen spontan gegebenen Versprechen, die er nicht einhalten konnte und die ihn in einen permanenten Zustand des schlechten Gewissens und der Angst versetzten. A m wohlsten fühlte er sich deswegen im Almtal, wo ihm nur Einheimische begegneten, mit denen er, in Lederkniehosen mit dicken Socken, im Dialekt parlierte. Wäre er doch bei seinem Medizinstudium geblieben und Landarzt im geliebten Oberösterreich geworden. Leise Wehmut beschleicht den alternden d'Ester-Schüler, wenn er an die vielen Kollegen denkt, die ihm vorausgegangen sind. Soweit ich sie noch nicht erwähnt habe, sehe ich in dem Reigen der Verstorbenen, mich ihrer Kollegialität dankbar erinnernd: Wilhelm Klutentreter (1909-1986), Folke Dahl (1905-1970), Elisabeth Löckenhoff (1929-1985), Roland Seeberg-Elverfeldt (1909-1993) und nicht zuletzt Winfried B. Lerg (1932-1995), der Mitglied der Planungskommission für den Dortmunder Studiengang war. Glücklicherweise sind die „Originale" - die Engländer nennen sie „Character" - in unserer Disziplin keineswegs ausgestorben. Aber mit der Ausweitung des Faches und seines Personals ist die Chance, ihnen außerhalb von Mammut-Tagungen persönlich zu begegnen, geringer geworden. Was künftig darüber zu berichten wäre, dürfte deshalb verlorengehen, wenn es nicht in den Annalen der Institute überliefert würde. Dazu möge dieser Beitrag anregen. Denn was wäre unser Fach ohne das humane Kolorit, das ihm durch die in ihm Wirkenden verliehen wird?

Literatur Anker, Josef (1996): Anlauf zur Pressefreiheit. Vor 50 Jahren begannen die Groth'schen Journalistenkurse in München. 1. April 1946: Start in der Lothstraße. In: Münchner Stadtanzeiger, Nr. 13 v. 28.3., S. 16. Appelius, Stefan (1999): Heine - Die SPD und der lange Weg zur Macht. Essen. Bohrmann, Hans (Hrsg.) (1994): Biographien bedeutender Dortmunder. Bd. 1. Dortmund, S. 32-33. Bohrmann, Hans (1997): Zur Geschichte des Faches Kommunikationswissenschaft seit 1945. In: Fünfgeld, Hermann/Mast, Claudia (Hrsg.): Massenkommunikation. F.rgebnisse und Perspektiven. Opladen, S. 51-67. Bohrmann, Hans (Hrsg.) (1998): Biographien bedeutender Dortmunder. Bd. 2. Essen, S. 93-95. d'Ester, Karl (1951): Schwarz auf Weiß. München.

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HISTORISCHE PRESSEFORSCHUNG UND PRESSEARCHIVIERUNG

Horst Pöttker

Heines Tagesberichte für die „Allgemeine Zeitung". Ein Beitrag zu Geschichte und Bestimmung der Reportage

Die Zeitungsforschung hat bisher keine geschlossene Geschichte der Reportage als journalistisches Genre zustande gebracht (vgl. Reus 1998: 258). Und sie hat sich bisher kaum mit dem Einfluß des Pressekorrespondenten Heinrich Heine auf die Standards des modernen Journalismus befaßt (vgl. Langenbucher 1993: 313, 318f.). Beide Lücken soll die folgende Untersuchung schließen helfen. Unter „Genre" wird dabei ein professionell habitualisierter Darstellungsstandard des Journalismus mit spezifischen Merkmalen verstanden, ζ. B. Nachricht, Kommentar, Interview oder eben Reportage.

1. Voraussetzungen, Fragen, Methode 1.1. Woher stammt die Reportage? Schon bei der Frage nach dem Beginn der Reportage zeigt sich ein Dilemma: Um festzustellen, seit wann es das Genre gibt, muß einerseits zuvor definiert werden, was eine Reportage sei; andererseits hat der Versuch, Entstehung und Wandel des Genres nachzuzeichnen, nicht zuletzt das Ziel, seine Kriterien ausfindig zu machen. Wie jede Geschichte kultureller Phänomene hat auch die Geschichte der Reportage sich selbst zur Voraussetzung, weil ihr Objekt nur mit Hilfe eines Begriffs zu fassen ist, der seinerseits den historischen Prozeß durchläuft. Auch der im folgenden eingeschlagene Weg führt nicht aus dem Dilemma hinaus. Immerhin wird er aber im Bewußtsein dieser Problematik gewählt, so daß historisches Erkennen sich hier als Prozeß vollziehen mag, der von wechselseitiger Inspiration und gegenseitiger Emanzipation zwischen vergangenen Fakten und deren gegenwärtiger Deutung angetrieben wird. Ich beginne nicht mit einer detaillierten Definition der Reportage, sondern mit dem Versuch, das Konstitutive des Genres im Rahmen der professionellen Aufgabenstellung oder „Funktionalität" des Journalismus in groben Zügen zu umreißen. Wenn Journalisten Öffentlichkeit herzustellen, d.h. raumzeitliche, soziale und psychische Kommunikationsbarrieren zu überwinden haben, um Menschen Einblick in Realitäten zu verschaffen, die sie nicht unmittelbar erfahren (können), im Interesse von Lebensbewältigung sowie von gesellschaftlicher Partizipation und Selbstregulierung aber kennen sollten (vgl. Pöttker 1998a), dann dient die Reportage dieser Aufgabe durch möglichst umfassende und treue, also möglichst authentische Wiedergabe von Realitäts27

Horst Pöttker komponenten, die als mehr oder weniger geschlossener Komplex („Situation") wahrgenommen werden.1 Solche Funktionalität als Prämisse vorauszusetzen heißt nicht zu behaupten, daß journalistische Genres ihretwegen entstanden sind. Das Lead-Prinzip der Nachricht beispielsweise soll auf die technisch anfällige Telegrafenübermittlung im amerikanischen Bürgerkrieg zurückgehen. Trotz solcher konkreter Entstehungsgründe ist aber anzunehmen, daß Genres sich auch deshalb in der journalistischen Praxis etabliert haben, weil sie für die Aufgabe des Vermitteins von Informationen über soziokulturelle Barrieren und Rezeptionswiderstände hinweg besonders geeignet sind. Ich beginne auch deshalb mit einer Annahme über die spezifische Funktionalität der Reportage, weil die folgende Analyse bei Journalisten das Verständnis für diese Aufgabe und das Auskennen in den dafür bereitstehenden Mitteln stärken soll. Christian Siegel dagegen wollte weder beschreiben, „wie sich die Reportage entwickelte", noch dazu anleiten, „wie eine gute oder ideale Reportage auszusehen habe" (Siegel 1978: Vin). Seine Studie über das Genre ist ein Beispiel für die Projektion aktueller Vorstellungen auf Vergangenheit, bei der historische Tautologien herauskommen. Problematisch ist nicht das von den emanzipatorischen Bestrebungen der siebziger Jahre geprägte Vorverständnis als solches, nach dessen Maßgabe sich am Ende Egon Erwin Kisch mit seinem Konzept der sozial engagierten, für die Interessen der Lohnabhängigen eintretenden Reportage als eigentlicher Schöpfer des Genres entpuppen muß. Problematisch ist vielmehr, daß die Erkenntnisabsicht der Studie nicht von vornherein offengelegt wird, so daß die Schlußthese - unberührt von der selbst bekundeten Einsicht in die Unvermeidlichkeit parteilicher Subjektivität - als Resultat einer voraussetzungslosen Abfolge von zutreffenden Wahrnehmungen und schlüssigen Argumenten erscheint." Michael Haller dagegen weiß, warum er ein Lehrbuch über die Reportage (Haller 1990) zusammenstellt. Er will damit nicht nur eine „Diskussionsgrundlage" bieten, sondern auch eine „Anleitung" zur Produktion von (guten) Reportagen. „Offenbar gibt es (...) Regeln und Kriterien, die festlegen, wann eine Reportage eine Reportage ist. Solche Kriterien herauszuarbeiten und der journalistischen Praxis unterzulegen, ist Aufgabe dieses Buches" (Haller 1990: 13). Ein Einleitungsteil „Zur Geschichte der Reportage" (Haller 1990: 17-59) dient dazu, diese „Regeln und Kriterien" herzuleiten: m. W. bisher der einzige deutschsprachige Versuch zur Rekonstruktion der Entwicklung der Reportage, der allerdings nicht den Charakter einer geschlossenen Geschichte des Genres beanspruchen kann. Haller leitet einerseits, wie üblich von Kisch übernommen (vgl. Kisch 1978: 7; Haas 1987: 279), die Herkunft der Reportage aus den literarischen Traditionen der Reiseerzäh-

Andere Genres dienen der Öffentlichkeitsaufgabe, indem sie auf für sie spezifische Weise Wahrnehmungs- und Kommunikationsbarrieren überwindbar machen; so die Nachricht durch Auswahl und selektive Wiedergabe aktueller Ereignisse nach Relevanz oder der Kommentar durch folgerichtige und deshalb überzeugende Begründung eines Urteils. Ein Konzept von wissenschaftlicher Wahrheit als prinzipiell unabschließbarer öffentlicher Diskurs hätte die Explikation von Erkenntnisabsicht und Vorverständnis erforden, was sogar in emanzipatorisch gemeinten zeitungswissenschaftlichen Forschungen der siebziger Jahre gelegentlich versucht worden ist (vgl. Pöttker 1980).

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Heines Tagesberichte für die allgemeine Zeitung" lung und des Augenzeugenberichtes ab, die er bis zu Herodot und Plinius d. J. zurückverfolgt (Haller 1990: 18-31). Uberzeugend ist der Vergleich zwischen der Reiseerzählung, die geographische Distanzen überwinden soll, und der modernen Reportage, bei der das Fern- und Getrenntsein auch andere Gründe haben kann: „Beides, Distanz und Barriere, gelten heute in der unübersichtlich (.komplex') gewordenen Industriegesellschaft auch im übertragenen Sinn: Der Reporter überwindet soziale Distanzen und er überschreitet institutionelle Barrieren, die den Bürger auf Distanz halten und die er allein nicht zu überwinden vermag." (Haller 1990: 32) Allerdings: Wenn die Entstehung der Reportage aus den Traditionen des Reise- und Augenzeugenberichts erklärt wird, stellt sich diese soziale Funktion als Nebenfolge einer bis auf die Antike zurückgehenden literaturinternen Entwicklung dar. Plausibler erscheint die Annahme, daß der mit der Moderne entstandene Journalismus überlieferte literarische Formen aufgreift, sofern sie sich für seine erst zu Beginn der Neuzeit gesellschaftlich wichtig gewordene Aufgabe, komplexitätsüberspannende Öffentlichkeit herzustellen, als nützlich erweisen. Aus dieser Perspektive ist das Uberwinden von Kommunikationshindernissen nicht spezifisch für die Reportage, sondern für den Journalismus, und die Reportage ist eine vom Journalistenberuf im Hinblick auf diese Aufgabe hervorgebrachte, an professionelle Qualitätskriterien gebundene Arbeitsform unter anderen, um die Vermittlungsleistung - notfalls auch unter extrem widrigen Bedingungen3 - zu vollbringen. Andererseits behauptet Haller: „Die Professionalisierung und Standardisierung des Journalismus - und parallel dazu der Typ der modernen Zeitungsreportage - kamen mit der Massenpresse." (Haller 1990: 37) Diese These wird lediglich durch eine Aufzählung ökonomischer und technologischer Daten zur Presseentwicklung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts illustriert. Dabei schleicht sich eine weitere, keineswegs selbstverständliche Prämisse von methodologischer Tragweite ein. Als Antriebskräfte kultureller Äußerungen und Prozesse werden nur materielle Verhältnisse, sachliche Notwendigkeiten ins Auge gefaßt, im Falle des Journalismus ζ. B. sich wandelnde Produktionserfordernisse der Medien, durch die Genres quasi naturwüchsig hervorgebracht würden. Dagegen wird bei den folgenden Überlegungen angenommen, daß an der Entstehung der Reportage auch Subjekte beteiligt waren und daß die Herausbildung des Genres nicht zuletzt der Einsicht bedeutender Journalisten in Aufgabe und Möglichkeiten ihres Berufs zu verdanken ist. Lange vor der Massenpresse hat es Publizisten mit ausgeprägtem Sinn für das Herstellen von Öffentlichkeit gegeben (vgl. Pöttker 1998b). Wenn sich zeigen ließe, daß schon vor 1850, dem exakt angegebenen Geburtsjahr der Massenpresse (Haller 1990: 37), aus der Feder solcher von der Aufgabe ihres Berufs durchdrungener Journalisten Zeitungsbeiträge stammen, die das funktionale Muster der Reportage mit Anschau-

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Daß hier eine Differenz zu Hallers Auffassung von der Reportage besteht, zeigt sich an folgender Bemerkung über die NS-Zeit: „Die Reportage war, soweit überhaupt erwünscht, gerade gut genug, die Polit-Kampagnen von Partei und Staat mit sinnlichem Material anschaulich und gefühlvoll zu machen." (Haller 1990: 47) Demgegenüber habe ich zu zeigen versucht, daß zumal die von Goebbels als Propagandamittel bevorzugte Radioreportage, sofern sich die Reporter bewußt oder unbewußt an die professionellen Regeln des Genres hielten, aus sich heraus die Kraft gehabt hat, für das Regime unangenehme Realitäten vor dem Publikum offenzulegen (vgl. Pöttker 1998c).

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Horst Pöttker ungsmaterial füllen, wäre das nicht nur eine Gelegenheit, die Merkmale des Genres präziser zu bestimmen; es würde auch die Vorstellung korrigieren, die Reportage gehe letztlich auf die Aufhebung des staatlichen Anzeigenmonopols oder den Rotationsdruck zurück, indem es den Anteil menschlicher Kreativität an der Genese des Genres sichtbar machte. Damit sind wir bei Heine. Als der Schöpfer der Reportage wird er sich nicht erweisen, denn wir können ja nicht wissen, was vor ihm (noch) unbekannte andere geleistet haben.4 Allenfalls kann sich herausstellen, daß ζ. B. Kisch jedenfalls nicht ihr Schöpfer ist, weil Heine schon hundert Jahre früher Signifikantes für das Genre geschaffen hat.5

1.2. Was war Heine? Heine wird in den gängigen Reportage-Monographien nur en passant erwähnt (vgl. Haller 1990:40) und überdies durch die Brille von Karl Kraus betrachtet (vgl. Siegel 1978: 74). Das ist bezeichnend für die rechtsrheinische Literatur- und Publizistikwissenschaft, die Heines Journalistentum lange Zeit ignoriert oder kleingeschrieben hat (vgl. ζ. B. Fechter 1952: 281-285) und erst heute zögernd zur Kenntnis nimmt, während der Autor des „Buchs der Lieder" in Frankreich seit jeher vor allem als Journalist gilt (vgl. Langenbucher 1993: 319). In Deutschland wird Heine gern zerlegt in den innigen, träumerischen, gefühlvollen, tiefgründigen Dichter hier und den extrovertierten, realitätsbewußten, rationalen, oberflächlichen Journalisten dort, wenn letzterer überhaupt zur Kenntnis genommen wird. Nachdem Wolfgang Hädecke in den achtziger Jahren noch einmal das Bild des „zerrissenen" Heine ausgemalt hat (vgl. Hädecke 1997), wird erst in jüngster Zeit durch den jungen Bonner Germanisten Christian Liedtke bewußt an der Korrektur dieses Bildes gearbeitet. Liedtke stellt dem „Klischee vom .zerrissenen', .ambivalenten' Heine, der sich niemals festlegen lasse" (Liedtke 1998: 10), eine Äußerung Heines selbst aus der Vorrede zum „Buch der Lieder" entgegen: „Bemerken muß ich jedoch, daß meine poetischen, ebenso gut wie meine politischen, theologischen und philosophischen Schriften, einem und demselben Gedanken entsprossen sind, und daß man die einen nicht verdammen darf, ohne den andern allen Beifall zu entziehen." (Heine 1 1997: 11) Nach Liedtke war dies die Idee der Emanzipation. Man kann aber auch zu der These gelangen, daß Heines ganzes Werk von der Idee der Öffentlichkeit (oder, als Synthese: der Emanzipation durch Öffentlichkeit) geleitet wird. Auf der Linie dieser These wird Heine in Frankreich bereits 1930 als „genialer Journalist" charakterisiert. Raymond Schiltz fragt in der Einleitung in seine zweisprachige Ausgabe der „Französischen Zustände" in bezug auf die Epoche des

4

Folgt man der Sekundärliteratur, sind schon Anfang des 18. Jahrhunderts in England zumindest Vorformen der Reportage erschienen, so Daniel Defoes „The S t o r m " (vgl. E n k e m a n n 1983: 192). D e r schöpferischen Leistung einer publizistischen Persönlichkeit

nachzugehen

widerspricht

im

übrigen nicht dem Forschungsergebnis, daß die Qualität einer Reportage auch v o n ihrer Einbindung in einen redaktionellen Arbeitszusammenhang abhängt (vgl. Pätzold 1999). A n s Publikum gelangende Reportagen sind selten nur individuelle Produkte ihres A u t o r s . A u c h das zeigt sich schon an Heines Korrespondententätigkeit für die „Allgemeine Zeitung".

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Heines Tagesberichte für die wAllgemeine Zeitung" Bürgerkönigs Louis Philippe, über die Heine aus Paris berichtet hat: „Comment ne pas aborder avec curiosite le temoignage d'un journaliste de genie sur cette confuse et dramatique periode." (Schiltz 1930: III) Daß es Heine mehr um das Herstellen von Öffentlichkeit als um ein autonomes Künstlertum, mehr um Ästhetik als Vehikel, um beim Publikum anzukommen, als um ihrer selbst willen ging, zeigt sich an seiner Publikationsweise und an der Selbstreflexion seiner Arbeit. Drei Hinweise mögen genügen. Der erste: Heine selbst benutzt die Wörter „öffentlich" oder „Öffentlichkeit" gern in einem emphatischen Sinne, ζ. B. wenn er sich als „öffentlicher Sprecher" bezeichnet (Heine ΠΙ 1997: 99) und damit fast schon ein journalistisches Wächteramt, eine Rolle als „Vierte Gewalt" beansprucht. Und auch die Wörter Journalist" oder Journalismus" waren ihm in einer Weise geläufig, die auf seine Identifikation mit diesem Beruf schließen läßt. In den „Tagesberichten" der „Französischen Zustände" gibt es zwei solche Stellen. An der einen stellt Heine die Journalisten als geborene Gegenspieler der Exekutive vor: „Als ich gestern nachmittags immer mehr und mehr Kanonen über die Rue Richelieu fahren sah, merkte ich, daß man die Niederlage der Republikaner benutzen möchte, um andern Gegnern der Regierung, namentlich den Journalisten, an den Leib zu kommen." (Heine ΠΙ 1997: 246) An der anderen lobt er seine Pariser Berufskollegen: „Obgleich Kriegsgerichte installiert sind, herrscht hier noch immer mehr faktische Preßfreiheit, und die Journalisten schreiben hier über die Maßregeln der Regierung noch immer viel freier, als in manchen Staaten des Kontinents, wo die Preßfreiheit durch papierne Gesetze sanktioniert ist." (Heine ΠΙ1997: 249) Der zweite Hinweis: Die Bücher, mit denen Heine seinen Ruhm begründet hat, und zwar nicht nur die Prosabände „Reisebilder", „Französische Zustände" und „Lutetia", sondern auch die Gedichtbände „Buch der Lieder", „Neue Gedichte" und „Romanzero", sind Sammlungen aktueller Texte, die entweder schon in Zeitungen und Zeitschriften erschienen oder zum Nachdruck in populären Periodika bestimmt waren. Charakteristisch für Heines Berufsverständnis ist, daß er um der Verbreitung seiner Mitteilungen willen inhaltliche Abstriche daran in Kauf zu nehmen bereit war.6 Das muß nicht, wie in Deutschland üblich, als Charakterlosigkeit des Dichters interpretiert werden, man kann darin auch umgekehrt das unerschütterliche Festhalten des Publizisten an seiner professionellen Aufgabe sehen, durch das Erreichen eines möglichst großen Publikums Kommunikationsschranken zu überwinden und Öffentlichkeit herzustellen. Mit den erwähnten umfangreichen Textsammlungen, soweit sie vor 1842 erschienen, verfolgten der Verleger Campe und sein Autor Heine bekanntlich nicht zuletzt das Ziel, die Vorzensur zu umgehen, die in den Staaten des Deutschen Bundes auf Publikationen unter 20 Druckbogen (320 Seiten) beschränkt war.

6

In der Vorrede zur französischen Ausgabe der „Lutetia" fand Heine es ζ. B. „weit klüger, wenn wir unsere Glut mäßigen, und mit nüchternen Worten, wo nicht gar unter einer Maske, in einer Zeitung uns aussprechen, die mit Recht eine Allgemeine Weltzeitung genannt wird, und vielen hunderttausend Lesern in allen Landen beiehrsam zu Händen k o m m t " , als bei einem obskuren Winkelblatt, „worin wir unser ganzes Herz mit allen seinen Zornbränden ausschütten könnten (...) nur ein sehr dürftiges und einflußloses Publikum" zu erreichen. Denn: „Selbst in seiner trostlosen Verstümmlung kann hier das W o n gedeihlich wirken; die notdürftigste Andeutung wird zuweilen zu ersprießlicher Saat in unbekanntem Boden." (Heine V 1997: 229)

31

Horst

Pöttker

Das leitet z u m dritten Hinweis über: Heine hat Zeit seines Lebens empfindlich reagiert, wenn er seine publizistische Unabhängigkeit bedroht oder in Zweifel gezogen sah. Das geht aus einer Reihe von Briefen und öffentlichen E r k l ä r u n g e n hervor, die auch deutlich machen, daß er das Veröffentlichen als seine professionelle Grundpflicht betrachtet hat., die zu versäumen sein E t h o s zutiefst verletzt hätte. H e i n e hat eine Sensibilität für diese journalistische Grundpflicht ausgebildet, die u n t e r deutschen D i c h t e r n und D e n k e r n ihresgleichen sucht. Anders als m a n c h e m Kollegen, der v o n der Angst gepeinigt wird, etwas Veröffentlichtes k ö n n e ihm schaden, hat H e i n e das Nicht-Veröffentlichte schlaflose N ä c h t e bereitet. 8 Zugespitzt kann man sagen, daß im G r u n d e alles, was H e i n e publiziert hat, Journalismus war, wenn man darunter die professionelle Anstrengung versteht, K o m m u n i k a t i o n s barrieren d u r c h das Herstellen v o n Öffentlichkeit z u ü b e r w i n d e n . M a n kann a u c h vermuten, w a r u m das in Deutschland bisher k a u m gesehen wird: „Das Bild, das sich die Kommunikationswissenschaft wie die journalistische Z u n f t v o n H e i n e m a c h t , s t a m m t ganz offensichtlich allzu einseitig von Karl Kraus und dessen b e r ü h m t e n (?) T e x t . H e i n e und die F o l g e n ' , w e n n es nicht gar nazistische Restbestände sind, die uns an einem vorurteilslosen Blick auf diese g r o ß e Figur des deutschen Journalismus seit J a h r z e h n t e n hindern." (Langenbucher 1993: 319)

'

8

Ζ. B. aus dem Brief vom 15. Mai 1848, als eine Liste mit Pensionsempfängern des französischen Außenministeriums bekannt geworden war, auf der u. a. Heines Name stand. Sogar Cottas „Allgemeine Zeitung" bezichtigte ihren langjährigen Korrespondenten deshalb seinen eigenen Worten zufolge, „daß ich nicht für das, was ich schrieb, jene Unterstützung empfangen haben möge, sondern für das, was ich nicht schrieb'." (Heine V 1997: 107) Durch Heines Erwiderung, in der er auf sein notorisches Leid mit der redaktionsinternen Zensur des Blattes anspielt, vibriert Empörung: „Die Redaktion der .Allgemeinen Zeitung', die seit zwanzig Jahren nicht sowohl durch das, das sie von mir druckte, als vielmehr durch das, was sie nicht druckte, hinlänglich Gelegenheit hatte zu merken, daß ich nicht der servile Schriftsteller bin, der sich sein Stillschweigen bezahlen läßt - besagte Redaktion hätte mich wohl mit jener levis nota verschonen können." (Heine V 197: 107) Typisch für Heines Pochen auf Unabhängigkeit auch sein Begleitbrief zum Artikel II der „Französischen Zustände" vom 20. Januar 1832 an Cotta, in dem er die „Perfidie" des Verlagsbuchhändlers Gottlob Franckh (1801-1845) beklagt, der behauptet habe, daß Heines journalistische „Korrespondenz von der österreichischen Regierung immediat influenziert werde. Dieses Manöver wurde mit den hiesigen deutschen Jakobinern abgekartet, wobei sie zugleich mich, den sie als den V(er)f(asse)r jenes Artikels überall herumnennen, dergestalt kompromittieren wollen, daß ich mich für sie oder gegen sie erklären müsse, wovon ich das erstere aus Überzeugung und das andere aus Klugheit bis jetzt unterlassen habe. Ich bin nicht der Mann, der sich zwingen läßt, und sie bewirken nur, daß ich, aus Degout vor der jakobinischen Unredlichkeit, noch gemäßigter als jemals werde." (Heine III 1997: 742) Am 28. 12. 1832 schreibt er an Campe trotz der Uberzeugung, „daß ich mir Deutschland auf Lebenszeit versperre, wenn die Vorrede erscheint": „Ich kann nicht eher honett schlafen, bis die ,Vorrede' in der Welt ist. Merken Sie sich das." (Heine III 1997: 751) Gemeint ist die Vorrede zur Buchausgabe der „Französischen Zustände", die zwischen Autor und Verleger wegen dessen Zugeständnissen an die Zensur umstritten war; vgl. Anm. 12.

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Heines Tagesberichte für die *Allgemeine Zeitung" 2. Das Material und seine Herkunft 2.1. Heine als Pariser Korrespondent der „Allgemeinen Zeitung " Heine ist von seiner Zeitung nicht nach Paris geschickt worden. Dennoch war er ihr Korrespondent in einem durchaus professionellen Sinne. Bekanntlich hatte er sich, dem Druck der engen Verhältnisse in Deutschland weichend, im Mai 1831 in die Hauptstadt Frankreichs begeben. Was später zur Emigration werden sollte, war in den ersten Jahren als vorübergehender Aufenthalt gedacht - ähnlich wie bei einem modernen Auslandskorrespondenten. Mit dem Unterschied freilich, daß Heine sich um diese Tätigkeit erst von seinem Pariser Posten aus beworben hatte, obwohl dort mit Maximilian Donndorf (1805-1838) bereits ein Korrespondent saß. Am 31. Oktober 1831 bietet Heine Johann Friedrich von Cotta (1764-1832) seine Mitarbeit an dessen angesehener Zeitung (vgl. Koszyk 1966: 20f.) an. Aus dem Bewerbungsbrief des Korrespondenten in spe: „Hier ist jetzt alles still. Wird es lebhafter und passiert etwas Bedeutendes, so sollen Sie darüber Berichte für die .Allgemeine Zeitung' erhalten, wie ich Kolb versprach, der mir versicherte, daß ich Sie bereit fände, meine Bedingungen für solche Mitteilungen zu genehmigen."9 (Heine ΠΙ 1997: 720) Daß Heine sich als Berufsjournalist bewirbt, ist schon an seinen beharrlich vorgetragenen Honorarforderungen erkennbar. Cotta ist mit Heines Forderungen einverstanden, warnt nur vor allzu aggressivem Stil. Als im folgenden Jahr tatsächlich „die Stille" aufhört und „Bedeutendes passiert", kommt der Korrespondent seinen beruflichen Pflichten nach. Er schickt Cotta eine Serie von Berichten über die „Französischen Zustände"10 vor, während und nach dem Pariser JuniAufstand von 1832. Die Begleitbriefe zählen zu den Dokumenten, die Heines journalistische Professionalität hinsichtlich Unabhängigkeit, Authentizität und Aktualität belegen." Der Verleger zeigt zunächst nicht weniger Professionalität als sein Korrespondent. Jeweils eine gute Woche, nachdem Heine sie abgeschickt hat, erscheinen die Artikel I bis VIII in der „Allgemeinen Zeitung". Schneller ging es in der sich neigenden Zeit der Postkutsche, des Handsatzes und des mechanischen Bogendruckes kaum, in der die Telegraphentechnologie noch ganz am Anfang stand. Nur die politischen Verhältnisse machen Schwierigkeiten. Wohl auf Veranlassung Metternichs interveniert Friedrich von Gentz (1764-1832) am 21. April 1832 bei Cotta gegen die Veröffentlichung der Pariser Berichte Heines (vgl. Schiltz 1930: IXff.). Überdies wird die offizielle Zensur noch mißtrauischer, nachdem beim Hambacher Fest am 27. Mai 1832 und beim Pariser JuniAufstand in Deutschland und in Frankreich demokratische Forderungen laut geworden

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10 11

Gustav Kolb (1798-1865), von dem Heine schreibt, daß er ihm „immer unbedingt traue", war Redakteur der „Allgemeinen Zeitung" unter Carl Joseph Stegmann. So auch der Titel der späteren Buchfassung. Heine an Cotta: „Ich bitte Sie um schleunigste Abdrucksbeförderung dieses Aufsatzes. Kurz vor Abgang der Post kann ich nur in Eile den Grund dieses Wunsches andeuten." (Heine III 1997: 742) Der Grund ist Heines Bedürfnis, öffentlichen Zweifeln an der Wahrheit seiner Berichte zuvorzukommen, wozu er sich wegen des Konflikts mit Gottlob Franckh veranlaßt sah; vgl. Anm. 7.

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Horst Pöttker sind. Die Folge: Artikel IX, dessen Manuskript am 25. Juni 1832 bei der Redaktion eingeht, wird nicht mehr von der „Allgemeinen Zeitung" gedruckt. Daraufhin schlägt Heine seinem Hamburger Verleger Campe am 12. August 1832 vor, die „Französischen Zustände" in Buchform erscheinen zu lassen, was im folgenden Jahr auch geschieht.12 Bezeichnenderweise geht der deutsche Herausgeber Karl Pörnbacher in seinem Kommentar zur Entstehungsgeschichte der „Französischen Zustände" ausführlich auf die Auseinandersetzungen zwischen Campe und Heine um die Buchveröffentlichung ein (vgl. Heine III 1997: 741-761), während man über die Zeitungspublikation der Tagesberichte, von Pörnbacher en passant „Vorabdrucke" genannt (Heine ΠΙ 1997: 779), von ihm nichts Genaues erfährt. Ein Gang ins Archiv des Instituts für Zeitungsforschung der Stadt Dortmund lehrt, daß Heines tägliche Berichte über den Pariser Aufstand zwischen Montag, dem 11., und Montag, dem 18. Juni 1832, in der „Allgemeinen Zeitung" erschienen sind, und zwar im Fließtext lediglich durch die Spitzmarke eines großen, nach rechts geneigten Deltas kenntlich gemacht, offensichtlich das Zeichen des bereits prominenten Autors." Heines Korrespondenzen waren nur eine Komponente der aktuellen Frankreich-Berichterstattung in der vorbildlich um Binnenpluralität bemühten „Allgemeinen Zeitung". Das wird aus einer Fußnote in der „Beilage" zur Ausgabe Nr. 165 vom 13. Juni 1832 deutlich: „Wir theilen hier eine Reihenfolge von Briefen aus Paris mit, welche fast alle Meynungsnuancen daselbst aussprechen; die Redaktion glaubte nichts daran ändern zu dürfen; das Bild würde unvollständig seyn, wenn nicht neben den Stimmen der ruhigen Beobachter auch die Worte eines theilnehmenden Freundes der Republikaner eben so unverschleiert gegeben würden, als die ihres entschiedenen Gegners." Da bisher ein Interesse an den politischen Gesinnungen des Jungen Deutschlands dominiert, werden Heines tägliche Berichte über die Juni-Revolution als Resultate seiner Bereitschaft betrachtet, unter dem Druck der sich verschärfenden Zensur die kritische Kommentierung zu zügeln.14 Heine selbst hat sein Motiv für diese Berichte zumindest in

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Campe nimmt zunächst ohne Heines Einwilligung entschärfende Kürzungen an der vom Autor für die Buchfassung hinzugefugten, glühend gegen Fürstenwillkür gerichteten „Vorrede" vor. Vollständig in der von Heine autorisierten Fassung erscheint der Text erst im Juli 1833 bei Heideloff und Campe in Paris, unter Angabe des Herausgebers P(aul) Gauger und des fingierten Verlagsortes Leipzig.

"

Der Bericht vom 5. Juni erschien in Nr. 163 vom 11. Juni 1832; der vom 6 . 6 . in N r . 164 vom 12. 6. und Beilage dazu; der vom 7. 6. in Beilage zu Nr. 165 vom 13. 6.; der vom 8. 6. in N r . 166 vom 14. 6. und Beilage dazu; der vom 10. 6. in Nr. 168 vom 16. 6.; der vom 11. 6. in N r . 169 vom 17. 6.; der vom 12. 6. in der Beilage zur Nr. 170 vom 18. 6.; die nächste in der Buchfassung als „Tagesbericht" rubrizierte Korrespondenz Heines datiert vom 17. Juni, die übernächste vom 15. Juli 1832.

"

Sogar Autoren wie Raymond Schütz und Christian Liedtke, die sonst Sinn für Heines Journalistentum haben, erblicken in den Tagesberichten eine zweitrangige Kompromißpublizistik, die weniger Beachtung verdiene als die vorangegangenen großen „Artikel". Schütz setzte sich ein Jahrhundert später auf ein ziemlich hohes Roß und war nahe daran, Heine die vermeintlichen Zugeständnisse vorzuwerfen, da sie vergeblich gewesen seien: „Dans ses .Tagesberichte' l'ecrivain s'astreint ä une reserve prudente. Inutilement." (Schütz 1930: XII). Und Liedtke verdrängt die Autorschaft Heines nahezu, wenn er nach dem Hinweis auf die Intervention Metternichs und Gentz' behauptet: „Schon bald druckt die .Allgemeine Zeitung' nur noch kürzere Beiträge mit der neutralen Uberschrift .Tagesberichte'. Die Beschränkungen veranlassen Heine schließlich zum Abbruch seiner Mitarbeit" (Liedtke 1998:93). In der Zeitung findet sich die Rubrik „Tagesberichte" aber gar nicht, sie taucht erst in der Buchausgabe auf.

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Heines Tagesberichtefür die allgemeine Zeitung" der Rückschau ganz anders gesehen. Fünf Jahre später schreibt er an Cottas Sohn Johann Georg (1796-1863) in bezug auf seine Korrespondententätigkeit von 1832: „Ehrlich gestanden, da mich die Eitelkeit trieb, nur große Artikel zu schreiben, und da ich nur als die außerordentlichsten Tagesinteressen eintraten, einige kleinere Briefe schrieb, so hat die Allg(emeine) Zeit(un)g (...) mir gewiß weniger eingebracht, als ich für meine gewissenhaft ernste Tätigkeit wohl verdient haben mochte" (Heine ΠΙ 1997: 760). Demnach war es nicht die Zensur, die ihn zu der kürzeren und aktuelleren Form der Tagesberichte bewogen hat, sondern unverhofft eintretende „außerordentlichste Tagesinteressen". Das wird glaubwürdig, wenn man die Chronologie berücksichtigt: Der erste Bericht ist datiert „Paris, 5 Jun.", also Zeit und Ort des Beginns der republikanischen Auflehnung gegen Louis Philippe; in der folgenden Woche sendet Heine dann jeden Tag einen „kleinen Brief" aus Paris, während er die „großen Artikel" in weiteren Abständen geschrieben und geschickt hatte. Und nach dem Ende des Aufstands sendet er mit Artikel IX wieder einen längeren kommentierenden Text, der dann allerdings nicht mehr gedruckt wird. Offensichtlich ging es Heine bei den täglichen Berichten über den Juni-Aufstand darum, die Leser der „Allgemeinen Zeitung" möglichst rasch von einem besonders dramatischen, aber auch besonders wichtigen Geschehen in Kenntnis zu setzen. Es ging ihm also vor allem um Aktualität, um eine journalistische Qualität, und - wenn überhaupt - erst danach darum, der Zensur - notfalls unter Inkaufnahme von Qualitätsminderungen - zu entgehen. Die Chronologie und Heines Erinnerung sprechen dagegen, daß die Tagesberichte eine Folge der Schwierigkeiten waren, die die „Allgemeine Zeitung" mit der Zensur hatte.

2.2. Heines tägliche Berichte über den Juni-Aufstand von 1832 Meine Textwiedergabe beschränkt sich auf Auszüge aus den Berichten, die Heine zwischen dem 5. und 12. Juni 1832 täglich geschrieben hat, also während der dramatischen Ereignisse in Paris. Die Auszüge machen etwa ein Drittel des Gesamtumfangs dieser Berichte aus, vom ausgelassenen Text ist die Hälfte ebenfalls aktuelle Situationsschilderung, aus der die Tagesberichte damit zu zwei Dritteln bestehen, das übrige Drittel sind stärker reflektierende und kommentierende Passagen. Basis der Textwiedergabe ist die von der „Allgemeinen Zeitung" gedruckte ursprüngliche Fassung, die von der bekannten, den Heine-Ausgaben bisher zugrundegelegten Buchfassung teilweise abweicht. In die Buchfassung (hier herangezogen: Heine ΠΙ 1997: 91-27915) nicht oder abweichend

Pörnbacher legt als Satzvorlage die Ausgabe zugrunde: Walzel, Oskar u. a. (Hrsg.) (1911-1920): Heinrich Heine: Werke in zehn Bänden. Leipzig, die ihrerseits auf die Buchausgaben bei Hoffmann und Campe sowie Campe und Heideloff von 1833 zurückgreift. Er gibt für die „großen" Artikel I bis IX Lesarten zwischen Buchausgabe, Handschrift, Korrekturabzug und Erstdruck in der „Allgemeinen Zeitung" an, bezeichnenderweise aber nicht für die Tagesberichte, bei denen er sich mit der Weitergabe grober Mitteilungen Walzels begnügt. Nützlich für das Verständnis der Tagesberichte sind Pörnbachers Sacherläuterungen (Heine III 1997: 805ff.), auf die hier aus Platzgründen lediglich verwiesen wird.

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Horst Pöttker aufgenommene Textteile stehen kursiv, nur in der Buchfassung enthaltene Textteile sind ((in doppelter Parenthese)) hinzugefügt. Die Orthographie ist behutsam modernisiert.

((Vorbemerkung Über die mißlungene Insurrektion vom 5. und 6. Junius, über diese so bedeutende und folgereiche Erscheinung, wird man nie viel Wahres und Richtiges erfahren, sintemalen beide Parteien gleich interessiert waren, die bekannten Tatsachen zu entstellen und die unbekannten zu verhüllen. Die folgenden Tagesberichte, geschrieben angesichts der Begebenheiten, im Geräusch des Parteikampfs und zwar immer kurz vor Abgang der Post, so schleunig als möglich, damit die Korrespondenten des siegenden Justemilieu nicht den Vorsprung gewönnen - diese flüchtigen Blätter teile ich hier mit, unverändert, insoweit sie auf die Insurrektion vom 5. Junius Bezug haben. Der Geschichtschreiber mag sie vielleicht einst um so gewissenhafter benutzen können, da er wenigstens sicher ist, daß sie nicht nach späteren Interessen verfertigt worden. (...))) Paris, 5 Jun((i)). Der Leichenzug von General Lamarque, un convoi d'opposition, wie die Philippisten sagen, ist eben von der Madelaine nach dem Bastillenplatze gezogen; es waren mehr Leidtragende und Zuschauer als bei Casimir Pöriers Begräbnis. Das Volk zog selbst den Leichenwagen. Besonders auffallend in dem Zuge waren die fremden Patrioten, deren Nationalfahnen in einer Reihe getragen wurden. Ich bemerkte darunter auch eine Fahne, deren Farben aus Schwarz, Karmosinrot und Gold bestanden. Um ein Uhr fiel ein starker Regen, der über eine halbe Stunde dauerte; trotzdem blieb eine unabsehbare Volksmenge auf den Boulevards, die meisten barhaupt. Als der Zug bis gegen das Varietes-Theater gelangt war, und eben die Kolonne der Amis du peuple vorüberzog, und mehrere derselben vive la Republique«!)) riefen, fiel es einem Polizeisergeanten ein zu intervenieren; aber man stürzte über ihn her, zerbrach seinen Degen, und ein gräßlicher Tumult entstand; er ist nur mit Not gestillt worden. Der Anblick einer solchen Störnis, die einige hunderttausend Menschen in Bewegung gesetzt, war jedoch merkwürdig und bedenklich genug. In den Tuilerien wollte man gestern wissen, die Herzogin von Berry sei in Nantes gefangen. (...) Paris, 6 Junius. (...) Auf wessen Seite die Schuld, daß die Leidenschaft so fürchterlich ausbrach, ist schwer zu ermitteln. Die widersprechendsten Gerüchte herrschen noch immer über den Anfang der Feindseligkeiten, über die Ereignisse dieser Nacht und über die ganze Lage der Dinge. (...) Viele, die ich ob des Beginns der Feindseligkeiten befragt habe, behaupten, es habe bei dem Pont d'Austerlitz ob der Leiche des toten Helden der blutige Hader begonnen, indem ein Teil der „Patrioten" den Sarg nach dem Panthöon bringen, ein anderer Teil ihn weiter nach dem nächsten Dorfe begleiten wollte, und die Sergeants de Ville und Munizipalgarden sich dergleichen Vorhaben widersetzten. (...) Als ich mich nach den Boulevards wandte, fand ich dort alle Boutiquen geschlossen, wenig Volk, darunter gar wenige Weiber, die doch sonst bei Erneuten sehr furchtlos ihre Schaulust befriedigen; es sah alles sehr ernsthaft aus. Linientruppen und Kürassiere zogen hin und her, Ordonnanzen mit besorgten Gesichtern sprengten vorüber, in der Ferne Schüsse und Pulverdampf. Das Wetter war nicht mehr trübe, und gegen Abend sehr günstig. Die Sache schien für die Regierung sehr gefährlich, als es hieß, die Nationalgarden hätten sich für das Volk erklärt. Der Irrtum entstand dadurch, daß viele der „Patrioten" gestern die Uniform der Nationalgardisten trugen, und die Nationalgarde wirklich einige Zeit unschlüssig war, welche Partei sie unterstützen sollte. (...) - Es ist jetzt vier Uhr, und es regnet stark. Dieser ist den „Patrioten" sehr ungünstig, die sich großenteils im Quartier St. Martin barrikadiert haben, und wenig Zuhilfe erhalten. Sie sind von allen Seiten zerniert, und ich höre in diesem Augenblicke den stärksten Kanonendonner. Ich vernahm, vor zwei Stunden hätte das Volk noch viele Siegeshoffnung gehabt, jetzt aber gelte es nur heroisch zu sterben. Das werden viele. Da ich bei der Porte St. Denis wohne, habe ich die ganze Nacht schlaflos zugebracht; fast ununterbrochen dauerte das Schießen. Der Kanonendonner findet jetzt in meinem Herzen den kummervollsten Widerhall. Es ist eine unglückselige Begebenheit, die noch unglückseligere Folgen haben wird.

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Heines Tagesberichte für die Allgemeine

Zeitung"

Paris, 7 Jun. Als ich gestern nach der Börse ging, um meinen Brief in den Postkasten zu werfen, stand das ganze Spekulantenvolk unter den Kolonnen, vor der breiten Börsentreppe. Da eben die Nachricht anlangte, daß die Niederlage der Patrioten gewiß sei, zog sich die süßeste Zufriedenheit über sämtliche Gesichter; man konnte sagen, die ganze Börse lächelte. Unter Kanonendonner gingen die Fonds um zehn Sous in die Höhe. Man schoß nämlich noch bis fünf Uhr; um sechs Uhr war der ganze Revolutionsversuch unterdrückt. Die Journale konnten also darüber schon heute so viel Belehrung mitteilen, als ihnen ratsam schien. Der Constitutionnel und die D£bats scheinen die Hauptzüge der Ereignisse einigermaßen richtig getroffen zu haben. Nur das Kolorit und der Maßstab ist falsch. Ich komme eben von dem Schauplatze des gestrigen Kampfes, wo ich mich überzeugt habe, wie schwer es wäre die ganze Wahrheit zu ermitteln. Dieser Schauplatz ist nämlich eine der größten und volkreichsten Straßen von Paris, die Rue St. Martin, die an der Pforte dieses Namens auf dem Boulevard beginnt und erst an der Seine, an dem Pont-de-Notre-Dame, aufhört. An beiden Enden der Straße hörte ich die Anzahl der »Patrioten", oder wie sie heute heißen, der »Rebellen'", die sich dort geschlagen, auf fünfhundert bis tausend angeben; jedoch, gegen die Mitte der Straße ward diese Angabe immer kleiner, und schmolz endlich bis auf fünfzig. Was ist Wahrheit! sagt Pontius Pilatus. - Die Anzahl der Linientruppen ist leichter zu ermitteln; es sollen gestern (selbst dem Journal des D6bats zufolge) 40.000 Mann schlagfertig in Paris gestanden haben. Rechnet man dazu wenigstens 20.000 Nationalgarden, so schlug sich jene Handvoll Menschen gegen 60.000 Mann. (...) Heute ist wieder alles in bunter Bewegung, und man sollte glauben, nichts wäre vorgegangen. Sogar auf der Straße St. Martin sind alle Laden geöffnet. Trotz dem, daß man, wegen des aufgerissenen Pflasters und der Reste der Barrikaden, dort schwer passiert, wälzt sich jetzt, aus Neugier, eine ungeheure Menschenmasse durch diese Straße, die sehr lang und ziemlich eng ist, und deren Häuser ungeheuer hoch gebaut. Fast überall hat dort der Kanonendonner die Fensterscheiben zerbrochen und überall sieht man die frischen Spuren der Kugeln; denn von beiden Seiten wurde mit Kanonen in die Straße hineingeschossen, bis die Republikaner sich in die Mitte derselben zusammengedrängt sahen. Gestern sagte man, in der Kirche St. Mery seien sie endlich von allen Seiten eingeschlossen gewesen. Diesem aber hörte ich am Orte selbst widersprechen. Ein etwas hervorragendes Haus, Caf§ Leclerque geheißen und an der Ecke des Gäßchens St. Mery gelegen, scheint das Hauptquartier der Republikaner gewesen zu sein. Hier hielten sie sich Jim längsten; hier leisteten sie den letzten Widerstand. Sie verlangten keine Gnade und wurden meistens durch die Bajonette gejagt. Hier fielen die meisten Schüler der polytechnischen Schule. (...) Ein Schneider, der heute morgen auf dem Vendomeplatze es wagte, die gute Absicht der Republikaner zu erwähnen, bekam Prügel von einer starken Frau, die wahrscheinlich seine eigne war. Das ist die Kontrerevolution. Paris, 8 Jun. (...) Ich habe Paris nie so sonderbar schwül gesehen wie gestern Abend. Trotz des schlechten Wetters waren die öffentlichen Orte mit Menschen gefüllt. In dem Garten des Palais-royal drängten sich die Gruppen der Politiker, und sprachen leise, in der Tat sehr leise; denn man kann jetzt auf der Stelle vor ein Kriegsgericht gestellt, und in vierundzwanzig Stunden erschossen werden. Ich fange an, mich nach dem Gerichtsschlendrian meines Deutschlands zurückzusehnen. Der gesetzlose Zustand, worin man sich jetzt hier befindet, ist widerwärtig; das ist ein fataleres Übel als die Cholera. Wie man früher, als letztere grassierte, durch die übertriebenen Angaben der Totenzahl geängstigt wurde, so ängstigt man sich jetzt, wenn man von den ungeheuer vielen Arrestationen, wenn man von geheimen Füsilladen hört, wenn tausenderlei schwarze Gerüchte sich, wie gestern Abend der Fall war, im Dunkeln bewegen. Heute, bei Tageslicht, ist man beruhigter. Man gesteht, daß man sich gestern geängstigt, und man ist vielmehr verdrießlich als furchtsam. Es herrscht jetzt ein JustemilieuTerreur! (...) Paris, 10 Jun. Gestern war Paris ganz ruhig. Den Gerüchten von den vielen Füsilladen, noch vorgestern Abend von den glaubwürdigsten Leuten verbreitet, wurde von denen, die der Regierung am nächsten stehen, aufs beruhigendste widersprochen. Nur eine große Anzahl von Verhaftungen wurde eingestanden. Dessen konnte man sich aber auch mit eigenen Augen überzeugen; gestern, noch mehr als vorgestern, sah man überall arretierte Personen von Liniensoldaten oder Kommunalgarden vorbeiführen. Das war zuweilen wie eine Prozession: alte und junge Menschen, in den kläglichsten 37

Horst Pöttker Kostümen, und begleitet von jammernden Angehörigen. Hieß es doch, jeder werde gleich vor ein Kriegsgericht gestellt und binnen 24 Stunden erschossen, zu Vincennes. Überall sah man Volksgruppen vor den Häusern, wo Nachsuchungen geschahen. (...) Da die Post heute, Sonntag, schon diesen Mittag abgeht, kann ich über heute nichts mitteilen. Auf die Journale muß ich bloß verweisen. Ihr Ton ist weit wichtiger als das, was sie sagen. Übrigens sind sie gewiß wieder voll von Lügen. - Seit frühestem Morgen wird unaufhörlich getrommelt. Es ist heute große Revue. Mein Bedienter sagt mir, daß die Boulevards, überhaupt die ganze Strecke von der Barriere du Trone bis an die Barriere de l'ftoile«,)) mit Linientruppen und Nationalgarden bedeckt sind. (...) Paris, 11 Jun. Ein wunderschönes Wetter begünstigte die gestrige Heerschau. Auf den Boulevards, von der Barriere du Trone bis zur Barriere de l'itoile standen vielleicht 50.000 Nationalgarden und Linientruppen, und eine unzählige Menge von Zuschauern war auf den Beinen oder an den Fenstern, neugierig erwartend, wie der König aussehen und das Volk ihn empfangen werde, nach so außerordentlichen Ereignissen. Um Ein Uhr gelangten Se. Majestät mit Ihrem Generalstab in die Nähe der Porte-Saint-Denis, wo ich auf einer umgestürzten Therme stand, um genauer beobachten zu können. Der König ritt nicht in der Mitte, sondern an der rechten Seite, wo Nationalgarden standen, und den ganzen Weg entlang lag er seitwärts vom Pferde herabgebeugt, um überall den Nationalgarden die Hand zu drücken; als er zwei Stunden später desselben Wegs zurückkehrte, ritt er an der linken Seite, wo er dasselbe Manöver fortsetze, so daß ich mich nicht wundern würde, wenn er, in Folge dieser schiefen Haltung, heute die größten Brustschmerzen empfindet, oder sich gar eine Rippe verrenkt hat. (...) Er hat sich sehr verändert, seit ich ihn diesen Winter auf einem Ball in den Tuilerien gesehen. Das Fleisch seines Gesichtes, damals rot und schwellend, war gestern schlaff und gelb, sein schwarzer Backenbart war jetzt ganz ergraut, so daß es aussieht, als wenn sogar seine Wangen sich seitdem geängstigt ob gegenwärtiger und künftiger Schläge des Schicksals; wenigstens war es ein Zeichen des Kummers, daß er nicht daran gedacht hat, seinen Backenbart schwarz zu färben. Der dreieckige Hut, der, mit ganzer Vorderbreite, ihm tief in die Stirne gedrückt saß, gab ihm außerdem ein sehr unglückliches Ansehen. Er bat gleichsam mit den Augen um Wohlwollen und Verzeihung. (...) - Nachdem Ludwig ((Philipp)) die Heerschau gehalten, oder vielmehr das Heer betastet hatte, ((um sich zu überzeugen, daß es wirklich existiert,)) dauerte der militärische Lärm noch mehrere Stunden. Die verschiedenen Korps schrien sich beständig Komplimente zu, wenn sie an einander vorübermarschierten. Vive la ligne! rief die Nationalgarde, und jene schrie dagegen: Vive la Garde nationale! Sie fraternisierten. Man sah einzelne Liniensoldaten und Nationalgarden in symbolischer Umarmung; ebenso, als symbolische Handlung, teilten sie miteinander ihre Würste, ihr Brot und ihren Wein. Es ereignete sich nicht die geringste Unordnung. - Ich kann nicht umhin, zu erwähnen, daß der Ruf: Vive la liberte! der häufigste war, und wenn diese Worte von so vielen tausend bewaffneten Leuten aus voller Brust hervorgejauchzt wurden, fühlte man sich ganz heiter beruhigt, trotz des Belagerungszustandes und der instituierten Kriegsgerichte. (...)

