Visuelle Kulturen der USA: Zur Geschichte von Malerei, Fotografie, Film, Fernsehen und Neuen Medien in Amerika [1. Aufl.] 9783839410431

Die USA sind ein Land der Bilder und visuellen Symbole. Western-Landschaft, Weißes Haus, Wolkenkratzer - nationale Ikono

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German Pages 368 Year 2015

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Einleitung
1. DIE AMERIKANISCHE MALEREI ZWISCHEN 1670 UND 1980 (BETTINA FRIEDL)
1.1 Einleitung
1.2 Die Porträtmalerei des 17. und 18. Jahrhunderts
1.3 Die Entdeckung der Landschaft im 19. Jahrhundert
1.4 Der amerikanische Westen als Sujet
1.5 Realismus des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts
1.6 Beginn der Moderne
1.7 Präzisionismus, Regionalismus und »American Scene«-Malerei
1.8 New York School: Abstrakter Expressionismus und Farbfeldmalerei
1.9 Die Wiederentdeckung des Gege nstands: Pop Art und Fotorealismus
2. DIE AMERIKANISCHE FOTOGRAFIE (ASTRID BÖGER)
2.1 Einleitung
2.2 Die Anfänge der Fotografie in Amerika: 1839-1860
2.3 Fotografie als Kunst oder Technik: 1860-1900
2.4 Fotografie und Gesellschaft: 1900-1970
2.5 Fotografie als subjektives Medium: 1970-2000
2.6 Digitale Fotografie: 2000-heute
3. DER AMERIKANISCHE FILM (CHRISTOF DECKER)
3.1 Einleitung
3.2 Früher Film: eine neue demokratische Kunst, 1890er Jahre-1918
3.3 Studiosystem und ›goldenes Zeitalter‹: 1918-1941
3.4 Kriegsschauplätze und Medienumbruch: 1941-1960
3.5 Das ›doppelte‹ New Hollywood Cinema: 1960-1985
3.6 Pluralisierung und postklassisches Kino: 1985-heute
4. DAS AMERIKANISCHE FERNSEHEN (RALPH J. POOLE)
4.1 Einleitung: Über das Fernsehen sprechen
4.2 »Birth of an Industry« oder »False Dawn«? 1928-1947
4.3 Television Boom und Golden Age: Diversifizierung, Distribuierung, Professionalisierung, 1948-1963
4.4 Herrschaft der Networks und Konsensus-TV: 1964-1975
4.5 Neuerfindung: Glamour, Videoästhetik, Publikumserweiterung, 1976-1994
4.6 Das Ende von TV? Experiment und Nostalgie: 1995-heute
5. DIE AMERIKANISCHEN DIGITALEN MEDIEN: CYBERTHEORIEN UND COMPUTERSPIELE (RANDI GUNZENHÄUSER)
5.1 Einleitung: Von Hypertexten zu Cybermedien
5.2 Konzepte digitaler Medien
5.3 Zur Geschichte der US-amerikanischen Computerspiele: 1950er Jahre-1999
5.4 Spielästhetik im Detail: 2000-heute
Index
Autorinnen und Autoren
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Visuelle Kulturen der USA: Zur Geschichte von Malerei, Fotografie, Film, Fernsehen und Neuen Medien in Amerika [1. Aufl.]
 9783839410431

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Christof Decker (Hg.) Visuelle Kulturen der USA

Christof Decker (Hg.) Visuelle Kulturen der USA. Zur Geschichte von Malerei, Fotografie, Film, Fernsehen und Neuen Medien in Amerika

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2010 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Christof Decker Lektorat & Satz: Christof Decker Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1043-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Vorwort ......................................................................................................

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Einleitung ..................................................................................................

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1. DIE AMERIKANISCHE MALEREI ZWISCHEN 1670 UND 1980 (BETTINA FRIEDL) 1.1 Einleitung ................................................................................................. 1.2 Die Porträtmalerei des 17. und 18. Jahrhunderts ........................................ 1.3 Die Entdeckung der Landschaft im 19. Jahrhundert ................................... 1.4 Der amerikanische Westen als Sujet .......................................................... 1.5 Realismus des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts ............................... 1.6 Beginn der Moderne .................................................................................. 1.7 Präzisionismus, Regionalismus und »American Scene«-Malerei ................ 1.8 New York School: Abstrakter Expressionismus und Farbfeldmalerei ......... 1.9 Die Wiederentdeckung des Gegenstands: Pop Art und Fotorealismus ........

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2. DIE AMERIKANISCHE FOTOGRAFIE (ASTRID BÖGER) 2.1 Einleitung ................................................................................................. 2.2 Die Anfänge der Fotografie in Amerika: 1839-1860 .................................. 2.3 Fotografie als Kunst oder Technik: 1860-1900 .......................................... 2.4 Fotografie und Gesellschaft: 1900-1970 .................................................... 2.5 Fotografie als subjektives Medium: 1970-2000 ......................................... 2.6 Digitale Fotografie: 2000-heute .................................................................

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3. DER AMERIKANISCHE FILM (CHRISTOF DECKER) 3.1 Einleitung ................................................................................................. 3.2 Früher Film: eine neue demokratische Kunst, 1890er Jahre-1918 .............. 3.3 Studiosystem und ›goldenes Zeitalter‹: 1918-1941 .................................... 3.4 Kriegsschauplätze und Medienumbruch: 1941-1960 .................................. 3.5 Das ›doppelte‹ New Hollywood Cinema: 1960-1985 ................................. 3.6 Pluralisierung und postklassisches Kino: 1985-heute .................................

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4. DAS AMERIKANISCHE FERNSEHEN (RALPH J. POOLE) 4.1 Einleitung: Über das Fernsehen sprechen .................................................. 4.2 »Birth of an Industry« oder »False Dawn«? 1928-1947 ............................. 4.3 Television Boom und Golden Age: Diversifizierung, Distribuierung, Professionalisierung, 1948-1963 ............................................................... 4.4 Herrschaft der Networks und Konsensus-TV: 1964-1975 .......................... 4.5 Neuerfindung: Glamour, Videoästhetik, Publikumserweiterung, 1976-1994 ............................................................ 4.6 Das Ende von TV? Experiment und Nostalgie: 1995-heute ........................

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5. DIE AMERIKANISCHEN DIGITALEN MEDIEN: CYBERTHEORIEN UND COMPUTERSPIELE (RANDI GUNZENHÄUSER) 5.1 Einleitung: Von Hypertexten zu Cybermedien ........................................... 5.2 Konzepte digitaler Medien ........................................................................ 5.3 Zur Geschichte der US-amerikanischen Computerspiele: 1950er Jahre-1999 ..................................................................................... 5.4 Spielästhetik im Detail: 2000-heute ...........................................................

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Index ........................................................................................................... 359 Autorinnen und Autoren ...................................................................... 363

Vorwort CHRISTOF DECKER

Vor drei Jahren entstand die Idee zu diesem Buch, nachdem sich in meinen Seminaren, aber auch in interdisziplinären Zusammenhängen immer wieder gezeigt hatte, dass eine zusammenführende Darstellung unterschiedlicher Medien und Kunstbereiche hilfreich sein könnte. Mit Kolleginnen und Kollegen, die ich für das Projekt gewinnen konnte, konstituierte sich eine Arbeitsgruppe, die in zahlreichen Treffen die grundsätzliche Herangehensweise sowie die Grundzüge der Kapitel abstimmte. Mein besonderer Dank geht daher zunächst an Astrid Böger, Bettina Friedl, Randi Gunzenhäuser und Ralph J. Poole, die trotz großer beruflicher oder persönlicher Herausforderungen am Zustandekommen dieses Buchs entscheidend mitgewirkt haben. Der Stiftung Lautrach danke ich für einen finanziellen Beitrag zu den Druckkosten. Die Zusammenarbeit mit Gero Wierichs und Johanna Tönsing vom transcript Verlag war in jeder Hinsicht produktiv und professionell. Besondere Unterstützung erhielt ich in kritischen Phasen durch Julika Griem und Klaus Benesch, denen ich dafür herzlich danken möchte. Schließlich geht mein ganz spezieller Dank an Dorothee Lossin.

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Einleitung CHRISTOF DECKER

Die kulturelle Bedeutung von Visualität hat in den letzten drei Jahrzehnten mit der Diskussion über den pictorial oder visual turn eine zunehmende Berücksichtigung gefunden. In den Visual Culture Studies, den Medien- und Bildwissenschaften, aber auch in regional ausgerichteten Fächern wie den Nordamerikastudien findet sich mittlerweile eine erstaunliche Vielfalt an theoretischen und historischen Fragestellungen. Sie reichen von Bildbegriffen und Medienkonzepten bis zur Reflexion über Sichtbarkeit, Schaulust oder das Verhältnis von Bild, Schrift und Ton. Mit der rapiden Industrialisierung im 19. Jahrhundert entwickelt gerade die amerikanische Kultur auf unterschiedlichen Gebieten weltweit einflussreiche Formen und Ästhetiken der visuellen Kultur: in den arbeitsteiligen Hollywood-Studios, der Skyscraper-Architektur, beim Aufstieg New Yorks zur Kunstmetropole des 20. Jahrhunderts, in großformatigen Magazinen, der Berichterstattung von CNN oder bei der Programmierung von Computer-Software. Visuelle Kulturen gehören zur politischen Rhetorik der amerikanischen Geschichte ebenso wie zur spektakulären Landschaft oder zu einer kommerziellen Populärkultur, die seit den ersten Dekaden des Kinos über nationale Grenzen hinweg stilbildend geworden ist. Mit der Dominanz amerikanischer Internetunternehmen scheint sich einmal mehr zu bestätigen, dass technologischer Fortschritt und visuelle Kommunikationsformen in besonders avancierter Ausprägung innerhalb der amerikanischen Kultur entstehen konnten. Die einfache Bedienbarkeit der technischen Mittel, ihre Verankerung im Alltag der Menschen sowie eine geschäftstüchtige Vermarktung des Neuen sind Kennzeichen dieser Entwicklung, wie eine Eastman-Kodak-Werbung bereits 1922 verspricht: »It’s all easy the Kodak way. Pleasure from the start – and good pictures«. Viele Beispiele belegen demnach, dass ›visuelle Kulturen‹ in der amerikanischen Gesellschaft und Kulturgeschichte eine herausragende Rolle spielen. In Europa hat man sie häufig als Ausdruck einer ambivalenten, wenn nicht bedrohlichen Amerikanisierung interpretiert. Diese polarisierende Wahrnehmung, die Amerika das Moderne und Neue zuspricht und Europa mit dem Bewährten, Kulturschaffenden assoziiert, ist mittlerweile jedoch primär von historischem Interesse. Die ökonomischen und informationstechnologischen Bedingungen der Globalisierung machen die Vorstellung einer in sich abgeschlossenen nationalen Kultur mehr denn je zu einem fiktiven Konstrukt, das den realen Gegebenheiten nicht entspricht. Viele Menschen haben ein ›Bild‹ der USA, das aus Fotografien, Fernsehserien, Gemälden

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oder Hollywood-Filmen zusammengesetzt ist und sich zu einem mehr oder weniger komplexen, aber regional sehr unterschiedlichen Ganzen fügen kann. Die systematische Erschließung dieser ›visuellen Kulturen‹ ist jedoch weit weniger ausgeprägt, als es die Bedeutung solch imaginärer Bilder nahelegen würde. Die Kunstgeschichte hat sich mit der amerikanischen Malerei vor Edward Hopper und jenseits des Abstrakten Expressionismus oder der Pop Art fast überhaupt nicht beschäftigt. Hier herrschte – übrigens auch von amerikanischer Seite – häufig das traditionelle Verständnis einer kulturellen Rückständigkeit, das der amerikanischen Malerei Originalität absprach oder sie überwiegend als epigonal verstand. Die Fotografie wurde im Gegensatz dazu zwar als ein genuin amerikanisches Medium angesehen, aber auch hier hat man die Vielfalt ihrer spezifischen Entstehungsbedingungen und Nutzungsweisen zu wenig beachtet. Die Forschung zum amerikanischen Film stand lange unter dem Vorbehalt, dass er als exemplarische ›Kulturindustrie‹ nicht an den künstlerischen Anspruch des europäischen oder asiatischen Autorenfilms heranreichen könnte. Erst ab den 1980er Jahren findet eine zaghafte Aufwertung des Hollywood-Kinos statt. Mittlerweile hat sich seine Erforschung fest etabliert und ist in vielerlei Hinsicht modellhaft geworden. Etwas Ähnliches scheint sich für das Fernsehen anzudeuten, das mit Begriffen wie quality television sein kulturelles Stigma ästhetischer Wertlosigkeit verliert, sowie für den Bereich der Neuen Medien, zu dem alle computergestützten Formen von Kommunikation gehören. In ökonomischer Hinsicht, aber auch durch Diskussionen zu ihrem Potential der ›Immersion‹ haben Computerspiele den Makel der geistlosen Unterhaltung abgelegt. Trotz dieser Ausweitung und Professionalisierung des Interesses an den ›visuellen Kulturen‹ der USA besteht nach wie vor sowohl in historischer als auch theoretisch-konzeptioneller Hinsicht ein großer Nachholbedarf, zu dem die vorliegende Publikation einen wesentlichen Beitrag leisten will. Sie führt erstmalig die fünf Bereiche von Malerei, Fotografie, Film, Fernsehen und Neuen Medien zusammen, um einerseits ihre je spezifischen Technologien, Techniken, Sujets, Stile, Institutionen und Wirkungsgeschichten zu entwickeln, sie andererseits aber auch als multimediales Ensemble zu verstehen, in dem es vielfältige Überlagerungen, Wechselwirkungen oder Konkurrenzen gegeben hat. Dabei wählt sie eine transnationale Perspektive, die Kulturentwicklung als Dialektik aus lokaler Eigenart und grenzüberschreitendem, globalem Austausch versteht. Eine Leitfrage in diesem Buch ist demnach, ob die amerikanischen visuellen Kulturen durch etwas Spezifisches gekennzeichnet sind, und wie sie diese Spezifik im ständigen Austausch mit anderen (›äußeren‹) Kulturen sowie mit den mannigfaltigen Ethnien in der Binnenstruktur der multikulturellen amerikanischen Gesellschaft entwickeln konnten. Das Verständnis von ›visueller Kultur‹ folgt in der vorliegenden Publikation damit der grundsätzlichen Annahme, dass ein kultureller Raum im Sinn der area studies möglichst umfassend beschrieben werden muss, wenn er in all seinen künstlerisch-ästhetischen und erzählerischen Facetten erschlossen werden soll. Visualität in ihren populären, marginalen oder avantgardistischen Spielarten ist inhärenter Bestandteil von Kultur. Allerdings hat die theoretische Diskussion der letzten 30 Jahre zahlreiche Aspekte aufgezeigt, die über diese mittlerweile selbstverständlich erscheinende Prämisse hinausgehen und in den folgenden Kapiteln zur Sprache kommen werden. So ist es zwar häufig möglich, den Begriff des Visuellen an einzelnen Medien zu entwi10

Einleitung

ckeln, aber es fehlt ein übergreifendes Konzept der visuellen Repräsentation, das unabhängig von den jeweiligen technologischen Bedingungen gilt und eine vergleichende Betrachtung erlauben würde. Mit ›visueller Kultur‹ ist daher zunächst ein Oberbegriff benannt, den es weiter auszudifferenzieren gilt. Nicht nur unterscheiden sich die jeweiligen Bildbegriffe, also die Frage, wie sich Visualität konstituiert und was im jeweiligen Medium als diskrete Einheit – als Bild – verstanden wird. Auch die relationalen Bezüge, in denen Bilder stehen und aus denen sie ihre kulturelle Aussagekraft gewinnen, divergieren in den folgenden Kapiteln. Ist für Malerei und Fotografie ihre Bildhaftigkeit zentral, so kommt für Film und Fernsehen neben der temporalen sowie räumlichen Montage von Bildern auch das Verhältnis von Bild, Ton, Musik oder Geräuschen hinzu. Mit den sogenannten Neuen Medien, also der Zusammenführung von Darstellungstraditionen im Computer, potenzieren sich die Relationierungsmöglichkeiten weiter, sodass herkömmliche Bildbegriffe häufig nicht mehr adäquat erscheinen. Darüber hinaus trifft für die Rezeptions- und Lektürestrategien von Bildern zu, was auf der Ebene des Bild›Zeichens‹ gilt: Sie sind so heterogen, dass die Rede von visuellen Kulturen unvermeidlich ist. Der vorliegende Band propagiert demnach hinsichtlich des Konzepts von Visualität keine einheitliche Theorie, sondern bezieht konzeptionelle Anregungen aus unterschiedlichen Feldern wie der Kunstgeschichte, der Bildwissenschaft, den Television und Game Studies, der Filmwissenschaft oder den Cultural Studies. Die folgenden Kapitel gehen jedoch davon aus, dass für jeden ihrer Bereiche zwei grundsätzliche und zunächst primär historisch ausgerichtete Fragen gestellt werden können: zum einen, welche eigenständigen, medienspezifischen Ausdruckspotentiale sie aufweisen, und zum anderen, welche konkrete kulturelle ›Arbeit‹ sie verrichten bzw. welche kulturellen Funktionen (audio-)visuelle Medien erfüllen. Die Ausdruckspotentiale sollen dabei über Stil- und Formgeschichten erschlossen werden, die auf das Engste mit der jeweiligen Technologieentwicklung sowie den Nutzungsweisen von Technologien verbunden sind. Hinsichtlich der kulturellen Funktionen von Bildern weisen die Kapitel hingegen in vielen Fällen gemeinsame historische Spannungsfelder auf, die im Folgenden vertieft werden: • das Verhältnis der amerikanischen zur europäischen Kunst – ihr Status als provinziell und rückständig, aber nach Moderne und Postmoderne auch als avantgardistisch und stilprägend; • die herausragende Bedeutung von Landschaften oder Regionen (wie dem Westen) und die besondere Wirkungsmacht des Raums sowie der Natur; • die Faszination der amerikanischen Kultur an Technologien der Bilderzeugung und ihre rapide Nutzung als Mittel der Kommunikation und landesweiten Vernetzung; • die globale Bedeutung der amerikanischen Populärkultur als Vorbild, aber auch als Gegenbild; • die Ausdehnung amerikanischer Medienunternehmen als Teilaspekt eines hegemonialen Expansionsstrebens; • die Repräsentation von Ethnizität und die Problematisierung nationaler Identität in einer multikulturellen Gesellschaft; • die Wahrnehmung der Hautfarbe als visuell markierte color line; • die Definition von Geschlechtlichkeit über Blickverhältnisse und visuelle Konstruktionen von Weiblichkeit oder Männlichkeit; 11

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die zentrale Bedeutung von Bildern für die Konstitution einer gemeinsamen Geschichte und politischen Kultur, aber auch zur Schaffung von Mythen und Ideologien; die Suche nach Darstellungstraditionen, die als genuin ›amerikanisch‹ gelten können; die Widersprüche von avancierter Kunst und kommerzieller Vermarktung; die Suche nach einer Ästhetik des Subjektiven und Privaten, insbesondere die Rolle des Porträts für eine Kultur des Individualismus; die zunehmende Attraktion des Spiels als Form medialer Interaktion; die Bedeutung von Bildern als Archiv und Forum kollektiver Erinnerung; die Suche nach Formen von Visualität, die einem demokratischen Selbstverständnis gerecht werden können.

In seiner Grundstruktur ist das Buch diachron angelegt – es deckt die Zeitspanne vom 17. bis in das 21. Jahrhundert ab. Malerei, Fotografie, Film, Fernsehen und Neue Medien werden in eigenständigen Kapiteln behandelt, doch es wird vorausgesetzt, dass zwischen diesen Medien und Kunstformen beständige Wechselwirkungen oder Übergänge bestehen (im laufenden Text sind diese Querbezüge in Klammern markiert). Der Schwerpunkt liegt auf der US-amerikanischen Kultur, im Sinn der New American Studies ist das Buch jedoch auch kulturvergleichend ausgerichtet. Bekanntlich ist die Kategorie ›Amerika‹ in den Amerikastudien der letzten 20 Jahre grundsätzlich hinterfragt worden. Als Bezeichnung für die USA scheint sie implizit einem hegemonialen Expansionsdenken sowie einer historischen Erfahrung der Überwältigung und Aneignung von Territorium Vorschub zu leisten. Dies hat zu einer transnationalen (Neu-)Ausrichtung der Amerikastudien geführt, die stärker auf kulturelle Kontaktzonen, Grenzdiskurse, Überschreitungen und Prozesse der Hybridisierung abhebt als auf die Kohärenz eines nationalen Selbstverständnisses. Aus vielen postnationalen und postkolonialen Perspektiven gibt es daher gute Gründe, die Kategorie ›Amerika‹ aufzugeben. Wenn in diesem Buch dennoch daran festgehalten wird, dann mit zwei Vorannahmen: Sie ist ein relationales Konstrukt, dessen historische Wandlungsfähigkeit es zu betonen gilt, und sie ist als Vorstellung einer nationalen Kultur noch immer eine wirkungsmächtige Fiktion. Mit anderen Worten, auch wenn das Streben nach einer postnationalen oder gegenhegemonialen Perspektive prinzipiell begrüßenswert ist, muss das Narrativ des Nationalen, das den Namen ›amerikanisch‹ trägt, nicht nur kulturell, sondern vor allem politisch, ökonomisch sowie militärisch als Machtformation begriffen werden, die es nach wie vor auch auf der Ebene und im Sinn ihrer Selbstbeschreibung zu thematisieren gilt. Für eine gebündelte Darstellung der visuellen Kulturen war dabei eine gewisse Selektivität unerlässlich. Die historischen Gewichtungen, die daraus resultieren, berücksichtigen als kulturgeschichtlichen ›roten Faden‹ die Entwicklung Nordamerikas als multiethnische und multikulturelle Region, die Selbstdefinition als demokratische Kultur sowie die Industrialisierung und Rationalisierung der Kulturproduktion. Zudem orientieren sie sich an jenen Werken und Produktionen, die als herausragend oder kulturell besonders einflussreich – als kanonisch – gelten. Einige Bereiche sind daher zukünftigen Publikationen vorbehalten: Zur Video- oder Installationskunst müssen kurso12

Einleitung

rische Verweise genügen; das Internet mit seinen vielfältigen, aber sich rapide verändernden (und in den Zwischenstufen kaum rekonstruierbaren) Formen von Visualität wird ebenfalls nur punktuell vertieft. Schließlich wurde der Komplex der graphic novels und der literarischen Evokationen von Sichtbarkeit, z. B. im Sinn der Ekphrasis-Tradition, ausgeklammert, da es bereits zahlreiche Publikationen gibt, die sich dieses Bereichs der amerikanischen Literatur angenommen haben. Den Auftakt bildet das Kapitel von Bettina Friedl zur amerikanischen Malerei zwischen 1670 und 1980, das einen besonderen Schwerpunkt auf Traditionen richtet, die vor den Arbeiten des Abstrakten Expressionismus und dem Werk von Edward Hopper liegen und kaum rezipiert wurden (daher auch die gewählte zeitliche Klammer). Friedl zeigt in detaillierten Bildanalysen auf, dass gerade das 19. Jahrhundert bislang viel zu wenig Beachtung gefunden hat. Astrid Böger versteht die Fotografie in ihrem Kapitel als erste ›amerikanische‹ Kunst, die wesentlich für das moderne kulturelle Gedächtnis ist. Sie entwickelt die Geschichte fotografischer Verfahren und Stile aus ihrer gleichermaßen künstlerischen wie wissenschaftlichen Nutzung und endet mit dem Paradigmenwechsel von der analogen zur digitalen Fotografie. Mein Kapitel zum Kino siedelt die amerikanische Filmkultur in der Spannung zwischen dem weltweit einflussreichen Hollywood-Kino und alternativen oder gegenläufigen Formen des Filmemachens an. Als zentrales diachrones Merkmal des amerikanischen Films wird die Subjektivierung und Personalisierung – die Individualisierung – seiner Erzählformen gesehen. Dies trifft auf fiktionale Erzählungen ebenso zu wie auf die immer persönlicher werdende Rhetorik des Dokumentarfilms oder der Filmavantgarde. Ralph J. Poole widmet sich im Fernsehkapitel den vielfältigen Genres dieses wohl noch immer wichtigsten Massenmediums. Insbesondere hinsichtlich der unterschiedlichen Traditionen des seriellen Erzählens zeigt er seit den 1950er Jahren eine überraschende Vielfalt und Komplexitätszunahme von Fernseherzählungen auf, die gegenüber etablierten literarischen und filmischen Traditionen mittlerweile als ebenbürtig gelten. Randi Gunzenhäusers Kapitel zu den sogenannten Neuen Medien konzentriert sich schließlich auf die Entstehung des Computerspiels als spielerische Ausprägung von Hypertexten. Sie geht davon aus, dass Computerspiele in besonderer Weise digitale Formen von Visualität, Interaktivität und Immersion veranschaulichen können, die mit dem Siegeszug des Internets globale Verbreitung finden. Alle Kapitel können für sich stehen (und gelesen werden), durch die Verweise auf parallele, kontrastierende oder komplementäre Passagen in den übrigen Kapiteln ist aber auch eine nicht lineare Lektüre möglich. Es ist in den letzten Jahren kritisch hinterfragt worden, ob und inwiefern die Rede von einem visual turn gerechtfertigt ist. Die folgenden Texte zeigen, dass die oft bemühte Vorstellung einer ›Bilderflut‹ in unterschiedlichen historischen Perioden empfunden wurde und keineswegs als besonders neu gelten kann. Unbestreitbar ist jedoch die Beschleunigung technologischer Entwicklungen in modernen Gesellschaften, die den Wandel und die Ausdehnung der damit einhergehenden ›skopischen Regime‹ unerbittlich vorantreibt. Die historische Ausrichtung der vorliegenden Publikation macht daher deutlich, dass der Begriff eines visual turn die Notwendigkeit markiert, für diese bis in die kleinsten Regungen des Alltags reichende Technisierung und mediale Vermittlung von Kommunikation, Information oder Unterhaltung 13

Christof Decker

einen begrifflich-konzeptionellen Rahmen zu schaffen, der dem Diskurs über Sprache und Literatur ebenbürtig ist. Das häufig noch zu wenig verstandene Verhältnis von Technologie und visueller Repräsentation, von Bildrhetorik und kultureller Aneignung oder von Medialisierung und Macht verdeutlich die besonderen Herausforderungen, die mit dem Interesse an ›visuellen Kulturen‹ einhergehen, aber es begründet ohne Zweifel auch ihren ganz eigenen, ›spektakulären‹ Reiz, dem die folgenden Kapitel gewidmet sind.

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1. Die amerikanische Malerei zwischen 1670 und 1980 BETTINA FRIEDL

1.1 Einleitung Die deutsche Rezeption der amerikanischen Malerei beschränkte sich vor der Edward Hopper-Retrospektive in Düsseldorf 1981 im wesentlichen auf die Pop Art. Das verwundert nicht, denn die meisten deutschen Museen fingen erst mit Andy Warhols Popularität an, amerikanische Kunst zu kaufen. Werner Schmalenbach war einer der wenigen, der die Bedeutung der New York School und der Abstrakten Expressionisten frühzeitig erkannte und repräsentative Werke für die Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen erwerben konnte, solange sie noch bezahlbar waren. Es gab zuvor zwar Kunstkenner wie Heinrich Thyssen-Bornemisza, dessen umfangreiche Sammlung amerikanischer Kunst des 18. und 19. Jahrhunderts 1988 in Deutschland ausgestellt wurde, doch was Thomas Gaehtgens in seinem Vorwort zum Begleitkatalog damals schrieb, gilt in weiten Kreisen noch heute: »Die amerikanische Malerei des 18. und 19. Jahrhunderts ist in Europa noch weitgehend unbekannt. [...] Die Europäer pflegten die Kunst mit einem gewissen Hochmut als ihre eigene Domäne zu betrachten und sahen die Malerei der vorigen Jahrhunderte in den Vereinigten Staaten, wenn sie überhaupt wahrgenommen wurde, als ein provinzielles Nebenprodukt an« (13). Die Amerikaner selbst waren nicht ganz unschuldig an dieser Geringschätzung ihrer eigenen Kunsttradition, denn wie in Europa beschäftigten sich Kunsthistoriker wesentlich mit der Kunst Europas, und amerikanische Sammler bevorzugten lange Zeit europäische, vor allem französische Malerei. Die Frage nach einer genuin amerikanischen Maltradition wurde zunächst nicht von Kunsthistorikern gestellt, sondern von Wissenschaftlern aus dem Bereich der Amerikastudien. Erst nach einer zeitlichen Verzögerung begannen amerikanische Kunsthistoriker ab der Mitte des 20. Jahrhunderts, die eigene Kunst als Forschungsgegenstand ernstzunehmen. Museen in Amerika hatten zwar schon viel früher begonnen, amerikanische Kunst anzukaufen: 1919 öffnete mit dem Butler Institute das erste Museum für amerikanische Kunst in Youngstown, Ohio; Gertrude Vanderbilt Whitney schuf mit dem Whitney Studio Club ein Forum für amerikanische Maler und eröffnete 1931 mit dem Whitney Museum of American Art das Gegenstück zum erst zwei Jahre zuvor gegründeten Museum of Modern Art, das sich der europäischen Moderne verschrieben hatte. Dennoch blieb die Kunstwissenschaft weitgehend europäisch orientiert und überließ eine Aufarbeitung der Muse15

Bettina Friedl

umsbestände einheimischer Kunst den Amerikanisten. Es gab bis in die 1960er Jahre keine akademischen Programme für ein Studium amerikanischer Kunstgeschichte, wie die Kunsthistorikerin Wanda Corn 1988 schrieb: »In the early 1960s, the support system for American art scholarship was almost nonexistent. There was very little intellectual or financial encouragement from graduate schools to work on objects most teachers and students found dull or provincial or in a field that had almost no specialized literature« (»Coming of Age« 2). Es waren die Amerikanisten, die – oft ohne ein vorheriges Studium der Kunstgeschichte – die amerikanische Kunst erforschten. Als 1949 Oliver Larkins Art and Life in America erschien, wurde amerikanische Kunst zum ersten Mal im Kontext der gesamten Kulturgeschichte Amerikas betrachtet und gedeutet. Das war für die Amerikastudien ein außerordentlich fruchtbarer Ansatz, und wenn man die heutige Wendung zu den Kulturstudien betrachtet, ein sehr moderner. Corn bezeichnet diese erste Generation kunstinteressierter Amerikanisten als fachliche Autodidakten. Lloyd Goodrich, der 1958 die Frage stellte, »What Is American in American Art?«, war wie Larkin selbst Künstler; es gab Journalisten wie James Flexner, die über amerikanische Kunst schrieben, und einige wenige, die wie John I.H. Baur als Kunsthistoriker über den Umweg der europäischen Kunst zur amerikanischen gekommen waren. Als Corn ihren einflussreichen Artikel publizierte, hatte sich die Situation in den USA bereits grundlegend gewandelt. Es gab nicht nur Kunstausstellungen und Kataloge, sondern Positionen an allen größeren Museen, die es rechtfertigten, akademische Programme zu etablieren und Kunsthistoriker auszubilden, die Spezialisten auf dem Gebiet der amerikanischen Kunst waren. Als John Davis im Jahr 2003 die amerikanische Kunstgeschichtsschreibung der vergangenen Jahrzehnte resümierte und einzelnen Forschungsrichtungen zuordnete, konnte er dies in dem Bewusstsein tun, dass es inzwischen eine fast unübersehbare Flut an amerikanischen Publikationen zur eigenen Malerei gab, die einen solchen Überblick dringend erforderlich machte. Zugleich wuchs das Interesse der europäischen Museen, amerikanische Kunst auszustellen, die hierzulande noch unbekannt war. »Amerika, Traum und Depression, 1920/40« (Akademie der Künste, Berlin, 1980) war die erste große Ausstellung amerikanischer Malerei vor 1945. Eine Reihe anderer Ausstellungen folgte, bis 1988 die Sammlung Thyssen-Bornemisza mit dem Titel »Bilder aus der Neuen Welt: Amerikanische Malerei des 18. und 19. Jahrhunderts« an der Berliner Nationalgalerie und kurz darauf in Zürich gezeigt wurde. Gaehtgens warnte jedoch zu Recht vor dem ständig stattfindenden Vergleich amerikanischer und europäischer Kunst- und Maltradition, der Andersartigkeit stets abwehrend als inferior einordnet, statt zunächst die Besonderheiten zu erkennen und zu erläutern: »Eine Beurteilung dieser Kunst kann nur gelingen, wenn nicht von vornherein Übereinstimmung gesucht wird. Alle Vergleiche europäischer und amerikanischer Kunst – vor allem solange sie von fragwürdigen Qualitätsmaßstäben bestimmt werden – sind zum Scheitern verurteilt, wenn sie nicht die andersartigen Bedingungen der Entwicklung berücksichtigen« (13).

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Die amerikanische Malerei

Diese andersartigen Bedingungen zu berücksichtigen ist ein Teil der Aufgabe in diesem Kapitel. Bezeichnenderweise sind es in Deutschland immer noch weitgehend die Amerikastudien, die Hintergrundswissen zu Geschichte und Geistesgeschichte bereithalten, wenn es um die Betrachtung, das Verstehen und die Würdigung der besonderen Eigenschaften amerikanischer Malerei geht. Erst in der jüngsten Vergangenheit hat sich die Kunstwissenschaft in Deutschland der Geschichte der amerikanischen Malerei zugewandt und sie aus dem eigenen kulturellen Kontext zu verstehen versucht. Beispielhaft in diesem Zusammenhang waren drei Ausstellungen im Bucerius Kunst Forum in Hamburg zwischen 2007 und 2009, die jeweils ausgewählte thematische Beispiele amerikanischer Kunst vor und kurz nach 1900 zugänglich machten und durch Symposien begleiteten. Doch selbst 2009 konstatiert der Katalog zur dritten Ausstellung, Modern Life: Edward Hopper and His Time, dass die Bewunderung für Hopper in Europa den Blick verstellt für seine Zeitgenossen: »[...] Hopper’s generation remains unknown on this side of the Atlantic« (Westheider und Ansenk 10).1 Ein Kapitel zur Geschichte der amerikanischen Malerei wie das vorliegende kann nur wenige ausgewählte, meist ikonische Bildbeispiele anbieten und eine Geschichte der Malerei entlang dieser wenigen Bilder entwickeln. Diese Geschichte wird nie vollständig sein, denn sie muss sich darauf beschränken zu zeigen, welche Möglichkeiten der Kunst und des Künstlertums sich im Verlauf der Jahrhunderte in Amerika ergaben. Ein solcher Überblick über mehr als dreihundert Jahre amerikanischer Malerei in einem Kapitel verlangt Verzicht auf einzelne bedeutende Maler, die nicht einmal namentlich genannt werden können, auf einzelne Bildgattungen wie das Stillleben und manchmal sogar ganze Maltraditionen wie die der sogenannten »Folk Art«, mit der keine genuine Volkskunst gemeint ist, sondern die Kunst der Autodidakten unter den Malern, deren Bedeutung für die Bildgeschichte und die Museen von der Kunstrezensentin der New York Times gerade wieder entdeckt wird (vgl. Smith). Besonderer Bedarf besteht in einer angemessenen Darstellung der Kunst vor 1900, die außer in Madrid in keinem europäischen Museum vertreten ist und für deren Beurteilung selbst kunstinteressierten deutschen Betrachtern oft die Kenntnis des historischen und kulturellen Kontextes fehlt. Das Wissen um dieses Defizit begrenzt andererseits die Aufarbeitung der Kunstrichtungen nach 1900 und schränkt die Darstellung amerikanischer Kunst nach 1945 auf nur wenige zentrale Phänomene ein. Diese Konzentration auf die Malerei bis etwa 1980 hat zur Folge, dass zeitgenössische Kunst, die ein eigenständiges Kapitel verdient hätte, nicht erwähnt werden kann. Es schien mir hingegen wichtig, zumindest gelegentlich auf außereuropäische Kunsttraditionen hinzuweisen, die seit Mitte des 19. Jahrhunderts für die amerikanische Kultur zunehmend von Bedeutung wurden. Von der Erwähnung erster Elemente japanischer Holzschnitte bei Whistler bis zum Einfluss des Zen Buddhismus auf Mark Tobey und den von chinesischer und japanischer Kalligrafie beeinflussten Bildern eines Franz Kline hat sich in Amerika der Einfluss vor allem asiatischer Kunst ausgewirkt, der in Europa oft nicht angemessen wahrge1

Dies gilt gleichermaßen für den Rezensenten dieser Ausstellung, der die Werke der Vorläufer und Zeitgenossen Hoppers lediglich als »Reaktionen auf die europäische Avantgarde oder schlimmen Kitsch« abtut (vgl. Briegleb).

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Bettina Friedl

nommen wird. Eine umfangreiche Ausstellung im Guggenheim Museum 2009, »The Third Mind: American Artists Contemplate Asia, 1860-1989«, trägt dieser Interaktion zwischen Amerika und Asien Rechnung. Die einzelnen Gliederungspunkte sind am Beginn des Kapitels gattungssowie themenorientiert und berücksichtigen eine weitgehend chronologische Abfolge in der Darstellung. Mit dem 19. Jahrhundert beginnt eine immer deutlicher zu registrierende Gleichzeitigkeit einzelner Maltraditionen, und im 20. Jahrhundert bestehen gegenständliche, abstrakte und ungegenständliche Malerei sowie unterschiedlichste Bildthemen durchweg nebeneinander.

1.2 Die Porträtmalerei des 17. und 18. Jahrhunderts Boston war im 17. Jahrhundert das Zentrum der Bildkunst Neuenglands. Die heute noch bekannten oder erhaltenen Bilder gehören zwei Gruppen an: Sie waren in Europa entstanden und nach Amerika importiert worden, oder sie wurden bereits vor Ort gemalt. Die Frage der zahlenmäßigen Relation zwischen importierten und genuin amerikanischen Gemälden ist vermutlich nicht mehr zu klären; es gibt zwar wiederholte, doch nur unpräzise Hinweise auf einzelne Bilder in privaten Haushalten.2 Von den erhaltenen Bildern gehört die bei weitem größte Zahl zur Gattung des Porträts. Abbilder der frühen Bewohner Neuenglands erfreuten sich großer Beliebtheit und entstanden meist dort, wo Rang, Vermögen und der Wunsch nach Selbstpräsentation sich vereinten. Entgegen der verbreiteten Meinung, die Puritaner seien generell bildfeindlich gewesen, dokumentieren die zahlreichen erwähnten Gemälde, zu denen auch Landschaftgemälde und Miniaturen gehörten, das Gegenteil. 3 Die relativ geringe Zahl an professionellen Malern in den Kolonien hingegen ist belegt; man hat durch Untersuchung von Maltechnik, Bildkomposition und Pigmenten sechs unterschiedliche Maler im Bostoner Raum identifiziert, obwohl nur eines der vorhandenen Gemälde signiert ist. Die in England ausgebildeten Maler ließen sich seit etwa der Jahrhundertmitte in den Kolonien nieder; ihr Malstil entsprach in der Regel dem der elisabethanischen Malerei, die in England zum Zeitpunkt ihrer Auswanderung noch verbreitet war und erst im Verlauf der späteren Schaffenszeit als altmodisch empfunden wurde. Doch selbst wenn Malstil und die Kenntnis von perspektivischer Malerei nicht dem Standard in Europas Hauptstädten entsprechen mochte, so handelte es sich durchweg um ausgebildete Maler und nicht etwa 2

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Eine der wenigen gesicherten Quellen ist das Tagebuch von Judge Samuel Sewall, der gelegentlich sogar erwähnt, wo Bilder im Haus eines Mitbürgers hängen. Am 13. Juni 1685 trägt er ein: »Govr. Bradstreet’s Effigies [are] hung up in his [Mr. Randolph’s] best Room« (Fairbanks 413). Doch es fehlen genauere Beschreibungen der einzelnen Gemälde. Vgl. dazu und zur kulturellen Bedeutung der frühen Porträtmalerei das umfassende Kapitel von Fairbanks 413-479. Im Unterschied zu den Malern, die mit Ölfarben arbeiteten, gab es Miniaturmaler, sogenannte »limner«, die die einfacher herzustellenden Wasserfarben verwendeten. Der Begriff »limner« wurde im 17. Jahrhundert ausschließlich für Miniaturmaler verwendet. Die bis 1980 gängige Praxis, »limner« pauschal für alle frühen amerikanischen Maler zu verwenden, entspricht nicht mehr dem heutigen Stand der Terminologie (vgl. Fairbanks 414).

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um lokale Autodidakten (vgl. Fairbanks 418). Als Handwerker brachten sie bereits früh Kenntnisse über die Herstellung von Ölfarben mit, die im ausgehenden 17. Jahrhundert durchaus dem Standard europäischer Pigmente entsprachen. Neben den von einheimischen Farbherstellern vertriebenen Pigmenten in Pulverform oder bereits mit Öl vermischten Farben gab es auch Importware, wie das Farbinventar des Bostoner Malers Daniel George von 1684 belegt (vgl. Fairbanks 449-453). Die Porträtmalerei des 17. Jahrhunderts diente zweifellos der visuellen Dokumentation einzelner bedeutender und meist auch vermögender Bürger. John Winthrop (1588-1649), Gründer und erster Gouverneur der Massachusetts Bay Colony, hatte sich noch in England malen lassen; Increase Mather (1635-1723), der bedeutende Theologe, war vor der Ausreise ebenfalls von einem nicht sonderlich begabten niederländischen Maler porträtiert worden. Das Bedürfnis, die Persönlichkeiten der Zeit für die Nachwelt erlebbar zu machen, war im puritanischen Neuengland weit verbreitet. Eines der inzwischen bekanntesten, bereits in Boston entstandenen Porträts ist das von Elizabeth Clarke Freake, dessen Maler unbekannt ist; seine Ausbildung wird jedoch in England vermutet (Fairbanks 417-418).

Abb. 1: Unbekannter Maler, Elizabeth Clarke Freake (Mrs. John Freake) and Baby Mary, ca. 1671-1674. Öl auf Leinwand; 108 x 93,3 cm. Worcester Art Museum, Worcester, Massachusetts. Gift of Mr. and Mrs. Albert W. Rice, 1963.134. Elizabeth wurde 1642 in Dorchester als Tochter von Thomas Clarke, einem strikten Puritaner der First Church in Dorchester südlich von Boston, gebo19

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ren. Sie wuchs dort in der puritanischen Gemeinde auf, während ihr späterer Ehemann John Freake 1658 aus England emigrierte und wie ihr Vater auch als Kaufmann in der Kolonie vermögend wurde. 1661 heirateten Elizabeth und John Freake; zwischen 1662 und 1674 brachte sie acht Kinder zur Welt. Die beiden Porträts der Eheleute wurden vermutlich 1671 weitgehend fertig gestellt, wie die Datierung rechts unten auf Elizabeths Abbild belegt, doch nach der Geburt der Tochter 1674 entsprechend verändert; Marys Alter ist in einer zweiten Inschrift links oben mit sechs Monaten angegeben. Mrs. Freake sitzt auf einem der im Nachlass der Familie erwähnten vierzehn hochlehnigen Stühle mit besticktem Polster – den »Turkie workt chaires« – und hält ihre jüngste Tochter auf dem Schoß; sie umfasst sie mit der rechten Hand, während ihre linke Hand den Körper des Kindes vorn abstützt. Der Hintergrund ist dunkel und wird auf der linken oberen Bildhälfte durch einen gerafften Vorhang strukturiert. Nur ein Jahr nach Fertigstellung des Doppelporträts, das die Eheleute der Konvention entsprechend in der Körperhaltung einander leicht zugeneigt zeigt, starb John Freake bei einem Unfall und hinterließ seiner Witwe ein beträchtliches Vermögen. Zwei Jahre später heiratete Elizabeth mit Elisha Hutchinson wiederum einen Mann von Rang und Einfluss in Massachusetts; sie starb im Jahr 1713. Entgegen der ebenfalls verbreiteten Meinung, Puritaner seien meist schwarz und schmucklos gekleidet gewesen, zeigen die Porträts der Eheleute das ausgeprägte Modebewusstsein der Puritaner im 17. Jahrhundert (vgl. Friedl, »Puritan Dress Code«). John Freake trägt einen zwar schlichten, doch eleganten dunkelbraunen Anzug mit Silberknöpfen, aber wie auf den spanischen und niederländischen Porträts derselben Zeit sind auch hier der teure venezianische Stickereikragen mit einem ovalen Goldmedallion, die üppigen Spitzenrüschen an den Ärmeln und die modischen langen Handschuhe Zeichen seines Standes und Indiz seines Vermögens; die Puritaner folgten durchaus den europäischen Kleiderregeln, die im 16. und 17. Jahrhundert genau vorschrieben, welcher Stand berechtigt war, teure Stoffe zu verarbeiten und kostspielige Accessoires wie Silberknöpfe und Spitzenbesatz zu tragen. Das Porträt Elizabeth Freakes zeigt den enormen Aufwand, der auch unter Puritanern von Vermögen mit der Kleidung getrieben wurde. Ihre farbenfrohe Ausstattung besteht aus einem Oberkleid aus grünem Stoff, der brokatartig mit weißem Muster durchwirkt ist und von einer weißen Schürze geschützt wird. Der obligatorische Petticoat, eigentlich ein Unterrock, ist hellrot und am Saum gelb und weiß bestickt. Er ist jedoch – das ist ein wichtiges Detail – so schön, dass Elizabeth Freake das Oberkleid am Knie etwas rafft, damit man den Farbkontrast von Rot und Grün wahrnimmt und vor allem den dekorativ bestickten Saum sehen kann. Die kurzen Ärmel des Oberkleides sind mit schwarz-roten Schleifen geschmückt und zeigen darunter die längeren spitzenverzierten weißen Ärmel eines Unterkleides, das vermutlich zu waschen war – anders als der schwere, in steifen Falten liegende grüne Stoff des Oberkleides. Der schulterbreite, offenbar flämische Spitzenkragen lässt auf einen beträchtlichen Kaufpreis schließen. Elizabeth Freake trägt eine dreireihige Perlenkette, einen Goldring am linken Daumen und ein Granatarmband. Ihr kleine Tochter hat ein zitronengelbes Kleidchen mit spitzenverzierter weißer Schürze an und eine passende Haube mit auffallend schöner Spitzenverzierung; die Ärmelchen des Unterkleides sind mit gelben Bändern bis zum Ellbogen gerafft und zeigen ebenfalls Spitzenbesatz. 20

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Alle Details des Porträts – Stoffwahl, Farbwahl, Stickerei, Spitzen, Bänder und Schmuck – zeigen Modeverständnis und Standesbewusstsein der keineswegs modefeindlichen oder asketisch lebenden Puritaner. Wie die Handelslisten der Importeure belegen, bestellten die ersten Generationen der ausgewanderten Nonkonformisten teure Stoffe und Kleider aus England, solange diese, im Unterschied zu einfachen Leinen- und Wollkleidern oder Lederhosen, noch nicht in Amerika hergestellt werden konnten. Die importierten Kleider wurden als Kostbarkeiten betrachtet und vererbt; spätere Generationen passten den Schnitt der jeweils neueren Mode an und veränderten Details. Wie die teuren importierten Stühle, so symbolisiert auch die Kleidung auf Mrs. Freakes Abbild, dass der Konsum bereits im ausgehenden 17. Jahrhundert ein wesentlicher Bestandteil des Alltags der Kolonien war. Der Maler der beiden Freake-Porträts ist vermutlich identisch mit dem Maler der Gibbs-Kinder und vielleicht auch der Mason-Kinder, deren Entstehungszeit ebenfalls in die Jahre vor 1674 fällt. Sowohl Farbwahl als auch die Vorliebe für üppige Muster erinnern deutlich an die elisabethanische Maltradition. Obwohl die Frage der Zuschreibung nicht vollständig geklärt ist, weisen einige Elemente auf Augustine Clement (ca. 1600-1674) hin, der aus Reading, Berkshire, stammte und 1635 nach Neuengland auswanderte. Solche Zuordnungen bleiben allerdings spekulativ und werden in der Kunstgeschichtsschreibung heute weniger diskutiert als die für die Maltradition in Amerika wichtigere Analyse kulturhistorischer Aspekte. Eingewanderte Maler, deren Ausbildung noch in Europa stattgefunden hatte, bestimmten im ausgehenden 17. und frühen 18. Jahrhundert die Kunstszene in den englischsprachigen Kolonien Nordamerikas. Gustavus Hesselius (1682-1755) wanderte aus Schweden ein und malte vorwiegend in Philadelphia und Maryland; sein der Barockmalerei verpflichteter Stil bestimmte die Porträtmalerei und religiösen Darstellungen in den middle colonies. Der Schotte John Smibert (1688-1751) wurde in London ausgebildet, bereiste Italien und ließ sich 1729 als bereits erfolgreicher Londoner Porträtmaler in Neuengland nieder. Sein bekanntestes Gruppenporträt, The Bermuda Group: Dean George Berkeley and His Entourage (1729), zeigt die mitreisenden Familienangehörigen um den späteren Bischof Berkeley, der ursprünglich auf den Bermudas ein College gründen wollte, aber in Newport die noch unklare Finanzierung für das College abwarten musste. Smibert wurde in Boston ein begehrter Maler, der sich im Alter besonders der Landschaftsmalerei widmete. Peter Pelham (ca. 1697-1751) war ebenfalls in London ausgebildet worden, als er sich 1726 in Boston als Porträtmaler und Graveur niederließ. Sein Porträt Cotton Mathers (1728) ist vermutlich das erste amerikanische Kupferstichporträt. Er führte das Mezzotint-Verfahren in Amerika ein, durch das man Gemälde als Radierung kopierte, die Malern in Amerika als Vorlage für Bildkompositionen, Kleidung, Posen oder auch ornamentale Elemente dienen konnte. Durch die Heirat mit der verwitweten Mutter John Singleton Copleys 1748 wurde Pelham zum Lehrer des bedeutendsten Porträtmalers der vorrevolutionären Epoche. Der erste in Amerika geborene und tätige Maler von größerer Bedeutung war der Autodidakt Robert Feke (ca. 1705-ca. 1750), über dessen Werdegang es nur wenige gesicherte Informationen gibt. Er erhielt 1741 seinen ersten Großauftrag, die Familie von Isaac Royall zu porträtieren. Der Vergleich mit dem kompositorischen Vorbild, Smiberts The Bermuda Group, zeigt deutlich 21

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die größere malerische Begabung Fekes, der die von Smibert und den englischen Radierungen übernommene Bildkomposition erfolgreich mit einem wenig opulenten, zur Zweidimensionalität neigenden (und von älteren Kunsthistorikern meist »flach« genannten) Malstil verband. Diese Malweise kann vielleicht als der erste genuin amerikanische Stil bezeichnet werden, der durch die nächsten Jahrhunderte zwar vielfach variiert wurde, aber sich zu einem nationalen Malstil entwickeln sollte. Er bevorzugte die Linearität von Umrissen, unterdrückte Schattierungen, die Körperlichkeit oder Volumen anzeigen, und vermied ganz bewusst die Auflösung der Konturen. Eine ähnliche Präferenz für klare Linien, Konturen und Flächigkeit findet sich nicht nur bei den Zeitgenossen Benjamin West, John Singleton Copley und Charles Willson Peale, sondern wird sich als Stilmerkmal durch die gesamte amerikanische Bildtradition ziehen: Von den Luministen in der Landschaftsmalerei über den linearen Realismus der rowing pictures von Thomas Eakins, über die abstrahierten close-ups einzelner Blüten oder die stilisierte Landschaft New Mexicos bei Georgia O’Keeffe, die scharfen Kontraste von Licht und Schatten der Stadtbilder bei den Präzisionisten sowie bei Edward Hopper bis hin zur Pop Art Tom Wesselmans in den 1960er und den Fotorealisten in den 1970er Jahren. John Greenwood (1727-1792) gehörte wie Benjamin West zu jenen amerikanischen Malern, deren Erfolg zur Auswanderung nach England führte. Nach einer Karriere in Boston, in der das Gruppenporträt The GreenwoodLee Family (1747) in der Tradition Smiberts und Fekes entstanden war, reiste er in der Jahrhundertmitte nach Surinam. Eines seiner heute bekanntesten Bilder aus dieser Zeit ist eine Kneipenszene angetrunkener Seeleute, Sea Captains Carousing [in Surinam] (ca. 1758); anschließend ließ er sich als Maler und Kunsthändler in London nieder. Der Werdegang Benjamin Wests (1738-1820) hingegen verkörpert bereits die Erfolgsgeschichte amerikanischer Talente. Er lernte und malte bis 1756 in seiner Geburtsstadt Philadelphia, bis ihm ein vermögender Kaufman eine Studienreise nach Italien ermöglichte. Dort studierte er von 1759 bis zum Ende des Siebenjährigen Kriegs 1763; danach ließ er sich in London nieder und erwarb sich durch seine Historiengemälde die Anerkennung der englischen Öffentlichkeit und des Königshauses. 1792 wurde er als Nachfolger von Sir Joshua Reynolds zum zweiten Präsidenten der Royal Academy in London ernannt. Neben religiösen Darstellungen nahmen Historienbilder in der damals geltenden Hierarchie der Kunstakademien den höchsten Rang ein, gefolgt von Porträts und Genremalerei, Landschaften und schließlich den Stillleben. Dass Benjamin Wests Tätigkeit sich auf die beiden angesehensten Bildgattungen konzentrierte, trug wesentlich zu seinem Status in England bei. Vor allem sein großformatiges Gemälde The Death of Wolfe (1770) mit der Darstellung des auf kanadischem Boden gefallenen Generals, der in den French and Indian Wars gegen die Koalition von Franzosen und Indianern einen entscheidenden Sieg errungen hatte, machte West außerordentlich populär. Das Historiengemälde erntete zunächst deutliche Kritik, weil West die Teilnehmer an der Schlacht um Quebec nicht wie damals üblich im antiken Kostüm darstellte, sondern in zeitgenössischer Kleidung. George III. folgte dem Zeitgeschmack und weigerte sich, die erste Version zu kaufen. Erst als die Ausstellung in der Royal Academy das Bild zum Publikumserfolg machte,

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gab der englische König eine Kopie bei West in Auftrag.4 Die Bildkomposition folgt dem Schema der Kreuzabnahme religiöser Bilder, auf denen der Leichnam Christi von Maria, Magdalena und den Jüngern betrauert wird. Hier gruppieren sich englische Offiziere um den sterbenden General, dessen Körper in der Manier der pietà von seinen Freunden so gestützt wird, dass die Betrachter ihn nahezu frontal präsentiert bekommen. Der ursprüngliche Affront von Wests Gemälde für die zeitgenössischen Kritiker bestand nicht allein im Kostüm – der General trägt die scharlachrote Uniform der Truppen des Königs –, sondern auch in der christlichen Ikonografie, auf die sich West stützte; denn die knieende Gestalt, die den linken Vordergrund dominiert und die in Passionsbildern üblicherweise durch Maria Magdalena eingenommen wird, ist hier ein halbnackter Indianer, der in Denkerpose dem Ereignis zuschaut. Der Erfolg und die Popularität Benjamin Wests in England erhielt in den Jahrzehnten vor und nach 1800 eine signifikante Bedeutung für die Entwicklung der amerikanischen Kunst: Junge mittellose Malerkollegen nahm er bei sich auf, gab ihnen in seinem Atelier Gelegenheit unentgeltlich zu arbeiten, unterstützte sie finanziell, vermittelte ihnen kleinere Aufträge und brachte sie mit potentiellen Käufern in Verbindung. Seiner Unterstützung ist es zu danken, dass amerikanische Künstler europäische Malerei vor Ort studieren konnten. Er förderte neben später erfolgreichen Malern wie Charles Willson Peale, Gilbert Stuart, Thomas Sully und John Trumbull auch weniger bekannte wie Matthew Pratt, William Dunlap und Ralph Earle. Drei Generationen amerikanischer Maler erfuhren durch das Mäzenatentum Wests wesentliche Impulse für die eigene Karriere. 5 Seine Förderung ist nach 1776 vielleicht auch als bewusst patriotischer Akt zu verstehen, mit dem er den jungen Künstlern eines Landes ohne Museen und Akademien die Möglichkeit zu internationaler Aufmerksamkeit eröffnete und damit eine nationale Maltradition beförderte. Der gleichaltrige John Singleton Copley (1738-1815) sah auf eine ungleich erfolgreichere Laufbahn auf amerikanischem Boden zurück, als er 1774 quasi am Vorabend der Unabhängigkeitserklärung nach England auswanderte. Sein Stiefvater Peter Pelham hatte ihn ausgebildet, denn er zeigte schon früh eine außergewöhnliche Begabung. Bis heute gilt Copley als der herausragende Porträtmaler des 18. Jahrhunderts, dessen Klientel ihm ein angemessenes Einkommen durch die Malerei sicherte und deren Abbilder für heutige Betrachter wiederum eine eindrucksvolle bildliche Versammlung der Erfolgreichen und Prominenten in der Bostoner Gesellschaft darstellen. Fast scheint es, als ob nahezu jeder Bostoner Kaufmann, Politiker oder Geistliche von Rang sich und seine Frau zwischen 1755 und 1774 von Copley malen ließ: »[P]atrons came to Copley for portraits that were venues where they might avouch a sense of themselves in the hierarchical and circumscribed social theater of colonial Boston« (Staiti 53). Insgesamt 350 Porträts machen das amerikanische Werk Copleys aus, das mit wenigen Ausnahmen wie dem 4

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Das Original hängt in der National Gallery of Canada, Ottawa; Wests Kopie mit dem Titel The Death of General Wolfe (1771) gehört zu den Beständen des englischen Königshauses. Matthew Pratt dokumentierte die gemeinsame Arbeit der amerikanischen Maler in Wests Studio auf einem Gemälde mit dem Titel The American School (1765).

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dramatischen Seestück Watson and the Shark (1778) seine in England weitergeführte Karriere an Bedeutung überragt. Nicht nur Barbara Novak argumentiert entschieden, dass die amerikanischen Porträts so etwas wie eine »American vision« darstellen (American Painting 15), auch Theodore Stebbins sieht hier den Beginn einer amerikanischen Ästhetik, »an aesthetic that frequently exhibits conservative, elegant, linear characteristics« (84). Die Auswanderung nach England beendete diese stilistische Entwicklung, wie seine englische Karriere nach 1775 belegt: »Copley had finally succeeded in learning not only English style but also English attitude« (96). In einem Land, in dem Herkunft und Name weniger klassenbestimmend waren als in Europa, wurden all jene materiellen Attribute relevant, die im Bild sichtbar gemacht werden konnten, um den erlangten Wohlstand der Porträtierten zu dokumentieren und dadurch Rückschlüsse auf den gesellschaftlichen Status und damit auch die Persönlichkeit zu ermöglichen: »Copley understood implicitly an early modern condition according to which the material appearance of character becomes the demonstrable proof of character« (Staiti 74). Konventionelle Bildattribute wie Handelsregister oder Rechnungsfolianten symbolisieren die angesehenen oder einträglichen Berufe; geöffnete Briefe und Schreibutensilien verweisen auf politische Verbindungen oder Handelsbeziehungen. Die älteren unter den porträtierten Männern tragen noch Perücke und Kniehosen; die Satinwesten, die über dem Bauch leicht spannen, deuten an, dass im ausgehenden 18. Jahrhundert mit einer gewissen Korpulenz auch das gesellschaftliche Gewicht des Erfolgreichen gemeint war (vgl. Staiti 56). Die eleganten, bestickten Anzüge und seidenen Hausmäntel weichen bei den Jüngeren, den Quäkern oder auch bei den politisch Radikaleren, die ihre kritische Haltung zu aristokratischem Gebaren dokumentieren, bewusst den Tuchanzügen ohne jedes Ornament. Der Status der Frauen wird durch ihre Kleider weniger deutlich symbolisiert als auf den Männerporträts. Zwar werden Brokat, schimmernder Satin und transparente Seide selbstbewusst und mit Würde vorgeführt, doch die opulenten Kleider sind oft imaginär oder gehörten zum Studio-Fundus Copleys – ein blaues besticktes Seidenkleid, in dem er drei unterschiedliche Frauen malte, ein Chippendale-Stuhl mit gelbem Polster und andere Objekte der Inszenierung. Beeindruckend ist jedoch die Liebe zur Stofflichkeit in Copleys Malerei, die daran erinnert, dass Stoffe bis ins ausgehende 18. Jahrhundert zu den wichtigsten Importartikeln aus England gehörten (vgl. Stebbins 84). Man dekorierte sich weniger mit Schmuck – die republikanischen Tugenden verlangten hier vermutlich Zurückhaltung – als vielmehr mit ikonografischen Objekten wie Blütenzweigen oder Vasen; die Frisuren sind vergleichsweise natürlich und die Gesichter der älteren porträtierten Frauen lassen deutlich erkennen, wie wenig Copley sie nach landläufigem Ideal zu schönen suchte. Die Forderung der Neuengländer, ihr Abbild solle vor allem ähnlich sein – »likeness« war der favorisierte Begriff für das Porträt –, verlangte neben der zeitangemessenen Bildkonvention auch nachvollziehbare Wirklichkeitsnähe. Lediglich die Pose der Frauen, die trotz der zweifellos aufwendigen Haushaltsorganisation vorübergehend in einem Augenblick des Müßiggangs oder der Kontemplation als »ladies of leisure« erscheinen, deutet die wirtschaftlich gesicherte Situation an. Copley malt sie in aufrechter Haltung vor dem Hintergrund einer angedeuteten stilisierten Landschaft oder gelegentlich vor klassizistischer Kulisse; nur wenige der von ihm porträtier24

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ten Frauen zeigen sich zurückgelehnt in einen seidenbezogenen Sessel. Importierte Seidenstoffe, Spitzen, modische Details und gelegentlich auch Schmuck werden dagegen offen zur Schau gestellt, obwohl zunehmend patriotische Bedenken vor allem gegen aus England eingeführte Waren laut wurden. Es ist bemerkenswert, dass Copley die korrespondierenden Porträts von Männern und Frauen durch die identische Bildgröße, einen vergleichbaren Bildhintergrund und vor allem durch den in der Porträtmalerei ungewöhnlichen direkten Blick beider zum Betrachter hin präsentiert. Auf diesen Porträts kann man eine nahezu gleichwertige Stellung von Mann und Frau in der amerikanischen Oberschicht der aufgeklärten vorrevolutionären Jahrzehnte vermuten (vgl. Stebbins 87-90). Im Doppelporträt der Mifflins schaut er seine Frau an, während sie sich dem Betrachter zuwendet. Die Frauenporträts von Copley bieten eine umso erstaunlichere bildliche Präsentation, wenn man bedenkt, dass im 19. Jahrhundert das viktorianische Weiblichkeitsideal der »true womanhood« das hier deutlich sichtbare Selbstbewusstsein zu unterminieren suchte und die Frauen ins Haus verwies, wo sie oft nur in sentimentalen Genreszenen oder Familienporträts abgebildet wurden.

Abb. 2: John Singleton Copley (1738-1815), Paul Revere, 1768. Öl auf Leinwand; 89,22 x 72,39 cm. Museum of Fine Arts, Boston. Gift of Joseph W. Revere, William B. Revere, and Edward H.R. Revere. 30.781. Photograph © 2010 Museum of Fine Arts, Boston. In der Versammlung der Bostoner Oberschicht fällt das Porträt des Silberschmieds Paul Revere (1735-1818) auf; denn es ist das einzige vollendete Abbild eines Handwerkers. Paul Revere sitzt barhäuptig und hemdsärmelig 25

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an einem Tresen, der zwar glänzt und den Oberkörper Reveres widerspiegelt, der aber die Hochglanzpolitur der Mahagony-Tische in den Porträts von Mrs. Ezekiel Goldthwaite oder Mr. and Mrs. Isaac Winslow vermissen lässt. Paul Revere trägt eine blaugrüne Weste mit zwei fast verdeckten Goldknöpfen; die Weste – vermutlich aus Leder oder Wolle – hebt sich von dem lose geschnittenen weißen Hemd mit offenem Kragen ab. Als Attribut seines Berufs hält er in der linken Hand eine der bekannten silbernen Teekannen, wie sie etwa im Bostoner Museum of Fine Arts zu besichtigen sind; seine Rechte stützt das Kinn in einer nachdenklichen Pose. Drei Stichel für eine Gravur liegen auf der Tischplatte, die sich parallel zur Bildebene befindet, und weisen auf den letzten Arbeitsschritt an der Teekanne hin. Der Silberschmied sieht dem Betrachter direkt in die Augen. Vor dem uniform dunkelbraunen Hintergrund hebt sich die runde Kopfform besonders gut ab und ähnelt auf frappierende Weise der kugeligen Form der Silberkanne. Copleys malerisches Talent zeigt sich in der Spiegelung von Reveres Oberkörper auf der Holzoberfläche und in der Art, wie die Handwerksgeräte in den Bildvordergrund ragen und Dreidimensionalität suggerieren. Die Pose wiederum ist stilgeschichtlich bedeutsam, weil der kontemplative Ausdruck und die Geste, mit der Revere die Teekanne hält, deutlich auf vanitas-Darstellungen anspielen, bei denen der Betreffende gewöhnlich einen Totenschädel hält, um Vergänglichkeit anzuzeigen (vgl. Fairbrother 198). Paul Revere engagierte sich politisch im North End von Boston, wo er lebte und seine Werkstatt hatte, und trat 1765 den Sons of Liberty bei, einer bekannten vorrevolutionären Vereinigung. Es ist nicht geklärt, warum und in wessen Auftrag das Porträt Copleys entstand und wer es bezahlte.6 Es verblieb jedoch im Familienbesitz, wurde allerdings von den Nachkommen so lange vernachlässigt, bis Henry Wadsworth Longfellows Gedicht »Paul Revere’s Ride« 1863 publiziert wurde und dem Porträtierten zu neuem Ruhm verhalf. Im Jahr 1928 wurde das Porträt als Leihgabe an das Museum of Fine Arts (Boston) zum ersten Mal ausgestellt und ging 1930 in den Besitz des Museums über. Heute gilt eben dieses Porträt, mehr als das irgendeines anderen späteren Helden der Revolution, als ikonische Darstellung von der beginnenden Revolution und Amerikas Unabhängigkeit. Jedes amerikanische Schulkind kennt die Geschichte von Paul Reveres »midnight ride«, mit dem er in der Nacht vom 18. auf den 19. April 1775 die amerikanischen Rebellen vor dem drohenden englischen Angriff auf Lexington und Concord warnte. Ein Freund zeigte die englischen Truppenbewegungen mit einer Laterne in der Kirchturmspitze der Old North Church an, die Paul Revere auf der anderen Seite der Bucht von Charlestown das Signal gab, zu Pferd die Bevölkerung von Middlesex zu alarmieren. Die historische Ballade, die passend mit »Listen, my children« anhebt, ordnet den Ritt als entscheidend für das Schicksal der Nation ein – »The fate of a nation was riding that night«, wie es bei Longfellow heißt (364). Als Paul Revere von Copley 1768 porträtiert wurde, lagen sowohl die Boston Tea Party von 1773, auf die die Teekanne anzuspielen scheint, als auch der nächtliche Ritt zwei Jahre später noch vor ihm, doch haftet dem Abbild des Silberschmieds mit der Teekanne etwas Republikanisches an. Der 6

Es gibt Vermutungen, dass Copley selbst das Porträt wünschte. Bei diesen und den folgenden Angaben stütze ich mich auf den Katalogtext (Quinn 246-249).

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wuchtige Schädel ohne Perücke und die einfache Kleidung des Handwerkers entsprechen retrospektiv weit eher dem demokratischen Ideal des einfachen amerikanischen Bürgers, der sich vom Joch der englischen Herrschaft befreit, als etwa das Porträt des patrizischen John Hancock (1765), dem ersten Unterzeichner der Unabhängigkeitserklärung und späteren Präsidenten des Continental Congress, der in Kniehosen, weißen Seidenstrümpfen und einer mit Goldtressen besetzten dunkelblauen Jacke über seinen Büchern sitzt. 7 Die ikonische Bedeutung von Copleys Porträt beruht auf dieser Einfachheit: »Paul Revere in shirtsleeves remained his only likeness of an artisan in such attire and became a unique icon of America and patriotism« (Stebbins 98). Copley erkannte bereits früh, dass militärische Auseinandersetzungen zwischen den Kolonien und England seiner Tätigkeit als Porträtmaler und damit seinem künftigen Einkommen schaden würden. Nach 1770 nahmen die Porträtaufträge ab und 1774 verließ er Boston, um sich nach einem Italienaufenthalt in London niederzulassen. Es blieb seinem weit weniger talentierten Kollegen Charles Willson Peale (1741-1827) vorbehalten, zum exemplarischen Maler der frühen Republik zu werden und vor allem das erste Museum auf amerikanischem Boden zu initiieren. Peale stammte aus Maryland und kam 1767 als Autodidakt nach London, um wie andere seiner Landsleute im Atelier Benjamin Wests zu lernen. Nach zwei Jahren kehrte er zurück und ließ sich als Porträtmaler in Philadelphia nieder, denn Boston war 1769 noch das Terrain Copleys. Die Middle Colonies wurden durch Peale und seine vielfältigen Aktivitäten zum zweiten künstlerischen Zentrum nach Neuengland. Das Porträt blieb bis ins beginnende 19. Jahrhundert weiterhin die populärste künstlerische Ausdrucksform, für die es in den wachsenden Städten der Region wie Philadelphia und Baltimore zunehmend zahlungskräftige Interessenten gab. Peale engagierte sich wie Paul Revere für die Whigs und kämpfte im Unabhängigkeitskrieg gegen die Engländer, vernachlässigte jedoch seine künstlerische Tätigkeit auch während des Kriegs nicht. Er wandte sich verstärkt der Miniaturmalerei zu, die er recht pragmatisch als ein gerade für Kriegszeiten geeignetes Format für transportable Porträts einschätzte. In den nächsten Jahrzehnten ermutigte er zudem seinen begabten Bruder James Peale und seine elf erwachsenen Kinder zur Malerei und sorgte selbst für deren Ausbildung. Peales ausgeprägtes politisches Engagement ließ ihn schon früh erkennen, dass die politischen und militärischen Persönlichkeiten seiner Zeit einmal als Helden der Revolution in die Geschichte eingehen würden. 1772 begann er daher mit der Arbeit an einer geplanten Galerie historischer Porträts; 1783 verkündete er stolz, er habe bereits »between 30 and 40 of Principal Characters« gemalt. In das groß angelegte Projekt investierte er »much time & labour and I mean to keep adding [...] in full expectation that my Children will reap the fruits of my Labours« (Ellis 49). Der mögliche Profit war ihm dabei ebenso wichtig wie die Möglichkeit, der Revolution durch die Porträts ein Gesicht zu verleihen, oder wie er es ausdrückte, das Buch der Geschichte 7

John Hancock war in Boston bekannt für sein extravagantes Auftreten und seine flamboyante Kleidung; dass er sich von Copley nicht in einem seiner fliederfarbenen Seidenanzüge, sondern lediglich in einer eleganten dunkelblauen Jacke malen ließ, gehört zu den bewussten Fiktionen, die solche Porträts auszeichnen (vgl. Staiti 211214).

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zu illustrieren, während es noch geschrieben wurde: »the Likeness being added to the Historic page giving it more force and the Reader more Pleasure« (Ellis 49). Peale sah im Porträt der Großen seiner Zeit eine gesellschaftliche und patriotische Aufgabe (Sadik 21). George Washington stand ihm und seinen zahlreichen malenden Familienangehörigen zwar mehrfach Modell, doch Peale und einige seiner Söhne begannen bald, diese Originalporträts vielfach zu kopieren, um jedem patriotischen Haushalt den Erwerb einer Darstellung des Gründungsvaters zu ermöglichen, aber auch um die Gesamtzahl der Washington-Abbilder möglichst profitabel für die Familie werden zu lassen (vgl. Friedl, »The Peale Family« 146-148). Heute sind es allerdings die Washington-Porträts von Gilbert Stuart, die am bekanntesten sind und die man, im Unterschied zu den recht formelhaften Bildern der Peales, als »realistischer« empfindet.

Abb. 3: Charles Willson Peale (1741-1827), The Artist in His Museum, 1822. Öl auf Leinwand; 263,5 x 202,9 cm. Courtesy of the Pennsylvania Academy of the Fine Arts, Philadelphia. Gift of Mrs. Sarah Harrison (The Joseph Harrison, Jr. Collection). Eines der berühmtesten Porträts von Charles Willson Peale ist ein spätes Selbstbildnis, das ihn im Alter von über achtzig Jahren zeigt. Er stellt sich als Gründer und Bewahrer des Peale Museums vor, wie er mit einer theatralischen Geste den Vorhang hebt, um den Blick auf die Wunder der Natur, der Geschichte und der Kunst freizugeben. Das Selbstporträt zeigt rechts im Vordergrund einige Mammut-Knochen und die Palette des Malers auf dem Tisch; im Vordergrund links steht einer der ausgestopften Vögel – ein amerikanischer Truthahn – und Peales taxidermisches Instrumentarium, mit dem er 28

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die Tiere selbst ausstopfte. Der Gründer und Direktor des Museums hebt den Vorhang, um Einblick in den Long Room zu gewähren, dessen Exponate gerade von mehreren Besuchern besichtigt werden. Die Gründung unter dem Namen Philadelphia Museum 1784 war aus dem Impetus der Aufklärung entstanden, eine naturkundliche Sammlung nicht mehr allein aus dem generellen, doch ungeordneten Interesse der Wunderkammern und Kuriositätenkabinette des Barock zu präsentieren, sondern ordnend und kategorierend einzugreifen. »True to his Enlightenment values, Peale portrays himself overtly not as a romantic artist whose pictures project his interior life, his private visions, dreams, or emotions, but as an Age of Reason man of useful skills, a public figure performing a high intellectual task of civic importance« (Trachtenberg 9). Peales Interesse war gleichermaßen demokratisch wie didaktisch: Er wollte sein Museum für jeden zugänglich machen, und er wollte – auch das im Sinne der Aufklärung – durch Anschauung belehren, dass die Ordnung der Natur nach dem Prinzip Linnés Vorbild und Entsprechung der gesellschaftlichen Ordnung sei. Wissenserwerb war für jeden Bürger einer Republik die geeignetste Form der Erziehung, wie er 1795 der Regierung von Pennsylvania mitteilte: »In a country where institutions all depend upon the virtue of the people, which in its turn is secured only as they are well informed, the promotion of knowledge is the First of duties« (zit. nach Ward 265). Ordnung, Harmonie und die Ausbildung bürgerlicher Tugenden waren aus Peales Sicht unabdingbar für den Bestand der frühen Republik, und der Long Room seines Museums zeigte auf dem Bild entsprechend ganz oben die von ihm und seinen Söhnen gemalte Galerie der Gründungsväter, darunter in je gleich großen Kästen ausgestopfte Vögel und Kleintiere vor gemaltem Hintergrund ihres Habitat, Mineralien und Pflanzen. Später kamen die beiden MammutSkelette hinzu, deren Ausgrabung Peale 1801 mit seiner Familie organisiert hatte.8 Peales Selbstporträt trägt zwar den Titel »Der Künstler in seinem Museum«, doch wie Alan Trachtenbergs subtile Deutung nachweist, ist er beides, Künstler und Schausteller, der versucht, das Chaos der Objekte und diversen Intentionen vor dem Vorhang zu vereinen mit der gestalteten Ordnung jenseits des Vorhangs: »Peale’s museum is rent, in short, by an intellectual contradiction manifest as compositional discordance« (11). Augenfällig wird dieser Kontrast, so Trachtenbergs Argument, durch die eigenartige Ausleuchtung der Person Peales, der die Lichtquelle hinter und über sich platzierte; auf dem Porträt wirkt dies so, als ob das Licht aus der dunkelsten Stelle des Vorhangs auf ihn herab scheint. Das Peale Museum demonstrierte auf überzeugende Weise, welche kulturelle und performative Funktion eine solche Institution wahrnehmen konnte: »In order that the museum’s variety be properly impressed on the spectator, the organ played to emphasize the unity and harmony of nature as well as to enhance the richness and dignity of the scene« (Neil 46). Das Museum wurde zum bevorzugten Treffpunkt interessierter Bürger Philadelphias; die Besucher bewegten sich durch den Long Room in der Art einer »promenade to 8

Das große von Peale gemalte Bild dieser Ausgrabungsaktion bei Newburgh, New York, The Exhumation of the Mastodon (1805-08) wird von Lillian B. Miller (145-163) nicht mehr als verkapptes Familienbild, sondern als genuines Historiengemälde gedeutet.

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show off gay bonnets and cashmere shawls« (Neil 45). Von 1805-10 ließ Thomas Jefferson Objekte der Lewis und Clarke-Expedition in das Museum verbringen; Künstler gaben Bilder in die Ausstellung; Sammler stellten dem Museum Doubletten zur Verfügung; Wissenschaftler aus den USA und Europa schickten Modelle und Exemplare ihrer Forschungsarbeit. Gleichzeitig diente das Museum im State House von Philadelphia, das die Stadt bis 1815 kostenlos zur Verfügung gestellt hatte, als Wohnung für zahlreiche Familienmitglieder von Peale. Allerdings verweigerte ihm nicht nur die Stadt Philadelphia, sondern auch Präsident Jefferson eine geregelte finanzielle Unterstützung des Museums; das europäische Modell staatlicher Kunstförderung fand keinen Anklang in der frühen Republik. Die Söhne Rubens und Rembrandt Peale versuchten vergeblich, durch Zweiggründungen in Baltimore und New York Peales Konzept einer Vermittlung von »useful knowledge« für die Museen zu bewahren; ein Großteil der Sammlung wurde 1849 an P.T. Barnum verkauft, einige Exponate gingen mit der Gründung der Smithsonian Institution 1846 in ihre neue Sammlung ein. Die Gründung des Peale Museums war das Resultat von nur einer der zahlreichen öffentlichen Intiativen, die Peale zur Förderung amerikanischer Kunst in der frühen Republik ergriffen hatte. 1795 half er zunächst, das Columbianum in Philadelphia zu gründen, das als Ausbildungsstätte für junge Künstler und als Ausstellungsforum gedacht war; doch Auseinandersetzungen unter den Mitgliedern führten bereits nach einem Jahr zur Schließung. Zehn Jahre später entstand mit Unterstützung Peales die Pennsylvania Academy of the Fine Arts in Philadelphia, die nach Gründung der American Academy of the Fine Arts in New York 1801 zweite Kunstakademie auf amerikanischem Boden. Die Unterweisung seiner Familienmitglieder in der Malerei schloss die eigenen Söhne und Töchter und die seines Bruders James ebenso ein wie die seiner Enkel. Der oft verwendete Begriff Peale-Dynastie ist gerechtfertigt, wenn man bedenkt, dass nahezu hundert Jahre lang jedes Mitglied der Familie sich der Kunstproduktion widmete oder in der Verwaltung des Peale Museum engagierte. Raphaelle Peale wurde neben seinem Onkel James Peale zum ersten bedeutenden Stillleben-Maler der Vereinigten Staaten (vgl. Friedl, »Creating Order«). Rembrandt Peale, der ältere Bruder, produzierte neben den formelhaften historischen Porträts, zu denen ihn sein Vater verpflichtete, ausgezeichnete Selbstporträts, die stilistisch interessanter sind als das malerische Werk des älteren Peale. Eines seiner besten Bilder ist das anrührende Porträt seines Bruders Rubens, der einen Geranientopf hält. Die Tochter Angelica Kauffmann Peale wie auch die Nichten Sarah Miriam und Anna Claypoole Peale wurden angesehene Stillleben- und Porträtmalerinnen. Der Patriarch Charles Willson Peale selbst bleibt eine der herausragenden Persönlichkeiten der Revolutionszeit, als Lehrer, Kurator, Naturkundler, Archäologe, Erfinder, Schausteller und Unternehmer am ehesten Benjamin Franklin vergleichbar. Die Porträtmalerei bleibt die vorrangige Bildgattung des ausgehenden 18. Jahrhunderts sowie der frühen Republik. Der Maler, der wie kein anderer die heutige bildliche Vorstellung von den Akteuren der Revolution und den Gründern der Vereinigten Staaten prägt, war Gilbert Stuart (1755-1828): »The preeminent portraitist of federal America was, incontestably, Gilbert Stuart; it is through his eyes more than through any others that we see not only the faces of the nation’s most illustrious inhabitants of the period but the 30

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veritable face of federal society itself« (Sadik 22). Stuart wurde nach 1775 weitgehend in England ausgebildet, wo sein elegantes Vollporträt des Schotten William Grant unter dem Titel The Skater (1782) zum Erfolg wurde. Nach seiner Rückkehr nach Amerika 1782 arbeitete er in New York, Philadelphia und Washington und ließ sich 1805 endgültig in Boston nieder. Die Unzuverlässigkeit, mit der er bezahlte Porträtaufträge annahm und nicht beendete, hatte seinem Ansehen schon in England und Irland geschadet. In den Vereinigten Staaten wurde er für eine Vielzahl unvollendeter, aber brillanter und unheroischer Porträts von George Washington, John und Abigail Adams und Thomas Jefferson bekannt. Es sind gerade diese unvollendeten Brustbilder der Persönlichkeiten der Federal Period, die heutigen Betrachtern moderner erscheinen als die vollendeten Porträts zu Repräsentationszwecken wie etwa das staatsmännische »Landsdowne«-Porträt Washingtons von 1796. Die Wirkung mag auf den quasi-impressionistischen, fast spontanen Charakter der unfertigen Bilder zurückzuführen sein, die wie spontane Ölskizzen wirken und die augenblickliche Gemütsverfassung der Porträtierten wiederzugeben scheinen (vgl. Novak, American Painting 33). Vielleicht ist es auch die weitere Verwendung der Stuart-Porträts, vor allem des »Athenaeum«-Porträts von George Washington, durch Larry Rivers und andere Künstler des ausgehenden 20. Jahrhunderts, die den Eindruck erweckt, dass sie immer noch gegenwärtig erscheinen. Die Historiengemälde und Porträts von John Trumbull (1756-1843) hingegen scheinen in ihrer Formelhaftigkeit vollständig der vergangenen Epoche anzugehören. Trumbull hielt sich wiederholt und für mehrere Jahre in London auf und wurde von seinem Lehrer Benjamin West ermutigt, große historische Gemälde der Revolutionsereignisse zu malen, um das Geschehen und die Teilnehmer bildlich zu verewigen. Die Skizzen zu diesen Historienbildern waren schon vor 1789 fertig gestellt, aber Trumbull erhielt erst 1817 den Auftrag des Kongresses, die Wandgemälde für die Rotunde des Kapitols zu malen. Die Skizzen für die »Declaration of Independence« und die beiden Schlachten, in denen die Engländer unterlagen, sind recht beeindruckend und zeigen, zu welch malerischer und kompositorischer Qualität Trumbull gerade in dem schwierigen Genre der historischen Monumentaldarstellung fähig war. Die Ausführung hingegen war weitaus steifer; besonders das vierte Wandgemälde mit der Darstellung George Washingtons, der 1783 sein Kommando an den Kongress zurrückgibt, zeigt eine Versammlung recht leblos erscheinender Figuren. Die fertiggestellten Gemälde stießen bei den meisten Betrachtern auf Kritik, als sie 1824 zum ersten Mal öffentlich gezeigt wurden, und der Kongress entzog dem Maler den Auftrag für die weiteren vier Panele.

