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German Pages 169 [174] Year 2018
Völkermühle Europas Migrationen an Rhein und Mosel
Herausgegeben von Michael Matheus
20 Mainzer Vorträge Franz Steiner Verlag
Völkermühle Europas Herausgegeben von Michael Matheus
mainzer vorträge Herausgegeben vom Institut für Geschichtliche Landeskunde an der Universität Mainz e.V. Band 20
Völkermühle Europas Migrationen an Rhein und Mosel
Herausgegeben von Michael Matheus
Franz Steiner Verlag
Umschlagabbildung: Votivbild in der Kirche Santa Maria del Soccorso bei Sala am Comer See. Nahaufnahme des obigen Bildes. Die Frau wird getragen, vermutlich ist sie gestürzt. Foto: Christiane Reves
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2018 Druck: BlueLane, Pforzheim Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-11943-6 (Print) ISBN 978-3-515-11960-3 (E-Book)
Inhaltsverzeichnis
Einführung: Völkermühle Europas Migrationen an Rhein und Mosel ...........................................................
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Marietta Horster, arno Braun Germanen und Römer am Mittelrhein in der Spätantike ......................
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Franz J. Felten Romanen, Franken, Alemannen und … wer blieb und wer kam in der Völkerwanderung in unser Land hinzu? ...................................... 47 MattHias scHMandt Jüdische Migration in den mittelalterlichen Rheinlanden Wege, Motive, Schicksale ........................................................................ 65 GuntHer nickel Carl Zuckmayer und die »Völkermühle Europas« ................................. 83 cHristiane reves Europäischer Binnenmarkt in der Frühen Neuzeit Netzwerke Italienischer Händler zwischen Rhein, Main und Mosel .......... 97 ute enGelen Zuwanderung nach Rheinland-Pfalz Die Beispiele Ludwigshafen / BASF und Mainz / Jenaer Glaswerk Schott 1959–1980 ............................................... 117
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katHarina alt, anton escHer Anmerkungen zur Differenz von »Migration und Lebensstil« in der Stadt Mainz ................................................................................ 147 Die Autorinnen und Autoren ............................................................... 167 Bildnachweis ........................................................................................ 169
Einführung: Völkermühle Europas Migrationen an Rhein und Mosel
»
Deutschland ist ein weltoffenes Land. Wir begreifen Zuwanderung als Chance, ohne die damit verbundenen Herausforderungen zu übersehen. In den letzten Jahren haben wir bei der Teilhabe von Zuwanderern und dem Zusammenhalt unserer Gesellschaft wesentliche Fortschritte erzielt. Migranten leisten einen bedeutenden Beitrag zum Wohlstand und zur kulturellen Vielfalt unseres Landes. Leitlinie der Integrationspolitik bleibt Fördern und Fordern. Wir erwarten, dass Angebote zur Integration angenommen werden. Jedoch ist Integration ein Prozess, der allen etwas abverlangt. Sie ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Für alle gilt selbstverständlich die Werteordnung des Grundgesetzes.« Diese Sätze stehen im Ende 2013 beschlossenen Koalitionsvertrag der schwarz-roten Bundesregierung am Anfang des Kapitels »Integration und Zuwanderung gestalten«. Die Tinte war kaum getrocknet, da brach zwischen den Regierungsparteien Streit um Fragen und Probleme der Zuwanderung offen aus. Als im Jahre 2013 der Koalitionsvertrag ausgehandelt und zeitlich parallel die Veranstaltungsreihe des Instituts für Geschichtliche Landeskunde an der Universität Mainz (IGL) konzipiert und geplant wurde, ahnte kaum jemand, in welch bedrängender Weise das Thema Migration die politische Debatte und das individuelle Befinden der meisten Menschen nicht nur in Deutschland in den kommenden Jahren prägen würde. In Deutschland, in vielen europäischen Nachbarländern und weltweit trugen wachsende Migrationsströme sowie deren populistische Wahrnehmung und Instrumentalisierung dazu bei, dass aus Wahlen rechtsradikale bzw. rechtspopulistische Kräfte gestärkt hervorgingen. Die Mittelmeerinsel Lampedusa wurde über Italien hinaus zum Fanal für das Versagen von Flüchtlings- und Migrationspolitik und zum Symbol damit einhergehender menschlicher Tragödien. In den Debatten schwingt die Angst vor Überfremdung durch Migranten immer wieder mit, zugleich wurden die öffentlichen Diskurse in Deutschland zunächst in erster Linie mit ökonomischen Argumenten und mit Blick auf wirtschaftliche Interessen geführt. Die einen befürchteten den
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Missbrauch von Sozialleistungen und eine überbordende Belastung der sozialen Sicherungssysteme. Sie verwiesen auf jene Kommunen, bei denen die »Armutswanderung« – wie von der Bundesregierung ausdrücklich konstatiert – zu »erheblichen sozialen Problemlagen bei der Integration, Existenzsicherung, Unterbringung und Gesundheitsversorgung« führe. Die Bewohner vieler Länder, aus denen massenhafte Migration befürchtet wurde, sahen sich als »Sozialtouristen« verleumdet. All dies nährte alte Stereotypen, Vorurteile und Klischees des Fremden-, des Nachbarschaftshasses, die vor wenigen Jahren unter europäischen Nachbarn noch als weitgehend überwunden galten. Andere sahen und sehen in der Zuwanderung mehr Chancen als Risiken und gehen davon aus, dass sie mittel- und langfristig wirtschaftlich bei gleichzeitigem Schrumpfen der eigenen Bevölkerung vorteilhaft sei. Dabei wird darauf verwiesen, dass die notwendige Zahl von Erwerbstätigen, welche eine entscheidende Grundlage für die herausragende Rolle der deutschen Wirtschaft in der Welt darstelle, nur dank Zuwanderung erreicht werde. Unter den einheimischen Arbeitslosen könnten viele der benötigten qualifizierten Arbeitskräfte nicht mehr rekrutiert werden. Verwiesen wurde darauf, dass populistische Diskurse jene »Willkommens- und Anerkennungskultur« zerstörten, zu deren Stärkung sich auch die Bundesregierung im Werben um ausländische Fachkräfte ausdrücklich bekannte. Zu ihr – so der Koalitionsvertrag – gehöre »die interkulturelle Öffnung von Staat und Gesellschaft«, und die Koalitionäre plädieren explizit dafür, »Vielfalt als Chance« zu begreifen und interkulturelle Kompetenz nicht zuletzt in den staatlichen Behörden zu stärken. Es geht insgesamt auch um die Frage, ob das in Europa grundsätzlich verankerte Prinzip der Personenfreizügigkeit eingeschränkt werden soll. Unbestritten dürfte sein, dass mit der Arbeitnehmerfreizügigkeit eine der Grundfreiheiten des europäischen Einigungsprozesses und damit Prinzipien der europäischen Einigung zur Debatte stehen. Viele sind sich glücklicherweise darin einig, dass eine Versachlichung der Debatte dringend notwendig ist. Noch ist eine Gesamtbewertung unter wirtschaftlichem Blickwinkel nicht möglich; vorliegende Untersuchungen bestätigen aber nicht die Befürchtungen, der Wohlfahrtsstaat werde flächendeckend bedroht. Ein Zusammenhang zwischen der Einwanderungsquote beispielsweise und der Struktur und Höhe der Sozialausgaben lässt sich auch über Deutschland hinaus derzeit nicht nachweisen. Wenn die Integration vieler Migranten gelingt und Grenzen der Belastbarkeit benannt und akzeptiert werden, erscheint es möglich, dass die Integration von Arbeitskräften langfristig Herkunfts- und Zielländern wirtschaftlich nutzen könnte. Mit der Vortragsreihe des Jahres 2014 und der daraus entstandenen Publikation lud das IGL dazu ein, diese notwendigen Debatten nicht nur
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unter einem wirtschaftlichen Blickwinkel zu führen, sie vielmehr mit aus der Migrationsgeschichte schöpfenden Perspektiven und Argumenten zu bereichern. Wenngleich Migrationen, und das heißt auf Dauer angelegte räumliche Bewegungen von Einzelpersonen und Gruppen mit der Veränderung des jeweiligen Lebensmittelpunktes, seit dem Beginn des 21. Jahrhunderts weltweit deutlich zugenommen haben und auf Jahre hinaus zu erheblichen Problemen führen werden, handelt es sich bei ihnen doch um kein neues Phänomen. Daher erscheint es sinnvoll, auch mit Blick in die Vergangenheit zu fragen: Mit welchen sozialen Kosten waren diese Vorgänge in früheren Epochen verbunden, wie waren damals Risiken und Chancen verteilt? In welcher Weise führten (nicht selten gewaltsame) Wanderungen zu Destruktionen, gelang aber auch Integration, trugen Migrationen zu kultureller Bereicherung bei? Von der Zeit der Romanen, Franken und Alemannen an bieten die Beiträge des Bandes vielfältige Beispiele für Prozesse der Assimilation und der Integration. So machen Marietta Horster und Arno Braun anhand der Auswertung von Funden deutlich, dass in der Übergangszeit des 4. und 5. Jahrhunderts n. Chr. vor der Herausbildung der neuen und fest etablierten Reiche die Begriffe Germanen, Franken, Alamannen, Römer und Romanen zur Charakterisierung der Gesellschaft und Kultur am Mittelrhein dieser Umbruchphase kaum geeignet sind, da keine klare Abgrenzung zwischen vormaligen Eroberern und Eroberten mehr auszumachen ist. Auch Franz J. Felten, der sich mit der Frage auseinandersetzt, »wer blieb und wer kam in der ›Völkerwanderung‹ in unser Land hinzu?«, sieht keine scharfe Trennung zwischen den einzelnen Bevölkerungsgruppen und beschließt seinen Beitrag: »Auch ein auf seine Herkunft und seinen Stand stolzer Abkömmling einer galloromanischen Senatorenfamilie wie Gregor von Tours bestätigt, dass im neuen Frankenreich auch die Romanen, Burgunder und Westgoten Teil des neuen fränkischen Reiches und Volkes geworden sind.« Den komplexen Fragen der jüdischen Migration in den mittelalterlichen Rheinlanden widmet sich Matthias Schmandt. Er geht dem wechselhaften Verlauf der jahrhundertelangen unterschiedlichen Initiativen zur Ansiedlung von Juden nach. Einerseits wurde diese Politik von verschiedenen Landesherrn forciert, da sie ihnen zum Vorteil gereichte. Andererseits kam es immer wieder zu Pogromen und Vertreibungen der Juden aus einzelnen Städten und Territorien, und es wurde nie eine vollständige Assimilation erreicht, da ein »Abgrenzen (…) letzten Endes erst die Aufrechterhaltung jüdischer Identität unter den Bedingungen der Diaspora« ermöglichte. Dass schon in der Frühen Neuzeit ein »europäischer Binnenmarkt« existierte, führt Christiane Reves aus, indem sie die damaligen Netzwerke italienischer Händler zwischen Rhein, Main und Mosel beleuchtet. Ins 20. Jahrhundert führt schließlich der
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Beitrag von Ute Engelen. In einem Vergleich der zwei großen Industriebetriebe BASF in Ludwigshafen und Schott in Mainz beleuchtet sie die Zuwanderung seit den späten 1950er Jahren, als »Gastarbeiter« in großer Zahl nach Rheinland-Pfalz geholt wurden und – anders als anfangs geplant – viele von ihnen auf Dauer blieben. Gunther Nickel nähert sich dem Thema von der literarischen Seite. Jene Metaphern, welche der in Nackenheim (Rheinhessen) geborene Schriftsteller Carl Zuckmayer (1896–1977) in seinem Werk »Des Teufels General« vom Rhein als großer Völkermühle, als »der Kelter Europas« prägte, erscheinen besonders geeignet, jene zahlreichen Personen, Gruppen und Völker in Erinnerung zu rufen, welche entlang der Flussachsen von Rhein und Mosel im Laufe der Jahrhunderte siedelten und die dortige Kultur mit prägten: römische Soldaten und Händler, fränkische Adelige, jüdische Gelehrte, italienische Pomeranzenhändler und Künstler, französische Offiziere und Architekten, italienische Pizzabäcker, türkische und portugiesische Fabrikarbeiter und Gemüsehändler, polnische Erntearbeiter. Migrationen werden in etlichen kulturwissenschaftlichen Disziplinen derzeit als mögliche »Anker- und Fluchtpunkte« einer allgemeinen europäischen Erinnerungskultur diskutiert; allerdings ist diese Diskussion auf die Überprüfung von lokalen und regionalen Befunden angewiesen. Gerade im Rhein-Main-Gebiet ist die Zahl der Menschen, die einen so genannten Migrationshintergrund aufweisen, sehr hoch. Zuckmayers Metapher suggeriert eine besondere Intensität von Migrationen in diesem Raum, welche durch unterschiedliche (kriegerische, religiöse, politische, soziale, wirtschaftliche) Faktoren ausgelöst wurden, nicht erst für die Gegenwart, sondern auch für die Vergangenheit. Dabei geht es nicht nur um (ausgewählte) Migrationsabläufe und die mit ihnen einhergehenden kulturellen Prägeprozesse. Von Interesse sind vielmehr auch variantenreiche und bisweilen konträre Deutungsprozesse solcher Vorgänge, zeitgenössische Interpretationen und ethnische Zuschreibungen ebenso wie später (wie von Carl Zuckmayer) geschaffene Konstrukte. Das vom IGL gewählte Thema erscheint in besonderer Weise geeignet, ein Grundanliegen der Arbeit des Instituts deutlich werden zu lassen, nämlich die Erforschung und Vermittlung lokaler und regionaler historischer Phänomene im europäischen Kontext. Zugleich gestattete die Epochen übergreifend und interdisziplinär ausgerichtete Veranstaltungsreihe die Diskussion kulturhistorischer Fragestellungen im jeweiligen thematischen Rahmen. Die Vortragsreihe profitierte von zahlreichen engagierten Kooperationspartnern. Im Haus am Dom fühlen wir uns seit vielen Jahren als Gäste wohl, der Dank geht an den Erbacher Hof – Akademie und Tagungszentrum des Bistums Mainz. Gedankt sei auch der Generaldirektion Kulturelles Erbe, der
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Direktion des Landesmuseums Mainz. Drei Arbeitsbereiche bzw. Institute der Johannes Gutenberg-Universität waren an der Veranstaltungsreihe beteiligt: der Arbeitsbereich Mittlere und Neuere Geschichte und Vergleichende Landesgeschichte sowie der Arbeitsbereich Alte Geschichte im Historischen Seminar, ferner das Geographische Institut. Zu danken ist auch dem Museum am Strom in Bingen, dem Landtag Rheinland-Pfalz, der Kommission für die Geschichte des Landes Rheinland-Pfalz sowie dem Ministerium für Integration, Familie, Kinder, Jugend und Frauen. Eine besondere Freude war es, dass Christine Eckert und Günter Beck den Vortrag zu Carl Zuckmayer literarisch und musikalisch ergänzt haben. Zuletzt gilt unser Dank den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern unseres Instituts, besonders den engagierten Studierenden für die hervorragende Organisation und Durchführung der Vortragsreihe sowie Dr. Hedwig Brüchert für die sorgfältige Redaktion der Beiträge und die Vorbereitung des Bandes für den Druck. Mainz, im März 2017
Michael Matheus
Marietta Horster, arno Br aun
Germanen und Römer am Mittelrhein in der Spätantike
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ermanen und Römer – keine dieser Personengruppen kann in der schriftlichen Überlieferung der Spätantike eindeutig gefasst werden, ebenso wenig durch das, was wir an materiellen Überresten aus der Zeit haben. Selbst die immer weiter verfeinerten Methoden dieser Disziplinen, zu denen auch die Nutzung der Ergebnisse naturwissenschaftlicher Analysen zur Datierung von Hölzern, zur Kenntnis über Anbau- und Ernährungsgewohnheiten oder auch zur Bestimmung von Alter und Geschlecht menschlicher Skelette gehört, helfen zwar bei Fragen nach Besiedlungskontinuitäten und grundsätzlichen demographischen Analysen, nicht aber bei der Frage, ob es sich bei den Menschen, um die es geht, um Germanen oder Römer handelt. Dass es im römischen Gallien und Germanien und auch östlich des Reichsgebiets eine sehr heterogene Bevölkerung gab, ist bekannt. Auch dass es eine Vielzahl ethnischer Gruppen gab, wird niemand bestreiten, aber was das genau bedeutet und vor allem wie man diese Gruppen in der materiellen Kultur wiederfinden und dann auch präzise identifizieren kann – das allerdings ist heiß umstritten. Der folgende Beitrag wird sich dieser Frage stellen, sie aber nur in ausgewählten Aspekten verfolgen. Zum einen wird ein kurzer historischer Einblick in Ereignisse im mittelrheinischen Gebiet kurz vor und während der sogenannten Völkerwanderungszeit gegeben, mit dem Fokus auf Ereignissen, die Veränderungen für die Zusammensetzung der Bevölkerung provozierten. Selbst dieser schon eingeschränkte Schwerpunkt wird nur in einem winzigen Ausschnitt vorgestellt, nämlich anhand der Ereignisse in der Mitte des 4. Jahrhunderts, als der Caesar Julian am Mittelrhein weilte. Der eine oder andere Leser wird daher nicht nur wichtige Daten von Schlachten vermissen, sondern auch Namen einzelner Volksgruppen sowie möglicherweise attraktive Anekdoten, die die nähere Umgebung von Mainz betreffen.
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Zum anderen konzentriert sich diese historische Darstellung, die vor allem auf schriftlicher Überlieferung beruht, wie mit einem Zoom auf eine Siedlung und deren nähere Umgebung. Sie wird dann an einem Beispiel in ihren materiellen Aspekten hinterfragt, und die möglichen Aussagen und Probleme der demographischen Analysen werden hieran exemplifiziert. Diese beiden beispielhaften Präsentationen werden einen guten Eindruck vermitteln, wie die Region vom späteren 3. bis zum 5. und frühen 6. Jahrhundert immer wieder von kriegerischen Ereignissen betroffen war, wie viele unterschiedliche Gruppen das Mittelrhein-Gebiet durchzogen und zeitweilig hier siedelten oder sich längerfristig niederließen – sei es mit Gewalt oder friedlich. Literarische und Materielle Überlieferung Allerdings werden Architektur, Tischgeschirr und andere Keramik, Schmuck, Waffen usw. – kurz die Sachkultur einer gesellschaftlichen Gruppe – von Wissenschaftlern wie Laien vor dem Hintergrund eigener Vorstellungen und der zurzeit gerade interessanten Themen interpretiert. Daher fallen auch die Ergebnisse und Darstellungen dieser Zeit in den letzten Jahrzehnten immer wieder unterschiedlich aus, manchmal nur in Details, oft genug aber auch für die Gesamtbewertung, wovon gleich noch die Rede sein wird. Dabei sind die Vorstellungen moderner Wissenschaftler, nicht nur der Historiker, sondern ebenso der Sprachwissenschaftler und Archäologen, stark von den zusammenhängenden Darstellungen geprägt, die die schriftlichen Quellen bieten. Für unser Thema nenne ich beispielhaft nur zwei antike Autoren, die besonders eindrücklich schreiben: Zum einen ist dies Ammianus Marcellinus, der in den letzten Jahrzehnten des 4. Jahrhunderts über die Kriege in Germanien und Gallien aus römischer Perspektive recht zuverlässig und ausführlich berichtet. Zum anderen ist das Bild vieler Wissenschaftler, das sie von der spätantiken Bevölkerung und dem demographischen Wandel dieser Zeit haben, von Eugipps Biographie des heiligen Severin geprägt. Der im 5. Jahrhundert lebende Severin, Heiliger und Missionar, war vor allem in Niederösterreich und dem südöstlichen Bayern tätig. In der Heiligenvita werden die Schwierigkeiten und das Leiden der Bevölkerung lebendig geschildert, die Bedrängnis der Stadt- und Landbevölkerung, deren Nöte Severin zu lindern suchte, steht plastisch vor Augen. Römische Strukturen (administrativ, militärisch) sind kaum erwähnt. Severin soll außerdem die Entvölkerung von Ufernoricum vorausgesagt haben. Im Jahr 488, sechs Jahre nach seinem Tod, wurde diese Vision dann umgesetzt, indem die Bevölkerung die Region verließ und über die Alpen nach Italien in sicherere Gefilde aufbrach. Auch Severins Gebeine sollen damals nach Italien überführt worden sein.
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Niederösterreich und Südostbayern sind zwar in vielerlei Hinsicht verschieden vom Mittelrhein, aber dennoch gibt es vergleichbare Strukturen und Phänomene, die das Leben der Menschen ebenso auch im mittelrheinischen Raum vom späten 3. Jahrhundert an, besonders aber ab dem 4. Jahrhundert prägten: negative Erfahrungen wie Überfälle und Raubzüge, abnehmende, ja mangelnde Präsenz der Römer, aber auch neue, kirchliche Strukturen. Es sind nach Severins Vita vor allem die Äbte und Bischöfe, die den Herausforderungen der sozialen wie administrativen und judikativen Notwendigkeiten begegnen müssen. Zu den geschilderten Erfahrungen gehört aber auch die Vertreibung sowie die selbst gewählte Migration größerer Bevölkerungsgruppen und einzelner Familien, und zwar in alle Himmelsrichtungen. Trotz der Überlieferung der genannten wie einiger anderer spätantiker Autoren kommen die modernen Wissenschaftler nicht zu einer einheitlichen Bewertung der Vorgänge. Uneindeutigkeiten … Es sind nicht nur die zugegebenermaßen oft unpräzisen Angaben antiker Autoren: Oft genug ist in den Quellen allgemein von Alamannen und Germanen die Rede, später dann auch immer wieder von Franken und Goten als germanischen Großgruppen, so dass der Wirklichkeit der vielen unterschiedlichen Verbände selten Rechnung getragen wird. Ebenso werden auch die betroffenen geographischen Räume häufig nur sehr vage bezeichnet, so dass die Aufgabe, die Entwicklung konkret am Mittelrhein nachzuzeichnen, keineswegs eine leichte Aufgabe war. Neben diesen Ungenauigkeiten in den Quellen und der interessegeleiteten Darstellung sind es aber auch die modernen Bewertungen der mit dem Oberbegriff der Völkerwanderung bezeichneten Phänomene, die zu unterschiedlichen »Geschichten« führten. Einige wenige Hinweise auf die Interpretationsspielräume moderner Forschung mögen genügen, um Ihnen hiervon einen Eindruck zu geben, bevor dann die Auswahl an Ereignissen mit dem Schwerpunkt auf der Zeit Julians präsentiert wird. Ein konkretes Fallbeispiel Archäologische Forschung muss stets mit der Beurteilung einzelner Befunde ansetzen, um der Gefahr eines Zirkelschlusses zu entgehen. Zur Verdeutlichung der Schwierigkeit, aus archäologischen Zusammenhängen und historischer Überlieferung Vorgänge zu rekonstruieren, die den tatsächlichen Ereignissen nahe kommen, ein Fallbeispiel: der römische Vicus von Eisenberg, etwa 60 km südlich von Mainz, etwa mittig zwischen Alzey und Bad Dürkheim im Donnersbergkreis gelegen. Die antike Siedlung wurde gerade
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in jüngerer Zeit großflächig erforscht und lässt somit eine mehr als nur schlaglichtartige Sicht auf ihre Entwicklung zu. Je nach Blickwinkel befindet sich der Vicus südlich des oberen Mitteloder westlich des nördlichsten Abschnitts des Oberrheins. Er lag im südlichen Teil der Civitas Vangionum mit dem Vorort Borbetomagus, dem heutigen Worms. Die verkehrsgünstige Lage band ihn einerseits an die Fernstraße von Worms nach Metz, anderseits über den Vicus Altaiensium bzw. das spätantike Alteium (Alzey) an die Verbindung nach Mainz an. Die Entfernungen, insbesondere nach Worms bzw. zum Rhein und nach Alzey, betragen jeweils weniger als 30 km. Die römische Siedlung befand sich direkt südlich des heutigen Stadtgebietes und ist bis heute zum Großteil nicht überbaut worden. Dies und der Umstand, dass Untertagetonabbau zu großflächigen Geländeabsenkungen geführt hat, die anschließend mit Ausgleichsmaterial als schützender Decke planiert wurden, erklärt die gute Konservierung. Gerade die sonst oft von Zerpflügung, Erosion oder baulichen Eingriffen betroffenen jüngsten spätantiken Befunde haben sich hier erhalten. Obwohl seit 1882 mehrfach Ziel begrenzter Ausgrabungen, erweiterte sich das Wissen um Gestalt und Geschichte des Vicus erst seit 1990 erheblich, als im Rahmen des Baus einer Umgehungsstraße Grabungen durch die damalige Archäologische Bodendenkmalpflege, Amt Speyer des Landesamtes für Denkmalpflege nötig wurden. Aus diesen Untersuchungen sind Forschungen hervorgegangen, die bis heute andauern. Leider stehen wegen des äußerst umfangreichen Fundmaterials Ergebnisse in diesem Bereich derzeit im Wesentlichen nur für die Münzen zur Verfügung. Der antike Begriff Vicus, den man mit Häuserzeile oder Viertel übersetzen kann, kennzeichnet in den Provinzen stets eine Gewerbesiedlung unterschiedlicher Größe. Wesentliches Kennzeichen sind die Lage an einer belebten Verkehrsverbindung und eine charakteristische Bebauung aus sogenannten Streifenhäusern. Derartige Gebäude waren in Kombination von Wohnen und Gewerbe mit dem Giebel, also mit der Schmalseite zur Straße orientiert und konnten weit in die Tiefe gestaffelt sein. Dieser lang-schmale Grundriss war Namen gebend. Davor befand sich regelhaft ein überdachter Laubengang, die Portikus. Große Vici, die in manchen Fällen übergeordnete Verwaltungszentren waren, konnten aber auch eine Gliederung aufweisen, die sich am Vorbild mediterraner Städte orientierte. Eingerichtet als Werkplatz spätestens in tiberischer Zeit (etwa zwischen 15 und 40 n. Chr.), erreichte der daraus hervorgegangene Vicus von Eisenberg seine größte Ausdehnung wohl im zweiten Jahrhundert. Man geht von einer Fläche von 12 Hektar bei etwa 1.000 Einwohnern aus. Diesen Zustand gibt der Plan auf Abb. 1 wieder.
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Abb. 1: Vicus Eisenberg. Plan der Siedlung (Stand 2007). Im westlichen Bereich der Siedlung spätantiker Burgus.
Die wirtschaftliche Basis bildete wohl durchweg die Verhüttung und Verarbeitung von Eisen. Ihre besondere Bedeutung für die Wirtschaft des Ortes lässt sich auch am Fund eines Viergöttersteines ablesen, der zu einer sicher zentral aufgestellten Jupiter-Giganten-Säule gehörte. Auf der Spitze der Säule reitet Jupiter, die römische Herrschaft verkörpernd, einen Giganten nieder, der für Chaos und Unordnung steht. Auf den vier Seiten des Sockels sind meist die römischen Götter Juno (höchste römische Göttin und Ehefrau Jupiters), Minerva (Handwerk), Merkur (Handel, Reisende) sowie Herkules dargestellt. Hier jedoch ist Merkur durch Vulkanus ersetzt, den Gott des Feuers, der Bergleute und Metallverarbeiter. Aufgrund der Größe und wirtschaftlichen Potenz kam dem Ort auch Verwaltungs- und Marktfunktion zu, die in einem zentralen Platz und einem großen, forumsartigen Komplex an dessen nördlicher Flanke zu greifen ist. Ab dem späten dritten Jahrhundert setzte ein stufenweiser Niedergang ein, der mit den politischen Veränderungen an den römischen Nordgrenzen in Verbindung zu bringen ist und nachfolgend Thema sein soll. In der Spätan-
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tike entsteht am westlichen Rand der Siedlung eine Kleinfestung, welche die Bedeutung der Siedlung unterstreicht. Vor dem thematischen Hintergrund werden nachfolgend ausgewählte Siedlungsbefunde vorgestellt, die indirekte Zeugnisse politischer Ereignisse der Spätantike sind. Mit dem typischen Beispiel für ein Streifenhaus (Haus 13, Abb. 2), verkehrsgünstig nahe dem zentralen Platz an der Hauptverkehrsachse gelegen, wollen wir beginnen. Der Boden hat alle Bauphasen des ersten bis fünften Jahrhunderts in einer Weise bewahrt, dass man sich dazu entschloss, die Befunde durch ein Museumsgebäude zu schützen. Lassen wir die älteren Teile außer Acht und konzentrieren uns auf die spätantiken Phasen IV–VI (siehe Abb. 2). Die ältere der beiden Phasen zeigt einen Holzständerbau, dessen Schwellbalken auf gewaltigen Steinen ruhten. Zum Gebäude gehörte ein großer Steinkeller, im Plan oben rechts dargestellt. Während seiner Ausgrabung zeigte sich, dass der Aufgabe eine Brandkatastrophe zugrunde lag, bei welcher die hölzerne Kellerdecke brennend hineinstürzte und alles unter sich begrub, was sich darin befand. Das Inventar, wie Ölamphoren und Krüge, befand sich noch an Ort und Stelle. Es gelangte aber auch all das in den Keller, was zum Zeitpunkt des Brandes noch im Raum darüber war. Dank der stattlichen Anzahl von 75 römischen Münzen im Schutt des Kellers, lässt sich der Zeitraum des Unglücksereignisses eingrenzen. Der größte Teil datiert in die erste Hälfte des vierten Jahrhunderts, wobei die jüngsten Stücke zwischen 346 und 348 n. Chr. geprägt wurden. Man kann also davon ausgehen, dass die Zerstörung des Hauses später als 346 n. Chr. erfolgte. Nun war ein Hausbrand in antiker Zeit nichts Ungewöhnliches. Offenes Feuer war allerorten: im Bereich des Handwerks, zum Kochen, Beleuchten oder Heizen. Wegen der außerordentlichen zeitlichen Nähe der durch die Menge der Münzen recht verlässlichen Datierung zu den literarisch überlieferten Ereignissen zwischen 351 und 355 n. Chr. kommt aber auch eine kriegerische Ursache in Betracht. Für diesen Fall besäße man einen indirekten Beleg dafür, dass die Zerstörung mit einem germanischen Einfall zusammenhing. Zur Untermauerung einer solchen Annahme bedarf es jedoch weiterer gleichartiger Befunde desselben Zeitfensters, worauf weiter unten noch einmal eingegangen wird. Einschränkend wirkt, dass das sehr umfangreiche sonstige Fundmaterial noch nicht ausgewertet ist. Isoliert betrachtet, muss man also zunächst von einem sehr unglücklich verlaufenen Hausbrand ausgehen. Von einiger Bedeutung ist die Tatsache, dass dem zerstörten Haus in der zweiten Hälfte des vierten Jahrhunderts ein Steingebäude folgte, das nach Aussage von Münzen aus dem zuvor untergegangenen westlichen Nachbarhaus 17 bis in die erste Hälfte des fünften Jahrhunderts bestand. Zu ihm gehörten auch zwei fußbodengeheizte Räume und ein Marmorbelag, was von hohem römischem Wohnstandard in spätantiker Zeit zeugt. Die nach-
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Abb. 2: Haus 13. Grundriss und Bauphasen.
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träglich eingebaute y-förmige Heizung lässt aufgrund ihrer weniger guten Heizeigenschaften, besonders aber wegen des zahlreich verwendeten Spolienmaterials, bereits eine Phase niedergehender Infrastruktur erahnen. Ein Beispiel ganz anderer Art bietet Haus 5, der bereits angesprochene Forumsbau, gelegen an der nördlichen Seite des zentralen Platzes. Aufgrund von Position und Architektur ist er als öffentliches Gebäude zu identifizieren. Im Westen befand sich eine dreischiffige (Markt-)Basilika, welche auch die Curia (Rathaus) aufnahm. Angegliedert war ein allseitig geschlossener Hof mit umlaufender Portikus (Peristyl) und verschließbarem Zugang (Abb. 3). Man findet genau diese Konstellation regelhaft als Forum, dem Verwaltungs- und Marktzentrum, in römischen Städten. Mit dieser Funktion existierte der Bau, zunächst in Holz, vom letzten Drittel des ersten bis zur Mitte des vierten Jahrhunderts. Er war Sitz einer Benefiziariereinheit, die aus abkommandierten Legionssoldaten bestand und Ordnungsaufgaben übernahm, sowie Amtsort der Decurionen (der Ratsvorsitzenden einer römischen Gemeinde). Daneben beinhaltete er eine öffentliche Geldwechselstube. Nach Aussage der dort gefundenen Münzen wurde der gesamte Komplex um die Mitte des vierten Jahrhunderts zerstört. Hier erscheint ein simpler Hausbrand unwahrscheinlich. Schließlich wäre gerade das Forum als öffentliche Anlage wieder aufgebaut worden, hätten es die Umstände erlaubt. Das haben sie aber offensichtlich nicht und so ergibt sich eine grundlegende Zerstörung der Substanz auch rückblickend über die Nachnutzung (Abb. 4). Im westlichen Seitenschiff wurde notdürftig ein Gebäude eingerichtet, ansonsten gab es vor allem schuppenartige Kleinbauten, die sich an die alte Außenmauer anlehnen. Nicht nur die Aufteilung, sondern auch die Einrichtung einer Darre zum Trocknen von Getreide im südöstlichen Winkel des früheren Peristylhofes legt nahe, dass es sich nun um eine bäuerliche Anlage handelte. Sie bestand, einer Münze des Kaisers Theodosius II. zufolge, bis mindestens zwischen 408 und 450 n. Chr. fort. Der Charakter der Nachnutzung des vormaligen Kurienkomplexes zeigt deutlich die Schädigung der örtlichen Infrastruktur, lässt aber wiederum nur indirekt auf politische Ereignisse schließen, bei denen Germanen beteiligt gewesen sein könnten. Es ist auch nicht auszuschließen, dass die Bewohner des Gehöftes selbst germanische Siedler waren. Zwei Beispiele aus Baden-Württemberg mögen das veranschaulichen. In Wurmlingen, Landkreis Tuttlingen hatten sich alamannische Siedler im ehemaligen Badegebäude einer römischen Villa Rustica eingerichtet, indem sie dort einen Pfostenbau einstellten. In Sontheim, Landkreis Heidenheim entstand in frühalamannischer Zeit ein Holzgebäude, das hingegen eher römische Formen eines Streifenhauses und zudem eine Portikus aufweist. Diese Bauweise entspricht nicht der germanischer Wohn- / Stall- oder Grubenhäuser. Die Frage nach den Bewohnern
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Abb. 3: Haus 5. Idealrekonstruktion der Bauphase III (Curia).
Abb. 4: Haus 5. Lebensbild der Bauphase V (Bauernhof ).
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lässt sich demnach auf Grundlage des Befundes nur bedingt beantworten. Doch auch die in diesem Zusammenhang unumgängliche Auswertung von Fundmaterial birgt nur begrenzte Aussagemöglichkeiten, worauf an späterer Stelle zurückzukommen ist. Die beiden unterschiedlich gelagerten Eisenberger Beispiele zeigen, dass zumindest bei ersterem eine alltägliche Ursache im Bereich des Möglichen wäre. Erweitern wir deswegen das Blickfeld etwas. Auf Abb. 5 ist der Bestand aller bislang ausgegrabenen und nach Bauphasen untersuchten Gebäude farbig hervorgehoben, für die zugleich zumindest die Münzen ausgewertet worden sind. Hierfür liegt also eine einigermaßen verlässliche Datierung bezüglich der Aufgabe der Gebäude vor. Für die Zeit nach den ersten größeren germanischen Einfällen von 259–274 n. Chr. lässt sich die endgültige Zerstörung von vier Häusern feststellen (Haus 2, 9 und 11/12, rot unterlegt). Bis auf das östlichste Haus Nr. 10, dessen Aufgabe nur allgemein an das Ende des dritten Jahrhunderts datiert werden konnte, liegen für die anderen Gebäude Brandzerstörungen vor, in denen sich Schlussmünzen des Gallischen Sonderreiches (259–274 n. Chr.) fanden. Mit Haus 18 kam etwas östlich der beiden Häuser 11/12 am zentralen Platz aber auch ein Neubau hinzu. Zieht man dann alle Gebäude heraus, die einen Zerstörungshorizont mit Schlussmünzen der konstantinischen Zeit zwischen 337 und 351 n. Chr. aufweisen (orange unterlegt), so ergibt sich, dass danach nur noch Haus 4, der Bauernhof in der Ruine der Curia, Haus 13 und das westlich benachbarte Gebäude bis zum Ende des vierten Jahrhunderts bestanden (gelb unterlegt). Stattdessen entsteht am westlichen Rand der Siedlung ein sogenannter Burgus, wovon sich das deutsche Wort Burg ableitet. In einer letzten datierbaren Phase sind neben der Festung nur noch zwei Gebäude, aus denen Münzen des finalen römischen Prägehorizonts für Kleinmünzen kurz nach 400 n. Chr. stammen, vorhanden (grün unterlegt). So unklar unser Bild von den konkreten Ereignissen in Eisenberg ist, auch unter dem Vorbehalt der problematischen Datierung ausschließlich auf Basis von Münzen, so zeigt sich hierin doch der Niedergang einer Siedlung und die Not der Zeit, in welcher die germanischen Einfälle der literarischen Überlieferung nach liegen. Die Errichtung eines Burgus ist ebenso deutliches Zeichen dafür. Eisenberg wiederum ist nur ein Ortsbeispiel. Man könnte den erwähnten Befunden hunderte von anderen Fundplätzen zur Seite stellen. Die Anlage eines Burgus in Eisenberg ist im Zusammenhang mit den nachfolgend geschilderten historischen Vorgängen zu sehen. Obwohl darunter eine Kleinfestung zu verstehen ist, sind die Abmessungen des Eisenberger Typs beeindruckend. So besaß die Vorbefestigung Abmessungen von maximal 42,60 × 44,20 Metern (knapp 1.900 Quadratmeter Fläche), das Kern-
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Abb. 5: Vicus Eisenberg. Zeitraum der endgültigen Auflassung von Gebäuden auf Basis der ausgewerteten Münzen.
werk von 26 × 19 Metern (551 Quadratmeter) bei 1,90 Meter starken Außenmauern. Die Höhe wird mit bis zu 12 Metern angenommen. Teile der Anlage wiesen bis zum Abriss im Jahr 1903 noch eine Höhe auf, die den Ansatz des ersten Obergeschosses erreichte. Grabungen der Jahre 1882, 1919 und 1952 sind leider unzureichend dokumentiert, dem archäologischen Schichtaufbau wurde dabei keine Beachtung geschenkt. Gefunden wurden aber u. a. einige kaiserzeitliche Weihesteine, die in den Fundamenten verbaut waren. Daher ist eine späte Datierung des Bauwerks gegeben, was auch für die typologische Ansprache gilt. Als Bauform aus den Limestürmen der letzten Phase (erste Hälfte drittes Jahrhundert) hervorgegangen, lässt sich in der Eisenberger Anlage eine sehr entwickelte Form, eine regelrechte Festung sehen. Im Zusammenhang mit der weitreichenden Zerstörung örtlicher Infrastruktur in der Mitte des vierten Jahrhunderts wird die Errichtung daher in die Zeit nach der Wiederherstellung der römischen Ordnung entlang des Rheins zu
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datieren sein. Der vielfach genannte Zeitpunkt von 369 n. Chr. stützt sich dabei auf historische Quellen. Neben einer Schutzfunktion und militärischen Aufgaben dürfte der Burgus auch das untergegangene Forum ersetzt und Verwaltungseinrichtungen beinhaltet haben. Funde zeigen eine Nutzung während der zweiten Hälfte des vierten und des ersten Drittels des fünften Jahrhunderts. Sie entsprechen dem Horizont 2 des Kastells von Alzey. Die darunter befindliche Keramik entspricht dem zu erwartenden Spektrum jener Zeit. Dazu gehört einerseits sogenannte Terra Sigillata aus Produktionsstätten in den Argonnen in Nordfrankreich, weit entfernt von den Krisenherden am Rhein. Sie ist mit späten Tellern mit hohem Rand, weiß bemalten Schüsseln, Reibschalen und einem Teller, für den es eine Parallele des fünften Jahrhunderts aus den Barbarathermen in Trier gibt, vertreten. Feindatierbar ist diese Keramik auch durch variable Rollrädchenverzierung. Ein Leitfund der Spätantike ist die sogenannte Mayener Ware (Namen gebend der Eifelort), eine sehr harte und qualitätvolle Keramik ähnlich dem späteren Steingut, die weit entlang des Rheins verhandelt wurde. Auch sie kann über die Profilierung der Töpfe und die Randwulste der Schüsseln ins fünfte Jahrhundert datiert werden. Des Weiteren fanden sich Spinnwirtel, die auch eine zivile Nutzung nahe legen. Zuletzt stammt aus dem Burgusareal auch ein frühchristlicher Brotstempel. Von germanischen Bevölkerungsteilen existiert demnach auch hier insoweit keine Spur. Erstaunlicherweise aus dem Bereich des Burgus stammt mit einem Knochenkamm aber auch ein zweifelsfrei germanischer Fund (Abb. 6). Solche Kämme wurden von Männern wie Frauen verwendet. Das Stück aus Eisenberg gehörte einem Mann. Die glockenförmige Griffplatte verweist auf Träger ostgermanischer Herkunft, in etwa aus dem Gebiet des heutigen Polen. Auch aus den Kastellen Alzey und Kreuznach stammen interessanterweise solche Exemplare, aber z. B. auch aus zwei rechtsrheinischen Waffengräbern in Wiesbaden und Mainz-Kostheim. Man hat darüber spekuliert, ob hierin germanische Besatzungskontingente der Festungen zu sehen sind. Es drängt sich für diesen Fall allerdings die Frage auf, wie ein solcher Germane zu beurteilen wäre. Soll man in ihm nun z. B. einen römischen Soldaten, zivilen Bewohner mit germanischer Wurzel oder einen germanischen Krieger sehen? Bisher kamen nur indirekte Hinweise auf germanisches Wirken zur Sprache, aber wie verhält es sich mit direkten Spuren der Menschen? Es ist wichtig zu wissen, dass aus den verbrannten Trümmern der Häuser in Eisenberg keine menschlichen Überreste bekannt sind, und das ist keineswegs nur ein Eisenberger Phänomen. Trotz der oft gezeichneten Untergangsszenarien zum Ende der römischen Herrschaft war es offensichtlich noch möglich, die Menschen regulär zu bestatten, ihre Überreste ggfs. auch aus den Trümmern zu
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Abb. 6: Germanischer Knochenkamm aus dem Bereich des Burgus.
bergen. Gerade Bestattungen enthalten Hinweise auf Tracht oder Sitten, die direkt mit einer Person in Verbindung zu bringen sind und eine Diskussion über die kulturelle oder ethnische Zuweisung der Verstorbenen zumindest zulassen. Leider sind bis heute nur bruchstückhaft Hinweise auf Gräberfelder vorhanden, die dem Vicus zuzuordnen wären. Aus dem heutigen Stadtgebiet stammen einige Gräber des ersten Jahrhunderts, die hier aber nicht weiterhelfen. Möchte man bei dem Beispiel Eisenberg bleiben, muss der Radius etwas ins Umland erweitert werden. Ins Blickfeld geraten die Inventare zweier Gräberfelder in direkter Nachbarschaft des Vicus: »Am Senderkopf«, etwa 500 Meter östlich bzw. Richtung Worms und »In der Bems«, etwa 1,5 Kilometer westlich des Vicus, aber an der gleichen Fernstraße gelegen. Die Nekropolen dürften jeweils zu kleineren Siedlungen in Form von Villae Rusticae (Landgüter) gehört haben. Der Bestattungsplatz »Am Senderkopf« bildete ein umfangreicheres Gräberfeld, das neben den spätantiken Funden auch solche des ersten bis dritten Jahrhunderts hervorgebracht hat. Leider sind sie nicht bei archäologischen Grabungen, sondern beim Bau der Eistalbahn 1876 und im Rahmen späterer Baumaßnahmen geborgen worden. Daher ist es nicht möglich, die Fundstücke einzelnen Grabinventaren zuzuweisen. Zum besseren Verständnis, was Einheimische in der Spätantike ihren Verstorbenen mit ins Grab gaben, seien die Fundtypen kurz vorgestellt (Abb. 7).
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Abb. 7: Eisenberg. Keramische Grabbeigaben aus dem Gräberfeld »Am Senderkopf«.
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Das beigegebene Material ist typisch für spätrömische Bestattungen. Einerseits gehören dazu Schwarzfirnisbecher (Abb. 7, Nr. 1), eine Warenart, die es in sich wandelnder Form bereits seit dem späten ersten Jahrhundert gab. Charakteristisch sind dabei auch die in das Gefäß gedrückten Griffhilfen, welchen es den Namen Faltenbecher verdankt. Eine späte Datierung ergibt sich über den dunklen, ebenmäßigen Glanztonüberzug, einen hohen Hals und den kleinen Standboden. Eine typische Beigabe der Region in der ersten Hälfte des vierten Jahrhunderts sind orange überzogene Krüge und Kannen, gerne auch in der Ausprägung sogenannter »Wormser Gesichtskrüge« (Abb. 7, Nr. 6 bis 8). Sie entstanden in Wormser Werkstätten. Ebenfalls recht häufig gab man sogenannte späte Terra Nigra mit in die Gräber. Die hochwertige Drehscheibenqualität mit dunkler, polierter Oberfläche und feinem
Abb. 8: Beigaben eines alamannischen Frauengrabes aus Lauffen am Neckar.
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Tonüberzug, der Engobe, ist typisch für die gallischen Gebiete und besitzt dort eine lange Tradition. Die Formen der knickwandigen, späten Nigragefäße (Abb. 7, Nr. 2 und 3) jedoch entstammen germanischer Keramiktradition und setzen sich hier im dritten Jahrhundert durch. Sie sind ein Paradebeispiel dafür, dass sich kulturelle Elemente zunehmend vermischen und gegenseitig beeinflussen. Das macht es umso schwieriger, ihre Benutzer »ethnisch« zu identifizieren. Dazu kommt, dass späte römische Keramik genauso auch in rechtsrheinisch-germanischen Fundzusammenhängen auftaucht, wie das Beispiel eines alamannischen Frauengrabes aus Lauffen am Neckar verdeutlichen mag (Abb. 8). Der Bestatteten gab man neben handgemachten, einheimisch germanischen Schalen auch Schüsseln und eine Flasche in Terra Nigra-Technik sowie einen römischen Terra Sigillata-Napf mit ins Grab. Es sei auch auf zwei rauwandige Gefäße hingewiesen, bei denen es sich um Mayener Ware handelt. Neben der Keramik enthielten die spätantiken Gräber »Am Senderkopf« auch einiges an hochwertigen Glasgefäßen römischer Produktion. Sie spiegeln den hohen Lebensstandard der Menschen wider. Interessant ist nun, dass keines der Fundstücke aus dem Gräberfeld zwingend später datiert als in die konstantinische Zeit der ersten Hälfte des vierten Jahrhunderts. So werden die »Wormser Gesichtskrüge« in der zweiten Jahrhunderthälfte nicht mehr produziert, und die späte Terra Nigra ist nur als oxydierend gebrannte, braune Ware vorhanden. Die auf einem reduzierenden Brand basierende grau-schwarze Terra Nigra hingegen setzt sich erst wieder zwischen etwa 340 und 370 n. Chr. durch. Unter dem Vorbehalt, dass das Gräberfeld nicht archäologisch erforscht wurde und es möglich wäre, dass spätere Bestattungen noch im Boden ruhen, ist das Abbrechen eines derart siedlungsfreundlichen Siedlungsplatzes in Bezug auf die Zeitstellung bemerkenswert. Werfen wir einen Blick auf die Flur »In der Bems«. Die hier relevanten spätantiken Sarkophagbestattungen gehören zu einem umfangreichen Gräberfeld, das schon um 10–15 n. Chr. einsetzte. Zwischen 1935 und 1964 sind 90 bis 100 Bestattungen gefunden worden, von denen 75 lokalisiert und zugewiesen sind. Das Gräberfeld kann aufgrund seiner »Aufdeckung« durch Obertage-Klebsandabbau als komplett geborgen gelten. Hier existieren Inventare sowie nachträglich daneben niedergelegte Funde der zweiten Hälfte des vierten und fünften Jahrhunderts. Die linke Spalte der Keramiktafel auf Abb. 9 zeigt unter den Nummern 1 bis 4 Terra Sigillata-Schüsseln aus den Argonnen. Bei den Gefäßen der Nummern 5 bis 10 handelt es sich um rauwandige Gefäße Mayener Provenienz und Technik. Späte Merkmale der Töpfe sind die sichelförmig ausgeprägten Deckelfalze. Die rechte Spalte enthält Schwarzfirnisware, wobei insbesondere der mittlere
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Abb. 9: Eisenberg. Gräberfeld »In der Bems«. Keramische Grabbeigaben des späten 4. und 5. Jahrhunderts.