3.

3.1.

Textinterpretation und Konsequenzen

Öffentlichkeit durch Α uthentizität

Entspricht dieser Text dem Funktionskern der Reportage? Offensichtlich soll er fernen Leser(inne)n etwas wie ein Miterleben des dramatischen Geschehens in Paris vermitteln. Das für jeden Journalismus charakteristische Ziel, durch Uberwindung von Kommunikationsbarrieren Kenntnisse über aktuelle Vorgänge zu verbreiten, spricht hier aus jeder Zeile.

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Heines Tagesberichtefür die allgemeine Zeitung° Wird das Ziel, Öffentlichkeit herzustellen, aber auch mit dem spezifischen Mittel der Authentizität verfolgt? Die Vorbemerkung hat Heine erst für die Buchfassung hinzugefügt. Dennoch wird man darin ein Zeugnis jenes „subjektiven Sinns" (vgl. Weber 1972: 1; Pöttker 1997: 47-72) sehen dürfen, den der Korrespondent bereits mit dem Schreiben dieser Berichte verbunden hat. Zwar hat Heine Monate später nur noch eine zeitliche Distanz im Auge, die durch die Texte überwunden werden könne. Aber welche besondere Qualität sie dazu geeignet mache, spricht er im Zurückblicken ausdrücklich an: „Unverändert", so behauptet er nicht ganz zutreffend16, teile er seine spontan niedergeschriebenen Eindrücke mit, damit ein Chronist des Aufstands sie irgendwann als zuverlässige Quelle benutze könne, „da er wenigstens sicher ist, daß sie nicht nach späteren Interessen verfertigt wurden." Nimmt man noch den ersten Satz der Vorbemerkung hinzu, in dem sich Heine ausdrücklich von den Interessen der beteiligten Parteien absetzt, „die bekannten Tatsachen zu entstellen und die unbekannten zu verhüllen", kommt hier ein geradezu emphatischer Anspruch auf professionelle Authentizität zum Ausdruck. Wenn Heines Tagesberichte die funktionalen Kriterien der Reportage erfüllen, dann ist zu fragen, welche konkreten Besonderheiten sich an diesen Texten zeigen, die als Merkmale des Genres gelten können.

3.2. Merkmale der Reportage 3.2.1. Simultanität Eben, während dieser Nacht, heute, jetzt, in diesem Augenblick, heute morgen, in einigen Stunden: Heine verwendet in den Tagesberichten 42 mal solche temporalen Bestimmungen, um die Gleichzeitigkeit von Bericht und berichtetem Geschehen auszudrücken. Und das Präteritum als grammatisches Tempus, das in konventionellen Berichten die Zeitperspektive des Abstands vom Geschehen prägt und das auch hier den Grundton bestimmt, schlägt immer wieder ins Präsenz um. Am eindrucksvollsten ist dieser die Gleichzeitigkeit betonende Wechsel in der Korrespondenz vom zweiten Tag des Aufstands, als dessen Erfolglosigkeit besiegelt war. „Das Wetter war nicht mehr trübe und gegen Abend sehr günstig. Die Sache schien für die Regierung sehr gefährlich", hieß es eben noch über den vorangegangenen ersten Tag; und nun plötzlich: „Es ist jetzt vier Uhr, und es regnet stark. Dieser ist den .Patrioten' sehr ungünstig, die (...) wenig Zuhilfe erhalten. Sie sind von allen Seiten zerniert, und ich höre in diesem Augenblicke den stärksten Kanonendonner." An solchen Stellen signalisiert Heine dem Publikum nicht nur seine Anwesenheit bei den berichteten Ereignissen, sondern darüber hinaus, daß er den Bericht unmittelbar in der bestehenden Situation produziert habe. Die Tagesberichte zeigen, daß die Idee der Simultaneität schon ein Jahrhundert vor den elektronischen Medien mit dem Anspruch der Reportage auf besondere Authentizität verbunden war (vgl. Pöttker 1998c), auch

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Streichungen und Zusätze sind in den oben dokumentierten Ausschnitten gekennzeichnet.

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Horst Pöttker

wenn sich diese Idee mit der damals zur Verfügung stehenden Medientechnik nur unvollkommen verwirklichen ließ. Warum verlangt die mit der Reportage angestrebte Unverfälschtheit nach gleichzeitigem Berichten, was verbindet Authentizität und Simultaneität? Die Antwort liegt nahe, wird in der Literatur über die Reportage aber selten formuliert: Bei simultanem Berichten haben intervenierende Faktoren auf der Kommunikatorseite, ζ. B. politische Präferenzen des Reporters oder ökonomische Interessen des Verlegers, kaum Zeit, sich zu entfalten und auf das journalistische Produkt Einfluß zu nehmen. Gleichzeitig zu berichten bedeutet, daß der Reporter sich dem Geschehen bis zu einem gewissen Grade anheimgeben, ja sich von ihm überwältigen lassen muß, so daß die Dynamik der Ereignisse mehr Macht über ihre Wiedergabe gewinnt als bei nachträglicher Berichterstattung. Simultaneität gehört zur Authentizität der Reportage, weil sie den Reporter in hohem Maße zum bloßen Medium macht, durch das sich das Geschehen selbst dem Publikum vermittelt. Der Journalist Heine hat diesen Zusammenhang nicht nur erkannt und in der Vorbemerkung zu den Tagesberichten in der Buchausgabe angesprochen, er hat auch nach dieser Einsicht gehandelt, soweit die Bedingungen der Medienproduktion im Jahre 1832 dies zuließen.

3.2.2.

Subjektivität

Auffällig an den Tagesberichten, zumal wenn man sie als professionellen Journalismus betrachtet, ist die durchgängige Ich-Form. Uber 60 mal kommt in den Texten vom 5. bis 12. Juni das Pronomen der ersten Person Singular vor. Außerdem umschreibt Heine an die 30 Mal die erste Person mit dem unpersönlichen Pronomen „man", so daß der Autor sich über 90 mal selbst nennt. Das den Text verursachende Subjekt gibt sich in ihm fortwährend zu erkennen. Dies Merkmal der Reportage kann man als Subjektivitätseingeständnis oder kürzer und weniger präzise als Subjektivität bezeichnen. Heine bedient sich dazu auch weniger aufdringlicher stilistischer Mittel, etwa, wenn er beiläufig die fremde Quelle einer mitgeteilten Information erwähnt oder wenn er eine Information einschränkend als Eindruck wiedergibt: „Ein etwas hervorragendes Haus, Cafe Leclerque geheißen und an der Ecke des Gäßchens St. Mery gelegen, scheint das Hauptquartier der Republikaner gewesen zu sein." Auch in diesem Satz ist das Subjekt des Textes präsent. Worin besteht der funktionale Sinn des Reportage-Merkmals Subjektivität? Authentizität verlangt, daß unvermeidliche Objektivitätsbeeinträchtigungen nicht kaschiert, sondern dem Publikum mitgeteilt werden. Und solche Beeinträchtigungen sind eben mit der selektiven Begrenztheit der Wahrnehmung des berichtenden Subjekts vermacht, von seiner Konstruktionstätigkeit beim Zusammenfügen von Wahrnehmungspartikeln zu schweigen. Aufschlußreich ist, mit welcher Art von Verben sich das Pronomen der ersten Person Singular in den Tagesberichten verbindet: Ich höre, ich sehe, aber auch: ich bemerkte, ich fand, ich vernahm. Die meisten dieser Verben drücken Vorgänge der Sinneswahrnehmung oder ihrer Verarbeitung aus, nur wenige beziehen sich auf Meinungen oder Urteile des Textsubjekts. Daran wird deutlich, daß es Heine hier tatsächlich auf das Deklarieren der Grenzen ankommt, die seinem subjektiven Erfahrungshorizont und damit seinen

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Heines Tagesberichtefür die Allgemeine Zeitung" Mitteilungen an das Publikum gesetzt sind, und nicht - wie beim Kommentar - darauf, das Publikum von seinen subjektiven Standpunkten zu überzeugen. Subjektivität als Reportagequalität meint die bewußte, für das Publikum erkennbar gemachte Unterwerfung unter die Gesetze, die die Naturbeschaffenheit der Wahrnehmungsweise des Menschen seinen Erkenntnis- und Kommunikationsmöglichkeiten einschränkend auferlegt. Ich, der Reporter, nolens volens selbst ein Teil der von mir geschilderten Situation, höre oder sehe dies - jemand anderes mag in derselben Situation etwas anderes hören oder sehen. Es ist keineswegs paradox, daß gerade der Hinweis auf die Unvollkommenheit der eigenen Wahrnehmung die Authentizität und damit die Glaubwürdigkeit einer journalistischen Mitteilung erhöht, solange diese Unvollkommenheit unvermeidlich ist. Für den kritischen Rationalismus gehört dieser Zweifel zur Realitätsbindung der Erkenntnis (vgl. Popper 1966).17

3.2.3.

Präzision

Subjektivität als Deklaration unvermeidlicher Wahrnehmungsbeeinträchtigungen schließt nicht aus, vermeidbare Beeinträchtigungen auch tatsächlich zu vermeiden. Im Gegenteil: Authentizität im Sinne optimaler Unverfälschtheit verlangt, die geschilderte Situation so umfassend, aber auch so genau wie möglich wahrzunehmen. Das erfordert aktive und gründliche Recherche. Heine hat sich nicht mit seinen spontanen Eindrücken begnügt, er hat, wo ihm Sachverhalte ungeklärt erschienen, nachgefaßt. Was Anfang und Ende des Aufstands betrifft, teilt er nicht einfach die darüber in Umlauf befindlichen „widersprechendsten Gerüchte" mit, sondern er befragt Augenzeugen. Und bei der Heerschau Louis Philippes steigt er „auf eine umgestürzte Therme, um genauer beobachten zu können." Am deutlichsten wird die auf Präzision zielende Recherchehaltung an der Art, wie er die Zahl der Kämpfer angibt. „An beiden Enden der Straße hörte ich die Anzahl der .Patrioten', oder wie sie heute heißen, der .Rebellen', die sich dort geschlagen, auf fünfhundert bis tausend angeben; jedoch, gegen die Mitte der Straße ward diese Angabe immer kleiner, und schmolz endlich bis fünfzig. (...) Die Anzahl der Linientruppen ist leichter zu ermitteln: es sollen gestern (selbst dem Journal des Debats zufolge) 40.000 Mann schlagfertig in Paris gestanden haben." Präziser pflegen die Zahlen in Kriegs- oder Katastrophenbe-

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Dies Merkmal unterscheidet die Reportage besonders stark von der Nachricht, bei der zwar auch Quellen anzugeben, die Ich-Form oder andere Subjektivitätseingeständnisse aber verpönt sind. Daß die ebenfalls im 19. Jahrhundert standardisierte Nachrichtenform, oft irrtümlich mit professionellem Journalismus schlechthin gleichgesetzt, entgegengesetzt zur standardisierten Reportageform das Kaschieren auch unvermeidlicher Objektivitätseinschränkungen verlangt (Objektivation), ist aus der völlig anderen Funktionsbestimmung des Nachrichtengenres zu erklären, das nicht durch Authentizität, sondern durch besondere, an Relevanzkriterien orientierte Selektivität Kommunikationsbarrieren überwinden soll. Wenn Ulrich Pätzold bestreitet, daß Subjektivität zu den Merkmalen der Reportage gehört (vgl. Pätzold 1999), ist dagegen eine Subjektivität gemeint, die journalistische Mitteilungen aus der Bindung an die intersubjektiv überprüfbare Sinneswahrnehmung löst und in die Freiheit selbstreferentieller Logik oder Ästhetik, wenn nicht in die Beliebigkeit entläßt.

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Horst Pöttker richten auch heute nicht zu sein. Vorbildlich bei Heine besonders, daß er nicht nur gegenrecherchiert, sondern die Recherchewege auch offenlegt und auf Unstimmigkeiten zwischen Quellen hinweist. „Was ist Wahrheit! sagt Pontius Pilatus." Hier fallen die nur scheinbar divergenten Qualitäten der Präzision und der Subjektivität zusammen. Mit dem Erklimmen des erhöhten Beobachterpostens bei der königlichen Parade hat Heine sich nur einmal schon vorher in eine günstige Rechercheposition bringen können. Das ist kein Wunder, handelte es sich beim Juni-Aufstand doch um ein unvorhergesehenes Ereignis, auf das sich der Reporter kaum gezielt vorbereiten konnte. Wenn es über eine vorhersehbare Situation zu berichten gilt, verlangt die Präzision der Reportage dagegen auch Vorab-Ermittlungen. Ein Sportjournalist, der im Rundfunk live ein Fußballspiel schildert, macht sich zuvor über die Mannschaften kundig, sonst fehlt es seiner Reportage an Tiefenschärfe. Und in jedem Ressort braucht der gute Reporter einen Bildungshorizont, der solche Tiefenschärfe sogar bei unvorhergesehenen Ereignissen entstehen läßt. Auch dafür ist Heine ein Vorbild. Der Zusammenhang zwischen Präzision und Authentizität liegt auf der Hand. Unverfälschtheit erweist sich nicht zuletzt daran, daß der Berichterstatter eine Fülle recherchierter Details wiederzugeben vermag, weil er die Situation bis zu ihren Hintergründen durchdrungen hat. Das führt zur vierten Qualität der Reportage, die aus den Tagesberichten extrapoliert werden kann.

3.2.4.

Atmosphäre

Präzision meint Details, die für den Informationskern einer journalistischen Mitteilung erheblich sind. Wieviel Rebellen an einem Aufstand, wieviel Soldaten an seiner Unterdrückung beteiligt sind, ist von sachlicher Wichtigkeit. Solche Einzelheiten finden natürlich auch in der auf Relevanz zielenden Nachricht Platz, und zwar wegen ihres Aufbauprinzips je mehr, desto länger sie ist. Die von Heine recherchierten Zahlen hätten, wenn es dieses Genre schon gegeben hätte, auch in eine nicht zu knappe Nachricht über den Juni-Aufstand gehört. Der Unterschied zwischen dem nachrichtenspezifischen Relevanz- und dem reportagespezifischen Authentizitätsprinzip wird nicht zuletzt daran deutlich, daß Authentizität auch nach unwichtigen Details verlangt. Die Schilderung von Kleidung, Gebärden und Mienen des Königs wäre in einer Nachricht über die große Parade ein Fremdkörper gewesen. Heine ist sie jedoch wichtig: „wenigstens war es ein Zeichen des Kummers, daß er nicht daran gedacht hat, seinen Backenbart schwarz zu färben. Der dreieckige Hut, der, mit ganzer Vorderbreite, ihm tief in die Stirne gedrückt saß, gab ihm außerdem ein sehr unglückliches Ansehen. Er bat gleichsam mit den Augen um Wohlwollen und Verzeihung." An solchen Einzelheiten wie an beiläufigen Angaben über Wetter, Lichtverhältnisse oder Straßenzustand zeigt sich, daß Heine nicht zuletzt die Atmosphäre der geschilderten Situation vermitteln will. Zur Radio-Reportage wird die Wiedergabe von situationstypischen Hintergrundgeräuschen gehören, heute oft von einem „Atmo-Band" eingespielt (vgl. Stotz 1997). 1832 mögen die Leser solche Atmo-Geräusche in der Phantasie vernommen haben, wenn sie lasen: „Sie sind von allen Seiten zerniert, und ich höre in diesem Augenblick den stärksten Kanonendonner." Heines Text durchziehen optische

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Heines Tagesberichtefür die νallgemeine Zeitung" und akustische Sinneseindrücke, die für den Informationskern nebensächlich sind, die aber in ihrem Zusammenwirken demonstrieren, daß der Berichterstatter wirklich dabeigewesen ist und die, indem sie eine realistische Kulisse bilden, dem Publikum das berühmte Miterleben der Situation vermitteln. In dieser Lebensnähe liegt der Sinn der Anschaulichkeit (oder Anhörlichkeit) für die Reportage. Je mehr ein Bericht auch in unwichtigen Einzelheiten, deren Ensemble aber die Atmosphäre der geschilderten Situation ausmacht, mit der Lebenserfahrung der Leserin oder des Hörers übereinstimmt, desto glaubwürdiger ist er und desto leichter vermag er innerpsychische Rezeptionsbarrieren zu überwinden. Dieser rezeptionsstimulierende Faktor wird in der Verständlichkeitsforschung „Anregende Zusätze" genannt (Langer u. a. 1993: 22). Dabei wird darauf hingewiesen, daß „Anregende Zusätze" und „Kürze - Prägnanz" komplementäre Verständlichkeitsfaktoren sind. Ein anschaulicher Text kann nicht sehr prägnant sein, ein knapper Text verliert an Anschaulichkeit (vgl. Langer u. a. 1993: 23). Auch beim Merkmal Atmosphäre oder Anschaulichkeit erweist sich die Reportage also als Gegenpol zur Nachricht. Das eine Genre setzt auf den Verständlichkeitsfaktor „Anregende Zusätze", um Kommunikationshindernisse zu überwinden, das andere setzt auf „Kürze - Prägnanz" und bedient sich dazu bewußter Selektivität.

4. Fazit und Ausblick 4.1. Heine als Vermittler von Öffentlichkeit Gerade wo Heine als Journalist gilt, konzentriert sich das Interesse bisher auf seine politischen Ansichten und Absichten. Diese Blickrichtung hängt mit der Tendenz zusammen, die Entstehung des Journalismus als eine Folge der auf den Staat gerichteten Emanzipationsbestrebungen des Bürgertums zu betrachten (vgl. Habermas 1965; Requate 1995). Wenn der Journalismus für ein Instrument gehalten wird, um soziale und politische Interessen durch Beeinflussung des öffentlichen Meinungsklimas zu vertreten, muß der Journalist Heine in seiner Rolle als politischer Publizist, als Verfechter programmatischer Ideen betrachtet werden. Der Kampf gegen die seit den Karlsbader Beschlüssen herrschende Zensur gehörte zum Programm des liberalen Bürgertums in der Vormärzepoche. Folglich werden die Tagesberichte als Versuch interpretiert, die Zensur zu unterlaufen. Liest man, was der Autor später selbst über diese Korrespondenzen geschrieben hat, und nimmt man deren Text in Augenschein, tritt ein ganz anderes Bild hervor. Heine ging es bei den Tagesberichten in erster Linie darum, das Publikum möglichst aktuell und authentisch über ein Geschehen zu unterrichten, in dem gesellschaftliche Spannungen sich dramatisch zuspitzten und entluden. Der Autor dieser Korrespondenzen begibt sich in die Rolle des Vermittlers von Ereignissen. Ein professionelles Verständnis für diese Rolle trauen viele nur dem angelsächsischen Journalismus zu, obwohl auch ein deutscher Journalist wie Heine sie bewußt angenommen und ein deutscher Zeitungswissenschaftler

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Horst Pöttker wie Otto Groth sie berufsethisch konzipiert hat (vgl. Groth 1928: 140-167; Groth 1960: 565f.), nicht zufällig allerdings beide jüdische Liberale und damit „Außenseiter" (Bohrmann/Sülzer 1973: 86)." Indem Heine hier zunächst lediglich ein wichtiges Geschehen vermitteln will, an dem das Publikum nicht unmittelbar teilnehmen kann, geht es ihm um nicht mehr, aber auch nicht weniger als das Herstellen von Öffentlichkeit im Sinne allgemeiner Zugänglichkeit relevanter Realitäten, wie auch immer diese beurteilt werden mögen. Daß ihm die Aufgabe, Kommunikationsbarrieren zu überwinden und beim Publikum anzukommen, in seinem professionellen Selbstverständnis, aber auch in seiner Arbeitspraxis im Zweifel wichtiger war als die Beeinflussung des politischen Meinungsklimas, unterscheidet Heine, der allerdings auch nicht auf die Wiedergabe seiner Meinungen verzichtet hat, von anderen Publizisten des Vormärz und läßt ihn seiner Zeit weit voraus sein.19

4.2. Vier Merkmale der Reportage Die Gestalt der Tagesberichte ist jedoch nicht nur auf Heines Berufsverständnis zurückzuführen. Sein journalistisches Werk besteht ja nur zu einem sehr kleinen Teil aus Reportagen, das meiste in den „Reisebildern", „Lutetia" und auch den „Französischen Zuständen" sind kommentierende Berichte, geistreiche Erörterungen, Feuilletons ohne scharfe Genre-Konturen. Ausschlaggebend für die Tagesberichte dürfte gewesen sein, daß ihr Autor Ohren- und Augenzeuge eines höchst bewegenden Ereignisses wurde, das aus einem kreativen Journalisten mit dem Berufsverständnis des Vermittlers die Reportageform quasi heraustreiben mußte. Offenbar braucht ein Bericht über eine solche Situation, wenn er mittels Authentizität eine optimale Vermittlungsleistung erbringen soll, vier Qualitäten: Er muß gleichzeitig mit dem Geschehen oder so kurz wie möglich danach erfolgen (Simultaneität); der Berichterstatter, der die Situation erlebt, muß sich als Subjekt mit beschränktem Wahrnehmungshorizont zu erkennen geben (.Subjektivität); es müssen wichtige Details mitgeteilt werden, die über das spontan Erlebte hinaus zu recherchieren sind {Präzision)·, und es müssen auch nebensächliche, aber für die Situation charakteristische Sinneseindrücke nachvollziehbar wiedergegeben werden (Atmosphäre, A nschaulichkeit). Wie Heines Tagesberichte zeigen, stellt sich eine Kombination dieser vier Merkmale bei der journalistischen Anstrengung ein, das Publikum eine Situation durch möglichst unverfälschte Wiedergabe miterleben zu lassen. Mittlerweile konstituiert diese Merkmalskombination ein journalistisches Genre, das wir Reportage nennen. Nachdem hervorragende Journalisten wie Heine die Form geprägt hatten, konnten auch wenige

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Peter Glotz und Wolfgang R. Langenbucher haben i m m e r h i n versucht, diesen dünnen Traditions-

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Hierin liegt jenseits persönlicher Antipathie wohl auch der berufliche G r u n d für den Konflikt mit

strang fortzuführen (vgl. G l o t z / L a n g e n b u c h e r 1969: 31, 35ff., 153f.). Ludwig Börne (vgl. Enzensberger 1986), der mit seinem stärkeren H a n g zur p r o g r a m m a t i s c h e n Publizistik historisch zunächst recht zu behalten schien, jedenfalls für Deutschland und andere Länder, in denen der Gesinnungsjournalismus zwischen Mitte des 19. und Mitte des 2 0 . Jahrhunderts eine Blüte erlebt hat.

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Heines Tagesberichte für die allgemeine

Zeitung"

hervorragende sich ihrer bedienen, um dem Publikum gewöhnlichere Ereignisse als die republikanische Erhebung von 1832 in Paris zu vermitteln. Zur Verbreitung und Durchsetzung der bereits geprägten Reportageform als professioneller Standard hat die Massenpresse in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dann sicher beigetragen. Eine Frage konnte die Analyse von Heines Tagesberichten nicht beantworten, die einer Rekonstruktion ihrer Rezeptionsgeschichte vorbehalten bleiben muß: Ist die Reportage zum professionellen Standard geworden, weil nachfolgende Journalisten sich an Vorbildern wie Heine orientiert haben? (Die „Tagesberichte" konnten dank der Buchveröffentlichung ja kontinuierlich gelesen werden.) Oder lag diese Entwicklung in der Natur der Sache, weil die Kombination der vier Reportage-Merkmale sich nun einmal am besten eignet, um eine Situation authentisch zu vermitteln? Beide Faktoren werden ihren Anteil gehabt haben. In welcher Weise sie bei der Durchsetzung der professionellen Reportageform aber auch zusammengewirkt haben mögen - sie konnten nur durch Journalst(inn)en wirksam werden, die ihrem beruflichen Handeln einen sozialen, am Handeln anderer orientierten Sinn unterlegen. Ohne journalistische Subjekte wäre die Reportage als professionelles Genre nicht entstanden.

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Gabriele Toepser-Ziegert

Pressepolitik am Vorabend des Zweiten Weltkriegs Problem Zensur im Kriege besprochen. Ich glaube, man kommt ohne sie nicht aus. (Joseph Goebbels am 30. Juli 1938)

Seit dem Ende des Ersten Weltkrieges und dem Sturz der Monarchie hat die deutsche Gesellschaft vier Formen republikanischer Regierungssysteme kennengelernt. In dieser über 80jährigen Geschichte nehmen die 12 Jahre und 4 Monate nationalsozialistischer Diktatur den kleinsten Teil ein neben 14 Jahren Weimarer Republik, 40 Jahren Deutscher Demokratischer Republik und 50 Jahren Bundesrepublik. Dennoch ist der kleinste Teil einmal mehr nicht der unbedeutendste, sondern von seiner Auswirkung her der gravierendste in der neuen deutschen Geschichte. Ohne die einschneidenden Voraussetzungen zur Machtübergabe an die Nationalsozialisten hätte Adolf Hitler nicht die Möglichkeit gehabt, seine Ideen immer weiter umsetzen zu lassen, bis sie in einem mörderischen Krieg gipfelten, den er bekanntlich noch vor seinem 50. Geburtstag beginnen wollte, wobei ihm aber die diplomatischen Verhandlungen in Frankreich und Großbritannien in die Quere kamen. Was als demokratischer Akt begann, verwandelte sich rasch in Mißbrauch der demokratischen Möglichkeiten von Staats wegen, es folgten Scheinwahlen, Volksabstimmungen, Gesetzesänderungen, bis die von Goebbels als „Führerrepublik" (Die Tagebücher 1998, im folgenden T J G 1998: 210) bezeichnete Regierungsform etabliert war. Der weitere Verlauf der deutschen Geschichte ist bekannt: Nach einer politischen Orientierungsphase in den Jahren 1933/34, die mit der Ermordung einer Reihe von oppositionellen Zeitgenossen endete, entwickelte sich in Deutschland zunehmend politisches Selbstbewußtsein, das durch den verlorenen Ersten Weltkrieg abhanden gekommen war. Die nationalsozialistische Regierung, allen voran der dafür zuständige Propagandaminister Goebbels, pries vollmundig die neue Zeit, die nun angebrochen schien, und riß mit seinem elitären Wunschdenken, einer „Herrenrasse" anzugehören, weite Teile der Bevölkerung mit sich. Es folgte die durch den Versailler Vertrag verbotene deutsche Wiederbewaffnung ohne spürbare Reaktion der Großmächte (1935), ein Jahr später war Deutschland Gastgeber der Welt bei den Olympischen Spielen in Berlin, die außenpolitisch ein glänzender Erfolg waren und diejenigen verstummen ließen, die die nationalsozialistische Regierung lediglich für ein mißlungenes Experiment hielten. Durch diesen außenpolitischen Rückenwind gestärkt, sah sich Adolf Hitler in der Lage, die bis dahin nur in Parteikreisen geäußerte und geforderte Expansionspolitik gezielter zu verfolgen. Die Beteiligung deutscher Einheiten am spanischen Bürgerkrieg wies den Weg. 1938 wurden schließlich Nägel mit Köpfen gemacht: Im März wurde die österreichische Heimat Adolf Hitlers vom Deutschen Reich annektiert, im Oktober marschierten deutsche Truppen, nach Absprache mit Großbritannien und Frankreich im Münchner 47

Gabriele

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A b k o m m e n , in der Tschechoslowakei ein und besetzten das vorwiegend deutschsprachige Sudetenland. A u s nationalsozialistischer Sicht war 1938 ein erfolgreiches Jahr. Dennoch schrieb Joseph Goebbels am Ende in sein Tagebuch: „Jahreswechsel! Schauderhaft! Man möchte sich am liebsten aufhängen." ( T J G 1998: 226) Zwei wesentliche Q u e l l e n ermöglichen die nähere Beobachtung von nationalsozialistischer Politik als alltägliche Beschäftigung und nicht als Aneinanderreihung von Daten, Fakten und vor allen Dingen Ergebnissen: die Tagebücher von Joseph Goebbels ( T J G 1987a; 1987b; 1998; 2000) und die Presseanweisungen (NS-Presseanweisungen der Vorkriegszeit, im folgenden N S P V ) , die aus der Presseabteilung des Propagandaministeriums an die deutschen Journalisten ausgegeben wurden. Die Formulierung der Presseanweisungen war der Abschluß eines Meinungsbildungsprozesses, an dem die unterschiedlichsten Interessenten beteiligt waren; 1938 war durch die personellen Umstrukturierungen im Ministerium eine weitere G r u p p e von interessierten Offentlichkeitsarbeitern dazugestoßen. Ein Tagebuch, das im Hinblick auf eine spätere Veröffentlichung geschrieben wurde, hat sicherlich nur einen eingeschränkten Wert als historische Q u e l l e für Fakten im Vergleich zu anderen Dokumenten. Allerdings lassen sich die Tagebuch-Aussagen angemessen relativieren durch die halboffiziellen Presseanweisungen, die sich auf meistenteils offizielle Themenbereiche erstrecken, u m die es hier auch geht. Untersucht man die Presseanweisungen auf medienpolitische Themen, fällt das rein empirische Ergebnis mager aus. Es liegt in der N a t u r der Sache, daß sich die Presseanweisungen außer mit dem Alltagsgeschehen in erster Linie mit der Pressepolitik im weitesten Sinne befassen. Dennoch ist es überraschend festzustellen, daß von den 3.753 aufgelisteten Anweisungen des Jahres 1938 nur 110 (3 %) konkret auf Zeitungen, Zeitschriften oder „die deutsche Presse" abzielen. 74 Anweisungen (2 %) haben Propaganda und Presselenkung im allgemeinen zum T h e m a , ganze 48 Anweisungen (1,2 %) befassen sich mit F i l m und F i l m w i r t s c h a f t , und verschwindende 32 (0,8 %) A n w e i s u n g e n beschäftigen sich mit Rundfunkfragen. D i e Medien selber sind nur in 7 % der Fälle Gegenstand der Anweisungen an die Tagespresse. 1 Die Pressepolitik des Jahres 1938 läßt sich beschreiben als ein Pendeln zwischen Propaganda und K o m m e r z . Einmal mehr erweist sich im vorliegenden Fall die starke Abhängigkeit der politischen Entwicklungen von den Befindlichkeiten der handelnden Personen. 1938 war kein gutes Jahr für Joseph Goebbels, denn es war überschattet von den Auseinandersetzungen mit seiner Frau Magda, die sich nicht mehr länger mit seinen Affären abfinden wollte. Seit fast zwei Jahren hatte er eine intensive Beziehung zu der tschechischen Filmschauspielerin Lida Baarova gepflegt, und dann ereilte ihn, was im Jahr zuvor seinem Erzrivalen O t t o Dietrich widerfahren war: „Mit Führer Magda Klinik besucht. Magda überglücklich. Führer ausnehmend nett. Erzählt von D r . Dietrich und seiner unglücklichen Ehe. Diese Frau ist unmöglich. Jetzt will sie ihren Mann durch den Führer zur weiteren Ehe kommandieren lassen. Welch ein unmögliches Verfahren! Führer sagt: ,Ich habe sie nicht getraut, ich kann sie nicht zusammenhalten.' Ein durch-

Dabei gilt zu berücksichtigen, daß es wöchentlich eine Kulturpressekonferenz gab, in der es ausschließlich um kulturelle Belange ging; vgl. N S P V 1984: 38*f.

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Pressepolitik am Vorabend des Zweiten Weltkriegs aus richtiger Standpunkt." (TJG 1987b: 53) Auch Magda Goebbels hielt es für angebracht, ihren Mann durch Hitler zur Raison bringen zu lassen*, und noch im August 1938 gelobte der Reichsminister Besserung, wobei es nicht mit Zähneknirschen getan war. Seinen Tagebuchaufzeichnungen ist zu entnehmen, daß er auf die erzwungene Lebensveränderung mit allerlei körperlichen Beschwerden reagierte bis hin zur Einweisung in die Charite kurz vor Weihnachten. Zwischenzeitlich dachte er über Selbstmord nach, klagte über Herz-, Kopf-, Magenschmerzen, Fieber und Schwindel, schlief schlecht und ärgerte sich über strahlende Sommertage. Die von dem berühmten aus Dresden herbeigeholten Prof. Sauerbruch anempfohlene Operation lehnt Goebbels ab, um an den Feiertagen zu Hause sein zu können, wo er sich verkriecht und nur seine Mutter, Schwester und besorgte Freunde zu Gesicht bekommt. Das Jahr, das für ihn so unbeschwert begann, endet in einem Desaster. Die dramatischen Entwicklungen seines Privatlebens in der zweiten Jahreshälfte laufen parallel zu den außenpolitischen Verstrickungen der Reichsregierung in europäische Streitigkeiten aufgrund der aggressiven Expansionspolitik Adolf Hitlers, die weithin in der Bevölkerung Rückhalt findet. Die Angreifbarkeit und persönliche Schwäche von Goebbels machten sich seine politischen Rivalen zunutze: Otto Dietrich, der Reichspressechef und neu ernannte Staatssekretär im Propagandaministerium, auf personalpolitischem, und Max Amann, der Pressemagnat der Partei, auf wirtschaftlichem Gebiet, indem er ihn ständig bedrängte, weitere Zeitungsunternehmen in Parteibesitz zu überstellen. Mit beiden Männern mußte sich Goebbels arrangieren, wollte er überleben, denn Dietrich gehörte zur unmittelbaren Entourage Hitlers, und Amann zahlte Vorschüsse auf angekündigte Publikationsprojekte von Goebbels, die nie realisiert wurden, und finanzierte so seinen aufwendigen Lebensstil.3 Gleich zu Beginn des politischen Jahres finden, ausgelöst durch einen Gesellschaftsskandal, umfangreiche personelle Veränderungen statt: Der Oberbefehlshaber der Wehrmacht, Generalfeldmarschall von Blomberg, heiratet eine Frau, die als Prostituierte gearbeitet hat. Der Oberbefehlshaber des Heeres, Generaloberst von Fritsch, wird homosexueller Aktivitäten bezichtigt.4 Hitler übernimmt den Oberbefehl über die gesamte Wehrmacht, um die Handlungsfähigkeit der Regierung zu demonstrieren. „Um die ganze Sache zu vernebeln, soll ein großes Revirement stattfinden", schreibt Goebbels am 1. Februar in sein Tagebuch (TJG 2000: 127). Bei dieser Gelegenheit wird Joachim von Ribbentrop Außenminister in der Nachfolge von Neuraths5, werden die Botschafter in Tokio, Rom, London und Wien abberufen. In Goebbels Machtbereich bahnten sich

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Goebbels seinerseits begab sich zur Bereinigung der Krise, die ihren Höhepunkt zur Zeit der Sudetenkrise hatte, in seiner Verzweiflung ganz in die Hand von Hitler (TJG 1998: 140-161). 1936 bereits hatte er Amann seine Tagebücher im voraus verkauft. Kaufpreis: 250.000 RM sofort und laufend 100.000 RM pro Jahr zusätzlich. Die Bücher sollten 20 Jahre nach seinem Tod veröffentlicht werden. (TJG 1987a: 704) Fritsch wird im August desselben Jahres von Hitler öffentlich rehabilitiert durch Verleihung eines Artillerie-Regiments. Goebbels Kommentar dazu: „Eine späte Rechtfertigung". (TJG 1998: 41) Einen schüchternen Versuch Ribbentrops, eine eigene Pressepolitik zu gestalten, erstickte Goebbels zunächst verbal im Keim (TJG 2000: 172f.).

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Gabriele Toepser-Ziegert schon Wochen eher personalpolitische Veränderungen an, da Walther Funk, der Pressechef der Reichsregierung, Wirtschaftsminister werden sollte. Als sein Nachfolger war Otto Dietrich vorgesehen, der Pressechef der N S D A P , der die Gunst der Stunde erkannte und in die wohlklingende Position des Reichspressechefs drängte. Goebbels, der seine Mitarbeiter am liebsten als Mischung aus „Psychologe und Propagandist" sah ( T J G 2000: 341), hegte vor Dietrichs Amtsantritt noch die Hoffnung, er werde sich den gleichaltrigen Rivalen „schon zurechtbiegen" ( T J G 2000: 110). Mit Funk und Dietrich besprach er die künftige Pressearbeit: „Wir wollen den Journalisten etwas das Rückgrat stärken, gute Kräfte nach Berlin ziehen, V.B. aktivieren und Münchner Presse reformieren." ( T J G 2000: 119). Kaum im Amt, schlägt Dietrich die Neugestaltung der Presseabteilung, die ihm unterstellt wurde, vor ( T J G 2000: 137). Der bisherige Abteilungsleiter Alfred-Ingemar Berndt wird Leiter der Inlandspresse, während Karl Börner die Presseabteilung Ausland leiten soll. Mit dieser De-Facto-Degradierung Berndts, der sich „mit Gewalt gegen die Zweiteilung der Presseabteilung" sträubt ( T J G 2000: 158), ist Goebbels einverstanden. 6 Tatsächlich hatte Goebbels nach Abschluß der Umstrukturierung im Ministerium am 10. Februar das Bedürfnis, personelle Entscheidungen zu fällen: „Ich habe überhaupt ein großes Revirement vor. Auf allen Gebieten. Nachwuchs vorlassen. Ministerium und Kammern trennen. Frisches Blut zuführen" ( T J G 2000: 145, 182). Aber da war der Zug schon abgefahren. Dietrich war fest installiert und hatte auf einer nächtlichen Sonderpressekonferenz seine Pflöcke eingeschlagen, nach einem kurzen Hinweis auf seine Erfahrung als „langjähriger Pressechef des Führers" (NSPV 1999: Dok. 38-360): „Ich möchte sagen, die Pressekonferenz ist die Stelle, auf der wir Parolen ausgeben an die Regimenter, an die Divisionen und Armeen der deutschen Presse, damit sie getrennt marschieren und vereint zum Wohl des Volkes schlagen können. Ich brauche kein Programm zu geben, Sie kennen mein Programm. ... Wir müssen ein Ideal finden in der Kameradschaft zwischen Ihnen und uns, zwischen Ihnen und mir." Das war am 5. Februar. Zwischen den beiden Polen „Kameradschaft" und „Befehlsausgabe" sollte sich in diesem Vorkriegsjahr die tägliche inhaltliche Presselenkung 7 bewegen. Noch am 18. Februar -wurde auf der Pressekonferenz festgestellt: „Es gibt keine Vorzensur für die deutsche Presse" (NSPV 1999: Dok. 38-468). Sieht sich die Presseabteilung aber wieder einmal genötigt, ein Verbot hinsichtlich eines unerwünschten Themas auszusprechen, dann wird die „Kameradschaftlichkeit" der Journalisten angemahnt, die das Verbot respektieren sollen (NSPV 1999: Dok. 38-2214, 38-2225, 38-3223). Es ist vor allen Dingen Hans Fritzsche 8 , der Stellvertreter von Alfred-Ingemar Berndt, der bei seinen Auftritten an das Verantwortungsgefühl der Journalisten appelliert und 6

O h n e h i n sah sich Goebbels häufiger genötigt, den aufbrausenden 33jährigen Berndt („Er ist ein richtiger Durcheinandermann. A b e r ich geige i h m die M e i n u n g . " T J G 2 0 0 0 : 2 3 4 ) in die Schranken zu weisen, weil dieser seine K o m p e t e n z e n überschritt ( T J G 1998: 61, 135, 153; T J G 2 0 0 0 : 119, 234, 239). Ein L o b bringt ihm sein Einsatz bei der Pressearbeit nach der A n n e x i o n Österreichs ein ( T J G 2 0 0 0 : 2 1 3 , 2 1 9 , 269, 363). Selbst als Berndt die Auseinandersetzungen mit O t t o Dietrich zermürbt haben und er aufgeben will, hält Goebbels an ihm fest: „Berndt ist m i r ganz unentbehrlich." ( T J G 2 0 0 0 : 274)

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Z u r Definition der drei Ebenen der Presselenkung, s. N S P V 1984: 23*ff.

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Goebbels entdeckte die Qualitäten Fritzsches, dessen N a m e n er permanent falsch schrieb, bei seinem Einsatz bei den Vorbereitungen für den Einmarsch in die Tschechoslowakei: „Fritsche ist ein brauchbarer Arbeiter, m u ß ihn m i r m e r k e n . " ( T J G 1998: 100)

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Pressepolitik am Vorabend des Zweiten Weltkriegs damit an die ganz frühe Strategie von Goebbels anknüpft, mit der er die Journalisten zu Vertrauensleuten machen wollte, denen man auch einmal ein Staatsgeheimnis anvertrauen kann, wenn sie zu erkennen geben, daß sie sich für das Reüssieren der NS-Regierung mitverantwortlich fühlen (NSPV 1984:110*f.). Mithin liegt es scheinbar ganz allein an den Besuchern der Pressekonferenz, wie sie behandelt werden. Lediglich in Fällen von Illoyalität müsse man „zur Methode der Befehlsausgabe übergehen. Das könne aber wohl nicht im Interesse der Presse liegen." (NSPV 1999: Dok. 38-2247, 38-3269) „Man könne auch Fernschreiber einrichten und spare dann den Weg zum Wilhelmplatz." Wie in den Jahren zuvor wurden die Journalisten auf der Pressekonferenz immer wieder ermahnt, sorgfältig mit den Aufzeichnungen der Anweisungen umzugehen und sie vor allen Dingen nicht an Unbefugte weiterzugeben, wie es im Fall der Zeitschrift „Der Deutsche Volkswirt" geschah.9 Zuletzt hatte es im Juli 1936 eine detaillierte Beschreibung des Verfahrens gegeben, nach dem die Anweisungen zu archivieren waren (NSPV 1984:43*). Das Verfahren war nach zwei weiteren Jahren dasselbe: „Die vertraulichen Mitteilungen müssen im Büro gut verschlossen sein. Es geht nicht an, daß sie in einer offenen Schublade - wie es in einem Fall vorgekommen sei - in der Setzerei lagen und dort dem gesamten Personal zugänglich waren, so daß in der Frühstückspause von Setzern und Stenotypistinnen das Material besprochen wurde." Der Sprecher „machte ferner darauf aufmerksam, daß natürlich das Material nicht für dauernd aufgehoben zu werden brauche; es wachse ja sonst zu Riesenbänden an. Es könne nach gegebener Zeit, wenn es für die Schriftleitungen unaktuell geworden sei, vernichtet werden." Es wurde gebeten, „dies aber niemals allein zu tun, sondern immer einen Zeugen hinzuzuziehen und dann einen Zettel hineinzulegen: .Heute habe ich in Anwesenheit von ... die Informationen vom ... bis ... vernichtet'; darunter Name, auch Unterschrift des Zeugen. - Es sei vorgekommen, daß Material aus einer offenen Schublade bezw. einem offenen Schrank herausgenommen worden und in staatsfeindlichen Kreisen zu illegalen Zeitungen verwertet worden sei." (NSPV 1999: Dok. 38-2163) Die inhaltliche Presselenkung erfuhr im Jahre 1938 eine unangenehme Zuspitzung. Zwar war der Einsatz von Waffen bei der Annexion Österreichs im März nicht notwendig geworden, dennoch war die weitere außenpolitische Planung klar. „Problem Zensur im Kriege besprochen. Ich glaube, man kommt ohne sie nicht aus.... Wir sind uns mit dem Oberkommando der Wehrmacht einig über unsere Aufgabenverteilung im Ernstfall. Wir behalten in der Propaganda die alleinige Führung", notierte Joseph Goebbels am 30. Juli (TJG 2000: 400), genau zwei Monate bevor der Ernstfall eintrat. Mitte August wurden beim Heer die neuen Propaganda-Kompanien unter Führung des RMVP eingerichtet (TJG 1998:41), und Ende des Monats bestimmte Hitler, „daß im Ernstfall alle Zeitungen unter unserem Befehl bleiben. Die ganze Presse soll, wenn auch in verkleinertem Umfang, weiter erscheinen." (TJG 1998: 65). Mit Einmarsch der deutschen Truppen in das Sudetengebiet am 1. Oktober 1938 wurden die zügig eingeführten Zensurbestimmungen erprobt, und zwar für Text- und Bildmaterial (NSPV 1999: Dok. 38- 2751, 38-2753). Die

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Vier Personen wurden zu Gefängnis von neun Monaten bis vier Jahren verurteilt (NSPV 1999: Dok. 38-2038).