1.3 Die Entdeckung der Landschaft im 19. Jahrhundert Die Gemälde Thomas Coles (1801-1848) gelten als Beginn einer Maltradition – der Hudson River School – und einer Sehtradition – der Landschaftsbetrachtung – um 1830, die sich in Varianten durch das gesamte 19. Jahrhundert zieht. Amerikaner entdeckten über die Landschaftsmalerei einen Gegenstand, der ihr Land abhob von der meist kultivierten Natur Europas. Die Wildnis, die Cole und zeitgenössische Maler auf ihren Gemälden zur 31

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Anschauung brachten, entsprach zwar nicht ganz der tatsächlich vorgefundenen Landschaft in den Catskill Mountains, den White Mountains oder an den Niagarafällen, sondern war nach Skizzen unterschiedlicher Ansichten der Natur im Studio zusammengestellt und zu jeweils imaginären und idealen Landschaft komponiert. Diese Vorstellung von einer idealen Landschaft kam in vielerlei Hinsicht der Forderung Ralph Waldo Emersons nach: »In landscapes the painter should give the suggestion of a fairer creation than we know. The details, the prose of nature he should omit and should give us only the spirit and splendor« (327). Die Bildresultate ergänzten und förderten bei den Betrachtern jedoch die Vorstellung einer besonderen amerikanischen Landschaft, deren Kontrast von Erhabenem und Schönen über die ästhetische Wirkung hinaus das Göttliche sichtbar werden ließ. Das Naturerleben wurde zu einem wesentlichen Bestandteil kultureller Erfahrung; denn für die Landschaftsmaler wie für die Bürger Amerikas galt, dass die Natur begehbar geworden war (vgl. Brumm 48). Die Ikonografie dieser Landschaftsbilder bot bereits im 19. Jahrhundert Anlass zu zahlreichen literarischen, philosophischen und nationalen Deutungen, die das Betrachten der (fast) unberührten Wildnis zum Ereignis machten, das moralisch wertvoll und politisch bedeutsam war. Die Vorstellung von einer Wildnis, in der Gott unmittelbar erlebt werden konnte, war weit verbreitet und wurde durch die Bilder der Landschaftsmaler bestätigt.

Abb. 4: Thomas Cole (1801-1848), View from Mount Holyoke, Northampton, Massachusetts, After a Thunderstorm; The Oxbow, 1836. Öl auf Leinwand; 130,8 x 193 cm. bpk/The Metropolitan Museum of Art, New York. Thomas Coles ikonisches Bild wurde bewusst so komponiert, dass die Betrachter im Kontrast zwischen Wildnis und kultivierter Landschaft ein künstlerisch-prophetisches Verhältnis des Malers zur Natur als mythisch akzep32

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tieren konnten: »Cole instilled in his audiences acceptance of the ›artistprophet’s relation to [wilderness] in mythic terms‹« (Groseclose 123). Das monumentale Gemälde, dessen Flusslandschaft am Connecticut River ihm inzwischen den verkürzten Titel The Oxbow gegeben hat, zeigt links die ungezähmte Natur unter abziehenden Gewitterwolken und als Kontrast dazu rechts im Tal und im Licht die pastorale Landschaft mit Feldern, Obstplantagen und sanften Hügeln im Hintergrund. Die erhöhte Position des Betrachters erlaubt einen nahezu uneingeschränkten Fernblick auf kultiviertes Land in hellem Grün rechts, während links im Bild die Wildnis dunkelgrün und braun erscheint. Die diagonale Aufteilung der beiden Ansichten der Natur wird lediglich unterbrochen durch einen zusammengeklappten Schirm, der am Abhang im Boden steckt und in die Bildhälfte der kultivierten Landschaft ragt, als wiese er wie ein Zeigestock von einem Aspekt der Natur zum anderen. Der Schirm wiederum gehört dem Maler, der etwas weiter links in der fast exakten Bildmitte sitzt, jedoch nicht ins Tal, sondern zum Betrachter schaut. Groseclose stellt angesichts dieser Mittlerposition zwischen Betrachter und Gegenstand die Frage: »If the image represents the artist-prophet, what bearing does that have on the viewpoint here, which is towards the beautiful, the cultivated farmland, suppressing the sublime, the forested mountain?« (124). Sie beantwortet diese Frage ganz im Sinne der heutigen Umwelthistoriker mit der bereits bei Cole nachzuweisenden Realisierung, dass Wildnis kein Zustand, sondern ein ständiger Prozess ist. Für den Maler bedeutet dies, dass er im Bild der Landschaft nicht etwas festhält, das vergänglich ist, sondern etwas entwirft, das die Vergänglichkeit bereits sichtbar macht. Kaum ein Landschaftgemälde Coles verzichtet auf Hinweise der nahen Zivilisation – der rauchende Schornstein eines Blockhauses in der Ferne, ein Reiter zwischen den Bäumen, eine Mutter mit Kind am Rand des Sees – oder sogar auf die fortschreitende Zerstörung – fast überall finden sich abgeholzte Bäume im Vordergrund, um den Blick freizugeben auf ein Panorama und gleichzeitig auf die Vernichtung der Wälder zu verweisen. Im einzelnen Landschaftsbild wird eben jene Vergänglichkeit sichtbar, die der Maler auch in großen allegorischen Zyklen dargestellt hat: The Voyage of Life (1839-40) als Kahnfahrt von Kindheit über Jugend bis zum Alter; The Course of Empire (fertiggestellt 1836) als Illustration zu Aufstieg und Fall der Zivilisationen, das Angela Miller konsequent als politische Allegorie und als Parabel der Ära von Andrew Jacksons Präsidentschaft liest (vgl. Miller, »Thomas Cole« 59-76).9 Coles »Essay on American Scenery« (1836) wurde wegweisend für das malerische und dichterische Konzept, die wilde und unkultivierte Natur mit ihrer »stern sublimity« mit der kultivierten Landschaft und ihren »thousand domestic affections and heart-touching associations« (3) zu kontrastieren und in einer spannungsreichen Komposition zusammenzufügen. Die von Edmund Burke geprägten Kategorien des Erhabenen und des Schönen werden im 19. Jahrhundert erweitert um das Pittoreske, das sich gerade für die Malerei be9

Diese Deutung von Coles allegorischen Gemälden als ideologisch signifikant wird von Bryan Wolf auf die Landschaftsmalerei ausgeweitet. Ausgehend von den zeitgleichen Ereignissen im Februar 1848 – Coles früher Tod und das Ende des mexikanischamerikanischen Kriegs – deutet er die Nachfolger Coles als diejenigen, die romantische Erhabenheit und die latente Bedrohung bewusst zu versöhnen suchen (vgl. Wolf).

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sonders eignet. Was im Landschaftsgemälde daraus entsteht, ist kein vorgeblicher Realismus, sondern ein »America of the imagination«, wie LawsonPeebles schreibt: »It is also in an allied tradition of negation. According to this tradition, what Europe is, America is not. America must be the New World, because Europe is the Old World« (11). Cole beschreibt in seinem Essay den Sonderstatus amerikanischer Wildnis und ihrer uneuropäischen Ästhetik: »though American scenery is destitute of those circumstances that give value to the European, still it has features, and glorious ones, unknown to Europe« (4). Er registriert jedoch sehr wohl den Expansionismus und Utilitarismus der Zeit Jacksons, kritisiert die fortschreitende Kultivierung der Wildnis in der Westwärtsbewegung der Vereinigten Staaten, und gegen Ende des Essays beklagt er, wie prekär die noch existierende Balance zwischen Wildnis und kultiviertem Land sei und wie weit die Zerstörung sichtbar werde: »the ravages of the axe are daily increasing« (12). Es ist keine sehr optimistische Sicht auf die Entwicklung und Veränderung der amerikanischen Landschaft. Der Landschaftsmaler in unmittelbarer Nachfolge Coles ist Asher B. Durand (1796-1886), der in dem berühmten Kindred Spirits (1849) den Maler Cole neben dem Dichterfreund William Cullen Bryant inmitten einer charakteristischen, doch imaginierten Szenerie der Catskills zeigt, die eben jene Landschaftselemente aufweist, die Bryant und Cole in ihrem Werk hervorgehoben hatten. Das Bild ist eine Hommage an den Begründer der Hudson River School und an den Dichter, der zu jenen Vertretern der amerikanischen Kultur in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gehört, deren Werk im Naturverständnis des Philosophen Ralph Waldo Emerson (1803-1882) den prägnantesten Ausdruck findert. Arthur Danto vermerkt etwas tadelnd, Durands Bild erziele eine höhere Wahrheit nur auf Kosten der Wahrhaftigkeit, und er unterstellt dem Maler, eine solche Komposition für die Realität gehalten zu haben: »Durand thought of himself as rendering things as they are, but it remained consistent with his enterprise to regiment and rearrange visual detail in the interests of some spiritually convincing message« (Danto, Encounters 141). Danto verschweigt jedoch, dass Durand sich bereits 1850 von der Tradition der Hudson River School emanzipierte und zum ersten amerikanischen Landschaftsmaler wurde, der diese idealisierten, oft symbolischen Ansichten der Natur aufgab, um sich einer echten Pleinair-Malerei zuzuwenden. Von seinen Schülern forderte er einen neuen topografischen Realismus; seine zahlreichen Studien einzelner Bäume und Felsen zeigen dieses neue realistische Konzept, das Skizzen nach der Natur favorisierte und bis ins 20. Jahrhundert hinein Gültigkeit besaß. Jasper Francis Cropsey (1823-1900) gehörte zur zweiten Generation der Hudson River School; seine dramatischen Herbstbilder wurden sogar in London erfolgreich ausgestellt. Cropsey komponierte seine Bilder ganz nach dem Vorbild Coles. Beide achten darauf, die Begrenzung der Bildmitte durch Bäume, Felsen oder Gebirgszüge rechts und links so zu zentrieren, dass Seen oder Flusslandschaften nahezu in der Mitte positioniert sind und, falls die im Bild dargestellte Tageszeit dies zulässt, das Sonnenlicht reflektieren. Diese seit Claude Lorrain verbreitete Bildaufteilung wird bei späteren amerikanischen Landschaftsmalern vom Hudson River Valley auf die Wildnis im Westen übertragen.

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Eine neue Bewegung in der Landschaftsmalerei, die zwar aus der Hudson River School hervorging, sich aber in eine stilistisch völlig neue Richtung entwickelte, ist die des Luminismus. Sie erhielt diesen Namen zwar erst 1954 durch den Kunsthistoriker John I.H. Baur, aber die Bezeichnung wurde inzwischen zur Klassifizierung einer verbreiteten Maltradition, deren relativ kleinformatige Bilder sich thematisch durch mangelnde Dramatik auszeichnen sowie durch eine besondere Qualität der Stille. Anders als der Begriff Luminismus insinuiert, ist es selten eine präzise auszumachende Lichtquelle, die den Bildern die Helligkeit verleiht, sondern es sind indirekte Lichteffekte, die jedes Detail auch noch in großer Distanz in unverminderter Schärfe heraustreten lassen. Ohne sichtbare Pinselstriche, d. h. ohne eine erkennbare Aktion des Malers wird Lichteinfall hier zum Gegenstand einer Darstellungsweise: »Luminist light tends to be cool, not hot, hard not soft, palpable rather than fluid, planar rather than atmospherically diffuse. [...] In luminism, the absence of stroke heightens the textural properties of natural elements beyond the compass of normal vision« (Novak, »Luminism« 25). Beim Betrachten entsteht der Eindruck einer auch in der Distanz unverminderten Schärfe aller Objekte bis zum Horizont, die von der menschlichen Wahrnehmung nicht erreicht werden kann; weit entfernte Wellen auf dem Wasser erscheinen ebenso präzise akzentuiert wie die Kiesel am Strand im Vordergrund (vgl. Novak, »Luminism« 25-26). Die Wirkung ist nur vergleichbar mit der einer fotografischen Aufnahme, die mit geringer Blendenöffnung alles gleich scharf darstellen kann. Novak spricht von dem Effekt eines »illusively hyper-real image« und sieht im Luminismus einen völlig eigenständigen amerikanischen Malstil: »For luminism is one of the most truly indigenous styles in the history of American art, a way of seeing so intimately related to the artist’s idea of world and his relation to it that it can be identified not only in landscape painting but also in still life, genre, and portraiture« (Novak, American Landscape 95). Diese Erweiterung der Bezeichnung Luminismus über die Landschaftsmalerei hinaus wird vor allem für die Genremalerei, etwa bei William Sidney Mount und George Caleb Bingham, von Bedeutung sein; das »illusively hyper-real image« erweist sich schließlich für das gesamte 20. Jahrhundert als besonderes Merkmal der amerikanischen Malerei und wird im Fotorealismus zum eigenständigen Bild. John Frederick Kensett (1816-1872), einer der bekanntesten Luministen, begann als Schüler von Asher B. Durand im Kreis der Hudson River School zu malen und begleitete Durand 1840 nach Europa. Doch trotz des achtjährigen Aufenthalts in Paris und London wird später kaum etwas von europäischem Einfluss zu spüren sein. Kensetts Bildthemen weisen auf sein vorrangiges Interesse an den Küsten Neuenglands. Die kleinformatigen Gemälde sind minutiöse Studien der Felsformationen am Meer und zeigen fast ausnahmslos keine symmetrische Bildbegrenzung in der Tradition Claude Lorrains, die von den Hudson River Malern noch weitgehend eingehalten worden war. Hier nun findet sich jeweils rechts oder links ein ungehinderter und ungerahmter Blick aufs Meer, der die Bilder befreit und öffnet. Zugleich betont diese Öffnung den tiefliegenden Horizont unter meist wolkenlosem Himmel. Die Landschaften Kensetts erscheinen naturalistisch im Vergleich zu denen Coles, gerade weil die konventionelle romantische Bildkomposition aufgegeben wurde und stattdessen Ansichten der Natur in wechselndem Licht mit großer Genauigkeit studiert und gemalt werden. Die Farben, die er be35

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vorzugt verwendet, sind verhaltene Braun-, Graugrün- und Goldtöne. Die Felsen und Steine sind genau modulierte Studien, die sowohl ihre scharf konturierten Formen wie auch die Schattierungen von Flechten, Schatten oder Wasserstand registrieren, und das fast unbewegte Meer betont die meditative Stille, die dieser Natur innewohnt. Kensett war wie sein Malerkollege Eastman Johnson Mitbegründer des Metropolitan Museum in New York, das 1872 öffnete. Wie bei Kensett findet sich auch bei Fitz Henry Lane (1804-1865)10 eine Tendenz zum ungehinderten Panorama von Meeresansichten und zur Bild gewordenen Bewegungslosigkeit. Lane blieb wie Kensett wenig beeinflusst von den dramatischen Gebirgslandschaften der Hudson River Maler, sondern malte einen Großteil seines Lebens an der Küste von Massachusetts und Maine. Wie bei Kensett zeichnen sich auch seine Bilder durch ein kompositorisches Prinzip aus, das die Horizontale betont und Ansichten stets frontal und parallel zur Bildbegrenzung arrangiert. Lanes undramatische, kontemplative Seebilder, Küstenlandschaften und Hafenansichten sind reine Stimmungsbilder; sie haben in ihren Lichteffekten am und auf dem Wasser eine fast transparente Qualität, weil sie nirgends sichtbare Pinselstriche aufweisen und damit die inhärente Stille dieser Bilder noch betonen. Die Schiffsmasten, deren Kreuzform den tiefliegenden Horizont überragen, erinnern gelegentlich an niederländische Maler oder an Caspar David Friedrich, obwohl Lane nie in Europa war. Die jahrzehntelange Arbeit als Grafiker wird bei Lane wie auch bei Kensett an den genauen Naturstudien sichtbar, die den Gemälden stets vorausgehen. Novak prägte dafür den Begriff »conceptual realism« (American Landscape 117) und setzt damit den Luminismus ab von dem romantisch überhöhten Realismus eines Thomas Cole; sie spricht von »Lane’s ›constructivist‹ instinct, his architectonic sensibility« (American Landscape 119) und zeigt, dass gerade dieses Stilelement bereits auf Thomas Eakins oder Charles Sheeler vorausweist. Martin Johnson Heade (1819-1904) nimmt selbst unter den Luministen eine Sonderstellung ein, weil sich seine intensive malerische Beschäftigung neben der Landschaftsmalerei auf wenige ausgewählte Bildthemen erstreckte, die er in Serien produzierte. Blütenstillleben von Magnolien und Orchideen, oder Kolibris, die er auf Reisen nach Brasilien malte, stießen vermutlich wegen der Exotik der Bildgegenstände auf zeitgenössisches Interesse. Die Ansichten der eintönigen Salzmarschen in Rhode Island und Massachusetts, von denen er rund einhundertzwanzig produzierte, wurden erst im 20. Jahrhundert gewürdigt. Die fast minimalistischen Landschaftsbilder zeichnen sich durch stets gleichbleibende Bildgegenstände aus: Wiese, Heuhaufen, Fluss, Horizont, Wolke, Licht – »a simple repertory of forms« (Benfey 89). Die runden Heuhaufen auf ihren Trockengestellen werden auf den flachen Salzwiesen immer wieder neu arrangiert; das Sommerwetter ist wechselhaft, aber selbst Gewitterwolken sind nie bedrohlich; manchmal tauchen in der Ferne Bauern, Fischer oder ein Heuwagen auf, aber die Ansichten bleiben ereignislos. Die Bilder wirken besonders durch das meist indirekte Licht, dessen Quelle, ganz wie bei Lane und Kensett, im Bild selbst nicht auszumachen ist. Neben dem 10 Bis vor wenigen Jahren wurde der mittlere Name Lanes mit Hugh angegeben. Die großen Museen wie das Boston Museum of Fine Arts haben ihn inzwischen geändert und schreiben Fitz Henry Lane.

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Arrangement der Heuhaufen und der bewussten Restriktion der Objekte im Bild ist die Präzision in der Wiedergabe atmosphärischer Stimmungen wesentliches Unterscheidungsmerkmal. Die gelegentlich registrierten Sonnenuntergänge über den Weiten der Salzmarsch sind brillante Spektakel, die die Nähe des Meeres anzeigen.

Abb. 5: Martin Johnson Heade (1819-1904), Salt Marshes, Newburyport, Rhode Island, ca. 1866-76. Öl auf Leinwand; 39,37 x 76,83 cm. Museum of Fine Arts, Boston. Gift of Maxim Karolik for the M. and M. Karolik Collection of American Painting, 1815-1865. Photograph © 2010 Museum of Fine Arts, Boston. Heade malte diese Ansichten in betontem Querformat; die Bilder sind stets doppelt so breit wie hoch, um die horizontale Ausdehnung der Marschen zu akzentuieren. Es liegt nahe, wie Benfey schreibt, diese äußere Szenerie als Korrespondenz zu einer privaten, inneren Landschaft von sich verändernden Stimmungen zu lesen (vgl. 89-90). Ganz im Gegensatz zur Ereignislosigkeit der Marschansichten stehen Heades Gewitterbilder wie The Coming Storm (1859) oder Approaching Storm: Beach Near Newport (ca. 1860) mit bedrohlich schwarzem Himmel über dem offenen Meer und fahlem Licht auf den Wellen oder dem Ufer, wo ein stiller Betrachter sitzt und das Unwetter abwartet. Wie Frederic Edwin Churchs Twilight in the Wilderness kann man auch die Gewitterbilder Heades als Allegorien verstehen, deren politische Implikation auf den kommenden nationalen Konflikt zwischen Nord- und Südstaaten hinweist. Die luministische Malerei eines Kensett oder Lane kennt kaum Aspekte der Wildnis, wohl aber der Einsamkeit; nicht das Grandiose, sondern das Meditative dieser Ansichten ist von Bedeutung. Die Marschlandschaft Heades hingegen ist, wenn auch nur in der Ferne, oft belebt und bearbeitet, wird aber dennoch nicht zur pastoralen Idylle. Die Sparsamkeit des Dargestellten schärft vielmehr den Blick für formale Elemente wie die Spiegelung auf den unbewegt scheinenden Wasserläufen, die markanten Schatteneffekte und Wolkenformationen. Sanford Robinson Gifford (1823-1880) führte wesentliche Elemente der Hudson River School und des Luminismus zusammen: Er malte die bekannte 37

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Landschaft am Hudson und in den Catskills, doch ohne die konventionelle Rahmung der zentralen Ansicht. Das Dramatische der Wildnis wird in der Malerei Giffords aufgegeben zugunsten von Stimmungen, die, gemildert und moduliert durch Lichteffekte, die Stille der Landschaftserfahrung betonen. Das Resultat sind Bilder, die die Konturierung und Schärfe der genannten Luministen ersetzt durch ein warmes Zwielicht, das der Landschaft zarte Farbigkeit verleiht. Diese Weichzeichnung vor allem bei Sonnenuntergängen in den Bergen wurde als artifiziell kritisiert, doch neuere Kunsthistoriker nennen die Lichteffekte Giffords etwas versöhnlicher »transcendental sublime« (Powell 88). Frederic Edwin Church (1826-1900) vereinte die Dramatik der Hudson River Maler mit der Exotik entlegener Landschaften in seinen überdimensionierten Bildern, von denen viele als Ausstellungsereignis in New Yorker Galerien oder in der National Academy of Design präsentiert wurden und sich als Publikumsmagnet erwiesen. Die noch unvertrauten Ansichten des Cotopaxi oder der Anden, von Church selbst als »Great Pictures« bezeichnet, wurden dabei von den Betrachtern ebenso gefeiert wie die Gemälde der Niagarafälle, der arktischen Eisberge oder der nordamerikanischen Wildnis; das berühmte Twilight in the Wilderness (1860) mit seinem flammend roten Himmel erwarb wegen der zeitlichen Nähe seiner Entstehung zum Ausbruch des Bürgerkriegs den Status eines Omens.11

Abb. 6: Frederic Edwin Church (1826-1900), Rainy Season in the Tropics, 1866. Öl auf Leinwand, 142,9 x 214 cm. Museum purchase, Mildred Anna Williams Collection, 1970.9. Image courtesy the Fine Arts Museum of San Francisco. 11 In seinem Katalogtext in American Sublime beschreibt Tim Barringer, Church habe einen solch spektakulären Sonnenuntergang 1858 vom Fenster seines New Yorker Studios in der Tenth Street aus gesehen. Kurze Zeit später fertigte er eine Farbskizze, Twilight, a Sketch an, die vermutlich als Grundlage für das Gemälde diente (vgl. Wilton und Barringer 129).

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Wie sein Lehrer Thomas Cole empfand Church die Wildnis als den noch unveränderten Ort Gottes, und zeitgenössische Rezensenten lasen die Bilder des Malers ebenso: Das Erhabene in der Natur korrespondierte stets mit der religiösen Erfahrung, die u. a. sichtbar gemacht wurde durch Apotheosen des Lichts, wie Powell schreibt (90). Inzwischen gilt Church als der Hauptvertreter des »American sublime« (88). Angeregt durch die Schriften Alexander von Humboldts bereiste Church 1853 und 1857 Mittel- und Südamerika. Die Zeichnungen und Farbskizzen, die er von diesen ausgedehnten Reisen mitbrachte, dienten ihm bis in die 1880er Jahre als Vorlagen für seine Landschaftsbilder. Heart of the Andes (1859) war vor dem Bürgerkrieg seine bekannteste südamerikanische Landschaft, für die mit $ 10.000 der höchste Preis gezahlt wurde, den je ein lebender amerikanischer Künstler erzielt hatte. Die Balance zwischen topografischer Genauigkeit und malerischem Drama wird von Church stets beachtet, wie die korrespondierenden Ansichten des Cotopaxi (1862) und des Chimborazo (1864) zeigen. Die in Rainy Season in the Tropics dargestellte anonyme Gebirgslandschaft der Tropen ist dagegen Ausdruck eines generellen Erschauerns angesichts der Naturgewalt, die in dem Abgrund mit dem schäumenden Fluss in der Bildmitte ihre konkrete Ausformung erhält. Diese Vision des Schreckens, der stets emotionaler Bestandteil des Erhabenen ist, erfährt in der rechten unteren Bildecke das Gegengewicht in einer hell ausgeleuchteten und minutiös gestalteten Passage, in der zwei einheimische Bauern in farbigen Ponchos sich mit ihren Trageeseln begegnen. Ein riesiger doppelter Regenbogen überspannt und versöhnt den Konflikt zwischen unberührter Wildnis und der von Menschen belebten Natur. Dieses Landschaftbild wurde von den Zeitgenossen als Churchs symbolische Darstellung einer möglichen Versöhnung zwischen den Kriegsparteien am Ende des Bürgerkriegs gedeutet; es verweist zudem auf die Ikonografie vom Regenbogen als dem sichtbaren Zeichen von Gottes Gegenwart. Eine ganze Reihe amerikanischer Landschaftsmaler, zu denen George Inness (1825-1894) und John Henry Twachtman (1853-1902) gehörten, entfernte sich deutlich von der Bildgröße sowie den Bildthemen der Hudson River School und vor allem von Churchs Pathos. Inness, der Interesse an der Barbizon-Gruppe in Frankreich zeigte, sich jedoch viel länger in Italien als in Frankreich aufgehalten hatte, malte kleinformatige Landschaften in warmen Farben, deren verhaltene Braun- und Grüntöne an Millet erinnern; Bäume und Wiesen erscheinen in der Dämmerung stimmungsvoll, aber unscharf; sie wirken gelegentlich proto-impressionistisch, obwohl sich Inness recht kritisch über die französischen Impressionisten äußerte. Eines seiner frühen Bilder, Lackawanna Valley (ca. 1855), inkorporiert eine Eisenbahn und ein rundes Depot inmitten der Landschaft. Weitere Landschaften vom Delaware Water Gap zeigen ebenfalls Eisenbahnen in der Ferne; sie stören den Eindruck nicht, weil sie weit entfernt sind, weisen aber deutlich auf die neue Mobilität hin, die auch für die Landschaftsbetrachtung nutzbar gemacht werden konnte. Inness ist nicht der erste oder einzige Landschaftmaler der USA, der die Eisenbahn als neues Element der Landschaft selbst deutet und ins Bild setzt. Es gab gelegentlich Aufträge der Eisenbahngesellschaften für Maler und Fotografen, bildlich auf diese radikal neue Form der Fortbewegung für Touristen hinzuweisen (vgl. Marx 184). Statt die technologische Neue-

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rung zu negieren, wird sie – ganz in Emersons Sinn – in Szene gesetzt.12 Selbst wenn die Eisenbahn für viele das Ende der edenischen Naturvorstellung in Amerika signalisierte, sollten Künstler sie in ihren Darstellungen keinesfalls unterdrücken. Die Maschine war emblematisch für ihre Zeit und inspirierte Dichter, wie die Lokomotiven-Gedichte Walt Whitmans und Emily Dickinsons deutlich zeigen: »[The locomotive] is in effect a transcendental, a sublime machine that embodies forces, meanings, and purposes common to nature and to man (or history)« (Marx 191). Twachtman, der in München und Paris ausgebildet wurde, ist einer der ganz wenigen amerikanischen Maler neben Childe Hassam, auf den die Bezeichnung Impressionist tatsächlich zutrifft. Seine tonalen Bilder zeigen Winterlandschaften, gefrorene Flüsse, blasse Wiesen; Novak bezeichnet seinen Stil als ›importiert‹ (American Landscape 59), eben weil er impressionistisch ist, doch er weist nicht die intensive Farbigkeit der Franzosen auf, sondern vermittelt ein weit melancholischeres Bild der Natur. Für die amerikanische Maltradition blieb der Impressionismus demnach eher eine periphäre Stilrichtung, während zwei zu Lebzeiten unterschätzte Künstler kurz vor der Jahrhundertwende auf technisch ungewöhnliche, aber wirkungsvolle Malweise Ansichten der Natur in symbolisch überhöhten Kompositionen darboten und auf die Entwicklung der Malerei des 20. Jahrhunderts einwirkten. Ralph Blakelock (1847-1919) und Albert Pinkham Ryder (1847-1917) stehen außerhalb der üblichen Malschulen und repräsentieren einen völlig eigenständig entwickelten Malstil. Blakelock, der zwischen 1869 und 1872 den Westen bereist hatte, malte imaginäre und visionäre Landschaften als Nachtansichten. Seine bekanntesten Bilder, die von den Erfahrungen im Westen angeregt worden waren, zeigen Bäume im Mondschein, die sich als dunkle Blattmuster vor dem gelblichen Himmel abheben und den Blick auf Indianerzelte in der Ferne freigeben. Der dicke Farbauftrag enstand in zahlreichen Schichten, die wiederholt abgeschliffen und erneut übermalt wurden. Seine nächtlichen Landschaften sind in ähnlicher Weise poetisch eigenwillige Visionen wie die von Ryder, mit dem er zudem die unkonventionelle Maltechnik gemeinsam hatte. Ryders Bildthemen und die kleinen Bildformate unterscheiden ihn jedoch von Blakelock. Ryder wurde von mythologischen und literarischen Themen inspiriert; einige seiner Bilder waren von Wagner-Opern angeregt worden. Die Bilder sind jedoch keine Illustrationen, sondern eigenständige poetische Bilddramen. Seine Ansichten von Segelbooten auf dem Meer bei Nacht scheinen ihn thematisch in die Nähe der Romantik zu rücken, doch die vereinfachten, oft abstrahierenden Formen und der unorthodoxe Farbauftrag in zahllosen Schichten machen die Bilder auf ungewöhnliche Weise zu Vorboten der Moderne.

1.4 Der amerikanische Westen als Sujet Die kartografische Erschließung des Kontinents hatte bereits 1804 mit der von Präsident Thomas Jefferson autorisierten Expedition begonnen, die von 12 In seinem Essay »Art« (1841) fordert Emerson: »But the artist must employ the symbols in use in his day and nation to convey his enlarged sense to his fellow-men. Thus the new in art is always formed out of the old« (Emerson 328).

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Meriwether Lewis und William Clark geführt wurde und das im Jahr zuvor im Louisiana Purchase von Frankreich gekaufte Territorium nicht nur erkunden, sondern in Zeichnungen, Karten und Tagebüchern möglichst genau beschreiben sollte. Dieses Territorium umfasste keineswegs nur den heutigen Staat Louisiana im Süden der USA, sondern ein riesiges Areal westlich des Mississippi bis an die Grenze zu Kanada. Albert Bierstadt (1830-1902), der seine deutsche Herkunft und Ausbildung in Düsseldorf nicht verleugnen konnte (vgl. Simson 53), schuf monumentale Bilder mit dramatischen Gebirgsansichten wie Rocky Mountains, Lander’s Peak (1863) oder Storm in the Rocky Mountains (1866), die als Ideallandschaften den Betrachtern im Osten der Vereinigten Staaten neue Eindrücke der Region im Westen des Landes vermitteln sollten. Bierstadt hatte 1859 seine erste Expedition in die Rocky Mountains unternommen; das Bild Surveyor’s Wagon in the Rockies (ca. 1859) dokumentiert anschaulich die Reisemodalitäten solcher Expeditionen. Die Berge, die er aus der Ebene erblickte, erinnerten ihn allerdings an die Berner Alpen (vgl. Wilton 181), und entsprechend alpin erscheinen die Rocky Mountains auf den Bildern aus dieser Zeit. Emigrants Crossing the Plains (1867) zeigt eine für die Prärien verblüffende Rahmung für die Szenerie eines Siedlertrecks: Auf der Rechten erhebt sich eine steile Felswand und auf der Linken steht eine Gruppe hoher Bäume, hinter denen die Sonne versinkt. Robert Hughes spricht nicht umsonst von den »sublime histrionics of Bierstadt’s paintings« (Hughes 196). Nach Reisen in Kalifornien entstand eine Reihe von Gemälden des Yosemite Valley, die sich zunächst von seinen Rocky Mountains unterscheiden und in den frühen Ausführungen eher als topografische Entsprechung dessen erscheinen, was er vorfand; spätere Versionen, die Bierstadt in Rom malte, zeigen erneut den Yosemite als fantastische Szenerie, die nach Vollendung des Eisenbahnbaus als touristische Attraktion gehandelt wurde. Fotografen wie William Henry Jackson arbeiteten zunehmend mit Landschaftsmalern des ausgehenden 19. Jahrhunderts wie Thomas Moran (18371926) zusammen, um noch unbekannte Regionen im heutigen Wyoming, Montana oder Arizona zu dokumentieren. Am bekanntesten wurde die Regierungsexpedition nach Wyoming, die dieses Territorium erkundete; zu ihr gehörten sowohl Jackson als auch Moran, der, wie bei allen Landschaftmalern üblich, die riesigen Ölgemälde erst später nach Farbskizzen und gelegentlich auch nach Jacksons Fotografien im Atelier herstellte (vgl. Kapitel 2.3). Das Gemälde Grand Canyon of the Yellowstone (1872) von mehr als zwei mal drei Metern, dessen Authentizität durch die Fotografien Jacksons belegt werden konnte, wurde in der ersten Version für $ 10.000 von der Regierung gekauft. Morans oft dramatischen Ansichten werden vor allem durch den meist erhöhten Standort legitimiert, den er als Betrachter einnimmt, und durch die Dynamik, die den Landschaftsformationen innewohnt. Er ist der Maler, der die konventionelle Bildkomposition seiner Vorgänger durch Rahmung der Ansicht fast vollständig aufgibt und spektakuläre Panoramen der ausgewaschenen und verwitterten Felsformationen präsentiert. Es ist besonders die Farbigkeit seiner Gemälde mit schwefelgelben, roten und sandfarbenen Streifen im Sedimentgestein, die den Romancier Henry James 1875 beim Besuch der Jahresausstellung in der National Academy of Design zwar be-

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eindruckte, aber auch angesichts der unwirklich bunten Palette etwas ungläubig stimmte.13

Abb. 7: George Catlin (1796-1872), The White Cloud, Head Chief of the Iowas, 1844/1845. Öl auf Leinwand; 71 x 58 cm. Paul Mellon Collection. Image courtesy National Gallery of Art, Washington, DC. Der Westen der Vereinigten Staaten blieb in der Landschaftsmalerei des 19. Jahrhunderts ein maßgebliches Bildthema für Maler und Fotografen, obwohl die Regionen im Westen häufig als unbewohnt dargestellt wurden. Indianer oder auch frühe Siedler tauchen im Mittel- oder Hintergrund monumentaler Landschaften nur gelegentlich als kleine Figuren auf, die vage andeuten, dass diese Natur belebt oder bewirtschaftet ist. Einer der Ersten, der vor Ort genaue Studien bei unterschiedlichen nordamerikanischen Indianerstämmen unternahm und diese skizzierte oder malte, war der Rechtsanwalt George Catlin (1796-1879), der ein umfangreiches Œuvre von rund sechshundert 13 »Some of the rocks were most delectable – those, for instance, of Mr. Thomas Moran, in his picture of certain geological eccentricities in Utah. The cliffs there, it appears, are orange and pink, emerald green and cerulean blue; they look at a distance as if, in emulation of the vulgar liberties taken with the exposed strata in the suburbs of New York, they had been densely covered with bill-posters of every color in the rainbow. Mr. Moran’s picture is, in the literal sense of the word, a brilliant production. […] but we remember that all this is in Utah, and that Utah is terribly far away. We cannot help wishing that Mr. Moran would try his hand at something a little nearer home, so that we might have a chance to congratulate him, with a good conscience, not only upon his brilliancy, but upon his fidelity« (James, »On Some Pictures« 167).

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Indianerbildern hinterließ, »in all cases made from nature«, wie er selbst betont (Catlin vii). Nach einer ersten Erkundungsreise mit William Clark, einem der beiden Expeditionsleiter von 1804-1806, nach Wisconsin im Jahr 1830, bereiste er die unterschiedlichen Staaten und Territorien im Westen und Süden der USA zwischen 1832 und 1838 und hielt sich oft wochenlang bei einzelnen der rund fünfzig von ihm besuchten Stämme auf, um deren Lebensgewohnheiten und Bräuche zu studieren. Die Gruppendarstellungen sind maltechnisch oft wenig professionell, registrieren jedoch präzise die Unterschiede im Dorfleben, den Bau der Zelte oder Hütten, die Tänze oder die Büffeljagd. Catlins berühmt gewordenen Einzelporträts hingegen beeindrucken durch ihre Details von Kleidung, Schmuck und Bemalung, die Rang und Stammeszugehörigkeit anzeigen, überdies aber oft auch eindrucksvolle Charakterstudien sind. Das Porträt des Häuptlings der Iowa, wie die der meisten anderen Porträtierten auch, zeigt White Cloud nicht frontal, sondern mit leicht nach links gedrehtem Oberkörper in der Tradition westlicher Porträtmalerei. Der nachdenkliche Gesichtsausdruck und der ruhige Blick nach vorn rechts zeigt die Gelassenheit des Häuptlings. Die Kleidung ist aus einem weißen Felloberteil mit farbigen Applikationen und einer Vielzahl unterschiedlicher Ketten gefertigt; neben Glasperlenketten fällt besonders der wuchtige Halsschmuck aus Bärenklauen auf und ein Band mit einer medaillonartig aufgefädelten Muschel oder einem ›sand dollar‹. Der Ohrschmuck besteht aus Schnüren eng aufgefädelter Perlen und der Kopfschmuck, der die linke obere Ecke des Bildes exakt ausfüllt, beginnt mit einem schwarzen Stirnband, aus dem rote Federn oder Fell herausragen, und wird von zwei Adlerfedern gekrönt. Das Auffallendste sind Gesichts- und Körperbemalung des Iowa: auf dem roten Grundton des Gesichts, der Nase und Mundpartie ausspart, ist die rechte und linke Wange linear mit grüner Farbe dekoriert, die offensichtlich mit vier Fingern der jeweils anderen Hand aufgetragen wurde. Die Bemalung, schreibt Catlin in seinem Erinnerungsbuch für jugendliche Leser, Life Among the Indians (1867), sei als Körperschmuck bei den meisten Indianern wichtiges Ausdrucksmittel: »They mix their colours with bears’ grease; and with the aid of a little bit of broken looking-glass, which they buy of fur traders, they daub the paint on with their fingers used for brushes. Paint is considered by them as part of their dress; and few Indians allow themselves to be seen in the morning until they have spent an hour or so at their toilette, oiling and arranging their hair, and painting their faces and limbs, after which they consider themselves in full dress, and ready for society« (Catlin 101).

Die Unterscheidung der Bemalung innerhalb des jeweiligen Stammes verwies weithin sichtbar auf den Status oder auf besondere Erfolge bei der Jagd und in Kriegen. Als Catlin 1838 an die Ostküste zurückkehrte, versammelte er seine Bilder und die indianischen Artefakte, die er mitgebracht hatte, in seiner Indian Gallery, mit der er amerikanische Großstädte von New York bis Cincinnati bereiste. Nachdem der Kongress es abgelehnt hatte, die Sammlung zu erwerben, reiste Catlin mit der Indian Gallery nach London und Paris, wo die Ausstellung zunächst großes Staunen und Bewunderung hervorrief. Doch das Interesse der Europäer ließ allmählich nach, und 1852 war Catlin schließlich 43

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gezwungen, die Bilder an den Industriellen Joseph Harrison zu verkaufen, der die Sammlung intakt ließ.14 Catlin verstand seine Porträts und Gruppenbilder als Dokumente der vermutlich letzten intakten und authetischen Stammesaktivitäten nordamerikanischer Indianer. Er war sich der Vergänglichkeit dessen, was er auf seinen Reisen erlebte und im Bild festhielt, sehr wohl bewusst, wie man seinen Aufzeichnungen entnehmen kann. Die Künstler, die Catlin nachfolgten, bemühten sich durchaus um Realismus bei ihren Darstellungen der nordamerikanischen Indianer. Seth Eastman (1808-1875) verfügte als Angehöriger des Militärs über langjährige Erfahrungen im Westen und wurde 1850 dem Bureau of the Commissioner of Indian Affairs zugeordnet, um die monumentale sechsbändige offizielle Geschichte der Indianerstämme zu illustrieren und einen visuellen Eindruck vom Leben nordamerikanischer Indianer zu vermitteln. Sein Gemälde Indian Mode of Traveling (1869), das lange im Capitol hing, zeigt Mitglieder des Stammes der Dakota wahrscheinlich beim Verlassen ihres angestammten Lebensraums (vgl. Groseclose 163). Eastman verwischt jedoch durch Titel und Darstellungsweise seines Bildes den historischen Kontext der Vertreibungen und Umsiedlungen, die seit dem Indian Removal Act (1830) unter Präsident Jackson immer wieder stattfanden. Die Westwärtsbewegung erlebte nach dem Ende des Bürgerkriegs einen neuen Höhepunkt und ließ keinen Raum für die Indianer, deren Vertreibung längst begonnen hatte, als Catlin seine umfassende Dokumentation plante und durchführte. Die Erschließung des Westens wurde von einem weiteren deutschen Maler verherrlicht, der amerikanische Themen für sich entdeckt hatte. Emmanuel Leutze ging nach Kindheit und Jugend in Amerika 1841 zurück nach Deutschland und wurde in Düsseldorf ausgebildet. Ausgerechnet er schuf zwei der berühmtesten Bilder des amerikanischen Mythos. Washington Crossing the Delaware (1851) als Erinnerung an den Beginn amerikanischer Unanbhängigkeit war zwar eine akademische Produktion, wie Hughes kritisch anmerkt (vgl. Hughes 192), doch es bleibt ein viel zitiertes Historiengemälde. Westward the Course of Empire Takes Its Way (1861) verherrlicht den Expansionsmythos, der mit dem Schlagwort vom »Manifest Destiny« seit etwa 1840 die Besiedlung des Kontinents als göttlichen Auftrag betrachtete. Eine große Gruppe von Siedlern überquert auf diesem Bild das letzte Hindernis vor der kalifornischen Küste; wie eine Mariengestalt sitzt eine junge Mutter mit ihrem Kind relativ zentral in der Gruppe derer, die die Planwagen und das Vieh dirigieren. Ein junger Siedler steht triumphierend auf einem Felsen und befestigt die Flagge der Union, so als ob die Südstaaten den Bürgerkrieg bereits verloren hätten, und als Bestätigung dieser Entwicklung findet sich ein freier Schwarzer unter den Siedlern. Der Erfolg von Leutzes Monumentalbild brachte ihm den Auftrag der Regierung ein, ein entsprechendes Wandgemälde im Kapitol zu malen. Nach dem Louisiana Purchase ließ sich die ehemalige französische Präsenz weiterhin an vielen geografischen Bezeichnungen und deren Aussprache 14 Die Exemplare der ursprünglichen Indian Gallery wurden von der Witwe Harrisons an das Smithsonian American Art Museum übergeben; die Reiseskizzen und Entwürfe befinden sich im American Museum of Natural History in New York City. Die Farbskizze zu dem späteren Porträt von White Cloud aus dem Jahr 1834 weist den indianischen Namen aus: Mew-hew-she-kaw.

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ablesen, die vielfach bis heute erhalten sind. Zumindest im 19. Jahrhundert konnte durch Herkunft und Sprache von Siedlern und Händlern französischer Einfluss im Gebiet des Mississippi und Missouri nachgewiesen werden. Die Familie des Malers George Caleb Bingham (1811-1879) hatte sich 1819 in Missouri niedergelassen, als das Territorium noch wenig erkundet und besiedelt war. Als Bingham Mitte des 19. Jahrhunderts zu malen begann, war St. Louis bereits zum Ausgangsort zahlreicher Siedlertrecks geworden, die von dort weiter nach Westen zogen. Bingham kannte jedoch die Jahrzehnte vor dieser neuen Entwicklung und produzierte Bilder, die beides zeigten – die vergangene Zeit der Trapper und Pelzhändler ebenso wie die Entwicklung des Handels auf dem Mississippi –, und er erfand ein eigenes Genre mit seinen Gemälden von Schiffern und Flößern. Diese Bilder weisen fast alle die Bezeichnung Jolly Flatboat Men oder Raftsmen im Titel auf; sie zeigen die tanzende, trinkende, Karten spielende Männergesellschaft auf dem Fluss als unordentliche, antibürgerliche Gegenwelt zum geordneten Leben der Ufersiedlungen. Das zweite Genre, das der Autodidakt Bingham zur Perfektion brachte, sind die Versammlungen in Kleinstädten anlässlich lokaler Wahlen oder politischer Schlagzeilen vom mexikanisch-amerikanischen Krieg in der lokalen Presse. Beide Bildthemen und ihre Ausführung erinnern an den großen Genremaler der Ostküste, William Sidney Mount (1807-1868), dessen Bilder ähnlich geometrisch aufgeteilt sind. Beide, so Barbara Novak, arrangieren Menschengruppen und Objekte architektonisch, und wegen der deutlich pyramidalen Bildkomposition der meisten seiner Floßbilder bezeichnet sie Binghams Kunst als »Missouri Classicism« (American Landscape 152).

Abb. 8: George Caleb Bingham (1811-1879), Fur Traders on the Missouri, ca. 1845. Öl auf Leinwand; 73,5 x 93 cm. bpk/The Metropolitan Museum of Art, New York. 45

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Das Bild, das Bingham auch an der Ostküste bekannt machte, war Fur Traders Descending the Missouri. Der Maler hatte das Bild 1845 mit dem ursprünglichen Titel »French Trader and Half-Breed Son« der American ArtUnion in New York angeboten, die es für $ 75 erwarb und unter neuem Titel erfolgreich ausstellte (vgl. Fairbrother 261-262). Es zeigt einen französischen Pelzhändler, der im voll beladenen Kanu mit seinem Mischlingssohn den Missouri hinunter fährt. Neben der Silhouette der beiden Männer, die die Betrachter anschauen, überrascht der Umriss eines vorn im Kanu sitzenden Waschbären (manchmal auch als Katze oder Fuchs bezeichnet, vgl. Fairbrother 262). Das Kanu und die drei Insassen heben sich deutlich von einem diesigen, leicht rosigen Hintergrund ab, der Morgendämmerung anzeigen könnte und der den Flussverlauf mit kleinen Inseln und bewaldeten Ufern vage erkennen lässt. Das Kanu und die Wellenlinien sind wie bei den Luministen exakt parallel zur Bildfläche angeordnet und auf nahezu vollkommene Weise in der unbewegten Wasseroberfläche gespiegelt. Diese Bildkomposition und das diffuse Licht rechtfertigen Novaks Einordnung Binghams als Luminist (vgl. American Painting 155-156). Die Stimmung dieser idyllischen Szene verweist das Bild eher in eine vergangene Zeit und in die Anfänge der Besiedlung des Territoriums. Nicht umsonst erinnert Fairbrother an den Ton von Mark Twains retrospektiver Beschreibung in Life on the Mississippi (1883) (vgl. 261). Der Vater mit seiner Zipfelmütze sieht trotz des rot-weiß-gestreiften Hemds nicht besonders vertrauenerweckend aus, und der Sohn, der sich lächelnd, aber besitzergreifend über den Fellstapel beugt, hat mit seinem Gewehr erst kürzlich eine Ente geschossen, deren toter Körper mit dem roten Einschussloch sich genau im Zentrum des Bildes befindet. Es handelt sich hier auf dem Fluss ganz offensichtlich um einen Grenzbereich zwischen Wildnis und Zivilisation, um eine Frontier mit eigenem Gesetz. Die französischen Händler, so Fairbrother, »were among the more exotic and curious figures on the river, representative of a far more rugged, isolated, and independent way of life than that of the large fur companies working in teams from camps. Thus this picture is a nostalgic record of an outmoded way of life that was being gradually displaced« (Fairbrother 261).

1.5 Realismus des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts Einer der wenigen zeitgenössischen Kritiker, der um 1900 die amerikanische Malerei nicht einfach abwertend der französischen Malerei entgegenstellte, war Sadakichi Hartmann, ein seit 1894 naturalisierter Amerikaner deutschjapanischer Herkunft. Sowohl Winslow Homer als auch Thomas Eakins hielt er für herausragende Repräsentanten amerikanischer Energie in der Malerei, doch sie waren keineswegs die einzigen, die in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts die amerikanische Malerei auch in Europa salonfähig gemacht hatten. James Abbott McNeil Whistler (1834-1903) und John Singer Sargent (1856-1926) gehörten zu den bedeutenden Repräsentanten amerikanischer Malerei in Europa, denn sie lebten und arbeiteten ausschließlich in Europa und werden als Expatriierte deshalb hier nur knapp vorgestellt. Whistler hatte Amerika früh verlassen, aber anders als Mary Cassatt (18451926) war er nicht in Amerika ausgebildet worden. Während Cassatt bis zum 46

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Ende ihres Lebens mit nur kurzen Unterbrechnungen in Paris blieb, ließ sich Whistler, der Amerika 1855 verlassen hatte, bereits 1859 in London nieder und wurde einer der ersten westlichen Maler, der japanische Holzschnitte sammelte und japanische Elemente in seine Porträts und figürlichen Darstellungen inkorporierte. Vor allem seine tonalen Landschaften, die er in einem zunehmend dünneren und transparenteren Farbauftrag produzierte, erinnern in ihrer Komposition deutlich an die gezielten Asymmetrien und Diagonalen japanischer Drucke. Diese farblich subtil aufeinander abgestimmten Dämmerungs- und Nachtansichten am Wasser tragen fast alle musikalische Titel, um die Stimmung hervorzuheben. Eine juristische Auseinandersetzung mit dem Kunstkritiker John Ruskin um die nahezu abstrakte Feuerwerksdarstellung Nocturne in Black and Gold: The Falling Rocket (1875) kostete Whistler zwar sein Vermögen, doch er wurde in den letzten Jahrzehnten ein sowohl in Europa als auch in Amerika nachgefragter Künstler, der trotz seiner Biografie als Expatriierter erstaunlicherweise als amerikanisch betrachtet und anerkannt wurde. Mary Cassatt erlangte zunächst durch ihre Zusammenarbeit mit Edgar Degas künstlerische Statur und malte ihre Studien von Müttern und Kindern weitgehend impressionistisch. Die große Austellung japanischer Holzschnitte in Paris 1890 beeinflusste sie zutiefst, und sie näherte sich danach in ihren Arbeiten zunehmend der Komposition der Japaner an, wie man aus der klaren Linearität schließen kann. Cassatt hielt die Verbindung nach Amerika stets aufrecht; ihrer Vermittlung ist es zu verdanken, dass die Familie Havemeyer aus Philadelphia eine substantielle Sammlung französischer Impressionisten aufbaute, die später in den Besitz des Metropolitan Museum überging. John Singer Sargent ist in dieser Gruppe expatriierter Maler derjenige, der Amerika zunächst am wenigsten verbunden war. Seine Eltern waren Amerikaner, die sich jedoch wie viele kosmopolitische Zeitgenossen oft in Europa aufhielten. Er wurde in Florenz geboren und wuchs in Frankreich auf: »Sargent was European in his tastes and upbringing, American in his habits of thought and moral code« (Ormond 11). Als er 1876 zum ersten Mal nach Amerika reiste, wurde er sofort einer der begehrtesten Porträtmaler der Bostoner und New Yorker Gesellschaft. Isabella Stewart Gardner, die Gründerin eines eigenen Museums in Boston, ließ sich später mehrfach von ihm porträtieren. Das Portrait de Mme. ***, später Madame X genannt, das die Amerikanerin Virginie Gautreau in einem gewagten, tief ausgeschnittenen Kleid, einem heruntergerutschten Träger und mit bläulicher Haut zeigt, wurde 1884 zu einem Skandal in Paris, der sicher auch mit der Persönlichkeit der Porträtierten selbst und ihren Affären zusammenhing. Sargent übersiedelte deshalb nach London, wie Whistler vor ihm, und entwickelte sich zu einem ebenso begabten Landschaftsmaler, der vor allem im Aquarell sein Medium fand. Sein Malstil, der sich aus dem unmittelbaren Farbauftrag mit dem Pinsel auf der Leinwand, d. h. ohne vorhergegangene Bleistiftskizze, entwickelte, vermittelt häufig den Eindruck des Spontanen oder sogar Improvisierten, und ihm wurde bis vor wenigen Jahren häufig Oberflächlichkeit vorgeworfen. Wie unangemessen ein solches Urteil ist, zeigen die bei aller Eleganz außerordentlich subtilen Charakterdarstellungen, die psychologische und sozialpolitische Einsichten in die Gesellschaftsschicht der Porträtierten erkennen lassen und auf heutige Betrachter entlarvend wirken.

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Winslow Homer (1836-1910), der ältere der beiden großen amerikanischen Realisten, wuchs in Cambridge, Massachusetts, auf. Er lebte und arbeitete fast ausschließlich in Amerika; eine späte Englandreise 1881-82 veränderte nur wenig an den Bildthemen und dem Malstil des Autodidakten. Er wurde als Lithograf ausgebildet und arbeitete anschließend für Harper’s Weekly. Im Bürgerkrieg schickte ihn die Zeitschrift wiederholt an die Front in Virginia, wo er Illustrationen zu den Kriegsberichterstattungen anfertigte. Diese Skizzen und Zeichnungen, die als Stiche in der Zeitschrift reproduziert wurden, gehören heute neben den Fotografien aus Mathew Bradys Studio zu den wichtigsten Bildern vom Kriegsgeschehen, obwohl sie kein Schlachtengetümmel zeigen, sondern lediglich Szenen am Rande. Die Bürgerkriegsgemälde, die aus diesen Beobachtungen entstanden, erinnern eher an Walt Whitmans Eindrücke vom Krieg in den Gedichten aus »Drum-Taps«. The Veteran in a New Field (1865) zeigt die Rückenansicht eines Kriegsheimkehrers, der Jacke und Feldflasche in die Stoppeln gelegt hat, um sein Weizenfeld zu mähen. Sein weißes Hemd hebt sich klar ab vom Gelb des Feldes und von dem blauen Himmel darüber. Das Bild enthält wie so viele realistische Gemälde ein narratives Element, doch es ist so verhalten, dass man lediglich in der Bewegung der Sense die Entschlossenheit erkennen kann, den Krieg hinter sich zu lassen und wieder jene Feldarbeit aufzunehmen, die Frauen nur schwer bewerkstelligen konnten. Die Anspielung an den Sensenmann ist jedoch offensichtlich. Das zweite der Bürgerkriegsbilder, Prisoners from the Front (1866), lässt ahnen, warum die Union den Krieg gewonnen hatte. Vor dem jungen Unionsoffizier General Francis Barlow stehen drei Männer, begleitet von einer Unionswache. Der konföderierte Offizier wirkt herausfordernd und arrogant; neben ihm steht ein Mann, der zu alt ist zu kämpfen, und links ein bäuerlich aussehender Junge, der nichts zu verstehen scheint. Hughes vergleicht Barlows offenes, intelligentes Gesicht mit dem des jungen Colonel Robert Shaw auf der Skulptur von Augustus Saint-Gaudens am Boston Common; Aussehen und Haltung des Südstaatlers hingegen bezeichnet er als »the mean-as-hell firebrand look of the Southern cavalier« (Hughes 305). Auch hier ist das narrative Element der Gruppendarstellung zu verhalten, um eine anekdotische Deutung zuzulassen. Homer wandte sich nach dem Bürgerkrieg zunächst pastoralen Genrebildern zu, die seiner Erinnerung an die ländliche Umgebung von Cambridge zu entstammen scheinen. Spielende Kinder, Schulhäuser, Kühe hinter dem Zaun oder eine Apfelernte werden nostalgisch, doch weitgehend ohne Sentimentalität präsentiert (vgl. Burns, Pastoral Inventions 214-20). Kindheit bei Homer erinnert ein wenig an Mark Twains The Adventures of Tom Sawyer. Im gleichen Zeitraum entstanden seine Aquarelle und Ölbilder von Schwarzen im Süden. Winslow Homer war der einzige weiße Maler dieser Nachbürgerkriegszeit, der Schwarze ohne jede Herablassung und ohne die häufig bei anderen Malern zu beobachtende Stereotypisierung bei Verrichtungen zeigt, die deutlich machen, dass sie einen Alltag haben, über den sie selbst verfügen. Lediglich A Visit from the Old Mistress (1876) verweist auf die historischen Zusammenhänge und die jüngste Geschichte vom Ende der Sklaverei. Selbst Bilder wie The Cotton Pickers (1876) oder Upland Cotton (1879-95) zeigen die schwarzen Baumwollpflückerinnen, die während der Depression der Nachbürgerkriegsjahre auf die verhassten Baumwollfelder zurückkehren 48

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mussten, nicht als Opfer, sondern als selbstbewusste junge Frauen. Selbst nach zeitgenössischem Urteil unterschieden sich Homers Bilder grundlegend von denen Millets, die die Entbehrungen französischer Landarbeiter erkennen ließen (vgl. Wood und Dalton 96-98). Als Homer 1883 nach Prout’s Neck in Maine übersiedelte, wurden die Bildthemen ergänzt um Darstellungen von Fischern und Seeleuten, häufig in der Dramatik des Kampfes mit den Elementen. Die Landschaftsbilder sind nun vorrangig Küstenstudien von Felsen, Brandung und Wellen im Sturm, die Homer von seinem Haus am Meer beobachtete und die gelegentlich an Ryder erinnern (vgl. Updike, Still Looking 68). Sommeraufenthalte in den Adirondacks ergänzen die Bildthemen um Wald- und Jagdszenen, die vorwiegend als Aquarelle entstanden. Später kamen bei Reisen in die Karibik ebenfalls vor Ort gemalte Ansichten hinzu, die Homer als einen der ganz großen Meister des Aquarells ausweisen.

Abb. 9: Winslow Homer (1836-1910), Fox Hunt, 1893. Öl auf Leinwand; 96,5 x 174 cm. 1894.4. Courtesy of the Pennsylvania Academy of the Fine Arts, Philadelpia. Joseph E. Temple Fund. Die Darstellung existentieller Auseinandersetzungen blieb nicht beschränkt auf Mensch und Meer. Eines der überraschendsten und größten Gemälde, das Homer produzierte, zeigt einen Fuchs im Winter, der versucht einer Schar Krähen zu entkommen. Der Titel Fox Hunt bezieht sich nicht auf die übliche Fuchsjagd durch Menschen, sondern bezeichnet die Jagd der Krähen, die den Fuchs so lange durch den tiefen Schnee scheuchen, bis er entkräftet liegen bleibt und zur Beute der Krähen wird. In der Natur kann der Jäger durchaus zum Gejagten werden. Es ist deutlich zu sehen, dass Homer, wie die meisten Maler im ausgehenden 19. Jahrhundert, von japanischen Holzschnitten gelernt hatte. Er übernahm etwa die Bildkomposition, die auf der Betonung der Diagonalen beruht. Der Fuchs bewegt sich vom menschlichen Betrachter weg; sein Körper formt eine Linie von rechts unten nach links oben. Der Fuchs hat nur Augen für die beiden riesigen Krähen rechts über ihm, während weitere in der Entfernung lauern. Das Meer vor ihm bietet keine Ret-

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tungsmöglichkeit, und die roten Hagebutten an zarten Zweigen links im Schnee deuten an, dass das Ende blutig sein wird. Thomas Eakins (1844-1916), der immer zusammen mit Winslow Homer als der große realistische Maler Amerikas genannt wird, verbrachte sein Leben in Philadelphia, wo er lange Kunstprofessor an der Pennsylvania Academy war. Der akademische Kontext war für Eakins so wichtig wie er für Homer irrelevant war. Die Gemälde von Eakins beruhen nicht auf Spontaneität, sondern auf genauen Beobachtungen und Skizzen. 1880 entdeckte Eakins die Fotografie für sich und nutzte sie fortan konsequent für anatomische Studien und Bildkompositionen.

Abb. 10: Thomas Eakins (1844-1916), Starting Out After Rail, 1874. Öl auf Leinwand auf Hartfaserplatte; 61,59 x 50,48 cm. Museum of Fine Arts, Boston. The Hayden Collection – Charles Henry Hayden Fund. 35.1935. Photograph © 2010 Museum of Fine Arts, Boston. Neben den berühmten Ruderbildern auf dem Schuylkill River bei Philadelphia ist es eine Reihe von Segelbildern, die Eakins’ Vorliebe für Bewegungsstudien auf dem Wasser zeigt. Das kleine einmastige Boot auf dem Delaware River, in dem die beiden Männer zur Vogeljagd segeln, krängt nach links, während der Mann am Ruder versucht, unter dem Baum hindurchzusehen, ob der Weg frei ist. Eakins verstand diese Art von instabiler Bewegung als technische Herausforderung (vgl. Simpson 29). Der Horizont, der sich fast genau auf der Bildmitte befindet, wird durchschnitten von Mast und Segel, während der Bootskörper mit den beiden Männern nahe der unteren Bildkante in leichter Aufsicht zu sehen ist. Das Erstaunlichste an dem Bild sind nicht nur die Linien von Segeln, Mast, Baum und Boot, sondern die Begrenzung auf zwei 50

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Farben neben dem Weiß des Segels: Das Wasser ist nur dort blau, wo es das Blau des Himmels reflektiert, scheint jedoch im selben Braunton wie das Boot, wenn in der Aufsicht auf das Wasser der Himmel nicht reflektiert wird. Erst in der Ferne also, dort wo ein zweites kleines Segelboot sich auf dem entgegengesetzten Schlag befindet, erscheint das Wasser vorwiegend als Blau unter dem wolkenlosen Himmel. Dieser sparsame Einsatz der zwei Farben lenkt die Aufmerksamkeit ganz auf die Neigung des Bootes und gibt dem Bild eine vorwiegend grafische Komponente. Im Vergleich zu Homers Segelbildern scheint das Boot bei Eakins allerdings für einen Augenblick still zu stehen, arretiert in seiner Neigung unmittelbar vor der Wende. Homer behandelte 1876 mit Breezing Up (A Fair Wind) ein ganz ähnliches Sujet und bot im Vergleich zu Eakins die dynamische und malerische Variante. Bei ihm ist das Meer lebhaft und blaugrün, der Himmel ist trotz der Sonne bewölkt und die fast identische Neigung des Bootes mit den drei Jungen und dem älteren Steuermann zeigt das Segel nur im Anschnitt, so als segelte es noch während des Malvorgangs oder der Betrachtung nach links aus dem Bild: Homer suggeriert Bewegung, Eakins Stillstand. Diese grafische, lineare Malweise zeichnet viele der Pleinair-Bilder von Eakins aus und belegt auch sein Interesse an anatomischen Studien und Bewegungsfotografien, die er in Anlehnung an die Studien von Eadweard Muybridge machte (vgl. Kapitel 2.3). Eakins setzte sich für die Bindung des Malers an die Akademie und eine grundlegende Reformierung des Kunstunterrichts im ausgehenden 19. Jahrhundert ein. Wie Elizabeth Johns schreibt, war sein Ziel für angehende Maler »a pure art education as a foundation for whatever he might do later with brush or pencil« (175). Die zahlreichen Porträts, die ihn heute vor allem berühmt machen, sind außerordentlich subtile Charakterstudien, denen jeder Eindruck von Spontaneität sowohl im Ausdruck als auch im Malstil fehlt. Die Porträtierten erscheinen fast ausnahmslos still, konzentriert oder nachdenklich; sie sehen den Maler und Betrachter meist nicht an: »Serious purpose informs even the most elementary of Eakins’s subjects« (Simpson 35). Die Porträts sind vielmehr Resultate aufwendiger Beobachtungen und Vorstudien, die oft durch Fotografien unterstützt wurden. Für Singing a Pathetic Song (1881) etwa hatte Eakins Margaret Harrison im selben Kleid und in nämlicher Pose als Vorlage fotografiert. Die bekannten Gemälde The Gross Clinic (1875) und The Agnew Clinic (1889), die medizinische Vorlesungen zeigen, gelten inzwischen als Höhepunkte realistischer Malerei in Amerika. Die erste große Porträtmalerin der Jahrhundertwende war Cecilia Beaux (1855-1942), die wie Eakins an der Pennsylvania Academy studiert hatte und dort 1895 die erste Kunstprofessorin wurde (vgl. Burns, »Under the Skin« 5). Wie Eakins ließ sie sich in Paris weiter ausbilden, kehrte 1889 zurück nach Philadelphia und wurde eine der erfolgreichsten Porträtmalerinnen der Zeit. Obwohl ihre Porträts ungefähr dieselbe Summe einbrachten wie die von Eakins, betrachtete man sie als »female artist«. Diese Klassifizierung hatte eindeutig abwertenden und abwehrenden Charakter; sie diente dazu, die Domäne männlich besetzter Kunst zu sichern, wie Burns urteilt: »Beaux came to maturity at a time when women were entering the art world in unprecedented numbers, for the first time constituting a visible threat to the male-

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Bettina Friedl dominated establishment. The men closed ranks, however, and retained control of art-world institutions while relegating women to the margin« (»Under the Skin« 3).

Beaux war selbstbewusst genug, ihre Karriere unbeirrt zu verfolgen; sie zog nach New York, wo ein Großteil ihrer Klientel lebte, wurde 1902 Mitglied der National Academy of Design und ließ sich 1906 in Gloucester, Massachusetts, nieder, wo eine kleine Kolonie wohlhabender Freunde und Sommergäste aus den Metropolen lebte.

Abb. 11: Cecilia Beaux (1855-1942), Man with the Cat (Henry Sturgis Drinker), 1898. Öl auf Leinwand; 121,9 x 87,8 cm. Smithsonian American Art Museum, Washington, DC. © 2010. Photo Smithsonian American Art Museum/Art Resource/Scala, Florence. Das Porträt ihre Schwagers Henry Sturgis Drinker, dem späteren Präsidenten der Lehigh University in Pennsylvania, zeigt Beaux’ Können. Drinker sitzt schräg in einem Windsor-Stuhl, dessen geschwungene Rückenlehne hinter seiner rechten Schulter zu sehen ist. Lange Pinselstriche zeigen den leichten Schatten auf dem hellen Sommeranzug an. Die Holztäfelung und die Fensterläden hinter Drinker sind in breiten, sicher geführten Pinselstrichen gemalt. Mann und Katze schauen die Betrachter an; die Katze scheint allerdings schläfriger, denn ihre Augen sind nur noch Schlitze. Drinkers linke Hand liegt auf seinem Oberschenkel, damit die Hinterpfoten der Katze nicht abrutschen. Die Rosttöne des Katzenfells werden im Rosaton seines Hemdes und in dem Rot seines linken Ohrs wieder aufgenommen, ebenso wie die Schnurrhaare der Katze sich in dem beeindruckenden Schnurrbart wiederfinden. Der Schatten unter und hinter dem Stuhl hat graue, rosa und mattgelbe 52

Die amerikanische Malerei

Flecken, die für Sadakichi Hartmann eben jene Meisterschaft erkennen lassen, die große Künstler auszeichnet: »[The artist] may introduce, like Cecilia Beaux, red and blue color-daubs in the shadows, which are apparently meaningless, as they do not exist in reality, but which relieve monotony of the actual local tints« (152). Der energische Malstil von Cecilia Beaux mit den deutlich sichtbaren, kräftigen Pinselstrichen erinnert durchaus an den Sargents, dessen gefeierte Porträts Vorbild für die ehrgeizige Malerin waren: »Sargent stood supreme, a fit target for the aim of the intensely ambitious Beaux who challenged Sargent in the portraits she showed to great acclaim in the 1890s« (Burns, »Under the Skin« 5). Diese Ähnlichkeit im Malstil wurde ihr allerdings zum Verhängnis, denn sie wird auch heute fast nie ohne den unmittelbaren Vergleich mit dem gleichaltrigen Sargent erwähnt. Sarah Burns bemüht sich, dieses Gender-Vorurteil aufzuarbeiten und nach Gründen zu suchen, warum Beaux trotz ihrer unbestreitbaren künstlerischen Qualität auch heute noch im Schatten Sargents steht. William Kloss hat ebenfalls auf dieses Defizit in der Rezeption hingewiesen: »Man with the Cat confirms Beaux’s high level of achievement and leaves one perplexed that her name is not better known to a wide public today« (104). Das Sujet, das neben Porträt, modifizierten Genreszenen und der Landschaft von den Malern des Realismus am stärksten favorisiert wurde und am ehesten die Veränderungen von Themen und Malstilen im Realismus anzeigte, ist die Stadt. Szenen und Stimmungen der Großstadt finden sich seit 1890 bei Childe Hassam (1859-1935) und J. Alden Weir (1852-1919), die beide noch dem Impressionismus verpflichtet waren und ihre Stadtansichten entsprechend meist in hellen, oft sogar leuchtenden Farben präsentierten. Hassam, Weir und andere Maler mit vergleichbaren Interessen vereinten sich 1898 zur Gruppe The Ten. Maurice Prendergast (1859-1924), der Frankreich am engsten verbunden war und mit seinen fröhlichen Szenen aus dem Central Park das für ihn angemessene Thema gefunden hatte, gehörte nicht zu dieser Gruppe, obwohl er dem Impressionismus nahe zu stehen scheint. Er war vielmehr eng befreundet mit Stadtmalern, die eine völlig andere Sicht der Großstadt vertraten und eine neue, spontan wirkende und oft abstrahierende Malweise favorisierten. Um die Jahrhundertwende scharte sich eine Reihe rebellischer realistischer Maler um Robert Henri (1865-1929), der 1886 begonnen hatte, an der Pennsylvania Academy zu studieren. Nach einer Frankreichreise lernte er John Sloane (1871-1951) kennen, der ebenfalls in Philadelphia ausgebildet worden war, aber die Akademie 1893 verlassen hatte, weil ihm der Unterricht zu konservativ war. William Glackens (1870-1938) und Everett Shinn (18761953) gehörten ebenso zum wachsenden Freundeskreis um Henri wie George Luks (1867-1933). Die meisten arbeiteten als Grafiker für Zeitungen in Philadelphia, um ihren Lebensunterhalt finanzieren zu können, und sahen täglich Aspekte der Stadt, die ohne erkennbaren ästhetischen Wert waren, aber die sie für zeitgemäß erachteten. Noch vor der Jahrhundertwende ließen sich die meisten von ihnen in New York City nieder, wo sie weiterhin für Zeitungen arbeiteten; Henri folgte im Jahr 1900 und wurde ein einflussreicher Lehrer an der New York School of Art. Die befreundeten Künstler malten alltägliche Ansichten der Stadt, die weder für die Akademie noch zunächst für Kunstkritiker bildwürdig waren. Es waren ungeschönte Hafenszenen und Hinterhöfe, 53

Bettina Friedl

Bilder von der Lower Eastside und von Arbeiterinnen auf dem Weg zur Hochbahn; Szenen aus dem Unterhaltungsmilieu und der Bohème. Ihre Palette ist in warmen, dunklen Farben gehalten, selbst wenn es sich nicht um Nachtszenen handelt; die Auswahl der Bildthemen ist naturalistisch. Die Maler nannten sich zunächst »New York Realists« und verfolgten ein sozialkritisches Interesse mit ihre Stadtdarstellungen. Zusammen mit Prendergast, Arthur B. Davies (1862-1928) und Ernest Lawson (1873-1939) gründeten sie 1908 die Gruppe »The Eight«, deren erste gemeinsame Ausstellung in der Macbeth Gallery in New York City zum Kunstereignis wurde.15 Die Tatsache, dass die Mehrzahl der Gruppe für die Presse arbeitete, half ihrer Publizität zweifellos. Die Reaktionen auf die Ausstellung waren zunächst gemischt, aber keineswegs ablehnend, obwohl manchen Betrachtern das Gefällige der Impressionisten fehlte. Die Besucherzahl war sensationell hoch, und die Ausstellung reiste anschließend durch eine Reihe amerikanischer Großstädte bis zum Chicago Art Institute. Im Jahr 1910 folgte eine zweite gemeinsame Ausstellung, die »Independent Exhibition«, die den Erfolg der ersten Ausstellung noch weit übertraf. Henri hatte eine Reihe junger Künstler gewinnen können: Sein Schüler George Bellows stellte aus; es wurden Bilder von Edward Hopper und Stuart Davis gezeigt. Bellows (1882-1925) hatte bereits frühe Erfolge feiern können und war kurz zuvor zum Mitglied der National Academy gewählt worden. Er gehörte nicht zu The Eight, entsprach aber mit seinen ungeschönten Ansichten von New York City thematisch und stilistisch denjenigen aus der Gruppe, deren Stadtbilder am revolutionärsten erschienen. Der gleichaltrige Hopper (1882-1967), der ebenfalls als Grafiker arbeitete, zeigte zum ersten Mal öffentlich seine Bilder einsamer Menschen in einer Stadtlandschaft, die seine Bilder noch Jahrzehnte später sofort identifizierbar machten. Konservative Betrachter fanden die Bilder der beiden Ausstellungen angeblich schockierend in der Ausführung und vulgär in der Wahl der Bildthemen, weil sie sich des Alltags in der Großstadt annehmen: Frauen hängen Wäsche auf, Passanten rennen über die Straße, Jungen scheuchen ein paar Tauben vom Dach. Inzwischen gilt es als zweifelhaft, dass diese Bilder 1910 wirklich als Skandal empfunden wurden. Wenn die Maler abwertend Vertreter der »Ashcan School« genannt wurden, so tat das ihrer Popularität wenig Abbruch. Der Begriff entsprach dem Schimpfwort »muckraker«, mit dem in der Progressive Era Journalisten bezeichnet wurden, deren Publikationen und fotografische Arbeiten, wie Jacob Riis’ How the Other Half Lives, die Bewohner der Einwandererviertel und Slums zeigten (vgl. Kapitel 2.4). Upton Sinclair, der in seinem Roman The Jungle (1905) die hygienischen und sozialen Missstände der Chicagoer Schlachthöfe anprangerte, gehörte ebenso dazu wie Theodore Dreiser, der in Sister Carrie (1900) die moralischen und finanziellen Probleme alleinstehender junger Frauen in der Großstadt thematisierte. Der Bekanntheitsgrad der naturalistischen Literatur und der Erfolg der 15 Die Maler waren 1907 zum überwiegenden Teil nicht zu Mitgliedern der National Academy of Design gewählt worden und waren deshalb auf Ausstellungen in Privatgalerien angewiesen, um ihre Bilder zu zeigen und zu verkaufen. Die National Academy hatte damit ihren eigenen Untergang besiegelt, wie Perlman schreibt: »The National Academy had inadvertantly lit the fuse of devastating self-destruction. The aura of its pompous prestige was being exploded« (149).

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Die amerikanische Malerei

Alltagsansichten der »Ashcan«-Künstler, die sich hervorragend verkauften, scheint eher zu beweisen, dass es sich hier um eine geschickte Medienkampagne handelte, die etwas als sensationell oder gar revolutionär darstellte, was in Kunstkreisen bereits akzeptiert war. »Manufacturing Rebellion« nennt Mecklenburg die wirksame Zusammenarbeit von Kunstbetrieb und Presse (vgl. 191-213).

Abb. 12: John Sloan (1871-1951), Sunday, Women Drying Their Hair, 1912. Öl auf Leinwand; 66,36 x 81,6 cm. Museum Purchase. Addison Gallery of American Art, Phillips Academy, Andover, Massachusetts. 1938.67. Sloans Bild stellt eine typische Szene aus den tenements, den Mietskasernen der Jahrhundertwende, dar. Die drei jungen Frauen oben auf dem Dach sind offensichtlich Arbeiterinnen, denn sie haben nur sonntags Zeit, sich die Haare zu waschen. Sie halten ihr Haar zum Trocknen in die Sonne und fühlen sich dabei unbeobachtet. Die Frau rechts trägt nur ein weißes Unterkleid unter dem Handtuch, das sie sich über die Schultern gelegt hat. Die mittlere Frau, die im Schatten des Schornsteins sitzt und offensichtlich schon eine Kurzhaarfrisur hat, wippt mit dem rechten Fuß ohne Schuh, und die linke Frau in der weißen Bluse sitzt mit dem Rücken zur Sonne und lässt sich die Haare auf dem Hinterkopf trocknen. Rechts hinten ist eine der typischen Wäscheleinen aufgespannt, die sich auf vielen Bildern der Malergruppe wiederfindet. Der Blick auf Manhattan zeigt, dass die Häuser immer höher werden, und der aufsteigende Rauch signalisiert irgendwo weiter unten einen kleineren Industriebetrieb. Die Szene ist weder vulgär noch abstoßend; von Sozialkritik kann auch keine Rede sein. Sloan zeigt lediglich den vertrauten Alltag in der Stadt, und die Familiarität zwischen den jungen Frauen signalisiert, dass sie 55

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sich im Sommer dort häufig treffen. Robert Henri schreibt über Pigeons (1910), ein anderes Bild Sloans aus dieser Zeit: »Perhaps some of you will recall seeing a picture painted by John Sloan of the backs of the old Twenty-fourth Street houses with the boys on the roof startling the pigeons into flight. It is a human document of the lives of the people living in those houses. […] That canvas will carry into future time the feel and the way of life as it happened and as it was seen and understood by the artist« (219).

Das Dokumentarische dieser Großstadtszenen machte sie schon zu ihrer Entstehungszeit zu Illustrationen des Alltags. Das Gewöhnliche war bildfähig geworden. Was man bei den Malern der Ashcan School als Rebellion deuten kann, ist ihre Rolle als Vertreter einer künstlerischen Moderne, die sich erfolgreich gegen die akademische Malerei durchsetzte.

1.6 Beginn der Moderne Zeitgleich mit der Malerei der Ashcan School gab es bereits eine ganze Reihe abtrakter Maler wie Arthur B. Dove, Alfred Maurer, Max Weber, Marsden Hartley, John Marin und Georgia O’Keeffe, die wegweisend wurden für die Zeit vor und nach dem Ersten Weltkrieg. Sie wollten Abstraktion so definieren, dass das Neue amerikanisch geprägt war: »Artists, writers, and cultural critics in the first two decades of the twentieth century desired to create something wholly new, expressive of the vibrancy of America and unsullied by Europe and its cultural baggage« (Kirschner 14). Als im Jahr 1913 die damals größte Ausstellung zeitgenössischer europäischer Kunst im Arsenal des 69. Regiments in New York City eröffnete und eine breite Öffentlichkeit mit der Malerei und Skulptur der Moderne konfrontierte, spielten gerade diese Künstler allerdings nur eine untergeordnete Rolle. Die sogenannte »Armory Show« war 1911 von vier amerikanischen Künstlern konzipiert und von rund zehn Künstlern organisiert worden; als Sponsoren fungierten unter anderen Mabel Dodge und Gertrude Vanderbilt Whitney, die spätere Gründerin des gleichnamigen Museums. Die »Armory Show« zeigte eine bis dahin in Amerika noch nicht gesehene Anzahl von Kunstwerken, die mit Goya begann und mit den Post-Impressionisten und Kubisten endete. Amerikanische Künstler, die fast ausnahmslos einige Zeit in Europa gereist waren und studiert hatten, waren mit vielen dieser Werke durchaus vertraut. Für das einheimische kunstinteressierte Publikum bot die Ausstellung jedoch eine einmalige Möglichkeit, sich vor Ort einen Überblick über die Entwicklung der europäischen Kunst zu verschaffen. Mit über 80.000 New Yorker Besuchern war die »Armory Show« ein riesiger Publikumserfolg; eine etwas verkleinerte Version in Chicago erreichte sogar 190.000 Besucher. Die Presse beschränkte sich in ihren Rezensionen allerdings auf die wenigen als sensationell oder skandalös empfundenen Kunstwerke wie Marcel Duchamps Nu descendant un escalier (1911) oder die Statuen von Brancusi und machte sich lustig über die moderne Kunst. Die Breitenwirkung der »Armory Show« in der Öffentlichkeit ist keinesfalls zu unterschätzen; sie schuf vor allem einen neuen Markt auch für die Avantgarde amerikanischer Kunst, die seit 1907 bereits durch die kleine, aber 56

Die amerikanische Malerei

in ihrem Konzept bahnbrechende Galerie »291« von Alfred Stieglitz (18641946) vertreten war. Fünf Jahre vor der »Armory Show« hatte der Fotograf Stieglitz zum ersten Mal in New York Werke von Matisse, Toulouse-Lautrec und Cézanne zusammen mit John Marin und Alfred Maurer ausgestellt: »Between 1908 and 1917, some of the most important and influential sculptors and painters on both sides of the Atlantic were given their first American showing at the gallery [...]« (Naumann 13). Lange vor anderen Galerien oder gar Museen zeigte Stieglitz mit Werken von Picasso, Braque und Picabia die Hauptvertreter des europäischen Kubismus in Amerika. Seine Förderung junger Künstler half vielen, ihren Malstil zu entwickeln, ohne Kompromisse eingehen zu müssen (vgl. Kapitel 2.3). Seine Galerie konnte allerdings moderne Kunst nicht im Alleingang populär und damit verkäuflich machen. Eine solche an kommerziellen Aspekten orientierte Vorstellung einer Kunstgalerie war Stieglitz zuwider. Für ihn sollte Kunst das Unabhängige und Nicht-Alltägliche repräsentieren; er wehrte sich dagegen, für »291« zu werben oder zu agitieren, wie es die Ashcan School weiterhin tat (vgl. Doss 60). Die »Armory Show« trug allerdings wesentlich dazu bei, eine Reihe wichtiger potentieller Kunstsammler auf zeitgenössische europäische und amerikanische Kunst aufmerksam zu machen. Louise und Walter Arensberg stehen exemplarisch für Sammler, die durch die »Armory Show« angeregt wurden, moderne Kunst zu kaufen. Sie interessierten sich besonders für die Künstler des New York Dada, die im Umkreis von Marcel Duchamp und Man Ray zu finden waren; zwischen 1915 und 1921, ehe sie nach Kalifornien übersiedelten, war die New Yorker Wohnung der Arensbergs das Zentrum eines der bedeutendsten literarischen und künstlerischen Salons der Zeit (vgl. Naumann 22-32). Die »Armory Show« revolutionierte keineswegs die amerikanische Kunst, wie häufig behauptet wurde, sondern den Kunstmarkt. Die Kunst selbst war unabhängig von der riesigen Ausstellung längst in der Moderne angekommen. Einer der ersten Maler, der zeitgleich mit Kandinsky kurz nach der Jahrhundertwende begann, nicht nur abstrakt, sondern ungegenständlich zu malen, war Arthur G. Dove (1880-1946). »To him belongs the honor of being [...] the first American abstract artist«, betont der Schriftsteller und Kunstrezensent John Updike (Still Looking 154). Stieglitz stellte ihn 1910 zusammen mit John Marin und Marsden Hartley als einen der »Young American Painters« aus; im Jahr 1912 folgte die erste Einzelausstellung bei Stieglitz, der Doves Serie von Abstractions zusammen mit anderen Bildern des Malers zeigte. Einzelne der frühen Bilder sind bereits völlig ungegenständlich, andere hingegen zeigen Abstraktionen von Ansichten der Natur, die Stieglitz als »Nature Symbolized« bezeichnete. Es ist interessant zu beobachten, dass Dove beide Möglichkeiten der Abstraktion bis ans Ende seines Lebens parallel nebeneinander weiterentwickelte. Wie Georgia O’Keeffe und andere zeitgenössische amerikanische Maler verweigerte sich Dove einer platten Nachahmung der europäischen Avantgarde, denn er sah in der amerikanischen Landschaft das entscheidende Kontinuum für das Kunstverständnis seit der Kolonialzeit: »The artists of Dove’s generation saw their American predecessors in Walt Whitman, Henry David Thoreau, and Ralph Waldo Emerson, who each had an intense connection to the American landscape« (Kirschner 14). Die Verbindung zur amerikanischen Landschaftswahrnehmung in der Mitte des 19. Jahrhunderts zeichnete Themenwahl und Malstil dieser moder57

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nen Maler aus und unterschied sie grundlegend von zeitgenössischen europäischen Künstlern.

Abb. 13: Arthur G. Dove (1880-1946), Ferry Boat Wreck, 1931. Öl auf Leinwand; 45,7 x 76,2 cm. Whitney Museum of American Art, New York; Puchase, with funds from Mr. and Mrs. Roy R. Neuberger 56.21. © The Estate of Arthur G. Dove, courtesy Terry Dintenfass, Inc. Das Ferry Boat Wreck ist eine von Doves späteren Bildkompositionen, die auf typische Weise abstrahierte Ansichten von Natur zeigen. Das Profil von aufragenden Brettern und Masten eines längst zerstörten und daher nicht mehr als integres Objekt erkennbaren Bootes hebt sich von einer diesigen, blassen Hügelkette in der Ferne ab. Die fast konzentrischen Kreise einer dunkelroten Sonne wirken wie eine exotische Blüte auf dem dunklen Holz, so als hätte es im Verfall noch einmal ausgetrieben. Die Spiegelung im flachen Wasser am unteren Bildrand nimmt den hellen Akzent der Hügel am Horizont wieder auf. Das Bild betont im unteren und oberen Bereich die Horizontale durch die Wasseroberfläche und eine Hintergrundlandschaft, die durch die schwarzbraunen Formen des Wracks durchkreuzt wird. Der Maler, der nach 1920 fast nur auf einem Schiff lebte und die Winter vor Anker in Huntington Harbor auf Long Island verbrachte, wandte sich in diesen Jahren kleinformatigen Studien in Wasserfarbe und Tinte zu; er experimentierte mit Wachs, Pastell und Collagen. Die Aquarelle wurden sein visuelles Tagebuch, und die besten dieser Arbeiten auf Papier übertrug er schließlich auf die Leinwand. Anders als John Marin (1870-1953), der ebenfalls von Stieglitz gefördert wurde, entwickelte sich Dove im Verlauf seines Lebens stilistisch weiter und erprobte neue Techniken ebenso wie ungewohnte Kompositionen. Marin dagegen behielt den bewegten, gelegentlich impressionistisch oder kubistisch anmutenden Stil seiner frühen Aquarelle mit Ansichten von New York oder der Küste in Maine weitgehend bei und übertrug ihn nach 1930 auf die Ölmalerei.