Becher durch die flaschenartige Form eine späte Datierung nahelegt. Von Bedeutung ist auch, dass Krüge, wie sie in den Wormser Werkstätten der ersten Hälfte des vierten Jahrhunderts hergestellt wurden, hier fehlen. Dem hinzuzufügen sind rechts oben Glasgefäße, die insbesondere durch den Krug mit Glasfadenauflage ins fünfte Jahrhundert datieren. Zum Beigabenspektrum der spätesten Gräber gehören auch 55 römische Kupfermünzen der Kaiser Arcadius und Honorius, die den schon erwähnten letzten Horizont der Kupfermünzprägung um 402 n. Chr. repräsentieren. Im Gegensatz zum Gräberfeld »Am Senderkopf« liegt hier also der Beleg vor, dass die zugehörige Siedlung, für welche interessanterweise Eisenverarbeitung nachgewiesen ist, bis ins fünfte Jahrhundert hinein existierte. Dabei unterstreicht das Fundgut einen funktionierenden Fernhandel sowie hohen Lebensstandard. Was die Beigabensets angeht, lässt sich darin ein durch und durch romanischer, aber in seiner materiellen Üppigkeit nicht christlicher Bestattungsbrauch fassen. Das ist für eine vermeintlich romanische Bevölkerung des frühen fünften Jahrhunderts so nah der Zentren und auch im Hinblick auf christliche Bevölkerung im Vicus Eisenberg ungewöhnlich, war doch das Christentum zu dieser Zeit bereits Staatsreligion.
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Abb. 10: Eisenberg. Gräberfeld »In der Bems«. Keramisches Inventar Gräber gef. 1964 (Nr. 1–5) und 1963 (7–12).
Mit dem Inventar der folgenden beiden Bestattungen (bezeichnet als Grab 1964 und 1963, Abb. 10) wollen wir das Gräberfeld und Eisenberg gleich verlassen. Sie verdienen wegen der Datierung besondere Beachtung, denn direkt daneben wurde das späteste römische Fundstück der Region (Abb. 10, Nr. 13) zusammen mit einem eisernen Messer (Abb. 10, Nr. 6) deponiert. Helmut Bernhard datierte es zuletzt in das dritte Drittel des fünften Jahrhunderts. Es handelt sich um einen Teller, der lokal gefertigt wurde und Terra Sigil-
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lata imitiert. Solche braunrot gestrichenen Waren kommen mit dem Ende der Spätantike auf und ersetzen die nicht mehr lieferbare Terra Sigillata der Argonnentöpfereien. Sie sind insofern auch indirektes Zeugnis zusammenbrechender Infrastruktur. In Trier markiert ihr Aufkommen den Übergang in die fränkische Zeit. Bezeichnenderweise fehlt Argonnenware hier im Set. Erneut fällt die Beigabenmenge auf, die einen paganen Charakter hat, was auch für die Praxis einer weiteren nachträglichen Deponierung gilt. Man darf also festhalten, dass selbst im weit fortgeschrittenen fünften Jahrhundert noch eine Kontinuität innerhalb des Gräberfeldes festzustellen ist. Die letzten Gräber, die vorgestellt werden (bezeichnet als Grab 1964 und 1963, Abb. 10), verändern die Blickweise auf die Menschen dieser Siedlung. Im Grab 1964 (Abb. 10, Nr. 1 bis 5) findet sich neben der vertrauten Mayener Keramik und einem späten Firnisbecher auch Terra Sigillata. Sie ist nicht später als an das Ende des vierten oder ins frühe fünfte Jahrhundert zu datieren. Außergewöhnlich innerhalb dieses Gräberfeldes ist die Beigabe einer Axt, denn dabei handelt es sich nicht um eine gallo-römische Sitte. Dagegen findet man Äxte häufig in germanischen Gräbern, wie z. B. der etwa zeitgleichen Bestattung Nr. 2 aus Stockstadt am Main (Schulze-Dörrlamm, S. 518 f.). »In der Bems« wurde die Axt, der Größe der Grabgrube nach, einem männlichen Jugendlichen mitgegeben. Das macht es noch interessanter, weil man davon ausgehen darf, dass er am Ort aufgewachsen ist, dort zuhause war. Was bedeutet das nun für die Beurteilung der Menschen der Siedlung? Handelt es sich um ein singuläres Phänomen, das evtl. einem ganz speziellen Umstand geschuldet war, der sich aus heutiger Entfernung zum Ereignis nicht mehr rekonstruieren lässt? Da für solche Jungengräber weitere Beispiele aus der Pfalz existieren, ist das zu bezweifeln. Ein Bezug zu germanischen Bräuchen käme durchaus infrage, sofern es sich nicht um ein eigenständiges regionales Phänomen handelt, welches dann aber erneut den speziellen, von Frau Horster geschilderten Vorgängen geschuldet sein dürfte. Doch wie ist die Beigabe in diesem Fall zu beurteilen? Haben wir hier romanisierte Germanen vor uns, und dürfen wir dann überhaupt noch von Germanen sprechen? Das Beispiel wirft einerseits ein anderes Licht auf die Bewohner der Siedlung, zeigt aber auch die Schwierigkeit, einen Grabbefund »ethnisch« interpretieren zu wollen. Schließlich spielen im Grabbrauch Vorstellungen eine Rolle, die sich einer objektiven Beurteilung geradezu entziehen. Die Problematik lässt sich anhand der sogenannten Waffengräber in Gallien erläutern. Zu ihnen werden Bestattungen gezählt, die ein Schwert, Speer- / Lanzenspitzen oder eine Axt bzw. eine Kombination daraus beinhalten. Pfeilspitzen blieben bislang unberücksichtigt, weil sich darin auch Jagdgeräte sehen ließen. Die spätantike Sitte der Beigabe in einem Grab hat ihren Ursprung in germanischen Stammesgebieten bzw. wird mit Germanen
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Abb. 11: Verbreitung spätantiker Waffengräber in Nordgallien.
in Verbindung gebracht. Die Karte auf Abb. 11 gibt die Verbreitung in Nordgallien wieder. Es fällt auf, dass die meisten Gräber nicht rheinnah anzutreffen sind, sondern weiter im Landesinneren, im heutigen Nordwestfrankreich liegen. Vielfach sind sie Teil spätrömischer Friedhöfe bei befestigten Städten oder Kastellen. Insgesamt kennt man weniger als 200 solcher Waffengräber, also eine erstaunlich geringe Anzahl. Jüngst hat Frans Theuws zudem mit in die Diskussion eingebracht, dass auch Axt oder Speer nicht unbedingt Waffen sein müssen. Mit einer Axt kann man Bäume fällen und Holz hacken, mit einem Speer ebenfalls auf die Jagd gehen. Theuws hat hinsichtlich der Äxte vorgeschlagen, in ihren Trägern eine Gründergeneration zu sehen, die durch die Beigabe einer Axt zu verstehen gibt, dass sie Unland gerodet und
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Abb. 12: Grab Nr. 22 aus Vireux-Molhain, Dep. Ardennes, Frankreich.
etwas wieder aufgebaut hat. Man erinnere sich nun noch einmal an die Axt aus Eisenberg und gleichzeitig an die zahlreichen Hinweise auf Zerstörungen in der römischen Siedlung. Wie beurteilt man nun diese »germanischen« Gräber? Sind es Kriegergräber, oder sollte man das Phänomen eher mit Veränderungen in den Bestattungssitten Nordgalliens beschreiben? Tatsächlich lassen sich Personen germanischen Hintergrunds in Gallien in dieser Zeit am besten anhand ihrer Bestattungen konkret greifen. Was erzählen uns die Beigaben der Waffengräber über ihre früheren Träger? Die Bestattung Nr. 22 aus Vireux-Molhain an der Maas, Département Ardennes, Nordwestfrankreich (zugegebermaßen nicht am Rhein, aber
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Abb. 13: Frauengräber mit germanischen Fibeln (Dreiecke) und Waffengräber (rote Kreise) des späten 4. und früheren 5. Jahrhunderts in Gallien. In Gelb Siedlungen germanischer Prägung.
hierzu ein wichtiger Fundplatz) ist ein typisches Beispiel (Abb. 12). Beigegeben sind eine Terra Sigillata-Schüssel aus den Argonnentöpfereien, eine Speerspitze, eine Gürtelgarnitur, eine Riemenzunge sowie ein Bronzering. Germanischem Brauch entspricht die Art des Sets, die Beigabe des Speers und auch des Bronzerings. Der Gürtel jedoch ist Teil spätrömischer Militärausrüstung. Bestattet in Gallien in einem spätrömischen Gräberfeld nahe eines Stützpunktes, weist das den Toten als römischen Militärangehörigen, anscheinend germanischer Herkunft, aus. Er ist nicht, wie viele andere – z. B. ein Soldat, dessen Grab in Frankfurt-Praunheim gefunden wurde – dorthin zurückgegangen, wo er möglicherweise ursprünglich beheimatet war. Unter Umständen war der Mann aus Vireux-Molhain auch in Gallien geboren. Jedenfalls hatte er einen Grund dort zu bleiben, besaß vielleicht Land, war verheiratet und römischer Bürger. Demnach fällt es schwer, ihn germanisch zu nennen, und wir müssen uns fragen, wo wir die Grenze ziehen wollen. Daher
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ist es bestimmt erlaubt, bei diesem Phänomen auch von einem Wandel der Bestattungssitten zu sprechen. Gleichwohl wird man ihren Ursprung im zunehmenden Einfluss germanischer Bevölkerungsgruppen zu suchen haben. Etwas leichter fällt die Ansprache für Gürtelgarnituren, die sich unter den Beigaben von auf dem Gebiet des Barbarikums Bestatteten finden. Sofern solche Gürtelträger in römischen Militärdiensten standen, was wahrscheinlich nicht grundlegend gelten kann, wären sie als germanisch zu identifizieren, weil sie sich nicht auf dem Gebiet des Römischen Reiches niedergelassen haben. Die weite Verbreitung der Gräber mit Militärgürteln unter den Beigaben zeigt zugleich die große Mobilität in dieser Zeit an. Zuletzt sei noch ein Blick auf die Verteilung von germanischen Frauenfibeln des späten vierten und frühen fünften Jahrhunderts in Gallien geworfen. Für die Verbreitungskarte (Abb. 13) wurden germanische Fibeltypen ausgewertet, da sie als Anzeiger für eine im Herkunftsgebiet getragene Tracht infrage kommen. Die generelle Verbreitung in Gebieten, in denen sich Waffengräber konzentrieren, ist augenfällig, zum Teil liegen sie im gleichen Gräberfeld. Doch finden sich viele Frauenfibeln auch gerade dort, wo keine Waffengräber vorkommen, sodass sich hier immerhin ein höherer Anteil germanischstämmiger Bevölkerung nachweisen lässt. »Barbarian Tides« oder Transformation und Migration Bevor nun die wesentlich auf literarischer Überlieferung beruhende Auswahl an Ereignissen der Zeit Julians präsentiert wird, möchten wir die gerade vorgestellten materiellen Befunde für den Vicus Eisenberg in den Kontext der durchaus divergierenden Forschungstraditionen und Interpretationen verorten. Den politischen und kulturellen Hintergrund solcher Diskussionen stellt beispielsweise Dirk Sievertsen in »Die Deutschen und ihre Germanen« dar. Demnach dominierte in gebildeten Kreisen bis mindestens kurz vor dem Nationalsozialismus die mediterran-affine Vorstellung, dass – ex Oriente lux – die Hochkulturen im Südosten ihren Ursprung hatten, die Germanen dagegen ein zunächst unkultiviertes Volk waren, die aber durch die Kontakte »mit den antiken Kulturvölkern historisch relevant wurden, dann aber im Mittelalter den erreichten Stand dieser Völker übernahmen und weiter fortbildeten« (Sievertsen, S. 75). Die alternative sprachwissenschaftlich, naturwissenschaftlich-medizinisch und archäologisch im 19. Jahrhundert entwickelte Idee verortete dagegen die Anfänge der Hochkulturen im Norden. Hier wohnten die Ur-Indogermanen, die nordische Rasse, die sich dann nur bei den Germanen (vor allem im Thüringischen Raum) erhalten und die sich dank der Völkerwanderung wieder im Westen verbreitet habe. Im Bereich der Archäologie war zu Beginn des 20. Jahrhunderts der wohl wichtigste
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Abb. 14: »Barbarians at the gate«.
Vertreter dieser Vorstellung, in Kombination mit wissenschaftlich fundierten Methoden zur Identifizierung der Germanen und ihrer Untergruppen in der Sachkultur, Gustaf Kossina (1858–1931). Abgesehen von den nationalen und ideologisch geprägten Vorstellungen werden seit einigen Jahrzehnten aber auch die Methoden Kossinas kritisiert. Er und nach ihm andere selbst noch bis weit ins 20. Jahrhundert hinein hätten eine Archäologie betrieben, die versuchte, Ethnien durch Siedlungszentren zu identifizieren, was eine »Siedlungsarchäologie ohne Gesamtschau der Befunde, ohne Berücksichtigung der Siedlungen« sei (Sievertsen, S. 79). Archäologie und Geschichtswissenschaft waren hierbei eng verbunden, die Interpretation von Texten und Sachkultur ging Hand in Hand. Auch heute gibt es einen die Interpretation prägenden aktuellen Zeitgeist – Toleranz ist das entscheidende Stichwort. Die allgemeinpolitische Situation, das Ende des offenen Ost-West-Konflikts, das neue Europa, die Globalisierung und die Anerkennung der Unterschiedlichkeit und Eigenheit der Kulturen und einer damit verbundenen politischen Sprache, die nur Freunde, Partner und Verbündete kennt – sie färben auch auf die Wissenschaft ab. So ist heute trotz der vielen blutigen Ereignisse der Endphase des weströmischen Reiches zumeist von Transforma-
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tion, Akkulturation, Integration, Mobilität und Migration die Rede. Kriegszüge, Überfälle, Gemetzel – solche Begriffe passen da nicht hinein. Alamannen, Burgunder und andere Gruppen am Mittelrhein Aber nun zu der Darstellung einiger weniger Ereignisse, die zu Bevölkerungsveränderungen in unserem Raum geführt haben. Unübersichtlich, schwierig, oft auch dramatisch und bedrohlich war über mehrere Jahrhunderte die Situation für Politiker und Feldherrn, die weitreichende Entscheidungen fällen sollten, für Soldaten und Anführer kleiner Gruppen, die angemessen reagieren mussten, aber auch für die von entscheidenden Informationen oft abgeschnittenen Siedler in Städten und auf dem Land, die reisenden Kleinhändler oder Handwerker. Wie auch heute oft, konnten viele Zeitgenossen, auch die unmittelbar betroffenen, die Ereignisse nicht einordnen. Im 3. Jahrhundert kommt es an der Rheingrenze und entlang des Limes zu einer Reihe von Einfällen in das römische Reichsgebiet, dabei werden in den schriftlichen Quellen Franken, Alamannen und Juthungen genannt. Römische Statthalter und Kaiser sind keineswegs untätig, Alexander Severus (222–235), dann Maximinus Thrax (235–238) unternehmen in den 220er und 230er Jahren Feldzüge und Strafexpeditionen über den Rhein. Ebenso wenig langfristigen Erfolg hatte auch der in Siegesaltären und mit Weihinschriften verherrlichte Sieg Aurelians im Jahr 259/60 gegen die Alamannen und Juthungen, die auf breiter Front in den Alpenraum bis ins südliche Germania Superior und Raetien eingefallen waren. Der sogenannte Augsburger Siegesaltar bietet hierfür ein sprechendes Beispiel (Année Épigraphique 1993, 1231): Diesen Weihaltar für die Göttin Victoria errichtete der Statthalter Raetiens, M. Simplicinius Genialis, nach einem Sieg über die »Barbaren des Stammes der Semnonen oder Juthungen«, die »niedergemacht und in die Flucht geschlagen« worden waren. Soldaten der Provinz Raetien, in Germanien stationierte Einheiten und ein Aufgebot aus der Region waren gemeinsam eingesetzt worden. So gelang dann auch die Befreiung »vieler tausend gefangener« Italer. In der Zeit danach werden die pauschal als Alamannen bezeichneten Gruppen immer wieder genannt, die selbst das Rheinland bedrohen und sich zum Teil dort auch niederlassen. 60.000 Alamannen sollen laut den christlichen Autoren Eutrop (9,23,1) und Bischof Euseb (Chron. Hier., a. 300) ins Reich eingefallen sein, die dann aber vom Caesar Konstantius, dem Vater Konstantins, bei Langres (dem antiken Lingonae in der Region Champagne / Ardennen) um das Jahr 300 besiegt wurden. Bald darauf sollen dann bei einer Schlacht bei Windisch (Vindonissa) südwestlich des Bodensees die Felder »von erschlagenen Feinden erfüllt« gewesen sein, so ein Konstantin lobender Redner in Trier im Jahr 310 (Pan. Lat. 6 [7], 6). Im Jahr 377 sollen dann
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weitere 30.000 Alamannen bei Horburg nahe Kolmar (zwischen Basel und Straßburg) von Kaiser Gratian getötet worden sein (Euseb. Chronik Hieron., a. 377). Mit einiger Wahrscheinlichkeit sind auch die vorgestellten Eisenberger Zerstörungsbefunde auf diese Ereignisse zurückzuführen. Riesige Stämme müssen das sein, wenn mehr als 100.000 bewaffnete Krieger innerhalb von 70 Jahren fallen. Der dazwischenliegende überragende Sieg Julians über die Alamannen im Jahr 356 bei Straßburg ist hierbei mit bescheidenen 10.000 Gefallenen veranschlagt. Auch wenn die Zahlen eher großzügig nach oben gerundet und die Angaben nicht präzise sind, so ist es durchaus wahrscheinlich, dass sich häufiger sehr große Kampfverbände den römischen Legionen und Auxiliareinheiten entgegenstellten, ganz zu schweigen von der Anzahl der zu den kämpfenden germanischen Truppen dazugehörigen Familien und dem weiteren Tross. Außerdem scheinen diese sogenannten Alamannen sich aus verschiedenen Gruppen und »Stämmen« je nach Bedarf zusammengesetzt zu haben, abgesehen von der schon genannten mangelnden Präzision der die germanischen Gruppen bezeichnenden lateinischen und griechischen Terminologie bei den antiken Autoren. Bei einem gallischen Festredner, der den Kaiser Maximian (286–305) für seine militärischen Erfolge lobte, ist dagegen von einer Bedrohung am Ende des 3. Jahrhunderts durch Burgunder, Alamannen, Chaibonen und Heruler die Rede, eine deutlich differenziertere Bezeichnung der beteiligten Gruppen, ohne dass wir wissen, ob diese zutreffen bzw. die Bezeichnungen aufgreifen, mit denen sich diese Stämme und Unterstämme selber nannten (Pan. Lat. 10 [2], 5). Strategiewandel und Reaktion der Römer Konsequenzen wurden seitens der Römer gezogen. Hatte schon Diokletian den Zuschnitt der Provinzen verkleinert sowie die Aufgaben zwischen ziviler und militärischer Verwaltung geteilt, so entstanden außerdem neue Festungsbauten, die Limesbefestigungen wurden verstärkt, wenn auch häufig verkleinert, und Grenzen verkürzt. Neben solchen Erfolgen wurde nun seitens der Römer auch eine andere Strategie verfolgt. Kleinere Einheiten als bisher wurden in den Legionslagern stationiert, das sollte die Flexibilität erhöhen, mehr Truppen entstanden – nicht die Zahl der Soldaten wurde erhöht, ein Kostenfaktor und logistisches Problem, sondern die Zahl der Legionen, Vexillationen, Kohorten und Alen. Ein weiterer Wandel im römischen Strategiekonzept war die stärkere Einbindung der Flussschifffahrt für den militärischen Nutzen. Damit wurde die Möglichkeit der Überwachung und Sicherung der Grenze vom Fluss aus erhöht, was im 4. Jahrhundert dann zu einem der wesentlichen Bestandteile des römischen Verteidigungskonzep-
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tes wurde. Die in Mainz gefundenen spätantiken Militärboote und kleinen Transportschiffe zeugen davon. Außerdem entstand im frühen 4. Jahrhundert eine Reihe von neuen Befestigungen, zum Beispiel in Neumagen an der Mosel und sogenannte Höhenfestungen nahe Koblenz. Auch wurde die Rheinlinie befestigt. Neue Anlagen entstanden, zum Teil, wie in Andernach und Boppard, auf oder neben zerstörten Siedlungen. Zur Sicherung der Rheinregion blieben die stark verkleinerten Legionen stationiert: in Mainz die 22. Primigenia, vom Norden her in Bonn die 1. Minerva. Darüber hinaus war ein auch im Nordosten des Reiches erprobter Ansatz, einen Teil des linksrheinischen Reichsgebietes an die Germanen abzutreten, bzw. sie auf Reichsgebiet »regulär« und damit kontrolliert anzusiedeln, nicht nur um sie zu integrieren und zu befrieden, sondern auch um ihr Potential und ihre neuen Interessen als Siedler und Bauern positiv für die Grenzsicherung zu nutzen. In diesem Licht erscheinen die angesprochenen Grabfunde aus Nordwestfrankreich und Belgien. Julianus Caesar in der Rheinregion Aber all diese Umstrukturierungen und Strategien halfen langfristig nicht viel, denn in weiteren Auseinandersetzungen, an denen die Franken maßgeblich beteiligt sind, wird unter anderem im Jahr 355 Köln zerstört. Im selben Jahr erhebt Kaiser Konstantin II. seinen Cousin Julian zum Caesar, der sich um den bedrängten Westen kümmern soll. Julian schreibt in einem Brief nach Athen über die Zustände am Rhein und jenseits des Rheins Richtung Donau (Jul. Ep. ad Ath. 278d–279d): »Ich beginne also den Feldzug zur Zeit, da das Getreide reif ist; eine Menge Germanen hat sich unbekümmert angesiedelt rings um die verwüsteten Städte im Land der Kelten [Anm. der Autorin: so werden von Julian alle Einheimischen in der Diözese Gallien mit Germanien und den anderen Provinzen genannt, unabhängig von ihrer Herkunft bzw. ihrem Rechtsstatus]. Die Zahl der Städte mit zerstörten Befestigungsanlagen beträgt etwa fünfundvierzig, ohne die einzelnen Bollwerke und die kleineren festen Stützpunkte. Die Ausdehnung des Landes, das die Barbaren da am Rhein innehatten, entspricht der Strecke, die er von seinen Quellen bis zum Ozean erfasst. 300 Stadien [ca. 55 km] vom Rheinufer entfernt wohnten diejenigen, die am weitesten vorgedrungen waren; noch dreimal so breit war das nach der Ausplünderung öde zurückgelassene Niemandsland. Dort konnten die Kelten nicht einmal das Vieh weiden. Auch manche Städte waren von den Bewohnern verlassen, bei denen die Barbaren sich noch nicht niedergelassen hatten.« Julian berichtet weiter, dass er nach ersten Erfolgen, wie der Rückeroberung der Stadt Agrippina am Rhein (Köln) und der Festung von Straßburg, nun nach drei Jahren seiner Anwesenheit in der Region, die Barbaren aus
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Gallien (d. h. den ehemaligen Provinzen Belgica und Germania), vertrieben habe. Das Wort Germanien für den linksrheinischen Teil fällt nicht, und Römer scheinen am Rhein und in der Region überhaupt nicht zu wohnen, wenn man seinen Personenbezeichnungen glaubt. Die Bewohner der Städte und auf dem Land heißen bei dem in sehr gebildeten und in griechischer Sprache schreibenden römischen Caesar Julian in der Regel »Kelten«, obwohl eigentlich der große Teil der Provinzialbevölkerung dem Rechtsstatus nach römisch gewesen sein dürfte. Eine andere Information, so ganz nebenbei von Julian erwähnt, ist für unser Thema der Bevölkerungszusammensetzung aber auch wichtig. Neben Zerstörung und Verdrängung der Siedler gab es durchaus auch Ansiedlung und Landbearbeitung durch die germanischen Eindringlinge in der ja immer noch bestehenden römischen Provinz Germania Prima. Auch der schon genannte Ammianus Marcellinus, der wichtigste lateinischsprachige Historiograph des 4. Jahrhunderts, spricht fast immer von den gallischen Gebieten, auch wenn er die germanischen Provinzen meint. Zurück zu Julian selbst, von dem wir aus Ammianus für das Jahr 355/56 erfahren, dass ihm berichtet wurde, dass die Städte Argentoratum – Straßburg, Brotomagum – Brumat, Tabernae – Zabern im Elsaß, Saliso – Selz, Nemetae – Speyer, Vangiones – Worms und Mogontiacum – Mainz in der Hand der Barbaren seien und diese sich im jeweiligen Umland niedergelassen hätten, die Städte aber mieden (Amm. 16,2,12). Geschildert wird dann von Ammian der Kampf gegen die Franken um die Stadt Köln (Amm. 16,3,1–2), und bei den folgenden Kämpfen der Jahre 356 und 357 werden dann sieben Könige der Alamannen namentlich genannt, die sich mit einem riesigen Heer in der Nähe von Straßburg zusammentun. Die abschließende Schlacht gegen Julian, der mit seiner kleinen Truppe von 13.000 Soldaten für die Römer verloren schien, wird dann aber doch nach hartem Kampf gewonnen. Ammian schildert dann einige erfolgreiche Racheaktionen der Römer, die aber unterbrochen werden, weil Germanen aus dem Hinterland über den Main (Menus) setzen, um die bedrohten Germanen gegen die Römer zu unterstützten. Julian lässt auf Rhein und Main Schiffe einsetzen, damit sich seine Soldaten schneller bewegen können, und agiert vom Wasser aus mit Überfällen auf das Land – eine zumindest temporär offenbar erfolgreiche Taktik gegen Germanen rechts des Rheins. Germanen waren allerdings überall, auch im römischen Heer wuchs ihr Anteil, immer wieder ist von Soldaten und Offizieren die Rede, die germanische Namen tragen und die je nach Rang, Dienstdauer und Einheit dann allerdings ihrem Bürgerrechtsstatus nach »Römer« waren. So vertraut beispielsweise Julian 359 wesentlich dem römischen Tribunen Hariobaudes, einem Alamannen der Herkunft nach, der die Pläne der Alamannen auskundschaften soll, während der Caesar mit
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anderen schon verlorene Städte wiedererobern bzw. wieder besetzen will, was dann auch gelingt: in der Germania Secunda beispielsweise Novaesium (Neuss) und Bonna (Bonn), in der Germania Prima Antemacum (Andernach) und Vingo (Bingen). Erst nach Hariobaudes’ Rückkehr mit wichtigen Informationen zur Lage auf der anderen Rheinseite rücken die römischen Truppen in Richtung Mainz aus. Dennoch bleibt die Lage unübersichtlich. Auch die durchaus kohärente Darstellung Ammians trägt nicht dazu bei, die Erzählung der überragenden römischen Abwehr und großen Siege unter der Führung Julians im Kontext der ständig neuen germanischen Angriffe und Einfälle, die immer wieder neu vermerkten Gebietsverluste, die Verluste an Siedlungen und Städten, in einen klaren chronologischen Ablauf zu bringen oder aber eine eindeutige Strategie der Römer geschweige denn der germanischen Verbände erkennen zu lassen. Die im Reich angesiedelten alamannischen und fränkischen Gruppen erweisen sich jedenfalls zum Teil als nicht zuverlässig. Als es dann bei Mainz, der römischen Überlieferung nach provoziert durch Alamannen, zur Auseinandersetzung kommt, hat Julian durch nächtliche Übergriffe vom Fluss her kleine Erfolge. Es wird dann mit dem sogenannten Brückenbau begonnen, wohl der Anlage einer Ponton-Brücke. Die gemischt römisch-germanischen Soldaten kommen so ins germanische Feindesland, plündern, brennen alles nieder, erschlagen viele Menschen, auch solche auf der Flucht. Danach ziehen sich die Römer zurück. Mainz dürfte in dieser Zeit oder wenig später die Mauer quer durch das ehemals große Legionslager erhalten haben, zur Sicherung kleiner Einheiten und evtl. auch der Bevölkerung. Aber schon 365 werden die Einfälle der Alamannen und Franken wieder massiver. Beispielsweise soll in der Zeit, als Kaiser Valentinian (364–375) im Jahr 368 in der Diözese Gallien weilt, ein alamannischer Trupp unter einem Führer namens Rando Mainz überfallen haben, das zu dieser Zeit ohne Besatzung war. Es folgen weitere Übergriffe, Schlachten, Verfolgungen, Plünderungen auf beiden Seiten, Racheaktionen und Strafexpeditionen. Der junge Valentinian II. (375–392) wird bei der Verteidigung der Rheingrenze gegen die Franken wenig später von Flavius Arbogast unterstützt, einem Römer fränkischer Herkunft, der von 388 bis 394 zunächst römischer Comes und dann sogar einer der höchstrangigen Generäle (magister peditum) im Westreich des römisches Reiches war. Unter anderem befestigte Arbogast ein letztes Mal Köln. Hätten wir das Grab Arbogasts, würde wahrscheinlich nichts bis auf den Namen auf seine fränkische Herkunft weisen. Die Grabbeigaben dürften dagegen vor allem seinen gehobenen römischen Rang widerspiegeln. Archäologisch gesehen wäre in diesem Fall Arbogast ein Römer, würden wir auf der Basis dieser im Material präsentierten kulturellen Identität urteilen.
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Demographischer Wandel und tiefgreifende strukturelle Veränderungen: sozial, gesellschaftlich, kulturell, administrativ und wirtschaftlich Zurück zur Geschichte des Wandels der Region. Die Bewohner (wie auch immer bezeichnet – Kelten, Romanen, Germanen, Römer) müssen ständig Angst haben vor Plünderungen, Brandschatzung, Verfolgung. Immer wieder gibt es Ruhepausen. Germanische Gruppen von rechts des Rheins lassen sich mal friedlich, mal gewaltsam im Lande nieder, bebauen das Land im linksrheinischen Raum. Manche ziehen bald weiter, manche bleiben, manche werden auch gewaltsam wieder vertrieben. Wer das konkret ist, das können wir in wenigen Fällen durchaus fassen, meist jedoch sind die Hinterlassenschaften bescheiden oder aber es sind von Römern und Germanen gleichermaßen genutzte Gerätschaften und Waffen. Die unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen bevorzugen die in einer bestimmten Region als wertvoll geltenden gleichen Objekte, und wer es sich leisten kann, möchte beispielsweise eine Fußbodenheizung im unwirtlichen Germanien haben, vielleicht in einem gut ausgestatteten Haushalt mit Fußbodenmosaik à la Romaine wohnen. Die vorgestellten archäologischen Beispiele spiegeln das wider, offenbaren aber auch die Unsicherheiten der Forschung in Bezug auf die Identifizierung von Personen und Gruppen anhand ihrer dinglichen Hinterlassenschaften. Trotz der Interpretationsprobleme und Unklarheiten: Ein positives Zwischenfazit ist angebracht. Sowohl die wenigen schriftlichen als auch die vielen archäologischen, materiellen Quellen sind unglaublich wertvoll. Deren Wert ist aber abhängig davon, was man fragt und wie man fragt. Die schriftlichen Quellen zeigen, dass zwischen dem 4. und 6. Jahrhundert die Rhein-Main-Region einen enormen Wandel durchmacht. Die militärische Macht der Römer erweist sich seit Anfang des 3. Jahrhunderts für mehr als 150 Jahre als wenig stabil, immer wieder wird der Mittelrhein zum Ausgangspunkt für Feldzüge der Römer in den Osten und zum Schauplatz von mehr oder weniger dramatischen Einfällen von bewaffneten Gruppen, die von den Betroffenen, römischen Besatzern wie auch römischer Bevölkerung (welchen ›ethnischen‹ Ursprungs auch immer) nicht immer differenziert und eindeutig identifiziert werden. Die ganze Region, die auch früher am Rande des Reiches lag, aber dennoch prosperierte und sicher schien, ist nun eindeutig zur Grenzregion geworden. Das Hinterland jenseits des Rheins, viele Jahrzehnte lang für Handel und Rekrutierung von Arbeitern, später auch Soldaten eine wertvolle und gewinnbringende Pufferzone, die man mit dem Limessystem gut im Griff zu haben schien, ist weggefallen. Der demographische Wandel beginnt allerdings schon, bevor die ersten germanischen Invasoren sich im Rheinland, in Rheinhessen und der Pfalz
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breit machen. Die Verkleinerung der Siedlungen beginnt schon im späten 3. und frühen 4. Jahrhundert. Die neuen Befestigungen, die an vielen Orten und selbst in Lagern errichtet werden, in der Regel doppelt so hoch und breit wie zuvor und häufig einen kleineren Kern umfassend – so auch die Stadtmauer des 3. Jahrhunderts von Mainz –, entstehen lange, bevor es dann zu den großen Katastrophen kommt und man von der »Völkerwanderung« spricht. Auch die Befunde aus Eisenberg mögen das exemplarisch verdeutlicht haben. Man kann sagen, es hat eben funktioniert: Zumindest ein paar Jahrzehnte lang haben die neuen Mauern abgeschreckt, und haben die Zufluchtsorte und Fluchtburgen, wenn sie denn als solche angelegt waren, der Landbevölkerung wirklich geholfen. Als dann die ersten wirklichen katastrophalen Nachrichten folgen, Städte wie Köln in Flammen aufgehen, und dann 50 Jahre später auch noch das südlicher gelegene Mainz von den Scharen im Winter 406 angeblich überrascht wurde, wer wohnte denn da in Mogontiacum, wer in Kastel und den umliegenden Dörfern? Wenn wir also den Bevölkerungsstrukturen und dem demographischen Wandel näher auf die Spur kommen wollen, dann sollten wir doch anders fragen und unser reiches, wenn auch im Verhältnis zu Kaiserzeit und hohem Mittelalter in der Menge eher geringes Material anders nutzen. Die Identität der Bewohner der Region ist seit der Kaiserzeit vielschichtig, Namen germanischen Ursprungs sind auf den Grabsteinen in der Spätantike zwar häufiger als zuvor zu finden, die Inschriften sind aber weiterhin in lateinischer Sprache verfasst und das Denkmal steht in der Tradition römischer Formen, manchmal kombiniert mit christlicher Symbolik oder Phrasen. Die Bezeichnung »Romanen« wird in der modernen Literatur oft benutzt, um anzudeuten, dass man zwischen Germanen und Römern nicht so genau trennen kann, dass man mit den Bürgerrechtskategorien wohl nicht weiterkommt. Zumindest für die Analyse der Bevölkerungszusammensetzung hilft, anders als in der Republik und frühen Kaiserzeit mit ihren Tria Nomina, die Untersuchung der Namensgebung nur sehr wenig. Die wichtigen Brüche liegen weniger im Rechtsstatus als in anderen Dingen: ob nun römischer oder germanischer Römer, römischer Germane oder Germane, es ist ein Unterschied, ob er oder sie Schweine oder Rinder züchtet und isst, ob eher Hafer oder Gerste Grundnahrungsmittel sind, ob es zentrale Märkte in der Region gibt, ob Naturalien oder Geldwirtschaft den Warenaustausch ermöglichen, ob Waren und Rohstoffe aus dem Mittelmeer und Frankreich an den Rhein gelangen oder mehr solche aus dem Land östlich des Rheins und aus Elbenähe, ob die Schifffahrt über die Rhone zum Rhein noch möglich und üblich ist oder nun nicht doch eher Kommunikation wie Reisetätigkeit eher in den Norden und Osten orientiert sind.
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Aber nicht nur die ökonomischen Rahmenbedingungen sind wichtig, ebenso auch die religiösen, die politischen und gesellschaftlichen: ob das Los des Lebens durch eine Erlösungsreligion wie das Christentum erleichtert wird, ob es Zugang zu Rechtsprechung gibt, ob überhaupt klar ist, wer richterliche Autorität hat und wer nach welchem Recht gerichtet wird, oder auch ob es schulischen Unterricht gibt, wie exklusiv bzw. teuer er ist oder beispielsweise, ob es Gruppen gibt, die militärischen Schutz bieten und was der Einzelne dafür tun kann, um die persönliche Sicherheit und die seiner Familie zu erhöhen. Mit solchen und vielen anderen Fragen ausgestattet, können wir auch jenseits der großen Debatten um Ethnizität und Ethnogenese, um Transformation des Reiches oder Untergang, um die demographische Entwicklung der Grenzregionen des ehemaligen römischen Reiches wie auch dem Mittelrhein im Kleinen einen neuen Weg einschlagen. Es gibt durchaus Forscher, die diesen Weg gehen. Entsprechend viele Einzelergebnisse liegen vor, aber häufig genug ist es gerade das Thema der Bevölkerung, das dabei zu kurz kommt, und in der Übergangszeit vor der Herausbildung der neuen und fest etablierten Reiche werden die Begriffe Germanen, Franken, Alamannen, Römer und Romanen zur Charakterisierung der Gesellschaft und Kultur am Mittelrhein dieser Umbruchphase kaum gerecht. Dafür zu sensibilisieren, war auch Ziel des Exkurses, der bei archäologischer Grundlagenforschung ansetzt. Es zeigt sich, dass für die Spätantike archäologisch erstaunlich wenige direkte Zeugnisse bekannt sind, die auf Personen germanischer Abstammung hinweisen. In der materiellen Alltagskultur scheinen sie zu dieser Zeit ohnehin kaum greifbar zu sein. Das wird umso deutlicher, wenn man die Situation mit jener des ersten Jahrhunderts vergleicht. Die vom Verfasser im Rahmen seiner laufenden Dissertation bearbeiteten Befunde eines Eisenberger Vicusareals enthalten bereits im frühen ersten Jahrhundert einen nennenswerten Fundanteil germanischer Herkunft. Das Verschmelzen beider Materialkulturen bzw. die gegenseitige Beeinflussung erschwert hier jedoch eine Trennung für die spätere Zeit. So nehmen bestimmte, ursprünglich germanische Gefäßformen eigene Entwicklungslinien auf und unterliegen einer materiellen Regionalkultur, die man am besten mit dem Begriff des Peripheriephänomens beschreibt. Vergleicht man Funde des ersten Jahrhunderts mit jenen der Spätantike vor dem Hintergrund germanischer Materialkultur, müsste man für Eisenberg zu dem Schluss kommen, dass das erste Jahrhundert hier »germanischer« erscheint als die Spätantike. Entbehrte man der historischen Quellen, fiele die konkrete Bewertung vielleicht anders aus. Man sollte auch nicht unterschlagen, dass erst nach dem politischen Zusammenbruch des westlichen Teils des Römischen Reiches im Jahr 476 n. Chr. die Zahl archäologisch ansprechbarer Belege germanischer Bestattungen auf dem Gebiet des ehemaligen Gallien tatsächlich enorm zunimmt.
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Einen gut lesbaren Einstieg vermitteln BleckMann, Bruno: Die Germanen. Von Ariovist bis zu den Wikingern, München 2009. Ward-Perkins, Bryan: Der Untergang des römischen Reiches und das Ende der Zivilisation, Stuttgart 2007.
Zu den Gegensätzen der Interpretation von der Eroberung zur Migration GoFFart, Walter: Barbarian Tides. The Migration Age and the Later Roman Empire, Philadelphia 2006. HeatHer, Peter J.: Empires and Barbarians. The Fall of Rome and the Birth of Europe, New York / Oxford 2010.
Einen Überblick über die regionale Geschichte unter Einbeziehung der archäologischen Zeugnisse bieten Felten, Franz. J.: Antikes Erbe und germanische Eigenart. Archäologische Beiträge zur Geschichte des Mittelalters. In: Kreuz – Rad – Löwe: Rheinland-Pfalz – ein Land und seine Geschichte, Bd. 1: Von den Anfängen der Erdgeschichte bis zum Ende des Alten Reiches, Mainz 2012, S. 213–234. FiltzinGer, PHiliPP: Die Römer in Baden-Württemberg. In: Handbuch der Baden-Württembergischen Geschichte, Bd. 1: Von der Urzeit bis zum Ende der Staufer, Stuttgart 2001, S. 131–190. Gilles, karl-JoseF: Die Römische Zeit. In: Kreuz – Rad – Löwe: Rheinland-Pfalz – ein Land und seine Geschichte, Bd. 1: Von den Anfängen der Erdgeschichte bis zum Ende des Alten Reiches, Mainz 2012, 129–178.
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Zur historischen und archäologischen Interpretation der ›Germanen‹ und der Existenz von Ethnien, Stämmen, Gruppen und deren Lebensweisen bzw. den Möglichkeiten, diese aufzuspüren BratHer, seBastian: Ethnische Identitäten aus archäologischer Perspektive. In: St. Zimmer (Hg.): Kelten am Rhein. Akten des dreizehnten Keltologiekongresses, Teil I: Archäologie – Ethnizität und Romanisierung, Mainz 2009, S. 1–12. sievertsen, dirk: Die Deutschen und ihre Germanen. Germanendarstellungen in Schulgeschichtsbüchern 1871–1945, Rahden / Westf. 2013, besonders S. 75–100.
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Fr anz J. Felten
Romanen, Franken, Alemannen und … wer blieb und wer kam in der Völkerwanderung in unser Land hinzu?
»
Unzählige sehr wilde Völker haben von ganz Gallien Besitz ergriffen. Das gesamte Gebiet zwischen den Alpen und den Pyrenäen, zwischen dem Ozean und dem Rhein verwüsteten der Quade, Vandale, Sarmate, die Alanen, Gepiden, Heruler, Sachsen, Burgunder, Alemannen und (…) die pannonischen Feinde. Selbst der Assyrer (aus Ps. 83) kam mit ihnen.« Das ist ein Zitat aus einem Brief des Kirchenvaters Hieronymus, wohl aus dem Jahr 408/409, in dem er auf den Rheinübergang am Silvestertag 406 bei Mainz und die anschließende Verheerung Galliens durch offensichtlich heterogene Gruppen anspielt, ohne dass wir annehmen müssten, alle die genannten ›Völker‹ seien tatsächlich beteiligt gewesen. Für uns noch interessanter fährt er fort: »Mainz, einst eine berühmte Stadt, ist eingenommen und vernichtet, und viele tausend Menschen wurden in der Kirche hingemetzelt. Worms musste eine lange Belagerung aushalten, bevor es dem Untergang anheimfiel.« Es folgen Reims, und eine Reihe weiterer Städte bis hinunter nach Lyon und Narbonne. (Goetz 2013 II, 272). Ein Teil dieser ›Völker‹ taucht wenig später bei Orosius auf, einem spanischen Geistlichen, der Hieronymus besucht hatte und um 417/418 im Auftrag des Augustinus eine Geschichte gegen die Heiden schrieb. Sie wollte den Vorwurf widerlegen, die Christen seien Schuld an dem Unglück Roms, das 410 heimgesucht worden war. Stilicho, selbst ein Vandale und zu dieser Zeit der führende Staatsmann und Militär des Westreiches, habe »an Truppen und Streitkräften unwiderstehliche Völker (…), Alanen, Sueben, Vandalen und die dadurch gleichzeitig in Bewegung gesetzten Burgunder« zur bewaffneten Gewalt ermuntert. Sie sollten die Rheinufer plagen und Gallien heimsuchen, weil er hoffte, »dass in dieser Notlage die Kaiserherrschaft seinem Schwiegersohn zugunsten seines Sohnes entrissen (…) werden könnte« (Goetz 2013 II, 285). Ob es diesen
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Plan gab, wissen wir nicht, wohl aber von Orosius, dass die Alanen, Sweben, Vandalen und mit ihnen viele andere die Franken zerrieben, in Gallien einfielen und »in geradlinigem Ansturm« bis zu den Pyrenäen gelangten (Goetz 2013 II, 270). Zeugnisse wie diese ließen sich unschwer vermehren. In der zitierten Freiherr-vom-Stein-Gedächtnisausgabe der Monumenta Germaniae Historica bilden die Quellen zu den Germanen in der Völkerwanderungszeit zwei starke Bände. Sie bestätigen das altvertraute Bild der ›Völkerwanderung‹ bzw. auf Französisch les invasions des barbares: barbarische, vor allem germanische ›Völker‹ überfluten von sich aus seit dem 3. Jahrhundert, später unter dem Druck der Hunnen, die Reichsgrenzen und führen so in wenigen Jahrzehnten den ›Fall Roms‹, den ›Untergang des Römischen Reiches‹ herbei. Zunächst will ich kurz auf diese allgemeine Problematik eingehen, danach die für unseren Raum wichtigsten ›neuen Völker‹ vorstellen und im dritten Teil Antworten auf die Fragen im Vortragstitel geben. I.
Längst haben wir gelernt, dass dieses Bild zu einfach ist. »Eine dichotomische Gegenüberstellung von Römern und Germanen vereinfacht die historischen Bedingungen über Gebühr – zumal es aus spätantiker Sicht Germanen gar nicht mehr gab, sondern verschiedene ›neue Völker‹, wie Franken, Alemannen, Goten, Vandalen oder Langobarden. Die Römer waren tatsächlich unterschiedliche Regionalbevölkerungen, und die Germanen setzten sich aus heterogenen Stammes- und Militärverbänden zusammen« (Brather 2008c, 432). Längst schon bestanden intensive Kontakte über den Limes hinweg; Germanen dienten im römischen Heer, siedelten dort als dediticii und Foederaten. Wiederholt zeigt sich, dass sie auch Teilnehmer an innerrömischen Konflikten waren. So wurde z. B. im Jahr 411 Iovinus mit Hilfe eines Alanen und eines Anführers der Burgunder in Mundiacum zum Kaiser erhoben. Man hat diesen unbekannten Ort Mundiacum mit Mainz gleichsetzen wollen, doch lag er in der Provinz Niedergermanien. Aus dem nördlichen Gallien zog Iovinus dann mit Burgundern, Alemannen, Franken, Alanen und seinem ganzen Heer nach Süden gegen den Kaiser Constantinus III. (Castritius 2008, 46). Seit langem fragt man: Was verbirgt sich hinter diesen ›Völkern‹, die uns ja nur durch die Brille griechischer und römischer Autoren sichtbar werden? Waren hier wirklich, wie man im 19. Jahrhundert und darüber hinaus glaubte, homogene ethnische Großgruppen auf Wanderschaft von ihren Stammsitzen im Norden und Osten, teils über Hunderte von Kilometern und über Jahrzehnte hinweg, bis sie endlich im Römischen Reich ankamen?