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neu aufgestellten Propaganda-Kompanien wurden mit Journalisten aus den Nachrichtenbüros verstärkt, die damit in den Augen ihrer Korrespondenten-Kollegen „das große Los gezogen haben" (NSPV 1999: Dok. 38-2732).10 Hans Fritzsche setzte das Katz- und Maus-Spiel fort: „Die Zensur soll unter anderem auch ergeben, ob fünf Jahre Nationalsozialismus ihren Einfluss schon so weit ausgeübt hätten, dass man im Ernstfall auf eine Zensur über jede einzelne Kleinigkeit verzichten könne. Wenn also die Berichte, die der Zensurstelle vorgelegt werden, so gut seien, dass die Zensurbehörde praktisch gar nichts zu tun habe, dann hoffe man, eine Grundlage dafür zu schaffen, dass gegebenenfalls die Zensur nicht alles zu erfassen brauche." (NSPV 1999: Dok. 38-2761). Es hatte den Anschein eines großen Planspiels. „Es wird zum ersten Mal eine Organisation ausgeprobt, die für den Ernstfall unerläßlich wäre und die man irgend einmal ausprobieren muß." (NSPV 1999: Dok. 38-2732). Die Propaganda-Kompanien berichteten über das Vorrücken der deutschen Truppen und belieferten mit ihrem Material die Heimatzeitungen - genau wie ein Jahr später aus Polen. Der Test dauerte zehn Tage (NSPV 1999: Dok. 38-2841). Aber die Abwicklung verzögerte sich (NSPV 1999: Dok. 38-2859), und auch die Zensur konnte noch nicht wieder aufgehoben werden (NSPV 1999: Dok. 38-2844). Erst am 15. Oktober konnte sich das Oberkommando der Wehrmacht nach Demobilisierung der Propaganda-Kompanien und Beendigung der „kriegsmässigen Handhabung der Zensur" bei allen Beteiligten für die gute Zusammenarbeit bedanken (NSPV 1999: Dok. 38-2911). Anfang November wurde die Bevölkerung in den Weihnachtsfrieden entlassen und ein Journalist bilanzierte: „Die deutsche Presse hat nicht nur das Wesen gefunden, das sie zu einem Teil des Nationalsozialismus macht, sie hat sich in einem historischen Kampf um Krieg und Frieden bewährt und ihr Teil dazu beigetragen, daß für Deutschland und Europa der Weg zur Gestaltung eines wirklichen Friedens frei gemacht worden ist." (Kriegk 1938: 419). Er hätte besser wissen können, daß die Situation immer noch brenzlig war, und nur die Form der Berichterstattung Normalität und Frieden vermitteln sollte: „Die Periode der besonderen Aktivitaet auf wehrpolitischem Gebiet sei nun wieder abgelaufen. In militaerischen Fragen muesse wieder staerkere Zurueckhaltung geuebt werden. Darum soll auch das Zitat aus der „Wehrmacht" nicht gross, nicht auf der ersten Seite und nicht mehr als einspaltig aufgemacht werden. Der Rundfunk wird auf die Wiedergabe des Zitats ganz verzichten. Auch die Reise in die Westbefestigungen duerfe nicht gross aufgezogen werden. Die Artikel sollen nach und nach erscheinen, so dass der Eindruck einer geschlossenen Propaganda vermieden werde." (NSPV 1999: Dok. 38-3106) Auffällig sind in diesem Vorkriegsjahr die ständigen Auseinandersetzungen zwischen staatlicher Presselenkung und der Parteipresse, die seit 1933 dokumentiert sind (NSPV 1985: 24*ff.). Während die - noch - privateigenen großen Tageszeitungen seit 1937 immer häufiger zur exklusiven Glossenkonferenz" vor oder nach der Pressekonferenz

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U m den Einsatz der Propaganda-Kompanien hatte es „erregte Auseinandersetzungen" im Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda gegeben, so war ζ. B. Berndt dagegen (TJG 1998: 123). Zur Arbeit der Popaganda-Kompanien s.a. TJG 1998: 127, 143. Zur Glossenkonferenz s. NSPV 1984: 39*. Die erste Glossenkonferenz fand am 19. Oktober 1937 (NSPV 1999: Dok. 38-2511) im Zusammenhang mit dem spanischen Bürgerkrieg statt. Ab dem

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Pressepolitik am Vorabend des Zweiten Weltkriegs herangezogen wurden, erarbeitet Goebbels ein „Statut für die radikale Presse" (TJG 2000: 115), worunter in erster Linie „Der Stürmer" (Untertitel: Deutsches Wochenblatt zum Kampfe um die Wahrheit) und das SS-Organ „Das Schwarze Korps"12 zu verstehen waren; aber auch das zweimal monatlich erscheinende „Führerorgan der nationalsozialistischen Jugend", die von Baidur von Schirach herausgegebene Zeitschrift „Wille und Macht", verfolgte einen eigenen journalistischen Kurs, der teils Lob, teils Kritik im Propagandaministerium auslöste. „Der Stürmer" war eine hetzerisch-antisemitische Wochenzeitung, die in Nürnberg von Julius Streicher, einem Kampfgefährten Adolf Hitlers, herausgegeben wurde. Goebbels' tiefe Abneigung gegen dieses Blatt („Staat im Staate", TJG 2000: 106) und seine „frechen" Ausfälle (TJG 2000: 88) schlägt sich in seinen Aufzeichnungen nieder, wo er seine Rolle maßlos übertreibt bei einem journalistischen Fehltritt von Streicher (TJG 2000: 107). In der Nr. 3 vom Januar 1938 war ein Erlaß der Reichsstelle für Devisenbewirtschaftung vom 22. September 1937 abgedruckt, nach dem jüdischen Bürgern Devisen ausgehändigt werden sollten für den Besuch schweizerischer Lehranstalten (Thora-Schule bzw. Talmudhochschule). Begleitet war der Text von einer kritischen Stellungnahme des „Stürmer", woraufhin Hitler angeblich das Verbot des Blattes forderte (TJG 2000: 107). Streicher wird nach Berlin zitiert (TfG 2000:107), während Hitler an der Forderung eines sofortigen, unbefristeten Verbots (TfG 2000: 109) festhält. Goebbels zeigt sich milde, was das Verbot angeht, besteht aber auf dem Umbau der Redaktion, die ihm Streicher auch bereitwillig zusichert (TJG 2000: 111). Auf der Pressekonferenz wird das Verbot „auf unbestimmte Zeit" von Berndt bekanntgegeben (NSPV 1999: Dok. 38-215) und die angebliche Aufhebung des Verbots eine Woche später (NSPV 1999: Dok. 38-268). Tatsächlich erschien aber im Januar eine zusätzliche Sondernummer des „Stürmer" mit dem Thema „Todesstrafe für Rassenschänder" (Der Stürmer, 16. Jg., Sondernummer 8, 1938:1), mit dem vermutlich Linientreue demonstriert werden sollte. Die reguläre Nr. 4 erscheint in der nächsten Woche ohne besondere Hinweise.13 Dieser Vorfall verursacht einen Erlaß, der folgendermaßen auf der Pressekonferenz präsentiert wird: „Diesem Erlaß kommt keine große Bedeutung zu. Er ruft nur noch

1. März 1938 begann sie um 11.30 Uhr (NSPV 1999: Dok. 38-578). Über die Glossenkonferenz versuchte Goebbels die Uniformität der Pressekommentare aufzubrechen, indem er ausgewählten ZeitungsVertretern (u. a. Deutsche Allgemeine Zeitung, Berliner Lokal-Anzeiger, Börsenzeitung, Frankfurter Zeitung, Hamburger Fremdenblatt) ein Thema, das ihm am Herzen lag, vorgab, um es „glossieren zu lassen", d. h. lächerlich zu machen (Himpele 1938:509). Die Konferenzen waren bis auf einen einzigen Fall (NSPV 1999: Dok. 38-2409) außenpolitischen Themen und der Auslandspresse gewidmet. Otto Dietrich war kein Freund der Glossenkonferenz (NSPV 1999: Dok. 38-1481). Der Umgang mit dem Material war geregelt: „Das Material ohne Kommentaranweisungen wird man aber am besten stets sofort vernichten, was nicht mit besonderen Schikanen verbunden sein braucht, da es sich grundsätzlich nicht um innerdeutsche Vertraulichkeiten handelt." (NSPV 1999: Dok. 38-2418) Nach dem Einmarsch in Osterreich schrieb Goebbels: „Das .Schwarze Korps' versaut uns die ganze Tour. Ich werde noch den ganzen Dreck verbieten. So kann man ja keine Politik machen." (TJG 2000: 242; s.a. 276) Zu weiteren Auseinandersetzungen im Jahresverlauf mit dem „Stürmer" siehe TJG 2000: 191, 195, 268. Auch das Verhältnis zu Julius Streicher wird weiterhin belastet: „Unangenehme Sache mit Streicher: er hat einen Journalisten verprügelt und dann eine ganz hanebüchene Rede vor der Presse gehalten. Pathologisch!" (TJG 1998: 70)

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Gabriele Toepser-Ziegert einmal alles in Erinnerung, was nun fünf Jahre lang an pressepolitischen Grundsätzen exerziert worden ist. Der Erlaß ist aufzufassen als eine Warnung oder Ermahnung an das Schwarze Korps und den Stürmer. U m diese einseitige Richtung etwas in der Presseöffentlichkeit aufzuheben, ist er an alle deutschen Zeitungen gerichtet" (NSPV 1999: Dok. 38-289). Kernforderung ist dabei die Rücksichtnahme auf die deutsche Volkswirtschaft, die durch die „Veröffentlichung leichtfertiger Angriffe gegen Firmen wegen angeblich unnationalsozialistischen Verhaltens" gefährdet sei (s. a. NSPV 1999: Dok. 38-3483). Doch die Kritik an der „radikalen Presse" bleibt weiterhin auf der Tagesordnung (NSPV 1999: Dok. 38-305, 38-575, 38-941, 38-3613 und T J G 1998: 174). Die HJ-Zeitschrift „Wille und Macht" 14 hatte in den vergangenen Jahren eine ausgewogene Bilanz hinsichtlich ministerieller Kritik bzw. Anerkennung. Im Vorkriegsjahr überwiegt die Kritik auf Grund des eigenwilligen außenpolitischen Kurses: „Es wird zu viel von deutsch-französischer Verständigung gefaselt. Vor allem von Schirach und der H . J. Ich lasse das etwas abstoppen" (TJG 2000: 93, 110). Die offizielle Presseanweisung läßt nicht auf sich warten (NSPV 1999: Dok. 38-100). Der deutsch-japanische Jugendaustausch wird dagegen im Zeichen des Antikomintern-Abkommens gerne gesehen und mit einem anerkannten Sonderheft gefördert (Wille und Macht, 6. Jg., H. 17 v. 1. September 1938; NSPV 1999: Dok. 38-2403). Lobenswert sind überdies das Österreichheft nach der Annexion (NSPV 1999: Dok. 38-981), das Geburtstagsheft für Adolf Hitler („Das dichterische Wort im W e r k Adolf Hitlers") (NSPV 1999: Dok. 38-1233) sowie sudetendeutsche Artikel vor dem Einmarsch (NSPV 1999: Dok. 38-2242). Dagegen fanden die England-Nummer (NSPV 1999: Dok. 38-731), ein weiterer Artikel zum unterbrochenen deutsch-französischen Jugendaustausch (NSPV 1999: Dok. 38-892), ein Artikel nach dem Einmarsch ins Sudetenland (NSPV 1999: Dok. 38-2972), die Glossierung eines von Goebbels geschätzten Films (NSPV 1999: Dok. 38-3142) und die Schilderung von Schulproblemen (NSPV 1999: Dok. 38-3640) keinen Anklang. 1 5 Die Problematik beim kritischen Umgang mit der Parteipresse lag auf der Hand: Es gab keine echten Sanktionierungsmöglichkeiten, denn während das Verbot einer privateigenen Zeitung, auch wenn es zeitlich begrenzt war, ökonomische Schwierigkeiten für den Verlag mit sich brachte, war das Verbot einer Parteizeitung gleichbedeutend mit einem Griff in die Parteikasse. Überdies war es eine Attacke auf den finanzgewaltigen Max Amann. Die ökonomische Presselenkung wurde weiter verschärft. Zur Disposition standen einzelne Zeitungsunternehmen, die zugunsten anderer vom Markt genommen werden sollten. Der Zentrumspolitiker und ehemalige Vizekanzler Adolf Hitlers, Franz von

u

Der Titel ist dem von Nietzsche geprägten Begriff „Wille zur Macht" (Also sprach Zarathustra) entlehnt. Besonders empfindlich reagierte Goebbels auf K r i t i k an seiner Filmpolitik: „.Wille und Macht' bringt eine F i l m n u m m e r mit massiven Angriffen gegen den deutschen Film. Ich gehe gleich ganz rigoros vor. Den Schriftleiter Kaufmann, eine d u m m e Rotznase, streiche ich in der Schriftleiterliste, die N u m m e r lasse ich beschlagnahmen und gegen alle Mitarbeiter ein Verfahren anstrengen. Das wirkt wie eine Bombe. Nun sind die pampigen Herren plötzlich ganz klein und weich wie Butter. Der Herr Kaufmann ist seit 1933 in der Partei. Das hab ich gern. Ich lasse ihn dann nochmal von Hanke v o r k n ö p f e n . Dr. Dietrich hatte ihn auch schon lange auf dem Kieker." (TJG 2000: 166f; siehe auch 172, 216)

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Pressepolitik am Vorabend des Zweiten

Weltkriegs

Papen, versuchte im Februar die katholische Tageszeitung „Germania" durch Reichssubventionen zu retten, Goebbels war dagegen und wollte, je eher, desto lieber, auf das Blatt verzichten (TJG 2000: 130). Nach dem Anschluß Österreichs war der deutschsprachige Pressemarkt insgesamt größer geworden, aber auch die Anzahl der subventionsbedürftigen Zeitungen nahm damit zu, und der zu verteilende Finanzkuchen war nicht größer geworden. Zunächst wollte der Minister die „Reichspost" aus Wien vor dem Untergang retten (TJG 2000: 373), eine Woche später ist die Einstellung beschlossene Sache (TJG 2000: 379; 1998: 46), während „Wiener Journal" und „Neue Freie Presse" finanzielle Unterstützung erhalten. Ebenfalls Mitte August fällt auch die Entscheidung von Amann und Goebbels, die „Germania" zum Jahresende einzustellen (NSPV 1999: Dok. 38-3750). „Ein paar Boulevardblätter halten wir als Kettenkunde. Die Unangenehmes schreiben und bei Bedarf abgeschüttelt werden können. DAZ, B T und Börsenzeitung bleiben erhalten. Sonst ist die Presse gut." (TJG 1998: 46) Einmal mehr steht die Existenz der „Frankfurter Zeitung" auf dem Spiel, die aber offensichtlich nicht von der Macht der Propagandaministers allein abhängig ist.16 Es wird viel geschachert um die verbliebenen Zeitungen, die sich um ein eigenes Profil bemühen. Goebbels wird von Amann bedrängt und besteht auf seiner zentralen Position, von der aus die „Meinungspolitik" geleitet werden muß (TJG 2000: 86). Ein weiterer Vorstoß im Juni scheitert (TJG 2000: 358), ebenso im Juli (TJG 2000: 376). Kurze Zeit später stellt sich der Propagandaminister darauf ein, daß Amann die Presselandschaft im großen Stil für sich vereinnahmt. „Für mich ist nicht der Besitz der Presse von Belang, sondern nur ihre politische und geistige Führung" (TJG 2000: 381). In diesem Wettbewerb um die Zeitungen hat Goebbels seinen Staatssekretär Dietrich auf seiner Seite, da er Geld für die Privatpresse mobilisiert und damit den Zorn Amanns auf sich zieht (TJG 2000: 348, 399). Schließlich muß, wie so häufig bei Kompetenzstreitigkeiten, Hitler den Streit schlichten und entscheidet ihn zu Gunsten von Amann, während sich Goebbels mit dem Gedanken an dessen jährliche Millionenverluste tröstet (TJG 1998: 38). Auch die ausländische Presse hat unter ähnlichen Mechanismen zu leiden. Die englischen Zeitungen sind zeitweise verboten (TJG 1998: 189), ebenso die Schweizer Presse (TJG 2000: 357). Französische Zeitungen werden drangsaliert. Die „Temps" wird erst verboten und dann aufgekauft17 (TJG 2000: 148, 162, 166), der Kauf des „Figaro" immerhin erwogen (TJG 2000: 306, 321). Auf die Presse des Balkans und Skandinaviens wird ebenfalls „geldlich Einfluß" genommen (TJG 2000: 322). Kurz vor dem Einmarsch in die Tschechoslowakei werden die letzten tschechischen Zeitungen in Deutschland verboten.18 Dennoch bleibt Goebbels' Standpunkt am Ende des Jahres: „Nicht Zeitungen, sondern Menschen kaufen. Damit kommt man am weitesten." (TJG1998: 222).

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„Führer möchte gern die Frankfurter beseitigen. Das werde ich sofort besorgen." (TJG 2000: 253; s.a. 257) „Ich gebe der .Frankfurter Zeitung' auf, bis 15. Oktober ihre Redaktion neu zu ordnen. Sonst wird sie endgültig verboten." (TJG 1998: 67) „Ich stelle Geld bereit, um den .Temps' systematisch zu beeinflussen. Ein Beitrag zur Pressefreiheit in der westlichen Demokratie." (TJG 2000:268). Allerdings erwies sich die französische Presse weiterhin als widerspenstig (vgl. T J G 1998: 9). „Ich will diesen Dreck nicht mehr hier haben." (TJG 1998: 94)

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Gabriele

Toepser-Ziegert

Zu diesem Zeitpunkt ist das renommierte „Berliner Tagblatt" nach verschiedenen Rettungsversuchen bereits abgeschrieben. 19 Es stellt am 31. Januar 1939 sein Erscheinen ein (vgl. T J G 1998: 217). Ganz anders dagegen sieht es bei der „Berliner Börsenzeitung" aus, in der Walther Funk jahrelang die Handelsredaktion leitete. Sie wird häufig als Sprachrohr der Regierung benutzt"" und darf sogar eine Kolonialdebatte führen (NSPV 1999: Dok. 38-63). Bei allen Umstrukturierungen des Pressewesens bleibt sie selbständig erhalten und wird erst 1944 von der letzten großen Zusammenlegungswelle erfaßt und mit der „Deutschen Allgemeinen Zeitung" vereinigt. Die Pressepolitik im Vorkriegsjahr wies schon alle Attribute des „Ernstfalles" auf: inhaltliche Reglementierung, militärische Zensur, Konzentration der wirtschaftlichen Mittel, Einrichtung von Propaganda-Kompanien. Der zeitweise Ausnahmezustand nach dem Einmarsch in die Tschechoslowakei hinterließ keine allzu deutlichen Spuren im journalistischen Alltag. Allenfalls war ein erleichtertes Aufatmen zu registrieren, daß ein Kriegsausbruch unterblieb (Kriegk: 419). Die Neujahrsrückblicke sollten sich an den Aufrufen von Hitler orientieren, „die eine verhältnismäßig freundliche Stimmung gegen Frankreich und England erkennen lassen." (NSPV 1999: Dok. 38-3749). Wer wollte nicht diesen scheinbaren Optimismus teilen? Joseph Goebbels, der mit großer Kunstfertigkeit solche Illusionen in die Presse und damit an die Öffentlichkeit brachte, hatte aber längst erkannt: „Die Finanzlage des Reiches ist katastrophal. Wir müssen nach neuen Wegen suchen. So geht es nicht mehr. Sonst stehen wir vor der Inflation" (TJG 1998: 219). Zu Halloween hatte Orson Welles mit seinem Hörspiel „War of the Worlds" die US-Gesellschaft in Angst und Schrecken vor einem Angriff aus dem Weltall versetzt (NSPV 1999: Dok. 38-3117). Acht Monate später begann der Zweite Weltkrieg.

Abkürzungen BT

Berliner Tageblatt

DAZ

Deutsche Allgemeine Zeitung

NSPV

NS-Presseanweisungen der Vorkriegszeit

TJG

Die Tagebücher von J o s e p h Goebbels

V.B.

Völkischer Beobachter

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K u r t Jahncke, der ehemalige Leiter der Pressekonferenz, der nun in der Verlagsleitung des Berliner T a g e b l a t t s arbeitete, berichtete noch Ende des Jahres über die „trostloses L a g e " der Zeitung ( T J G 1998:212).

"" A m 28. September 1938 stellt Goebbels dem Blatt 100.000 M a r k „ f ü r die A n k u r b e l u n g " zur V e r f ü g u n g ( T J G 1998: 118).

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Pressepolitik am Vorabend des Zweiten Weltkriegs Literatur Himpele, Ferdinand (1938): Die Glosse in der deutschen Presse. In: Zeitungswissenschaft, 13. Jg., Nr. 8, S. 509-518. Kriegk, Otto (1938): Das Jahr der deutschen Schriftleiter. In: Deutsche Presse, 28. Jg., Nr. 21 v. 15. Okt., S. 417-419. NS-Presseanweisungen der Vorkriegszeit. Edition und Dokumentation (1984), bearb. von Gabriele Toepser-Ziegert, Bd. 1: 1933. München u. a. NS-Presseanweisungen der Vorkriegszeit. Edition und Dokumentation (1985), bearb. von Gabriele Toepser-Ziegert, Bd. 2: 1934. München u. a. NS-Presseanweisungen der Vorkriegszeit. Edition und Dokumentation (1999), bearb. von Karen Peter, Bd. 6: 1938 (Quellentexte). München. Die Tagebücher von Joseph Goebbels (1998), hrsg. von Elke Fröhlich, Teil I: Aufzeichnungen 1923-1941, Band 6: August 1938-Juni 1939, bearbeitet von Jana Richter. München u. a. Die Tagebücher von Joseph Goebbels (2000), hrsg. von Elke Fröhlich, Teil I: Aufzeichnungen 1923-1941, Band 5: Dezember 1937-Juli 1938, bearbeitet von Elke Fröhlich. München u. a. Die Tagebücher von Joseph Goebbels. Sämtliche Fragmente (1987a), hrsg. von Elke Fröhlich, Teil I: Aufzeichnungen 1924-1941, Band 2: 1.1.1931-31.12.1936. München u. a. Die Tagebücher von Joseph Goebbels. Sämtliche Fragmente (1987b), hrsg. von Elke Fröhlich, Teil I: Aufzeichnungen 1924-1941, Band 3: 1.1.1937-31.12.1939. München u. a.

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Gert Hagelweide

Die archivierte Zeitung. Zu einer Entwicklungstendenz: Quellenwert versus Medium

1. Die Einheit des Druckmediums Zeitung als Problem der Archivierung Am Anfang stand die „Entdeckung", daß die Zeitung einen „Quellenwert" besitze. Martin Spahn, der wissenschaftliche Urheber dieser Feststellung, spricht 1908 von der „Presse als Quelle der neuesten Geschichte" (Spahn 1908) und stößt damit eine Diskussion an, die zunächst nur einige deutsche Historiker mobilisierte, in deren Gefolge sich aber auch Bibliothekare und Archivare mehr und mehr für die Zeitung interessierten (Hagelweide 1974; Höfig/Ubbens 1986; Bohrmann 1994). Genau genommen war diese Erkenntnis nicht sonderlich neu. Wer sich mit der Tagespresse beschäftigte, zumeist waren es interessierte Sammler, wußte vom unerschöpflichen Inhalt dieses Druckmediums, von seiner Spiegelung jeweils gegenwärtigen Geschehens, das sich interfakultativ auswerten ließ, wenn man nur wollte. Doch blieb dieser Kreis während des 19. Jahrhunderts stets klein, unbeachtet und ohne größeren Einfluß in der Öffentlichkeit. Selbst Forckenbecks Bestrebungen erreichten nur bescheidene Beachtung (Bremen 1998). Neu an Spahns Vorstoß war allerdings, daß er von wissenschaftlicher Position aus formuliert wurde und in seinem Urheber einen hartnäckigen Verfechter fand, der sowohl Theorie als auch Praxis zu verbinden verstand. Mit der langsam einsetzenden positiven Bewertung der Zeitung gerieten naturgemäß die zuständig sammelnden Institutionen, die Bibliotheken und Archive (diese zumeist nur bedingt), in das Diskussionsfeld. Sollte die Presse wissenschaftlich ausgewertet werden, mußte sie in ihrem Bestand öffentlich zur Verfügung stehen, d.h. systematisch und nach Möglichkeit vollständig gesammelt, aufbereitet/gebunden und katalogisiert, nicht zuletzt an ihrem Standort in Lesesälen einsehbar sein. Hiermit sah es allerdings nicht zum Besten aus, obwohl ausgewählten Staats-, Universitäts- und Landesbibliotheken institutionell Sammel- und Aufbewahrungsverpflichtungen vorgeschrieben waren. Ein langwieriger, nicht immer erfolgreicher Prozeß setzte nach 1908 ein, der jedoch trotz zweier Weltkriege niemals ganz zum Erliegen kam, da sich bis zum heutigen Tage immer wieder engagierte Wissenschaftler, Bibliothekare und Archivare fanden, die sich für die Aufbewahrung der Zeitung und ihre wissenschaftliche Zugänglichkeit einsetzten. Es ist dies - im Rückblick - jene Phase, die man als Ringen um die Wertsetzung, die Erreichbarkeit und den Bestandsnachweis in Bibliotheken, weniger in Archiven, bezeichnen könnte, um die Zeitung als ein im Vergleich zu allen anderen Medien gleichwertiges Bibliotheksgut zu legalisieren. Von Anbeginn der Diskussion standen daher neben der Erörterung des wissenschaftlichen Quellenwerts der Zeitung auch deren Erhaltungs- und Benutzungsmöglichkeiten. 59

Gert Hagelweide Die Tagespresse sollte - anderes war gar nicht denkbar - in ihrer originalen Papiergestalt als publizistisches Ganzes aufbewahrt und zugänglich werden, idealiter in einem Band bzw. in unterteilten Jahrgangsbänden gebunden. Daß es den Historikern dabei hauptsächlich um den Inhalt ging, darf unterstellt werden. Alle Fragen des Sammeins und Sicherns haben sie nach und nach - und sicherlich nicht ungern - an die „zuständigen" Bibliothekare und Archivare abgegeben. Bezeichnenderweise setzten zugleich die Bemühungen um den Nachweis des Zeitungsinhaltes ein. Das geplante „Reichszeitungsmuseum" war nicht nur als Sammelstätte gedacht, sondern sollte ebenfalls eine „umfassende, nach Schlagwörtern geordnete Registratur aller Zeitungsartikel und -nachrichten" (Spahn 1908:1209f.) besitzen. Der Inhalt des Druckmediums war das eigentliche Ziel, das publizistische Gebilde als solches blieb - gleichsam als materialisierte Hülle - sekundär. Diese Hervorhebung hat durchaus ihre Berechtigung, wenn man die künftige Entwicklung bedenkt. So ist es schon interessant zu sehen, daß in diesem Umfeld der Begriff „Zeitungswissenschaft" nicht geboren wird; vielmehr scheint er, wenn die Quellenlage nicht täuscht, zuerst im Wirkungskreis Oscar von Forckenbecks entstanden zu sein, in einem Bereich also, der die Zeitung als publizistisches Ganzes betrachtete und zu dokumentieren suchte. Nichtsdestotrotz blieb auf wissenschaftlicher Seite das Sammelgut Zeitung bei aller aufkeimenden Wertschätzung eine stets kritisch genutzte und weiterhin nicht immer berücksichtigte Materie, weil inhaltlich oft lückenhaft, tendenziös oder nicht „objektiv"; auf Seiten der Bibliothekare und Archivare blieb es fortan ein zwar mehr beachtetes, aber weiterhin „ungeliebtes Kind", weil arbeitsproblematisch und arbeitsaufwendig, kostspielig, überaus raumbeanspruchend, unhandlich in der Benutzung, nicht zuletzt in sich bestandsgefährdet (Zeitungspapier aus Holzschliff!). Außer Frage steht hierbei, daß die meisten bibliothekarisch/archivarischen Probleme aus der Tatsache resultierten, die Zeitung als Einheit bewerten und aufheben zu müssen, nicht zuletzt als publizistisches Ganzes zugänglich zu machen (Ausschnittsammlungen einmal außer acht gelassen). Inhalt und Form waren nicht zu trennen.

2. Der Mikrofilm und seine Folgen Die Erfindung der Kleinbildphotographie brachte eine unvorhergesehene Wende. Bereits gegen Ende des zweiten Weltkriegs tauchte in der Diskussion um ein „Reichspressearchiv" (1942) die Idee auf, an verschiedenen Stellen unvollständig vorhandene Zeitungsbestände auf Mikrofilm zu einem vollständigen Exemplar zu vereinen und außerdem über diesen neuen Träger eine Ausleihe zu ermöglichen (Franzmeyer 1942). Das Verfahren, in Deutschland entdeckt, aber erst in den USA ausgefeilt und für eine sichere Anwendung weiterentwickelt, schien in den Bibliotheken viele Probleme auf einmal lösen zu können. Lückenhafte Bestände konnten komplettiert werden. In der Benutzung war es plötzlich möglich, einzelne Aufsätze oder ganze Nummern aus Zeitungsbänden zu verfilmen, vor Ort abzugeben oder per Post zu versenden, mit anderen Worten: Der Präsenszwang, dem sich jeder Benutzer ausgesetzt sah, nämlich am Standort der Sammlung arbeiten zu müssen, war durchbrochen, eine Vorstellung, die bislang nicht denkbar gewesen war. 60

Die archivierte Zeitung Als entscheidend für die Zeitungsaufbewahrung erwies sich schließlich folgendes: Fortan konnten auch ganze Bestandsreihen, potentiell komplette Zeitungssammlungen verfilmt werden! Zunächst dachte man allerdings an die Sicherungsverfilmung, u m gefährdete Bestände in ihrer Konsistenz zu erhalten, später ging man dazu über, zusätzlich einen Benutzerfilm herzustellen, u m das Original ganz der allgemeinen Zugänglichkeit zu entziehen. Zunehmend griff dann das Raumargument, das alle Befürworter der Verfilm u n g bezüglich F o r m a t und Gewicht ( M i k r o f i l m - Original) zu Recht einbringen konnten. D e r Einsatz der Mikroverfilmung erschien jetzt nicht nur vertretbar, sondern legitim und fand immer mehr Akzeptanz. D a m i t trat ein entscheidender Wandel in der Bereitstellung der Zeitung ein: D e r Benutzerfilm w u r d e (und wird) mehr und m e h r z u m Regelfall; die Einsicht in das Original blieb (und bleibt) Wissenschaftlern mit Spezialinteressen vorbehalten. Bei der P l a n u n g einer Verfilmung dürfte heute die Herstellung eines Archiv- und parallel dazu eines Benutzerfilms (Arbeitsfilm) Standard sein (Hagelweide 1977). D a s 1965 gegründete „Mikrofilmarchiv der deutschsprachigen Presse e.V." hat sich in diesem Zusammenhang große Verdienste erworben (Bohrmann 1998). Jede neue Technik setzt in ihrer A n w e n d u n g aber neue Prozesse in G a n g , deren Nebenwirkungen nicht immer gleich erkannt werden. D a s trifft auch für den Einsatz des Mikrofilms zu. Sein großer Vorteil, das Original in neuer verkleinert-materieller Trägerschaft zu vervielfältigen und damit die Möglichkeit z u bieten, den ursprünglichen Träger der Benutzung z u entziehen, ist nur die eine - die positive - Seite. O b w o h l dieser Prozeß noch nicht abgeschlossen ist, da längst nicht alle Pressebestände verfilmt sind, ist die Entwicklung unverkennbar: D i e Originalzeitung hat ihren R ü c k z u g aus den Lesesälen angetreten. Sie wird z u Archivgut im eigentlichen Sinne. Ihre inhaltsvermittelnde Funktion hat sie an das Mikrofilm-Abbild abgetreten. A m Rande vermerkt: D a m i t hat sich in der G r u n d e i n s t e l l u n g der B i b l i o t h e k e n und Archive gegenüber der Zeitung wenig geändert, denn der M i k r o f i l m gehört ebenfalls in die Kategorie der „ungeliebten Kinder". Nutzungstechnisch bleibt die Tagespresse - hier nun in neuer Trägerschaft - weiterhin ein problembeladenes Sammelgut. Was aber geschieht mit dem Papierexemplar? Hier hat eine Entwicklung eingesetzt, die man aus wissenschaftlicher Sicht nur als bedenklich bezeichnen kann. D a s publizistische Original gerät unter Verschluß, wobei nicht immer klar ist, ob im wortwörtlichen Sinne oder doch noch für Spezialfragen zugänglich. Denn: Mit der Mikroverfilm u n g glauben inzwischen manche Bibliotheken und Archive das Z e i t u n g s original z u besitzen. D e r M i k r o f i l m ist ihnen gleichsam zu einem spiegelgleichen Ersatzmedium geworden. Dabei vergißt man schlechterdings, daß der Rollfilm nur ein anderer Träger ist, der das ursprüngliche Original verkleinert, zudem nur schwarz-weiß wiedergibt und es außerdem in einer ganz und gar anderen Materialisierung darbietet. D e r Inhalt ist zwar gesichert und reproduzierbar, das M e d i u m selbst ist jedoch in seiner publizistischen Gestalt (Papier, F o r m a t und nur sehr bedingt in seinem Layout) nicht mehr vorstellbar, für den Benutzer nur noch annähernd abzuleiten aus der Wahrnehmung gegenwärtig erscheinender Zeitungsorgane. E s verwundert überhaupt nicht, wenn man liest, daß schon 1978 Meinungen laut wurden (Berliner Kolloquium), man könnte auf das Papierexemplar, auch bei Pflichtblättern, verzichten ( H ö f i g / U b b e n s 1978: 13). N a t ü r l i c h werden einem Pressehistoriker solche Vorstellungen niemals in den Sinn k o m m e n , aber

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Gert Hagelweide

die archivierenden Sachwalter sind keine Zeitungswissenschaftler, und die heutigen Kommunikationswissenschaftler kümmern sich längst nicht mehr um dergleichen „periphere" Dinge. Das erwähnte Kolloquium (mit anschließend ausformulierten Empfehlungen) ist für die Entwicklung signifikant: Das Papierexemplar soll erhalten bleiben, aber im Regelfall nur an den Pflichtexemplarbibliotheken; der Normalfall in einer Bibliothek sollte künftig der Zeitungsmikrofilm sein. Mit anderen Worten: Das Original ist entbehrlich geworden. Kann dies der letzte wissenschaftlich/bibliothekarische Ratschluß sein? Der Prozeß ist schleichend und hat bezeichnende Vorläufer: Das ungeliebte, raumfressende „Stiefkind" kann nach seiner Verfilmung aus der Zentralbibliothek ohne Benutzerprotest ausgegliedert werden; es wandert in ein Ausweichmagazin (wenn man Glück hat: am gleichen Ort). Handelt es sich um Bestände, die nicht unbedingt in den Pflichtenkanon der Bibliothek gehören, werden diese - so vorhanden - in die Eigenständigkeit von Speicherbibliotheken abgeschoben oder an Bibliotheken mit größerer Affinität zur Zeitungssammelpflicht abgegeben (ältere Bestandskataloge stimmen daher zunehmend nicht mehr!). Entscheidungen dieser Art werden zunehmend beflügelt durch die Annahme, der Mikrofilm sei das Original. Hinzu kommen Verwaltungszwänge, die die Entwicklung an manchen Orten beschleunigen: Raumnot oder inzwischen untragbar gewordene Kosten für angemietete Magazinräume, die daher aufgegeben werden müssen, zwingen zu Handlungen, die bezeichnenderweise bei den Zeitungsbeständen zuerst ansetzen. Die Mikroverfilmung erscheint hier als Retter. In einem Falle, soweit bekannt, wurde nach der Verfilmung des eigenen Zeitungsbestands der Reißwolf aktiviert, um die raumbeanspruchenden Originale zu vernichten. Aus einer führenden deutschen Bibliothek mit großer Zeitungssammlung verlautet, daß die Direktion der Meinung sei, in der Benutzung könne man ganz ohne das Original auskommen, das demgemäß ausgelagert werden dürfe (wohin auch immer). Oder: Nach der Verfilmung wird das ungebundene Papierexemplar in Pakete verschnürt, die zugeklebt der Benutzung gänzlich entzogen werden und nur noch für eine eventuelle Nachverfilmung zur Verfügung stehen. Dabei geht es, wie die Beispiele zeigen, gar nicht mehr (in einem Fall überhaupt nicht) um Schutz und Sicherung des Papierexemplars : Vielmehr hat sich die Einstellung gegenüber dem Zeitungsoriginal - voreilig durch bibliothekarische Empfehlungen verstärkt grundlegend verändert. Das publizistische Medium besitzt nach seiner Separierung oder Archivierung, obwohl doch der eigentliche und ursprüngliche Vermittler des „jüngsten Gegenwartsgeschehens" (Dovifat 1976: 16), ganz offensichtlich keinen historischen Wert mehr, bestenfalls noch als „Rückgriffobjekt" gefragt, falls eine fehlerhafte oder qualitätsmäßig schlechte Verfilmung vorgenommen wurde, die man korrigieren möchte. Bezüglich der „Restbehandlung" des Originals, sofern noch im Bestand gehalten, lassen sich mancherorts bereits merkwürdige Folgen beobachten: Pflichtzugänge, die nach den Bestimmungen des Presserechts ins Haus gelangen, werden nicht mehr gebunden, werden verpackt und verschnürt und an einen nicht „nutzungsaktiven" Ort verbracht. Zur Verfilmung aufgebrochene Originalbände werden, obgleich erforderlich, nicht mehr nachgebunden, unterliegen im Magazin keinem systematischem Ordnungs- und Aufstellungszwang, der normalerweise hier walten müßte. - Die Deutsche Bibliothek Frankfurt (Die Deutsche Bibliothek), immerhin als zentrale Archivbibliothek gegründet, überspringt gleich das Zeitungsoriginal und kann getrost als stiller Vorreiter der Ent-

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Die archivierte Zeitung wicklung bezeichnet werden. Von der Pflichtablieferung der Tageszeitungen ausgenommen (Verordnung von 1970 für die alte Bundesrepublik) und von dieser nur in Eigeninitiative betroffen, „soweit sie nicht zur Mikroverfilmung angefordert werden", konnte sie auf die Archivierung der Originale verzichten, wobei ohne weiteres vorausgesetzt wurde, daß die Pflichtexemplarbibliotheken die Papierausgaben aufbewahren würden. In der neuen Pflichtstückverordnung von 1983 wurde dann zwar eine Korrektur vorgenommen (Wegfall der Bedingung der Mikroverfilmung), die aber zu keiner Änderung in der Praxis führte (Berthold 1974; Picard 1986). Der Mikrofilm steht für das Original, ist das Original (Hagelweide 1997: 167). Wenn alles schlecht geht, wird man das publizistische Medium Zeitung in seiner eigentlichen Gestalt eines Tages nur noch in einer Pflichtexemplarbibliothek (hoffentlich) besichtigen können.

3. Die Zukunft des Papierexemplars Offensichtlich ist ein Virus unterwegs, der nicht mehr aufzuhalten ist. Wer sollte hier auch Einhalt gebieten, da es so gut wie keine Zeitungsbibliothekare und-archivare an den größeren Sammelstätten gibt und zudem stringente Empfehlungen in die Welt gesetzt wurden, die kulturhistorisch höchst zweifelhaften Wertes sind! Dabei sind bestimmte wissenschaftliche Fragestellungen nur am Zeitungsoriginal selbst zu klären. Von Untersuchungen des Papiers einmal ganz abgesehen: Welchem Pressehistoriker würde es einfallen, die Entwicklung des Layouts, der Zeitungsdrucktechnik oder der Pressephotographie über einen Mikrofilm via Lesegerät zu verfolgen und zu analysieren? So merkwürdig es klingen mag, die Propagierung des „Quellenwerts" der Presse, de facto mit dem Inhalt des Mediums gleichgesetzt, hat sich unter den im Vergleich zu 1908 erweiterten technischen Reproduktionsmöglichkeiten zu einem bösen Bumerang entwikkelt: Das publizistische Original wird zu einer Hülle, die entbehrlich scheint. Einschätzungen dieser Art können natürlich nur um sich greifen, wenn die wissenschaftliche Forschung keine oder nur noch selten historisch orientierte Fragen zum Medium bereithält, und der entsprechende Nachfragedruck auf die Bibliotheken ausbleibt. Naturgemäß greift mechanisches und voreiliges Handeln um sich, wenn gegenüber dem Sammelgut außerdem eine tiefgreifende, unausrottbare und nur temporärpositiv überdeckte Negativeinschätzung existiert wie in diesem Fall: Zeitungen sind „graue Literatur", daher eher als minderwertig einzustufen und sind natürlich - wortwörtlich sagt man es nicht - kein wichtiges Kulturgut. Im Vergleich: Wem würde schon einfallen, wertvolle Handschriften und Bücher, nachdem sie verfilmt sind, auszusondern, wegzulagern, gar zu vernichten? Natürlich niemandem. Man wird diese wertvollen Stücke selbstverständlich restaurieren und schonend in Sondermagazinen oder Tresoren aufbewahren, um sie der Nachwelt zu erhalten! Tageszeitungen gehören offensichtlich nicht in diese Kategorie. - Das publizistische Medium scheint, obschon über Jahrhunderte wichtigstes gesellschaftliches Informationsmittel, in Gestalt und Inhalt zeittypisch und ein einmaliges Mittel gesellschaftlicher Sozialisation, im Verständnis der Gegenwart keine kulturhistorische Größe mehr zu besitzen. Allein der Inhalt zählt. Sind diese Feststellungen zu einseitig, überspitzt, zu schwarzseherisch? Werden hier nicht einzelne Erscheinungen unzulässig verallgemeinert? Haben nicht die zuständigen

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Gert

Hagelweide

Bibliothekare Empfehlungen ausgesprochen, die zu klaren Sammelentscheidungen führen müssen (mußten): 1 Pflichtexemplar ( = Papier), im übrigen Mikrofilme? Bei näherem Hinsehen zeigt sich, daß Sammelwirklichkeit, potentielle publizistikwissenschaftliche Forschungsanforderungen und kulturhistorische Verpflichtungen in der bisherigen bewahrenden Praxis nicht im Einklang stehen. Die Pflichtabgabe an bestimmte Bibliotheken sichert nicht, wie die Vergangenheit lehrt, den Erhalt wenigstens eines Originals, erst recht nicht eines vollständigen Exemplars! W i e läßt sich sonst erklären, daß viele Zeitungen nicht an ihrem Pflichtabgabeinstitut vorhanden sind? Bei vielen Zeitungsbeständen, die wir heute noch nachweisen können, handelt es sich um Sammlungen, die jenseits dieser Regelung entstanden sind und sich nicht am Standort der Pflichtexemplarbibliothek befinden. Warum sind viele Zeitungen heute nur noch im Titel nachzuweisen, obwohl sie doch von Rechts wegen in einem Exemplar vorhanden sein müßten? U n d hier können beileibe nicht immer wieder Kriegsverluste als Entschuldigung angeführt werden! Merkwürdig ist auch, daß vor allem kleine Lokalblätter schlecht überliefert sind, daß hier offensichtlich die Pflichtabgabe, eher schon die Pflichtaufbewahrung unzureichend gehandhabt und beobachtet wurde. U n d selbst dort, w o ein komplettes Exemplar laut Katalog vorhanden ist, erweist sich die Vollständigkeit - diese Tatsache ist allen Insidern bekannt - alsbald als Fiktion. Die Regelung der preußischen Pflichtabgabe, die zwei Exemplare vorsah, das erste an die regionale Bibliothek, das zweite an die zentrale Königliche Bibliothek (Preußische Staatsbibliothek) in Berlin, hatte ihre Berechtigung und hat sich vor der Geschichte bewährt. Auf unvorhergesehene Bestandsverluste, vor denen keine Bibliothek gefeit ist, muß nicht ausdrücklich hingewiesen werden. Zweite und dritte Papierexemplare haben ganz gewiß ihre Berechtigung. Bei dieser Einschätzung sollte man allerdings nicht stillschweigend die Bestände der Stadt- und Verlagsarchive einbeziehen, sich hier gleichsam eine „Reserve" denken. Das Problem ist bibliothekarisch zu lösen. Die Empfehlungen der Zeitungskommission des Deutschen Bibliotheksinstituts, deren Arbeit seit 1994 leider ruht, da keine Mitglieder mehr berufen werden (!) (Barton 1986; Höfig 1986), reichen daher nicht aus (Höfig/Ubbens 1986: 14-24). Sie gewährleisten, wenn man ihnen folgt, wohl die Erhaltung eines hoffentlich vollständigen Zeitungsexemplars (wer allerdings kann schon „Vollständigkeit" bei einem solchen Medium garantieren?); was aber ist mit den bekannten Unwägbarkeiten bei Kopf-, Neben-, Post- und Luftpostausgaben, Beilagen (selbständig zu werten oder nicht, beigebunden oder nicht), mit den unbekannten, erst bei Benutzung festzustellenden Teilverlusten? Ist diese Vielfältigkeit der Probleme durch die Aufbewahrung eines Pflichtexemplars und dessen Verfilmung abgedeckt? Jede korrekte Verfilmung deckt i m m e r wieder Nummernverluste im Original auf. Man kann sie im jeweiligen Vorspann nachlesen. Abgesehen davon, welche Rückschlüsse auf die Umsetzung der Kollationierung möglich sind: W e r ergänzt eigentlich diese Verluste, spürt noch vorhandene Originale auf, ergänzt das Filmexemplar? Was ist schon ein „gut erhaltenes" Exemplar, das zur Verfilmung gelangen soll, wie es an einer Literaturstelle heißt, wenn die Verfilmung selbst in einzelnen Teilen nicht qualitätsgerecht ist, was so schnell natürlich niemand bemerkt? Was nutzt die Empfehlung zu vollständigem Sammeln angesichts der mühsamen Kontrolle des täglichen Ablieferungseingangs, der erfolglosen Nachforderungen bei Ausbleiben

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Die archivierte Zeitung einer Nummer? Will man sichergehen, eine vollständige Uberlieferung zu gewährleisten, wird man für die Aufbewahrung mehrerer, institutionell unterschiedlich gesammelter Original-Exemplare - nach Möglichkeit in verschiedenen Bibliotheksregionen aufbewahrt - plädieren müssen! Das Papierexemplar ist wissenschaftlich und bibliothekarisch unverzichtbar. Die Reduktion auf das Pflichtexemplar wiederum ist nicht ausreichend; die Verfilmung dieses Exemplars bleibt nur eine Teillösung und im Hinblick auf die angestrebte Vollständigkeit eine Scheinlösung. Sofern alle interessierten Bibliotheken und Archive - dies einmal als Beispiel genommen - die Mikrofilmausgabe dieses einen Exemplars erwerben - und das werden sie doch - ist die Wahrscheinlichkeit, daß nur ein lückenhaftes Exemplar erworben und überliefert wird, ungemein groß. Auf Fehler in der Verfilmungspraxis (am Ende auch in der Kollationierung) soll hier nicht unbedingt eingegangen werden, doch ist es in diesem Zusammenhang schon bemerkenswert, daß bei der „Vossischen Zeitung" (zufällig festgestellt!) einige Jahrgänge aus den 20er Jahren lediglich in der Postausgabe verfilmt wurden! Sollte diese Version nun als das vollständige Original gelten und als Freibrief genommen werden, alle übrigen Papierexemplare (außer der verfilmten Bestandsreihe) der Vernichtung preiszugeben? Vor mechanischem Vorgehen kann nur gewarnt werden. Wie so oft liegt der Ausweg in der ausgewogenen Balance: Mikrofilm und Original!

4. Zeitungsverfilmung - Original: Ein Ausblick Der Mikrofilm ist in der Bereitstellung und wissenschaftlichen Nutzung der Zeitungen unentbehrlich geworden. Hierüber gibt es keine Diskussion mehr, doch sind im Laufe der Zeit alle Fragen, die mit der Sicherung des publizistischen Originals Zeitung zusammenhängen, zu sehr in den Hintergrund getreten. Leider existiert in Deutschland keine Bibliothek, die für dieses Sammelgut und seine Problematik eine Gesamtverantwortung trägt oder bereit wäre, diese zu übernehmen. Erste Ansätze finden sich zwar an der Staatsbibliothek zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz, die die größte deutsche Sammlung ihr eigen nennt, deren Aufgabenstellung aber weiter ausgebaut werden müßte. Es wäre nur begrüßenswert, wenn dort jene Koordinationsstelle entstünde, die sich aller Problemfälle zuwenden könnte, die sich vor allem der auf regionaler und lokaler Ebene durch Verfilmung „überflüssigen" Papierbestände annehmen würde. Zumindest müßte sie sich in den Stand gesetzt sehen, in allen bibliothekarischen Zeitungsfragen als erster Konsultationspunkt zu gelten (neben den Pflichtexemplarbibliotheken). Originalbestände dürften erst dann veräußert oder in den Reiß wolf gegeben werden, wenn sichergestellt ist, daß hinlänglich genügend Papierausgaben in der Bundesrepublik vorhanden sind. Vor allem sollte in Berlin ein „zentrales Original" archiviert sein, das weiterhin wissenschaftlicher Forschung zugänglich zu bleiben hätte. Dazu gehörte dann natürlich auch, vorhandene Lücken - sofern dies noch möglich ist - in Papierform zu ergänzen (unabhängig von vorhandenen Sicherungsverfilmungen). Neben den Pflichtexemplarbibliotheken sollte die Zeitungsbibliothek in Berlin die überregional bewahrende und betreuende Stelle werden, die alle Aufgaben der Koordination und fachlichen Informationsvermittlung, die in einem so speziellen Fachgebiet anfallen, wahrnehmen müßte.