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Die amerikanische Malerei

Der Wechsel zwischen völlig ungegenständlichen Formen in kräftigen Farben und Bildern, die aus vereinfachten Naturformen entstanden, durchzieht Doves Karriere ebenso wie die von Georgia O’Keeffe (1887-1986). Wie Dove erkennt sie den Ausgangspunkt für eine Abstraktion im Objekt selbst oder in einem bestimmten, meist unkonventionellen Aspekt der Natur. Abstraktion kann nicht vom Objekt getrennt werden, wie sie schreibt: »It is surprising to me to see how many people separate the objective from the abstract. Objective painting is not good painting unless it is good in the abstract sense. A hill or tree cannot make a good painting just because it is a hill or a tree. It is lines and colors put together so that they say something« (88).

Ihre frühen abstrakten Kohlezeichnungen und Aquarelle, die Stieglitz 1916 und 1917 in »291« ausstellte, lassen Landschaften ahnen, die nach den Grundprinzipien der Abstraktion zu Formen und Flächen reduziert wurden, wie etwa Light Coming on the Plains II. Die Aquarell-Serie Evening Star (1917) erinnert deutlich an die Sonnen-Bilder von Arthur Dove, der ein ganz ähnliches Verfahren der Reduktion verfolgte. Daneben gibt es bei O’Keeffe stets völlig ungegenständliche Bilder, die sogar im Titel darauf verweisen, dass sie als reine Farb- oder Formstudien zu verstehen sind – Blue (1917), Dark Abstraction (1924) oder Black Abstraction (1927). Dennoch glaubt man gelegentlich, den Prozess der Abstraktion vom Gegenstand zu unabhängigen Formen noch erkennen zu können. O’Keeffe sieht die Abgrenzung von Objekt und Darstellung vorwiegend als Wahrnehmungsproblem: »I have painted portraits that to me are almost photographic. I remember hesitating to show the paintings, they looked so real to me. But they have passed into the world as abstractions – no one seeing what they are« (55). Ihre bekannten Blütenbilder wurden oft als Serien konzipiert und gemalt, die jeden Schritt hin zur Abstraktion dokumentieren. Das erste Bild der Jackin-the-Pulpit-Serie (1930) zeigt eine genaue und noch als völlig realistisch zu bezeichnende Studie eines Aaronstabs. Die durchnummerierten Folgebilder lassen jeweils Elemente der Blüte weg, die verzichtbar erscheinen, ohne dass die spezifische Form der Pflanze verleugnet würde. Das letzte Bild beschränkt sich auf eine gekrümmte weiße Linie vor einem grau und rot geflammten Hintergrund, die allein die Essenz der Blütenform aufzeigt. Die Bilder von Knochen, die O’Keeffe in der Wüste von New Mexico fand, werden in der Pelvis-Serie der 1940er Jahre zu farbig gerahmten Studien organischer und zugleich abstrakter Formen, obwohl der Hinweis auf den Beckenknochen eines Rindes in den Bildtiteln sie in der Objektwelt verankert. Nach ihrer Heirat mit Stieglitz 1924 hielt O’Keeffe sich in New York City auf, wo ihre Bilder von Wolkenkratzern entstanden, sowie in Stieglitz’ Ferienhaus am Lake George, wo sie Landschaftsbilder und Ansichten von einfachen Scheunen malte. Lake George Window (1929) war eines der letzten Bilder, ehe sie zunächst die Sommermonate in New Mexico verbrachte und später ganz dorthin übersiedelte. Die Landschaft des Südwestens wurde für O’Keeffe Bildthema bis zum Ende ihres Lebens, und ihr Adobe-Haus in Abiquiu war ein ›Kunstwerk‹ in der Landschaft, wie sie schreibt: »When I first saw the Abiquiu house it was a ruin with an adobe wall around the garden broken in a couple of places by falling trees. As I climbed and walked about in the

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Bettina Friedl ruin I found a patio with a very pretty well house and bucket to draw up water. It was a good-sized patio with a long wall with a door on one side. That wall with a door in it was something I had to have. It took me ten years to get it – three more years to fix the house so I could live in it – and after that the wall with a door was painted many times« (82).

Abb. 14: Georgia O’Keeffe (1887-1986), Patio with Black Door, 1955. Öl auf Leinwand; 101,6 x 76,2 cm. Museum of Fine Arts, Boston. Gift of the William H. Lane Foundation. 1990.433. Photograph © 2010 Museum of Fine Arts, Boston. Die unterschiedlichen Bilder dieser Adobe-Mauer mit der schwarzen Tür bewegen sich zwischen realistischen, frontalen Ansichten im typischen Ockerton der Lehmmauern im Südwesten über Innenansichten des Patio mit strahlend blauem Himmel darüber bis hin zu abstrahierten Varianten mit roter Tür und rotem Himmel oder einer Version in zarten Blautönen. Die hier abgebildete perspektivische Ansicht, in der sich Basis und Oberkante der Mauer nach links verjüngen und die Fliesen auf dem Boden des Patio wie Sonnenflecken aussehen, zeichnet sich durch die etwas dunklere Schattierung der Vorderseite des Hauses an der rechten Bildkante aus, die durch den schwarzen Türausschnitt links ausbalanciert wird. Diese schwarze Tür wiederum wirkt fast so, als blicke man frontal darauf, denn sie verweigert unten die perspektivischen Linien der Mauer und macht sich in ihrer geschweiften Form selbständig. Wie häufig bei O’Keeffe zu beobachten, werden solche Anspielungen auf organische Formen kombiniert mit klarer Flächigkeit; es findet sich vollständige Abstraktion neben der ›Erinnerung‹ an jenen Gegenstand, der Ausgangspunkt des Malprozesses war. 60

Die amerikanische Malerei

Marsden Hartley (1877-1943) wurde wie viele junge experimentelle Künstler von Stieglitz gefördert, der ihm 1912 zu seiner ersten Europareise verhalf. Die Eindrücke in Frankreich und vor allem in Deutschland am Vorabend des Ersten Weltkriegs wurden malerisch umgesetzt in Bilder, die er »Intuitive Abstractions« nannte. Sein Malstil zu jener Zeit bewegte sich zwischen Kubismus und Expressionismus. Berlin Abstraction (1914) und die bekannte Serie Portrait of a German Officer (1914-15) wurde 1915 auf einer erfolgreichen Einzelausstellung in Berlin gezeigt. Nach seiner Rückkehr stießen eben diese Bilder in New York allerdings auf erheblichen Widerstand, weil man sie wegen der Orden, Fragmente von Fahnen und Uniformteilen als Bekenntnis zu Deutschland missverstand. Nachdem er zwischen 1918 und 1919 im Südwesten der USA gereist war, teilte Hartley die spätere Begeisterung O’Keeffes für New Mexico. Die Eindrücke von dieser Begegnung mit Landschaft und Indianern des Südwestens setzte er noch Jahre später in einer Reihe von Bildern um, mit der er endgültig zum Gegenständlichen zurückkehrte. Etwa zur gleichen Zeit begann Hartley, Essays und Lyrik zu schreiben; er gehörte damit zu der größeren Gruppe zeitgenössischer Maler und Schriftsteller, die beide Künste praktizierte.

Abb. 15: Marsden Hartley (1877-1943), Sea Window – Tinker Mackerel, 1942. Öl auf Pressplatte, 101,6 x 76,2 cm. Smith College Museum of Art, Northampton, Massachusetts. Purchased with the Sarah J. Mather Fund. SC 1947:8-1. Hartley malte seine Ansichten bevorzugt aus der Erinnerung, wenn die Unmittelbarkeit des Erlebens vergangen war und die Essenz eines Eindrucks zum Bild werden konnte. Symbolische und mythische Amerika-Bilder waren 61

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noch vor Kriegsbeginn in Deutschland entstanden, die Bilder vom Südwesten 1920-23 in New York, die Ansichten aus seinem Heimatstaat Maine im Jahr 1924 in Paris. Nach vielen Jahren auf Reisen in Europa ließ er sich nach 1937 wieder in Maine nieder. John Marin hatte zwar die Küste im Nordosten bereits zu seinem zentralen Bildthema gemacht, für Hartley jedoch waren die Eindrücke in Maine ohne die Leichtigkeit und Transparenz von Marins Arbeiten. Seine Bilder zeigen statuarische Fischer und dunkle Buchten, die bedrohliche Felsküste von Maine und den seit Henry David Thoreaus Walden (1854) mythisch gewordenen Mount Katahdin. Sein Malstil ist von vereinfachter Gegenständlichkeit, die Figuren und Objekte sind dunkel konturiert; der pastose Farbauftrag verleiht den Bildern eine fast skulpturale Schwere. Das Fensterstillleben mit Fischen (vgl. Abb. 15) zeigt einen Blick von einem dunklen, angedeuteten Innenraum, zu dem der dunkelrote Tisch mit fünf silbrigen Makrelen gehört, hinaus auf die Helligkeit des Meeres und des Himmels. Der Fensterblick ist Hartleys bevorzugte Komposition, wenn es gilt, Stillleben mit Landschaftsbild zu kombinieren. Die Tischplatte ist in Aufsicht gemalt und die Fische liegen als kompakte Einheit darauf, so als handle es sich um ein Arrangement ovaler blaugrauer Formen. Der dunkle Rahmen des Fensters verläuft parallel zur Bildkante wie die Tischplatte auch. Die Fensteröffnung ist die verkleinerte Version des Bildes selbst. Der Blick wandert vom Tisch mit den Makrelen auf quasi-natürliche Weise nach oben und durch das geöffnete Fenster. Man sieht erst das Meer, dann zwei winzige bewaldete Inseln genau auf der Horizontlinie und dann schaut man in den Sommerhimmel mit dicken weißen Wölkchen, als hätte ein Kind ihn gemalt. Diese bewusste Vereinfachung korrespondiert mit der Flächigkeit des Tisches, der nicht perspektivisch korrekt von vorn, sondern von oben gesehen wird. Es gibt weder einen Fensterrahmen noch eine Fensterbank, sondern nur dunkel-violette Flecken auf der grünlichen Wand, die man als Vorhang deuten könnte. Die Sparsamkeit aller Bildelemente hat zur Folge, dass Formen und Farben ins Zentrum des Interesses rücken: Die unteren Wolken sind fast genauso oval wie die Fische; die Abstufungen der Blautöne von den Fischen über das Meer bis hin zum Himmel drängen auf Vergleich; das Dunkelrot der Tischplatte schafft den geeigneten Kontrast zum Blaugrau der Fische. Die Fische selbst könnten eine religiöse Bedeutung haben, auch wenn diese nicht weiter ausgeführt ist. Das Bild erinnert am ehesten an die kleinen Seestücke von Albert Pinkham Ryder, den Hartley so bewunderte – ihm und Emerson verdanke er seine Identität als amerikanischer Maler, schrieb er in seiner Autobiografie (vgl. 67).

1.7 Präzisionismus, Regionalismus und »American Scene«-Malerei Die erste Generation abstrakt oder ungegenständlich malender Künstler blieb der gegenständlichen Malerei nie völlig fern, sondern verband die beiden Richtungen zu ausdrucksstarken Bildern. Während Dove bis zum Schluss vorwiegend abstrakt malte, bevorzugten O’Keeffe und Hartley vor allem in der Landschaftsmalerei eine sich auf wesentliche Eindrücke reduzierende Malweise, die sich primär am Objekt orientierte. Die Folgegeneration, die 62

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vor allem zwischen den beiden Weltkriegen malte, war dem Gegenstand weit mehr verpflichtet. Die beiden stilistisch sehr unterschiedlichen Richtungen der Präzisionisten und Regionalisten werden gelegentlich unter dem Begriff »American Scene«-Malerei zusammengeführt; die Gruppe ist allerdings recht heterogen, selbst wenn man annimmt, dass sie alle die ungegenständliche Malerei für nicht angemessen hielten, das auszudrücken, was ihnen an der Darstellung Amerikas wichtig war. Der Begriff »American Scene« soll hier primär anzeigen, dass eine Gemeinsamkeit in der neuen Zuwendung zum Gegenständlichen bestand: »During the 1930s, Precisionist directions in American art were increasingly varied within the complex Depression-period panorama of the American Scene, Regionalist, and modern movements« (Stavitsky 24). Die Präzisionisten, deren klare lineare Kompositionsweise und flächiger Malstil sie in die Nähe O’Keeffes rückte, wählten bevorzugt urbane und industrielle Themen. Industrielandschaften, Fabrikschornsteine, Schaltwerke, Wolkenkratzer und Getreidesilos wurden bildwürdig. Die gelegentlich unterkühlt wirkenden Architekturansichten wurden durch Titel wie Classic Landscape überhöht zu ›Monumenten‹ der Moderne. Die Regionalisten hingegen wandten sich bevorzugt der Darstellung des Mittleren Westens zu, der bisher thematisch vernachlässigt worden war. Sie malten Landschaften und ländliche Szenen, die weder als Idylle noch als Satire präsentiert wurden. Daneben werden auch jene Maler unter den Begriff »American Scene« gefasst, die wie Charles Burchfield und Edward Hopper weder in die eine noch in die andere Richtung gehörten, aber gegenständlich malten. My Egypt (1927) heißt der bildfüllende Getreidesilo von Charles Demuth (1883-1935), dessen an den Kubismus erinnernde prismatische Linien wie Scheinwerfer wirken. Demuth gehörte dem Stieglitz-Kreis ebenso an wie dem Salon der Arensbergs und war eng befreundet mit O’Keeffe. Er hatte vor 1920 vor allem Aquarelle gemalt, die Literatur illustrierten. Sein bevorzugtes Bildthema war das Stillleben; seine Blumenvasen und Gemüsearrangements in zarten Farben kombinierten organische Formen mit geometrischen Elementen. Nach 1920 wandte er sich der Architekturmalerei zu, malte aber daneben sogenannte »poster paintings«, die Freunden gewidmet waren und Memorabilia dieser Freundschaften in einem Collagestil zusammenfügten. Das Bekannteste dieser »poster paintings« ist I Saw the Figure 5 in Gold (1928), das William Carlos Williams und dessen expressionistischem Dinggedicht »The Great Figure« gewidmet war, in dem über Bild und Laut die rasende Fahrt eines Feuerwehrwagens durch Manhattan evoziert wird. Charles Sheeler (1883-1965), der heute wohl bekannteste Präzisionist, hatte zunächst begonnen, unter dem Einfluss des Kubismus und des Fauvismus zu malen. Noch während des Ersten Weltkriegs änderte sich sein Malstil durch seine Fotoarbeiten. Sheeler hatte, wie sein gleichaltriger Malerfreund Morton Schamberg, um 1910 mit der Fotografie zunächst als Broterwerb begonnen und beide erwiesen sich bald als Maler und Fotografen gleichermaßen begabt. Alfred Stieglitz und Marius de Zayas förderten die Künstler, doch während Schamberg sich neben seinen zunehmend abstrakten Gemälden der Porträtfotografie zuwandte, konzentrierte sich Sheeler zunächst auf Kunstfotografie – er fotografierte Kunstsammlungen wie die der Arensbergs und Ausstellungsobjekte für Kataloge – und später auf Architekturaufnahmen. Der Katalogtext zu seinem fotografischen Werk »Photographer of Art 63

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and Architecture« betont die gegenseitige Bedeutung und Beeinflussung beider Künste für Sheeler: »[P]hotography exactly suited him and would come to be his art, merging with his painting and drawing, forming his vision, and defining his interests for the rest of his life« (Stebbins und Keyes 3). Das Interesse von Malern an der Fotografie hatte sich seit den Fotoexperimenten von Thomas Eakins, mit denen er Sehgewohnheiten und Kompositionen studierte, zunehmend verändert; in der Hand der Präzisionisten empanzipierte sich die Fotografie vom Vorlagenstatus. Die Fotografien des kleinen Farmhauses in Bucks County, Pennsylvania, das Sheeler und Schamberg gemeinsam im Sommer bewohnten, sowie einer großen Scheune entstanden vermutlich 1917 (vgl. Stebbins und Keyes 10). Beide Serien wurden von Sheeler zunächst zu geometrischen Bleistiftskizzen verarbeitet, wie etwa Barn Abstraction (1917). Anfang der 1920er Jahre enstanden dann mehrere Gemälde wie Bucks County Barn (1923) und Side of White Barn nach diesen Vorlagen. Die Bilder zeigen ähnliche, von allen Details reduzierte und in den Farben sparsame Innen- und Außenansichten, die Linien und Flächen betonen. Wie bei O’Keeffe – hier besonders in ihren New Yorker Wolkenkratzer-Ansichten und den Bildern von Scheunen am Lake George – sind es meist einfache Formen, die Sheeler ohne Beiwerk und bevorzugt in Frontalansicht in Szene setzt.

Abb. 16: Charles Sheeler (1883-1965), Upper Deck, 1929. Öl auf Leinwand; 73 x 55,3 cm. Harvard Art Museums, Fogg Art Museum, Louise E. Bettens Fund, 1933.97. Photo: Allan Macintyre. © President and Fellows of Harvard College. Im Jahr 1920 drehte Sheeler mit seinem Freund, dem Fotografen Paul Strand, den Experimentalfilm Manhatta, der Stadtansichten Manhattans mit Texten 64

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von Walt Whitman kombiniert. Paul Strand war es auch, der rückblickend von der Fotografie der beiden zu jener Zeit sagte, Sheeler und er hätten damals begonnen, unter dem Einfluss der abstrakten Malerei mit der Abstraktion in der Fotografie zu experimentieren. So erkennt man bei den Präzisionisten: »the photography-painting relationship is not one of cause and effect, but rather one of community of vision« (Millard zit. nach Stebbins und Keyes 52). Die Malerei der Moderne wurde somit zum maßgeblichen Einfluss auf die Fotografie, während sie sich im selben Zeitraum den anderen visuellen Medien öffnete und sie als »sister arts« akzeptierte. Der Vergleich zwischen Sheelers Architektur- und Industriefotografien und seiner Malerei zeigt, wie sehr sich in seinemWerk die beiden Medien einander annäherten (vgl. Kapitel 2.4 und 3.3). Sein Gemälde Upper Deck (1929) entstand nach einer Fotografie von 1928, die er im Auftrag einer deutschen Reederei für eine Broschüre des Luxusdampfers S.S. Majestic anfertigte. Die Umsetzung von Fotografie zu Bild lässt erkennen, dass Sheeler den Ausschnitt nur minimal verkleinerte, aber vor allem um Details der Metallverarbeitung reduzierte. Das Bild wird häufig mit der Maschinenästhetik in Verbindung gebracht, obwohl der Maler statt glatter Funktionalität eher eine gewisse Üppigkeit runder Formen anbietet. Statt des Promenadendecks wählt Sheeler zwei Generatoren und zwei Schornsteine, die in dem engen Bildausschnitt keine Rückschlüsse auf Größe oder Ausstattung des Schiffes zulassen. Die Farben beschränken sich auf sanfte Schattierungen von Weiß und Grau, die im Schatten zu zarten Lavendeltönen und hellstem Ocker werden. Nicht zu Unrecht verweist der Katalogtext auf vergleichbar gekonnte Farbabstufungen bei Whistler und Sargent im 19. Jahrhundert (vgl. Troyen und Hirshler 116). Sheeler selbst sagte von diesem Bild: »This is what I have been getting ready for. I had come to feel that a picture could have incorporated in it the structural design implied in abstraction and be presented in a wholly realistic manner« (vgl. Troyen und Hirshler 116). Diese Zusammenschau zunächst vereinfachter, schließlich weitgehend abstrahierter Formen und realistischer Präsentation findet sich auch bei jüngeren Präzisionisten wie Ralston Crawford (1906-1978) mit seinen Getreidesilos und Benzintanks aus den 1930er und 1940er Jahren. Der Malstil weist ebenso wie der Sheelers voraus auf die Fotorealisten der 1970er und 1980er Jahre und – in leicht variierter Form – auf Edward Ruscha (*1937) mit seinen monumentalen Tankstellen und »billboards«. Neben den Präzisionisten waren es besonders die Regionalisten der Jahrzehnte zwischen den Kriegen, die Ungegenständlichkeit bewusst mieden und Abstraktionen höchstens individuell anstrebten. Thomas Hart Benton (18891975) aus Missouri wurde vor allem für seine Wandgemälde mit Szenen des Alltagslebens aus unterschiedlichen Regionen Amerikas bekannt. America Today (1930-31) wurde für die New School for Social Research in New York gemalt und zeigt auf den einzelnen Bildabschnitten eine Vielzahl von Szenen aus dem Theaterleben, der Großstadt, dem Sport und der industriellen Arbeitswelt, die collageartig ineinander verschoben sind. Die Dynamik dieser Szenen beruht einerseits auf den bewegten Körpern, die tänzerisch wirken, und andererseits auf dem Einfluss des Films auf seine Kompositionen. Die Nähe zur populären Musik der 1930er Jahre ist auf seinen Bildern ebenso erkennbar wie die Rhythmen des Arbeitsprozesses, die er positiv deutete. Er unterstützte die politischen und kulturellen Ambitionen des New Deal und 65

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war bemüht, die Energie des Landes trotz der wirtschaftlichen Not während der Depressionsjahre positiv in Szene zu setzen. Überraschenderweise war Benton trotz der eigenen Vorliebe für Gegenständlichkeit der Kunstlehrer des abstrakten Expressionisten Jackson Pollock. Grant Wood (1892-1941) aus Iowa malte zwar ländliche Szenen, die ihn in die Nähe von Regionalisten wie Benton und John Steuart Curry rückten, doch seine respektlosen Szenen aus der amerikanischen Geschichte und seine plakativen und stilisierten Ansichten vom Landleben verfolgten das entgegengesetzte Ziel. Parson Weems’ Fable (1939) kombinierte eine Anekdote aus der Kindheit George Washingtons mit der Bildkomposition von Peales The Artist in His Museum, um seinen theatralischen Gestus und Performanzcharakter zu ironisieren. Sein bekanntestes Bild, American Gothic (1930), gewann einige Preise und wurde sofort vom Art Institute of Chicago gekauft.

Abb. 17: Grant Wood (1892-1941), American Gothic, 1930. Öl auf Holz (beaverboard); 78 x 65,3 cm. The Art Institute of Chicago. Friends of American Art Collection.1930.934. CITI Object ID: 6565. Photograph © The Art Institute of Chicago. Das Bild ist ein Doppelporträt, verweist aber durch den Titel auf das Haus im Hintergrund, das die typischen Architekturmerkmale des »gothic style« aus dem späten 19. Jahrhundert zeigt. Der sichtbare Altersunterschied des Paares sollte eigentlich deutlich machen, dass es sich hier um einen Vater und seine unverheiratete Tochter handelt, doch diese Intention Woods setzte sich in der Bildrezeption nicht durch: »[T]he public, with good reason, has almost always interpreted her as the wife of the man« (Corn, »Uneasy Modern« 66

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124). 16 Während der Mann in Overall und kragenlosem Hemd unter einer schwarzen Jacke mit unbewegter Miene aus dem Bild starrt, schaut die Frau mit der Kittelschürze über dem schwarzen Kleid resigniert und sorgenvoll zur rechten Bildseite. Mann und Frau stehen Schulter an Schulter, dabei so unvermittelt und ohne Vordergrund auf Augenhöhe vor dem Betrachter, dass Körperhaltung und Miene abweisend oder bedrohlich wirken. Die ostentativ hochgehaltene Mistgabel deutet auf die Bereitschaft hin, ihr Haus gegen jeden Eindringling zu verteidigen. Die schmalen Gesichter korrespondieren auf verblüffende Weise mit der altmodischen gotischen Form des Fensters zwischen ihnen. Die Parallele zwischen der Pose der Paares und den Konventionen der Porträtfotografie im 19. Jahrhundert lässt das Bild zusätzlich anachronistisch wirken, wie Wanda Corn argumentiert. Allerdings sei eine solche Rezeptionsweise bereits durch eine moderne Sicht geprägt, während die zeitgenössische Reaktion dem Bild unterstellte, es zeige eine bewusst unzeitgemäße Szene und stelle damit eine Satire auf die Farmer des Mittleren Westens dar (vgl. »Uneasy Modern« 123-124). Der Bildtitel gibt dieser Vermutung recht, denn er kann durchaus auf das Paar übertragen werden, das einen zwar historisch begründeten, doch längst überholten Lebensstil verkörpert. Diese Deutung macht die Betrachter zu Eindringlingen aus einer Welt, zu der die Dargestellten keine Verbindung haben möchten. Die eigentümlich bewegten und fantastischen Landschaften von Charles Burchfield (1893-1967) können nur oberflächlich als Teil einer »American Scene«-Malerei eingeordnet werden, denn trotz der deutlichen Hinwendung zur Natur in vielen seiner Gemälde unterscheidet sich Burchfield weitgehend von Benton oder Wood. Sein völlig unabhängiger Stil und die rhythmischen, oft expressiven Ansichten der Natur rücken ihn bei allen stilistischen Unterschieden eher in die Nähe Blakelocks oder Ryders, wie in Orion in December (1959), oder erinnern in der Reduktion auf einfache Formen, wie in Moon through Young Sunflowers (1916), gelegentlich an Dove. Burchfield stammte aus Ohio, wurde im Ersten Weltkrieg zum Militärdienst eingezogen und ließ sich danach für den Rest seines Lebens in Buffalo nieder. Hier malte er die Veränderungen der Natur mit den Jahreszeiten am Ufer des Lake Erie und empfand das Wetter als interessantestes Bildthema, wie er in seinem Tagebuch notierte: »To me, the artist, interested chiefly in weather – all weather is beautiful, and full of powerful emotion – this ›icy blast‹ from the vast northeastern wastes – the monotone of gray and black and white [...] – my ability to enjoy whatever is going on in the world of nature« (Davenport xiii). In den Naturbildern mag jedes Wetter seine schönen Aspekte haben; der Mangel an Farbe im Winter wirkt in den Stadtansichten Burchfields hingegen eher trostlos. Er malte Häuser mit unansehnlichen Schneehaufen davor, Straßen im Schneesturm und mit ausufernden Pfützen, Menschen im Regen. Es sind ungewöhnliche Bilder des Gewöhnlichen. Der New Deal-Optimismus Bentons ging Burchfield ebenso ab wie die plakative Sozialkritik eines Ben Shan.

16 Corn erläutert Herkunft und Alter der beiden Modelle: »Though Wood carefully chose models with thirty-two years difference in age – his thirty-year-old sister, Nan, and his sixty-two-year-old dentist, B.H. McKeeby – he gave them such similarly shaped heads, equally dour faces, and generalized features that their generational difference was indecipherable« (»Uneasy Modern« 124).

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Der mit Abstand bekannteste Maler der Jahrzehnte zwischen den Kriegen, der gegen seinen massiven Protest ebenfalls als »American Scene«Maler bezeichnet wird, aber auch als der herausragende amerikanische Realist des 20. Jahrhunderts gilt, ist Edward Hopper (1882-1967). Seine Anfänge sind bei den New York-Bildern der Ashcan School zu suchen, mit denen er ausstellte; die Sujets hat er oft mit John Sloan gemeinsam, auch wenn stilistische Unterschiede den Vergleich zwischen den beiden Malern erschweren. Hopper hatte schon früh Kontakte zu Getrude Vanderbilt Whitney, deren Whitney Studio Club 1918 gegründet worden war und 1931 in das Whitney Museum of American Art überführt wurde. Er verdankte Whitney die Ausstellung nahezu aller seiner nach 1920 entstandenen Bilder. Im Jahr 1950 zeigte das Whitney Museum eine erste große Retrospektive Hoppers und erhielt nach seinem Tod den gesamten Nachlass von Hoppers Witwe. Das ist eine für die Kunstwelt recht ungewöhnliche Verbindung eines Malers mit einem Museum noch zu Lebzeiten, die eine deutliche Anerkennung sowie ein relativ geregeltes Einkommen zur Folge hatte. Hoppers Großstadtansichten und Gebäude, seine Kinos und Restaurants, die Leuchttürme auf Cape Cod, die Tankstellen und einsamen Häuser an der Küste sind in den Augen vieler zu einer Gesamtansicht des amerikanischen Jahrhunderts geworden. Er entwickelte früh seinen realistischen Malstil alla prima mit relativ dunklen, kontrastreichen Farben und vor allem dem an Tizian orientierten leuchtenden Rot. Stil und Themen sind nahezu unverwechselbar: Schatten und Licht auf den Häuserfassaden wechseln übergangslos; die Konturen der Gebäude sind stets betont, wenn auch ohne die starke Linearität der Präzisionisten. Er vereint auf seinen Bildern frontale Fassaden mit Fensteröffnungen, durch die den Betrachtern Einblick in scheinbar private Szenen gewährt wird, die dennoch rätselhaft bleiben. Viele der Bilder Hoppers scheinen ein narratives Moment zu besitzen, das sich jedoch in Augenblicken verdichtet und kohärente Erzählungen verweigert. Der Lyriker Mark Strand beschreibt die Wirkung dieser Augenblicke: »Hopper’s paintings are short, isolated moments of figuration that suggest the tone of what will follow just as they carry forward the tone of what preceded them. The tone but not the content. The implication but not the evidence« (23). Man sieht durch Schaufensterscheiben oder geöffnete Fenster auf Restaurantbesucher oder auf Menschen im Hotel, auf Fahrgäste in vorbeifahrenden Zügen, und stets hat der Blick etwas Indiskretes. Der Betrachter wird in die Rolle des Voyeurs gedrängt, der etwas sieht, was eigentlich unbeobachtet bleiben sollte, aber nicht versteht, was geschieht. Diesen Bildern wohnt ein Enigma inne: »In Hopper’s paintings we can stare at the most familiar scenes and feel that they are essentially remote, even unknown. People look into space. They seem to be elsewhere, lost in a secrecy the paintings cannot disclose and we cannot guess at. It is as if we were spectators at an event we were unable to name. We feel the presence of what is hidden, of what surely exists but is not revealed« (Strand 59).

Neben dem Licht ist das herausragende Merkmal seiner Bilder die Stille. Die Stadtansichten ebenso wie die Landschaften sind unbelebt, die einsamen Häuser scheinen unbewohnt, die Räume sind oft leer. Selbst wenn Menschen den selben Raum teilen, kommunizieren sie nicht; meistens sehen sie sich nicht einmal an. Diese Stille in Hoppers Bildern ist auf eigenartige Weise 68

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beunruhigend, denn sie verweist nicht auf Emotionslosigkeit. Den Menschen seiner Bilder wird häufig Einsamkeit unterstellt, die als Resultat urbaner Entwicklung und modernen Lebens interpretiert wird. Es scheint jedoch viel eher Sprachlosigkeit zu sein als lediglich die allgemeine Entfremdung der Moderne, und diese schließt uns ein: »The silence that accompanies our viewing seems to increase. It is unsettling. We want to move on. And something is urging us to, even as something else compels us to stay. It weighs on us like solitude. Our distance from everything grows« (Strand 59). Updike nennt die Stille »polluted silence«, um eben dieser Beunruhigung für den Betrachter Ausdruck zu verleihen (Still Looking 179). Hoppers Amerika ist längst ikonisch geworden, und selbst den Deutschen ist es so vertraut wie Vincent van Goghs Provence. Das Erstaunlichste an der Rezeption Hoppers – auch für ihn selbst – war die Tatsache, dass die abstrakten Maler der New York School ihn außerordentlich schätzten, wie Gail Levin schreibt: »Less comprehensible to him was the considerable regard for his painting among proponents of abstract art, who early on acclaimed the aesthetic qualities of his composition, his forms, and his light. As one writer noted, Hopper won the respect of abstract artists: ›even during the 1950s his reputation was secure, and artists sometimes coupled Jackson Pollock and Edward Hopper as twin poles of American individualism and artistic integrity‹« (3).

Obwohl seine Bilder realistisch gemalt sind, enthalten sie wenig von jener Sozialkritik der 1930er und 1940er Jahre, die auf Ungleichheit, Benachteiligung und wirtschaftliche Not zielte. Die Bilder Ben Shahns (1898-1969) sind hingegen Dokumente des Protests, die im Jahrzehnt der Depression viel Resonanz fanden und mit den Protestbewegungen der 1960er Jahren wieder entdeckt wurden. Der Bildzyklus The Passion of Sacco and Vanzetti (193132) um die Verurteilung und Hinrichtung von Nicola Sacco und Bartolomeo Vanzetti, zwei italienischen Anarchisten, im Jahr 1927 bezog Partei für die Opfer eines politischen Prozesses, der die Schuld oder Unschuld der Angeklagten nicht ausreichend geklärt hatte. Andere Bilder Shahns, die ähnlich flach und durch die Linearität fast wie Zeichnungen wirken, wären da nicht die leuchtenden pastosen Farben, zeigen Gewerkschaftsmitglieder, Arbeiterproteste und Stadtelend. Neben diesen eindrucksvollen politischen Arbeiten gab es allerdings immer wieder Bilder aus New York, die stilistisch der Moderne verpflichtet sind, aber die man thematisch der »American Scene« eines Hopper zurechnen kann. Die Arbeitsweise Shahns erinnert an Sheeler, denn Shahn nutzte die Fotografie nicht nur als Dokumentation, sondern als Quelle und visuelle Erinnerung für seine Bilder. Er fotografierte zunächst privat, während er ein Atelier mit Walker Evans teilte (vgl. Pohl 15); nach 1935 arbeitete er als Fotograf für die FSA-Agentur im Auftrag der Regierung. Seine Fotografien baumwollpflückender Schwarzer im Süden und der Kohlebergarbeiter von Scotts Run, West Virginia, wurden bekannt. Seine New York-Bilder, die er davor und danach anfertigte, blieben hingegen lange Zeit unbekannt, angeblich weil die Fotografie noch kein akzeptiertes Medium der Kunst war. Laura Katzman legt jedoch ausführlich dar, wie lange und aus welchen Gründen Shahn und seine Frau die Fotos zurückgehalten hatten. Sie vermutet, dass die sichtbare 69

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Abhängigkeit beider Medien voneinander für die Rezeption seiner Bilder unerwünscht war (vgl. 97-99), denn die Fotos zeigen deutlich, dass sie zu Vorlagen für seine Gemälde wurden. Was Shahn anstrebte, war Aktualität und Nähe zum Geschehen: »Photography could help him avoid the artificiality of posed studio models and props, and aid him in developing an ›art of and for the people,‹ an imagery that would literally come from the streets and be translated into murals that would, in turn, speak to a broad audience« (Pohl 15).

Abb. 18: Ben Shahn (1898-1969), Willis Avenue Bridge, 1940. Tempera auf Papier auf Malerpappe; 58,4 x 79,4 cm. Museum of Modern Art (MoMA), New York. Gift of Lincoln Kirstein. Acc. n.: 227.1947. © 2010. Digital image, The Museum of Modern Art, New York/Scala, Florence. Zu diesem Bild gibt es zwei Fotografien, die nur gemeinsam die Komposition des Bildes begründen. Das eine Foto zeigt zwei Afroamerikaner, einen schweren älteren Mann mit Krücken, der vor sich hin starrt, und eine dünne, verbittert aussehende alte Frau mit Brille, die von ihm wegschaut. Die beiden sitzen nebeneinander auf einer Treppenstufe oder einem Mauervorsprung (New York City, ca. 1932). Auf dem anderen Foto sieht man ein sehr viel jüngeres weißes Paar auf einer Bank sitzen; die eiserne Brückenkonstruktion zeichnet sich im Hintergrund als Silhouette ab (Willis Avenue Bridge, ca. 1931-32). Im Bild wurden beide Fotografien Shahns miteinander kombiniert: Das alte Paar sitzt auf der Bank, die auf dem zweiten Foto zu sehen ist, und der dominierende Hintergrund ist die in leuchtendem Rot gehaltene Brückenkonstruktion, die den Harlem River überspannt. Das Blau hinter der Bank, das zwischen den roten Streben sichtbar wird, deutet auf den Fluss hin. Die Haltung und der Gestus der beiden Dargestellten sind hingegen nahezu identisch mit dem ersten Foto, das lediglich die Beine nicht zeigt. Die Frau 70

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scheint abweisend, der Mann resigniert. Die Armut ist ihnen nicht ohne weiteres anzusehen; die Kleidung der beiden ist sauber und korrekt, sie tragen Hüte, und selbst wenn die doppelreihige Perlenkette der alten Frau nicht echt sein sollte, so ist sie zumindest ein Indiz für das Bedürfnis nach Eleganz. Das Bild klagt nicht an, sondern zeigt Alter und Gebrechlichkeit. Sein Sozialkommentar besteht eher in der Tatsache, dass Afroamerikaner für Shahn bildwürdig sind. Die kulturelle und künstlerische Bewegung der Harlem Renaissance, die mit der Weltwirtschaftskrise zu Ende ging, hatte eine ganze Reihe begabter afroamerikanische Maler ermutigt, Ansichten aus Harlem als Teil der »American Scene« zu zeigen. In den 1930er Jahren wurden zahlreiche Künstler durch das Regierungsprogramm des Public Works of Art Project und nach 1935 durch die Works Progress Administration gefördert. Sie konnten sich mit Wandmalereien an öffentlichen Gebäuden, aber auch durch individuelle Kunstwerke zumindest ein Minimaleinkommen sichern. Unter den durch die WPA unterstützten Künstlern waren auch Maler, deren Arbeiten in die 1920er Jahre zurückreichten. Aaron Douglas (1899-1979) hatte stilisierte religiöse und sozialkritische Szenen als Illustration zu James Welden Johnsons Gedichtzyklus God’s Trombones: Seven Negro Sermons in Verse angefertigt, die ihn nach 1927 bekannt machten. 1934 folgten Wandgemälde für eine Zweigniederlassung der New York Public Library an der 135. Straße. Palmer Hayden (1890-1973) malte realistische Szenen aus dem Leben der Bewohner Harlems und der afroamerikanischen Geschichte, die in Stil und Thema der »American Scene« zugeordnet werden können. William H. Johnson (1901-1970) war lange Zeit einer der bekanntesten Harlemer Künstler. Nach einem langen Aufenthalt in Europa und Afrika kehrte er 1938 zurück nach Harlem und malte in den Jahren danach Szenen aus dem Leben der Schwarzen in Amerika und religiöse Bilder in einem bewusst »primitiven« Stil, der die akademische Malweise seiner Ausbildung an der National Academy of Design ersetzte. Das Ziel dieses Stils war, wie er sagte, sich im Ausdruck seiner eigenen Tradition anzupassen: »My aim is to express in a natural way what I feel both rhythmically and spiritually, all that has been saved up in my family of primitiveness and tradition« (Driskell 135). Der begabteste und innovativste dieser Künstler, die aus dem Kontext der Harlem Renaissance hervorgegangen waren, ist Romare Bearden (19111988), dessen lebhafte, kritische Collagen ihn bereits zu Anfang seiner Karriere bekannt gemacht hatten. Er studierte bei George Grosz und lernte bei ihm die bildlichen Grundlagen der Sozialsatire. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde er einer der ersten schwarzen Künstler, dessen Werke von nahezu allen größeren Museen gekauft wurden. Duke Ellington erwarb seine Bilder, und nach dem Beginn des »Civil Rights Movement« wurde er zum führenden Maler der 1960er Jahre, der mit seiner Collagekunst völlig eigene Wege beschritt.17 17 Hughes beschreibt seine besondere Leistung: »Bearden’s work held no trace of black cultural separatism: he abhorred the very idea. He felt free to draw on the whole range of European art history, from the Sienese trecento to Matisse. But he insisted on his right to treat Afro-Caribbean culture as an equal source of inspiration, and to discover in collage a way of making visual equivalents of the greatest of black American art forms: jazz and the blues« (521).

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Neben Johnson und Bearden ist es vor allem Jacob Lawrence (19172000), der heute im Zentrum des Kunstinteresses steht. Sein Zyklus The Migration of the Negro, der auf insgesamt sechzig kleinformatigen, durchnummerierten Bildern das Leben der Schwarzen im Süden, die Migration in die Städte des Nordens und das neue Leben dort schildert, ist der Maßstab für solche narrativen Bildsequenzen geworden. Lawrence hatte wie viele andere schwarze Künstler zunächst über das Harlem-Programm der WPA Kunst studiert. Im Verlauf der 1930er Jahre fand er intellektuell Anregung durch Vorträge über afroamerikanische Geschichte und malte in rascher Folge kleinere Bildzyklen – The Life of Frederick Douglass (1939), The Life of Harriet Tubman (1940) und The Life of John Brown (1941) –, die als Illustration der Biografien berühmter Afroamerikaner gedacht waren: »Lawrence’s intent for the series was nothing less than educational in the most profound sense. Pivotal to the success of the series were the complementary texts that accompanied each panel. Because looking at art was new to the New Negroes, Lawrence tried, through the text panels, to underscore the message of his art and to validate his viewers’ newly found sense of literacy« (King-Hammond 78).

Abb. 19: Jacob Lawrence (1917-2000), The migrants arrived in great numbers, Panel 40 from The Migration Series, 1940-41. Gouache auf Gips auf Malerpappe; 30,5 x 45,7 cm. Museum of Modern Art (MoMA), New York. Gift of Mrs. David M. Levy. Acc. n.: 28.1942.20. © 2010. Digital image, The Museum of Modern Art, New York/Scala, Florence. Die Bildfolge wurde 1942 aufgeteilt zwischen dem Museum of Modern Art, das die geraden Nummern als Geschenk erhielt, und der Phillips Collection in Washington, die die Bilder mit ungeraden Nummern erwarb. Bilder und Texte wirken komplementär: Die Bilder zeigen Einzelszenen aus dem Leben der Afroamerikaner, Personen und die Auswirkungen der Migration. Die Texte 72

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erläutern vor allem Zusammenhänge zwischen dem Kriegsbeginn, der wachsenden Industrie im Norden, den Folgen des Stadtlebens sowie den Arbeitsund Lebensbedingungen, die im Norden zu Rassenunruhen führten. Dennoch konstatiert der Text zum letzten Bild das offene Ende dieser Erzählung: »And the migrants kept coming«. Die einfache, lakonische Erzählweise korrespondiert mit geometrischen Formen und kontrastreichen Farben auf den Bildern, die schwarze Menschen vereinfacht auf fast scherenschnittartige Weise zeigen. Die Gestik ist expressiv und die Silhouetten weisen bereits auf Kara Walkers Scherenschnittarbeiten voraus.

1.8 New York School: Abstrakter Expressionismus und Farbfeldmalerei Die amerikanische Malerei wird bis heute aus der europäischen Wahrnehmung in zwei Perioden unterteilt: Die eine reicht bis 1945 – gelegentlich liest man auch 1940 – und weist neben dem Werk Edward Hoppers höchstens die gegenständlichen Vorstufen zur abstrakten Malerei eines Jackson Pollock oder Mark Rothko auf. Die zweite, eigentliche Periode amerikanischer Malerei beginnt im Bewusstsein vieler Kunstinteressierter mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und wird bestimmt durch die New York School oder sogar erst durch die Pop Art nach 1960, mit der amerikanische Kunst auch in Europa von einer breiten Öffentlichkeit rezipiert wurde. Diese Zweiteilung negiert nicht nur die komplette Geschichte amerikanischer Malerei vor 1945, sondern vernachlässigt zugleich den politischen und kulturellen Kontext der New York School. Die Nachkriegszeit in den USA wurde durch die Erfahrung von Hiroshima, den Koreakrieg und vor allem die McCarthy-Ära des Kalten Kriegs geprägt. Die Zäsur in der Geschichte amerikanischer Malerei kann nicht losgelöst von diesen außen- und innenpolitischen Ereignissen und dem generellen Klima des Antikommunismus betrachtet werden. Gerade jene Maler, die bis heute die neue Kunst der radikalen Ungegenständlichkeit vertreten, sahen sich im Amerika der Jahre vor 1960 Anfeindungen ausgesetzt, die über das Maß üblicher Kunstkritik hinausgingen und von ihnen wiederholt Beweise ihrer nationalen Treue abverlangten. Hier sind durchaus Ähnlichkeiten zwischen der Protestliteratur des Beat Movement in den 1950er Jahren und der radikalen Verweigerung traditioneller gegenständlicher Kunst zu verzeichnen, die beide von den Medien als ›unamerikanisch‹ verurteilt wurden. Die Schwierigkeiten, die neue Malerei zumindest den Journalisten der Jahre nach 1945 begreiflich zu machen, kann man dem Brief Barnett Newmans an die New York Times von 1950 ablesen, in dem er von dem Rezensenten der ersten Einzelausstellung Clyfford Stills in Betty Parsons Gallery ein ernsthafteres Bemühen um die neue Kunst fordert: »Clyfford Still is a mature and advanced artist and belongs to a group of artists who are working at the periphery of known art experiences and therefore present a new challenge to the art public. These paintings consequently require a greater imaginative effort on the part of the serious critic« (36). Nicht nur die Öffentlichkeit reagierte zunächst mit Unverständnis und Gelächter, auch einige Kunstkritiker führender Zeitschriften – gerade in der linken Presse wie The 73

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New Republic – distanzierten sich viele Jahre hindurch und unterstellten Scharlatanerie. Besonderen Unmut zog Jackson Pollock auf sich, nachdem er dem Fotografen Hans Namuth 1950 erlaubt hatte, ihn bei der Herstellung seiner »drippings« zu fotografieren und später auch zu filmen. Als einige der mehr als 200 dokumentarischen Fotografien publiziert wurden, zeigte sich die kunstinteressierte Öffentlichkeit schockiert und distanzierte sich von dem Künstler, dem Automatismus und Willkürlichkeit statt künstlerischer Ernsthaftigkeit und Planung vorgeworfen wurden. Als Clement Greenberg, über viele Jahre hinweg der maßgebliche Kunstkritiker und Verteidiger der Abstrakten Expressionisten, die neue amerikanische Malerei wiederholt für bedeutsamer und einflussreicher erklärte als die französische, kam dies in der Kunstszene fast einer Kriegserklärung gleich. Bereits 1953 schrieb er: »Do I mean that the new American abstract painting is superior on the whole to the French? I do« (125). Im Jahr 1955 wurde eine Ausstellung vom Museum of Modern Art zusammengestellt und reiste mit dem Titel »New American Painting« von Basel ausgehend in sieben europäische Metropolen.18 Die Reaktionen waren meist gemischt und nur gelegentlich begeistert, aber man setzte sich mit der neuen Malerei zumindest auseinander. »Nur in Frankreich nicht. Dort nahm die Ablehnung zum Teil aggressive Töne an« (Honisch und Jensen 13). Diese zutiefst verärgerte Haltung ist selbst zwanzig Jahre nach Greenbergs provokanter Äußerung an dem in den späten 1970er Jahre entstandenen polemischen Buch des Franzosen Serge Guilbaut, das mit dem Titel How New York Stole the Idea of Modern Art ins Englische übersetzt wurde, immer noch deutlich abzulesen.19 In Amerika verebbten die negativen Zeitungskritiken in den späten 1950er Jahren. Mehrere Gruppen- und Einzelausstellungen fanden statt, ohne dass großer Protest geäußert wurde. Im Jahr 1960 erklärte der Kunsthistoriker Leo Steinberg den Abstrakten Expressionismus allerdings bereits für tot – Robert Rauschenberg und Jasper Johns seien seine legitimen Erben. Greenberg hatte sehr wohl erkannt, dass ohne Kenntnis einer Tradition keine Moderne möglich war. Er verwies in seiner Analyse der besonderen Qualitäten zeitgenössischer abstrakter Maler in Amerika auf die Einflüsse von Paul Klee, Miró und den frühen Wassily Kandinsky, maß aber der amerikanischen Moderne um und nach dem Ersten Weltkrieg weitaus zu wenig Bedeutung zu, wie Wanda Corn nachweist (vgl. The Great American Thing 18 Die Kunstsammlung Basel hatte als einziges europäisches Museum bereits 1959 eine Reihe großer Gemälde Abstrakter Expressionisten aus dem Besitz eines Sammler geschenkt bekommen und blieb lange Zeit führend in der Unterstützung der amerikanischen Moderne. 19 Guilbaut verweist wiederholt auf die politische Situation der USA im Kalten Krieg und die dadurch angeblich beeinflusste neue amerikanische Malerei, die er im Unterschied zu den zeitgenössischen Kritiken nunmehr als ideologisch befrachtet und nationalistisch, weil instrumentierbar darstellt. Pollocks Malweise etwa zeige die in den USA favorisierten Eigenschaften von »[b]rutality, crudeness, virility – these were crucial elements in such uncertain times, more impressive than Parisian charm« (176). Die heftigen Diskussionen in New Yorker Künstlerkreisen und am Black Mountain College über die fatale Ideologie unter McCarthy verschweigt Guilbaut. Peter Schneemann argumentiert in seinem Buch zur Geschichtsschreibung des Abstrakten Expressionismus überzeugend gegen den neomarxistischen Ansatz Guilbauts (vgl. 50).

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xvi). In seinem einflussreichen Essay »›American-Type‹ Painting« (1955) konstatierte Greenberg, die neue Malerei sei gleichermaßen einer durch öffentliche Gelder garantierten materiellen Sicherheit durch das Federal Arts Project in den 1930er Jahren, der Präsenz zahlreicher europäischer Emigranten unter den Künstlern in den 1940er Jahren und der Möglichkeit unmittelbarer Anschauung europäischer Gemälde der Moderne in amerikanischen Museen geschuldet. Obwohl Greenberg die Kontinuität moderner und abstrakter Malerei in der Kunstgeschichte Amerikas übersieht, die Corn inzwischen gründlich aufgearbeitet hat, sind die ungewöhliche Zahl herausragender abstrakter Maler in New York und die Vielfalt der stilistischen Auffassungen von Abstraktion nun für ihn Grund genug, hier auf ein besonderes amerikanisches Phänomen zu schließen: »When I say [...] that such a galaxy of strong and original talents has not been seen in painting since the days of cubism, I shall be excused of chauvinist exaggeration, not to speak of the lack of a sense of proportion« (The Great American Thing 228-229). Obwohl Greenberg vor allem den Einfluss europäischer Malerei auf die Abstrakten Expressionisten für relevant hält, ist der asiatische Einfluss nach seiner Meinung eher vernachlässigenswert. Er erwähnt zwar Mark Tobey (1890-1976), der bereits in den späten 1930er Jahren angefangen hatte, kalligrafie-ähnliche lineare Muster auf der Leinwand zu entwerfen und als erster Maler des »all-over« gilt, doch auch Franz Kline, dessen große schwarze Pinselstriche auf weißer Leinwand selbst in der japanischen Rezeption als abstrakte Variante von Kalligrafien gelten, hält Greenberg noch für ein unzutreffendes Beispiel: »Kline’s apparent allusions to Chinese or Japanese calligraphy encouraged the cant, already started by Tobey’s case, about a general Oriental influence on ›abstract expressionism.‹ [...] Actually, not one of the original ›abstract expressionists‹ – least of all Kline – has felt more than a cursory interest in Oriental art. The sources of their art lie entirely in the West […]« (220).

Greenbergs Überbewertung europäischer und die gleichzeitige Abwehr asiatischer Einflüsse, die er als »cant« verurteilt, richtete sich vermutlich primär gegen Dore Ashtons Einschätzung, die bereits 1954 eben diese neue kulturelle Orientierung aufzeigte: »It seems that our artists, satiated with European traditions, look toward a fresh impetus, a ›new way.‹ [...] The East is permanently with us now, and our artists are aware of it« (Winter-Tamaki 145). Die Ausstellung im Guggenheim Museum zum Thema »American Artists Contemplate Asia, 1860-1989« (Frühjahr 2009) gibt ihrer Beobachtung nachträglich recht. Mark Tobey hatte in Seattle bereits 1924 Unterricht in Kalligrafie erhalten, reiste 1935 nach Shanghai und Kyoto und erklärte später: »In China and Japan I was freed from form by the influence of the calligraphic« (WinterTamaki 147). Im Jahr 1958 begründete er, warum er diesen asiatischen Einfluss für wegweisend auch für seine Zeitgenossen hielt: »[I]n a broad comparison between Eastern and Western art it could be said that in the East artists have been more concerned with line and in the West with mass« (Winter-Tamaki 147-148). Dieser Unterschied liegt auch den beiden Richtungen des Abstrakten Expressionismus zugrunde. Was bis heute als »action painting« bezeichnet wird, obwohl die kontrollierte Handschrift eines Künstlers 75

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oft genug erkennen lässt, dass Aktionismus mit dieser Malweise nichts zu tun hat, basiert auf der Linie, während die Farbfeldmalerei auf der »Masse« farbiger Flächen beruht. Maler von Pollock über Robert Motherwell bis zu Franz Kline experimentierten mit Linien, nicht mit Farbflächen wie Clyfford Still, Barnett Newman, Ad Reinhardt und wenig später Ellsworth Kelly. In seiner Hinwendung zur Linienmalerei und seiner Technik des »all-over«, das die Leinwand bis zu ihren Kanten gleichmäßig ausfüllt, kommt Tobey seit den 1930er Jahren hier zweifellos Vorbildcharakter für viele Vertreter der linearen Malerei des Abstrakten Expressionismus zu.

Abb. 20: Jackson Pollock (1912-1956), Autumn Rhythm (Number 30), 1950. Öl und Emaille auf Hartfaserplatte; 266,7 x 528,8 cm. bpk/The Metropolitan Museum of Art, New York. © 2010 The Pollock-Krasner Foundation/Artists Rights Society (ARS), New York. Jackson Pollock (1912-1956), der unabhängig von Tobey in den 1940er Jahren begonnen hatte, mit der Linie zu experimentieren, wurde selbst zu einer ikonischen Figur des Abstrakten Expressionismus. Sein relativ früher Ausstellungserfolg – er stellte bereits mit Anfang dreißig aus (vgl. Newman 304) – ebenso wie sein früher Unfalltod 1956 und seine revolutionäre Methode der Farbverteilung machten ihn bekannter als jeden seiner Zeitgenossen unter den Malern. Pollock hatte wie Mark Rothko, Robert Motherwell und andere Abstrakte Expressionisten mit figurativer Malerei begonnen. Erst in den 1940er Jahren überwogen Gemälde mit abstrakten linearen Kompositionen, bei denen die Farbe noch mit dem Pinsel aufgetragen war; seine Zeichnungen verweisen allerdings seit den späten 1930er Jahren schon auf rein lineare Experimente, die er später auf die Leinwand übertrug. Nach 1945 entwickelte er seine Methode des Farbauftrags, indem er stark verdünnte Farbe über einen Holzstock auf die am Boden liegende Leinwand tropfen ließ. Es entstanden Geflechte von Farbfäden unterschiedlicher Stärke, Tropfen, kleinen Farbflächen, die in einzelnen Arbeitsgängen allmählich übereinander gezogen wurden und deshalb immer wieder an Gewebe erinnern. Die Fotografien und besonders die Filme Namuths zeigen deutlich, wie rhythmisch Pollocks Körper und Arme mit dem Farbauftrag beschäftigt waren, während er sich stetig 76

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um die Leinwand herum bewegte. Der Performanzcharakter des Bildermachens ist ebenso wenig zu übersehen wie die Verwandschaft zu den überdimensionierten Kalligrafien chinesischer und japanischer Künstler, deren Bildträger ebenfalls auf dem Boden liegen. Der Prozess des Farbauftrags bleibt an jeder Stelle der Leinwand ablesbar, und die Leinwand selbst wird bis an ihre Ränder genutzt. Wenn der Rand nach Fertigstellung des Bildes Streifen ohne Farbe aufwies, schlug Pollock die Ränder um, während die Leinwand auf den Keilrahmen gezogen wurde. Die Wirkung des »all-over« auf den Betrachter ist zunächst eine Orientierungslosigkeit, die durch den Verlust von Bildkomposition und vor allem der Zentralperspektive entsteht. Selbst die Flächigkeit bei O’Keeffe lässt Perspektive erkennen. Die ungleichmäßig starken Farbfäden hingegen konzentrieren die Aufmerksamkeit auf bestimmte Passagen der Bilder, die als konturierter erscheinen als umgebende Bildteile. Da die Farblinien stets über- und untereinander geführt sind, ergibt sich zudem der Eindruck von Dreidimensionalität, der dem zunächst als flächig empfundenen Gesamteindruck kontinuierlich widerspricht. Die Methode des Farbauftrags erregte zunächst viel Aufsehen und war Kritikpunkt der meist ablehnenden Reaktionen in der Presse und bei Ausstellungen. Pollock selbst rechtfertigte den Vorgang der Bildherstellung mit einem Zustand, in dem sein Unbewusstes sich Ausdruck verschaffte. Der »Expressionismus« war bei ihm wörtlich zu verstehen. Die Leinwandgröße nahm zwischen 1948 und 1950 ständig zu; Autumn Rhythm etwa ist fast sieben Meter breit. Die Rezeption Pollocks in der Öffentlichkeit veränderte sich erst in den frühen 1950er Jahren, doch die Kunstkritik hatte für seine Bilder schon seit den späten 1940er Jahren Interesse gezeigt und Greenbergs positive Einschätzung weitgehend übernommen. Viele Vertreter des Abstrakten Expressionismus waren entweder durch ihre Lehrtätigkeit am Black Mountain College oder durch die Ausstellungen in Betty Parsons Galerie miteinander bekannt und befreundet. Robert Motherwell (1915-1991) und Franz Kline (1910-1962) malten beide vorwiegend in Schwarz auf einer weiß bemalten (Kline) oder ungrundierten Leinwand (Motherwell). Das Gestische der großen Zeichen ist ihnen ebenso gemeinsam wie die Betonung des Malvorgangs selbst, der an der abnehmenden Farbstärke oder den Tropfspuren ablesbar ist. Anders als Adolph Gottlieb (19031974) verweisen die abstrakten Zeichen nie auf einen Gegenstand und sind ebensowenig entzifferbar wie Pollocks Linien. Bei Gottlieb ist hingegen in dem oberen Bildteil oft ein Kreis in leuchtenden Farben, der an japanische Zen-Malerei erinnert und wie eine Sonne über dem unteren Bildteil schwebt. In der unteren Bildhälfte erscheinen magische Zeichen, die manchmal wie Runen, manchmal wie Piktogramme in der Tradition nordamerikanischer Indianer ein Gegengewicht zu dem oben dominierenden Kreis bilden. Die Farbfeldmalerei ist die zweite wichtige Richtung der Malweise im Abstrakten Expressionismus, die der Linearkunst gestischer Malerei entgegenläuft. Die riesigen monochromen Bilder mit rissartigen Kanten und farbigen Bildecken von Clyfford Still (1904-1980) weisen seine Nähe zu Barnett Newman (1905-1970) aus, dessen ebenfalls riesige monochrome Farbflächen oft durch weiße oder andersfarbige vertikale Linien unterteilt zu sein scheinen, auch wenn Newman selbst diese Linien keineswegs als Bildteilungen verstanden wissen wollte. Für ihn sind es eher Lichtstrahlen, die der Einheit 77

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des Gesamtbildes dienen wie der Lichteinfall in ein hohes Gebäude, dessen architektonische Masse dadurch betont wird (vgl. Newman 306). Die sogenannten Reißverschlüsse, die »zips«, seien eher Lichtblitze als Streifen, die trennten, sagte Newman kurz vor seinem Tod in einem Interview mit dem Regisseur Emile de Antonio: »I feel that my zip does not divide my paintings. I feel that it does the exact opposite. It does not cut the format in half or in whatever parts, but it does the exact opposite: it unites the thing. It creates a totality […]« (306).

Abb. 21: Barnett Newman (1905-1970), Vir Heroicus Sublimis, 1950-51. Öl auf Leinwand; 242,2 x 541,7 cm. Museum of Modern Art (MoMA). Gift of Mr. and Mrs. Ben Heller. Acc. n.: 240.1969. © 2010. Digital image, The Museum of Modern Art/Scala, Florence. Ein unfreundlicher Rezensent von The New Republic bezeichnete das Bild noch 1957 als die größte Eselei einer Ausstellung in Minneapolis und empfahl dem Organisator den umgehenden Abtransport durch die Hausmeister (vgl. Newman 209-210). Die fast sechs Meter breite rote Leinwand von Vir Heroicus Sublimis erregte die Gemüter zu Beginn der 1950er Jahre ebenso wie achtzig Jahre zuvor Whistlers Bild des Feuerwerks John Ruskin und andere Zeitgenossen empört hatte. Es war vor allem der Vorwurf an beide Maler, die Bilder könnten keine Kunst sein, weil sie zu schnell entstanden, zu einfach in der Wirkung und zu wenig durchkomponiert seien. Whistler sagte vor Gericht, sein Gemälde sei zwar schnell gemalt worden, doch sei dies nur durch die in vielen Jahren der Übung entstandene Kunstfertigkeit möglich geworden. Newman geht auf die Frage der Kunstfertigkeit gar nicht mehr ein, sondern betont ganz im Sinn der Philosophie des Pragmatismus den Entstehungsprozess des Kunstwerks: »For me painting involves an immediate exercise of total commitment. It is what I am trying to say that is important. And I hope that I say it at once and in one moment. In 1951, [...] I was asked by a viewer how long it took me to paint Vir Heroicus Sublimis. I explained that it took a second but the second took a lifetime« (248).

Der Anfang jedes Kunstwerks ist für Newman die reine Idee, wie er sagt, doch in diese Erkenntnis geht die Erfahrung des gesamten Lebens ein. Eine 78

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Aufrechnung, wieviel Arbeit im Kunstwerk enthalten ist, und welcher Wert ihm damit zugeschrieben werden kann, ist für ihn unmöglich. John Deweys einflussreicher Essay Art as Experience (1934) hatte die übliche Trennung von Künstler und Kunstwerk bereits in den 1930er Jahren aufgehoben. Statt Kunst als Gegenstand wird nun sowohl der Entstehungsprozess als auch das anschließende Kunsterleben im Vorgang der Betrachtung zum entscheidenden Kriterium. Kunst ist nicht länger universales Objekt, sondern Ereignis des Jetzt. Diese Auffassung ist bei den gestischen Malern von Pollock bis Kline, Francis und Twombly am Malprozess abzulesen, aber sie wird auch für die Maler des »color-field« entscheidend. Zehn Jahre nach Dewey betonen Gottlieb, Newman und Rothko in einem offenen Brief an die New York Times, ihre Bilder sollten nicht erklärt werden, sie seien zu erfahren: »No possible set of notes can explain our paintings. Their explanation must come out of a consummated experience between picture and onlooker« (zit. nach Craven 17). Der Akt der Kunstbetrachtung ist für Newman kein museales Erlebnis. Seine überdimensionierten Bilder laden zwar dazu ein, sie aus der Entfernung und damit distanziert zu betrachten, doch Newman plädierte für eine große Nähe zum Bild, um es ›existenziell‹ zu erleben: »There is a tendency to look at large pictures from a distance. The large pictures in this exhibition are intended to be seen from a short distance« (178). Die farbige Leinwand muss zum Einzigen werden, das der Betrachter wahrnehmen kann, die enorme Länge des Bildes muss im Vorgang des Abschreitens erfahren werden. Die Höhe der Leinwand soll dazu zwingen, hinauf zu schauen wie zu einem Kirchenfenster. Wenn Newman seinen Bildern Titel wie Who’s Afraid of Red, Yellow and Blue gibt, dann muss das Auge ganz von dem Rot erfüllt sein, um danach nur noch Gelb zu sehen und anschließend allein das Blau zu erfahren. An den Grenzen zwischen den Primärfarben spielen sich Überblendungen ab, in denen man Orange oder Grün erfährt, obwohl diese Farben nicht auf der Leinwand enthalten sind. Es geht Newman also um das physische Erleben von Zeit im Akt des Betrachtens seiner Bilder und, so könnte man hinzufügen, von reiner Farbe. Die zum Teil erregten und zerstörerischen Reaktionen auf Newmans Bilder sind nur zu begreifen, wenn man sich ihnen einmal ausgesetzt hat. »The Sublime Is Now« nennt Newman seinen letzten Artikel in der Zeitschrift Tiger’s Eye vom Dezember 1948, in dem er Burkes Konzept des Erhabenen für die neue Kunst in Amerika reklamiert. Er wirft den zeitgenössischen europäischen Künstlern vor, das Erhabene nicht mehr erlebbar machen zu können. »[M]odern art, caught without a sublime content, was incapable of creating a new sublime image«, schreibt Newman (173). Einige seiner amerikanischen Zeitgenossen seien hingegen offen für eine neue Konzeption des Erhabenen, die einer Offenbarung gleichkomme. Diese religiöse Komponente im Begriff »revelation« spricht etwas an, das in seinem eigenen Werk von ebenso großer Bedeutung ist wie bei Still, Reinhardt oder Rothko. David Craven nennt dieses gemeinsame Interesse der Abstrakten Expressionisten »myth-making« und verweist darauf, wie deutlich die Einflüsse chinesischer Malerei und des Zen Buddhismus an den Bildern einiger Maler abzulesen seien. Die geometrischen Formen und vor allem die monochromen Bilder Reinhardts etwa orientierten sich an der Kunst der Weglassung, wie sie die Landschaftsmalerei der Sung Dynastie praktizierte (vgl. Craven 34). Leere 79

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eröffnet Möglichkeiten einer besonderen Art der Wahrnehmung; die Beschäftigung mit einem neuen Mythos, den Craven für die gemeinsame Basis der abstrakten Malerei hält, entspricht dem Bemühen moderner Kunst, das NichtDarstellbare wahrnehmbar zu machen, wie es Lyotard beschreibt: »To make visible that there is something which can be conceived and which can neither be seen nor made visible: this is what is at stake in modern painting. But how to make visible that there is something which cannot be seen? […] As painting, it will of course ›present‹ something though negatively; it will therefore avoid figuration or representation« (78).

Mark Rothko (1903-1970), neben Still und Reinhardt der weitere große Farbfeldmaler des Abstrakten Expressionismus, vermeidet die präzisen Ränder und Linien ebenso wie den einheitlichen Farbauftrag. Das Kompositionsprinzip seiner abstrakten Bilder, das er nach 1947 entwickelt, beruht auf zwei oder drei rechteckigen Farbfeldern, die auf kontrastierendem Grund zu schweben scheinen. Die Ränder sind unscharf und tragen zu diesem atmosphärischen Eindruck bei. Die Farben wechseln zwischen leuchtenden Tönen und melancholischen, dunklen Schattierungen, die den Kontrast zwischen den Farbfeldern und dem Untergrund nahezu aufheben. Rothkos späte Bilder, wie der berühmte Zyklus von vierzehn Gemälden in der ›Rothko Chapel‹ in Houston, zeigen vorwiegend Schattierungen von Schwarz, die erst allmählich im Dämmerlicht der Kapelle wahrnehmbar und unterscheidbar werden.

Abb. 22: Helen Frankenthaler (*1928), Flood, 1967. Synth. Polymer auf Leinwand; 314,96 x 355,6 cm. Whitney Museum of American Art, New York; Purchase, with funds from the friends of the Whitney Museum of American Art 68.12. © 2009 Helen Frankenthaler/Artists Rights Society (ARS), New York. 80

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Wenn man Ellsworth Kelly (*1923) mit seinen geometrischen Formen und präzisen Farbbändern eher in der Nachfolge von Newman und Reinhardt sehen könnte, so erinnern die Bilder von Helen Frankenthaler (*1928) mit ihren verlaufenden Farbflächen vage an Rothko. Bei ihr vereint sich die Flächigkeit der Farbfeldermalerei mit der Malweise Pollocks, der die Leinwand auf dem Boden auslegte. Frankenthalers intensive Farbflächen entstehen auf der meist unbehandelten und ungrundierten Leinwand, die sie, wie Morris Louis (19121962) auch, auf einem imaginären Tisch horizontal ausbreitet, um die Farbe in den Malgrund einziehen zu lassen: »The later, more elegant development of this by-now invisible table came in the work of Helen Frankenthaler and Morris Louis, where a canvas was stretched on a floor and stained with paint. The paint was permitted to run and soak; the painter sponged and scrubbed it back into the canvas itself […] these works had, as a second stage, to be hoisted up and rotated so that effects of gravity are converted into floating, counterintuitive spectacles« (Fisher 201).

Arthur Danto zieht den Vergleich mit Zeichnungen und Aquarellen, bei denen das Papier sichtbarer Hintergund bleibt wie bei Frankenthaler die Leinwand: »Even when the surface is completely flooded with color, so that none of its native whiteness or buff shows through as raw canvas, one remains conscious of it through the transparent pools and washes« (Embodied Meanings 30). Diese Transparenz verlieren ihre späteren Arbeiten seit Ende der 1970er Jahre, weil sie den weißen Untergrund eher malt, als ihn durchscheinen zu lassen. Der Abstrakte Expressionismus erschöpfte sich keineswegs in diesen beiden grundsätzlich unterschiedlichen Malweisen von Linie und Fläche oder Bewegung und Stille, sondern brachte in der Folge eine Reihe von Künstlern hervor, die wie die Gruppe der älteren Maler untereinander befreundet waren und sich gegenseitig beeinflussten, obwohl sie völlig unterschiedlich arbeiteten. Zu ihnen gehört der expatriierte Cy Twombly (*1928), der mit Robert Rauschenberg 1952-53 Italien und Nordafrika bereiste, seit den späten 1950er Jahren in Italien lebt und dessen Werk die Verbindung zwischen Bild und Schrift wiederherstellt. Die Bildtitel verweisen gelegentlich auf die Odyssee, auf Shakespeare oder auf antike Mythen. Seine weißen Leinwände beschriftet er wie riesige Notizzettel mit Ziffern, Zitaten, Erinnerungen, Namen von Dichtern, lyrischen Fragmenten, die jedoch nie vollständig erscheinen, sondern schon wieder gelöscht werden, ehe sie ganz ausgeschrieben sind. Blasse kleine Zeichnungen dazwischen verschwinden, bevor sie zu Illustrationen werden können. Farbe taucht nur gelegentlich und in Andeutungen auf nach einem scheinbar aleatorischen Prinzip. Roland Barthes nennt den frühen Twombly einen »Antikoloristen« (20), wobei sich der Gebrauch von Farbe in Twomblys Spätwerk deutlich ändert. Wie bei Jasper Johns wird durch Zeichnen, Malen, Korrigieren und Auslöschen der Verlauf der Zeit im Bild sichtbar gemacht. Das Ziel solcher Malweise ist es, »to create layers of temporal resonance [...]« (Rosenblum 142). Viele der Bilder Twomblys aus den 1960er und 1970er Jahren weisen eine ihm eigene, inzwischen unverwechselbare Handschrift auf, Schwarz auf

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Weiß, Kreidefarben auf dem Schiefergrau von Schultafeln.20 Es sind rhythmisch geschwungene, flüssige Linien, die ihren Ursprung in der Schrift haben und die Handbewegung erkennen lassen, aber nun stattdessen zum eigenständigen grafischen Bild werden. Selbst wenn man gelegentlich einzelne Buchstaben zu erkennen meint, ist die Schrift nicht zu entziffern, doch man sieht dem Schreibvorgang zu und erkennt, wie daraus das Bild entsteht. »Von der Schrift bewahrt TW [Twombly] die Geste, nicht das Resultat«, heißt es bei Roland Barthes (10-11), und wenig später bezeichnet er die Erinnerung als »totales Zeichen« (18) und die Schrift als »sichtbare Aktion« (26). Anders als die Farblinien auf den Bildern Pollocks ist Twomblys Werk ein Werk der Schrift, wie Barthes betont: »Es hat etwas mit Kalligraphie zu tun – aber nicht im Sinn von Imitation oder Inspiration« (8).

Abb. 23: Jasper Johns, Periscope (Hart Crane), 1963. Öl auf Leinwand; 170,2 x 121,9 cm. © VG Bild-Kunst, Bonn 2010.

20 Die überwiegende Verwendung von Schwarz, Weiß und Grau gehörte zu den wesentlichen Merkmalen einer ganzen Generation abstrakter Künstler, die am Black Mountain College in North Carolina studiert hatten: »The preponderance of the use of monochrome, grisaille and black and white during this time is evidenced by Robert Rauschenberg’s White Paintings 1951 and Black Paintings 1951-3, and the black and white works of de Kooning, Pollock, Kline and Motherwell, the last two of whom had been instructors at Black Mountain College when Twombly studied there« (Cullinan 50).

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Neben Cy Twombly sind es Robert Rauschenberg (1925-2008) und Jasper Johns (*1930), die als die erfindungsreichsten Künstler zwischen dem Abstrakten Expressionismus und den Versionen neuer Gegenständlichkeit zu gelten haben. Beide werden zwar häufig zu Wegbereitern der Pop Art erklärt, doch wegen ihrer unabhängigen Entwicklung zwischen Abstraktion und Andeutungen an Gegenständlichkeit sind sie dieser Richtung hyperrealistischer Kunst keinesfalls zuzurechnen. Beide entwickelten ihre künstlerische Vorgehensweise im unmittelbaren Kontext von John Cage, dem Komponisten, und Merce Cunningham, dem Choreografen. Dieser Einfluss macht die Bilder von Rauschenberg und Johns zu dreidimensionalen Malereiobjekten und ordnet sie einer besonderen Kunst des Raumeindrucks zu. Das Bild von Johns (vgl. Abb. 23) zeigt in Schattierungen von Schwarz, Weiß und Grau drei parallel angeordnete, untereinanderliegende und gleich große Bildteile, die durch Schriftzeichen jeweils einer Farbe zugeordnet sind, ohne jedoch selbst in Farbe ausgeführt zu sein. Das Wort »RED« ist zweifach vorhanden, einmal in derselben Schriftgröße wie die beiden Wörter darunter und einmal kleiner in Dunkelrot über dem E. »YELLOW« scheint falsch geschrieben zu sein, bis man erkennt, dass es links spiegelverkehrt mit »EY« erneut beginnt und das Wortende durch den überlagernden Halbkreis abgeschnitten ist. »BLUE« darunter erscheint blass auf dunklerem Hintergrund als die beiden anderen Farbwörter. Ein paar einzelne Buchstaben sind über die drei Bildteile verstreut, als ob sie aus einem Setzkasten gefallen seien und die Wörter in irgend einer Weise ergänzten. Rechts oben ist die Farbe durch ein Objekt halbkreisförmig abgekratzt worden, aber der Gegenstand selbst – meist sind es bei Johns Lineale oder andere Holzleisten, die noch an der Leinwand hängen – fehlt hier und ist durch eine gemalte Leiste ersetzt, die links in einem Handabdruck des Malers ausläuft. Der Halbkreis nimmt das früher bei Johns verwendete Motiv der Zielscheibe wieder auf, aber die Leinwandkante verhindert, dass der Kreis der Zielscheibe vollständig ist. Die Wörter sind zugleich Namen, Etiketten oder Bildtitel, wie Philip Fisher schreibt: »Words, painting, and objects work together, but only once this highly intellectual set of perceptions lets us overcome their stubborn diversity« (68). Es gibt in den 1960er Jahren eine ganze Reihe ähnlicher Bilder mit vergleichbaren Motiven und Lettern. Die kreisförmig abgekratzte Farbe ist dabei fast immer Teil der Komposition und erinnert wie die wiederkehrenden Handabdrücke deutlich an die Präsenz des Malers, so wie die Schrift bei Twombly auf die ausführende Handbewegung verweist. Der Bildtitel ist eine Anspielung auf die Literatur: Hart Crane, der amerikanische Dichter, der sich 1932 im Golf von Mexiko das Leben nahm, indem er von Bord eines Schiffes sprang, wird im Untertitel genannt. »Periscope«, der Obertitel, erinnert an ein Bild aus Cranes »Cape Hatteras«, dem vierten Segment seines großen Gedichts The Bridge (1930): »[...] while time clears / Our lenses, lifts a focus, resurrects / A periscope to glimpse what joys or pain / Our eyes can share or answer [...]« (54). Wie bei Twombly entstehen aus solchen fragmentarisierten Titeln, Metaphern oder Namen aus der Literatur neue Wortbilder, die bei Johns zusätzlich als Lettern gestaltet werden und damit selbst Objektcharakter annehmen. Die Materialität des Gemalten wie auch die des Bildes, die schon bei den ikonischen Flags aus den 1950er Jahren auffiel, zeichnet die Bilder von 83

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Johns ebenso aus wie die des fünf Jahre älteren Freundes Rauschenberg, der mit den riesigen Collagen und Materialbildern, die er »Combines« und »Assemblages« nannte, Malerei und Objektkunst vereinte. Wie Johns verwendete Rauschenberg Zeitungen mit erkennbarer Datierung, Fotografien sowie Kalenderblätter, die er häufig mit Stoffresten, Fragmenten von Schirmen, einem halben Quilt mit Kopfkissen oder einem Wecker kombinierte und in einem gemeinsamen Rahmen unterbrachte. Der Materialreichtum und die ironische Kombination disparater Elemente erinnert gelegentlich an die verzauberten, wenn auch weitaus kleineren Kästen von Joseph Cornell. In den 1960er Jahren bezog Rauschenberg Stühle oder Leitern in die »Combines« ein, die damit Installationscharakter erhielten. Die Materialbilder Rauschenbergs kann man lesen wie einen Bilderbogen; sie erinnern dank der wechselnden, kaleidoskopartigen Anspielungsfülle jedoch auch an Experimentalfilme. Leo Steinberg schrieb 1960 gegen Greenberg gerichtet, der Abstrakte Expressionismus sei tot, Rauschenberg und Johns hätten bereits die Nachfolge angetreten (vgl. 29). Tatsächlich ist der anhaltende Einfluss Rauschenbergs auf seine Zeitgenossen und nicht zuletzt die Pop Art kaum zu überschätzen. Andy Warhol widmete ihm bereits im Jahr 1963 mit dem Siebdruck Texan – Portrait Robert Rauschenberg eine Hommage.

1.9 Die Wiederentdeckung des Gegenstands: Pop Art und Fotorealismus Mit der Pop Art beginnt um 1960 eine Gegenbewegung zur Abstraktion. Arthur Danto war einer der ersten Kunstphilosophen, der sich, unter anderem angeregt durch die Brillo Box (1964) von Andy Warhol, mit der grundsätzlichen Frage befasste, wie man Kunst und Nicht-Kunst unterscheiden könne, wenn beide identisch aussähen. Alltagsobjekte wie den Verpackungskarton von Putzschwämmen und seine Nachbildung aus Holz in das Original des Kartons und Warhols Imitation zu trennen, schien nicht mehr angemessen. Die Pop Art veränderte vielmehr die Kunstwahrnehmung grundlegend, wie Danto schrieb: »We have grown used to the possibility of two objects, outwardly indescernible, one of them an artwork and the other not« (Transfiguration 201). Wenn die beiden Objekte sich tatsächlich zum Verwechseln ähnlich sehen, unterscheidet sie allein der potentielle Zugang zur Welt der Kunst: »But then we recognize that we have confused the art work – ›Brillo Box‹ – with its vulgar counterpart in commercial reality. The work vindicates its claim to be art by propounding a brash metaphor: the brillo-box-as-work-ofart« (Transfiguration 208). Dantos Fazit ist das Eingeständnis, dass eine solche Transfiguration des Alltagsobjekts oder des banalen Gegenstands die Kunstwelt selbst nicht verändert. Der Vorwurf der Scharlatanerie, der nur wenige Jahre zuvor gegen den Abstrakten Expressionismus laut geworden war, lebte als neuer Vorwurf gegen die Pop Art wieder auf, wenn auch mit Modifikationen, die vor allem mit der bewussten Kommerzialisierung ihrer Kunst durch die Künstler selbst zu tun hatte. Die neue gegenständliche Malerei hatte es nach der abstrakten Malerei erstaunlich schwer, sich als künstlerisch legitime Gegenrichtung durchzusetzen. Monumentalrealismus nannte John Wilmerding die Kunst des Pop und 84

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des Fotorealismus. Der Vorwurf, eine simple Kopie der Wirklichkeit zu sein und Fotografien als Vorlagen für gemalte Bilder zu verwenden, wurde gerade im Zusammenhang mit dem Fotorealismus laut. Befragt man die gegenständliche Malerei jedoch grundsätzlich nach ihrem Wert, so ergibt sich, wie John Updike anlässlich einer Retrospektive von Fairfield Porter schrieb, immer die Notwendigkeit einer zweifachen Beurteilung: »Representational painting asks a double response from the viewer: to the subject depicted and to the manner of depiction« (Just Looking 118). Die Reaktion auf den dargestellten Gegenstand selbst und seinen Kunstcharakter hatte Danto anhand der Brillo Box untersucht; die Reaktion auf die Malweise führte im Verlauf der 1960er und vor allem der 1970er Jahre zu neuen Erkenntnissen. Man gestand der Pop Art zu, dass sie die Relation zwischen dargestelltem Gegenstand und dem Verfahren seines Abbilds weitaus deutlicher thematisierte, als der Fotorealismus dies tat. Diese Einsicht erleichterte eine Rezeption, die den grundsätzlichen Fragen von Original, Reproduktion und Selbstreferentialität nachging. Roy Lichtenstein (1923-1997) und Tom Wesselman (1931-2004) zeigten Bildmotive des Trivialen und der populären Kultur in Comic und Film, auch wenn diese auf stilistisch völlig unterschiedliche Weise auf die Vorlagen zu ihren Varianten des Realismus anspielten. Wesselmans Bilderserie der »Great American Nudes« spielt mit den in Reklame und populärem Film verbreiteten sexuellen Stereotypen, wenn die gesichtslosen weiblichen Akte nur aus roten Lippen und schnullerartigen Brustwarzen bestehen. Die Malweise ist bewusst plakativ, verwendet leuchtende, oft schrille Farben und betont flache Bildkompositionen. Lichtenstein dagegen fragmentierte die Fläche, indem er 1961 begann, Farbe durch eine selbst angefertigte Metallschablone zu streichen, um mit Einzelpunkten, den sogenannten »Benday dots«, die Rasterung reproduzierter Fotografien im Zeitungsdruck zu imitieren. 21 Die ersten Bilder in diesem Verfahren waren vergrößerte Ansichten von kommerziellen Abbildungen auf Reklametafeln; später folgten Einzelbilder aus nicht ganz zeitgemäßen, also unmodernen »comic strips«. Die Bilder isolieren einzelne, meist melodramatische Szenen, die zusammen mit Sprechblasen auf außerordentlich effektive Weise die schablonenartigen Gesichter der Comic-Heldinnen vergrößern und ihre Emotionen monumentalisieren. Die Ironisierung der für die Kultur der 1950er Jahre wichtigen ComicBilder entsteht durch die Simplifizierung der bildlichen Präsentation einerseits und der Aussagen in den Sprechblasen andererseits. Ihre Kombination macht sie zu modernen Emblemen der Populärkultur. Lichtenstein stellte schon früh mit James Rosenquist, Jim Dine und Robert Indiana aus, die wie Wesselman mit unterschiedlichen Verfahren Reklametafeln und kommerzielle Produktdarstellungen zu ihren Zwecken imitierten, indem sie bestimmte Darstellungsweisen, Gesichter von Stars oder Schriftzüge von Warenetiketten in ihre Bilder inkorporierten. Rosenquist war lange Zeit als Maler von Reklametafeln tätig, andere Künstler verdienten sich ihren Lebensunterhalt mit dem Malen von Kinoreklamen. Diese Verquickung von kommerziellen und künstlerischen Bildern brachte den Pop-Künstlern den Namen »New Vulgarians« ein, den der Kunstkritiker Max Kozloff 1962 21 Die Rasterpunkte tragen den Namen des amerikanischen Druckers Benjamin Day, der damit den Farbdruck für Zeitungen ermöglichte.

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prägte, um die Allianz von Kunst und Kommerz anzuprangern, aber auch um Warhols Mittel der Selbstvermarktung als geschmacklos zu kritisieren. Mitte der 1960er Jahre erweitert Lichtenstein sein künstlerisches Vokabular und stellt riesig vergrößerte, farbige Pinselstriche dar, die »Brush Strokes«, die er später sogar zu Skulpturen formte. Diese Pinselstriche verweisen einerseits auf die gestische Malerei des Abstrakten Expressionismus, sind aber andererseits ebenso handfeste Hinweise auf den Malvorgang in der Geschichte der Malerei generell. Die Art der Präsentation hat ihrerseits mit der Tradition des Pinselstrichs nichts gemein; es sind vergrößerte Bilder von schwarz umrandeten Farbstreifen und gemalten Tropfen, die etwas zeigen, was sie selbst nicht sind. Solche Selbstverweise auf die Kunst bei Lichtenstein und Warhol machen die komplexe und auch kunsttheoretisch durchaus ernstzunehmende Seite der zunächst als nur amüsant verstandenen Pop Art deutlich.