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Dieser Eindruck wird einem etwa im dtv-Atlas der Geschichte durch Farbflächen und Pfeilgrafiken noch vermittelt. Oder handelte es sich eher um heterogen zusammengesetzte Sozialgebilde ganz unterschiedlicher Struktur – ›Zweckverbände‹, ›Aktionsgruppen‹, ›Kriegerverbände‹ – die sich während der Wanderung bildeten, zusammengeführt und zeitweise zusammengehalten wurden durch gemeinsame Interessen und Leitung, sich aber auch leicht wieder auflösen konnten? Gruppen, die durchaus nicht immer identisch sein mussten, wenn sie von den antiken Autoren in unterschiedlichen Kontexten mit demselben Namen belegt wurden. Erlebten sie erst im Kontakt und im Konflikt mit dem Römischen Reich oder gar erst auf Reichsboden ihre Ethnogenese, ihre Volkwerdung, d. h. fanden sie dort erst zu einer politischen Einheit unter einem starken Königtum und danach zu einer Identität als ›Volk‹? Am Beispiel der Goten oder der Franken ist dieser Prozess am besten zu beobachten, sehr viel weniger gut bei den Alemannen oder gar bei den Burgundern (siehe z. B. Wolfram 1990). Mit Blick auf das Römische Reich ergibt sich daraus, dass sein Zusammenbruch, der Fall Roms nicht einfach eine Folge wuchtiger Schläge heranbrandender Völker war, das Ergebnis von Durchbrüchen durch den Limes, großer Schlachten und gewaltsamer ›Landnahmen‹ (auch das ein Begriff des 19. Jahrhunderts), sondern vielmehr eine Konsequenz von inneren Krisen und äußeren Entwicklungen war. Die Völker vor dem Limes standen schon lange mit den Römern im Kontakt. Immer wieder tauchten größere und kleinere Gruppen im Reich als Plünderer oder Söldner auf und lernten die römische Zivilisation kennen; viele kehrten offenbar wieder in ihre jeweilige Heimat zurück und brachten römische Waren mit. Am Beispiel der Franken lässt sich verfolgen, wie die römischen Kaiser und lokalen Machthaber den Fremden, die sie nicht mehr vertreiben konnten, als Gefangenen bzw. ›Ergebenen‹ (dediticii) Land zur Bewirtschaftung zuwiesen und sie zum Kriegsdienst verpflichteten. Sie machten gewissermaßen aus der Not eine Tugend und wahrten das Gesicht, wenn sie die Barbaren die gallischen Felder bestellen und im römischen Heer dienen ließen. Schließlich freilich, in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts, schlugen die Gewichte um. Von Nordgallien aus beherrschten fränkische Könige immer größere Gebiete, und schließlich erkämpfte Chlodwig, wie sein Vater römischer ›General‹ und König seiner Franken, die Macht in fast ganz Gallien (Nonn 2010; Scholz 2012). Um es noch einmal zugespitzt zu formulieren: Erlag das Römische Reich – symbolisch gefasst im Schulbuchdatum ›476: Erlöschen des weströmischen Kaisertums‹ – dem Ansturm der jungen, gesunden germanischen Völkern der Goten, Franken, Burgunder, Vandalen und Langobarden, die ihre Reiche an die Stelle des alt gewordenen, verbrauchten Großreichs setzten? Einer solchen Sicht entsprach die nationalistische Interpretation der
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Vorgänge im sich einigenden Deutschlands seit der Wiederentdeckung des Tacitus, aber auch das romanische Interpretament der Invasion der Barbaren, in Frankreich gefördert durch die Erfahrung des Krieges 1870/71. Oder gab es eher einen langsamen Übergang von der Spätantike zum frühen Mittelalter, in dem viele Sozialstrukturen den Zusammenbruch der staatlich-politischen Ordnung überdauerten? Ich erinnere an das Buch »Wirtschaftliche und soziale Grundlagen der europäischen Kulturentwicklung von Cäsar bis auf Karl den Großen«, über den ›Zusammenbruch‹ hinweg also, das der berühmte österreichische Historiker Alfons Dopsch der sog. Katastrophentheorie entgegensetzte, nicht zufällig 1918/20, nach dem Ende seiner geliebten Donaumonarchie (Dopsch 1918/1920). Der ›Untergang‹ des Römischen Reiches ist sicher eines der am meisten diskutierten historischen Probleme, und vor Jahrzehnten schon erschien ein dickes, gelehrtes Buch über die verschiedenen Erklärungsversuche (Demandt 1984). Die sehr umfangreiche wissenschaftliche Literatur der letzten Jahre und Jahrzehnte tendiert dazu, die Kontinuität von Gesellschaft und Strukturen stärker zu betonen als Abbruch und Neuanfang. In diesen Erklärungsansätzen erscheint die Rolle der Germanen eher konstruktiv statt zerstörerisch, der Umgang mit ihnen diplomatisch eher als dramatisch. So versah etwa Walter A. Goffart sein einflussreiches Buch »Barbarians and Romans A. D. 418–584« mit dem deutenden Untertitel »The techniques of accommodation« (Goffart 1980), und auch Bernhard Jussens Aufsatz »Wie die Galloromanen das römische Reich beendeten« trägt die einen langsamen, endogenen Wandel betonende These bereits im Titel. Die »Transformation der römischen Welt« war das Thema eines über viele Jahre laufenden, internationalen wie interdisziplinären Forschungsprojekts, das, finanziert aus EU-Mitteln, eine stattliche Zahl von Sammelbänden hervorgebracht hat (siehe den ersten Band: Pohl 1997). Schließlich meint man auch in der Archäologie, die Kontinuitätsthese besitze eine verlässlichere Materialgrundlage als die von Wandlung durch Invasion (siehe Halsall 2007). Demnach hätten innere Krisen des Reiches, vor allem des Westreiches, die Völkerverschiebungen provoziert, und nicht andersherum. Freilich nicht alle Forscher und Forscherinnen teilen diese zunehmend beliebte, weil mehr oder minder friedlichen Wandel suggerierende Deutung. Patrick Geary, Leiter der Historical School am renommierten Institute of Advanced Study in Princeton etwa, nannte jüngst mit leichter Ironie Transformation »the more fashionable modern parlance«, um den Fall Roms zu beschreiben (Geary 2013). Peter Heather, ein ausgewiesener Kenner der Geschichte der Goten, beschreibt in seinem Buch »Empires and Barbarians« – auf deutsch als »Invasion der Barbaren« erschienen – das Ende des Römischen Reichs als eine traumatische Abfolge kurzfristiger Ereignisse. Und auch
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Brian Ward-Perkins betont in seinem drastisch betitelten Buch »The Fall of Rome and the End of Civilisation« äußere Faktoren und die Tiefe des Einschnitts (Ward-Perkins 2005). Konkreter wird diese Debatte, wenn man fragt, was ›Invasion‹ für die davon betroffene einheimische Bevölkerung bedeutete. Wurden sie, wie die Brüder Lindenschmit es in einem Klassiker der rheinland-pfälzischen Landesgeschichte ausdrückten, »verjagt, ausgemordet, fortgeschleppt« (Lindenschmit 1848, 47 f.), oder haben sie das »Abrücken der regulären römischen Truppen am Anfang des 5. Jahrhunderts und den massiven Zuzug neuer fränkischer Ansiedler (…) ziemlich unbeschadet überstanden«, wie Renate Pirling die Ergebnisse der großen Grabungen in Krefeld-Gellep deutet (Pirling 1996)? Begnügten sich die Franken, wie die Burgunder oder auch die Goten und Langobarden, mit der auf militärische Überlegenheit gestützten Herrschaft? Integrierten sie die heimischen Eliten und verschmolzen mehr oder weniger schnell mit ihnen zu einem neuen Reichsvolk (Geary 2013)? Immerhin spricht Frankreich, das so stolz ist auf »nos ancêtres les Gaulois«, wiewohl von den Franken ›erobert‹ und nach ihnen benannt, heute eine romanische Sprache. II.
Wer waren also, um mit ihnen zu beginnen, die Franken? Erstmals erscheint der Name bei römischen Autoren nach der Mitte des 3. Jahrhunderts als Sammelbegriff für verschiedene Völkerschaften rechts des unteren Rheins, die über den Rhein nach Westen vorstießen oder von den Römern rechts des Rheins angegriffen wurden. Es ist die Rede von einer gens Francorum, aber auch von verschiedenen gentes Francorum, wie den Chamaven, Chattuariern und Saliern. Insgesamt ergibt sich für die Frühgeschichte der Franken bis weit ins 5. Jahrhundert »ein höchst verwirrendes Bild«, so Ulrich Nonn, der darüber ein ganzes Buch geschrieben hat (Nonn 2010, 15). Daraus nur einige Streiflichter: Bis Mitte des 4. Jahrhunderts erscheinen Franken in unseren Quellen – wir haben ja nur solche aus dem römischen Reich – vor allem als plündernde Eindringlinge, so um 355/56 in Köln, Mainz und Trier. Laut Zosimos sollen damals »Franken, Alemannen und Sachsen schon vierzig Städte am Rhein genommen und völlig zerstört sowie ihre Einwohner in großer Zahl mit unermeßlicher Beute weggeführt« haben (Goetz 2013 I, 217). Früh schon setzten sich Franken westlich des Rheins fest. Laut römischen Siegesmeldungen wurden sie vertrieben oder als dediticii, als wehrpflichtige Bauern, in verlassenen gallischen Provinzen, auch in der Gegend der Treverer, angesiedelt, um den Frieden des römischen Reiches durch ihre Kultivierung zu unterstützen, seine Waffen aber durch ihren Militärdienst – so die
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wohl beschönigende Version römischer Lobreden. In einem Panegyrikon auf Constantius Chlorus heißt es, den gallischen Provinzen in den Mund gelegt: »Also jetzt pflügt für mich der Chamave und Friese, und jener Landstreicher, jener Räuber dort quält sich mit der Bearbeitung des unwirtlichen Bodens, bevölkert meine Wochenmärkte mit Vieh zum Verkauf, und der barbarische Bauer senkt die Getreidepreise. Und wenn er zur Aushebung gerufen wird, dann eilt er herbei, läßt sich drillen und fuchteln und freut sich noch, als Soldat zu dienen!« (zitiert nach Kaiser 1997, 72). Kaiser Julian, über dessen Erfolge gegen Alemannen und Franken wir dank des Soldaten und Chronisten Ammianus Marcellinus besonders ausführlich unterrichtet sind, nahm Franken, die sich mit ihrem Vermögen und ihren Kindern ergaben, förmlich auf (Kaiser 1997, 74). Gleichzeitig wurden Franken ins römische Heer eingegliedert, teils als eigene Einheiten unter ihren gewohnten Führern (Nonn 2010, 26). Bei Budapest wurde ein Grabstein für einen FRANCUS EGO CIVES ROMANUS MILES gefunden, Kavallerieeinheiten tragen den Namen Bructereri und Ampsivarii. Vor allem in der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts machten immer häufiger Franken militärische und politische Karrieren im Dienst der Römer, so z. B. Mallobaudes, der 378 als römischer comes domesticorum Alemannen im Elsaß und 380 als rex Francorum Alemannen am Main besiegte (Nonn 2010; Böhme 1996). Zur gleichen Zeit etwa griff der fränkische Heermeister Arbogast »mit dem Hass eines Stammesgenossen« – so die traditionelle Übersetzung von gentilibus odiis in der von Gregor von Tours zitierten römische Quelle (Buchner 1977, 84 f.) – die zwei subregulos (›Kleinkönige‹) Sunno und Marcomer an. Subregulos ist ein Versuch, die politische Organisation der fremden gentes begrifflich zu fassen. Gregor von Tours schlug sich noch hundert Jahre, nachdem der von ihm gefeierte Chlodwig das Großreich geschaffen hatte, mit diesem Problem herum: »Es bewegt uns die Frage, warum er, ein von ihm ausgeschriebener römischer Historiker, der hier Könige der anderen Völker nennt, bei den Franken keinen König erwähnt« (Buchner 1977, 86 f.). Franken waren in die Grenzsicherung integriert, 406/407 stellten sie sich vergeblich Alanen, Sueben und Vandalen entgegen, als diese den Rhein überschritten und nach Gallien vorstießen. In der Schlacht gegen Attila auf den Katalaunischen Feldern 451 kämpften Franken auf beiden Seiten. Wenige Jahre später, nach der Ermordung des römischen magister militum Aetius, gingen ›Kölner Franken‹ ein Bündnis mit dem neuen magister militum Gundowech, König der Burgunder, ein – wohl gegen die Alemannen, die beiden lästig fielen. Nach dem Sieg über den comes Arbogast, einen in Trier noch in römischen Formen herrschenden Franken mit einer romanischen Mutter, dehnten sie in den 480er Jahren ihre Herrschaft bis in den Trierer Raum und bis über Mainz hinaus am Rhein aus.
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Keine Generation später wurden sie in das Reich Chlodwigs einbezogen, eines Königs der Salier, die im 5. Jahrhundert von Nordgallien aus als Foederaten und Partner der römischen Heermeister ihre Herrschaft zügig ausdehnten (Nonn 2010). Wie sehr sie Römisches und Fränkisches vereinten, zeigten die reichen Funde im Grab des Königs Childerich in Tournai (Quast 2015). Wenige Jahre nach seinem Herrschaftsantritt 481/82 beendete sein Sohn Chlodwig mit seinem Sieg über Syagrius 486 die römische Herrschaft in Gallien endgültig. Vielleicht schon vorher sprach der sich auf die neuen Gegebenheiten einstellende Bischof von Reims von der Übernahme der administratio der Belgica secunda durch den neuen König und bot Kooperation an. Zielstrebig-brutal und klug baute Chlodwig ein fränkisches Großreich unter seiner alleinigen Führung auf. Nach Siegen über die Alemannen und der Ausschaltung des letzten rivalisierenden fränkischen Königs in Köln herrschte er seit etwa 507 auch in unseren Landen unangefochten. Gregor von Tours beschrieb diesen Vorgang mit einem eindrücklichen Bild: »Gott aber warf Tag für Tag seine Feinde vor ihm zu Boden und vermehrte sein Reich, darum, dass er rechten Herzens vor ihm wandelte und tat, was seinen Augen wohlgefällig war« (Buchner 1977, 136 f.). Dank zweier Zeugnisse des Dichters Sidonius Apollinaris wissen wir auch, wie die Franken im 5. Jahrhundert aussahen. In einer Lobrede auf den Kaiser Maiorian schildert er sie als kriegerische Ungeheuer (monstra): »Ihr zur Stirn gezogenes Haar fällt vom rothaarigen Kopf, ihr Nacken durch den Verlust alles Flaums entblößt, glänzt fettig; aus einem grau-grünlichen Lichte sticht hell hervor die wäßrige Pupille, und dünne Schnauzbärte anstelle des Bartes auf rundum rasierten Gesichtern werden mit dem Kamm gezwirnt; hauteng genähte Kleider umschließen die hochgewachsenen Glieder der Männer; von der hochgezogenen Umhüllung wird das Knie entblößt; ein breiter Gürtel unterstützt den schmalen Leib.« Danach lobt er ihre Fertigkeit, mit Waffen umzugehen und ihren furchtlosen Kampfesmut bis fast über den Tod hinaus (zitiert nach Kaiser 1997, 82). Viel schöner schildert er ca. 469 einem Briefpartner, und damit auch uns, den »jugendlichen König Sigismer, geschmückt nach Art und Sitte seines Volkes«, als er seinen zukünfigen Schwiegervater, den burgundischen König, aufsuchte. Begleitet von mehreren edelsteinbeladenen Pferden schritt er inmitten seiner Vorreiter und Höflinge einher, »flammend von seinem Scharlachumhang, gelbrötlich vom Golde, milchweiß vom Seidengewand und erst recht dem prächtigen Schmuck in der Farbe entsprechend: Haupthaar, Gesichtsfarbe und Haut. Schrecken einflößend – selbst im Frieden – die Erscheinung der ihn begleitenden Königlichen und Genossen, deren Füße von borstigen Lederstiefeln bis zu den Knöcheln umschnürt, Knie, Schenkel und Waden unbedeckt waren; darüber ein hochgeschnittenes, eng anliegendes, buntes Gewand,
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kaum bis zu den entblößten Kniekehlen reichend; Ärmel, nur den Anfang des Oberarms verhüllend; kurze, grüne Überwürfe von purpurfarbenen Bordüren gesäumt; die von den Schultern herabhängenden Schwerter lagen mit den darüberlaufenden Wehrgehängen an den von Nieten besetzten Tierfellen umhüllten Hüften.« Ausführlicher als in der Lobrede schildert er die Waffen: Schmuck und Wehr zugleich; »ihre rechten Hände voll Hakenlanzen und Wurfäxten; die linke Seite abgedeckt von großen Rundschilden, deren Glanz – schneeweiß auf den Schildflächen, funkelnd-rotgelb auf den Schildbuckeln – ebenso Reichtum verriet wie Kunstfertigkeit« (zitiert nach Kaiser 1997, 83). Diese Franken sahen also etwas anders aus als der sogenannte Fürst von Planig im Mainzer Landesmuseum. Die Geschichte der Alemannen oder Alamannen liegt noch mehr im Dunkeln als die der Franken. Erstmals erwähnt wurden sie 289 in dem von den Römern geräumten Dekumatenland zwischen Donau und Rhein. Die römischen Quellen – unsere einzigen – gebrauchen alemanni als Sammelbegriff für die ›Barbaren‹ rechts des Oberrheins, ähnlich wie franci für die am Niederrhein. Heterogene Herkunft und Nachzug über Jahrhunderte sind wahrscheinlicher als die Überwindung des Limes durch ein ›Volk‹, das aus dem Osten zugewandert wäre. Kann man dem byzantinischen Geschichtsschreiber Agathias glauben, so hat schon im 3. Jahrhundert ein Chronist die Alemannen »zusammengespülte und vermengte Menschen« genannt; auch später wird die Bezeichnung »Alle-manni« in diesem Sinn gedeutet. Der Name der antiken Sueben – Schwaben – wird erst im 6. Jahrhundert wieder aktiviert. Ammianus Marcellinus, der sich wegen der Feldzüge des Kaisers Julian viel mit ihnen beschäftigte, benutzt als Bezeichnung für alemannische Gruppen partes. So sind z. B. die buconibantes am Taunusrand und am unterem Main sowie die juthungi im Augsburger Raum überliefert; andere Namen sind wohl als regionale Zuordnungen zu verstehen (Geuenich 1997 und Schach-Dörges 1997). Spricht man von Teilvölkern oder Teilstämmen, setzt man jedoch schon einen übergeordneten Volksstamm voraus. Dahingegen geht die sehr intensive Alemannenforschung in Geschichte und Archäologie heute allgemein davon aus, dass die einzelnen Kriegerscharen oder räumlich definierten Gruppen mehr oder weniger gleichberechtigt und unabhängig voneinander agierten, sich aber, wenn nötig, auch zu größeren Unternehmungen zusammenschließen konnten (Geuenich 1998). Wie die Franken fallen die Alemannen den Römern vor allem nach 350 durch Raubzüge über den Rhein bis weit nach Gallien hinein zur Last. In dem von Truppen entblößten Mainz erschien 366 ein alemannischer Königssohn namens Rando, wahrscheinlich von den Buconibanten mit leicht bewaffneten Männern, um zu plündern. Nach der Schilderung des Ammianus Marcellinus führte er, da gerade ein hoher Feiertag der Christen war,
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»die wehrlosen Männer und Frauen jeglichen Standes mitsamt ihrem nicht geringen Hausrat ungehindert mit sich fort« (Goetz 2013 I, 329). Die Einfälle der Alemannen wie der Franken und Sachsen bewogen die Römer zur Befestigung der Rheingrenze, von der wir schon hörten. Die Siege Kaiser Julians und seiner Nachfolger – bei Straßburg sollen Zehntausende von toten Alemannen sich zu Leichenbergen getürmt haben – sowie Vorstöße über den Rhein bis zur Donau schalteten die Alemannen nicht aus, verhinderten aber, dass sie sich dauerhaft in größerer Zahl links des Rheins niederlassen konnten – also auch nicht in Rheinhessen und der Pfalz, wie man lange glaubte. Vor allem gelang den Alemannen keine Reichsbildung auf ehemals römischem Boden – und keine Einung unter einem König, doch ist diese Frage in der sehr intensiven Alemannenforschung umstritten. Bis zu den Niederlagen gegen Chlodwig scheinen die Alemannen aber ein ernstzunehmender Rivale der Franken gewesen zu sein, auch wenn über die Ausdehnung ihres Herrschaftsgebietes keine Einigkeit besteht; immerhin fand eine wichtige Schlacht bei Zülpich, französisch Tolbiac, weit im Nordwesten statt. Für die letztliche Überlegenheit der Franken werden vor allem die früheren und besseren Kontakte zum Römischen Reich und die Integration in die römischen Strukturen, vor allem ins Heer, verantwortlich gemacht. Auffällig ist, dass Alemannen seit etwa 365 dort keine Führungsstellen mehr innehatten, just als die Franken aufstiegen. Max Martin nennt dies eine »verpaßte Integration und ihren Folgen« (Martin 1998). Besonders dunkel ist die Geschichte der Burgunder, gelten sie doch, in unseren Landen wenigstens, manchen als »unsichtbares Volk« (Grünewald 2004). Auch sie werden seit dem späten 3. Jahrhundert als Nachbarn und Gegner der Alemannen genannt. Auch hier haben wir für die Frühzeit nur Fremdzeugnisse, die sie wiederum nach den Konzepten der Griechen und Römer wahrnehmen. Nach Hieronymus und Orosius gehörten sie zu den Eindringlingen von 406/407; ein Burgunderfürst war 411 an der Erhebung und dem Feldzug des Jovinus nach Süden beteiligt. Einen Schwerpunkt scheinen sie seit Ende des 4. Jahrhunderts im Raum Wiesbaden – unterer Main gehabt zu haben. Wie das Verhältnis zu den dort sitzenden Bucinobanten / Alemannen war, ist unklar. Laut Prosper Tiro nahmen sie 413 einen Teil Galliens nahe dem Rhein in Besitz; nach überwiegender Meinung der Forschung wurden sie in der Gegend um Worms zum Grenzschutz als Foederaten angesiedelt, ohne dass sich über Art und Ausdehnung der Ansiedlung Genaueres sagen ließe (Kaiser 2004, 26–30). Worms aber liegt in der Provinz Germania Prima, es gibt weder ein Zeugnis für einen Vertrag, noch nennenswerte archäologische Funde in der Region, die eindeutig Burgunder belegen. Daher rührt die Rede vom »unsichtbaren Volk« und die heftige Polemik gegen ein Burgunderreich um Worms: »Ohne die alten Mären, von
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denen uns das Nibelungenlied erzählt«, so die Wormser Archäologin Mathilde Grünewald, »würde wohl niemand ein ›Burgunderreich bei Worms am Rhein‹ suchen« (Grünewald 2008, 95). Doch wird auch von ihr eingeräumt, dass »germanische Zuwanderer aus dem gesamten Freien Germanien, von der Elbe im Norden bis zur Donau, in Worms auch nach dem 3. und 4. Jahrhundert ihre Spuren hinterlassen« haben (ebd. 89). Auf Grabsteinen in der Region finden sich zumindest ›ostgermanische‹ Namensformen. Historiographisch wiederum ist bezeugt, dass die Burgunder, die rebelliert hatten, 435/36 an einem nicht genannten Ort von den Römern unter Aetius völlig besiegt wurden bzw. nach dem von ihm gewährten Frieden von den Hunnen völlig vernichtet wurden – hier knüpft das Nibelungenlied an (Kaiser 2004, 31–34). Eine völlige Vernichtung ist jedoch auszuschließen, betonen Kritiker, im Einklang übrigens mit einer gallischen Chronik, denn wenige Jahre später wurde ihnen in der Sapaudia, an der oberen Rhone, in aller Form Siedelraum zugewiesen, den sie sich mit den dort Ansässigen teilen sollten (Goetz 2013 II, 465). Sie waren bald wieder Bundesgenossen der Römer und der ›rheinischen Franken‹ und schufen an Rhône und Saône ein bedeutendes Reich. Daher folgt man wohl besser dem Zeugnis einer dritten Quelle, das Volk sei 435/36 nur beinahe ausgelöscht worden (Goetz 2013 II, 459). Dieses Reich, das erst von Chlodwigs Söhnen erobert wurde, schuf früh eigene Rechtsaufzeichnungen, wo von der Ansiedlung von Nachzüglern die Rede ist, wenn auch nicht explizit vom Mittelrhein. Es bewahrte sich auch im Frankenreich bis Ende des 6. Jahrhunderts eine beträchtliche Eigenständigkeit mit eigener Sprache und lebte im 9. Jahrhundert (und später) wieder auf – ein Indiz für traditionsbildende Kraft (Kaiser 2004, Kapitel 7). Ob Burgunder auch nach 435 geblieben sind und in der alten und neuen dort ansässigen Bevölkerung aufgingen, wissen wir nicht. Das Fehlen eindeutig burgundischer Funde spricht nicht unbedingt dagegen, denn auch aus dem späteren Reich sind nur wenige archäologische Zeugnisse überliefert, wie übrigens auch aus dem Reich der Westgoten um Toulouse – ein archäologisches Mysterium. Die wenigen Funde bezeugen aber eine ethnische Vielfalt innerhalb der offensichtlich stark gemischten Gruppe, zu der auch Alemannen gehörten. Eine Akkulturation könnte schon im Rhein-Main-Neckar-Raum stattgefunden haben (Gaillard de Sémainville 2008; Gallé 2008). III.
Am Beispiel der Burgunder zeigt sich besonders deutlich, dass die Frage im Vortragstitel – wer kam hinzu, wer blieb – nicht leicht zu beantworten ist. Von den Neuankömmlingen war hier viel die Rede. Wer aber war schon vor-
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her hier? Nach Alfred Wieczorek lebte im Schutz des bis über die Mitte des 5. Jahrhunderts hinaus funktionierenden römischen Verteidigungssystems, das wesentlich von »Söldnereinheiten unterschiedlichster Herkunft – von Angehörigen asiatischer Reitervölker bis zu verschiedensten Germanenvölkern« getragen wurde, eine Zivilbevölkerung, die er als Mischung von Galloromanen und »früher oder später gekommener Personen germanischer Herkunft« beschreibt (Wieczorek 1996, 242, 247; siehe auch Böhme 1996). Diese Aussagen basieren auf der Analyse von Funden aus dem Bereich der Festungsorte, die häufig, wie Andernach, Boppard, Bingen, Mainz oder Worms, mehrere Friedhöfe besaßen. Wieviele Menschen dort lebten, ist kaum zu sagen, vor allem, weil immer weniger Menschen mit Beigaben bestattet wurden. Wir wissen aber, dass sich die Siedlungsstruktur offenbar schon seit dem 4. Jahrhundert wesentlich veränderte. Im Taunusvorland soll die römerzeitliche Besiedlung schon im 3. Jahrhundert aufgrund der Alemanneneinfälle ihr Ende gefunden haben (Müller-Wille / Oldenstein). Im Laufe des 4. Jahrhunderts wurden auch links des Rheins die meisten ländlichen Villen aufgegeben; für die erste Hälfte des 5. Jahrhunderts sind im Umland von Mainz bislang keine Siedlungen nachgewiesen (Müller-Wille / Oldenstein 1981; Blaich 2005). Manche Großvillen, wie etwa in Kreuznach, wurden festungsartig ausgebaut und im Hinterland Fluchtburgen und Höhensiedlungen angelegt. Die Bevölkerung konzentrierte sich offenbar in befestigten Städten, Kastellen und vici. Es ist wohl auch mit einem Bevölkerungsrückgang zu rechnen, denn auf jeden Fall wurden landwirtschaftliche Flächen aufgegeben, die z. T. auch später nicht wieder genutzt wurden. Dieses Phänomen wurde großflächig für das nördliche Eifelvorland und die Trierer Talaue nachgewiesen, und ein anschauliches Beispiel liefert die ausgegrabene Villa im Binger Wald (Janssen 1972 und 1975; Müller-Wille / Oldenstein 1981; Clemens 2001 und 2012). Wieviele Menschen in den Städten und an den Garnisonsorten auch nach dem Aufhören der römischen Militärorganisation blieben, ist nicht zu ermitteln, auch wenn Friedhöfe kontinuierlich weiter belegt wurden, wie z. B. auch bei St. Alban in Mainz. Für das vom 3. bis zum 8. Jahrhundert belegte Gräberfeld Krefeld-Gellep wurden sogar viel mehr Provinziale als zuziehende Franken errechnet (Wieczorek 1996). Deutliche Hinweise auf ein Überleben der romanisch sprechenden Bevölkerung bieten die an Mosel und Mittelrhein in relativ großer Zahl überlieferten Grabsteine, zahlreiche Orts- und Flussnamen, Lehn- und Reliktwörter insbesondere im Bereich der Winzersprache. Aus der Intensität der Verbreitung haben Sprachwissenschaftler die Existenz romanischer Sprachgemeinschaften bis ins 9. und 10. Jahrhundert erschlossen, die auch ihre Fertigkeiten an die Neuankömmlinge weitergaben. Die Moselromania ist nur das bekannteste Beispiel.
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Diese Neuankömmlinge, vor allem Franken, strömten offensichtlich nach den Siegen Chlodwigs über die Alemannen in größerer Zahl ins Land, abzulesen an neuen Gräberfeldern, die sich von Nord nach Süd entlang des Rheins ausbreiten, bis etwa in die Höhe von Speyer. Sie werden als Indiz für eine Aufsiedlung in »großem Stil« (Grünewald 2008, 90) gewertet, »die ohne die regelnde Hand der königlichen Administration kaum vorstellbar ist« (Wieczorek 1996, 258). Besonders reich ausgestattete Gräber werden als solche sozial und politisch herausragender Personen gedeutet. »Die Regionen erhalten in jener Zeit die noch heute weitgehend bestehende Siedlungsstruktur« (Wieczorek 1996, 241) – die sich von der römischen deutlich unterscheidet. Archäologen sprechen von einer »Diskordanz in der topographischen Lage römerzeitlicher und frühmittelalterlicher Siedlungen« (Müller-Wille / Oldenstein 1981, 280), was anscheinend zwischen Niederrhein und Maas anders gewesen war (Nieveler 2011). Die genauere Analyse der Gräberfelder, etwa in Westhofen, zeigt, dass nicht nur Franken, sondern auch »fremde Personenverbände – insbesondere aus Thüringen und den chattischen Regionen« – beteiligt waren (Wieczorek 1996, 258). Fremde Einsprengsel, auch aus der Gallia und Alemannia, wurden in dem großen ›fränkischen‹ Gräberfeld von Flomborn (Lange 2004) und im nördlichen Rheinland festgestellt (Nieveler 2011). Eine größere Präsenz von Alemannen links des Rheins bis in den Raum zwischen Worms und Mainz hingegen wird heute ausgeschlossen (Wieczorek 1996, 246). Aussagen dieser Art basieren auf der Annahme, dass archäologische Befunde ethnisch gedeutet werden können. Dies war Jahrzehnte lang fast selbstverständlich und findet sich auch in den Katalogen zu den großen Ausstellungen zu den Alemannen und Franken 1996/97, wird aber in jüngster Zeit mit wachsender Vehemenz bestritten (Fehr 2010). Aus Sicht eines Historikers, der für eine Reihe von Fragen auf Erkenntnisse der Archäologie angewiesen ist – genau so wie umgekehrt Archäologen für die Deutung ihrer Funde auf historische Aussagen – ist das geschärfte methodische Bewusstsein zu begrüßen: Reichen die Ähnlichkeiten und Unterschiede im Fundgut aus, ›Kulturkreise‹ abzugrenzen, die dann mit historisch bezeugten ethnischen Gruppen in Verbindung gebracht werden können – etwa Alemannen und Franken? Oder ist soweit zu differenzieren, dass selbst im ›alemannischen Kernland‹ nur noch kleinere ›Nachbarschaftsverbände‹ mit einem Radius von 30–50 km übrigbleiben (Steuer 2012)? Als Historiker würde ich mir jedoch wünschen, dass ähnlich wie bei der Germanendiskussion das Kind nicht mit dem Bade ausgeschüttet wird, indem jegliche Zuordnung von kulturellen Unterschieden, die sich im Fundmaterial abzeichnen, zu gentilen Identitäten und politischen Umbrüchen, wie wir sie den Schriftquellen entnehmen können, für falsch, aussichtslos und unzulässig erklärt wird.
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Andernorts wird große Hoffnung auf eine naturwissenschaftliche Klärung dieser Fragen gesetzt. In Princeton hat der schon erwähnte Patrick Geary ein großes Forschungsprojekt angeschoben, um durch DNA-Analyse Hunderter von Skeletten den Zusammenhang zwischen Grabbeigaben und biologischer Verwandtschaft zu überprüfen. Haben, so lautet die zentrale Forschungsfrage, Individuen, die von Archäologen aufgrund ihrer Grabbeigaben als ›Langobarden‹ identifiziert werden, eine engere genetische Beziehung untereinander als mit Individuen, deren Grabbeigaben eine andere kulturelle Tradition widerzuspiegeln scheinen? Bestehen enge Beziehungen zwischen kulturell ähnlichen Gruppen in Pannonien und Italien, oder maskieren augenscheinlich kulturelle Differenzen genetische Homogenität? Er sieht hierbei durchaus die Gefahren im Sinne biologistischer Interpretation, will über ethnische und politische Aufkleber hinwegkommen und erhofft sich ein besseres Verständnis der Wanderungen und ihrer kulturellen und ethnischen Auswirkungen auf die europäische Bevölkerung (Geary 2013). Warten wir die Ergebnisse der enorm aufwendigen Forschungen ab und begnügen uns vorläufig mit einem Fazit, in dem Archäologen und Historiker bei uns übereinstimmen: An Friedhofsarealen und Beigaben beobachtete Alfred Wieczorek in Westhofen, dass die Unterschiede schon nach relativ kurzer Zeit, spätestens nach zwei Generationen, verwischten und schloss daraus, dass der Prozess der Assimilation und Integration abgeschlossen war. »Unabhängig von ihrer einstigen Herkunft lebten jetzt nur noch ›Franken‹ in Westhofen« (Wieczorek 1996, 258). Es scheint »hierzulande eine scharfe Sonderung zwischen Franken / Alemannen auf der einen und Romanen auf der anderen Seite nicht gegeben zu haben (…), jedenfalls nicht über einen längeren Zeitraum hinweg. In der Sachkultur wie im Bestattungsritual ist es rasch zu einem Ausgleich gekommen, bei dem Elemente beider Seiten aufgenommen wurden, auch wenn die jeweilige Tradition hier etwas mehr, dort etwas weniger hochgehalten worden ist« (Felten 2012, 224, basierend auf Ament 1992; siehe aber auch Haubrichs). Im Kleinen bestätigt sich so, was die Historiographie im großen Frankenreich nahelegt: Auch ein auf seine Herkunft und seinen Stand stolzer Abkömmling einer galloromanischen Senatorenfamilie wie Gregor von Tours bestätigt, dass im neuen Frankenreich auch die Romanen, Burgunder und Westgoten Teil des neuen fränkischen Reiches und Volkes geworden sind.
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MattHias scHMandt
Jüdische Migration in den mittelalterlichen Rheinlanden Wege, Motive, Schicksale
A
m Rhein ist alles uralt und ursprünglich – und lässt sich, wo nicht auf keltisch-germanische, so doch allemal auf römische Wurzeln zurückführen: So lautet ein verbreitetes, dem Geist der Romantik entsprungenes Geschichtsbild, das sich vielerorts seine lokalen Projektionen schafft. Für Bingen, jener kleineren »Schwesterstadt« von Mainz, wo ich sozusagen von Amts wegen für alles »Uralte und Ursprüngliche« zuständig bin, lauten einige der einschlägigen Vorstellungen etwa wie folgt: Da gibt es eine wohl im späten 11. Jahrhundert entstandene Steinbrücke über die Nahe mit frühromanischer Kapelle in einem Bogenpfeiler, die früher einfach nur die »alte Brücke« war, seit dem 19. Jahrhundert aber »Drususbrücke« genannt wird – und seither als römisches Bauwerk galt. Wir haben außerdem einen mittelalterlichen »Draisbrunnen«, der bisweilen ebenfalls mit dem Namen des römischen Eroberers versehen zum antiken »Drususbrunnen« wird. Und über der Stadt thront die Burg Klopp, errichtet sicher nicht vor 1240, aber – so wissen es die Rhein-Reiseführer und populären Geschichtsdarstellungen seit 200 Jahren – selbstverständlich auf römischen Fundamenten ruhend. Auch in Bezug auf das herausragende rheinisch-jüdische Erbe ist im Allgemeinen die Anziehungskraft der romantischen Vorstellung von »uralt und ursprünglich« – und das heißt in diesem Fall ebenfalls: römisch – überaus groß. So schrieb schon der Mainzer Rheinenthusiast Niklas Vogt (1756–1823), vormals Professor für Universalgeschichte an der kurfürstlichen Universität, infolge der napoleonischen Umwälzungen aber zum Legendendichter und Geschichtsschwärmer der ersten Stunde avanciert, in seinen »Rheinischen Geschichten und Sagen« von 1817: »Bekanntlich wurde dieses Volk [der Juden] nach der Zerstörung von Jerusalem in alle Welt zerstreuet, und […] so war es natürlich, daß sich eine Menge von Juden [auch] in Worms niederließen […].«
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(Bd. 2, S. 226 f.) Ja, mehr noch: Während des gesamten Mittelalters und noch darüber hinaus – so Vogt weiter – hätten sich die »schlauen Israeliten« gerühmt, »schon vor Christi Geburt eine Synagoge in Worms gehabt zu haben, welche nicht in den Tod des Erlösers gewilligt.« Vogt rezipiert hier eine Ursprungslegende, die in der Wormser Gemeinde – und in ähnlicher Fassung übrigens auch von den Mainzer Juden – über Jahrhunderte hinweg tradiert worden war. Man glaubte dort zu wissen, dass die Juden schon unmittelbar nach der Zerstörung des Tempels durch Nebukadnezar um das Jahr 586 vor der christlichen Zeitrechnung aus dem Heiligen Land nach Worms gekommen seien. Nach dem Ende der babylonischen Gefangenschaft hätten sich die Wormser Juden dann gar dem Ruf zur Rückkehr nach Jerusalem widersetzt, weil es ihnen am Rhein, wo auch ein Gotteshaus und überhaupt ein kleines Jerusalem entstanden seien, so wohl ergangen sei. Endgültig in das erzählerische Volksgut der gesamten (noch im Entstehen begriffenen) Nation ist die Wormser Legende dann durch ihre Aufnahme in das »Deutsche Sagenbuch« von Ludwig Bechstein aus dem Jahre 1853 eingegangen: »Mitten im Wein- und Wonnegau am gesegneten Rheinstrom«, so heißt es dort, »erbauten Völker der Frühzeit das uralte Worms; dort haben schon Juden gewohnt nahe sechshundert Jahre vor Christi unsers Herrn Geburt.[…] Und der Totenhof dieser Juden hieß der Heilige Sand, der war hoch mit Sand bestreut, welcher aus Jerusalem gen Worms geschafft worden war, so viel vermochte ihr Reichtum. Als die Juden zu Jerusalem den Weltheiland kreuzigen wollten, hatte die Judengemeinde zu Worms nicht dazu gewilligt, vielmehr in einem ernsten Schreiben davon abgemahnt, das hat ihr hernachmals gute Frucht getragen, denn die Kaiser haben sie mit großen Freiheiten begabt.« (S. 39 f.) Von vorchristlicher Zeit an soll sich also die nachmals so bedeutende Wormser Judenschaft des Mittelalters entwickelt haben. Was indes an rheinisch-historischen Superlativen für Worms beansprucht werden konnte, das galt (und gilt wohl noch immer) im Selbstverständnis ihrer Einwohner erst recht für eine Metropole wie Köln. Und auch aus Köln ist zu vermelden, dass es ein Sammler lokaler Sagen und Altertümer war, der sich als erster christlicher Autor der Moderne mit der jüdischen Geschichte vor Ort befasst hat. Der rührige Gymnasialprofessor Ernst Weyden (1805–1869) hatte mit seinem Buch über «Cölns Vorzeit« von 1826 zum Beispiel der Geschichte von den fleißigen Heinzelmännchen zu nachhaltiger Popularität verholfen. 40 Jahre später, 1867, erschien dann die »Geschichte der Juden in Köln am Rhein von den Römerzeiten bis auf die Gegenwart«, die – wie der Titel schon erahnen lässt – auf Anfänge der Gemeinde zur Zeit Cäsars verweist. Für Weyden stand fest, dass »die Juden-Gemeinde Kölns, der ohne Widerrede ältesten RömerSiedlung auf dem linken Rheinufer, als die älteste Deutschlands« gelten kann (S. 11).
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Ganz konkret ins Genealogische gewendet findet sich die Vorstellung von den antiken Wurzeln des jüdisch-rheinischen Erbes auch bei Zuckmayer und seiner berühmten Metapher von der »Völkermühle Europas« – womit wir beim Motto der diesjährigen Reihe der »Mainzer Vorträge« angekommen wären. Zuckmayer war es ja ein Anliegen, die verkehrsoffene Rheinlandschaft als Stätte uralter Begegnung und Vermischung unterschiedlichster Völker zu charakterisieren – auch und gerade auf familiärer Ebene. Und – »was kann da nicht alles vorgekommen sein in einer alten Familie. Vom Rhein«. Es folgt in dem Stück die idealtypisch rheinische Ahnenreihe, die des »Teufels General« Harras dem verdutzten Fliegerleutnant Hartmann andichtet: Da findet sich an allererster Stelle der römische Feldhauptmann – »ein schwarzer Kerl, braun wie ne Olive, der hat einem blondem Mädchen Latein beigebracht. Und dann«, so wird der zweite Urahn in der Generationenfolge eingeführt, »und dann kam ein jüdischer Gewürzhändler in die Familie, das war ein ernster Mensch, der ist noch vor der Heirat Christ geworden und hat die katholische Haustradition begründet« (S. 64). Dann kommt ein griechischer Arzt und ein keltischer Legionär; die vorgestellte Ahnengalerie verbleibt also zunächst noch ein Weilchen im antiken Kontext, ehe sie sich mit dem Graubündner Landsknecht und dem schwedischen Reiter langsam auch spätmittelalterlich-frühneuzeitlichen Rheinländern mit Migrationshintergrund in der Familie Hartmanns zuwendet. Soweit also das populäre Geschichtsbild: Es gilt weithin als ausgemacht, dass die ersten Juden spätestens mit den römischen Truppen in unsere Region gekommen seien. Offenbar fügt sich diese Vorstellung so trefflich in das seit der Romantik gepflegte Bild von der uralten Geschichtslandschaft am Rhein, dass hier einmal – ganz entgegen sonst anzutreffender Rezeptionsgewohnheit – auch ursprünglich jüdische (Sonder-)Traditionen, wie sie etwa in Worms gepflegt worden waren, zur historischen Fundierung der Identität auch der christlichen Mehrheitsgesellschaft herangezogen worden sind. Aber ist dieses liebgewonnene Bild, das sich die Rheinländer von ihrer Vergangenheit gemacht haben, auch mit den Erkenntnissen moderner historischer Forschung in Einklang zu bringen? »Die Antiquität jüdischen Lebens in Deutschland ist, so Leid einem die Feststellung auch tun mag, mehr Legende als geschichtliche Tatsache. Daß sie immer wieder von neuem abgehandelt wird, gehört mehr zur Kulturgeschichte der Neuzeit, auch noch unserer Tage, als zu Spätantike und Frühmittelalter« – so apodiktisch urteilt der israelische Historiker Michael Toch, einer der besten Kenner des jüdischen Frühmittelalters, über den Sachverhalt (»Dunkle Jahrhunderte«, S. 13). Der polemische Ton, den Toch hier anschlägt, lässt allerdings schon erkennen, dass die Frage nach den Anfängen des Judentums an Rhein und Mosel in letzter Zeit durchaus kontrovers diskutiert worden ist. Dabei wird insbesondere um die Inter-
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pretation spätantiker Befunde aus Köln gestritten, von wo ein gewichtiges die Juden betreffendes Schriftstück aus dem Jahre 321 n. Chr. überliefert ist. Und in der Tat wird man zumindest für diesen – womöglich mehr oder weniger eng begrenzten – Zeitraum die Anwesenheit von Juden, deren Herkunft wir nicht kennen, in der Stadt voraussetzen können. Ob jedoch die jüngst darüber hinaus unternommenen Bemühungen, mittels aufwändiger archäologischer Untersuchungen im Bereich des mittelalterlichen Kölner Judenviertels das Fortbestehen jüdischer Ansässigkeit auch über die »dunklen Jahrhunderte« des Frühmittelalters hinweg nachzuweisen, erfolgreich waren, kann zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht mit letzter Bestimmtheit entschieden werden. Es sieht derzeit allerdings – so zuletzt der Archäologe Sebastian Ristow – nicht danach aus. Damit aber ist der eigentlich entscheidende Punkt berührt: Es mag am Rhein vereinzelte jüdische Ansiedlungen in der Römerzeit gegeben haben; vielleicht waren erste Juden z. B. nach der zweiten Zerstörung des Tempels 70 n. Chr., wahrscheinlicher aber erst in der Spätantike, direkt aus Palästina hierher gekommen. Aber diese Ansässigkeit blieb doch – zumindest im größeren historischen Rahmen betrachtet – weithin folgenlose Episode. Und so ist es auch eher unwahrscheinlich, dass die multikulturelle Ahnenreihe von Zuckmayers idealem Rheinländer ausgerechnet in der Römerzeit durch einen jüdischen Stammvater bereichert worden wäre. Schon eher hätte es, zumindest was die rein quantitativen Möglichkeiten der Auswahl geeigneter Ehekandidaten betrifft, im frühen 14. Jahrhundert dazu kommen können, als die jüdische Besiedlung unserer Region einen einsamen Höhepunkt erreichte. Das Mittelalter nämlich war bekanntlich die Epoche, als die Rheinlande für ihre jüdische Kultur weithin berühmt waren! Die Wurzeln dieses bedeutenden rheinischen Judentums des Mittelalters indes, mithin auch die der berühmten SchUM-Gemeinden Mainz, Worms und Speyer, deren Traditionen zum Teil noch immer in der jüdischen Welt Beachtung finden und deren bis heute vorhandene Hinterlassenschaften zum UNESCO-Erbe der Menschheit erhoben werden sollen – diese Wurzeln sind nicht antik: Sie gehen auf vollständige Neuansätze des 10. Jahrhunderts zurück. Jüngst erst hat Alfred Haverkamp – in der Mainzer Festschrift für Michael Matheus – diesen epochalen Anfang in einer größeren Studie umfassend analysiert. Damals waren Juden in größerer Zahl zunächst wohl nur in mediterranen Gefilden beheimatet: Vor allem in Italien und dort hauptsächlich in der Kapitale Rom selbst hatten Gemeinden überdauert, aber auch auf der iberischen Halbinsel und in der Provence; nur in geringer Zahl dürften Juden auch im inneren Gallien gelebt haben. In der Romania lag also das Potenzial für die Zuwanderung von Juden in das nordalpine Reich, die nun, in ottonischer Zeit, langsam einsetzte. Dabei waren es – wie Haverkamp
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herausstellte – wohl zuerst Bischöfe, die im Rahmen intensiver Bemühungen um den Ausbau ihrer Kathedralstädte zu kulturellen, herrschaftlichen und wirtschaftlichen Zentren großen Wert auch auf die Anwesenheit von Juden als Träger und Vermittler urbaner Lebensformen legten. Um aus dem Dorf (villa) eine Stadt (urbs) zu machen und zur Vermehrung des Ansehens (honor) dieser Stadt habe er Juden nach Speyer gerufen – so heißt es in der berühmten Urkunde Bischof Rüdiger Huozmans für die Juden seiner Kathedralstadt aus dem Jahre 1084. Ähnliche Motive mögen zuvor auch schon die Bischöfe von Mainz, Köln, Trier und Worms zur Judenansiedlung bewogen haben. Zunächst und wohl spätestens Ende des 10. Jahrhunderts ist ihre Anwesenheit für Mainz anzunehmen. Vielleicht waren es tatsächlich Mitglieder der ursprünglich in Rom und Süditalien beheimateten Gelehrtenfamilie der Kalonymiden, auf die das jüdische Magenza zurückgeht: Dies jedenfalls ist die Aussage einer seit dem 13. Jahrhundert nachweisbaren Gründungslegende, derzufolge zuerst ein Rabi Mosche ben Kalonymos von Lucca aus nach Mainz gezogen sei und so das ashkenasische Judentum von Italien aus begründet habe. Kaum jünger als Mainz dürfte das jüdische Worms sein, das seit dem 11. Jahrhundert durch zahlreiche familiäre Verbindungen mit den Mainzern in Beziehung stand. Die Wormser Gemeinde mag daher vielleicht von Mainz aus gegründet worden sein; definitiv war dies der Fall bei der Ansiedlung von Juden in Speyer im Jahre 1084, als abzugswillige Mainzer Juden vom dortigen Bischof das schon erwähnte, äußerst günstige Privileg zur Niederlassung vor Ort erhielten. In allen drei Gemeinden blieb übrigens bis ins 13. Jahrhundert hinein der Einfluss der alten Gelehrtenfamilie Kalonymos von einiger Bedeutung. Weithin unabhängig von den drei nah beieinander gelegenen mittelrheinischen Kathedralstädten Mainz, Worms und Speyer dürften indes die jüdischen Gemeinden von Köln und Trier entstanden sein. Aus diesen Gemeinden, so bedeutend sie um das Jahr 1000 ebenfalls schon gewesen sein mögen, fehlen übrigens die frühen Dokumente überragender jüdischer Gelehrsamkeit, wie sie in großer Zahl aus den SchUM-Gemeinden überliefert sind und so ihren Ruf in der jüdischen Welt begründet haben. Das noch junge Netz von hiesigen Judengemeinden, wie es erstmals um 1100 erkennbare Konturen annimmt, war auf die genannten Kathedralstädte beschränkt. Von hier aus nahm nun eine über zweieinhalb Jahrhunderte währende Entwicklung ihren Ausgang, die in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts ihren Höhepunkt erreichen und so eine beinahe flächendeckende Besiedlung der weiteren Rhein- und Mosellande durch Juden mit sich bringen sollte: zunächst, bis zum Ende des 13. Jahrhunderts, hauptsächlich entlang der wirtschaftlich und verkehrsgeografisch attraktiven Flussläufe und unter merklicher Bevorzugung von königsnahen Orten, schließlich aber –
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Abb. 1: Jüdische Siedlungsorte am Rhein um 1100
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Abb. 2: Jüdische Siedlungsorte am Rhein 1300–1349
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nach 1300 – auch im »flachen« Land, in kleineren Amtsstädten und selbst in entlegenen Herrschaftsgebieten. Dabei ist diese äußerst dynamische Siedlungsentwicklung, wie sie sich hier gleichsam im extremen Zeitraffer und in kartografisch objektivierender »Fern«-Perspektive darstellt, natürlich die Summe tausendfacher individueller Wanderungen, die Folge von »freiwilligen« und »erzwungenen« Ortswechseln, von vorübergehenden und dauerhaften Verlagerungen des Lebensmittelpunktes einzelner Juden über die Zeiten und Räume hinweg. Jüdisches Leben im Mittelalter war in der Tat geprägt von der Erfahrung des Unterwegsseins. So ließ sich zum Beispiel für die Kölner Judengemeinde der Jahre 1372 bis 1424 ermitteln, dass lediglich sieben von 104 Steuerzahlern ihren Wohnort kontinuierlich über mindestens drei Jahrzehnte hinweg in der Domstadt beibehielten. Knapp 45 %, also beinahe die Hälfte aller Kölner Juden, blieben indes für nur maximal fünf Jahre. Für sie war Köln nur eine Durchgangsstation – ebenso wie andere Städte ihres Lebens-Weges auch. Dabei gilt jedoch für das Migrationsverhalten der Kölner Juden wie für die rheinische Judenschaft überhaupt: Ihre Wanderwege waren im Wesentlichen beschränkt auf die Region; man blieb im Lande – allen Widrigkeiten zum Trotz und fürs Erste selbst dann noch, als nach der Mitte des 13. Jahrhunderts in immer kürzeren Abständen Verfolgungen über rheinische Juden hereinbrachen. Sicher, es gab Ausnahmen, die in spektakulären Einzelfällen auch dokumentiert sind; so z. B. 1286, als Juden aus Mainz, Speyer und Oppenheim angesichts fortwährender Pogromstimmung ihre Hoffnungen auf messianische Erlösung in Palästina richteten und über das Meer zogen – gegen den entschiedenen Widerstand des Königs, der den religiösen Mentor dieser Bewegung, Meir von Rothenburg aus Worms, noch eben rechtzeitig auf seinem Weg über die Alpen inhaftieren ließ. Viel später hören wir dann von dem ebenfalls hochgelehrten Mannus von Speyer, der wohl in den 1350er Jahren mit einigen Studenten auch nach Jerusalem gezogen war, um dort eine Jeschiwa (Talmudschule) zu begründen. Mannus kehrte jedoch noch einmal an den Rhein zurück und ließ sich in Köln nieder. Dort musste er dann allerdings miterleben, wie sein Schwiegersohn Simon 1377 nach einem fingierten Gerichtsprozess hingerichtet wurde, während seine Tochter Hanna nur durch die Zwangstaufe ihr Leben retten konnte. Mannus wanderte schließlich nach Norditalien aus. Überhaupt war jüdisches Studenten- und Gelehrtenleben – wie das der christlichen Scholaren und Magistri auch – in besonderer Weise von weiträumigen Ortswechseln geprägt: Man studierte z. B. in Frankreich und vor allem in den ersten Jahren nach 1350 auch in Österreich, das von den Pestverfolgungen verschont geblieben war.