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Hagelweide

Beiläufig: Mikrofilmverzeichnisse sollten es sich zur (nachträglich sicherlich schwierigen) Aufgabe machen, die Standorte der verfilmten Zeitungsoriginale anzugeben, um ihren Nutzern anzuzeigen, welches „Original" nachgewiesen wird. Bibliothekarisch und archivarisch stellt sich daher nicht die Frage: Mikrofilm kontra Zeitungsoriginal, sondern die Aufgabe, neben der Informationsbereitstellung über den Mikrofilm das Papierexemplar als ein kulturhistorisch wertvolles Sammelgut zu erkennen, zu bewerten und als solches vollständig den nachfolgenden Generationen zu erhalten. Die Wahrnehmung der Inhaltsvermittlung ist das eine, die historisch-publizistisch orientierte Bestandssicherung das andere. Letztere ist zur Zeit nicht voll gewährleistet.

Literatur Barton, Walter (1994), Zeitungskommission des Deutschen Bibliotheksinstituts. In: Bohrmann, Hans/ Ubbens, Wilbert (Hrsg.), Zeitungswörterbuch für den bibliothekarischen Umgang mit Zeitungen. Berlin, S. 304-305. Berthold, Werner (1974), Deutsche Bibliothek, Frankfurt/M. In: Hagelweide, G e n (Hrsg.), Zeitung und Bibliothek. Ein Wegweiser zu Sammlungen und Literatur. Pullach bei München, S. 111-112. Bohrmann, H(ans) (1994), Zeitungsüberlieferung. In: Bohrmann, Hans/Ubbens, Wilbert (Hrsg.), Zeitungswörterbuch. Sachwörterbuch für den bibliothekarischen Umgang mit Zeitungen. Berlin, S. 306-311. Bohrmann, Hans (1998), Zeitungsverfilmungspraxis des Mikrofilmarchivs der deutschsprachigen Presse e.V., Dortmund. In: Mikrofilm-Archiv der deutschsprachigen Presse e.V. 10. Bestandsverzeichnis 1998. (Garz bei Berlin,) S. XXIV-XXXVUI. Bremen, Christian (1998), Oscar von Forckenbeck < 28.09.1822-29.07.1898 > und das Internationale Zeitungsmuseum der Stadt Aachen. Bochum. Dovifat, Emil (1976), Zeitungslehre. 6., neubearb. Aufl. Band 1. München. Franzmeyer, Fr(itz) (1942), Reichspressearchiv und Zeitungswissenschaft. Vortrag anläßlich der Dozententagung des DZV. In: Zeitungswissenschaft, 17. Jg., H.6, S. 315-316. Hagelweide, Gert (1974), Geschichte und Entwicklung des Zeitungssammeins in Deutschland. Initiativen, Auswirkungen und Perspektiven. In Hagelweide, Gert (Hrsg.), Zeitung und Bibliothek. Ein Wegweiser zu Sammlungen und Literatur. Pullach bei München, S. 15-51. Hagelweide, Gert (1977), Verfilmung einzelner Literaturgruppen und ihre bibliothekarische Relevanz. In: Hagelweide, Gert (Hrsg.), Mikroformen und Bibliothek. München, S. 67-95. Hagelweide, Gert (1997), Die Zeitungssammlung der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz. In: Staatsbibliothek zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz. Mittteilungen. N . F . 6, Nr. 2, S. 167-172. Höfig, Willi (1986), Die Zeitungskommission - ein Nachruf? In: Höfig, Willi/Ubbens, Wilbert (1986), Zeitungen in Bibliotheken. Bericht über ein Stiefkind, mit notwendigen Empfehlungen. Berlin, S. 352368. Höfig, Willi/Ubbens, Wilbert (1978), Kooperationsmöglichkeiten für Zeitungssammelstellen. Berlin. Höfig, Willi/Ubbens, Wilbert (Hrsg.) (1986), Zeitungen in Bibliotheken. Bericht über ein Stiefkind mit notwendigen Empfehlungen. Berlin. Picard, Bertold (1986), Mikroverfilmte Tageszeitungen in der Deutschen Bibliothek. In: Höfig, Willi/ Ubbens; Wilbert (Hrsg.), Zeitungen in Bibliotheken. Bericht über ein Stiefkind, mit notwendigen Empfehlungen. Berlin. Spahn, Martin (1908), Die Presse als Quelle der neuesten Geschichte und ihre gegenwärtigen Benutzermöglichkeiten. In: Internationale Wochenschrift für Wissenschaft, Kultur und Technik. 1908: 37, 1163-1170; 38, 1201-1212.

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Günther Wiegand

Zeitungsarchivierung und die neuen Techniken

Zeitungen zu archivieren, d. h. für eine nicht begrenzte Zeit aufzubewahren, bereitet bekanntlich erhebliche Schwierigkeiten. Wenn auch in erster Linie die geringe Wertschätzung, die den Zeitungen aus inhaltlich-formalen Gründen lange Zeit entgegengebracht wurde, für die mangelnde Neigung verantwortlich ist, Zeitungen in Bibliotheken aufzubewahren, haben äußere Gründe dieses Verhalten verstärkt. Zeitungen sind unhandlich, brauchen viel Platz und sind aus einem Material hergestellt, das nicht zur dauerhaften Aufbewahrung geeignet ist. Auch als es die Begriffe „saures Papier" und „Papierzerfair noch nicht gab, wußte jeder, daß Zeitungspapier wenig haltbar ist. Zu allem hinzu kommt noch die in der Regel sehr ungenügende Erschließung des Inhalts von Zeitungen. Wurden Zeitungen trotzdem aufbewahrt, geschah das oft genug unter beklagenswerten Umständen. Die schlechtesten Lagerplätze waren für dieses unbeliebte Material gerade gut genug. Die Mißachtung der Zeitung als Quelle für wissenschaftliche Erkenntnisse ist inzwischen überwunden. In den Disziplinen, die sich mit politischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Zuständen und Vorgängen der letzten 200 Jahre befassen, wird die Zeitung als Quellenfundus anerkannt. Reaktion auf diese Entwicklung der letzten 50 Jahre ist der Zeitungs-Mikrofilm. Er beseitigt einige Nachteile der Originale wie den hohen Platzbedarf und die unzureichende Haltbarkeit und ermöglicht damit eine kostengünstige, langfristige Archivierung. Zugleich läßt er zu, daß Zeitungen ohne Gefährdung der Uberlieferung benutzt werden können. Vervielfältigung und Versand sind vergleichsweise einfach möglich. Aber ist beides, Archivierung und Distribution, mit dem Medium Mikrofilm wirklich noch zeitgemäß? Archivieren heißt speichern, und bei diesem Wort fällt heute jedem sofort die elektronische Datenspeicherung ein. Auch die Distribution von Daten ist in der elektronischen Version besonders einfach, sei es über das Internet, sei es als CDROM, DVD udgl. Von den Vorteilen, die digitalisierte Daten für die Benutzung bieten, ganz zu schweigen. Wer sich über den Einsatz von Datenverarbeitung auf Gebieten äußert, bei denen der Umgang damit nicht schon gang und gäbe ist, läuft Gefahr, sich entweder in Spekulationen zu verlieren oder Situationen zu beschreiben, die schon zum Zeitpunkt des Entwurfs wieder überholt sind. Die Zeitungsarchivierung mit Hilfe neuer Techniken - d. h. unter Einsatz elektronischer Speichermedien - ist ein solcher Fall. Aus mehreren Gründen besteht diesbezüglich eine große Unsicherheit. Es gibt ganz allgemein noch keine wirklichen Erfahrungen mit den Schwierigkeiten, die bei der Langzeitarchivierung elektronischer Datenbestände auftreten können, geschweige denn auf dem besonderen Feld der Zeitungen. Digitalisierung ist ganz im Gegenteil nicht zuletzt deshalb so erfolgreich, weil die digitalisierten Datenbestände so leicht veränderlich, aktualisierbar sind. Es gab bisher 67

Günther

Wiegand

meist wenig Veranlassung, elektronische Daten unveränderbar in Speichern zu halten. Technisch bieten Datenspeicher wie CD-ROM wohl diese Möglichkeit; allerdings ist noch nicht bekannt (und demzufolge kontrovers) wie lange dieser Datenträger funktionsfähig bleibt, oder - anders ausgedrückt - ob und ggf. in welchen zeitlichen Abständen die Daten vom bisherigen auf einen anderen „frischen" Datenträger übertragen werden müssen, wenn sie unbefristet verfügbar bleiben sollen. Dabei ist die Haltbarkeit des materiellen Substrats nur ein Aspekt. Ebenso wichtig für die unbefristete Verfügbarkeit ist die Verarbeitungstechnik, d. h. die gerate- und softwareseitige Lesbarkeit. Wer im Jahr 2000 mit Daten umzugehen hat, die zu Beginn der 90er Jahre erstellt worden sind, kann in manchen Fällen erfahren, daß es mit der oft gepriesenen Aufwärtskompatibilität nicht weit her ist. Das spielt insbesondere dann eine Rolle, wenn die Daten in einer bestimmten Formatierung vorliegen. Mit Blick auf die Zukunft sollte das Problem des Speicherbedarfs noch am wenigsten schrecken. Wohl sind die Anforderungen an die Speicherkapazität dann, wenn qualitativ hochwertige Graustufen, vor allem aber Farbwiedergaben notwendig sind, enorm hoch. Die Terabyte-Zone ist schnell erreicht. Aber die Entwicklung der Speicherkapazitäten beschleunigt sich immer mehr. Bekanntlich sind Personal Computer mit Festplatten von mehr als 20 GB, vor zwei bis drei Jahren noch kaum vorstellbar, im Herbst 1999 schon in Discountläden zu haben, und es gibt keinen Grund zu der Annahme, daß diese Entwicklung aufhört. So dürfte es auf der Ebene der professionellen Anwendungen, zu denen eine elektronische Zeitungsarchivierung durch Institutionen wie Bibliotheken und Archive gehören würde, in nicht allzu ferner Zeit möglich sein, Speicherplatz für umfangreiche und hochwertige Datenhaltung zum Zweck der Zeitungsarchivierung verfügbar zu haben. Die Frage lautet also langfristig nicht, ob man große Zeitungsbestände digital archivieren kann, sondern ob und ggf. mit welchem Aufwand und welchen Zielen man dies tun sollte. Zunächst ist einmal festzustellen, daß es digitalisierte Zeitungen schon gibt. Nicht nur im gelobten Land der elektronischen Medien, in den Vereinigten Staaten, sondern auch in Deutschland und anderswo liegen Zeitungen auf elektronischen Speichermedien vor. Zwei bekannte Produkte seien als Beispiel kurz vorgestellt: die „TAZ" und die „F. A.Z." Die Berliner „Tageszeitung" (TAZ) bietet gegenwärtig (Oktober 1999) auf zwei CDR O M 13 Jahrgänge (vom 2. Sept. 1986 bis 31. August 1999) als Volltextdatenbank für PC und Mac. Mehr als 625.000 Artikel sind nach Stichwörtern, Titeln, Datum, Autoren usw. recherchierbar. Gemessen an der bisherigen Lebenszeit dieser Zeitung (gegründet 1979) sind 13 Jahrgänge schon ein beachtlicher Fundus. Die CD-ROM-Ausgabe wird bis zum jeweiligen Tagesdatum ergänzt durch die Präsentation aller Ausgaben der letzten 12 Monate im Internet. Allerdings handelt es sich dabei nicht um eine originalgetreue Wiedergabe der Zeitungsedition, sondern es werden - und zwar textorientiert - einzelne Artikel in gestuften Zugriffsverfahren dargeboten. Die „Frankfurter Allgemeine" ist mit der „F.A.Z auf CD-ROM" das zweite Beispiel, das hier angeführt werden soll. Sie ist ab Jahrgang 1993 als Jahres-CD-ROM erhältlich. Gespeichert werden Images der Artikel, so daß bis zu einem gewissen Grad ein Eindruck vom Erscheinungsbild vermittelt wird, allerdings nicht im Sinne der vollen Abbildung der Zeitungsvorlage. Neben den allgemeinen Jahresausgaben, die sämtliche Artikel der

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Zeitungsarchivierung und die neuen Techniken überregionalen Ausgabe aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft enthalten, gibt es Sondereditionen für Buchkritik, Filmkritik, Natur und Wissenschaft und andere Rubriken des Originalprodukts. Bei aller Verschiedenheit der beiden hier genannten Beispiele, die sich um weitere vermehren ließen, und trotz der geradezu frappanten Preisunterschiede sind doch auch die Gemeinsamkeiten erkennbar: Ziel ist nicht die Erstellung eines genauen Abbilds der Zeitungsvorlage, sondern die möglichst einfach recherchierbare Präsentation der Zeitungsinhalte. Wer sich aus diesen Produkten eine Vorstellung vom Erscheinungsbild dieser beiden überregionalen Tageszeitungen machen möchte, hat damit keinen Erfolg. Nicht einmal alle Inhalte der Zeitung werden in den digitalen Ausgaben wiedergegeben. Die CD-ROM-Ausgaben sind keine Substitute der Zeitungen, sondern neue, andere Produkte, erstellt auf der Basis der gedruckten Zeitung. Elektronische Archivierung ist nicht das Ziel derartiger Unternehmungen, sondern ein journalistisch-dokumentarisches und - bei der F.A.Z - vielleicht auch ein wirtschaftliches Interesse (enormer Preis). Es gibt aber auch Unternehmungen, die das Ziel verfolgen, Zeitungen mit Hilfe der Digitalisierung so wiederzugeben wie sie vorliegen. Dabei steht allerdings abermals nicht die Archivierung als solche im Vordergrund, sondern die Zugänglichkeit. Ein lehrreiches Beispiel dieser Art ist das im Rahmen des DFG-Projektes „Verteilte Digitale Forschungsbibliothek" geförderte Vorhaben der Deutschen Bibliothek, Frankfurt a. M., ausgewählte Zeitschriften und Zeitungen des deutschen Exils 1933-1945 zu digitalisieren, zu erschließen und im Internet bereitzustellen. Das erweist sich jedoch als ein sehr aufwendiges und deshalb außerordentlich teures Verfahren. Das Scannen der Originale, die sich meist in einem schlechten Erhaltungszustand befinden, erweist sich als fehlerträchtig. Damit wird ein Produkt erzeugt, das entweder mit hohem manuellem Aufwand nachgebessert werden muß oder nicht originalgetreu ist, womit die Gefahr entsteht, daß der angestrebte Zweck mehr oder weniger verfehlt wird. Das Experiment mit den Exilzeitungen beflügelt keineswegs die Hoffnungen, in absehbarer Zeit zu wirtschaftlich vertretbaren Bedingungen im größeren Umfang digitale Zeitungsarchivierung leisten zu können - solange nicht die Möglichkeit gegeben ist, die (späteren) Nutzer an der Finanzierung zu beteiligen. Der Weg der Kommerzialisierung ist möglicherweise auch für retrospektive Digitalisierung von Zeitungen gangbar, wenn es sich um Organe handelt, bei denen mit einer ausreichenden Nachfrage zahlungswilliger Kunden zu rechnen ist. So wurde „The Times Literary Supplement" ab 1902 (vorerst „die ersten tausend Ausgaben" bis 1921) digitalisiert1, und zwar so, daß Images der Texte im Internet aufrufbar sind. Für die „Times" selbst soll es Überlegungen dieser Art geben. Selbst in diesen Fällen ist aber eigentlich nicht digitale Archivierung das Ziel, sondern allenfalls ein Nebenprodukt. Es geht um Zugänglichkeit. Die Probleme, die mit der notwendigen Konversion der Daten für die Nutzbarkeit nach einigen Generationen von Hardware- und Softwareentwicklung zusammenhängen, sind damit keineswegs gelöst. Entfällt bei solchen kommerziellen Unternehmungen - aus welchen Grund auch immer - das Interesse an der wirtschaftlichen Nutzung oder die Möglichkeit dazu, gerät das Ganze in Gefahr, weil niemand da

Diesen Hinweis verdanke ich Joachim Zeller, SB Berlin.

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ist, der den Pflegeaufwand übernimmt, und sei es auch nur, weil die rechtlichen Bedingungen für die fortgesetzte Nutzung problematisch sind. So ist bei jetzigem Stand der Entwicklung schon ein Fazit zu ziehen: Gegenwärtig ist Digitalisierung, auch zum Zweck der Archivierung, technisch realisierbar. Liegen digitalisierte Zeitungen dieser Art vor, ist die Nutzungsmöglichkeit in vielerlei Hinsicht besser als bei allen anderen Formen, das Original nicht ausgenommen. Dennoch gibt es derzeit noch keine elektronische Zeitungsarchivierung im umfassenden Sinn und großem Maßstab. Das gilt vor allem für die Retrospektive. Für die laufende Zeitungsproduktion könnte eine komplette, originalgerechte elektronische Archivierung möglicherweise Realität werden, weil heute ohnehin jede Ausgabe komplett elektronisch erstellt wird. Das elektronische Vorprodukt so zu archivieren, daß aus den verwahrten Dateien jederzeit die komplette Zeitung wiederherstellbar ist, könnte vielleicht in nicht zu ferner Zeit möglich werden. Anders für die älteren Zeitungen, die erst digitalisiert werden müssen. Hier bietet sich - von Sonderprojekten unter speziellen Nutzungsaspekten abgesehen - noch immer die klassische Mikroverfilmung als Methode der ersten Wahl an. Der Aufwand ist vergleichsweise gering, das Verfahren erprobt, kostenmäßig tragbar und zukunftssicher im doppelten Sinn: Der Silberfilm ist bei richtiger Aufbewahrung dauerhaft haltbar. Zukunftssicher ist der Mikrofilm aber auch in dem Sinn, daß von ihm jederzeit digitalisiert werden kann, und zwar auf technisch fortschreitend verbessertem Niveau. Hauptnachteile der Digitalisierung als Archivierungsmethode sind neben einem immer noch nicht ganz geklärten Risiko der Haltbarkeit die enormen Kosten, die zur Zeit noch entstehen, wenn Zeitungen in großem Stil mit hoher Qualität digitalisiert werden sollen. Der Blick auf das verwandte Medium Zeitschrift mag das illustrieren. Ein Bericht über das amerikanische Zeitschriften-Digitalisierungsprojekt J S T O R 2 enthält die Angabe, daß bei der Digitalisierung der „American Economic Review" mehr als 1 US-Dollar pro Seite anfiel, und zwar ohne Ausgaben für Hard- und Software und Verwaltung. Die genannte Zeitschrift weist das übliche Format für Zeitschriften auf. Bei den großformatigen Zeitungen ist mit noch weit höheren Kosten zu rechnen. Allenfalls bei sehr wenigen Zeitungen von überragender Bedeutung, bei denen auch für ältere Jahrgänge mit einer lebhaften Benutzernachfrage gerechnet werden kann, ließen sich durch mitgliederstarke, zahlungswillige Konsortien 3 oder durch sehr zahlreiche, ebenso zahlungswillige Einzelbenutzer die immensen Kosten der Digitalisierung, auch wenn sie heute vielberufenen „Mehrwert" erbringt, im Vergleich zum Mikrofilm rechtfertigen. Für die große Masse der als Quellen dienenden Zeitungen entfällt die Rechtfertigung der hohen Mehrkosten einer Digitalisierung durch lebhafte Nachfrage. Deshalb ist für sie an Digitalisierung als praktische Alternative zur Mikroverfilmung noch nicht zu denken, es sei denn, öffentliche Träger fänden sich bereit, die Mehrkosten zu übernehmen. Wer aber wollte bei der gegebenen Lage damit rechnen?

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Von Helmut Hilz in Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie 46 (1999), S. 213-225. Für die besage American Economic Review werden 700-800 Konsortiale verausgesetzt.

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ZEITUNGEN: KULTURELLES MEDIUM UND FAKTOR SOZIALER ENTWICKLUNG

Gerd G. Kopper

Zeitungskultur in Europa Zum Aufbau eines internationalen Forschungsnetzwerkes zur europäischen Kulturanalyse am Quellenmaterial Zeitung

1. Wiederentdeckung von Zeitungskultur Wir befassen uns in den nachfolgenden Überlegungen mit einem weithin übersehenen und dennoch naheliegenden Thema, nämlich einer überfälligen Gesamtbetrachtung des Zeitungswesens und seiner Entwicklung in Europa unter dem vorrangigen Aspekt europäischer Kultur. Dabei geht es um eine doppelte Reflexion: einmal des Beitrages, den Zeitungen im Rahmen einer internationalen Gesamtbetrachtung als Quelle und Gegenstand der Forschung zur Erkenntnis europäischer Kultur leisten können. Andererseits geht es um das Forschungsfeld selbst, worin sich das Massenmedium Zeitung in seiner europäischen und d.h. - wie verdeutlicht werden soll - insbesondere kulturell bestimmten Perspektive entwirft. Neben weiterführenden Einsichten zum Erkenntnispotential einer solchen Untersuchung entsteht dabei auch der Entwurf eines Forschungsprogramms, das im Rahmen eines neuartigen Netzwerkes der führenden Institute auf diesem Gebiet in Europa entwickelt werden sollte und das institutionell und inhaltlich eine Reihe praktischer entwicklungsfähiger Züge hat.1 Dieses Projekt bietet die Möglichkeit, in einem einleitenden Schritt das gesamte Aufkommen an Zeitungen in Europa zu systematisieren und zu typologisieren - und damit die Grundlagen für eine kulturanalytisch bestimmte Aufarbeitung zur Entwicklung des europäischen Zeitungswesens zu legen. Auf der Grundlage der Feinausarbeitung einer solchen Typologisierung kann die kulturelle Dimension in den angesprochenen zwei Blickrichtungen aufgedeckt werden nämlich europäischer Kultur und Zeitungskultur in ihrer Verschränkung.2 Es wird in der Folge häufig mit dem Begriff .Kultur' gearbeitet, so daß wichtig ist, ihn für den begrenzten Zweck dieser Abhandlung zumindest knapp einzuordnen. Wenn von

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Die Voraussetzungen für den Aufbau eines Forschungsnetzwerkes der kulturanalytischen Auswertung von Zeitungsbeständen sind im europäischen Ausland aufgrund der Zentralisierung der Beständen (s. Frankreich) überwiegend sehr viel günstiger als in Deutschland (vgl. Bohrmann 1994). Es wird mit diesem Konzept punktuell angeknüpft an historische Vorarbeiten, die nicht selten über den nationalen Kontext der Zeitungsentwicklung hinausgeblickt haben. Anzuführen sind neben den in Deutschland einzigartigen Arbeiten von Otto Groth an den Typus von Untersuchungen bei: Garr 1912; Grant 1871; an die umfangreichen Arbeiten von Eugene Hatin (hier nur aufgeführt 1859-61); auch: Tavernier 1902.

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Gerd G. Kopper der Vielfalt Europas die Rede ist, von seinem reichen geistigen Erbe, seiner Stellung in der Welt, dann wird auf einen Kontext abgehoben, der selbstverständlich zu sein scheint, fast banal und dennoch mit zu den kompliziertesten Grundgegebenheiten gesellschaftlicher Vernetzung von Völkerschaften, Nationen und sozialen Gruppen in der Menschheitsgeschichte gehört. Es lassen sich unzählige Kriterien und charakteristische Bezugssysteme benennen, die stets verdeutlichen, wie groß die Unterschiede zwischen einzelnen Ländern in Europa sind. Dies gilt auch in Zeiten einer modernen europäischen Union. Nähert man sich aus diesem Bereich der Inkompatibilitäten und offenkundigen Differenzen gezielt dem Sektor möglicher Ubereinstimmung, so ergeben sich in erster Linie eher diffuse Referenzsysteme hinter empirisch vermittelbaren Phänomenen: bei aller Unterschiedlichkeit der Sprachen und dahinterliegenden Sprachkulturen gibt es als ein Beispiel das Referenzsystem der klassischen Antike, des römischen Lateins, der katholischen Kirche und den Transfer aus diesen Referenzsystemen in bestimmte nationale moderne Sprachen und Kommunikationskulturen. E s finden sich in vielen Bereichen derartig gestufte Muster wichtiger gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und sozialer Referenzsysteme, die erst analytisch zu erschließen sind (vgl. auch G a r n h a m 1990). Sie stellen vielfältige Reflexe historischer Sedimentierung dar. Gelingt es, auf tieferliegende Schichten zu stoßen, in denen sich trotz deutlich ausgewiesener Unterschiede auf oberen und äußeren Ebenen Ubereinstimmungen und Gemeinsamkeiten im Rahmen der Tiefenschichtung derartiger Referenzsysteme erkennen lassen, so kreist man den hier angesprochenen Sektor .europäischer Kultur' ein. Wenn der Begriff der .Kultur' im Sinne dieser Untersuchung verwendet wird, so beziehen wir uns auf dieses besondere Entstehungs- und Wirkungsgeflecht einer „europäischen Wirklichkeit", die auf die Vielgestaltigkeit in diesen von gemeinsamen Referenzmustern bestimmten Hintergrunddimensionen aufbaut. Das heißt, es existiert in nahezu allen Bereichen und Sektoren von Gesellschaft und auch Wirtschaft eine gemeinsame Fundierung, allerdings auf derartigen erst bestimmbaren Hintergrundebenen. Dies führt zu einem Nebengedanken, der aber unmittelbar mit der Ausgangsüberlegung zu tun hat: Man kann die Einführung einer gemeinsamen europäischen Währung - vor dem Hintergrund des Dargestellten - auch als Flucht der politischen Entscheidungseliten aus Schwierigkeiten einer intellektuell herausfordernden ständigen Selbstvergewisserung europäischer Gemeinsamkeit und dem damit verbundenen politischen Risiko betrachten - ganz im Sinne der anhand des hier zu umreißenden Forschungsvorhabens erkennbaren Verdeutlichungsbarrieren. Als Flucht dementsprechend in die „kleine Münze", den kleinsten gemeinsamen Nenner einer inter-europäischen Austauschgemeinsamkeit und erkennbaren kulturellen Oberfläche. Es entsteht damit eine Eigeninszenierung im Sinne sozialen Zwanges. An der Besonderheit und Schwierigkeit der Wirksamkeit und Art europäischer Kultur wird der E u r o unmittelbar wenig ändern können. Aber natürlich aktiviert die gemeinsame Währung wiederum ein eigenes jetzt noch verborgenes Referenzsystem. Eines, dessen kulturelle Wirkung in Zukunft noch zu analysieren sein dürfte. Damit kommen wir auf die Zeitungen in Europa zurück. Bei ihnen handelt es sich zumeist um historisch über längere Zeiträume entwickelte Träger, die eine Vielzahl derartig angesprochener Referenzsysteme in sich bergen. In ihnen kann man erkennen: die Bündelung umgesetzter Technikentwicklungen sowie von wirtschaftlicher und

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Zeitungskultur in Europa sozialer Strukturentfaltung einschließlich eines unverwechselbaren Ausdrucks von zeitbezogenem Bewußtsein und von Organisationsvorstellungen. In ihnen offenbart sich der Rahmen für Öffentlichkeit im Sinne nationaler und regionaler (einschl. lokaler) Ereignisräume und inhaltlich meinungsbezogener Gewichtungen. In diesem Sinne bieten Zeitungen besonders hervorragende Möglichkeiten einer Untersuchung des „Europäischen" gerade aufgrund ihrer langlaufenden Bündelungswirkung. Aus diesen Ausgangsüberlegungen lassen sich für ein Projekt zur Kulturanalyse auf der Grundlage eines Einstiegs in die Typologisierung von Tageszeitungsangeboten in Europa Parameter der dargelegten kulturellen Dimension ableiten. Hypothetischer Gesichtspunkt ist dabei, daß es eine eigenständige, d. h. bezogen auf diesen kulturellen Großraum spezifizierbarer Zeitungskultur in Europa gibt und daß diese sich anhand einer Reihe spezifisch objektivierbarer Kriterien ausprägt. In dieser Hypothese steckt also eine deutliche Erweiterung hin zu einer Überlegung, daß die europäische Zeitungskultur als eine meßbar gesicherte Einheit ausgewiesen werden kann. Und d. h., daß sie im Rahmen einer weltweiten vergleichenden Betrachtung eindeutige Spezifika aufweist, solche nämlich, die sie gegenüber dem Zeitungswesen in anderen Weltbereichen abheben. Mit dieser vergleichenden Auswertung ist man deutlich auf Dimensionen jenseits des technisch strukturellen Kontextes der Zeitungsproduktion verwiesen. Ansatzpunkte für eine solche Vorgehensweise finden sich häufig auch in national fokussierten Untersuchungen, auch solchen vergleichenden Charakters (vgl. an Beispielen: .Wissenstransfer' Bohrmann/ Schneider 1975; zur .Technikentwicklung' Dröge/Kopper 1991; .Publikumsentwicklung' Engelsing 1966; Journalistische Arbeitsformen' Esser 1998; .Darstellungsformen' Grzella/ Pfingsten 1995; .Inhaltsproduktion' Wilke 1984). Diese Beschreibung des Hintergrundes eines umfassenden Forschungsvorhabens stellt im Rahmen eines neuartigen Netzwerkes von europäischen Projektgruppen die eine Seite eines Konzeptes dar, das seinen Niederschlag in ausgewählten interdisziplinären Methoden und in einem neuen Typ empirischer internationaler Verbundforschung in den Sozialwissenschaften Europas findet. Die andere, ebenso wichtige Seite stellen Schlußfolgerungen zum grundsätzlichen Erkenntnispotential dar, das einem scheinbar altmodischen Massenmedium innewohnt und dem damit eine wichtige und bisher äußerst selten benutzte Rolle als Quelle europäischer Kulturanalyse zukommt. Der letztgenannte Gesichtspunkt lohnt sich insbesondere deswegen hervorgehoben zu werden, weil in Phasen des technischen und wirtschaftlichen Umbruchs - wie in der aktuell gerade vorherrschenden, nämlich weitausgreifenden Digitalisierung und technischen Konvergenz überlieferter Medien und kommunikativer Trägersysteme - auch ein Bewußtseinswandel einsetzt, in dem das Neue und Modernste ein Gesicht gewinnt, das alles Vorangegangene völlig auszuschließen scheint. Forschungseinrichtungen und -projekte, die sich gezielt und intensiv mit dem Medium Zeitung befassen, sind inzwischen auch europaweit rar. Zeitung als Quelle kultureller Analyse zu vernachlässigen, ist nicht nur fragwürdig; vielmehr wollen wir zeigen, daß eine derartige Ignoranz wichtige Einsichten in die europäische Kultur und ihre Grundlagen und damit auch Weiterentwicklungsmöglichkeiten ausschließt. Es kann und soll an dieser Stelle nicht mehr als der Umriß für das Ausgangskonzept einer derartigen Typologisierung von Tageszeitungen und der darauf aufbauenden Kulturanalyse in Europa skizziert werden. Dabei handelt es sich am Ende um Arbeit von 75

Gerd G. Kopper Forscher(inne)n, die internationale Zusammenarbeit verpflichtend macht und als wichtigste Voraussetzung eine breite Uberschneidung theoretischer Grundlagen für abzuarbeitende übergreifende Fragestellungen voraussetzt. Einige leitende Gesichtspunkte hierfür sollen nachfolgend aus laufender Arbeit - und mit dem Wunsch weitergehende gemeinsame Arbeit auszulösen - zusammengefaßt werden. Dabei greifen wir bewußt auf unterschiedlich systematisch angelegte Ebenen zurück, um die Vielfalt der analytischen Optionen zu verdeutlichen. Zuvor ist zu konstatieren, daß als Erklärung für das erkennbare Defizit an Forschung im Sinne einer Europa übergreifenden Analyse des Massenmediums Tageszeitung keineswegs ausschließlich die für heutige Zeiten scheinbar offenkundige und schon angesprochene .Veraltetheit' des Mediums Tageszeitung zu gelten hat. Dieses Medium scheint tatsächlich keine wirklich wichtige Rolle mehr im Konzert der Informationsrevolutionen zu spielen, die fortwährend aufbranden und von den unterschiedlichsten tragenden Begriffen geprägt sind. Ausschlaggebend für das Ignorieren des Potentials an europäischer Kulturanalyse gerade auch anhand des Quellenmaterials Zeitungen in der Bundesrepublik Deutschland ist jedoch etwas anderes. Es hat einerseits mit allgemeinen wissenschaftsgeschichtlichen Mißweisungen nach Ende des Zweiten Weltkrieges zu tun, zusätzlich aber mit besonderen Belastungen des zuständigen Faches aufgrund seiner instrumentellen Einbindung in die Politik des NS-Regimes. Der abrupte Verlust einer Forschungstradition und von ausgreifenden Forschungsansprüchen zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Deutschland, die in Teilen sogar verwirklicht wurden, muß in der Rückschau überraschen. Ein knapper Exkurs soll dies verdeutlichen. Zunächst der längere Rückblick: Die Vorschläge Max Webers zur umfassenden Untersuchung des Zeitungswesens, vorgestellt auf den Verhandlungen des Deutschen Soziologentages 1910 verwiesen nicht zuletzt auf die Notwendigkeit, „internationale Unterschiede im Zeitungswesen" (Weber 1911; Hervorhebung GGK), nämlich am Beispiel der unterschiedlichen inhaltlichen Gestaltung der Zeitungen in Frankreich, England und Deutschland zu analysieren. Der Aufbau der Untersuchung, ausgehend von empirischer Forschung und überleitend zu qualitativen Fragestellungen - stellt im Blick auf eine europäisch ausgerichtete Gesamtuntersuchung auch heute noch ein Desiderat dar: „Was trägt die Presse," heißt es bei Weber, „zur Prägung des modernen Menschen bei ... wie werden die objektiven und überindividuellen Kulturgüter beeinflußt, was wird an ihnen verschoben, was wird an Massenglauben, an Massenhoffnungen vernichtet und neu geschaffen an .Lebensgefühlen',... an möglicher Stellungnahme für immer vernichtet und neu geschaffen? " (Gorges 1986: 63f.; vgl. ferner: Weber 1911). Das Vorhaben selbst ist nie realisiert worden (vgl. Kutsch 1988; Reimann 1989), sein breit angelegter kulturanalytischer Zuschnitt in Vergessenheit geraten. Ansätze zu einer mit besonderen politischen Vorzeichen versehenen europäisch ausgerichteten Kulturanalyse der Presse gab es unter den obwaltenden politischen Umständen des Faschismus in den Instituten für Zeitungswissenschaft der NS-Epoche (vgl. als eines von vielen Beispielen: Dresler 1936). Vor dem Hintergrund der bisher weitgehend unaufgearbeiteten Ubergänge und Verbindungen insbesondere der Nachkriegs-Zeitungswissenschaft und -Publizistik zu der Epoche des Nationalsozialismus mußte es nicht selten an Unbefangenheit fehlen, die europäische Dimension aufzugreifen und fruchtbar zu machen. Dieses Vakuum und künstliche Einfrieren von Erkenntnisperspektiven hat über Jahrzehnte vorgehalten; es

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Zeitungskultur

in

Europa

läßt sich an der Mehrzahl der einführenden Texte und Kompendien zur Medienforschung in der Bundesrepublik Deutschland bis heute ausweisen. Die in ganz Europa nach 1945 vielfältig entstandene Presse-, Medien- und Massenkommunikationsforschung ist nur ausnahmsweise in der Bundesrepublik Deutschland rezipiert worden. In der Rückschau ist dabei das bemerkenswerte Phänomen zu verzeichnen, daß eine vergleichsweise sehr viel intensivere Bearbeitung der europäischen Perspektive in den einschlägigen Instituten in der DDR stattfand. In einer aus Westsicht vorgenommen Bestandsaufnahme Ende der 80er Jahre, die hier als ein Beispiel unter vielen angeführt wird, taucht der europäische Bezug zwar im Titel auf (Reimann 1989), aber es wird an keiner Stelle - mit der Ausnahme Österreichs - auf die Entwicklung in Europa (Frankreich, Italien, England, Schweden usw.) hingewiesen. Dies kennzeichnet die allgemeine Lage zutreffend. Das umfangreiche Sonderheft der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie (1989), das Theorien, Methoden und Befunde zur Massenkommunikationsforschung vorlegen will, reflektiert in seinem Spektrum aufgenommener Beiträge ausschließlich die Achse Bundesrepublik Deutschland - USA; entsprechend diesem Ausschnitt werden Theorien, Forschungsergebnisse und Methodenspektren eingebracht. Ausgespan werden - ohne hinreichende Erklärung - umfangreiche Segmente der modernen europäischen wissenschaftlichen Forschungstradition in diesem Fachgebiet: die semiotische Forschungsrichtung Italiens, der Strukturalismus in Frankreich, die Cultural Studies in Großbritannien, der skandinavische Funktionalismus. In all den genannten Forschungsrichtungen ist im übrigen empirisch gearbeitet worden; ein Ausschluß kann also nicht allein auf Grundformen der operativen Umsetzung von Forschungsfragen zugeschnitten sein. Die tieferliegenden Gründe für derartige Vorgehensweisen, die einen selbstapplizierten hochrangigen wissenschaftstheoretischen Kodex vorauszusetzen scheinen, müssen an anderer Stelle untersucht werden. Die perspektivische Ausrichtung auf inhärent europäische Fragestellungen der Medienforschung/Publizistik ist in der Bundesrepublik Deutschland demnach recht jungen Datums und noch in hohem Maße ausbaubedürftig. Im Zuge der primär wirtschaftlichen Einigungsbemühungen in Europa während der achtziger Jahre begannen Neuorientierungen auch kommunikationswissenschaftlicher Forschungsperspektiven allgemein daher angeregt durch ökonomische Fragestellungen (vgl. Kopper 1982). Wie auch in der Gegenwart, so ist schon in früheren Phasen bei der fachlichen Analyse des Zeitungswesens eine international vergleichende Betrachtung in erster Linie durch wirtschaftlich geprägte Fragestellungen ausgelöst worden. Exemplarisch deutlich wird dies an der knappen, aber dichten Darstellung von Garr (1912), die sowohl deutsches und österreichisches, aber auch französisches und englisches Material aufbereitet und europäische Grundlagen der Zeitungsökonomie zusammenfaßt. Vor dem Hintergrund der Gründe für die weiter oben beschriebenen Defizite läßt sich feststellen, daß eine europäisch ausgerichtete Massenmedienforschung ihren Start in erster Linie in den europäischen Konferenzen einer neuen Schwerpunktsetzung hatte, nämlich der Medienökonomie (vgl. die Dokumentation eines derartigen Pioniervorhabens: Fleck 1983).3 '

In anderen europäischen Ländern, so ζ. B. in Frankreich, gehört es schon seit längerem zum Grundrepertoire etwa eines Studiums der politischen Wissenschaften, Strukturen und Funktionen der Massenmedien im Uberblick über Gesamt-Westeuropa kennenzulernen; dies zeigen die entsprechende Lehrbücher (vgl. als ein Beispiel unter anderen: Cayrol 1991).

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Gerd G. Kopper 1.1. Zeitung als Urmuster des technisch bestimmten Impulses der Moderne Die Beschleunigung der Gesellschaften am Beginn der Neuzeit führte in Europa zu einer zunächst kaum merklichen Neuerung, für die mit dem Gutenbergschen Letterndruck technisch beste Voraussetzungen geschaffen worden waren - nämlich eine Verstetigung der Nachrichtenbeschaffung und -Verbreitung und eine Verringerung der Erscheinungszeiträume bei gleichzeitig rapider Erhöhung der Distributionsgeschwindigkeit für neueste Nachrichten. Das heutige für .Zeitung' typische Produkt hat sich über eine Phase von mehr als einem Jahrhundert aus unterschiedlichsten Angebotsformen des Nachrichtenverkehrs insbesondere im 16. und frühen 17. Jahrhundert entwickelt. Vielfalt der dahinterstehenden Angebotsform und -typologie, die recht spät erst in einem unverwechselbaren Oberbegriff eingefangen wurde, war über lange Phasen höchst unbeständig. Sie reichte von Greuel- und Phantasieblättchen mit geringsten Einsprengseln an allgemeiner Weltwirklichkeit und sporadischem Erscheinen bis hin zu eindeutigen Börsen- und Wirtschaftsdiensten und dazwischenliegend Angeboten mit dem epochentypischen Flair auch unterhaltend gesellschaftlicher Novitäten. Aus dieser amorphen Zwischenlage entwickelten sich aus unterschiedlichsten, insbesondere auch politischen Vorstellungen, jene Varianten von 'Zeitung', die mit den heutigen Produkten Ähnlichkeit aufweisen. Es hätte also gute Gründe gegeben - insbesondere im Lichte der bald aufziehenden europäischen Aufklärung - mehrere und durchaus unterschiedliche Begriffe für diese Bandbreite an Nachrichtenangebot zu entwickeln - wären in dieser Zeit Unterscheidungen nach inhaltlichem Angebot von vorrangiger Bedeutung gewesen. Das war offenkundig nicht der Fall. Eine entsprechende Sicht findet man bereits bei Otto Groth: „Wenn die mechanische Vervielfältigung oder der Druck oder die gewerbsmäßige Herstellung oder das privatwirtschaftliche Unternehmen zu Wesensmerkmalen der Zeitung erhoben werden, so stehen die Urheber dabei stets unter dem Eindruck bestimmter, sich ihnen besonders aufdrängender Erscheinungsweisen ihrer Zeit, und ein Merkmal wie ,der allgemeininteressierende Inhalt' verrät ohne weiteres seinen dogmatisch-ideologischen Ursprung aus einer bürgerlich-liberalen Denk- und Interessenrichtung des 19. Jahrhunderts." (Groth 1948: 340) Das vereinheitlichende begriffliche Substrat, das sich innerhalb Europas in allen Sprachgemeinschaften nach vergleichbarem Schema entwickelte, stellt demnach einen historisch kleinsten gemeinsamen Nenner dar, der im wesentlichen den technischen und distributiven und damit den neuen Zeittakt dieser Epoche bezeichnenden Modus anspricht. Dieser Begriff ist identisch mit einem stark technischen Impuls, der „Neuigkeit" reflektiert. Ein Impuls im Einklang mit dem parallel zu diesem neuen Phänomen entstehenden und sich durchsetzenden präzisen und auf immer stärkere Synchronität ausgerichteten Bewußtsein von Zeit - im Sinne einer allgegenwärtigen und technisch determinierten Dimension - generell (vgl. u. a. Wendorff 1980; ferner in diesem Band den Beitrag von Eurich). Dieses neue Bewußtsein blendete demgemäß Differenzierung nach inhaltlichen Sichtweisen aus. Unter Zeitung wurde spätestens seit dem 19. Jahrhundert, zumindest in den tonangebenden und gebildeten Kreisen, eine gefügte Einheit des Wiedererkennbaren über eine außerordentliche Bandbreite von Angebots- und Nutzungsformen verstanden (vgl. Tavernier 1902). Dies obwohl die historische und technische Entwicklung, die umfassende Vielfalt an Angebotstypen und Nutzungen in

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Zeitungskultur in Europa den unterschiedlichsten Landstrichen und Ländern, alles andere offenbarte als ein einheitliches Phänomen. Glücklicherweise finden wir heute, um diese Problematik zu verdeutlichen, ein Beispiel von vergleichbarer Schwierigkeit kultureller Bewußtmachung - im Sinne strukturierender begrifflicher Präzision: es ist das Beispiel Internet. Alle Welt redet vom Internet, als handelte es sich um ein neues Medium, obwohl den meisten klar sein müßte, daß in erster Linie eine technisch bedingte Distributionsweise genutzt wird, mit einem Kosmos an unterschiedlichsten Inhalten und Angeboten. Dabei sind Angebote bei genauerer Betrachtung durch unterschiedliche Signalsysteme überdies voneinander getrennt. Die Wirkung von .Zeitung' in einer Kultur der mündlichen Mitteilungen, des Briefes und des literarischen Diskurses muß ähnlich überwältigend und mitreißend gewesen sein wie vergleichbar heute das Internet. Entscheidend für unsere Betrachtung ist in erster Linie, daß die Vereinheitlichung von Technik und distributivem Impuls samt einem inhaltlich ausufernden Universum unter den vielfältigen Ausformungen europäischer Begrifflichkeit von .Zeitung' in sich Teil eines übergreifenden kulturellen Grundverständnisses geworden war (vgl. unter dem Gesichtspunkt der rechtlichen Rahmenbedingungen: Kopper et al. 1994). Dieses Grundverständnis förderte die Auffassung, es könnte unter .Zeitung' im Land Α das gleiche zu verstehen sein wie unter dem Begriff .Zeitung' im Land B. - Nun kann man sich wahrscheinlich mit der krassen Gegenbehauptung nur lächerlich machen, weil insbesondere die technischen und wirtschaftlichen Voraussetzungen und Bedingungen dieses Nachrichtenträgers derart offenkundig homogen erscheinen - unbeachtet der Tatsache, an welchem Ort die Inhaltsproduktion vonstatten geht, wo immer die Rotationen laufen und eine Verteilung der ausgedruckten Produkte erfolgt. Nur, wie will man andererseits sinnvoll die krassen Unterschiede in Europa erklären, in der journalistischen Machart von Zeitungen, in der Rezeption durch das Publikum und in der Wirkung in Gesellschaft und Staat? Will man dies allein durch soziale und politische Differenzierung erklären, durch geographische Phänomene oder durch Kaufkraftunterschiede und Vergleichbares? Die Annahme, es gäbe in der Realität der Vielzahl dieser Kulturen eine analytisch wirksame Trennung zwischen einerseits dem Produkt und seinen technischen und distributiven Eigenschaften und andererseits einem Publikum und seinen Vorstellungen und typischen Nachfrageverhalten, ist schwer nachzuvollziehen. Eine brauchbare Hypothese müßte vielmehr davon ausgehen, auf der Grundlage eines zunächst technisch und wirtschaftlich neuartigen „Produktes als Leistungsangebot" eine besondere und langwirkende Differenzierung dieses .Produktes' im Sinne kultureller Aneignung in den unterschiedlichen Ländern zu unterstellen. Im Extremfall unterstellt diese Hypothese also, daß möglicherweise ein gleichartiges technisches Produkt kulturell höchst unterschiedliche Aneignungsausprägungen entwickelt. Ein Phänomen, das man in vielen anderen Untersuchungsfeldern vergleichbar findet. Wir wissen, .Zeitung' entwickelte sich und wurde in den Sprachgebrauch der europäischen Gesellschaften in fast immer der gleichen Weise aufgenommen - nämlich als ein neuer gesellschaftlicher und kultureller Nerventakt, der ein Kontinuum aus technisch zeitbezogenem Impuls und zugleich eine neue Unmittelbarkeit in der Art der Berichterstattung vermittelte und zusammenfaßte. Es gilt demnach, anhand der Unterschiede der Aneignung dieses Impulses über den Gesamtbogen europäischer Entwicklung hinweg einerseits auf die Spezifika der Einzelkulturen in den verschiedenen Gesellschaften Europas rückzuschließen, andererseits zugleich nach Momenten möglicher Gemeinsam79

Gerd G. Kopper keit (einer gemeinsamen europäischen Kultur) zu suchen. Wir sehen die Notwendigkeit, das höchstkomplexe Vermittlungsgeschehen zwischen einerseits grundlegenden technischen und distributiven Optionen und ihrer instrumentellen Anwendung im Sektor Öffentlichkeit zu analysieren, zugleich aber den Prozessen der je gegebenen kulturellen Wirklichkeit in einem abschichtenden Verfahren zu folgen und dabei die spezifischen Muster dieser komplexen Schichtungen - in der Doppelung: länderspezifisch, europaspezifisch - herauszuarbeiten. Eine historische Anekdote zu der angedeuteten Vorgehensweise besteht in folgendem: Europa 4 hatte zu Beginn dieser Epoche verknüpft mit .Zeitung' einen hohen Stellenwert. Die politische und wirtschaftliche Renaissance von .Europa' prägt nun umgekehrt das Gewicht der beschriebenen analytischen Vorgehensweise.

1.2. Kulturelle Gesamtgestalt der, Zeitung' in Europa Die Gesamtgestalt von .Zeitung' als kulturelles Phänomen in Europa ist bisher wenig untersucht und in den größeren Zusammenhang kultureller Entwicklung in Europa eingeordnet worden - obwohl und weil wohl gerade Studien zur Entwicklung der Zeitung in einzelnen europäischen Nationen sowohl innerhalb der allgemeinen Geschichtsschreibung wie auch in Teil- und Spezialdisziplinen in großer Breite und in hoher Qualität vorliegen. 5 Dabei ist dieses Defizit besonders faszinierend, weil sich wichtige Einblicke sowohl in das Zeitungswesen als kulturelles Phänomen wie auch in die europäische Geschichte gerade auf dieser Betrachtungsebene ergeben können. U m nur ein Beispiel zu nennen: Das Ende des 17. Jahrhunderts, das 18. Jahrhundert und die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts sind durch eine Zweiteilung Europas gekennzeichnet. In einem Teil (Frankreich - hier zumindest während der Revolutionsepoche, England, Schweden und Italien) entwickeln sich - nicht zuletzt auf der Grundlage einer immer weiter (zumindest phasenweise) freiheitlich definierten Art des Zeitungswesens - bürgerliche Institutionen und Verfahren der Demokratie, während in dem anderen Teil (nicht zuletzt in Deutschland, aber auch in Spanien) das Zeitungswesen selbst fast ausnahmslos entweder unter Zensur gehalten wird oder kurzzeitig als Rebelleninstrument auftaucht, um schnell unterdrückt zu werden. Annähernd zweihundert Jahre einer unterschiedlichen Entwicklung der Kultur der Öffentlichkeit dürften nicht ohne Wirkung auch in der Neuzeit bleiben. Ob dies so ist, kann nur durch genauere Untersuchung geklärt werden. Dabei käme man auch auf bedeutsame Unterschiede in den journalistischen Traditionen und Wahrnehmungen. Eine Diskussion journalistischer Kultur in Europa (vgl. Machill 1997), wie sie jetzt immer wichtiger zu werden scheint, müßte diese Elemente des geschichtlich kulturellen Erbes und seiner Diskrepanzen notgedrungen aufgreifen. Auch in der fachlichen Diskussion, nicht zuletzt im internationalen Zusammenhang, erscheint .Zeitung' durchgehend als eine definitorische Einheit. Tatsächlich sind in der 4

Die Zusammenfassungen der schnellen Nachrichtenblätter, die sich großer Nachfrage erfreuten, führten das Signum .Europa' hoch im Schilde: Theatrum Europaeum, über die Jahre 1 6 1 7 - 1 7 1 8 , 21 Bde., Frankfurt/M. 1 6 3 5 - 1 7 3 8 ; Diarium Europaeum, über die J a h r e 1 6 5 7 - 1 6 8 1 , ibid. , 27 Bde., 1659-1683 Im beigefügten Literaturverzeichnis ist ein Ausschnitt an derartigen Studien aufgeführt.