Abb. 24: Andy Warhol (1928-1987), 129 Die in Jet, 1963. Acryl auf Leinwand, 254,5 x 182,5 cm. © 2010 The Andy Warhol Foundation for the Visual Arts, Inc./Artists Rights Society (ARS), New York. Andy Warhol (1928-1987), ausgebildeter Mode- und Werbezeichner, arbeitete mit Wiederholungseffekten, die ikonisch wurden. Coca Cola-Flaschen und Suppendosen von Campbell erscheinen dutzendfach realistisch neben- und aufeinandergestapelt, sodass sich visuelle Muster des Konsumguts ergeben. Später werden sie farblich verfremdet und mutieren zu völlig neuen Objekten. Seine Ausschnittsvergrößerungen von Fotos und Fernsehbildern wirken 86

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hingegen sensationell. Der fotografierte Selbstmord einer Frau, ein brennendes Auto oder der elektrische Stuhl werden durch Wiederholung des Einzelbilds zur Serigrafie mit überwiegend grafischem Wert. Henry Geldzahler berichtet, wie er Warhol eine Tageszeitung mit dem Titelbild eines Flugzeugabsturzes brachte: »One day when we met for lunch I brought him a copy of the Daily Mirror with the frontpage headline 129 Die in Jet printed above a photograph of the wreckage. He made a large hand-painted canvas reproducing the page« (43). Das Bild der Titelseite trägt den Namen des New York Mirror, doch es ist schwer festzustellen, ob Warhol eines der Massenblätter gegen ein anderes ausgetauscht hat oder ob sich Geldzahler in seiner undatierten »Memoir« irrte. Die Nachricht vom Unglück selbst ist jedenfalls durch das gemalte Bild zum Kunstwerk avanciert. Wie in der frühneuzeitlichen Malerei religiös motivierte Todesfälle von Märtyrern mit allen Details von Folterungen abgebildet wurden, so erscheinen nun Autounfälle, Flugzeugabstürze, Selbstmorde oder das Instrument der Todesstrafe im Orange Disaster (1963) als Äquivalente des Sensationellen in der Gegenwart, mit denen wir dem Tod im Bild begegnen. Als »Traumatic Realism« bezeichnet Hal Foster diese Bildserien Warhols (vgl. 130-136). Der Fotograf Richard Avedon nahm Andy Warhols Torso 1969 in eben dieser Märtyrer-Manier auf, nachdem Warhol nur knapp einem Mordanschlag entkommen war und nun auf seine Narben verweist, wie früher die Heiligen auf ihre Wunden und das Instrument ihres Martyriums verwiesen. Warhol arbeitete in nahezu allen Medien wie Grafik, Malerei, Siebdruck, Fotografie oder Film, und alle waren in vergleichbarer Weise reproduzierbar sowie vermarktbar. Dasselbe galt für die zahlreichen Porträts, die er in Serie herstellte und mit denen er Ikonen seiner Zeit präsentierte: Jackie Kennedy, Mao, Liz Taylor und sich selbst als stilisierter Indianerhäuptling. Die Reproduzierbarkeit ist eines der Grundprinzipien der Pop Art ebenso wie die Respektlosigkeit und Selbstironisierung, mit der auf die Kurzlebigkeit von Kunsttraditionen und Ikonen verwiesen wird. Arthur Danto meint, es sei vor allem der Verlust des Glaubens an die Langlebigkeit künstlerischer Bewegungen, der zur Desillusionierung der Künstler in den 1960er Jahren geführt habe: »Pop violated every component of their theory and somehow remained art. And so the quest went on« (Encounters 286). Es ist einerseits das Erbe von Marcel Duchamp und der Umdeutung des Alltagsobjekts, das bei Warhol zu erkennen ist, und andererseits seine erstaunliche Weitsicht gepaart mit einem Kritikvermögen, das auch Danto beeindruckt: »Bitter as the truth may be to those who dismissed him as a shallow opportunist and glamour fiend, the greatest contribution to this history was made by Andy Warhol, to my mind the nearest thing to a philosophical genius the history of art has produced. It was Warhol himself who revealed as merely accidental most of the things his predecessors supposed essential to art, and who carried the discussion as far as it could go without passing over into pure philosophy« (Encounters 287).

Diese Einschätzung Dantos von 1989 gilt bis heute. Der angebliche Clown des Kunstbetriebs, dessen Gesicht man auf den meisten Porträtfotos nicht erkennen kann, weil er sich Blüten, Pistolen oder andere Objekte davor hält, und der immer eine schlecht sitzende Perücke trug, erwies sich als Shakes87

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peare’scher Narr, indem er Weisheiten als Banalitäten ausgab und Kunst praktizierte, die scheinbar jeder nachmachen konnte. Dass Kunst und deren Vermarktbarkeit voneinander nicht zu trennen sind, ist eine dieser ›Banalitäten‹, die Warhol in Bild und Wort zu demonstrieren nicht müde wurde. Die Übergänge zwischen Pop Art und einem neuen Realismus sind oft fließend, wie die Kuchentheken und Buffets von Wayne Thibaud (*1920) zeigen, die trotz der betonten Gegenständlichkeit weder ganz zur Pop Art noch etwa zum Fotorealismus gehören. Die stilisierten, eleganten Figuren und Gesichter von Alex Katz (*1927) sind kühle, unpersönliche Schablonen, »cutouts«, die in Flächigkeit sowie klaren Farben verharren und nichts mehr mit Wesselmans witzigen und schreiend bunten Akten zu tun haben. Katz zählt nicht zu den Realisten, sondern betont vielmehr die Zweidimensionalität seiner Figuren und Landschaften, während die meisten Fotorealisten mit Dreidimensionalität spielen, deren Illusion sie auf der flachen Leinwand entstehen lassen müssen. Dieser Illusionismus der Fotorealisten in den 1970er Jahren nahm ein Wahrnehmungsproblem wieder auf, das schon bei einigen Luministen mehr als hundert Jahre zuvor dargestellt und diskutiert worden war. Die Kamera kann bei entsprechender Einstellung alles zwischen Vordergrund und Hintergrund scharf abbilden, während das menschliche Auge nur entweder im Vordergrund oder in der Distanz scharf sehen kann. Chuck Close (*1940) weist ausdrücklich auf diesen Unterschied hin, um zu verdeutlichen, dass seine gemalten Porträts nicht der menschlichen Wahrnehmung entsprechen, sondern wie die Fotos seiner Modelle Unschärfen dort aufweisen, wo die Kamera sie bewusst produziert hat. Die Gesichter haben unscharfe Nasen, weil sie zu nah am Objektiv waren, oder unscharfe Ohren, weil sie für die Einstellung der Kamera zu weit weg waren. Diese Art der Unschärfe nur in einigen Partien eines Porträts, so Close, ist für das menschliche Auge nicht nachvollziehbar: »I am trying to make it very clear that I am making paintings from photographs and that this is not the way the human eye sees it. [...] The eye is very flexible, but the camera is a one-eye view of the world, and I think we know what a blur looks like only because of photography. It really nailed down blur« (Goodyear 26).

Die Kamera eröffnete Möglichkeiten der Wahrnehmung, die vorher unbekannt oder irrelevant schienen und veränderte dadurch die Erfahrung von Welt. Die Malweise der meisten Fotorealisten folgte diesem Umstand; sie projizierten Dias auf die Leinwand, um die besonderen Möglichkeiten der Fotografie zu nutzen. Wenn die Welt zunächst als Fotografie betrachtet wird, entsteht ein anderes Bild von dem, was wir Wirklichkeit nennen. Es ist nicht allein der Bildausschnitt der Fotografie, sondern auch die uneingeschränkte Schärfe aller Objekte, die im Fotorealismus wie hundert Jahre zuvor bei den Luministen nicht nur zu neuen Bilderfahrungen, sondern wie die traditionelle trompel’oeil-Malerei zu einer verfremdeten Wahrnehmung der Wirklichkeit führt. Bei Ralph Goings (*1928), einem der älteren Fotorealisten, überraschen die Nahaufnahmen von Ketchup-Flaschen und Behältern von Papierservietten, die man aus den alten Diners kennt. Goings bietet weniger Totalansichten, als vielmehr Stillleben oder Ausschnitte aus einer Wirklichkeit, die gerade durch 88

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den Fragmentcharakter fremd und durch die gewählten Gegenstände und Schriftzeichen heute sogar nostalgisch erscheint. Neonschriftzeichen, einzelne Wörter einer Reklameschrift wirken zudem abstrakter als die späteren Komplettansichten von Autos oder Robert Bechtles (*1932) verstörende Ansichten von Suburbia. Die Spiegelwände von Ankleidezimmern und Bädern, die auf den Bildern Jack Mendenhalls (*1937) zu Verwirrspielen von reflektierter Realität werden, erscheinen als reine Oberflächen, die dennoch auf perspektivische Darstellungen verweisen. Ganz im Sinne der Spiegelkabinette auf Jahrmärkten ist kaum noch auszumachen, wo das Objekt oder die Einrichtung beginnt und die lediglich vorgespiegelte Realität aufhört. Die Bilder zeigen auf, wie Sinnestäuschung funktioniert: »to represent apparent reality as a visual conundrum with reflections and refractions of many sorts« (Foster 142). Die Stadtlandschaften von Richard Estes (*1932) beschränkten sich in den 1960er und frühen 1970er Jahren oft auf Frontaldarstellungen von Schaufenstern, durch die die Auslagen von Blumenläden oder Süßigkeiten sichtbar werden. Doch schon bald entstanden daneben Bilder, die Reflektionen von der Stadt – Straßen, Autos, die Häuser der gegenüberliegenden Straßenseite – in den Schaufensterscheiben zeigen. Die Bilder verwirren den Betrachter, weil vor ihm in der Aufsicht etwas gespiegelt gezeigt wird, was sich nach der Erfahrung eigentlich hinter ihm befinden müsste, zumal weder der Künstler noch der Betrachter selbst als Spiegelung erscheinen. Eine wichtige Ausnehme stellt das Double Self-Portrait (1976) dar, das den Künstler in der gespiegelten Ansicht sichtbar macht.

Abb. 25: Richard Estes (*1932), Ansonia, 1977. Öl auf Leinwand; 121,92 x 152,4 cm. Whitney Museum of American Art, New York; Purchase, with funds from Frances and Sidney Lewis 77.33. 89

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Estes ist einer der wenigen Fotorealisten, der die Bilder nicht projiziert und auch nicht nur ein Einzelbild als Vorlage verwendet. Er nimmt eine Reihe von Bildern auf, in denen Standort oder Sicht jeweils leicht variiert ist. Die Auswahl unterschiedlicher Blickwinkel, so Estes, entspricht eher dem, was er gesehen hat: »I can select what to do and what not to do from what’s in the photograph. [...] So what I’m trying to paint is not something different, but something more like the place I’ve photographed« (Goodyear 147). Aus solchen Fotosequenzen entstehen zusätzlich komplexe Ansichten von New Yorker Straßen und Gebäuden, deren Perspektive nicht nur einen Fluchtpunkt haben muss (vgl. Arthur 36-37). Die Betrachtung eines Bildes wie Ansonia fordert wegen der diagonalen Positionierung der Fensterscheibe zum Vergleich von Original und Spiegelung auf, wobei verschiedene Aspekte wie die des Arrangements der Kübelpflanzen rätselhaft bleiben. Diese Art der Präsentation nennt Foster »a subterfuge against the real, an art pledged not only to pacify the real but to seal it behind surfaces, to embalm it in appearances« (141). Durch spiegelnde Oberflächen und Schaufenster entsteht eine fast völlig neue Ansicht der Stadt, die dennoch Ähnlichkeiten mit der vorgefundenen Realität New Yorks aufweist oder sie in gewisser Weise übertrifft. Der Begriff ›Hyperrealismus‹ ist in diesem Sinn angemessen und belegt einmal mehr das ungebrochene Interesse der amerikanischen Malerei an der dialektischen Spannung von Abstraktion und Gegenständlichkeit. Die Frage nach einer als speziell amerikanisch zu bezeichnenden Kunsttradition taucht vor allem dort auf, wo es gilt Einflüsse anderer, außeramerikanischer Entwicklungen genauer zu bestimmen und im Gegenzug der Frage nationaler Besonderheiten nachzugehen. Bei Lloyd Goodrich, dem damaligen Direktor des Whitney Museum of American Art, wurde die Frage in den späten 1950er Jahren noch programmatisch gestellt: »What Is American in American Art«? Seine Antwort war primär kunsthistorischer Art: Er resümierte die Geschichte der Malerei in Amerika von den Anfängen im 17. Jahrhundert und beendete seinen Überblick mit den Abstrakten Expressionisten. Sowohl Goodrich als auch Lewis Mumford hatten sich bereits in den 1930er Jahren bemüht, jenseits der Wahl bestimmter Bildthemen speziell amerikanische Elemente am Stil von Winslow Homer und Thomas Eakins herauszuarbeiten (vgl. Goodrich 15-17, Mumford 90-99). Beide erkannten vor allem in den Bildern Albert Pinkham Ryders den Ansatzpunkt für eine von Europa unabhängige Maltradition der beginnenden Moderne (vgl. Goodrich 16, Mumford 100-104). Ausgerechnet die Autodidakten, die sogenannten Primitiven oder ›folk artists‹, nehmen mit ihren Porträts, Stillleben und Landschaftsbildern in Goodrichs Diskussion einen besonderen Stellenwert ein (vgl. 13), der von dem Dichter William Carlos Williams bei der Eröffnung der Garbisch Collection in der National Gallery (1954) in gleicher Weise betont wurde: »How not to begin an article on American primitives in painting: You don’t begin to speak about Giotto or Fra Angelico or even Bosch, but of a cat with a bird in his mouth – a cat with a terrifying enormous head« (»Painting in the American Grain« 329). Die Bedeutung der für die Maltradition Amerikas so wichtigen Primitiven wird gerade heute von Kunstkritikern erneut hervorgehoben und lenkt den Blick bewusst auf eine von Europa ganz unabhängige Kunstentwicklung, die ohne Akademien entstanden war. Ein grundlegendes Unterscheidungsmerkmal zwischen europäischer und amerikanischer Malerei waren für Goodrich und Mumford die Besonderhei90

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ten amerikanischer Phänomene, die etwa Landschaften, Stadtansichten, Genreszenen oder Alltagsobjekte anders als in der europäischen Malerei üblich erscheinen ließen und die nicht einfach als defizitär, sondern eben als distinkt amerikanisch zu betrachten waren. Der Vorwurf einer exzeptionalistischen Position aus amerikanischer Perspektive mag hier nahe liegen, doch er ist gegenstandslos, wenn statt einer genauen Betrachtung nationaler Charakteristika in der amerikanischen Kunsttradition lediglich auf europäische Einflüsse verwiesen wird, ohne die stets zu beobachtenden, grundlegenden Differenzen gleichermaßen in Betracht zu ziehen. Wenn Henry James in seinem Buch über den Künstler William Wetmore Story zur Unterscheidung von Europa und Amerika warnend schreibt, »[t]he apple of ›America‹ is a totally different apple, which, however firm and round and ruddy, is not to be […] negotiated […] by the same set of teeth« (296), so meint er nicht allein den amerikanischen Künstler, dessen Erfahrungen in Europa missverstanden werden. James nimmt die Unterscheidung von William Carlos Williams vorweg, der daran erinnert, dass das europäische Rotkehlchen nichts mit dem gleichnamigen amerikanischen Vogel gemein habe, den die englischen Einwanderer einfachheitshalber auch als ›robin‹ bezeichneten (vgl. »American Background« 134). Die frühen und vereinzelten Bemühungen um eine Bestimmung der besonderen amerikanischen Bildtradition wurden seit den späten 1960er Jahren von den wegweisenden Arbeiten Barbara Novaks abgelöst, die in ihrem Standardwerk American Painting of the Nineteenth Century (1969) die Kontinuität einer besonderen Dinghaftigkeit amerikanischer Kunsttraditionen ebenso hervorhob wie den ideengeschichtlichen Kontext, der für amerikanische Maler seit der Unabhängigkeit zunehmend relevant geworden war: »All these properties were manifested in American art in various ways: threading through the sometimes linked and sometimes separate traditions of realism and idealism; ignoring – as, unfortunately, the historian with his necessity for labels often cannot – the art historical categories; grouping, so that sometimes all could be found in the art of a single artist; then spreading, to link, through isolated characteristics, artists of a totally different kind« (262).

Novaks Überlegungen, die sie später mit Betrachtungen zur amerikanischen Landschaftsmalerei in Nature and Culture (1980) präzisierte, werden inzwischen oft als essentialistisch und damit als überholt abgetan. Doch selbst die neueste Kunstwissenschaft, die in ihren Detailstudien immer wieder auf europäische und asiatische Traditionen und Einflüsse stößt, die beachtenswert sind und Kontinuitäten gerade dort aufzeigen können, wo zuvor nur Brüche, Diskontinuitäten oder Widersprüche konstatiert wurden, muss sich gleichermaßen der Frage stellen, welche Stilrichtungen, Themen oder Malweisen die Kunst in Amerika distinkt erscheinen lassen. Der Einfluss des Stils von Robert Feke und John Singleton Copley auf spätere Entwicklungen ist dabei ebenso relevant wie die sorgfältige Aufarbeitung einer genuin amerikanischen Tradition der Moderne in Amerika, die, wie Wanda Corn in The Great American Thing überzeugend darlegt, nicht erst durch die Anregung der emigrierten Maler zwischen den Weltkriegen entstanden war. Inzwischen vermitteln amerikanische und europäische Kunstwissenschaftler in Sammelbänden wie Internationalizing the History of American Art ein komplexeres Bild der 91

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Wechselwirkungen von nationalen Maltraditionen und transnationalen Einflüssen, die jenseits der Vorstellung von naturgegebener Überlegenheit einer Region als »primary culture« (»American Background« 153) – in den Worten von Williams – nun die Vielfalt gegenseitiger visueller Anregungen berücksichtigen, aus denen Maler eigenständige Malweisen entwickelten und weiterhin entwickeln (vgl. Groseclose und Wierich).

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2. Die amerikanische Fotografie ASTRID BÖGER »To photograph is to confer importance.«

Susan Sontag

2.1 Einleitung Nur wenige technische Errungenschaften haben die Weise, wie wir die Welt wahrnehmen, so entscheidend geprägt wie die Fotografie. So erscheint bald jedes wichtige Ereignis, gleich ob persönlicher oder allgemein-historischer Art, erst dann ›wirklich‹, wenn man ein Bild von ihm gemacht hat, sei es, um das Geschehene festzuhalten, es anderen mitzuteilen oder für die Zukunft aufzubewahren. Diese bildschaffende Funktion der Fotografie zieht sich wie ein roter Faden durch die Entwicklung des Mediums von den Anfängen in den 1830er Jahren bis in die Gegenwart des frühen 21. Jahrhunderts, auch wenn sich seine jeweiligen technischen Bedingungen und Möglichkeiten mit der Zeit stark verändert haben. Gerade durch die massenhafte Verbreitung der digitalen Fotografie, die im Begriff ist, die analoge Fotografie vom Markt zu verdrängen, sodass einige Kritiker bereits verfrüht von ihrem Ende reden (vgl. Petry), ergeben sich entscheidende Veränderungen durch neue Formen der Bearbeitung, Präsentation und Archivierung von Bildern. Bei allen Innovationen ist jedoch der Hauptzweck der Fotografie über die Jahrzehnte stets gleich geblieben: das ›Festhalten‹ von bedeutsamen Augenblicken mit Hilfe einer technischen Apparatur. Obwohl die Fotografie ursprünglich von Europäern erfunden wurde,1 ist sie häufig als ›amerikanisches‹ Medium bezeichnet worden. So schreibt etwa der Historiker Sean Wilentz voller Enthusiasmus über die führende Rolle der USA in der Fotografiegeschichte: »It is arguable that America’s photography has been this country’s greatest single contribution to the visual arts. Photography is the jazz of the visual arts. In no other art form has American work loomed so large« (zitiert in Orvell, Photography 13). Dies erscheint zunächst als eine gewagte These. Spätestens mit Beginn des 21. Jahrhunderts ist die Fotografie ins Zentrum intellektueller und ästhetischer Diskurse über visuelle Kultur in Amerika und darüber hinaus gerückt und sollte daher am besten als ein globales Phänomen verstanden werden (vgl. Orvell, Photography 13). 1

Trotz unterschiedlicher Auffassungen über die exakte Erfindung der Fotografie gilt als Konsens, dass Henry Fox Talbot in England und Louis Jacques Mandé Daguerre in Frankreich in etwa zeitgleich 1839 ihre Entdeckung des Mediums der Öffentlichkeit vorstellten (vgl. Wells 50).

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Gleichzeitig ist die Geschichte des Mediums stark national geprägt. So konnte sich die amerikanische Fotografie bereits in ihren Anfängen im 19. Jahrhundert gegen die europäische Konkurrenz behaupten und schließlich durchsetzen, was sich gut anhand von Verzeichnissen der fotografischen Werke, die bei den Weltausstellungen zu sehen waren, nachvollziehen lässt sowie den Auszeichnungen, die bei den dortigen internationalen Wettbewerben um die besten Bilder vergeben wurden (vgl. hierzu Brown, Contesting, Making). Der enorme Erfolg der amerikanischen Fotografie und ihre massenhafte Verbreitung im Verlauf des 19. Jahrhunderts legen nahe, dass Amerikaner womöglich in der Tat offener waren für das neue Medium und seine Möglichkeiten bereitwilliger nutzten als andere. Orvell erklärt dies u. a. mit ihrer größeren Aufgeschlossenheit für technische Neuerungen wie die Eisenbahn und Elektrizität neben vielen anderen Innovationen des modernen Lebens (Photography 13). In diesem Zusammenhang ist interessant, dass die entscheidenden technischen Fortschritte in der Entwicklung der Fotografie tatsächlich in den USA stattgefunden haben. Darüber hinaus wurde die Fotografie in Amerika von Anfang an als ein ›demokratisches‹ Medium verstanden, was mit den relativ geringen Kosten in der Herstellung fotografischer Bilder und ihrer weiten Verbreitung zusammenhängt, aber auch damit, dass seit den 1870er Jahren immer mehr Amerikaner und Amerikanerinnen zu Amateurfotografen wurden und so ganz direkt zur rasanten Entwicklung des Mediums beitrugen. Die Geschichte der Fotografie ist, insgesamt betrachtet, eine Geschichte der Überwindung von technischen Hindernissen beim mechanischen Aufnehmen von Objekten und deren Darstellung auf einer lichtsensiblen Oberfläche (vgl. Orvell, Real Thing 78). Zugleich ist das Bemühen, dabei die jeweils bestmögliche Repräsentation von Wirklichkeit zu erzielen, eine Konstante in der Entwicklung und im Gebrauch des Mediums geblieben – bis hin zur heutigen Digitalfotografie, die keine speziellen technischen Kenntnisse mehr voraussetzt. Eine andere historische Einschätzung wird von Abigail Solomon-Godeau vertreten. Nach ihrer Auffassung ist die Entwicklung der Fotografie vor allem eine »history of photographic uses«; von entscheidender Bedeutung seien daher die unterschiedlichen fotografischen Praktiken (Solomon-Godeau xxiv). Diese Position ist seither von den Cultural Studies weiter entwickelt worden; einen wichtigen Beitrag stellt beispielsweise Marita Sturkens und Lisa Cartwrights Buch Practices of Looking. An Introduction to Visual Culture von 2001 dar. Letztlich verbindet jede Fotografie immer beide Aspekte: die technisch-mechanischen Voraussetzungen sowie das subjektive Element bedingt durch die individuelle fotografische Praxis. Susan Sontags Diktum, »to photograph is to confer importance« (Photography 28) bringt diese Verbindung von Mechanik mit Kreativität konzis auf den Punkt, denn jeder fotografische Akt beinhaltet nicht mehr, aber auch nicht weniger als das Richten der Kamera auf ein Motiv und dessen fotomechanische Reproduktion. Durch diese Aufmerksamkeit wird das Motiv als ›bedeutsam‹ aufgewertet bzw. überhaupt erst wahrgenommen (vgl. Orvell, Photography 14). Dieses Kapitel nähert sich seinem Gegenstand mit engem Bezug auf die chronologische Entwicklung des Mediums sowie auf seine unterschiedlichen fotografischen Praktiken. Im ersten Abschnitt geht es um die Anfänge der Fotografie in Amerika von den späten 1830er Jahren bis etwa 1860. In dieser frühen Phase stand vor allem die Porträtfotografie im Vordergrund als Aus100

Die amerikanische Fotografie

druck bürgerlicher Individualität sowie als Abbildung historisch wichtiger Persönlichkeiten. Seit etwa 1860 bis zum Ende des 19. Jahrhunderts entspann sich eine Debatte um den Status von Fotografie als Kunst oder als mechanische Reproduktion von Wirklichkeit – ein scheinbar unversöhnlicher Gegensatz, der erst von wichtigen Vertretern wie Alfred Stieglitz und Edward Steichen um die Jahrhundertwende zugunsten eines revidierten Kunstbegriffs, der eben auch die Fotografie einschloss, aufgelöst werden konnte. Seit ca. 1900 geriet die Fotografie immer stärker zum Instrument sozialer Reformbemühungen, wofür die Arbeiten von Jacob Riis und Lewis Hine stellvertretend stehen. Aber auch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts blieb die Fotografie zugleich Seismograf und Triebfeder für gesellschaftliche Selbstverständigungsprozesse, die insbesondere in Krisenzeiten wie etwa der Weltwirtschaftskrise, der Bürgerrechtsbewegung oder den beiden Weltkriegen an Sprengkraft zunahmen; so verwundert auch nicht, das diese Krisen zugleich Blütezeiten der Fotografie – genauer des Dokumentarismus und Fotojournalismus – waren. Spätestens mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs rückt eine weitere wichtige Aufgabe von Fotografie zunehmend in den Vordergrund, nämlich die Konstruktion eines kulturellen Gedächtnisses, das sich überwiegend aus einzelnen, mit Bedeutung aufgeladenen und immer wieder reproduzierten fotografischen Ikonen speist. Die Bedeutung solcher Fotoikonen für das kollektive Gedächtnis einer Gesellschaft kann dabei gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Daher ist es nur folgerichtig, dass ihnen seit kurzem auch vermehrt akademische Aufmerksamkeit entgegengebracht wird, zum Beispiel von Robert Hariman und John Louis Lucaites in ihrem Buch und begleitendem Internet-Blog mit dem Titel No Caption Needed: Iconic Photographs, Public Culture, and Liberal Democracy von 2007. Seit den 1960er Jahren wurde die Fotografie zudem immer stärker zu einem Medium subjektiven Ausdrucks, und zwar sowohl im privaten Gebrauch als auch in zahlreichen künstlerischen Arbeiten. Diesem Umstand soll in einem weiteren Abschnitt Rechung getragen werden. Schließlich rundet ein Ausblick auf die digitale Fotografie der Gegenwart, die von einigen Kritikern als postfotografische Ära bezeichnet wird, das Kapitel ab (vgl. Orvell, Photography 205-215). Eine spezielle Herausforderung beim Nachzeichnen der Fotografiegeschichte besteht darin, die vielfältigen Ausprägungen des Mediums zu unterscheiden und ihrer chronologischen Abfolge entsprechend in ihren jeweiligen kulturellen Kontext einzuordnen. Zahlreiche fotografische Praktiken wie die faktisch-dokumentarische Fotografie, die Landschaftsfotografie, das Familienporträt, die Kunstfotografie oder die erotische Fotografie entwickelten sich von Beginn an annähernd parallel zueinander und sind bis heute produktiv geblieben. Darum fällt es leicht, Roland Barthes zuzustimmen, der in Die helle Kammer anmerkt: »Man könnte meinen, die Photographie sei nicht klassifizierbar« (12). Dennoch versucht dieses Kapitel, die wichtigsten, sich dynamisch verändernden fotografischen Praktiken in ihren jeweiligen historischen und kulturellen Zusammenhängen zu begreifen. Es macht sich dabei die Einsicht von W.J.T. Mitchell zu eigen, dass Bilder immer »active players in the game of establishing and changing values« (Pictures 105) sind und niemals bloß statische Bedeutungsträger. Indem er den vielfältigen Bedeutungen von fotografischen Bildern nachspürt, ohne sie letztgültig festlegen zu

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wollen, versteht sich dieser Text demnach als eine Aufmunterung zum Mitspielen.

2.2 Die Anfänge der Fotografie in Amerika: 1839-1860 Seit der Spätrenaissance hat es Versuche gegeben, Bilder mit Hilfe optischer Instrumente wie der Camera Obscura aufzunehmen (Newhall 9), aber erst 1837 gelang es dem französischen Maler Louis Jacques Mandé Daguerre (1787-1851), mit einer Kamera Bilder auf einer spiegelnden und mit chemischen Zusätzen behandelten Metalloberfläche zu fixieren. Etwa zur gleichen Zeit entdeckte der englische Wissenschaftler Henry Fox Talbot (1800-1877) ein ähnliches Verfahren, das es ihm erlaubte, Bilder ebenfalls mit Hilfe einer Camera Obscura auf chemisch behandeltem Papier festzuhalten (Newhall 19). Zeitweilig entwickelten sich beide Verfahren parallel bzw. in Konkurrenz zueinander, und beide Männer werden bis heute als Erfinder der modernen Fotografie gehandelt. Allerdings setzte sich Daguerres Verfahren schnell durch, unter anderem dank gezielter Verbreitung einer kompakten Broschüre, in der Daguerre seine Neuerung einem internationalen Publikum bekannt machte und die in über 30 Ausgaben und Übersetzungen erschien (Newhall 23). Er fand bald Nachahmer in der ganzen Welt trotz einiger Nachteile gegenüber anderen Verfahren. So ist jede Daguerrotypie ein fragiles Unikat und kann weder retouchiert noch vervielfältigt werden. Außerdem gleicht ihre Oberfläche einem Spiegel und muss in einem bestimmten Winkel zum Licht gehalten werden, um darauf ein Bild erkennen zu können. Während die ersten Daguerrotypien überwiegend statische, architektonische Motive zeigten, was vor allem mit ihrer langen Belichtungszeit zusammenhing, wurde bald deutlich, dass das Publikum ganz überwiegend nach Porträts verlangte – deren erfolgreiche Herstellung Daguerre selbst jedoch nie gelang (Newhall 28). Erst nachdem wichtige technische Verbesserungen wie präzisere und lichtstärkere Objektive auf den Markt kamen und zeitgleich an verschiedenen Orten in Europa und Nordamerika gebräuchlich wurden, bekam die Daguerrotypie – und mit ihr die Fotografie insgesamt – den Stellenwert, der ihr seither zugeschrieben wird. Insbesondere verhalf ihr der massenhaft anwachsende Markt für Porträtfotografie, der sich an der rasanten Verbreitung von Porträtstudios nach 1839 ablesen lässt, zum endgültigen Durchbruch. In Amerika wurde die Daguerrotypie-Fotografie zunächst durch den Maler und Erfinder Samuel Morse (1791-1872) bekannt gemacht, doch auch Robert Cornelius (1809-1893) aus Philadelphia gilt hier als einer der frühesten Vertreter der Daguerrotypie-Fotografie (Newhall 29); bereits 1840 eröffnete der gelernte Metallarbeiter sein eigenes Porträtstudio in Philadelphia. In einem 1893 gegebenen Interview erwähnte Cornelius, dass sein erstes Bild ein Selbstporträt war und erklärte das leicht ›verrutschte‹ Ergebnis damit, dass er es ohne die Hilfe eines anderen aufgenommen hatte: »You will notice the figure is not in the centre of the plate. The reason for it is, I was alone, and ran in front of the camera […] and could not know until the picture was taken that I was not in the centre« (zitiert in Newhall 29).

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Die amerikanische Fotografie

Abb. 1: Robert Cornelius, Selbstporträt, Daguerrotypie, 1839. Library of Congress, Prints & Photographs Division. Die frühesten Porträt-Daguerrotypien zeigen überwiegend Personen mit ernstem Gesichtsausdruck, was unter anderem mit der langen Belichtungszeit von häufig über zehn Minuten und einer gewissen damit einher gehenden Anspannung zusammenhing. Zudem übernahm man häufig Stilelemente gemalter Porträts aus der Zeit wie Pose und Dekor. Allerdings fällt an Cornelius’ Selbstporträt auf, dass es ohne jeden dekorativen Hintergrund und ohne Staffage auskommt und insgesamt – wohl auch aufgrund der Art und Weise, wie es entstanden ist – recht spontan und ungestellt wirkt. Erst in den darauf folgenden Jahren bildeten sich bestimmte stilprägende Konventionen in der Porträtfotografie heraus, die man gut in der zwischen 1840 und 1860 entstandenen Aufnahme eines unbekannten amerikanischen Fotografen erkennen kann (vgl. Abb. 2). Zu sehen ist eine relativ junge Frau in formeller schwarzer Bekleidung mit Diadem und einigen weiteren, dezenten Schmuckgegenständen. Sie posiert in einem Studio vor einer gemalten Landschaft einschließlich zeittypischer Attribute bürgerlichen Geschmacks wie etwa dem Imitat einer antiken Säule, das am rechten Bildrand zu erkennen ist. Die perfekte Ausführung des Bildes, insbesondere, was seine Ausleuchtung betrifft, aber auch Dekor und Pose sind bezeichnend für die kommerzielle Porträtfotografie um die Mitte des 19. Jahrhunderts. Wie von Sontag und anderen Kritikern angemerkt, suggeriert eine Aufnahme wie diese, in der die Porträtierte in frontaler Pose in oder neben die Kamera blickt, die gefasste Individualität oder auch das unverwechselbare ›Wesen‹ der dargestellten Person (Sontag, Photography 3738; vgl. auch Orvell, Real Thing 89), deren würdevoller Charakter durch quasi herrschaftliche Beigaben wie ein Diadem noch unterstrichen werden soll. Zwar erscheint aus heutiger Sicht die geradezu formelhaft anmutende Gestal103

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tung solcher Studio-Porträtaufnahmen bei gleichzeitigem Streben nach individuellem Ausdruck paradox, aber man muss diesen Widerspruch wohl mit der rasanten und massenhaften Verbreitung der kommerziellen Porträtfotografie im 19. Jahrhundert erklären, die eine gewisse Standardisierung des Geschmacks wie auch der konkreten Darstellungsmöglichkeiten mit sich brachte.

Abb. 2: Unbekannter Fotograf, Porträt einer Unbekannten, Daguerrotypie, ca. 1840-1860. Library of Congress, Prints & Photographs Division. Über die bloße Konvention hinaus ist aber augenfällig, dass in der kommerziellen Porträtfotografie des 19. Jahrhunderts das für das US-amerikanische Selbstverständnis seit jeher grundlegende Ideal der klassenlosen Gesellschaft weitgehend umgesetzt werden konnte. So wurde es um die Mitte des 19. Jahrhunderts für viele möglich, ein Foto-Porträt von sich selbst und nahestehenden Menschen anfertigen zu lassen, während ein gemaltes Porträt für die meisten Amerikaner unerschwinglich blieb. 2 Orvell bringt den kulturellen Wert der Porträt-Fotografie gerade für die amerikanische Arbeiterschicht wie folgt auf den Punkt: »For a nation premised upon a belief in the value – and rights – of the individual, the photographic portrait was, by its very nature and affordability, the emblem of a democracy« (Photography 21). Auch wenn die Fotografie als ein demokratisches Medium verstanden wurde (und wird), bedeutet diese Tatsache jedoch nicht, dass dies im 19. Jahrhundert, in dem sozialer Auf- oder Abstieg ein zentrales Narrativ in der amerikanischen Kultur darstellte, auf einhellige Zustimmung stieß. So schlug 2

Eine Porträt-Daguerrotypie kostete seinerzeit in etwa 50 cent oder einen halben Tageslohn (vgl. Orvell, Photography 21).

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etwa ein Kritiker 1871 in der viel beachteten Fachzeitschrift Philadelphia Photographer vor, man solle am besten einen neutralen Bildhintergrund für alle Aufnahmen verwenden, um zu vermeiden, dass sich Angehörige der unteren Schichten auf eine Art ablichten ließen, die etwa durch das vornehme Interieur eines Fotostudios oder spezielle dekorative Elemente, wie sie z. B. in Abb. 2 zu sehen sind, eine Zugehörigkeit zu den gehobenen Schichten nahelegen würde (vgl. Orvell, Real Thing 91). Solche Vorschläge konnten sich offensichtlich nicht durchsetzen und zeigen vor allem, dass manche Amerikaner angesichts des egalitären Charakters der Fotografie besonders in den Anfängen ihrer massenhaften Verbreitung Bedenken hatten, dass sie gewisse soziale Unterschiede zum Verschwinden bringen könnte. In zahlreichen Fällen wurde wiederum bewusst auf die Konventionen bürgerlicher Selbstpräsentation zurückgegriffen, um sich der gesellschaftlichen Norm gezielt anzunähern bzw. um die Zugehörigkeit zur bürgerlichen Gesellschaft für die eigene Person zu reklamieren. Dies ist besonders eindrucksvoll am Beispiel afroamerikanischer Bürger nachvollziehbar, die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts Porträts von sich anfertigen ließen, welche den selben ästhetischen Prinzipien folgten wie die von Bürgern weißer Hautfarbe und so im Bereich der visuellen Kultur die Emanzipationsbewegungen des 20. Jahrhunderts vorwegnehmen. Wie Shawn Michelle Smith in ihrer wegweisenden Studie Photography on the Color Line (2004) darlegt, wurde etwa von W.E.B. Du Bois (1868-1963) die Porträtfotografie gezielt genutzt, um bei der Pariser Weltausstellung von 1900 mit einer Serie von 363 Aufnahmen von Afroamerikanern, die überwiegend der Mittelschicht angehörten, ein starkes visuelles Argument für die Emanzipation schwarzer Amerikaner bzw. gegen ihre Diskriminierung durch einseitig-rassistische Repräsentationen bei früheren Weltausstellungen zu publizieren. Die Sammlung ist somit ein gutes Beispiel für die Nutzung der Fotografie als politisches Instrument, in diesem Fall zur Aufklärung der westlichen Gesellschaften über die Situation einer aufstrebenden ethnischen Minderheit jenseits der weißen Norm, die hier nach Smith als color line in Erscheinung tritt und auf subtile Weise hinterfragt wird. Auch wenn die von Du Bois unter der Gruppenbezeichnung ›Types of American Negroes‹ versammelten Fotografien vergleichbaren Studioporträts von Weißen durchaus ähneln, arbeitet Smith etwa am Beispiel des Porträts einer jungen schwarzen Amerikanerin aus den Südstaaten, das von dem afroamerikanischen Fotografen Thomas Askew (1850?-1914) stammt (vgl. Abb. 3), einige bemerkenswerte Besonderheiten heraus. Der Fotograf richtet sein wohlwollendes Augenmerk bzw. seine Kamera auf eine hellhäutige Afroamerikanerin, die das universelle Ideal bürgerlicher Weiblichkeit at home perfekt zu verkörpern scheint: »In some of Askew’s […] portraits of women, the setting resembles more that of a parlor or a sitting room than of a studio. […] the women are associated more directly with the comforts of home, their identities rooted in an interior, domestic space. Askew’s portrait of a young woman in a marvellous hat proves exemplary in this regard. In this portrait, the sitter is posed a bit off to the center of the photographic frame; she faces the camera with a slight turn, her eyes focused just to the left and above the camera. Strong side lighting illuminates three-quarters of her rounded face and smooth hands, also throwing her elegant dress into sharp detail« (Smith 70).

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Abb. 3: Thomas E. Askew, Junge Afroamerikanerin. Aus der Serie African Americans in Georgia, die von Du Bois zusammengestellt und bei der Pariser Weltausstellung von 1900 gezeigt wurde. Silbergelatineabzug, 1899 oder 1900. Library of Congress, Prints & Photographs Division (Daniel Murray Collection). Aufnahmen wie diese – zumal wenn sie eine so große Öffentlichkeit erreichen konnten wie bei einer Weltausstellung – trugen maßgeblich dazu bei, dass ein artifizielles und aus heutiger Sicht unhaltbares Konstrukt wie das von unterschiedlichen biologischen Rassen, die durch eine color line getrennt wären, spätestens seit der Jahrhundertwende immer fragwürdiger erschien. Neben der privaten und der im weitesten Sinn wissenschaftlichen Porträtfotografie gab es einzelne Fotografen, die von Anfang an ihre Arbeit als einen Beitrag zum nationalen Bildervorrat und damit zum kulturellen Gedächtnis ansahen. Ihr wichtigster Vertreter war Mathew Brady (1822-1896), der von Orvell als »a new kind of historian«, aber gleichzeitig auch als »a new kind of businessman« bezeichnet wird (Photography 20). Brady betrieb mehrere gut gehende Porträtstudios in New York und Washington, D.C., aber seine Spezialität waren Aufnahmen von prominenten Amerikanern wie Politikern, Militärs, aber auch bekannten Autoren wie beispielsweise Walt Whitman, denen er und seine Mitarbeiter – im Wortsinn – zu nationalem Ansehen verhalfen. Whitman sagte später, dass er selbst Brady die Idee zu einer fotografischen Sammlung wichtiger Persönlichkeiten gegeben habe, denn »rather than having a lot of contradictory records by witnesses or historians – say of Cesar, Socrates, Epictetus, others – if we could have three or four or half a dozen portraits – very accurate – of the men: that would be history – the best history – a history from which there would be no appeal« (zitiert in Orvell, Real Thing 8).

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Brady und seine Konkurrenten ließen sich nicht lange bitten und legten umfangreiche Bilderarchive an, die sie teilweise in Form von Lithografiesammlungen veröffentlichten, mit Bradys Gallery of Illustrious Americans von 1850 als dem vielleicht bekanntesten Beispiel. Darüber hinaus entstand ein profitabler Markt für Fotoillustrationen, die in gravierter Form vermehrt in Zeitungen, Zeitschriften und Buchveröffentlichungen aufgenommen wurden (vgl. Orvell, Photography 20). Auch wenn Brady die systematische Ablichtung von representative men als moralische Vorbilder für die Allgemeinheit betrieb, stellt sein umfangreiches Werk aus heutiger Sicht zugleich einen entscheidenden Beitrag zum kulturellen Gedächtnis des 19. Jahrhunderts dar. Dies wird besonders deutlich im Fall seiner Bilder von (zukünftigen) amerikanischen Präsidenten, die von einer ehrfurchtsvollen Aura umgeben zu sein scheinen. Ein klassisches Beispiel hierfür stellt Bradys Porträt von Abraham Lincoln während seiner Kandidatur für die Präsidentschaft dar:

Abb. 4: Mathew Brady, Abraham Lincoln, Kandidat für die USPräsidentschaft, vor seiner Cooper Union-Ansprache in New York, 27. Feb. 1860. Silbergelatineabzug unbekannten Datums. Library of Congress, Prints & Photographs Division. Das Bild wurde aufgenommen, kurz bevor Lincoln seine berühmte Cooper Union-Ansprache am 27. Februar 1860 in New York hielt, in der er rhetorisch brillant vor Tausenden seine Überzeugung darlegte, der Kongress müsse die Ausbreitung der Sklaverei – und damit die endgültige Spaltung der Nation – um jeden Preis verhindern. Lincoln erscheint in dem extrem nüchtern gehaltenen Bild ohne jede Staffage oder schmückenden Hintergrund äußerlich eher unattraktiv, dafür aber hoch konzentriert und voller Entschlossenheit, sein hehres Ziel selbst gegen erhebliche Widerstände zu verteidigen. 107

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Angesichts der starken Wirkung dieses Bildes ist es nicht verwunderlich, dass Bradys Porträts vom zukünftigen Präsidenten bis in die heutige Zeit als bevorzugte Vorlagen für sein veröffentlichtes image dienen; sie waren von Anfang an als Bildzeugnisse entscheidender historischer Augenblicke angelegt.

2.3 Fotografie als Kunst oder Technik: 1860-1900 Ob die Fotografie ein wissenschaftliches Instrument zum Erfassen der Wirklichkeit oder vielmehr Kunst sei, entwickelte sich kurz nach ihrer Einführung zu einer Streitfrage, auf die je nach Kontext und persönlicher Einstellung ganz unterschiedliche Antworten gegeben wurden. Auch heutzutage bleibt diese Frage offen, denn noch immer wird Fotografie für beides, künstlerischen Ausdruck und möglichst objektive Repräsentation von Realität, eingesetzt. Auf jeden Fall kann man aber festhalten, dass die Fotografie und die bereits früher etablierten Künste – und hier allen voran die Malerei – von Anfang an in Konkurrenz zueinander gestanden haben um die angemessenere und damit bessere Form der zweidimensionalen Wirklichkeitsdarstellung. Besonders als die Fotografie noch neu war, wurde sie von der interessierten Öffentlichkeit enthusiastisch angenommen. So lobte etwa Oliver Wendell Holmes (1809-1894), für den als Schriftsteller und Mediziner beide Aspekte der Fotografie wichtig waren, in seinem 1859 veröffentlichten Artikel »The Stereoscope and the Stereograph« ausdrücklich die größere Genauigkeit der Fotografie gegenüber einem gemalten Bild: »The very things which an artist would leave out, or render imperfectly, the photograph takes infinite care with, and so makes its illusions perfect. What is the picture of a drum without the marks on its head where the beating of the sticks has darkened the parchment?« (Orvell, Photography 19).

Andere Kritiker gingen noch weiter als Holmes in ihrer Parteinahme für die Fotografie. Bereits 1839 – wohl im Überschwang über die bis zu diesem Zeitpunkt ungeahnten Möglichkeiten des soeben eingeführten Mediums – rief etwa Paul Delacroche (1797-1856) gleich das Ende der Malerei aus mit dem Satz, der in der Folge zum geflügelten Wort wurde: »From today, painting is dead!« (Danziger o.S). Das vermeintliche Ende der Malerei erschien vielen umso näher, je lauter die Stimmen um 1860 wurden, die nach einer künstlerisch anspruchsvolleren Fotografie verlangten (vgl. Newhall 73), welche die Malerei endgültig überflüssig machen würde. Am Ende kam alles anders: Weder hat die Fotografie die Malerei abgelöst noch umgekehrt; vielmehr haben sich beide Medien stark beeinflusst und dabei gegenseitig befruchtet. James Danziger zeichnet in seiner Einleitung zu dem großen Überblickswerk American Photographs 1900/2000 noch einmal die wechselvolle Position der Fotografie innerhalb der Künste nach und kommt dann zu dem folgenden, allerdings nur bedingt versöhnlichen Ausblick: »As photography has dominated the two-dimensional landscape of the larger art world, so has the art world influenced photography. At the end of the twentieth cen-

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Die amerikanische Fotografie tury it is not too far-fetched to project that the art world’s appropriation of photography will once again marginalize the classic tradition of photography« (Danziger o.S.).

Auf die Rolle der Fotografie und deren mögliche Vereinnahmung durch den Kunstbetrieb wird es im abschließenden Kapitel über die digitale Fotografie der Gegenwart noch einmal gehen.3 An dieser Stelle kann man bereits festhalten, dass durch die Einführung der Fotografie und im Zug ihrer massenhaften Verbreitung bis ca. 1860 andere Darstellungsformen wie die Malerei entscheidende Impulse zur Weiterentwicklung erhielten – wie unter anderem verwirklicht im Impressionismus, Expressionismus und in der abstrakten Malerei. Aber auch der Blick auf die Fotografie selbst hat sich im Verlauf der Jahrzehnte stark verändert. Während sie in der Zeit nach ihrer Einführung vor allem als mechanisches Instrument zur präzisen Wirklichkeitserfassung galt, entwickelte sich seit etwa 1850 ein künstlerisches Interesse an fotografischen Bildern, das weit über die bloße Abbildungsfunktion hinausging. Aber erst nach ausgiebigen Debatten und anfangs auch nur zögerlich wurde das neue Medium als eine Kunstform akzeptiert (vgl. Wells 13). Hier waren wiederum die Weltausstellungen ein wichtiger Motor; so wurden zum Beispiel bei der Philadelphia Centennial Exposition von 1876 zum ersten Mal ein eigener Pavillon für Fotografie eingerichtet und Preise für die besten Werke ausgelobt. Nicht zufällig haben die USA seit dieser Zeit die Führungsrolle bei der Fortentwicklung und weltweiten Vermarktung der Fotografie übernommen.4 Für den endgültigen Siegeszug der Fotografie waren jedoch noch einige technische Verbesserungen notwendig (vgl. Newhall 73). So konnte zunächst in den 1850er Jahren der ursprünglich vom Engländer Fox Talbot eingeführte Kollodiumprozess, der das Fotografieren mit einer Nassplatte aus Glas vorsah, weiter entwickelt werden, bis er im Verlauf der 1870er Jahre durch das trockene Gelatineverfahren abgelöst wurde, das eine deutliche Vereinfachung mit sich brachte und überdies mit der Einführung des Zelluloid-Films zusammenfiel, der die Glasplatte allmählich verdrängte. All diese Weiterentwicklungen reduzierten schrittweise das Maß an Expertenwissen und technischer Ausrüstung, die zum Fotografieren notwendig waren. In der Folge wurden zahlreiche fotografische Gesellschaften vor allem in Europa gegründet, in denen Amateure zusammenkamen und sich über ihre Arbeit austauschten. Insbesondere von diesen Foto-Amateuren gingen entscheidende Impulse bei der künstlerischen Entwicklung des Mediums aus (vgl. Newhall 73-83), allerdings befanden sie sich damit laut John Szarkowski recht häufig im Konflikt mit professionellen Fotografen, die vor allem kommerzielle Interessen verfolgten (Szarkowski 79). Zu den kommerziell erfolgreichsten – aber künstlerisch wenig anspruchsvollen – neuen Formaten der 1850er und 60er Jahre zählten Stereografie und carte de visite. Bei der Stereografie werden zwei Bilder mit unterschiedlichen Objektiven im Abstand von einigen Zentimetern aufgenommen, auf eine Glasplatte bzw. einen Papierkarton gedruckt und mit Hilfe eines sogenannten Stereoskops vor die Augen gehalten, 3 4

Vgl. auch Roland Barthes: »Die Photographie wurde und wird immer noch vom Gespenst der Malerei heimgesucht« (Kammer 40). Bereits bei der ersten Weltausstellung im Londoner Kristallpalast von 1851 hatten amerikanische Daguerrotypisten zahlreiche Preise für ihre Arbeiten erhalten; seither galten die USA als eine der führenden Nationen auf dem Gebiet (vgl. Newhall 73).

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wobei sich beide Bilder zu einem zusammenfügen, was beim Betrachten den Eindruck von Raumtiefe und Dreidimensionalität erzeugt (vgl. Krauss, Optical 133-134). Diese special effects-Fotografie blieb Jahrzehnte lang höchst populär – Szarkowski spricht von Millionen Bildern allein in Amerika –, gilt aber heute unter Fotohistorikern eher als ein Irrweg in der Entwicklung des Mediums, irgendwo angesiedelt zwischen Bild und Skulptur oder, wie Szarkowski schön formuliert, »an idea without a body« (82; Abb. 7 unten zeigt eine Stereografie von Timothy O’Sullivan aus dem amerikanischen Bürgerkrieg). Bei der carte de visite handelt es sich sozusagen um den gegenteiligen Fall, nämlich recht einfache (und einfach gemachte) Bilder von individuellen Körpern ohne nennenswerten ästhetischen Anspruch oder eine Idee dahinter, die über die zeitgemäße Darstellung einer Person zum Anzeigen ihrer Identität hinausgehen würde, darin durchaus mit der heute gebräuchlichen bildlosen Visitenkarte vergleichbar (vgl. Szarkowski 83). Diese Neuerung wurde möglich durch die Einführung der Papierfotografie und löste die ungleich teurere Daguerrotypie ab, mit der sie offensichtliche Ähnlichkeit hat. Zunächst ein vor allem für private Zwecke genutztes Format, entwickelten sich die kleinformatigen Bilder bald auch zu beliebten Sammlerstücken, etwa von berühmten Autoren, Kriegshelden und Aristokraten, die gemäß dem vorherrschenden Publikumsgeschmack in möglichst vorteilhafter Pose abgelichtet wurden. Mathew Bradys und Alexander Gardners (1821-1882) Porträts von Walt Whitman (1819-1892) von 1862 und 1864 sind gute Beispiele für diese neue Form der kommerziellen Fotografie:

Abb. 5 und 6: Alexander Gardner, Dreiviertelporträt von Walt Whitman, 1864 (links). Mathew Brady, Halbporträt von Walt Whitman, 1862 (rechts). Albuminabzüge. Library of Congress, Prints & Photographs Division.

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Neben gewissen Unterschieden in der Darstellung fällt beim Vergleich der beiden Bilder auf, dass Bradys carte von 1862 allein den Namen des Fotografen und einen Verweis auf sein New Yorker Hauptgeschäft nennt – ein deutlicher Hinweis darauf, dass jede carte de visite zugleich auch Visitenkarte des Fotografen war. Im Gegensatz dazu verfügt Gardners Version über ein Autograf Whitmans und rückt somit die ›Autorität‹ des berühmten Dichters in den Vordergrund bzw. legt nahe, dass Whitman die Vervielfältigung seines Konterfeis selbst autorisiert hatte. Nebeneinander betrachtet werden so zwei ganz unterschiedliche Funktionen der carte de visite im 19. Jahrhundert deutlich: Einerseits war sie Identitätsausweis der dargestellten Person (berühmt wie hier oder auch nicht); andererseits war sie auch massenproduziertes Sammlerobjekt, das in erster Linie Kaufinteressen wecken sollte. K RIEGSBILDER In Amerika gab es insgesamt deutlich weniger Konflikte zwischen kunstinteressierten Amateuren und professionell orientierten Fotografen, da die Fotografie hier zunächst in erster Linie als eine Wissenschaft oder Technik angesehen wurde, die jedem auf seine Weise zu praktizieren frei stand. Allerdings blieb hier anders als in Europa die Daguerrotypie in den ersten zwanzig Jahren unangefochten vorherrschend, was den Kreis der Fotografen mit entsprechender Expertise und Ausstattung einschränkte. Überdies bildete sich aufgrund der besonderen technischen Eigenschaften dieses Verfahrens der Anspruch an Bilder heraus, sie sollten »sharp and plain and all fact« sein, wie es John Szarkowski pointiert formuliert hat (109). Dieser ästhetische Anspruch an Fotografie als exaktes Abbildungsinstrument hatte auch noch Bestand, nachdem die Daguerrotypie allmählich durch neuere Verfahren vom Markt verdrängt wurde. Als dann der Bürgerkrieg 1861 ausbrach, waren präzise Bilder gefragter denn je – zumal dieser Krieg der erste Konflikt seiner Art überhaupt war, der fotografisch festgehalten werden konnte –, und die aufgeregten Erwartungen der fotografischen Zunft waren extrem hoch, wie aus einem begeisterten Aufruf im American Journal of Photography hervorgeht: »A battle scene is a fine subject for an artist, – painter, historian or photographer, […]. We hope to see a photograph of the next battle. [… ] There will be little danger in the active duties for the photographer must be beyond the smell of gunpowder or his chemicals will not work« (Newhall 88).

Wie sich bald herausstellte, lag der Autor richtig mit seiner Vermutung, dass der Bürgerkrieg ein dankbares Sujet für Fotografen war. Andererseits war er allzu optimistisch, was die konkreten Gefahren für Frontfotografen anging. Tatsächlich entkamen Brady und seine Mitarbeiter, die jede Phase des Kriegs dokumentierten, mehrfach nur knapp dem Tod (vgl. Newhall 89). Dies lag unter anderem an den Unmengen an Ausrüstung, die für die Nassplattentechnik nötig waren. Brady war nach eigenen Angaben mit zwei Wagen voller Kameras, Ausrüstung und Chemikalien unterwegs (vgl. Trachtenberg, Reading 72). Da es in den 1860er Jahren noch nicht möglich war, bewegte Objekte aufzunehmen, zeigen die Fotografien vor allem Landschaften und statische Szenen, häufig mit gefallenen Soldaten. Diese waren, wie man heute weiß, in 111

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vielen Fällen kunstvoll arrangiert worden, um bestimmte visuelle Effekte zu erzielen – kein Wunder, dass die Bilder in der Presse häufig mit gemalten Kriegsszenen verglichen wurden (Trachtenberg, Reading 73). So entstand ein Bild des Kriegs, der zwar grausam, aber in gewisser Weise auch ästhetisch ansprechend war. Ein gutes Beispiel für die ästhetisierende Sicht des Kriegs stellt Timothy O’Sullivans (1840-1882) Stereografie eines gefallenen Soldaten in Gettysburg von 1863 dar:

Abb. 7: Timothy O’Sullivan, Leichnam eines gefallenen Scharfschützen der Konföderierten, Gettysburg, Pennsylvania, Juli 1863. Stereografie (Kollodium auf Glas). Library of Congress, Prints & Photographs Division. Der Leichnam in O’Sullivans unaufdringlichem Arrangement eines grausamen Kriegs ist nur auf den zweiten Blick zu erkennen, da er auf geradezu harmonische Weise in die Umgebung ›eingebettet‹ erscheint. Bis auf Leiche und Gewehr fehlt jeder Hinweis auf die zurückliegende Schlacht, sodass die sterblichen Überreste nebst Waffe als Verweise genügen müssen. Bei genauerem Betrachten fällt die beinahe schon abstrakt anmutende Komposition ins Auge: Soldat, Gewehr und Schutzwall – der offensichtlich seine Funktion verfehlt hat – bilden eine senkrechte Achse, die das Bild mittig durchzieht und beidseitig von geschwungenen Hügeln umrahmt wird. Auf eindrucksvolle Weise bezeugt dieses Bild das Bestreben, ein ›ansehnliches‹ Bild des Kriegs zu komponieren, was durch die Stereografie-Technik und deren Intensivierung der visuellen Wirkung (d. h. bei Ansicht mit einem Stereoskop) noch zusätzlich unterstrichen wurde. Die wohl berühmteste Fotografie des amerikanischen Bürgerkriegs, O’Sullivans Incidents of the War. A Harvest of Death (vgl. Abb. 8), zeigt eine mindestens ebenso starke Tendenz zur Ästhetisierung. So wirken die zahlreichen toten Soldaten – das Bild wurde ebenfalls nach der besonders verlustreichen Schlacht von Gettysburg aufgenommen – nahezu perfekt über das Bild verteilt, und die wenigen überlebenden Figuren sind so am Horizont positioniert, dass sie dem ratlos über das Bild wandernden Blick einen tröstenden Fluchtpunkt bieten inmitten einer Szenerie von Tod und Verwüstung. Auch wenn die Bilder des amerikanischen Bürgerkriegs in vielen Fällen manipuliert wurden, heißt das nicht, dass sie ihre Wirkung verfehlt hätten – im Gegenteil. Man könnte vielmehr sagen, dass gerade ihr ›kunstvolles‹ Arrangement ihre Effektivität als visuelle Zeugnisse eines vernichtenden Kriegs ausmacht. Im Sinne von Roland Barthes’ Konzept des »Punctums« (Kammer 112

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36) haben Fotografien wie diese das Potential, die Betrachter zu (be)rühren und aus ihrer Alltagswelt zu reißen. Alan Trachtenberg teilt diese Auffassung und schreibt mit Blick auf die Originalabzüge einzelner Kriegsfotografien von Sullivan, Brady & Co.: »The photograph takes us back to the original moment when light fell upon these surfaces, these bodies and guns and fields; we all but feel the same rays of light in our own eyes – an experience lost through the halftone screens of reproduced images. We see the war not as heroic action in a grand style but as rotting corpses, shattered trees and rocks, weary soldiers in mud-covered uniforms or lying wounded in field hospitals – as boredom and pain« (Trachtenberg, Reading 74).

Abb. 8: Timothy O’Sullivan, Incidents of the War. A Harvest of Death, Gettysburg, July 1863. Library of Congress, Prints & Photographs Division. So vernichtend der Krieg war, bedeutete er dennoch – wie von vielen vorausgesagt – einen weiteren Schub für die Verbreitung der Fotografie in Amerika. Und wiederum waren es technische Neuerungen, die diese Entwicklung begünstigten, allen voran das in der Mitte der 1870er Jahre eingeführte trockene Gelatineverfahren, das über entscheidende Vorteile gegenüber der nassen Kollodiumfotografie verfügte. So war es nicht mehr notwendig, Chemikalien und eine Dunkelkammer mitzuführen, da die trockenen Platten nicht sofort entwickelt werden mussten. Auch war das Gelatineverfahren ungleich schneller, daher wurde es möglich, mehrere Aufnahmen in kürzeren Abständen zu machen. Der berühmteste Fall, in dem sich ein Fotograf diese entscheidende Neuerung zunutze machte, waren Eadweard Muybridges (1830-1904) Studien von Menschen und Tieren in Bewegung, die er 1873 als Auftragsarbeit begann, um zu klären, ob ein galoppierendes Pferd je alle Hufe gleichzeitig vom Boden abhebt oder nicht. Jahre später und nach erfolgreichem Einsatz einer komplizierten Apparatur bestehend aus über einem Dutzend Kameras, 113

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die kurz hintereinander Bilder eines Rennpferdes in Aktion anfertigten, konnte das Ergebnis schließlich verkündet werden und überraschte alle: Zwar waren viele (zu Recht) überzeugt gewesen, dass ein Pferd in der Tat an einem bestimmten Punkt in der Luft ›schwebt‹, aber man war davon ausgegangen, dass die Beine dabei ausgestreckt wären, wie es in der Malerei bis dahin überwiegend dargestellt worden war – ein eindrucksvolles Beispiel für den wissenschaftlichen Nutzen von Fotografie, die mit diesem Experiment offenlegen konnte, was dem menschlichen Auge zu erfassen unmöglich ist.

Abb. 9: Eadweard Muybridge, Animal locomotion, 16 Bilder eines galoppierenden Rennpferds, ca. 1887. Fotogravur. Library of Congress, Prints & Photographs Division. Muybridges Bewegungsstudien gaben der Fotografie gleich in mehrfacher Hinsicht wichtige Impulse. So inspirierten sie etwa den Maler Thomas Eakins (1844-1916) zu fotografischen Vorstudien zu seinen realistischen, gemalten Bildern, bevor er ab ca. 1880 fotografische Akte als eigene Kunstform weiter entwickelte (vgl. Kapitel 1.5). Nicht zuletzt können Muybridges fotografische Experimente auch als eine Vorstufe zum Film, der etwa eine Dekade später von Thomas Edison eingeführt wurde, angesehen werden. Denn wenn man die Einzelbilder in schneller Abfolge betrachtet – was Muybridge selbst mit der Entwicklung einer Apparatur, die er Zoopraxiskopie nannte,5 möglich machte –, ergibt sich eine flüssige Bewegung ähnlich wie bei Filmbildern. Film arbeitete lediglich mit mehreren Bildern pro Sekunde und damals in der Regel mit einer einzigen Kameraposition statt einer Vielzahl wie bei Muybridges Experimenten. Im selben Jahr, als Muybridge die ersten Ergebnisse seiner Bewegungsstudien vorstellte, begann George Eastman (1854-1932) als Amateurfotograf zu arbeiten. Doch dessen immens wichtiger Beitrag zur Entwicklung der Fotografie in Amerika geht nicht so sehr auf die konkreten Bilder zurück, die er machte. Vielmehr spezialisierte sich Eastman auf die gezielte Vermarktung der Fotografie als ein Hobby für jedermann – und jede Frau: So war eine 5

Die Zoopraxiskopie wurde wiederum bei den Weltausstellungen im großen Stil eingeführt und popularisiert. Bei der Chicagoer Weltausstellungen von 1893 gab es sogar einen eigenen Pavillon dafür, der sich regen Besucherandrangs erfreute.

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Kampagne für die besonders einfach zu handhabende »Brownie-Kamera« von 1900 speziell auf weibliche Kunden fokussiert, die sich mit dem damals allgegenwärtigen »Kodak Girl« identifizieren sollten. Eine Voraussetzung für die ›Fotografie für die Massen‹ war die Entwicklung von kleineren, tragbaren und billigeren Kameras in den 1880er Jahren, die Eastman seit 1888 serienmäßig mit einem Film bestückte, der über einhundert Aufnahmen verfügte. War der Film voll, wurde er an die Firma in Rochester geschickt, die nach einiger Zeit die fertig entwickelten und abgezogenen Bilder sowie eine neue Kamera zurücksandte. Eastman prägte für den umfassenden Service seines Hauses den eingängigen Slogan: »You press the button, we do the rest« (vgl. Szarkowski 143-144). Aufgrund des günstigen Zusammenfalls von technischen Errungenschaften und einer cleveren Vermarktungsstrategie wurde die Fotografie in den darauf folgenden Jahren zu einem veritablen Massenvergnügen, und seit etwa 1900 konnten es sich die meisten amerikanischen Familien leisten, eine gewisse Anzahl von Bildern von sich und ihrer Umgebung oder, sofern sie zum privilegierten Teil der Bevölkerung gehörten, ihren Reisezielen anzufertigen. Die Entwicklung der Fotografie zum populären Zeitvertreib ohne nennenswerten Anspruch rief diejenigen Amateure auf den Plan, die sich seit langem für den ernsthaften und künstlerischen Einsatz des Mediums eingesetzt hatten. Insbesondere die Einführung der tragbaren Kameras war ihnen ein Dorn im Auge, oder vielleicht fühlten sie sich auch schlicht bedroht, wie Szarkowski vermutet (151). Alfred Stieglitz (1864-1946) war einer dieser besorgten Kritiker, der durch seine vielfältigen Bemühungen entscheidend zur Aufwertung der Fotografie beitrug, indem er von 1890 bis in die 1930er Jahre als Fotograf, Galerist, Herausgeber und Mäzen die amerikanische Fotografie, die er unbedingt als Kunst verstanden wissen wollte, gezielt förderte. Am sichtbarsten wurde dies Bemühen in Gestalt der von Stieglitz 1903 gegründeten und bis 1917 herausgegebenen Zeitschrift Camera Work, die zu einem beeindruckenden Beleg für den Kunstanspruch der Fotografie wurde. Hier und in der ebenfalls von Stieglitz geleiteten New Yorker Galerie »291« stellten nahezu alle namhaften Fotografinnen und Fotografen der Zeit ihre Arbeiten einem interessierten Publikum vor. Vielleicht aufgrund seiner Ausnahmestellung wird Stieglitz heutzutage häufig als Gründer des Piktorialismus angesehen, einer Bewegung des ausgehenden 19. Jahrhunderts, die sich ganz auf den Kunstcharakter der Fotografie konzentrierte und vorzugsweise fotografische Versionen von Genrebildern, wie sie aus der Malerei bekannt waren, anfertigte. Allerdings handelte es sich bei dem Piktorialismus um eine transnationale Bewegung mit zahlreichen Vertretern, wobei Stieglitz in Amerika sicherlich zu den wichtigsten zählte (vgl. Orvell, Photography 82-91). Am Ende reichten Stieglitz jedoch die bereits bestehenden Bemühungen um künstlerisch anspruchsvolle Fotografie nicht aus, weswegen er 1902 eine Gruppe mit gleich gesinnten Künstlern gründete, die sich Photo-Secession nannte und der unter anderem auch Gertrude Käsebier (1852-1934), Edward Steichen (1879-1973) und Clarence H. White (1871-1925) angehörten. Mit dem Ziel vor Augen, die Fotografie ein- für allemal zur Kunst zu erklären sowie die Öffentlichkeit dazu zu bringen, künstlerisch wertvolle Fotografien als solche anzuerkennen und zu sammeln wie andere Kunstwerke auch, war man vor allem bemüht, den mechanischen Grundcharakter des 115

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Mediums zu überwinden. Dies wurde von den »Piktorialisten« dadurch erreicht, dass die fotografische Oberfläche (und zwar Negativ, Abzug oder beides) wie ein Gemälde behandelt, also bemalt und übermalt, zerkratzt oder zwecks Weichzeichnung beschmiert und verwischt oder anderweitig behandelt bzw. manipuliert wurde. Aus heutiger Sicht kann man diese kurios anmutende Episode in der Geschichte der amerikanischen Fotografie vielleicht am besten als verspätete – und darum umso vehementere – Abkehr von der Daguerrotypie verstehen mit ihren Bildern, die vor allem »sharp and plain and all fact« waren und noch Jahrzehnte nach dem eigentlichen Einsatz des Verfahrens den Fotodiskurs in Amerika prägten. Ein frühes Beispiel für Stieglitz’ Experimente mit der Fotografie als ›gemaltes‹ Bild stellt sein Winter – Fifth Avenue, New York von 1893 dar.6 Offenbar wartete Stieglitz stundenlang auf den perfekten Moment, in dem die extreme Witterung in der urbanen Umgebung New Yorks am besten – und das hieß für ihn am ehesten einem Gemälde vergleichbar – zur Geltung kam, um dann in der Dunkelkammer zahlreiche weitere Manipulationen einschließlich Retouchierungen vorzunehmen (vgl. Orvell, Photography 89).

Abb. 10: Alfred Stieglitz, Winter – Fifth Avenue, New York, 1893. Fotogravur. Library of Congress, Prints & Photographs Division. Eine andere Möglichkeit der Annäherung von Fotografie und Malerei bestand schlicht darin, Motive aufzunehmen, die bekannten Gemälden ähnelten.

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Das Bild wird unterschiedlich datiert. Das oben genante Datum von 1893 stammt von Orvell (Photography 89), im Archiv der Library of Congress heißt es hingegen »c. 1905«, was sich am ehesten mit unterschiedlichen Abzügen und wiederholten Bearbeitungen durch Stieglitz erklären lässt.

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Ein anschauliches Beispiel hierfür bietet William Henry Jacksons (18431942) Moccasin Bend from Lookout Mountain, Tennessee:

Abb. 11: William Henry Jackson, Moccasin Bend from Lookout Mountain, Tennessee, ca. 1902. Library of Congress, Prints & Photographs Division. Neben ihrer kontrastreichen Komposition beeindruckt Jacksons Fotografie vor allem durch eine verblüffende Ähnlichkeit mit einem bekannten Gemälde der Hudson River School, Thomas Coles The Oxbow von 1836 (vgl. Kapitel 1.3). Insbesondere die ungewöhnliche Perspektive des Betrachters von einem Berg auf eine halb verdeckte Landschaft ist in beiden Bildern auffällig parallel. Zudem verwenden beide die ikonografischen Konventionen der pastoralen Naturdarstellung. Zwar kann nicht nachgewiesen werden, dass Jackson Coles Gemälde kannte – auch wenn dies aufgrund dessen Berühmtheit nicht unwahrscheinlich ist –, aber man kann durchaus sehen, dass der Fotograf Gemälde in der Art der Hudson River School buchstäblich vor Augen hatte, als er sein Bild komponierte. 1901 erschien ein Werk mit dem programmatischen Titel Photography as a Fine Art, in dem der Autor, Charles Caffin, das jahrzehntelange Ringen um die unterschiedlichen Ziele fotografischen Arbeitens auf so klare wie versöhnliche Weise zusammenfasst: »There are two distinct roads in photography – the utilitarian and the aesthetic: the goal of the one being a record of facts, and of the other an expression of beauty« (zitiert in Szarkowski 159). Und in der Tat: Während das 20. Jahrhundert, das nicht zuletzt wegen der Pionierarbeit von amerikanischen Fotojournalisten auch als ›American Century‹ in die Geschichte eingegangen ist, 7 überwiegend nach harten Fakten verlangte, schafften es zugleich immer mehr fotografische Kunstwerke in die Museen und Galerien der Welt, auch dank Stieglitz’ energischen Bemühun7

Der Begriff stammt ursprünglich von dem einflussreichen Herausgeber Henry Luce, der 1941 in einem Editorial im Life Magazine die Amerikaner ermunterte, mit dem Eintritt in den Zweiten Weltkrieg das 20. zum »amerikanischen Jahrhundert« zu machen (vgl. Baughman).

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gen. Und die beiden von Caffin ausgemachten Pole in der Fotografie bestehen bis heute.

2.4 Fotografie und Gesellschaft: 1900-1970 Nachdem sich die Fotografie im 19. Jahrhundert zunächst entwickeln und als neues Medium etablieren musste, waren spätestens seit der Jahrhundertwende die wichtigsten Verfahren und Apparaturen eingeführt. Zwar entwickelte sich die Fotografie stetig weiter – etwa durch die Einführung von kleineren und flexibleren Kameras wie der Graflex, empfindlicherem Filmmaterial, speziellen Objektiven und nicht zuletzt der Farbfotografie –, aber im Prinzip gab es keine grundsätzlichen Einschnitte mehr in der Geschichte des Mediums bis zur Einführung der digitalen Fotografie um 1970. Dafür wandelte sich die Verwendung von fotografischen Bildern merklich seit etwa 1900. Fotografien wurden nicht länger nur als visuelle Belege von Identität und bürgerlichem Status, als Sammler- oder Kunstobjekte und dergleichen nachgefragt. Vielmehr wurde die Fotografie ›entdeckt‹ als ein Medium des kulturellen und nicht nur individuellen Gedächtnisses (vgl. Ruchatz). Ein in dieser Hinsicht bemerkenswertes Œuvre stellt Edward Sheriff Curtis’ fotografische Sammlung The North American Indian dar, mit deren Vorarbeiten er 1899 als Mitglied der Harriman Alaska Expedition begann und die er etwa dreißig Jahre später mit der Veröffentlichung des letzten Bandes (von zwanzig) abschloss. Curtis hatte als Porträtfotograf in Seattle begonnen, machte es sich seit der Expedition aber zur singulären Aufgabe, die native Americans fotografisch zu ›verewigen‹. Anders als beispielsweise Adam Clark Vroman wollte Curtis jedoch nicht bloß eine objektive Bestandsaufnahme machen (vgl. Newhall 136); stattdessen war er davon überzeugt, dass es sich bei den Ureinwohnern Nordamerikas um eine »vanishing race« handelte, deren Kultur er durch seine Aufnahmen und deren Veröffentlichung für die Nachwelt erhalten könnte. Sein Blick auf die natives war folglich sehr verengt und richtete sich gezielt auf das, was er als besonders authentisch, vom Verschwinden bedroht oder schlicht als visuell eindrucksvoll empfand. Wenn die Resultate seiner Vorstellung nicht hinreichend entsprachen, half er häufig nach. So gibt es zahlreiche Belege dafür, dass Curtis seine (in vielen Fällen bezahlten) Modelle nicht nur posieren und gelegentlich Szenen von ihnen nachstellen ließ; er staffierte sie auch regelmäßig mit Schmuck oder Kleidungsstücken aus, um pittoreske Effekte zu erzielen (vgl. Newhall 136). Obwohl viele seiner Bilder demnach alles andere als authentisch sind, wurden sie von den meisten Ureinwohnern bis in die Gegenwart als Dokumente einer vergangenen Kultur akzeptiert, wie Rayna Green, Kuratorin für das American Indian Program am National Museum of American History in Washington, D.C., 1999 in einem PBS-Interview bestätigt hat (»American Photography: A Century of Images«). Das Bild, das nach Curtis’ Auffassung die Vorstellung der »verschwindenden Rasse« am besten visualisierte und das er folglich als Titelbild für seine Veröffentlichung wählte, nannte er The Vanishing Race – Navaho (vgl. Abb. 12). Es zeigt eine Gruppe von vier Menschen in einer für den Südwesten der USA typischen Canyonlandschaft, die in gebeugter Haltung und offensichtlich erschöpft dem Sonnenuntergang entgegenreiten: 118

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Abb. 12: Edward S. Curtis, The Vanishing Race – Navaho, ca. 1904. Fotogravur. Library of Congress, Prints & Photographs Division. Aufgrund des zentralen Fluchtpunkts, auf den sich die Figuren geradewegs zuzubewegen scheinen, entsteht der Eindruck, sie würden sich in der ansonsten menschenleeren Landschaft verlieren. Die symbolische Kraft des Motivs wird noch verstärkt durch die spezielle Bearbeitung des Fotos. Es handelt sich dabei um eine Fotogravur, die eigentlich eine Art Radierung ist. Dabei wird vom Negativ ein positiver Gelatineabdruck genommen, der dann wiederum auf eine Kupferplatte gedruckt wird. Das aufwändige Verfahren wurde vor allem für hochqualitative Kunstdrucke in großen Auflagen gewählt und im Verlauf des 20. Jahrhunderts vom Tiefdruckverfahren verdrängt. Fotogravuren zeichnen sich durch nuancenreiche Hell-Dunkel-Abstufungen sowie eine besondere Leuchtkraft aus. Curtis hat seine Bilder wie in diesem Fall häufig noch zusätzlich behandelt und retouchiert, und sie sind aufgrund ihrer speziellen visuellen Qualität deutlich dem Piktorialismus und seinem Verständnis des Bildes als manuell bearbeiteter oder ›gemalter‹ Oberfläche verpflichtet. So changieren sie zwischen faktischen Zeitdokumenten und nostalgischen Idealisierungen einer untergehenden bzw. bereits untergegangenen und nur für den kurzen fotografischen Akt wiederbelebten Kultur (vgl. Vizenor). Mehr Kunst als historische Dokumente, konnten sie dennoch – oder gerade deswegen – zu Projektionsflächen des kulturellen Gedächtnisses für eine romantisierte und zusehends auch mythisierte Vergangenheit werden (vgl. Beck). Mit Beginn des 20. Jahrhunderts gab es immer schärfere Einwände gegen solche ›malerischen‹ Bilder; stattdessen wurde eine moderne, nüchternere Fotografie gefordert, die den speziellen Bedingungen des Mediums angemessener wäre; Fotografien sollten endlich auch so aussehen wie Fotografien. Die daraus resultierende ästhetische Bewegung wurde in den folgenden Jahren als »straight photography« bekannt und galt als besonders innovativ, obwohl sich bereits die Daguerrotypie in ihrer nicht reproduzierbaren Unmittelbarkeit als Vorläuferin ausmachen lässt (vgl. Newhall 167). In Amerika ist die Bewegung maßgeblich mit Paul Strand (1890-1976) verbunden, dessen 119

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Arbeiten Alfred Stieglitz 1916 und 1917 in Camera Work abdruckte und in einem Kommentar als »brutally direct, pure and devoid of trickery« bezeichnete (Newhall 172). 8 Und tatsächlich fallen beim Betrachten von Strands New York, 1916 (vgl. Abb. 13) sofort einige wichtige Unterschiede zur bis dahin üblichen, häufig mit der Malerei konkurrierenden Fotografie ins Auge: Man sieht darauf eine ungestellte Straßenszene, die unter natürlichen Lichtverhältnissen aus einiger Distanz und von einem erhöhten Standpunkt aus aufgenommen wurde. Die zu erkennenden Menschen und ihre Umgebung erscheinen ungeschönt und dem direkten Blick des Betrachters ausgesetzt. Dieser kann sich von einer konkreten urbanen Situation – Wall Street, New York City – ein ›eigenes Bild‹ machen, und es ist ihm oder ihr überlassen, die architektonischen Elemente wie die monumental wirkenden schwarzen Hintergrundflächen in Beziehung zu den Menschen im Vordergrund zu setzen oder einfach den beeindruckenden visuellen Kontrast zwischen Mensch und gebauter Umwelt zu registrieren. Bilder dieser Art erforderten eine moderne Betrachtungsweise, die Strand vor allem in der neuen amerikanischen Fotografie verwirklicht sah. In einem Begleitkommentar in Camera Work feierte er diese sogar als eine Form von künstlerischer Unabhängigkeitserklärung: »[T]here is no real consciousness, even among photographers, of what has actually happened: namely, that America has really been expressed in terms of America without the outside influence of Paris art-schools or their dilute offspring here« (Stieglitz 780-781).

Abb. 13: Paul Strand, New York, 1916. Fotogravur. Library of Congress, Prints & Photographs Division. Neben der »straight photography« gab es bereits um die Jahrhundertwende einen weiteren wichtigen Impuls in der amerikanischen Fotografie, und zwar 8

Zum Kreis der »straight photographers« gehörten außer Strand und Stieglitz auch noch der Maler Charles Sheeler, Edward Steichen, Paul Outerbridge, Jr., Ralph Steiner, Walker Evans, Edward Weston, Brett Weston, Imogen Cunningham und Ansel Adams (vgl. Newhall 167-197).

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den aufkommenden Fotojournalismus. Dessen rasante Entwicklung wurde durch die Einführung des Rasterdrucks um 1890 begünstigt, der es ermöglichte, Schrift und Bilder in Zeitungen, Zeitschriften und Büchern nebeneinander auf einer Seite zu drucken. Mit dieser technischen Innovation ging ein sprunghaft ansteigender Bedarf an aktuellen Bildern einher. Auch wurde es immer üblicher, Bilder zur Illustration von Texten anzufertigen. Ein eindrucksvolles, frühes Beispiel stellt Jacob A. Riis’ Kampagne zur Aufdeckung von sozialen Missständen in den Einwandererslums von Manhattans Lower East Side dar. Riis, ein investigativer Reporter, der eng mit der New Yorker Polizei zusammenarbeitete, merkte bald, dass die Aussagekraft und der Appellcharakter seiner Untersuchungen durch entsprechendes Fotomaterial deutlich gesteigert werden konnten. Folglich stellte er professionelle Fotografen ein, mit denen er einzelne Wohnungen aufsuchte und ihre Bewohner mit Hilfe des seinerzeit neu entwickelten Magnesium-Blitzlichts fotografierte. In seine Studie How the Other Half Lives. Studies Among the Tenements of New York von 1890 nahm Riis zunächst 17 Fotografien auf, die im Rasterdruckverfahren vervielfältigt wurden; dazu kamen noch 19 Zeichnungen, die auf Fotos basierten (vgl. Newhall 133). Orvell beschreibt Riis als »tour guide to the slums, eager to show his audience – the privileged half – the real life of the ›other half‹« (Photography 71). Fest steht, dass er trotz seiner reformerischen Absichten eine auffällig herablassende Haltung den Menschen gegenüber pflegte, für die er sich mit seiner Arbeit einsetzte, was allerdings typisch war für die Reformbemühungen in jener Zeit, die in der Regel ein starkes soziales Gefälle implizierten. Die Bilder selbst sind voller Pathos verzweifelter Armut, wie das Beispiel einer italienischen Mutter mit Kind eindringlich vor Augen führt:

Abb. 14: Jacob Riis, Wohnung einer italienischen Lumpensammlerin, New York, 1888. Auch Lewis Hine (1874-1940) benutzte für seine sozialen Studien Fotografien und Texte, die er häufig in Form von Diagrammen oder Collagen auf einer Seite posterartig zusammenstellte und in reformorientierten Kontexten veröffentlichte. Als Lehrer für Soziologie an der Ethical Culture School in New York verwendete Hine die Fotografie vor allem als pädagogisches In121

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strument zur Aufklärung über unhaltbare gesellschaftliche Zustände wie extreme Armut, Kinderarbeit und Obdachlosigkeit. Verglichen mit Riis fällt der Blick Hines’ dabei ungleich empathischer aus (vgl. Orvell, Photography 75), wie seine berühmte Aufnahme eines jungen Mädchens, das in einer Baumwollspinnerei in South Carolina arbeitet, zusammen mit der von Hine selbst verfassten Bildunterschrift belegt:

Abb. 15: Lewis Hine, Sadie Pfeiffer, 1,22 m groß, arbeitet seit einem halben Jahr. Eines von vielen kleinen Kindern, die in den Baumwollspinnereien von Lancaster arbeiten, 1908. Library of Congress, Prints & Photographs Division. Auffällig an dem Bild ist, dass aufgrund seiner Komposition der Missstand der Kinderarbeit sofort ins Auge fällt – das Mädchen erscheint geradezu eingezwängt in einer für Kinder völlig unangemessenen Umgebung –, ohne der Aufgenommenen dadurch ihre Würde zu nehmen. Hine nutzte Fotografien wie diese häufig in seinen Kursen, um den Teilnehmenden bestimmte soziale Mechanismen zu erläutern und seiner Meinung nach dringend erforderliche Verbesserungsmöglichkeiten aufzuzeigen, allem voran die Abschaffung der Kinderarbeit. 9 Er begründete damit den sozialen Dokumentarismus, der in den 1930er Jahren zur Zeit der sogenannten Großen Depression fortgeführt und weiter entwickelt wurde. Die sozial engagierten, fotojournalistischen Arbeiten von Riis und Hine können auch im Kontext einer immer bilderhungrigeren Öffentlichkeit gesehen werden, die von Orvell treffend als »information environment« (Photography 77) bezeichnet wird. Ermöglicht durch neue, effizientere Kommunikations- und Drucktechniken bildete sich in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts ein reger Markt für Nachrichten heraus, die vor allem in Form von billig produzierten und schnell konsumierbaren illustrierten Zeitschriften vertrieben wurden. In den 1930er Jahren kamen qualitativ aufwändigere Wo9

Hine nutzte Fotografie nicht nur als pädagogisches Instrument, er schrieb auch darüber, etwa in einem Beitrag über »Photography in the School«, der in der Photographic Times im August 1908 erschien (vgl. Orvell, Photography 75).