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Im Übrigen aber galt: Die Binnenmigration und nicht die Zu- oder Abwanderung war bis ins 15. Jahrhundert hinein das vorherrschende Muster jüdischer Mobilität im Raum. Diese Form der Migration wurde damit zu einem maßgeblichen Gestaltungsfaktor der so überaus dynamisch verlaufenden Entwicklung des jüdischen Siedlungsgefüges von den ersten Anfängen in den ottonisch-salischen »Mutterstädten« bis hin zur flächendeckenden, selbst kleinstädtischen Präsenz des Spätmittelalters. Lediglich einmal noch ist in den Jahrhunderten der Siedlungsexpansion am Rhein von einem äußerst bedeutsamen Zuzug auswärtiger Juden zu berichten: Es geschah infolge des Vertreibungsdekretes von König Philipp IV. für die Juden aus den französischen Kron- und Lehensgebieten im Sommer des Jahres 1306, dass sich nun zahlreiche romanische Juden im östlich angrenzenden Reichsgebiet niederließen. Keineswegs zuletzt auf diesen Umstand ist die gerade in den Jahrzehnten nach 1300 feststellbare, explosive Vermehrung des Siedlungsbestandes in unserer Region zurückzuführen. Damals dürften, wie Franz-Josef Ziwes (Studien, S. 181) es treffend formuliert hat, die meisten der am Rhein lebenden Juden wohl überhaupt ihre »ersten persönlichen Erfahrungen mit überregionalen Wanderungsbewegungen größerer jüdischer Bevölkerungsteile« gemacht haben. Das kurtrierische Moselland etwa als ein traditionelles Bindeglied zwischen Romania und Germania erlebte in dieser Zeit, die im Übrigen durch die äußerst aktive und innovative Judenansiedlungspolitik eines Balduin von Luxemburg geprägt war, gleich eine Verfünffachung des Bestandes jüdischer Niederlassungen gegenüber den Jahren unmittelbar vor 1300 – bei gleichzeitig auffällig sich häufenden romanischen Namensformen in den nun erstmals reichlicher fließenden Quellen. Dabei scheint allerdings die Integration der französischen Ankömmlinge in den hiesigen Judenschaften nicht immer ganz unproblematisch verlaufen zu sein, denn Sprache und religiöse Gepflogenheiten der Juden beider Kulturkreise wiesen naturgemäß große Unterschiede auf. Einzelne zufällig überlieferte Quellen deuten denn auch auf Aus- und Abgrenzungsprozesse innerhalb der Gemeinden hin – und damit auf ein Verhaltensmuster gegenüber Fremden, das uns ja auch im Bereich der christlichen Mehrheitsgesellschaft über die Zeiten hinweg durchaus nicht unbekannt ist. Im Jahre 1312 erging z. B. in der Wormser Judenschaft eine Satzung, derzufolge in den Gemeindevorstand nur gelangen sollte, wer unbescholten und darüber hinaus auch – so wörtlich – kein »krieheim«, »drifzan« oder »walich« war. Was es mit dem Quellenbegriff »krieheim« auf sich hat, ist noch immer ungeklärt; recht abschätzig als »drifzan« hat man indes womöglich Mitglieder der berühmten, bis dato aber vornehmlich in Frankreich wirkenden Rabbinerfamilie Treves bezeichnet, während »walich« wohl einfach auf romanische, »welsche« Juden im Allgemeinen verweist. Noch einmal im Jahre 1505 hat die Gemeinde übri-
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gens diese Vorschrift bestätigt, mit der demnach über beinahe zwei Jahrhunderte hinweg die Entfaltungsmöglichkeiten französischstämmiger Juden in Worms beschränkt worden sind. Noch weitergehend waren für die Betroffenen allerdings die Konsequenzen, die mit der Handhabung des rabbinischen Ansiedlungsbannes (Cherem ha-Jischuv) verbunden waren: Auf diesem Wege und in der Regel auch unterstützt durch die lokalen christlichen Obrigkeiten konnten Gemeinden nämlich die unliebsame Niederlassung fremder Glaubensgenossen in ihrem Ort gänzlich verhindern bzw. ihren Abzug einfordern. Wenden wir uns den weiteren Bedingungsfaktoren der Migration im regionalen Rahmen zu, so sind zunächst jene Anlässe zum Unterwegssein zu erwähnen, die sich aus überörtlicher wirtschaftlicher Tätigkeit ergaben – und dies bedeutete im Spätmittelalter: die Bankierstätigkeit im gehobenen Niveau; ein Broterwerb mithin, wie er keineswegs von allen Juden der Zeit ausgeübt werden konnte. Um einem immer noch recht weit verbreiteten Klischee nicht weiter Vorschub zu leisten, sei hier nämlich noch einmal ausdrücklich erwähnt, dass die weitaus meisten jüdischen Finanzdienstleistungen im Bereich des Kleinkreditgeschäfts lagen und den Juden neben einem enorm hohen Ausfallrisiko auch sonst keineswegs Reichtümer bescherten. Umfangreiche Judenschuldenlisten, etwa aus Oberwesel 1338 und aus Bingen 1426, dokumentieren solche sonst kaum je aktenkundig gewordenen Geschäfte in großer Zahl – und lassen zugleich erkennen, wie selbstverständlich die Inanspruchnahme von kleinen und kleinsten Leihbeträgen durch christliche Nachbarn aller Bevölkerungsschichten war. Nur eine relativ geringe Zahl von jüdischen Finanziers vornehmlich der großen Gemeinden war in der Lage, die Bedürfnisse adliger oder gar fürstlicher Kunden zu bedienen; kaum einer agierte wirklich in den Dimensionen der »Hochfinanz«. Es liegt in der Natur der Sache, dass derartige Finanzdienstleistungen ihre Abnehmer in einem größeren Radius fanden und daher den Juden immer wieder zumindest vorübergehende Mobilität abverlangten: Im Sommer 1391 ließ zum Beispiel die Mainzer Jüdin Juttelin ihre Stadtväter bei den Amtskollegen in Straßburg um halbjähriges Geleit in der Elsaßmetropole bis Weihnachten nachfragen, damit sie dort ihre Außenstände würde eintreiben können. Im Anschluss daran sollten die Straßburger der Jüdin dann bitte einige städtische Diener mit auf den Weg zurück nach Mainz geben, damit sie ihr beim Transport von Hausrat und sonstigen Gütern behilflich sein könnten – gegen Entgelt, versteht sich. Allerdings konnten den Räten größerer Städte aus den vielfältigen auswärtigen Beziehungen »ihrer« Juden auch weitaus unangenehmere Aufgaben erwachsen als die bloße Erledigung von Geleitanfragen. Das zeigen einige Beispiele aus Köln. Da erfahren wir etwa im Jahre 1413 aus einem Schreiben
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des Herzogs von Jülich und Geldern an den Kölner Stadtrat, sein Jude Levelanck hätte sich bei ihm darüber beklagt, dass ihm seine Ehefrau Rachel nebst einer größeren Summe Geldes abhanden gekommen sei. Da Rachel nun Zuflucht bei Kölner Juden genommen habe, mögen die Stadtväter doch bitte – so die Forderung des Herzogs – den Rabbi beauftragen, sie zur Rückkehr zu bewegen oder doch wenigstens für die Regelung der Geldangelegenheit Sorge zu tragen. Offenbar nahm man sich in Köln nun tatsächlich der Sache an – jedoch vergeblich. Und so mussten die Ratsherren in ihrem Antwortschreiben an den Herzog die bedauerliche Mitteilung machen, dass der Rabbi und andere einflussreiche Juden mit ihren Vermittlungsversuchen gescheitert seien – sie konnten schlicht »die weyge nyet vynden (…) dat dat wyff Rachel yet weder by den man wille«, wie es wörtlich in dem Brief heißt. Noch wesentlich dramatischere Folgen zeitigte indes eine Dortmunder Angelegenheit des Juden Meyer, von der ein weiterer Briefwechsel aus dem Jahre 1415 zeugt. Meyer, der Sohn des Moses von Bacharach, war der vermutlich bedeutendste jüdische Finanzier in Köln; intensive Geschäftsbeziehungen unterhielt er u. a. nach Dortmund, wo er sich, sozusagen als Berufspendler, nachweislich auch immer wieder für mehrere Monate aufhielt. Meyers Dortmunder Engagement war wohl auch der Grund dafür, dass er im Dezember 1415 Opfer eines Attentats wurde, das er nur knapp und mit Hilfe auch christlicher Mitbürger überlebte. An diesem Tag drang der Dortmunder Bürger Hermann von Buchholz gewaltsam in Meyers Haus ein, »warf ihn darnieder und schickte sich an, ihn mit einem Knebelband zu würgen«. Vom Lärm alarmiert kamen Nachbarn zu Hilfe – sie konnten jedoch nicht verhindern, dass Hermann die Frau des Juden erstach und anschließend im Gedränge entkam. Aus der Angelegenheit erwuchs der Stadt Köln später noch eine Fehde mit Dortmund, weil man dort die Auslieferung des Mörders verweigerte. Übrigens war Meyer keineswegs der einzige Kölner Jude, der Kontakte nach Dortmund unterhielt: Zu einem erheblichen Teil bestand die dortige Judenschaft seit 1373 sogar aus Söhnen finanzkräftiger Kölner Geldhändler, die dort Zweigniederlassungen des Familienbetriebes begründeten, um in der westfälischen Diaspora erste eigene Meriten zu verdienen. Wirtschaftliche Erfordernisse waren also ein wichtiger Grund für Ortsverlagerungen; die Voraussetzung jeglicher Niederlassung und damit auch aller Migrationsbewegungen innerhalb des Landes indes bildeten über die Jahrhunderte hinweg unterschiedliche Formen herrschaftlicher Einflussnahme. So führten die zahlreichen Ansiedlungsinitiativen von Herren aller Ebenen bis hin – seit dem 13. Jahrhundert – zum Niederadligen und einfachen Ritter überhaupt erst zur charakteristischen Ausprägung des immer dichter werdenden Siedlungsnetzes. Dabei galt zunächst im Wesentlichen überall, was schon die genannte Speyrer Urkunde von 1084 formuliert hatte: dass nämlich
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durch die Juden dem jeweiligen Herren Vorteile erwachsen sollten, weil sie etwa im Rahmen von Stadtgründungsprojekten als urbane Entwicklungshelfer und Finanzexperten fungieren konnten und im Übrigen zumeist auch potente Steuerzahler waren. Den Höhepunkt dieser Entwicklung markierte die äußerst intensiv und innovativ betriebene Judenansiedlungspolitik Erzbischof Balduins von Trier im zweiten Viertel des 14. Jahrhunderts. Balduin war nicht nur, wie wir schon gehört haben, äußerst erfolgreich bei der Ansiedlung von Exulanten aus Frankreich, sondern er bediente sich dabei bald auch eines neuen und sehr lukrativen Verwaltungsinstrumentes: des zeitlich befristeten Einzelprivilegs nämlich, das seinerseits ebenfalls als Export aus der Romania gelten kann. Um sich die Früchte seiner Judenansiedlungspolitik auch nachhaltig zu sichern und begehrte, kapitalkräftige Finanziers nicht etwa an die landesherrliche Konkurrenz zu verlieren, sorgte Balduin zugleich für eine Beschränkung der Freizügigkeit seiner Juden. Außerdem erhob er Ansprüche auf deren Hinterlassenschaft. Die Trierer Juden galten als »erbeigen« – eine solch geminderte, schon terminologisch auf persönliche Unfreiheit verweisende Rechtsstellung war einzigartig in deutschen Landen, wenngleich in ähnlicher Form und schon in früheren Zeiten etwa in England oder Frankreich anzutreffen. Unter den ungünstigen Bedingungen der Erbeigenschaft lebte auch Reynette, eine seit 1365 in Koblenz wirkende Jüdin mit romanischen Wurzeln, die nach dem Tod ihres Mannes Leo auch in eigenem Namen und äußerst erfolgreich Geldhandel betrieb. Insbesondere die nahe gelegene und stets klamme Stadt Andernach war regelmäßiger Kreditkunde bei der Jüdin, die auf diesem Wege zu großem Vermögen gelangte: Insgesamt 14 Koblenzer Darlehen in einer Größenordnung von je über 1000 Gulden sind von ihr nachweislich finanziert worden. Reynettes Tochter Mede indes war – offenbar als Ergebnis erfolgreicher Verhandlungen der einflussreichen Mutter mit dem Erzbischof – von den nachteiligen Auflagen der Erbeigenschaft befreit worden. Ein Ehearrangement, das 1366 unter Beteiligung des Erzbischofs vermittelt wurde, sah allerdings vor, dass Kinder aus der angestrebten Verbindung Medes mit dem ebenfalls sehr reichen, seinerseits aber erbeigenen Juden Jakob Bonenfant zur Hälfte ebenfalls der Erbeigenschaft anheim fallen sollten. Mede, die »eigenwillige Tochter Reynettes« (wie ihr Biograf Franz-Josef Ziwes sie treffend charakterisiert hat), verschmähte unter diesen Bedingungen jedoch den reichen, aber hochbetagten Witwer, machte stattdessen ausgiebig von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch und führte nun über Jahre hinweg ein selbst für jüdische Verhältnisse unruhiges Wanderleben. Nach Aufenthalten in der Pfalzgrafschaft und, spätestens ab 1387, in Bingen nahm sie jedoch Anfang 1390 mit Lieser von Straßburg, den sie in der
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Zwischenzeit geehelicht hatte, erneut Wohnsitz im Trierischen, nunmehr in Oberwesel am Rhein. Dorthin war sie gezogen, um »die zu erwartende Erbschaft ihrer mittlerweile hochbetagten Mutter« (Ziwes) antreten zu können. Jedoch knüpfte Erzbischof Werner von Falkenstein, der offenbar noch eine alte Rechnung mit Mede zu begleichen hatte, die Herausgabe des erklecklichen Nachlasses an die Bedingung, dass Mede im Lande verbleiben und nunmehr auch für sich selbst den Status als erbeigene Jüdin anzunehmen habe. Für Mede war dies völlig inakzeptabel. Wie seinerzeit schon auf den reichen Witwer verzichtete Mede nun also auch auf das reiche Erbe. 1391 zog sie stattdessen nach Köln. Ihr Gatte jedoch, Lieser, hat sich durchaus mit der Trierer Obrigkeit arrangiert; letztendlich trat er anstelle seiner Frau in Koblenz das Erbe der Schwiegermutter an – freilich zu dem Preis, dass nun er selbst sich auch in die Erbeigenschaft zu begeben hatte: Er verpflichtete sich in aller Form, das kurtriererische Territorium nicht mehr zu verlassen. Darauf ist es wohl zurückzuführen, wenn im Kölner Judenregister die Aufnahme Medes mit der ausdrücklichen Ergänzung versehen ist, dass ihr Mann sich keinesfalls in Köln niederlassen dürfe. Die Stadtväter hatten eben, wie wir sahen, schon allerhand schlechte Erfahrungen mit fremder Juden Herren gemacht; Köln war deswegen gar mehrfach in Fehden verwickelt worden. Mit dem Trierer Erzbischof wollte man es sich nicht auch noch verscherzen: Man tat besser daran, das über Lieser verhängte Abzugsverbot zu akzeptieren. Übrigens scheint es Lieser in der Folgezeit keineswegs gelungen zu sein, das enorme Geschäftskapital seiner verstorbenen Schwiegermutter Reynette durch eigene Aktivitäten zu vermehren: Kein einziges Kreditgeschäft von ihm ist überliefert. Und was Mede betrifft: Ihre Spur verliert sich zu Anfang des 15. Jahrhunderts in Speyer. Doch kehren wir noch einmal kurz zurück zu den Anfängen dieser Familiengeschichte und damit zur erfolgreichen Geschäftsfrau Reynette: Ebenso wie sämtliche anderen bekannten Finanziers, die bald nach 1360 in der Lage waren, Kreditgeschäfte im größeren Stil zu tätigen, dürfte auch sie zu den Überlebenden von 1348/49 gezählt haben. Damals war es zu einer beinahe flächendeckend wütenden Pogromwelle gekommen, die einen tiefgreifenden und nachhaltigen Einschnitt in der jüdischen Besiedlungsgeschichte des Rheinlandes zur Folge hatte. Nicht nur war es so, dass ganze Judenschaften durch die Massenmorde ausgelöscht wurden, auch die Überlebenden selbst der großen, alten Gemeinden fanden fortan ihr Refugium zunächst nur andernorts – sei es, weil man sie nach dem Pogrom vertrieb, oder, was wohl weitaus seltener geschah, da sie sich noch rechtzeitig selbst vor den Verfolgern in Sicherheit bringen konnten. Letzteres war wohl der Familie des reichen Kölner Juden Isaak von Monschau gelungen, deren Weg während der Pogromjahre von der Niederrheinmetropole aus in den beschaulichen
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Eifelflecken Monschau führte. Dort konnte eine auf steiler Bergeshöhe gelegene, mächtige Burg den Juden Sicherheit vor den Mördern bieten, während gleichzeitig der Ortsherr von Monschau-Valkenburg, von dem sonst keinerlei Ansiedlungsiniativen in Beug auf Juden bekannt sind, damit einen finanzkräftigen und angesichts der Umstände wohl auch durchaus zahlungswilligen Geldgeber für sich gewann. Wahrscheinlich nicht ganz zufällig erfolgten Erweiterungsbauten an der Burg in der Mitte des 14. Jahrhunderts, die Befestigung des Ortes um 1351 und vielleicht noch weitere strukturfördernde Maßnahmen, die dem Burgort 1353 erstmals die schmeichelhafte Bezeichnung »stat« einbrachten, während der Anwesenheit des potenten jüdischen Finanziers. Im Gefolge der jüdischen Neubesiedlung des Kölner Erzstiftes seit ungefähr 1360 ging Isaak dann zurück an den Rhein, in die erzbischöfliche Residenzstadt Brühl, wo sich ihm natürlich schon ein wesentlich lukrativeres Umfeld bot. 1372 indes, im Jahr der Wiederzulassung von Juden auch in Köln selbst, zog es ihn dann jedoch zurück in die Metropole: Hier trat er sogleich und mehrfach als Teilhaber von Konsortien in Erscheinung, die Einzelkredite in Höhe von bis zu 5.100 Gulden – nach heutigen Kategorien ein Millionenbetrag! – etwa mit dem Grafen von Berg und dem Kölner Erzbischof abwickelten. Ähnlich wie der Herr von Monschau wurde auch der rheinische Pfalzgraf Ruprecht I. (1329/53–1390) im Kontext der Pogrome aktiv, als sich ihm die finanziell offenbar sehr attraktive Möglichkeit bot, jüdischen Flüchtlingen Schutz vor den Judenschlägern zu gewähren. Schon zuvor hatte Ruprecht als erster der Pfalzgrafen überhaupt erkennbare Bemühungen um jüdische Präsenz in seinem diesbezüglich noch deutlich unterentwickelten Herrschaftsgebiet an den Tag gelegt. Nun aber, in der schlimmen Pogromzeit, als konkurrierende Territorialherren ihre Juden bereitwillig ziehen ließen, sah er erst recht die Stunde für eigene Ansiedlungsinitiativen gekommen: So wurde die Residenzstadt Heidelberg zum vorübergehenden Aufenthalt von Juden nicht nur aus den nahen Gemeinden Worms und Speyer: »Die Stadt am Neckar hatte (…) in einer Phase der größten Bedrängnis für die Juden eine Zentralfunktion, die sich über (…) das gesamte mittlere Rheingebiet erstreckte.« (Ziwes, Heidelberg, S. 23 f.) Aber auch das kleine Bacharach im Mittelrheintal, der territorialpolitisch hoch attraktive Sitz des ersten Pfalzgrafen Hermann von Stahleck, erlangte im Rahmen von Ruprechts Judenansiedlungspolitik besondere Bedeutung. So war auch der reiche Bankier Moses von Bacharach ein ursprünglich aus Köln stammender Finanzier, der die Verfolgung überlebt hatte und nun im Mittelrheintal Aufnahme fand. Wie Isaak zog jedoch auch er mit der Wiederaufnahme von Juden in die Niederrheinmetropole 1373 dorthin zurück, wo er in der folgenden Zeit Geldgeschäfte in großem Umfang tätigte und
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noch um 1400 in Geschäftsbeziehungen mit der Herzogin von Berg belegt ist. Moses agierte dabei im Rahmen einer beeindruckenden Familientradition, denn schon sein mutmaßlicher Großvater Meyer von Siegburg hatte zu den reichsten Juden im Kölner Erzstift gezählt, und sein ebenfalls in Köln wirkender (und ebenfalls Meyer geheißener) Sohn war nach der Jahrhundertwende sogar der mit Abstand reichste Jude in der an potenten Kreditgebern nicht eben armen Gemeinde. Moses’ vorübergehender Aufenthalt in Bacharach war daher auch für den Pfalzgrafen sicher äußerst lukrativ gewesen. Dabei hatte sich das immerhin verkehrsgünstige gelegene Städtchen in den Jahrzehnten zuvor nicht eben als Ansiedlungsort für zahlungskräftige Juden, die wohl stets unter mehreren Niederlassungsangeboten wählen konnten, aufgedrängt: Unter maßgeblicher Beteiligung des Pfalzgrafen Ludwig II. war hier seit 1287, als die Ritualmordlegende um den Knaben Werner schlimme Folgen zeitigte, eine antijüdische Wallfahrt mit der Wernerkapelle im Zentrum etabliert worden, die stets Pogromstimmung entfachen konnte. So hatten sich auch 1338 die Judenmörder des »König Armleder« wohl ganz gezielt hier, am Wernergrab, zusammengerottet, um dann judenmordend weiter rheinabwärts zu ziehen. Ruprecht indes hat in der Folgezeit den Wernerkult offenbar gezielt in Schach gehalten und vermutlich auch einen länger währenden Baustopp an der so stürmisch begonnenen Wernerkapelle durchgesetzt, um seinen Schutzjuden annehmbare Bedingungen vor Ort bieten zu können. So war Ruprecht der erste in der Reihe der Pfalzgrafen, der eine konsequent judenfreundliche Haltung einnahm – und er blieb bis zum Ende des Mittelalters tatsächlich auch der einzige. Denn kaum war Pfalzgraf Ruprecht I. im Februar 1390 verstorben, da machte sich sein Nachfolger Ruprecht II. daran, die Juden aus dem gesamten Territorium zu vertreiben. Spätestens im Oktober 1390 war dies geschehen. Die Wittelsbacher Pfalzgrafen eröffneten damit den »Reigen der territorialen Judenvertreibungen im Reichsgebiet« (Ziwes), die im Übrigen jedoch erst die jüdische Geschichte des 15. Jahrhunderts prägen sollte: 1419 erfolgte die Vertreibung aus Kurtrier, 1424 verwies die Stadt Köln ihre Juden, 1438 vorübergehend auch die Stadt Mainz. Lediglich in Worms, auch in Frankfurt, dort aber seit 1462 verbannt in die ghettoartige Judengasse, und vermutlich auch in Bingen hielten sich jüdische Gemeinden in ihren angestammten Siedlungsorten kontinuierlich bis zu ihrer bestialischen Auslöschung im 20. Jahrhundert. Die große Zeit des rheinischen Judentums indes war vorbei; viele Juden siedelten sich seit dem 15. Jahrhundert in dörflichen Niederlassungen im ganzen Reichsgebiet an; manch einer zog auch nach Norditalien oder in Gebiete östlich der Reichsgrenze, wo viele Traditionen des rheinischen Judentums schließlich die Jahrhunderte überdauerten.
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Kehren wir abschließend noch einmal kurz zurück zu Zuckmayer und seiner »Völkermühle Europas«. Die Metapher charakterisiert ja die Rheinlande als Region intensiver Begegnung und fortwährenden Austauschs zwischen den Kulturen. Warum aber wählte Zuckmayer ausgerechnet das Bild von der »Mühle« zur Verdeutlichung dieser Prozesse? Drängt es sich wirklich auf? Denn warum eigentlich sollte man Völker mahlen, zer-mahlen wollen – etwa so, dass am Ende nichts wirklich Erkennbares, Eigenes mehr von ihnen übrig bleibt? Hier steht doch recht unverblümt die Forderung nach Assimilation als Grundlage des Miteinanders im Vordergrund – nicht das Aushalten, ja: Wertschätzen von Verschiedenheit als dauerhaft bereicherndes Charakteristikum einer wirklich toleranten, entwicklungsoffenen Gesellschaft. Und so erscheint es auch selbstverständlich, dass der jüdische Gewürzhändler in Zuckmayers rheinischer Idealfamilie quasi schon in vorauseilendem Gehorsam noch vor der Heirat konvertiert und so gar zum Gründervater der katholischen Haustradition wird. Derartige Assimilationsbereitschaft war allerdings unter den rheinischen Juden des Mittelalters in Wahrheit nicht wirklich weit verbreitet. Im Gegenteil: bis in die Mentalitätsgeschichte des Alltags hinein lässt sich bisweilen nachvollziehen, wie Juden zur Aufrechterhaltung eigener Identität um Abgrenzung bemüht waren und mit den benachbarten Christen um Deutungshoheit selbst über vermeintlich nebensächliche kultisch-kulturelle Symbole konkurrierten. So nennt eine von Reynette, der bekannten Koblenzer Geldhändlerin, ausgestellte Schuldurkunde von 1367 dem Gläubiger im deutschen Haupttext Mariä Lichtmess, den 2. Februar, als Fälligkeitsdatum der ersten Rate – jenen Marienfesttag also, der mit der (selbst für mich als nüchternen Protestanten) so wunderbar nachvollziehbaren Lichtmetaphorik endlich wieder heller werdender Tage versehen ist. In ihrem eigenen hebräischen Rückvermerk aber hat Reynette diesen Tag in polemischer Umkehrung des Bildes als »Zeit der Finsternis« bezeichnet … Solches Abgrenzen selbst im Kleinen ermöglichte letzten Endes erst die Aufrechterhaltung jüdischer Identität unter den Bedingungen der Diaspora. Es war mithin eine Voraussetzung dafür, dass die Traditionen der SchUM-Gemeinden Mainz, Worms und Speyer die rheinische Kultur derart intensiv bereichern konnten. Literatur BecHstein, ludWiG: Deutsches Sagenbuch, Leipzig 1853. BurGard, FriedHelM: Zur Migration der Juden im westlichen Reichsgebiet im Spätmittelalter. In: Juden in der christlichen Umwelt während des späten Mittelalters (Zeitschrift für historische Forschung Beiheft, 13), hg. v. Alfred Haverkamp u. Franz-Josef Ziwes, Berlin 1992, S. 59–102.
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HaverkaMP, alFred: Erzbischof Balduin und die Juden. In: Balduin von Luxemburg. Erzbischof von Trier – Kurfürst des Reiches (1285–1354). (Quellen und Abhandlungen zur mittelrheinischen Kirchengeschichte 53), hg. v. Franz-Josef Heyen, Mainz 1985, S. 437–483; Ndr. in: Gemeinden, Gemeinschaften und Kommunikationsformen im hohen und späten Mittelalter. Festgabe zur Vollendung des 65. Lebensjahres, hg. v. Friedhelm Burgard u. a., Trier 2002, S. 39–88. HaverkaMP, alFred (Hg.): Geschichte der Juden im Mittelalter von den Nordsee bis zu den Südalpen. Kommentiertes Kartenwerk, 3 Bde (Forschungen zur Geschichte der Juden, A 14), Hannover 2002. HaverkaMP, alFred: Juden in Deutschland und Italien während des späten Mittelalters. Bewegungen in kabbalistischen Zusammenhängen. In: Frühneuzeitliche Ghettos in Europa im Vergleich (Frankfurter Kulturwissenschaftliche Beiträge, 15), hg. v. Fritz Backhaus u. a., Berlin 2012, S. 81–148. HaverkaMP, alFred: Beziehungen zwischen Bischöfen und Juden im ottonisch-salischen Königreich bis 1090. In: Trier – Mainz – Rom. Stationen, Wirkungsfelder, Netzwerke. Festschrift für Michael Matheus zum 60. Geburtstag, hg. v. Anna Esposito u. a., Regensburg 2013, S. 39–81. rasPe, lucia: Jerusalem am Rhein. Anfänge jüdischen Lebens in Deutschland im Mittelalter. In: Innere Räume – äußere Zäune. Jüdischer Alltag im Rheingebiet im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit (Sonderheft der Mainzer Geschichtsblätter), hg. v. Ludolf Pelizaeus, Mainz 2010, S. 12–27. ristoW, seBastian: Judentum und Christentum in Spätantike und Frühmittelalter im deutschsprachigen Raum aus archäologischer Sicht. In: Das Altertum 59 (2014), S. 241–261. scHMandt, MattHias: Judei, cives et incole: Studien zur jüdischen Geschichte Kölns im Mittelalter (Forschungen zur Geschichte der Juden, A 11), Hannover 2002. scHMandt, MattHias: Der Pfalzgraf, sein Pfarrer und der »gute Werner«. Oder: Wie man zu Bacharach und Oberwesel ein antijüdisches Heiligtum erschuf (1287–1429). In: Jahrbuch für westdeutsche Landesgeschichte 38 (2012), S. 7–38. tocH, MicHael: »Dunkle Jahrhunderte« – Gab es ein jüdisches Frühmittelalter? (Kleine Schriften des Arye-Maimon-Instituts, Heft 4), Trier 2001, S. 13. voGt, niklas: Rheinische Geschichten und Sagen, 3 Bde, Frankfurt 1817. Weyden, ernst: Geschichte der Juden in Köln am Rhein von den Römerzeiten bis auf die Gegenwart, Köln 1867. yuval, israel JacoB: Juden, Hussiten und Deutsche. Nach einer hebräischen Chronik. Mit Anhang: Gilgul bne Chuschim (Geschichte der Hus-
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siten). Von Salman von St. Goar. In: Juden in der christlichen Umwelt während des späten Mittelalters (Zeitschrift für historische Forschung, Beiheft, 13), hg. v. Alfred Haverkamp u. Franz-Josef Ziwes, Berlin 1992, S. 59–102. ziWes, Franz-JoseF: Reynette – eine jüdische Geldhändlerin im spätmittelalterlichen Koblenz. In: Koblenzer Beiträge zur Geschichte und Kultur 4 (1994), S. 25–40. ziWes, Franz-JoseF: Studien zur Geschichte der Juden im mittleren Rheingebiet während des hohen und späten Mittelalters (Forschungen zur Geschichte der Juden, A 1), Hannover 1995. ziWes, Franz-JoseF: Zum jüdischen Kapitalmarkt im spätmittelalterlichen Koblenz. In: Hochfinanz im Westen des Reiches (Trierer Historische Forschungen; 31), hg. v. Friedhelm Burgard u. a., Trier 1996, S. 49–74. ziWes, Franz-JoseF: Die Juden im mittelalterlichen Heidelberg. In: Geschichte der Juden in Heidelberg (Buchreihe der Stadt Heidelberg 6), hg. v. Peter Blum, Heidelberg 1996, S. 15–41. ziWes, Franz-JoseF: Territoriale Judenvertreibungen im Südwesten und Süden Deutschlands im 14. und 15. Jahrhundert. In: Judenvertreibungen in Mittelalter und früher Neuzeit (Forschungen zur Geschichte der Juden, A 9), hg. v. Burgard, Friedhelm u. a., Hannover 1999, S. 165–187. zuckMayer, carl: Des Teufels General, 36. Aufl. Frankfurt 2008.
Für wertvolle Hinweise und die kritische Lektüre des Manuskripts bedanke ich mich bei Dr. Christoph Cluse, Trier.