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Zeitungskultur in Europa europäischen Betrachtung die Grundlagen für eine empirisch abgesicherte definitorisch genaue Abgrenzung einer derartigen Einheit außerordentlich schwierig. Am anschaulichsten läßt sich dies darstellen an einem Uberblick über kennzeichnende Unterkategorien solcher übergreifender Betrachtungen von Zeitung. Selbst für eine sektorale Betrachtung wie die der Zeitungsökonomie, die auf ein weitgehend gesichertes Fundament zurückzugreifen scheint, lassen sich bemerkenswerte Abweichungen und Grauzonen der begrifflichen Anwendung entdecken. Besonders kritisch wird eine derartige methodische Porosität der Grundlagen natürlich, wenn statistische Kategorien abgeleitet werden sollen, deren mangelnde Präzision und deren beachtliche Heterogenität (vgl. MaierRabler 1996) hervorstechen. Bisher hat es daher sinnvolle statistische Erhebungen nur auf einer hochaggregierten Ebene gegeben (vgl. Erdmann 1990, Sanchez-Tabernero 1993, European Newspaper 1996, Pasquay 1996). Aus diesem Grunde sind Vorschläge für europäische Untersuchungen gemacht worden, die vollkommen, unmittelbar und per definitionem von europaweiten primären Erhebungskategorien absehen. Statt dessen wird eine vollkommen andere europabezogene Erhebungsweise vorgeschlagen, die auf Marktebenen und entsprechende Metakategorien, damit also prozeßbezogene Zuordnungen abhebt (Kopper 1993a, 1993b). Diese Vorschläge sind auf deutscher Seite in die Diskussion aufgenommen worden, europaweit jedoch nicht verfolgt worden (vgl. Bundesregierung 1994, S. 283).

2. Spektren der Zeitungsentwicklung Bezieht man sich auf die in den einzelnen europäischen Ländern vorliegenden Detailuntersuchungen zum Zeitungswesen, so wird einleuchtend, daß in Wirklichkeit die jeweiligen .Zeitungssysteme' eine spezifische kulturelle Ausdifferenzierung von erheblicher spezifischer Abweichung im jeweils gegebenen europäischen Kontext darstellen. Diese Abweichungen sind entstanden über Formen- und Nutzungsdifferenzierungen, die teilweise einen mehrere Generationen weit übergreifenden Zeitraum einschließen und sogar heute noch anhalten. Man könnte in diesem Zusammenhang von Jahrhundertphasen kultureller Entwicklung sprechen. Theoretisch betrachtet wäre der Prozeß kultureller Aneignung einer .Technik' der Information zu untersuchen. Dabei ist faszinierend zu beobachten, in welcher Weise wechselseitige Beeinflussungsprozesse der unterschiedlichen Zeitungssysteme stattgefunden haben und stattfinden. Ferner ist von hohem Aufschluß, zu analysieren, in welcher Weise bestimmte Form- und Angebotselemente aus der Entwicklung ausgeschieden sind - auch zu welchen Zeitpunkten und aufgrund welcher vorausgehender Konflikt- und Entscheidungslagen dies möglich wurde. 2.1. Spektrum der Zeitungstypologie

in Europa

Eine genaue Betrachtung der Entwicklung des Zeitungswesen während der vergangenen rund hundert Jahre zeigt allerdings, daß Zeitungsentwicklung in Europa keine ausschließliche Einbahnstraße gewesen ist. Die Zeitungsindustrie hat sich von dem Moment 81

Gerd G. Kopper ihrer durchgreifenden Industrialisierung in hohem Maße auf der Höhe einer internationalen Diskussion gehalten - und immer auch zu halten verstanden. Es gibt bei genauerer Betrachtung insofern eine Reihe von Re-Importen - aus den USA und sogar aus Asien. Zurück nämlich in das europäische Zeitungswesen. Allerdings ist auch dies - wie sollte es anders sein - noch nicht hinreichend untersucht worden. Die Vielfalt der Zeitungen in Europa nach Form, Angebotstypus, inhaltlichem Zuschnitt und journalistischen Schwerpunkten läßt sich auch als ein Gesamtrepertoire beschreiben, in dem spezifische historische Muster im Verlauf der Gesamtentwicklung dieses Mediums ausgeprägt und fortgeschrieben werden. In solcher Betrachtung stellt sich das europäische Zeitungswesen als eine Art lebendiges Museum kultureller Aneignungsformen dar. In einer solchen Perspektive ergeben sich eine Reihe von Fragen nach Bestand und Entwicklung - aber auch zur Dynamik und zu Entwicklungsoptionen (vgl. Kopper 1995). Wichtige Anstöße zu Veränderungen sind aus der außereuropäischen Diskussion entstanden und durch die Übernahme von wettbewerblichen Musteranwendungen insbesondere aus den U S A entwickelt worden. Eine aufschlußreiche Untersuchung zur kulturellen Signifikanz von Zeitungen müßte in einem internationalen Vergleich, der einerseits das europäische Spektrum zugrunde legt, auf der anderen Seite das der USA und/oder auch Japans, zwei zentrale Aspekte in den Mittelpunkt stellen: Welches sind die Voraussetzungen, unter denen Zeitungen eine Ausprägung kultureller Retrospektive einnehmen, d.h. sich also deutlich unternehmerisch und auch redaktionell aus ihren traditionellen Wurzeln definieren? Welches sind andererseits solche einer Dynamisierung unter Modernisierungszielsetzungen? Unter Retrospektive wird man in einem solchen Fall die Aufnahme und Verstärkung von Kultur- und Verständnismustern insbesondere traditioneller Eliten verstehen, das Pflegen also von Wahrnehmungs- und Geschmacksschemata, die in einer definierten Gegenwart in die Krise zu geraten scheinen. 6 Derartige retrograde Ausprägung einerseits oder eine Strategie der Modernität andererseits lassen sich an Spezifika der Formenentwicklung ableiten. Dabei wird eine zentrale Untersuchungsvoraussetzung folgende sein: eine über einzelne nationale Kulturen hinausgreifende Kennzeichnung von gleichförmigen, strategisch orientierten Verständnis- und Referenzmustern. 7

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Eine unter vergleichbaren Parametern angelegte Untersuchung der Entwicklung der Verlagsmedien am Beispiel des Modernisierungsprozesses in Japan ist früher bereits einmal erarbeitet worden (vgl. Kopper 1974).

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Bemerkenswerterweise gibt es gerade nach der Aufhebung des Eisernen Vorhanges und dem Beginn der Transformation in Mittel- und Osteuropa eine Reihe von Versuchen, die engeren Verbindungen von Kultur und Medien analytisch aufzuarbeiten und im Kontext der .europäischen' Entwicklung zu problematisieren. Dabei wird jedoch gerade nicht der Weg einer medienspezifischen Fokussierung, sondern der einer kommunikationswissenschaftlichen Verallgemeinerung gewählt (vgl. den Sammelband Casimir 1995). Die theoretischen und methodischen Grundprobleme, die sich bei einer derartigen Vorgehensweise stellen, sind durch D o w n i n g (1996) umfassend und anspruchsvoll reflektiert worden.

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Zeitungskultur in Europa 2.2. Spektrum der

Zeitungskultur

Zeitungskultur - in dem Sinne, daß eine technische bestimmte Formensprache und ein Produktionskontext zu einem kulturell wirksamen historischen Kontinuum zusammenfinden, das über mehrere Jahrhunderte scheinbar bruchlos Bestand zu haben scheint - ist eine originär europäische Entwicklung. Es steht diese Zeitungskultur aufgrund ihrer langlaufenden unmittelbaren Uberlieferung mit einer ähnlich eindrucksvollen Respektabilität neben anderen europäischen Kulturtraditionen: der Malerei, der Architektur - um Augenfälliges zu nennen. Es hat die Zeitungskultur jedoch eine vergleichbare hochgestufte Anerkennung kaum je erfahren. Auf die Gründe, die dafür ausschlaggebend waren, kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden. Ausschlaggebend dürfte jedoch das Menetekel aller moderner technischen Medien gewesen sein, das sich hier das erste Mal in gesellschaftlich wirksamen Prägnanz hervorhob: die Gleichsetzung inhaltlicher, d.h. aus den Besonderheiten des Mediums selbst hervorgehender diskursiver Elemente mit den prozeßhaft technischen Eigenschaften - und damit einer neuen Art des Welterlebens. Der grundlegende kulturelle Fortschritt wurde somit von dem Debakel des neuen Bewußtseins, das mit dem neuen Angebot einherging, überlagert. Vergleichbares hat sich mit der Durchsetzung später folgender neuer technischer Massenmedien immer wieder eingestellt: eine vorlaufende Kultur und ihre Träger scheinen wenig gewillt, sich klaglos auf eine weitere kulturelle Entwicklung und damit einhergehende Umwertungen einlassen zu wollen. Den Schaden trägt zunächst das hinzutretende Medium davon, es schafft es nur in den seltensten Fällen, sich in den Überlieferungen der vorausgehenden „Hochkultur" zu etablieren. Eine solche Chance bietet sich erst, wenn nach ihm weitere technische Dynamisierungen zu neuen Nutzungsmöglichkeiten und weiteren .Medien' führen. In diesem Sinne erfährt gegenwärtig die Zeitung eine Re-Definition angesichts der konvergenten Dynamisierung von elektronischen Medien und den neuen telekommunikativ gestützten Informationsnetzen - sie gilt unerwartet als Element einer bedrohten „Hochkultur". Betrachtet man die historischen Differenzierungsstufen der Zeitungsentwicklung in Europa, so zeigt sich sehr deutlich, daß die Modernität dieses Mediums ehedem mindestens vergleichbare Vehemenz besessen haben muß wie heute die Herausbildung interaktiver weltumspannender Netze mit individuellem Direktzugang. Es waren die neuen Zeitungen, die nicht selten eine wichtige Rolle im Kampf gegen Feudalismus und Absolutismus spielten. Dies geschah vor allem durch die neue Verkehrsförmigkeit ihres Angebotes - verbunden mit einer neuartigen inhaltlichen Debatte, die in ungewohnter Weise raumgreifend gestreut werden konnte. Auf die neue Verkehrsförmigkeit ist deswegen besonders hinzuweisen, weil sie das Gegenteil der zentralisierend angelegten Regulierung von Staat und Gesellschaft darstellte, die selbst noch in der beginnenden Industrialisierung für schlechthin sakrosankt gehalten wurde - von den mächtigen und bestimmenden Ε influßgruppen. Am Beginn der Aufklärung stehen eine verdeckte Medieninnovation und die damit einhergehenden typischen Konflikte: mit dem tradierten Medium verbindet sich in der begleitenden Diskussion Bildung und etablierte Kultur, mit dem neuen Medium hingegen Bildungsverfall und der Verlust kultureller Qualitäten. Während Diderot in seiner Enzyklopädie die Modernität der von ihm und seinen Kollegen neu kreierten Journeaux, 83

Gerd G. Kopper der innovativen Zeitschriften der Gelehrsamkeit, entwirft, hält ihm Lumiere vor, diese neuen Medien verführten nur dazu, aus Faulheit kein Buch mehr vollständig zu lesen, man könnte sich ja von nun an auf die neuentwickelten Lesehäppchen verlassen. D e r zu erwartende Verlust der Maßstäbe würde dazu führen, Privatbibliotheken voller Schund anzuhäufen und gute Bücher zu zerreißen, weil das Gespür für die qualitativen Unterschiede verloren ginge (Mattelart 1994: 50). Diese Grundfigur kultureller Ablösung begleitet uns wie schon erwähnt seither bis in die Gegenwart. Und sie trifft phasenweise natürlich auch die Zeitungen in ihrem Entwicklungsprozeß. Zeitungen ebenso wie in manchen Sektoren stärker noch Zeitschriften bildeten in vielen Ländern Europas ein wichtiges Instrument der nationalen oder kulturellen Identitätsbildung durch Ausformung und Vertiefung einer eigenen nationalen Kultur (Norwegen, Tschechoslowakei) ebenso wie zur Stabilisierung von nationalen Minderheiten in anderssprachigen Mehrheitsgebieten (schwedischsprachige Blätter in Finnland; dänischsprachigen Blätter in Deutschland usw.). Die „Zeitungssprachen" wiederum entwickeln erhebliches Gewicht in der kulturellen Auseinandersetzung um ein .nationales kulturelles Erbe'; Ausläufer solcher Wirkungen lassen sich sogar heute noch in der Verselbständigung der Variante einer eigenen Presse-Rechtschreibung, abweichend von der amtlichen Rechtschreibreform, in Deutschland feststellen. Ein wichtiges Element im Kontext der Tradierung und Manifestierung kultureller Sprachtraditionen durch Zeitungen spielt die in den meisten Ländern Europas wichtige Durchlässigkeit der Sphären des Schriftstellertums und freier publizistischer Tätigkeit mit der des Tagesjournalismus. Diese Tatsache ist eine wichtige kulturelle Trennungslinie zwischen europäischen und US-amerikanischen Kulturtraditionen. Noch schärfer verläuft dieses Trennungslinie zwischen der originär europäischen und der in vielen Bereichen darauf aufbauenden spätindustrialisierten und spät-,verwestlichten' japanischen Tradition des Journalismus (Kopper 1977); je stärker dort eine Professionalisierung (im soziologischen Sinn des Wortes) dieser Berufsgruppe einsetzte, um so schärfer wurde zwischen den Wortlieferanten (Akademikern, Schriftstellern, Kritikern) und den Journalisten unterschieden. Der Status von Journalisten war um so höher, je weniger sie in die tägliche Schreibarbeit involviert waren (Nakane 1972: 119). Das Element der Osmose einerseits und der Separierung andererseits spielt deutlich auch noch in aktuelle Selbstverständnis-Debatten hinein, und zwar in zweierlei Richtung: in die kritische Reflexion der Literatur ebenso wie in die Kriterien für journalistischen Stil. Ein prägender Grundbegriff des journalistischen Endprodukts in den U S A ist das zugrundeliegende System konsequenter Arbeitsteilung im Rahmen der Textherstellung. Dies ist in der Regel systematisch auf mehrere Beteiligte mit festgelegten Bearbeitungsrollen zugeschnitten (eindrucksvoll untersucht bei: Neumann 1997). Im Gegensatz dazu besitzt in den meisten Ländern Europas das Endprodukt des Individualautors einen höheren Grad des Sakrosankten - bis hin zu tradierten Redaktionsregeln, die eine Veränderung von journalistischen Ausgangstexten nur mit Zustimmung der Autor(innen) zulassen. Ein wesentliches Charakteristikum elementare Unterschiede der journalistischen Kultur in Europa zu außereuropäischen Ausprägungen ist im übrigen nur dann nachzuvollziehen, wenn die Tradition der Offenheit und sogar Integration des Schriftstellerischen konsequent nachvollzogen wird: die in Frankreich für eine „gute" journalistische Form erforderliche .Spracheleganz' setzt weniger auf informatorische als

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Zeitungskultur in Europa auf rein literarische Stilausprägungen (empirisch analysiert durch: Schroeder 1994), deren Hintergrund die direkte Uberlieferung der Vorbildhaftigkeit eines ,homme de lettres' ist. Es läßt sich mithin generell eine typologische Zuordnung dergestalt gewinnen, daß innerhalb des manifesten Spektrums, das hier aufgezeigt wurde, die empirisch nachvollziehbaren Unterschiede des nationalen Zeitungsjournalismus zugeordnet werden: es gibt solche, die eher der arbeitsteiligen US-amerikanischen Uberlieferung - und damit einer industriell geprägten Modernität zuneigen - und andere, die einen überlieferten, typisch europäischen und aus den Uberlieferungen des 18. und 19. Jahrhunderts hervorgegangenen autonomen Stil von Individualautoren favorisieren; entsprechend lassen sich Länderzuordnungen und Typzuordnungen aufgrund entsprechender Erhebungsmuster vornehmen.

2.3. Spektrum von Angebot und Nutzung Die Entdeckung des Massenpublikums der Zeitungsleser in Europa, die jeweiligen soziokulturellen Umstände dieser Entdeckung und die hauptsächlichen Konfliktlinien in der Durchsetzung der journalistischen Massenprodukte bilden eine weitere kennzeichnende Differenzierung zur Entwicklung typologischer Muster der Zeitungskultur in Europa. Es gibt, so unfaßbar dies heute anmuten mag, aktuell Länder, in denen Zeitung als journalistisches Massenprodukt im Boulevardformat nicht Fuß zu fassen in der Lage ist (Italien, Spanien). Auf der anderen Seite gibt es Länder, in denen sogar unterschiedliche Linien für journalistische Massenprodukte entwickelt wurden und Erfolg haben (England). Es ist gar keine Frage, daß ausschlaggebend für diese Unterschiede der Entwicklungsgrundlagen die jeweilige nationale historische Entwicklung ist. Und es besteht sicher Ubereinstimmung dahingehend, daß aufgrund solcher immenser Unterschiede in den Ausgangsbedingungen der Durchsetzung, der Wirkung und des Erfolges von Produkten tagesaktueller journalistischer Massenware der Typus der jeweiligen nationalen Öffentlichkeit sich sowohl in den Grundlagen wie auch in wichtigen Zuordnungen und allgemeinen politischen Parametern unterscheidet. Dies hat insofern Bedeutung, als allein aufgrund dieser sachlichen Unterschiede in zentralen Ausgangsvoraussetzungen von einer „europäischen Öffentlichkeit" im Sinne einer systematisch einheitlichen Sphäre (unique public sphere) empirisch nicht wird die Rede sein können. Welches sind nun die elementaren Grundbedingungen für die Konstituierung von Zeitungsmassenpublikum auf der einen und für fehlende Voraussetzungen für die Abnahme derartiger journalistischer Massenprodukte auf der anderen Seite? Probeweise kann man eine Reihe typologisch relevanter Kriterien prüfen. Wir geben hier einen Ausschnitt wieder: - Massenorganisationen als Elemente des wirtschaftlichen und sozialen Aufbruchs einerseits - zugleich aber auch die Befähigung zur Verallgemeinerung von Grundappellen über ein spezifisches Sonderinteresse hinaus. - Vorhandene Infrastruktur und Logistik. - Traditionelle Ereigniskulturen und Darstellungstraditionen, die den Humus für die besondere Form der Journalismus in diesem Spektrum liefern.

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Persönlichkeiten, die das unternehmerische Format einerseits und die journalistische Imagination andererseits miteinander zu verbinden in der Lage sind. Sie sind selbstverständlich Produkte wiederum einer bestimmten gesellschaftlichen Kultur und Elitebildung.

Reiht man diese Kriterien systematisch in das Bild einer Gesamtbetrachtung historischer Entwicklungszusammenhänge, so ergibt sich sehr schnell eine viel deutlichere Zuordnung: Länder mit einer langlaufenden Bewegung von Demokratiebestrebungen und entsprechenden Massenbewegungen (Curran 1977) stehen hier gegen andere Länder, die in erster Linie durch anhaltenden Feudalismus und seine sozialen und wirtschaftlichen Residuen geprägt sind. Die Freiheit und Unverfrorenheit, ja, der gezielte Regelverstoß gegen Moral und Tabusphären, die Emotionalisierung von Schicksalskonstellationen einzelner und die Personalisierung von politischen Zusammenhängen, diese Grundmischung des Massenjournalismus setzt ein Konfliktbewußtsein im Rahmen soziokultureller und wirtschaftlicher Entwicklungsabläufe für die Artikulationsmöglichkeiten der .Masse' voraus, das in der Regel nur unter den zwei Generalvoraussetzungen überhaupt vorstellbar ist: breiter Massenorganisationsentwicklungen einerseits und einer durchgreifenden Industrialisierung - mit den Folgen entsprechender Infrastrukturen und Logistikeffekte - andererseits. Und dennoch bleiben Versuche zur Einführung derartiger journalistischer Massenprodukte selbst bei Vorliegen der genannten Voraussetzungen in Europa erfolglos - so zuletzt noch im Falle der Einführung einer eigenen Massenzeitung im Boulevardformat für die neuen Bundesländer in Deutschland. Worauf sind derartige Mißerfolge zurückzuführen? In der Regel fehlt immer ein wichtiger Zusatzfaktor: so zum Beispiel eine spezifische Artikulationstradition und eine erlernte kulturelle Sprech- und Verstehensweise, faktisch ein Mindestmaß an kulturell bestimmter Sicherheit in den grundlegenden sozialen Gruppen, aufgrund derer die vorgeführte ,Schicksalshaftigkeit' des täglichen Boulevardangebotes einerseits den gewünschten .Schauer' verursacht, andererseits aber keine zusätzliche Verunsicherung bewirkt. Denn der tägliche Boulevardjournalismus ist eine Gratwanderung zwischen der Vorführung der Monstrosität des Alltags in allen Ausprägungen und auf allen Ebenen der Gesellschaft einerseits und der Versicherung einer fonwährenden und unverbrüchlichen Schicksalsgemeinschaft aller Leser und des Blattes andererseits. Letztere ist natürlich die zentrale funktionale Fiktion dieses Typs von Journalismus schlechthin (vgl. Münzberg 1998). Die Zeitungskulturen Europas lassen sich typologisch mithin in ihrem Zuschnitt einordnen in einen Kontext, der um eine Mittellage herum stärker den Möglichkeiten eines durchgehend erfolgreichen Massenjournalismus zuneigt - oder aber sie aus Tradition und aufgrund wichtiger kultureller Voraussetzungen ausschließt.

2.4.

Spektrum der technischen Entwicklung von Zeitungen

Bezieht man sich allein auf die Entwicklung des Mediums Zeitung, so fällt auf, daß im Zentrum seiner wichtigsten medialen Veränderung folgendes stand: der Ubergang zu dem zentralen Medium anonymer Öffentlichkeit. Dieser Ubergang fand statt aus einer anderen, nicht-anonymen Sphäre, wo Zeitungen Vorlesemedien waren und technisch

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Zeitungskultur in Europa verbreiteten Lesestoff interessierter Individuen zu unterschiedlichster Zwecksetzung darstellten (Engelsing 1966). Auf diesem Wege - und in wichtigsten Phasen zeitlich parallel - erfolgte hier natürlich die Industrialisierung vieler europäischer Länder und zugleich auch die Technisierung des Alltagslebens generell - mit entscheidenden Auswirkungen für das Entstehen des Phänomens moderner Massenmedien. Damit ergibt sich eine Fülle von Ansatzpunkten, um kulturelle Aneignung auf der Grundlage des Zeitungswesens dingfest zu machen. Im folgenden können nur Stichworte hierzu aufgeführt werden. Allein die Auswirkungen der Erfindung und Verbreitung von Telegraphie und Eisenbahn und deren durchschlagender Wirkung auf den neuen Typus Zeitung sind häufig dargestellt worden. - Damit setzte zugleich eine intensive Internationalisierung des Nachrichtenverkehrs mit hoher Beschleunigung ein; die Börsentelegraphie bildete hier den Schlüssel für Expertenkreise, die Zeitung lieferte den allgemeinen Ausdruck und formte einen neuen Typus von Öffentlichkeit in Ausweitung der vorhandenen Weltsicht. - Das Zeitalter des Klassenkampfes und seines politischen und sozialen Ausdrucks entsprechend verbunden mit einer neuen Ausformung des Parteienkampfes - entsprach unmittelbar den Änderungen der Grundlagen der industriellen Systeme und der Rolle, die Zeitungen darin übernahmen. Eine wichtige typologische Unterscheidung der Zeitungsvielfalt in Europa läßt sich vor diesem Hintergrund treffen: Wie deutlich, wie spezialisiert, in welcher Vielfalt an Ausdrucksformen überhaupt entstanden Zeitungen in den einzelnen Ländern und gaben dem vehementen Änderungsprozeß, der sich überall in Europa abzuzeichnen begann, Ausdruck? Es wäre dies eine neue Art der sozialhistorisch bestimmten Form einer Rekonstruktion der Rolle der Zeitungen in der Konstitution moderner anonymer Öffentlichkeit im Modernisierungsprozess der unterschiedlichsten Gesellschaftssysteme. Eine Vielzahl von Studien aus den unterschiedlichsten Fachgebieten liegen hierzu in den einzelnen Ländern vor, eine zusammenfassende Analyse und Integration unter einer Europa umfassenden Perspektive stehen aus. Die Entwicklung der Zeitungskultur in Europa weist diesem ersten industrialisierten Massenmedium im übrigen noch eine weitere analytisch aufschlußreiche Rolle zu: die eines Leitmediums. In diesem Sinne spielt es eine zentrale Rolle bei der präzisen Erkenntnis der kulturellen und ökonomischen Grundlagen der Marktdifferenzierung und der Fortentwicklung unternehmerisch industrieller Konzepte im Mediensektor. Dies gilt einerseits für die Abfolge technischer Innovationsschübe und ihre Auswirkungen auf Einzelunternehmen, den Industriesektor und die Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital; dies gilt ebenso aber auch für die Ebenen: Vertrieb, Inhaltsproduktion, Werbung usw. Wenn im Rahmen der beträchtlichen Änderungen auf dem Sektor der elektronischen Medien im Verlauf der vergangenen zwei Jahrzehnte von .Kommerzialisierung' die Rede war oder in den letzten Jahren von .Ökonomisierung' als einem leitenden Paradigma für Untersuchungen des Änderungsverlaufes, so läßt der Blick zurück auf die europäische Zeitungsentwicklung eines deutlich erkennen: es gibt Gleichartigkeiten und Regelverläufe im Entwicklungsprozeß der technischen Kommunikationsmedien, die sich an ein Massenpublikum wenden. Mit anderen Worten, man kann aus der Zeitungskultur

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in ihrem großen Entwicklungszusammenhang wichtige Grundlagen ableiten - selbst für das moderne Medienmanagement in seinem aktuellen Zuschnitt. Dies gilt im übrigen nicht nur für die ökonomische Grundlagenentwicklungen, sondern ebenso für die politischen und sozialen Wirkungen; durch die Instrumentalisierung der Zeitungen ist in erster Linie die Schlagkraft einer strategisch instrumentierten .Volkspropaganda' während des Ersten Weltkrieges in Europa - voran in Deutschland, in Großbritannien und in Frankreich - erfahrbar und in ihrer Dimension vorstellbar geworden. Es ist nicht von ungefähr, daß eine ernsthafte medienspezifische sozialwissenschaftliche Forschung nicht selten direkt und indirekt an diese Erfahrungen anknüpft (Bücher, Lippmann u. a.) Während der Phase der Herrschaft der Nationalsozialisten erfolgte dann eine weitere Eskalation dieser negativen Wirkungsmacht unter zentraler Steuerung für ganz Europa. Die Tatsache, daß im gesamten Bereich der nationalsozialistischen Herrschaft in Europa nicht nur das damals modernste und prominente Medium Rundfunk propagandistisch instrumentalisiert wurde, sondern im gleichen Maße massive strukturelle Eingriffe in das System der europäischen Zeitungskultur erfolgten, ist bis heute nicht systematisch im Rahmen einer europäischen Gesamtuntersuchung erforscht worden. Die Wirkungen, die diese Eingriffe im Endeffekt im Rahmen des Aufbaus eines friedlichen Europa nach dem Zweiten Weltkrieg hatten, sie, jedenfalls, sind bis heute noch einflußreich und sogar in manchen Bereichen strukturbestimmend. Hierfür lassen sich ausschnitthaft folgende Punkte aufführen: - Eine für Frankreichs Pressewesen bestimmend gewordene Differenzierung zwischen den Aufgaben der Verleger und denen der Journalisten sowie eine strukturell bis heute grundlegende Stärkung des Berufsprofils von Journalisten (Dubois 1991). - Ein neues Verständnis für das Gewicht der technischen und investiv bestimmbaren Produktionsmittel und -faktoren in jeglicher Medienpraxis: Druckereien, Vertrieb, Fachkräfte. - Die für Europa kennzeichnende Sensibilität beim Einsatz von Massenmedien für Propagandazwecke und eine Reihe einschlägiger Transparenzvorschriften in vielen nationalen Gesetzgebungen.

3. Medien-Strukturentwicklung und europäische Kulturanalyse Bei einer abschließenden überblickhaften Betrachtung der Besonderheiten der Zeitungskultur in Europa haben folgende Einsichten besonders Gewicht: .Zeitung' stellt eine der wenigen industriell bestimmten und kulturell wichtigen Entwicklungen eines Trägers von gesellschaftlichem Ausdruck und Diskurs dar, in dem noch heute frühe Ausgangsformen des 19. Jahrhunderts erkennbar geblieben sind. Bei genauerer Betrachtung findet man ein kaum vorstellbar breites Spektrum von Ausprägungen und Anwendungen, die sich für eine Bestimmung von kulturellen Entwicklungsprozessen in Europa und für ihren Vergleich aufdrängen. Dies stellt einen Reichtum dar, der vollkommen im Verborgenen blüht, weil es keine eingespielten Verfahren oder etablierten Analyseweisen gibt, das Ganze in seiner breiten europäischen Vielfalt ins

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Zeitungskultur in Europa Auge zu fassen. Dieser versteckte Reichtum an kultureller Ausprägung ist auch deswegen - selbst in Zeiten des Internet und seines World Wide Web - nur ausschnitthaft einsichtig, weil auf der Ebene der internationalen Betrachtung und fachlichen Diskussion entweder ein national bestimmter komparativer Vergleich, Erfahrungsaustausch oder naheliegende wechselseitige Marktdurchdringung vorherrschend sind. Ferner sucht die Industrie innerhalb des internationalen Dialogs mit Vorliebe eine Selbstvergewisserung über die internationalen breit angelegten best practices und unternehmerischen Strategien. Damit einher geht eine hochgradige Spezialisierung im Rahmen bestimmter Verfahren des Erfahrungsaustausches über einzelne Risikofelder oder Optimierungsbereiche (etwa: World Association of Newspaper, WAN) - mit einem Wort, eine distanzierte und neugierige, vor allem aber breit angelegte Gesamtanalyse schien bisher ausgeschlossen. Die europäische Zeitungskultur liefert in einer historischen und gesamteuropäischen Betrachtung eine ausgeprägte Archäologie kultureller Muster der europäischen Gesellschaften mit unverkennbar hohem Praxisbezug - und damit ein zentrales Quellenmaterial überhaupt für die Analyse europäischer Kultur. Dies gilt vor allem deswegen, weil in erster Linie dieses Zeitungsangebot durch seine lokale Einbindung und seine zentrierende Sammlung wichtiger intellektueller Betrachtungsweisen geprägt ist. Hinzukommt die gar nicht zu unterschätzende Verflechtung in lokal und regional gebundenen Handel und Wirtschaft. Kein anderes Kulturmedium kann dies in derartiger Breite und Tiefe europäischer Entwicklung aufweisen, weder der Film, noch das Radio oder gar das Fernsehen. Ein neues technisches Instrument mit Massennutzung wie das Internet stellt ohnedies völlig neue Probleme im Blick auf seine kulturelle Dokumentationsfähigkeit (wohl gemerkt: nicht Aussagefähigkeit). Eine nahezu ausschließlich auf den modernsten technischen Fortschritt ausgerichtete Sichtweise der europäischen Kultur- und Forschungspolitik hat in diesem Zusammenhang eine bemerkenswert weit von europäischen Traditionen entfernte Form des ausschnitthaften Denkens übernommen: Fortschritt im Sinne gesellschaftlicher Entwicklung ausschließlich in den Grundlagen und Anwendungen der modernen Informations- und Kommunikationstechniken zu sehen. Eine am Medium Zeitung zu entwickelnde Form der europäischen Kulturanalyse könnte beispielhaft zeigen, wieviel es zu erkennen und zu lernen gilt in der kulturellen Aneignung und ihren europäischen Eigenarten. Das einstmals atemberaubend fortschrittlichste technische Informationsmedium ist kulturell betrachtet Teil des Sinnzusammenhanges, in dem sich die modernen Informations- und Kommunikationstechnologien entfalten.

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Manfred Rühl

Technik und ihre publizistische Karriere

Technik und Technologie gehören zu den verworrensten Sachverhalten und Problemen, mit denen sich die Kommunikationswissenschaft beschäftigt. An der Kennzeichnung „die Medien", die für Apparate, Antriebs- und Speicheraggregate, Laser, Schalter, Satelliten, für das Fernsehen oder für den digitalisierten terrestrischen Rundfunk, kurz: für ein kaum zu klassifizierendes Universum steht, daran kann sich alle Welt berauschen. Setzt man dagegen Technik und Technologie rein sprachlich zueinander in Beziehung, dann geschieht dies in der Regel auf der semantischen Ebene des Universal-Wörterbuches. Unlängst definierte Dieter E. Zimmer in einer Sprachglosse der Wochenzeitung DIE ZEIT die Technologie als die Lehre von der Technik (Zimmer 1999). Der Wortteil „logie" des Kompositums wird vom altgriechischen „logos" hergeleitet und, wie üblich, mit „Wissenschaft" oder „wissenschaftliche Lehre" übersetzt. Alltagspublizistisch plausibel, ist diese etymologische Erklärung für die kommunikationswissenschaftliche Lehre und Forschung zu wenig abstrakt, um Beziehungen zwischen Technik, Technologie und Publizistik in ihrer gesellschaftlichen Komplexität einzufangen. In Deutschland und Europa verfügt die Kommunikationswissenschaft über eine reiche, wenn auch erst teilweise entdeckte Publizistiktradition (Rühl 1999). Wer nach bewahrtem Wissen über Beziehungen zwischen Publizistik und Technik sucht, darf keine üppige Begriffs- und Theoriegeschichte erwarten. Und dies, obwohl publizistische Techniken seit dem 19. Jahrhundert in Relation zu politischen, wirtschaftlichen, sozialen, rechtlichen und ethischen Problemen in der westlichen Industriegesellschaft umfangreich erlebt und erfahren werden können. Nach dem Zweiten Weltkrieg versuchte die geisteswissenschaftliche Zeitungs- und Publizistikwissenschaft noch einmal die Publizistik essentialistisch zu definieren, das heißt ohne historische und ohne gesellschaftliche Umweltbezüge.1 Ihr Erkenntnisprogramm geht davon aus, daß das Wesen der Publizistik in den Merkmalen ihrer Begriffe zu finden ist, so daß Wesensbestimmungen der Publizistik nichts anderes sein können als ihre Definition (Albert 1964: 20). Begriffsrealistische Definitionen sind empirisch unzugänglich, weil sie implizit beanspruchen, daß die Vergewisserung ihres Wesens vom Wortlaut der Definitionen als Wirklichkeit widergespiegelt werden. Von der in den 50er- und 60er-Jahren vorherrschenden begriffsrealistischen Behandlung der Publizistik distanziert sich eine empirisch operierende Forschung und Lehre.

Emil Dovifat bestimmt noch 1971: „Publizistik ist jene öffentlich bedingte und öffentlich geübte geistige Einwirkung auf die Öffentlichkeit, um diese ganz oder in ihren Teilen durch freie Uberzeugung oder kollektiven Zwang mit Gesinnungskräften über Wissen und Wollen im Tun und Handeln zu bestimmen." (Dovifat 1971: 5).

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Manfred Rühl Damit manövriert sich das Fach theoretisch-methodisch in eine zwiespältige Lage. Einerseits will es den tradierten Publizistikbegriff nicht einfach fallen lassen, andererseits kann es - der empirisch-methodischen Neuorientierung entsprechend - keine begriffsrealistischen Publizistikdeutungen hinnehmen. Die Reaktionen fallen wiederum zwiespältig aus. Einerseits hat sich das Fach - durch einen Abstimmungskompromiß in seiner Wissenschaftsgesellschaft - für die Kennzeichnung Publizistik- und Kommunikationswissenschaft entschieden2, andererseits läßt die empirisch orientierte kommunikationswissenschaftliche Forschergemeinschaft (communications community) keine nennenswerten Anstrengungen erkennen, den Publizistikbegriff operativ umzubauen - in Relation zu den Begriffen Kommunikation und/oder Massenkommunikation. Im Gegenteil, sie weicht der Problematik aus, indem sie publizistische Probleme mit den synonym verstandenen Begriffen Kommunikation und Massenkommunikation bearbeitet, bezogen auf sozialpsychologische Wirkungstheorien. (Massen-)Kommunikation wird, ohne mögliche Unterschiede zu Publizistik zu erwägen, in der Regel modelltheoretisch definiert und dem Publizistikbegriff äquivalent gesetzt (Burkart/Hömberg 1997). *

Hält man die Publizistik für eine zivilisatorische Errungenschaft, der sozialwissenschaftlich nachgespürt werden kann, dann steht dafür ein breitstreuendes Wissen zur Verfügung. Dieses Wissen kann in sozialwissenschaftlichen „Supertheorien" bzw. in „research traditions" gefunden werden, heute in Kommunikationstheorien, Entscheidungstheorien, Offentlichkeitstheorien, Persuasionstheorien, Organisationstheorien und Markttheorien, an deren gegenwärtigen Zuständen faktisch alle sozialwissenschaftlichen Disziplinen mitgearbeitet haben. Vermutlich verbergen weitere Theorien, solche der Philosophie und der Ethik, der Geschichts-, Sprach-, Literatur-, Politik-, Rechts-, Technikund der Wirtschaftswissenschaften weitere Wissenskapazitäten zur Bearbeitung publizistischer Probleme. Und selbst die uneinheitlichen epistemologischen Theorien (System/ Umwelt-Theorie, Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie, Methodologie und Kybernetik) sind zu prüfen, was und wie sie zum Erkennen publizistischer Probleme beitragen können. Technisch-technologische Probleme einer künftigen Publizistik in einer vernetzten Weltgesellschaft, sind weder beliebig noch fantastisch zu artikulieren und zu diskutieren, eher in einer Semantik, die sich zur Bearbeitung dieser hyperkomplexen Probleme eignet. Eine sinnhistorisch verfahrende Inspektion der Begriffs- und Theoriegeschichte des Publizierens und der Publizistik definiert: Unter Publizieren verstehen „wir jenen Topos menschlicher Kommunikation, der öffentlich, fortdauernd und in persuadierender Absicht vollzogen wird" (Rühl 1999: 1). Es spricht viel dafür, daß das Publizieren in „westlichen" Gesellschaften seit dem 18. und 19. Jahrhundert zur Publizistik als einem eigenen Funktionssystem ausgebaut wird. Durch das Zusammenspielen von Aufklärung,

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Die 1963 bereits unter dem Doppeltitel „Deutsche Gesellschaft für Publizistik- und Zeitungswissens c h a f t " gegründete Fachgesellschaft firmiert seit 1972 als „Deutsche Gesellschaft für Publizistik- und K o m m u n i k a t i o n s Wissenschaft".

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Technik und ihre publizistische Karriere Industrialisierung, Urbanisierung und Alphabetisierung, den sachlichen und sozialen Hauptströmungen der europäisch bürgerlichen Gesellschaft, wird die Publizistik gesellschaftsfähig. In wachsender zeitlicher Dichte erbringt die Publizistik für Familie, Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Religion, Sport usw. alternative und kontingente Leistungen, nicht zuletzt durch Techniken und Technologien. Für die Publizistik läßt sich kein Anfang bestimmen, und kein Ende absehen - ungeachtet wiederkehrender Untergangsprophetien, bezogen auf Massenkommunikation. Anders als beispielsweise die Kommunikationsformen Dialog oder Gruppendiskussion kennt die Publizistik zwei ungleiche, deutlich von einander unterscheidbare, gleichwohl auf einander angewiesene Seiten: die organisiert operierende Produktionsseite und die nicht-organisierte Rezeptionsseite. Publizistisch wird dergestalt persuadiert, daß gleichartige Themen und Mitteilungen aus der publizistischen Vergangenheit re-produziert bzw. re-rezipiert werden. Sie haben sich auf den Beschaffungs- und Vertriebsmärkten der Publizistik x-fach als durchsetzungsfähig erwiesen. Das trifft auch auf die „alten" Techniken und Technologien zu, namentlich auf den Buchdruck und seine Varianten, die sich bisher, ungeachtet der steigenden Komplexität moderner Techniken und Technologien, in der öffentlichen Kommunikation der Gesellschaft immer wieder bewähren konnten. *

Die Suche nach einer Tradition technisch-publizistischer Probleme wird zunächst sprachgeschichtlich fündig. Vom altgriechischen techne hergeleitet, werden Techniken in der Antike als regelhafte Handlungsanweisungen und als empiriegegründete, praxisorientierte Theorien verstanden (Baumhauer 1986: 225; Lenk 1982: 16-17). Technik und Technologie gehen über das Lateinische technica (ars, disciplina) in die deutschen Lexika des 18. Jahrhunderts ein (vgl. Technik 1998). Die Begriffe stehen sachlich und sozial nicht isoliert. Technik wird bereits im Athen des 5. vorchristlichen Jahrhunderts „demokratisiert", das heißt sachlich und sozial mit den altgriechischen Strukturen der Demokratie verknüpft. Die Sophisten gehen noch weiter. Sie meinen mit Technik die Vermittlung von Kunstfertigkeiten in allen Lebensbereichen (Baumhauer 1986). Heute noch signalisiert die Endung „-ik", daß die Antike spezifische Wissensgebiete der Kommunikation als Techniken bezeichnete: Rhetorik, Grammatik, Dialektik, Epik, Lyrik. Einen neuartigen Technikbegriff formuliert Francis Bacon im europäischen Denken der frühen Neuzeit. In wechselseitiger Abhängigkeit mit neuen Verständnissen von Wissenschaft, Gesellschaft und Kommunikation, arbeitet Bacon zunächst an einem neuen Technikbegriff (vgl. Rühl 1999: 75-82). Er attackiert das Kommunikationsverständnis der klassischen Rhetorik, weil sie den Wandel der Wissenschaftssemantik verhindere, und Bacon beobachtet eine fortschreitende Entwicklung der mechanischen Künste bei gleichzeitiger Stagnation von Philosophie und Wissenschaft. Zusammen mit Galileo Galilei, Johannes Keppler und Rene Descartes empirisiert Francis Bacon die Wissenschaften durch Instumente als Werkzeuge der Forschung. Damit sollen die Verstandesund Verstehenstätigkeiten verbessert werden, genauer: die Erkenntnisse der naturgesetzlichen Kausalverhältnisse durch induktive, experimentelle Verfahren. Für Bacon sind Techniken die Mittel der Verfahrensweisen, mit deren Hilfe die Regeln der Natur

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Manfred Rühl entdeckt und nach methodischen Erkenntnissen der .Mechanik' nutzbringend bearbeitet und beherrscht werden können. Im Organisieren der empirischen Forschung sieht Bacon den wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritt, der sich unter hypothetisch geleiteten Beobachtungen vollziehen soll. Den Forschern empfiehlt Bacon, den Umgang mit den Naturgesetzen zu üben, weniger den mit der freien und ungebundenen Natur. Nicht Geist (mind) und geistige Fähigkeit (wit) des Einzelnen sind es, sondern das wissenschaftliche Gespräch (conversancy), das nach Bacons Ansicht den wissenschaftlichen Fortschritt bewirkt, der zu gesellschaftlichen Veränderungen führen kann. Immanuel Kant ordnet die Technik systemisch, und zwar in Interrelation zum Handeln und zur Kommunikation (vgl. Rühl: 1999: 123-127). Ein System ist für Kant „ein nach Prinzipien geordnetes Ganzes der Erkenntnis" (Kant 1968b: AIV), während er mit Technik ein System der Wörter, Begriffe, Regeln und Vorschriften bezeichnet. Kants Technik steht für eine Kunst-Lehre, die sich sowohl zum rechten Aufbau eines Vortrages als auch zur Organisation der Wissenschaften eignet (Kant 1968d: A 215). Technik ist ein praktisches Vermögen, ein Können, das die Geschicklichkeit der Menschen steuert und nach zweckmäßigen Vorschriften ins Werk setzt (Kant 1968c: § 43). Die Vernunft ist der Maßstab für das richtige menschliche Handeln und Kommunizieren. Und Kant kennt ein Prinzip der Publizität - als Gegenprinzip zum Arkanum, dem Geheimnis - , das die elementaren Bedingungen für die Wahrheitsprüfung und für den Erkenntnisgewinn vorgibt, mehr noch: den Grundgedanken, daß ein Volk seine Meinung „frei und öffentlich der Welt zur Prüfung darlegen" kann (Kant 1968a: A 492). Adam Smith, der eine Wirtschaftsgesellschaft (commercial society) als dynamisches Handlungssystem entwirft, kennt keine feststehenden Vernunftziele, deren Verwirklichung unmittelbar zu einem besseren Leben führen (vgl. Rühl 1999: 103-111). Insofern reduziert Smith die Probleme der gesellschaftlichen Entwicklungen nicht auf technische Ausstattungen und auf Mittel, um feststehende Ziele zu erreichen. Nach seiner Sicht operiert das Gesellschafts- und Kommunikationswesen Mensch durch Probierhandeln mit der Methode von Versuch und Irrtum (trial and error) wenn es alternative Handlungsziele gegeneinander abwägt. Ein Verständnis für Technik entwickelt Georg Wilhelm Friedrich Hegel am Rande der Diskussion der Begriffe Arbeit, Bedürfnis, Maschine, Mittel und Zweck (Hegel 1986).Während seiner 19-monatigen Tätigkeit als Redakteur und Mitverleger der Bamberger Zeitung hatte Hegel viele technisch-praktische Probleme zu lösen. Darüber verfaßte er keine eigene Schrift. Seine Überlegungen vertraute er gleichwohl den zwischen 1807 und 1808 geschriebenen Briefen an (vgl. Rühl 1999: 143-151). Hegel programmiert die Bamberger Zeitung als „reines" Nachrichtenblatt, „ohne Meinung", da nach seiner Auffassung jede Zeitung „in Zusammenhang mit dem Staate und in der Arbeit für denselben stehen muß" (Hegel 1969: 167). In der redaktionellen Arbeit sieht er „Öffentliches" im Sinne von: für den Staat wertvoll. Und Hegel technisiert seine umfangreiche Zeitungsarbeit, wenn er die postalisch-verkehrspolitischen Vorteile des Standortes Bamberg bei der Nachrichtenbeschaffung für sein Zeitungs-Comptoir ausnutzt. Er macht sich viele wirtschaftliche Gedanken über die Abonnenten der Bamberger Zeitung, weit weniger solche publizistischer Art über deren Leser. Geschickter und erfolgreicher als seine Erlanger und Bayreuther Zeitungskonkurrenten taktiert Hegel gegenüber der bayerischen Zensur in der Ära Montgelas. Und er organisiert seine redaktionelle Arbeit derart,

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Technik und ihre publizistische Karriere daß sie nicht mehr als vier Stunden am Tage in Anspruch nimmt - damit Zeit bleibt, „noch meiner wissenschaftlichen Arbeit fortzuleben" (Hegel 1969: 116, 148). Im Manifest der Kommunistischen Partei (1848) sehen Karl Marx und Friedrich Engels „im Dampf und der Maschinerie" die Mittel für die industrielle Produktion und den Transport als geschichtsmächtige Produktionskräfte (MEW 4: 467). Marx weitet seine technisch-technologischen Überlegungen im Kapital aus, und zwar auf den Austausch und die Distribution der Produkte (MEW 23), die zur weltprägenden „gesellschaftlichen Tätigkeit" emergieren sollen, abhängig vom jeweiligen Stand der Wissenschaft und vom „technischen Bedürfnis" der Gesellschaft. In den 50er-Jahren des 19. Jahrhunderts untersucht Karl Knies, ein Vertreter der älteren Historischen Schule der Nationalökonomie, in zwei Monographien die Eisenbahn und den Telegrafen, und zwar sozioökonomisch (Knies 1853; 1857). Die noch jungen technologischen Innovationen nennt Knies „Communicationsmittel", um Kommunikation mit Transport semantisch gleichzusetzen. *