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chenmagazine wie Life und Look10 dazu, die über globale Ereignisse und gesellschaftliche ›events‹ berichteten und die Fotografie zu einem unverzichtbaren Garant für Aktualität machten. Umgekehrt reduzierte sich seither der Informationswert einer Nachricht dramatisch, wenn es kein Bild von ihr gab. Am deutlichsten war dieser Effekt zu beobachten, wenn sich Katastrophen ereigneten, die regelmäßig (wie heute) die Auflagen in die Höhe trieben. So wurde zum Beispiel Arnold Genthe vor allem bekannt durch wenige, dafür aber umso sensationellere Bilder vom großen Erdbeben in San Francisco von 1906, und nicht durch seine dokumentarischen Arbeiten oder seine Porträtaufnahmen (vgl. Orvell, Photography 79).

Abb. 16: Arnold Genthe, San Francisco, 18. April 1906. Library of Congress, Prints & Photographs Division (Arnold Genthe Collection). In der Zeit der Weltwirtschaftskrise in den 1930er Jahren verdichteten sich die verschiedenen fotografischen Richtungen, von Porträts über Fotojournalismus bis zur Kunstfotografie, zu einem eindringlichen neuen Format, das Walker Evans (1903-1975) als »dokumentarischen Stil« (vgl. Katz 85; 87) bezeichnete. Damit wollte er vor allem seine eigene fotografische Arbeit, die er stets als Kunst verstand, von dem sich rasant ausbreitenden Dokumentarismus abgrenzen. Evans gehörte zu einem Dutzend Fotografen, die von 1935 an für ein staatliches Programm der Roosevelt-Regierung arbeiteten und deren Aufgabe es war, nach Anweisungen durch den Programmdirektor Roy Stryker Fotos von den Krisenregionen der USA anzufertigen; zunächst um auf konkrete Probleme hinzuweisen, später aber auch, um visuelle Belege für das Funktionieren von angelaufenen New Deal-Hilfsprogrammen zu liefern. Vornehmlich ging es dabei um die Belange der ländlichen Bevölkerung, 10 Look erschien zunächst monatlich, dann zweimal in der Woche, und verwendete Layouts mit noch mehr Fotografien als das Life Magazine. Beide Formate wurden in den frühen 1970er Jahren eingestellt.

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die besonders stark unter der national-ökonomischen und zugleich regionalökologischen Krise (»Dust Bowl«) litt und der von der Roosevelt-Regierung auch wegen ihrer großen Symbolkraft besondere Aufmerksamkeit entgegengebracht wurde (vgl. Böger, Lives 59-88). Die umfassende fotografische Sammlung der Farm Security Administration/Office of War Information wurde nach und nach zu einer der wichtigsten Ressourcen für die Medienberichterstattung in den 1930er und frühen 1940er Jahren. Nach dem Zweiten Weltkrieg ging die Sammlung an die Library of Congress in Washington, D.C. über, wo über 160.000 der ursprünglich ca. 270.000 Fotografien archiviert wurden. Zu den am häufigsten reproduzierten, aber auch umstrittensten Fotografien dieser Kampagne gehört Arthur Rothsteins (1915-1985) Farmer and Sons walking in the face of a dust storm von 1936. Das Bild zeigt einen Mann, der gemeinsam mit seinen Söhnen gegen einen Sandsturm ankämpft und offenbar versucht, sich in ein nahe gelegenes, allerdings verlassenes und bereits verfallenes Gebäude zu retten:

Abb. 17: Arthur Rothstein, Farmer and sons walking in the face of a dust storm, Cimarron County, Oklahoma, April 1936. Library of Congress, Prints & Photographs Division. Obwohl die Fotografen gehalten waren, objektive Bilddokumente abzuliefern, musste Rothstein Jahre später in einem Interview einräumen, dass das Foto gestellt und der dramatische Moment fingiert war – was unter anderem an den Schatten zu erkennen ist, die während eines echten Sandsturms so nicht zu erwarten wären (vgl. Orvell, Photography 112). Solche Manipulationen umgaben die bekanntesten New Deal-Fotografien fast immer. Ein anderes berühmtes Beispiel ist Dorothea Langes (1895-1965) Porträt einer jungen Wanderarbeiterin, die mit ihren Kindern in Kalifornien gestrandet war und

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als Migrant Mother in die Fotografiegeschichte eingegangen ist.11 Auf dem Bild, das eine extrem häufig reproduzierte, daher besonders bedeutsame und vermeintlich aus sich heraus verständliche ›Fotoikone‹ darstellt, ist noch schwach zu erkennen, dass Lange auf dem Negativ einen das Zelt aufhaltenden Daumen am rechten unteren Bildrand wegretouchiert hat. Für Stryker war dies das aussagekräftigste Bild überhaupt, denn wie er schrieb: »She has all the suffering of mankind in her but all of the perseverance too. A restraint and a strange courage. You can see anything you want in her. She is immortal« (Stryker und Wood 19).

Abb. 18: Dorothea Lange, Destitute peapickers in California; a 32-year-old mother of seven children, February 1937 (retouchierte Version). Library of Congress, Prints & Photographs Division. Wenn man Riis’ Aufnahme der Lumpensammlerin von 1888 (Abb. 14) mit Langes Migrant Mother vergleicht, fällt neben der offensichtlichen ikonografischen Verwandtschaft – beide Fotografien zeigen völlig mittellose Mütter mit ihrem Kind bzw. mehreren Kindern – besonders die von Stryker hoch gelobte Rhetorik des späteren Porträts ins Auge: Diese Frau erscheint voller Stärke und den widrigen Umständen trotzender Zuversicht, und dem impliziten Betrachter fällt es daher relativ leicht, sich mit ihrer »strange courage« zu identifizieren – ganz anders als bei Riis. Es ist kein Wunder, dass Langes ikonisches Foto immer wieder als Beleg für die alle Krisen überstehenden amerikanischen Grundwerte wie Individualismus und Eigenverantwortung verwendet wurde. 12 Dass die propagandistische Aussage dabei in keinem 11 Die Library of Congress stellt eine eigene Seite für Langes Foto zur Verfügung, wo man die gesamte Bildserie bis zur »Migrant Mother«-Ikone verfolgen kann, unter . 12 In diesem Zusammenhang ist interessant, dass eine Reportage im Life Magazine vom 21. Juni 1937 mit dem Titel »The U.S. Dust Bowl« Bilder von Lange mit einem Text

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Verhältnis zur prekären Lage der realen Person ›hinter‹ dem Bild stand, ist seit den 1970er Jahren verschiedentlich kritisch diskutiert worden, unter anderem von der Konzeptkünstlerin Martha Rosler in ihrem viel beachteten Essay »in, around, and afterthoughts (on documentary photography)« von 1981. Darin argumentiert sie, dass es Florence Thompson nicht nur zeitlebens versagt blieb, von ihrem berühmten Konterfei zu profitieren, sondern dass sie vielmehr durch den fotografischen Akt ausgebeutet und so einmal mehr zum Opfer gemacht worden sei (vgl. 315-316). Roslers Attacke auf die sozial engagierte Dokumentarfotografie war 1977 bereits von Susan Sontag in ihrem einflussreichen Essaywerk On Photography vorweggenommen worden und setzt sich in kritischen Diskursen über dokumentarische Repräsentationen von Wirklichkeit bis in die Gegenwart fort.

Abb. 19: Walker Evans, Allie Mae Burroughs, Wife of Cotton Sharecropper. Hale County, Alabama, 1936. Library of Congress, Prints & Photographs Division. Das Fotoarchiv der Farm Security Administration ist seit den späten 1990er Jahren in weiten Teilen auch in digitalisierter Form über die virtuelle Internet-Plattform American Memory der Library of Congress öffentlich zugänglich und stellt eine viel genutzte Ressource des kulturellen Gedächtnisses dar (vgl. »America«). Gerade deshalb ist es wichtig zu hinterfragen, welche Bilder immer wieder gezeigt worden sind und welche weit weniger Publizität erlangt haben – und warum (vgl. Böger, Lives 59-75). Der bereits genannte Walker Evans war der bekannteste Fotograf in der Gruppe, und obwohl sich seine Arbeit für die Regierung auf 18 Monate beschränkte, stammen von ihm einige der berühmtesten Ikonen der 1930er Jahre. Darunter befindet sich das veröffentlichte, in dem Arbeitsmigranten nicht als Opfer der Krise, sondern als ›neue Pioniere‹ bezeichnet werden (vgl. Fleischhauer und Brannan 116).

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so schlichte wie kunstvolle Porträt Allie Mae Burroughs, Wife of Cotton Sharecropper, Hale County, Alabama, 1936 (vgl. Abb. 19), das Evans aufnahm, als er mit dem Autor James Agee im Sommer 1936 durch die Südstaaten reiste, um das Leben von verarmten Pachtfarmern zu dokumentieren. Ursprünglich eine Auftragsarbeit für Fortune Magazine (wo der Bericht jedoch nie erschien), kam das Werk, dessen Dialog von Bildern und Text eine fruchtbare intermediale Provokation darstellte (vgl. Böger, Documenting), 1941 als modernistischer Klassiker mit dem Titel Let Us Now Praise Famous Men heraus. Drei Jahre zuvor war Allie Mae Burroughs bereits in der von Beaumont Newhall kuratierten Ausstellung American Photographs im New Yorker Museum of Modern Art zu sehen gewesen, zugleich die erste Einzelausstellung eines fotografischen Einzelwerks überhaupt und Evans’ Durchbruch als führender Foto-Künstler Amerikas.13 Nicht zuletzt aufgrund seiner verschiedenen und jeweils viel beachteten Erscheinungskontexte hat Evans’ Porträt einer augenscheinlich verarmten, aber dennoch Schönheit und Würde ausstrahlenden Pachtfarmerin ähnlich wie Langes Migrant Mother das visuelle Gedächtnis einer Epoche entscheidend geprägt.

Abb. 20: Walker Evans, General Store Interior, Moundville, Alabama, Summer 1936. Library of Congress, Prints & Photographs Division. Eine andere Fotografie von Evans, General Store Interior, Moundville Alabama (vgl. Abb. 20), wurde weit weniger wahrgenommen. Zu sehen sind die gut gefüllten Regale eines Geschäfts in der Provinz, dessen Angebot von Seife über Geschirr und Lebensmittel bis zu einfachen Gerätschaften und vor allem Baumwollsaat reicht. Gerade der zuletzt genannte Artikel, im Vordergrund rechts unten unschwer in Form von gestapelten Säcken zu erkennen, 13 Die erste Fotografie-Überblicksausstellung hatte nur ein Jahr zuvor stattgefunden, die 1937 ebenfalls von Newhall für das Museum of Modern Art kuratierte Schau »Photography: 1839-1937« (vgl. Goldberg und Silberman 104).

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stellt einen engen Bezug zum damals vorherrschenden Baumwollanbau als Haupteinkommensquelle der Bewohner dieser Region her. Gleichzeitig markieren andere Bildelemente wie die Coca-Cola-Werbung am linken oberen Bildrand und weitere industriell gefertigte Produkte den Übergang zu einer nicht mehr vornehmlich agrarischen, sondern industriell geprägten Konsumkultur. Die hier konstatierte visuelle Harmonie zwischen unterschiedlichen kulturellen Epochen kann somit als ein ironischer Kommentar auf die realen Brüche, Krisen und Übergänge gelesen werden, die das Land in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts grundlegend veränderten und seine kulturelle Vormachtstellung mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs erst möglich machten. Neben der Komplexität der Bildaussage dürfte die darauf gezeigte Überfülle an Waren dazu geführt haben, dass dem Foto mitten in der Weltwirtschaftskrise, als ganz andere Bilder gefragt waren, kaum Beachtung geschenkt wurde. Inzwischen haben Historiker wie Lawrence Levine zu recht darauf hingewiesen, dass es ein Fehler ist, das kulturelle Gedächtnis einer Epoche zu sehr einzuengen (vgl. Levine 22); auch in dieser Hinsicht stellt Evans’ Foto eine große Bereicherung dar. Es gibt im Archiv der Farm Security Administration/Office of War Information eine Gruppe von ca. 1.600 Fotografien, die ebenfalls bisher kaum beachtet wurden, da sie nicht in den Kontext der Großen Depression zu passen scheinen, und zwar aufgrund eines entscheidenden Unterschieds: Sie wurden in Farbe aufgenommen. Erst in den letzten Jahren hat es vereinzelte Ausstellungen und Publikationen zu diesem interessanten Material gegeben, unter anderem den Band Bound for Glory. America in Color 1939-43, in dessen Einleitung Paul Hendrickson die Farbbilder mit den bekannten Schwarzweiß-Ikonen vergleicht. So wird deutlich, wie sehr die scheinbar einfache Alternative von Schwarzweiß- oder Farbfilm unsere Wahrnehmung einer Epoche bestimmt, bzw. wie einseitig – und hier im Wortsinn farblos – das Bild ist, das wir uns von ihr gemacht haben. Der Empfehlung Levines folgend, sollten die ungewohnten Seiten der 1930er Jahre nicht vergessen werden, und diese Fotos, die nach der Einführung des Kodachrome-Farbfilms zwischen 1939 und 1945 aufgenommen wurden, bieten eine gute Gelegenheit, das Bilderrepertoire dieser Zeit und damit unseren Horizont in genau diese Richtung zu erweitern – auch wenn man dabei wiederum nicht vergessen sollte, dass viele der Bilder Auftragsarbeiten waren, die eindeutigen Propagandainteressen folgten, wie zum Beispiel einige Aufnahmen von Alfred Palmer (1906-1993), die lächelnde Soldaten beim Verrichten ihres Kriegsdienstes im Jahr 1942 zeigen.14 D ER Z WEITE W ELTKRIEG : » A

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Der Zweite Weltkrieg war insofern »a photographer’s war« (Goldberg und Silberman 109), als Fotografie omnipräsent war und gezielt als PropagandaWaffe eingesetzt wurde. Darüber hinaus brachte der Krieg vielfältige visuelle Überwachungstechniken hervor, unter anderem Radarkontrolle, Satellitenkameras und fliegende, unbemannte Spionagekameras zur Ausforschung von 14 Vgl. 25. Juli 2010.

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feindlichen Bewegungen. Es ist daher nicht übertrieben zu behaupten, dass der Krieg maßgeblich über Bilder geführt wurde und die Fotografie damit einen extrem hohen Stellenwert bekam. Dies wurde früh von einflussreichen Herausgebern wie Henry Luce erkannt, dessen Life Magazine den Krieg in die amerikanischen Wohnzimmer brachte und die Auflage in dieser Zeit um ein Vielfaches steigern konnte (vgl. Goldberg und Silberman 109). Aber auch auf offizieller Seite war man bemüht, durch Zensurmaßnahmen die Heimatfront für den Krieg einzunehmen. Dies bedeutete zunächst – wie im oben erwähnten Beispiel von 1942 –, dass unangenehme oder gefährliche Aspekte des Kriegs ausgeblendet wurden zugunsten einer verharmlosenden Sicht der Ereignisse. Nach dem Angriff auf Pearl Harbor wurde Fotografie staatlich sanktioniert, um unter anderem Feindbilder von respektlos »Japs« genannten Japanern in der Bevölkerung zu mobilisieren. Schließlich beschloss man im Herbst 1943, der amerikanischen Bevölkerung auch Bilder von getöteten amerikanischen Soldaten zuzumuten wie z.B. George Strocks Fotografie von drei in Neu-Guinea Gefallenen, veröffentlicht in Life im September 1943 nach einer langen Debatte zwischen den Herausgebern und der für Zensur zuständigen Regierungsbehörde (vgl. Goldberg und Silberman 113). Zu den Ikonen des Kriegs wurden jedoch unweigerlich andere, durchweg ›siegreichere‹ Bilder, allen voran Joe Rosenthals (1911-2006) berühmte Aufnahme der die US-Flagge hissenden amerikanischen Soldaten auf Iwo Jima, die sofort als Vorlage für verschiedene andere Formate wie Briefmarken, Poster und sogar eine Skulptur am nationalen Friedhof von Arlington diente und somit quasi über Nacht zum Symbol des amerikanischen Triumphs über den Feind wurde (vgl. Goldberg und Silberman 117). Eine weitere bedeutende Kriegsikone stammt von Robert Capa (1913-1954), der damals für das Life Magazine arbeitete. Das immer wieder reproduzierte Foto zeigt die Landung amerikanischer Truppen an der Küste der Normandie an einem Abschnitt, der von den Alliierten im Rahmen der Militäroperation »D-Day«, die das Ende des Kriegs einläuten sollte, auch »Omaha Beach« genannt wurde (vgl. Abb. 21). Capa verwendete dafür eine kleine, flexible Kamera, die ihm erlaubte, ganz nah bei den Truppen zu sein – und geriet damit wie diese unter Beschuss. Vom Fotografen selbst stammt der bezeichnende Ausspruch: »If your pictures aren’t good enough, you’re not close enough« (vgl. Whelan 211). Von den entstandenen Fotos ist durch ein Missgeschick des Laborassistenten, der die Bilder später entwickeln sollte und die Negative dabei zu großer Hitze aussetzte, nur eine Handvoll erhalten. Aber diese sind in ihrer bedrückenden Unmittelbarkeit kaum zu übertreffen, wurden in unterschiedlichsten Kontexten immer wieder gezeigt und so mit Bedeutung aufgeladen. Sie dienten schließlich auch als Vorlage für den Hollywood-Film Saving Private Ryan von Steven Spielberg, der 1998 mit filmischen Mitteln vergleichbare Realitätseffekte insbesondere in seiner Eröffnungssequenz erzielte. Der verwackelte Anschein von Capas Fotos, bei dem unklar ist, ob er dem Zittern des Fotografen oder dem Versehen des Assistenten zugeschrieben werden muss (vgl. Golberg und Silberman 117), steigert dabei noch die ohnehin außer Zweifel stehende Authentizität des Bildes. Durch Fotografien wie diese wurde die amerikanische Öffentlichkeit buchstäblich in den Krieg hineingezogen, denn ihre Aussage war eindeutig: Es gab kein Zurück.

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Abb. 21: Robert Capa, D-Day, Omaha Beach, 6. Juni 1944. »F AMILY

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T HE A MERICANS

Spätestens durch den Zweiten Weltkrieg wurde die Fotografie zu einem Leitmedium der öffentlichen Meinungsbildung. Die Laufbahn von Edward Steichen (1879-1973) kann hier als beispielhaft angesehen werden. In jungen Jahren meisterte er als Autodidakt die piktorialistische Kunstfotografie und unterstützte Alfred Stieglitz bei der Gründung der »Photo-Secession«. Als der Erste Weltkrieg heranrückte, entschied sich Steichen jedoch, stattdessen als Fotojournalist zu arbeiten. Nach Jahren in Europa kehrte er als Direktor der fotografischen Abteilung des Condé Nast-Verlags nach New York zurück, wo er unter anderem für Werbefotografie zuständig war. Im Zweiten Weltkrieg arbeitete er als Kriegsfotograf für die Marine, außerdem kuratierte er zwei Propaganda-Ausstellungen für das Museum of Modern Art, »Road to Victory« (1942) sowie »Power in the Pacific« (1945) und übernahm 1947 die Leitung der fotografischen Abteilung des New Yorker Museums. Von den zahlreichen Ausstellungen, für die er dort in 15 Jahren verantwortlich war, gilt die berühmte »Family of Man«-Ausstellung von 1955 als sein wichtigster Beitrag zur Geschichte der Fotografie (vgl. Glenn 2009). Angelegt als eine Art kollektives Weltporträt, mit 503 Aufnahmen von 273 Fotografinnen und Fotografen aus 68 Ländern, bieten Ausstellung und Begleitband eine Gesamtschau auf die menschliche Existenz anhand von Variationen auf den allen Kulturen gemeinsamen Lebenszyklus, der mit sich bringt – so zumindest die implizierte Aussage der Schau –, dass die menschlichen Grundbedürfnisse überall gleich seien. »Family of Man« gilt als die erfolgreichste und einflussreichste Fotoausstellung aller Zeiten und ist 1994 als permanente Installation im luxemburgischen Clervaux wieder aufgebaut worden. Obwohl die Ausstellung ursprünglich für ein Kunstmuseum konzipiert war und einige ihrer Kritiker die endgültige Musealisierung der Fotografie befürchteten, handelte es sich um eine für ein allgemeines Publikum konzipierte fotografische Installation über den Zustand der Welt und ihrer vielfältigen Bewohner mit einer klaren moralischen Mission (vgl. Goldberg und Silberman 140). Steichen hatte im Vorfeld der Ausstellung in einem globalen Aufruf Fotografinnen und Fotografen in aller Welt zur Einsendung ihrer Arbeiten ermutigt, doch die Bilder, die schließlich zu sehen waren, stammen überwiegend aus den Archiven der Library of Congress (wo man vor allem auf die Sammlung der Farm Security Administration und unter anderem wiederum auf Langes Migrant Mother-Ikone zurückgriff, vgl. Abb. 18), den National 130

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Archives sowie vom Life Magazine. Nach der New Yorker Premiere tourte die Ausstellung durch Europa, was durch die für internationale public relations zuständige und dem Außenministerium unterstellte United States Information Agency ermöglicht wurde und vor allem in der Sowjetunion den Eindruck verstärkte, die Ausstellung solle in erster Linie amerikanische Werte und eine amerikanische Perspektive auf die Welt propagieren (vgl. Orvell, Photography 115) – ein Vorwurf, der schon aufgrund der Bilderauswahl schwer zu entkräften war. Aufgrund ihres humanistischen Grundgestus, der durch zahlreiche biblische Zitate noch unterstrichen wurde, kann man allerdings auch Goldberg und Silberman darin zustimmen, dass es sich bei der »Family of Man«-Ausstellung um eine Art Predigt in Bildern (»a pictorial sermon«, 140) handelte. Als visuelles Korrelat ihrer quasi-religiösen Kernbotschaft diente insbesondere eine prominent platzierte, mystisch anmutende Aufnahme des Mount Williamson von Ansel Adams, der bereits damals berühmt war für seine technisch perfekt ausgeführten, erhabenen Naturmotive. Die Besucher sollten sich derart inspiriert auf universelle Werte besinnen, ohne dabei konkrete globale Bedrohungen wie Nuklearwaffen und ihr destruktives Potential – das in den Köpfen der meisten Besucher 1955 noch mehr als präsent gewesen sein dürfte – aus dem Blick zu verlieren.15 Vor allem aber sollten sie sich durch die überwältigende humanistische Botschaft geläutert und im festen Glauben an die prominent herausgestellte Institution der Vereinten Nationen (mit Hauptsitz ebenfalls in New York) der großen Familie der Menschen zugehörig fühlen. Die beschönigende Rhetorik der »Family of Man«-Ausstellung wird besonders deutlich, wo Minderheiten und hier vor allem Menschen dunkler Hautfarbe dargestellt wurden (vgl. Barthes 1964). In dieser Hinsicht enthielt die Schau eine Vielzahl bemerkenswerter Fotografien, unter anderem von Helen Levitt (1913-2009), Leon Levinstein (1910-1988), Wayne Miller (*1918) und Roy de Carava (1919-2009). Ihre poetisch anmutenden Bilder zeigten überwiegend intime Augenblicke zwischen Liebenden, Eltern und ihren Kindern oder weltvergessen improvisierenden Jazz-Musikern (vgl. Orvell, Photography 117) und wichen dadurch stark ab von den fotojournalistischen Darstellungen von unterprivilegierten Afroamerikanern, rassistischen Übergriffen und dergleichen, wie sie damals an der Tagesordnung waren. In diesem Zusammenhang ist interessant, dass Steichen ursprünglich durchaus geplant hatte, eine Fotografie von einem Lynchmord, der sich kurz zuvor im Süden der USA ereignet hatte, in die Schau aufzunehmen. Er entschloss sich dann aber dagegen, weil er das Bild für zu spezifisch für den USamerikanischen Kontext und damit für zu begrenzt hielt (vgl. Goldberg und Silberman 141). Solche entscheidenden Auslassungen müssen berücksichtigt werden, wenn man die »Family of Man«-Ausstellung als fotografischen Querschnitt der Jahrhundertmitte und damit als Ausdruck eines sich formierenden globalen kulturellen Gedächtnisses verstehen soll (vgl. Sandeen). In der Ausstellung waren auch einige Aufnahmen von Robert Frank (*1924) zu sehen, die wegweisend waren für eine andere Richtung, welche 15 In der Ausstellung – aber nicht im Begleitbuch – fand sich an zentraler Stelle ein übergroßes Farbfoto einer nuklearen Explosion, das in einem gewissen Widerspruch zu ihrer positiven Grundaussage stand und offenbar von Steichen als Anstoß zur Bewusstseinsbildung intendiert war (vgl. Goldberg und Silberman 142).

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die amerikanische Fotografie in der Folge nehmen sollte. Frank war gebürtiger Schweizer und hatte kurz zuvor ein Guggenheim-Stipendium erhalten, dank dessen er 1955 und 1956 durch die USA reiste und Bilder machte, die vermutlich das wichtigste fotografische Einzelwerk der Nachkriegszeit darstellen (vgl. Goldberg und Silberman 147). Frank nannte sein Hauptwerk, für das er zunächst keinen amerikanischen Verlag fand und das er darum 1958 in Frankreich herausbrachte (und nach seinem großen Erfolg ein Jahr später in den USA, mit einer Einleitung von Jack Kerouac), schlicht The Americans. Er zeigte der Welt darin ein dunkleres Amerika, fast eine Art Gegenentwurf zu den meisten Fotografien, die Steichen für seine Ausstellung von 1955 ausgewählt hatte. Die amerikanische Gesellschaft erschien bei Frank trist und mitunter sogar beunruhigend, voller Widersprüche, Einsamkeit und tiefer Melancholie. Sein Mentor Walker Evans, auf dessen Magnum Opus American Photographs Franks The Americans schon im Titel, aber auch durch seine komplexe Form verweist, lobte die Arbeiten seines Protegés in der einflussreichen Zeitschrift U.S. Camera kurz vor dem Erscheinen von The Americans und verhalf Frank damit zu seinem künstlerischen Durchbruch: »He shows high irony towards a nation that generally speaking has it not [sic!]; adult detachment towards the more-or-less juvenile section of the population that came into his view« (90). Frank hatte ohne Zweifel ein gutes Auge für zwar alltägliche, aber dennoch ungewöhnliche Momente, die er mit einer kleinen 35-mm-Kamera einfing, zumeist ohne auf besonders brillante Bildqualität Wert zu legen. Seine unkonventionellen Fotografien wirken deshalb oft spontan und heben sich sowohl vom Fotojournalismus als auch von der Kunstfotografie ab. Ein eloquentes Beispiel für seinen durchdringenden Blick auf die amerikanische Gesellschaft stellt sein Foto Trolley – New Orleans von 1955 dar:

Abb. 22: Robert Frank, Trolley – New Orleans, 1955. Wie flüchtig vorbeiziehende Einzelbilder eines Films wirken zunächst die Fenster der Straßenbahn, die auf diese Weise ›eingefroren‹ das gesamte Bild einnimmt und daher alle Aufmerksamkeit auf die Szene im Inneren lenkt. Der zweite Blick registriert die Anordnung der Fahrgäste, die insbesondere im Südstaatenkontext klar auf die Praxis der Rassentrennung bzw. -diskriminierung hindeutet. Frank machte sein beredtes Foto wenige Monate, bevor Rosa Parks sich weigerte, einen Sitzplatz im mittleren Teil eines Busses in Montgomery, Alabama frei zu geben und damit die organisierten Massenproteste der Bürgerrechtsbewegung auslöste. Wenn man die abweisenden Ge132

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sichter der weißen mit den fragenden Blicken der schwarzen Fahrgäste in Beziehung zueinander setzt und die daraus entstehende Spannung in den historischen Kontext der aufkommenden Unruhen und die realen Missstände dahinter einordnet, stellt Franks subtile Momentaufnahme eine Herausforderung an die Betrachter dar, die verschiedenen Blicke zu erwidern und dabei einen eigenen Standpunkt zu beziehen. Seinerzeit begreiflicherweise nicht unumstritten, gehört Franks fotografisches Œuvre heute zum visuellen Repertoire des 20. Jahrhunderts, was auch daran abzulesen ist, dass The Americans zu seinem 50. Erscheinungsjubiläum 2009 eine Ausstellung u. a. in der National Gallery of Art in Washington, D.C. gewidmet wurde. Frank war lediglich einer von 16 Fotografinnen und Fotografen, die bereits seit den späten 1930er Jahren gänzlich neue ästhetische Impulse in ihrer fotografischen Arbeit umsetzten und später als New York School-Fotografen bekannt wurden. Zu der lose assoziierten Gruppe gehörten unter anderem William Klein (*1928), Diane Arbus (1923-1971), Lisette Model (19011983), Richard Avedon (1923-2004), Leon Levinstein (1910-1988) und Weegee (1899-1968).16 Trotz teilweise erheblicher stilistischer Unterschiede einte diese Fotografinnen und Fotografen das Bestreben, in ihrer Arbeit mit möglichst vielen Konventionen, die sich bis dahin herausgebildet hatten, auf originelle Art zu brechen. Wo traditionelle Fotografie oft gestellt und beschönigend wirkte, experimentierten sie mit spontan oder sogar heimlich aufgenommenen Fotos, die sie überwiegend im Außenbereich und unter natürlichen Lichtverhältnissen aufnahmen. Es gab für sie dabei prinzipiell keine Tabus bzw. ihre Arbeit zielte genau darauf ab, diese zu brechen. Weegee etwa spezialisierte sich darauf, an Tatorte zu eilen, von denen er über Polizeifunk erfahren hatte, um die soeben Getöteten abzulichten und die Bilder an New Yorker Zeitungsredaktionen zu verkaufen, die sie dankbar in der Sensationspresse abdruckten. Durch die Publikation seines ersten Buchs Naked City im Jahr 1946 wurde Weegee nicht nur berühmt, sondern er inspirierte mit seinen Bildern der urbanen Unterwelt New Yorks auch Schriftsteller und Filmemacher zu sogenannten ›hard-boiled‹ Detektivgeschichten und zum Film Noir (vgl. Kapitel 3.4). Fotografie und Film erfüllen dabei eine ähnliche – und ähnlich untergründige – kulturelle Funktion: »Like film noir in the postwar period, [Weegee’s images] portrayed the criminal, the illicit, and the sensationalistic in a style full of deep blacks and brilliant flashlit whites, all contrast and no middle ground« (Goldberg und Silberman 148). Andere Fotografen in der Gruppe, wie zum Beispiel William Klein, Diane Arbus und Richard Avedon, waren neben ihrer kreativen Arbeit auch als kommerziell erfolgreiche Modefotografen tätig bzw. versuchten wie Klein, den Vorbehalten des elitären Kulturbetriebs trotzend beides miteinander zu verbinden (vgl. Friedl). Außerdem teilten mehrere Mitglieder der Gruppe das Bestreben, über die Fotografie hinaus in unterschiedlichen Medien wie Malerei und Bildhauerei zu arbeiten. Vor allem der sich seinerzeit herausprägende Stil des Abstract Expressionism und insbesondere das seit ca. 1950 von Jackson Pollock praktizierte »action painting« mit seinem Bemühen, anstelle von statischen Motiven Prozesse in Bilder umzusetzen, stellte für die Fotografen 16 Einen guten Überblick über die Geschichte und ästhetische Innovation dieser Fotografinnen und Fotografen bietet Jane Livingstons Einführung zu ihrem Band The New York School Photographs 1936-1963, 259-346.

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der New York School neue Maßstäbe für die eigene Arbeit dar (vgl. Livingston 259 und Kapitel 1.8). Diane Arbus gilt neben Robert Frank als diejenige unter den New York School-Fotografen, die sich am weitesten vom Mainstream entfernt und mit ihrer künstlerischen Vision die fotografischen Möglichkeiten am tiefsten ausgelotet hat (vgl. Livingston 334). Dabei kam sie den Menschen näher – oder ließ sie näher an sich heran – als seinerzeit irgendjemand sonst auf dem Gebiet der Porträtfotografie. Allerdings hatte sie offenbar kein großes Interesse an ›normalen‹ Menschen, sondern konzentrierte sich auf von ihr selbst sogenannte Freaks, beispielsweise Riesen oder Zwerge, Transvestiten, Nudisten oder Menschen mit Down-Syndrom – kurz: solche Menschen, die von vielen als ›abnormal‹, hässlich oder sogar beängstigend wahrgenommen werden. Livingston sieht in ihren Bildern demnach »a quality of visualized anxiety«, die Beobachtete mit ihrer Beobachterin verbinde (336). Durch den unverstellten und völlig unsentimentalen Fokus auf die Andersartigkeit ihrer Modelle kann Arbus’ Werk auf eine ähnliche Weise wie das von Frank als eine Art fotografischer Gegenentwurf zum gesellschaftlichen Konsens gelten. Und wie Frank zog auch Arbus’ Werk teilweise harsche Kritik auf sich, wie etwa den Vorwurf Susan Sontags, sie habe ihre Fotografie vornehmlich als Mittel benutzt, um sich zur eigenen Selbstverwirklichung über alle gebotenen physischen wie psychischen Grenzen auf Kosten ihrer Modelle hinwegzusetzen: »›Photography was a license to go wherever I wanted and to do what I wanted to do‹, Arbus wrote. The camera is a kind of passport that annihilates moral boundaries and social inhibitions, freeing the photographer from any responsibility toward the people photographed« (Sontag, Photography 41).

Offenbar – so zumindest Sontags Lesart – ging Arbus am Ende jedoch zu weit: »having trespassed certain limits, she fell in a psychic ambush, a casualty of her own candor and curiosity« (Photography 39). Arbus nahm sich 1971 nach langen depressiven Episoden das Leben, was ihr Werk über Nacht nur noch berühmter machte.17 Nachfolgende Fotografen lernten von Frank, Weegee, Klein und Arbus, ihre Kameras ohne zu zögern auf das ›andere‹ Amerika zu richten und Dinge abzulichten, die früheren Vertretern ihrer Zunft weder plausibel noch wünschenswert erschienen wären. Gleichzeitig wurde die Fotografie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zum nahezu allen zugänglichen, alltäglichen Medium, das durch seine Omnipräsenz sichergestellt hat, dass fotofreie Räume heute kaum mehr vorstellbar sind. Dank dieser wichtigen Neuerungen konnte die Fotografie ihren Stellenwert als primäres Bildmedium weiter behaupten. Um ihren Status als künstlerisches Medium aufrecht zu erhalten und sie zugleich in neue Richtungen weiter zu entwickeln, waren wiederum einzelne kulturelle Ereignisse maßgeblich, unter anderem die von John Szarkowski (1925-2007) 1967 für das Museum of Modern Art eingerichtete »New Documents«-Ausstellung. Szarkowski, der Edward Steichen als Leiter der fotografischen Abteilung des Museums 1962 abgelöst hatte, erreichte mit 17 Die letzte große Retrospektive von Arbus’ Werk mit dem viel sagenden Titel Revelations fand 2005 statt und war neben San Francisco und New York in Essen, London und Barcelona zu sehen.

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dieser Schau, dass die überkommene Aufteilung in Kunst- oder Alltagsfotografie endgültig aufgegeben wurde – eine Debatte so alt wie die Fotografie selbst – zugunsten eines Ansatzes, der stattdessen den individuellen Blick oder die Vision des Künstlers ins Zentrum rückte (vgl. Orvell, Photography 124). In der »New Documents«-Ausstellung waren Fotografien von Diane Arbus, Lee Friedlander (*1934) und Garry Winogrand (1928-1984) zu sehen, die Szarkowski als die führenden Fotografen einer neuen Generation ansah. Zwar waren alle drei durch Walker Evans’ dokumentarischen Stil und Robert Franks kritischen Blick auf die amerikanische Gesellschaft beeinflusst, aber Szarkowski betonte vor allem ihre unvoreingenommene Haltung, die er für ein entscheidendes Merkmal guter Fotografie hielt: »Their aim has not been to reform life, but to know it«.18 Garry Winogrands undatiertes Foto einer New Yorker Straßenszene macht deutlich, was diese Form der unvoreingenommenen Fotografie ausmacht: Aufgenommen mit einer kleinen Kamera auf 35-mm-Film, wirkt die Fotografie spontan und erinnert damit an die zeitgleiche Cinéma VéritéÄsthetik vieler Dokumentarfilme aus den 1960er Jahren (vgl. Kapitel 3.5):

Abb. 23: Garry Winogrand, Straßenszene in New York, ohne Datum. Der Fotograf ist mit seiner Kamera mitten im urbanen Treiben und greift in keiner Weise in das zufällige Geschehen ein. Auch scheint er nicht wählerisch zu sein, was den Bildausschnitt angeht – einmal abgesehen von den merkwürdig durch einen reflektierenden Sonnenschutz verdeckten Augen der zentralen Figur. Vielmehr nimmt der Fotograf auf, was sich gerade vor seiner Kamera ereignet, ohne dabei formale Aspekte sonderlich in den Vordergrund zu stellen. Das daraus resultierende Bild ist nicht beschönigend, aber auch nicht anklagend. Es scheint schlicht einen authentischen Eindruck geben zu wollen von einem Moment, wie er sich in einer Metropole wie New York zu jeder Zeit ereignen kann. Oder wie Winogrand selbst über seine Arbeit sagte: »I photograph to see what the world looks like photographed« (Orvell, Photography 125). In derselben Absicht, Fotografie zu fördern, die möglichst genau die Realität abbildet, setzte sich Szarkowski als Kurator für das gezielte Ankaufen und Ausstellen der Farbfotografie ein, die vom etablierten Kunstbetrieb bis 18 Diese Aussage Szarkowskis wurde in einer Pressemitteilung aus Anlass einer Friedlander-Retrospektive im Museum of Modern Art im Jahr 2005 abgedruckt.

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dahin weitgehend geschmäht worden war. Hier war insbesondere eine Ausstellung der Arbeiten von William Eggleston (*1939) aus dem Jahr 1976 von einschneidender Bedeutung. Am Schluss seines Standardwerks Photography Until Now, das mit einer auf den ersten Blick völlig unscheinbaren, einen verlassenen Hof im ländlichen Georgia zeigenden Farbfotografie Egglestons mit dem bezeichnenden Titel Plains, Georgia, 1976 endet, fasst Szarkowski die Aufgabe guter Fotografie wie folgt zusammen: »To avoid unnecessary misunderstandings, especially their own, most photographers of ambition and high talent would prefer today to serve no instrumental functions – no ›useful‹ goals. They wish simply to make pictures that will – if good enough – confirm their intuition of some part or aspect of quotidian life« (Szarkowski 293).

Für Eggleston mag dies zutreffen, allerdings hatte Szarkowski die Rechnung ohne die vielen Fotografinnen und Fotografen gemacht, die sich in den darauf folgenden Jahren und Jahrzehnten die Möglichkeiten der Fotografie auf ganz andere als die von ihm bevorzugte Art zunutze machten, und zwar vor allem als ein Medium des subjektiven Ausdrucks, oder anders gesagt: als ein Instrument zur (Selbst-)Inszenierung.

2.5 Fotografie als subjektives Medium: 1970-2000 Während sich die meisten Medienhistoriker bis in die 1980er Jahre auf die von Beaumont Newhall in seiner History of Photography nachgezeichnete ›objektive‹ Tradition bezogen, nach der die Fotografie mehr oder weniger ausschließlich der Repräsentation der Realität diene (vgl. Orvell, Photography 163), gaben der Kritiker und Publizist A.D. Coleman und weitere Mitstreiter bereits in den 1970er Jahren den Anstoß für eine Neuschreibung der Geschichte des Mediums. Statt der vermeintlich zwangsläufigen Objektivität der Fotografie stellten sie die lange ignorierte Tradition der subjektiven und fiktionalen Fotografie in den Vordergrund (vgl. Coleman). Bereits seit ihren Anfängen hing die große Popularität der Fotografie unter anderem mit ihrer Fähigkeit zusammen, etwa durch Mehrfachbelichtung, Colorierung oder Montage illusionäre Bilder zu erzeugen, die die realistischen Konventionen zugunsten dramatischer oder auch komischer Effekte aufgaben. Solche populären Bilder fanden ihre Fortsetzung in der Kino- und Fernsehunterhaltung des 20. Jahrhunderts (vgl. Orvell, Photography 165). Allerdings verschwand die subjektive Fotografie nie ganz von der Bildfläche, auch wenn die offizielle ästhetische Doktrin seit Paul Strand »straight photography« hieß. In den 1920er und 1930er Jahren kam sie im Kontext der surrealistischen Fotografie von Man Ray (1890-1976) und William Mortensen (1897-1965) wieder zum Vorschein. Um 1970 herum bezog sich dann eine ganze Reihe von jüngeren Fotografen, darunter Ralph Gibson (*1939), Les Krims (*1942) und Lucas Samaras (*1936) auf diese surrealistische Tradition und fing an mit Bildern zu experimentieren, die mit ihren traumhaften Szenarien verborgene, mystische Inhalte ans Licht brachten (vgl. Orvell, Photography 167). Samaras, der auch als Maler, Bildhauer und Performance-Künstler gearbeitet hat, benutzte hierfür zunächst vorzugsweise kleinformatige Polaroid-Sofortbilder, die er nach136

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träglich ähnlich wie früher die Piktorialisten behandelte, etwa durch Beschichten oder Bemalen, Zerkratzen, etc. Die entstandenen Bilder sind demnach Unikate und bewegen sich zwischen Fotografie und Malerei bzw. verbinden die Eigenschaften beider medialer Darstellungsweisen. Seine PhotoTransformations aus den frühen 1970er Jahren sind eigentlich Selbstporträts, die aber durch Komposition, Ausführung und insbesondere ihre Oberflächenstruktur über eine surreale Qualität verfügen und so weit über jede objektive Selbstdarstellung hinausweisen. Auf einem Foto aus dieser Serie ragt die Hand des Künstlers scheinbar aus dem Bild heraus und bewegt sich mit einer quasi-sakralen oder wahlweise gespenstischen Geste auf den Betrachter zu. Die Fotografie öffnet sich so hin zum dreidimensionalen Raum und kann mit dieser vieldeutigen Bewegung – zumindest in der Imagination – die Beschränkungen der Realität hinter sich lassen.

Abb. 24: Lucas Samaras, Photo-Transformation, 1973. Zu den am meisten beachteten Arbeiten in der ›fiktionalen Fotografie‹ gehört das Werk von Cindy Sherman (*1954), dessen Entwicklung von den späten 1970er Jahren bis in die Gegenwart reicht. Sherman hat sich zunächst auf Aufnahmen von sich selbst spezialisiert, die ebenfalls keine gewöhnlichen Selbstporträts, sondern Inszenierungen von bestimmten, aus der Populärkultur bekannten Frauenrollen sind. In einem New York Times-Interview von 1990 bekräftigte Sherman ihre ›unpersönliche‹ Haltung zu ihrer Arbeit: »I feel I’m anonymous in my work. When I look at the pictures, I never see myself; they aren’t self-portraits. Sometimes I disappear« (Collins). Ein eindruckvolles Beispiel für Shermans ›Verschwinden‹ hinter ihren Bildern ist die frühe Serie Untitled Film Stills (1977-1980) bestehend aus 69 Schwarzweißfotos, auf denen Sherman als Darstellerin in nachgestellten Szenen aus (fiktiven) Hollywood-Filmen unterschiedlicher Genres zu sehen ist (vgl. Abb. 25). Abgebildet ist eine junge, adrett zurechtgemachte Frau in Untersicht, die ihren Blick voller Sorge auf ein unsichtbares Ziel außerhalb des Bildes richtet. Typisch für Shermans Porträts ist, dass wir sie zu kennen meinen, ohne jedoch genau sagen zu können woher. Tatsächlich aber verweisen die Film Stills lediglich auf bestimmte Filmgenres und die für sie kennzeichnenden Frauenfiguren statt auf konkrete Filme. Das bedrohlich wirkende Großstadtszenario aus Film Still # 21 könnte etwa einer Verfolgungsjagd aus einem Gangsterfilm der 1940er Jahre entstammen, doch jede narrative Einordnung 137

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dieser Art bleibt letztlich Projektion. Deren subjektive Aussagekraft ist dabei die eigentliche Stärke von Shermans künstlerischem Konzept, von dem sie selbst gesagt hat: »I’m trying to make other people recognize something of themselves rather than me« (Color Vision and Art).

Abb. 25: Cindy Sherman, Untitled Film Still # 21, New York, 1978. In der feministischen Kritik ist die große Resonanz auf Shermans Werk damit begründet worden, dass uns die Fotokünstlerin stereotype weibliche Rollenvorgaben buchstäblich vor Augen führt bzw. zeigt, dass es keine ›essentielle‹ weibliche Identität, sondern lediglich gesellschaftlich festgeschriebene Rollen gibt, die Frauen in nahezu allen Kulturen regelrecht aufgezwungen würden. Dabei haben sich Shermans Inszenierungen in über dreißig Jahren zu immer artifizielleren (auch im Wortsinn, da sie in ihrem späteren Werk nicht mehr selbst Modell steht, sondern auf Plastikpuppen und künstliche Körperteile zurückgreift), expressiveren und oft gewaltsamen Verbrechensszenarien entwickelt, in denen nicht selten der partiell nackte weibliche Körper voyeuristisch ausgestellt oder gar zerstückelt erscheint. Entsprechend der Intention der Künstlerin sind gerade die späteren Werke auffällig unterschiedlich je nach Standpunkt des Betrachters oder der Betrachterin gedeutet worden; gängige Interpretationen reichen von der Darstellung männlicher Gewalt am weiblichen Körper bis zur Idealisierung einer wehrhaften Kriegerin, die sich allen patriarchalen Zuschreibungen notfalls durch Desintegration widersetzt (vgl. Zarzycka 161). Beinahe allen Lesarten ist jedoch gemeinsam, dass Shermans Fotografien als Repräsentationen eines dezentrierten, ›außer sich‹ geratenen Selbst verstanden werden. Dies erklärt zugleich ihren hohen Stellenwert innerhalb der postmodernen Kunst, die Sherman häufig in den theoretischen Kontext von Jean Baudrillards Konzept des Simulacrums stellt, wonach in der Postmoderne eine Unterscheidung von Original und Simulation nicht mehr möglich sei (vgl. Krauss, »Note« 22-24). Einen weiteren Grund für den ›Selbstverlust‹ in Shermans Werk sehen insbesondere feministisch argumentierende Kritikerinnen im Konstrukt des Blicks, der in westlichen Kulturen generell männlich kodiert sei, woraus sich ein subtiler Unterdrückungsmechanismus ableite, wie John Berger bereits 1972 argumentiert hat: »Men look at women. Women watch themselves being looked at. This determines not only most relations between men and women but also the relation of women to them-

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Die amerikanische Fotografie selves. The surveyor of woman in herself is male: the surveyed female. Thus she turns herself into an object – and most particularly an object of vision: a sight« (Berger 47).

Im Zentrum von Annie Leibovitz’ fotografischem Werk steht ebenfalls die (Selbst-)Inszenierung, doch ihre Arbeitsweise unterscheidet sich deutlich von Shermans. Sie lässt ihre Modelle posieren und dabei zu selbstbewussten Darstellern ihrer eigenen gesellschaftlichen Rolle werden. Ursprünglich hat Leibovitz in den 1970er und 1980er Jahren als Fotografin für das Rolling Stone Magazine gearbeitet, bevor sie 1983 Cheffotografin des CelebrityBlatts Vanity Fair wurde. Mit ihrer glamourösen Modefotografie und ihren Starporträts ist sie zu einer der gefragtesten und bestbezahlten Fotografinnen der Welt geworden, allerdings war sie nie unumstritten. Spätestens seit einige ihrer Bilder veritable Skandale produziert haben, wie beispielsweise die bekannte Aufnahme von der hoch schwanger und nackt posierenden Schauspielerin Demi Moore, die als Titelbild der Vanity Fair-Ausgabe vom August 1991 (Foto-)Geschichte geschrieben hat und seinerzeit in einigen US-Bundesstaaten zensiert wurde, gibt es Kritik an ihrem Konzept der fotografischen Inszenierung als öffentliche Provokation. Doch Leibovitz’ Karriere als Starfotografin – im doppelten Wortsinn – hat dies bisher keinen Abbruch getan, eher im Gegenteil. Neben ihrer Hochglanzfotografie hat Leibovitz immer wieder mit anderen Formaten experimentiert, und ihre Arbeiten sind regelmäßig in viel beachteten internationalen Kunstausstellungen zu sehen. Gemeinsam mit ihrer Partnerin Susan Sontag hat Annie Leibovitz zum Beispiel 1999 eine Ausstellung und einen begleitenden Fotoband mit dem schlichten Titel Women gemacht, die 150 Frauenporträts versammeln, worunter sich neben so bekannten Persönlichkeiten wie Hillary Rodham Clinton, Toni Morrison und Gwyneth Paltrow auch völlig unbekannte Frauen aus den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Bereichen befinden. In ihrer Einleitung betont Sontag, dass es ihnen darum gegangen sei, bewusst Gegenbilder zu den gängigen weiblichen Klischees zu zeigen, die nicht zuletzt durch die Medien verbreitet würden und in Anlehnung an Bergers Konzepts des männlichen Blicks eine Form patriarchaler Unterdrückung darstellen: »In this collection, we see women catering to the imperatives of looked-at-ness. We see women for whom, because of age or because they’re preoccupied by the duties and pleasures of raising children, the rules of ostentatiously feminine performance are irrelevant. There are many portraits of women defined by the new kind of work now open to them. There are strong women, some of them doing ›men’s jobs‹, some of them dancers and athletes with the powerful musculature that only recently began to be visible when such champion female bodies were photographed« (Leibovitz und Sontag 35).

Sontag ist zuversichtlich, dass mit Hilfe von solchen vielfältigen Frauenbildern, wie sie in Women zu sehen sind, neue gesellschaftliche Vor-Bilder und damit einhergehend neue Optionen für weibliche Geschlechterperformanz entstehen würden. Entsprechend unmissverständlich fordert sie auch in ihrem Einführungstext: »We want to have a plurality of models« (35). Die Funktion der fotografischen Inszenierung bei Leibovitz und Sontag ist folglich den Arbeiten von Sherman, deren Grundaussage eher verstörend oder anklagend als befreiend ist, diametral entgegengesetzt. Dennoch findet sich unter den 139

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›vorbildlichen‹ Frauen, die Leibovitz für Women fotografiert hat, auch ein Porträt von Cindy Sherman. Ihrem Credo entsprechend, in Porträtaufnahmen nach Möglichkeit zu verschwinden (s.o.), äußerte Sherman den Wunsch, »I’d like to hide if I can«. Leibovitz nahm diese Idee auf und versammelte zehn Frauen, die Sherman äußerlich ähnlich sehen, und ließ sie identisch in Schwarzweiß gekleidet vor einer weißen Studiowand in einer Reihe aufgestellt posieren (vgl. Ausschnitt, Abb. 26). In dieser Inszenierung, die bewusst auf alles Individuelle verzichtet, ist nur für Eingeweihte zu erkennen, bei welcher von den abgebildeten Frauen es sich um die berühmte Fotografin handelt, wodurch die eigentliche Funktion eines Porträts, d. h. in der Regel die Abbildung eines erkennbaren Individuums, unterminiert wird. Zugleich hinterfragt das »Cindy-Sherman-Gruppenporträt« vermeintlich eindeutige Geschlechterrollen, denn alle üblichen Zeichen ausgestellter Weiblichkeit wie Frisur, Kleidung, Körperhaltung etc. wirken hier extrem zurückgenommen, sodass man Sontag darin zustimmen kann, dass eine »ostentatiously feminine performance« in diesem Fall tatsächlich irrelevant erscheint – wenngleich das fotografische Œuvre von Sherman auf genau solchen offensichtlichen Inszenierungen von Weiblichkeit basiert.

Abb. 26: Annie Leibovitz, Cindy Sherman, Vandam Street Studio, New York City, 1992. Auch wenn Leibovitz’ und Sontags Projekt wichtige Anstöße zum Hinterfragen überkommener Geschlechterrollen gibt, sollte nicht übersehen werden, dass Leibovitz’ sonstige Arbeit und insbesondere ihre Modefotografie eher weibliche Klischees bedient statt sie zu unterminieren. Im selben Jahr, in dem die Ausstellung eröffnet wurde, machte Leibovitz eine Reihe von Fotografien für die Novemberausgabe der Vogue, in der auch ein Portfolio mit einigen Fotografien aus Women erschien. Ähnlich wie Ausstellung und Katalog sollte das Vogue-Heft, das als Millenniumsausgabe vermarktet wurde, »Women of the Twentieth Century« zelebrieren, und tat dies mit einem Titelbild von Leibovitz, auf dem die namhaften Top-Models der Jahrtausendwende versammelt waren (vgl. Abb. 27). Das Foto zeigt durchaus strukturelle Parallelen zum »Cindy-Sherman-Gruppenporträt« (Abb. 26), da auf beiden Bildern jeweils eine Gruppe von Frauen in ähnlichen Posen und ›Outfits‹ zu sehen ist, sodass in beiden Fällen der Eindruck von Konformität entsteht. Wo Leibovitz’ künstlerische Inszenierung von Sherman & Co. jedoch zu Kritik anregt, scheint das Vogue-Cover hegemoniale Vorstellungen von weiblicher 140

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Schönheit eher zu verfestigen, indem es den makellosen weiblichen ModelKörper zum erstrebenswerten Ideal erklärt. Wenn man die ungleich größere Verbreitung des Vogue-Titels berücksichtigt, liegt es nahe, Abigail SolomonGodeau zuzustimmen, die zu Bedenken gibt, »it may well be that the most insidious and instrumental forms of domination, subjugation, and objectification are produced by mainstream images of women [...]« (Solomon-Godeau 237). Ein besseres Verständnis allgegenwärtiger Repräsentationen von Weiblichkeit als Machtinstrument im weitesten Sinn erscheint demnach unerlässlich; die Offenlegung der fotografischen Fiktion in Leibovitz’ Porträts für Women war hierfür bereits ein viel versprechender Anfang.

Abb. 27: Annie Leibovitz, Titelbild für Vogue »Millennium Special«, New York, 10.9.1999. Während Sherman und Leibovitz vor allem mit Inszenierungen von Geschlechterrollen arbeiten, hat sich in den 1980er und 1990er Jahren eine ganze Reihe von Fotografinnen und Fotografen mit dem individuellen Körper und dessen Zur-Schau-Stellung in ihren Werken auseinander gesetzt, häufig mit Bezug auf gesellschaftlich relevante Themen wie zum Beispiel die Zugehörigkeit zu einer sozialen Schicht, zu bestimmten ethnischen oder sexuellen Minderheiten oder auch das Altern. Der Fotohistoriker John Pultz glaubt, dass die Hinwendung zum Körper mit dem Aufkommen einer neuen ›Körperpolitik‹ in diesen Jahren zusammenhängt, unter anderem ausgelöst durch die HIV/AIDS-Epidemie und die mit ihr einher gehenden Debatten darüber, was ›normale‹ oder ›abweichende‹ sexuelle Praktiken auszeichnet (vgl. 143169). Für eine kreative Auseinandersetzung mit solchen gesellschaftlichen Normen steht insbesondere das fotografische Werk von Nan Goldin (*1953). Die Künstlerin hat seit den späten 1970er Jahren ihr persönliches Umfeld im Stil von intimen Familienporträts aufgenommen, wobei sich viele ihrer Freunde und Bekannte in der New Yorker demi-monde bewegen, die bei ihr von Drogenabhängigkeit, sexueller Hörigkeit und Prostitution geprägt erscheint und Goldin offensichtlich magisch anzieht (vgl. Orvell, Photography 157). Den künstlerischen Durchbruch brachte ihr die zwischen 1980 und 1986 entstandene Diashow The Ballad of Sexual Dependency, die seither in zahlreichen Ausstellungen zu sehen war. 1996 folgte eine Einzelausstellung im Whitney Museum mit dem die Kultband Velvet Underground zitierenden Titel »I’ll be Your Mirror«, in der die Fotografin der ›normalen‹ Gesellschaft 141

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einen realistischen Spiegel ihrer häufig ausgeblendeten Ränder vorhält: »What I’m interested in is capturing life as it’s being lived, and the flavor and the smell of it, and maintaining that in the pictures« (zitiert in Orvell, Photography 157). Wie Orvell anmerkt, stellt sich Goldin mit ihrem Blick auf gesellschaftliche Randgruppen in eine Tradition mit den New York SchoolFotografen wie z. B. Diane Arbus und Robert Frank. Doch wo diese in ihren Arbeiten öffentliche Orte wie urbane Plätze und Straßen bevorzugten, zeigt Goldin aus großer Nähe die Innenräume einer prekären und in vielen Fällen gefährdeten Subkultur, wobei die so entstandenen intimen Porträts gerade in ihrer Aneinanderreihung als kollektives Porträt einer bestimmten Szene je nach persönlicher Disposition eine faszinierende oder bedrückende Wirkung haben können (vgl. Photography 158). Dies hängt damit zusammen, dass Goldins Blick auf ihre Modelle überwiegend liebevoll und voller Einfühlung ist, was den Eindruck großer Intimität erzeugt. Hierfür bietet das Porträt von Jimmy Paulette + Taboo! In the Bathroom (vgl. Abb. 28) ein gutes Beispiel: Zu sehen sind zwei junge Männer mit nackten Oberkörpern und in engem Kontakt miteinander. Die offensichtliche Homoerotik des Augenblicks wird zusätzlich dadurch unterstrichen, dass die beiden allem Anschein nach für eine drag-Performance zurecht gemacht sind, worauf auch der Name »Jimmy Paulette« hindeutet. In sogenannten Ballrooms der einschlägigen New Yorker Szene treten zumeist männliche Transvestiten in Wettbewerben um die beste Performance von glamouröser, zum Fetisch übersteigerter Weiblichkeit gegeneinander an, wie sie auch von Jenny Livingston in ihrem Dokumentarfilm Paris Is Burning (1990) festgehalten wurden (vgl. Kapitel 3.6). »Jimmys« Blick in die Kamera ist dabei voller Wärme und suggeriert ein enges Vertrauensverhältnis zur Fotografin; eine voyeuristische Distanz des Betrachters zu den Dargestellten, die zugleich Darsteller sind, wird so deutlich erschwert.

Abb. 28: Nan Goldin, Jimmy Paulette + Taboo! In the Bathroom, New York City, 1991. Eine vergleichbare Strategie visueller Repräsentation ›auf Augenhöhe‹ spricht auch aus der neuen subjektiven Fotografie von ethnischen Minderheiten seit den 1980er Jahren. Diese ist umso bedeutsamer vor dem Hintergrund der vermeintlich objektiven, häufig aber einseitigen, herabwürdigenden und aus heutiger Sicht rassistischen Bilder, die im 19. und frühen 20. Jahrhundert von nach ihrer ›Rasse‹ klassifizierten Minderheiten angefertigt und in Um142

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lauf gebracht wurden (vgl. Sekula 343-379). Die oben erwähnte »Family of Man«-Ausstellung von 1955 hatte hier bereits einen wichtigen Wendepunkt markiert. Spätestens seit der Bürgerrechtsbewegung hat sich die Darstellung von Minderheiten in den USA dann grundlegend geändert, wiederum vornehmlich vermittelt über das Medium der Fotografie. So haben sich unter anderem Roland Freeman (*1936), Debbie Fleming Caffery (*1948) und Eli Reed (*1946) auf die Aktivitäten innerhalb der afroamerikanischen Bevölkerungsgruppe konzentriert, der sie selbst auch angehören (vgl. Goldberg und Silberman 210). Andere Fotografen haben sich – ähnlich wie Goldin – auf eine spezielle Community (vgl. Kaplan) fokussiert und diese umso gründlicher in ihrem Werk beleuchtet, wie zum Beispiel Joseph Rodriguez (*1951), der hauptsächlich Jugendbanden im überwiegend von Latinos bewohnten Ostteil von Los Angeles fotografiert hat. Fotografinnen wie Carrie Mae Weems (*1953) und Lorna Simpson (*1960) hingegen betrachten sich als »artists who use photography« und weniger als Fotojournalisten (vgl. Goldberg und Silberman 210). Bei allen Unterschieden in Herangehensweise und Bildästhetik ist den hier genannten Fotografen gemeinsam, dass sie bestrebt sind, durch den subjektiven und vergleichsweise authentischen Blick eines Insiders auf die eigene ethnische Gruppe und über die Kontrolle ihrer visuellen Repräsentation kulturelle Selbstbestimmung zu erlangen (vgl. Goldberg und Silberman 211). F AMILIENBILDER Über die künstlerische Inszenierung von Identität und die politisch motivierte Repräsentation der eigenen sozialen und ethnischen Gruppe hinaus ist die Fotografie im Verlauf des 20. Jahrhunderts auch zu einem ›Familienmedium‹ geworden. Ein Bild von Familie – sowohl im konkreten wie übertragenen Sinn – wird in der Regel immer auch fotografisch (re)produziert. Mit der Einführung der Brownie-Kamera hatte die Firma Kodak bereits 1900 die für nahezu alle erschwingliche und einfach zu bedienende technische Ausstattung geliefert, und damit war die Entwicklung der Fotografie zum ›Ur-Medium‹ der Familie als kleinster gesellschaftlicher Einheit nicht mehr aufzuhalten. Fortan wurden Ereignisse wie Hochzeiten, Geburtstage und Reisen gewissenhaft dokumentiert und vorzugsweise in Fotoalben und später auch in Diashows zu Bildgeschichten über die damit auch für andere sichtbar werdende familiäre Prosperität ›verdichtet‹ (vg. Hirsch). Diese Praxis findet ihre nahtlose Fortsetzung in der inzwischen eher noch weiter verbreiteten digitalen Fotografie der Gegenwart, wobei immer häufiger Computerfestplatten und andere elektronische Speichermedien als virtuelle Alben genutzt und Fotos aus dem Familien- und Bekanntenkreis vermehrt über sogenannte soziale Netzwerke ausgetauscht werden. Eine andere aktuelle Variante ist das Phänomen der globalen Familienalben, wobei mit Hilfe einer elektronischen Datenbank digitale Bilder massenhaft gesammelt und einem Album ähnlich angeordnet und im Internet veröffentlicht werden. So hat zum Beispiel Lorrie Novak, Fotografin und Professorin für Bildwissenschaft an der New York University, seit 1996 ein interaktives, kollektives Fotoarchiv mit über 3000 Bildern und Geschichten angelegt, das sie auf ihrer Webseite Collected Visions veröffentlicht und mit Hilfe eingesandter Bilder und Texte laufend erweitert. Über die zu Grunde liegende Absicht Novaks und deren Bezug zu 143

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vergleichbaren früheren Fotosammlungen wie zum Beispiel der großen »Family of Man«-Ausstellung von 1955 schreibt Orvell scharfsichtig: »Novak’s intention in mounting this extended family album is to exploit the internet as a site of interaction among strangers who, using this vehicle, are willing to share their intimate memories with the world. Where Steichen had willed into being a ›Family of Man‹ from the collected visions of photographers around the world, Novak has opened the door to viewers to participate in the making of a giant virtual family album, and bring their own memories, pictures, responses« (Photography 156).

Wo Fotoalben herkömmlicher und digitaler Art überwiegend sogenannte spontane Schnappschüsse sowie posierte und häufig formelhafte Bilder aus dem persönlichen Umfeld versammeln, haben sich in den vergangenen Jahrzehnten auch vermehrt Künstler das Format für ihre eigene fotografische Arbeit angeeignet. Zu ihnen gehören neben der bereits erwähnten Carrie Mae Weems vor allem Richard Avedon, Emmet Gowin (*1941) und Sally Mann (*1951). Allen gemeinsam ist die Absicht, das ›objektive‹ Medium Fotografie durch einen höchst subjektiven und teilweise intimen Blick in die Privatsphäre zu transformieren (vgl. Orvell, Photography 146-151). Richard Avedon hat es verstanden, in seinem fotografischen Werk Modeund Porträtfotografie auf höchstem Niveau miteinander zu verbinden. Dabei betrachtete er ein Porträt nicht so sehr als ein Abbild einer Person – »a portrait is not a likeness« schrieb er im Vorwort des Ausstellungskatalogs zu seiner eindrucksvollen Porträtsammlung In the American West, 1979-1984 –, sondern ähnlich wie Leibovitz als eine Inszenierung, die auf einer Kooperation zwischen Fotograf und Fotografiertem basiert (vgl. Böger, »Facing«). Diese gerät umso enger, je näher sich beide stehen, und unübertroffen in ihrer kompromisslosen Direktheit sind demnach Avedons Porträtaufnahmen seines greisen und zusehends hinfälligen Vaters. Wie auch im Fall von In the American West kommt Avedon seinem Gegenüber sehr nah und erlaubt nicht, dass sich der Blick – sowohl der des Fotografierten als auch der des Betrachtenden – abwendet; in der direkten Konfrontation mit dem Leid eines anderen Menschen wird dem Betrachter entsprechend viel abverlangt (vgl. Orvell, Photography 147-148). Gleichzeitig sind diese Fotografien auch anrührende Gedächtnis-Bilder: Erstmals 1974 in der Ausstellung »Jacob Israel Avedon« im Museum of Modern Art ausgestellt, sind sie ein intimes Dokument von der Beziehung zwischen Sohn und Vater und zeigen die letzten Stationen in dessen Leben. Während Avedon ein möglichst genaues Porträt seines sterbenden Vaters anstrebte, ging Emmet Gowin mit seinen Familienporträts etwa zur gleichen Zeit eher in Richtung Illusion und Fantasie – seit jeher die große ›andere‹ Tradition in der Geschichte der Fotografie. Dies erreichte er hauptsächlich dadurch, dass er die Konventionen des Schnappschusses auf neue Weise auslegte und damit mal poetische, mal entlarvende Effekte erzeugte (vgl. Orvell, Photography 148-149). Im Vordergrund standen dabei immer die komplexen Emotionen, die bestimmte Szenen im Fotografen ausgelöst haben und die er versucht hat, in seinen Arbeiten zu visualisieren. Wie Sally Gall anmerkt: »It is Gowin’s willingness to confront mystery head on that draws us into his work«. So wirkt das Porträt Barry and Dwayne, Danville, Virginia, 1970 wie ein Bild gewordenes Rätsel: Wir erkennen eine Doppelgestalt, deren Gesich144

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ter sich gespenstisch unter einem Ganzkörpercape abzeichnen und die sich in einer verwunschenen Umgebung befindet. Atmosphärisch erinnert die Szene an ein Märchen oder einen Traum – mit ungewissem Ausgang.

Abb. 29: Emmet Gowin, Barry and Dwayne, Danville, Virginia, 1970. Wie Gowin hat Sally Mann zunächst vor allem ihre eigene Familie fotografiert, und wie er wechselte sie mit der Zeit zur Landschaftsfotografie über. Allerdings hat Mann ihre Familie viel kontinuierlicher abgelichtet; die Serie Immediate Family etwa entstand über den Zeitraum von zwölf Jahren (vgl. Orvell, Photography 149). Ihre bekanntesten und zugleich kontroversesten Bilder sind dabei Porträts ihrer Kinder, die sie häufig unbekleidet und mitunter in Posen zeigt, die von vielen als mehrdeutig oder sogar erotisch-provokativ empfunden werden, auch weil sie nicht ›natürlich‹, sondern von der Kamera diktiert erscheinen. Wie Orvell ausführt: »The body is, finally, Mann’s subject, its sensuous experience in the Southern heat of Virginia, its contacts with the earth and water, or with dead animals, and its knowing posturing before the camera’s eye« (Photography 150).

Abb. 30: Sally Mann, Fallen Child, 1989. In Fallen Child (vgl. Abb. 30) ist solch eine ›wissende Körperpose‹ klar zu erkennen. Das nackte Mädchen räkelt sich mit fotogener Lockenmähne im Gras, wobei einzelne Halme an ihrer feuchten Haut kleben bleiben. Voller Sinnlichkeit, irritiert zugleich die Mehrdeutigkeit der Fotografie, die zum einen auf die weit verbreiteten post-mortem-Fotografien toter Kinder im 19. Jahrhundert anspielt, gleichzeitig aber auch Konventionen erotischer Fotografie aufnimmt. Aufgrund seiner Ambiguität, die auch im Titel anklingt, wirkt 145

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das Bild verstörend: »[T]he photographer has enlisted her family in acts of collaboration that evoke with tenderness the difficult poetry of growing, living, and dying« (Orvell, Photography 150). Eine Art Gegenentwurf zum Werk Manns bildet Wendy Ewalds fotografische Arbeit mit Kindern. Vor über dreißig Jahren beschloss die vielfach ausgezeichnete Foto-Aktivistin, Kinder in ihrer Umgebung darin anzuleiten, selbst zu fotografieren, um auf diese Weise ihre realen Erfahrungen, Ängste und Träume auszudrücken und anderen mitzuteilen. Aus diesem Projekt sind eine Ausstellung und ein Buch mit dem Titel Secret Games: Collaborative Works with Children, 1969-1999 hervorgegangen. Die von den Kindern selbst angefertigten Bilder verfügen vielfach über eine beeindruckende Intensität und ästhetische Eigenständigkeit, wie in Janet Stallards Selbstporträt zu beobachten ist (vgl. Abb. 31). Inzwischen reist Ewald durch die ganze Welt, um Kindern unterschiedlichster Herkunft das Fotografieren als ein Mittel zur Selbstdarstellung beizubringen. Außerdem hat sie ein Alphabetisierungsprogramm entwickelt, das ähnlich funktioniert, indem es Kinder auf spielerische Weise dazu ermuntert, das Alphabet mit Hilfe selbst angefertigter und dann mit einzelnen Buchstaben beschrifteter Fotografien zu erlernen (vgl. Ewald).

Abb. 31: Janet Stallard, Kentucky, »I took a picture of myself with the Statue in the background« (ohne Datum), Fotoprojekt mit Wendy Ewald. Wendy Ewalds pädagogische Foto-Projekte ermöglichen eine seltene Umkehr der üblichen Hierarchie von Betrachter und Modell. Denn hier sind es die Kinder, die die Kontrolle über die Bilder – und damit auch über ihre Selbstdarstellung – haben.

2.6 Digitale Fotografie: 2000-heute Wenn man sich wichtige Veröffentlichungen zur Fotografie aus den letzten Jahren ansieht, könnte man meinen, das Medium sei am Ende. So beschließt beispielsweise Miles Orvell seine Einführung American Photography von 2003 mit einem Kapitel über »Post-photography«. Fred Ritchin geht 2009 sogar noch weiter, indem er sein Werk unmissverständlich After Photography nennt und damit impliziert, das Zeitalter der Fotografie sei definitiv abgeschlossen. Dem gegenüber stehen aber auch Bücher wie Stephen Shores Das 146

Die amerikanische Fotografie

Wesen der Fotografie. Ein Elementarbuch, ebenfalls von 2009, in dem der Autor, der in den 1970er Jahren mit kunstvollen Fotografien trostloser amerikanischer Provinzorte bekannt wurde, noch einmal ganz von vorne anfängt: »Eine Fotografie ist flach, sie hat einen Rand, und sie ist statisch; sie bewegt sich nicht« (zitiert in Werneburg 22). So grundlegend betrachtet gibt es kein Problem mit der Fotografie in der Gegenwart, auch wenn sich offensichtlich sehr viel seit der Einführung der Digitaltechnik bewegt und verändert hat. Die ersten kommerziell erhältlichen Digitalkameras waren Video-Bildkameras mit magnetischer Aufzeichnung der Bilddaten auf 2-Zoll-Disketten, die seit Mitte der 1980er Jahre von den Firmen Canon und Minolta hergestellt wurden. 1991 folgte Kodak mit dem eigentlichen ›Digital Camera System‹, wie es auch heute noch gebräuchlich ist. Seit Anfang der 1990er Jahre hat die Digital- die Analogfotografie zunächst allmählich, dann aber immer rasanter vom Markt verdrängt. Im Jahr 2006 titelte Richard Meusers aus Anlass der Fachmesse Photokina, die analoge Fotografie sei ein für alle Mal »am Ende«. 2007 machte der weltweite Absatz von Digitalkameras bereits über 90 Prozent aus, womit sich die Analogfotografie langfristig nur noch als Nischenprodukt in Liebhaberkreisen halten dürfte (vgl. Donath). Einen zusätzlichen Schub erhielt die Digitalfotografie dadurch, dass seit einigen Jahren immer mehr Mobiltelefone mit Kamera und entsprechender Speicherkapazität sowie Computer-Schnittstelle ausgestattet sind, wodurch das schnelle und unkomplizierte Aufnehmen, Übermitteln und Speichern digitaler Bilder – das Vorhandensein entsprechender technischer Ausstattung vorausgesetzt – so einfach ist wie nie zuvor. Angesichts dieser technischen Umwälzungen wurde vielerorts bereits vom Tod der Fotografie insgesamt gesprochen, bedingt durch den Verlust fotografischer ›Wahrheit‹, der mit der prinzipiellen Veränderbarkeit und der Manipulierbarkeit digitaler Bilder einhergehe. Goldberg und Silberman brachten das Problem 1999 so auf den Punkt: »The computer has certainly changed image making. From photography’s inception, it was possible to alter photographs, if only by hand painting, and to alter the reality of what the camera saw by staging it, but digitization has made mutation and even fabrication amazingly simple, swift, and hard to detect« (223).

Bereits kurz nach ihrer Einführung hatte die digitale Fotografie vehemente Kritiker oder vielmehr Warner auf den Plan gerufen, zu denen auch Fred Ritchin gehörte, der als Bildredakteur für das New York Times Magazine gearbeitet hat und inzwischen als Professor für Fotografie und Bildwissenschaft an der New York University tätig ist. »After only a few years’ experiences with this new computer technology«, schrieb er 1990, »one looks with some unease at the further development in electronics of still video cameras« (Ritchin, »Photojournalism« 35). Klarsichtig weist er auf zwei verwandte Probleme mit der neuen Technik hin: das Fehlen eines ›originalen‹ Fotodokuments und damit einhergehend die Schwierigkeit, den Ursprung eines Bildes zu verifizieren (35). In einem abschließenden, auch noch zwanzig Jahre später denkwürdigen Kommentar mahnt er die amerikanische Öffentlichkeit zu entsprechender Achtsamkeit:

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Astrid Böger »As readers [of images] we must remain vigilant. Otherwise, what as a society, and among societies, are we going to be left with as a form of communication that can be trusted? What information will people be able to rely upon to make decisions? Or, most precisely, what will the role of the press in a democracy be worth? If even a minimal confidence in photography does not survive, it is questionable whether many pictures will have meaning anymore, not only as symbols but as evidence. A government will be able to deny the veracity of images of torture victims, for example – and it may be difficult to prove otherwise« (Ritchin, »Photojournalism« 37).

Zwei Dekaden später wird ersichtlich, wie richtig Ritchin mit seiner Einschätzung lag – aber zugleich auch, wie sehr er die Möglichkeiten der neuen Technologie verkannte. Tatsächlich gibt es inzwischen zahlreiche Beispiele für fotografische Manipulationen, die zu teilweise eklatanten Fehleinschätzungen geführt haben, wovon eine der folgenreichsten die Entscheidung für den zweiten Golfkrieg 2003 aufgrund manipulierter bzw. irreführender Bilddokumente gewesen sein dürfte, welche die (kontrafaktische) Präsenz von Massenvernichtungswaffen im Irak beweisen sollten.19 In der Tat muss man Ritchin zustimmen, dass es sich hierbei um nichts Geringeres als einen kritischen Einschnitt in der Geschichte der Fotografie handelt, die spätestens seit diesem Zeitpunkt ihre Vertrauenswürdigkeit als primäres Beweismedium weitgehend eingebüßt hat. Auch beim Ausblick am Ende von Ritchins Mahnung von 1990 – »A government will be able to deny the veracity of images of torture victims« – stellen sich sogleich historische Assoziationen ein, die es erlauben, seine Bedenken zu überprüfen. Im Mai 2004 gerieten zunächst spärlich, dann aber in immer größerer Zahl digitale Aufnahmen von Folterungen an die Öffentlichkeit, die amerikanische Soldaten und Mitarbeiter privater Sicherheitsdienste von ihren Opfern im irakischen Gefängnis Abu Ghraib angefertigt und zum Teil an Familienmitglieder und Bekannte zu Hause verschickt hatten (vgl. Walsh). Angesichts der unaufhaltsamen Bilderflut war es der damaligen USRegierung eben nicht möglich, die Authentizität der Bilder zu leugnen. Auch gelang es ihr trotz anfänglicher Versuche nicht, die skandalösen Bilder zu zensieren; vielmehr gerieten sie bald an die Öffentlichkeit, wurden immer wieder im In- und Ausland sowie im Internet veröffentlicht und so schließlich zu einem entscheidenden Faktor im Vorfeld der Kongresswahl von 2008, die bekanntlich das vorläufige Ende der neo-konservativen Vorherrschaft in der US-amerikanischen Politik mit sich brachte. Mit einem Abstand von zwanzig Jahren muss man Ritchin also Recht geben in Bezug auf seine Bedenken, was die deutlich eingeschränkte Beweiskraft digitaler Bilder und Möglichkeiten ihrer Manipulation betrifft. Auf der anderen Seite hat er die Macht digitaler Bilder klar unterschätzt. Im Fall besagter Abu Ghraib-Skandalfotos haben wir es sowohl mit erweiterten Folterinstrumenten zu tun – denn Folterakte zu fotografieren und die Fotos wie Trophäen weiterzugeben kann nur eine zusätzliche Demütigung für die Opfer bedeuten – als auch mit Dokumenten einer völlig aus dem Ruder gelaufenen, da Gewalt sanktionierenden Außenpolitik; die Bedeutung der Abu Ghraib19 Vgl. die vor dem UN-Sicherheitsrat vom damaligen US-Außenmininster Colin Powell Anfang Februar 2003 vorgelegten Satellitenbilder und seine Erläuterungen (»Weapons of Mass Destruction«).

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Die amerikanische Fotografie

Fotografien als Mittel öffentlicher Meinungsbildung kann dabei gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Dies räumte auch Susan Sontag 2004 in ihrem wütenden Essay »Regarding the Torture of Others« ein, der wie ihr ein Jahr zuvor erschienenes Buch Regarding the Pain of Others ihre frühere, negative Haltung zur Veröffentlichung grausamer Bilder revidiert. Nicht zuletzt durch die rasante Verbreitung dieser verstörenden Bilder im Internet (»unstoppable«) und die vehementen Reaktionen in der ganzen Welt hat sich gezeigt, dass die Fotografie im digitalen Zeitalter ihre Rolle als demokratisches Medium keineswegs eingebüßt hat; sie ist eher noch wichtiger geworden. Demgegenüber wird die Rolle des klassischen Fotojournalismus immer unwichtiger bzw. randständiger. Dies machte ein Artikel in der New York Times im August 2009 mit der plakativen Überschrift »Lament for a Dying Field: Photojournalism« überdeutlich. Darin beschreibt der Autor David Jolly, wie drastisch in den vergangenen Jahren Medienunternehmen die Mittel für professionelle fotojournalistische Berichterstattung zusammengestrichen haben, was die meisten Fotoagenturen an den Rand des Ruins treibt. Ohnehin hat im Fotojournalismus, dessen Geburtsstunde viele in den Bürgerkriegsfotografien von Brady & Co. ausmachen, eine so starke Marktkonzentration stattgefunden, dass inzwischen nur noch zwei dauerhaft konkurrenzfähige, global agierende Bildagenturen übrig geblieben sind, das MicrosoftTochterunternehmen Corbis und Getty Images. Vor die Wahl gestellt, entweder einen Journalisten zu verpflichten, über ein Ereignis ›live‹ zu berichten, oder sogenannte ›stock images‹ gegen eine Gebühr von einer Bildagentur zu beziehen, entscheiden sich immer mehr Verlage aus Kostengründen für die zweite Option. Corbis und Getty Images sind voll digitalisierte Online-Datenbanken; herkömmliche Fotoarchive wie z.B. das Bettman Archive, von Corbis 1996 aufgekauft, werden nur zum Teil, und zwar nach strikt kommerziellen Prioritäten digitalisiert – mit erheblichen Folgen für das kulturelle Gedächtnis, das so immer lückenhafter wird.20 Was die Zukunft analoger Fotografie und herkömmlich produzierter fotografischer Bilder betrifft, besteht durchaus Anlass zur Annahme, dass sie über kurz oder lang von der Bildfläche verschwinden werden. Aber anders als in der frühen Phase nach der Einführung der neuen Technologie fällt der Blick auf die digitale Fotografie heute um einiges positiver aus. In seinem neuen Buch macht Ritchin den folgenden Versuch einer Ausleuchtung der verschiedenen medialen Möglichkeiten der Gegenwart: »Eventually, digital photography’s relationship to space, to time, to light, to authorship, to other media will make it clear that it represents an essentially different approach than does analog photography. It will also become clear that to a large extent this emerging cluster of strategies will be forever linked with others as a component in the interactive, networked interplay of a larger metamedia. This new paradigm, which has yet to fully emerge, can be called ›hyperphotography.‹ The digital photograph, unlike the analog, is based not on an initial static recording of continuous tones to be viewed as a whole, or teased out in the darkroom, but on creating discrete 20 Eine wissenschaftliche Untersuchung mit verschiedenen Beiträgen zum Bildgedächtnis und seiner Vermittlung über Datenbanken haben Johannes Kirschenmann und Ernst Wagner im Jahr 2006 vorgelegt.

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Astrid Böger and malleable records of the visible that can and will be linked, transmitted, recontextualized, and fabricated« (Ritchin, After 141).

Obwohl Ritchin nicht leugnet, dass sich die Fotografie in einem krisenhaften Umbruch befindet, zeigt er auch neue Perspektiven für eine mediale Praxis auf, die er in Anlehnung an das seit einigen Jahrzehnten gebräuchliche Hypertext-Verfahren ›Hyperfotografie‹ nennt. Ein bekanntes Beispiel für das, was damit gemeint sein könnte, stellt die Fotosammlung Here Is New York: A Democracy of Photographs dar. Unmittelbar nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 taten sich vier junge New Yorker zusammen und riefen ihre Mitbürger auf, Fotos von den Ereignissen einzusenden, mit der Absicht, einen Kontext für ihre leidvollen Erfahrungen jenseits der immer gleichen und als unzureichend empfundenen Nachrichtenbilder zu schaffen. Sie waren überzeugt, dass keine einzelne Bildikone die Ereignisse angemessen wiedergeben konnte; vielmehr sollten möglichst viele verfügbare Bilder im Zusammenhang gezeigt werden (Shulan 9). Nur zwei Wochen später waren bereits tausende Fotos unterschiedlicher Formate eingegangen. Von jedem (anonym bleibenden) Einsender hatte man mindestens ein Bild ausgewählt und eine Ausstellung im Süden Manhattans organisiert, die nach einigen Monaten als Wanderausstellung um die Welt ging. Gleichzeitig wurde eine Webseite eingerichtet, über die man die digitalisierten Bilder für je $ 25 kaufen konnte, wobei der Erlös wohltätigen Zwecken zufloss.21 Etwa ein Jahr später schloss die New Yorker Galerie, und auch der Online-Bildverkauf wurde eingestellt; im Anschluss kam ein Buch mit etwa 1000 ausgewählten Fotografien heraus, dessen Verkaufserlöse ebenfalls gespendet wurden. Vieles an der Sammlung Here Is New York ist bemerkenswert. Für die Entwicklung der Fotografie hin zu dem, was Ritchin als Hyperfotografie bezeichnet, ist entscheidend, dass hier nicht etwa das individuelle Bild oder der Wahrheitsanspruch seines jeweiligen Urhebers im Vordergrund steht, sondern die Vernetzung sehr vieler Bilder zu einer kollektiven Struktur der Teilhabe. Deren Effektivität wurde durch die Aktivierung und Verknüpfung unterschiedlichster medialer Kontexte erreicht, von der Galerieausstellung über das Online-Bildarchiv zum traditionellen Buch, sowie durch den Einbau verschiedener interaktiver Prozesse wie das Einsenden und den Ankauf von Bildern. Miles Orvell ist zuversichtlich, dass damit traditionelle Beschränkungen der Fotografie obsolet geworden sind: »[T]he very effort to move the record beyond the professional documentary or news photographer to this broad array of picture makers expresses not only the inescapable significance of the event but also the democratization of photography both as a medium of communication and as a means of coming together« (Photography 215).