GuntHer nickel
Carl Zuckmayer und die »Völkermühle Europas«
I. Vorbemerkung
E
s ist überhaupt nichts Neues, wenn in Deutschland die Gefahr einer »Überfremdung« und die Notwendigkeit einer »Rettung des Abendlandes« beschworen werden. Es war auch nicht allein dem sogenannten Dritten Reich vorbehalten, jeder Form des Eindringens von »Artfremdem« in das deutsche Volk einen entschlossenen Kampf anzusagen. Schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts forderte Ernst Moritz Arndt, er wünsche »den germanischen Stamm« von »fremdartigen Bestandteilen rein« gehalten (Arndt, Blick aus der Zeit, S. 188), denn – so seine Begründung – »das Fremde und Entartete«, besonders »die bedrängten Juden«, führten mit ihrem »Schmutz und ihrer Pest« in »Teutschland« zu einer »verderbliche[n] Überschwemmung« (ebd., S. 199). Ähnliches wurde bis weit in das 20. Jahrhundert immer wieder von Schriftstellern, Historikern, Publizisten und Politikern proklamiert. Und manche wollten ein damit verwandtes Denken noch bemerkt haben, als der CDU-Politiker Jürgen Rüttgers im Jahr 2000 für den Landtagswahlkampf in Nordrhein-Westfalen den Slogan »Kinder statt Inder« prägte oder Oskar Lafontaine 2005 als damals führender Kopf der »Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit (WASG)« davor warnte, dass Arbeiter aus dem Osten den Deutschen »zu Billiglöhnen die Arbeitsplätze wegnehmen«. Schon diese – zugegebenermaßen rasante – tour d’horizon von Ernst Moritz Arndt zu Jürgen Rüttgers und Oskar Lafontaine lässt nicht nur die immer wiederkehrende Aktualität von Themen wie Zuwanderung, Integration und Zuwanderungsbegrenzung erkennen, sondern auch Unterscheidungsnotwendigkeiten. So argumentierte Arndt zweifellos rassistisch; für Rütgers und Lafontaine gilt das hingegen zweifellos nicht. Das fürs erste festzuhalten, ist keineswegs müßig, denn die unterschiedlichen Prämissen politischen
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Handelns sind auch dann nicht gleichgültig, wenn die handlungsleitenden Schlussfolgerungen auf den ersten Blick ähnlich anmuten mögen. Sobald allerdings völkische Motive ins Spiel kommen, wird die Sache mehr als unappetitlich. Und die ganze Absurdität einer völkischen Denkungsart lässt sich kaum plastischer demonstrieren als am Beispiel Carl Zuckmayers. Er selbst bezeichnete sich 1939 in einem Brief an Friedrich Torberg als »deutschnationales Rübenschwein« (Nickel / Weiß, S. 267), was zwar ziemlich salopp formuliert war, die Sachlage aber ganz gut trifft. Doch gerade Zuckmayer, dem es als Schriftsteller sowohl vor als auch nach dem Zweiten Weltkrieg wie keinem anderen gelang, die vorherrschende Gemütslage in Deutschland zu verstehen und in seinen Werken zum Ausdruck zu bringen, gerade er wurde in den 1920er und 1930er Jahren wegen der jüdischen Herkunft seiner Mutter als »Halbjude« zunächst beschimpft, dann verfolgt und schließlich ausgebürgert. Dabei war Zuckmayer katholisch getauft; jüdische Traditionen spielten in seinem Leben und seinem Selbstverständnis nie die geringste Rolle. Er habe sich, hielt er in seiner Autobiographie »Als wär’s ein Stück von mir« mit allem Nachdruck fest, immer als das empfunden, »was ich nach Art, Sprache, Erziehung war, bin und bleibe: ein Deutscher, aus der ›südwestlichen Ecke‹.« (S. 186) Zuckmayers Begriff von Deutschtum ist ausschließlich kulturell bestimmt und noch dazu regional ausdifferenziert. Die Mentalitätsunterschiede zwischen Norddeutschen im von ihm einmal als »Sprotten-Athen« verspotteten Kiel und Süddeutschen im von ihm als »Weißwurst-Sparta« verulkten München (Zuckmayer, Die langen Wege, S. 14) wusste er durchaus in Rechnung zu stellen. Wenn »deutsch« deshalb als Sammelbezeichnung für reichlich heterogene kulturelle Eigenheiten ohnehin eine große Unschärfe hat, so erschien Zuckmayer dieses Adjektiv erst recht völlig untauglich, um mit ihm biologistischen Vorstellungen von »rassischer Reinheit« zu huldigen. Eine großartige Begründung dafür hat er 1943 einer seiner Dramenfiguren in den Mund gelegt, dem Generalluftzeugmeister Harras in »Des Teufels General«. Dort entspinnt sich zwischen Harras und dem Fliegeroffizier Hartmann gegen Ende des ersten Akts ein Gespräch über die Gründe, aus denen der seine Fast-Verlobung mit Waltraud von Mohrungen, genannt Pützchen, gelöst hat. Hartmann erklärt es mit einer »Unklarheit in meinem Stammbaum«: Eine der Urgroßmütter »scheint vom Ausland gekommen zu sein«, was »öfters in rheinischen Familien« vorkomme. »Sie ist unbestimmbar. Die Papiere sind einfach nicht aufzufinden.« Der meist zu burschikosen Anzüglichkeiten aufgelegte Harras antwortet daraufhin: »Na, und was wissen Sie denn über die Seitensprünge der Frau Ururgroßmutter? Die hat doch sicher keinen Ariernachweis verlangt. Oder – sind Sie womöglich gar ein Abkömmling von jenem Kreuzritter Hartmann, der in
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Jerusalem in eine Weinfirma eingeheiratet hat?« Hartmann reagiert auf diese derbe Tonlage mit respektvoller Indolenz: »Soweit greift die Rassenforschung nicht zurück, Herr General.« Doch damit liefert er nur die Vorlage für eine Replik, die es in sich hat. »Muß sie aber! Muß sie!«, ruft Harras zunächst, um dann erst richtig loszulegen: »Wenn schon – denn schon! Denken Sie doch – was kann da nicht alles vorgekommen sein in einer alten Familie. Vom Rhein – noch dazu. Vom Rhein. Von der großen Völkermühle. Von der Kelter Europas! (…) Und jetzt stellen Sie sich doch mal Ihre Ahnenreihe vor – seit Christi Geburt. Da war ein römischer Feldhauptmann, ein schwarzer Kerl, braun wie ne reife Olive, der hat einem blonden Mädchen Latein beigebracht. Und dann kam ein jüdischer Gewürzhändler in die Familie, das war ein ernster Mensch, der ist noch vor der Heirat Christ geworden und hat die katholische Haustradition begründet. – Und dann kam ein griechischer Arzt dazu, oder ein keltischer Legionär, ein Graubündner Landsknecht, ein schwedischer Reiter, ein Soldat Napoleons, ein desertierter Kosak, ein Schwarzwälder Flözer, ein wandernder Müllerbursch vom Elsaß, ein dicker Schiffer aus Holland, ein Magyar, ein Pandur, ein Offizier aus Wien, ein französischer Schauspieler, ein böhmischer Musikant – das hat alles am Rhein gelebt, gerauft, gesoffen und gesungen und Kinder gezeugt – und – und der Goethe der kam aus demselben Topf, und der Beethoven, und der Gutenberg, und der Matthias Grünewald, und – ach was, schau im Lexikon nach. Es waren die Besten, mein Lieber! Die Besten der Welt! Und warum? Weil sich die Völker dort vermischt haben. Vermischt – wie die Wasser aus Quellen und Bächen und Flüssen, damit sie zu einem großen, lebendigen Strom zusammenrinnen. Vom Rhein – das heißt: vom Abendland. Das ist natürlicher Adel. Das ist Rasse.« (S. 67)
Bis vor kurzem konnte man mit Fug und Recht annehmen, eine solche Auseinandersetzung spiegle zum Glück nur noch Geschichte, rassistisches Denken sei allenfalls eine gesellschaftliche Randerscheinung. 2011 aber erschütterte das Bekanntwerden einer rassistisch motivierten Mordserie des »Nationalsozialisten Untergrunds (NSU)« die deutsche Bevölkerung. Und als sei das nicht Mahnung genug, solchen Wirrungen im Denken und Handeln auf keinen Fall Vorschub zu leisten, schwadronierte der Landes- und Landtagsfraktionsvorsitzende der thüringischen »Alternative für Deutschland (AfD)« im November 2015 allen Ernstes darüber, »die Evolution« habe »Afrika und Europa, vereinfacht gesagt, zwei unterschiedliche Reproduktionsstrategien beschert«, die »sehr gut nachvollziehbar für jeden Biologen« seien. Während Europa einen Platzhaltertyp hervorgebracht habe, lebe in Afrika ein Ausbreitungstyp. Für Biologen sind derlei Feststellungen indes absurd, denn die Biologie stellt unterschiedliche Reproduktionsstrategien nur bei verschiedenen Arten fest, wobei die Zugehörigkeit zu einer Art dadurch bestimmt ist, dass Nachkommen gezeugt werden können. Die Beteuerung Höckes, selbst Vater von immerhin vier Kindern, er lehne Rassismus und die Rassentheorie des Nationalsozialismus ab, ist ob des biologistischen Zungenschlag in seiner Rede hohl und leer, zumal einer seiner Freiburger Parteifreunde den amtierenden US-
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amerikanischen Präsidenten Barack Obama als »Quotenneger« titulierte und auch zu erklären müssen meinte: »Schwarze haben schon ein anderes Triebleben als Weiße oder Asiaten.« Durch solche Stellungnahmen, die geschmacklos zu nennen eine Untertreibung wäre, bekommt Zuckmayers etwas in die Jahre gekommenes Stück »Des Teufels General« unversehens wieder eine Aktualität, die man ihm in dieser Form eigentlich nicht wünschen würde. Doch nicht nur dieses Stück, sondern auch Zuckmayers Biographie verdient angesichts der gegenwärtigen Konjunktur von ausländerfeindlichen Ressentiments und ins Rassistische hinüberspielenden Evokationen wieder neue Aufmerksamkeit, war er doch nahezu zeitlebens ein Migrant, dem es immer gelungen ist, sich in neue Lebensumstände mehr als nur wohlgelitten zu fügen. Sein Lebensweg zeigt gleichsam exemplarisch, wie Integration immer wieder aufs Neue gelingen kann – ohne Herkunft und Prägung jemals zu verleugnen. II. Carl Zuckmayer als Migrant Zuckmayer wurde 1896 in Nackenheim geboren, wo sein Vater eine Fabrik für Weinflaschenkapseln besaß. Als er vier Jahre alt war, zog die Familie nach Mainz, und es war Glück, dass diese Migrationsbewegung von etwas mehr als zehn Kilometern einer vollständigen sozialen Einbürgerung nicht im Wege stand. Die Entfernung von Nackenheim nach Mainz entspricht annähernd der Entfernung von Mainz nach Wiesbaden, ein geborener Wiesbadener könnte jedoch, wie die Mainzer Karnevalsreden Jahr um Jahr deutlich machen, niemals ein »Mainzer Jung« werden; eher noch würden die Kölner Karnevalisten aufhören, jahrein, jahraus über Düsseldorf zu spotten. Man kann in Zuckmayers Fall also von einer schon sehr früh geglückten Migration sprechen – ohne sein Zutun und durch glückliche Umstände. 14 Jahre sollten seiner neuen Heimatstadt reichen, um aus dem gebürtigen Nackenheimer das zu formen, was man einen waschechten Mainzer nennen kann, der diese Herkunft durch seinen Dialekt zeitlebens auch jedem sofort verriet. Noch nicht achtzehnjährig verließ er Mainz dann – bis auf seltene Besuche – für immer. Nach dem Notabitur wurde Zuckmayer 1914 Soldat an der Westfront, danach studierte er erst in der hessischen Metropole Frankfurt, dann im kurpfälzischen Heidelberg, bevor es ihn in die preußische Reichshauptstadt Berlin zog. Dort feierte er 1921 am bedeutendsten Theater der jungen Weimarer Republik die Uraufführung seines Stücks »Kreuzweg«, auch wenn sie bei Publikum und Presse krachend durchfiel. 1922 ging er als Dramaturg ans Kieler Stadttheater. Als man ihn dort 1923 wegen allerlei Allotria vor die Tür setzte, engagierte ihn Hermine Körner als Dramaturg für die Münchener Kammerspiele. Anfang 1924 wechselte er
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auf Empfehlung des Regisseurs Erich Engel zusammen mit Bertolt Brecht erneut nach Berlin, wo er am Deutschen Theater Geschäftigkeit allenfalls simulierte. In seiner Autobiographie beschreibt er seine Tätigkeit jedenfalls so: »Dann und wann las ich auch mal ein Stück – ich erinnere mich, daß in dieser Zeit das Manuskript einer Komödie von Robert Musil eingesandt wurde, ›Vincenz oder Die Freundin bedeutender Männer‹. Da ich Prosa von Musil mit Bewunderung gelesen hatte …, begann ich die Lektüre des Stücks voller Respekt, fand es aber geschraubt und geschwätzig. Ich hinterlegte das Manuskript … für Brecht und bat ihn um seine Meinung. Am nächsten Tag fand ich es wieder, er hatte diagonal über den Umschlag mit Bleistift ›Scheiße‹ geschrieben. Das war eine unserer intensivsten dramaturgischen Bemühungen, sie hatte uns für einige Zeit ermüdet.« (S. 458)
Abb. 1: Carl Zuckmayer, um 1924/25
Nach einem Jahr lief die Stelle am Deutschen Theater aus, und Zuckmayer schlug sich mehr schlecht als recht mit Gelegenheitsarbeiten durch. 1925 hatte er den Einfall zu der Komödie »Der fröhliche Weinberg«, die ihn Ende des Jahres über Nacht berühmt machte, nachdem sie am Theater am Schiffbauerdamm uraufgeführt worden war. Von den reichlich fließenden Tantiemen kaufte er sich in Berlin am Tiergarten eine riesige Wohnung und in Henndorf bei Salzburg ein idyllisch am Wallersee gelegenes Haus: die Wiesmühl. In Henndorf spielte sich das Leben der Familie fortan hauptsächlich ab; die Berliner Wohnung diente lediglich als Zweitwohnsitz. Da er ohnehin in Österreich lebte, konnte Zuckmayer 1933 noch nicht zu den Heimatvertriebenen gezählt werden. Noch 1935 reiste er für vierzehn Tage nach Berlin
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und sprach anschließend in einem Brief an seinen Freund Albrecht Joseph von »Reichslustwochen« (S. 118), die er in vollen Zügen genossen habe. Ein beschwerliches Emigrantendasein sieht anders aus. Erst im Dezember 1935 wurde mit seinem Roman »Salwàre oder Die Magdalena von Bozen« erstmals ein Buch von Zuckmayer in Deutschland verboten. Dass seine Stücke schon unmittelbar nach Hitlers »Machtergreifung« aus den Theaterspielplänen verschwunden waren, ist nur mit einem wissenschaftlich schwer nachweisbaren Gespür der Intendanten für den Zeitgeist zu erklären, denn eine Zensur fand (noch) nicht statt. Gespielt wurden seine Stücke jedenfalls nicht mehr – mit ganz wenigen Ausnahmen in der Provinz. Auch die Bemühungen des Regisseurs Heinz Hilpert, 1933 Zuckmayers neues Stück »Der Schelm von Bergen« an der Berliner Volksbühne uraufzuführen, scheiterten nicht an einem förmlichen Verbot. Die Uraufführung erfolgte aber 1934 nicht in Berlin, sondern am Wiener Burgtheater. Die indifferente Lage dauerte noch bis zum 18. August 1936. Erst an diesem Tag gelangte Zuckmayers Gesamtwerk auf die »Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums«. Weitere drei Jahre gingen ins Land, bis am 8. Mai 1939 der »Deutsche Reichsanzeiger und Preußische Staatsanzeiger« publik machte, Zuckmayer, seiner Frau Alice und seiner Tochter Winnetou sei die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt worden. Aus dem Machtbereich der Nationalsozialisten war Zuckmayer schon nach dem sogenannten Anschluss Österreichs im März 1938 Hals über Kopf in die Schweiz geflohen. Seinen Lebensunterhalt verdiente er nun von Chardonne sur Vevey am Genfer See aus – wie schon in den Jahren zuvor – mit Arbeiten für die Filmindustrie, die ihn häufiger nach London, aber auch nach Paris und Amsterdam führten. Alsbald stand fest, dass die Familie Europa verlassen würde. Am 25. Mai 1939 bestieg Zuckmayer zusammen mit seiner Frau Alice, seiner Tochter Winnetou und dem zahnlosen Hund Mucki einen niederländischen Ozeandampfer, der noch am gleichen Tag nach New York aufbrach. Da er sich als Drehbuchautor durch die Mitwirkung an Filmen wie »Der blaue Engel« (1930) und »Rembrandt« (1936) international einen Namen gemacht hatte, fand er in Hollywood schnell eine Anstellung. Fast genauso schnell stellte er jedoch fest, dass er so, wie man es dort von ihm erwartete, nicht arbeiten wollte. Er suchte daher nach einer Alternative und fand sie in Vermont. Dort besaß seine Freundin Dorothy Thompson, die er 1925 als Deutschlandkorrespondentin kennengelernt hatte, ein Landhaus. Und als ihr Gast entdeckte und pachtete er 1941 eine Farm, die er vom Frühsommer 1942 gemeinsam mit seiner Frau bis zum Winter 1944/45 mit 93 Tieren betrieb: 57 Hühnern, 20 Enten, fünf Gänsen, vier Ziegen, zwei Schweinen, zwei Hunden und drei Katzen. Danach bezog die Familie in der Hoffnung
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auf die Möglichkeit zu einer baldigen Rückkehr nach Deutschland ein kleines Farmhaus in Woodstock. Im Januar 1946 wurde Zuckmayer die schon 1943 beantragte amerikanische Staatsbürgerschaft verliehen, so dass er sich beim amerikanischen Kriegsministerium erfolgreich um die Stelle eines zivilen Kulturbeauftragten in Deutschland bewerben konnte. Ende 1946 brach er für das Kriegsministerium dann zu einer fünfmonatigen Inspektionsreise durch Deutschland und Österreich auf, über die er anschließend einen Bericht verfasste, der 2004 aus dem Nachlass veröffentlicht wurde. Schon bald folgte die Rückkehr nach Europa. Wieder diente Chardonne am Genfer See gleichsam als Stützpunkt. Das Haus in Woodstock wurde aber nicht aufgegebenen, und schon allein, um die Auflagen der amerikanischen Passgesetze zu erfüllen, zog sich Zuckmayer in jedem Frühjahr für mehrere Wochen dorthin zurück. 1957 wurde ihm dieses Pendeln zwischen zwei Kontinenten zu beschwerlich. Er erwarb in dem Schweizer Bergdorf Saas-Fee im Oberwallis das Haus Vogelweid, ließ sich dort nieder und ersetzte 1958 die amerikanische Staatsbürgerschaft durch eine österreichische. In Saas-Fee lebte Zuckmayer sich schnell ein. Schon 1961 verlieh ihm die Gemeinde die »Ehrenburgerschaft«. Fünf Jahre später konnte Zuckmayer seinem Verleger Gottfried Bermann-Fischer melden: »Die Schweizer empfinden mich jetzt als einen der Ihren, was ich nun auch staatsbürgerlich bin.« Elf Jahre vor seinem Tod am 18. Januar 1977 fand damit seine Odyssee, die ihn von Nackenheim nach Mainz, dann durch ganz Deutschland und halb Europa, schließlich in die USA und am Ende mit Umweg über Österreich zum Schweizer Staatsbürger gemacht hat, ein Ende. »›Daheim‹ ist nicht, wo man geboren wurde, sondern wo man zu sterben wünscht«, erklärte er 1941 in seiner in den USA und England veröffentlichten ersten Autobiographie »Second Wind« (S. 171), und wo er schließlich zu sterben wünschte und auch starb, das war weder Nackenheim noch Mainz, weder Henndorf noch die Backwoodsfarm, sondern Saas-Fee. Warum diese über 60 Jahre währende Migrationsgeschichte, die mit immer neuen und jedes Mal erfolgreichen Integrationsanstrengungen verbunden war, letztlich so glücklich verlief, hat mehrere Gründe. Der erste Grund ist Zuckmayers Talent zur Freundschaft, das ihn in jeder neuen Umgebung sofort Anschluss finden ließ. Der zweite Grund besteht in seiner steten Bereitschaft, in und aus jeder Situation das Beste zu machen, sich an neue Verhältnisse klaglos anzupassen und mit Zuversicht in die Zukunft zu blicken. »Nur in der Verwandlung ist das Leben«, erklärte er programmatisch zu Beginn seiner Autobiographie »Second Wind«, »das Leben reißt uns in seinen Strom von Abenteuer, Traum und Magie, dem Ungewissen, dem Furchtbaren
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und Wunderbaren entgegen, – ob Du willst oder nicht. Wandle Dich! Wandle Dich! Vielleicht wird sich die Welt mit Dir wandeln.« Mit dieser Anpassungs- und Integrationsbereitschaft geht etwas einher, was für die deutsche Emigration insgesamt typisch war: Sie schloss sich zwar in Gruppen zusammen, kapselte sich aber gesellschaftlich nicht etwa in Ghettos ab und bildete auch keine Parallelgesellschaft aus. Das wurde zweifellos dadurch erleichtert, dass deutsche Emigranten nicht bildungsfern, sondern im Gegenteil überdurchschnittlich gut ausgebildet waren. Und zu guter Letzt spielen natürlich auch Zahlen eine Rolle: Während der NS-Zeit emigrierten aus Deutschland 360.000 Menschen und weitere 140.000 aus Österreich. Mit 130.000 Menschen fand von ihnen etwa ein Viertel Zuflucht in den USA, alle anderen verteilten sich auf über 80 weitere Länder, darunter Argentinien (35.000), Brasilien (16.000), Shanghai (18.000), Südafrika (5.500) und Russland (3.000). Man sieht unschwer, dass sich die gegenwärtige Migrationsbewegung aus Ländern wie Syrien, Irak oder Afghanistan nach Europa in fast jeder Hinsicht von der deutschsprachigen Emigration während der NS-Zeit unterscheidet. Sie ist erheblich umfangreicher, und die kulturellen Anschlussmöglichkeiten sind entschieden geringer. Sie erfolgt auch ungeordneter, denn eine Einreise ohne Pass und Visum etwa in die USA war damals wie heute völlig undenkbar. Da die US-Einwanderungsquote ausgeschöpft war, musste Zuckmayer sogar Anfang Dezember 1939 nach Havanna reisen, um dort ein non-quotaEinreisevisum zu beantragen. Dass es ihm bewilligt wurde, lag nicht zuletzt an Empfehlungsschreiben von Marlene Dietrich, Albert Einstein, Ernest Hemingway, Benjamin Hübsch, Thomas Mann und Thornton Wilder, wobei besonders das Affidavit von Marlene Dietrich großen Eindruck auf den Konsularbeamten machte. Im Übrigen darf man nicht übersehen, dass gegenüber den deutschsprachigen Migranten trotz der vergleichsweise überschaubaren Größenordnung, trotz der relativ geringen kulturellen Differenzen und trotz der Integrationsbereitschaft und -fähigkeit zumindest die US-amerikanische Administration Vorsicht walten ließ: Wie viele andere emigrierte Schriftsteller stand auch Zuckmayer als »enemy alien«, als »feindlicher Ausländer«, unter Beobachtung des FBI, kurioserweise auch noch, als er für das »Office of Strategic Services«, den ersten Auslandsgeheimdienst der USA und Vorläufer des CIA, seinen 2002 aus dem Nachlass veröffentlichten »Geheimreport« schrieb. Nimmt man alles zusammen, so muss das Zwischenfazit lauten, dass sich aus der Geschichte der deutschsprachigen Emigration während der NS-Zeit kaum Lehren für die Gegenwart ziehen lassen. Das gelingt vielleicht eher mit Blick auf die zwölf bis vierzehn Millionen Menschen, die in den Jahren 1945 bis 1950 aus den deutschen Ostgebieten flohen oder vertrieben wur-
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den. Ihre Integration gelang sowohl in der Bundesrepublik als auch in der DDR – wenn auch keineswegs reibungslos. Auch das ist ein Kapitel aus der Geschichte der Völkermühle Europas, bei dem Zuckmayer jedoch nicht als Zeitzeuge dienen kann, denn er hat sich damit nie eingehend befasst. III. Heimat im Wandel Für Zuckmayer bedeutete die Emigration nicht nur den Verlust seiner Geburtsheimat, sondern auch seiner Wahlheimat, was er als viel schlimmer empfand. In eigentümlichem Kontrast dazu steht seine nach dem Zweiten Weltkrieg erfolgte Vereinnahmung als rheinhessischer Dichter, ja als Heimatdichter. Doch selbst, wenn Zuckmayer mit seinem Erfolgsstück »Der fröhliche Weinberg« eine Hommage auf seine rheinhessische Heimat beabsichtigt gehabt haben sollte, dann stieß sie jedenfalls zunächst ganz und gar nicht auf Gegenliebe. Am Tag der Mainzer Erstaufführung demonstrierten zwischen 6.000 und 7.000 Landwirte zugleich »gegen höhere Steuern und den ›Fröhlichen Weinberg‹«, wie der »Frankfurter Generalanzeiger« am 11. März 1926 berichtete. Am Ort der Uraufführung, in Berlin, war es nicht die regionale Besonderheit, die zur Wirkung des Stücks beitrug, sondern sein Anachronismus. Auch wenn die Zeit der Handlung das noch nicht weit zurückliegende Jahr
Abb. 2: Szenenfoto von der Uraufführung des »Fröhlichen Weinbergs«, 1925
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1921 abgibt, war es geradezu ein Gegenbild zu einer beschleunigten Modernisierung, für die die Metropole Berlin einstand. Mit landschaftlichem Kolorit drapierte Fragen wie die, ob die Tochter des Weingutbesitzers Gunderloch am Ende den unsympathischen Korpsstudenten Knuzius oder nicht doch den eigenwilligen, aber liebenswerteren Rheinschiffer Jochen heiraten wird, fiel das Stück gleichsam aus der Gegenwart. Das gilt auch für Zuckmayers nächste Stücke. In »Schinderhannes«, 1927 am Berliner Lessingtheater uraufgeführt, griff er die Lebensgeschichte des 1803 hingerichteten Räuberhauptmanns Johannes Bückler aus dem Hunsrück auf, in »Katharina Knie«, 1928 ebenfalls am Berliner Lessingtheater uraufgeführt, schilderte er den Niedergang eines Wanderzirkus in den Inflationsjahren 1923/24. Soweit in diesen Stücken Heimat nicht nur eine Requisite ist, sondern sentimentalisch beschworen wird, ist es eine verlorene oder zumindest in ihrem Bestand gefährdete Heimat. Das befriedigte offenbar nicht nur beim Berliner Großstadtpublikum Kompensationsbedürfnisse, ließ aber gerade in Berlin durch den Kontrast mit der Wirklichkeit die Modernisierungsgeschwindigkeit in den 1920er Jahren sinnfällig werden und zeigte, dass Heimat nichts Statisches ist. Sie erweist sich vielmehr als ein Ort der sehnsüchtigen Projektion, so zum Beispiel für Wilhelm Voigt, die Hauptfigur in Zuckmayers Stück »Der Hauptmann von Köpenick«, das 1931 am Deutschen Theater Berlin uraufgeführt wurde. Auf die Frage eines Oberwachtmeisters, warum er denn nicht in Bukarest geblieben sei, wo er eine Arbeit bei einem Schuhfabrikanten gefunden hatte, antwortet Voigt: »Weil ich – ich habe mir eben so sehr zu Hause jesehnt. (…) Det glaubese jarnich, wie scheen Deutschland is, wenn man weit wech is und immer nur dran denkt.« Er fügt aber sofort hinzu: »Det war dumm von mir.« (Zuckmayer, Hauptmann von Köpenick, S. 19 f.) Je größer der zeitliche Abstand ist, desto weniger lassen sich Erinnerungsbild und Wirklichkeit zur Deckung bringen, eine Erfahrung, die Zuckmayer selbst machen musste, als er Ende 1946 nach acht Jahren des Exils erstmals wieder nach Deutschland zurückkehrte. Bei seiner ersten Fahrt durch Berlin begleitete ihn der Regisseur Boleslaw Barlog, der darüber in seinen Lebenserinnerungen berichtete: »Wir wählten auf seinen Wunsch unseren Weg so, daß wir durch den Tiergarten fuhren und später über den Lützowplatz, den Wittenbergplatz, den Bahnhof Zoo und den Kurfürstendamm entlang. So sah Zuckmayer zum erstenmal sein zerstörtes Berlin wieder: unter einem mondhellen Nachthimmel den einstigen Tiergarten, damals nur noch eine Wüste von Baumstümpfen, Denkmalstrümmern und Schrebergärten, die provisorisch und häßlich eingezäunt, den hungernden Berlinern ein wenig Gemüse und ein paar Kartoffeln liefern sollten. Weiterhin reichte der Blick vom zerstörten Hansaviertel
Carl Zuckmayer und die »Völkermühle Europas« 93 bis zu den Resten des Tiergartens, von den Trümmern des alten Reichstages neben dem Brandenburger Tor bis zu den Überresten der Technischen Hochschule in Charlottenburg. (…) Wir alle sprachen kaum ein Wort, denn die vom Krieg zerstörte Landschaft sprach für sich. (…) Als uns Zuckmayer am Ende dieser Fahrt verließ, wurde kein Wort gesprochen, weder von ihm, noch von uns. Bei dem stummen Händedruck des Abschieds am Ende der Fahrt sah ich nur, daß seine Augen voller Tränen waren.« (Barlog, Theater Lebenslänglich, S. 291 f.)
Abb. 3: Carl Zuckmayers Identification Card, 1946
Auch Mainz bot kein anderes Bild. Seit bei den nächtlichen Luftangriffen am 12. und 13. August 1942 das Haus der Familie zerstört worden war, lebten seine Eltern in Oberstdorf. Nach Mainz kehrten sie nicht mehr zurück. Selbst wenn Zuckmayer sich dort wieder hätte niederlassen wollen, wäre es die Stadt seiner Jugend nicht mehr gewesen. Zu 80 Prozent wurde sie während des Zweiten Weltkriegs zerstört. War es also Nostalgie, wenn Zuckmayer in seiner 1959 veröffentlichten Erzählung »Die Fastnachtsbeichte« Mainz am Vorabend des Ersten Weltkriegs als Schauplatz wählte? Ein bisschen vielleicht, aber mehr sicher nicht. IV. Zuckmayers Erzählung »Die Fastnachtsbeichte« Die 1959 als Buch veröffentlichte Erzählung »Die Fastnachtsbeichte« war ein ansehnlicher, wenn auch kein überragender Verkaufserfolg. Sie brachte es innerhalb der ersten zwei Jahre mit dem 65.–76. Tausend immerhin bis zur neunten Auflage. (1965 folgte noch eine Buchclubausgabe im BertelsmannLesering, deren Auflagenhöhe angesichts des gezahlten Lizenzhonorars von 120.000 DM sechsstellig gewesen sein dürfte.)
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Die frei erfundene Geschichte spielt im Jahr 1913. Handlungsort ist neben Mainz das fiktive Weingut Kedderichsbach, von dem es im Text heißt, es liege »zwischen Walluf und Eltville« und sei »von Mainz aus am besten mit dem zum rechten Rheinufer hinüberfahrenden Dampfschiff zu erreichen« (S. 169). Dieses Weingut befindet sich »seit Generationen im Besitz der Familie Panezza«, und wie dieser Name vermuten lässt, hat diese Familie italienische Wurzeln. Das gilt nicht nur für das Familienoberhaupt Adelbert Panezza, sondern auch für dessen Frau Clotilde, die »eine geborene Moralter« ist, »aus Südtirol stammend und halb sizilianischer Abkunft«. Ist der innerfamiliäre Multikulturalismus bis hierhin noch gut überschaubar, so wird er durch erotische Seitensprünge doch zu einem reichlich komplizierten Beziehungsgeflecht. Die Verwicklungen beginnen damit, dass der alte Panezza mit der Amme seines Sohnes Jeanmarie einen illegitimen Sohn zeugt: Ferdinand. Der Fehltritt wird vertuscht; Ferdinand wächst als Ferdinand Bäumler bei seiner Mutter auf. Er gerät auf die schiefe Bahn, muss als junger Mann wegen einer Unterschlagung aus Mainz fliehen, heuert bei der französischen Fremdenlegion an, desertiert aber und schlägt sich nach Sizilien durch, wo er, angeblich »auf einer Weltreise begriffen« (S. 391), sich gegenüber der Kusine Jeanmarie Panezzas, Viola Moralto, als Jeanmarie vorstellt. Viola, die Jeanmarie zuletzt als vierjähriges Mädchen gesehen und ihn damals schon einmal geküsst hatte, verliebt sich in ihn gleichsam erneut und wird schwanger. Doch als sie bemerkt, in anderen Umständen zu sein, hat sich der falsche Jeanmarie schon wieder auf und davon gemacht – nach Mainz. Dorthin reist nun auch sie, zum richtigen Jeanmarie. Just an dem Tag, als sie unangemeldet auf dem Weingut der Panezzas eintrifft, wird der falsche Jeanmarie im Mainzer Dom tot aufgefunden. Er wurde ermordet, und als Mordwerkzeug diente ein sizilianisches Stilett. Die Konstruktion erscheint wie dazu ersonnen, die These von der Völkermühle Europas nochmals in Szene zu setzen, was in der bisherigen Rezeption dieses Textes erstaunlicherweise völlig unbemerkt blieb. So lobte Friedrich Sieburg Zuckmayers »Unbefangenheit, die in Deutschland so selten« sei, und störte sich nur daran, dass »der geheimnisvolle, gleichsam raunende Tonfall des ›Es war einmal‹ (…) bisweilen dem Redensartlichen geopfert« werde (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10. Oktober 1959). Doch weder Sieburg noch ein anderer Rezensent ging mit einem Wort darauf ein, dass Zuckmayer en passant eine erfolgreiche Migrationsgeschichte erzählt hat, denn die Familie Panezza ist so gut in die Mainzer Gesellschaft integriert, dass angesichts der sizilianischen Mordwaffe der Verdacht nicht auf sie fällt, sondern sofort auf »e paar hunnert italienische Chaussee-Arbeiter in der Stadt« (S. 231), von denen sich herausstellen wird, dass keiner von ihnen der Mörder war.
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Auch setzt Zuckmayer ganz nebenbei in Szene, wie Juden in der deutschen Gesellschaft auch schon vor dem Ersten Weltkrieg stigmatisiert und diskreditiert wurden. Nachdem ein junger Rechtsanwalt, seinem als mutmaßlicher Mörder (irrtümlich) verhafteten Mandanten die Rechtslage erläutert hat, entspinnt sich nämlich folgender Dialog: »›Danke, Herr Levisohn‹, sagte der Oberstaatsanwalt Classen mit einer merkwürdigen Betonung. ›Dr. Levisohn‹, sagte der junge Anwalt. ›Danke, Herr Doktor Levisohn‹, wiederholte Classen, wobei er den Namen noch ausgeprägter betonte. ›Herr Doktor genügt‹, sagte Levisohn, der erblaßt war. ›Das haben nicht Sie zu bestimmen‹, fuhr Classen ihn an.« (S. 217)
An solche Formen des Antisemitismus in einer Stadt zu erinnern, aus der während der NS-Zeit etwa 1.300 Juden in die Emigration getrieben wurden, verstand sich 1959 noch nicht von selbst. Umso seltsamer ist es, dass auch dieser Umstand von den Rezensenten genauso wenig hervorgehoben wurde wie die Tatsache der ungewöhnlichen Kreation einer alteingesessenen deutschitalienischen Mainzer Familie, noch dazu verbunden mit der Zutat italienischer Gastarbeiter »für die neu Chaussee nach Zahlbach un Bretzenheim« (S. 231), obwohl die Arbeitsmigration von Italienern nach Deutschland in Folge des deutsch-italienischen Anwerbeabkommen von 1955 zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieser Erzählung gerade erst begonnen hatte und erst nach der Einführung der Freizügigkeit für Arbeitnehmer beider Länder im Jahr 1961 binnen weniger Jahre auf 580.000 Menschen stieg. Auch dadurch akzentuierte Zuckmayer das stete Mahlen der Völkermühle Europas, zeigte aber darüber hinaus, wie sehr Identität auch in anderer Hinsicht ein fragiles Konstrukt ist. Denn der alte Panezza ist sicher, dass letztlich er am Schicksal seines illegitimen Sohnes die Schuld trägt. Im Beichtstuhl bekennt er: »Ich habe ihn doch in den Tod getrieben und, was schlimmer ist, ins Leben – aber an ihm klebt die Schande eines schlechten, unehrlichen Lebens …« Und er fragt: »Soll ich den falschen Schein bestehen lassen, daß nur die armen Leute unehrlich sind? Er war mein Sohn ‒« (S. 256) Doch der Domkapitular Henrici rät von einem öffentlichen Schuldbekenntnis ab: »Ein Autodafé ist noch keine Tugend, eine Selbstzerstörung noch lang keine Entsühnung. Sie kämen sich als Märtyrer vor – und andere müßten zahlen. Ihre Kinder zum Beispiel – (…).« Deshalb mahnt Henrici den alten Panezza eindringlich: »Sie dürfen nicht aus Ihrer Rolle fallen!« (S. 258). Damit aber macht der Autor der Erzählung »Die Fastnachtsbeichte« für den Leser auch unmissverständlich deutlich, wie sehr Identität tatsächlich eine Rolle ist, und das gilt für die soziale Identität nicht minder als für die lokale, regionale und nationale.
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cHristiane reves
Europäischer Binnenmarkt in der Frühen Neuzeit Netzwerke italienischer Händler zwischen Rhein, Main und Mosel
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er Europäische Binnenmarkt ist eine der wichtigsten Säulen der Europäischen Union (EU). Freier Personen-, Waren-, Dienstleistungsund Kapitalverkehr beflügeln seit Jahrzehnten den wirtschaftlichen Austausch und den Wohlstand in Europa. Die jüngsten politischen Ereignisse konfrontieren die EU auch mit den Herausforderungen durch Migration im größeren Umfang, und kritische Stimmen werden lauter. Als Gegenbeispiel wird häufig die frühe Neuzeit, die Zeit der Fürstentümer und Reichsstädte angeführt, in der Handel und Freizügigkeit durch Kleinstaaterei, hohe Zölle und komplexe Bürokratie Einschränkungen ausgesetzt gewesen seien. All dies hätte unter anderem zu geringerer Mobilität und folglich zu einer sesshaften Gesellschaft geführt. Erst im Zuge von Industrialisierung und moderner Staatenbildung im 19. Jahrhundert hätte sich dieses enge Korsett gelockert und Migration hätte sich zu einem prägenden Element der modernen Gesellschaft entwickelt. Internationaler Handel und Migration waren jedoch auch in der Frühen Neuzeit keine Ausnahmeerscheinungen, was durch die neuere Geschichtsforschung mehr und mehr aufgearbeitet wird. Es waren nicht nur Händler und Handwerker, sondern auch Künstler, Mägde, Knechte und Bedienstete, die Heim und Hof verließen und andernorts ein besseres Auskommen suchten. Carl Zuckmayer prägte für die hiesige Region zwischen Rhein, Main und Mosel den Begriff der »Völkermühle Europas« (Zuckmayer, Teufels General, S. 64). Es ist das Ziel dieser Vortragsreihe, die Tradition als Durchgangsstation, als Handelsknotenpunkt und als neue Heimat für Migrierende über die Jahrhunderte und Epochengrenzen hinweg darzustellen. In dem hier vorliegenden Beitrag wird eine Gruppe Migrierender näher beleuchtet: die italienischen Händler vom Comer See im 17. und 18. Jahrhundert.
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Zahlreiche Studien belegen, dass es für die Bewohner der Alpen- und Voralpenregionen zum Alltag gehörte, als Händler, Bauhandwerker, Stuckateure oder Schausteller fern der Herkunftsregion Arbeit und Verdienstmöglichkeiten zu suchen. Während im Mittelalter und Anfang der Frühen Neuzeit viele Händler aus den italienischen Voralpengebieten regional und im Transithandel tätig waren, expandierten sie ihr Absatzgebiet im 17. und 18. Jahrhundert nördlich der Alpen von Sankt Petersburg bis Bordeaux, von Genua bis Amsterdam. Auch entlang von Rhein, Main und Mosel – drei wichtigen europäischen Verkehrsadern – etablierten sich oberitalienische Händler in kurfürstlichen Zentren wie Mainz, freien Reichsstädten wie Frankfurt, aber auch in kleineren Ortschaften. Viele kehrten am Ende ihrer Karriere wieder in ihre Ausgangsregion zurück. Andere ließen sich in den Zielregionen nieder und integrierten sich in die aufnehmende Gesellschaft. Dazu gehören die Brentano-Familien, aus denen der Dichter der deutschen Romantik, Clemens von Brentano, seine Schwester Bettine von Arnim, der Philosoph und Lehrer von Sigmund Freud, Franz von Brentano, der Nationalökonom und Sozialreformer Lujo Brentano sowie der erste deutsche Außenminister unter Konrad Adenauer, Heinrich von Brentano hervorgingen. Mit diesem Beitrag begeben wir uns auf die Spuren ihrer Vorfahren, den italienischen Spezereihändlern, die im Geiste eines grenzenlosen Europas bereits in der Frühen Neuzeit europaweit ihren Handel trieben. Wie konnten die Händler in dem komplizierten voreuropäischen Staatenwesen flexibel agieren? Wie reagierten die bereits ansässigen Bürger in den jeweiligen
Votivtafel in der Kirche Santa Maria del Soccorso bei Sala am Comer See. Eine Familie (vermutlich Händler) geht über die Alpen.
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Städten auf die Konkurrenz? In welche Netzwerke waren die Händler eingebunden? Das sind einige Fragen, mit denen wir uns dem Thema annähern wollen. Handelsknotenpunkte in der Frühen Neuzeit – Frankfurt und Mainz im Vergleich Eine Landkarte von Heinrich Büntings aus dem Jahre 1548 verdeutlicht die Zentralität der hiesigen Region in der Frühen Neuzeit. Die Karte wurde in Form einer Frau gestaltet, und Rhein und Main befinden sich direkt über dem »Herzen«. Diese Flüsse, an denen Städte wie Mainz und Frankfurt gelegen sind, waren die zentralen Arterien, die Hauptschlagadern für das europäische Wirtschaftsleben. Kein Wunder also, dass diese Region über Jahrhunderte hinweg ein begehrtes Ziel für Zuwanderer, insbesondere für Händler und Geschäftsleute, war.
Europakarte in Form einer Jungfrau (Heinrich Bünting 1582)
Mainz war nicht nur wegen seiner vergleichsweise geringen Bevölkerungsdichte, sondern auch aufgrund seiner Bedeutung als kurfürstliche und bischöfliche Residenzstadt mit Sitz der Hofhaltung, den Zentralbehörden der Regierung des gesamten Erzstiftes, der Administration der Erzdiözese und den eigenständigen Verwaltungsorganen des Domkapitels zentraler Kno-
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tenpunkt. Seit der Mainzer Stiftsfehde wurde die Stadt von Kurfürsten regiert, weshalb die städtische Selbstverwaltung drastisch eingeschränkt war, und es keine eigenständige städtische Oberschicht mit ausgeprägtem politischen Selbstbewusstsein gab. Die geographische Lage am Zusammenfluss von Rhein und Main bot gute Handelsmöglichkeiten und machte Mainz zu einem Anziehungspunkt für den überregionalen sowie den regionalen Handel. Trotz dieser herausragenden und strategisch guten Lage betätigte sich das Gros der Mainzer Handeltreibenden nicht im Groß- und Fernhandel, sondern deckte den Bedarf der Stadt und des Umlandes. Kurfürst von Ostein bemühte sich verstärkt um die Aufnahme von Kaufleuten, denn er sah in der Förderung des Handels im Sinne einer merkantilistischen Wirtschaftspolitik eine »unerschöpfliche Quelle des Reichtums eines Staats« (Zedler, Universallexikon, Bd. 15, Sp. 264). Er machte es sich zum Ziel, die Stadt Mainz zu einer Handelsstadt auszubauen, um dem traditionsreichen Handelsknotenpunkt Frankfurt entgegen zu treten. Mit der Gründung eines Handelsstandes wurden Großkaufleute von dem engen Vorgabenkorsett, das den Eintritt in die Krämerzunft erschwerte, befreit. Für den Zuzug italienischer Händler wirkte sich positiv aus, dass Mainz eine katholische Stadt war. Insgesamt findet man im 17. und 18. Jahrhundert 159 Supplikationen von italienischen Händlern um die Aufnahme als Bürger in Mainz in den Akten des Mainzer Vizedomamts. Im protestantischen Frankfurt findet man im gleichen Zeitraum nur 113 Supplikationen um Bürgerrecht oder Beisassenschutz (Reves, Pomeranzengängler, S. 298 f.). Auch wenn das nicht unbedingt Rückschlüsse auf die exakte Zahl der Handlungen und ansässigen Italiener zulässt, da die Kaufmannskontore meist von mehreren Personen geführt wurden und manche Händler mehrfach um Aufnahme supplizierten, zeugt es dennoch davon, dass das Interesse von Seiten italienischer Händler nicht unerheblich war. Viele Supplizierende kamen vom Comer See oder aus den Alpentälern rund um den Lago Maggiore. Diese Händler, die nicht aus den großen Handelsstädten wie Mailand, Neapel oder Genua stammten, waren häufig miteinander verwandt oder gehörten den gleichen Handelsgesellschaften an. Die meisten Nachnamen tauchen in den Supplikationsakten zumindest zwei Mal, manche sogar mehrfach auf. Mitte des 18. Jahrhunderts dominierten die Italiener bereits den Mainzer Spezereihandel. 1754 gab es im Handelsstand neben sechs deutschen 19 italienische Händler in dieser Branche. Dieser nicht unerhebliche Zuwachs auswärtiger Konkurrenz hatte Auswirkungen für die ortsansässigen Händler, welche sich deshalb in regelmäßigen Abständen bei den städtischen Behörden über die italienischen Händler beschwerten. Nachdem zunächst der Zuzug in Mainz mit wenigen Einschränkungen möglich war, machte der Kurfürst in der ersten Hälfte des
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18. Jahrhunderts Zugeständnisse gegenüber den einheimischen Händlern. Am 5. Oktober 1723 erließ Lothar Franz von Schönborn eine Landesverordnung mit der Anweisung, dass »keine ausländische, vornehmlich Italianische Krähmer ohne Vorwissen und Genehmhaltung zum Bürger auff- undanzunehmen befugt seyn« (StA Mz, LVO, 1723 Okt. 5). Dies tat dem weiteren Zustrom jedoch keinen Abbruch. In Frankfurt waren die Möglichkeiten für die italienischen Händler, sich niederzulassen und Handel zu treiben, weitaus begrenzter. Frankfurt hatte eine Tradition als internationaler Warenumschlagplatz und etablierte sich gegen Ende des 17. Jahrhunderts als Drehscheibe des mitteleuropäischen Handels – zum »Kaufhaus Europas«. Der Handel zwischen Frankreich, Italien und der Schweiz auf der einen, dem nördlichen Deutschland, den Niederlanden, Dänemark, Rußland und Österreich auf der anderen Seite wurde zu einem guten Teil über Frankfurt abgewickelt. Die Frankfurter Messen, die Schifffahrtswege auf Rhein und Main sowie relativ gute Straßenverbindungen – 26 Handelsstraßen kreuzten sich hier – lieferten dafür gute Voraussetzungen. Die Nähe zum Rhein als einer der wichtigsten Verkehrsadern sowie zur Weser als Verbindung nach Nordhessen verband Frankfurt sowohl mit dem süd- als auch mit dem nordwesteuropäischen Wirtschaftsgebiet, das mit den Niederlanden an der Spitze im Verlauf des 17. Jahrhunderts einen ökonomischen Aufstieg erlebte. Die Frankfurter Messen entwickelten sich zu einem zentralen Handelsknotenpunkt für den Spezerei-, Gewürz- und Luxuswarenhandel. Auch im Speditions- und Kommissionsgeschäft spielte Frankfurt als Umschlagplatz eine bedeutende Rolle. Frankfurt war jedoch nicht nur eine wichtige Messe- und Handelsstadt. Als reichsunmittelbare freie Stadt unterstand sie direkt dem Kaiser, war Wahlund Krönungsort, Sitz des Reichskammergerichts sowie Tagungsort für Zusammenkünfte wie den Sitzungen des Oberrheinischen Kreistags. Interne Verfassungsstreitigkeiten sowie kriegerische Auseinandersetzungen konnten dem kommerziellen Leben keinen Abbruch tun. Während im 17. Jahrhundert der Großhandel fast ausschließlich in den Händen einiger eingewanderter belgischer Familien lag, etablierten sich ab der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts hier auch die italienischen Spezereihändler. 1792 waren zehn der 90 Spezereiwarenhandlungen in italienischer Hand. Dietz teilt die italienische Zuwanderung in Frankfurt in drei Gruppen ein: zum einen Spezerei- und Südfrüchtehändler, die seit dem Dreißigjährigen Krieg zugewandert waren, Händler vom Comer See, wie die Brentano, Guaita, Bellini, Cetto, Carli sowie Mainoni. Die zweite Gruppe bildeten die Seiden- und Galanteriewarenhändler, zum großen Teil Savoyarden und Piemontesen. Dazu gehörten ab 1710 unter anderem die Familien Allesina, Bolongaro, Borgnis sowie Bertina. Die dritte Gruppe waren jene Händler,
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die hauptsächlich seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts aus verschiedenen Teilen der Lombardei zuwanderten: die Matti, Minoprio, de Giorgi und Milani. Europäischer Binnenmarkt in der Frühen Neuzeit? Eine Annäherung am Beispiel der Händler vom Comer See In der heutigen globalisierten Welt ist es selbstverständlich, Produkte aus aller Welt und so auch aus Italien jederzeit verfügbar zu haben. Designliebhaber schwören auf Haushaltswaren der piemontesischen Designfirma Alessi; modebewusste Käufer schätzen die Eleganz und Qualität norditalienischer Schuhe und Kravatten; italienische Spezialitäten wie Parmesankäse, Salami und Weine sind Standard in der deutschen Küche. Italienische Eisdielen mit bezeichnenden Namen wie »Dolomiti« oder »Venezia«, Restaurants, Pizzerien und italienische Spezialitätenläden sind nicht mehr aus dem deutschen Stadtbild wegzudenken. In den 1960er und 70er Jahren kamen zahlreiche sogenannte »Gastarbeiter« nach Deutschland, viele von ihnen sind bis heute geblieben. Der uneingeschränkte Zugang zu Waren, die Anwesenheit von Italienern und Menschen anderer europäischer Nationen hier in Deutschland wurde nicht zuletzt durch den europäischen Binnenmarkt gefördert und erleichtert. Wie sah die Situation jedoch für die Händler im 17. und 18. Jahrhundert aus? Freier Personenverkehr Werfen wir zunächst einen Blick auf das erste Grundprinzip des Europäischen Binnemarktes: den freien Personenverkehr. In der EU-Gesetzgebung heißt es: »Mit der Unionsbürgerschaft ist das Recht verbunden, sich in jedem Staat des Binnenmarktes frei zu bewegen und aufzuhalten und bei der Arbeitssuche und am Arbeitsplatz wie Einheimische behandelt zu werden.« (http://www.europarl.europa.eu/brussels/website/content/modul_05/start. html) Mit welchen rechtlichen Grundlagen sahen sich Händler in der Frühen Neuzeit konfrontiert, wenn sie versuchten, sich in Handelsstädten in Europa niederzulassen? Die italienischen Händler wie die Brentano oder Cetto stammten aus kleineren Ortschaften am Comer See. Als Bewohner der Lombardei waren sie seit 1707 Reichsbürger und dem Kaiser unterstellt, ebenso wie die Bürger der Städte Mainz und Frankfurt. Jede Stadt hatte jedoch ihre eigenen Regeln für Niederlassung und Geschäftstätigkeit. Sowohl in Mainz als auch in Frankfurt war das Bürgerrecht an viele Konditionen, wie Konfessionszugehörigkeit, finanzielle Mittel und vieles andere mehr gebunden. Die
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bereits ansässigen Händler oder Zünfte hatten Mitspracherecht oder wurden zumindest angehört. Deren Ziel war es in der Regel, die Niederlassung und die Annahme auswärtiger Händler ins Bürgertum und damit die Etablierung von Konkurrenz zu verhindern. In der protestantischen Freien Reichsstadt Frankfurt hatten grundsätzlich nur Nachkommen Frankfurter Bürger ein Anrecht auf das Bürgerrecht. Eine weitere Möglichkeit war, durch Einheirat diesen Status zu erhalten, vorausgesetzt, man zahlte fünf Prozent seines Vermögens. Ein temporärer Aufenthaltsstatus, der sogenannte Beisassenschutz, musste ebenfalls beim Rat beantragt werden. Dieser Schutz musste jährlich erneuert werden. Die Handelstätigkeit von Nicht-Bürgern war in der Regel auf bestimmte Waren beschränkt und die geforderte Abgabenleistung wesentlich höher als die eines Frankfurter Bürgers. Grundsätzlich war es für Katholiken schwieriger, den Bürgerstatus zu erlangen, denn die Freie Reichsstadt Frankfurt war seit 1533 lutheranisch und der Anteil katholischer Bürger mit etwa fünf Prozent sehr gering. Wer in Mainz Bürger werden wollte, musste beim Vizedomamt einen Antrag stellen. Jeder Bewerber hatte verschiedene Nachweise zu erbringen: von ehelicher Geburt über katholische Konfession bis hin zu einem Vermögensnachweis. Die Zünfte hatten das Recht, ihre Bedenken vorzutragen. Wie heftig der Widerstand gegen die auswärtige Konkurrenz und deren dauerhafte Niederlassung in Frankfurt war, verdeutlicht unter anderem eine Sammlung von Ratsakten von 1671 bis 1736, welche in dem Band »Specerey und Würtzkrähmer Acta contra die Italianischen Beysassen« die Auseinandersetzungen zwischen den bürgerlichen Spezerei- und Gewürzkrämern und den italienischen Händlern dokumentiert. Die ortsansässigen Händler hatten das erklärte Ziel, das Warenangebot der Italiener zu beschränken, um sich damit die unliebsame Konkurrenz vom Leibe zu halten. Da die Italiener regelmäßig Ratsverordnungen bezüglich der Beschränkung ihres Warenangebots ignorierten, forderten die Krämer mitunter die Ausweisung aus der Stadt, denn, »wo nur in einem dörfflein sich ein Italianer niedergelassen, kein anderer deutscher Krämer darinnen weiters fortzukommen vermögen« (StA Ffm, Handel Nr. 191, S. 341r). Die Frankfurter Krämer behaupteten, dass die Zahl der italienischen Handelshäuser im Jahr 1715 auf sieben beschränkt worden sei. Man verunglimpfte die Italiener als Fremde, wies auf ihre katholische Religionszugehörigkeit hin und warf ihnen Verfehlungen und Betrügereien im Handel vor. Gegen die Aufnahme des Dominico Martino als Beisassen in Frankfurt wurde 1754 unter anderem vorgebracht, dass er bereits Mainzer Bürger sei und dass »nach denen gemeinen Teutschen Rechten, eine Person nicht an zwey Orten Huldigungs-Pflichten aufhaben könne (…). Ein Mann, welcher in dem Mayländischen begütert, zu Mayntz sich das Burger-Recht offen
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erhalten, zu Amsterdam eine Handlung geführet, und zu Franckfurt sich, durch Hülffe eines geschickten Verfälschers, in den Beysassen-Schutz, ohne Begrüssung der Obrigkeit, eindringen wolle, hat billig alle seine LandesHerrschaften in Zweiffel setzen« (StA Ffm, Prozessdruckschriften, Nr. 23, S. 20 f.). Eine Art »doppelte Staatsbürgerschaft« wurde damit als Argument gegen die Vertrauenswürdigkeit der Händler angeführt. Ein sicherer Aufenthaltsstatus – der Beisassenschutz oder das Bürgerrecht – war langfristig jedoch unabdingbar, um konkurrenzfähig zu bleiben und die Gewinnspannen zu erhöhen. Auch wenn es in der Frühen Neuzeit grundsätzlich keinen freien Personenverkehr gab, tat dies dem Handel der Italiener keinen oder nur geringen Abbruch. Gegen erhebliche Zahlungen oder aufgrund undurchsichtiger Gesetzeslage erreichten sie in vielen Fällen ihr Ziel und erwirkten Handelsprivilegien, in vielen Fällen sogar das Bürgerrecht. Langfristig gelang es den einheimischen Händlern in der Regel nicht, die auswärtige Konkurrenz vom Platz zu verweisen. Freier Waren- und Dienstleistungsverkehr Ein permanenter Aufenthaltsstatus war für die meisten italienischen Händler zunächst nicht das Hauptziel. Ihr primäres Anliegen war ein freier Warenund Dienstleistungsverkehr, wie er heute in der Europäischen Union selbstverständlich ist. »Im Binnenmarkt darf nichts den Austausch von Waren über die Grenzen behindern. Vor allem Zölle und mengenmäßige Beschränkungen oder Maßnahmen gleicher Wirkung sind verboten (…). Gewerbetreibenden, Kaufleuten, Selbstständigen in Handwerk oder freien Berufen aus einem EU-Land ist es erlaubt, in jedem Staat des Binnenmarktes ihre Leistungen anzubieten, auch ohne sich dort niederzulassen.« (http://www.europarl. europa.eu/brussels/website/content/modul_05/start.html) Mit welchen Rahmenbedingungen hatten sich die italienischen Händler im 17. und 18. Jahrhundert zu arrangieren? Eines der Hauptkampfmittel einheimischer Händler gegen die auswärtige Konkurrenz war es, Wareneinschränkungen bei den städtischen Behörden zu erwirken. In Mainz wurde in den Ratsprotokollen von 1671 nach mehrfachen Beschwerden erklärt: »Italienische Krämer sollen Mandato Eminentissimi hierfür anderst nicht mehr feilhaben als italienische Waren, mit den Gewürz aber sollen sie nur en Gros handeln, so ihnen angedeutet worden« (StA Mainz, Abt. 1/18, Ratsprotokolle 1670–1674, S. 101). Kurz darauf reichte die Krämerzunft eine Beschwerde ein. Darin wurde darauf verwiesen, dass die italienischen Krämer »noch alle die ihnen verbotenen Waren feilhaben und verkaufen würden« (StA Mainz, Abt. 1/18, Ratsprotokolle 1670–1674, S. 103). Schließlich wurde eine Verord-
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nung erlassen, die festlegte, dass die italienischen Krämer keine anderen als italienische Waren und genuesische Früchte verkaufen dürften. Der Verkauf von Spezereiwaren, wie Pfeffer, Ingwer, Zucker, Mandeln, Rosinen, blieb ihnen nur zur Messzeit und nur im Großhandel gestattet. Darüber hinaus verbot man ihnen den Verkauf von Salz, Essig, Butter, Fisch- und Fettwaren, einheimischer Seife, Farbwaren und dergleichen. In einem Brief an die Stadt Frankfurt aus dem Jahr 1700 stellte der Mainzer Kurfürst Freiherr von Dalberg die Tätigkeit der italienischen Krämer als geschäftsschädigend für den Handel der ortsansässigen Händler dar. Ursache dafür sei, dass sie andere als ausschließlich italienische Waren verkauften und dadurch »Teutschen Krahmern fast gantz die nahrung benomen wurde« (StA Mainz, Abt. 1/118, Ratsprotokolle 1670–1674, S. 675 f.). Die Frankfurter Krämer gingen massiv gegen die italienischen Händler vor: Sie trugen beim Rat vor, dass diese mit verbotenen Waren handeln und Hausieren gehen würden und damit einheimischen Krämern die »Nahrung entzögen«. Die Italiener würden den einheimischen Krämern mit ihren Geschäften »ihr Stücklein brodt gleichsam vor dem Mund hinweg« (StA Ffm, Handel Nr. 191, S. 21v) nehmen. Die Menge der verbotenen Waren sei erschreckend. Ein Kontrolleur vom Zoll am Fahrtor könne darüber aussagen »was für grausame Quantitäten von Wahren diese bekämen« (StA Ffm, Handel Nr. 191, S. 80v). Auch aufgrund des Hausierhandels würde »unserer Nahrung unerträglicher Schaden und Abbruch« (StA Ffm, Handel Nr. 191, S. 34v) zugetan. Man kritisierte darüber hinaus, dass die Italiener ihre Waren zu einem »allzu geringen Preis« abgeben würden. An der Qualität der Waren wurde ebenfalls gezweifelt. Die Italiener würden vor allem das Baumöl (Olivenöl) fälschen, indem sie es mit Magsamenöl vermischen, was nicht nur die Qualität mindere, sondern gleichzeitig »dumm« mache. Die Händler echauffierten sich auch darüber, dass die Italiener angeblich mit Hilfe von Bestechung der Hof- und Küchenmeister benachbarte Fürsten- und Herrenhäusern als Kunden gewonnen hätten. Trotz unablässiger Beschwerden einheimischer Krämer und Kaufleute sowie einschränkender Verordnungen florierte das Geschäft vieler italienischer Handelskompagnien in Frankfurt, Mainz und in anderen europäischen Groß- und Mittelstädten. Auch wenn Handelsverbote regelmäßig ausgesprochen wurden, schienen sich die Händler nur im geringen Maße daran zu halten. Eine umfassende Durchsetzung der Verbote war entweder schwierig oder nicht wirklich von den Regierungsbehörden gewollt. Anhand von Ratsprotokollen in beiden Städten lässt sich erkennen, dass die Regierungsbehörden in den Städten nicht immer auf der Seite der einheimischen Händler waren. Die Mainzer Kurfürsten hatten beispielsweise ein Interesse, Händler anzuwerben, da sie Mainz gegenüber Frankfurt konkurrenzfähig machen
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wollten. Auch in den Frankfurter Ratsprotokollen ist nachzulesen, dass der Rat nicht immer den einheimischen Händlern beistand. So lobte er in einem Schreiben die Frische der Waren und die moderaten Preise der Italiener. Auch wenn man von einem freien Waren- und Dienstleistungsverkehr im modernen Sinne weit entfernt war und die einheimischen Krämer und Kaufleute auswärtige Konkurrenz mit allen Mitteln unterbinden wollten, gelang es den italienischen Händlern dennoch, sich auf den Märkten entweder mit Zustimmung der Behörden, mit deren Duldung oder durch Umgehung von Vorschriften zu etablieren. Freier Kapitalverkehr Freier Kapitalverkehr zur Stärkung der Wirtschaft ist ein weiteres Kernelement des europäischen Binnenmarktes: »Fast alle Beschränkungen, die es früher für den Kapital- und Zahlungsverkehr zwischen den Staaten des heutigen Binnenmarktes gab, wurden aufgehoben und sind nun verboten.« (http://www.europarl.europa.eu/brussels/website/content/modul_05/start. html) Die frühneuzeitliche merkantilistische Wirtschaftsordnung hatte dagegen zum Ziel, Exporte zu erhöhen und Importe von Waren so gering wie möglich zu halten. Unterstützt wurde dieser Trend hin zu einer aktiven Handelsbilanz durch Förderung des Exports und Einschränkungen des Imports. Grundsätzlich wurde jeglicher Kapitalabfluss als schädlich für die Wirtschaftsbilanz angesehen. In Zedlers Universallexikon wurde deshalb über die italienischen Händler kritisch angemerkt, »daß sie hernach mit grossem Capital von viel tausend endigen, welches Geld alles über das Alpen-Gebürge hinüber in Italien geschleppet und (…) Teutschland entzogen wird« (Zedler, Universallexikon, Bd. 14, Sp. 1423). Um bei den städtischen Behörden mit ihren Anliegen Gehör zu finden, beschwerten sich die Würzkrämer, dass die Italiener ihr Geld nicht in Frankfurt beließen, sondern nach Italien bringen würden. Die italienischen Händler, so hieß es »schicken ihren meisten Reichthum zu den ihrigen in Italien, bauen alda große Palläste und kauffen sich Landgüter«(StA Ffm, Handel Nr. 191, S. 80v). Der Bitte um Beisassenschutz des Dominico Martino Brentano stand man skeptisch gegenüber, denn schließlich könne man nicht genau wissen, wie »viel Geld aus der Stadt ohn Obrigkeitliche Abgaben geschleppet« würde (StA Ffm, Prozeßdruckschriften, Nr. 23, S. 33). All dies tat dem wirtschaftlichen Erfolg und der langfristigen Integration der italienischen Händler keinen Abbruch. In Frankfurt bezahlten Mitte des 18. Jahrhunderts viele Italiener die höchste Schatzungszahlung als Beisassen in Höhe von 1.000 Gulden. Um 1800 gehörten insgesamt zwölf Personen mit
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dem Namen Brentano zu den Höchstbesteuerten in der Stadt. 1840 besaßen sechs Familienmitglieder insgesamt sieben Häuser in einem Gesamtwert von 220.000 Gulden und gehörten damit zu den 30 größten Hausbesitzern. Drei Jahrzehnte später zählten auf der Frankfurter Einkommenssteuerliste fünf Familienmitglieder zu den 300 wohlhabendsten Personen in der Stadt. Peter Anton Brentano vererbte seinen Kindern fast eine Million Gulden. Mit seinem Erbteil konnte sein Sohn Clemens Brentano, einer der bekanntesten Dichter der deutschen Romantik, ein sorgenfreies Leben führen und sich ganz seiner Laufbahn als Dichter und freischaffender Künstler widmen.