Der Technologiebegriff hat, gleich dem Technikbegriff, eine in die Antike zurückreichende Geschichte, wo er als grammatisch-rhetorische Kunst oder als systematisierende Kunstlehre verstanden wird. Der Frühaufklärer Christian Wolff (1728) definiert die Technologie als Wissenschaft, als die Lehre von der materiellen Produktion und den technischen Verfahren bei der Herstellung von Werken (vgl. Meier-Oeser 1998). Der Ökonom Johann Beckmann entwirft eine „Allgemeine Technologie" (1806) als Wissenschaft (vgl. Lenk 1982: 14-15). Von nun an entwickelt sich die Technologie zu einer Wissenschaft von den Kausalverhältnissen, als die sie auch Handlungswissenschaft wird: „Technologie ist auf Technik bezogene Aktionswissenschaft" (Stachowiak 1973:48). Der Technologiebegriff bezeichnet praktische Absichten, nach denen sich das Handeln richten muß, will es Erfolg haben, und soll „richtig" gehandelt werden (Luhmann/Schorr 1982: 11). Alltagsvernünftig wird die Technologie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als „Gewerbkunst" interpretiert, von der es in einem Konversationslexikon heißt, daß sie die „Naturerzeugnisse für die Bedürfnisse der Gesellschaft künstlich verarbeiten lehrt" (Neues Rheinisches 1872: 3). Anthropologisch deutet der Philosoph Ernst Kapp (1877) die Technik, wenn er Werkzeuge und Maschinen als wirkungsverstärkende Organverlängerungen bzw. Organprojektionen des Menschen begreift (Kapp 1978). Nach vielen wirtschaftshistorischen Einzelstudien über den Fischfang, den Pelzhandel und über die Eisenbahn wandte sich Harold A. Innis dem Studium der Kommunikation zu, um Kommunikationsmedien als Erweiterungen des menschlichen Geistes zu bestimmen. Sie sind nach Innis der Inbegriff der Zivilisation, beherrschen als besondere Medien einzelne Epochen des Zivilisationsverlaufes, wobei sie bestimmen, was „wichtig" ist (Innis 1972; 1982). Innis unterscheidet schwere Medien als zeit-bindende Medien (gemeint sind Pergament, Ton oder Stein), weil sie die menschliche Kommunikation über Generationen hinweg ermöglichen. Im Gegensatz dazu kennt er leichte Medien als raum bindende Medien (vor allem das Papier), die sich kurzfristig von Ort zu Ort transportieren lassen. Papier ermöglicht längerfristig den Bau großer Reiche, den Zusammenhalt ihrer Heere und Bürokratien. Innis studiert besonders intensiv die

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Manfred Rubi politisch-wirtschaftliche Macht. In Kommunikationstechnologien sieht er den Schlüssel zur sozialen Koordination von Raum und Zeit, und befürchtet, daß die Kommunikationsmedien ein Monopol über das menschliche Wissen erlangen werden (Innis 1997). Prominenter als sein kanadischer Landsmann wird der Literatur- und Kommunikationsforscher Marshall McLuhan. Mit orakelhaften Buchtiteln: The Mechanical Bride, The Gutenberg Galaxy oder (bilderreich und textarm) The Medium is the Massage, wird er in den 60er-Jahren weltweit präsent. McLuhan beginnt mit Emphase den zweckgerichteten Einsatz und Gebrauch von Medien als Maschinen und Werkzeuge zur Steigerung physisch-physikalischer Leistungen zu preisen. Ohne ernstzunehmende historische oder soziale Belege behauptet er, die Medien seien Erweiterungen menschlicher Fähigkeiten: das Rad erweitere den Fuß, das Buch das Auge, die Kleidung die Haut, der Stromkreis das Zentralnervensystem (McLuhan/Fiore 1967). Medien werden als Kräfte geschildert, die Gesellschaften von außen weithin konditionieren. Bald wird McLuhans Argumentation für die Kommunikationswissenschaft unerträglich, als er mit Hilfe pseudotheologischer Analogismen und Metaphern den Buchdruck zum Sündenfall der menschlichen Kommunikation hochstilisiert. „Hearing was believing", so charakterisiert er die Kommunikation von Stammesgesellschaften, während die Menschheit durch die Druckerpresse aus der göttlichen Gnade gefallen sei. Die phonetisch-typographische Schrift habe der westlichen Kultur eine lineare, logische und kategoriale Art des Wahrnehmens aufgezwungen, während die elektronischen Technologien die Dominanz des Hörens zurückbringen würden - und dergestalt eine soziale Implosion hervorrufen. Weil das heiße Medium Buchdruck den einzelnen vom Ohren- zum Augenmenschen umfunktioniert habe, engagiere der Buchdruck die menschliche Phantasie weit weniger - im Unterschied zum kühlen Medium Fernsehen. McLuhan bedient sich unklarer Begriffe und phantastischer Bilder, wenn er die Technologisierung der Kommunikation a priori auf eine Mediologie festlegt. Die Medien Fernsehen und Werbung würden jene Wege weisen, die in das verlorene Paradies zurückführen würden, aus dem die menschliche Kommunikation durch den Buchdruck vertrieben worden sei. Für publizistische Einsichten und Erklärungen hatte Marshall McLuhan keinen Sinn. Sein eigenartig biologisch-metaphysischer Methodenmix erlaubte es, seine Auslassungen in mediologische Strömungen einzupassen, einer postmodernen Mischung aus Medientheologie und Medienphilosophie. Für McLuhan und seine Adepten sind die Medien technische Apparate, vermöge derer eine globale Sinnen- und Sinnesgemeinschaft geschaffen werden kann. Für diese mediologische Argumentation sind Medien nach wie vor dinghafte Waren, weniger oder gar keine publizistischen Werke, mit publizistischen Problemstellungen (vgl. ζ. B. Bolz 1993). *

Das bemerkenswerte europäische Jahrhundert zwischen 1750 und 1850, das durch die sozialen Komplexitäten Aufklärung, industrielle Revolution, Alphabetisierung und Urbanisierung die Strukturen der bürgerlichen Gesellschaft prägt, kennzeichnet Reinhart Koselleck als „Sattelzeit" einer „vergangenen Zukunft". In ihm entstehen in zunehmender Abstraktion die geläufigen Kollektivsingulare. Einzelne Geschichten werden zu „der 98

Technik und ihre publizistische Karriere Geschichte" schlechthin, zahlreiche kleine Fortschritte machen „den Fortschritt" aus, und einzelne Techniken komprimiert man zu „der Technik" (Koselleck 1972: XVII; 1984). Der Kollektivsingular Technik verändert sich im gesellschaftsstrukturellen Wandel, auf der Grundlage anwendungsbezogenen, praktischen Wissens (Know-how). Technik ist ein sachgemäßes, zielgerichtetes, empirisch begründetes Können zum Erfinden von Anhakten aus den Sinnbezirken Maschine und Werkzeug. Technik ist das Ganze der Machbarkeit des bereits Gemachten, wobei die Machbarkeit programmierte Programme zum Planen, Erfassen, Ingangsetzen, Anleiten, Steuern und Kontrollieren publizistischtechnischer Artefakte sein können. Regelung und Nutzung effektiver Mittel sollen sichern, daß die Zwecke erreicht werden. Namentlich die moderne Technik (ζ. B. der Computer) eröffnet Leistungen bisher unbekannten Ausmaßes. Sie wird zu eng gefaßt, geht man von Strukturen aus. Wird die Technik statt dessen in Relation zur gesellschaftlichen Umwelt funktional identifiziert, dann können gleichwohl unter einem bestimmten Gesichtspunkt, wie schon im Mythos und in der Philosophie der Antike zu beobachten, unterschiedliche sachliche, soziale und zeitliche Strukturen herausgearbeitet werden. Als Errungenschaft einer modernen Weltgesellschaft kann die Technik, sozialwissenschaftlich beobachtet, auf mindestens drei operativen Ebenen das Publizistiksystem mitsteuern: Funktional in Relation zu anderen Teilsystemen der Gesellschaft (MakroEbene), als Aufgaben innerhalb von Organisationen und Haushalten (Mikro-Ebene), oder als Leistungen (und Gegenleistungen) zwischen Organisationen, Haushalten, Familien und anderen Marktsozialitäten (Meso-Ebene). In diesem Sinne wird Medialisierung als der Begriff vorgeschlagen, der die Gesamtheit der Regeln zur Steuerung der Produktion und der Rezeption im gesellschaftlichen Kreisprozeß der Publizistik erfaßt. Medialisierung steht für das programmierte Prozessieren publizistischer Programme (programmed programme processing of public communication) zur Herstellung und Verbreitung, zur Annahme, Verarbeitung und zur Weiterkommunikation, kurz: zur strukturellen Stabilisierung des gesamten publizistischen Prozessierens (Rühl 1998: 103-105). In der gesamtpublizistischen Medialisierung dominieren die Kausaltechnik und die Verarbeitungstechnik. Anders als im Taylorismus oder Fordismus geht es bei publizistischen Kausaltechniken nicht darum, die Wirkungen irgendwelcher Ursachen zu erkennen bzw. wiederzuerkennen. So wäre es arg mißverständlich, die Journalistenausbildung auf das Training bestimmter Arbeitstechniken eines eng definierten Problem- und Tätigkeitsbereiches einzubeschränken, stereotypisiert auf Arbeitsabläufe in einem tradierten Ressort einer „papierenen" Zeitung. Arbeitsvollzüge anzutrainieren ist keine Journalistenausbildung, eher ein journalistic engineering. Das Beibringen des „journalistischen Handwerks" kann nicht mechanisch als „richtig" vollzogen werden. Um künftige Job-Elastizität zu gewährleisten, ist Ausbildung vor dem Bewußtseinshorizont funktionaler Möglichkeiten, Entwicklungen und Veränderungen der Publizistik zu vollziehen - deren Altformen gelegentlich fallen zu lassen sind. Publizistische Kausaltechniken sind abhängig von den Entwicklungen auf publizistischen Beschaffungs- und Vertriebsmärkten, nicht von Partikularinteressen einzelner Verleger, Manager, Chefredakteure oder anderer „Leitender". Publizistisches Produktionsund Rezeptionsmaterial wird üblicherweise marktförmig angeboten und nachgefragt, wo es unmittelbar gekauft oder verkauft, geleast oder sonstwie gehandelt werden kann. 99

Manfred Rühl Zugenommen hat das kausaltechnische Disponieren, wird beispielsweise eine neue Zeitschrift geplant und entworfen und als Null-Nummer ausprobiert. Mit Kausaltechniken sollen die Ursachen dem Zufall entzogen werden. Man plant und programmiert publizistische Ursachen, um sie hochwahrscheinlich produzieren und rezipieren zu können. Aus der Geschichte der Publizistik, des Journalismus, der Werbung, der Public Relations, selbst der Propaganda, stehen mit Nachricht, Wetterbericht, Flugblatt, Reportage, Pamphlet, Kommentar, Magazin oder Talkshow unterschiedlich traditionsreiche Kausaltechniken zur Verfügung., die zum Recherchieren, Präsentieren, Moderieren oder Agitieren eingesetzt werden, je nach dem, was in einer Gesellschaft publizistisch der Fall ist. Dazu gehört funktional die Kampagne, seit geraumer Zeit in der publizistischen Praxis der westlichen Welt als Kausaltechnik standardisiert und praktiziert - wenn auch scheeläugig beobachtet. Publizistische Verarbeitungstechniken erinnern an konditionale Entscheidungsprogramme publizistischer Organisationen (Rühl 1969/1979). Verarbeitungstechniken sind insofern redundant, als das publizistisch „Neue" eingeschätzt und gekannt werden kann, um alltagspublizistisch zu wissen, worauf es in der Produktion (Scholl/Weischenberg 1998:78-86) und Rezeption beim Vollzug ankommt. Im Fall von Verarbeitungstechniken geht es um Vorgänge effektiver Abschottung, ohne sie von der Ereignishaftigkeit der Welt zu isolieren. Das Ausblenden der Welt-im-übrigen, das Nichtberücksichtigen unbestrittener publizistischer Möglichkeiten, die alternativ Realität werden könnten, sie bleiben Produzenten und Rezipienten der Publizistik als Möglichkeiten bewußt. Mit Kausal- und Verarbeitungstechniken als „funktionierenden Simplifikationen" (Luhmann 1997: 524) wächst konsequenterweise das Risiko der steigenden Abhängigkeit von der gesellschaftlichen Umwelt. Beide Techniken konnten sich als vorläufig konstante Strukturen in einer Welt des Wandels immer wieder bewähren. Wird behauptet, die Welt sei völlig durchtechnisiert, dann dominieren offenkundig verdinglichte Technikvorstellungen als Ver-Mittlung, als Trans-Mission.

Technik und Publizistik stehen vor graduell unterschiedlich wirksamen Erkenntnishindernissen. Dazu gehört der Einfluß besonderer sozialer Entweder/Oder-Dichotomien. Auf der einen Seite gibt es in der Moderne sogenannte Technik-Freaks mit besonderen Affirmationen und einem starken Förderwillen, auf der anderen Seite sind es sogenannte Technikfeinde, die mit einem betonten Bekämpfungswillen ihre Ablehnungen artikulieren. Von beiden Einstellungstypen gingen schon immer fantastische bzw. apokalyptische Prophezeiungen aus, die immer wieder Bewegung in die Diskussion des Problemfeldes gebracht haben, ohne Nennenswertes zur besseren Problemlösung beitragen zu können. Gravierende theoretische Hindernisse dürfte eine rückständige empirische Forschung für die Beziehungen zwischen Technik und Publizistik bereitstellen. In den Lehrbüchern als Eigensystem dargestellt, wird die empirische Kommunikationsforschung überwiegend in Gestalt der Verfahren Befragung, Inhaltsanalyse, gelegentlich der Delphi-Technik praktiziert. Mit ihnen soll beschrieben und erklärt werden, was vorgefunden wird. Die Theo-

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Technik und ihre publizistische

Karriere

rien dieser Verfahren werden so gut wie nie ins Forschungsspiel gebracht. Insofern bleibt undiskutiert, daß Probleme der Kommunikation untersucht werden anhand von Befragung und Inhaltsanalyse, die den Behaviorismus beerbt haben. Aus kommunikationstheoretischer Sicht besteht deren Erblast in erster Linie in grundsätzlichen Vorbehalten gegenüber dem Sinnproblem (Rühl 1997; 1976). Sinn fungiert nach einer verbreiteten Kommunikationstheorie als das kulturelle Potential der Gesellschaft (Luhmann 1997), und Sinnmachen (sensemaking) ist der elementare Prozeß der Verwirklichung sozialer Realität (Weick 1995). Sinn wird symbolisch manifest, wenn auch nie eindeutig, eher als Schemata und durch Metaphern, wenn Sprache, Bild und Ton das Informieren, das Thematisieren und das Mitteilen ermöglichen. Verzichtet die empirische Sozialforschung darauf, Kommunikation hinreichend zu reflektieren, dann bleiben Sinnfragen links liegen, und vor allem bleibt unklar, welchen Sinn die generierten Daten machen sollen. Aus welchen Sinnzusammenhängen stammen beispielsweise die Kategorien und Faktoren: aus wissenschaftlichen Sprachen, aus Fachsprachen, aus Alltagssprachen, gar aus Jargons? Werden sie auf Wegen des Kategorisierens semantisch gleichgestellt, gewinnen sie dadurch ein einheitliches Sinniveau? Dazu einige Beispiele: Können Wirkungsunterschiede zwischen „papierenen" und „elektronischen" Zeitungen untersucht werden, ohne ausdrücklich zu sagen, ob psychische Wirkungen (psychic effects), soziale Auswirkungen (social impacts) oder noch andere Bewirkungen untersucht werden? Oder: kann die Erforschung wachsender Wissensklüfte davon ausgehen, daß sich Wissensunterschiede sozioökonomisch hierarchisieren lassen, ohne Wissen zu differenzieren: als wissenschaftlich testfähiges Wissen, publizistisch eingeschränktes Bescheidwissen, als anwendungspraktisches Alltagswissen (Know-how) oder als Stimmungs- und Meinungswissen (certitude morale), das Demoskopen ermitteln wollen? Oder: meint der Ausdruck „uses" des Uses-and-gratificationsapproach utilitaristisch verstandenen Nutzen, persönliche Vorteile, Brauchbarkeit oder Verwendbarkeit von Apparaten und Gerätschaften (Medien) oder deren „Inhalte" - wenn damit Nachrichten, Symbole, Texte, Show-Elemente und andere „Inhalte" gemeint sein können? Oder: umfassen Agenda (dt.) bzw. agenda (engl.) auch issues, themes und topics, zudem die Tagesordnung, eine thematisierte Meldung, eine Auswahl, wie sie Redaktionen treffen, oder gar die „öffentlichen Aufgabe", die das Bundesverfassungsgericht den „Medien" zuschreibt? Oder: in welchen theoretischen Beziehungen stehen Informationen zu Nachrichten, Personen (als psychische Systeme) zu Akteuren (als psychische und/ oder soziale Systeme)? Ubereinkunft dürfte darüber bestehen, daß die Erkenntniskraft empirisch ermittelter Daten abhängig ist von den zur Hypothesenbildung eingebrachten Theorien. Es ist gewiß nicht unerheblich, auf welchem semantischen Niveau die Sprache der Forschungstechniken den Forschungsprozeß und seine Aussagen beeinflussen. Transformiert die empirisch-wissenschaftliche Forschung, und wenn ja, wie, wenn sie orale, skriptographische, typographische, elektronographische Publizistik untersucht, die uneinheitlichen technisch-technologischen Problemen der Wahrnehmung, der Selektion, der Variation, der Aufmerksamkeit und der Verarbeitung unterliegt, zumal davon auszugehen ist, daß die Adressaten von Publizistik verschiedene Öffentlichkeiten sind, soziostrukturell diffuse Einheiten mit graduell unterschiedlichen Zugangsmöglichkeiten für Persuasion und Manipulation. 101

Manfred Rubi Ein drittes publizistiktechnisches Erkenntnishindernis ist im vorherrschenden Medienzentrismus zu beobachten. Seit dem 17. Jahrhundert wählen Kommunikationsforscher die Substanztechnik des gutenbergischen Buchdrucks als theoriehistorischen Take-off. Die Zeitung ist ihr traditioneller Gegenstand, teils dingbegrifflich verstanden als Nachricht oder als Druckwerk, teils beziehungsbegrifflich beobachtet als Objekt der Zensur oder als Mittel der öffentlichen Meinung (Bohrmann 1986). Als im frühen 20. Jahrhundert fachintern versucht wurde, Film, Radio oder Fernsehen mit den buchdrucktechnischen Varianten Zeitung und Zeitschrift theoretisch begründet zusammenzuführen, wurde in Deutschland von nationalsozialistischen Funktionären, allen voran von Walther Heide versucht, mit ideologischen, auch mit subjektiven Argumenten dieses Vorhaben zu unterbinden (Bohrmann/Kutsch 1984). Bestrebungen, eine Publizistikwissenschaft zu formulieren, wurden in der zweiten Jahrhunderthälfte wieder aufgenommen, nunmehr unter dem Sammelbegriffstitel Mittel bzw. Medien. Bis heute ist es noch nicht gelungen, das begrifflich-theoretische oder das historische Wissen über Publizistik und Publizistiktheorien in Medientheorie-Entwürfe einzubringen. Wird dies über die soziale Dimension der Kommunikation versucht, etwa in einer politikwissenschaftlichen Publizistiktheorie (Marcinkowski 1993) oder in einer „alle Einrichtungen der Gesellschaft ... zur Verbreitung von Kommunikation technischer Mittel der Vervielfältigung" umfassenden Theorie der Massenmedien (Luhmann 1996), dann fehlt diesen Studien die sinnhistorische Dimension für Publizieren und Publizistik. Massenmedien mit Publizistik begrifflich zu verschmelzen, ohne vorher zu versuchen, mutmaßliche Unterschiede herauszuarbeiten, kann nicht gutgeheißen werden. Der Eindruck bleibt: Werden keine publizistisch-technischen Fragen zur Produktion, Distribution und Rezeption in gesellschaftlichen Interdependenzen gestellt, dann können keine publizistisch relevanten Antworten erwartet werden.

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Jürgen Heinrich

Zeitungsmärkte: Ökonomische Grundlegung zentraler Kommunikations- und Kulturräume Im Zeitalter einer zunehmenden Globalisierung des Wettbewerbs bilden Zeitungsmärkte eines der letzten Überbleibsel räumlich eng begrenzter lokaler bzw. regionaler Märkte. Allenfalls der Hörfunk bietet ebenfalls die Möglichkeit einer begrenzten lokalen Verbreitung; häufig ist dies aber durch die Medienpolitik veranlaßt und nicht Ergebnis eines freien Wettbewerbs. Parallelen zum Zeitungsmarkt bietet im übrigen nur noch der Biermarkt in Deutschland, auf dem einige wenige Premiummarken national verbreitet sind, im übrigen aber eine regionale Bindung typisch ist. In diesem Beitrag soll untersucht werden, warum Zeitungsmärkte die, medienpolitisch ja immer begrüßte, Möglichkeit einer räumlichen und damit auch sachlichen Segmentierung bieten. Faktoren, die die Ausdehnung von Märkten begründen, sind die Vorteilhaftigkeit einer großbetrieblichen Produktion, die Realisierung von Fixkostendegression und ergänzend spezielle Kosten einer Segmentierung von Produktion und Vertrieb. Dies wird im ersten Abschnitt analysiert. Faktoren, die eine Ausdehnung von Märkten begrenzen, sind zum einen räumlich segmentierte Konsumentenpräferenzen und zum anderen die Distanzüberwindungskosten, die im Vertrieb zentralisiert erstellter Güter anfallen. Diese Faktoren werden im zweiten Abschnitt analysiert. Da infolge des technischen Fortschritts die Vorteilhaftigkeit einer großbetrieblichen Produktion meist zunimmt und zugleich die Distanzüberwindungskosten sinken, liegt die Ausdehnung von Märkten in der Logik der Entwicklung der Weltwirtschaft. In diesen Trend sind auch die Zeitungsmärkte eingebunden, deren räumliche Begrenzung jedenfalls nicht zunehmen dürfte.

1. Markterweiternde Faktoren 1.1. Zur Vorteilhaftigkeit großbetrieblicher

Produktion

Die Vorteilhaftigkeit einer großbetrieblichen Produktion wird in der Regel begründet mit den Vorteilen der Größe (Economies of Scale). Größenvorteile liegen vor, wenn mit wachsender Betriebsgröße die Produktionskosten langsamer wachsen als die Ausbringungsmenge, wenn also die Stückkosten der Produktion mit steigender Betriebsgröße sinken. Die Ursachen hierfür sind vielfältig. Man kann ζ. B. unteilbare Maschinenkapazitäten besser nutzen, man kommt mit relativ weniger Reservekapazitäten aus, oder die sogenannte Zwei-Drittel-Regel begründet, daß der Materialaufwand für zylindrische Produktionskapazitäten (ζ. B. Pipelines, Hochöfen, Schiffe) in der zweiten, das Volumen hingegen in der dritten Potenz wächst. 105

Jürgen Heinrich Auch Lerneffekte sind relevant: Wenn ein Betrieb immer wieder das gleiche produziert, steigt die Geschicklichkeit der Arbeiter, die Werksleitung lernt besser zu organisieren, und die Werkzeuge können optimal angepaßt werden. Das bedeutet, daß ein kleiner Betrieb, der nur wenig produziert, diese Lerneffekte viel geringer nutzen kann als ein Großbetrieb (vgl. Monopolkomission 1986, TZ 594ff.). Für Medienunternehmen sind solche Größenvorteile nicht sehr relevant. Gerade Zeitungen, aber auch Rundfunkanstalten, bieten Beispiel dafür, daß Unternehmen mittlerer Größe ökonomisch effizient produzieren können, ein Befund, der auch für die USA bestätigt wird (vgl. Heinrich 1994: 218). Von sehr viel größerer Relevanz für die Zeitungsproduktion wie für die Medienproduktion insgesamt ist das Phänomen der Fixkostendegression. Üblicherweise fallen in den Produktionsprozessen immer fixe und variable Kosten der Produktion an. Fixe Kosten sind unabhängig von der Produktionsmenge, ζ. B. Grundsteuern, Gehälter der Verwaltung oder Fremdkapitalzinsen; variable Kosten hängen von der Produktionsmenge ab, typischerweise die Kosten für Material, für Energie oder für Leistungslöhne. Während die variablen Kosten, pro Stück gerechnet, meist konstant bleiben, sinken die fixen Kosten, pro Stück gerechnet, mit steigender Ausbringung. Dies nennt man Fixkostendegression. Die Fixkostendegression spielt naturgemäß eine je größere Rolle, desto größer der Anteil der fixen Kosten an den Gesamtkosten ist. Hier gibt es von Branche zu Branche deutliche Unterschiede. Bei der Schmuckproduktion ζ. B. gibt es wenig fixe Kosten, ins Gewicht fallen hier vor allem die variablen Arbeits- und Materialkosten; oder in der Verkehrswirtschaft gibt es überwiegend sprungfixe Kosten im Rahmen der Auslastung eines gegebenen Verkehrsmittels (ζ. B. sind die Kosten für den Betrieb einer Eisenbahn, eines Flugzeugs oder eines Schiffes so gut wie unabhängig von der Beladung, aber sie steigen sprunghaft, wenn die Kapazitätsgrenze erreicht ist und ein zweites Verkehrsmittel in Betrieb genommen wird). Für die Medienproduktion ist typisch, daß der immaterielle Gehalt der Produktion, also der Gehalt an Information, von beliebig vielen Rezipienten gleichzeitig und/oder nacheinander konsumiert werden kann, ohne daß er dabei verbraucht wird. Diese Eigenschaft bezeichnet man als Nicht-Rivalität des Konsums von Information. Die Information wird in Form eines Prototypen nur einmal produziert und nachfolgend je nach der Zahl der Rezipienten vervielfältigt und verteilt. Man spricht auch von der „Blaupausen-Industrie". Bei Printmedien verbraucht die Vervielfältigung des Prototypen Ressourcen der Distribution, ζ. B. Papier und Zustellkosten, während im Rundfunkbereich die Ausstrahlung, von geringen Stromkosten abgesehen, praktisch kostenlos ist. Der immaterielle Gehalt der Medienproduktion verbraucht sich aber in keinem Fall. Die Produktionskosten der Information sind unabhängig von der Zahl der Rezipienten, sie sind mithin fix in bezug auf die Zahl der Vervielfältigungen bzw. fix in bezug auf die Einschaltquote. Dieser Sachverhalt begründet eine kontinuierliche Fixkostendegression bis zur Sättigungsmenge. Die fixen Kosten der Produktion der Information werden anteilsmäßig auf die Vervielfältigungen verteilt, und daher sinken die Stückkosten, die Kosten der Information pro Rezipient, mit steigender Zahl der Rezipienten. Wenn die Stückkosten aber mit steigender Ausbringung stetig sinken, dann wird das Produkt am billigsten von einem Monopolisten angeboten. Langfristig wird auch nur ein 106

Zeitungsmärkte: Ökonomische Grundlegung zentraler Kommunikations· und Kulturräume Monopolist überleben. Im Extremfall gilt: Am billigsten pro Kopf der Leser ist eine einzige Zeitung für die ganze Welt. In diesem Sinne spricht man davon, daß Massenmedien auf Grund ihrer Fixkostendegression geradezu prädestiniert sind, Massenme&en zu sein. Eine solche erschreckende Perspektive gilt indes nur für homogene Produkte, die sich im Urteil der Käufer nicht unterscheiden, wie ζ. B. für Weizen oder Steinkohle. Zeitungen sind aber keine homogenen Produkte, sondern Nachfragepräferenzen segmentieren die Märkte, wie in Abschnitt 2 gezeigt wird.

1.2. Fixkostendegression in der Zeitungsproduktion Kostenstrukturanalysen stoßen in der Regel auf erhebliche Probleme der praktischen Statistik, weil Kostenstrukturen, wenn sie denn überhaupt ausgewiesen werden, allenfalls global nachzuvollziehen sind. Der BDZV weist die Kostenstrukturen der Zeitungsproduktion seit vielen Jahren nach betrieblichen Funktionsbereichen gegliedert aus. Tabelle 1 zeigt die Entwicklung der Kostenstruktur von Abonnementzeitungen nach den Funktionsbereichen Technische Herstellung, Redaktion, Vertrieb und Verwaltung, ergänzt speziell um die Ausweisung der Kosten von Papier und Anzeigen.

Tabelle 1 Kostenstruktur von Abonnementzeitungen in Prozent der Gesamtkosten (Westdeutschland) von 1988 bis 1998 1988

1990

1992

1994

1996

1998

Technische Herstellung

32,7

31,5

31,8

30,8

29,6

Papier

11,0

10,5

7,7

7,1

9,7

8,3

Redaktion

18,1

18,6

20,0

21,6

21,0

21,7

Vertrieb

17,7

18,6

19,0

20,3

19,1

19,8

Anzeigen

12,1

12,4

13,3

12,3

12,9

13,4

8,4

8,4

8,2

7,9

7,6

Verwaltung Gesamt

100

100

100

100

100

28,3

8,6 100

(Quelle: BDZV, Jahrbücher Zeitungen).

Zu erkennen ist eine Abnahme des Kostenanteils für die technische Herstellung, relativ stark schwankende Anteile der Papierkosten (wegen der starken Preisschwankungen für Papier), eine relative Konstanz der Kostenanteile für Anzeigen und Verwaltung und eine Zunahme der Kostenanteile für Vertrieb und insbesondere der Redaktion. Man sieht, daß die Personalkosten von Redaktion und Vertrieb offenbar nicht rationalisiert werden können; Rationalisierungspotentiale stecken vielmehr in der Technik. Eine Aufteilung in fixe und variable Kosten bietet die Kostenstrukturerhebung des BDZV nicht, daher muß eine solche Aufteilung geschätzt werden. Als variabel können 107

Jürgen Heinrich die Papierkosten gelten sowie Teile der Vertriebskosten (Kosten für das Marketing sind fix) und Teile der Kosten der technischen Herstellung; insgesamt schätze ich den Anteil der variablen Kosten auf ein Drittel der Gesamtkosten: Sie stecken vor allem in den Materialkosten (Papier, Energie, Verschleiß und Wartung der Druckmaschinen) sowie in den Zustellkosten. Der Anteil der fixen Kosten kann mithin auf etwa zwei Drittel der Gesamtkosten geschätzt werden. Die amtliche Pressestatistik, die mit dem Jahr 1994 eingestellt worden ist (was hier mit Nachdruck zu beklagen ist), bietet eine detaillierte Kostenstrukturerhebung zuletzt für das Jahr 1990. Hierbei werden die Kostenarten als Anteile am Umsatz ausgewiesen (nicht als Anteile an den Gesamtkosten, wie es üblicherweise gehandhabt wird), und der Berichtsgegenstand ist der „Zeitungsverlag", nicht die „Zeitung". Dennoch können diese Angaben etwa auch für Zeitungen übernommen werden, weil Zeitungsverlage mindestens schwerpunktmäßig Zeitungen produzieren. Als fix können folgende Kosten gelten: Personal, die Kosten für freie Mitarbeiter, Pressedienste, bezogene redaktionelle Teile, Post- und Fernmeldegebühren sowie Lizenzgebühren, die hier insgesamt als Kosten der Fremdproduktion bezeichnet werden; weiterhin Mieten, Pachten und Steuern sowie Abschreibung, Zinsen und Werbung. Als variable Kosten gelten Materialkosten, Kosten der Zustellung (ohne Zustellerlöhne) sowie Kosten der fremden technischen Herstellung und des Verbrauchs von Brennstoffen und Reparaturen. Tabelle 2 gibt einen Uberblick über die entsprechend zugeordneten Kosten zugleich nach der Umsatzgröße gegliedert.

Tabelle 2 Fixe und variable Kosten der Zeitungsproduktion 1990 (Kosten der Zeitungsverlage in Prozent vom Umsatz/ Westdeutschland) Fixe Kosten Umsatz von ... bis.... in Mio. DM

Personal

Fremdprod.

Mieten Pacht Steuer

Variable Kosten

Abschr. Zinsen Werbg.

fixe Kosten gesamt

Material

Vertrieb

Fremd. Repar.

var. Kosten gesamt

1 -2

39,1

10,1

2,9

2,1

54,2

19,1

5,0

19,2

43,3

2 -5

43,5

5,9

2,8

2,3

54,5

10,6

3,6

20,9

35,1

5 - 10

36,6

6,3

4,7

4,1

51,7

9,4

3,7

19,4

32,5

10-25

40,9

6,2

4,0

5,1

56,2

12,9

5,2

11,6

29,7

25-50

34,1

5,2

4,7

3,6

47,6

12,2

4,9

16,0

33,1

5 0 - 100

44,9

3,6

4,1

4,6

57,2

15,8

2,8

11,6

30,2

> 100

35,4

3,8

3,4

6,2

48,8

18,3

6,5

11,4

36,2

insgesamt 1

39,2

5,9

3,8

4,0

52,9

14,0

4,5

15,7

34,2

1) ungewichtetes arithmetisches Mittel (Quelle: Pressestatistik)

Der Anteil der als variabel klassifizierten Kosten liegt nach der amtlichen Pressestatistik mithin bei gut einem Drittel; dies deckt sich mit den vorstehenden Schätzungen auf der Grundlage der Erhebung des BDZV. Der Anteil der fixen Kosten, die direkt zuzuordnen sind, beträgt gut 50 Prozent, den Rest umfassen die „sonstigen Kosten", die nicht exakt

108

Zeitungsmärkte: Ökonomische Grundlegung zentraler Kommunikations· und Kulturräume zugerechnet werden können, im Zweifel aber eher als fixe Kosten gelten sollten. Ich würde insgesamt einen Fixkostenanteil von gut 60 Prozent veranschlagen. Eine Fixkostendegression ist für die Zeitungsproduktion mithin von großer Relevanz, allerdings ist ihr Ausmaß deutlich geringer als bei der Rundfunkproduktion, bei der nur fixe Kosten entstehen.

1.3. Kosten einer Segmentierung der Zeitungsproduktion Eine Massenproduktion von Gütern allgemein und Zeitungen speziell ist nicht nur deshalb ökonomisch effizient, weil hier Economies of Scale bzw. Fixkostendegressionen realisiert werden können, sondern weil umgekehrt eine segmentierte Kleinserienproduktion spezielle Kosten begründet, die die Massenproduktion homogener Güter nicht zu tragen hat. Dies sind - Kosten der Marktforschung und - Kosten der Zustellung. Kosten der Marktforschung entstehen, wenn Unternehmen allgemein und Zeitungsverlage speziell die Präferenzen ihrer Kunden herausfinden wollen. Eine solche Marktforschung ist gerade für Zeitungsverlage schwierig und teuer, weil die Präferenzen der Leser recht diffus sind, weil sie sich auf einen umfangreichen Komplex von Informationen richten und weil die Präferenzen im Prinzip von Tag zu Tag Wandlungen unterworfen sind. Daher ist es ökonomisch effizient, ein breites Informationssortiment anzubieten und dem Leser die Auswahl zu überlassen. „Die Masse könnt Ihr nur durch Masse zwingen, ein jeder sucht sich endlich selbst was aus. Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen" (Goethe, Faust, Vorspiel auf dem Theater). In diesem Sinn ist die Produktion einer umfangreichen Zeitung mit vielfältigen Inhalten ökonomisch rational, auch wenn hohe Streuverluste entstehen. Die Kosten der Produktion von Streuverlusten substituieren hier die Kosten einer Marktforschung. Je größer die Kosten der Marktforschung, desto umfangreicher sollte ceteris paribus die Inkaufnahme der Produktion von Streuverlusten sein. Große Streuverluste wären also zu vermuten bei täglicher Produktion für diffuse Zielgruppen, kleinere Streuverlust bei weniger häufiger Produktion für klar konturierte Zielgruppen. Also sollten die Streuverluste bei Zeitungen sehr groß sein, und so ist es , wie ζ. B. die Allensbacher Nutzungsumfragen ergeben (vgl. BDZV-Jahrbuch Zeitungen '99: 413). Nur drei Sparten, nämlich Lokales, Innenpolitik und Außenpolitik werden von mehr als der Hälfte der Befragten regelmäßig gelesen, die restlichen elf Sparten werden von weniger als der Hälfte der Bevölkerung regelmäßig gelesen. Mithin ist der größte Teil der Zeitungsproduktion als Streuverlust zu charakterisieren. Die hohen Marktforschungskosten verstärken also den Trend zur Massenproduktion, weil es lohnender erscheint, einen gesamten Markt mit einem Massenprodukt abzudekken, aus dem jeder Leser sich das für ihn Passende heraussuchen kann, als alle Rezipientensegmente seperat zu versorgen. Das liegt letztlich daran, daß der Hauptteil der Kosten fix ist - nämlich die Kosten der Informationsproduktion - und daß eben nur ein kleiner Teil der Kosten durch die Produktion der Streuverluste erhöht wird - im wesentlichen nur die Kosten für Papier und einige variable Druckkosten. Und auch wenn die Rezi-

109

Jürgen Heinrich pientenpräferenzen detailliert bekannt wären - Rezipient X will ζ. B. nur lokalen Sport und Anzeigen, Rezipient Y will Außenpolitik, Kultur und Lokales usw. - wäre es immer noch billiger, das gesamte Produkt Sortiment in hoher Auflage zu produzieren und an alle Rezipienten gleichermaßen zu liefern, als jeweils spezielle Kombinationen in kleiner Auflage zu produzieren und an spezielle Kundengruppen zu liefern, weil die Spezialisierung von Produktion und Vertrieb nur wenig Ressourcen einspart - lediglich im Printbereich werden einige Papier- und Druckkosten gespart - dafür aber zusätzliche Zustellkosten impliziert. Bei einer sachlichen Segmentierung nach Interessensgebieten müßte die Zustellung das teure, adressierte Zustellverfahren der Post übernehmen: Die Produktion müßte segmentiert werden und die Zeitungsexemplare müßten nach den Adressen in der Reihenfolge der Zustellung vorsortiert werden und der Zusteller müßte diese adressierte Zustellung innerhalb eines sehr engen Zeitrahmens bewerkstelligen (vgl. Breyer 1999: 80ff.). Bei einer räumlichen Segmentierung, wie sie bei lokalen und regionalen Abonnementzeitungen üblich ist, wird die Zustellung erheblich vereinfacht: Hier kann sich die Vorsortierung an den Abladestellen der Tourenfahrer und der Bunden pro Zusteller orientieren, eine adressengenaue Vorsortierung und Zustellung kann entfallen. Dies ist eine relativ einfache Form der Vorsortierung, die mithin die Zustellung auch von Stadtteilausgaben möglich macht. Diese speziellen Segmentierungskosten entfallen, wenn im Zuge der Digitalisierung von Informationsproduktion und -vertrieb ein aktiver und selektiver Zugriff auf das Informationsangebot der Zeitungsverlage durch die Rezipienten möglich und bezahlbar wird. Bislang aber verhindern Marktforschungs- und Zustellkosten eine weitreichende Segmentierung der Zeitung.

2. Marktbegrenzende Faktoren Der medienpolitisch nicht gewünschte Trend zu einer immer billiger zu erstellenden Massenproduktion wird gebrochen durch - eine räumlich oder sachlich begrenzte Nachfrage und - durch Distanzüberwindungskosten. Ergänzend können negative Agglomerationseffekte wie steigende Immobilienpreise, steigende Lohnkosten oder Kongestionsphänomene im Verkehr eine räumlich zentralisierte Massenproduktion beschränken, doch sollen diese hier nicht weiter thematisiert werden, weil sie für Zeitungen keine große Rolle spielen. 2.1. Segmentierung durch Nachfrage Die Herausbildung von Konsumentenpräferenzen zu erklären, ist nicht Gegenstandsbereich der Wirtschaftswissenschaft. Die Wirtschaftswissenschaft nimmt an, daß die Präferenzen der Konsumenten durch die Lebensumstände, durch Produktinnovationen und Werbung beeinflußt oder gebildet werden, daß sie aber kurz- und mittelfristig als konstant angenommen werden können und daß sie generell recht stabil sind (vgl. ζ. B.

110

Zeitungsmärkte: Ökonomische Grundlegung zentraler Kommunikations· und Kulturräume Becker 1993, S. 3). Weiter kann man davon ausgehen, daß die Präferenzen der Menschen unterschiedlich sind (der eine liebt Rotwein, der andere trinkt lieber Bier) und daß die Präferenzen räumlich geprägt sind. Tradition, Sozialisation in einer bestimmten Umwelt und die Einbindung in eng begrenzte Kultur- und Wirtschaftsräume dürften eine Differenzierung der Präferenzen begründen. Letztlich ist die Unterschiedlichkeit der Präferenzen immer an sachlich unterschiedlichen Wahlhandlungen zu erkennen (der eine Konsument kauft Bratwurst und der andere Konsument kauft Weißwurst), aber aus analytischen Gründen ist es zweckmäßig, eine rein räumliche Segmentierung der Präferenzen von einer rein sachlichen Segmentierung zu unterscheiden. Bei einer räumlichen Segmentierung ist die Unterschiedlichkeit der Präferenzen räumlich begrenzt, bei einer sachlichen Segmentierung ist die Unterschiedlichkeit räumlich verstreut. Die Wirtschaftswissenschaft erklärt die konkrete Wahlhandlung der Konsumenten, den Kauf, immer im Zusammenspiel von Präferenzen und Preisen: Der Konsument kauft die Güterkombinationen, die ihm einen maximalen Nutzen erbringen, und berücksichtigt dabei Präferenzintensitäten und Preisunterschiede. So mag ein Konsument eine große Vorliebe für Bordeaux-Rotweine haben, aber dennoch Valpolicella-Weine kaufen, weil sie erheblich billiger sind. Je differenzierter und atisgeprägter die Präferenzen sind, desto weniger läßt sich ein Konsument von niedrigen Preisen verleiten, ein Produkt zu kaufen, das er eigentlich wenig schätzt. Hier bestehen individuelle Unterschiede, aber das Grundprinzip, auch bei konstanten Präferenzen, zunehmend das billigere Produkt zu kaufen, dürfte generell gültig sein. Irgendwann dürfte für jeden Konsumenten der Punkt erreicht werden, an dem er das eigentlich präferierte teure Qualitätsprodukt durch ein weniger geschätztes billiges Massenprodukt substituiert (Substitutionsprinzip). Wenn also ein Markt durch eine stark segmentierte Nachfrage eng begrenzt ist, ist diese enge Segmentierung nur dann langfristig durchzuhalten, wenn die konkurrierenden Produkte nicht billiger sind und langfristig nicht immer billiger werden. Dies ist aber gerade bei Medienproduktionen zu erwarten: Auf Grund der signifikanten Fixkostendegression bei allen Medienproduktionen wird gerade im Medienbereich das Massenprodukt pro Kopf gegenüber dem Minderheitsprodukt immer billiger, und irgendwann dürfte für jeden Rezipienten der Punkt erreicht sein, an dem er das teure Minderheitsprodukt dann doch durch das relativ immer billiger werdende Massenprodukt substituiert, obwohl er nach wie vor eigentlich das Minderheitsmedium präferiert. Nachfolgend mögen die Präferenzen sich auch wandeln, etwa dadurch, daß die Rezipienten sich an die Massenmedien gewöhnen und ihre Erinnerung an Minderheitsmedien verblaßt.

2.2. Marktbegrenzung durch Distanzüberwindungskosten

Distanzüberwindungskosten begrenzen die Ausdehnung von Märkten und damit die arbeitsteilige Massenproduktion, weil die räumlich zentralisiert erstellten Produkte zum Ort des Konsums transportiert werden müssen. Insofern begrenzen Distanzüberwindungskosten die Vorteilhaftigkeit großbetrieblicher Produktion und die mögliche Degression der fixen Produktionskosten, insbesondere bei transportkostenintensiven Produkten wie ζ. B. Ziegelsteinen oder Zement. 111

Jürgen Heinrich In Anderungsraten gedacht, werden die Märkte immer dann ausgedehnter, wenn die Distanzüberwindungskosten (Transportkosten, Zölle, nichttarifäre Handelshemmnisse) stärker sinken als die Produktionskosten. Ein Beispiel mag dies zeigen. Die Produktionskosten im Standort Α betragen 100 DM, im Standort Β 150 DM und die Distanzüberwindungskosten betragen 60 DM. Ein Handel findet mithin nicht statt. Wenn nun alle Kosten halbiert werden, so betragen die Produktionskosten in A 50 DM, in Β 75 DM und die Distanzüberwindungskosten betragen 30 DM. Ein Handel lohnt immer noch nicht. Erst wenn die Distanzüberwindungskosten stärker sinken als die Produktionskosten, also ζ. B. auf ein Drittel reduziert werden, findet ein Handel statt: Die Produktionskosten in Α betragen 50 DM, in Β 75 DM und die Distanzüberwindungskosten betragen 20 DM; diese Konstellation macht den Handel von Α nach Β lohnend. Eine solche Reduktion der Distanzüberwindungskosten relativ zu den Produktionskosten ist das entscheidende Movens der Globalisierung des Wettbewerbs, der zur Zeit in fast allen Bereichen der Wirtschaft spürbar wird. „Death of Distance" (Cairncross 1997) wird dies bisweilen genannt, oder man spricht von „the End of Geography" (O'Brien 1992). In diesem Sinne führt die technische Entwicklung im Multimediabereich zu einer Globalisierung des Wettbewerbs im Medienbereich. Eine Umkehrung dieser Entwicklung ist nicht in Sicht, also wird die Marktbegrenzung durch Distanzüberwindungskosten tendenziell an Gewicht verlieren. Im Zuge einer solchen Globalisierung wird die räumliche Bindung der Wirtschaft natürlich nicht aufgehoben, weil Produktions- und Konsumprozesse räumlich gebunden bleiben; es entstehen aber neue Ballungszentren mit neuen konzentrierten Medien- und Kommunikationsanforderungen, etwa im Bereich von Telekommunikation, Rundfunk, Verlagswesen und Werbung (vgl. ζ. B. Mosco 1999). Hier bleibt eine räumliche Bindung der Nachfrage nach Informationen prinzipiell erhalten.