Orvells Einschätzung wird bestätigt durch Ereignisse, die seither weltweites Aufsehen nicht zuletzt durch die Omnipräsenz digitaler Bilder im Internet und in der Folge auch in den traditionellen Medien erregt haben, wofür im Juni 2009 die Proteste im Iran und insbesondere der ikonisch gewordene, gewaltsame Tod von Neda Agha-Soltan ein eindrucksvoller Beleg waren.

21 Die seit 2009 nicht mehr funktionierende Adresse lautete .

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Allerdings bleibt abzuwarten, ob die Demokratisierung der (Hyper-)Fotografie auch eine Demokratisierung der Gesellschaft nach sich zieht. D IGITALE

FOTOKUNST

Dem krisenhaften Umbruch von Analog- zu Digitalfotografie mit allen erdenklichen Konsequenzen für den Wahrheitsanspruch und das demokratische Aufklärungspotential des Mediums gegenüber steht die große und stets wachsende Akzeptanz der (digitalen) Fotografie als Kunst. So gibt es heutzutage kein nennenswertes Kunstmuseum, das nicht auch über eine fotografische Sammlung verfügte, und die Fotokunstkette LUMAS hat sich seit Mitte der 1990er Jahre darauf spezialisiert, frei nach Susan Sontags Motto »Fotografien sammeln heißt die Welt sammeln« kaufwillige Menschen mit erschwinglichen Bildeditionen zu Foto-Globetrottern zu machen (vgl. LUMAS). Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass eine 2008 erschienene, einhellig positive Würdigung der Gegenwartsfotografie von einem Kunsthistoriker stammt und den euphorisch-programmatischen Titel trägt Why Photography Matters as Art as Never Before. In dem über vierhundert Seiten starken und üppig in Farbe bebilderten Band argumentiert Michael Fried, dass die Fotografie der Gegenwart im Prinzip diejenigen kulturellen Funktionen übernommen habe, die früher Malerei und Bildhauerei erfüllten. Einmal mehr nimmt er damit das alte Problem der medialen Konkurrenz zwischen der Fotografie und den früheren Künsten auf, um sich sodann mit Nachdruck für die Fotografie als künstlerisches Leitmedium der Gegenwart auszusprechen. Dabei konzentriert er sich auf eben jene Fotografinnen und Fotografen, die auch bei Museumsleitungen derzeit hoch im Kurs stehen, darunter neben dem Kanadier Jeff Wall (*1946) und dem Japaner Hiroshi Sugimoto (*1948) vor allem die Deutschen Bernd (1931-2007) und Hilla (*1934) Becher und ihre Schüler Andreas Gursky (*1955), Thomas Struth (*1954), Candida Höfer (*1944) und Thomas Ruff (*1958) sowie Thomas Demand (*1964), der während seiner Studienzeit an der Düsseldorfer Kunstakademie ebenfalls durch die Becher-Schule geprägt wurde. In seiner theoretisch anspruchsvollen Diskussion konzentriert sich Fried vor allem auf die großformatigen Farbtableaux der jüngeren Generation von Fotografen, denen er attestiert, dass sie durch ihre Monumentalität und überbordende Detailfülle eine zeitlose Gegenwart produzieren, in der sich der Betrachter regelrecht verlieren könne – für Fried zugleich Hauptqualitätsmerkmal moderner Kunst (vgl. 2-4; 26-27). Nach Frieds Einschätzung nimmt das fotografische Werk von Bernd und Hilla Becher eine zentrale Position in der Kunst des 20. Jahrhunderts ein (3), da es auf eine neue und beispiellose Weise bis dahin wenig beachtete Realitäten zum Vorschein bringt und so dem Betracher ermöglicht, diesen bewusst gegenüber zu treten. Ihr seit den 1960er Jahren entstandenes Gemeinschaftswerk umfasst vor allem ausgesprochen sachlich konzipierte, mit analogen Großformatkameras aufgenommene Schwarzweiß-Fotografien von Industriebauten, die sie zu sogenannten ›Typologien‹ zusammenfügten. Damit nichts von den eigentlichen Strukturen ablenkt, benutzten sie durchweg die Zentralperspektive und legten Wert auf Menschenleere sowie ein gleichmäßiges, natürliches Licht möglichst ohne Schatten. Schon früh wurde das Werk der Bechers der fotografischen Konzeptkunst und genauer der Neuen Sachlich151

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keit zugeordnet; zugleich markiert es den Beginn der Industriedenkmalkultur in Deutschland, für die sie sich nachhaltig eingesetzt haben. Jedoch vor allem ihre künstlerische Absicht, die Dinge für sich selbst sprechen zu lassen, hat der Fotografie weit über die ›Becher-Schule‹ hinaus entscheidende Impulse gegeben. Deutliche Parallelen finden sich etwa im fotografischen Werk von Larry Yust (*1930), der verwandte ästhetische Interessen verfolgt. Seine »Photographic Elevations« oder Foto-Aufrisse zeigen ebenfalls in direkter Aufsicht die möglichst unverstellte Realität urbaner Räume: »A Photographic Elevation is made by moving in a line parallel to the face of the subject – walking on the opposite sidewalk of a Los Angeles street, or crouching at the rail of a Vaporetto traveling down the Grand Canal in Venice and snapping overlapping shots, with the camera always aimed directly at the subject on a line perpendicular to its face« (vgl. Yust).

Yusts Bilder sind in gewisser Weise die Fortsetzung des ›typologischen‹ Ansatzes der Bechers mit digitalen Mitteln. Denn sie zeigen zwar die Dinge ebenfalls möglichst direkt und unverstellt, gleichzeitig aber auf eine Weise, wie wir sie mit bloßem Auge nicht wahrnehmen könnten – und dadurch vielleicht sogar ›wirklicher‹ als in der Realität. Jedes Bild besteht nämlich aus dutzenden oder sogar hunderten Einzelbildern, die Yust mit Hilfe eines Bildbearbeitungsprogramms am Computer zusammengefügt hat. So sieht man beispielsweise im Fall von Western Avenue, Los Angeles (vgl. Abb. 32) die abgebildeten Gebäude so, als ob man ihnen jeweils direkt gegenüberstünde, mit anderen Worten, es handelt sich um eine Aneinanderreihung von einzelnen Objekten, die nacheinander in Zentralperspektive aufgenommen wurden, d. h. ohne die perspektivischen Verzerrungen, die etwa bei einer Panoramaaufnahme durch den fixen Standort der Kamera entstehen würden. Außer dem Zusammenfügen der Einzelbilder nimmt Yust nach eigenen Aussagen keine weiteren Manipulationen des fotografischen Materials vor; seine Arbeit sind demnach ähnlich puristisch wie die der Bechers.22 Yust selbst nennt vor allem Ansel Adams als ein großes Vorbild. Wo Adams sich allerdings auf seine technische Perfektion verlassen musste und jedes seiner berühmt gewordenen Bilder ein umfangreich nachbearbeitetes Unikat darstellt, verweist Yust auf die »unendlich besseren« Möglichkeiten, welche die digitale Bildbearbeitung ihm bietet und gibt unumwunden zu, dass seine Art der Fotografie – die er nur ungern Kunstfotografie nennt, da dieser Begriff ihrem dokumentarischen Charakter nicht gerecht werde – ohne diese Bildbearbeitung nicht möglich wäre. Mit Adams (und den Bechers) teilt Yust die Absicht, möglichst genaue Abbilder der Realität zu schaffen, nicht zuletzt, um fotografisch festzuhalten, was in Wirklichkeit permanenten Veränderungsprozessen unterliegt und vom Verschwinden bedroht ist – gleich ob es sich um vermeintlich unberührte Naturlandschaften (Adams), ausgediente Industriestätten (Bechers) oder eine kommerzielle Straße in der Mega-City Los Angeles (Yust) handelt. So gesehen sind ihre fotografischen Werke Ver-

22 Alle Informationen zu seiner Arbeitsweise hat Yust der Autorin in einem Telefoninterview am 9. September 2009 gegeben.

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suche der Konservierung und angefüllt von einer gewissen Nostalgie für die Dinge in ihrer jeweiligen, sich verflüchtigenden Zeit. Yust ist sich vollkommen sicher, dass die Zeit der Analogfotografie abgelaufen ist (»Film no longer exists. Film is a dinosaur«). An seinen »fotografischen Aufrissen« lässt sich gut erkennen, wie sich einige der wichtigsten Strömungen in der Fotografie unter digitalen Bedingungen weiter entwickelt haben. Sie zeigen auch, wie Fotografie unser Sehen verändern und den Blick schärfen kann. Außerdem machen sie deutlich, wie irrelevant die Unterscheidung von Kunst- oder Dokumentarfotografie zu Beginn des 21. Jahrhunderts geworden ist. Jenseits solcher Zuschreibungen geht es darum, das Medium Fotografie als das zu begreifen, was es immer schon gewesen ist und auch in Zukunft bleiben wird: ein Angebot, die Welt besser wahrzunehmen.23

23 Ich möchte mich an dieser Stelle bei Jasmin Seck vom Hamburger »Haus der Photographie« für die Bereitstellung einiger wichtiger Werke zur amerikanischen Fotografie bedanken, bei Jan D. Kucharzewski für die Unterstützung beim Erstellen des Manuskripts sowie bei Alexander Meier-Dörzenbach und Susanne Scharf für ihre konstruktive Lektüre. Herwig Friedl gebührt mein herzlicher Dank für die stete Ermutigung, die Fotografie nicht aus dem Blick zu verlieren.

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Abb. 32: Larry Yust, Western Avenue, Los Angeles, 2003. © Larry Yust, mit freundlicher Genehmigung des Künstlers.

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3. Der amerikanische Film CHRISTOF DECKER »The Photoshow is the best school in the world in which to study human nature. Not only are the pictures themselves a good mirror of conditions that are and were, but the audiences are like a sensitized photoplate which takes every impression.« The Motion Picture Story Magazine (1911)

3.1 Einleitung Tränenreiche Dankesreden, exquisite Kleider, witzige Moderationen, Stars, die auch im Alter noch jugendlich und sexy wirken: Für viele Menschen sind die jährlich wiederkehrenden Oscar-Preisverleihungen der Inbegriff des Hollywood-Glamour. Als man sie in den späten 1920er Jahren einrichtet, sind sie zunächst als Public Relations-Maßnahme gedacht. Einer durch Drogenskandale in Verruf geratenen Industrie sollten sie zu besserem Ansehen und höherem kulturellen Status verhelfen. Mit den Jahren wurden sie dann zu jener ritualisierten Form der kollektiven Selbstfeier, die die Einzigartigkeit, aber auch die Eigenartigkeit der Hollywood-Community veranschaulicht. Bei den ›Oscars‹ präsentiert sich der amerikanische Film als hochgradig spezialisiertes Zusammenspiel kreativer Kräfte: Regie, Produktion, Schauspieler, Kamera, Schnitt, Ausstattung, Sound-Design, Musik, Spezialeffekte und vieles mehr müssen koordiniert werden, damit ein Ganzes entstehen kann. Diese kreativen, in Dachverbänden organisierten Kräfte wollen – trotz der Kommerzialität Hollywoods – am Ideal des Künstlers oder zumindest des kunstschaffenden Handwerkers gemessen werden. Darüber hinaus zeigen die Preisverleihungen zwei weitere Seiten: das utopische Versprechen einer neuen Kultur, die auf Jugendlichkeit und Individualismus beruht, auf körperlicher Attraktivität und Popularität – ein Versprechen, das seit den 1920er Jahren mit Hollywood assoziiert und bei der glamourös-modebewussten Inszenierung der ›Oscars‹ immer wieder aufs Neue bekräftigt wird. Aber auch das Gegenstück dieser Fantasie: die Selbstdarstellung einer Industrie, die hermetisch und künstlich wirkt, abgeschottet von anderen Kunstbereichen (ganz zu schweigen von gesellschaftlicher Realität), und die mit einer untergründigen Angst versehen ist, man könnte sie für weniger anspruchsvoll halten als Literatur, Theater oder Musik. Hinter dem Spektakel der Oscar-Preisverleihungen stehen demnach bereits zahlreiche Spannungsfelder und kulturgeschichtliche Fragen, die den amerikanischen Film zu einem äußerst faszinierenden und vielschichtigen 161

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Phänomen machen. Wobei zu betonen ist, dass unter der Bezeichnung ›amerikanischer Film‹ in diesem Kapitel eine große Bandbreite filmischer Formen verstanden werden soll: neben fiktionalen Spielfilmen, die an ganz unterschiedlichen Orten (also nicht nur in einem kleinen Stadtteil von Los Angeles namens ›Hollywood‹) sowie unter ganz unterschiedlichen Bedingungen entstanden sind, auch Animationsfilme und nicht fiktionale Formen. Obwohl das Hollywood-Kino zweifellos die öffentliche Wahrnehmung dominiert, lässt sich der amerikanische Film – national wie international – nur als interdependentes Ensemble unterschiedlicher Filmkulturen und -formen angemessen darstellen. Zum besseren Verständnis sollen einleitend einige Merkmale von Spiel-, Dokumentar-, Experimental- sowie Animationsfilmen stichpunktartig genannt werden, die es im weiteren Verlauf im Sinn einer funktionalen Differenzierung von Gattungen und Genres zu vertiefen gilt (andere Bereiche, die zu einer nationalen Filmkultur gehören, etwa Industriefilme, werden nicht berücksichtigt). • Der Dokumentarfilm entsteht in den 1920er Jahren und ist eine faktuale Erzählung, die ihre Autorität durch den Bezug auf die außerfilmische Wirklichkeit erhält. Das Filmmedium wird als Realitätsspeicher verstanden, mit dem Aussagen über Wirklichkeit oder Geschichte verbürgt, dokumentiert oder appellativ untermauert werden können – auch wenn es in der berühmten Definition von John Grierson nur eine kreative, sprich: künstlerisch-ästhetische Bearbeitung von ›Wirklichkeit‹ sein kann. Das Verhältnis zwischen Filmmedium und Realität ist komplex, aber zwei zentrale Anliegen kennzeichnen den Dokumentarfilm: Er problematisiert zum einen Wirklichkeit(en) und das Verständnis von Wirklichkeit, zum anderen stellt er eine Auseinandersetzung über Geschichte dar; er ist gleichermaßen eine Geschichtsintervention wie -konstruktion. Unterschiedliche Ausprägungen dieser ›Konstruktion‹ – etwa expositorische, beobachtende, interaktive, performative oder reflexive Formen – haben sich historisch herausgebildet (vgl. Nichols). • Der Experimentalfilm (in seiner ersten Phase ab den späten 1910er Jahren häufig als Film-Avantgarde bezeichnet) betont im Unterschied zur Wirklichkeitsreferenz des Dokumentarfilms die Selbstreferenz des Mediums. Seine Experimente beziehen sich zum einen auf Prozesse der Wahrnehmung und Erfahrung, wie sie durch den Rückbezug auf die Materialität des Mediums oder formale Verfahren aktiviert werden können. Darin ähnelt er der modernen Kunst. Zum anderen gelten die Experimente alternativen Erzählformen, die im Hollywood-Film keinen Eingang finden, weil sie ihn subversiv unterlaufen (Surrealismus, Underground Film) oder andere expressive Ziele verfolgen – etwa den ›lyrischen‹ Ausdruck einer Künstlerin oder eine nicht lineare Erzählform. • Der Animationsfilm verknüpft unterschiedliche visuelle Darstellungstraditionen (Bildergeschichten, Comics, Puppenspiel) mit der Bewegungsillusion des Filmmediums. Er bringt in den 1920er Jahren mit den Anfängen des Disney-Studios eine höchst einflussreiche Ästhetik hervor und wird zur bevorzugten Gattung des vollständig digitalisierten Kinos. • Der Spielfilm verweist mit seinen Bildern und Tönen auf fiktionale, imaginäre Welten. Er ist als Erzählsystem organisiert, das bestimmten Konventionen und historischen Normen folgt. Für das sogenannte ›klassische‹ 162

Der amerikanische Film

Hollywood-Kino (ab den späten 1910er Jahren) werden die starke dramaturgische und stilistische Geschlossenheit sowie die allgemeinverständliche Nachvollziehbarkeit der Erzählungen betont, die einen weltweit wirksamen Standard etablieren. Ein typischer Hollwoodfilm schafft ein in den jeweiligen Genregrenzen plausibles Kontinuum von Raum und Zeit, dem die Zuschauer ohne Mühe folgen können und das ihnen ein bestimmtes Vergnügen bereiten soll. Dieses besondere (dabei kontrovers diskutierte) Vergnügen speist sich neben dem konkreten Akt des Kinobesuchs häufig aus alltagsnahen, aber auch aus spektakulären oder spannenden Geschichten, die durch die Transparenz der Vermittlung, Ökonomie der Mittel und durch ihre schiere Geschwindigkeit beeindrucken. Modernität, Alltagsnähe, Körperlichkeit und treffender Ausdruck des Zeitgeistes werden dem amerikanischen Spielfilm seit den 1920er Jahren immer wieder attestiert. Sie hängen eng mit der Dominanz populärer Genres, dem Star-System sowie dem Vorherrschen einer ›kommerziellen Ästhetik‹ (Maltby) zusammen, der man die production values (die investierten Finanzmittel) ansehen soll. Neben der Schaffung (unzähliger) imaginärer Welten trägt der Spielfilm zur kulturellen Selbstverständigung in zweierlei Hinsicht bei: Er reflektiert zum einen Umgangsformen zwischen Individuum und Gesellschaft sowie die ihnen zugrundeliegenden Wertvorstellungen, zum anderen thematisiert er (unablässig) das Streben nach Glück und dem guten Leben. Historisch hat man ein spektakuläres Kino der Attraktionen von einem stärker konventionsgebundenen Kino der Narration unterschieden (vgl. Gunning). Nicht zu vergessen ist, dass der Spielfilm in Zeiten des Medienumbruchs, der Medienkonkurrenz oder -konvergenz auch hochgradig selbstbezüglich sein kann. Neben den beiden idealtypischen Polen des spektakulären Effekts und der regelgebundenen Erzählung muss daher auch die Selbstreferenz Beachtung finden. Für die Analyse der unterschiedlichen Filmgattungen haben sich drei konzeptionelle Bereiche bewährt, die das Spezifische des amerikanischen Kinos über seinen gesamten Entwicklungszeitraum hinweg ergründen helfen. Sie werden mit den Begriffen ›Kino als Institution‹, ›Filmästhetik‹ und Film als ›kulturelle Selbstdefinition‹ den roten Faden des vorliegenden Kapitels darstellen. Damit sind zwei Vorannahmen verbunden: Zum einen kann Filmgeschichte nicht nur eine Geschichte von Filmen oder von Filmästhetiken sein. Dafür ist das Phänomen Film oder genauer gesagt, das Phänomen Kino als Resultat technologisch-industrieller, kulturpolitischer oder ökonomischer Faktoren zu komplex. Filmästhetik muss demnach immer auf den Kontext ihres Produktionssystems und auf ihre kulturellen Funktionen bezogen werden. Zum anderen können derartig breit angelegte Begriffe nur im Sinn eines Spannungsfeldes gedacht werden, das ein weit gefächertes, häufig widersprüchliches Spektrum an Möglichkeiten aufweist, aber zu keinem Zeitpunkt seiner historischen Entwicklung auf eine dieser Möglichkeiten reduziert werden kann. Um ein Beispiel zu nennen: Man hat Hollywood häufig vorgehalten, dass es aufgrund seiner kommerziellen Ausrichtung, d. h. aus Selbsterhaltungsgründen, die negativen Seiten des Kapitalismus verharmlost hat. Auch wenn dieser Aspekt der ›kulturellen Selbstdefinition‹ immer wieder zu beobachten war, gab es keine Periode, in der nicht auch gegenläufige Ten-

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denzen bestanden hätten und in einzelnen Produktionen Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen geäußert wurde. Kurz, mit den drei konzeptionellen Bereichen, die im Folgenden genauer charakterisiert werden, verbindet sich eine Analyse von Spannungsfeldern oder ›Feldkräften‹ (Bourdieu), deren historische Entwicklung keiner monokausalen Logik folgt. Es soll daher zunächst um eine möglichst präzise Beschreibung ihrer jeweiligen Konstellationen gehen – ihres Verhältnisses von Produktionsweisen, ästhetischen Formen und gesellschaftlichen Machtverhältnissen – und in einem zweiten Schritt um mögliche Erklärungen für diese Konstellationen. Damit folgt das vorliegende Kapitel einer deskriptiven und explikatorischen (erklärenden) Filmgeschichtsschreibung, die ihren Gegenstand anhand von bestimmten Leitfragen erschließt (vgl. Bordwell und Thompson, »Doing«). Sie lauten in ihrer einfachsten Formulierung: 1. Welche Wechselwirkungen bestehen zwischen den ästhetischen Konventionen des amerikanischen Films und seinem institutionellen Kontext? 2. Welche kulturellen Funktionen charakterisieren den amerikanischen Film? Und 3. Welche kulturgeschichtliche Bedeutung nimmt das Filmmedium damit im Umfeld der vielfältigen visuellen, audiovisuellen oder literarischen Erzählformen ein? Thomas Elsaesser und Warren Buckland haben das HollywoodKino als »American art par excellence« bezeichnet; es stelle eine neue kulturelle Form dar, die für das 20. Jahrhundert den Triumph des ›amerikanischen Jahrhunderts‹ belege: »the twentieth century was the American century, and its cinema – its film genres, stars and stories – most consistently enchanted a public, an international public« (4). Doch obwohl man seit dem Ersten Weltkrieg von einer mittlerweile fast hundert Jahre währenden Dominanz des amerikanischen Films ausgehen kann, ist diese kulturhistorische Bedeutung voller Brüche und Widersprüche, die es im Folgenden darzustellen gilt. D AS K INO

ALS I NSTITUTION

Mit dem ersten Themenfeld ›Kino als Institution‹ ist die grundsätzliche Frage gemeint, welche Faktoren für eine spezifische Filmpraxis besonders einflussreich sind und wie sie mit Kultur und Gesellschaft insgesamt in Wechselwirkung stehen. Betrachtet man das Kino als ›Institution‹, geht man davon aus, dass alle Schritte von der Herstellung über den Vertrieb bis zur Aufführung von Filmen in einer organisierten Form ablaufen. Der Grad dieser Organisiertheit kann einfach oder komplex, spontan oder regelgesteuert, zufällig oder systematisch sein, aber sie ist in jedem Fall Ausdruck eines kulturellen Arrangements, das als Institution bezeichnet werden kann. Dies gilt in besonderer, ja konstitutiver Weise für den Film, da er ohne ein industriell-technisches Fundament nicht existieren würde und sich sein ästhetischer oder thematischer Wandel daher nur mit Bezug auf die Entwicklungsgeschichte seiner institutionellen Organisation erklären lässt. Zu den wichtigsten Faktoren dieser Organisation gehört der Produktionsmodus (mode of production), der häufig auch als Produktionssystem bezeichnet wird. Hierzu zählen Filmtechnologien und die Arbeitsorganisation der einzelnen kreativen Prozesse sowie das System der Finanzierung und ökonomischen Verwertung. Jenseits der Produktion ist auch der Vertrieb von Filmen auf Institutionen angewiesen, und schließlich findet ihre Aufführung an Orten statt, deren Entstehung beispielsweise durch Zusammenarbeit von 164

Der amerikanische Film

Investoren, Architekten, Stadtplanern und Behörden ebenfalls in einem zumeist hochgradig organisierten gesellschaftlichen Umfeld stattfindet. Die sogenannte ›vertikale Integration‹ des Studiosystems, als ein Studio wie MGM sowohl den Produktionsmodus, die Vertriebswege und die Aufführungsstätten kontrollieren konnte, führt alle Merkmale des Kinos als ›Institution‹ an einem (allerdings hoch komplexen) Punkt – eben dem Filmstudio – zusammen. Doch gilt es, für die amerikanische Filmgeschichte die Vielfalt der Organisationsformen in ihrer Gesamtheit zu betonen. Als modernes Medium stellt der Film traditionelle Vorstellungen von Kunst auf eine neue Grundlage: Er beruht auf einem profitorientierten und arbeitsteiligen Produktionssystem, das die ›Frankfurter Schule‹ in den 1940er Jahren als ›Kulturindustrie‹ bezeichnet. Aber neben dieser industriellen Form hat es immer auch alternative Produktionspraktiken gegeben: den experimentellen Bastler, den passionierten Amateur, die multimediale Künstlerin, das Filmkollektiv, das ›Mini-Studio‹ des Autorenfilmers. Ob ein Film arbeitsteilig von vielen Spezialisten geschaffen wird wie im Studiosystem, oder ob eine Einzelperson die wichtigsten Produktionsschritte selbständig durchführt, hat zu heftigen Diskussionen über den Status seiner ›Autorschaft‹ geführt. Ist es, wie Thomas Schatz in The Genius of the System argumentiert, ein ›geniales‹ System, das die Hollywood-Ästhetik hervorbringt, oder gibt es herausragende ›Autoren‹ mit individueller Handschrift, wie es die Autorentheorie postuliert (Cook, Cinema Book 387-483)?1 Wer ist dann für den Filmstil verantwortlich: Regie oder Drehbuch, Kameraführung, Schauspiel oder Musik? In diesem allgemeinen Sinn verstanden, verbirgt sich hinter der Frage nach dem ›Produktionsmodus‹ die Einsicht, dass Filmästhetik ohne die systemische Logik ihrer Produktionsweise nicht historisierbar ist. Wie David E. James (3-28) argumentiert, schreibt sich das Produktionssystem in die Ästhetik eines Films ein, und damit werden auch die in den Produktionsverhältnissen wirksamen gesellschaftlichen Machtverhältnisse erkennbar. Den Spezialeffekten des neuesten Blockbuster-Films kann – und soll – man ihre Herkunft aus einem hoch spezialisierten Bereich der Hightech-Industrie ebenso ansehen, wie sich in home movies ihre bescheidenen Mittel und ihre Amateurhaftigkeit einschreiben. Wie für die anderen beiden Themenbereiche gilt, dass der Begriff des Kinos als ›Institution‹ in jeder historischen Periode im Plural verstanden sein will. Es gibt zumeist dominierende Vorstellungen, welcher Produktionsmodus als besonders professionell – und damit als historische Norm, als Orientierung und Gradmesser für andere Filme – gilt, aber es lassen sich immer auch gegenläufige Praxen beobachten, die zum Mainstream häufig in kreativer Opposition stehen und an den ›Rändern‹ des Produktionssystems alternative filmische Formen und Produktionsweisen entwickeln. Der Dokumentarfilmer Richard Leacock hat beispielsweise immer wieder eine falsch 1

Zu den kompakten und empfehlenswerten Überblicksdarstellungen von Pam Cook und Geoffrey Nowell-Smith sowie den ebenfalls äußerst ergiebigen Bänden der History of the American Cinema-Serie der University Press of California tragen zahlreiche Autorinnen und Autoren bei. Der Einfachheit halber werden im Folgenden nur die Herausgeber bzw. die für die jeweiligen Bände verantwortlich zeichnenden Autoren genannt. Ein empfehlenswertes enzyklopädisches Nachschlagewerk zu Personen und Fachbegriffen hat Ephraim Katz verfasst.

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verstandene Vorstellung von Professionalität angeprangert und demgegenüber – wie die Filmavantgarde insgesamt – das Amateurhafte aufgewertet, weil es ihm spontaner und lebensnäher erschien. Aber der Kontrast zwischen Produktionszentrum und -rand geht darüber hinaus: Spannungsfelder lassen sich innerhalb des Studiosystems beobachten (etwa zwischen A- und B-movies), zwischen unterschiedlichen Industriebereichen wie dem IndependentFilm und dem Hollywood-Kino, aber auch auf internationaler Ebene zwischen markt- oder subventionsgesteuerten Produktionssystemen. Die Analyse des Kinos als ›Institution‹ berücksichtigt diese Relationen und ihre je spezfische Art der ›Einschreibung‹ in die Filmästhetik in synchroner wie diachroner Hinsicht (im Sinn eines historischen Quer- oder Längsschnitts). Die Produktion, der Vertrieb und die Aufführung können als primäre Ebene des Kinos als ›Institution‹ gelten. Sie stehen auf einer sekundären Ebene in konstanter Wechelwirkung mit anderen politischen und kulturellen Institutionen, die in der gesamten Kino- und Filmgeschichte versucht haben, auf die primäre Ebene Einfluss zu nehmen. Gerade die Anfänge des amerikanischen Films fallen in eine Zeit – die sogenannte »Progressive Era« –, als man bemüht ist, kulturelle Kommunikation an politisch motivierten Zielen, etwa der Amerikanisierung von Immigranten, auszurichten. Das Kino erscheint dank seiner industriell-technischen Basis nicht nur als Inbegriff einer Massenkultur, die auf ähnliche Weise und zeitgleich an unterschiedlichen Orten rezipierbar ist, es schafft auch einen neuen Modus des regulatorischen Eingriffs durch politische oder kulturpolitische Kräfte. Mit anderen Worten, die primäre Ebene des Kinos als ›Institution‹ ist häufig eng verzahnt mit sekundären Institutionen, und es gilt, ihre lange, häufig komplizierte gegenseitige Beeinflussung zu untersuchen. Damit kann deutlich werden, dass die Frage nach dem ›Kino als Institution‹ neben der Analyse von Produktion und Rezeption auch den zentralen Ansatzpunkt für periodisch wiederkehrende Diskussionen bildet, welches Kulturverständnis man mit dem Film als neuer Form von Unterhaltung und Kunst verbindet. Ohne Zweifel ist der amerikanische Film für die Emergenz einer modernen, weltumspannenden Populärkultur mitverantwortlich, die sich an ein möglichst großes Publikum wendet und diesem in der Konkurrenzdynamik eines kommerziellen Marktes die Auswahl der kulturellen Objekte und damit auch den Grad ihrer Popularität überlässt. Doch ist dies bei genauerer Betrachtung ein recht vielschichtiger Prozess, und es ist bei weitem nicht die einzige Vorstellung von Kultur, die es in der Geschichte des amerikanischen Films gegeben hat. Unterschiedliche soziokulturelle Kräfte, darunter das Publikum, Bildungseinrichtungen, Zensurbehörden oder Hüter traditioneller Werte, tragen dazu bei, dass mit dem Film ein neuer Kampf um kulturelle Legitimität beginnt. Darüber hinaus zeigt sich das Kulturverständnis einer Filmpraxis in der ästhetischen Erfahrung, die ein Film anbietet oder möglich macht. Das Hollywood-Kino wird nicht zuletzt deshalb so stilprägend, weil es neben der Ansprache eines heterogenen, multiethnischen Publikums eine Filmästhetik entwickelt, die auf Nachvollziehbarkeit und Zugänglichkeit ausgelegt ist. Den packenden Erlebnissen der Alltagshelden möglichst unmittelbar folgen zu können, wird zum Erfolgsrezept der amerikanischen Populärkultur, aber auch zum Ausgangspunkt für gegenläufige – etwa reflexive oder experimentelle – Erzählformen. Das Kulturverständnis einer Filmpraxis lässt sich dem166

Der amerikanische Film

nach aus einer je spezifischen Modellierung von Kommunikation herauslesen: einem Angebot, mit Filmen ästhetische, affektive oder intellektuelle Erfahrungen zu machen. Häufig hat man das Hollywood-Kino hinsichtlich dieser Modellierung weniger mit Populärkultur als mit Massenkultur assoziiert, einem zumeist negativ konnotierten Konzept, das für den Niedergang der abendländischen Kultur verantwortlich gemacht wurde (vgl. Macdonald). Mit Massenkultur verbanden ihre Kritiker die Profitorientierung der Produzenten, ein ›Herunterziehen‹ der Hochkultur, die kurzfristige Gratifikation von Zuschauerbedürfnissen oder die allgemeine Einbuße an Qualität (vgl. Gans 1966). Doch mittlerweile ergibt sich ein differenzierteres Bild, das die – verglichen mit früheren Jahrhunderten – unvorstellbare Ausweitung populärkultureller Formen und Angebote als stetigen (wenngleich nicht unumstrittenen) Demokratisierungsprozess versteht. Stellvertretend sei hier der amerikanische Soziologe Herbert J. Gans genannt, der sich in den 1960er Jahren um eine weniger normative Analyse von Populärkultur bemüht. Ohne Kunst von Unterhaltung, Freizeit oder Konsum genauer abzugrenzen, unterscheidet er zwischen ›Geschmackskulturen‹ (taste cultures) und ›Geschmacksöffentlichkeiten‹ (taste publics). Für eine taste subculture gilt, dass sie über Standards von kulturellen Objekten verfügt, die sie für ästhetisch wertvoll hält, ohne dass damit bereits ein allgemeines oder allgemeingültiges Qualitätsurteil verbunden wäre. Eine taste public ergibt sich, sobald unterschiedliche Menschen ähnliche Produkte aufgrund ähnlicher ästhetischer Vorlieben auswählen. Beide Phänomene, Geschmackskulturen wie Geschmacksöffentlichkeiten, lassen sich nach Gans sowohl im Bereich der Populärkultur als auch der Hochkultur beobachten. Strukturell unterscheiden sie sich daher nicht – anders als die Gegner der Massenkultur behaupten –, aber sie sind auch nicht identisch. Der Hauptunterschied zwischen den kulturellen Schichten, die Gans in sechs Gruppen (von der lower-lower culture bis zur creator-oriented high culture) ausdifferenziert, besteht vielmehr in dem stark abweichenden Bildungsgefälle. Sein Fazit ist demnach nicht die Verteufelung von Massenkultur, sondern ein Plädoyer für größere Bildungschancen und damit für eine größere Bandbreite an Wahlmöglichkeiten, die Menschen zur Verfügung stehen sollten. Gans vertritt damit einen kultursoziologischen Ansatz, der neben dem Bemühen um größere Differenziertheit veranschaulicht, dass die Frage nach dem Kulturbegriff einer Filmpraxis immer auch ein kulturpolitisches Anliegen ist. Gegen die Kritiker der Massenkultur wendet er ein: »The sociological analysis of popular culture makes it possible to look at the popularculture critique in a different light. Such an analysis suggests that popular culture is composed of varying taste cultures and publics that in both structure and function resemble high culture and its public. All of them have aesthetic standards that reflect their cultural backgrounds and needs, and all of them seek to express these standards in their cultures. They differ only because differing backgrounds have caused them to develop different aesthetic standards« (598).

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F ILMÄSTHETIK Der zweite Themenbereich, der einen roten Faden dieses Kapitels bilden wird, ist die Filmästhetik. Sie umfasst die grundsätzliche Frage, welche gestalterischen Mittel einen Film kennzeichnen und welches Angebot einer ästhetischen Erfahrung damit für das Publikum gemacht wird. Auch wenn unter Ästhetik traditionell das Schöne oder Künstlerische verstanden wird, soll sie hier in einem umfassenderen Sinn gebraucht und – wie erwähnt – immer in Relation zu den institutionellen oder systemischen Bedingungen des Kinos sowie zu ihrer Funktion für eine ›kulturelle Selbstdefinition‹ verstanden werden. Aus welchen formalen Bausteinen ein Film zusammengesetzt ist und wie diese aufeinander bezogen sind, lässt sich auf einer ersten, grundsätzlichen Ebene als Design eines Films beschreiben. Die Wahl eines Objekts, die Entfernung der Kamera zum Geschehen, die Perspektive auf das Geschehen, die Entscheidung, die Kamera zu bewegen oder nicht – allein anhand dieser nur auf wenige Aspekte der Kamera bezogenen Möglichkeiten kann deutlich werden, dass das Film-Design bei genauerer Analyse ein hochkomplexes ästhetisches Gebilde darstellt und man seine sorgfältige Untersuchung erlernen muss. Für den amerikanischen Film hat sich der Neoformalismus von Kristin Thompson und David Bordwell als hilfreicher Ansatz erwiesen, um Konstruktionsprinzipien filmischer Formen erkennen und beschreiben zu können. Auf der Design-Ebene unterscheiden sie vier große Bereiche: Miseen-scène, Bildgestaltung (cinematography), Montage und Ton. Mit Mise-enscène ist die Inszenierung des Bildraums gemeint, die aus dem Zusammenspiel von Ausleuchtung, Setting, Kostümen, Platzierung der Figuren im Raum u. a. entsteht. Hierbei werden viele Elemente des Films aus dem Theater übernommen und adaptiert. Die Bildgestaltung umfasst alle Entscheidungen, die hinsichtlich zentraler Filmtechnologien wie der Kamera getroffen werden und auf die Komposition der Einstellungen – des Bildkaders – einwirken: Filmmaterial, Seitenverhältnis, Objektive, Entfernung zum Objekt (Einstellungsgröße), Perspektive, Bewegungen der Kamera etc. In der Montage werden Einstellungen bzw. Bildsequenzen in eine Abfolge gebracht, die räumliche und temporale Verhältnisse definiert oder rhythmische und grafische Muster entstehen lässt. Schließlich spricht der Film neben der visuellen auch die akustische Ebene an, für die es gilt, zwischen Geräuschen, Stimme oder Musik zu unterscheiden sowie das Verhältnis zwischen Bild- und Tonspur zu bestimmen (vgl. Bordwell und Thompson, Film Art, Krützen). Jeder Film lässt sich mit diesen Kategorien als Design-Objekt beschreiben, das nach bestimmten Prinzipien zusammengesetzt ist, und jeder Film erreicht seine Wirkungen aufgrund der im Design angelegten und im Rezeptionssprozess aktivierten ästhetischen Vermittlung. Doch für die ›Filmästhetik‹ werden diese Prozesse nicht nuf auf der basalen Ebene gestalterischer Einzelmerkmale untersucht, sie lassen sich zu größeren formalen und stilistischen Einheiten zusammenfassen. Filme, die in bestimmter Hinsicht gemeinsame Merkmale aufweisen, werden Gruppen zugeordnet: Bordwell und Thompson unterscheiden zwischen narrativen oder nicht narrativen Formen, andere Klassifikationen greifen auf Gattungsbegriffe wie Spiel-, Dokumentar- und Experimentalfilm zurück und differenzieren diese hinsichtlich unterschiedlicher Genres aus. Die Filmnarratologie untersucht, wie fiktionale 168

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Geschichten mit filmischen Mitteln erzählt werden, wie es also zu dem Eindruck einer (mehr oder weniger) kohärenten und nachvollziehbaren Ereigniskette kommt. Oder sie widmet sich nicht-fiktionalen bzw. faktualen Erzählungen, die im Dokumentarfilm überwiegen. Auch experimentelle Formen, die im Sinn des Neoformalismus vor allem abstrakten oder assoziativen Gestaltungsprinzipien folgen, lassen bestimmte Gemeinsamkeiten erkennen. Neben Filmdesign und gattungsspezifischen Formen der Erzählung, Rhetorik oder nicht narrativen Gestaltung gehört zur ›Filmästhetik‹ auch die Stilgeschichte. Hier steht die Frage im Vordergrund, wie innerhalb eines institutionellen Systems kreative Entscheidungen getroffen werden, die ästhetische Parameter festlegen und die es dann sowohl synchron (mit zeitgleichen Filmen) als auch diachron (in ihrer Entwicklungsgeschichte) einzuordnen gilt. Dies trifft auf alle Filmästhetiken zu und ließe sich für einen Western wie High Noon (Fred Zinnemann, 1952) ebenso untersuchen wie für Roger and Me (1989) von Michael Moore. Entscheidend für die Stilgeschichte ist die Frage nach historischen Gestaltungskonventionen oder -normen, denen ein Film entspricht oder von denen er sich absetzt – oder die er durch radikale Innovation auf eine neue Grundlage stellt. Aus der Vorstellung vom Kino als ›Institution‹ resultiert, dass kreative Prozesse in großem Maß regelgesteuert sind und Konventionen folgen, beispielsweise wie man in einem Studiofilm der 1930er Jahre ein Gespräch aufnimmt und montiert. Wenn diese Konventionen allgemein anerkannt sind und in der täglichen Praxis reproduziert werden, nehmen sie einen normbildenden Charakter an: Sie sind der Maßstab, an dem die Praxis anderer Filmästhetiken gemessen wird. Für den amerikanischen Film wird häufig zwischen einem Gruppenstil und einem Individualstil unterschieden. So zeichnen sich die Filme bestimmter Studios durch einen wiederkehrenden Look, einen Studiostil aus, und da man diesen aufgrund der starken Arbeitsteilung nicht mehr auf Individuen zurückführen kann, spricht man von einem Gruppenstil. Demgegenüber hat es immer auch im Film Bemühungen gegeben, traditionelle Vorstellungen von Kunst als kreative Autonomie umzusetzen. Viele Filmästhetiken jenseits von Hollywood halten an diesem Ideal eines individuellen Ausdrucks und Stils fest, aber auch innerhalb des Hollywood-Gruppenstils hat man Möglichkeiten einer individuellen Handschrift aufgezeigt. Angesichts der vielen kreativen Kräfte ist das Spektrum möglichst weit anzusetzen: Individualstil kann sich auf einen Regisseur (wie Frank Capra) beziehen, aber auch auf Filmkomponisten (Bernard Herrmann), Produzenten (David O. Selznick), Drehbuchautorinnen (Anita Loos), Kameraleute (Gregg Toland), Schauspielerinnen (Bette Davis) und viele andere Gruppen. K ULTURELLE F UNKTIONEN

DES

K INOS

Die dritte Analysekategorie dieses Kapitels versteht Filme als Bestandteil einer kulturellen ›Selbstdefinition‹ (häufig auch kulturelle ›Selbstverständigung‹ genannt). Damit ist zum einen gemeint, dass die filmästhetischen Angebote vom Publikum ganz unterschiedlich aufgenommen und verstanden werden können. Im Prozess der Rezeption treffen sie auf individuelle Erfahrungs- und Erwartungshorizonte, auf unterschiedliche Niveaus der Rezeptionskompetenz und auf ein breites Spektrum an taste cultures. Die Wirkung von Filmen ist daher sehr vielfältig und kann nur annäherungsweise durch 169

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(mitunter mühsame) Rekonstruktion historischer Quellen bestimmt werden. Zum anderen versucht man aber auch, die ›kulturelle Selbstdefinition‹ aus den Themen und Figuren, den Darstellungsformen und Konfliktlösungen der Filme selbst zu bestimmen. Wie Literatur oder Theater wird das Kino als Forum populärer Fantasien oder faktualer Erzählungen verstanden, mit denen eine Gesellschaft versucht, ihre Werte und ihr kulturelles Selbstverständnis zu definieren. Gerade dem Film sagt man häufig einen kollektiven, in besonderem Maß öffentlichkeitsbezogenen Charakter nach. Das diesem Kapitel vorangestellte Motto stammt beispielsweise aus der Zeitschrift The Motion Picture Story Magazine. Darin findet sich eine Kolumne, in der ein anonymer Photoplay Philosopher über die Bedeutung des neuen Mediums reflektiert. In der Ausgabe vom November 1911 hebt er den besonderen Wirklichkeitsbezug des Films sowie die ›aisthetische‹, alle Sinne aktivierende Empfänglichkeit des Publikums für das neue Medium hervor. Dann merkt er ein weiteres Charakteristikum an: »And, too, the picture makers seem to have their finger on the public pulse; they are very near to the people. They know, for example, that race prejudice is just so strong that it would never do to let a black villain conquer a white hero, nor the Indians to defeat the cowboys« (»Musings« 146). Diese Einschätzung veranschaulicht, wie eng das amerikanische Kino seit seinen Anfängen mit gesellschaftlicher Wirklichkeit in Verbindung gebracht wird, indem man ihm nachsagt, im Positiven wie im Negativen unmittelbar mit populären Affekten kurzgeschlossen zu sein. Auch das ist ein zentrales Kennzeichen kultureller Selbstverständigung, wobei bis heute umstritten ist, ob dieses Kennzeichen eine Reaktion des Kinos auf bereits bestehende Affekte darstellt, oder ob diese mit ihrer filmischen Darstellung überhaupt erst heraufbeschworen werden – eine Frage, die zumeist an Gewaltdarstellungen entwickelt wurde. Tatsächlich trifft häufig sicherlich beides zu, denn das Kino schafft einen neuen Modus, wie Prozesse der Sozialisation unter den Bedingungen einer Massenkultur ablaufen. Bis in die 1950er Jahre (als das Fernsehen hinzukommt) prägt es Rollenbilder und Verhaltensmodelle, die für den Prozess der individuellen und kollektiven Selbstwahrnehmung eine exemplarische Bedeutung annehmen können. Nicht zuletzt der – periodisch wiederkehrende – öffentliche Druck, bestimmte Inhalte einer normativen (und idealisierten) Vorstellung des richtigen und guten Verhaltens anpassen zu müssen, belegt die Annahme, dass das Kino als neue Instanz der kulturellen Sozialisation verstanden wird. In diesem Sinn werden Filmen wichtige kulturelle Funktionen zugesprochen. Dies gilt zwar bereits für Literatur, Theater und andere Formen populärer Unterhaltung wie minstrel shows und Vaudeville, aber das Kino steht als genuines Massenphänomen und durch die intensivierte Visualität unter besonderer Beobachtung. Es gibt unzählige potentielle Funktionen, die Filme erfüllen können, aber die Diskussion hat sich vordringlich mit Mythen und Ideologien der amerikanischen Selbstwahrnehmung auseinandergesetzt. Als Prämisse dieser Diskussionen gilt, dass die filmische Darstellung gesellschaftlicher oder kultureller Werte – selbst in Produktionen, die vordergründig auf harmlose Unterhaltung ausgelegt erscheinen – häufig widersprüchlich und mit widerstreitenden Bedürfnis- oder Affektqualitäten erfolgt. Die kulturelle Definition von Werten findet dabei in zwischenmenschlichen Interakti170

Der amerikanische Film

onsprozessen statt, für die Dietrich Schwanitz (am Beispiel des Theaters) den Begriff der »Interaktionsprogramme« vorgeschlagen hat (99-129). Darunter versteht er Formen der Interaktion zwischen Individuen und Gruppen, die das Publikum aus Alltagssituationen wiedererkennt und mit denen soziale Kommunikation simuliert wird: Rituale, Intrigen, Konflikte, Manieren, Täuschungen oder das Spiel im Spiel (die Verdoppelung der Beobachterposition in der Diegese). Um regelabhängige ›Programme‹ handelt es sich nach Schwanitz, weil sie durch »Eingrenzung der Themen, der prinzipiellen Einteilung des Ablaufs, der vorherigen Rollenverteilung und der Festlegung eines gewissen Interaktionsstils einen deutlich identifizierbaren ›Rahmen‹ abstecken, aus dem man dann nicht fallen darf, wenn man sich beteiligen will« (107). Und was er über das Drama schreibt, lässt sich – trotz der sekundären, semiotisch vermittelten Ebene, auf der es stattfindet – durchaus auch auf das Filmmedium übertragen, zumal der amerikanische Spielfilm darum bemüht ist, einen möglichst transparenten ›Durchblick‹ auf seine Figuren und ihre Handlungen zu schaffen: »Das Drama bezieht seine Wirkung aus der überhöhten und stilisierten Repräsentation von Interaktionsprogrammen und lebensweltlichen Inszenierungen, die bereits theateranalog sind« (110). Auch der amerikanische Film entwickelt also eine große Vielfalt dieser Interaktionsprogramme, da für das Selbstverständnis einer demokratischen Kultur ›Interaktion‹ den entscheidenden Prozess darstellt, mit dem sich das demokratische Versprechen realisieren lässt oder an dem es scheitert. Rituale, Täuschungen oder Konflikte sollen demnach als Rahmungen von Interaktion verstanden werden, die ihre kulturgeschichtliche Bedeutung erklären helfen. Denn sie lassen sich mit einer Fähigkeit oder auch: Notwendigkeit in Beziehung setzen, die Norbert Elias in seiner Studie der höfischen Kultur als ›Kunst der Menschenbeobachtung‹ bezeichnet hat. Hierbei geht es um komplexe Prozesse der Beobachtung, bei denen man »das Individuum immer in seiner gesellschaftlichen Verflochtenheit, als Menschen in seiner Beziehung zu anderen« (180) betrachtet, weil Individuen (in der höfischen Kultur) nach Prestige und Einfluss streben und den Blick immer auf das Verhalten der anderen und insbesondere des Königs richten müssen. Im Unterschied zur höfischen Gesellschaft bei Elias, auf die er die Kunst der Menschenbeobachtung zunächst beschränkt sieht, ist in modernen Gesellschaften nicht alles auf die Gunst des Königs ausgerichtet. Dennoch besteht in funktional ausdifferenzierten Gesellschaften ein hoher Orientierungsbedarf, wie Interaktionen organisiert sind und wie sich aus ihnen unterschiedliche Rollen sowie Fremd- und Selbstbilder ergeben. Wenn man von einer Sozialisation durch das Kino spricht, ist daher Folgendes gemeint: In modernen Gesellschaften vermitteln Filme Wissen über Regeln der Interaktion, und sie führen unterschiedliche Formen der Anpassung an diese Regeln, ihre Variation oder auch ihre Überschreitung vor. Das amerikanische Kino mit seiner transparenten Erzählweise, seinem Fokus auf Individuen und seiner starken Handlungsdominanz wird daher zum modernen Experimentierfeld der Menschenbeobachtung, es zeigt uns »models of human behavior« (Naremore, Acting 71). Genreerzählungen, die in der historischen Entwicklung von höchster Bedeutung sind, erscheinen in diesem Sinn als Rahmungen unterschiedlicher Interaktionsprogramme. In einer unübersichtlichen, funktional ausdifferenzierten Gesellschaft leisten sie punktuelle (wenngleich höchst stilisierte) Orientierungshilfen, wie Interaktionsprogramme – konkret etwa: der 171

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Flirt, der Kampf, der Umgang mit Autoritäten, das Teamwork, die Trauer, der Protest, die empathische Zuwendung, das Freundschaftsritual – ablaufen oder ablaufen könnten. Zur Sozialisation tragen sie bei, wenn sie einen performativen Charakter annehmen, also Verhaltensmuster, Sprechakte, Skripte, Posen, Charaktereigenschaften, Konfliktlösungen, Etikette oder Genderfantasien einstudieren helfen. Die Interaktion zwischen Figuren und Gruppen dient daher in vielen Fällen dazu, eine Reflexion auf gesellschaftliche Werte vorzunehmen und ihre Spannungen oder widerstreitenden Kräfte performativ in Szene zu setzen. Drei kulturgeschichtlich bedeutsame Wertediskurse werden dabei für den amerikanischen Film besonders prägend: das amerikanische Zivilisationsversprechen, das Streben nach Glück und der Individualismus. Zum besonderen Zivilisationsversprechen der amerikanischen Kultur gehört die Vorstellung, eine neue, historisch weniger vorbelastete, christlich vorbildliche und gerechte Gesellschaft darzustellen. Auch in der reformorientierten »Progressive Era«, die im späten 19. Jahrhundert angesichts rasanter Urbanisierung und Immigration entsteht, ist diese kulturelle Selbstwahrnehmung noch virulent. Für das Kino begründet sie einen ausgeprägten Moralismus, der auf den Fortschritt der amerikanischen Kultur hinarbeitet. Gleichzeitig leitet es daraus zahlreiche konzeptionelle Oppositionen ab: den Kontrast zwischen Urbanität und Landleben, Unrecht und Wiedergutmachung, Unterdrückung und Freiheit, Gewalt und Ordnung oder den Zusammenprall von zivilisationsstiftenden Siedlern und unerschlossener, feindlicher Wildnis, die es im Sinn der frontier-Mythologie des Western zu erobern gilt. Die Vorstellung zivilisatorischer Höherwertigkeit ruht, wie der Photoplay Philosopher andeutet (und ideologiekritische Ansätze betonen), auf einem rassistisch-exkludierenden Fundament, das der amerikanische Film gleichermaßen zum Ausdruck bringen kann. Aber es scheint unstrittig, dass die Selbstwahrnehmung eines herausgehobenen zivilsatorischen Auftrags der amerikanischen Kultur in der gesamten Filmgeschichte ihre ›kulturelle Selbstdefinition‹ prägt. Ähnliches gilt für das Streben nach Glück. Es umfasst die Bedeutung von Arbeit und den Wandel der Arbeitsethik, aber auch die ausgeprägte Erfolgsideologie. »Nice guys finish last«, so umschreibt Michael Wood den ambivalenten Charakter von Erfolgs- und Aufstiegsszenarien, die bestimmte Werte wie materiellen Wohlstand und persönliches self-improvement propagieren, sie aber auch mit einer gegenläufigen Vorstellung von Rücksichtslosigkeit und antisozialem Verhalten verkoppeln (75-96). Eine weitere – vielleicht die wichtigste – Facette von Glück ist der allgegenwärtige Liebesdiskurs, mit dem Rituale sozialer Bindungen und Formen der Integration thematisch werden. Auch hier gilt, dass die Darstellungen kultureller Ideale von Partnerschaft oder Familie selten ohne Erwähnung ihres Gegenteils (Zerstörung des ›Heims‹, Unmöglichkeit ›wahrer Liebe‹) erfolgen, und dass sie als in besonderem Maß wertstiftend wie ideologieträchtig gesehen werden. Erzählerisch wird dies zumeist durch parallel laufende, häufig miteinander verschränkte Erzähllinien umgesetzt. Neben unterschiedlichen Konflikten existiert im klassischen Hollywood-Kino fast immer eine zweite romanceLinie, eine romantische, dabei häufig klischiert und konventionell wirkende, aber für den Liebesdiskurs unerlässliche (meist heterosexuelle) Verbindung, die den Glauben an das Prinzip Liebe bekräftigt (vgl. Bordwell, Staiger und Thompson 17). Auch für die Vorstellung, über eine Liebesheirat neue ethni172

Der amerikanische Film

sche, interkulturelle oder Klassengrenzen sprengende Verbindungen herstellen zu können, um auf diesem Weg das amerikanische Zivilisationsversprechen einer neuen (anti-europäischen) Kultur der Gleichheit und sozialen Mobilität zu realisieren, ist die emotionale Bekräftigung von ›Liebe‹ ein wesentlicher Grund. Die hohe wertstiftende (wie ideologieträchtige) Bedeutung trifft auch auf den dritten Aspekt der ›kulturellen Selbstdefinition‹ zu, den Individualismus oder genauer gesagt: das Verhältnis von Individuum und Gruppe. Ohne Zweifel ist der amerikanische Film – abgesehen vielleicht von einigen experimentellen und dokumentarischen Formen – in überwiegendem Maß ein Kino der Individuen. Das Starsystem entwickelt sich schnell zu einer wesentlichen Attraktion des neuen Mediums, und es besteht von Anbeginn die Tendenz, historische oder soziale Verhältnisse zu personalisieren. Doch im Unterschied zur viktorianisch geprägten Kultur des 19. Jahrhunderts ändert sich der kulturelle Rahmen für die Definition des Subjekts im 20. Jahrhundert grundsätzlich. Als Ausdruck der neuen Massenkultur trägt das Kino dazu bei, dass neue ›Programme‹ für die Interaktion zwischen Individuum und Gruppe gefunden werden. Auch wenn man den Menschen im Film echte Individualität abgesprochen hat – »Jeder ist nur noch, wodurch er jeden anderen ersetzen kann: fungibel, ein Exemplar« (Horkheimer und Adorno 154) – gilt ihre filmische Repräsentation als wesentliches Anschauungsobjekt für moderne Konflikte um Rollenbilder und Identität. Vorstellungen des exzentrischen oder konformen Verhaltens, Spannungen zwischen Egoismus und Altruismus, Fantasien einer multiethnischen oder nativistisch-homogenen nationalen Identität, Imaginationen von Weiblichkeit oder Männlichkeit und vieles mehr, was in den ›Interaktionsprogrammen‹ vermittelt wird, sind kontinuierlicher Bestandteil der dritten Analysekategorie, der ›kulturellen Selbstdefinition‹. P ERIODEN

UND

S CHWELLENPHÄNOMENE

Für die folgende Darstellung der wichtigsten historischen Entwicklungslinien gilt es nun, Wechselwirkungen und Spannungsfelder der drei Kategorien Industrie, Ästhetik und kulturelle Funktion herauszuarbeiten. Fünf historische Abschnitte sollen dabei der Orientierung dienen; ihre Periodisierung folgt wichtigen ästhetischen, technischen, kulturhistorischen oder politischen Zäsuren. Doch historischer Wandel lässt sich selten an einzelnen Jahreszahlen festmachen. Diese sind daher primär als Hinweise auf Schwellenphänomene zu verstehen: auf eine quantitative Ballung bestimmter Merkmale, die schließlich eine neue Qualität begründen. Im ersten Abschnitt wird der frühe Film von seinen Anfängen in den 1890er Jahren bis zum Jahr 1918 angesetzt, als wesentliche Parameter des ›klassischen‹ Hollywood-Kinos etabliert sind und der Erste Weltkrieg eine historische Zäsur darstellt. Von 1918 bis 1941 dominiert in Hollywood das Studiosystem, im Dokumentarfilm entsteht ein eigenständiges, häufig sozial engagiertes Kino. Das Jahr 1941 ist für die USA durch den Kriegseintritt eine historische Zäsur, die als neue globale Rolle Amerikas im Film thematisch wird und den in den späten 1930er Jahren vor allem nach innen gerichteten Diskurs zum politischen Selbstbild fortsetzt. Der Kriegseintritt markiert im Spiel- und Dokumentarfilm eine zunehmende Ausrichtung auf kriegsrelevante Produktionen und schafft – verstärkt durch 173

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den Kalten Krieg – eine neue, politisierte soziokulturelle Konstellation, die bis in die 1960er Jahre einflussreich bleibt. Von 1960 bis in die Mitte der 1980er Jahre spannt sich eine Periode des ästhetischen Umbruchs, die im Dokumentar- und Underground-Film beginnt und gegen Ende der 1960er Jahre auch das Hollywood-Kino erreicht. Dort scheint sie wenige Jahre später schon wieder an kreativer Kraft einzubüßen, doch die vorliegende Darstellung setzt die nächste Zäsur in der Mitte der 1980er Jahre an. Zu diesem Zeitpunkt erreichen zwei signifikante Entwicklungen eine neue Qualität: Das analoge Filmmedium beginnt langsam, aber stetig mit neuen, digitalen Technologien zu konvergieren, und es entsteht ein Kino, das im Anschluss an das New Hollywood Cinema um eine kritische Ausweitung von Identitätskonzepten im Sinn einer multiethnischen Gesellschaft bemüht ist. Diese fünf Abschnitte sind – das muss ausdrücklich betont werden – nur Hilfskonstruktionen. Sie sollen keine geordnete Abfolge oder einfachen Kausalitäten suggerieren. Historische Entwicklungen sind vielschichtig, voller Brüche, Überraschungen und Widersprüche, die in einer knappen Darstellung zu kurz kommen müssen. Aber die Abschnitte können einer ersten Orientierung dienen, und sie werden mit den anderen Kapiteln dieses Buchs kurzgeschlossen, um zu unterstreichen, dass sich der amerikanische Film immer in Wechselwirkung mit anderen kulturellen Bereichen entwickelt hat. Er steht zudem von Anbeginn im Zusammenspiel mit anderen nationalen Filmkulturen, sei es durch Anfertigung mehrsprachiger Versionen für den internationalen Markt oder durch die Emigration vieler europäischer Filmschaffenden in die USA. Das amerikanische Kino ist in dieser Hinsicht ab den späten 1910er Jahren eine auf Globalität angelegte Kunst und Kulturindustrie. Dennoch hat es sein wichtigstes Publikum zunächst innerhalb des Landes und richtet sich an den Bedürfnissen einer durch Immigration, Urbanisierung und Multikulturalität gekennzeichneten, im rasanten Umbruch befindlichen Gesellschaft aus (vgl. Fluck). Für die in diesem Kapitel betrachteten Filmgattungen gilt, dass sich ihre ästhetischen und expressiven Mittel seit den Anfängen im späten 19. Jahrhundert kontinuierlich erweitern oder verfeinern. Obwohl der farbige Tonfilm bereits in den 1890er Jahren imaginiert (und teilweise auch realisiert) wird, kann er erst in den 1930er Jahren mit erheblichem technischen Aufwand umgesetzt werden. Die gesamte Filmgeschichte ist gekennzeichnet von solchen technischen Umbrüchen und Innovationen, die zu einer Ausweitung der darstellerischen Mittel (aber beispielsweise auch der Rezeptionssituation im Kino) beigetragen haben. Es wäre jedoch irreführend, diese Verbindung von Technikentwicklung und Filmästhetik als kontinuierliche Fortschrittsgeschichte zu erzählen. Zum einen unterscheiden sich die Gestaltungsmittel in den verschiedenen Filmgattungen erheblich, da sie immense Kosten verursachen und dadurch zu einer produktionsbedingten Ungleichzeitigkeit führen. Für die Dokumentaristen der 1960er Jahre wird das 16mm-Format zum neuen Standard, obwohl es für andere Bereiche, etwa den Spielfilm, ein Amateurformat darstellt. Zum anderen kann man weder für die Filmästhetik noch für die Rezeption ein (teleologisches) Ziel ausmachen, das einen linearen Fortschrittsgedanken rechtfertigen würde. Vielmehr sollte die Spezifik der historischen Konstellationen herausgestellt werden: Zum Beispiel könnte man durchaus glauben, dass der Stummfilm der 1920er Jahre im Vergleich zu 174

Der amerikanische Film

heutigen THX-Klangsystemen weniger intensiv wirkte. Doch stellt man sich einmal vor, in den ›Roaring Twenties‹ im ausverkauften New Yorker ›Loew’s State‹ (Fassungsvermögen 3500 Zuschauer) zu sitzen, vor der Leinwand ein Orchester bestens ausgebildeter Musiker zu hören und eine Show zu erleben, die neben dem Film auch Gesangseinlagen, Tanz und Sketche aufweist, dann wird klar, dass die Filmerfahrung der 1920er Jahre schlichtweg eine ganz andere war als die der 2010er Jahre (vgl. Gomery 57-82, Koszarski). Ob und wie man sie vergleichen kann, ist in der Filmgeschichte umstritten. Auf jeden Fall muss der heutige Kinobesuch dank des technischen Wandels nicht notwendigerweise intensiver oder gar besser sein als das Erlebnis einer anderen Periode. Es ist also durchaus sinnvoll, nach langfristigen Entwicklungen zu fragen – wie hat sich das Erzählen durch den beschleunigten Filmschnitt verändert, welche Folgen ergeben sich aus der gesteigerten Intensität von Gewaltdarstellungen –, aber es gilt, sie nach Filmgattungen, Genres oder kulturellen Funktionen zu differenzieren und sie nicht ›technisch‹ zu erklären. Einen stetigen künstlerischen oder thematischen Fortschritt (oder Niedergang) des amerikanischen Films gibt es nicht.

3.2 Früher Film: eine neue demokratische Kunst, 1890er Jahre-1918 Die Vorstellung, ›bewegte Bilder‹ projizieren zu können und damit zum Leben zu erwecken, lässt sich kulturgeschichtlich über viele Jahrhunderte zurückverfolgen. Im 19. Jahrhundert nehmen diese utopischen Imaginationen und Vorstufen des Kinos jedoch immer konkretere Formen an, und sie gehen gleichermaßen auf ein spielerisches wie naturwissenschaftlich-experimentelles Interesse zurück. Spielzeuge wie das Zoetrope gehören ebenso zur Vorgeschichte des Filmmediums wie Laterna Magica-Vorführungen, aber vor allem die Fotografie, die mit den Bildreihen der Serienfotografie in den 1870er Jahren wesentliche Funktionsprinzipien des Films enthält (vgl. Kapitel 2.3, Thompson und Bordwell 3-21). Nathaniel Hawthorne beschreibt in seiner Kurzgeschichte »The Birthmark« aus dem Jahr 1843 die magisch-fantastische Seite dieser Manipulationen von Licht und Bewegung, als ein Wissenschaftler bewegte Bilder für seine Frau (die er bei einer späteren Operation töten wird) erzeugt: »Airy figures, absolutely bodiless ideas, and forms of unsubstantial beauty came and danced before her, imprinting their momentary footsteps on beams of light. Though she had some indistinct idea of the method of these optical phenomena, still the illusion was almost perfect enough to warrant the belief that her husband possessed sway over the spiritual world« (Hawthorne 182).

In vielen Ländern – neben den USA u. a. auch Frankreich, Großbritannien und Deutschland – steht die Entwicklung erster Film-Kameras und Projektoren im Zusammenhang weiterer technologischer Innovationen (z. B. der Tonaufzeichnung) und der Suche nach Möglichkeiten kommerzieller Expansion: Thomas A. Edison, der für die USA wichtigste Erfinder und Industrielle dieser Jahre, stellt seinen Kinetographen im Jahr 1893 vor. Wenig später eröff175

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net er in New York City einen Kinetoscope parlor, in dem das Publikum an Sichtgeräten kurze Filme anschauen kann. In der Metropole an der Ostküste sind die wichtigsten Produktionsfirmen dieser frühen Phase angesiedelt, die Edison Manufacturing Company, American Mutoscope and Biograph oder die Vitagraph Company. Doch die Filmindustrie steht von Anbeginn sowohl hinsichtlich der technischen Ausrüstung und der dazu gehörigen Patente als auch bezüglich der Filme in einem globalen Wettbewerb. Die mit Abstand einflussreichste Produktionsfirma der frühen Jahre in den USA ist die französische Pathé (vgl. Grainge, Jancovich und Monteith 3-20, Musser 55-89). Zwei Entwicklungen sind für den frühen Film entscheidend: Zum einen bilden sich um das Jahr 1906 eigenständige Abspielstätten heraus, an denen Filme gezeigt werden und die dem neuen Medium – sozial wie ästhetisch – einen eigenen Raum geben. Zum anderen werden nach den sehr kurzen Filmen der Anfangsjahre – von wenigen Sekunden bis zur maximalen Länge einer Filmspule (engl. reel, ca. 15 Minuten) – ab etwa 1913 immer ambitioniertere Projekte produziert. Eine Anleitung zum Drehbuchschreiben aus diesem Jahr beschreibt den rasanten Wandel: »Five years ago, almost anyone connected with the moving-picture industry would have laughed at the idea of taking five reels to tell a film story, yet the Milano films Company produced Dante’s ›Inferno‹ in five reels, and now we have an immense production of Victor Hugo’s masterpiece, ›Les Miserables,‹ which requires eleven reels of film to show complete« (Esenwein und Leeds 142).

Die Entstehung eigenständiger Kinobauten sowie diese durch den europäischen Film angeregte Verschiebung von kurzen zu längeren Formen tragen zu spürbaren Entwicklungsschüben bei. Das Kino wird zu einer im urbanen Lebensraum sichtbaren Institution, und die längere Form schafft Freiräume sowie Herausforderungen für eine kreative neue Kunst. Doch auch die ersten Jahre des Mediums sind kulturhistorisch äußerst bedeutsam. Sie zeigen die Umrisse einer neuen Massenkultur auf, die zur Demokratisierung des Freizeitlebens beitragen wird. Dabei greift der frühe Film einflussreiche Erzählmuster des 19. Jahrhunderts auf, die längerfristig zur Enthierarchisierung kultureller Umgangsformen beitragen und die Rede von einer neuen demokratischen Populärkultur erlauben. Aus aktionsbetonten Genres wie dem Western stammt die spannungslösende Konfrontation als mitreißendes Vergnügen, die Komödie verbindet körperbetonte Akrobatik mit einer (temporären) Umkehrung kultureller Hierarchien, und das Melodrama überwältigt die Zuschauer mit einer erschütternden Unrechtserfahrung, die nach Wiedergutmachung, nach poetischer Gerechtigkeit verlangt. Hier, in den populären Niederungen von Aktion, Komik und Melodrama, liegen die Anfänge des amerikanischen Spielfilms, nicht im modernen Theater oder im realistisch-naturalistischen Roman der Jahrhundertwende (vgl. Musser 109-189, Elsaesser, Early Cinema). Am Ende des 19. Jahrhunderts sind Freizeit und Unterhaltung im urbanen Raum entlang bestimmter Geschlechter- und Klassengrenzen aufgeteilt. In die Oper und das Theater gehen ›gehobene‹ Schichten, Konzertsäle sind mit Kirchengemeinden verbunden, dann folgen in der kulturellen Hierarchie Vaudeville, minstrel shows oder das melodramatische Theater, und am Schluss stehen die den männlichen Besuchern vorbehaltenen vice districts 176

Der amerikanische Film

(May 3-21). Der Film durchbricht diese Hierarchie in mehrfacher Hinsicht. Als Attraktion auf Jahrmärkten und in amusement parks oder als Teil von Vaudeville-Shows spricht er zunächst jene ›niederen‹ Schichten an, die vom Vergnügen kultureller Eliten ausgeschlossen sind. Das Komische in seiner derben oder vulgären Spielart sowie die hyperbolischen Affekte des populären Melodramas, kurz, die starke Körperlichkeit der Darstellung sind eine Folge dieser Anfänge. Gleichzeitig wendet sich der frühe Film an die Arbeiterschichten und Immigranten, die in steigender Zahl das Land erreichen. Längerfristig – besonders prägnant mit der »nickel madness« im Jahr 1907, als die Zahl der nickelodeons bzw. Ladenkinos (mit üblicherweise zwischen 100 bis 200 Zuschauern) explodiert – definiert das Kino damit den urbanen öffentlich Raum um (vgl. Musser 417-48). Das Freizeitvergnügen wird für ein möglichst großes Publikum erschwinglich und soll allen gesellschaftlichen Gruppen – zum Beispiel Frauen ohne männliche Begleitung – offen stehen. Dabei kommt den Kinobetreibern eine Schlüsselfunktion zu. In der Präsentation und Vorführung können die vielen kurzen Filme zu einem unterhaltsamen Ganzen zusammengestellt und auf die Bedürfnisse des jeweiligen urbanen neighborhoods abgestimmt werden (vgl. Bowser 1-20, Musser 193-224, Hansen). Die Demokratisierung durch den Film umfasst demnach zwei zentrale Aspekte: Zum einen orientiert sich populäre Massenkultur hinsichtlich ihrer Inhalte an den Interessen und Vorlieben der ›niederen‹ Schichten und unterläuft damit bestehende Hierarchien kultureller Wertschätzung. Zum anderen muss sie darum bemüht sein, niemanden vom Kulturkonsum auszuschließen und ist dezidiert nicht elitär angelegt. Um die Jahrhundertwende kann man, wie Charles Musser (297-369) zeigt, noch nicht von einer wirklichen Massenkultur des Films sprechen, aber die Anzeichen einer Enthierarchisierung der Kultur sind bereits so deutlich, dass im amerikanischen Kontext (aber nicht nur dort) massive Anstrengungen unternommen werden, die Folgen des Kinos einzudämmen oder zu kanalisieren. Dies gilt für verschiedene kulturpolitische Institutionen und Initiativen, aber auch für Filmproduzenten und Kinobetreiber, die zunehmend darauf abzielen, neue Publikumsschichten – die sogenannten better classes – für das Kino zu gewinnen. In den ersten zehn Jahren (bis ca. 1906/07) sind die häufig sehr kurzen und einfach gehaltenen Filme Bestandteil von Unterhaltungsprogrammen, vor allem im Vaudeville (vgl. Gomery 3-17). Es gibt bereits kurze Spielhandlungen, die für die zumeist noch regungslos-stationäre, in einer mittleren Entfernung aufgebaute Kamera inszeniert werden, doch das ist eher die Ausnahme. Die erhalten gebliebenen Filme aus dieser Zeit (die überwiegende Mehrheit wurde nicht aufbewahrt und ist verloren) legen nahe, dass eine ›dokumentarische‹ Funktion überwogen hat. Zum einen werden mit Hilfe der Kamera bestehende Nummern unterschiedlicher Shows aufgenommen: akrobatische Akte, komische Vaudeville-Sketche, burlesk-anzügliche Gags, Tanzeinlagen oder Tiervorführungen. Hier wird an der Nummer zumeist nichts verändert, sie findet statt wie auf der Bühne. Zum anderen resultiert die Faszination an bewegten Bildern aber auch aus einer neuen Repräsentation von Wirklichkeit. Den größten Anteil des frühen Films haben sogenannte actualities, deren Genreverständnis häufig aus der Fotografie stammt und die dank der Bewegungsillusion unmittelbar auf alle Lebensbereiche ausgedehnt werden: Boxkämpfe, Reiseerlebnisse, technischer Fortschritt, Freizeitvergnü177

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gen, Politik und Gesellschaft, Natureindrücke, Handel, das Leben in der Großstadt. Katastrophen wie das Erdbeben in San Francisco von 1906 oder der Spanisch-Amerikanische Krieg von 1898 werden zu dokumentarischen Ereignissen und tragen auf diese Weise zu einem neuen kulturellen Gedächtnis des modernen öffentlichen Lebens bei.2 Für den frühen Film, der seine Themen und Ästhetik zunächst überwiegend aus bestehenden Formen ableitet (auch wenn bereits mit kamerabedingten Tricktechniken gearbeitet wird), spielen demnach faktual-dokumentarische Vorbilder eine wichtigere Rolle als fiktionale Spielhandlungen. Tatsächlich wird häufig nicht genau zwischen beidem unterschieden. Viele Aufnahmen aus dem Spanisch-Amerikanischen-Krieg sind beispielsweise nachinszeniert, und im allgemeinen werden die kurzen Szenen neben einer Begleitung durch Musik (Klavier) und Geräusche mit Kommentaren und Erklärungen der Filmvorführer versehen. Tom Gunning hat vorgeschlagen, den frühen Film als ›Kino der Attraktionen‹ zu verstehen. Von den filmischen Formen nach 1907, als es zu einer Hegemonie des (fiktionalen) Erzählens kommt, möchte er ein davor liegendes Filmverständnis abgrenzen, das primär auf spektakuläre Formen von Bildlichkeit ausgerichtet ist. Nicht die Abfolge von kausalen Ereignissen ist hier der Reiz, sondern die Sichtbarkeit an sich, das Spektakel oder der visuell stimulierende Eindruck. Gunning versteht in diesem Sinn unter ›Attraktionen‹ das Vergnügen am Visuellen und jenen Charakter von showmanship, der mit den Anleihen beim Vaudeville einhergeht: eine Mischung aus exhibitionistischer Selbstdarstellung und Illusionsbruch durch Ansprache des Publikums. Als erste Orientierung ist die Unterscheidung von Gunning hilfreich. Im frühen amerikanischen Film dominiert eine serielle Ästhetik der Attraktionen, stark beeinflusst durch die Auswahl und Präsentationsweise der Filmvorführer, angetrieben durch das schiere Vergnügen am Schauen. In den späten 1900er Jahren setzt dann eine Dynamik ein, die der Lust am Spektakel die stärkere Ordnung des Narrativen entgegensetzt und spektakuläre ›Exzesse‹ einzudämmen beginnt. Tatsächlich ist mit dieser Spannung zwischen visueller Attraktion und narrativer Ordnung eine für das amerikanische Kino immer wieder beschriebene Dialektik umrissen. Aber auch der frühe Film kann stärker differenziert werden. Ben Brewster und Lea Jacobs merken an, dass unter ›Attraktion‹ am ehesten eine Form der Präsentation verstanden werden kann, die sich auf narrative wie nicht narrative Filme gleichermaßen beziehen lässt. Sie betonen daher die herausragende Bedeutung der Filmvorführung für das neue Medium. Darüber hinaus entwickeln sie stärker als Gunning die frühe Visualität aus der Tradition des stage pictorialism des Theaters (85-187). Schließlich ist es notwendig, die ersten faktual-dokumentarischen Filme mit der fotografischen Tradition des späten 19. Jahrhunderts – beispielsweise der Slum-Darstellung – kurzzuschließen. Aus heutiger Sicht besitzen die kurzen Einblicke in Szenen des Alltags selten die Qualität eines Spektakels. Aber als Beginn sozialdokumentarischer und newsreel-artiger Darstellungsformen sind sie höchst aufschlussreich (vgl. Kapitel 2.4).

2

Einen (kleinen) Einblick in die unglaubliche Vielfalt dieser frühen shorts erlaubt die Library of Congress, die verschiedene Sammlungen zugänglich gemacht hat (vgl. American Memory).

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Was hat man sich unter den kurzen frühen Filmen konkret vorzustellen? Aus dem Fundus der Library of Congress seien zwei Beispiele herausgegriffen. In dem nur zwanzig Sekunden dauernden Shooting Captured Insurgents von 1898 (Edison) sehen wir aus größerer Distanz eine Szene aus dem Spanisch-Amerikanischen-Krieg. Einige (kubanische) Kämpfer werden vor einer Wand stehend von spanischen Soldaten erschossen. In Edisons Katalog heißt es dazu: »The flash of rifles and drifting smoke make a very striking picture«. Nur durch die große Distanz der Kamera zum Geschehen kommt dieser Effekt der weißen Rauchwolke vor dunklem Hintergrund zur Geltung. Und vielleicht soll dies die wesentliche Attraktion darstellen, denn was den Anschein des authentischen Geschehens erweckt, wird von den Archivaren der Library of Congress als »reenactment« bezeichnet (»probably in New Jersey«). Das Vergnügen an historischer Bewegtheit – in anderen Filmen etwa die Mobilmachung der Soldaten – und die Bewegung im Bild, die Geschichte zum Spektakel machen kann, sind kaum voneinander zu trennen. Andere Kurzfilme verweisen noch deutlicher auf das Bedürfnis, die Zuschauer durch das Bild zu faszinieren: From Show Girl to Burlesque Queen von 1903 (American Mutsocope and Biograph) zeigt eine Bühnendarstellerin, die in ihrer Ankleide von einem knöchellangen Kostüm in einen kurzen, beinfreien Rock wechselt und damit zur »burlesque queen« wird. Immer wieder schaut sie kokett in die Kamera oder in den Spiegel an der Wand, kurz zieht sie den Träger des Kostüms provokativ über die nackte Schulter, schließlich verschwindet sie hinter einem Paravent. Die dezenten Anleihen beim Striptease sowie der Augenkontakt der jungen Frau unterstreichen in dieser frühen Vaudeville-Nummer das Bemühen um eine möglichst direkte, spektakuläre Ansprache der Zuschauer. Auch für geschlossene, illusionsstiftende Erzählungen lassen sich in der Frühzeit erstaunlich komplexe Beispiele finden. Eine der berühmtesten Edison-Produktionen dieser Zeit ist The Great Train Robbery von 1903 des Produzenten Edwin S. Porter (vgl. Abb. 1). Der Edison-Katalogeintrag veranschaulicht, dass mit diesem Überfall auf einen Zug, bei dem die Reisenden ausgeraubt, die Räuber aber später gefasst und zum Teil erschossen werden, ein spektakuläres Sujet zur Vorführung steht: »This sensational and highly tragic subject will certainly make a decided ›hit‹ whenever shown. In every respect we consider it absolutely the superior of any moving picture ever made. It has been posed and acted in faithful duplication of the genuine ›Hold Ups‹ made famous by various outlaw bands in the far West, and only recently the East has been shocked by several crimes of the frontier order, which fact will increase the popular interest in this great Headline Attraction« (»The great train robbery«).

Der Hinweis auf das populäre Interesse, das mit dem Film befriedigt würde, wie auch seine Charakterisierung als »Headline Attraction« veranschaulichen, wie schnell das Kino zum Motor einer auf Konkurrenz beruhenden Populärkultur geworden ist, in der kommerzieller Erfolg zunächst primär am Schauwert und Sensationalismus festgemacht wird. Doch The Great Train Robbery ist auch durch verschiedene gestalterische Mittel bemerkenswert. Er verbindet Szenen in Innenräumen mit Kampfszenen auf der fahrenden Lokomotive, den Schrecken des Überfalls mit dem Thrill der Verfolgung. Un179

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verkennbar nimmt das Kino die handlungsdominierten, dynamischen Konflikte der wild west shows auf, die den Kontrast zwischen Zivilisation und Wildnis aus der frontier-Erfahrung zu einer populären Mythologie entwickelt haben. Mit den Elementen Überfall, Raub, Verfolgung, Kampf und Sieg der Verfolger enthält The Great Train Robbery aber bereits das Kerngerüst des im Grunde bis heute gültigen amerikanischen Aktionskinos. Der Film endet mit dem berühmten Schuss des Anführers der outlaws direkt in das Objektiv und damit in den Zuschauerraum. Der Katalog verspricht: »The resulting excitement is great«.