Clemens Brentano (Gemälde von Emilie Linder, um 1837)
Netzwerke und Familienbande Nicht nur im 17. und 18. Jahrhundert, sondern bis heute ist das Bild der italienischen Händler von dem eines armen, mittellosen Pomeranzenkrämers geprägt, der ein paar Zitronen in seinem Rucksack über die Alpen nach Deutschland bringt. In einem Rechtsstreit, der in den Frankfurter Polizeiakten überliefert ist, werden sie folgendermaßen beschrieben: »Anfangs Citronen- und Pomeranzengängler gewesen, so ihre Citronen und Pomeranzen unter dem Arm in der Stadt herumgetragen (…). Sie haben ihre Handlung mit nichts angefangen, lassen sich aber an ietzo mit großen Summa Geldes auskauffen, (…) transportiren ihren Reichthumb nach Italien (…)«, ge-
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nauso wie »(…) einige ihrer Vorfahren mit großem Reichthumb nach Italien gekehrt [sind] und teils die jetzigen eingesetzet haben« (StA Ffm, Handel Nr. 191, S. 103v). Wie aber passt dieses Bild des mittellosen Vagabunden mit dem eines wohlhabenden Händlers, wie zum Beispiel Peter Anton Brentano, zusammen, in dessen Haus sich das Frankfurter Großbürgertum und Intellektuelle wie Goethe die Klinke in die Hand gaben und bei dem teure Waren, wie Gewürze in großen Mengen über die Ladentheke gereicht oder weiter verschifft wurden, um dann in Köln oder München verkauft zu werden? Hatten die italienischen Händler ihren Erfolg der Hinterlistigkeit, Betrügereien und gefälschten Waren zu verdanken, wie die Zeitgenossen es ihnen häufig vorwarfen? In Zedlers Universallexikon heißt es, dass sie mit »schlechtem Kram (…) einen (…) schwunghaften Handel treiben«. Auch müsse man sich vor ihrer »Listig- und Spitzfindigkeit« vorsehen. In Mainz schrieb Vizedom Freiherr von Dalberg im Jahr 1716 über die Italiener in einem Brief an den Frankfurter Rat, diese seien »gewissen loose Leuthe«. Man beschimpfte sie als »außländische Papistische leuth«. Die Italiener würden versuchen, sich neben den »blut fangenden höchstschädlichen und verderblichen Juden« (StA Ffm, Handel Nr. 191, S. 36r.) in der Stadt zu etablieren. Die überwältigende Mehrheit der uns zugänglichen Quellenbestände sind Ratsakten und Bürgerannahmeprotokolle, Rechtsstreitigkeiten und Klageschriften in der Zielregion, weshalb das Bild von der damaligen Realität hauptsächlich von der Überlieferung der aufnehmenden Gesellschaft – der ortsansässigen Händler und des Rates – geprägt ist. Die Niederschriften entstanden in der Regel aufgrund von Konflikten, die Normalität des Alltags wird seltener beschrieben. Im Rahmen jüngerer Forschung wurde deshalb erstmals Quellenmaterial untersucht und in die Auswertung einbezogen, welches dieses recht einseitige Bild relativiert. Informationen aus der Herkunftsregion über die soziale Stellung, die internen Organisationsstrukturen, das internationale Handelsnetzwerk sowie das Warensortiment ermöglichen es, die italienischen Händler von einer etwas ausgewogeneren Perspektive zu beschreiben. Die soziale Stellung in der Herkunftsregion Lange Zeit herrschte die Auffassung vor, dass finanzielle Gründe die Bewohner der Alpenregionen in Italien und Frankreich in der Frühen Neuzeit zur Migration zwangen. In der neueren Forschung wurde jedoch durch eine Vielzahl mikrogeschichtlicher Studien herausgearbeitet, dass Migration in den Alpenregionen vor allem bei den wohlhabenderen Familien Tradition hatte. So wie es Laurence Fontaine für Wanderhändler aus den französischen Alpen
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feststellte, gehörten auch die in Deutschland sowie andernorts in Europa vorzufindenden Händler vom Comer See zur jeweiligen dörflichen Oberschicht in ihrer Ausgangsregion. Sie waren Teil der Dorfverwaltung, hatten vergleichsweise großen Grundbesitz, waren Kredit- und Arbeitgeber sowie Mäzene der Kirchengemeinden und Ordensgemeinschaften. Als sich Mitte des 18. Jahrhunderts immer mehr Händler in Deutschland um Bürgerschaft oder Beisassenschutz bemühten, war das primäre Ziel nicht die Auswanderung, sondern die Erschließung neuer Absatzmärkte. Die Händler unterhielten weiterhin enge Beziehungen zu ihrer Herkunftsregion und kehrten in regelmäßigen Abständen zurück. In einigen Testamenten ist sogar überliefert, dass eine Eheschließung in der Ferne Konsequenzen für einen Handelsgesellschafter bis hin zur Enterbung haben konnte. Volkszählungen verdeutlichen, dass Anfang und in der Mitte des 17. Jahrhunderts fast ausschließlich Männer die Region temporär verließen. Frauen und Kinder blieben zurück und kümmerten sich um Haus und Hof. Nach ihrer aktiven Phase im Handel setzten sich viele Händler am Comer See zur Ruhe, wo sie sich inzwischen ihre kleinen Häuser zu prächtigen Villen ausgebaut hatten, die noch heute das Landschaftsbild am See prägen. Stefano Brentano, Gesellschafter einer Handlung, die zum großen Teil in Frankfurt agierte, weilte beispielsweise aufgrund des Todes seines Vaters und Prinzipalen der Handlung mehrere Jahre lang in Tremezzo am Comer See. Dies hinderte ihn jedoch nicht daran, Geschäftsverbindungen für die Handlung zu pflegen. Am 9. Februar 1724 traf Stephano sich mit seinem Schwiegervater Dominico Brentano, der seine Geschäfte hauptsächlich in Genua führte. Am 22. März 1722 teilte er seinen Brüdern in Frankfurt mit, dass eine Sendung Olivenöl auf dem Weg von Hamburg sei. Pietro Brentano, der jüngere Bruder des Stefano, traf seinen Bruder am 17. Mai 1724 in Tremezzo, um Erbschaftsangelegenheiten zu besprechen. Auch mit den Herren Dominico Brentano und Ria hatte er geschäftliche Treffen (StA Ffm, Prozessdruckschriften, Nr. 23, Anlagen S. 9). Stefano Brentano war kein Einzelfall. Auch viele andere wickelten ihre Geschäfte von der Herkunftsregion aus ab, da sie dort die Möglichkeit hatten, sich sowohl um die dortigen Angelegenheiten zu kümmen als auch sich mit Teilhabern anderer Handelskompagnien zu treffen, die an anderen Orten ihre Handlungen etabliert hatten. Entscheidend für den wirtschaftlichen Erfolg in der Zielregion war also auch, dass die Händler in der Regel bereits ein Startkapital mitbrachten, zur örtlichen Oberschicht gehörten, eine für lokale Verhältnisse nicht unerhebliche Menge Grundbesitz hatten und in der Selbstverwaltung repräsentiert waren. Verpachtungen, Vermietungen und Kleinkreditvergaben brachten weitere kleinere Einkünfte und sorgten für Loyalität der Dorfbewohner.
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Die Handelsorganisation Auch wenn aufgrund der Quellen in der Zielregion verstärkt der Eindruck entstand, die italienischen Händler seien Einzelgänger gewesen, wird durch eine intensivere Bearbeitung des Materials deutlich, dass fast alle in Handelsgesellschaften organisiert waren. Den örtlichen Behörden und der einheimischen Konkurrenz blieben Details über den Organisationsgrad jedoch lange Zeit verborgen. Aus verschiedensten Quellen lassen sich Einzelheiten über die Handelsgesellschaften rekonstruieren, insbesondere bei der Auswertung der Notariatsakten am Comer See. Den umfangreichsten Einblick ermöglicht jedoch ein innerfamiliärer Erbrechtsstreit, der in den Frankfurter Reichskammergerichtsakten überliefert ist. Im Durchschnitt gehörten vier bis sechs Teilhaber zu einer Kompagnie. Jeder Gesellschafter brachte verzinsbares Eigenkapital in die Gesellschaft ein. Die Laufzeit war in der Regel auf drei bis vier Jahre beschränkt. Eine Kerngruppe, bestehend aus Brüdern, Schwagern oder engen Verwandten, dominierte jeweils eine Handelsgesellschaft. Nach Ablauf der jeweiligen Vertragsperiode gab es die Möglichkeit, weitere Gesellschafter hinzuzunehmen oder solche, die sich nicht als erfolgreich erwiesen hatten, auszuschließen. Der Alltag in der Gesellschaft wurde durch Vereinbarungen bezüglich Taschengeld, Glücksspiel oder der Dauer von Aufenthalten in der Herkunftsregion reguliert. Mit dieser auf Familienmitglieder konzentrierten und gleichzeitig nur temporär bindenden Organisationsstruktur waren die Gesellschaften flexibel in ihrer Zusammensetzung, der Kapitalbeschaffung sowie in der Niederlassung. Sie hatten die Möglichkeit, gleichzeitig an mehreren Orten Handlungen zu etablieren, was ihnen einen Vorteil gegenüber ortsansässigen Händlern verschaffte. Es kam ihnen auch zu Gute, dass die örtlichen Behörden diese internen Strukturen nicht im Detail kannten. Als beispielsweise der Leiter einer Handelsgesellschaft in Frankfurt verstorben war, meldete man den Tod nicht gleich den Behörden, sondern führte jahrelang die Handlung in seinem Namen weiter, um den Firmensitz nicht zu gefährden. Das internationale Handelsnetzwerk Die einzelnen Gesellschaften hielten mit anderen italienischen Kompanien Kontakt und unterstützten sich gegenseitig beim Warentransport, mit Krediten, Wechseln oder der Abnahme von Waren. Hier nur ein Beispiel: In den Frankfurter Ratsakten ist der Fall von Peter Anton Brentano, dessen Hauptniederlassung in Frankfurt war, überliefert. Peter Anton erwartete eine Warenlieferung aus Köln, welche allerdings nicht zum erwarteten Zeitpunkt
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bei ihm ankam. Er schickte deshalb einen Brief an seinen Kontakt in Köln, einen Händler namens Molinari, um sich nach dem Verbleib der Waren zu erkundigen (StA Ffm, Ugb D 51 B 350, Bürger gegen Fremde, 1773). Aus den Frankfurter Akten wurde deutlich, dass Molinari jahrelang – entgegen städtischer Verordnungen – eine schnellere Abwicklung der Brentanoischen Waren an den Kölner Behörden vorbei erwirkt hatte. Diese informellen Netzwerke ermöglichten es den italienischen Händlern, die komplexen und schwerfälligen Regelwerke einzelner Städte in der Frühen Neuzeit zu umgehen oder auszuhebeln. Die Waren Die Händler vom Comer See handelten nicht nur – wie es bei Zedler steht – mit dem, was »Italien von seinen eigenen, natürliche und durch Kunst und Fleiß gemachten Waaren nur allein aus [gibt]« (Zedler, Universallexikon, Bd. 14, Sp. 1422). Auch wenn diese zum Warensortiment gehörten, überrascht die Vielfältigkeit des Angebots, das mit dem eines Spezereiwarenhändlers vergleichbar war. Unter Spezereien verstand man im 18. Jahrhundert »alle Arten von Gewürtz- und anderen Materialien unter sich, die besonders in den Apotheken gebrauchet werden« (Zedler, Universallexikon, Bd. 37, Sp. 1256). Ein Inventar des Warenlagers und des Hausrats des Stefano Brentano, der in Frankfurt am Main am 30. August 1769 verstarb, gibt einen Einblick in das Warenangebot eines typischen Comasker Händlers in der Mitte des 18. Jahrhunderts. Trotz der städtischen strikten Verordnungen zur Einschränkung des Warensortiments waren neben mehreren hundert Pfund verschiedener Sorten Zucker, Kaffee und Tee auch Spezereiwaren, wie Mandeln, Kümmel, Kakao, Senf, Kreide, Anis, Coriander, Ingwer, Lorbeerblätter, aber auch Baumwolle, Papier, Tabak, Gummi, Pfeffer, Nudeln, Citronate, getrocknete Pomeranzenschalen, Leim, Bergamotte, Rosinen, Muskat, Safran, Zimt, Hirschhorn, Olivenöl verschiedener Herkunft, Oliven, Feigen, Kerzen, Vanille, verschiedene Schokoladeprodukte, Puder, Siegellack, Sardellen, Zitronen, Spanische Seife, Parmensankäse, spanischer Wein, Essig, Rüböl, Limonen und vieles andere mehr in großen Mengen, so auch »62 italiänische Kehrbesen« und »2 3 ⁄4 Gebund indianische Vogelnester«, im Inventar zu finden (StA Ffm, Reichskammergericht, Akten Nr. 522, S. 19r–31v.). Schlussbemerkungen Auch wenn in der Frühen Neuzeit nicht von Freizügigkeit, freiem Handelsoder Personenverkehr die Rede sein kann und komplexe undurchsichtige städtische Regelungen, die häufig das Ziel hatten, einheimische Händler zu
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schützen und Fremde außen vor zu lassen, die Geschäftstätigkeit auswärtiger Händler erschwerten, hatte dies keine oder nur geringe Auswirkungen auf den Erfolg vieler italienischer Händlerfamilien. Es ist nicht auszuschließen, dass andere daran scheiterten, aber viele Gesellschaften ließen sich nicht davon abschrecken, sondern gingen flexibel und kreativ mit den jeweiligen Gegebenheiten in der Zielregion um. Merkantilismus und Protektionismus waren vielerorts das politische Ziel. Dennoch lässt sich eine gewisse Flexibilität der jeweiligen Handelspolitik beobachten. So förderte beispielsweise Kurfürst Ostein den Zuzug von auswärtigen Händlern, um Mainz gegenüber Frankfurt handelspolitisch zu stärken. Auch in Frankfurt gab der Rat nicht immer den Beschwerden der Würzkrämer nach. Er befürwortete beispielsweise, dass die Italiener Zitronen verkaufen durften, denn diese waren bei ihnen zu einem günstigeren Preis und zu besserer Qualität als bei den ortsansässigen Händlern zu haben. Gleichzeitig hatten die italienischen Händler aufgrund ihrer stabilen wirtschaftlichen Grundlage sowie ihrer sozialen Stellung in der Herkunftsregion, der flexiblen Ausgestaltung der Handelsgesellschaften, dem weitgespannten Handelsnetzwerk sowie der Vielfalt des Warenangebotes einen Vorsprung vor der einheimischen Konkurrenz. Bis heute sind am Comer See die Früchte ihres erfolgreichen Handels zu sehen – so zum Beispiel die Brentanovillen, die einst einfache Bauernhäuser waren und heute maßgeblich zur kulturellen Schönheit der Landschaft am Comer See beitragen.
Palazzo Brentano Riati in Bonzanigo, Comer See
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Die Kirchen am Comer See, aber teilweise auch in den Zielregionen sind geschmückt mit zahlreichen Stiftungen der Handelsfamilien. In Deutschland verdanken wir ihnen wichtige Beiträge zur bürgerlichen Kunst und Kultur des 18. und 19. Jahrhunderts. In den Residenzen der Brentanos in Frankfurt, in Östrich-Winkel und in Koblenz-Ehrenbreitstein gingen Dichter und Künstler, wie Goethe, Wieland und viele andere, ein und aus. Die deutsche Romantik ist ohne Clemens Brentano und seine Schwester Bettine von Arnim nicht vorstellbar.
Bettine von Arnim um 1809 (Radierung von Ludwig Emil Grimm)
Mit Günzel lässt es sich vielleicht tatsächlich sagen, dass die Händler vom Comer See mit ihrer europaweiten Handelstätigkeit Vorläufer »echter Europäer« waren: »Italiener durch ihr Herkommen, deutsche oder genauer Frankfurter durch ihre beruflichen und kulturellen Bestrebungen« (Günzel, S. 26). Das Erbe der Brentano als europäische Familie reicht bis in die jüngste Geschichte. Es ist nicht zuletzt Heinrich von Brentano, dem ersten deutschen Außenminister der Bundesrepublik Deutschland unter Konrad Adenauer, zu verdanken, dass die europäische Idee verwirklicht und damit die Grundlage für einen Europäischen Binnenmarkt geschaffen wurde. Sein 1953 formuliertes Europabild steht in der Tradition seiner Vorfahren: »Vielleicht kann man eine gemeinsame Briefmarke benutzen, mit einem europäischen Pass über
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die Grenze fahren, Zollschranken abbauen und andere mechanische Vorrichtungen schaffen, die dazu dienen, nicht nur das Gefühl der Gemeinsamkeit zu betonen, sondern die Gemeinsamkeit überhaupt zu ermöglichen. Aber der Deutsche, Franzose, der Italiener, sie alle sollen bleiben, wie sie sind, und sollen den Reichtum ihrer Kultur und Tradition in diese Gemeinschaft miteinbringen« (Hacke, Heinrich von Brentano, S. 85). Quellen Archivio di Stato di Como (ASC), Fondo Notarile. Freies Deutsches Hochstift, XP B 1/4. Institut für Stadtgeschichte (StA Ffm), Handel Nr. 191 Specereiy und Würtzkrähmer Acta contra die Italianischen Bysassen und deren Handel da 1671 a 1736. StA Ffm, Prozessdruckschriften, Nr. 23. StA Ffm, Ugb D 51 B 350, Bürger gegen Fremde, 1773. Stadtarchiv Mainz (StA Mz), Landesverordnung 1723 Okt. 5. StA Mainz, Abt. 1/18, Ratsprotokolle 1670–1674. JoHann HeinricH zedler (Hg.): Großes vollständiges Universallexicon aller Wissenschaften und Künste. (…), 3. Halle / Leipzig, Bd. 1 (1733) – Bd. 63 (1750).
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ute enGelen
Zuwanderung nach Rheinland-Pfalz Die Beispiele Ludwigshafen / BASF und Mainz / Jenaer Glaswerk Schott 1959–1980
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ie seit 2015 in Europa so prominent im Medieninteresse stehende Flüchtlingskrise unterstreicht die Aktualität des Themas der Migration. Von Politikern wie von Historikern wird der Geschichte von Migrationen seit einigen Jahren auch in Deutschland eine größere Bedeutung beigemessen. Inzwischen spricht man sogar von der Historischen Migrationsforschung als einem eigenen »Teilbereich« der Geschichtswissenschaft. Auf die lange historische Bedeutung von Migration im rheinland-pfälzischen Raum wurde bereits intensiv eingegangen. Für das 19. Jahrhundert können viele Regionen des heutigen Rheinland-Pfalz als Auswanderungsgebiete bezeichnet werden. Diese Tatsache war ein Ausgangspunkt der Website http://www.auswanderung-rlp.de des Instituts für Geschichtliche Landeskunde an der Universität Mainz e. V. Hingegen wurde Zuwanderung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in einigen Gegenden des Bundeslandes, wie auch in großen Bereichen des Bundesgebiets, zu einem massenhaften Phänomen. Dadurch hat die Zahl der ausländischen Bürger deutlich zugenommen. Wenn auch Rheinland-Pfalz im Gegensatz zu anderen Bundesländern wie Bayern selten als »Zuwanderungsland« betrachtet wird, so kamen im Jahr regelmäßig über 100.000 Personen aus anderen Staaten hierhin. Nur als Resultat wirtschaftlicher Krisen, wie in den Jahren 1974–1976 und in den frühen 1980er Jahren, war Rheinland-Pfalz kurzfristig wieder ein »Auswandererland«, das heißt, die Fortzüge überwogen die Zuzüge. Die landesweite Entwicklung lässt sich grob in drei Wellen einteilen, die leicht überlappen und in etwa mit den Phaseneinteilungen für die Bundesrepublik Deutschland übereinstimmen (Bade / Oltmer 2008, S. 158 ff.).
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Die erste Welle reicht vom Ende der 1940er-Jahre bis zum Bau der Mauer im Jahr 1961. Sie ist durch die Zuwanderung von Vertriebenen aus den früheren Ostgebieten und Flüchtlingen aus dem Osten Deutschlands gekennzeichnet. Diese erste Zuwanderungswelle wurde für Rheinland-Pfalz bereits in verschiedenen Publikationen untersucht. So legte Michael Sommer in seiner 1990 veröffentlichten Doktorarbeit zu Flüchtlingen und Vertriebenen in Rheinland-Pfalz dar, dass die französische Besatzungsmacht bis 1949 die Aufnahme von Flüchtlingen behindert hat. Sie wollte eine Belastung der ohnehin Hunger leidenden Bevölkerung in ihrer Zone vermeiden, um nicht deren Radikalisierung zu bewirken. Auch fürchteten französische Zuständige die Stärkung der deutschen Kriegsfähigkeit durch Flüchtlinge. Ab 1949 nahm das Land Flüchtlinge in größerer Anzahl auf. So erhöhte sich der Anteil der Vertriebenen, d. h. der Personen, die gezwungen wurden auszuwandern, an der Gesamtbevölkerung in Rheinland-Pfalz von 1 % Ende 1946 auf 8 % 1953. Der Zustrom der Vertriebenen wurde in den frühen 1950er-Jahren zunehmend von dem der Flüchtlinge aus der damaligen DDR überlagert. 1960 stellten beide Gruppen zusammen 14 % der rheinland-pfälzischen Bevölkerung. Auf Bundesebene war der Anteil allerdings rund doppelt so hoch. An einigen Orten in Rheinland-Pfalz kam in dieser Zeit noch die Stationierung einer großen Zahl ausländischer Soldaten im Rahmen der NATO-Mitgliedschaft der Bundesrepublik hinzu. Im Zentrum dieses Beitrages steht die zweite Welle. Sie lässt sich etwa auf einen Zeitraum ab Mitte der 1950er-Jahre bis in die frühen 1980er-Jahre eingrenzen. Diese zweite Zuwanderungswelle war geprägt von der massenweisen Anwerbung von sogenannten Gastarbeitern aus südeuropäischen Ländern, der Türkei und in geringerem Maße anderen Staaten. Um einige Jahre versetzt holte ein bedeutender Anteil dieser Arbeitsmigranten die Familie nach Deutschland nach. Während im Jahr 1974 kurz nach dem Anwerbestopp noch fast 55 % der ausländischen Bürger in Rheinland-Pfalz sozialversicherungspflichtig beschäftigt waren, sank der Anteil infolge des Familienzuzugs bis 1980 auf 38,8 %. Durch diese beiden Prozesse erhöhte sich der Anteil der ausländischen Bevölkerung im Bundesland zwischen Mitte der 1950er-Jahre und 1980 von unter einem Prozent auf 4,7 %. Auf Ebene des damaligen Bundesgebiets war der Ausländeranteil allerdings fast doppelt so hoch. Noch 2012 lag der Anteil der ausländischen Bürger in Rheinland-Pfalz mit 7,3 % unter dem Bundesdurchschnitt von 8,2 %. Berücksichtigt sind in beiden Zahlen weder die Zuwanderer, die sich entschlossen, innerhalb eines Jahres bereits wieder in ihre Heimat zurückzukehren, noch jene, die durch die Annahme der deutschen Staatsbürgerschaft ihren Willen bekundet haben, dauerhaft in der Bundesrepublik Deutschland zu bleiben. Im ersten Moment mag man den Anteil der ausländischen Bevölkerung in Rheinland-Pfalz im Jahr 1980
Zuwanderung nach Rheinland-Pfalz 119
für eher gering halten. Doch wohnten auf dem Land und in schwach industriell geprägten Regionen deutlich weniger Arbeitsmigranten als in großen Städten wie Mainz, Ludwigshafen oder auch Frankenthal, d. h. dort gab es deutlich größere Konzentrationen und eine höhere Zahl an verschiedenen Nationalitäten. In der Landeshauptstadt Mainz lebten Ende 1980 bereits 10,8 %, in der Chemiemetropole Ludwigshafen 11,8 % ausländische Bürger. Eine dritte Welle der Zuwanderung begann parallel ab den 1970er-Jahren mit der verstärkten Einwanderung insbesondere aus dem asiatischen Raum und ab dem folgenden Jahrzehnt auch aus dem osteuropäischen. Häufig handelte es sich um Flüchtlinge oder Aussiedler. Diese Gruppen sollen hier nicht behandelt werden. Wie konnte es dazu kommen, dass in Rheinland-Pfalz, das noch bis 1949 kaum Flüchtlinge aufnahm, nur knapp zehn Jahre später eine immer stärkere Zuwanderung zu beobachten war? In den ersten Jahren nach Ende des Zweiten Weltkriegs dominierte bei vielen Deutschen die Sorge um das »tägliche Brot«, eine – wenn auch provisorische – Unterkunft und die Suche nach verschollenen Verwandten. Viele Betriebe waren schwer beschädigt, und insbesondere die Infrastruktur war bei Luftangriffen zerstört worden. Das im Jahr 1946 geschaffene Bundesland Rheinland-Pfalz war Teil der Französischen Besatzungszone. In den 1950er-Jahren nahm die Wirtschaft auch hier eine rasante Entwicklung. So fand in Rheinland-Pfalz allein zwischen 1950 und 1956 eine Verdopplung der industriellen Produktion statt. 1950 lag die Arbeitslosigkeit noch bei 8,1 %, sank aber bis 1960 auf 1,3 % ab. Diese Vollbeschäftigung machte es notwendig, Arbeitskräfte im Ausland zu werben. Im Dezember 1955 schloss die Bundesrepublik Deutschland ein Anwerbeabkommen mit Italien ab. Fünf Jahre später folgten u. a. weitere Vereinbarungen mit Spanien und Griechenland, 1961 mit der Türkei und 1968 mit Jugoslawien. Allerdings ging die Initiative zu Anwerbeabkommen, wie Heike Knortz 2008 darlegte, häufig nicht von der Bundesrepublik aus, sondern von den zumeist südeuropäischen Ländern. Daher seien die Verträge eher als außenpolitische denn als wirtschaftliche Maßnahmen anzusehen. Von ökonomischer Bedeutung waren sie dennoch: Es ist zu bezweifeln, dass sich die westdeutsche Wirtschaft in den frühen 1960er-Jahren ohne die verstärkte Einstellung von ausländischen Arbeitskräften so positiv hätte entwickeln können. Unternehmen und staatliche Stellen in Rheinland-Pfalz betonten regelmäßig die wirtschaftliche Bedeutung der Arbeitsmigranten. Insbesondere für kleinere Unternehmen waren die Anwerbekommissionen der Bundesanstalt für Arbeit von Nutzen. Hingegen schickten Großunternehmen häufig selbst Personalverantwortliche ins Ausland, um dort potentielle Mitarbeiter auszuwählen; die BASF veranstaltete ab 1969 für neu angeworbene Beschäftigte
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sogar Sprachkurse in deren Heimat. Ab den 1970er-Jahren wurde die Möglichkeit eines längeren und unbefristeten Aufenthalts sukzessive erleichtert. Wohnten in Rheinland-Pfalz 1955 nur ca. 25.000 Ausländer, so waren es 1970 über 90.000, davon über ein Drittel Frauen. Im Jahr 1989 lebte mehr als die Hälfte der 183.000 Ausländer im Bundesland länger als zehn Jahre in Deutschland. Das Verhältnis der vertretenen Nationalitäten veränderte sich im Laufe der Zeit. Der anfangs überwiegende Anteil an Italienern in Rheinland-Pfalz relativierte sich in den 1970er-Jahren: 1975 lag er noch bei 19,1 %. Hingegen schnellte der Anteil der türkischen Bevölkerung von 2,6 % im Jahr 1975 auf über ein Drittel im Jahr 1980 hoch. Noch heute leben mit gut 20 % mehr als doppelt so viele türkische Staatsangehörige hier wie von jeder anderen Nationalität. Die schubweise Entwicklung von Zuwanderungsströmen erklärt z. B. die Forscherin Sonja Haug mit einer sogenannten Kettenmigration, d. h. sie folgt aus dem Verhalten der Familie bzw. von sozialen Netzwerken. Ein Beispiel hierfür ist es, dass bei der BASF die meisten Italiener aus Sizilien und Kalabrien stammten; die Anwesenheit von Verwandten war ein Grund, beim gleichen Unternehmen zu arbeiten. Gesamtgesellschaftlich gesehen wanderten viele Migranten aus südlichen Ländern in reichere nordeuropäische Länder aus, in denen Arbeitskräftemangel herrschte. Wenn diese Wanderungen auch äußerlich betrachtet freiwillig waren, so handelte es sich teilweise um individuelle ökonomische Zwänge. Diese überwiegend wirtschaftlichen Gründe werden als Push & Pull-Faktoren bezeichnet. Auf der Mikroebene spielten allerdings viele andere, insbesondere persönliche, Faktoren eine Rolle. Nicht unbedingt die ärmsten Menschen migrierten, da dies u. U. ein gewisses Startkapital und Vorwissen erforderte. Ein rein ökonomischer Ansatz würde davon ausgehen, dass die Menschen dorthin auswandern, wo die finanziellen Bedingungen für sie am besten sind. Faktisch ist jedoch erwiesen, dass Netzwerken gerade bei Migrationsprozessen eine wichtige Funktion zukommt. So war um 1900 für fast alle Europäer bei ihrer transatlantischen Auswanderung eine erste Reiseetappe bei Verwandten und Bekannten in der »Neuen Welt«. Im Folgenden wird exemplarisch für die Rheinstädte der Zuzug nach Mainz und Ludwigshafen von den 1960er- bis in die frühen 1980er-Jahre skizziert. Diese Städte sind die größten in Rheinland-Pfalz und weisen seit Jahrzehnten den höchsten Ausländeranteil auf. Hier lebten 2011 jeweils fast 30.000 ausländische Bürger. In einem zweiten Schritt wird die Bedeutung der größten Industriebetriebe in diesen Städten, des Jenaer Glaswerks Schott & Gen. (im Folgenden Schott) und der BASF, für die Migration untersucht. Im Schott-Werk in Mainz arbeiteten in diesem Zeitraum bis zu 5.700, bei der BASF AG bis zu 54.000 Beschäftigte, fast alle in Ludwigshafen. BASF ist noch heute das größte rheinland-pfälzische Unternehmen, Schott folgt an
Zuwanderung nach Rheinland-Pfalz 121
dritter Position. Die Größe ist jedoch nicht allein ausschlaggebend für das Ausmaß der Beschäftigung von Arbeitsmigranten. Zwar stellten beide Unternehmen eine bedeutende Zahl an Ausländern ein, doch machte deren Anteil bei Schott 1974 über ein Viertel, bei BASF 1973 nur 9,7 % der Belegschaft aus. Basis der Ausführungen ist die Auswertung von Veröffentlichungen der Städte und der Unternehmen. Hervorzuheben ist die hervorragende Magisterarbeit von Julia Maria Schmidt über italienische Migration in Ludwigshafen am Beispiel der BASF. Ebenso waren zeitgenössische statistische Erhebungen der beiden Stadtverwaltungen sowie sozialwissenschaftliche Studien zur Migration in Ludwigshafen und Mainz, nicht zuletzt von Franz Hamburger, von großem Nutzen. Sofern möglich, wurden auch persönliche Erinnerungen von Arbeitsmigranten berücksichtigt. So leistet das OnlineMuseum »Lebenswege« mit der Dokumentation von Einzelschicksalen einen wichtigen Beitrag zur Migrationsgeschichte. Noch leben Angehörige der sogenannten ersten Generation. Für weitere Forschungen bieten Zeitzeugengespräche Chancen. Allerdings können Einzelerfahrungen immer nur Teilaspekte bzw. Teilrealitäten widerspiegeln und höchstens zu einer Typisierung bestimmter Migranten beitragen. 1. Mainz und Ludwigshafen im Vergleich 1.1 Zahlenmäßige Entwicklung Im Zweiten Weltkrieg hatten Mainz und Ludwigshafen eine starke, allerdings zwangsweise, Migration erlebt. So bestand in der pfälzischen Stadt die Bevölkerung zu etwa einem Viertel aus Ausländern, vor allem Zwangsarbeitern. Die meisten von ihnen verließen die Stadt nach Ende des Krieges wieder. 1951 stammten nur 1,3 % der Einwohner Ludwigshafens nicht aus Deutschland. Erste offizielle Gastarbeiter infolge von Anwerbeabkommen kamen im Jahr 1959 nach Mainz wie nach Ludwigshafen. In den folgenden Jahren nahm der Ausländeranteil in den Städten, abgesehen von Einbrüchen in Verbindung mit Konjunkturkrisen in den späten 1960er-, Mitte der 1970erund in den frühen 1980er-Jahren, kontinuierlich zu. Italienische Staatsbürger stellten bis in die 1970er-Jahre annähernd die Hälfte der Migranten in beiden Städten. Im Vergleich zu anderen Großstädten waren in Mainz wenige »Gastarbeiter« beschäftigt. Zeitgenossen nahmen an, dass dies in dem relativ niedrigen Anteil an gering qualifizierten Arbeitsstellen in der Industrie begründet war. Unter den männlichen Ausländern hatte immerhin die Hälfte aller Jugoslawen, ein Drittel der Türken und ein Viertel der Spanier eine Berufsausbildung absolviert; ein geringerer Anteil war es bei den Griechen, Portugie-
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sen und Italienern sowie bei den weiblichen Beschäftigten. Vielleicht erklärt diese gewisse Qualifikation, warum sie meist länger in diesen rheinischen Städten blieben und ihren Arbeitsplatz seltener wechselten, als dies in anderen Städten der Fall war. So waren mindestens die Hälfte der griechischen und etwa ein Viertel der spanischen und italienischen Migranten aus den Jahren 1960 bis 1963 noch 1972 in Mainz beschäftigt. Laut Ausländerkartei des Arbeitsamtes arbeitete von diesen Spaniern fast die Hälfte noch beim ersten Arbeitgeber. Von den in den Jahren 1964 und 1965 zugewanderten männlichen Italienern war es über die Hälfte. Für Ludwigshafen hingegen spricht Stefan Mörz vom »niedere[n] soziale[n] Status der mit einfachen Arbeiten Beschäftigten« (Mörz 2011b, S. 295) Susan Becker äußert gar die These von einer »gezielte[n] Unterschichtungspolitik« (Becker 2011, S. 286) der BASF durch die Arbeitsmigranten. Je nach Nationalität (Jugoslawen, Spanier) scheint der Anteil der qualifizierten Tätigkeiten jedoch auch in Ludwigshafen höher gewesen zu sein. In jedem Fall lebte hier Anfang 1983 die Mehrheit der ausländischen Bürger seit drei bis zehn Jahren, etwa ein Viertel seit mehr als zehn Jahren, ähnlich wie in Mainz. In den frühen 1970er-Jahren waren ca. 60 % der in Mainz lebenden Ausländer sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Das ist ein hoher Anteil im Vergleich zur bundesdeutschen Quote von ca. 37 %. Insgesamt waren Anfang 1972 beim Ausländeramt des Polizeipräsidiums Mainz über 12.000 Ausländer, davon mehr als 10.000 aus Anwerbeländern, gemeldet. Bereits zu diesem Zeitpunkt stellten Frauen und Kinder unter 16 Jahren fast die Hälfte der Personen aus den Anwerbeländern – dem Titel des Berichts »Ausländische
Migranten in Ludwigshafen und Mainz 25,0% 20,0% 15,0% 10,0% 5,0% 0,0%
1970
1975
1980
1985
Ludwigshafen in % der Gesamtbevölkerung
Abb. 1: Migranten in Ludwigshafen und Mainz
1990
2001 Mainz in %
2011
Zuwanderung nach Rheinland-Pfalz 123
Arbeitnehmer« zum Trotz. In Ludwigshafen lebten 1971 bereits 60 % aller spanischen, 75 % der italienischen und 86 % aller griechischen Verheirateten mit ihren Familien. Schon in den frühen 1970er-Jahren war also in beiden Städten absehbar, dass ein Teil der sogenannten Gastarbeiter längerfristig in der Bundesrepublik bleiben würde. Ende 1981 hatte von den ausländischen Mainzer Bürgern nur noch etwas über die Hälfte einen sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplatz im Arbeitsamtsbezirk Mainz. D. h. der Anteil der ausländischen Familien in der Stadt war leicht gestiegen. Abbildung 1 ist zu entnehmen, dass der prozentuale Anteil von Ausländern an der Gesamtbevölkerung in Ludwigshafen (blau) und Mainz (rot) stetig zugenommen hat. Bis 1980 erreichte er in beiden Städten über 10 %, das entspricht rund 20.000 ausländischen Bürgern. Seitdem hat sich ihre Zahl noch einmal deutlich erhöht. 1.2 Reflexion der Stadtverwaltungen Beide Städte gehörten aufgrund ihrer im Vergleich zu anderen rheinlandpfälzischen Kommunen hohen Anteile ausländischer Einwohner zu denjenigen, die vergleichsweise früh, d. h. ab den späten 1960er-Jahren, über die längerfristigen Auswirkungen der Beschäftigung von Ausländern und deren Verbleib in der Bundesrepublik reflektierten. Im September 1970 fand in Ludwigshafen ein Gespräch zwischen der Stadtverwaltung und den Organisationen, die sich für die Betreuung der ausländischen Bürger Ludwigshafens engagierten, statt. Daraufhin gab die Stadt im Jahr 1971 nach Kölner Vorbild einen »Bericht über die Lage der Gastarbeiter in Ludwigshafen am Rhein« in Auftrag, dem sich zahlreiche Zahlen und Details über das Leben der Ausländer entnehmen lassen. Er war insofern modern, als er bereits die Perspektive der Arbeitsmigranten selbst mit berücksichtigte. Rund ein Viertel der ausländischen Haushalte mit ca. 2.600 Personen wurde für eine Umfrage angeschrieben. Mit 28 % war der Rücklauf respektabel. Am 10. November 1971 nahm der Arbeitskreis Ausländische Mitbürger die Arbeit auf. Beteiligt waren die Arbeiterwohlfahrt, die Caritas, der Evangelische Gemeindedienst, Sozialbetreuung, Stadtverwaltung, Arbeitsamt und DGB. Die meisten Aufgaben waren in den Unterausschüssen für Wohnung und Schule zu bewältigen, was die zwei wichtigsten erkannten Probleme aufzeigt. Im Jahr 1972 veranstaltete die Stadt Ludwigshafen auf Antrag der SPD erstmals den »Tag des ausländischen Mitbürgers«. In der Rückschau, so Franz Hamburger, seien in den 1970er-Jahren kaum effektive Integrationsmaßnahmen ergriffen worden. Man habe lediglich die betreffenden Fragen in den beratenden Arbeitskreis Ausländische Mitbürger verlagert. Erst Ende der
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Abb. 2: Stand der Spanier auf dem Markt beim Tag der ausländischen Mitbürger, Mainz 16.9.1979
1970er-Jahre sei die Kommune mit der Durchführung des Projektes »Kinder ausländischer Arbeitnehmer in Ludwigshafen a. Rh.« (KAAL) aktiv geworden. Neben der Stadt beteiligten sich auch die Arbeiterwohlfahrt und die protestantische Gesamtkirchengemeinde. Durch KAAL sollte die Zahl der Unterstützungsangebote für ausländische Kinder und Jugendliche erweitert
Zuwanderung nach Rheinland-Pfalz 125
werden. Nach Auslaufen der Förderung durch Stiftungen Ende 1982 startete die Ludwigshafener Verwaltung mit Unterstützung der Arbeiterwohlfahrt und der protestantischen Gesamtkirchengemeinde das Projekt »KAAL II«. U. a. veranstaltete die Evangelische Jugend den »Treff International«. In späteren Jahren wurden die Maßnahmen jedoch wieder aufgegeben. In Mainz wurde Ende 1970 eine Arbeitsgruppe für die Probleme ausländischer Arbeitnehmer gegründet. Ab dem folgenden Jahr bestand in Mainz ein Ausländerbeirat, der sich aus Vertretern der Stadtverwaltung, der Betreuungsverbände und einiger Nationen zusammensetzte. Bald wurden auch Ausländerbüros für verschiedene Nationalitäten eingerichtet. Im Jahr 1974 gab auch die Stadtverwaltung Mainz eine Migrantenstatistik heraus, die vom Sozialdezernenten Karl Delorme verantwortet wurde. Dies zeigt, dass sich die Stadt der sozialen Herausforderung durch die zunehmende Zahl der hier arbeitenden Ausländer bewusst war. Der Titel »Ausländische Arbeitnehmer in Mainz« deutet aber an, dass die Stadtverwaltung noch nicht verstärkt die Situation der ausländischen Familien in den Blick nahm. Ziel der Broschüre war es, kommunalen Einrichtungen Informationen zur Anpassung ihrer Betreuungs- und Hilfsmaßnahmen zu geben. Hierzu verwendete die Stadt nicht nur statistische Angaben, sondern befragte auch deutsche Betroffene. Einige Jahre später, 1978, eröffnete die Stadt anlässlich des Tages des ausländischen Mitbürgers im Rathaus die Ausstellung »Ausländer in Mainz«. Der Fokus hatte sich somit von kurzfristigen Gastarbeitern auf längerfristig hier lebende ausländische Familien verschoben. Ein Anliegen der Ausstellung war die Entkräftung fremdenfeindlicher Vorbehalte. Dieses Argument wurde auch im Bericht der Mainzer Stadtverwaltung von 1983 wieder aufgegriffen, der vor allem auf die Schwierigkeiten der städtischen Integrationspolitik hinweisen sollte. 1.3 Problemfelder der Migranten Eines der Hauptprobleme der ausländischen Bürger stellte in Mainz wie in Ludwigshafen der Mangel an zumutbarem Wohnraum dar. Wie in anderen Städten kam es in der Landeshauptstadt zu einer Konzentration in Zentrums- sowie Industrienähe: In Mombach lag der Ausländeranteil in den 1970er-Jahren bei rund 15 %. 1983 lebten in der Mainzer Altstadt mehr als 15 %, in der Neustadt-Nord sogar 23,1 % Ausländer. Einige Straßenzüge in Mombach wiesen einen Anteil von ca. 50 % auf. Als Schwierigkeit sah es die Stadtverwaltung an, genügend Wohnraum insbesondere für die Familien aus Anwerbestaaten bereitzustellen. Der private Wohnungsmarkt gerade für ausländische Bürger war von schlechten Angeboten und Mietwucher geprägt. Über ein Fünftel der «Gastarbeiter« lebte laut Erhebungen von Anfang 1972
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Abb. 3: Italienische Gastarbeiter im Goldenen Pflug in Ludwigshafen, 1962
Abb. 4: Wohnung einer »Gastarbeiterfamilie«, Mainz um 1974
Zuwanderung nach Rheinland-Pfalz 127
und 1978 in Wohnheimen, die übrigen in möblierten Zimmern und Wohnungen. Hierbei handelte es sich jedoch häufig um viel zu kleine Einzimmerwohnungen, in denen über ein Drittel der Ausländer untergebracht war. Ein Blick in die Wohnung einer sogenannten Gastarbeiterfamilie führt deren Enge – Wohnzimmer und Küche im gleichen Raum – deutlich vor Augen. Noch 1988 begann die Stadt Mainz einen Bericht zu diesem Thema wie folgt: »Nach wie vor ist die Wohnsituation vieler ausländischer Mitbürger – in größerem Maße als bei der deutschen Bevölkerung – sehr unbefriedigend« (Stadt Mainz 1988, S. 1). In Ludwigshafen lebten 1971 über 40 % der Migranten in provisorischen Wohnstätten, d. h. Gemeinschaftsunterkünften, Baracken und Kellerräumen. Ein vergleichbarer Anteil wohnte in einer Mietwohnung. Die übrigen knapp 20 % waren in möblierten Zimmern untergebracht. Weniger als die Hälfte der Befragten wohnte ihren Wünschen entsprechend. Selbst diejenigen, die eine Mietwohnung gefunden hatten, waren nicht deutlich zufriedener. Von diesen hatte nicht einmal die Hälfte ein eigenes Bad, und fast drei Viertel der Familien verfügten nur über ein bis zwei Zimmer. Die Unterbringung galt damals in Ludwigshafen schon seit Jahren als größtes Problem bei der Arbeitsmigration. Bei einem unangekündigten Besuch verschiedener Ausländerunterkünfte durch den Speyerer Bischof Friedrich Wetter im Dezember 1970 fanden nur die Gemeinschaftsheime der BASF für spanische Migranten seine Zustimmung. Er initiierte daraufhin ein Wohnungsbauprogramm, das aber erst einige Jahre später realisiert wurde. Bei der Untersuchung des Ausländeranteils in den Stadtvierteln zeigt sich, dass es auch in Ludwigshafen im Laufe der 60er- und 70er-Jahre zu einer starken räumlichen Konzentration kam. Die Wohngebiete der ausländischen Arbeiter spiegeln nicht zuletzt die Bedeutung der BASF als Hauptarbeitgeber wieder. Die meisten von ihnen lebten in den zentralen Stadtteilen in Nähe der BASF, d. h. Nord / Hemshof, in geringerem Maße in West, Mitte und Friesenheim. Nach eigenen Erzählungen kamen viele Migranten mit wenig Gepäck nach Ludwigshafen, zumeist nur mit einigen Erinnerungs- und Kleidungsstücken. Teilweise waren diese für die Temperaturen zu warm. Viele Zuwanderer hatten kaum Besitztümer, die es sich gelohnt hätte mitzunehmen. Selbst die Fahrtkosten mussten manchmal von der Großfamilie zusammengetragen werden. Häufig ergab sich die Wahl des Zielortes in Deutschland durch bereits bestehende Kontakte vor Ort. Die Betreuung nationaler Migrantengruppen und ihrer Probleme übernahmen in Mainz und Ludwigshafen wie in anderen Städten weniger die Stadtverwaltungen als vielmehr soziale und kirchliche Einrichtungen. So boten in der Landeshauptstadt das Kolpinghaus und die Italienische Katho-
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lische Mission bereits in den frühen 1960er-Jahren Sozialberatung, Deutschkurse, gemeinschaftliche Veranstaltungen und italienische Gottesdienste an. In den ersten Jahren wurden kleinere nationale Gruppen aus weiterer Entfernung mitbetreut. So unterstützte die Italienische Katholische Mission aus Mannheim zunächst die Ludwigshafener Italiener. Im Jahr 1962 gründete sich eine Italienische Katholische Gemeinde in der Chemiestadt. Im September 1963 eröffnete im früheren Elisabethenheim im Stadtteil Hemshof das Centro Italiano. Dort befanden sich neben Gemeinschafts- und Kinosälen die Italienische Mission der Caritas und ein italienisches Restaurant. Finanziert wurde das Zentrum durch die katholische Kirche, Unternehmen und öffentliche Stellen. Viele italienische Arbeitnehmer entwickelten eine Beziehung zum Centro Italiano und dem Stadtteil Hemshof. Mit Gruppo Sardo sowie dem Italienischen Familienverein entstanden bald auch von den Migranten selbst ins Leben gerufene Vereine. Im Jahr 1964 beschloss der Mainzer Bischof die Einrichtung einer Italienischen Mission für Mainz und die Umgebung. Im Jahr 1966 folgte die Einrichtung eines Centro Italiano neben der zerstörten St. Emmeranskirche. Seit den frühen 1980er-Jahren ist die italienische Gemeinde im wieder aufgebauten Kirchengebäude beheimatet.