2.3. Räumliche Bindung der Nachfrage nach

Information

Eine starke räumlich enge Bindung der Nachfrage nach Information kann theoretisch begründet und empirisch beobachtet werden. Die Menschen interessieren sich für Ereignisse, zu denen sie einen persönlichen Bezug herstellen können, die von Relevanz für sie sind, und der primäre Bezug wird durch eine räumlich begründete Bekanntheit hergestellt. Ergänzend nur treten sachlich begründete Bezüge hinzu. Eine solche starke räumliche Bindung der Informationsnachfrage wird bestätigt ζ. B. durch die Allensbacher Leser-umfragen: Danach geben 85 Prozent der Befragten an, daß sie „lokale Berichte hier aus dem Ort und der Umgebung" im allgemeinen immer lesen, andere Bereiche wie Innenpolitik (68 Prozent), Außenpolitik (53 Prozent) oder Wirtschaft (34 Prozent) folgen mit deutlichen Abständen (BDZV-Zeitungen '99: 413; Ursprungsdaten Institut für Demoskopie Allensbach). Indiz dafür ist auch die mengenmäßige Angebotsstruktur von lokalen/regionalen Abonnementzeitungen in Deutschland: So bieten die Zeitungen des Ruhrgebiets zu über 70 Prozent lokale Informationsangebote (einschließlich lokaler Sport und lokale Werbung). Eine starke räumliche Bindung der Nachfrage nach Informationen ist auch und gerade im Bereich der Werbung zu beobachten. Werbung hat für die Rezipienten nur dann einen Informationsnutzen - von einem möglichen Animationsnutzen sei hier abgesehen 112

Zeitungsmärkte:

Ökonomische Grundlegung zentraler Kommunikations-

und

Kulturräume

wenn die beworbenen Angebote wenigstens potentiell in den Begehrskreis der Rezipienten fallen. Dabei wird die örtliche Grenze für den Kreis potentieller Handelspartner durch die Transaktionskosten im Verhältnis zum Marktwert der Güter und Dienstleistungen bestimmt. Diese Grenze kann mithin nicht generell und exakt bestimmt werden, indes gilt auch hier, daß die Masse der Werbebotschaften sich entweder an einen örtlich eng begrenzten Kreis von Handels- bzw. Ansprechpartnern richtet oder an einen nur national/international zu begrenzenden Kreis (Markenartikelwerbung). Dies liegt daran, daß die Distribution von Gütern und Dienstleistungen überwiegend an einen Ort gebunden ist. So werben lokal gebundene Anbieter typischerweise nicht für ein bestimmtes Produkt oder eine bestimmte Marke, sondern für die örtliche Einrichtung des Verkaufs. Distanzüberwindungskosten schließen einen „täglichen" Einkauf in entfernten Zentren aus. Eine solche lokale Werbung erreicht ein beträchtliches Volumen: Bei Abonnementzeitungen in Deutschland beträgt der Umsatz aus Anzeigen/Beilagen 1998 9297 Millionen DM, davon entfallen rund 90 Prozent auf lokale/regionale Werbung wie lokale Geschäftsanzeigen, Stellenanzeigen, Immobilienanzeigen, Kfz-Markt-Anzeigen oder Familienanzeigen. Hinzu kommt die lokale Werbung im Rundfunk, die auf etwa 200 Millionen D M veranschlagt wird (Heinrich 1999), und die Werbung in Anzeigenblättern (3300 Millionen DM). Mithin erreicht die lokale Werbung ein beträchtliches Volumen von rund 30 Prozent der Werbung insgesamt. Wenn es aber ein beträchtliches Volumen an räumlich eng begrenzten Informationen gibt, dann ist zu fragen, in welchem Medium diese am effizientesten verbreitet werden können, in welchen Medien also die Zustellkosten pro Kopf am geringsten sind. Hier muß man unterscheiden zwischen den Medien, die nur fixe Zustellkosten aufweisen wie die Informationsverbreitung über Satellit und die Terrestrik, und Medien, die im wesentlichen variablere Zustellkosten pro Kopf aufweisen wie die Informationsverbreitung durch die Post, durch Zusteller oder durch materielle Kommunikationsnetze wie Kabelnetze, Telefonnetze oder das Internet. Die Informationsverbreitung über Satellit und die Terrestrik ist effizient für die Versorgung großer Räume, weil die Fixkostendegression mit steigender Zahl der Rezipienten zu kontinuierlich sinkenden Kosten der Informationsverbreitung führt. Die Informationsverbreitung durch die Post, durch Zusteller oder durch materielle Kommunikationsnetze eignet sich dagegen für eine räumlich eng begrenzte Zustellung, weil im wesentlichen nur variable Zustellkosten anfallen, die unabhängig sind von der Zahl der Informationsempfänger. In diesem Feld sind Printmedien wie die Zeitung und das Anzeigenblatt besonders effiziente Medien einer räumlich begrenzten Informationsverbreitung, weil sie die räumliche Segmentierung ohne Zusatzkosten realisieren können. So kann die Zeitung als das Medium bezeichnet werden, das (neben dem Anzeigenblatt) die effizienteste räumliche Segmentierung der Verbreitung von Informationen bietet. Konkurrenz erwächst der Zeitung durch das Internet, jedenfalls dann, wenn Rezipienten dazu übergehen, die von ihnen gewünschten Informationen aktiv abzurufen. Und Konkurrenz erwächst der Zeitung als Lokalmedium durch den terrestrisch oder über Satellit verbreiteten Rundfunk, weil sich im Zuge der Digitalisierung des Rundfunkprogrammvertriebs die - fixen - Vertriebskosten deutlich verringern. Dies macht dann tendenziell auch eine räumlich begrenzte Rezeption lohnend, obwohl erhebliche Streuverluste der Zustellung resultieren. 113

Jürgen Heinrich 2.4. Distanzüberwindungskosten für

Informationen

Distanzüberwindungskosten für Informationen sind im Zeitablauf mit der Erfindung von Telefon und Telegraf, mit der Erfindung von Rundfunk und mit der Digitalisierung der Vertriebsnetze in großen Schritten kontinuierlich gesunken; heute spielen Distanzüberwindungskosten für Informationen per se praktisch keine Rolle mehr. Eine räumliche Begrenzung von Informationsmärkten vermögen sie nicht mehr zu begründen. Allerdings verursacht die papiergebundene Verbreitung von Informationen Distanzüberwindungskosten: Etwa 30 Prozent der Kosten der Zeitungsproduktion sind Verbreitungskosten (Papier, Vertrieb) der Information. Dies könnte die Ausdehnung von Zeitungsmärkten beschränken. Da aber die Zeitungsinhalte, die Informationen, weltweit sehr schnell und sehr billig verbreitet werden können und der Druck dezentralisiert möglich ist, entfällt auch für den Zeitungsmarkt die Begrenzung durch Distanzüberwindungskosten.

3.

Zusammenfassung

Das Massenmedium Zeitung ist prinzipiell den gleichen ökonomischen Zwängen von Minderheitsangeboten unterworfen wie jedes andere Massenmedium. Die Degression der fixen Kosten der Produktion der Inhalte begründet auch für die Zeitung die Vorteilhaftigkeit einer Massenproduktion, die Vorteilhaftigkeit einer Ausdehnung von Märkten. Indes sind diese ökonomischen Mechanismen für die Zeitung deutlich weniger ausgeprägt als für den Rundfunk. Die papiergebundene Zustellung erlaubt eine effiziente räumliche Segmentierung von Produktion und Vertrieb, die der Rundfunk nicht bieten kann. Diese räumliche Segmentierung wird veranlaßt durch die räumliche Bindung der Nachfrage nach Informationen und vor allem durch die räumliche Segmentierung der Nachfrage nach Werbebotschaften. Literatur B D Z V (Hrsg.) (1999), Jahrbuch Zeitungen '99, Bonn. Becker, Gary S. (1993), Ökonomische Erklärung menschlichen Verhaltens. 2. Aufl. Tübingen . Breyer, Thomas (1999), Alternative Zustelldienste und Transportkonzepte im Pressesektor. Bonn. Cairncross, Frederic (1997), T h e Death of Distance. Boston. Heinrich, Jürgen (1989), Das Potential der Werbeeinnahmen für lokale Hörfunkstationen in NordrheinWestfalen. In: Schriftenreihe der Landesanstalt für Rundfunk Nordrhein-Westfalen. Bd.3. Essen. Heinrich, Jürgen (1994), Medienökonomie Band 1: Mediensystem, Zeitung, Zeitschrift, Anzeigenblatt. Opladen. Heinrich, Jürgen (1999), Medienökonomie Band 2: Hörfunk und Fernsehen. Opladen und Wiesbaden. Monopolkommission (1986), Hauptgutachten VI: Gesamtwirtschaftliche Chancen und Risiken wachsender Unternehmensgrößen. Baden-Baden. Mosco, Vincent (1999), New Y o r k . C o m : A Political E c o n o m y of the „Informational" City. In: T h e Journal of Media Economics, 12. Jg., Η . 2, S. 103-116. O'Brien, Richard (1992), Global Financial Integration and the End of Geography. N e w York. Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Pressestatistik, lfd. Jahrgänge.

114

Claus Eurich

Zeitgeber Zeitung. Uber ein unterschätztes Medium Medienhandeln ist Zeithandeln - auf der Kommunikatoren- und der Rezipientenseite. Es ist Handeln in der Zeit und mit der Zeit, und es (er)schafft Zeitperspektiven, Zeitbewußtsein und Zeit-Räume - bewußt und/oder unbewußt. Es stiftet Bezugsrahmen für „Wandlungskontinuen" (Elias 1984: 43) des Einzelnen und der Menschheit insgesamt. In der Trivialität dieser Aussage liegt dabei - kommunikationswissenschaftlich betrachtet vermutlich das entscheidende Problem. Denn das Selbstverständliche und Unhinterfragte gerät eben ob dieser Selbstverständlichkeit selten in den Fokus wissenschaftlicher Problematisierung, zumindest was empirische Bezüge betrifft. Es ist (allgegenwärtig, wohl umschreibbar, jedoch kaum meßbar. Hier zeigt sich - neben noch nicht überwundenen methodologischen und methodischen Schwächen - vor allem auch das Problem mit einer Existenzialkategorie, deren Grundbedeutung wir zwar erkannt haben, die sich zugleich aber einer intersubjektiven Fixierung auf mehreren Ebenen und in verschiedenen Dimensionen entzieht: Zeit - dieses zugleich subjektive und kollektive und kulturelle und gesellschaftliche Phantom, dessen chronometrisch faßbare Seite eben nur eine Facette darstellt. Im Zuge der Trenddiskussionen über Beschleunigungsfaktoren in der Spätmoderne rückte das Thema Zeit und Medien zwar verstärkt in das wissenschaftliche Blickfeld, doch mit eindeutiger Akzentsetzung bei den elektronischen Medien, insbesondere dem Fernsehen. Die Fernsehzentriertheit der Kommunikations- und Medienforschung spiegelt zwar die gesellschaftlichen und politischen Aufmerksamkeitsverteilungen, was Medien betrifft, sie läuft damit allerdings Gefahr, die zeitkulturelle Leistung der Zeitung - in Vergangenheit und Gegenwart, personen-, gruppen- und gesellschaftsbezogen - zu unterschätzen, ja gelegentlich zu übersehen.1

1. „Sekundenzeiger der Weltgeschichte" Verbesserte technische Verfahren der Herstellung und Verbreitung von Druckerzeugnissen im 19. Jahrhundert sowie ein prosperierender unternehmerischer Geist waren zwar für das Aufkommen der Massenpresse von herausragender Bedeutung; die Schlüsselursache ist jedoch in einem soziokulturellen Wandel zu sehen, aus dem das Bedürfnis nach

Als Untersuchungen, die sich systematisch mit dem Verhältnis von Zeit und Zeitung beschäftigen, vgl. exemplarisch Brons 1959; Wilke 1984, Homberg 1992; Blöbaum 1994; Steinbach 1999 und die dort jeweils angegebene Literatur.

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Claus Eurich Information für große Bevölkerungsteile erwuchs. Massenpresse entsteht, wo eine Masse existiert und wo ein entsprechend breites Bildungsniveau geschaffen wurde, das Interesse weckt und Lesen ermöglicht (vgl. Brons 1959: 13ff.). Der Triumph der Zeitung als Zeichen einer neuen Zeit hängt mit der durchschlagenden Reform des Schul- und Bildungswesens, den sich gesellschaftlich und persönlich verstärkenden Säkularisierungstendenzen sowie dem beginnenden Wandel von einer Kollektiv- zu einer Individualstruktur der bürgerlichen Gesellschaft untrennbar zusammen. W o alte Traditionen kollektiver Verbindlichkeiten sich aufzulösen beginnen und alte Muster der Orientierung und Deutung verschwimmen und an Gestalt verlieren, wächst zugleich das Bedürfnis nach neuen Orientierungsmarken im alltäglichen Leben. U n d dies gilt verstärkt in dynamisch expandierenden Urbanen Strukturen, in denen selbst die nächste Umwelt immer auch mit Unüberschaubarkeit und Fremdheit verbunden ist und es neuer Mittel lokaler Information für den Einzelnen bedarf. Die Zeitung griff die neuen Orientierungsbedürfnisse auf und verstärkte sie. Mehr noch: Sie wurde zum Ausdruck und zum Faktor einer neuen sozialen und zugleich öffentlichen Zeitordnung. In dieser Ordnung tritt neben die fließende Zeit des Alltags die zusammengeschnittene und verdichtete Zeit der gedruckten Information. Es entsteht Aktualität durch die periodische Verdichtung und Erscheinungsweise (vgl. Wilke 1984: 115ff.), wobei Aktualität charakterisiert werden kann einmal durch Differenz und Unterschiedlichkeit von Ereignisgehalten im Zeitrhythmus eben dieser Erscheinungsweise und zum anderen durch die Synchronisation einer wachsenden Zahl von Vorgängen auf allen Ebenen menschlichen Seins. Diese Aktualität hat schließlich neben den publizistischen Komponenten immer auch eine Bewußtseinsdimension auf der Seite der Rezipienten sowie der sozialen Kollektive (vgl. Beck 1994: 233ff.). In der periodischen Wiederkehr rhythmisiert Aktualität das Leben neu bzw. sie fügt der alltäglich gegliederten Zeit ein dynamisierendes Moment hinzu. Diese gesellschaftliche Wirkung der Presse als individueller und kollektiver Zeitgeber ab dem 19. Jahrhundert kann - was die kulturelle Eingriffstiefe betrifft - allenfalls mit der Erfindung und Verbreitung der Uhr verglichen werden; und sie langt doch weit darüber hinaus. Sie führte zu grenz-, nationen- und kulturübergreifender „Gleichzeitigkeit", stellte aktuelle Ereignisse in historische und interkulturelle Bezüge, ja entwarf das persönliche, kollektive und gesellschaftliche Weltbild neu. Der „Sekundenzeiger der Weltgeschichte" wie Schopenhauer das neue Medium bezeichnete, hob zudem den jeweils neuen Tag zu einer noch nicht dagewesenen Bedeutung und gab ihm einen sich täglich erneuernden Aufmerksamkeitswert (vgl. Wenndorff 1980: 417ff.). Das Bewußtsein von Wandel und Dynamik sowie eine kurzfristig rhythmisierte Temporalstruktur waren also die wesentlichen Begleiter der Zeitung auf dem Weg in ihre Selbstverständlichwerdung und damit ihre Unverzichtbarkeit. Vorübergehend steigerte sich die an der Periodizität festzumachende Rhythmisierung in erstaunliche Dimensionen: „Während im 17. Jahrhundert die meisten Zeitungen ein- oder zweimal die Woche erschienen, steigerte sich die Erscheinungshäufigkeit bis zum ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. Nach 1848 gingen immer mehr Zeitungen zu zweimaligem Erscheinen pro Tag, seit den 80er Jahren manche sogar zu drei-und viermaliger Erscheinungsweise am Tag über. Seit 1911 erschien die „Kölnische Zeitung" 25 mal in der Woche. Durch Wirtschaftskrise, die nationalsozialistische Pressepolitik, Krieg und alliierte Lizensierungspraxis sowie durch insgesamt sich wandelnde Lebens- und Medien-

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Zeitgeber Zeitung weiten wurden solch hohe Frequenzen nie mehr erreicht. Sogar die Sonntagsausgaben vieler Blätter wurden eingestellt, schließlich verlagerte sich die Erscheinungsweise deutlich zu den Morgenausgaben (als einziger Tagesausgabe), so daß nicht mehr die Aktualität (auch in der intermediären Konkurrenz) das primäre Kaufmotiv und gewichtigste Verkaufsargument sein kann. Periodische Medien sind in starkem Maße an die lebensweltlichen Rhythmen gebunden und zugleich Teil von ihnen." (Beck 1994: 242f.; vgl. Wilke 1984:39ff.) Wie lassen sich diese lebensweltlichen Rhythmen charakterisieren, und wie hat Zeitung die Beziehung zur Zeit geändert?

2. Schaffung eines raumzeitlichen Bewußtseins Mit der Zeitung beginnt sich in den abendländischen Gesellschaften eine Bindung der Mediennutzer an die mediale Zeitordnung durchzusetzen. Dies vollzieht sich als eine doppelte Bewegung mit gegenseitiger Beeinflussung: Einerseits ist das Medienhandeln lebensstilbestimmt und entsprechenden Routinen und Erwartungen unterworfen; gleichzeitig wirkt es auf den Lebensstil und die Alltagshandlungen zurück und fügt diesen neue Akzentuierungen hinzu. Einen wesentlichen, wenn nicht den Schlüsselakzent machen dabei unter dem Vorzeichen von Zeitperspektiven die Übermittlung und Orientierung an kalendarischen Riten aus (vgl. Pross 1974: 132ff.). Regelmäßig wiederkehrende und sich selbst reproduzierende Ereignisse und Berichterstattungsanlässe prägen nicht nur die Inhaltsplanung der Presse, sie wirken auch auf die Zeit-und Lebenszeitkoordinaten der Rezipienten zurück. Schließlich fordern sie kalenderorientiertes und kalendernotorisches Ritualverhalten von allen - Personen und Gruppen - ab, die zeitungsrelevant und damit zeitrelevant in Erscheinung treten wollen. Dies gilt lokal, regional, national und global, und es gilt, wie gesagt, in jeder Richtung - die produktive und die rezeptive. Die kalendarischen Riten in der Zeitung und die Ritualisierung des Medienhandelns sowohl auf Seiten der Journalisten, vor allem aber der Leserinnen und Leser münden in diesem Ausmaß erstmals in der menschlichen Geschichte in einer Synchronisation an sich unterschiedlicher Zeithorizonte. Synchronisierung ereignet sich bezüglich von Weltzeit und Lokalzeit, von öffentlicher und privater Zeit. Synchronisation findet damit aber auch hinsichtlich von Aufmerksamkeit und Aufmerksamkeitsverteilungen statt (vgl. u. a. Blöbaum 1994: 270ff.). Die Ritualisierung gibt der lebensweltlich und gesellschaftlich bezogenen Rhythmisierung durch Medienhandeln die Grundstruktur. Darin liegt seine umfassende kulturelle Bedeutung. U n d dies hat weitergehende Folgen. Denn Ritualisierung im Alltagshandeln sowie in kognitiven/rezeptiven Prozessen baut auch Erwartungen auf und stellt Erwartungsroutinen her. Hier ergänzen sich die periodischen Erscheinungsweisen, die Wiederkehr der gewohnten und vertrauten Ereignisberichte sowie die routinierte Ereigniszuordnung und -klassifizierung im Genre als Erwartungsgeneratoren. Erwartung hat dabei zwar einen auf den Erscheinungszeitpunkt orientierten Zielpunkt - die grundsätzlich aufgebaute Erwartungshaltung jedoch zeigt sich als im Wesentlichen ununterbrochener Fluß. Die Gewöhnung fördert Nachfrage nach mehr -

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Claus Eurich und zwar kontinuierlich. Ritualisierung duldet keine Verlustzumutung. Dies zeigt sich etwa in Zeiten zwanghafter Einschnitte durch Streik, witterungs- oder zeitungsbotenbedingte ausbleibende Auslieferung der Zeitung (vgl. Berelson 1954: 266-268; Beth/Pross 1976: 119). Die zeitlich-inhaltliche Ritualisierung durch Zeitung hat selbstredend Folgen für die gesellschaftliche Kommunikation. Und zwar wiederum im doppelten Sinne. Einerseits drängt das Medienritual - so wie jedes Ritual - den Diskurs dadurch zurück, daß es sich als Gewohnheitshandeln der Infragestellung entzieht. Andererseits schafft das ritualisierte Medienhandeln regelmäßig Chancen für Anschlußkommunikation. Dies gilt herausragend für den Abdruck von Informationen über Statusübergänge/Lebenskrisen anderer Menschen, sowohl im lokalen Nahraum wie auch im globalen Universum. Todesanzeigen und Todesmeldungen, Berichte und Anzeigen über Geburt, Leid, Erfolg und Scheitern berühren das Bewußtsein vom Status der eigenen Existenz und der anderer verwandter oder bekannter Personen. Im Schicksal des Anderen (Personen, Gruppen, Gemeinschaften) erkenne ich mich oder andere vertraute Menschen wieder - als Ähnlichkeit, in bezug auf Hoffnung, Ängste, Träume, Freude und Leid. Und worüber sonst ließe sich rollen- und sozialstatusübergreifend so formlos unvermittelt kommunizieren wie über „Leben" und „Schicksal". Zeitungsrituale leisten somit inhalts-, ereignis- und zeitbezogen eine kontinuierliche Vergewisserung der Gesellschaft und seiner Elemente über sich selbst. Sie erinnern und bestätigen den subjektiven, kollektiven und kulturellen Sinn. In dieser Funktion haben sie - generalisiert betrachtet - die alten Vergewisserungsinstanzen, wie vor allem die Kirchen, wenn auch nicht abgelöst, so doch auf deren engeren Einflußsprengel rückverwiesen. Mit der Zeitung kam die Welt in die Häuser und in das Bewußtsein der Menschen. Sie überbrückte erstmals Zeit und Raum und stellte in der Ereigniswahrnehmung durch den Leser so etwas her wie die Simultaneität von Ereignis, der Berichterstattung darüber und der Rezeption. Dies sind die Voraussetzungen dafür, daß Grenzen - des Raumes und der Zeit - fallen und sogleich neue raumzeitliche Wahrnehmungs- und Bewußtseinskoordinaten entstehen. Dies gilt für die Welt als ganze; es hat seine gravierendsten Auswirkungen allerdings im lokalen Bezug. Hier stellt Zeitung eine die engere Nachbarschaft überschreitende Nähe und Vertrautheit - vor allem im Urbanen Kontext - erst her. Sie integriert in lokale Identitäten - sachlich, zeitlich und sozial. Man wird gar sagen können, daß in modernen Gesellschaften die Strukturen des lokalen Raumes in der Zeit für den Einzelnen ohne Zeitung kaum erkennbar wären. So gesehen ordnet Zeitung Menschen in den (Zeit-)Raum ein, ja sie läßt ihn erst entstehen! Das auch unterscheidet Zeitung als „Zeitraum-Medium" mit seiner die Orientierung fixierenden und ritualisierenden Periodizität und ihrem herausragenden lokalen Bezug von den elektronischen „Endlos-Medien" (vgl. Neverla 1990). Der Beitrag der Zeitung zur Entwicklung eines raumzeitlichen Bewußtseins und raumzeitlicher Orientierung hat auch eine historisch gerichtete Tiefendimension. Zeitungen prägen wesentlich die zeitgeschichtliche Wahrnehmung. Jürgen Wilke: Sie „vermitteln zeitgeschichtliche Wahrnehmungen nicht nur, indem sie durch ihre Informationen die

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Zeitgeber Zeitung Vorstellungen von den aktuellen Begebenheiten prägen. Sie stellen vielmehr auch immer wieder Bezüge zur älteren oder jüngeren Vergangenheit her, ja greifen direkt Ereignis und Vorgänge der Zeitgeschichte auf. Kann man beim ersten Aspekt von Thematisierung, so beim zweiten von Rethematisierung sprechen" (1999: 24). Zeitungen - und in der Gegenwart selbstredend das Medienamalgam insgesamt formen so ganz entscheidend das Geschichtsbild der Menschen. Sie eröffnen einen Zugang zur Vergangenheit, der sie in der Minuziösität der Darstellung (vgl. Haacke 1970: 166) und durch die jederzeitige, nicht technikgebundene Verfügbarkeit allen anderen Medien überlegen macht. Im Gegensatz - vor allem zu Hörfunk und Fernsehen - stellt das gedruckte Ereignis die abgelaufene Zeit in einen jederzeit zugriffsbereiten Raum. Dies ist nicht nur für das Vergangenheitsbild der Leserinnen und Leser relevant, sondern auch für die geschichtswissenschaftliche Forschung und damit wiederum die systematische Entwicklung und Veröffentlichung von historischen Verständigungshorizonten. Zeitung erlaubt, wie Peter Steinbach konstatiert, „die Vergangenheit nicht nur vom Anfang her zu schildern, sondern Geschichte aus der Mitte, aus den Entwicklungen selbst, darzustellen ... Zeitungen erschließen die Geschichte im vollen Fluß, einem Zeitenfluß, der sein Ziel nicht ahnt." (1999: 47f.) Herausragend wird dies, mehr noch als beim gedruckten Wort, durch das Pressefoto deutlich. Es holt das Vergangene gleichfalls in die Gegenwart, macht es anwesend, präsent, unmittelbar wirklich. Es schafft eine magische Zeugenschaft (vgl. Grossklaus 1994:37f.), ein Dabei- und Inmitten sein, hebt jegliche Distanz auf. Diese Vergegenwärtigung des Geschichtlichen schafft nicht nur Einblicke in das irreversibel Vergangene, es erschafft einen Zeitraum, in dem die Gegenwartszeit in die Geschichte hinein verlängert wird. Zeitungsgeschichte könnte so übrigens auch als Geschichte der raumzeitlichen Durchdringung von Gegenwart und Vergangenheit gesehen und analysiert werden. Und es böte sich weitergehend an, sie zu verlängern in eine Geschichte der Wahrnehmungserweiterung des Menschen; nämlich einer Erweiterung der Fähigkeit zur synthetischen Zusammenschau dessen, was zu verschiedener Zeit geschieht, geschehen ist, geschehen wird. Nur angemerkt werden soll in diesem Zusammenhang die Kehrseite dieser Entwicklung: Wo das raumzeitliche Weltverständnis seine Form und inhaltliche Struktur durch das medial Fixierte entwickelt, ist das Nichtgedruckte wie nicht existent. Usurpiert das Berichtete im Produkt und in der Rezeption Zeit und Raum, so führt das für nicht berichtenswert Erachtete gleichsam aus der gesellschaftlich wahrgenommenen Raumzeit. Mittels der Zeitung als materialisierter Zeit-Raum-Darstellung kommt es schließlich zu einem wechselseitigen Vermittlungsverhältnis der Raum-Zeitverständnisse von Journalisten und Rezipienten. (Vgl. Beck 1994: 173ff.) Greifen die Zeitgestalten der Zeitung grundlegend in das Zeitverständnis der Leser ein, so wirkt das Wissen/Erahnen der Journalisten über eben diesen Eingriff und eben diese Ordnung wiederum auf die Zeitgestalt des Kommunikatorhandelns zurück. Beide Zeithorizonte verbinden sich unsichtbar und oft unbewußt und bestätigen sich gegenseitig und kontinuierlich im Rhythmus der Periodizität.

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3. Zeitungsjournalisten in der Zeitzange Der Sinn des journalistischen Tuns liegt darin, Zeit zu verdichten, Zeitausschnitte festzuhalten und den Ereignisstrom punktförmig aufzubereiten - und das kontinuierlich. Das journalistische Handeln war deswegen von seinen Anfängen an in strenge zeitliche Strukturierungen eingebunden, um die Beziehung von Ereignisvielfalt, Selektionsdruck und thematischer Aufbereitung termin- und produktbezogen angemessen zu gestalten. Die Herausbildung spezifischer Redaktionszeiten war und ist eine zwingende Folge. (Vgl. Rühl 1992) Der Redaktionsschluß als fixer Zielpunkt der täglichen Redaktionszeit und die tageszeitliche Ballung der unterschiedlichen Ereignisdimensionen auf den Nachmittag und Abend engen die Handlungsspielräume innerhalb der Redaktionszeit tagesablaufbezogen erheblich ein. Es entsteht ein alltäglicher Zeitdruck, der mit der allgemeinen Beschleunigung der gesellschaftlichen Zeitabläufe und mit der Zunahme an Unüberschaubarkeit der gesellschaftlichen Vorgänge und deren Entgrenzung durch Internationalisierung und Globalisierung wächst und sich verstärkt. Beschleunigung und Verdichtung im Pressejournalismus der Gegenwart wurzeln daneben im Bedeutungswandel der Technik. Bis Mitte der 80er Jahre des 20sten Jahrhunderts beschränkte der Journalismus sich darauf, Inhalte zu liefern, die in anderen Arbeitsprozessen technisch in Produkte umgesetzt wurden. Die heutige integrative digitale Technik mit der Schnittstelle Computer fordert vom einzelnen Journalisten gemeinhin auch die Produktgestaltung bis hin zum fertigen Seiten-Layout - zusätzlich zur inhaltlichen Arbeit. Und das geschieht zumeist ohne Zeit-Ausgleich. Darauf, daß der „Fortschritt der Maschinenwesen", auch was die zeitliche Erstreckung des Druckbeginns anbelangt, immer eher zur zeitlichen Verlängerung und Intensivierung der journalistischen Arbeitszeit als zu deren Verkürzung oder Entzerrung führt, wies bereits Otto Groth 1930 (148) hin. In diesem Zusammenhang muß zudem die dramatisch gewachsene Konkurrenz auf dem Medienmarkt gesehen werden. Beschränkte sich in der Vergangenheit Konkurrenz auf den Wettbewerb innerhalb der Presselandschaft, so stehen die Zeitungen heute intermedial und multimedial in einem Konkurrenzverhältnis. Einerseits nimmt dies von der Zeitung und den Pressejournalisten etwas von dem Aktualitätsdruck, unter dem sie stehen, weil die elektronischen Medien partiell klassische Zeitungsfunktionen mit übernommen haben; andererseits erhöht sich der Druck gerade durch die technisch induzierten Möglichkeiten, Recherche und Produktion zu beschleunigen und den Zeitpunkt des Andrucks der Zeitung immer weiter nach hinten zu verlagern. Wachsende Konkurrenz bei sich erweiternder Angebotspalette an journalistischen Produkten zwingt schließlich dazu, das eigene Produkt deutlicher von anderen abzugrenzen. Viele ineinander verflochtene Faktoren setzen also den Zeitungsjournalismus und Journalismus insgesamt einem strengen Zeitdruck und Zeitdiktat aus. Es gibt wohl keinen anderen Beruf, in dem Vergleichbares gilt: Ununterbrochener Informationsstrom, der Druck, Neues zu entdekken, zu formulieren und kurzfristig als Produkt zu gestalten - und zwar täglich, unabhängig vom persönlichen Befinden und den äußeren, oft belastenden Arbeitsbedingungen in der Redaktion. Eine verbreitete Folge ist Streß, der durch Bildschirmarbeit, unregelmäßige Arbeitszeiten und Terminkollisionen zwischen Beruf und Privatleben verstärkt wird. Freie Pressejournalisten, die gleichsam stücklohnbezogen arbeiten müs-

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Zeitgeber Zeitung sen, sind hier allerdings stärker betroffen als Festangestellte. Fehlende persönliche Anerkennung für die im Zeitdruck erbrachten Leistungen und ein gesellschaftliches Klima, das dem Journalismus gegenüber an sich negativ eingestellt ist, mögen ein übriges bewirken. Folgen sind unter anderem der Mißbrauch von Alltagsdrogen wie Kaffee, Nikotin und Alkohol, die für den Beruf typisch sind. Kurzfristig steuern sie den Stressoren zwar entgegen, langfristig verstärken sie sie und führen zur Abhängigkeit. Diese wird allerdings nur in Ausnahmefällen eingestanden.2 Ein journalismusspezifisches Problem, das den aktuellen Journalismus insgesamt betrifft, liegt in den verdichteten Arbeitsphasen vor dem Redaktionsschluß. Der gesteigerte Streß in dieser Zeit führt - wie allgemeine Erkenntnisse der Streßforschung zeigen - zu gesteigerten Hormonausschüttungen, an die der Körper sich gewöhnt und die er so auch täglich wieder nachfragt. Ein gleichsam künstlich geschaffener Arbeitsdruck (der nicht unbedingt im Themen-und Zeitdruck allein wurzelt) und die „Nachfrage nach Streß" sind oft die unbewußte Folge. Streß selbst kann so schnell zum (Uber)Lebenselixier werden. Schließlich mag noch etwas auf das besondere Verhältnis von Zeitungsjournalisten zur Zeit hinweisen. Der mehr oder weniger tägliche Arbeits- und Zeitdruck sowie die oft gesellschaftlich unüblichen Arbeitszeiten bringen es mit sich, daß Journalisten sich überproportional oft im eigenen innerjournalistischen Milieu bewegen und dort auch ihre außerfamiliären Kontakte pflegen. Dies führt in Verbindung mit den anderen zeitspezifischen Arbeitsbedingungen zu einem spezifischen Zeitempfinden sowie einer spezifischen Umwelt- und Mitweltwahrnehmung, die wohl auch wieder auf das Weltund Gesellschaftsbild und dessen journalistische Umsetzung und damit Weitergabe an die Leserinnen und Leser zurückwirkt. Leider liegen auch hier noch keine fundierten Forschungsergebnisse, die arbeitsmedizinisch und psychologisch abgesichert sind, vor.

4. Zeitstabilität im Fluß der Gleichzeitigkeiten - die Zukunft der Zeitung Mit der Entwicklung und Verbreitung der elektronischen Medien stellt sich für die Tageszeitung die Existenzfrage. Dies ist hier nicht im Sinne eines Verschwindens des tagesaktuell gedruckten Wortes zu sehen, sondern eher hinsichtlich des Spielraumes, den tagesperiodische Druckangebote in einem multimedial und inhaltlich und zeitlich sich auflösenden Horizont bewahren und ausfüllen können. Gewiß sind in dieser von so zahlreichen unterschiedlichen Variablen - kultureller, politischer, ökonomischer, technischer, sozialer und personaler Natur - abhängigen Frage Prognosen schwierig und riskant, doch es drängen sich Vermutungen mit einem hohen Grad an Triftigkeit auf. Als 2

Diesen Feststellungen liegen Erfahrungen zugrunde, die ich in zahlreichen Seminaren mit Journalistinnen und Journalisten z u m Thema J o u r n a l i s m u s und Zeiterfahrung" sammeln konnte. Was Phänomene der Zeitverdichtung, des körperlich-geistig-seelischen Stresses und der „Streßbewältigung" durch Alltagsdruck betrifft, ist eine mehr oder weniger konsequente Verdrängung bereits bei Berufsanfängern festzustellen.

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Ausgangsthese kann dabei formuliert werden: Die auch in die Zukunft hineinreichende Unentbehrlichkeit der Zeitung folgt, verglichen mit dem elektronischen Universum, gerade aus ihrer Invarianz bezüglich Form, Präsentation und Periodizität des Inhaltsangebots sowie der Zugangs- und Ortsunabhängigkeit in Bezug auf die Nutzung. Unbestritten hat die Zeitung mit dem Aufkommen der elektronischen Konkurrenz an Punkt- und Flußaktualität verloren. In der Jagd nach dem, was das gerade Passierte und Rezipierte bereits wieder überholt und es vergessen macht, geht die Zeitung gemessenen Schritts am Ende der hetzenden Meute. Aber sie vermag ihre „periodische Aktualität" (vgl. Traub 1933: 9ff.) zu einem neuen Gütezeichen zu entwickeln, indem sie statt geschichtslos in den Raum des Öffentlichen geworfener Flüchtigkeiten dem Ereignis seine historische Gewordenheit und seinen diachronischen Gehalt erhält. Sie kann dem Rezipienten eine Tiefe bieten, die Zeit, Zeitströmungen und Vorkommnisse in der Zeit verstehbar machen und sie einordnen läßt in alltägliche Bezüge - ohne den Rezeptionsdruck, den die meisten elektronischen Informationsangebote mit sich bringen. Unterstützt wird dies durch den ganzheitlich assoziativen Charakter des Lesens, der im Blättern der Zeitungsseiten immer auch mit dem Nichtgesuchten und nicht gezielt Ausgewählten konfrontiert, entsprechende Interessen weckt und so überraschende Verbindungen und Bezüge herzustellen vermag. Trotz ihrer nicht zeitpunktgebundenen Rezeption schafft bzw. bewahrt die Zeitung im dahinrauschenden elektronischen Fluß der Bilder und Töne Zeit-Stabilität, erhält sie mit ihrer Periodizität einen Zeit-Rhythmus, der auch ein sozialer Rhythmus ist. Ihre tagesperiodische Aktualität gewinnt damit auch - verglichen etwa mit den ununterbrochenen 24-Stunden-Angeboten der Online-Medien und Nachrichtenkanäle - eine verstärkt qualitative wissens- und erfahrungsbezogene Dimension. Dieses zeit- bzw. sozialzeitstabilisierende Moment der Zeitung erhält zusätzliche Bedeutung durch eine allgemeine und fortschreitende Verflüchtigung/Endtaktung der gesellschaftlichen Zeitstruktur sowohl in der Arbeitswelt als auch den Reproduktionsbereichen. Was in dem kulturellen Prozeß des dynamischen Wachstums technisch bedingter Beschleunigungsraten oft als Wettbewerbsnachteil der Presse betrachtet wird, zeigt sich in sozialzeitlicher Hinsicht als unschätzbarer Vorteil. Denn wo die Welt nur noch zu einem Konglomerat von Ereignissen verschmilzt, wo Zeit, Tageszeit, Lebenszeit, kosmische Zeit nur noch zerstückelt werden in sich jagende, sich überbietende und sich gegenseitig als überholt bezeichnende Flüchtigkeiten, da verliert eine Gesellschaft die Beziehung zu sich selbst, zu ihrer Gegenwart und ihrer Geschichte. Wo nur das Diktat der Macht des Augenblicks gilt, wo die Langfristigkeit keine pflegende Zuwendung erfährt, da verschwinden viele Maßstäbe. Solche Gesellschaften sind heillos in sich selbst und ihrer Augenblicklichkeit verbannt. Sie finden Konstanz des Lebens lediglich noch in der äußeren und in der inneren Mobilität, in der Geschwindigkeit, im Hasten und Unterwegssein. Dem Pressejournalismus kommt in diesem Kontext eine zukünftig noch gesteigerte Bedeutung zu. Sie liegt in der Öffnung des diachronischen Blicks, in dem Durchschaubarmachen von Zusammenhängen und dem Herstellen von Verbindungen zwischen den Ereignisfaktoren. Auch wird der Auftrag noch bedeutender, das in Wort und Druck zu sichern, was ansonsten bald verloren und vergessen wäre - sprich der Chronistenpflicht, 122

Zeitgeber Zeitung vor allem auch lokal und regional, nachzukommen. Das jedoch fordert soziale, kommunikative und vor allem Zeitkompetenzen, die über der Verhaftung im Augenblick und im Zeitgeist stehen. Es sind Kompetenzen, die in der journalistischen Professionalisierungsdebatte bislang noch unzureichend erkannt worden sind und entsprechend geringe Berücksichtigung in Ausbildungskonzeptionen gefunden haben. (Vgl. Eurich 1998)

5. Konsequenzen für die Zeitungsforschung Der Stellenwert von Zeit ist in der Zeitungsforschung - wie der Medienforschung insgesamt - noch immer nicht hinreichend erkannt. Und dies betrifft Zeitverhältnisse auf allen Ebenen und hinsichtlich aller Bezugsgruppen: Rezipienten, Journalisten, Funktionsträger und Funktionseliten; es betrifft Zeit als Chronosgestalt, als Koordinatengerüst subjektiver, kollektiver und gesellschaftlicher Erfahrung, als subjektiver, kollektiver und gesellschaftlicher Sinnhorizont. Der Forschung verdanken wir hilfreiches Material, was historische Nutzungsveränderungen betrifft, welche Bedeutung Presse im Zeitbudget der Mediennutzung insgesamt spielt und auch wie Zeitungsnutzung sich sozialisationsspezifisch und medienbiographisch verändert. Vor allem im Bereich medienbiographischer Ansätze ist es hier auch zu wertvollen methodischen Fortschritten gekommen (vgl. Hirzinger 1991). Doch es bleiben gravierende weiße Felder, die vor allem das Werden und sich Verändern aktueller Zeitstrukturen und aktuellen Zeitbewußtseins betreffen (vgl. Beck 1994: 169ff.) sowie den Einfluß des Medienangebots auf die Konstruktion gesellschaftlicher und individueller Raum-Zeit und die Rolle speziell der Zeitung hierin. In diesem Zusammenhang erfahren auch die alltäglichen Habitualisierungs- und Ritualisierungsphänomene seitens der Forschung noch zu wenig Zuwendung. Dies hat sicherlich vor allem methodologische und methodische Ursachen. Die auf lineare chronometrische Meßbarkeit angelegten Untersuchungen und die konventionellen Zeitbudgetstudien zielen in den Fragen der Zeitkonstruktion und der komplexen alltagsrituellen Folgen zu kurz. Vor allem lassen sich mit ihnen die Wechselbeziehungen von Biozeitlichkeit, Noozeitlichkeit und Soziozeitlichkeit und die Bedeutung der Zeitung hierin nicht erkennen und erfassen. Auch gelingt mit ihnen kein Zugang zur Aktualität als einem komplexen zeitlichen Verhältnis sowohl bezüglich des Ereigniszusammenhangs als auch des Kommunikator- und Rezipientenhandelns und der diesbezüglichen Wechselwirkungen. Vermutlich sind - zumindest auf dem gegenwärtigen Niveau - solche vielschichtigen Fragen und Problemzusammenhänge konventionell empirisch allein auch nicht operationalisierbar, erfordern vielmehr zunächst einen angemessenen wissenssoziologischen und geisteswissenschaftlichen Zugang zum Raum der Zeit, der sodann hermeneutisch weiter zu öffnen und in der Tiefe weiter zu erschließen ist. Allerdings müssen wir spätestens an diesem Punkt die Unzulänglichkeit bzw. gar das Ende einer reinen auf Zeitung sich orientierenden Forschung erkennen. Zeit und Zeitbewußtsein entsteht und wird auf allen Ebenen des Seins in der gegenwärtigen Gesellschaft, Journalisten Inbegriffen, mitgeformt durch das mediale und multimediale Gesamt. Die diesbezügliche Bedeutung und Wirkung einzelner Medien ist deshalb nur noch in diesem Gesamtkomplex mit seinen Durchdringungen und Wechselwirkungen zu erkennen und entsprechend

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zu untersuchen. Die technisch, räumlich und zeitlich global entgrenzten Informationsund Kommunikationsverhältnisse dulden nicht länger eine Schrebergartenmentalität der Medienforschung. O b die damit verbundenen theoretischen und forschungspraktischen Anforderungen und Probleme allerdings angemessen zu begrenzen und dann auch zu lösen sind, bleibt eine durchaus offene Frage. Es spricht einiges dafür, daß die Flüchtigkeit, Inkonsistenz und Kontingenz des Zeitlichen sich einem nach Klarheit und Sicherheit strebenden forschenden Suchen weitgehend entzieht. Literatur Aswerus, Bernd (1953), Zeitungen und Zeitschriften, das Gespräch der Gesellschaft. In: Die Zeitschrift, Heft 8/1953, S. 2ff. Beck, Klaus (1994), Medien und die soziale Konstruktion von Zeit. Über die Vermittlung von gesellschaftlicher Zeitordnung und sozialem Zeitbewußtsein. Opladen. Berelson, Bernard (1954), What „Missing the Newspaper" Means. In: Katz, Daniel et al. (eds.), Public Opinion and Propaganda. New York, S. 263-271. Beth, Hanno/Pross, Harry (1976), Einführung in die Kommunikationswissenschaft. Stuttgart u. a. Blöbaum, Bernd (1994), Journalismus als soziales System. Geschichte, Ausdifferenzierung und Verselbständigung. Opladen. Brons, Martin (1959), Zeit und Zeitung. Versuch einer sozialgenetischen Geschichte der deutschen Tageszeitung, dargestellt an der Entwicklung der Zeitungsteile. Nürnberg. Elias, Norbert (1984), Uber die Zeit. Arbeiten zur Wissenssoziologie II. Frankfurt/M. Eurich, Claus (1998), Vom richtigen Umgang mit Zeit. In: Der Journalist, Januar 1998, Supplement Medienpraxis Grossklaus, Götz (1994), Medien-Zeit. In: Sandbothe, Mike/Zimmerli, Walter Ch. (Hrsg.), Zeit-MedienWahrnehmung. Darmstadt, S. 36-59. Groth, Otto (1930), Die Zeitung. Ein System der Zeitungskunde (Journalistik). 4. Band. Mannheim, Berlin, Leipzig. Hirzinger, Maria (1991), Biographische Medienforschung. Wien, Köln, Weimar. Homberg, Walter/Schmolke, Michael (Hrsg.) (1992), Zeit, Raum, Kommunikation. München. Neverla, Irene (1990), Fernseh-Zeit. München. Nowotny, Helga (1989), Eigenzeit. Entstehung und Strukturierung eines Zeitgefühls, Frankfurt/M. Pross, Harry (1974), Politische Symbolik. Theorie und Praxis der öffentlichen Kommunikation. Stuttgart u. a. Rühl, Manfred (1992), Die Redaktionszeiten. Zur publizistischen Bewältigung von Ereignisturbulenzen. In: Homberg, Walter/Schmolke, Michael (Hrsg.), Zeit, Raum, Kommunikation. München, S. 177-196. Sandbothe, Mike (1994), Zeit, Medien, Wahrnehmung. Darmstadt. Steinbach, Peter (1999), Zeitgeschichte und Massenmedien aus der Sicht der Geschichtswissenschaft. In: Wilke, Jürgen (Hrsg.), Massenmedien und Zeitgeschichte. Konstanz, S. 32-52. Traub, Hans (1933), Grundbegriffe des Zeitungswesens. Kritische Einführung in die Methode der Zeitungswissenschaft. Stuttgart. Wenndorff, Rudolf (1980), Zeit und Kultur. Geschichte des Zeitbewußtseins in Europa. Wiesbaden. Wenndorff, Rudolf (1988), Der Mensch und die Zeit. Opladen. Wilke, Jürgen (1984), Nachrichtenauswahl und Medienrealität in vier Jahrhunderten. Eine Modellstudie zur Verbindung von historischer und empirischer Publizistikwissenschaft. Berlin und New York. Wilke, Jürgen (1999), Massenmedien und Zeitgeschichte aus der Sicht der Publizistikwissenschaft. In: Derselbe (Hrsg.), Massenmedien und Zeitgeschichte. Konstanz, S. 19-31.

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Von der Lese- zur Wissensgesellschaft: Die Notwendigkeit eines Diskurses über die Kultur im digitalen Zeitalter Prolegomena zum Thema „Zeitunglesen - Kulturen der Interpretation". Ein Essay

Ein Markt kultureller Kompetenzen Lesen ist eine relativ einfache Kulturtechnik, die fast alle Menschen mehr oder weniger beherrschen. Der Lesemarkt ist, wie man leicht nachvollziehen kann, mit den vielfältigsten Produkten ausgestattet, ist also außerordentlich differenziert nach unterschiedlichen Leseinteressen. Er ist ein Markt sozial und kulturell ausgebildeter Bedürfnisse und Nachfragen. Das ökonomische Problem dieses Marktes ist, daß seine Differenziertheit umso größer ist, je kleiner die Teilmärkte sind. Verkürzt kann man sagen, daß die Angebotsvielfalt wächst, je kleiner die Lesemärkte werden. So sind die sogenannten intellektuellen Buchprogramme gemeinhin Programme hoher Angebotsvielfalt für vergleichsweise niedrige Nachfragepotentiale. Marktwirtschaftlich sind sie eher uninteressant, da sich Absatzzahlen durch Marketing oder Werbung nicht nennenswert erhöhen lassen. Anbieter für den Lesemarkt ziehen sich folglich zunehmend aus solchen Angebotsprogrammen zurück. Die Distributoren, also ζ. B. die Buchhandlungen dünnen ihre Angebote aus und orientieren ihre Verkaufsstrategien an den absatzstarken Leseangeboten. Dieser ökonomische Prozeß wird als kulturelle Krise wahrgenommen. In diesen Wandel, in diese Krise wird die sogenannte Wissensgesellschaft als neues und erfolgreiches Paradigma der Zukunft propagiert. Wesentliches über sie läßt sich über die Entwicklung traditioneller Lesemedien wie Bücher, Zeitschriften und Zeitungen erschließen. Dabei soll zunächst nicht interessieren, welche Eigenschaften alte und neue Medien haben, welche technischen Kommunikationsvoraussetzungen zur globalen Vernetzung jeder nur denkbaren Informationsart beitragen, was in den Datenspeichern brodelt und über die Bildschirme flackert. Wenn der Begriff der Wissensgesellschaft nicht ein Bluff der Moderne ist, dann kann es ja nicht nur um die Ausdifferenzierung der Informationen über Immobilien, Aktienkurse, Gebrauchtautos, Dienstleistungen aller Art und hybride Sachkunde für das Erschließen von Gebrauchswissen gehen. Mit dem Paradigma Wissensgesellschaft wird ein Anspruch an die Menschen gestellt, der ihre kulturelle Kompetenz insgesamt herausfordert, nämlich als Verarbeiter von Informationen in einem bisher nicht gekannten Maße lesefähig zu werden.

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Ulrich Pätzold Was also charakterisiert den Lesemarkt, gemessen ζ. B. am alten Medium des gedruckten Buches? Wohl am meisten, daß es sich um einen Markt der kulturellen Kompetenzen handelt. Kultur als Eigenschaft des lesefähigen Publikums muß allerdings mit äußerster Vorsicht beschrieben werden. Die „edition suhrkamp" wird mal gerade in 150 deutschen Buchläden geführt. Umgekehrt verkündet der Chef von Beneismann „die erreichte Marktführerschaft" auf dem Buchmarkt. Doch wer beim Marktführer einen mit viel Sorgfalt und Kenntnis hergestellten zeitgenössischen Lyrikband suchen wollte, würde nicht fündig. Bestimmte Literaturformen spotten jeder Marktmathematik. Gibt es sie dennoch, ist auch das Kultur, die zur Wissensgesellschaft gehört. Die Gesamtausgaben von Walter Benjamin oder Georg Lukacs werden sich nie rechnen. Sie sind ökonomischer Irrsinn. Aber es gibt sie. Vielleicht gibt es sie auch nur deshalb, weil ein Verlag mit ihnen ein Image gewinnen kann, das dann doch bei anderen Veröffentlichungen Markterfolge erleichtert. Verleger mit den wohlklingenden Namen Fischer, Luchterhand, Hauser, Wagenbach, Suhrkamp haben vom Leser her gedacht und gehandelt. Sie haben gewetteifert um Literatur oder Philosophie oder Wissenschaft, nicht um Auflage. Die großen und bedeutenden Verlagen dieses Jahrhunderts in Europa hatten ein anderes Verständnis von Lesen und Buch als es in Amerika gewachsen war. Die Gesamtausgabe von John Dewey in Amerika für 30 oder 40 Dollar im Taschenbuch? Undenkbar. Die Vorstellungen über den Lesermarkt haben in Europa und Amerika recht unterschiedliche Traditionen. Für anstehende Globalisierungskonzepte ist das wichtig zu wissen. Die Marktführerschaft bei der Entdeckung großer Autoren, in der Präsentation großer Gesamtwerke ist ein anderes Ziel als die Marktführerschaft in Auflagen und Umsätzen. Große Verleger waren Patriarchen. Große Verlage heute sind Ergebnisse erfolgreichen Kapitalmanagements.