Abb. 1: The Great Train Robbery (Edwin S. Porter, Edison, 1903). Auch das beliebteste Genre der Frühzeit, die Slapstick-Komödie im Stil von Fatty Arbuckle, Mack Sennetts ›Keystone Kops‹, Charles Chaplin oder Harold Lloyd lebt von der schieren kinetischen Energie und Akrobatik des Körpers sowie von den Vaudeville-Fantasien einer antibürgerlichen und antiautoritären Grenzüberschreitung. Gleichermaßen werden jedoch – etwa in den Biograph-Kurzfilmen von D.W. Griffith wie A Corner in Wheat (1909) – gegenläufige und die Mentalität des »Progressivism« deutlich zum Ausdruck bringende Erzählungen produziert. Mit einer melodramatisch gesteigerten Wirkungsästhetik entfalten sie Geschichten von Opferfiguren, deren Notlage aus destruktiven und lasterhaften Handlungen resultiert. Der gierige Weizenspekulant, der profitsüchtige Fabrikbesitzer, der alkoholabhängige Vater, sie alle werden im kruden Melodrama des frühen Films zu Allegorien einer unmoralischen Gesellschaft, die es zu reformieren gilt. Dabei soll das Kino nicht nur mahnende Konversionsgeschichten vorstellen, es steht für viele Sozialreformer auch selbst unter der normativen Vorgabe des uplift. Als neues Forum kultureller Selbstverständigung soll es die Kultur insgesamt weiterund höherentwickeln, oder es muss Eingriffe von Einrichtungen wie dem National Board of Censorship (gegründet im Jahr 1909) fürchten. Dem Kino als Massenmedium wird ein instrumenteller Charakter zugesprochen, den die kulturellen Eliten zu steuern bemüht sind, es unterliegt nach einem Urteil von 1915 (Mutual decision) nicht dem Schutz der freien Meinungsäußerung (Brownlow 4-23, Bowser, Uricchio und Pearson). Dass die Filmproduzenten danach streben, sich aus kommerziellen Erwägungen diesem Erwartungsdruck (wie in späteren Jahren auch) anzupassen, unterstreicht eine Liste, die der anonyme Photoplay Philosopher 1911 veröffentlicht. Er hat die Lektionen zahlreicher Filme notiert und offenbart damit die besondere Bedeu180

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tung moralischer Instruktion für den Legitimationsprozess des frühen Films: »Respect the aged; decide not rashly; return good for evil; defer not to give what thou intendest; relieve the wants of thy friends; disparage none; boast not of strength; be civil to all; give no occasion for reproach; accomplish quickly; do not that which though shalt repent« (146). E MERGENZ

DER

›F EATURE F ILMS ‹

Der Übergang von kurzen Filmen zur längeren Form der mehrere Filmrollen umfassenden ›feature films‹ vollzieht sich in den 1910er Jahren im Kontext weitreichender institutioneller Verschiebungen. Die ersten Produktionsfirmen (u. a. Edison, Vitagraph und Biograph), die sich zum Schutz ihrer Patente und ihrer Marktmacht in der Motion Picture Patents Company (MPPC) zusammengeschlossen haben, werden durch neue Gruppierungen, etwa die ›Independents‹ mit Carl Laemmle als Wortführer, herausgefordert (vgl. Thompson und Bordwell 28-29). Sie entstammen dem Milieu der Kinobetreiber und sind häufig jüdische Immigranten, die mit ihrem Publikum gut vertraut sind – in den 1920er und 1930er Jahren werden sie die großen Studios leiten. Gegen die Abschottung der MPPC weichen sie auf längere Filme aus, die sie jenseits der etablierten Produktions- und Vertriebswege vermarkten können, und sie engagieren sich stärker als die alteingesessenen Produktionsfirmen bei der Schaffung eines Star-Systems. Die Produktion verlagert sich nicht zuletzt angesichts der geeigneteren klimatischen Verhältnisse und einer abwechslungsreicheren Landschaft von New York nach Los Angeles an die Westküste, wo die ersten Studiokomplexe entstehen, etwa der Nestor Company im Jahr 1911 (vgl. Bowser 149-165, Gabler). Die längere Form verlangt nach größerer erzählerischer Komplexität, auch das Bemühen um eine möglichst klar und logisch strukturierte Filmerzählung wird mit ihr verstärkt. Der ›feature film‹ erlaubt die Ausweitung des Publikums auf Schichten, die üblicherweise ins Theater gehen würden, und lässt damit die Erzählkonventionen des Dramas einflussreicher werden als für die kurzen one-reelers oder serials. Gleichzeitig gewinnen die Produzenten mit der langen Form größeren Einfluss auf die Aufführung, denn neben ein individuell durch die Kinobetreiber zusammengestelltes Programm von Kurzfilmen tritt die Konzentration auf wenige, dafür längere und komplexere ›Attraktionen‹ (vgl. Bowser 191-215, Musser 337-369). In ihrer Anleitung zum Drehbuchschreiben von 1913 formulieren J. Berg Esenwein und Arthur Leeds einen pragmatischen ›Katechismus‹ für angehende Drehbuchautoren, der zahlreiche der institutionellen Veränderungen veranschaulicht: »Is my plot really fresh?«, lautet ihre erste Frage, »Is it strong enough? Is it logical?«. Damit deuten sie den Innovationsdruck innerhalb der Industrie an (es muss etwas Neues, Unverbrauchtes sein) sowie das Bemühen, Filmhandlungen möglichst nachvollziehbar und plausibel zu erzählen. Gleichzeitig heben sie die Bedeutung eines ausdifferenzierten Produktionssystems hervor, in dem es einen Produzenten geben sollte, dem das Drehbuch gefallen muss: »Is the material desired by the producer to whom I am sending it? Does the company make that style of story?«. Schließlich zeigen ihre Ratschläge, dass für den neuen feature film weniger die Angst vor der Zensur als der Versuch dominiert, vor dem Geschmacksurteil des Publikums bestehen zu können: »Will it pass the Censors? Even if it does, will it 181

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offend even one spectator?« (Esenwein und Leeds, 150-51). Ein Drehbuch, das neuartig ist, nachvollziehbar erzählt wird, für Produzenten von kommerziellem Reiz sein soll und ein breites Publikum erreichen könnte: In den frühen 1910er Jahren stehen bereits Rahmenbedingungen der Filmindustrie fest, die im späteren ›Studiosystem‹ perfektioniert werden und in dieser Form auch für andere kommerziell ausgerichtete Kulturbereiche – beispielsweise das Theater oder den Kurzgeschichtenmarkt – gelten. Bekannte amerikanische Langfilme der 1910er Jahre sind Regeneration (Raoul Walsh, 1915) oder The Cheat (Cecil B. De Mille, 1915). Mit Abstand am einflussreichsten ist jedoch The Birth of a Nation von D.W. Griffith (1875-1948) aus dem Jahr 1915. Das Bürgerkriegsepos geht auf den Roman bzw. das Theaterstück The Clansman (1905) von Thomas Dixon zurück und sprengt alle Dimensionen damals üblicher Projekte. Mit zwölf Filmrollen und einer Gesamtlänge von etwa drei Stunden ist er der bis dahin längste amerikanische Film. Er hat die höchsten Produktionskosten, spielt die höchsten Erlöse ein und ist der erste Film, für den eine eigene Filmmusik komponiert wird. Wie Melvyn Stokes schreibt, kann man ihn für das amerikanische Kino getrost als »the first ›blockbuster‹« (3) bezeichnen. Neben diesen Superlativen gewinnt er jedoch vor allem in zweierlei Hinsicht kulturgeschichtliche Bedeutung: Er perfektioniert die frühen Formen des filmischen Erzählens auf eine Weise, die eine ›Geburt‹ des amerikanischen Kinos signalisiert, und er propagiert eine unverholen rassistische Deutung der amerikanischen Geschichte, die ihn unmittelbar zu einem bis heute nachwirkenden Politikum macht. Für die National Association for the Advancement of Colored People (NAACP) ist seine Darstellung von Bürgerkrieg und Rekonstruktionszeit, die exemplarisch anhand von zwei befreundeten Familien aus den Nord- und Südstaaten erzählt wird, eine Provokation, die sie mit öffentlichen Protesten, Zensur und rechtlichen Mitteln zu bekämpfen versucht. Gleichzeitig verhilft der Film dank seiner opulenten Racheerzählung, die den »myth of the bestial black rapist« (Williams 105) propagiert, dem Klu Klux Klan zu einer modernen Wiederauferstehung (Stokes 231235). Michael Rogin führt beide Beobachtungen – die ›Geburt‹ der amerikanischen Filmkunst sowie den Rassismus der Darstellung – zu einem provokativen Schluss zusammen: »American movies were born, then, in a racist epic« (Rogin, »Sword« 150).

Abb. 2: The Birth of a Nation (D.W. Griffith, Kamera: Billy Bitzer, Epoch, 1915). 182

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D.W. Griffith ist zweifellos einer der wichtigsten Stummfilm-Regisseure. Er ist geprägt durch das populäre melodramatische Theater, in dem er als Autor und Schauspieler allerdings nicht Fuß fassen kann, erweist sich in seinen unzähligen one-reelers jedoch als innovativer Regisseur, der die Möglichkeiten des neuen Filmmediums entscheidend voranbringt: ein elaboriertes Mise-enscène, das den Bildraum in Vorder- und Hintergrund strukturiert und dem Handlungsraum mehr Tiefe verleiht; eine Lichtführung, die selektiver und expressiver eingesetzt wird; eine analytische Montage, die durch den Wechsel von Einstellungsgrößen (Bildausschnitt und Distanz zum Objekt) die erzählerisch wichtigen Details betont; sowie eine auf zeitliche Kontinuität angelegte Parallelführung unterschiedlicher Schauplätze, die als Parallelmontage vor allem der Spannungssteigerung (aber in den frühen Biograph-Produktionen auch der anklagenden Kontrastierung von Arm und Reich) dient. Griffith entdeckt also auf der einen Seite die Modernität des Films mit rapiden Perspektivwechseln, der analytischen Zerlegung und Neukonstruktion von Wirklichkeitsfragmenten oder der Beschleunigung von Wahrnehmungsprozessen. Auf der anderen Seite ist er mentalitätsgeschichtlich jedoch noch fest dem viktorianischen Weltbild verpflichtet. Diese paradoxe Spannung zeigt sich in The Birth of a Nation nicht zuletzt in dem Umstand, dass nur wenige ›echte‹ afroamerikanische Schauspieler zum Einsatz kommen. Die Hauptrollen der schwarzen villains werden durch weiße Schauspieler in blackface verkörpert, womit diese auf Ausschluss und rassistischer Stereotypie beruhende Tradition ungebrochen weitergeführt wird. Das Interaktionsprogramm von The Birth of a Nation ist der Konflikt, dem immer eine Logik der Eskalation zugrundeliegt. In diesem Fall steuert die Auseinandersetzung zwischen den auftrumpfenden Afroamerikanern und ihren Verbündeten im Norden mit den gedemütigten ›Ehrenmännern‹ und Familien des Südens auf einen unaufhaltsamen Kampf zu, bei dem Willenskraft und Gewaltmittel entscheiden müssen. Diese Eskalation wird durch die ausgeklügelte Parallelmontage, mit der das Epos von Griffith endet, in neuer, bislang unerreichter Intensitätsteigerung dargestellt. Am Ende sprengt die Gewalt den Interaktionsrahmen – zum Teil im wörtlichen Sinn, indem die Kampfhandlungen den Bildrahmen oder Kader als umkämpfte Grenze hervorheben und die weißen Uniformen alles Dunkle aus dem Bild scheuchen –, und sie schafft damit einen neuen Rahmen für Interaktion. Das (weiße) Individuum ist zum Bestandteil eines siegreichen Kollektivs geworden, in dem es nicht mehr gedemütigt werden kann. Aus dem instabilen Gegeneinander zwischen Afroamerikanern und Repräsentanten der Südstaaten geht die Allianz zwischen dem weißen Amerika des Nordens sowie des Südens hervor, das in einer neuen ›Rassehierarchie‹ vereinigt wird. Das pazifizierte und geeinte Gemeinschaftsgefühl des weißen Amerika beruht auf der Unterdrückung der Afroamerikaner und einer Ideologie ihrer ›rassischen‹ Minderwertigkeit (vgl. Rogin »Sword«). Mit dieser ideologisch motivierten Umdeutung von Geschichte markiert The Birth of a Nation zunächst den Anspruch des Kinos, neben historischem Roman und Theaterstück wirkungsmächtige Geschichtsbilder schaffen zu wollen. Der Film wird den politischen Eliten des Landes vorgeführt (u. a. Präsident Woodrow Wilson) und dort zum Teil begeistert aufgenommen. Gleichzeitig wird deutlich, wie stark das Kino trotz des historischen Themas in die moderne Selbstwahrnehmung eingebunden ist. Denn neben den Attrak183

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tionen der frühen Populärkultur und dem Reformeifer der »Progressive Era« zeigt sich mit The Birth of a Nation ein weiterer Diskurs der Jahrhundertwende. Es ist die Frage nationaler Identität, die seit den 1890er Jahren verstärkt zur Diskussion steht – insbesondere seit dem Spanisch-Amerikanischen Krieg, dessen imperiales Programm die Konturen der Nation nicht nur nach innen, sondern auch gegenüber der ›Fremdheit‹ anderer Nationen nach außen klärungsbedürftig macht. Die literarischen Vorlagen von Dixon erscheinen bereits in der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts, aber erst Griffith gelingt es, einen umfassenden Gegendiskurs zur bis dahin kanonisierten Geschichte von Uncle Tom zu schaffen. Die nationale Einheit in der Folge des Bürgerkriegs beruht nicht mehr auf der Empathie mit den Afroamerikanern wie bei Harriet Beecher Stowe, sondern auf ihrer Unterwerfung und ihrem Ausschluss. Ein neues Selbstbild des weißen Amerika und ein modernisiertes, rassistisch geprägtes Bild des Fremden sind ›geboren‹ (vgl. Rogin »Sword«, Williams 96-135). Trotz der beinahe übermächtigen Präsenz von D.W. Griffith wäre es allerdings falsch, den Rassismus seines Films als einziges oder dominantes Modell nationaler Identität zu verstehen. Der Konflikt zwischen dem weißen und schwarzen Amerika wird sich zwar fortsetzen, aber die Auseinandersetzungen um nativistische oder multiethnische Selbstbilder sind wesentlich komplexer. Zum einen sind die regionalen Empfindlichkeiten so unterschiedlich, dass die Popularität oder Ablehnung von Filmen nicht pauschal für die gesamte Nation gilt (im Bundesstaat Kansas wird The Birth of a Nation beispielsweise temporär verboten, vgl. Stokes 6). Zum anderen hat sich der Filmmarkt bereits so weit ausdifferenziert, dass es eigene Produktionsfirmen für ethnische Minderheiten gibt, etwa die Filme des Afroamerikaners Oscar Micheaux (und etliche auf derartige Produktionen spezialisierte Kinos, vgl. Gomery 155-196). Schließlich gibt es trotz des großen Erfolgs von The Birth of a Nation zahlreiche parallele Projekte, die in der Hinwendung zur modernen, von Urbanisierung und Immigration gekennzeichneten Gesellschaft zu einem anderen, stärker multiethnischen Bild beitragen, beispielsweise The Italian (Reginald Barker, Thomas H. Ince, C. Gardner Sullivan, 1915) – obwohl die afroamerikanische Minderheit auch hier nur selten zu einem integralen Bestandteil wird. In den späten 1910er Jahren hat der amerikanische Spielfilm eine Form angenommen, die gemeinhin als ›klassisch‹ bezeichnet wird. Sie folgt ästhetischen, praktisch-gestalterischen und soziokulturellen Regeln, die als Standard Akzeptanz gefunden haben und den Charakter einer historischen Norm besitzen, d. h. eines Möglichkeitsspektrums, das kreativen Entscheidungen als Vorgabe dient, aber immer wieder auch überschritten werden kann (vgl. Bordwell, Staiger und Thompson 3-11). Nach dem Ersten Weltkrieg setzt sich diese Norm im globalen Maßstab durch, wobei sie dies nur durch stetige Weiterentwicklung erreicht und vielfältige Wechselwirkungen mit anderen Filmkulturen bestehen. Zum ›klassischen‹ Charakter gehören zahlreiche gestalterische Merkmale: eine auf Geschlossenheit und Kontinuität angelegte Konstruktion von Raum und Zeit, die kausale Verbindung von Szenen, wobei die ›Heldenfiguren‹ durch ihre Wünsche und ihr Begehren – ihre psychologischen Motivationen – zum antreibenden Element der Geschichte werden, eine Parallelführung von zwei zentralen Handlungslinien, von denen eine zumeist dem romantischen Liebesdiskurs gewidmet ist, sowie eine Erzähl184

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form, die alle stilistischen und narrativen Mittel (Fokalisierung, Bildkomposition, Räumlichkeit, Kontinuitätsmontage) in den Dienst der Geschichte stellt. Das (heldenhafte) Individuum mit seinen oder ihren Motivationen und dem Versuch, diese durch aktives Handeln zu realisieren, steht im Zentrum des klassischen Hollywood-Films (vgl. Bordwell, Staiger und Thompson 1-84). David Bordwell fasst zusammen, dass diese Erzählkonventionen starke Anleihen beim well-made play des späten 19. Jahrhunderts machen: »Psychological causality, presented through defined characters acting to achieve announced goals, gives the classical film its characteristic progression. The two lines of action advance as chains of cause and effect. The tradition of the well-made play, as reformulated at the end of the nineteenth century, survives in Hollywood scenarists’ academic insistence upon formulas for Exposition, Conflict, Complication, Crisis, and Denouement« (Bordwell, Staiger und Thompson 17).

Hollywood wird zum neuen Zentrum der Produktion (die Finanzabteilungen bleiben hingegen in New York), aber auch zum Fixpunkt einer neuen Populärkultur, deren Wertesystem – Modernität, Konsum, Individualität, Attraktivität, Jugendlichkeit und Körperlichkeit – den Wertekanon des viktorianischen Zeitalters radikal umdefiniert. Dieser kulturelle Wandel kommt ebenfalls in den neuen Kinobauten zum Ausdruck, die größer, komfortabler und architektonisch gewagter werden. Die Zeit der Nickelodeons geht langsam zu Ende und wird von der Ära des movie palace abgelöst, in dem der Kinobesuch für das urbane Mittelklassepublikum zu einem exquisiten Freizeiterlebnis beitragen soll. In den Produktionsfirmen – Warner und die Fox Film Corporation werden 1913 gegründet, Metro 1914, Goldwyn and Mayer 1917 – wird die Arbeitsweise im Sinn eines ökonomisch effizienten Systems organisiert, das den steigenden Bedarf an Filmen decken soll. Dazu gehört die Unterteilung der Produktion in einzelne Arbeitsschritte, die von speziell ausgebildeten Fachleuten übernommen werden, oder eine Aufnahme von Szenen, die nicht der Chronologie der Geschichte, sondern den Bedürfnissen einer effektiven Planung (etwa bei der Nutzung von Kulissen) dient (vgl. Grainge, Jancovich und Monteith 67-92). Als der damalige UFA-Regisseur Fritz Lang im Jahr 1924 von einer Reise nach Hollywood zurückkehrt, schreibt er bewundernd: »Dieser Hunger des ungeheuren Landes ist nur durch Massenspeisung mit einer fabrikmäßig hergestellten Ware zu stillen« (213). Auch die starke Genredominanz und das Starsystem können im Sinn dieses ›Fabrikmäßigen‹ verstanden werden. Populäre Genres erlauben es, bewährte Handlungsverläufe, Schauspieler und Ausstattungsmerkmale in leicht variierter Form erneut zu verwenden und standardisieren damit die Herstellung einer publikumswirksamen Erzählung. Mit Stars schaffen sich die Produktionsfirmen zudem beliebte und wiedererkennbare ›Markenzeichen‹, die ein bestimmtes Vergnügen (zusammengefasst in den Merkmalen der StarPersona) versprechen und ökonomischen Erfolg berechenbarer machen sollen. Das emergente Studiosystem schafft mit seinen Prämissen der Effizienz (Rationalisierung, Standardisierung, Wiederholung), Innovation und Diversifikation von Kulturprodukten den neuen Typus einer modernen ›Kulturindustrie‹ (vgl. Grainge, Jancovich und Monteith 67-92). Beide Kennzeichen des klassischen Hollywood-Kinos, Stars und Genres, haben neben der starken 185

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ökonomischen Bedeutung jedoch auch wichtige kulturelle Funktionen. Die Möglichkeit des Identitätswechsels, der mit Stars wie Mary Pickford oder Lillian Gish assoziiert wird, ist beispielsweise ein zentraler Faktor beim Wandel von Weiblichkeitsbildern und der Popularisierung der ›new woman‹. Den stetigen Wandel der Filmindustrie bekommt auch D.W. Griffith zu spüren, dessen Karriere im wesentlichen auf den Stummfilm beschränkt ist. Mit Intolerance (1916), Broken Blossoms (1919) oder Way Down East (1920) schafft er Filme, die sehr dezidiert den Anspruch einer neuen amerikanischen Filmkunst markieren und auf der unumstrittenen Position des Regisseurs als letzter kreativer Instanz beruhen. Diese Position kann Griffith in den späten 1910er Jahren noch einnehmen, doch mit dem ökonomischen Wachstum der Produktionsfirmen, die durch Zusammenschlüsse und Übernahmen in den 1920er Jahren zu einem Oligopol weniger starker Studios wachsen, kommt es zu einer Machtverschiebung von kreativen, aber ›exzentrischen‹ Regisseuren wie Griffith oder Erich von Stroheim (Greed, 1924) zu den ausführenden Produzenten in den Studios. Die Kulturindustrie von Hollywood schafft es, eine hochgradig effiziente, aber für Filmkünstler aus aller Welt auch überaus anziehende ›Filmfabrik‹ darzustellen, die mit ihren Erzählkonventionen die Lingua franca des internationalen Films definiert.

3.3 Studiosystem und ›goldenes Zeitalter‹: 1918-1941 Modernität, Geschwindigkeit und die Gegenwartsbezogenheit der Geschichten, aber auch die Professionalität des Produktionssystems sind Merkmale des amerikanischen Kinos, die für Filmschaffende aus aller Welt einen Vorbildcharakter annehmen. Ernst Lubitsch, Victor Sjöström, F.W. Murnau, Paul Fejos oder Josef von Sternberg emigrieren in den 1920er Jahren nach Hollywood. Das Studiosystem wird am Ende der Dekade von fünf großen und drei kleineren Studios dominiert (MGM, Warner, Fox, Paramount und RKO sind die ›big five‹, Universal, Columbia, United Artists die ›little three‹). Viele von ihnen verfügen nach Zusammenschlüssen nicht nur über Produktionsanlagen, sondern auch über Kinoketten, in denen sie sich einen berechenbaren Absatz der Filmware sichern. Es kommt zu einer ›vertikalen Integration‹ der Studios, die alle Stationen der Wertschöpfungskette kontrollieren: Produktion, Vertrieb und Aufführung (vgl. Thompson und Bordwell 195-206). Gerade der Kinobesuch hat sich im Umfeld der modernen Konsumkultur mit ihren neuen Strategien der Werbung stark weiterentwickelt. In den ›Kinopalästen‹ ist der Spielfilm häufig nur eine Attraktion unter vielen: Musikstücke, Lieder, Ballettnummern, newsreels und Filme bilden häufig ein bunt gemischtes Programm, das den eklektischen Charakter der Populärkultur hervorhebt: Sie fragmentiert längere Werke, wählt die populärsten Passagen aus und kombiniert diese frei nach ihrem Unterhaltungswert oder ihrer kulturellen Reputation (vgl. »Capitol Theatre, 1920«, Gomery 57-82 und Koszarski). In anspruchsvollen Produktionen von D.W. Griffith wie Way Down East (1920) ist der vorherrschende Erzählmodus das Melodrama. Es dient einer kritischen Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Verhältnissen, die anhand der Viktimisierungserfahrung der weiblichen Hauptfigur Anna Moore (Lillian Gish) als ungerecht und beschädigend dargestellt werden. Indem sie wegen einer unehelichen Schwangerschaft ausgestoßen wird und im dramati186

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schen Finale auf Eisschollen vor dem Tod gerettet werden muss, appelliert der Film an ein Ethos der männlichen Selbstdisziplinierung und das Ideal der Monogamie. Die Sexualpolitik einer Reglementierung des weiblichen und männlichen Körpers ist ein wesentliches Reformanliegen in der »Progressive Era«. Neben dem Melodrama, dessen emotionale Zuschaueransprache solche Anliegen im Akt des Kinobesuchs legitimieren möchte, sind sie auch Gegenstand der Komödie, die subversiver mit ihnen verfährt. In zahllosen onereelers wählt Charles Chaplin (1889-1977), der wichtigste Komiker des Stummfilms, die Reformpolitiker oder Repräsentanten gesellschaftlicher Institutionen zu Objekten einer mitunter recht handfesten Slapstick-Komik. In The Kid (1921), Chaplins erstem ›feature film‹, verbindet er auf eine für ihn typische Weise sentimentale mit komischen Elementen. Auch hier steht ein uneheliches Kind am Anfang, das die junge Mutter in ihrer sozialen Not aussetzt und das der ›Tramp‹ – jene von Chaplin geschaffene und bis in die letzte Geste perfektionierte Kunstfigur – findet und aufziehen wird. Als das Jugendamt ihm, dem deklassierten Außenseiter, das Kind entreißen will, kommt es zum emotionalen Höhepunkt: der schmerzhaften Trennung und glücklichen Wiedervereinigung, als das Kind der Institution entfliehen kann (vgl. Abb. 3). Schließlich kommt auch die mittlerweile wohlhabende Mutter zu ihrem Recht, für das Kind sorgen zu können. Die vom erzählerischen Grundgerüst her einfach gehaltene Geschichte – wie bei Griffith wird noch kein Wert auf eine übermäßige Individualisierung der Figuren gelegt, sie stellen vielmehr Typen dar – gewinnt ihre wahre Komplexität erst durch die von Chaplin unglaublich virtuos eingesetzte Körpersprache. Seit den frühen 1900er Jahren vermitteln Zwischentitel wichtige narrative Informationen (Schauplätze, Dialoge, Erzählerkommentare), und immer werden die sogenannten Stummfilme durch Musik und manchmal auch Geräusche begleitet (Bowser 137-147). Neben der musikalischen Improvisation (auf dem Klavier oder der Orgel) entstehen eigenständige Filmkompositionen, daneben kommen genretypische Musikstücke aus der gesamten Musikgeschichte für entsprechende Filmszenen zum Einsatz. Doch Charles Chaplin gewinnt seine Ausnahmestellung durch die Vielfalt und Nuancen des nonverbalen Spiels.

Abb. 3: The Kid (Charles Chaplin, Kamera: Roland H. Totheroh, First National, 1921).

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In The Kid reicht das Spektrum von der Sorge um das Kind in der ärmlichen Behausung des Tramp bis zum Boxkampf im Slum-Milieu, bei dem er sich gegen körperlich übermächtige Gegner bewährt. Charakteristisch ist das enge Zusammenspiel zwischen Mimik und Körperbewegung sowie die Fähigkeit, Situationen durch blitzschnelle Verhaltensänderungen zu seinen Gunsten zu beeinflussen. Das nuancenreiche Spiel erreicht Chaplin, der als Regisseur, Produzent, Hauptfigur und Komponist in Personalunion auftritt, dabei durch eine dem Effizienzdenken diametral entgegengesetzte Inszenierungsstrategie: Er entwickelt Handlungsverläufe und das exakte Timing häufig erst durch zahllose Improvisationsversuche vor laufender Kamera. Nicht Effizienz, sondern ›Verschwendung‹ kennzeichnet dieses Verfahren, doch der weltweite Erfolg seiner Filme bestätigt das ästhetische Programm. Die akrobatische, körperbetonte Filmkomik ist in den 1920er Jahren ein populäres Genre, das durch die häufigen sight gags (Situationen, die mit den Erwartungen der Zuschauer spielen) in einen beständigen Dialog mit dem Publikum tritt. Neben Chaplin gelten Harold Lloyd, Harry Langdon und Buster Keaton als besonders einflussreich. Lloyd erschafft – beispielsweise in Safety Last (1923) – eine ebenso reaktionsschnelle und anpassungsfähige Figur wie der Tramp, siedelt sie aber in der konsumorientierten jungen Mittelklasse der 1920er Jahre an. Bei Chaplins Tramp und der Lloyd-Persona werden zentrale kulturelle Funktionen der Komik deutlich. Zum einen zeigt sie mit ihren Formen der Subversion und Wiederherstellung kultureller Hierarchien das soziale Gefüge als dynamisch und instabil: als Interaktionsfeld, in dem der Wunsch nach sozialem Aufstieg nur durch geschmeidige Anpassungsfähigkeit gelingt, in dem sich aber auch niemand sicher sein kann, der es nach ›oben‹ geschafft hat. Zum anderen führt sie die zentralen komischen Figuren als Modelle der Grenzüberschreitung, als transgressive Figuren vor. Nur weil der Tramp den Habitus und die Körperspräche des Millionärs kennt und temporär in seine Rolle schlüpfen kann (wie in City Lights von 1931), kann er Klassengrenzen überschreiten, ohne sie damit aufzuheben. Das Interaktionsprogramm vieler Komödien ist das ›Spiel im Spiel‹, eine soziale Interaktion, die ihre Rollenhaftigkeit und Regelgebundenheit betont und auf diese Weise kulturelle Hierarchien unterlaufen kann. Ein Film wie Safety Last, bei dem die Harold Lloyd-Persona am Schluss ohne Netz und unter Lebensgefahr ein Hochhaus erklimmen muss, partizipiert allerdings auch ganz entscheidend am Kino der Attraktionen. In anderen Produktionen der Zeit, beispielsweise The Thief of Bagdad (Raoul Walsh, 1924) mit dem virilen man of action Douglas Fairbanks in der Hauptrolle, kommen gleichermaßen elaborierte Spezialeffekte zum Einsatz, die die Faszination am visuellen Spektakel unterstreichen. Als der Dieb sich zur liebesbedingten, persönlichen Umkehr entschließt, muss er zur Bewährung gegen Drachen, Feuer und feindliche Armeen kämpfen. Mit dieser kinetischen Energie schafft der amerikanische Spielfilm offensichtlich eine Rezeptionserfahrung, die eine spürbare Differenz zwischen dem amerikanischen und dem europäischen Kino markiert. Fritz Lang, der in den 1930er Jahren vor den Nazis nach Frankreich fliehen und später nach Hollwood emigrieren wird, berichtet Mitte der 1920er Jahre für die deutschen Leser des Film-Kurier, was den amerikanischen Film für ihn so attraktiv macht:

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Der amerikanische Film »Ich sitze im Kino, lasse mir anderthalb Stunden lang durch eine herrliche Räubergeschichte alles Europäisch-allzu-Europäische aus dem Kopf blasen und bin hinterher vergnügt und guter Dinge und irgendwie erfrischt. [...] Fast unerreichbar sind die Amerikaner, wo sie Themen mitten aus ihrem ureigensten Leben verfilmen. Sei es kurz vergangene Vergangenheit – aus der ihnen die Geste des Revolverhaltens noch in allen Fingerspitzen kribbelt und lebendig ist – oder die Geschichte einer BroadwayTänzerin, eines Bowery-Boxers« (Lang 212-213).

Technisch wie ästhetisch kommt es in den späten 1920er Jahren zu einer radikalen Zäsur. Im Konkurrenzkampf der Studios setzen die Warner Brothers auf eine Strategie der technischen Innovation, indem sie den Tonfilm einführen. Versuche mit der Verbindung von Bild- und Tonaufnahmen hat es schon früher gegeben, aber erst jetzt stehen technische Verfahren der Vitaphone Company zur Verfügung, die einen flächendeckenden Einsatz erlauben. Produktion und Aufführung müssen in der Folgezeit angepasst werden, und auch die Filmästhetik wird beeinflusst. Modernität und Gegenwartsbezug werden auch weiterhin Kennzeichen des amerikanischen Spielfilms sein, doch das große Zeitalter der Stummfilm-Erzählungen, der ausgefeilten Körpersprache und des vordringlichen Erzählens in Bildern ist in den frühen 1930er Jahren zu Ende (vgl. Thompson und Bordwell, 128-151, 178-184, Naremore, Acting 34-67, Crafton). Für die Übergangszeit vom Stumm- zum Tonfilm ist The Jazz Singer (Alan Crosland, 1927) mit Al Jolson in der Hauptrolle das wichtigste Beispiel. Nur wenige Gesangspassagen und Gespräche sind tatsächlich mit Synchronton aufgenommen – die religiösen Lieder des Kantors Rabinowitz und die Jazz-Nummern seines Sohns Jakie –, doch gerade dieser Zusammenprall zwischen dem gestenreichen Pathos des Stummfilms und der neuen Präsenz des Individuums durch die Synchronität von Stimme und Bild veranschaulicht die tiefe filmästhetische Zäsur. Viele Aspekte der Zwischentitel können tatsächlich unmittelbar übernommen werden, ihr Witz, ihre Milieuverbundenheit, ihre Konzentration auf das Wesentliche der Geschichte, aber das Ausdrucksspektrum der Stimme trägt – nachdem die anfänglichen technischen Schwierigkeiten der Tonaufnahme weitgehend überwunden sind – zu einer spürbaren Beschleunigung und Modernisierung in den frühen 1930er Jahren mit Filmen wie Little Caesar (Mervyn LeRoy, 1930), 42nd Street (Lloyd Bacon, 1933) oder It Happened One Night (Frank Capra, 1934) bei. In The Jazz Singer dient der Synchronton zudem einer Ethnisierung der Erzählung, die den für die 1920er Jahre typischen Konflikt zwischen Tradition und jugendlichem Aufbruch als Wettstreit zwischen jüdisch-religiösen Liedern und amerikanischem Jazz ansetzt. Jakie Rabinowitz, der sich den neuen Namen Jack Robin gibt, ist zerrissen zwischen der Kantoren-Tradition seiner Familie, in die er sich einreihen soll, und der populärkulturellen Attraktion des Jazz, den er gleichermaßen beherrscht und als die ihm zeitgemäße Musik empfindet. Es ist ein paradigmatischer Generationenkonflikt, mit dem die Assimilationsproblematik unterschiedlicher Immigrantengruppen thematisch wird. Die Eltern verharren im religiösen und kulturellen Wertesystem der alten Welt, ihre Kinder suchen Zugehörigkeit im melting-pot der neuen, amerikanischen Kultur. Als sein Vater im Sterben liegt, singt Jakie in der Synagoge das Kol Nidre-Gebet, doch unmittelbar danach steht er wieder auf der Theaterbühne und singt »My Mammy« vor den Augen seiner Mutter, 189

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die im Unterschied zum Vater seine Begeisterung für die neue Musik des Jazz immer verstanden hat. Bei seinen letzten Gesangseinlagen tritt Jakie in blackface auf, mit dem eingeschwärzten Gesicht der minstrel shows. Damit werden die bislang ausgeblendeten afroamerikanischen Ursprünge des Jazz präsent gehalten, gleichzeitig bekommt die Auseinandersetzung um jüdische Orthodoxie und amerikanische Assimilation eine weitere komplexe Wendung (vgl. Abb. 4). Denn der Weg in den Mainstream der Unterhaltungsindustrie scheint für Jakie nur über den Umweg einer Verkleidung möglich zu sein, die Marginalität signalisiert und gleichzeitig überwindet. Als Nicht-Schwarzer könnte er nominell zum weißen Amerika gehören, in der blackface-Verkleidung markiert er aber eine Distanz, die zweifellos zum protestantisch-weißen Milieu besteht (vor allem durch die ambivalent-lockende »shiksa« Mary Dale).

Abb. 4: The Jazz Singer (Alan Crosland, Kamera: Hal Mohr, Warner Brothers, 1927). Das Interaktionsprogramm von The Jazz Singer ist demnach hochgradig reflexiv. Durch die permanente ›Spiel-im-Spiel‹-Thematisierung von Bühnensituationen sowie des unterschiedlichen Rollenverständnisses, das sie mit sich bringen – hier das strenge religiöse Ritual mit der Anrufung Gottes, dort das Showbusiness mit dem Konkurrenzdruck, unterhalten zu müssen –, thematisiert der Film die Ängste und Hoffnungen eines Assimilationswunsches, der sich in einer Phase des Übergangs befindet, seine stabile Rolle also noch nicht gefunden hat. Die gespaltene Selbstwahrnehmung von Jakie ist dabei nicht nur für Al Jolson selbst und andere jüdische Entertainer charakteristisch, sie trifft auch auf viele Studiogründer wie Samuel Goldwyn, die Warner Brothers oder Louis B. Mayer zu, die aus einem jüdischen Immigrantenmilieu stammen und das Filmmedium als Möglichkeit verstehen, sich größere kulturelle Akzeptanz zu verschaffen. Ist für den alten Kantor die Bezeichnung ›Jazz Singer‹ eine Schmähung, so will der junge Jakie zeigen, dass der künstlerische und ökonomische Erfolg in der Populärkultur für ethnische oder religiöse Minoritäten zum Gradmesser ihrer gesellschaftlichen Zugehörigkeit geworden ist. Dies gilt nicht nur für ihn als Einzelperson, es ist ein kulturelles Begehren, dem die Studios insgesamt anhängen (vgl. Rogin Blackface, Gabler). 190

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Großstädte wie Chicago oder New York City sind in den Anfangsjahren des amerikanischen Films nicht nur Produktionszentren, sie werden auch zu bevorzugten Schauplätzen des beschleunigten modernen Lebensstils der 1920er Jahre. Mit Tin Pan Alley (Musik), Broadway (Theater, Musical), Madison Avenue (Werbeindustrie), Radiostationen und Filmgesellschaften ist New York City das Medienzentrum der Nation. Gleichzeitig hält es mit Immigrantenghettos, dem afroamerikanischen Harlem oder berüchtigten Sozialmilieus wie ›Hell’s Kitchen‹ zahlreiche Orte bereit, die – wie in der modernen Kunst insgesamt – in metonymischer Form nationale Entwicklungen vorwegnehmen. Für die literarische Moderne bringt New York City in F. Scott Fitzgeralds The Great Gatsby (1925) das neue materialistische Ethos der amerikanischen Kultur am deutlichsten zum Ausdruck, und es unterwirft in Manhattan Transfer (1925) von John Dos Passos den Handlungsraum des Individuums einer unausweichlichen Dynamik der Wahrnehmungsfragmentierung und des Konkurrenzdrucks. Auch in unterschiedlichen Filmgenres wird die Großstadt als Ort des Verbrechens, des sozialen Aufstiegs, der Multiethnizität, des Zusammenpralls von alter und neuer Welt, des technischen Fortschritts, der ästhetischen Kontraste oder der Vergnügungssucht thematisch. In The Crowd von King Vidor (1894-1982) aus dem Jahr 1928 überwiegt wie bei Dos Passos, wenngleich im Milieu der unteren Mittelschicht angesiedelt, eine skeptische Darstellung des Großstadtlebens. Jugendlichkeit und Dynamik stehen am Anfang der Beziehungsgeschichte von John Sims (James Murray) und Mary (Eleanor Boardman), aber die Anonymität der Metropole und ein Gefühl der Austauschbarkeit, das in der strengen visuellen Rasterung des Großraumbüros anschaulich wird, heben die destruktiven Folgen des Modernisierungsprozesses hervor. Als sein Kind von einem Auto angefahren wird und im Sterben liegt, versucht John vergeblich, sich gegen den unerträglichen Lärm der Großstadt zu stemmen. Es stirbt, und ein Zwischentitel (von Joe Farnham) formuliert die resignativ-sentimentale Moral des Films: »The crowd laughs with you always, but it will cry with you for only a day«. In seinem urbanen Setting veranschaulicht The Crowd damit einen Grundkonflikt der modernen Erfahrung: Wie können sich Individualität, Glück und sozialer Fortschritt in einem Umfeld entwickeln, das hochgradig auf Konkurrenz angelegt und im Arbeits- wie auch im Freizeitleben durch zunehmende Standardisierung gekennzeichnet ist? Dabei bringt der Film diesen Konflikt zum Ausdruck, als Bestandteil einer technisierten Kultur verstärkt er ihn aber auch. Unterhaltungsmedien in der Geschichte (Coney Island, Grammofon-Musik) bieten ein künstlerisches oder vergnügliches Refugium, aber sie entlasten die Entfremdungsgefühle moderner Subjektivität nur kurzfristig, was schließlich nur durch die Hinwendung zu neuen Erzählungen und Attraktionen – in diesem Fall durch den abschließenden Besuch einer Vaudeville-Show – besänftigt werden kann. The Crowd offenbart die Verlockungen, aber auch die Paradoxien der neuen Konsum- und Unterhaltungskultur (vgl. Decker, Blick 172-223). Einer der ersten amerikanischen Avantgarde-Filme wendet sich ebenfalls der Metropole New York City zu, aber er offenbart ein ganz anders gelagertes Interesse. Manhatta von Paul Strand und Charles Sheeler entsteht 1921 191

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und kann als frühe ›Stadtsymphonie‹ bezeichnet werden. Zwischentitel aus Gedichten von Walt Whitman gliedern den Film in einzelne Kapitel, die unterschiedliche zeitliche und räumliche Ausschnitte des Stadtlebens zeigen und dabei den hymnischen Ton von Whitman adaptieren (»Gorgeous clouds of sunset! drench with your splendor me or the men and women generations after me«). Strand und Sheeler sind beide als Fotografen (Sheeler auch als Maler) aktiv und nähern sich den Stadtmotiven mit der kühlen Sachlichkeit der »straight photography« (vgl. Kapitel 1.7 und 2.4). Menschenmassen strömen in die Stadt, verteilen sich in den Straßen, Häuser werden gebaut, Kräne ragen empor, Schiffe und Eisenbahnen kommen an – Manhatta wählt die Beobachterposition aus höchster Distanz und setzt das dynamische, technisch bedingte Wachstum der Stadt in eine kreative Spannung mit der menschenund naturverbundenen Perspektive von Whitman. Im Unterschied zu The Crowd ist der urbane Raum weniger ein soziales Interaktionsfeld als ein Raum der ästhetischen Kontraste und künstlerischen Abstraktion. Mit ihrer Faszination an der schlichten Funktionalität der neuen skyscraper und an der kontinuierlichen Bewegtheit des Stadtlebens, die das Bild von innen her dynamisiert – durch Rauchschwaden und Maschinen, durch den Kontrast zwischen Architektur und ameisengleichen Menschenströmen – repräsentieren Strand und Sheeler einen technikzugewandten Strang der amerikanischen Moderne. In der abstrakten (ästhetischen) Reduktion der neuen Stadtlandschaft verschwindet zwar das Individuum, aber es wird in einen übergeordneten urbanen ›Mechanismus‹ integriert, der traditionellen Vorstellungen eines organisch-natürlichen Gebildes entsprechen soll. Die Vision der Stadt als lebendiger Organismus kennzeichnet auch andere Filme der frühen Avantgarde – The Twenty-Four-Dollar Island (Robert Flaherty, 1927), A Bronx Morning (Jay Leyda, 1931), City of Contrasts (Irving Browning, 1931) –, doch obwohl fast immer New York City und damit die stilbildende Stadt der Moderne gewählt wird, erreichen diese Stadtsymphonien nicht die gleiche virtuose Komplexität wie ihre europäischen Pendants (z. B. Walter Ruttmanns Berlin: Die Sinfonie der Großstadt von 1927). Durch die starke Dominanz von Hollywood entwickeln sich die für den Avantgarde- wie auch Dokumentarfilm nötigen Institutionen (Filmclubs, art cinemas) langsamer als in Europa, wo das kommerzielle amerikanische Kino häufig als künstlerisches Feindbild dienen kann. Dennoch entsteht neben den Stadtsymphonien mit Formen des experimentellen Erzählens oder des Kompilationsfilms eine eigenständige amerikanische Filmavantgarde (vgl. Horak 14-66).3 Im Dokumentarfilm, dessen Anfänge nach den actualities der Frühphase mit Nanook of the North (Robert Flaherty, 1922) im Bereich der Reiseexplorationen und -exotik liegen, wird New York City zum Zentrum zahlreicher Gruppen und Initiativen. Tatsächlich überschneiden sich in den Stadtsymphonien Darstellungsanprüche des dokumentarischen Films und der künstlerischen Avantgarde. Doch spätestens in den 1930er Jahren wird deutlich, dass die Dokumentarfilmbewegung – mit Gruppen wie The Workers Film and Photo League of America, Nykino oder Frontier Films – ihre Filme als Interventionen in historische, politische oder sozialplanerische Diskurse versteht. 3

Eine hervorragende Zusammenstellung dieser schwer zugänglichen Filme findet sich auf den DVD-Sammlungen Unseen Cinema: Early American Avant-Garde Film, 18941941 (2005) und Treasures from American Film Archives (2000).

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Obwohl die Repräsentation von Realität ein kreativ-künstlerisches Anliegen darstellt, entstehen viele Projekte aus einem gesellschaftspolitischen Engagement, das in den 1930er Jahren primär von der politischen Linken sowie unterschiedlichen Reformgruppen geprägt wird. Auch die ersten Wochenschauen wie The March of Time kommen in dieser Dekade in die Kinos (vgl. Barsam 137-169, Balio 351-386). Eine der wichtigsten dokumentarischen Stadtdarstellungen, The City von Ralph Steiner und Willard van Dyke aus dem Jahr 1939, wird anlässlich der New Yorker Weltausstellung dieses Jahres produziert und soll unmittelbar der Popularisierung des Konzepts der garden city dienen. Es geht u. a. auf Lewis Mumford zurück und enthält im Kern die Vorstellung einer harmonischen Synthese von Urbanität und natürlicher Umgebung, die mit der naturnahen, gesunden Entwicklung des Einzelnen auch der sozialen Gemeinschaft zugute kommt. In The City bildet das Ideal der garden city das vierte und abschließende Segment eines rhetorischen Aufbaus, der durch die Begleitung einer männlichen Kommentarstimme sowie die dramatische Musik von Aaron Copland die Interpretation der Bildsequenzen lenkt. Das geruhsamgemächliche, erdverbundene Landleben des ersten Segments gehört der Vergangenheit an. Dann folgen die beiden Gegenpole der garden city: die menschenfeindliche, krankmachende Umgebung des industriellen steel belt sowie die hektische Unruhe der Metropole. Obwohl eine gekonnte Montage im Stil der avantgardistischen Stadtsymphonien die Dynamk des Großstadtlebens evoziert, wendet die Rhetorik von The City die Modernität der Metropole letztlich gegen sie. Innerhalb weniger Jahre ist sie vom Signum des Gegenwärtigen und Neuen zum reformbedürftigen Moloch geworden, dem nur durch die Reintegration der Natur beizukommen ist. Doch wirklich neu ist dieser Gedanke nicht. Auch The Crowd oder Manhatta lassen sich als implizites Plädoyer der amerikanischen Moderne dafür verstehen, dass Urbanität in einer Balance mit Natürlichkeit gehalten werden sollte. Zu den Genreinnovationen der Großstadt, die eher die destruktiven ›Auswüchse‹ als die harmonische Balance innerhalb ihres ›Soziotops‹ betonen, gehört der frühe Gangsterfilm. Auch wenn er mit Beispielen wie The Musketeers of Pig Alley (D.W. Griffith, 1912) bis in die zehner Jahre zurückreicht, wird er erst mit dem frühen Tonfilm – beispielsweise in Doorway to Hell (Archie L. Mayo, 1930), Little Caesar (Mervyn LeRoy, 1930), The Public Enemy (William A. Wellman, 1931), Scarface (Howard Hawks, 1932), Dead End (William Wyler, 1937) oder The Roaring Twenties (Raoul Walsh, 1939) – zu einem ausgereiften neuen Sozialisationstypus. Wie Jolsons Jazz Singer ist der Gangster ethnisch kodiert, ein sozialer Außenseiter, der mit Ehrgeiz und Tatkraft den sozialen Aufstieg versucht und kulturelle Anerkennung begehrt. Aus der Umklammerung der ersten Immigrantengeneration muss er sich herauslösen, ökonomischer Erfolg – häufig verdichtet in einer Ankleideszene neuer Anzüge –, wird zum Zeichen seiner Assimilation in der amerikanischen Konsumkultur. Doch im Unterschied zum Jazz ist das Medium des Gangsters die Gewalt. Gerade der frühe Tonfilm, in dem Musik spärlich eingesetzt wird, nutzt die neue Klangkulisse der Pistolen und Maschinengewehre gekonnt für sein Bild des ›Großstadtdschungels‹. Zu einem neuen Typus wird der Gangster daher, indem er die outlawTradition der frontier-Erfahrung in eine Großstadt transponiert, die durch vielfältige Ethnien und einen Kampf gekennzeichnet ist, an dem moderne 193

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Institutionen wie Politik, Polizei und Gangstersyndikate ebenso beteiligt sind wie herausragende Individuen, die sich durch besonders rücksichtslose Brutalität an die Spitze der jeweiligen Organisationen stellen können. In dieser amerikanischen Gangster- und Räubermythologie steckt die Vision einer blitzartigen Erfolgsgeschichte, deren Aufstieg auf Durchsetzungskraft, aber eben auch auf ungesetzlichen und antisozialen Mitteln beruht, und die den Gangster zum Antipoden einer Ethik der harten und ehrlichen Arbeit macht (vgl. Munby 39-65, Cook, Cinema Book 279-285). Dass sie nicht nur durch ihre mitreißenden Kampf- und Tötungsszenen einen besonderen Thrill verspricht, ist seit den Anfängen des Kinos bekannt. In den frühen 1930er Jahren sind es jedoch vor allem die intensivierten Darstellungen von Gewaltakten und sexueller Attraktion, die eine lange währende Zensurdebatte des Kinos um das Jahr 1934 kulminieren lassen. Am Ende dieser Debatte, die als apokalyptische Geschichte plötzlicher Läuterung gepriesen wird, obwohl sie doch eher auf einen stetigen Prozess zurückgeht, steht die Production Code Administration (PCA) unter der neuen Leitung von Joseph I. Breen sowie der Production Code, ein normatives Regelwerk, welches filmische Inhalte und Darstellungsformen festlegt. Man hat den Code häufig als Ausdruck puritanischer Engstirnigkeit interpretiert, doch das Filmmedium wird in allen Ländern von staatlichen Behörden überwacht und mit Vorgaben versehen. Seit den 1900er Jahren gibt es in den USA entsprechende Bemühungen, auf den Inhalt von Filmen einzuwirken. Die Produzenten und Kinobetreiber haben ein Interesse an möglichst sensationellen Attraktionen, während die kulturellen Eliten Einfluss auf Lebensstile und Wertdiskurse nehmen wollen. Am Ende überwiegt jedoch aus kommerziellen und Effizienzgründen das Ziel der Filmindustrie, die Risiken ihrer ›Produkte‹ kalkulierbar zu halten und den Zugriff durch Behörden von außen abzuwehren (vgl. Balio 37-72). In den frühen 1920er Jahren soll angesichts publikumsträchtiger Drogenund Sexskandale das nach Will H. Hays benannte Hays Office diesen Zweck erfüllen. Es formuliert eine Liste der ›Do’s and Dont’s‹, die den Produzenten als Orientierungshilfe dienen soll (und frühere Vorschläge weiterführt). Auch die Preisverleihungen der Academy of Motion Picture Arts and Sciences werden 1927 partiell ins Leben gerufen, um den ramponierten Ruf der Industrie aufzupolieren und ihre Leistungsfähigkeit zu demonstrieren. Doch spätestens in der Wirtschaftskrise der Great Depression, als die Studios verzweifelt nach neuen Einnahmequellen suchen und Tabugrenzen testen, wird die inkonsequente Anwendung des Code offenbar. Gruppierungen wie die katholisch geprägte National Legion of Decency machen gegen Hollywood mobil, dessen Position als ›jüdische‹ Industrie ohnehin fragil erscheint. Als einzelne Filme und Kinos boykottiert werden, entschließen sich die Studios, den Production Code im Produktionsprozess systematisch zu berücksichtigen. Nur Filme mit dem Siegel der PCA können in den großen Kinoketten aufgeführt werden. Die PCA repräsentiert damit eine ungeliebte Selbstregulation von innen, die jedoch eine Zensur von außen verhindern hilft. Viele Vorschriften des Code sind konservativ und kunstfeindlich, aber den Filmschaffenden gelingt es auch, sie kreativ zu umgehen oder zu nutzen. In den 1950er Jahren wird der Code durch ambitionierte Produktionen überschritten oder missachtet (The Man with the Golden Arm von Otto Preminger erhält 1955 kein Siegel), bis er in den späten 1960er Jahren durch das rating system der Motion 194

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Picture Association of America () abgelöst wird, ein Verfahren, das nicht in die Produktion eingreift, sondern Empfehlungen für den Kinobesuch gibt und damit die Aufführungspraxis neu ordnet (vgl. Nowell-Smith 235-248, Brownlow 4-23, Inglis, Black). D AS

ZIVILE

E NGAGEMENT

DES

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Das ›goldene‹ Zeitalter des amerikanischen Kinos liegt in den 1930er Jahren und hat seinen Höhepunkt 1939, als innerhalb eines Jahres zahlreiche seiner populärsten ›Klassiker‹ entstehen, darunter Gone with the Wind (Victor Fleming, George Cukor, Sam Wood), The Wizard of Oz (Victor Fleming, King Vidor), Dark Victory (Edmund Golding), Stagecoach (John Ford), Young Mr. Lincoln (John Ford) oder Wuthering Heights (William Wyler). Mit bis zu 80 Millionen Zuschauern pro Woche ist das Kino unbestritten das Leitmedium der Zeit (Maltby 124). Trotz der weltweiten Wirtschaftskrise geht das Studiosystem (u. a. dank des Code of Fair Competition for the Motion Picture Industry von 1933) strukturell gestärkt aus der Great Depression hervor. Es muss zwar die zuvor bekämpften Aktivitäten von Gewerkschaften zulassen, sieht aber auch die Grundlagen der vertikalen Integration bestätigt. Die monpolistischen Praktiken (u. a. das block-booking, die erzwungene Abnahme von kompletten Filmpaketen durch Kinobetreiber unabhängig von der Qualität der einzelnen Produktionen) werden von der Regierung nicht angetastet (Balio 13-36). Künstlerisch haben Regisseure wie John Ford, Howard Hawks, Lewis Milestone, Frank Borzage, Frank Capra, Preston Sturges, William Wyler, Ernst Lubitsch oder Fritz Lang die Produktivität des Studiosystems mit eigenen Akzenten versehen können, einer ›Handschrift‹, die ihnen die Autorentheorie retrospektiv zuerkennen wird. Das Gros der Produktionen ist jedoch durch Stars, Genrekonventionen, einen spezifischen Studiostil sowie die gewachsene Bedeutung der Produzenten (wie Irving Thalberg, Hal Wallis oder David O. Selznick) geprägt. MGM repräsentiert Glamour (Greta Garbo, Clark Gable), opulente Kostüme (Cedrick Gibbons) und Sets, Warner Brothers steht für ökonomisch erzählte, urbane und sozial engagierte Geschichten (I Am a Fugitive From a Chain Gang, 1932), Paramount prägt intelligente Gesellschaftskomödien (The Lady Eve, 1941), RKO mit Fred Astaire und Ginger Rogers das Musical, und 20th Century-Fox hat den mit Abstand beliebtesten Filmstar der 1930er Jahre unter Vertrag: Shirley Temple, die singt und tanzt, aber insgesamt in eher formelhaften Filmerzählungen auftritt. Die kleineren Firmen spezialisieren sich auf bestimmte Genres oder Produktionssegmente, Universal auf den Horrorfilm, United Artists (eine Vertriebsgesellschaft, die 1919 von Charles Chaplin, Mary Pickford, Douglas Fairbanks und D.W. Griffith gegründet wird) auf besonders anspruchsvolle Filme, beispielsweise Produktionen von Sam Goldwyn wie Dead End (vgl. Cook, Cinema Book 19-44). Die spektakulärste Attraktion dieser Zeit liegt sicherlich in der neuen Farbästhetik, die mit großem technischen Aufwand in Gone With the Wind, der Traumsequenz von The Wizard of Oz, aber auch im ersten animierten Spielfilm Snow White and the Seven Dwarfs (1937) der Disney Studios zum Einsatz kommt. Mit ihrer starken Farbintensität steht sie dort ganz im Zeichen des Märchenhaft-Fantastischen und der melodramatischen Effektsteigerung. Weniger prominent, aber angesichts der noch geringen Verbreitung des 195

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Farbfilms zu diesem Zeitpunkt vielleicht bedeutsamer ist der gestiegene Einfluss der Filmmusik. Sie wird mittlerweile von klassisch geschulten Europäern wie Max Steiner oder Erich Wolfgang Korngold sowie von Komponisten wie Alfred Newman, Aaron Copland oder Bernard Herrmann eigens für die jeweiligen Filmerzählungen geschrieben. Von der flächigen und mitunter recht konventionellen Untermalung (etwa bei Chaplin) hat sie sich zunehmend zu einem eigenständigen Stilmittel der Filmerzählung entwickelt, das durch Leitmotive, Handlungsunterstützung, Kontrapunkte, Spannungssteigerung oder Vorwegnahme narrativer Wendungen immer präziser mit dem Bild abgestimmt wird und die affektive Dimension der Filmerfahrung ganz wesentlich ausbildet – Max Steiners Kompositionen bilden in komprimierter Form die ›Ouvertüre‹ von Gone with the Wind. Das ›goldene‹ Zeitalter beruht demnach zum Teil auf einer intensivierten Qualität des Spektakels, doch es ist gleichermaßen durch den Geist des New Deal geprägt. Die Studiomogule sind politisch überwiegend konservativ und in ihrer Studiopolitik dezidiert gegen die Interessen der Arbeiter und Gewerkschaften eingestellt. Auf der Ebene der Filmschaffenden jedoch, bei den Themen und hinsichtlich der kulturellen Anliegen, bestehen personelle Verbindungen zu den Kulturprogrammen des New Deal, aber auch zum politisch radikaleren Spektrum der popular front. Nie wieder wird die vielbeschworene ›social significance‹ des amerikanischen Spielfilms eine ähnliche Bedeutung erlangen wie in den 1930er und 1940er Jahren. Das ›zivile Engagement‹ umkreist dabei zwei zentrale Problembereiche: die krisenhafte Wahrnehmung politischer Institutionen innerhalb des Landes und die Notwendigkeit, ›nationale Identität‹ angesichts der Bedrohung von außen – durch Diktaturen in Europa und Asien – neu zu definieren. Im Dokumentarfilm findet das sozialkritische Engagement seinen Höhepunkt in Native Land (1942) von Leo Hurwitz und Paul Strand. In einer zeittypischen Mischform von reenactments und faktual-zeithistorischen Aufnahmen, die durch die sonore Kommentarstimme von Paul Robeson thematisch verbunden wird, bilanziert der Film die zahlreichen Bürgerrechtsverletzungen der Zeit gegenüber Gewerkschaften, Minoritäten und Arbeiterführern. Den politischen Kampf der Linken setzt er als Ringen um das besondere amerikanische Versprechen der Demokratie an, das in diesen Gewaltakten zur Disposition steht. Der Film betont damit eine patriotische Besorgnis, die im Jahr seines Erscheinens allerdings bereits tendenziell überholt erscheint, denn das Land befindet sich im Krieg und hat die inneren Missstände durch den Kampf gegen den äußeren Feind überblendet. Der Spielfilm ist weit weniger explizit in seinem systemkritischen Engagement, aber auch hier ist die Politisierung der Kultur nicht zu übersehen, mit der eine junge Generation von Filmschaffenden die Reformbedürftigkeit demokratischer Traditionen und Ideale zur Diskussion stellt. Im Jahr 1941 kommt mit Citizen Kane von Orson Welles (1915-1985) ein Film in die Kinos, der mitunter als ›bester‹ amerikanischer Spielfilm bezeichnet wird; eine zweifelhafte Charakterisierung, die das Bedürfnis, aber auch die Schwierigkeit belegt, Populärkultur im Sinn einer Geschichte der ›Meisterwerke‹ erzählen zu können. Dem jungen Regisseur Orson Welles, der aus der Theaterszene von New York stammt, gelingt ein bemerkenswert innovativer Debütfilm, aber er profitiert vom außerordentlichen Talent der beteiligten kreativen Kräfte (und belegt damit den kollektiven Schaffenspro196

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zess des Filmkunstwerks). Mit der Anlehnung an die Biografie von William Randolph Hearst im Drehbuch von Herman J. Mankiewicz wählt er ein skandalträchtiges Sujet, das ihm im Produktionsprozess größte Aufmerksamkeit garantiert. Der Kameramann Gregg Toland perfektioniert in Citizen Kane die deep space photography, ein Verfahren, das verschiedene Schichten der Dramaturgie (Handlungsteile und Personen) in einem scharf konturierten, große Tiefe suggerierenden Bildraum vereint. Der Komponist Bernard Herrmann schließlich steuert eine Filmmusik bei, die statt der üblichen Leitmotivik stärker auf flächige Tonkaskaden und Stimmungsbilder setzt. Die stärksten Impulse für das filmische Erzählen setzt Citizen Kane jedoch mit zwei weiteren Merkmalen. Durch die flashback-Narration, die das Leben von Charles Foster Kane aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet (und auch gattungsspezifisch differenziert wird, denn der Film beginnt mit einer fingierten newsreel-Sequenz über sein Leben), definiert er eine neue (filmische) Form des multiperspektivischen Erzählens. Das Porträt der Hauptfigur entsteht aus fünf unterschiedlichen Erinnungslinien, die sich nicht in allen Details decken und damit die Relativität von Narration und ›Wirklichkeit‹ betonen. Zudem verweigert Citizen Kane auch die üblichen Muster einer psychologischen Eindeutigkeit der Figuren, denn die tatsächliche Bedeutung des Wortes ›Rosebud‹, das Kane kurz vor seinem Tod flüstert, enthüllt sich nur für die Zuschauer (nicht jedoch für die Figuren in der Diegese). Als am Schluss Kanes Kinderschlitten im Feuer verbrennt, auf dem das Wort ›Rosebud‹ zu lesen ist, entsteht eine Verbindung zu seiner (traumatischen) Trennung von der Mutter in der Kindheit, doch ob damit seine Persönlichkeit wirklich ›erklärt‹ werden kann, bleibt offen. Citizen Kane hebt damit eine Rätselhaftigkeit und Undurchsichtigkeit der Hauptfigur hervor, die der mitunter sehr simplifizierenden Psychologie des klassischen Hollywood-Films zuwiderläuft – einer Persönlichkeitskonzeption, die (innere) psychologische Motivation und (äußeres) Handeln häufig in einen direkten und kausalen Zusammenhang stellt. Darin liegt allerdings auch sein entscheidender Beitrag für die Vision des Politischen. Denn mit Kane, dem egomanen Medientycoon, entwirft der Film eine allegorische Figur, die die Ambitionen und das Scheitern der amerikanischen Nation seit den 1890er Jahren – seit jener Dekade imperialer Expansion, in die auch die Anfänge des Films fallen – symbolisieren soll. Das Verfahren ist nicht neu, da das amerikanische Kino seit den 1910er Jahren Erzählungen hervorzubringt, die den ›Charakter‹ der amerikanischen Nation definieren oder problematisieren sollen. In The Crowd wird diese nationale Symbolik beispielsweise dadurch ausgedrückt, dass die Hauptfigur John am 4. Juli, dem Tag der amerikanischen Unabhängigkeit, zur Welt kommt. Über sechzig Jahre später bedient sich Oliver Stone der gleichen Rhetorik, um in Born on the Fourth of July von 1989 die Integrationsschwierigkeiten von Vietnam-Veteranen anzuprangern und an die besondere Verantwortung der amerikanischen Nation zu appellieren. Doch bei Welles drückt die Allegorie des Nationalen am eindringlichsten eine kulturellen Selbstdefinition aus, die nationale Größe in Größenwahn, Korruption, kulturelle Leere und den Verlust kindlicher Unschuld münden sieht. Die Biografie der Hauptfigur personalisiert das ambivalente Begehren nach nationaler Expansion, gleichzeitig erweist sich der multiperspektivische Erzählprozess aber auch als offen und in seiner Rätselhaftigkeit unabschließbar. Als Erklärungsversuch ist der Kinderschlit197

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ten mit der ›Rosebud‹-Inschrift zu oberflächlich, um das (nationale) Dilemma der Figur wirklich auflösen zu können. Mit den internationalen ›Verstrickungen‹ von Kane sowie seiner Unfähigkeit, politische und kulturelle Ideale einzulösen, wendet sich das Kino demnach dem Motiv der verlorenen (nationalen) Unschuld zu und gibt dem darin aufgerufenen exzeptionalistischen Denken eine dezidiert desillusioniert-skeptische Wendung. Für die inneramerikanische Wertediskussion ist in dieser Hinsicht Frank Capras Mr. Smith Goes to Washington von 1939 noch wichtiger. Capra (1897-1991), der während des Zweiten Weltkriegs mit Why We Fight die einflussreichste Reihe faktual-propagandistischer Produktionen verantworten wird, entwickelt in den frühen 1930er Jahren in Zusammenarbeit mit Drehbuchautor Robert Riskin ein populistisches Protestkino, das jugendlich-naive Helden in den Kampf mit politischer Korruption, tyrannisch-hartherzigen Unternehmern oder den neuen Herrschern über Medien und die öffentliche Meinung schickt. Zwar lässt sich seine Filmarbeit keinesfalls auf diese Ausrichtung reduzieren (er beginnt als Komödienspezialist), aber Mr. Smith Goes to Washington formuliert ähnlich ambitioniert wie Citizen Kane eine populäre Imagination politischer Ideale, die am Ende der 1930er Jahre bedroht erscheint und für die der Spielfilm eine neue Form der affektiven Revitalisierung sucht (vgl. Decker, Blick 374-433). Diese Revitalisierung gelingt Capra durch eine geschickte Verschränkung von Handlungsebenen. Das primäre Interaktionsprogramm ist das politische Ritual. Jefferson Smith (James Stewart), der jugendliche Held, erscheint als naiv und idealistisch, weil er – im Unterschied zu den zynischabgeklärten Akteuren in Washington – an das Funktionieren politischer Institutionen glaubt. Sowohl ihre ritualisierten Rollen und Abläufe als auch ihre Ziele haben für ihn unverrückbare Gültigkeit. Als Smith in Washington eintrifft, zeigt eine Montage berühmter historischer Monumente (angefertigt vom Spezialisten Slavko Vorkapich) jene demokratischen Institutionen und Erinnerungsorte, aus denen er seine unbändige patriotische Energie bezieht. Sobald er jedoch an dem Ritual partizipieren möchte, wird er durch öffentliche Demütigungen in die korrupte ›Realität‹ der väterlichen Machteliten eingeführt. Dieser Problemlage verleiht Capra die revitalisierende Funktion durch das nicht minder wichtige Interaktionsprogramm des Spiels im Spiel. Der Schlussteil des Films verdoppelt die Beobachterposition der Kinozuschauer, indem Smith vor den Augen der Zuschauer im Senat (aber auch des Senatspräsidenten) auf der politischen ›Bühne‹ beobachtet wird (vgl. Abb. 5). Das Ritual kann gezeigt und zugleich hinsichtlich seiner Rollen und Interaktionsregeln analysiert werden. Als Smith mit seinem filibuster an die Grenzen des Zulässigen geht und sich schließlich in einen tranceähnlichen Zustand der patriotischen Autosuggestion hineinsteigert – »either I’m dead right, or I’m crazy« –, wird er durch die treue Helferin des zweiten Handlungsstrangs, Clarissa Saunders (Jean Arthur), angeleitet und unterstützt. Ihre Zwischenrufe und bewundernden Blicke auf den jugendlichen Helden montiert Capra zur zentralen Regenerationsfantasie des Films. Das korrupte demokratische System kann durch die radikale, aber patriotisch inspirierte Überschreitung seiner Ritualgrenzen reformiert werden, wenn sich zwischen den Zuschauern und den politischen Akteuren eine unmittelbare, affektive Verbindung herstellen lässt. In Mr. Smith Goes to Washington gewinnt diese Gefühlsökono198

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mie durch den zugleich affirmativen wie reflexiven Umgang mit politischen Ritualen an Überzeugungskraft. Sie veranschaulicht für den Spielfilm eine Individualisierung des ›demokratischen Helden‹, die sich in dieser Form nicht auf andere Gattungen übertragen lässt. In der Kriegspropaganda von Why We Fight wird Capra immer wieder die Glocken für Freiheit und Gleichheit schlagen lassen, aber es dominiert das Bild des kämpfenden Kollektivs.

Abb. 5: Mr. Smith Goes to Washington (Frank Capra, Kamera: Joseph Walker, Columbia, 1939).

3.4 Kriegsschauplätze und Medienumbruch: 1941-1960 Nach dem Kriegseintritt der USA entsteht – wie im Ersten Weltkrieg – eine enge institutionelle und personelle Verflechtung zwischen Politik, Militär und Filmindustrie. Zahlreiche Filmschaffende (darunter John Ford, John Huston und William Wyler) sowie Studios wie Disney widmen sich kriegsbedingten Produktionen. Die sieben von Frank Capra betreuten Teile von Why We Fight (über die Ursachen des Kriegs, seine Gegner, die amerikanischen Ziele) entstehen für das 1942 gegründete Office of War Information (vgl. Barsam 216-238, Doherty). Tatsächlich hat man eine systematische Kriegspropaganda aufgrund der negativen Erfahrungen mit dem Creel Committee im Ersten Weltkrieg eher vernachlässigt und sieht sich nun gezwungen, eine ähnlich wirksame Filmrhetorik zu entwickeln, wie sie in den faschistischen und kommunistischen Diktaturen bereits besteht. Im Kriegsfilm der 1930er Jahre – etwa dem eindrucksvollen All Quiet on the Western Front (Lewis Milestone, 1930) oder The Big Parade (King Vidor, 1925) – ist Krieg als destruktives Relikt des alten Europa gezeigt worden, von dem sich die Neue Welt fern halten sollte. Eine isolationistische Mentalität, die bis zu den europäischen Ruinenfragmenten in Citizen Kane reicht, sieht in der alten Welt einen Ort der Kultur, aber auch der Krankheit und des Verfalls. Zudem versuchen einige Hollywood-Studios (darunter MGM, Paramount und 20th Century-Fox) bis zuletzt, sich die europäischen Absatzmärkte zu erhalten und vermeiden aus diesem Grund Darstellungen, die wie die eindeutigen Hassfiktionen des Dritten Reichs Anlass zur Zensur durch nationale Behörden bieten 199

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würden (vgl. Spieker). Nur jene Studios wie Warner Brothers, die seit dem Machtwechsel 1933 ihre Produktionen nicht mehr in Deutschland vertreiben, nehmen mit Filmen wie Confessions of a Nazi Spy (Anatole Litvak, 1939) den direkten ›Kampf‹ gegen den faschistischen Gegner auf; viele europäische Emigranten, die es in die USA geschafft haben, engagieren sich bei diesen Projekten (vgl. Birdwell). Für die von Frank Capra betreuten Why We Fight-Filme, die den Krieg erklären und legitimieren sollen, ist der Kampf gegen das rassistische und antisemitische System in Deutschland einer der wesentlichen rhetorischen Gegenpole, von dem die Toleranz und Freiheit der ›kapitalistischen Demokratie‹ abgesetzt wird. Das neue Gebot der Toleranz trägt auch im Spielfilm zu einem Bedeutungswandel der Kriegsdarstellung bei, für die das multiethnische platoon als Kontrast zur deutschen ›Herrenrasse‹ zur neuen Norm wird. Ab 1943 kennzeichnet im combat film – beispielsweise in Sahara von Zoltan Korda – die Zusammenarbeit unterschiedlicher Ethnien und Religionen das Wesen amerikanischer Einheiten, wenngleich afroamerikanische Soldaten – mit Ausnahme von Einzelprojekten wie The Negro Soldier (Stuart Heisler, 1944) des United States War Department – weiterhin ›unsichtbar‹ bleiben. Obwohl kulturelle Hierarchien damit also noch nicht aufgelöst sind und in Nachkriegsdokumentarfilmen wie Strange Victory (Leo Hurwitz, 1948) auf den nach wie vor virulenten inneramerikanischen Rassismus und Antisemitismus reflektiert wird, erweist sich der Zweite Weltkrieg als Zäsur für die (filmische) Definition der amerikanischen Nation. Von der Konfrontation zwischen dem protestantisch-weißen Mainstream und dem ethnischen ›Rand‹, die in The Birth of a Nation ganz bewusst auf den Mythos ›arischer Reinheit‹ zurückgeführt worden war, hat sich die Konzeption nationaler Identität ins Multiethnische verschoben. Das kämpfende, solidarische Kollektiv wird zum nationalen Mikrokosmos und ist nach den Regeln einer neuen, auf größerer Heterogenität beruhenden Balance zusammengesetzt: Neben dem traditionellen WASP (White Anglo-Saxon Protestant) gehören ihm Amerikaner mit italienischen, lateinamerikanischen, irischen, jüdischen oder anderen Migrationshintergründen an (vgl. Slotkin, Basinger). Mit dieser (häufig noch zaghaften) Vision kultureller Anerkennung und gesellschaftlicher Gleichheit finden Anliegen der popular front Eingang in den amerikanischen Film, gegen die sich allerdings bereits Widerstand gebildet hat, da man sie zunehmend unter Kommunismusverdacht stellt. Drehbuchautor John Howard Lawson, der an Sahara mitarbeitet und 1933 der erste Präsident der Screen Writers Guild ist, wird wenige Jahre später zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, weil er sich weigert, mit dem House Committee on Un-American Activities (häufig mit HUAC abgekürzt) zu kooperieren. Diese Anhörungen der Jahre 1947/48 zu möglichen Kontakten der Filmschaffenden mit der kommunistischen Partei oder kommunistischen Kultureinrichtungen sind der deutlichste Ausdruck des Kalten Kriegs im Hollywood-Milieu und ein besonders unrühmliches Kapitel in der Geschichte der Studios. Für zahlreiche Kreative ist der Kontakt mit kommunistischen Einrichtungen, die in den 1930er Jahren weit verbreitet waren, selbstverständlich gewesen, aber jetzt sehen sie mit den damit verbundenen Zweifeln an ihrer Staatstreue ihre gesamte, mühsam erworbene Reputation gefährdet. Ob man mit dem Kommittee unter der Leitung von Senator J. Parnell Thomas kooperiert oder nicht, d. h. Namen anderer ›Sympathisanten‹ nennt, wird zur Gewissensfrage, 200

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an der politische Überzeugungen, aber auch Karrieren zerbrechen. Prominente Regisseure wie Elia Kazan versuchen, ihre Kooperation in Zeitungsanzeigen zu legitimieren, doch Ressentiments gegen die informer sind noch Jahrzehnte später virulent (etwa als Kazan im Jahr 1999 den Ehrenoscar erhalten soll). Am problematischsten verhalten sich jedoch die Studios. Sie zwingen im berüchtigten ›Waldorf statement‹ ihr Personal, mit dem Kommittee zu kooperieren und setzen all jene auf schwarze Listen, die es nicht tun. Viele verlieren durch die blacklist ihre Arbeit, versuchen unter Pseudonymen weiterzuschreiben oder müssen das Land verlassen (vgl. Schatz, Boom 307319, Sklar 249-268, Cogley). Die zweite institutionelle Zäsur in den 1940er Jahren ist ein Gerichtsurteil, das die Studios zwingt, die vertikale Integration aufzugeben und sich von ihren Kinoketten zu trennen. Das Urteil des Supreme Court (Paramount decision) von 1948 stellt – wie die HUAC-Anhörungen – den Schlusspunkt einer Entwicklung dar, die in den 1930er Jahren begonnen hatte, aber durch die New Deal-Gesetze und den Krieg unterbrochen worden war. Jetzt hat der Kampf gegen die monopolartige Stellung der Studios Erfolg, und das Urteil leitet einen Prozess ein, bei dem die Studios – auch durch die zunehmende Konkurrenz durch das Fernsehen und das veränderte Freizeitverhalten in der Nachkriegsgesellschaft – bis in die 1960er Jahre an Einfluss verlieren werden. Unabhängige Produktionsgesellschaften, häufig von Veteranen des Studiosystems wie Hal Wallis gegründet, bereichern ein Produktionsumfeld, das differenzierter und flexibler wird (vgl. Schatz, Boom 329-352). F ILM

UND

G ESCHLECHTERVERHÄLTNISSE

Zu den jungen Regisseuren wie Elia Kazan (Gentleman’s Agreement, 1947), die nach dem Zweiten Weltkrieg kreative Impulse setzen, gehören auch Fred Zinnemann (High Noon, 1952), Edward Dmytryk (Crossfire, 1947), Nicholas Ray (They Live By Night, 1949), Joseph L. Mankiewicz (All About Eve, 1950) oder Robert Rossen (Body and Soul, 1947). Obwohl in der Stummfilmära zahlreiche Regisseurinnen wie Lois Weber aktiv sind, ist im Studiosystem die für den Begriff der ›Autorschaft‹ entscheidende Position des Regisseurs eine Männerdomäne (mit signifikanten Ausnahmen wie Dorothy Arzner). Dies hat zu einer paradoxen Konstellation geführt: Obwohl Zuschauerinnen das bevorzugte Publikum darstellen, weibliche Stars allgegenwärtig sind und Frauenfiguren (etwa in Mildred Pierce von Michael Curtiz, 1945) häufig den erzählerischen Mittelpunkt bilden, sind die strategisch einflussreichsten Positionen des kreativen Prozesses – Produktion, Regie, Drehbuch, Kamera, Ausstattung, Musik – zumeist männlich besetzt.4 In der feministischen Filmgeschichtsschreibung führt diese Konstellation zu der Frage, ob es einen ›männlichen Blick‹ (male gaze) gibt, der die Darstellung von 4

Seit den 1980er Jahren hat sich diese Situation mit Regisseurinnen wie Susan Seidelman, Mimi Leder oder Sofia Coppola allerdings weiterentwickelt. Im Jahr 2010 erhält Kathryn Bigelow als erste Frau den begehrten Regie-Oscar für The Hurt Locker. Eine ›weibliche Ästhetik‹ ist mit der Arbeit von Regisseurinnen nicht notwendigerweise verbunden, aber einige Projekte verdeutlichen ein besonderes Interesse an Geschlechterfragen, etwa Monster (Patty Jenkins, 2003) oder Boys Don’t Cry (Kimberly Peirce, 1999; vgl. Unterpunkt 3.6 in diesem Kapitel).

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Weiblichkeit dominiert. Laura Mulvey argumentiert in einem berühmten Aufsatz von 1975, dass Weiblichkeit innerhalb des klassischen HollywoodFilms mit Passivität gleichgesetzt und sowohl für die männlichen Figuren in der Diegese wie auch das Kinopublikum als Spektakel in Szene gesetzt wird (Mulvey 14-26). Weiblichkeit steht damit für die passive Lust am Exhibitionismus, Männlichkeit für Aktivität und ein voyeuristisches Vergnügen (an dem die Kinozuschauer mit ihrer ambivalenten ›Schaulust‹ teilhaben). Obwohl das Konzept des male gaze zwischenzeitlich weiterentwickelt wurde (u. a. überschreitet die Fantasietätigkeit des Publikums strikte Geschlechtergrenzen), ist damit eine Dynamik benannt, die gerade für die größere erzählerische Komplexität ab den 1940er Jahren aufschlussreich ist. Bilder von Weiblichkeit und Männlichkeit, die als Gendernormen im Mittelpunkt des Liebesdiskurses stehen und damit eine zentrale kulturelle Funktion erfüllen, sind nicht nur als Rollen- und Verhaltensmodelle zu denken, die vorgestellt werden. Vielmehr erscheinen sie als Resultat von ways of seeing (Berger), d. h. von audiovisuellen ›Dispositiven‹, in denen Blicke, Wahrnehmungsweisen und Perspektiven zu einem dominanten, von gesellschaftlichen Normen und Machtverhältnissen beeinflussten Bild zusammengesetzt werden. Für Genderfragen, aber auch für Diskussionen um Ethnizität, Nationalität oder Klassenzugehörigkeit wird demnach nicht nur entscheidend, was die Zuschauer sehen, sondern ebenso, wie sie es gezeigt und perspektiviert bekommen haben. Für den amerikanischen Film der 1940er Jahre findet die spürbare Komplexitätszunahme erzählerischer und stilistischer Verfahren allerdings nicht nur im Spielfilm, sondern gerade auch an jenen kreativen ›Rändern‹ des Avantgarde- und Dokumentarfilms statt, die auch für Künstlerinnen offener sind. Mit Maya Derens Meshes of the Afternoon von 1943 entsteht einer der einflussreichsten Avantgardefilme, mit denen sich das experimentelle Filmemachen in den USA aus seinen – im positiven Sinn – amateurhaften Anfängen lösen und als eigenständige Kunstform emanzipieren wird. Maya Deren (1917-1961) gewinnt ihre ›experimentelle‹ Ästhetik, wie viele spätere Filmemacher, aus einer Ablehnung der vorherrschenden Normen des kommerziellen Kinos. Das Filmbild repräsentiert für sie in einem sehr emphatischen Sinn ein Stück ›Realität‹ (spätere Experimentalfilmer wie Jonas Mekas werden hingegen seinen zeichenhaften Charakter betonen), doch diese Realität will sie nicht zu einem geschlossenen und linearen Zeitfluss zusammensetzen. Sie betont vielmehr das Potential der zeitlichen und räumlichen Verdichtung oder das Spiel mit Kontinuitäten und Brüchen (vgl. Deren). Zentrale Mittel zur Umsetzung dieser Anliegen sind eine häufig fragmentierende Bildkomposition, die sprunghafte Montage von Zeit- und Bildverhältnissen sowie die Arbeit mit Symbolen; zudem tritt Deren in vielen Filmen als Hauptfigur auf. Mit Meshes of the Afternoon wird eine Form des experimentellen Erzählens geprägt, die – ähnlich wie Citizen Kane, nur viel umfassender – nach neuen Wegen für eine komplexere Figurendarstellung sucht. Deren orientiert sich an einer surrealistischen Bildsprache, die stark vom psychoanalytischen Modell der Traumerzählung beeinflusst ist. Schlüssel und Messer werden zu zentralen Symbolen für eine junge Frau, die in verrätselten, traumartigen Sequenzen (Verfolgung einer Figur in Schwarz, Begegnung mit dem gedoppelten Selbst, Treppenstufen als Schwelle zu einer anderen Welt) in ihr Unbe202

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wusstes eintritt (vgl. Abb. 6). Vieles ist mehrdeutig angelegt – der Schlüssel könnte bedeuten, dass sie Zugang zu ihrem Seelenleben finden muss, das Messer verdichtet Aggressionen gegen andere, aber auch gegen die Frau selbst, die am Ende wie in einer gothic story blutüberströmt im Sessel sitzt. Es kommt zu einem Spiel mit den Ebenen von Traum und Realität, mit Brüchen, Wiederholungen und überraschenden Sprüngen durch Zeit und Raum, aus dem eine neue Persönlichkeitskonzeption hervorgeht: ein gespaltenes, widersprüchliches und reflexiv-meditatives Individuum, das der zeitgenössischen Psychologie des Spielfilms entgegensteht, sie aber längerfristig auch beeinflussen wird.

Abb. 6: Meshes of the Afternoon (Maya Deren, Kamera: Alexander Hammid, 1943). Mit ihrer Suche nach experimentellen Erzählformen belegt Maya Deren den künstlerischen Anspruch der Filmavantgarde, das radikal Neue und Unkonventionelle zu suchen (Stan Brakhage, Marie Menken und Robert Breer werden den Prozess einer fragmenthaft-lyrischen Subjektivierung fortführen). Allerdings setzt sich auch im kommerziellen Studiosystem eine Suche nach Ausdrucksformen fort, die der neuen Zeitwahrnehmung – der Verschiebung globaler Machtverhältnisse, aus der die neue Rolle der USA als Weltmacht entsteht, dem Kalten Krieg, aber auch den Kriegserlebnissen vieler Filmschaffender – entspricht. Regisseure wie William Wyler streben mit Geschichten über die Reintegration von Kriegsveteranen in The Best Years of Our Lives (1946) einen neuen Realismus in der Darstellung psychischer Probleme an. Auch für Crossfire von 1947 dient die Figur des Kriegsveteranen einer Auseinandersetzung mit heimischer Normalität, die nicht gegeben ist. Die flashback-Segmente sind stellenweise unzuverlässig erzählt, und einer der Veteranen begeht einen Mord an einem Juden, der antisemitisch motiviert ist. Kriegsbedingte Pathologien werden mit jener inneramerikanischen Angst kurzgeschlossen, die durch die antikommunistischen Aktivitäten und den damit verbundenen Kampf gegen Minderheiten zu einer mitunter paranoiden Selbstwahrnehmung beiträgt. Am deutlichsten wird die Zerrissenheit vieler Figuren jedoch im Film Noir, eine von The Maltese Falcon (John Huston, 1941) bis Touch of Evil (Orson Welles, 1958) reichende Gruppe von crime films, die die ambivalen203

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ten Verlockungen des Verbrechens thematisiert und sie in einer neuen visuellen Rhetorik der Dunkelheit und Lichtbrechungen, der Kontraste und Unsichtbarkeit entfaltet. Der Begriff wird im Nachkriegs-Frankreich geprägt, als viele amerikanische Filme erstmals zugänglich werden, und bezeichnet eher einen Periodenstil als ein Genre, da zwischen einzelnen Filmen mit noirStimmung recht große narrative Unterschiede bestehen können (Naremore, Night 9-39). Entscheidend ist jedoch das Zusammenspiel zweier unterschiedlicher Traditionslinien: die hard-boiled fiction aus den 1920er und 1930er Jahren im Stil von Raymond Chandler, James M. Cain oder Dashiell Hammett sowie die Sensibilität von europäischen Emigranten wie Billy Wilder, Fritz Lang und Otto Preminger oder von Regisseuren wie Charles Vidor, Howard Hawks und Orson Welles, die in dieser Literatur eine Entlarvung des positiv-optimistischen Amerikabildes entdecken. Sie zeigen die vitale, aber gierige und obsessiv-zerstörerische ›Schattenseite‹ des amerikanischen Traums. Zwar kennzeichnet die sadistische Lust an individuell ausgeübter Gewalt bereits das Gangstergenre oder den Gefängnisfilm der frühen 1930er Jahre, doch mit dem Film Noir wird der Gewaltakt aus sozial deklassierten Milieus herausgelöst, psychologisiert und häufig als sekundäres Symptom einer tiefer liegenden, destruktiven Abhängigkeit oder Pathologie charakterisiert (vgl. Schatz, Boom 232-239, Cook, Cinema Book 305-315). Zu den besten Beispielen dieser Psychodynamik gehört Double Indemnity von Billy Wilder (1906-2002) aus dem Jahr 1944, das auf einer Geschichte von James M. Cain basiert. Mit ihrer unverblümten Engführung von Sexualität und Aggression läuft sie eigentlich zahlreichen Geboten des Production Code zuwider, doch Wilder und Ko-Autor Raymond Chandler finden eine ausgeklügelte Dramaturgie und Erzählweise, die den tabubrechenden Stoff präsentabel machen. Der zentrale Mord wird dem Code entsprechend nicht direkt gezeigt, aber gerade das Ausweichen auf eine lange Nahaufnahme der regungslosen weiblichen Hauptfigur, während ihr Ehemann stirbt, verlagert das Interesse vom Horror sichtbarer Gewalt auf die Mentalität des Tötens. Die beiden zentralen Handlungslinien umfassen die Suche nach dem perfekten Verbrechen und die Liebesbeziehung zwischen Walter Neff (Fred MacMurray) und Phyllis Dietrichson (Barbara Stanwyck), die den Mord gemeinsamen planen und ausführen werden. Da diese Linien aber üblicherweise in enger Verbindung stehen, bekommt der für die Utopie sozialen Fortschritts im amerikanischen Spielfilm so wichtige romantische Liebesdiskurs eine fatale Wendung. Der Mord am Ehemann von Phyllis soll das Liebesglück ermöglichen, aber seine destruktiv-›perverse‹ Energie setzt ein Affektpotential frei, das zwischenmenschliche Beziehungen grundsätzlich bedroht. In der Screwball-Komödie der 1930er Jahre wird auf ähnliche Weise, aber spielerischer im verbalen Gefecht und mit der Genrekonvention eines nur temporären Ungleichgewichts der ›Krieg der Geschlechter‹ inszeniert (z. B. Bringing Up Baby, Howard Hawks, 1938). Der Film Noir hingegen enthüllt mit dem gescheiterten Liebesglück eine antisoziale Kraft im Kern von Intimität, die Freundschaft und Liebe als verklärte Klischees entmystifiziert. In seiner metaphorischen Dunkelheit steckt die Lust an der Zerstörung von Strukturen, die das Individuum an seiner egoistischen Selbstentfaltung hindern, aber auch ein ›böses‹ Vergnügen in der Tradition von Edgar Allan Poe, das Lebendige und Geliebte schlechthin zu bekämpfen.