Abb. 5: Sozialberaterin Leda Fabbri vom Caritasverband bei der Beratung eines jungen Italieners, Ludwigshafen 1974
Zuwanderung nach Rheinland-Pfalz 129
Für andere Nationalitäten wurden erst einige Jahre später Einrichtungen geschaffen. So richtete die evangelische Kirche in Ludwigshafen-Friesenheim ein griechisches Zentrum ein. Erst im April 1967 entstand in Mainz das Spanisch-Portugiesische Centro in der Breidenbacherstraße. Die Arbeiterwohlfahrt eröffnete im September 1972 ein Freizeitzentrum für jugoslawische Arbeitnehmer. Andere Nationalitäten wurden durch die Caritas und das Diakonische Werk betreut. Diese Art der Sozialarbeit führte fast automatisch zu einer gewissen Trennung zwischen Deutschen und Migranten. Dies wurde auf beiden Seiten einerseits bemängelt, war aber andererseits lange Zeit von vielen gewünscht: So erläuterte die Schott Werkzeitschrift 1965, im Werkswohnheim für Migrantinnen gebe es auch Freizeitangebote, »denn sie sind am liebsten unter sich« (Schott Werkzeitschrift 4/1965, S. 22). Hingegen wollte der erste türkische Betriebsrat Cafer Kalyoncu bei Schott 1975 eine Brücke »zwischen Deutschen und Türken« (Schott intern 5/1975, S. 9) schlagen. Dennoch konstatierte die Werkzeitschrift Schott intern 1980 in einem Artikel über einen türkischen Jungarbeiter: »Mit der deutschen Sprache hat er noch größere Mühe (…). Wie viele seiner türkischen Landsleute findet offenbar auch er im Betrieb wie in der Freizeit kaum Kontakt zu seiner deutschen Umgebung« (Schott intern 7/1980, S. 5). Neben dem bekannten Problemfeld der Wohnungsnot wird im Ausländerbericht der Stadt Mainz von 1978 auf ein neues hingewiesen: die Bildungschancen der ausländischen Kinder. Unter den ausländischen Kindern war die italienische Nationalität noch stärker vertreten (59,3 %) als unter den Erwachsenen. Daher gab es bereits rein italienische Einführungsklassen, während für jugoslawische Kinder ein muttersprachlicher Lehrer beschäftigt war. Für türkische Kinder wurde ab 1973 eine eigene Klasse eingerichtet. Nicht nur in Mainz verließen rund zwei Drittel der Kinder aus Migrantenfamilien die Schule ohne einen Abschluss. Nur 30 % der Schüler mit Abschluss fanden eine Lehrstelle. Schon an den Grundschulen fehlte ein Drittel der ausländischen Kinder häufig im Unterricht. Die Stadtverwaltung Mainz bezeichnete in ihrem Bericht 1978 die über zwei Jahre gehenden Vorbereitungsbzw. Nationalklassen zur Integration als nicht erfolgreich. Im Jahr 1983 war an der Mainzer Hauptschule am Neutor jeder vierte Schüler der Regelklassen ein Ausländer. An anderen Schulen in der Innenstadt betrug der Anteil rund ein Zehntel bis ein Fünftel. Hinzu kamen 38 Vorbereitungsklassen, wobei die jugoslawischen Schüler ausschließlich Regelklassen besuchten. Nur ca. zwei bis drei Prozent der ausländischen Schüler schafften den Übergang an Realschulen bzw. Gymnasien. Ziel war es dem Kultur- und Schulreferenten zufolge, die Kinder durch einen raschen Besuch der deutschen Schulen »voll« zu integrieren.
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In Ludwigshafen lebten im Jahr 1985 3.258 ausländische Kinder im Alter von sechs bis 15 Jahren, davon fast 1.100 türkische und über 800 italienische. Davon besuchte noch fast die Hälfte keine deutsche Regelklasse; so wurden fast alle griechischen Kinder in ihrer Muttersprache unterrichtet. Obwohl der Anteil der ausländischen Kinder an den Grundschülern bei 29 % lag, stellten sie im Schuljahr 1984/85 nur 2,9 % der Schüler an Gymnasien, was allerdings bereits einer Verdopplung innerhalb von vier Jahrgängen entsprach. Über ein Drittel der Hauptschüler waren Ausländer. Insgesamt erwarben in Rheinland-Pfalz in den 1980er-Jahren ein Viertel bis die Hälfte aller Hauptschüler keinen Abschluss; in den 1990er Jahren war es immer noch ein Viertel. 1990/91 betrug der Anteil der ausländischen Schüler an Hauptschulen 11,7 %, erhöhte sich aber bis 2005/06 auf 16,8 %. Zeitgleich stieg ihre Proportion an Realschulen von 3,5 auf 5,5 %. Gymnasien hatten hingegen nur 2,4 bzw. 3,2 % ausländische Schüler. Der Verbleib einer bedeutenden Zahl von Migranten in Rheinland-Pfalz trotz der ursprünglichen Absicht, wieder in ihre Heimat zurückzukehren, deutet darauf hin, dass diese ihre Lebenssituation hier als besser betrachteten, als sie in ihrer Heimat gewesen wäre. Dies ist allerdings nur ein Durchschnittsbefund und spiegelt nicht die sehr unterschiedliche Einschätzung aller Aspekte des Lebens wider. Auf den Verbleib in Deutschland hatte auch der Anwerbestopp Einfluss, durch den ein Fortgang endgültig gewesen wäre.
Abb. 6: Jugendliche und Erwachsene beim Abendkurs für den italienischen Hauptschulabschluss in der Goetheschule, Ludwigshafen 1979
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In Ludwigshafen hatten über 60 % der Arbeitsmigranten außerhalb des Betriebes kaum Kontakt zu deutschen Arbeitskollegen, auch wenn sie bereits fünf Jahre oder länger in Deutschland lebten. Ernüchternd ist auch, dass 1974 in Mainz gerade die seit längerem in Deutschland lebenden Italiener und Griechen über schlechte Erfahrungen mit den Deutschen klagten. Mehr als ein Drittel der Befragten hatte eine negative Meinung von »den Deutschen«. Hingegen berichteten mehr als zwei Drittel der Arbeitgeber in Mainz über mehrheitlich positive Erfahrungen mit den Gastarbeitern. Die prekäre Bildungssituation für ihre Kinder führte am 25. Mai 1974 zu einer Demonstration von knapp 2.000 Italienern in Mainz. Weitere Kritikpunkte in den Augen der ausländischen Bürger waren eine schlechte Behandlung durch Deutsche und der Mangel an Gemeinschaftsräumen für nationale Gruppen. Nur ein Prozent der Mainzer mit ausländischem Pass war Mitglied eines Vereins, obwohl zehnmal so viele daran Interesse bekundeten. Das objektiv bestehende Problem der Wohnungsnot spielte in der Wahrnehmung der Migranten möglicherweise eine geringere Rolle als diese soft facts. Bei der Befragung in Ludwigshafen gaben 1971 nur 16,0 % der Teilnehmer an, für immer hier bleiben zu wollen. Unter den schon fünf Jahre in der BRD Lebenden fiel der Anteil leicht überdurchschnittlich aus. Bei den Italienern und Griechen war er am höchsten, bei Türken und Jugoslawen deutlich niedriger. Fast die Hälfte der Fragebögen enthielt keine Antwort. Der Wunsch nach Heimkehr spiegelt sich auch in der Selbsteinschätzung der Deutschkenntnisse: Mehr als ein Drittel der Befragten gab an, kaum Deutsch zu sprechen; bei den Ehefrauen und Kindern war es über die Hälfte. Fast zwei Drittel der an der Umfrage teilnehmenden Ausländer hatten außerhalb der Arbeit mit ihren deutschen Kollegen kaum Kontakt. Was lässt sich hieraus schließen? Viele ausländische Bürger waren unsicher, wo sie in den nächsten Jahren leben wollten. Was schließlich den Ausschlag für das Hierbleiben oder eine Rückkehr gab, lässt sich den Quellen nicht entnehmen. Ein längerer Aufenthalt erleichterte nur Wenigen ihre Entscheidung. D. h., entweder hatten sie vor Ort schlechte Erfahrungen gemacht, oder aber sie machten die Entscheidung von externen Faktoren abhängig, die sie ihrer Ansicht nach nicht beeinflussen konnten. Die Einstellung zur Integration hing stark von der Nationalität ab. Ein wichtiger Grund dafür, in die Heimat zurückzukehren, war die dort lebende Familie. Im Jahr 2009 führte die Zeitung Rheinpfalz eine »Migranten-Studie« durch. Sie zeigt, dass eine vollständige Integration wohl gar nicht angestrebt werden sollte: So fühlen sich fast vier Fünftel der ausländischen Bürger in Ludwigshafen eher ihrem Herkunftsland als ihrer deutschen Stadt, Region oder Deutschland selbst zugehörig, gerade die seit langem dort lebenden Italiener. Als gut integriert verstand sich die Mehrheit aber dennoch. Bei
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den türkischen Bürgern war allerdings ein größerer Anteil unzufrieden. Ihre Sprachfähigkeit im Deutschen bewerteten die meisten Migranten als gut, wenn auch schlechter als in ihrer Muttersprache. Über die Hälfte der ausländischen Bürger lebte seit mindestens 20 Jahren in Ludwigshafen oder war dort geboren. Das Erlernen der deutschen Sprache war den im 2009 gedrehten Film »Ludwigshafen – meine Stadt« interviewten Personen wichtig, wenn es vielen auch nicht leicht fiel. In diesem Zusammenhang beklagten sich viele, dass sie von Deutschen häufiger in gebrochenem Deutsch angesprochen wurden. Als Grund dafür, warum sie in Ludwigshafen blieben und sich wohl fühlten, führten die Befragten mehrere Gründe an: Sie hätten hier ihre Freunde, ihre Familie, oder die (erfolgreiche) Integrationsarbeit sporne sie an. Migranten oder Bürger mit Migrationshintergrund bewahren sich jedoch gerne angenehme Traditionen ihrer Heimat; zum Beispiel legten im Film ein Türke und eine Russin Wert auf das regelmäßige Teetrinken. Auch würden neben Festen aus der Heimat zusätzlich hiesige Feste, wie Weihnachten und der Geburtstag, gefeiert. Abschließend erklärten auch die meisten Befragten, dass sie sich sowohl ihrem Heimatland als auch ihrer Wahlheimat verbunden fühlten. Für eine Diplomarbeit wurden in Mainz im Jahr 2000 100 ausländische Arbeitnehmer aus der Türkei, Italien und dem ehemaligen Jugoslawien befragt. Im Ergebnis fühlte sich der überwiegende Teil der Befragten mit der Stadt stark verbunden. Allerdings wurde auch auf Schwierigkeiten bei der Integration, wie mangelnde Sprachkenntnisse und latente Vorurteile, hingewiesen. In der Migrationsstudie von Katharina Alt und Anton Escher bestätigte es sich, dass sich 86 % der Ausländer in Mainz wohl fühlten. 2. Das Jenaer Glaswerk Schott & Gen. und die BASF im Vergleich Die Einstellung einer bedeutenden Zahl von Arbeitsmigranten begann in beiden Unternehmen überraschend gleichzeitig: im März bzw. Mai 1960. Das Ausmaß des Einsatzes von ausländischen Arbeitnehmern unterschied sich allerdings deutlich. Schott ist in Bezug auf seine Beschäftigungsstruktur wohl als Sonderfall zu betrachten. Ein Teil der Mitarbeiter des Unternehmens, das ursprünglich aus Jena stammte, ließ sich im Jahr 1952 nach mehreren Jahren in Heidenheim und Landshut in Mainz nieder. Bereits Mitte der 1950er Jahre rekrutierte Schott ausländische Mitarbeiter u. a. in der Tschechoslowakei. Bis Mitte 1960 stieg die Beschäftigtenzahl in Mainz auf fast 4.500 Personen an. Danach galt das Arbeitskräftepotenzial in der Stadt als ausgeschöpft. Bis 1968 vergrößerte
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sich die Belegschaft auf etwa 5.500 Beschäftigte in Mainz. Hierfür war Schott stärker als andere Unternehmen auf Arbeitsmigranten angewiesen. 2.1 Zahlenmäßige Entwicklung Schon 1960, im ersten Jahr der Einstellung von Migranten infolge von Anwerbeabkommen bei Schott, stellten diese mit 356 Personen etwa ein Zehntel der Beschäftigten in Mainz. Bis Ende 1965 verdreifachte sich die Zahl annähernd. Rund ein Viertel der Mitarbeiter waren nun keine deutschen Staatsbürger. Leider lässt sich bei Schott aufgrund der Quellenüberlieferung keine statistisch zuverlässige Kurve erstellen, da nur zu bestimmten Zeitpunkten Angaben zur Zahl der Migranten vorliegen. Auch werden diese mal in Verbindung zu der Belegschaft des Mainzer Werks, mal zum gesamten Jenaer Glaswerk Schott mit den Werken Mainz und Landshut, gesetzt. Oft wird die Referenz nicht genau angegeben. Deshalb lässt sich nur eine lückenhafte graphische Annäherung erstellen.
Ausländische Mitarbeiter beim Jenaer Glaswerk 1600
28,0%
1200
21,0%
800
14,0%
400
7,0%
0
1961
1962
1964
1965
1966
1969
Ausländische Mitarbeiter
1971
1974
1977
1979
1982
1984
0,0%
In % der Belegschaft
Abb. 7: Ausländische Mitarbeiter beim Jenaer Glaswerk
Die Kurve zeigt, dass im Jahr 1974 prozentual und total ein Höhepunkt erreicht wurde. Am 30. September arbeiteten über 1.400 Ausländer bei Schott, ihr Anteil betrug 27 % der Belegschaft. Die Beschäftigung von Migranten verringerte sich in Zusammenhang mit der ersten Ölkrise und dem Anwerbestopp leicht, mit der Zweiten Ölkrise 1979 und dem Anstieg der deutschen Arbeitslosigkeit in den 1980er-Jahren stark. Der Anteil der ausländischen Beschäftigten erreichte nur noch 16 bis 20 % und liegt heute bei ca. 10 % in Mainz.
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1961 betrug die Fluktuation, d. h. der Personalwechsel, bei Schott insgesamt 40 %. Hieran waren die ausländischen Beschäftigten überproportional beteiligt. Der Betriebsleiter Erich Schott kommentierte dies 1964: »Gegenwärtig ist fast jeder vierte gewerbliche Arbeitnehmer ein Ausländer. Diese an und für sich erfreuliche Tatsache hat jedoch den Nachteil, daß die Ausländer naturgemäß nach einiger Zeit wieder in ihre Heimat zurückkehren. Allerdings findet man auch schon unter den Ausländern viele, die fünf Jahre bei uns sind und damit pensionsberechtigt werden« (Schott Werkzeitschrift 6/1964, S. 28). D. h., Erich Schott ging davon aus, dass der Begriff des »Gastarbeiters« auf die im Unternehmen Beschäftigten überwiegend zutraf, wie das Wort »naturgemäß« anzeigt. Dass das Unternehmen in der Werkzeitschrift auf Italienisch und Spanisch eine Statistik zur Dauer der Werkszugehörigkeit aufführte, weist darauf hin, dass ein längerer Aufenthalt erwünscht war. Wie in anderen Unternehmen blieb die Fluktuation der Migranten bis in die 1970er-Jahre allerdings höher als die der Gesamtbelegschaft. Schätzungsweise ein Drittel der ausländischen Arbeitnehmer in Mainz war im Jahr 1968 im Glaswerk beschäftigt. In den frühen 1970er-Jahren betrug dieser Anteil laut Bericht der Stadtverwaltung immer noch über 20 %. Im Gegensatz zu anderen Industriebetrieben beschäftigte das Glaswerk in den 1980er-Jahren zwar weniger Migranten, aber weiterhin einen bedeutenden Anteil. Ein Grund hierfür war wohl deren gute Qualifikation: Immerhin ein Fünftel von ihnen hatte eine Form von Ausbildung absolviert. Im Jahr 1978 waren 42 % aller ausländischen Arbeitskräfte bei Schott als angelernte, 18 % als Fach- und 4 % als hochqualifizierte Arbeiter tätig. Der Personalchef Claus Muth unterstrich dies: »Viele Türken haben in unserer Firma besondere Stellungen. Sie bewähren sich auch als Vorarbeiter und Schichtleiter« (Schott intern 1/1977, S. 22). Ein überdurchschnittlicher Teil der Migranten blieb immer länger bei Schott. 1965 gehörten 60 ausländische Beschäftigte dem Unternehmen über fünf Jahre an. Allerdings waren 57,5 % erst in diesem Jahr ins Unternehmen gekommen. Im Jahr 1970 waren knapp zwei Drittel bereits seit über einem Jahr beschäftigt. 25 % arbeiteten seit mindestens zwei Jahren dort. Im Jahr 1978 war ca. ein Viertel der Migranten bereits zehn Jahre bei Schott tätig, d. h. die Kontinuität stieg. Der Großteil der ausländischen Arbeitskräfte bei Schott kam aus einigen wenigen Ländern, auch wenn insgesamt über 20 Nationen vertreten waren. 1965 kam noch über die Hälfte aus Italien, ein Drittel aus Spanien. Im Jahr 1974 stellten Italiener und Türken fast hälftig annähernd zwei Drittel der Belegschaft. Ein Fünftel waren Jugoslawen, knapp 12 % Spanier. Die zunehmende Bedeutung türkischer Beschäftigter bei Schott schlug sich in einer erhöhten Presseberichterstattung, der stärkeren Berücksichtigung die-
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ser Gruppe in der Werkzeitschrift sowie zwei politischen Besuchen in relativ kurzer Zeit in den Jahren 1984 und 1985 nieder. Bei diesen Anlässen betonten sowohl das Unternehmen als auch die Migranten ihre Zufriedenheit. Über 100 Türken, d. h. mehr als ein Drittel, sei seit über zehn Jahren beschäftigt. Allerdings beklagte Schott, dass viele türkische Landsleute kaum Kontakte zu Deutschen fänden. Ein Artikel in der Werkzeitschrift berichtete beispielsweise über die Einstellung eines türkischen Beschäftigten, der seit einigen Jahren in der Region lebte, aber seine Beschäftigung durch die Schließung des Betriebs verloren hatte. Er »war einer der Stellungsuchenden, die seit vielen Wochen fast jeden Morgen in großer Zahl an der Hauptpforte warten, in der Hoffnung, angenommen zu werden« (Schott intern. Werkzeitschrift 3/9174, S. 12). Nach einem Einstellungsgespräch in der Personalabteilung für gewerbliche Mitarbeiter, einer werksärztlichen Untersuchung und probeweiser Arbeit wurde er eingestellt.
Abb. 8: Begehrtes Ziel – ein Arbeitsplatz bei Schott. Arbeitsuchende vor dem Tor des Mainzer Werks.
Das Chemieunternehmen BASF ließ im Gegensatz zu Schott keine Zweifel daran, dass die Einstellung von Arbeitsmigranten im Jahr 1960 eine Notlösung war. Die folgenden Beschäftigtenzahlen beziehen sich auf mehrere Werke der BASF AG. Fast alle Mitarbeiter, auch Gastarbeiter, waren aber in Ludwigshafen tätig. Abgesehen von Konjunkturkrisen nahm der Anteil der ausländischen Arbeitskräfte bis zur Ersten Ölkrise auf 5.245 bzw. 9,7 % zu.
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Von diesen waren 9,1 % Angestellte. Im Vergleich dazu war der Anteil von Migranten in Unternehmen wie Schott deutlich höher.
Ausländische Mitarbeiter der BASF AG 6000
12,0%
5000
10,0%
4000
8,0%
3000
6,0%
2000
4,0%
1000
2,0%
0
1960
1965
1970
Ausländische Mitarbeiter
1975
1980
0,0%
In % der Belegschaft
Abb. 9: Ausländische Mitarbeiter der BASF AG
Im Jahr 1970 waren 56,8 % der erwerbstätigen Ausländer in Ludwigshafen in der Industrie tätig, davon fast alle in der Chemiebranche. Mit 3.761 Personen (über einem Viertel der ausländischen Bürger) arbeitete der Löwenanteil dieser Arbeitsmigranten bei der BASF. Bis 1980 ging ihre Zahl bei der BASF leicht zurück, während sich die Zahl der ausländischen Bürger der Stadt um fast 50 % erhöhte. Damit beschäftigte die BASF im Jahr 1980 einen deutlich geringeren Anteil der in Ludwigshafen lebenden Ausländer als noch 1970. Einer der Gründe hierfür ist, dass im Laufe der 1970er-Jahre viele Familien von »Gastarbeitern« in die Bundesrepublik nachzogen, wodurch sich die Zahl der nicht erwerbstätigen Ausländer erhöhte. Die Belegschaft der BASF wies insgesamt eine eher geringe Fluktuation auf. Von den Arbeitsmigranten schied jedoch in den 1960er-Jahren ca. ein Drittel wieder aus. Allerdings war dies nicht nur im Unternehmen begründet, sondern teilweise war nur ein kurzer Aufenthalt geplant oder die Arbeitnehmer hatten Heimweh bzw. fühlten sich im fremden Land nicht wohl. Eine Statistik zu den Gründen des Ausscheidens liegt für das Jahr 1960 vor. Knapp einem Fünftel aller ausländischen Beschäftigten kündigte das Unternehmen, während 12 % von sich aus weggingen. Als Grund wurde gegenüber dem Unternehmen am häufigsten Heimweh genannt. Damit war die Fluktuation bei der BASF eher niedrig, auch im Vergleich zu Schott. Im Jahr
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1978 waren die Beschäftigten insgesamt durchschnittlich seit 14 Jahren bei der BASF tätig. Bei den ausländischen Arbeitnehmern war die Betriebszugehörigkeit mit neun Jahren kürzer, aber dennoch bemerkenswert lang. Ein Arbeiter im Schichtdienst erhielt 1960 bei der BASF 650 DM brutto im Monat. In den folgenden Jahren erhöhte die Firma deutlich die Löhne und überschritt die im deutschen Durchschnitt gezahlten. Allerdings wurden noch 1970 über vier Fünftel der Arbeitsmigranten als Hilfsarbeiter entlohnt. Über eine höhere Zahl von Krankentagen klagte die BASF nicht. Allerdings, so wird in einem Zeitungsartikel kolportiert, war einmal eine ganze italienische Schicht abwesend, nachdem die Arbeiter erfahren hatten, dass in Deutschland bei Krankheit über drei Tage der Lohn fortgezahlt wird. Ende 1960 und auch in den Jahren 1971 und 1980 zählten bei der BASF über 10 % der ausländischen Beschäftigten zu den Angestellten. Bei diesen scheint es sich jedoch eher um Arbeitnehmer aus Nationen gehandelt zu haben, für die kein Anwerbeabkommen mit der Bundesrepublik bestand, zumal sie in der Statistik des Unternehmens separat von den ausländischen Arbeitern geführt wurden. Grund für den hohen Anteil von Angestellten war die Tatsache, dass in der Chemiebranche auch damals schon ein hoher Bedarf an qualifizierten Arbeitskräften bestand. Bei der BASF waren überwiegend Arbeitsmigranten anderer Nationalität beschäftigt als bei Schott. Zwar kamen auch hier die ersten Gastarbeiter überwiegend aus Italien. Sie stellten im Jahr 1960 69,5 %. In den folgenden Jahren reduzierte sich jedoch ihr Anteil, bis er ab 1969 regelmäßig bei rund 30 %
Nationen unter den Migranten bei BASF 100,0%
80,0%
60,0%
40,0%
20,0%
0,0% 1960
1965 Italiener
Griechen
1970 Jugoslawen
1975 Spanier
Abb. 10: Nationen unter den Migranten bei BASF. Ausländische Beschäftigte BASF AG 1960–1980
Türken
Sonstige
1980
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lag. Ab 1962 waren Griechen kurzfristig die größte Gruppe. Jugoslawische Arbeitnehmer kamen erst ab 1969 stärker zum Einsatz. Die Beschäftigung spanischer Arbeitsmigranten erreichte 1965 mit 17,4 % einen Höhepunkt. Ihr Anteil sank aber bis 1979 auf 4,0 % ab. Türkische Beschäftigte spielten bis in die 1970er-Jahre keine Rolle, stellten dann aber 1974 und auch noch 1979 immerhin 10,0 % der Belegschaft. Damit kamen die größten Landsmannschaften aus Italien und Griechenland, doch im Laufe der Jahre nahm die Ausgewogenheit der Nationen zu. 2.2 Betriebliche Maßnahmen für Arbeitsmigranten Die Schwierigkeiten, die bei Schott und BASF im Zusammenhang mit der Beschäftigung von Migranten auftraten, überschneiden sich mit denen aus der Perspektive der Städte. Hinzu kam jedoch, dass von Seiten der Unternehmen die starke Fluktuation grundsätzlich nicht gewünscht war, da infolgedessen die Einarbeitungskosten stärker zu Buche schlugen. Eine Maßnahme, um die Rückwanderung zu verringern, war das Angebot von günstigem und angemessenem Wohnraum. Viele »Gastarbeiter« waren ab den 1960er-Jahren jahrelang in den provisorischen Schott-Unterkünften an der Rheinallee untergebracht. Neben Mehrbett-Zimmern standen dort auch gemeinschaftliche Räume zur Verfügung. Schott kommentierte dies Ende 1961 wie folgt: »Auch die Unterkunftsfrage ist gut gelöst. Der größte Teil wohnt im Sammellager Rheinallee, ein kleinerer Teil im Ledigenheim am Schlachthof, und ein Sechstel fand Privatunterkunft« (Schott Werkzeitschrift 6/1961, S. 28). Im folgenden Jahr sanierte Schott das Wohnlager und beschaffte u. a. neue Matratzen. Von einer attraktiven Unterkunft kann man hier aber wohl kaum sprechen. In den folgenden Jahren engagierte sich der Glashersteller aber stärker für die Wohnraumbeschaffung als andere Mainzer Unternehmen. Im Jahr 1968 verkündet die Werkzeitschrift die Fertigstellung der ersten Familienunterkünfte für ausländische Beschäftigte. 1971 stellte Schott ein neues Wohnheim für 70 Spanier und Italiener in der Rheinallee 167 fertig. In diesem Zusammenhang betonte das Unternehmen, dass es ein »Übersoll (…) bei der Bewältigung der Wohnungsnot seiner Mitarbeiter« (Schott intern. Werkzeitschrift 1/9172, S. 4) erfüllt habe. Während 70 % aller ausländischen Beschäftigten in Mainz selbst eine Unterkunft suchen müssten, seien bei Schott über 60 %, d. h. mehr als 550 Alleinstehende und 40 Familien, in Unterkünften des Werks untergebracht, obwohl im Mainzer Raum eine Knappheit an Wohnraum für Arbeitsmigranten bestehe. Wohnheime hatten für ausländische Mitarbeiter bestimmte Vorteile: Sie konnten Kontakte zu ihren Landsleuten aufbauen und sich mit heimatli-
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chen Spezialitäten versorgen, so z. B. im Souterrain in der Rheinallee. Die Miete war niedrig und deckte nur rund die Hälfte der Aufwendungen, die Schott für die Unterkünfte entstanden. Allerdings war die Unterbringung in Drei-Bett-Zimmern nicht zeitgemäß, und ein Betriebsrat wies auf schlechte hygienische Verhältnisse in den alten Wohnbaracken hin. Dennoch wohnten manche Beschäftigte dort über etliche Jahre, während andere sofort wieder auszogen. Vor allem türkische Mitarbeiter lebten häufig in Wohnheimen, zumal wenn sie ohne ihre Familie in Deutschland waren. 1977 verfügte Schott über 480 Betten in Gemeinschaftsunterkünften, von denen aber nur drei Viertel belegt waren, denn der Trend ging zum freien, weniger isolierten, gemeinsamen Wohnen mit der Familie. Diesem Wunsch versuchte Schott zunehmend nachzukommen und wandelte z. B. die für Alleinstehende vorgesehenen Zimmer in der Mombacher Str. 101 in Wohnungen um. In der Werkszeitung porträtierte Schott einen türkischen Automatenschlosser, der dort mit seiner Frau und zwei Söhnen in einer DreiZimmer-Wohnung lebte. Knapp zwei Drittel der bei Schott beschäftigten Migranten waren in der Mainzer Neustadt und in Mombach angesiedelt. In diesen beiden Stadtteilen, wo die meisten Werkswohnungen lagen, lebte auch ein ähnlich hoher Anteil der deutschen Schott-Beschäftigten. Die BASF verfügte v. a. über Gemeinschaftsunterkünfte für die bei ihr beschäftigten Migranten. Am bekanntesten sind die Wohnheime am Rottstückerweg, die von 1960 bis 1976 auch für ausländische Beschäftigte zur Verfügung standen. Der frühere italienische Betriebsrat Carmine Ferrara beschrieb die Unterkünfte aufgrund der Einzäunung und der Beschränkung des Zugangs als »Kaserne«, in der zeitweise bis zu 14 Personen pro Zimmer untergebracht worden seien. 1964 kam das »Gastarbeiterwohnheim« mit Einzelbetten und weniger strengen Hausregeln hinzu. Duschen lagen häufig auf dem Gang. Wohl auf Wunsch der Migranten verbesserte die BASF bald die Unterkünfte bei einer höheren Miete. Die Zahl der Betten in Wohnheimen stieg allerdings von 1960 bis 1970 von 540 auf 1.836 an. Das heißt, über die Hälfte der Migranten hätte dort wohnen können. Nur rund 10 % der deutschen Beschäftigten lebten dort. Der Bischof von Speyer sah bei seinem Besuch in Ludwigshafen 1970 nur einige der Unterkünfte der BASF als angemessen an. In der Werkszeitung schilderte die BASF 1980 das Schicksal einer griechischen Familie. Der Vater arbeitete seit 19 Jahren im Chemieunternehmen und war anfangs mit Landsleuten in Gemeinschaftsunterkünften untergebracht, während seine Frau privat ein Zimmer mietete. In den folgenden Jahren lebten sie mit drei Kindern sogar einige Zeit in einer Einzimmerwohnung. Ca. acht bis neun Jahre nach der Zuwanderung erhielt die Familie
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schließlich eine größere Wohnung der Wohnungsbaugesellschaft der BASF, Gewoge. Die Maßnahmen zur Bereitstellung von Wohnraum für die bei ihnen tätigen Migranten übertrafen in beiden Unternehmen jene von kleineren Betrieben, sind aber auch nicht als herausragend anzusehen. Zumal in den 1960er-Jahren dominierten provisorische Unterkünfte für Alleinstehende, was zu dieser Zeit allerdings auch den Bedürfnissen vieler Migranten entgegenkam. Zwar waren die ausländischen Beschäftigten der beiden Großunternehmen, wenn ihre Familie nach Deutschland nachzog, meist besser gestellt; in zufriedenstellenden Wohnungen lebten viele aber erst nach etlichen Jahren. Ein weiteres Feld des betrieblichen Engagements für Arbeitsmigranten erstreckte sich auf deren soziale Betreuung und die Bereitstellung kultureller Angebote. Da die bei weitem größten Gruppen zunächst aus Italien und Spanien stammten, kam es Schott zupass, dass der aus Genua zugewanderte Mitarbeiter Franco Arata beider Sprachen mächtig war. Er lebte zum Zeitpunkt der ersten Anwerbung von ausländischen Mitarbeitern bei Schott bereits seit mehreren Jahren in Deutschland und konnte daher Tätigkeiten als Dolmetscher und Vermittler zwischen den Migranten und dem Unternehmen wahrnehmen. Innerhalb der Personalabteilung fand im Laufe der Jahre eine Professionalisierung statt. Nicht mehr nur Franco Arata, sondern auch weitere Kollegen waren für die Einstellung und Betreuung ausländischer Arbeitnehmer zuständig. Neben Arata nahm unter den ausländischen Beschäftigten von Schott lange Zeit Michele Cavuto eine Sonderstellung ein. In der Werkzeitschrift wurde er als »der gute und stets allgegenwärtige Geist unter den 330 ausländischen Mitarbeitern aus Italien und Spanien« beschrieben. Er lebte anfangs in der Sammelunterkunft, wo er ab 1961 als Hausmeister fungierte und eine kleine Kantine führte. Zu einem Streik kam es bei der BASF in der Anfangszeit nicht wegen der Unterbringung, sondern wegen des Essens. So führte ein italienischer Vertrauensmann über seine Landsleute aus: »Kantinenessen waren die ja überhaupt nicht gewohnt und deutsche Küche auch nicht« (RP 31.3.2005). Nach dem Streik bot der Koch häufiger Nudeln an. In den Akten wird sogar vom »Italieneressen« in den Werksküchen und Gaststätten gesprochen. Schott veranstaltete mehrfach für seine italienischen und spanischen Beschäftigten, die nicht nach Hause fuhren, eine Weihnachtsfeier in der Sammelunterkunft in der Rheinallee. In der Werkzeitschrift druckte das Unternehmen Dankesbriefe von Beschäftigten ab. Diese Veranstaltung bot dem Unternehmen die Chance, mit vielen Migranten zu kommunizieren. Regelmäßig verkündete der Personalchef Walter Köcher ähnlich einer Betriebsversammlung Erfolge. In den Sammelunterkünften von Schott fanden
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regelmäßig Veranstaltungen statt, z. B. wurde ab 1963 monatlich ein italienisch- und ein spanischsprachiger Film gezeigt. 1981 organisierte Schott beispielsweise vor den Wohnheimen an der Rheinallee ein Sommerfest für die ausländischen Mitarbeiter. Nach Einschätzung der Geografen Hermann Olbert und Heinz Eggers versuchte Schott zumindest in den 1970er-Jahren, den Migranten Möglichkeiten zur anfänglichen und längerfristigen Integration zu bieten, scheiterte aber hierbei häufig an Gruppenbildungen nach ethnischen, sozialen oder religiösen Aspekten. Im Jahr 1968 wurde bei Schott erstmals ein Spanier in den Betriebsrat gewählt. Vier Jahre später repräsentierten ein Italiener und ein Spanier ihre Staatsangehörigen. Als 1975 ein türkischer Arbeitnehmer auf einer Betriebsversammlung anregte, ihn als Vertreter seiner Landsleute in den Betriebsrat aufzunehmen, wurde seinem Wunsch entsprochen. Auch seine Anregung, Sprachkurse und Sportmöglichkeiten beim Wohnheim für seine Landsleute zu schaffen, sollten aufgegriffen werden. Grundsätzlich fanden aber die Betriebsversammlungen auf Deutsch statt, was wohl ein Grund für die geringe Beteiligung von Migranten war. Auch die BASF beschäftigte mit der zunehmenden Zahl von ausländischen Arbeitskräften Dolmetscher für einige Nationalitäten. Ab den 1970erJahren bot das Unternehmen Sprachkurse als Vorbereitung auf die Tätigkeit in Deutschland sowie während der Arbeitszeit an. In der Folge schränkte sie das Dolmetscherangebot ein, um die Migranten zum Erwerb der deutschen Sprache anzuhalten. In den frühen 1980er-Jahren wurde der Einsatz von Dolmetschern schließlich eingestellt. Ab 1972 bestand bei der BASF ein Ausländer-Ausschuss. Drei Jahre später schließlich konnten die nichtdeutschen Werksangehörigen zwei Betriebsräte wählen. Einer von ihnen war Ferrara, der bereits im Ausschuss mitgewirkt hatte und 1980 einer der wenigen ausländischen Meister wurde. Die BASF veranstaltete u. a. Betriebsversammlungen speziell für die Migranten. Auf weitere Angebote des Unternehmens, insbesondere zur Freizeitgestaltung der »Gastarbeiter«, fanden sich in der Werkszeitung keine Hinweise. Auch die Berichterstattung über die ausländischen Beschäftigten unterschied sich: Während Schott in den 1960er-Jahren in fast jeder Ausgabe der Werkzeitschrift einen Artikel mit Bezug zu Arbeitsmigranten veröffentlichte, muss man in den Ausgaben der BASF zunächst lange nach Beiträgen zu diesem Thema suchen. Dieses Verhältnis verkehrte sich in den 1970er-Jahren: Überraschenderweise berichtete die BASF nun häufiger über ihre ausländischen Arbeitskräfte, obwohl deren Anteil an der Belegschaft bereits wieder abnahm. Unter der Rubrik »info-kiosk« erschienen von 1975 bis 1985 Artikel auf Jugoslawisch, Italienisch, Türkisch und Griechisch.
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3. Fazit Auf dem Höchststand waren bei Schott im Jahr 1974 über 1.400 oder 27 %, bei der BASF 1973 über 5.000 Mitarbeiter oder 9,7 % keine Deutschen. Bestimmend waren für diese unterschiedlich ausgeprägte Beschäftigung von Arbeitsmigranten die verschiedenen Erfordernisse der Standorte. Schott war zwar das größte Industrieunternehmen in Mainz, daneben bestanden aber andere Großbetriebe; hingegen war die BASF mit Abstand der größte Arbeitgeber in Ludwigshafen. Darüber hinaus bestand bei der BASF bereits eine längerfristige Stammbelegschaft, und die Qualifikationsansprüche in der Glas- und Chemiebranche unterschieden sich. Die Zahl der Arbeitsmigranten und der Grad der Abhängigkeit von ihnen wirkten sich auf den Umgang mit ihnen aus. Schott engagierte sich stärker für eine angemessene Unterbringung, aber auch für Freizeitangebote. In den 1960er-Jahren bemühte sich Schott, seinen deutschen Beschäftigten die ausländischen Mitarbeiter durch Artikel in der Werkzeitschrift nahezubringen. Das Unternehmen betonte die Ähnlichkeit der Deutschen zu den spanischen Zuwanderern, sowohl in Bezug auf die »Lebensauffassung« als auch auf die Gesichtszüge der aus dem Norden Spaniens stammenden Migranten. Im Jahr 1965 gab ein »Knigge« Empfehlungen zum Umgang mit den ausländischen Kollegen. »Nötigen Sie ihn nicht zu Einstand und ›EinenAusgeben‹ – er kennt diese deutschen (Un)Sitten nicht und ist von Haus aus sparsam …« (Schott Werkzeitschrift 4/1962, S. 22). Wenn auch diese Artikel selbst von Vorurteilen zeugen, so fand hier doch früh der Versuch statt, ein harmonisches Miteinander zu bewirken und nicht einfach unzufriedene »Gastarbeiter« durch neue zu ersetzen. Schott reagierte mit seinen Artikeln auch auf Befürchtungen innerhalb der deutschen Belegschaft. Regelmäßig druckte Schott Artikel auf Italienisch und Spanisch ab. Ab 1976 kamen türkische Artikel und von 1979 bis 1989 auch fremdsprachige Kurzausgaben der Werkzeitschrift hinzu. Allerdings war dieses Engagement von Schott nicht ohne Eigennutz: So ließ das Unternehmen kaum eine Gelegenheit aus, die Zufriedenheit der Arbeitsmigranten zu betonen. Das Verhältnis von Schott zu den Migranten »normalisierte« sich in dem Maße, wie diese länger in Deutschland lebten. Hierzu trugen auch der Anwerbestopp und der Übergang in die Konjunkturkrise bei. Zu Beginn der 1980er-Jahre lag die Fluktuation der ausländischen Beschäftigten nur noch leicht über dem allgemeinen Wert. In den folgenden Jahren fand kaum noch eine problemorientierte Berichterstattung über das Phänomen der Zuwanderer statt. Für die BASF spielten ausländische Arbeitnehmer in den 1960er- und 1970er-Jahren eine gewisse Rolle. Die Frage der Werkszeitung, ob sich der
Zuwanderung nach Rheinland-Pfalz 143
Aufwand für ihre Eingliederung gelohnt habe, beantwortete der Personalchef im Jahr 1980 wie folgt: »Ganz sicher, denn ohne unsere ausländischen Mitarbeiter hätten wir die wirtschaftlichen Erfolge der vergangenen Jahre nicht erreichen können« (BASF information Nr. 3/13.2.1980, S. 3). Im Vergleich zu Schott und anderen Industriebetrieben war der Anteil der Migranten von maximal einem Zehntel der Belegschaft aber eher gering. Susan Becker verweist zu Recht auf eine ambivalente Einstellung der BASF zur Beschäftigung von Ausländern. Einerseits war man aufgrund der Einarbeitungskosten und -zeit daran interessiert, dass diese dem Unternehmen länger verbunden blieben, andererseits gab man ihnen über die Bereitstellung von Gemeinschaftsunterkünften und das Angebot von Sprachkursen hinaus wenig Grund, sich heimisch zu fühlen. In den Städten Ludwigshafen und Mainz beschäftigten beide Großunternehmen lange Zeit jeweils einen bedeutenden Anteil der dort zugewanderten Ausländer – die BASF 1970 ein Viertel, Schott etwa ein Achtel. Im Laufe des Jahrzehnts nivellierte sich aber der Anteil in dem Maße, wie die Zahl der Migranten zunahm, insbesondere durch Familiennachzug. Die Situation der ausländischen Beschäftigten bei BASF und Schott war im Vergleich zu den Lebensverhältnissen ihrer übrigen Landsleute etwas besser. Sie hatten Vorteile bei der Wohnraumbeschaffung und lebten in besseren Unterkünften, sofern sie eine der zumeist über dem Standard liegenden Werksunterkünfte erhielten. Auch konnten die Unternehmen aufgrund ihrer Größe leichter soziale und kulturelle Angebote für sie bereitstellen. Gleichzeitig standen diese Großunternehmen stärker im Blick der Öffentlichkeit, wie sich an verschiedenen Besuchen von Politikern zeigt. Über diese wurde ausführlich in der Presse berichtet. Ludwigshafen definiert sich heute in deutlich höherem Maße als Mainz als eine Migrationsstadt. Das zeigt sich u. a. daran, dass mehrere Filme, wie »Ludwigshafen – meine Stadt« und »Cattolica – Arrivo!«, die Zuwanderung nach Ludwigshafen thematisieren und dass die Stadt auf ihrer Website Kurzporträts von städtischen Mitarbeitern mit Migrationshintergrund zur Verfügung stellt. Ausschlaggebender Faktor hierfür ist wohl die allgegenwärtige Präsenz der Einwanderer – über 20 % der Bevölkerung sind keine deutschen Staatsbürger, insgesamt hat gut ein Drittel der Bevölkerung ausländische Wurzeln. Allerdings sind auch in Mainz die Anteile mit etwa 15 % bzw. knapp 30 % der Einwohner beträchtlich, aber möglicherweise sind die Migranten hier stärker integriert. Neuere Erkenntnisse über deren Situation liefert die in diesem Band abgedruckte Migrationsstudie.
144 Ute Engelen
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Zuwanderung nach Rheinland-Pfalz 145
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k atHarina alt, anton escHer
Anmerkungen zur Differenz von »Migration und Lebensstil« in der Stadt Mainz
A
m Geographischen Institut der JGU wurde im Jahr 2011 eine empirische Studie zur aktuellen Situation von Migranten1 in Mainz durchgeführt. Anschließend thematisierte eine weitere empirische Untersuchung die vielfältigen Lebensstile der Bewohner der Stadt. Die »Studie zur Vielfalt der Lebensstile in Mainz« ergänzt die Untersuchung zur Migration in Mainz in quantitativer Hinsicht. Die folgenden Ausführungen beleuchten anhand von Karten und Graphiken, die diesen Studien entnommen sind, die komplexe Bevölkerungsstruktur der Stadt Mainz und Aspekte der Lebensstile der Mainzer Bevölkerung. Die Geschichte der Rheinland-Pfälzischen Landeshauptstadt Mainz mit ihren 15 Stadtteilen ist durch internationale Migrationsströme geprägt. Die Quote an Einwohnern mit ausländischem Pass aus über 150 Ländern betrug in der Stadt im Jahr 2012 über 15 Prozent.2 Den größten Anteil der ausländischen Bewohner stellten türkische Staatsangehörige mit 20 %, gefolgt von Italienern mit 12 %, Personen aus dem ehemaligen Jugoslawien mit ebenfalls 12 % und aus der ehemaligen Sowjetunion mit 8 % (Landeshauptstadt Mainz 2012: 7). Aufgrund der jüngeren Einwanderungsgeschichte in Deutschland wurde das soziale Merkmal »Personen mit Migrationshintergrund« für eingewanderte und von eingewanderten Menschen abstammende Personen eingeführt. Der Begriff »Personen mit Migrationshintergrund« ist jedoch bundesweit nicht einheitlich festgelegt. So gibt es auf Bundes-, Landes- und Kommunalebene unterschiedliche Definitionen, die zusätzlich über die Jahre hinweg voneinander variieren. Durch den erheblichen Zuzug von (Spät-)Aussied1 2
Die Verfasser sehen von einer genderneutralen Ausdrucksweise ab, um eine bessere Lesbarkeit des Textes zu gewährleisten. Alle Angaben in Prozent werden ohne Dezimalstellen angegeben.
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lern und Eingebürgerten besaß die bisherige grobe Unterscheidung zwischen Deutschen und Ausländern eine immer geringere Aussagekraft. Dabei ist anzumerken, dass der Begriff »Ausländer« wie folgt definiert ist: Ausländer ist jeder, der im Sinne des Grundgesetzes (Artikel 116, Absatz 1)3 kein Deutscher ist. Seit 2005 erfassen die Statistischen Landesämter und das Statistische Bundesamt indirekt Daten zum sogenannten Migrationshintergrund der Menschen in Deutschland. Gründe liegen in der Erneuerung des Erhebungsprogrammes durch den Mikrozensus, einer Haushaltsbefragung für die amtliche Statistik Deutschlands, die seit 1957 regelmäßig durchgeführt wird. Die neue Kategorie »Migrationshintergrund« erfasst nach der amtlichen Definition auch die in Deutschland geborenen Nachkommen von Zugewanderten, also alle »nach 1949 auf das heutige Gebiet der Bundesrepublik Deutschland Zugewanderten, sowie alle in Deutschland geborenen Ausländer und alle in Deutschland als Deutsche Geborenen mit zumindest einem nach 1949 zugewanderten oder als Ausländer in Deutschland geborenen Elternteil« (Statistisches Bundesamt 2013). Durch die amtliche Statistik kann somit der Status bis zur dritten Migrantengeneration zurückverfolgt werden, sofern es sich um Zugewanderte oder in Deutschland geborene Ausländer handelt. Das Statistische Bundesamt nimmt zusätzlich seit kurzem zwei weitere Kategorien in die Erfassung des Migrationshintergrundes auf. Es wird zwischen Migrationshintergrund im engeren und im weiteren Sinne unterschieden: Dabei zählen alle Zugewanderten und alle in Deutschland geborenen Ausländer und Deutsche mit Migrationshintergrund, die ihre deutsche Staatsangehörigkeit seit Geburt besitzen und mit ihren Eltern oder einem Elternteil in einem Haushalt leben, zu den Personen mit Migrationshintergrund im engeren Sinne. Zur Bevölkerung mit Migrationshintergrund im weiteren Sinne zählen »zusätzlich jene Deutsche mit Migrationshintergrund, die ihre deutsche Staatsangehörigkeit seit Geburt besitzen und nicht (mehr) mit den Eltern im selben Haushalt leben« (ebd.). Die Definition des Mainzer Amts für Stadtentwicklung, Statistik und Wahlen lautet hingegen: »Danach zählen zu Personen mit Migrationshintergrund Personen, die eine erste (oder zweite) ausländische Staatsbürgerschaft haben und Personen, die im Ausland geboren wurden (ohne »Nachkriegsflüchtlinge«, d. h. Personen mit deutscher Staatsangehörigkeit, die vor 1947 3
Art 116 (1) Deutscher im Sinne dieses Grundgesetzes ist vorbehaltlich anderweitiger gesetzlicher Regelung, wer die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt oder als Flüchtling oder Vertriebener deutscher Volkszugehörigkeit oder als dessen Ehegatte oder Abkömmling in dem Gebiete des Deutschen Reiches nach dem Stande vom 31. Dezember 1937 Aufnahme gefunden hat.