Entgrenzungen von Qualität und Quantität Ums Lesen geht es allemal. Das gilt auch, wenn man die ZEIT mit der zehnmal so auflagenstarken BILD-Zeitung vergleicht. Das gilt auch, wenn man F O C U S mit G E O vergleichen wollte. Man kann unterschiedliche Lesemärkte nicht miteinander vergleichen, sofern die Unterschiede durch die ungleichen Lesekompetenzen begründet sind. Was aber geschieht, wenn das Prinzip der größeren Zahl zum zentralen Handlungsprinzip des Managements der Lesermärkte wird? Es wird eine schleichende Erosion der Lesegewohnheiten durch eine gesteuerte Angebotspolitik eingeleitet. Der bereits jetzt geltende Maßstab der Marktorientierung auf den Lesemärkten ist nicht Wissen, sondern Unterhaltung. Der Unterhaltungsroman mit herrlichen Auflagenzahlen ist heute die Ikone der Lesekultur geworden. Er verkörpert die low culture, an der Maß genommen wird, wenn für den Markt produziert wird. Im Unterhaltungsroman als Ikone der Lesekultur verschmelzen Buch und Massenmedien. Er ist ein Erfolgsrezept für die neue Wertschöpfungskette der modernen Publizistik mit dem Namen Multimedia. Unterhaltung war publizistisch quantitativ wahrscheinlich immer dominant. Aber sie beherrschte nicht den intellektuellen, literarischen oder philosophischen Diskurs. Der Lesemarkt war qualitativ hierarchisch gegliedert. Das ist er heute weniger denn je. 126

Von der Lese- zur Wissensgesellschaft

Skeptiker, Pessimisten, Essayisten und Nachdenkliche haben zwar noch ihre Nischen, aber sie profilieren nicht die Lesemärkte. Statt Walter Benjamin Stephen King. Statt subtiles Denken flüssiges Erzählen. Man hat diese Entwicklung euphorisch gerne als Demokratisierung der Lesekultur umschrieben. Wenn denn eine schwülstige Liebesgeschichte ökologische Einsichten fördert, ist das nicht gesellschaftlicher Fortschritt? Voreilige Antworten sind meistens nur Interpretationen von kulturellen Vorstellungen. Die Frage kann solange nicht beantwortet werden wie die Reflexion ausbleibt, was das Lesen leistet, wie Lesen zum Wissen werden kann. Der Markt reagiert mit unbekannt hohen Investitionen, als es ζ. B. darum ging, die Rechte für die Memoiren von Monica Lewinsky zu erwerben. Und da sie eine schlechte Schreiberin ist, zudem nichts außer schon Bekanntes zu erzählen wußte, wurde das Buch ein Flop. Aber das zeitgeschichtliche multimediale Ausbeutungsprinzip gilt dennoch als Erfolg. Wer hat in jener Zeit nicht über die Dame geredet. Die Marktmaschine mußte vielkanalig die Lewinsky-Show inszenieren, um gleichsam über den Aufbau eines Konstruktes vom Lewinsky-Über-Ich den Boden für das Lewinsky-Erzähl-Ich zu bereiten. So wird der differenzierte Lesemarkt Zeitgeschichte erodiert. Dominant ist ein Anbietermarketing, das in Konsequenz Marktfuhrerschaft in der Publikation von Zeitgeschichte durch Fusionen vorbereitet, durch den Aufkauf von Verlagen eigenständige Marktsegmente plättet und aus den Lesemärkten einen Lesemarkt schafft. Am Ende wird es leicht sein, die Kapitalstruktur dieses Marktes mit wenigen Eintragungen zu skizzieren. Bertelsmann wird dazu gehören, Springer, Holtzbrinck. Und wer noch? Vielleicht kaum noch andere. Der Lesemarkt wird über den elektronischen Handel kapitalisiert, zwischen den verschiedenen Medienträgern und Medienmärkten komplementär quergeschaltet, in möglichst ergiebigen Verwertungsketten einer Story oder eines Autors lebendig gehalten. Das Kapital als Voraussetzung auch einer Wissensgesellschaft wandert dorthin, wo am meisten zu holen ist.

Der Begriff Wissen ist nicht marktwirtschaftlich zu verstehen Wie immer die medientechnischen Verhältnisse im digitalen Zeitalter beschaffen sein mögen, der Informationsboom ist an die Entwicklung der Lesefähigkeit der Menschen gebunden. Soll aus dem technisch induzierten Informationsboom gesellschaftsprägender Wissensaustausch werden, dann muß gleichsam eine Evolution des Menschen in seiner Lesefähigkeit und in seiner Fähigkeit eintreten, Informationen kognitiv zu verarbeiten. Lösen die neuen Formen der Informationstechnik eine solche Evolution aus? Schafft das Internet eine neue Zivilisation des Wissens, der Wissenden? Oder potenzieren die neuen Kommunikationsmöglichkeiten die bisherige Geschichte, wonach die Unterhaltung in letzter Instanz die dominierende und ökonomisch wichtigste Funktion der Medienentwicklung ist? Mit anderen Worten, woher rührt der Optimismus, vom Heraufziehen der Wissensgesellschaft zu reden? Der griechische Philosoph Piaton läßt den Athener Sokrates den stadtbekannten Sophisten Protagoras fragen, ob er Wissen für etwas Mächtiges halte. Ohne Zögern bejaht Protagoras diese Frage und weist darauf hin, wie nützlich das Wissen sei, weil der Wissende in der Gesellschaft gefragt sei und man bereit sei, für das Wissen viel Geld zu 127

Ulrich Pätzold bezahlen, so daß der Wissende immer sein gutes Auskommen haben werde. Die Geschichte der Philosophie ist bis auf den heutigen Tag eine lange Kette von Versuchen, sich von dem Sophisten Protagoras abzusetzen, freilich nicht immer mit tödlichem Ausgang, wie ihn Sokrates im Namen der Athener erleiden mußte. Philosophie ist aus dem Denken über Wissen entstanden. Sie hat Abgrenzungen gesucht von den ungenauen Formen des Wissens wie Wahrgenommenes, Angenommenes, Glauben und Spekulation, Mythen und Vorurteilen, Uberzeugungen und Behauptungen. Aus dem Nachdenken über Wissen sind die Wissensformen gewachsen, die sich durch Explikation, Nachprüfbarkeit, Kommunizierbarkeit und kritische Infragestellung auszeichnen. Aus diesen Formen des Wissens sind die Wissenschaften entstanden. Ohne einen Kodex von den Werten der Wissensformen wäre der Ökonomisierung des Wissens Tor und Tür geöffnet. Wenn die Wissensgesellschaft nur am Kriterium der Nützlichkeit von Informationen zu messen ist - nützlich für den Beruf, nützlich für den Erfolg, nützlich für den Marktwert, nützlich für das Privatleben - soweit es das noch geben soll - , dann hätten die Sophisten doch noch über die Philosophie gesiegt. Denn dann gilt alles als Wissen, was Vorteile verschafft. Das Wissen ist die Chance des Individuums, sich gegen andere, sich zu Lasten der Allgemeinheit durchzusetzen. So verstanden die Sophisten das Wissen. Dieser Wissensbegriff wäre gegenüber den bis heute geltenden Kriterien einer durch Wissenschaften ausgezeichneten Kultur vollständig entgrenzt. Auch soziologisch hängt der Begriff des Wissens eng mit dem des Lesens zusammen. Wie das Lesen durch unterschiedliche Formen des Verhältnisses von Produktion und Rezeption bestimmt ist, gilt auch für das Wissen, daß es durch unterschiedliche Formen von Wahrnehmung und Schlußfolgerung geprägt wird. Wie für das Lesen die Schwächung der Dominanz des Ausdrucks oder der Wertehierarchie des Literarischen zu konstatieren ist, muß auch für das Wissen befürchtet werden, daß nunmehr auch die Dominanz des wissenschaftlichen Wissens geschwächt wird. In der Wissensgesellschaft verschwimmen die Grenzen zwischen den Wissensträgern. Wer für sein Wissensangebot die höchste Aufmerksamkeit erzielt, darf hoffen, gesellschaftliche Optionen und Kompetenzen bestimmen zu können, hat also den Anreiz, Macht oder Geld zu gewinnen. Wissen wird dann zu einer Form der Einmischung von Personen oder Gruppen in bestimmte Sachverhalte, ist aber nicht mehr die Repräsentation von Sachverhalten in einer ihnen angemessenen Weise. Das Prinzip der Intersubjektivität in der Wissenschaft wird überlagert durch das Prinzip der Ausrichtung von Wissen als Orientierungsangebote für möglichst viele. Das Bestreben nach Marktführerschaft in der Wissensvermittlung pervertiert das Wissen. Zunächst blendet die Aussicht der Computervernetzung in der gesamten Wissenswelt. Sie ist in der Tat ein gravierender Einschnitt. Die Wissensproduktion wurde durch den Computer auf eine neue und effektivere Grundlage gestellt. Jedes Wissen, auch wissenschaftliches Wissen erfährt durch die Computervernetzung Beschleunigung, Verbreitung und Wachstum. Doch hinter den statistisch beeindruckenden Kurven verschieben sich die Proportionen zwischen den unterschiedlichen Wissensformen. Ohne Zweifel vervielfachen sich zur Zeit die Kapazitäten der Daten speichernden und Daten verarbeitenden technischen Systeme ungleich schneller als die Erzeugung von Daten, die als Wissen zur Verfügung gestellt werden können. Selbst ein ungleich stärker wachsendes und

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Von der Lese- zur Wissensgesellschaft produktiver arbeitendes Wissenschaftssystem als das in der Vor-Computerzeit kann auf Dauer in der Erzeugung von Wissen nicht mithalten mit dem Wachstum der Daten verschlingenden technischen Kommunikationssysteme. Deswegen wird alles netzreif, was als Daten formalisierbar ist. Halbwissen wird im System gleichberechtigt mit wissenschaftlich geprüftem Wissen, und dieses ist technisch nicht höher gewichtet als Unwissen oder angemaßtes Wissen. Im Internet gibt es keine Hierarchie der Informationen, eine wesentliche Voraussetzung für Fortschritt im rationalen Sinne. Uber Wissen kann nicht mehr ohne Bezugnahme auf die neuen technischen Kommunikationssysteme nachgedacht werden. Aber die technischen Kommunikationssysteme sind keine Wissenssysteme ohne Beachtung der Wissensträger Menschen. Die sind nämlich nicht nur User, Chatter oder Zulieferer, sie kommunizieren nicht nur in Newsgroups oder in Börsenzirkeln. Was immer Daten und Texte im Netz oder auf C D sein mögen, Sinn und Bedeutung erhalten sie erst durch die Wahrnehmung, durch die Rezeption. In dieser Beziehung hat sich gegenüber Buch, Zeitschriften und Zeitungen, gegenüber der Lesekultur nichts verändert. Mit Daten und Texten kann man erst etwas anfangen, wenn man sie versteht, wenn man sie verknüpfen kann mit Sachverhalten und Dingen, über die sie etwas aussagen. So werden Informationen in Wissen verwandelt. Das aber kann ein technisches System den Menschen nicht abnehmen. Synthesen und Verknüpfungen, aus denen Wissen entsteht, sind andere Vorgänge als Vernetzungen und Hyperlinks auf der technischen Systemebene. Die Vorstellung, eine Wissensgesellschaft wachse heran, wenn jede und jeder lerne, sich sicher in den Netzen zu bewegen, ist nicht nur illusionär, sondern verdrängt auch viele Probleme, weil bei vollständiger Gültigkeit der Marktprinzipien Öffentlichkeit und Verständlichkeit die Wissensträger einen symbolischen Gesellschaftswert erlangen werden, der in einer scientific community nicht diskursfähig wäre. Wahrscheinlich ist bereits die vollständige Offenheit der Netze eine ohnehin schon überholte Euphorie aus der Netzgründerzeit. Naheliegender ist die forcierte private Aneignung des nützlichen wissenschaftlichen Wissens. Das gilt nicht nur für das Pentagon und andere militärische Institutionen. Die Ökonomisierung des Wissens bestimmt auch die Wachstumsprozesse der Wissenschaften. In den Netzen wird das zu vielfachen Zugangsbarrieren führen, die entweder nur von Befugten oder mit viel Geld zu überwinden sind. Wissen als Synthesen zwischen Wissensträgern und den technischen Systemen wird somit vor allem selber ein gesellschaftliches Problem.

Herausforderungen für die Kommunikationswissenschaft Die digitale Kommunikationswelt ist allerdings nicht nur eine einfache instrumentelle Weiterentwicklung der Lesemedien Buch, Zeitschriften und Zeitungen. Karl Poppers Welten der realen Dinge, der psychischen Konstruktionen und der interpretativen Bedeutungen wird ergänzt durch die virtuelle Realität, wie sie vielzüngig gepriesen wird. In den Computerwelten kommt eine Wirklichkeit zum Vorschein, wie sie nicht erfahren und erlebt werden kann, die aber ganz und gar wirklich funktioniert. Das Computerspiel, an dem man mit einer anonymen Identität im Netz teilnehmen kann, symbolisiert die Spannung dieser Künstlichkeit wie auch das Chatten und Surfen. Den Dingen dieser 129

Ulrich Pätzold virtuellen Realität ist die Form und die Seele genommen. Sie bleiben spannend, aber unverbindlich und risikofrei. Dennoch schaffen sie Lebenswirklichkeit, oft mit drogenhaften Euphorien zu nachtschlafender Zeit verbunden. Die Attraktivität dieser virtuellen Realitäten lösen als Kultur vielleicht durchaus evolutionäre Veränderungen bei den Menschen aus. Als Wissensträger mutieren Menschen zu Wesen einer Unterhaltungskultur, in der die Unterhaltung jedoch als das interessante Wirkliche im Leben erfahren wird. Welche Folgen die virtual reality für die Gesellschaft als eine durch Wissen geprägte Gesellschaft haben wird, bleibt unklar. Insofern bleibt aber auch der Begriff der Wissensgesellschaft unklar. Es liegt nahe, die nunmehr zu konstatierenden Nutzungsformen des Internet mit den kommunikationswissenschaftlichen Ansätzen aus den 70er Jahren zu diskutieren, die mit den Begriffen Wissenskluft, differential growth of knowledge, information gaps oder increasing knowledge gaps umschrieben wurden. Die Hypothese der entsprechenden Arbeiten lautete, daß die Diffusion der täglich verbreiteten Medieninformationen nicht gleichmäßig zu einer allgemeinen Erhöhung der Wissensbestände der Menschen führe, sondern in Abhängigkeit vom sozialen und kulturellen Status der Empfänger Wissensdisparitäten in der Gesellschaft eher vergrößere als abbaue. Seit Bestehen der Wissenskluftforschung fehlt der aus ihr entwickelten Hypothese die Klärung eines theoretisch fundierten Wissensbegriff. Soweit Wissen lediglich disparat indiziert wird, um ihn empirisch als Erinnerung messen zu können, bleiben die Ergebnisse unbefriedigend, oft auch widersprüchlich wie sie ζ. B. Heinz Bonfadelli dargestellt hat. Den Begriff des Wissens in den Vordergrund des Diskurses zu setzen, muß aber die vordringliche Aufgabe der Kommunikationswissenschaft werden, will sie mit den Realitäten der Transformation der Gesellschaft im digitalen Zeitalter Schritt halten. Gespiegelt durch die technischen Systeme produzieren Medien, auch die alten Medien, zunächst nichts anderes als Daten. Erst wertende Eigenschaften der Daten wie auch der rezipierenden Nutzer machen aus den Daten Informationen, aus Informationen mit dem attributiven Filter Aktualität Nachrichten, und aus den Nachrichten mit den attributiven Filtern Kultur und Lebensumstände Wissen. In den Medien und in den neuen technischen Kommunikationssystemen spielen sich dramatische Wettkämpfe um die Bildung von Wissen ab, die nur unzureichend mit der Wissensklufthypothese zu umschreiben sind. Was zum Beispiel als Allgemeinbildung bezeichnet werden kann, ist in bestimmten Segmenten der wirtschaftlich optimalen Kommunikation völlig überflüssiges Wissen. Was als reiner Eskapismus denunziert wird, kann sich als Voraussetzungswissen für die Uberlebensfähigkeit in bestimmten sozialen Situationen erweisen. In der Fülle der Wirkungs- und Nutzungsstudien von Massenmedien bleiben die Pfade sehr eng und die Ergebnisse sehr spärlich, wie die Menschen mit der täglichen Informationsflut der Medien in ihrem praktisch zu bewältigenden Lebensalltag umgehen. Solche subjektiven Empirien wollen aber bedacht sein, wenn die Konturen und Profile einer Wissensgesellschaft diskutiert werden. Kommunikationswissenschaftlich spannend wird dann eine Frage, die ins Zentrum der gesellschaftlichen Entwicklung reicht. Was nämlich geschieht bei einer unaufhaltsamen Diversifizierung und Expansion der medialen Kommunikation, wenn Normen oder Übereinkünfte verloren gehen, wie die unterschiedlichen Wissensformen zu bewerten sind, wenn das Wissen verloren geht, nach wichtigeren und weniger wichtigen Wissensformen zu unterscheiden?

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Von der Lese- zur Wissensgesellschaft

Seit Niklas Luhmann reicht es aus, die Medien als nur noch autopoetische Systeme zu begreifen, in denen es wissenschaftlich allein Sinn macht, die Wirklichkeit zu reflektieren, die das jeweilige System erschafft oder repräsentiert. Insofern können Medien nicht mehr auf das Ganze einer Gesellschaft bezogen kritisiert werden. Jedes Medium, jedes Mediensystem ist eine Offerte im Reigen sehr unterschiedlicher, aber immer lebensrelevanter Offerten. Eine Relevanzprüfung für die Gesellschaft erscheint zwecklos. Das kann doch angesichts der vollständigen technischen Vernetzung aller Wissensformen und aller Wissenssegmente nicht das Ende der Kommunikationswissenschaft gewesen sein. Zu erforschen sind die kognitiven Kompetenzen, die konstitutiv sein müssen für die viel beschworenen Medienkompetenzen. Solche kognitiven Kompetenzen sind eng verbunden mit der Pflege der Lesekultur, eine zentrale Anforderung an das Bildungssystem. Dieses darf sich nicht verflüchtigen in Anleitungen für Berufsfähigkeiten. Es darf sich nicht verflüchtigen in Trainings für die Netztauglichkeit. Die geforderten Fähigkeiten der Operationalisierung sind notwendige, aber nicht ausreichende Basistechniken im Onlinezeitalter. Ebenso notwendig ist die Ausbildung von Relativierungswissen, Reflexionswissen, Distanzierungswissen, kritischem Prüfwissen. In einer Wissensgesellschaft müssen Lesekompetenzen entwickelt werden, mit denen Wertorientierungen und wertbezogenes Handeln gefördert werden. Die Kommunikationswissenschaft muß wieder Perspektiven gewinnen, mit denen sie ihre Untersuchungsgegenstände auf die Gesamtheit der Gesellschaft projizieren kann. Erarbeitet sie ein solches Wissen, besteht vielleicht auch wieder die Chance, daß sie Medien findet, die ihren kulturellen Stellenwert in die Öffentlichkeit tragen und sich somit am wissenschaftlichen Diskurs beteiligen, dessen Gegenstand sie sind.

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PRESSEFORSCHUNG: FORSCHUNGSFELDER UND ZUKUNFTSPERSPEKTIVEN

Udo Branahl

Gerichtsberichterstattung als Arbeitsfeld der Tageszeitungen

Die Justiz bildet einen wichtigen Bestandteil des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland. Sie macht von ihrer verfassungsmäßigen Kompetenz, verbindlich über Rechtsstreitigkeiten zu entscheiden, millionenfach Gebrauch. So erledigten die deutschen Gerichte 1994 über 4,8 Millionen Verfahren. Davon entfielen etwa 2,7 Millionen auf die Zivilgerichte (einschließlich Familiengerichte), knapp 845.000 auf die Strafgerichte, über 640.000 auf die Arbeitsgerichte und gut 520.000 auf die Verwaltungsgerichtsbarkeit (einschließlich Sozial- und Finanzgerichte). Das Bundesverfassungsgericht Schloß 1994 insgesamt 5.326 Verfahren ab (Statistisches Bundesamt 1998: 228). Diese Verfahren sind stark formalisiert. In ihnen stellt das Gericht den Sachverhalt fest, der der Rechtsstreitigkeit zugrunde liegt, und beurteilt ihn daraufhin, ob dem Kläger die geltend gemachten Ansprüche zustehen bzw. ob und wie der Angeklagte zu bestrafen ist. Bei der Gestaltung des Verfahrens und bei der Feststellung des Ergebnisses sind die Gerichte einerseits an die von der Legislative erlassenen Gesetze gebunden, die teilweise sehr genaue, teilweise aber auch sehr vage Vorgaben enthalten. Andererseits ist jedes Gericht durch die Bindung an Gesetz und Recht (Art. 20 Abs. 3 GG) grundsätzlich1 ermächtigt und verpflichtet, die zur Entscheidung des Einzelfalls erforderliche Auslegung, Ergänzung oder Anpassung der einschlägigen gesetzlichen Regelungen selbst vorzunehmen, soweit es eine solche für erforderlich hält. Nicht selten geht die Bedeutung einer gerichtlichen Entscheidung über den Einzelfall hinaus. Bei Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts über die Verfassungswidrigkeit von Gesetzen und die allgemeinen Regeln des Völkerrechts ergibt sich dies schon daraus, daß sie Gesetzeskraft erlangen (§31 Abs. 2 in Verbindung mit § 13 Nr. 6, 8a, 11, 12 und 14 BVerfGG), also ab Erlaß generell gelten. Daß auch rechtsfortbildende Judikate der Fachgerichte, deren Bindungswirkung auf die Entscheidung des Einzelfalls beschränkt ist, in vielen Fällen faktisch die Bedeutung einer allgemeinen Norm gewinnen, beruht darauf, daß zu Recht erwartet wird, daß das Gericht die von ihm aufgestellte Regel seiner Rechtsprechung auch künftig zugrunde legen wird. Deshalb richten Gerichte ihre Entscheidungen in der Regel an der Rechtsprechung „ihrer" Obergerichte aus, um - ansonsten erfolgreiche - Berufungs- oder Revisionsverfahren zu vermeiden.

Nur wenn das Gericht ein Gesetz für verfassungswidrig hält oder zweifelhaft ist, ob eine Norm als allgemeine Regel des Völkerrechts gilt (An. 25 GG), darf es dies nicht selbst feststellen, sondern muß die Entscheidung des zuständigen Verfassungsgerichts einholen (Art. 100 Abs. 1 GG).

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Udo Branabl

1. Was kann und soll Gerichtsberichterstattung eigentlich leisten ? Als Gegenstand der Berichterstattung in Tageszeitungen ist die Rechtsprechung in mehrfacher Hinsicht von Bedeutung. Aufgaben bzw. Funktionen der Gerichtsberichterstattung können aus der Perspektive des Staates, der Gesellschaft oder den individuellen Interessen des einzelnen Lesers bestimmt werden.

1.1. Effektivität des Rechts Aus staatlicher Sicht läßt sich der Gerichtsberichterstattung vor allem die Funktion zuschreiben, einen Beitrag zur Effektivität des Rechts zu leisten. Da zumindest freiheitliche, nichttotalitäre Staaten nicht in der Lage sind, die Einhaltung ihrer Rechtsnormen vollständig zu kontrollieren, hängt deren Effektivität davon ab, daß ihre Adressaten sie „freiwillig" befolgen. Dies setzt voraus, daß diese ihre Rechte und Pflichten kennen und sich - sei es aus Einsicht oder Uberzeugung, sei es aus Furcht vor drohenden Sanktionen - im allgemeinen normgerecht verhalten. Besondere Bedeutung für die Vermittlung der entsprechenden Normkenntnisse gewinnt die Gerichtsberichterstattung dort, wo rechtsfortbildende Entscheidungen insbesondere von Obergerichten neue Regeln von allgemeiner Bedeutung enthalten. Normakzeptanz kann sie dadurch verstärken, daß sie ihrem Publikum zum einen Einsicht in die Gründe vermittelt, die das Gericht zu seiner Entscheidung bewogen haben, zum anderen die bei einer Normverletzung drohenden Sanktionen vor Augen führt.

1.2. Kritik und Kontrolle Ebenso legitim wie das Interesse des Staates an der Einhaltung seiner Rechtsordnung ist in einer demokratisch und rechtsstaatlich organisierten Gesellschaft allerdings das Interesse der Allgemeinheit an einer kritischen Uberprüfung der Rechtsnormen und ihrer Umsetzung durch die Justiz. Als Teil der Staatsgewalt unterliegt die Judikative ebenso wie die Legislative und die Exekutive der Kontrolle durch öffentliche Kritik. Zugleich ist die mit der öffentlichen Kritik verbundene Transparenz die Voraussetzung für das Vertrauen, daß bei der Justiz „alles mit rechten Dingen zugeht". Damit liefen sie der Justiz zugleich die Legitimation, die diese in einer freiheitlichen Demokratie benötigt. Die kritische Auseinandersetzung mit Gerichtsentscheidungen bildet deshalb einen wichtigen Teil der „öffentlichen Aufgabe" der Massenmedien. Der aus dem Demokratieprinzip resultierende Grundsatz, daß der politische Meinungs- und Willensbildungsprozeß „von unten nach oben" verlaufen muß, die Staatsorgane ihre Entscheidungen auch in Einzelfragen ständig am Maßstab der im Volk tatsächlich vertretenen Auffassungen zu messen haben (BVerfGE 20: 175), lässt sich auf die Entscheidungsfindung der Justiz allerdings nicht ohne weiteres übertragen, da die Gerichte bei ihrer Tätigkeit zu einem erheblichen Teil durch gesetzliche Normvorgaben gebunden sind. Dieser Umstand schützt die Ergebnisse, zu denen die Rechtsanwendung führt, selbstverständlich

136

Gerichtsberichterstattung als Arbeitsfeld der Tageszeitungen nicht vor einer kritischen Würdigung. Oft ist jedoch nicht das Gericht, sondern der Gesetzgeber der richtige Adressat für eine solche Kritik.

1.3. Individuelle

Informationsbedürfnisse

Die individuellen Informationsbedürfnisse des Publikums werden in erster Linie durch die Möglichkeit bestimmt, das Recht als Instrument zur Absicherung und Durchsetzung persönlicher Vorteile bzw. zur Vermeidimg persönlicher Nachteile einzusetzen. Diesem Interesse dienen vor allem Informationen über rechtliche Gestaltungsmöglichkeiten und ihre Grenzen (ζ. B. die Wirksamkeit bestimmter Vertragsklauseln), aber auch über das Sanktionensystem (Inhalt und Eintrittswahrscheinlichkeit drohender Sanktionen). Neben eher rational bestimmtem Erkenntnisgewinn dient zumindest ein Teil der Gerichtsberichterstattung auch der Befriedigung anderer, eher lustbetonter Bedürfnisse, etwa der Weckung und Befriedigung von Gefühlen wie Neugier, Empörung, Häme, Abscheu oder Mitleid. Emotionale Befriedigung mag die Lektüre von Berichten über Strafverfahren auch dadurch auslösen, daß die Verurteilung von Straftätern als Bestätigung des eigenen gesetzestreuen Verhaltens empfunden wird.

2. Typenvielfalt in der Gerichtsberichterstattung Um diesem Bündel von Interessen und Bedürfnissen gerecht zu werden, benötigt eine Tageszeitung eine formal und inhaltlich vielfältige Gerichtsberichterstattung. Da jeder Beitrag mit dem Versuch scheitern müßte, alle Ansprüche gleichzeitig zu befriedigen, die sich aus den unterschiedlichen Interessen ergeben, kommt es darauf an, verschiedene Typen von Gerichtsberichten miteinander zu kombinieren. Das schließt selbstverständlich nicht aus, daß in einem Bericht verschiedene Ziele miteinander verbunden werden und sich daraus Mischtypen ergeben. Die Qualität der Gerichtsberichterstattung einer Tageszeitung wird im Ergebnis dadurch bestimmt, daß die einzelnen Gerichtsberichte ihre Aufgabe sachgerecht erfüllen und zusammen eine Kombination ergeben, die dem Aufgabenspektrum insgesamt gerecht wird.

2.1. Aktualisierung von Rechtskenntnissen: Der Gerichtsbericht als „Lebenshilfe" Rechtskenntnisse, die erforderlich sind, um sich in der Gesellschaft zurechtzufinden, veralten. Sie bedürfen der Aktualisierung, der Anpassung an den aktuellen Stand der Gesetzgebung und der Rechtsprechung. So selbstverständlich wie die aktuelle Berichterstattung über Gesetzesänderungen von allgemeiner Bedeutung sollte auch die Veröffentlichung höchstrichterlicher Entscheidungen sein, die Fragen von allgemeinem Interesse betreffen, beispielsweise zum Verbraucherschutz, zu Mietstreitigkeiten, zum Familien- und Erbrecht, Arbeits- und Sozialrecht sowie zum Abgabenrecht (Steuern, 137

Udo Branahl Gebühren, Beiträge). Das gilt zum einen sicher für die Judikate der Bundes- und der oberen Landesgerichte mit rechtsfortbildendem Charakter. Die Berichterstattung in diesem Bereich kann aber durchaus sinnvoll durch Berichte über amts- oder landgerichtliche Entscheidungen ergänzt werden - auch solche, die die höchstrichterliche Rechtsprechung lediglich bestätigen. Denn solche Beiträge helfen dem Leser, sich im geltenden Recht besser zurechtzufinden, weil sie seine Rechtskenntnisse erweitern, vertiefen oder auch nur bestätigen und damit sichern. Als journalistische Darstellungsform bietet sich hier neben dem Bericht auch die Nachricht oder die Veröffentlichung bloßer Leitsätze an. Ihre Ratgeberfunktion für das Publikum erfüllen solche Beiträge allerdings nur angemessen, wenn sie den Inhalt der Entscheidung, vor allem den „Leitsatz", zutreffend wiedergeben und mit den Hintergrundinformationen angereichert sind, die die Allgemeinheit benötigt, um die Entscheidung richtig verstehen und einordnen zu können. Die Erfüllung dieser Aufgabe kann hohe Ansprüche stellen; sie bedarf oft des Zusammenwirkens von juristischem Sachverstand und journalistischen Fähigkeiten. Die Konzentration der Entscheidungsbegründung auf die für die Allgemeinheit bedeutsamen Fragen, ihre angemessene Darstellung in einer allgemein verständlichen Sprache und ihre Erläuterung und Einordnung in das Normsystem ist in hohem Maße anfällig für fehlerhafte Ungenauigkeiten und Verallgemeinerungen. Beispielhaft zeigt dies die Analyse der Berichterstattung über die 15 Gerichtsentscheidungen, die von Anfang Juli 1988 bis Ende Juni 1989 die größte öffentliche Resonanz fanden (Castendyk 1994: 285f.).

2.2. Der Gerichtsbericht als Teil der allgemeinen und Kultur

Berichterstattung

aus Politik,

Wirtschaft

Ein hohes öffentliches Informationsinteresse an einer gerichtlichen Entscheidung kann sich ferner daraus ergeben, daß ihre unmittelbaren Auswirkungen im konkreten Fall nicht nur für die Prozeßparteien, sondern zugleich für zahlreiche weitere Personen von Interesse sind. Besonders häufig trifft dies auf die Urteile von Verwaltungsgerichten zu. Ob ein Bebauungsplan wirksam ist, die geplante Straße gebaut, die Landebahn des Flughafens verlängert werden darf, ob der von einem Sport- oder Kinderspielplatz ausgehende Lärm hingenommen werden muß, ist nicht nur für die betroffenen Nachbarn, sondern auch für die potentiellen Nutzer der jeweiligen Anlage von Bedeutung. Auch die Entscheidung des Arbeitsgerichts darüber, ob der Torwart des heimischen Fußballclubs seinen Arbeitsvertrag wirksam gekündigt hat oder dem Verein noch für eine weitere Saison zur Verfügung steht, wird zahlreiche Fans nicht kalt lassen. Solche Entscheidungen sind geradezu prädestiniert dafür, eine allgemeine Debatte auszulösen. Auf rationaler Basis kann diese aber nur geführt werden, wenn die Berichterstattung sich nicht auf die Verbreitung des Ergebnisses beschränkt, sondern dem Publikum hinreichend genau und zutreffend erläutert, welche gesetzlichen Vorgaben der Entscheidung zugrunde liegen und welche Gesichtspunkte und Argumente das Gericht in seiner Entscheidung berücksichtigt hat. Die Erfüllung dieser Aufgabe setzt häufig ebenfalls einen gewissen juristischen Sachverstand voraus. Richter beklagen sich oft darüber, daß gerade sie in solchen Fällen ihre 138

Gerichtsberichterstattung

als Arbeitsfeld der Tageszeitungen

Entscheidung „in dem Zeitungsbericht nicht wiedererkennen". Diese Klage wird auch von erfahrenen Gerichtsreportern nicht a limine als unberechtigt zurückgewiesen. Eine Ursache für journalistische Fehlleistungen in diesem Bereich scheint darin zu liegen, daß die Berichterstattung in solchen Fällen von Redakteuren aus dem Politik-, Wirtschafts-, Kultur- oder Sportressort übernommen wird, denen Struktur und Inhalt der einschlägigen Rechtsnormen ebenso fremd sind wie die des Gerichtsverfahrens.

2.3.

Straftaten

und ihre Folgen: Der Gerichtsbericht

als

„Erziehungsmittel"

Berichte über Strafverfahren sind zeitweise geradezu zum Synonym für Gerichtsberichterstattung geworden. Sie machen einen großen Teil der Gerichtsberichterstattung insbesondere in Lokal- und Regionalteilen von Tageszeitungen aus (Friske 1988: 170ff.; Delitz 1989:105,236ff.; Eberle 1996:302). Im Gegensatz zur Sensationsberichterstattung in Boulevardzeitungen und Publikumszeitschriften scheinen Berichte über Strafprozesse in den Abonnementblättern vor allem einen Beitrag zur Generalprävention zu leisten. In ihrem Mittelpunkt steht die Bestrafung kriminellen Verhaltens (Gerasch 1995: 129ff.). Geschrieben sind sie in der Regel aus der Perspektive eines neutralen Beobachters, der sich eigener Bewertung weitgehend enthält (Gerasch 1995: 140ff.). In ihrer Summe vermitteln sie dem Leser das Bild eines fairen Verfahrens, in dem eine gerechte Strafe über Angeklagte verhängt wird, die sich einer Straftat schuldig gemacht haben. Damit wird dem Publikum ständig erneut vor Augen geführt, daß Straftaten „sich nicht lohnen". Ihren Beitrag zur Generalprävention leisten Berichte über Strafprozesse auf Dauer am besten, wenn das Publikum sich darauf verlassen kann, daß die Prozeßberichterstattung in diesem Bereich die forensische Wirklichkeit angemessen wiedergibt. Dazu gehört eine sachgerechte Auswahl der Verfahren, über die berichtet wird, und eine zutreffende Beschreibung von Inhalt, Ablauf und Ergebnis des jeweiligen Prozesses (Verbot der Vorverurteilung). Besondere Aufmerksamkeit verdient bei der Gestaltung solcher Berichte neben dem Persönlichkeitsschutz des Beschuldigten (Prangerwirkung der Berichterstattung; Resozialisierungsschutz) vor allem der Opfer- und Zeugenschutz. Der Umstand, daß jemand zum Zeugen oder gar zum Opfer einer Straftat geworden ist, legitimiert grundsätzlich keine Preisgabe von Informationen über seine persönlichen Lebensverhältnisse.

2. 4.

Kurioses

und Sensationelles:

Der Gerichtsbericht

als

„Lesestoff

Streitigkeiten, die vor Gericht ausgetragen werden, haben zuweilen kuriose Aspekte. Belustigt nimmt der Zuschauer ζ. B. die tragikomische Auseinandersetzung zwischen Nachbarn zur Kenntnis, die sich gegenseitig das Leben schwer machen. Sie liefern den Stoff für die „nette kleine" oder „schnuckelige Geschichte", die „Spaß" macht, einen „komischen Hintergrund" hat, „Kuriosa und Sensationen" wiedergibt (Höbermann 1989: 108ff.). Vor allem bei der Berichterstattung über Strafprozesse vor dem Amtsgericht scheint es häufig in erster Linie auf den Gag, die Sensation anzukommen (Gerasch 1995: 140, 144). 139

Udo Branahl Bei schweren Straftaten löst das Verhalten der Täter, das in der Hauptverhandlung zur Sprache kommt, oft Gefühle von Unverständnis, Empörung, Abscheu oder Mitleid aus. Aus diesem Grund können Strafprozesse, deren Gegenstand Gewalttaten oder Sexualdelikte bilden, durch eine entsprechende Berichterstattung leicht zu „Sensationsprozessen" werden. Die Information über Rechtsnormen und ihre gerichtliche Durchsetzung tritt in beiden Varianten dieses Berichtstyps deutlich hinter seinen reinen Unterhaltungswert zurück. Gerichtsberichte, die lediglich „Lesestoff" bieten wollen, sind rechtlich unproblematisch, solange sie die Persönlichkeitsrechte der Beteiligten nicht verletzen. Eine Berichterstattung dieses Typs, die die an dem Streit beteiligten Personen für das Publikum erkennbar macht, ist in der Regel nur mit deren Einwilligung zulässig. Denn ein öffentliches Informationsinteresse an ihrer Identifikation, hinter dem der Persönlichkeitsschutz zurücktreten müßte, besteht in solchen Fällen im allgemeinen nicht. Deshalb legitimiert beispielsweise der Umstand, daß sich einer der an einer Nachbarstreitigkeit Beteiligten hilfesuchend an die Redaktion gewandt hat, eine identifizierende Berichterstattung in der Regel nur, wenn auch der Gegner mit der öffentlichen Erörterung des Streits einverstanden ist. Anderenfalls sind in dem Bericht alle Angaben zu unterlassen, die zu seiner Identifizierung führen (Name von Beteiligten, Lage des Grundstücks u.ä.). Unter gesellschaftlichen, funktionalen Gesichtspunkten wirft eine Gerichtsberichterstattung, die sich in erster Linie mit Strafprozessen beschäftigt, in denen schwere Straftaten in „reißerischer" Weise dargestellt werden und in denen sich der Schwerpunkt der Berichterstattung typischerweise vom Prozeßbericht zur „Kriminalstory" verschiebt (Gerasch 1995:115f.), hingegen all die Probleme auf, die für die Kriminalberichterstattung ausführlich diskutiert sind (Schneider 1980). 2.5. Kritik und Kontrolle: Kommentare

und

Stellungnahmen

Zum Kontrollinstrument im Sinne öffentlicher Meinungs- und Willensbildung wird die Gerichtsberichterstattung insbesondere dort, wo sie sachgerechte Kritik am Fehlverhalten der beteiligten Juristen im Verfahren oder am Verfahrensergebnis publiziert. Das kann dadurch geschehen, daß der Berichterstatter selbst Kritik übt oder die Kritik anderer wiedergibt. Als Beitrag zu einer „offenen Rechtskommunikation" (Castendyk 1994: 39ff.) fungiert diese Kritik, wenn sie dem Publikum die Möglichkeit eröffnet, sich eine eigene Meinung zu dem jeweiligen Rechtsproblem zu bilden. Das setzt zunächst voraus, daß das Publikum über die der Kritik zugrunde liegenden Fakten zutreffend informiert ist. Die Basis für die Besprechung eines Gerichtsurteils bildet deshalb eine allgemein verständliche Wiedergabe des Sachverhalts, der der Entscheidung zugrunde liegt, und der wesentlichen Entscheidungsgründe. Zum anderen müssen die Argumente nachvollziehbar sein, die der Kritik zugrundeliegen, etwa der Bewertung der angewandten Normen und ihrer Auslegung durch das Gericht. Denn eine Bewertung ohne Begründung ist bei einer rationalen Meinungsbildung wenig hilfreich (Beispiele bei Friske 1988: 224ff.). Zwar ist eine solche Kritik 140

Gerichtsberichterstattung als Arbeitsfeld der Tageszeitungen nicht an spezielle Fachkenntnisse gebunden; die politische Würdigung von Gerichtsverfahren und ihren Ergebnissen darf in einer Demokratie sehr wohl auf den „gesunden Menschenverstand" (Gerasch 1995: 144f.) gestützt werden. Ausreichender Sachverstand ist jedoch zur Beurteilung der Frage erforderlich, wer für die kritisierten Zustände verantwortlich und an wen die Kritik folglich zu richten ist. Fehlleistungen bei der Kommentierung von Gerichtsentscheidungen basieren teilweise auf Mißverständnissen, die sich auf fehlende Sachkunde zurückführen lassen (Beispiele bei Castendyk 1994: 158ff., 165ff.), teilweise auf einer interessengeleiteten voreingenommenen Rezeption der Berichterstatter (vgl. ζ. B. Castendyk 1994: 243ff.). Besonders irreführend aber wird die Berichterstattung häufig in den Fällen, in denen sie Stellungnahmen von Interessenvertretern aus Parteien und Verbänden unkommentiert wiedergibt. Deren Inhalt ist typischerweise ergebnisorientiert, verkürzt und polemisch. Sie dienen in aller Regel der politischen Durchsetzung eigener Interessen, nicht der sachlichen Kommentierung der Entscheidung (Castendyk 1994: 299f.). Einen sachgerechten Beitrag zur öffentlichen Meinungs- und Willensbildung würde die Veröffentlichung solcher Stellungnahmen nur leisten, wenn das Publikum in der Lage wäre, sich aus der Zusammenschau der Vielfalt unterschiedlicher Stellungnahmen auf rationale Weise eine eigene Meinung zu bilden. Uber die dazu erforderlichen Fähigkeiten jedoch dürfte jeder von uns allenfalls auf seinem eigenen Fachgebiet verfügen.

2.6. Qualität des Gesamtangebots: A uf die Mischung kommt es an. Die Qualität der Gerichtsberichterstattung einer Tageszeitung wird nicht nur durch die Qualität des einzelnen Beitrages bestimmt. Entscheidend ist darüber hinaus, daß die Mischung stimmt, d.h. daß die Berichterstattung insgesamt möglichst genau auf die unterschiedlichen Bedürfnissen und Interessen des eigenen Publikums abgestimmt wird, ohne damit unerwünschte Nebenwirkungen zu erzeugen. Einheitliche Vorgaben für die Gerichtsberichterstattung der Tageszeitungen lassen sich angesichts der unterschiedlichen Zusammensetzung ihres Publikums und der damit verbundenen Unterschiede in ihrer Interessenlage kaum entwickeln. Das Ziel einer ausgewogenen Vielfalt wird jedoch auf jeden Fall verfehlt, wenn die Gerichtsberichterstattung zu stark durch Strafverfahren geprägt ist (vgl. oben 2.2). So dominierte etwa bei der Westfälischen Rundschau Dortmund die Berichterstattung über die Strafjustiz im Jahre 1960 mit über 86 %, im Jahre 1980 noch mit über 69 % (Friske 1988: 170ff.). Auch die Bestandsaufnahmen der Gerichtsberichterstattung von zehn deutschen Tageszeitungen im ersten Halbjahr 1983 (Delitz 1989) sowie von sieben hessischen Tageszeitungen im November 1994 (Eberle 1996: 302) zeigten eine Dominanz von Strafverfahren in der lokalen und regionalen Berichterstattung. Demgegenüber traten sie in der überregionalen Berichterstattung deutlich zurück (Delitz 1989: 105, 236ff.). Dem Gesamtspektrum von Leserinteressen besser gerecht werden dürfte das Angebot bei einer Verstärkung der Informationsfunktion und einer Verschiebung vom Strafprozeß zur Rechtsprechung der Zivil-, Arbeits- und Verwaltungsgerichte (vgl. die Bestandsaufnahme von Delitz 1989: 98ff.). 141

Udo Branahl

3. Bedingungen für eine erfolgreiche Gerichtsberichterstattung Eine strukturelle Verbesserung der Gerichtsberichterstattung setzt zum einen die Einsicht in deren Notwendigkeit bei Redaktion und Verlag, zum anderen ausreichend qualifiziertes Personal voraus. Mit einer Redaktion, die Gerichtsberichte im wesentlichen für „Lesestoff" hält (vgl. Höbermann 1989: 128), ist eine anspruchsvolle Gerichtsberichterstattung offenkundig nicht zu machen. Daß ein solches Konzept einen Beitrag zur Existenzsicherung oder gar zur ökonomischen Prosperität einer Zeitung leistet, darf jedoch angesichts des Umstands bezweifelt werden, daß die Unterhaltungsbedürfnisse des Publikums vom Fernsehen mit seinen bewegten Bildern (Reality-TV) deutlich besser befriedigt werden können. Erfolgreicher dürfte ein redaktionelles Konzept sein, das auf die spezifischen Stärken der Zeitung gegenüber den elektronischen Medien setzt. Zeitungen können ihrem Publikum relevante Informationen im Zusammenhang präsentieren, Hintergrundinformationen vermitteln und Begründungen viel genauer nachzeichnen, als dies im Rundfunk möglich ist. Eine Stärkung der Informationsfunktion der Gerichtsberichterstattung in Tageszeitungen ist meines Erachtens deshalb auch aus ökonomischen Gründen sinnvoll. Verwirklichen läßt sich dieses Ziel naturgemäß nur durch ausreichend qualifiziertes Personal. Welche Qualifikationen in der Redaktion benötigt werden, um die Informations- und die Servicefunktion der Zeitung zu verstärken, hängt von dem Anspruchsniveau ab, auf dem die redaktionellen Ziele definiert werden. Informationen (Meldungen und Berichte) über aktuelle höchstrichterliche Entscheidungen von allgemeiner Bedeutung auf Bundes- oder Landesebene erhalten die meisten Tageszeitungen von Nachrichtenagenturen (dpa). Kurze und treffende, auf den Leitsatz konzentrierte Inhaltsangaben weiterer Gerichtsurteile zu Themen von allgemeiner Bedeutung („Rund ums Haus"; „Recht im Urlaub"; Arbeitsrecht) lassen sich bei spezialisierten Anbietern einkaufen. Mit solchen Texten kann die Zeitung ihren Lesern auf einfache und relativ preiswerte Weise Informationen zu zahlreichen einzelnen Rechtsfragen liefern. Richtig verstehen und einordnen kann sie der Leser allerdings nur, wenn er über ausreichendes Hintergrundwissen verfügt. Um beispielsweise die „Reichweite" der Bedeutung einer amts- oder landgerichtlichen Entscheidung zum Mietrecht beurteilen zu können, muß der Leser zum einen wissen, daß sich deren informelle Präzedenzwirkung zunächst auf den eigenen Gerichtsbezirk beschränkt. Zum anderen muß er beurteilen können, wie gut ihre Chancen sind, daß sie von anderen Gerichten übernommen wird. Das hängt nicht zuletzt davon ab, wie weit sie im „mainstream" der Rechtsprechung liegt. Die bisherigen Ergebnisse der KOL-Forschung (knowlegde and opinion about law) geben Veranlassung zu der Annahme, daß entsprechendes Hintergrundwissen in weiten Kreisen der Bevölkerung nicht vorausgesetzt werden kann (vgl. ζ. B. Kaupen u. a. 1970). Die Service-Qualität der Gerichtsberichterstattung könnte deshalb verbessert werden, wenn die Einzelinformationen so zusammengefügt und mit Hintergrundinformationen versehen würden, daß beim Leser die „Wissensbestände" (Castendyk 1994:115) aufgebaut 142

Gerichtsberichterstattung als Arbeitsfeld der Tageszeitungen würden, die er benötigt, um sich adäquat zu verhalten. Da solche Wissensbestände in der Bevölkerung allerdings ungleich verteilt sind (Podgorecki u. a. 1973; Kulcsar 1980), erfordert die Optimierung der Service-Qualität eine Differenzierung der Berichterstattung. Die notwendige Typisierung der Leserbedürfnisse mag ergeben, daß die Leserschaft von Tageszeitungen ähnlichen Typs ähnlich strukturiert ist. Inwieweit das der Fall ist und von welcher Wissensbasis Tageszeitungen unterschiedlichen Typs ausgehen können, ist bislang nicht hinreichend untersucht. Zur Optimierung ihrer Servicefunktionen sind Lokal- und Regionalzeitungen deshalb darauf angewiesen, die systematische Kommunikation mit ihrer Leserschaft über deren Bedürfnisse und Erwartungen zu verstärken. Während die allgemeine journalistische Vermittlungskompetenz für die Ubersetzung von Pressetexten (Pressemeldungen, Agenturberichte) in die dem eigenen Publikum verständliche Sprache im wesentlichen ausreichen mag, sind schon für die Ubersetzung von Fachtexten (Urteile, Beschlüsse), erst recht aber für ihre systematische Verarbeitung zu Beiträgen, die praktisch verwertbares Uberblickswissen vermitteln, bestimmte fachliche Gr«M