Anmerkungen zur Differenz von »Migration und Lebensstil« in der Stadt Mainz 149
in Polen, in der ehem. Tschechoslowakei, in Rumänien, in Ungarn, in der Sowjetunion oder in der russischen Föderation geboren wurden) und Kinder (unter 18 Jahren) mit einer Mutter oder einem Vater, die bzw. der eine ausländische Staatsangehörigkeit hat oder im Ausland geboren wurde« (Landeshauptstadt Mainz 2011: 7). Bis 2007 galt für den letzten Punkt noch eine andere Version der Stadtverwaltung Mainz: »Kinder (unter 18 Jahren) mit einer Mutter, die eine ausländische Staatsangehörigkeit hat oder im Ausland geboren wurde« (ebd.). Bis 2007 wurde also der Vater durch diese Definition nicht berücksichtigt. Für die durchgeführten Studien wurde die Definition der Landeshauptstadt Mainz ab 2007 übernommen. Im Jahr 2012 betrug der Anteil der wohnberechtigten Bevölkerung mit Migrationshintergrund (d. h. Ausländer und Deutsche mit Migrationshintergrund) auf dieser Basis 29 %. Der Anteil der Deutschen in Mainz, die einen Migrationshintergrund besaßen, belief sich auf 14 %. Die Mainzer Ausländer verteilten sich unterschiedlich auf die einzelnen Wohnviertel der Stadt. Dabei differierten die absoluten und relativen Werte der Ausländer-Anteile4 (siehe Abb. 1). Die Stadtteile Neustadt und Mombach wiesen die höchsten
Abb. 1: Ausländer relativ und absolut in den Mainzer Stadtteilen 2009 4
Die Farbmarkierung der jeweiligen Nation auf den thematischen Karten orientiert sich an den Grundfarben der Trikots der betreffenden Fußball-Nationalmannschaften.
150 Katharina Alt, Anton Escher
Ausländeranteile auf. Jedoch ist zu beachten, dass sich die Akkumulation in Mombach hauptsächlich durch den sehr hohen Ausländeranteil im Industrieviertel ergibt, wo insgesamt nur sehr wenige Personen wohnen. Beide Stadtteile verfügten in den meisten Altersgruppen über überdurchschnittlich hohe Anteile an Ausländern und auch Personen mit Migrationshintergrund. In den Stadtteilen Drais, Ebersheim und Laubenheim waren demgegenüber nur zwischen 2 % und 10 % ausländische Staatsbürger wohnhaft gemeldet; sie wiesen den geringsten Anteil auf. Bis auf wenige Stadtteile, wie zum Beispiel die Altstadt und Hechtsheim, in denen größtenteils Italiener wohnten, machten türkische Staatsangehörige den größten Anteil aus. Völlig anders zeigte sich die Verteilung der ausländischen Personen nach Geburtsstaaten (ausgenommen der in Deutschland Geborenen) in allen Stadtteilen (siehe Abb. 2). Polen machten hier in vielen Stadtteilen, wie in Laubenheim, Gonsenheim und Finthen, den größten Anteil aus, dicht gefolgt von Personen, die in der Türkei geboren sind. Personen, die im Ausland geboren sind, waren am häufigsten in der Neustadt, in Mombach, Hartenberg-Münchfeld und auf dem Lerchenberg vertreten. In Drais und Laubenheim fanden sich dagegen die geringsten Anteile. Anhand der beiden Karten »Ausländer und Migranten in den Mainzer Stadtteilen« wird deutlich, dass Staatsangehörigkeit und Migrationshintergrund in vielen Fällen nicht mit der Herkunft nach Geburtsland übereinstimmen. Insgesamt zeigte sich ein Zusammenhang zwischen Industriestandorten (z. B. Mombach), Bausubstanz (z. B. Neustadt und Altstadt) sowie Stadtplanung (z. B. Lerchenberg und Oberstadt) und dem prozentualen Wohnanteil von Ausländern in Mainz. Die relativ spät eingemeindeten Stadtteile (z. B. Drais und Laubenheim) wiesen hingegen sowohl absolut als auch relativ die geringsten Anteile von ausländischen Mitbürgern auf. Im bundesrepublikanischen Vergleich kann jedoch in der Stadt Mainz von einer relativ homogenen Verteilung der ausländischen Bevölkerung über das Stadtgebiet gesprochen werden. Das Ziel der Studie zu Lebensstilen in Mainz war es, Aspekte der Lebensverwirklichung der Mainzer Bevölkerung empirisch zu bestimmen, um anschließend ihre Handlungsroutinen und Lebenseinstellungen zu rekonstruieren. Unter Lebensstilen verstehen wir »ein Muster verschiedener Verhaltensweisen, die eine gewisse formale Ähnlichkeit und biographische Stabilität aufweisen, Ausdruck zugrunde liegender Orientierung sind und von anderen Personen identifiziert werden können« (Otte u. Rössel 2011, 3). Die vorliegende Studie thematisiert also soziale Praktiken, die kohärent sind und der individuellen Organisation des Alltags dienen. Ein Lebensstil ist somit Ausdruck in hohem Maße frei wählbarer persönlicher Neigungen und Wertorientierungen, die von anderen wahrgenommen werden (siehe auch Otte 2011 und Spellerberg 1995).
Anmerkungen zur Differenz von »Migration und Lebensstil« in der Stadt Mainz 151
Abb. 2: Migranten relativ und absolut nach Geburtsländern in den Mainzer Stadtteilen 2009
Die Ausgangshypothese der Studie war, dass es eindeutige und evidente Differenzen zwischen deutschen Mainzern und nicht-deutschen Mainzern gibt. Infolgedessen sollten spezifische Lebensstile von Ausländern bzw. von Personen mit Migrationshintergrund auf der Basis der empirisch-methodisch gewonnen Daten darstellbar sein. Die Diversität bzw. wichtige Aspekte der Lebensstile sollten, gemäß der Hypothese, zunächst abhängig vom Besitz bzw. Nichtbesitz der deutschen Staatsangehörigkeit unterschieden werden. Um repräsentative Aussagen zu ermöglichen, wurde eine geschichtete Stichprobe von 5.000 Adressen, bestehend aus Personen mit ausländischem Pass und deutschem Pass, aus der Summe der Mainzer Bevölkerung gezogen. Die mit Hilfe des Bürgeramtes Mainz erstellte Stichprobe diente als Grundlage der Befragung. Unter den 5.000 Adressen befanden sich 3.400 Personen mit ausländischer und 1.600 Personen mit deutscher Staatsangehörigkeit. Dabei traten auch Personen mit doppelter Staatsangehörigkeit auf. Alle Personen der Stichprobe waren mindestens 18 Jahre alt. Jede ausgewählte Person wurde durch einen Brief über die Befragung informiert. Die Befragung erfolgte mit Hilfe von Studierenden der JGU Mainz im Rahmen einer Lehrveranstaltung5 5
An dieser Stelle bedanken wir uns sehr herzlich bei allen Studierenden für ihre Mitarbeit, die oftmals weit über ihre Pflicht hinausging.
152 Katharina Alt, Anton Escher
Abb. 3: Altersklassen der Befragten nach Staatsangehörigkeit
Abb. 4: Bildungsniveau der Befragten nach Staatsangehörigkeit
anhand von schriftlichen Fragebögen in einem »Paper-Pencil-Interview« (PPI). Von den insgesamt 5.000 Kontakten waren 746 Personen zu einem Interview bereit. Somit wurde eine Quote von 15 % erreicht. Damit können die Ergebnisse der Untersuchung als in hohem Maße repräsentativ für die Mainzer Bevölkerung gelten.
Anmerkungen zur Differenz von »Migration und Lebensstil« in der Stadt Mainz 153
Um einen Überblick über die Zusammensetzung und Charakterisierung der Befragten zu erhalten, werden im Folgenden die Gruppen Deutsche und Ausländer auf der Basis der Kategorien Altersklassen, Bildungsniveau, Einkommensklassen und Wohndauer in Mainz verglichen. Von den knapp 750 Befragten besaß rund die Hälfte die deutsche Staatsangehörigkeit. Auch zwischen den Geschlechtern und den verschiedenen Altersklassen herrschte ein ausgewogenes Verhältnis. Lediglich in der Altersklasse 36 bis 45 Jahre und 66 bis 98 Jahre (siehe Abb. 3) sind ungleiche Verteilungen zu verzeichnen, was einerseits daran liegen mag, dass in der höchsten Altersklasse mehr Deutsche im Ruhestand vertreten waren. Andererseits waren unter den Ausländern der mittleren Altersklasse mehr Personen zu Hause anzutreffen und zum Interview bereit gewesen. Die Gründe dafür sind nicht eindeutig zu bestimmen. Deutlichere Unterschiede ergeben sich bei der Betrachtung der unterschiedlichen Bildungsgrade. So sind Personen mit einem hohen Bildungsniveau (28 % mit Hochschulabschluss) eher unter den deutschen Befragten zu finden. Unter den ausländischen Befragten besaßen lediglich halb so viele einen Hochschulabschluss. Ein mittleres Bildungsniveau (Mittlere Reife bis Abitur) besaßen 48 % der deutschen und 43 % der ausländischen Befragten. Ein geringes Bildungsniveau (kein Abschluss, noch in schulischer Ausbildung, Grund- bzw. Volksschulabschluss bis Hauptschulabschluss) besaßen 43 % der ausländischen und 24 % der deutschen Befragten. Die großen Unterschiede zwischen dem Bildungsstand von Deutschen und Ausländern sind auf den Zeitpunkt der Zuwanderung und das Alter der befragten Ausländer zurückzuführen (siehe Abb. 4). Die ersten Migranten aus ehemaligen Anwerbestaaten (insbesondere aus der Türkei) verfügten über ein geringes Qualifikationsniveau, das nur wenige aufgrund der Umstände während ihrer Lebenszeit in Deutschland verbessern konnten. Die zweite und dritte Generation begann ihre Bildungskarriere in Deutschland und erreichte bis heute bessere Ausbildungsstufen. Die jüngsten Generationen, die sich dem Bildungsstand der Deutschen annähern, waren in der Stichprobe nur sehr gering vertreten. Ein weiteres Differenzierungsmerkmal bildete neben dem Zuwanderungszeitpunkt und Alter das Geschlecht der Befragten. Deutsche Frauen aus Mainz waren überwiegend in der Gruppe der mittleren Bildung auszumachen. Knapp 19 % der befragten deutschen Frauen besaßen einen Hochschulabschluss und 29 % waren gering gebildet, hatten also höchstens einen Hauptschulabschluss gemacht. Deutsche Männer waren dagegen im Vergleich wesentlich besser ausgebildet. Sie besaßen zu 39 % einen Hochschulabschluss und waren mit einem geringen Bildungsgrad mit 19 % nur schwach vertreten. Auf einem mittleren Bildungsniveau befanden sich 43 % der deutschen Männer.
154 Katharina Alt, Anton Escher
Abb. 5: Bildungsniveau der Befragten nach Geschlecht und Staatsangehörigkeit
Abb. 6: Einkommensklassen der Befragten nach Staatsangehörigkeit
Unter den ausländischen befragten Mainzern lag das Bildungsniveau vergleichsweise niedrig, wobei auffiel, dass zwischen Männern und Frauen kaum Unterschiede bestanden (siehe Abb. 5). Jeweils über 40 % der ausländischen Frauen und Männer wiesen einen geringen oder mittleren Bildungsgrad auf. In der höchsten Bildungsklasse waren beide Gruppen mit unter 15 % eher schwach vertreten. Ähnliche Muster wie bereits zuvor erwähnt ließen
Anmerkungen zur Differenz von »Migration und Lebensstil« in der Stadt Mainz 155
sich auch beim Merkmal Haushaltsnettoeinkommen finden (siehe Abb. 6). Höhere Nettoeinkommen waren eher in deutschen Haushalten gegeben, während die niedrigeren Einkommen eher unter den ausländischen Befragten vertreten waren. Knapp 59 % der ausländischen Haushalte standen monatlich maximal 2.000 Euro zur Verfügung, gegenüber 61 % der deutschen Haushalte mit einem monatlichen Einkommen von mehr als 2.000 Euro. Die dargestellten Daten zeigen, dass bei den befragten Deutschen und Ausländern doch bestimmte Unterschiede bei Bildung, Aufenthaltsdauer und Einkommen bestanden. Dies stellte einen ersten Hinweis dar, dass auch bei den Aspekten der Lebensstile Abweichungen zu erwarten waren. Um die Differenz der Lebensstile von Deutschen und Ausländern zu erfassen, werden zentrale Aspekte bzw. Indikatoren für Lebensstile ausgewählt und dargestellt. Darunter fallen: Gefühl der Fremdheit am Wohnort, Einstellung zur Gesellschaft, Mediennutzung und Freizeitaktivität. Sich zur gesellschaftlichen Ordnung eines Landes oder einer Stadt zugehörig oder ausgrenzt zu fühlen, kann – auch bei Einheimischen – letztlich zu sozialer und politischer Teilhabe oder deren Verlust führen. Insofern dient »Fremdheit« als Indikator zur Messung von Zugehörigkeit zu einer Gesellschaft. Das subjektive Gefühl der Fremdheit kann als Nichtzugehörigkeit zur Gastgesellschaft interpretiert werden. Daran knüpfen sich persönliche Einstellungen und das persönliche Verhältnis zu institutionellen Einrichtungen (z. B.: deutsche Gesetze). Vertrauen in den Staat sowie Elemente der Wertorientierung und Lebensführung werden als Anzeiger für das Verhältnis zur Gesellschaft herangezogen. Unter den Befragten wohnten die meisten bereits mindestens zehn Jahre in Mainz (siehe Abb. 7). Über 10 % der Ausländer und knapp 30 % der Deutschen waren in Mainz geboren. Die lange und enge Verbundenheit zu Mainz und Deutschland mag mit einer der Gründe sein, weswegen die meisten Befragten ein dauerhaftes Leben außerhalb der Staatsgrenzen nicht planten. Rund 80 % der Ausländer und knapp 95 % der Deutschen in Mainz gaben an, dass sie Deutschland nicht verlassen möchten, um dauerhaft in einem anderen Land zu leben. Bestätigt wurde die oben erwähnte Annahme durch die Angaben über Fremdheitsgefühle gegenüber Mainz und Deutschland. Es bestanden sowohl bei Deutschen (3 %) als auch bei Ausländern (8 %) kaum Gefühle der Fremdheit. Als Gegenfrage wurde das Wohlgefühl in Mainz und Deutschland geprüft. Dieses ist unter allen Mainzer Befragten stark ausgeprägt. Nur 6 % der Deutschen und 14 % der Ausländer fühlten sich unwohl in Mainz. Weshalb sich Menschen in Mainz unwohl fühlten, konnte anhand des Datenpools nicht ermittelt werden.
156 Katharina Alt, Anton Escher
Abb. 7: Wohndauer der Befragten in Mainz
Trotz teilweise erheblicher sozialer Ungleichheiten zwischen den befragten Ausländern und Deutschen ließen sich auf der lebensweltlichen Ebene fast keine Unterschiede feststellen (siehe Abb. 8 und 9). Das Bedürfnis nach Selbstverwirklichung war Personen mit und ohne deutschem Pass in etwa gleich wichtig (bzw. unwichtig). Eigene Stärken, Ziele und Entwicklungsmöglichkeiten zu thematisieren und zu leben, hat für etwa 80 % der Deutschen und Ausländer eine Priorität. Richtet man den Fokus auf andere Grup-
Abb. 8: Selbstverwirklichung der Befragten nach Staatsangehörigkeit
Anmerkungen zur Differenz von »Migration und Lebensstil« in der Stadt Mainz 157
Abb. 9: Selbstverwirklichung der Befragten nach Altersklassen und Geschlecht
pierungen und betrachtet die gleiche Frage unter anderen Gesichtspunkten, wie Altersklassen oder Geschlecht, erkennt man, dass sich Unterschiede in der oben erwähnten Frage zur Selbstverwirklichung differenzierter erschließen lassen (siehe Abb. 9). Männer sowie Frauen finden den Selbstverwirklichungsaspekt in jüngeren Jahren für ihr eigenes Leben wichtiger als in älteren Jahren. Frauen scheint dies im Gegensatz zu Männern jedoch noch etwas wichtiger für die eigene Lebenswirklichkeit zu sein. Dies ist eventuell auf das traditionelle Rollenbild der Frau zurückzuführen, von dem sich die Frauen heute absetzen wollen. Mit zunehmendem Alter der Befragten zeigte sich eine steigende Tendenz des Vertrauens in deutsche Gesetze (siehe Abb. 10). Offenbar ist das Vertrauen unter jüngeren Altersgruppen in deutsche Institutionen nicht so stark ausgeprägt wie bei älteren Mainzern. Die gleiche Frage unter dem Aspekt Staatsangehörigkeit ließ keine relevanten Differenzen zwischen Deutschen und Ausländern erkennen. Das Vertrauen in deutsche Gesetze war bei beiden Gruppen nahezu identisch ausgeprägt. Ausländer in Mainz vertrauten den deutschen Gesetzen sogar noch etwas mehr als deutsche Mainzer (siehe Abb. 11). Das Vertrauen in deutsche Behörden war unter den Befragten nachweislich sehr groß und daher als Verbundenheit mit der politischen Gestaltung der Gesellschaft zu werten, in der individuelle Verwirklichung in unterschiedlicher Ausprägung möglich ist. Die Verwirklichung und Gestaltung des Alltags werden nicht zuletzt von persönlichen Präferenzen beeinflusst. Freizeitaktivitäten und insbesondere Routinen der Kommunikation sind da-
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Abb. 10: Vertrauen der Befragten in deutsche Gesetze nach Altersklassen
Abb. 11: Vertrauen der Befragten in deutsche Gesetze nach Staatsangehörigkeit
bei Ausdruck der verfügbaren Ressourcen, wie z. B. finanziellen Mitteln oder individuellen Kompetenzen. Ebenso sind sie eine expressive Art, persönliche Interessen in einer Lebensphase umzusetzen. Die Nutzung von Medien bestimmt zunehmend den Alltag der Mainzer Bevölkerung. Diese unterscheidet sich vorwiegend durch den Lebensabschnitt und das individuelle Interesse der Befragten. Räumliche Distanzen zu Freunden, Bekannten und zur Familie werden heute durch elektronische und
Anmerkungen zur Differenz von »Migration und Lebensstil« in der Stadt Mainz 159
Abb. 12: Gebrauch von Kommunikationsmedien durch die Befragten nach Altersklassen
digitale Medien überwunden. Dabei sind der Besitz und der Umgang mit digitalen Kommunikationsmedien für jüngere Generationen mittlerweile selbstverständlich und ein fester Bestandteil des Alltags geworden. Der Besitz der neuesten Mobil- bzw. Smart-Telefone sowie der beinahe überall verfügbare Zugang ins Internet dienen dabei nicht nur der Selbststilisierung, sondern auch der Kommunikation mit Freunden und der Familie. Zwar wurden von den Befragten, die zwischen 18 und 35 Jahre alt sind, weiterhin persönliche Gespräche und Telefonate bevorzugt, jedoch hob sich die Teilnahme an sozialen Netzwerken, die online verfügbar sind, wie beispielsweise Facebook, deutlich von den Generationen ab Mitte 30 ab. Diese präferierten eher eine konventionelle Mediennutzung. Die Nutzung von E-Mail-Kommunikation diente ihnen nur geringfügig zur Vereinfachung des Alltags (siehe Abb. 12). Der postalische Weg zur Kommunikation mit Freunden war für alle Befragten keine Alternative. Gleiches galt für »Messenger mit Chatfunktionen«, die vermutlich durch die ständige Verbesserung und Erleichterung des Versendens von Text- und Sprachnachrichten über mobile Geräte und soziale Netzwerke stark an Bedeutung verloren haben. Es konnten auch bei der Nutzung von Kommunikationsmedien keine statistisch relevanten Unterschiede zwischen Ausländern und Deutschen beobachtet werden. Allein die digitale E-Mail scheint von deutschen Mainzern etwas intensiver genutzt zu werden als von ausländischen Mainzern (siehe Abb. 13).
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Abb. 13: Gebrauch von Kommunikationsmedien durch die Befragten nach Staatsangehörigkeit
Die Präsenz von neuen Medien spiegelte sich auch in der Wahl von Informationsquellen über das weltliche Geschehen wieder. Der »Klassiker« Radio sowie das Fernsehen wurden zwar von allen Altersklassen in einer ähnlichen Frequenz genutzt. Online-Medien scheinen jedoch in den jüngeren Altersklassen zunehmend den regionalen Tageszeitungen im Mediengeschäft den Rang abzulaufen und weisen auf eine zukünftige Entwicklung hin. Die sogenannten »silver surfer«, also Personen der Altersgruppe 50+, die ihr Interesse auf digitale Medien umstellen, waren unter den Befragten in Mainz eher selten zu finden. Da innerhalb der Online-Medien nicht nur neue Kanäle entstanden sind, die Informationen zu beispielsweise Politik, Wirtschaft, Kultur, Umwelt und Gesellschaft bieten, sondern heutzutage nahezu alle konventionellen Print- und Fernsehmedien online einsehbar, dabei meist kostenfrei und über PCs, Tablets, Smartphones und andere mobile Technologien jederzeit abrufbar sind, passt sich der Alltag der Menschen der neuen Entwicklung an (siehe Abb. 14). Print- und TV-Medien waren nach unserer Studie die einzigen Kategorien, die eine Differenz zwischen ausländischen und deutschen Mainzern aufwiesen. Das Fernsehgerät wurde von ausländischen Mainzern häufiger benutzt als von Deutschen. Bei den regionalen und überregionalen Printmedien verhielt sich dies umgekehrt. Mit Abstand bezogen jedoch alle Mainzer den größten Teil ihrer Informationen über das Fernsehgerät (siehe Abb. 15). Auch hier zeigte sich, dass zwischen der Lebensphase und dem Informations-
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Abb. 14: Gebrauch von Informationsmedien durch die Befragten nach Altersklassen
Abb. 15: Gebrauch von Informationsmedien durch die Befragten nach Staatsangehörigkeit
verhalten ein stärkerer Zusammenhang besteht als zwischen den Merkmalen Deutscher bzw. Ausländer. Zu den Freizeitaktivitäten zählt bei der Nutzung von Medien insbesondere das Hören von Musik. Der Musikgeschmack bringt Individualität zum Ausdruck und spielt daher oft eine entscheidende Rolle bei der Bildung von Freundschaften oder ähnlichen Gemeinschaften. Nicht zuletzt finden
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Abb. 16: Musikgeschmack der Befragten nach Altersklassen
Jugendliche, aber auch Erwachsene in Musikszenen oder anderen sozialen Gruppen mit ähnlichen Präferenzen eine Möglichkeit, sich zu positionieren, sich an andere Menschen zu binden, die ähnliche Musik mögen, und sich von anderen abzugrenzen. Unter den Befragten bevorzugten jüngere Generationen populäre Musik, die in den Charts vertreten ist. Aber auch speziellere Genres wie HipHop und Rock bis Metal, sind Musikrichtungen, die ihnen wichtig waren, weil sie einen individuellen Stil und eine antibürgerliche Haltung ausdrücken (siehe Abb. 16). Klassische Musik und Operetten wurden dagegen meist von Personen höheren Alters gehört. Zu differenzieren ist hier weiterhin nach dem Bildungsgrad. Zu der Hörerschaft von Volksmusik und Schlager zählten Befragte, die einen geringen Bildungsstand haben, während Personen mit hoher Bildung Haupthörer von klassischer Musik und Operetten sind. Betrachtet man ergänzend die gleiche Fragestellung in Zusammenhang mit den Altersklassen unter dem Aspekt der Staatsangehörigkeit, zeigen sich nur auf den ersten Blick Unterschiede (siehe Abb. 17). Ausländer der jüngeren Generationen hörten neben der populären Musik mit hohem Anteil HipHop und Rap, während Deutsche der gleichen Altersgruppe neben populärer Musik auch Musik aus der Rock- und Metal-Bewegung bevorzugten. Klassische Musik ist bei allen deutschen und ausländischen Altersklassen vertreten, lediglich junge deutsche Mainzer hielten sich bei dieser Art von Musik zurück. Das Interesse an Schlagern und Volksmusik war unter der deutschen und ausländischen Generation der Ältesten gleich ausgeprägt. Insgesamt lässt sich festhalten, dass auch der Indikator Musikgeschmack keine
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Abb. 17: Musikgeschmack der Befragten nach Altersklassen und Staatsangehörigkeit
eindeutigen Unterschiede zwischen deutschen und ausländischen Mainzern ergab. Vielmehr ist anzunehmen, dass Musikgeschmack, Bildungsgrad und Lebensphase Auswirkung auf die Persönlichkeitsbildung, aber auch auf die Bildung von kollektiven Einheiten haben. Während sich die meisten Einstellungen der Befragten zu Werthaltungen und gesellschaftlichen Herausforderungen in Mainz in Bezug auf die Staatsangehörigkeit kaum voneinander unterschieden (z. B. Gleichberechtigung von Mann und Frau), zeigten sich in einer besonderen Hinsicht zwei Lager, deren Meinungen weit auseinander klafften (siehe Abb. 18). Bei der Frage nach der Zustimmung zu der Aussage »Gleichgeschlechtliche Ehen sollten in Deutschland gesetzlich erlaubt sein« stimmten vorwiegend mit jeweils über 60 % evangelische Personen und Personen ohne Konfession sowie Atheisten zu. Etwas weniger als 50 % der katholischen Befragten stimmen ebenfalls zu. Knapp über 50 % der Muslime und etwa 40 % anderer Konfessionen lehnten diese Aussage ab. Im Mittelfeld dieser fünf Abstufungen waren kaum Stimmen vertreten. Die Befragten positionierten sich beim Thema Homosexualität eindeutig. Dies lässt den Schluss zu, dass die Einstellungen einer kulturellen und konfessionellen Prägung entwachsen sind. Nationalität spielte als Differenzkriterium keine Rolle. Die ständige Präsenz des Themas in den Medien unterstützt dabei den Diskurs und die inhaltliche Auseinandersetzung zwischen Gegnern und Befürwortern und ist Anlass zur Bildung von Personengruppen mit gleichen Ansichten.
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Abb. 18: Zustimmung der Befragten zur gesetzlichen Erlaubnis für gleichgeschlechtliche Ehen nach Konfession
Fazit Die Stadt Mainz kann aufgrund des Anteils von 15 Prozent Ausländern unterschiedlichster Herkunft als Stadt mit vielen Kulturen über nahezu alle Stadtteile hinweg gelten. Die empirischen Studien zu Migration und zu Lebensstilen der Mainzer Bevölkerung belegen, dass nur geringe Unterschiede bei Aspekten der Lebensverwirklichung von Ausländern und Deutschen bestehen. Es kann nicht von einer erheblichen Differenz bei alltäglichen Praktiken und bei grundlegenden Lebenseinstellungen der beiden Merkmalsgruppen ausgegangen werden. Eine stärkere Aussagekraft in Zusammenhang mit der Vielfalt von Lebensstilen besitzt die Unterscheidung nach soziodemographischen Kriterien: Lebensphase, Alter, Geschlecht und Bildungsgrad sowie in abgeschwächter Form das Einkommen haben einen entscheidenderen Einfluss auf die Gestaltung des Alltags, die Bildung von Identität und die Persönlichkeit der Menschen. Die Art und Weise, wie Menschen ihr Leben führen, was sie bewegt und wie sie handeln, unterliegt einer Vielzahl an unterschiedlichen Faktoren, die hier nur auszugsweise in Ansätzen dargestellt werden konnte. Es ist festzuhalten, dass das Merkmal »Deutscher« bzw. »Ausländer« als Erklärungsfaktor bei der Wahl des Lebensstils nur von untergeordneter Bedeutung ist.
Anmerkungen zur Differenz von »Migration und Lebensstil« in der Stadt Mainz 165
Quellen und Literatur Landeshauptstadt Mainz: Bestandsaufnahme der aktuellen Lage der Menschen mit Migrationshintergrund in Mainz. Anlage 1 zum Handlungsplan »Migration und Integration in Mainz«, Mainz 2011. Landeshauptstadt Mainz: Statistische Informationen zur Stadtentwicklung 2012. Online im Internet: URL: http://www.mainz.de/C1256D6E003D3 E93/vwLookupImagesforLoad/Stat_Info_2012_Kapitel_1.pdf/$FILE/ Stat_Info_2012_Kapitel_1.pdf. Abrufdatum: 07.01.2013 otte, Gunnar: Die Erklärungskraft von Lebensstil- und klassischen Sozialstrukturkonzepten. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 51 (2011), S. 361–398. otte, Gunnar / JörG rössel: Lebensstile in der Soziologie. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 51 (2011), S. 7–34. sPellerBerG, anette: Lebensstile in Ost- und Westdeutschland. In: Getrennt vereint. Lebensverhältnisse in Deutschland seit der Wiedervereinigung (Soziale Indikatoren 18), hg. v. Wolfgang Glatzer u. Heinz-Herbert Noll, Frankfurt am Main u. New York 1995, S. 229–261. Statistisches Bundesamt: Personen mit Migrationshintergrund. URL: https:// www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/GesellschaftStaat/Bevoelkerung/ MigrationIntegration/Migrationshintergrund/Aktuell.html. Abrufdatum: 07.01.2013.
Die Autorinnen und Autoren
Katharina Alt M. A., geb. 1979 in Bonn-Duisdorf, von 2002 bis 2009 Studium der Geographie, Soziologie und Biologie an der Universität Koblenz-Landau und an der JGU Mainz, Forschungs- und Arbeitsschwerpunkte: Migration, Integration, Sozialstruktur- und Sozialraumanalysen. Bis 2016 wissenschaftliche Mitarbeiterin zuerst im Zentrum für Interkulturelle Studien (ZIS), dann am Geographischen Institut der JGU Mainz. Derzeit Arbeit an der Dissertation über die Vielfalt der Lebensstile in Mainz bei Prof. Dr. Anton Escher. Seit 2016 Referentin für Sozialforschung und Statistik der Ev. Landeskirche in Hessen und Nassau. Arno Braun, Studium von Vor- und Frühgeschichte, Klassischer Archäologie und Kunstgeschichte in Mainz von 2001 bis 2008. Bis 2014 u. a. Mitarbeiter im Rahmen zweier landschaftsarchäologischer Projekte im Umfeld des Oppidums von Bibracte (Bourgogne, F) und dem Hunnenring bei Otzenhausen (SL) am Institut für Altertumswissenschaften der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, die sich mit Prozessen spätkeltischer bis frührömischer Zeit beschäftigten. Seit 2015 Lehraufträge am obigen Institut. Promotion zur Siedlungsgeschichte des römischen Eisenberg / Pfalz seit 2009. Dr. Ute Engelen, geb. 1982 in Viersen (Niederrhein), Historikerin, 2011 deutsch-französische Promotion an der Universität Bielefeld und der Ecole des hautes études en sciences sociales Paris, seit 2012 wiss. Mitarbeiterin am Institut für Geschichtliche Landeskunde an der Universität Mainz, seit 2015 auch Leiterin des Stadthistorischen Museums Mainz, Schwerpunkte Wirtschaftsund Sozialgeschichte des 19./20. Jahrhunderts, Vergleichende Geschichte, räumlicher Fokus auf dem heutigen Rheinland-Pfalz. Univ.-Prof. Dr. Anton Escher, Professor für Kulturgeographie an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Geschäftsführender Leiter des Geographischen Instituts und Sprecher des Zentrums für Interkulturelle Studien (ZIS). Empirische Forschungen zur Entwicklung historischer Altstädte in der »Arabischen Welt« und zur Dynamik arabischer globaler Netzwerke. Arbeiten zur Raumkonstruktion in Spielfilmen und zur Wechselwirkung von Medien und Lebenswelt sowie zur Macht kultureller Phänomene im Zusammenhang mit Migration und Tourismus. Prof. Dr. Franz J. Felten, geb. 1946 in Weiten / Saar, nach Studium in Saarbrücken und Paris Arbeit als wiss. Mitarbeiter, Promotion und Referendariat in Saarbrücken, danach an der Freien Universität Berlin (Habilitation) sowie an den Universitäten Essen, Dresden und Halle / Saale tätig.
168 Die Autorinnen und Autoren Von 1997 bis 2011 Professor für mittelalterliche Geschichte in Mainz, von 2003 bis 2013 Leiter des Instituts für Geschichtliche Landeskunde. Forschungsinteressen: vor allem das frühe Mittelalter, die Geschichte der Kirche und der religiösen Bewegungen in sozial- und politikgeschichtlicher Perspektive; Mitglied mehrerer wissenschaftlicher Gesellschaften und Historischer Kommissionen. Prof. Dr. Marietta Horster, seit 2010 Professorin für Alte Geschichte an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Sie forscht zur Sozial- und Kulturgeschichte der römischen Kaiserzeit und zur Religionsgeschichte der griechischen Welt. Seit 2010 bildet einen Schwerpunkt ihrer Arbeit in Lehre und Forschung das römische Mainz und die Entwicklung der Region in Kaiserzeit und Spätantike. Prof. Dr. Gunther Nickel, geb. 1961 in Wiesbaden, Studium der Germanistik und Musik in Oldenburg, von 1994 bis 2002 wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Handschriftenabteilung des Deutschen Literaturarchivs Marbach, seitdem Lektor des Deutschen Literaturfonds in Darmstadt. Seit 2003 lehrt er Neuere deutsche Literaturgeschichte an der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz. Zahlreiche Publikationen zur deutschen Literatur, Herausgeber u. a. von Carl Zuckmayers »Geheimreport« (gemeinsam mit Johanna Schrön) und Zuckmayers »Deutschlandbericht für das amerikanische Kriegsministerium« (gemeinsam mit Johanna Schrön und Hans Wagener), der »Gesammelte Schriften« von Siegfried Jacobsohn (gemeinsam mit Alexander Weigel) sowie des Frühwerks von Peter Hacks. Dr. Christiane Reves, geb. 1972, seit 2016: German Department, School of International Cultures and Language, Arizona State University, Phoenix, Arizona, Dozententätigkeit an der Drew University, Madison, NJ und Nyack College, NY 2006–2010, 2014–2016; Forschungsaufenthalt am Center for Austrian and German Studies, Ben-Gurion-Universität, Beer-Sheva, Israel 2010– 2014; Promotion an der Ruprecht-Karls-Universität in Würzburg (2005), 1. Staatsexamen Johannes-Gutenberg-Universität Mainz, 1998. Sie forscht hauptsächlich zu den Themen Migration und Netzwerke und hat dazu zahlreiche Beiträge publiziert. Ihre Dissertation beschäftigte sich mit der Migration italienischer Händler ins Rhein-Main-Gebiet im 17. und 18. Jahrhundert. Dr. phil. Matthias Schmandt, geb. 1969, Studium der Geschichte, Germanistik und Pädagogik in Mainz und Trier (1989– 1995); Dissertation zur jüdischen Geschichte Kölns im Mittelalter (2000). Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Trier (1998–2000), Volontär in einer Kölner PR-Agentur (1997/98) und Freier Mitarbeiter in Museen in Frankfurt, Köln und London (1994–2000). Seit 2000 Leiter des Museums am Strom mit Stadtarchiv und seit 2010 auch des Kulturamts der Stadt Bingen. Publikationen zur rheinischen Kultur-, Stadt- und jüdischen Geschichte.
Bildnachweis Beitrag Horster / Braun: Abb. 1, 2, 3, 4, 7, 9 Helmut Bernhard: Der römische Vicus von Eisenberg. Zentrum römischer Eisenverarbeitung in der Nordpfalz, Rahden 2007, S. 23, Abb. 18; S. 118, Abb. 128; S. 49, Abb. 45; S. 54, Abb. 52; S. 158, Abb. 186; S. 164, Abb. 193 Abb. 5 Arno Braun auf Basis Karte von H. Bernhard: Der römische Vicus von Eisenberg. Zentrum römischer Eisenverarbeitung in der Nordpfalz, Rahden 2007, S. 23, Abb. 18 Abb. 6, 10 H. Bernhard: Die spätrömischen Burgi von Bad Dürkheim-Ungstein und Eisenberg: eine Untersuchung zum spätantiken Siedlungswesen in ausgewählten Teilgebieten der Pfalz. In: Saalburg Jahrbuch XXXVII (1981), S. 42, Abb. 27, 5; S. 83, Abb. 65 Abb. 8 Michaela Geiberger (Red.): Imperium Romanum. Römer, Christen, Alamannen – die Spätantike am Oberrhein, Stuttgart 2005, S. 132, Abb. 21 Abb. 11 Frans Theuws: Grave Goods, Ethnicity, and the Rhetoric of Burial Rites in Late Antique Northern Gaul. In: Ethnic Constructs in Antiquity. The Role of Power and Tradition (Amsterdam Archaeological Studies 13), ed. by T. Derks and N. Roymans, Amsterdam 2009, S. 310, fig. 8 Abb. 12 Alfried Wieczorek (Hrsg.): Die Franken – Wegbereiter Europas. Vor 1500 Jahren: König Chlodwig und seine Erben, Mannheim 1996, 2 Bände, S. 834, Abb. 9 Abb. 13 Wilfried Menghin (Hrsg.): Menschen, Zeiten, Räume: Archäologie in Deutschland, Stuttgart 2002, S. 300, Abb. 15 Abb. 14 @ Cartoon Stock für rron 1541, Order No. 148953 Beitrag Schmandt: Abb. 1 und 2 Alfred Haverkamp (Hg.): Geschichte der Juden im Mittelalter von den Nordsee bis zu den Südalpen. Kommentiertes Kartenwerk, 3 Bde (Forschungen zur Geschichte der Juden, A 14), Hannover 2002, Karte A 4.1 und A 4.5 Beitrag Nickel: Abb. 1 G. Nickel (Foto von Lotte Jacobi 1924/25) Abb. 2 u. 3 G. Nickel Beitrag Reves: S. 98, 112 Christiane Reves S. 99, 107, 113 Wikimedia Commons, gemeinfrei Beitrag Engelen: Abb. 1 H. Gerigk 1993 Abb. 2, 3 StA Mainz, BPS (Fotos: Klaus Benz) Abb. 4, 5, 6 StA Ludwigshafen Abb. 7 Schott Werkzeitschrift; Kappler/Steiner 2009, S. 144; Olbert / Eggers 1977, S. 156 Abb. 8 Schott intern 3/1974, S. 13 Abb. 9, 10 S. Becker 2011, S. 288 Beitrag Alt / Escher: Grafik 1 u. 2 Quelle Stadt Mainz 2010/Entwurf Florian Brunn alle anderen Grafiken: Entwurf Katharina Alt
m a i n z e r vo rt r äg e Herausgegeben vom Institut für Geschichtliche Landeskunde an der Universität Mainz e.V. Die Mainzer Vorträge des Instituts für Geschichtliche Landeskunde an der Johannes GutenbergUniversität Mainz e.V. verfolgen das Ziel, wichtige historische Themen und Ergebnisse der Forschung einem breiten, historisch interessierten Publikum zu präsentieren. Dank der seit Jahren vorzüglichen Kooperation mit der Akademie des Bistums Mainz – Erbacher Hof steht dafür mit dem Haus am Dom ein idealer Veranstaltungsort im Herzen der Stadt zur Verfügung. So trägt die jeweils im Januar/Februar veranstaltete Vortragsreihe ebenso wie die Präsentation der neuen Bände der wissenschaftlichen Reihe Geschichtliche Landeskunde im Rathaus und an anderen Orten dazu bei, die Verbindung zwischen der Universität und der Stadt zu vertiefen. Die Vortragsreihe steht jeweils unter einem Generalthema, das von Fachleuten vorwiegend, aber nicht ausschließlich mit regionalgeschichtlichem Bezug in verschiedenen historischen Epochen behandelt wird. Die wachsenden Zuhörerzahlen bestätigen, dass das Konzept angenommen wird. Die Drucklegung in einer preiswerten Reihe will vor allem den Hörerinnen und Hörern die Gelegenheit geben, den flüchtigen Eindruck des Vortrags zu vertiefen bzw. versäumte Vorträge nachzulesen. Die einzelnen Bände werden allen Mitgliedern des Instituts für Geschichtliche Landeskunde e.V. auf Anforderung als Jahresgabe überreicht. Die Vorträge wie die Publikation wenden sich also nicht primär an die Fachwissenschaftler, die gleichwohl willkommen sind (und in erfreulicher Zahl erscheinen). Die gedruckte Vortragsfassung bietet in der Regel weiterführende Literaturhinweise, aber nur ausnahmsweise Fußnoten und Register. Wenn die Mainzer Vorträge trotzdem wissenschaftlich anregend wirken, so ist das ein willkommener Nebeneffekt.
Franz Steiner Verlag
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ISSN 0949–4596
Michael Matheus (Hg.) Juden in Deutschland 1995. 144 S. mit 20 Abb. und 3 Ktn., kt. ISBN 978-3-515-06788-1 Michael Matheus (Hg.) Regionen und Föderalismus 50 Jahre Rheinland-Pfalz 1997. 120 S. mit 2 Abb. und 3 Ktn. (davon 1 fbg.), kt. ISBN 978-3-515-06879-6 Michael Matheus (Hg.) Fastnacht / Karneval im europäischen Vergleich 1999. 199 S. mit 42 Abb., 6 Tab. und 4 Diagr., kt. ISBN 978-3-515-07261-8 Michael Matheus (Hg.) Pilger und Wallfahrtsstätten in Mittelalter und Neuzeit 1999. 135 S. mit 33 Abb., kt. ISBN 978-3-515-07431-5
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Michael Matheus (Hg.) Badeorte und Bäderreisen in Antike, Mittelalter und Neuzeit 2001. 131 S., kt. ISBN 978-3-515-07727-9 Sigrid Schmitt (Hg.) Frauen und Kirche 2002. 138 S. mit 10 Abb., kt. ISBN 978-3-515-08060-6 Michael Matheus (Hg.) Stadt und Wehrbau im Mittelrheingebiet 2003. 132 S. mit 49 Abb., kt. ISBN 978-3-515-08228-0 Sigrid Schmitt / Michael Matheus (Hg.) Kriminalität und Gesellschaft in Spätmittelalter und Neuzeit 2005. 137 S. mit 14 Abb., 3 Tab. und 1 fbg. Faltkte., kt. ISBN 978-3-515-08281-5
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Franz J. Felten (Hg.) Bonifatius – Apostel der Deutschen Mission und Christianisierung vom 8. bis ins 20. Jahrhundert 2004. 159 S. mit 9 Abb., kt. ISBN 978-3-515-08519-9 10. Michael Matheus (Hg.) Lebenswelten Johannes Gutenbergs 2005. 216 S. mit 23 Abb., kt. ISBN 978-3-515-07728-6 11. Franz J. Felten (Hg.) Städtebünde – Städtetage im Wandel der Geschichte 2006. 121 S. mit 9 Abb., kt. ISBN 978-3-515-08703-2 12. Franz J. Felten (Hg.) Mainzer (Erz-)Bischöfe in ihrer Zeit 2008. 169 S. mit 19 Abb., kt. ISBN 978-3-515-08896-1 13. Franz J. Felten (Hg.) Frankreich am Rhein Vom Mittelalter bis heute 2009. 236 S. mit 43 Abb., kt. ISBN 978-3-515-09327-9 14. Franz J. Felten (Hg.) Wirtschaft an Rhein und Mosel
Von den Römern bis ins 19. Jahrhundert 2010. 114 S. mit 16 Abb., kt. ISBN 978-3-515-09820-5 15. Franz J. Felten (Hg.) Befestigungen und Burgen am Rhein 2011. 171 S. mit 55 Abb., Graph. u. Ktn., kt. ISBN 978-3-515-10072-4 16. Franz J. Felten (Hg.) Städte an Mosel und Rhein von der Antike bis nach 1945 2013. 143 S. mit 33 Abb., kt. ISBN 978-3-515-10456-2 17. Franz J. Felten (Hg.) Preußen und Bayern am Rhein 2014. 165 S. mit 25 Abb., kt. ISBN 978-3-515-10774-7 18. Franz J. Felten (Hg.) Mittelalterliche Kaufhäuser im europäischen Vergleich 2015. 157 S. mit 77 Abb., kt. ISBN 978-3-515-10983-3 19. Franz Josef Felten (Hg.) Erinnerungsorte in Rheinland-Pfalz 2015. 128 S. mit 30 Abb., kt. ISBN 978-3-515-11200-0
Ute Engelen / Michael Matheus (Hg.)
Regionale Produzenten oder Global Player? Zur Internationalisierung der Wirtschaft im 19. und 20. Jahrhundert
geschichtliche lanDeskunDe – banD 74 Die herausgeber Ute Engelen ist seit 2012 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Geschichtliche Landeskunde an der Universität Mainz (IGL) und leitet seit 2015 auch das Stadthistorische Museum Mainz. Michael Matheus war von 1994 bis 2003 und ist seit 2012 wieder Professor für Mittlere/ Neuere und Vergleichende Landesgeschichte an der Universität Mainz sowie Leiter des Arbeitsbereichs III. Von 1994 bis 2003 und seit 2013 ist er erster Vorsitzender und Direktor des IGL. Von 2002 bis 2012 leitete er als Direktor das DHI Rom.
2018 143 Seiten mit 9 Farbund 23 s/w-Fotos sowie 14 Farb- und 8 s/w-Abbildungen 978-3-515-11916-0 geb.
Der bislang wenig erforschten Wirtschaftsgeschichte des rheinland-pfälzischen Raums widmen sich die Autorinnen und Autoren dieses Bandes. Im Fokus steht die Internationalisierung von Industrieunternehmen im 19. und 20. Jahrhundert: Inwiefern sind die allgemein zu beobachtenden wirtschaftlichen Wellenbewegungen, wie eine De-Globalisierung ab 1914, auch in den Betrieben des heutigen Rheinland-Pfalz nachzuweisen? Um das herauszufinden, werden Unternehmen aus den Bereichen Keramik (Blumentopffabrik Spang/RichardGinori), Glas (SCHOTT/Saint-Gobain), Schaumwein (Kupferberg/Moët & Chandon), Chemie (Werner & Mertz/ niederrheinische Chemiehersteller) sowie Leder (Cornelius Heyl/Freudenberg) untersucht und mit anderen Regionen und Ländern verglichen. Von besonderem Interesse sind dabei der Export von Produkten, der Aufbau von Handelsund Produktionsfilialen im Ausland sowie zum Teil der Einsatz ausländischer Arbeitnehmer. Der Band leistet damit nicht nur einen Beitrag zur rheinland-pfälzischen, sondern auch zur internationalen Wirtschaftsgeschichte. mit beiträgen von Ute Engelen & Michael Matheus, Bärbel Bollinger-Spang, Cinzia Capalbo & Pia Toscano, Jürgen Steiner, Jean-Pierre Daviet, Matthias Dietz-Lenssen, Yves Tesson, Ute Engelen, Stefanie van de Kerkhof, Gerold Bönnen, Michael Horchler
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Der in Nackenheim (Rheinhessen) geborene Schriftsteller Carl Zuckmayer prägte in seinem Werk Des Teufels General die Metapher von der Völkermühle Europas. Die General Harras, der Hauptfigur in diesem Stück, in den Mund gelegten Äußerungen rufen jene Personen, Gruppen und Völker in Erinnerung, welche entlang der Flussachsen von Rhein und Mosel im Laufe der Jahrhunderte siedelten und die dortige Kultur mit prägten: römische Soldaten und Händler, fränkische Adelige, jüdische Gelehrte, italienische Pomeranzenhändler und Künstler, französische Offiziere und Architekten, italienische Pizzabäcker, türkische und portugiesische Fabrikarbeiter und Ge-
müsehändler, polnische Erntearbeiter. Zuckmayers Metapher suggeriert eine besondere Intensität von Migrationen im rheinisch-moselländischen Raum, welche durch unterschiedliche kriegerische, religiöse, politische, soziale und wirtschaftliche Faktoren ausgelöst wurden und werden. In diesem Band geht es nicht nur um die jeweiligen Migrationsabläufe und die mit ihnen einhergehenden kulturellen Prägungen. Auch die Deutungsprozesse und ethnischen Zuschreibungen werden thematisiert – die zeitgenössischen ebenso wie die später entstandenen.
www.steiner-verlag.de Franz Steiner Verlag Mainzer Vorträge Herausgegeben vom Institut für Geschichtliche Landeskunde an der Universität Mainz e.V.
ISBN 978-3-515-11943-6
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7835 1 5 1 1 9436