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Die Ursachen für diese destruktive Energie können allerdings sehr unterschiedlich gelagert sein. Sie machen den Film Noir zu einem vielschichtigen modernen Diskurs über das Böse, der als neo noir auch in späteren Dekaden fortgeführt wird. In Double Indemnity überwiegen zwei zentrale Vorstellungen: Zum einen wird im Sinn der typischen Genderidentitäten die Verführung zum Verbrechen auf die Femme fatale projiziert und als Resultat ihrer unwiderstehlichen sexuellen Anziehungskraft erklärt. Walter Neff fungiert als IchErzähler des Films und richtet sein aufgewühltes Geständnis an seinen männlichen Vorgesetzten Barton Keyes (Edward G. Robinson), nachdem er die vormals begehrte, aber mittlerweile verhasste Phyllis aus nächster Nähe erschossen hat. Alles, was die Zuschauer über die Begegnung mit ihr sowie die Planung und Durchführung des Verbrechens erfahren, ist durch das Bewusstsein von Neffs Wahrnehmungen und Erinnerungen gefiltert. Diese für den Film Noir typische Erzählstrategie der Subjektivierung macht die Femme fatale – ihr verlockendes Aussehen und ihre Aura – zu einer männlichen Fantasie. Neff merkt bewundernd an, dass sie nach dem Mord keinerlei Nerven zeige, während er hochgradig angespannt sei: Ihre Stärke und Coolness verschärft seine Tendenz zur Hysterie und offenbart damit seine Schwäche in einem Interaktionsfeld, das darauf beruht, die ›wahren‹ inneren Gefühle möglichst erfolgreich zu verstecken. Zum anderen wird das verbrecherische Begehren aber auch in die innersten Funktionsmechanismen einer anonymen und verwalteten Gesellschaft verlagert, die hier durch ein Versicherungsunternehmen repräsentiert ist. Das Interaktionsprogramm von Double Indemnity ist die Intrige. Neff möchte mit dem perfekten Verbrechen jene Institution täuschen, für die er arbeitet und die er am besten zu kennen glaubt. Um dies zu erreichen, passt er sich ihrer durchrationalisierten, ›statistischen‹ Denkweise vollständig an: Minutiös wird das Verbrechen geplant und jedes Detail, das ihn verraten könnte, bis ins Kleinste bedacht. Dass die Täuschung, in die die Zuschauer (aber nicht der Vorgesetzte Keyes) durch die Ich-Erzählung eingeweiht sind, am Ende entlarvt wird, liegt einerseits daran, dass Neff die doppelte Täuschung der Femme fatale durchschaut – sie hat ihre Liebesgefühle für ihn nur inszeniert, um ihn für den Versicherungsbetrug zu gewinnen. Andererseits treibt ihn jedoch auch die Angst vor der Allmacht eines bürokratischen Systems, das durch Informationen und Statistiken ›Wahrheit‹ produzieren kann, zum Geständnis. Das Versicherungsunternehmen symbolisiert (wie das Großraumbüro in The Crowd) eine rational-instrumentelle Normalität, die das Individuum absichert, aber auch lückenlos erfasst und die es aus diesem Grund zu einem ›Transgressionsakt‹ treibt, bei dem die Logik des Verbrechens der Logik des Systems entspricht. Die Intrige wird – wie in vielen Beispielen des Film Noir – am Ende als Täuschungsversuch entlarvt und geahndet, die Auflehnung des Individuums scheitert. Sein Begehren, sich als solches in der verwalteten Welt behaupten zu können, wird hingegen durch die subjektivierte Erzählweise und einen visuellen Stil, der mit der Innerlichkeit der Figuren korrespondiert, für die Zuschauer anschaulich. Der Film Noir intensiviert damit die Angst vor einer Entindividualisierung in modernen Gesellschaften, aber er findet auch eine neue erzählerische Komplexität, um dieser Angst Ausdruck zu geben und sie damit für die kulturelle Selbstverständigung wiederum verfügbar zu machen.

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G ENRETRANSFORMATIONEN Die Femme fatale als Ausdruck männlicher Fantasien ist vielleicht das beste Beispiel für die These des male gaze. Auch in Gilda (Charles Vidor) von 1946 wird die weibliche Hauptfigur durch den retrospektiven voice-over des männlichen Protagonisten ›geschaffen‹. Allerdings bestehen neben dieser Ähnlichkeit auch starke Unterschiede zwischen den beiden Figuren, die von Barbara Stanwyck und Rita Hayworth verkörpert werden. Es ist daher unerlässlich, theoretische Konzepte und historiografische Kategorien möglichst differenziert zu verwenden. Dass Rita Hayworth in Gilda singt und tanzt, ist ihrer durch das Musical geprägten Star-Persona zu verdanken (z. B. in Cover Girl, Charles Vidor, 1944), die das ›Spektakel‹ ihrer Erscheinung im Film Noir anders konnotiert als bei Stanwyck. Die Filmerzählungen des Hollywood-Kinos stellen daher keine in sich abgeschlossenen Gebilde dar, sondern weisen zahlreiche Querverbindungen zu anderen semiotischen ›Systemen‹ auf: zu Genres, Star-Images, vorherrschenden Inszenierungsformen oder Stilmoden, aber auch zu anderen audiovisuellen Medien. In den 1930er Jahren findet – z. T. in eigenständigen Genres wie dem Reporterfilm – eine kritische Medienreflexion von Radio und Zeitung statt, die Konkurrenten um die Aufmerksamkeit des Publikums sind, während Theater und Roman einer kulturellen Aufwertung des Kinos dienen sollen. In den 1950er Jahren ist die Situation komplizierter. Mit der zunehmenden Verbreitung des Fernsehens verlagert sich ein beträchtlicher Teil der audiovisuellen Kommunikation in ein neues Medium, aber eine direkte Thematisierung seiner ›Bedrohung‹ ist innerhalb der Filmgeschichten noch nicht möglich. Stattdessen zeigt sich im Spielfilm eine Doppelstrategie zur (indirekten) Thematisierung des Medienumbruchs. Zum einen werden Technologien und Erzählformen forciert, die (wiederum) den Charakter des Spektakels betonen und die ästhetische Differenz zum Fernsehen verstärken. Neue Verfahren des Farb- und 3D-Films sowie wide-screen-Formate (CinemaScope, VistaVision, Panavision) werden eingeführt, mit denen das Bild größer und plastischer werden soll (vgl. Cook, Cinema Book 154-156, Nowell-Smith 259-267, Brinckmann). Für diese größeren Formate suchen die Studios nach ›monumentalen‹ Stoffen, etwa das bereits in den 1920er Jahren von Cecil B. De Mille verfilmte Bibelepos The Ten Commandments, das er 1956 erneut inszeniert, oder Ben-Hur (1959) von William Wyler. Zum anderen findet die Auseinandersetzung mit dem Medienwandel indirekt innerhalb der Filmerzählungen statt. Zahlreiche Filme thematisieren den historischen Übergang vom Stumm- zum Tonfilm (in den späten 1920er Jahren) sowie den Wandel von Filmgenres, und sie verbinden diese Reflexion mit der Frage, welchen kulturellen Status das Kino mittlerweile für sich in Anspruch nehmen kann. Nach dem Zweiten Weltkrieg sehen Produzenten wie Darryl Zanuck oder Dore Schary zunächst eine neue Reife des Publikums gegeben und damit die Möglichkeit, ›erwachsene‹ Themen zu produzieren. Doch während dieser Elan durch das politische Klima (und die konkreten Folgen) der HUACAnhörungen gebremst wird, kommt durch die Aufrüstung ›spektakulärer‹ Verfahren in den 1950er Jahren die (alte) Angst hinzu, primär als Unterhaltungsindustrie wahrgenommen zu werden, für die die Devise der akrobatischen »Make ’em Laugh«-Gesangseinlage aus Singin’ in the Rain (1952, Gene Kelly, Stanley Donen) nach wie vor Priorität hat. 206

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Für kulturkritische Autoren wie Gilbert Seldes und andere ist dies tatsächlich der Befund der 1950er Jahre, sie sehen ihre Hoffnungen in den Film als genuine amerikanische und demokratische Kunst enttäuscht (vgl. Auerbach). Doch auch die Filme selbst umkreisen den Konflikt zwischen Kunstideal und ›Massenspeisung‹. Sunset Boulevard (1950) von Billy Wilder, eine Mischform aus Film Noir und black comedy, erzählt von der (tödlichen) Beziehung zwischen einem ausgebrannten Drehbuchautor und dem ehemaligen Stummfilmstar Norma Desmond (Gloria Swanson). Mit ihren illustren Gästen (darunter Buster Keaton) und ihrem treuen Diener (Erich von Stroheim) erscheint sie als Relikt aus einer fernen, aber intensiven und künstlerisch kraftvolleren Zeit. Singin’ in the Rain hingegen sieht die Stummfilmära nicht als Zeitalter der ›wahren‹ Filmkunst, sondern als Bestandteil der Unterhaltungsindustrie im Stil des Vaudeville, dessen Regeln – Akrobatik, Geschwindigkeit, komische Effekte, Konkurrenz um das Publikum – auch im Tonfilm gelten. Mit seinen verschachtelten Ebenen des Bühnenhaften, der Public Relations und journalistischen Medienberichterstattung ist das primäre Interaktionsprogramm dieses Backstage-Musicals das Spiel im Spiel. Doch im Unterschied zur Medienrepräsentation der 1930er Jahre, in der zwischen Rolle und authentischem Selbst noch eine Differenz besteht, verstärkt sich der Eindruck einer zunehmenden Selbstreferenz der Erzählungen und Zeichensysteme. Das Spiel im Spiel dient nicht mehr primär der Reflexion von Rollenvorgaben oder Identitätskrisen, es schafft sich eine eigene Welt, auf die in zukünftigen Erzählungen referiert werden kann, mit der es sich jedoch auch gegen andere Welten – andere Medien und ihre Erzählungen – abschottet. Für Singin’ in the Rain mit seiner vielschichtigen, dabei fast beiläufigen Reflexion auf das Verhältnis von Technologie, Stimme und Subjekt ist dieses Moment der selbstreferentiellen Künstlichkeit das Ideal von Unterhaltung, aber auch ein Fluch jener isolierten Hollywood-Community, der man ihre selbstverliebte phoniness vorhält (vgl. Cook, Cinema Book 333-343). Die Tendenz zur Selbstreferenz ist allerdings auch eine fast unvermeidliche Folge der starken Genreprägung des amerikanischen Spielfilms. Sobald die Grundkoordinaten eines Genres wie Thematik, Figuren, Erzählstruktur und visueller Stil gefunden sind und sich durch populären Publikumszuspruch als Konventionen stabilisiert haben, kommt es zu einer Dynamik aus Variation und Wiederholung, in der immer auch eine Selbstreferenz auf den ›Genrerahmen‹ liegt. Doch in den 1950er Jahren besteht nicht nur im Musical, sondern auch in der Komödie die Tendenz, diese Selbstreferenz als solche zu überzeichnen und damit auch kenntlich zu machen. Gentlemen Prefer Blondes (Howard Hawks, 1953) wählt einen Stoff von Anita Loos, der schon in den 1920er Jahren das Verhältnis zwischen Authentizität und Künstlichkeit spielerisch problematisiert, aber vor allem in Some Like It Hot (Billy Wilder, 1959) wird erkennbar, dass komische Effekte daraus gewonnen werden können, die Künstlichkeit der Genreerzählungen selbst hervorzuheben (vgl. Abb. 7). Wilder parodiert den Gangsterfilm der 1930er Jahre und evoziert damit zweierlei: das Vergnügen, mit den Regeln einer fiktiven Welt spielerisch-subversiv umzugehen, aber auch das Unbehagen, auf nichts anderes als Genrekonventionen referieren zu können. Das ist auch das Dilemma von Singin’ in the Rain und hat in der Forschung zu der Erkenntnis geführt, dass Genres den Charakter von mythischen und ritualisierten Erzählformen 207

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haben. Ihr Bezug zur gesellschaftlichen Wirklichkeit erfolgt nicht primär über einen realistischen Repräsentationsmodus – sie beanspruchen Plausibilität für ihre jeweiligen Konventionen, nicht jedoch als wirklichkeitsnahe Modellierung von Realität –, sondern über ihre kulturellen Funktionen oder die ›kulturelle Arbeit‹, die sie verrichten (vgl. Cook, Cinema Book 252-264, Langford, Grant).

Abb. 7: Some Like It Hot (Billy Wilder, Kamera: Charles Lang, United Artists, 1959). Auch in den 1950er Jahren gibt es zahlreiche Produktionen, die in der realistischen Darstellungstradition des Sozialdramas stehen, etwa Salt of the Earth (Herbert J. Biberman, 1953) oder On the Waterfront (Elia Kazan, 1954), aber signifikante Genretransformationen lassen sich neben den Veränderungen in Komödie und Musical vor allem im mythenstiftenden Genre schlechthin, dem Western, beobachten. Mit The Searchers von John Ford (1894-1973) entsteht 1956 ein sogenannter mature western, der dieses seit der Frühzeit des Kinos äußerst beliebte, aber wenig angesehene Genre für neue Darstellungsansprüche öffnet (vgl. Langford). Das strukturgebende Interaktionsprogramm des Western ist der Konflikt. Die offene Auseinandersetzung zwischen zwei scharf voneinander abgegrenzten Personen (oder Gruppen) teilt die Welt in Verbündete oder Gegner und führt durch die stetige Eskalation zu einer neuen Situationsdefinition: »der Konflikt sprengt alle Rahmen und bildet einen neuen« (Schwanitz 114). Die zunehmende ›Reife‹ des Nachkriegs-Western entsteht durch die größere Aussagekraft dieses neuen Rahmens für Anliegen der kulturellen Selbstverständigung. Der frontier-Grundkonflikt ist der Krieg zwischen amerikanischen Siedlern und den Ureinwohnern des Kontinents. Doch mit Western wie Stagecoach (John Ford, 1939) wird in diesen Grundkonflikt eine weitere Konfliktebene eingezogen, die Aussagen über die im westward movement voranschreitende amerikanische Zivilisation erlaubt. Bei John Ford wird diese Zivilisation ähnlich wie in High Noon (Fred Zinnemann, 1952) skeptisch betrachtet. Sie erscheint als intolerant und elitär oder als feige und heuchlerisch. Weder entspricht sie dem Ideal demokratischer Gleichheit, noch erfüllt sie ihre patriotische ›Pflicht‹, die Freiheit der Community gegen ihre Feinde zu schützen. In beiden Fällen wird das aufrechte Individuum, das sich der Bedrohung entgegenstellt – Ringo (John Wayne) und Will Kane (Gary Cooper) –, die Kleinstadt zusammen mit seiner 208

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Partnerin verlassen, um ganz im Sinn der frontier-Mythologie eine bessere Gesellschaft jenseits der bestehenden Zivilisation zu gründen. In The Searchers deutet sich hinsichtlich dieses kulturgeschichtlich tradierten Musters eine grundsätzliche Akzentverschiebung an. Der ›neue Rahmen‹ für Handlungen und Wertesysteme, der nach der Eskalation des Konflikts geschaffen wird, ist nicht die Abkehr des Cowboys von der Zivilisation, es ist vielmehr eine veränderte, neue Zivilisation, in die der Cowboy nicht mehr passt und die er daher notgedrungen, aber ohne utopische Implikationen verlassen muss (vgl. Cook, Cinema Book 374-384). The Searchers erreicht seine größere Komplexität auch durch die filmstilistischen Mittel. Wie in High Noon, in dem das Titellied (»Do Not Forsake Me, Oh My Darling«) einen theme song bildet, der in der Filmmusik von Dimitri Tiomkin vielfach variiert wird, veranschaulicht die Musik von Max Steiner die Anreicherung des symphonischen Standards mit populären Folk Songs (vgl. Kalinak). Und das farbige VistaVision-Breitwandformat erlaubt ein effektvolles, aber auch funktionales Mise-en-scène des Monument Valley – jenem mythenstiftenden Universum ursprünglicher Wildnis und überwältigender Naturwüchsigkeit, in dem John Ford zahlreiche Western dreht. Doch entscheidend für die erstaunliche Langzeitwirkung des Films ist die doppelte Motivation, die dem Konflikt zugrunde liegt. Zum einen will Ethan Edwards (John Wayne) Rache nehmen für den Mord an seinem Bruder und dessen Familie, zum anderen will er die junge Debbie, die von den Indianern verschleppt wurde, befreien und töten, weil sie durch den Kontakt ›kontaminiert‹ ist. Die ›Urszene‹ des Western, ein Überfall von Indianern, den es zu rächen gilt, wird mit einer ins Rassistische gewendeten captivity narrative verkoppelt. Auf die Suche macht sich Ethan Edwards mit Martin Pawley (Jeffrey Hunter), einem jungen Begleiter, der seinerseits ein Achtel ›Indianerblut‹ aufweist und das rassistische Reinheitsdenken von Edwards immer stärker hinterfragen wird, bis es am Ende ihm zu verdanken ist, dass Debbie überlebt. Das Rachegelüst kann Edwards demnach durch den Tod des Indianerhäuptlings ›Scar‹ befriedigen (er schneidet ihm eigenhändig die Kehle durch und veranschaulicht damit seine zerstörerisch-›unzivilisierte‹ Triebkraft), doch die Vision rassischer Reinheit wird weder von der jungen Generation noch von einer in der Handlung prominenten Immigrantenfamilie geteilt. Wie in zahlreichen Filmen der 1950er Jahre (z. B. East of Eden) wird der Generationenkonflikt im Sinn einer größeren Toleranz für die Bedürfnisse der jüngeren Generation aufgelöst. Und obwohl die Basis des Western nach wie vor die ›legitime‹ Vernichtung des Fremden – der amerikanischen Ureinwohner – darstellt, weitet The Searchers das Toleranzplädoyer vorsichtig auf ethnische und religiöse Minderheiten aus. Das ist die neue Zivilisation, in die der Rassist Edwards nicht mehr passt und die er in einer berühmten, aus dem Inneren des Hauses aufgenommenen Einstellung verlassen muss. Damit kann abschließend ein häufiger Transfer von Genreerzählungen veranschaulicht werden. Denn obwohl der Western ein historisches Genre ist, hat man die Aktualität der Rassismusproblematik in The Searchers vor allem auf die Situation der afroamerikanischen Minderheit in den 1950er Jahren bezogen (vgl. Henderson). Die Eigengesetzlichkeit und ›Künstlichkeit‹ von Genrekonventionen schafft damit eine Entlastung vom Anspruch, realistische Repräsentationen von Wirklichkeit zu schaffen. Dies kann zu spielerischer Selbstreferenz füh209

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ren (wie in den Komödienbeispielen), aber gleichermaßen auch zu einer indirekten, ›verschobenen‹ Modellierung aktueller gesellschaftlicher Prozesse, die es in ihrer inneren Logik und Widersprüchlichkeit zu entschlüsseln gilt.

3.5 Das ›doppelte‹ New Hollywood Cinema: 1960-1985 Gegen Ende der 1950er Jahre mehren sich die Anzeichen eines grundsätzlichen Wandels in der Filmkultur. Im Studiosystem hat das Ende der vertikalen Integration zu einer starken Konzentration auf einzelne Filmprojekte geführt, die gegenüber dem Fernsehen auf die Attraktivität des Spektakels setzen. Gleichzeitig sind die Studios nach anfänglichen Berührungsängsten in die Fernsehproduktion eingestiegen und haben große Teile ihrer frühen Produktionen an die neuen Sender verkauft, die ihre Herstellungsabteilungen von der Ostküste nach Los Angeles verlagern – erste Anzeichen einer Konvergenz von Produktions- und Erzählbereichen, die stetig zunehmen wird (vgl. Lev, Kapitel 4.3). Der Production Code, jenes Regelwerk, das der Idee eines kulturkonservativen Konsenses von Darstellungskonventionen verpflichtet war, verliert weiter an Einfluss und wird 1968 durch ein rating system abgelöst. Empfehlungen, für welche Altersklassen Filme geeignet sind, verlagern die Kontrolle der Inhalte von der Produktion zur Aufführung (Monaco 5666). Alfred Hitchcock, der profilierteste Regisseur von Thrillern (die wie Rear Window von 1954 aber auch höchst versiert die Kinosituation reflektieren können), verdeutlicht mit dem Überraschungserfolg Psycho von 1960, dass eine neue Ästhetik der Gewalt und des Schreckens Eingang in den Mainstream finden kann. Andere Produktionen wie die herausragende und tabubrechende Theateradaption Who’s Afraid of Virginia Woolf (Mike Nichols, 1966) belegen das künstlerische Bedürfnis nach einem größeren Ausdrucksspektrum. Eine logische Konsequenz des rating system ist die zunehmende Segmentierung des Publikums. Obwohl gerade die sogenannten Blockbuster in der Tradition des alten Studiosystems weiterhin auf die Ansprache eines möglichst breit gefassten Familienpublikums bauen, findet eine Ausdifferenzierung der Filmzuschauer in unterschiedliche taste cultures und taste publics statt. Doch die Strategie, durch möglichst spektakuläre oder publikumsträchtige Blockbuster herausragende ökonomische Erfolge zu erzielen, um damit andere, weniger erfolgreiche Produktionen ›subventionieren‹ zu können, ist in den frühen 1960er Jahren in eine Krise geraten. Zahlreiche Fehlinvestitionen verschärfen die durch die Fernsehkonkurrenz beschleunigten ökonomischen Schwierigkeiten vieler Studios, und die finanziellen Flops veranschaulichen, dass es den einstigen Studiomogulen auch schwerer zu fallen scheint, populäre Stoffe zu finden (vgl. Schatz, »New Hollywood«). Der erfolgreichste Film dieser Jahre, das Musical The Sound of Music (1965) über das Leben der Von Trapp-Familie im Salzburg der späten 1930er Jahre und ihre Flucht nach Amerika, ist ein gutes Beispiel für die altbackene und kitschige Harmlosigkeit, die das Hollywood-Kino dieser Jahre kennzeichnen kann. Diese im Ökonomischen wie auch Ästhetischen krisenhafte Ausgangslage hat zu einer Kontroverse um den Begriff des New Hollywood Cinema geführt. Für einige Autoren kennzeichnet er das innovative amerikanische Autorenkino, das Ende der 1960er Jahre den Spielfilm mit The Graduate (Mike Nichols, 1967) 210

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oder Bonnie and Clyde (Arthur Penn, 1967) künstlerisch belebt. Für andere ist er jedoch mit der perfektionierten Rückkehr des traditionellen Blockbuster-Kinos verbunden, die mit Jaws (Steven Spielberg, 1975) einsetzt (vgl. Cook, Cinema Book 60-68). Beide Positionen erfassen signifikante Entwicklungen des Spielfilms, doch die entscheidenden Schwellenphänomene zeigen sich am Ende der 1950er Jahre nicht in Hollywood, sondern im Dokumentarund Experimentalfilmbereich, der sich selbst den Namen des New American Cinema verleiht (vgl. Nichols, James). Bewegungen wie das Free Cinema oder die Nouvelle Vague sind Zeichen eines internationalen ›Aufbruchs‹, den der Experimentalfilmer Jonas Mekas in seinen »Notes on the New American Cinema« auch für die amerikanische Konstellation beschreibt. Hier ist die Übermacht von Hollywood der Ausgangspunkt einer neuen Filmkunst, die persönlicher und unberechenbarer werden soll. Für Mekas folgt der neue amerikanische Filmkünstler einer Ethik der Wahrhaftigkeit: »His rejection of ›official‹ (Hollywood) cinema is not always based on artistic objections. It is not a question of films being bad or good artistically. It is a question of the appearance of a new attitude towards life, a new understanding of man« (16). Hinter dieser Ablehnung des ›offiziellen‹ Hollywood steckt ein grundsätzlicheres kulturelles Unbehagen. Es ist die Vorstellung, dass eine Kultur der Lüge und Verdrängung vorherrscht, von der die independent filmmakers sich freimachen möchten und gegen die sie rebellieren. Mekas nennt die Dokumentarfilme von Lionel Rogosin und Richard Leacock als Ausdruck dieser ›Rebellion‹, die Filmpoeten Stan Brakhage und Marie Menken, die Spielfilme von John Cassavetes, Shirley Clarke oder den Beat-Film Pull My Daisy (Robert Frank, Alfred Leslie, 1959), aber auch das method acting von Marlon Brando und James Dean. Allen gemeinsam ist ein ästhetisches Programm, mit dem die größere Ehrlichkeit im Ausdruck gefunden werden soll: die Improvisation. In ihr steckt (wie im Jazz) ein Element der Überraschung und Spontaneität, das als »anxiety to be honest« (Mekas) gesehen wird und damit die Suche nach Wahrhaftigkeit betont: Für die Improvisation ist der Prozess wichtiger als das Resultat. Die von Jonas Mekas beschriebene Verschiebung im Ästhetischen geht mit einer Politisierung der Filmschaffenden einher, die in der Gegenkultur der 1960er Jahre weiter zunehmen wird. Im Experimentalfilm, der sich mit Künstlern wie Hollis Frampton, Michael Snow, Bruce Conner, Carole Schneeman oder Yvonne Rainer stark ausdifferenziert, entsteht mit dem Underground Film eine Tradition unkonventioneller Darstellungen von Sexualität. Im Dokumentarfilm prägen Richard Leacock, Donn A. Pennebaker, Frederick Wiseman oder die Brüder David und Al Maysles mit dem Direct Cinema eine neue, auf teilnehmender Beobachtung beruhende Form der filmischen Unmittelbarkeit, während Emile de Antonio oder das NewsreelKollektiv den Krieg in Vietnam oder die Diskriminierung der afroamerikanischen Bevölkerung explizit anprangern. Verschiedene Initiativen in New York City wie Cinema 16 (seit 1947), The Film-Maker’s Cooperative (seit 1962) oder Anthology Film Archives (seit 1969) bieten mittlerweile einen besser organisierten institutionellen Rahmen für diese Bewegungen, und vor allem im Dokumentarfilm ist der entscheidende technische Durchbruch ein neues Synchronton-Verfahren, mit dem es möglich wird, den Ton synchron zum Bild aufzunehmen und die 16-mm-Kameras vergleichsweise mobil be211

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wegen zu können (vgl. Barsam 299-351, Nowell-Smith 527-537, Decker, »Leacock«). Im Underground Film liegt die ›Rebellion‹ und Provokation in der Präsentation sexueller Milieus und Praktiken, die wie bei Flaming Creatures von Jack Smith (1963) nicht selten verboten wird. Andy Warhol experimentiert mit langen, ungeschnittenen und tonlosen Aufnahmen seiner Factory-Besucher, die häufig in Zeitlupe aufgenommen werden. Er offenbart dadurch das zeittypische Bemühen, sich der Wesenhaftigkeit – der Essenz – des Filmmediums anzunähern (exemplarisch auch in David Holzman’s Diary von Jim McBride, 1967). Kenneth Anger, wählt in Scorpio Rising (1964) hingegen ein gegenläufiges Verfahren. Sein Film, der in einem schwulen Maskenball kulminiert, unterzieht die Jugend- und Populärkultur einer intertextuellen Ironisierung, die mit dem von Susan Sontag geprägten Begriff des »Camp« korrespondiert. Motorradteile werden in Großaufnahme gezeigt, ebenso die Lederkleidung der männlichen Fahrer; immer wieder kontrastiert die Montage Popsongs mit Bildinhalten, die einen ironischen Kontrapunkt setzen. Durch Stilisierung, Überzeichnung oder komische Entlarvung können auf diese Weise konventionelle Bedeutungen von (heterosexueller) Liebe und Männlichkeit subversiv unterlaufen und im Sinn der schwulen Subkultur umgedeutet werden (vgl. Thompson und Bordwell 536-565, Nowell-Smith 537550). Eine andere Facette der Politisierung des Films in den 1960er Jahren ist der Kampf um Bürgerrechte, der für dokumentarische Formen prägend wird. Im beobachtenden Direct Cinema sind die Schwierigkeiten bei der Überwindung der Rassentrennung sowie der Durchsetzung neuer Rechte ein frühes Thema (etwa in The Children Were Watching, Drew Associates, 1960; Black Natchez, Ed Pincus, David Newman, 1967). Rhetorisch appellativer – und aggresiver – werden sie in Formen des Cinéma Vérité angesprochen, die Beobachtung mit Interaktion und Interviews mischen. In No Vietnamese Ever Called Me Nigger (1968) von David Loeb Weiss alterniert die Montage zwischen einer Anti-Vietnamkriegsdemonstration und einem Gespräch mit drei schwarzen Kriegsveteranen. Sie erzählen von ihrer Ungleichbehandlung in der Armee und von dem Gefühl, für ein Land in den Krieg ziehen zu müssen, das ihnen zu Hause fundamentale Bürgerrechte verwehrt. Dabei wenden sie sich mit ihrem Appell für mehr Gerechtigkeit an ein weißes Publikum, das im Unterschied zum self-effacement des Direct Cinema explizit als Bestandteil der Filmkommunikation anerkannt wird und durch die kontrastive, konfliktverstärkende Rhetorik aufgerüttelt werden soll. Mit der Ästhetik der Improvisation, der Hinwendung zur Materialität des Filmmediums sowie dem ›Wunder‹ des Synchrontons im Dokumentarfilm trägt das New American Cinema in den frühen 1960er Jahren zu einer erstaunlichen Ausdifferenzierung der ›marginalen‹, hollywoodkritischen Praktiken bei. Doch auch der kommerzielle Spielfilm wird um das Jahr 1967 von einem Innovationsschub erfasst, der erzählerisch, stilistisch sowie thematisch den Charakter des Neuen trägt und ein amerikanisches Autorenkino entstehen lässt. I NNOVATIONEN

DES

N EW H OLLYWOOD C INEMA

Das künstlerisch innovative New Hollywood Cinema – das im vorliegenden Kapitel mit diesem Begriff bezeichnet und üblicherweise von 1967 bis 1975 212

Der amerikanische Film

(manchmal auch nur bis 1971) angesetzt wird – bezieht seine Anregungen aus verschiedenen Quellen. Neben Avantgarde, Underground und Dokumentarfilm bestehen personelle Verbindungen zum exploitation film-Bereich (z. B. von Roger Corman). Viele Regisseure werden an neu eingerichteten universitären Filmkursen ausgebildet, einige arbeiten für das Fernsehen – die meisten sind vergleichsweise jung und durch die Gegenkultur geprägt. Am wichtigsten ist aber wohl das europäische Kino, das mit ›Filmautoren‹ wie François Truffaut, Jean-Luc Godard, Luis Buñuel oder Ingmar Bergmann, aber auch mit einer anspruchsvollen kulturellen Reflexion des Films als Kunstform zu seiner Intellektualisierung beiträgt (vgl. Elsaesser, »American Auteur«). Das in Amerika zum damaligen Zeitpunkt einflussreichste Buch zur internationalen Filmgeschichte, das 1957 erschienene The Liveliest Art: A Panoramic History of the Movies von Arthur Knight, assoziiert mit Europa ›wahre‹ Filmkunst, während in Hollywood standardisierte Erzählformen dominieren würden. Gegen Ende der 1960er Jahre gibt es Versuche, diese traditionelle Unterscheidung sowohl theoretisch als auch praktisch zu durchbrechen und im Spielfilm ein neues Verständnis amerikanischer Filmkunst zu schaffen. Der Filmkritiker Andrew Sarris adaptiert seine nach der Persönlichkeit des Regisseurs suchende ›Autorentheorie‹ vom französischen Konzept der politique-des-auteurs, doch es geht ihm um eine Emanzipation im Umgang mit der eigenen Filmkultur: »The critics of each country must fight their own battles within their own cultures, and no self-respecting American film historian should ever accept Paris as the final authority on the American cinema« (28). Trotz des spürbaren Einflusses der Nouvelle Vague auf Filme wie Bonnie and Clyde (beispielsweise die elliptische jump cut-Montage des Anfangs) ist für das amerikanische Autorenkino das Verhältnis zwischen dem neuen und dem alten Hollywood-Kino entscheidend – jenem ›klassischen‹ Film des Studiosystems, dessen Genres, Stars und Regisseure als genuin amerikanische Tradition eine langsame Aufwertung erfahren. Das Verhältnis ist kompliziert, denn die Produktionen von Filmemachern wie Arthur Penn, Mike Nichols, Dennis Hopper, John Schlesinger, Bob Rafelson, Peter Bogdanovich, Robert Altman, Sidney Pollack, Martin Scorsese oder den wenigen Frauen wie Barbara Loden müssen einerseits an etablierte Darstellungstraditionen anknüpfen und suchen andererseits nach neuen Erzählweisen und Themen. Diese Ausgangslage führt zu einem ›symbiotischen‹ Verhältnis der gleichzeitigen An- und Ablehnung, das in den Filmen häufig indirekt thematisiert wird. Aus der übermächtigen Tradition des Alten kann sich das Neue nur lösen, indem es das Alte zitiert und gleichzeitig aggressiv umwertet. Diese Umwertungen finden primär in zwei Gestaltungsbereichen statt: den Genrekonventionen und den Erzählverfahren. Das filmische Geschichtenerzählen im New Hollywood Cinema revidiert die Linearität und Geschlossenheit des klassischen Erzählens. Es ist – etwa in Five Easy Pieces (1970) von Bob Rafelson – offen und fragmenthaft-episodisch angelegt. Die Handlungslinien können einen ziellosen, mäandernden Eindruck erwecken, der nicht der üblichen Kausalität von Ursache und Wirkung, sondern dem Primat der Improvisation – des Zufälligen und Eigendynamischen – folgt. Am Ende von Five Easy Pieces steigt Robert (Jack Nicholson) an einer Tankstelle ohne Jacke und sonstige persönliche Gegenstände in einen Lastwagen ein, Auto und Freundin hinter sich lassend. Das 213

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Ende des Films unterstreicht seine dramaturgische Offenheit und den Versuch, neue Geschichten und Geschlechteridentitäten aus der Berechenbarkeit und ›Klaustrophobie‹ des klassischen Erzählens herauszulösen. Ähnliches gilt für die Revision von Genrekonventionen. Bonnie and Clyde zitiert die Gangstererzählungen der 1930er Jahre, um an entscheidenden Punkten – etwa der exzessiven Erschießung des Gangsterpaares in der Zeitlupensequenz des Endes – darüber hinaus zu gehen. Noch interessanter, weil reflektierter ist Arthur Penns Night Moves (1975), der den Mythos des Privatdetektivs als moralische und kriminalistische Autorität unterläuft. Wie in dem ähnlich revisionistisch angelegten The Long Goodbye (1973) und zahlreichen anderen Filmen von Robert Altman zeigt sich damit ein häufiges Muster. Das Alte wird zitiert, aber die historischen Normen der Handlungsverläufe, Figureneigenschaften oder Konfliktlösungen werden im Neuen radikal in Frage gestellt. Mit den Mitteln der Ironie, Dekonstruktion oder nostalgischen Hommage kann auf diese Weise das Verhältnis zwischen Alt und Neu umdefiniert und für kreative Weiterentwicklungen adaptiert werden. Damit lösen sich aber auch die genretypischen Populärmythen des amerikanischen Traums, der historischen Unschuld oder des ›wilden‹ Westens zunehmend auf, die in den 1950er Jahren noch vergleichsweise stabil erscheinen. Einige Genres, etwa der Western oder der private eye-Film, scheinen durch den Revisionismus der frühen 1970er Jahre dauerhaft diskreditiert, aber die Entwicklung von Genres folgt keinem evolutionären Muster von ›Geburt‹, Blütezeit und Verfall. In späteren Jahren können sie durchaus wieder eine traditionellere Form annehmen. Das New Hollywood Cinema vermittelt durch die skizzierten Verfahren einen ungemein zeitaktuellen und wirklichkeitsnahen Charakter, der das Problem der generation gap auch im Spielfilm ästhetisch erfahrbar macht. Er ist den neuen Themen und Utopien der Gegenkultur (Alice’s Restaurant, Arthur Penn, 1969) ebenso geschuldet wie der Improvisations-Ästhetik (A Woman Under the Influence, John Cassavetes, 1974), den Genrerevisionen oder dem multiperspektivischen Erzählen (Nashville, Robert Altman, 1975). Mit Easy Rider (Dennis Hopper, 1969) zeigt sich, dass die Regenerationsfähigkeit des populären Erzählens in Hollywood vor allem in einer neuen Darstellung von Jugendkultur begründet ist, die ihre Inspiration durch Scorpio Rising nicht verbergen kann. Drogenkonsum, Biker-Subkultur, Suche nach verlorenen Idealen, Rockmusik als Mittel der Emotionalisierung und des Kommentars, aber auch die kurzen (proleptischen) Sequenzen des flash cutting, die als Reverenz an die Wahrnehmungsexperimente der Filmavantgarde erscheinen, markieren eine überraschende ›Verjüngungskur‹ des Spielfilms im Kontakt mit seinen subversiven ›Rändern‹, aber wohl auch eine Glättung und Kooptation ihrer radikalen Energien (vgl. James). Da Easy Rider ein höchst rentabler Low-Budget-Film ist, setzen die Studios temporär auf kleinere Projekte und neue Talente. Doch in vielerlei Hinsicht ist es mit dieser neuen Durchlässigkeit zwischen Gegenkultur und Mainstream nach wenigen Jahren vorbei, und es zeigt sich als primäre Funktion der innovativen frühen Filme, dass sie dabei helfen, das Jugendpublikum zurück zu gewinnen, auszudifferenzieren und damit letztlich das alte, erschütterte Produktionssystem wieder zu stärken (Elsaesser, »American Auteur« 44). Dass die Ambivalenzen zwischen traditionellen Werten und gegenkulturellen Milieus in den Jugendfilmen ausgetragen und häufig im Sinn der Tra214

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dition aufgelöst werden, lässt sich an vielen Beispielen zeigen. In Midnight Cowboy (John Schlesinger, 1969) verschlägt es beispielsweise die beiden männlichen Hauptfiguren in ein Milieu, das Andy Warhols factory ähnelt. Obwohl der Film zuvor homosexuelle Praktiken und Erfahrungen thematisiert hat, betont er an diesem Punkt ihre Heterosexualität und zeigt das Milieu als (traditionelles) Beispiel einer elitären und dekadenten Subkultur. Ohne Zweifel jedoch bringt das New Hollywood Cinema auch zahlreiche innovative Erzählungen hervor, die das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft neu zu fassen vermögen, indem sie etablierte Interaktionsprogramme kreativ weiterentwickeln. Gerade die erste Hälfte der 1970er Jahre erweist sich als produktives Experimentierfeld, in dem ein »posttraumatisches Kino« (Keathley) entsteht. Es durchtrennt die von Gilles Deleuze vorgeschlagene Kausalkette des amerikanischen Spielfilms, der seine Figuren von der Wahrnehmung zum Affekt und schließlich zur Handlung führt, und lässt sie handlungsunfähig werden. Diese Krise des Aktionsmenschen (und Aktionsbildes im Sinn von Deleuze 275282), der seinen widerstreitenden Gefühlen ausgesetzt ist und nicht mehr weiß, was zu tun ist, kann auf reale historische Ereignisse wie das KennedyAttentat, den Vietnam-Krieg oder die politische Korruption des WatergateSkandals zurückgeführt werden. Filme wie The Parallax View (Alan Pakula, 1974), Three Days of the Condor (Sydney Pollack, 1975) oder Taxi Driver (Martin Scorsese, 1976) versetzen ihre Figuren in eine desillusionierte oder überkomplexe Gesellschaft, in der sie Gefühlen politischer Paranoia und narzisstischer Leere ausgesetzt sind. Doch Vorläufer dieses modernistischen Topos eines entfremdeten Individuums lassen sich bereits in früheren Phasen wie dem Film Noir finden, sodass neben die zeitaktuellen Bezüge des New Hollywood Cinema auch das Bemühen tritt, ein etabliertes Thema in neuer und intensivierter Form zu erzählen (vgl. Cook, Lost Illusions, Dammann). Ein hervorragendes Beispiel für dieses Bemühen ist The Conversation von Francis Ford Coppola (*1939) aus dem Jahr 1974 mit Gene Hackman in der Hauptrolle. Harry Caul ist ein versierter Abhörspezialist, der seine Arbeit höchst professionell, aber distanziert und eigenbrödlerisch ausführt. Wissen ist Macht, und da Caul illegal Wissen beschafft (das einige Jahre zuvor den Tod Unschuldiger zur Folge hatte), bemüht er sich, seine ›Geheimnisse‹ – die selbstgebauten Überwachungsgeräte oder seine Privatsphäre – möglichst strikt zu kontrollieren. Als er bei einem Auftrag aus dem Gespräch eines Paares den Satz »he’d kill us if he’d got the chance« herausfiltert, imaginiert er ein bevorstehendes Verbrechen, das er nicht zu verhindern vermag und das seine Kontrollillusion zerstören wird. Am Ende zerlegt Caul seine Wohnung, um (vergeblich) herauszufinden, wem es gelungen ist, ihn zu überwachen (vgl. Abb. 8). Die (voyeuristische) Machthierarchie zwischen Überwacher und Überwachtem hat sich damit zu Cauls Ungunsten gewendet. Dass in einer technisierten Gesellschaft Überwachung allgegenwärtig sein und gesichtslos-übermächtigen Institutionen dienen könnte, diese ›paranoide‹ Fantasie ist Wirklichkeit geworden. The Conversation verlegt die Krise des Aktionsbildes und damit auch die Krise eines konventionellen Bildes von (aktiver) Männlichkeit ans Ende der Erzählung. Caul hat seine Privatsphäre im Akt der Zerstörung vollständig bloßgelegt, aber die Übermacht lässt sich dadurch nicht lokalisieren oder gar bekämpfen. Doch Coppolas Film geht weiter. Er veranschaulicht zum einen 215

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die Subjektivierung der Narration, indem er die Erinnerungen von Caul an den Mord (den er nicht verhindern kann) variiert und als Sequenzen unzuverlässigen Erzählens erscheinen lässt. Sie drücken seine panische, traumatisierende Angst aus, die frühere Schuld, seine Arbeit könnte anderen schaden, wiederholen zu müssen. Zum anderen wird die Überwachungsaktion als Spiel-im-Spiel-Situation gerahmt, die deutliche Züge einer Inszenierung trägt und Harry Caul zu einer Künstlerfigur werden läst. Mit dem Versuch, eine möglichst gelungene Aufnahme zu erhalten, den verschiedenen Perspektiven auf das Geschehen, dem Fotografieren und der späteren minutiösen Arbeit an der ›Tonspur‹ sind Arbeitsschritte beschrieben, die den Überwachungsakt mit dem Filmemachen parallel führen und eine fragile Selbstwahrnehmung in beiden Bereichen signalisieren.

Abb. 8: The Conversation (Francis Ford Coppola, Kamera: Bill Butler, American Zoetrope/Paramount, 1974). Das Spiel-im-Spiel führt damit zu einer im New Hollywood Cinema nicht untypischen verschobenen Reflexion auf das (künstlerische) Filmemachen in seiner Abhängigkeit von übermächtigen Institutionen (Studios). Gerade die intensive Beschäftigung mit dem Verhältnis von Stimme, Ton und Imagination erfasst einen wesentlichen Bestandteil der Wirklichkeitsillusion des Kinos. Doch die Metareflexion dient vor allem der Problematisierung eines erschütterten Rollenverständnisses. Als Caul seine professionelle Distanz verliert und zögerlich in das Geschehen eingreifen möchte, um das Verbrechen zu verhindern, fehlen ihm die Handlungsoptionen; er weiß nicht, was zu tun ist. Einer der Gründe für diese Unsicherheit wird erst am Schluss enthüllt, denn das Interaktionsprogramm von The Conversation ist (auch) die Intrige. Im Unterschied zu Double Indemnity ist das Täuschungsmanöver allerdings auch für die Zuschauer nicht offensichtlich. Die Intrige ist nur dem abgehörten Paar, nicht jedoch dem Abhörer Caul bewusst, der seine (falsche) Interpretation absolut setzt: Caul hört in dem entscheidenden Satz die Betonung auf »kill«, später scheint sie auf »us« zu liegen und als Rechtfertigung des Paares zu dienen, seinen Widersacher umzubringen. Die genauen Zusammenhänge werden zudem am Ende auch nicht wirklich aufgelöst, sodass die Hauptfigur mit Ahnungen und Erklärungsfragmenten zurück bleibt, aber keine kausalen Zusammenhänge mehr herstellen und folgerichtig auch nicht mehr aktiv handeln kann. Die Zuschauer, die den Wahrnehmungshorizont der 216

Der amerikanische Film

Hauptfigur in dieser Hinsicht nicht überschreiten können, werden ebenso getäuscht wie der Protagonist. Es entsteht damit eine neue Qualität in der Ästhetik des Misstrauens, da die Intrige für die Zuschauer und die Hauptfigur nicht mehr durchschaubar ist. Sie gehören vielmehr zu den Getäuschten, ohne dass ihnen die Täuschungsstrategien offenbart würden. Eine erklärende und Ordnung stiftende Rahmung, wie sie in Double Indemnity mit dem detektivischen Spürsinn des Vorgesetzten Barton Keyes gegeben ist, fehlt in The Conversation. Aus dieser fehlenden Rahmung resultiert die ›Gefangenschaft‹ (Keathly) der Hauptfigur in einem diffusen ›Affektbild‹ der Deindividualisierung und Nacktheit vor dem allgegenwärtigen Auge des übermächtigen ›Systems‹ (die letzten Einstellungen evozieren mit unmotivierten Schwenks den Modus einer Überwachungskamera). Stärker als im Film Noir symbolisiert dieses Ende die Vision einer Fremdbestimmtheit des handlungsunfähigen Individuums in der verwalteten Welt. Doch Coppola erzählt diese pessimistische Dystopie in einer durch das art cinema beeinflussten Weise, die man als implizites Gegenmodell verstehen könnte, als Rebellion der Kunst gegen das System. Auf jeden Fall ist dieser ›Nullpunkt‹ des Individualismus im amerikanischen Spielfilm nur von kurzer Dauer, denn in den späten 1970er Jahren kommt es zu einer ›Remythisierung‹ klassischer Erzähltraditionen. W IEDERAUFERSTEHUNG

DER

›B LOCKBUSTER‹

Für das New Hollywood Cinema wird – wie erwähnt – häufig die Zeitspanne von 1967 bis 1975 angesetzt, als ihm mit Jaws (Steven Spielberg, 1975) der Garaus gemacht wird. Bei genauerem Hinsehen erweisen sich solche Periodisierungen aber häufig als starke Vereinfachung: Das amerikanische Autorenkino ist nach 1975 nicht zu Ende, und der auf mediale Überwältigung und Profitmaximierung ausgerichtete, spektakuläre Blockbuster setzt nicht erst mit Jaws ein. Der erfolgreichste Film von 1970 ist Love Story (Arthur Hiller), einerseits ein traditionelles Liebesmelodrama, andererseits aber auch – wie der gegenkulturelle Autorenfilm – eine Auseinandersetzung mit dem Generationenkonflikt (wenngleich im privilegierten Milieu von New England). Es sollte daher kein radikaler Gegensatz zwischen kommerziellen Produktionen und Autorenfilmen impliziert werden, sondern eher ein spannungsreiches, aber letztlich interdependentes Nebeneinander, das unterschiedliche Segmente des Publikums zu gewinnen sucht. Allerdings verschieben sich für diese kulturelle Konkurrenz in den späten 1970er Jahren die Koordinaten. Mit Star Wars und Close Encounters of the Third Kind kann das Jahr 1977 als Zäsur gelten, bei der Regisseure wie George Lucas und Steven Spielberg mit fantastischen und visuell (oder auditiv) möglichst eindrucksvollen Produktionen bislang unerreichte kommerzielle Erfolge erzielen (vgl. Cook, Lost Illusions). In gewisser Weise kann ein Film wie Star Wars als Rückkehr zum klassischen Hollywood-Märchen der 1920er Jahre gesehen werden. Wie in The Thief of Bagdad muss sich ein jugendlicher Held im Kampf bewähren, um die geliebte Prinzessin zu gewinnen. Magische Helfer (oder Maschinen) unterstützen ihn, und die spektakulärsten Special-Effects-Szenen sind jene des siegreichen Kampfes. Auch die Krise des Aktionsbildes scheint überwunden, der Tatmensch ist wiedergeboren und folgt dem traditionellen Credo, dass sich seine Persönlichkeit im Handeln enthüllt. Doch wie Thomas Schatz ar217

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gumentiert, geht der calculated blockbuster, der sich in den 1980er Jahren entwickeln wird, darüber hinaus. Das Studiosystem hat sich erholt und trotz nomineller Trennung zwischen Produktion und Aufführung wieder eine vertikale Integration durchgesetzt. Die mittlerweile dominierenden integrierten Medienkonzerne (wie Time-Warner, Sony-Columbia oder Viacom-Paramount) mit ihren Kino-, Musik-, Fernseh-, Verlags- und home video-Sparten suchen nach Inhalten, die sich in all diesen Bereichen vermarkten lassen. Bekanntlich ist das Merchandising mit den Roboter-Figuren von Star Wars mindestens ebenso lukrativ wie das Einspielergebnis im Kino (vgl. Schatz, »New Hollywood«, Maltby 205-212). Wichtiger als diese optimierte Vermarktung ist jedoch die damit veränderte Funktionsbestimmung der Filmerzählung, in der eine postklassische Konstellation erkennbar wird. Sie dient nicht mehr primär einer um narrative Geschlossenheit und Plausibilität bemühten Geschichte mit mehrdimensionalen Figuren, sondern verschmilzt mit den Zielen der multimedialen Verwertung. Schatz argumentiert, dass spektakuläre Handlungen, Spezialeffekte und das Fantastische einflussreicher werden als die Figuren. Eine mitunter disparat wirkende Offenheit oder gar Inkohärenz der Erzählungen erlaubt ›horizontale‹ Bezüge zu anderen Medien, und es kommt zu einer intertextuellen Überschneidung mit Werbestrategien für Produkte, die zum Franchise-System des jeweiligen Films gehören (Schatz, »New Hollywood«). Mit dieser Charakterisierung des Zusammenhangs von Ökonomie und Ästhetik holt den Hollywood-Spielfilm offensichtlich ein, was die Frankfurter Schule bereits in den 1940er Jahren konstatiert hatte: »Effekt, Trick, die isolierte und wiederholbare Einzelleistung sind von je der Ausstellung von Gütern zu Reklamezwecken verschworen gewesen, und heute ist jede Großaufnahme der Filmschauspielerin zur Reklame für ihren Namen geworden, jeder Schlager zum plug seiner Melodie. Technisch so gut wie ökonomisch verschmelzen Reklame und Kulturindustrie« (Horkheimer und Adorno 172-173).

Doch obwohl diese Verschmelzung von Werbung und Filmfiktion für die ›Wiederauferstehung‹ der Blockbuster tatsächlich kennzeichnend ist, müssen die Funktionsbestimmungen des Films in der Kulturindustrie differenzierter betrachtet werden. Zum einen kann der calculated blockbuster nicht automatisch mit Popularität gleichgesetzt werden – viele Projekte spielen ihre hohen Produktionskosten erst über den Video- bzw. DVD-Absatz ein. Zum anderen besteht nach wie vor eine Unterteilung in Produktionsgruppen, die neben den besonders kostspieligen Projekten auch einen mittleren Bereich und einen kostengünstigeren Independent-Sektor aufweist (vgl. Bordwell, Way 1-18, Tzioumakis). Für diese Segmente gelten andere künstlerische Ansprüche und eine Fortführung jener kulturellen Selbstverständigung, die auch das klassische Studiosystem kennzeichnete. Ein gutes Beispiel für diese Differenzierung ist Annie Hall von Woody Allen (*1935), der zusammen mit Star Wars ebenfalls im Jahr 1977 in die Kinos kommt. Allen ist – wie Robert Altman oder Stanley Kubrick – ein Beleg für die Existenz eines amerikanischen Autorenfilms, der kreative Energien aus der Abgrenzung von Hollywood zieht. In Annie Hall kann man das wörtlich verstehen, Alvy Singer (Woody Allen) ist ein passionierter New Yorker und hasst Los Angeles, wo man Fernsehkomödien mit laugh tracks 218

Der amerikanische Film

unterlegt. Im Gegensatz dazu folgt Allens (partiell romantische) Komödie dem Interaktionsprogramm des ›Spiels-im-Spiel‹, das durch seine verschachtelte und höchst reflektierte Form das Komische beinahe beiläufig aus einer komplexen Metafiktionalität entwickelt. Singer spricht die Kamera (wie beim stand-up act) direkt an, durchbricht die Geschlossenheit der fiktionalen Diegese, indem er den zuvor erwähnten Marshall McLuhan vor die Kamera rückt, greift in Rückblenden kommentierend ein und nimmt intertextuellen Bezug auf andere Erzählformen wie das Theater, Cartoons oder den europäischen Autorenfilm. Die Liebesgeschichte zwischen dem jüdischen Singer und Annie Hall (Diane Keaton) aus dem Mittleren Westen wird auf diese Weise in eine amüsant-spielerische, aber auch tiefsinnige Reflexion des Verhältnisses von Fiktion und Wirklichkeit eingebunden. Ein Grund für diese Reflexion ist der Versuch, die Tradition einer möglichst geschlossenen und homogenen Filmerzählung zu durchbrechen, um mit dem anti-illusionistischen Erzählen auch ein anderes Wirklichkeitsverständnis zu schaffen. Es umfasst zwei kontroverse Darstellungsanliegen: die Repräsentation von ethnischer oder religiöser Alterität sowie die durch den Feminismus der 1970er Jahre veränderten Geschlechterverhältnisse (vgl. Abb. 9). Wie für Al Jolson wird auch für Alvy Singer sein ›Jüdischsein‹ durch die Frage aufgeworfen, wie er sich als Entertainer einem Publikum präsentieren soll. Aber im Unterschied zu einflussreichen Nachkriegsproduktionen wie Gentlemen’s Agreement (Elia Kazan, 1947), in denen das Jüdischsein im Verhältnis zur WASP-Mehrheit als nicht anders erzählt wird, hebt Annie Hall die Differenz zwischen Singer und seiner von ihm als antisemitisch wahrgenommenen Umwelt besonders hervor. Diese prominente Betonung der ethnisch-religiösen Differenz kennzeichnet auch zahlreiche andere Produktionen – das italienische Mafia-Milieu in The Godfather (Francis Ford Coppola, 1972) oder das russische Arbeitermilieu in The Deer Hunter (Michael Cimino, 1978) –, aber bei Allen wird die damit verbundene Ambivalenz am deutlichsten: Zum einen entspricht das Ethnische einer authentischen Selbstwahrnehmung, zum anderen ist es aber auch ›konstruiert‹, das Resultat einer Selbststilisierung, die reflektiert werden muss, wenn es um die Suche nach Gemeinsamkeiten des ›Amerikanischen‹ geht (die Problematisierung dieser Dialektik von Differenz und Ähnlichkeit führt Allen 1983 mit Zelig fort). Das zweite Darstellungsanliegen in Annie Hall ist ebenfalls ein zentrales Thema der 1970er Jahre: die Revision der Geschlechterverhältnisse. Im feministischen Dokumentarfilm von Michelle Citron, Marjorie Keller, Yvonne Rainer oder Joyce Chopra dominiert – wie bei Alvy Singer – ein autobiografisches Interesse an der Entwicklungsgeschichte der eigenen Person, an familiären Prägungen und dem Versuch, tradierte Geschlechterbilder weiter zu entwickeln. Der öffentlichkeitswirksamste Spielfilm zur Geschlechterproblematik ist Kramer vs. Kramer (Robert Benton, 1979), der allerdings weniger die weibliche Entwicklungsgeschichte als die neue Anpassungsfähigkeit des Ehemanns – einem ›Opfer‹ weiblicher Selbstverwirklichungswünsche – zeigt. Wie in diesem Scheidungsdrama scheitert in Annie Hall die Paarbeziehung am Ende, die romantische Komödie beginnt und endet melancholisch. Doch Allens Film veranschaulicht, dass die Suche nach individuellem Glück mittlerweile unter erschwerten Bedingungen stattfindet, denn sie scheint nur noch mit therapeutischer Hilfe möglich zu sein. Diese psychoanalytische Therapiebedürftigkeit von Alvy Singer (und Annie Hall) gehört zwar zum 219

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komischen Stereotyp des ›schizophrenen‹ New Yorkers, aber sie ist nicht nur thematisch relevant. Mit der direkten Ansprache durch die Hauptfigur und ihren beständigen, kontrollierenden oder umlenkenden Eingriffe in die Narration manifestiert der Film formal eine exzessive Selbstbezüglichkeit, die als Ausdruck seines Narzissmus verstanden werden kann.

Abb. 9: Annie Hall (Woody Allen, Kamera: Gordon Willis, United Artists, 1977). In den frühen 1980er Jahren setzt sich mit The Empire Strikes Back (Irvin Kershner, 1980) oder Raiders of the Lost Ark (Steven Spielberg, 1981) die Tendenz zum calculated blockbuster – zunehmend in serieller Form – fort. Wie die ideologiekritische Filmgeschichtsschreibung argumentiert, geht damit eine konservative Wende einher, die zum skeptischen Kino der counterculture in diametraler Opposition steht. Gegen die krisenhafte kulturelle Selbstwahrnehmung entstehen Machtfantasien viriler Männlichkeit, die der Ideologie des männlichen Kämpfers, Eroberers oder Unternehmers huldigen. Nach wie vor können ›antiamerikanische‹ Filme wie Missing (Constantin Costa-Gavras, 1982) entstehen, doch die Tendenz zum Märchenhaft-Fantastischen der Erzählungen zusammen mit einer wiederbelebten neoliberalen Erfolgsmythologie ist deutlich spürbar (vgl. Ryan und Kellner, Prince). Betrachtet man den gesamten Bereich des amerikanischen Films, entsteht allerdings ein etwas anderes Bild. Auch wenn neue Themen wie sexuelle Toleranz, die etwa im Dokumentarfilm aufkommen, weniger publikumswirksam sind, werden sie längerfristig auf den Spielfilm einwirken. Zudem gibt es auch eine medienimmanente Erklärung für die Hinwendung zur spektakulären Unterhaltung. In den frühen 1980er Jahren entsteht mit Computerspielen eine neue Unterhaltungsindustrie, die das Kino als konkurrierendes Freizeitangebot bedroht und die es – wie in früheren Zeiten des Medienwandels – in sein fiktionales Universum einzubinden versucht (vgl. Kapitel 5.3). Gerade der Science Fiction-Film wird zu einem Experimentierfeld, in dem nicht nur ein posthumanes Subjekt imaginiert wird, ein cybernetic organism wie in Blade Runner (Ridley Scott, 1982) oder Alien (Ridley Scott, 1979). Hier wird im Spezialeffekt auch das alte analoge Kino mit dem digitalen zu einer neuen, hybriden Form zusammengeführt. In Tron (Steven Lisberger, 1982) oder War Games (John Badham, 1983) wird das Computerspiel in seiner neuen 220

Der amerikanische Film

Ästhetik und interaktiven Benutzerlogik zwar noch weitgehend in die traditionellen Interaktionsprogramme des kriegerischen Konflikts integriert, aber sowohl thematisch als auch erzähltechnisch – und hinsichtlich eines Produktionsapparats, der von der Digitalisierung zukünftig in allen Bereichen erfasst wird – hat das digitale Kino seinen Anfang genommen (vgl. Rodowick, Cook, Cinema Book 344-366).

3.6 Pluralisierung und postklassisches Kino: 1985-heute Die Anfänge des hybriden analog-digitalen Kinos sowie die Emergenz des Computers als Unterhaltungs- und Erzählmedium markieren ein Schwellenphänomen, das in den 1990er Jahren voll zur Geltung kommen wird. Als komplexe Systeme schaffen Computer neue Metaphern der Selbstreflexion und der Reflexion auf gesellschaftliche Verhältnisse. So tobt in Tron ein Kampf zwischen hierarchischen und nichthierarchischen, unterdrückenden und befreienden Formen der Kommunikation. Wie in späteren Filmen, etwa in The Matrix (Andy und Larry Wachowski, 1999), bringen digitale Technologien utopische Hoffnungen oder dystopische Befürchtungen zum Ausdruck. Sie werden zu Allegorien der gesellschaftlichen Verhältnisse und problematisieren ein scheinbar allgegenwärtiges Bedürfnis nach Kontrolle. Dabei besteht eine interessante Dialektik zwischen der Filmthematik und den Produktionsbedingungen von Tron. Denn auch für seine futuristische, auf Makellosigkeit und perfekte Illusion zielende Ästhetik gilt die Frage: Welchen Grad der Kontrolle erlangt der Computer über das Kunstwerk? Welche künstlerischen Freiheiten lässt die Maschine den Filmemachern? Neben der Ökonomie des calculated blockbuster trägt damit auch der technologische Wandel – die Konvergenz von digitalen und analogen Verfahren – zu der Diskussion bei, ob das klassische Hollywood-Kino in den 1970er und 1980er Jahren durch ein postklassisches Erzählsystem ergänzt oder gar abgelöst wird. David Bordwell, einer der Autoren von Classical Hollywood Cinema, plädiert für die nach wie vor gültige Dominanz des ›Klassischen‹, er bezeichnet es als »default framework for international cinematic expression« (Bordwell, Way 12). Angesichts der überwältigenden Popularität eines klassisch erzählten, sentimentalen Melodramas wie Titanic (James Cameron, 1997) und vieler ähnlich gelagerter Projekte leuchtet dieses Plädoyer ein: Tradierte Muster der narrativen Kohärenz, Kausalität und logischen ›Motiviertheit‹ filmstilistischer Elemente, die im ›Dienst‹ der figurenzentrierten Geschichte stehen, bilden nach wie vor eine dominante Norm des amerikanischen Spielfilms (vgl. auch Thompson, Storytelling). Gleichwohl bilden sich in den 1990er Jahren Erzählungen heraus, die dieser Norm nicht mehr folgen und ihre Experimentierfreudigkeit mit dem Erzählakt auch aus der nichtlinearen Logik des Computer-Hypertextes oder den Verlockungen der Virtual Reality beziehen können. Diese neuen Formen des unzuverlässigen Erzählens oder der mind films wie Memento (Christopher Nolan, 2000) erzeugen komplexe Modellierungen von Bewusstseinsprozessen und subjektiver Zeiterfahrung. Neue Computertechnologien können dabei die zunehmende Verschmelzung von Fantasietätigkeit und technisch gestützter Bilderproduktion hervorheben wie in Brainstorm (Douglas Trumbull, 1983) oder Strange Days (Kathryn Bigelow, 1995). Sie schaffen die 221

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Vorstellung, dass von den ästhetisch faszinierenden, computergenerierten Bildern ein besonderes Risiko für das Individuum ausgeht. Hinter diesen Geschichten lässt sich allerdings unschwer eine ›Abwehrstrategie‹ des Kinos erkennen, denn eine besondere Sucht- und Nachahmungsgefahr sowie die Bedrohung, zwischen Fiktion und Realität nicht mehr unterscheiden zu können, hat man historisch dem Kino selbst vorgeworfen. Jetzt dient dieser Vorbehalt dazu, die Computerbilder durch das stabile analoge Medium in einem tradierten Erzählrahmen ›einverleiben‹ zu wollen. Die Rede von einem postklassischen Kino kann daher am ehesten für eine neue »›Poetik‹ der Doppelbödigkeit« (Elsaesser, Hollywood 8) überzeugen, die aus verschiedenen Gründen – u. a. aufgrund des Erzähl- und Erfahrungsmediums ›Computer‹ – Muster der Linearität und Kausalität auflöst. Es ist jedoch weniger eine neue historische Norm, die das klassische Erzählen ablöst, als eine Alternative des fiktionalen filmischen Erzählens, über deren langfristiges Gewicht noch keine Aussagen möglich sind. Das amerikanische Mainstream-Kino hat historisch eine große Flexibilität in der partiellen Adaption innovativer Verfahren und Stile gezeigt, ohne seine Grundprinzipien aufzugeben (vgl. Thompson, »Limits«). Neben der Hinwendung zu Erinnerungs- und Bewusstseinsprozessen findet darüber hinaus seit den 1980er Jahren eine thematische Pluralisierung statt, die den Horizont des Darstellbaren erweitert und für den Liebesdiskurs neue Identitätsmodelle popularisiert. Dies betrifft zum einen die Repräsentation sexueller Orientierungen, deren Spektrum größer wird und heterosexuelle Normen hinterfragt. Zum anderen entsteht ein eigenständiges afroamerikanisches Autorenkino, das sich institutionell etablieren und der langen Tradition negativer Stereotype die Ausdifferenzierung einer ›schwarzen Filmästhetik‹ entgegensetzen kann. D IE ›NEUE ‹ S EXUALITÄT

UND

E THNIZITÄT

Die Darstellung einer ›neuen‹ Sexualität wird zunächst vom Dokumentarfilm erschlossen. Hier entstehen in den 1980er Jahren zwei einflussreiche, von der teilnehmenden Beobachtung und der radikalen Intervention abweichende Praktiken. In den Filmen von Errol Morris (The Thin Blue Line, 1987) findet eine ›Reästhetisierung‹ sozialer Wirklichkeit statt: Szenen werden nachgestellt, Interviews stimmungssteigernd ausgeleuchtet und musikalisch unterlegt; es erfolgen intertextuelle Verweise auf andere Genres und Medien. Morris verschiebt damit den dokumentarischen Modus von der Dominanz des authentischen Bildes zurück zu einem ›kreativen‹ Umgang mit Wirklichkeit, wie er schon für die 1930er Jahre kennzeichnend war, jetzt allerdings unter den Bedingungen einer vielfältig mediatisierten Gesellschaft vorgenommen werden muss. Die zweite Neuerung liegt im performativen Dokumentarfilm von Michael Moore (Roger and Me, 1989) oder Ross McElwee (Sherman’s March, 1986). Er zeigt den Dokumentaristen als ›Persona‹ vor der Kamera und macht ihn (oder sie) zur Hauptfigur im Kontakt mit anderen sozialen ›Akteuren‹. McElwee legt sein Projekt autobiografisch an, er ›spielt‹ sich selbst. Moore hingegen wird zum politischen Aktivisten für die Anliegen und Rechte sozial Benachteiligter. Beide umrahmen ihre Interaktion vor der Kamera mit dominanten, subjektiv-ironischen Kommentaren (vgl. Nichols, Beattie, Grünefeld).

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Für die Emanzipation sexueller Identitätskonzepte sind allerdings vergleichsweise traditionelle Projekte einflussreicher, etwa The Times of Harvey Milk (Robert Epstein, 1984) und Before Stonewall: The Making of a Gay and Lesbian Community (1984) von Greta Schiller und Robert Rosenberg (aber auch der erschütternde Silverlake Life: The View From Here von Tom Joslin und Peter Friedman, 1993). Es überwiegt die Funktion des consciousness raising: In Interviews und Kommentaren wird die Befreiungsgeschichte des diskriminierten Milieus der Schwulen und Lesben erzählt, das seit den 1960er Jahren an Sichtbarkeit und Akzeptanz gewonnen hat. Im Unterschied zum provokativen Gestus des Underground Film ist Before Stonewall um seriöse Analyse und Argumentation bemüht. Die rechtliche und kulturelle Diskriminierung soll historisch belegt und durch die Biografien der Interviewten in ihren negativen Auswirkungen plausibilisiert werden. Die Vorstellung der Community hat dabei eine Doppelfunktion. Zum einen trägt der Film dazu bei, das Bild einer schwulen und lesbischen Gemeinschaft mit ihren vielfältigen Berufen und Lebensgeschichten überhaupt erst entstehen zu lassen; er ist performativ, indem er das, wovon er erzählt, auch gleichzeitig symbolisch erschafft. Zum anderen richtet er sich an die andere Community, jene heterosexuelle Mehrheit, die zur Diskriminierung beigetragen hat, jetzt aber für die Anerkennung der alternativen Lebensformen gewonnen werden soll. Für beide Darstellungsanliegen ist Before Stonewall ein gelungenes Beispiel, doch der Film offenbart auch ein grundsätzliches Dilemma. Um als Gemeinschaft oder (Sub-)Kultur mit eigenem Habitus zu wirken, muss die gay and lesbian community ihre Differenz von der Mehrheit zunächst betonen, sie dann aber wieder zurücknehmen, wenn sie im Kontakt mit ihr als ›normal‹ erscheinen möchte. Im Dokumentarfilm wird damit deutlich, dass die neue Repräsentation sexueller Alterität unweigerlich zu einer Auseinandersetzung um das Konzept der ›Normalität‹ führt und dass dieses Konzept durch den Einschluss neuer Identitäten und Rollenmodelle umdefiniert werden kann. Im Stil der teilnehmenden Beobachtung setzt Jenny Livingston mit Paris Is Burning (1990) diesen Prozess fort. Im Milieu der drag queens von New York ›entdeckt‹ sie eine Fantasiewelt der Selbstinszenierung, die das Spiel mit Genderidentitäten perfektioniert hat. Sie zeigt die fazinierende Körperlichkeit des voguing-Rituals, aber auch die Kehrseite dieses Milieus mit dem Alltag der Prostitution und Aids-Erkrankungen. Gender wird als eine Kombination unterschiedlicher Zeichensysteme anschaulich: Körpersprache, Kleidung, Interaktionsformen lassen den Eindruck von Weiblichkeit entstehen, der für die Protagonisten möglichst ›real‹ ist, wenn man ihn nicht als Täuschung durchschauen kann. Paris Is Burning erzählt damit von Genderinszenierungen als Geschichte einer Makerade, die in der Tradition des passing steht. Eine weitere Facette dieser Auseinandersetzungen um die Vorstellung von sexueller ›Normalität‹ steuert The Celluloid Closet (Rob Epstein, Jeffrey Friedman, 1996) bei. Hier geht es weniger um Augenzeugen, Betroffene oder reale Akteure als um eine Metareflexion. Die direkte oder indirekte Darstellung schwuler oder lesbischer Figuren wird im amerikanischen Spielfilm untersucht und als Geschichte negativer Stereotype erzählt. Auch hier nimmt der Film einen performativen Charakter an: Im Prozess der Kritik wird eine stetige Weiterentwicklung und Emanzipation der Figurenbilder erkennbar, die in der Gegenwart an ihrem zwar nicht wirklich zufriedenstellenden, aber 223

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bislang fortschrittlichsten Punkt angekommen ist. Damit registriert der Dokumentarfilm einen Repräsentationswandel im amerikanischen Spielfilm, den er selbst mit angeregt hat. Die um größere Sympathie bemühte Darstellung schwuler Lebenswelten in Philadelphia (Jonathan Demme, 1993), American Beauty (Sam Mendes, 1999) oder Brokeback Mountain (Ang Lee, 2005) trägt zwar auch zu ihrer Idealisierung als Refugium einer aufgeklärt-zärtlichen Männlichkeit bei (vgl. Abb. 10). Aber dass die Definition von sexueller ›Normalität‹ im Spielfilm weiter gefasst wird als in früheren Jahrzehnten, ist unbestreitbar. Mit dem Biopic Milk (Gus Van Sant, 2008) wird ein offen schwuler Politiker in eine lange Reihe von öffentlichen Personen gestellt, die für die Reform und Weiterentwicklung der amerikanischen Demokratie gestorben sind – ein zwar primär pathetisches, aber deutliches Zeichen für größere kulturelle Akzeptanz.

Abb. 10: Brokeback Mountain (Ang Lee, Kamera: Rodrigo Prieto, Focus/Paramount, 2005). Allerdings lässt sich beobachten, dass die Spielfilmerzählungen an Ambivalenz gewinnen, wenn sie eine alternative Sexualität nicht nur behaupten, sondern in ihrer Körperlichkeit auch unmittelbar zu zeigen bemüht sind. Für die Horrorästhetik von The Silence of the Lambs (Jonathan Demme, 1991), in dem ein Serienmörder seine weiblichen Opfer enthäutet, ist der Körper ein doppeldeutiges Objekt: einerseits etwas, das trainiert und kontrolliert werden muss, andererseits ein Fantasiegegenstand, der Perversionen und Pathologien entstehen lässt. Im Horrorgenre ist eine ›abnormale‹ Genderkonfusion demnach traditionell eine Quelle der Angst und des Ekels. Doch im Sinn der komplexeren Auseinandersetzung mit transgender-Milieus von Paris Is Burning findet auch der Spielfilm zu weniger stereotypen Darstellungen. In Boys Don’t Cry (1999) von Kimberly Peirce (*1967) wird beispielsweise das Unbehagen über die eigene Geschlechterzugehörigkeit im Interaktionsprogramm der Täuschung erzählt. Biologisch als Mädchen geboren, gibt sich Brandon Teena (Hillary Swank) als Junge aus. Als diese den Zuschauern, aber nicht den Figuren in der Diegese bekannte ›Intrige‹ entlarvt wird, vergewaltigen und töten zwei junge Männer – Mitglieder der ehemaligen Clique – ihn/sie. Die Entlarvung des ›wahren‹ Geschlechts von Teena vor den Augen seiner Freundin sowie die anschließende grausame Vergewaltigung zeigen den 224

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Körper als semiotisches ›Kampfgebiet‹, um dessen Deutungshoheit ein aggressiver Wettbewerb besteht. Gender erscheint als kulturelles Konstrukt, das Fantasien und Begehren weckt, aber auch Identitätsgrenzen stabilisiert. Sobald diese Grenzen durch Akte der spielerischen Transgression überschritten werden, kommt es in diesem Fall zu Gewalthandlungen, die den Körper von Teena in die Eindeutigkeit des binären Mann-Frau-Denkens zurückführen sollen. Wie in Paris Is Burning besteht dabei eine besondere Faszination an der Perfektion der Täuschung. Deutlicher als in dem Dokumentarfilm werden die Zuschauer jedoch in eine Ökonomie der Gefühle eingebunden, die ihnen eine empathische Teilhabe erlaubt. Sobald die Täuschung durch Teena überzeugend eingerichtet ist, wird sie nicht nur als Spiel, sondern als Mimikry erkennbar, die das Überleben sicherstellen muss. Das aus der Not geborene passing scheitert jedoch. Die tödliche Bedrohung der Hauptfigur wird in der Exposition bereits angekündigt, aber ihre ›viszerale‹ Realisierung ist ein Schock. Das Motiv der Gendertransgression wird mit Boys Don’t Cry aus einer primär komischen Darstellungstradition in das Melodrama verlagert. Als Geschichte eines Opfers von Diskriminierung und Gewalt steht am Ende des Films ein impliziter Appell für mehr Toleranz. Damit wird deutlich, dass die Ausweitung sexueller Normen über das aktivierte Mitgefühl an der Situation und Selbstwahrnehmung sozial benachteiligter Gruppen erreicht werden soll. Dieses kulturhistorisch etablierte Verfahren ist häufig auch für afroamerikanische Anliegen zum Einsatz gekommen, aber in den 1980er Jahren stellt sich die Ausgangslage anders dar. Mit dem New Hollywood Cinema und der black power-Bewegung ist in den frühen 1970er Jahren ein ›schwarzes‹ Kino mit Regisseuren wie Gordon Parks und Melvin van Peebles entstanden, das in den 1980er Jahren von jungen Filmemachern wie Spike Lee fortgeführt wird. Die frühen Beispiele der blaxploitation werden thematisch und stilistisch erweitert, neben dem Genrekino (The Negotiator, F. Gary Gray, 1998) auch im Sinn des Autorenkinos. In der Filmgeschichte hat es immer wieder Projekte weißer Regisseure mit einer weniger stereotypen Darstellung afroamerikanischer Figuren gegeben, beispielsweise durch Canada Lee, Ivan Dixon oder Sidney Poitier in Filmen wie Body and Soul (Robert Rossen, 1947), The Defiant Ones (Stanley Kramer, 1958), Nothing But a Man (Michael Roemer, 1964) oder Guess Who’s Coming to Dinner (Stanley Kramer, 1967). Doch mit den 1980er Jahren werden die afroamerikanischen Rollenmodelle variabler und die schwarzen Milieus realistischer dargestellt. Es entwickelt sich eine ›schwarze‹ Filmästhetik, und einer neuen Generation von Schauspielern – darunter Eddie Murphy, Whoopi Goldberg, Denzel Washington, Laurence Fishburne, Forest Whitaker, Wesley Snipes, Samuel L. Jackson, Will Smith oder Halle Berry – gelingt es schließlich, neben traditionellen Rollen auch genretypische ›Heldenrollen‹ zu übernehmen, die früher nur mit weißen Schauspielern besetzt worden wären (etwa in Enemy of the State, Toni Scott, 1998 – die Fortsetzung von The Conversation) Das beste und vielleicht kontroverseste Beispiel für den afroamerikanischen Autorenfilm dieser Zeit ist Do the Right Thing von Spike Lee (*1957) aus dem Jahr 1989. Lee widmet sich in der Folgezeit mit groß angelegten Produktionen wie Jungle Fever (1991), Malcolm X (1992) oder Inside Man (2006) dem politischen Kampf der Afroamerikaner, aber auch klassischen Genreerzählungen. In Do the Right Thing überwiegt hingegen das Inter225

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aktionsprogramm des Konflikts entlang ethnischer Identitätsgrenzen. Eine imaginäre neighborhood in Brooklyn macht New York zum Mikrokosmos Amerikas, in dem an diesem besonders heißen Tag die Mentalitäten und aufgestauten Hassgefühle zum Ausbruch kommen. In dem episodisch erzählten Film verbindet Mookie (Spike Lee) als Grenzgänger das afroamerikanische mit dem italoamerikanischen Milieu, er liefert Gerichte für eine Pizzeria aus. Es kommt zum gewaltsamen Protest, als die überwiegend afroamerikanischen Gäste der Pizzeria fordern, neben Italoamerikanern wie Frank Sinatra oder John Travolta sollten auch Afroamerikaner auf der ›Wall of Fame‹ des Restaurants zu sehen sein. Die herbeigeeilten Polizisten töten einen jungen Afroamerikaner bei der Festnahme, und die Pizzeria wird als Racheakt niedergebrannt. Das Ende bleibt offen: Der Konflikt zwischen Schwarz und Weiß ist eskaliert und in Gewaltakte gemündet, aber einen neuen Rahmen hat er nicht geschaffen. Mookie und der väterliche Salvatore Sal Fragione (Danny Aiello) gehen im unaufgelösten Antagonismus auseinander. Dieser fragende Gestus ist kennzeichnend für das ›Programm‹ des Films, der als politische Intervention gelten kann. Die Dominanz einer diffusen afroamerikanischen Wut ist spürbar, aber der episodische Charakter zeichnet ein differenzierteres Bild, sowohl innerhalb der afroamerikanischen Gemeinschaft (mit unterschiedlichen Generationen und divergierenden Ansichten der Jugendlichen) als auch hinsichtlich ihres Kontakts mit asiatischen, italienischen oder Latino-Milieus. Was es genau bedeutet, das ›Richtige‹ zu tun, ist angesichts unterschiedlicher Lebensstile und Interessen nicht eindeutig zu beantworten. Die Rhetorik des Films mit seinem farbintensiven Mise-enscène und der leitmotivischen Rap-Musik (»Fight the Power« von Public Enemy) ist aggressiv, aber der Wunsch nach Anerkennung ist zunächst ein symbolischer: dass berühmte Afroamerikaner auch für das weiße Establishment Gültigkeit bekommen und an einer gesamtgesellschaftlichen ›Wall of Fame‹ sichtbar gemacht werden. Diese Forderung kann man (neben der offensichtlichen Kritik an der Rassendiskriminierung durch die Polizei) als Bestandteil einer neuen ›Identitätspolitik‹ bezeichnen, die zunächst um eine veränderte Selbstrepräsentation bemüht ist. Darin zeigt sich ein signifikanter Unterschied zu der sehr ähnlich angelegten Elmer Rice-Verfilmung von Street Scene (King Vidor, 1931). Auch dort ist ein Stadtviertel in New York ein repräsentativer Mikrokosmos, in dem an einem besonders heißen – also dramaturgisch aufschlussreichen – Tag die Gewalt eskaliert. Doch während für Rice der Klassendiskurs entscheidend ist, die Differenzierung der Gesellschaft in Arme und Reiche, die es zu überwinden gilt, überwiegt bei Lee ein Kampf der Lebensstile und (Sub-)Kulturen. Trotz des ökonomischen Wettbewerbs (die italienische Pizzeria, der koreanische Supermarkt, aber die fehlenden afroamerikanischen Geschäfte) ist der Klassendiskurs weniger prominent als die Suche nach einem neuen multikulturellen und -ethnischen Selbstbild der amerikanischen Nation. Damit verdeutlicht Do the Right Thing seinen wichtigsten Beitrag für die weitere Entwicklung des afroamerikanischen Films: Die Revision vorherrschender Stereotype nimmt ihren Ausgangspunkt im idealtypischen Milieu einer afroamerikanischen Mittelklasse (zum black cinema vgl. NowellSmith 497-509, Friedman; zum Diskurs um whiteness vgl. Tischleder).

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D IE ›E NTDECKUNG ‹

DES

B EWUSSTSEINS

Die neue ›Doppelbödigkeit‹ des postklassischen Kinos kann als Beleg für die Innovationsfähigkeit des amerikanischen Spielfilms gesehen werden. Subjektivität und Bewusstseinsprozesse gehören seit den vision scenes des Stummfilms oder berühmten Beispielen wie den von Salvador Dalí gezeichneten Sequenzen in Spellbound (Alfred Hitchcock, 1945) zu seinem erzählerischen Inventar. Doch in den 1990er Jahren differenzieren sich diese gestalterischen Mittel spürbar aus. Die neuen Formen, subjektive Gedankenvorgänge wie Traum, Erinnerung, Zukunftsvision, Halluzination oder Rausch zu evozieren, sind auf unterschiedlichen Ebenen angesiedelt. An Komplexität gewinnen das Verhältnis von Kommentarstimme und Bildinhalt, das Spiel mit zeitlicher Chronologie sowie das unmittelbare ›Hineinsteigen‹ in Subjektivität oder Persönlichkeitsstrukturen (eine filmische Adaption der ›Immersions‹-Erfahrung). Beispiele dieses Innovationspotentials sind The Usual Suspects (Bryan Singer, 1995), Pulp Fiction (Quentin Tarantino, 1994), Lost Highway (David Lynch, 1997), Fight Club (David Fincher, 1999), Being John Malcovich (Spike Jonze, 1999) oder Mulholland Drive (David Lynch, 2001). Sie können in der Tradition des ›unzuverlässigen Erzählens‹ stehen oder wie bei David Lynch auf alternative Wirklichkeitsmodelle im Sinn der art cinema narration (Bordwell, Narration 205-233) abzielen. Allerdings ergibt sich für diese Periode kein einheitliches Bild eines ›postklassischen‹ Erzählens, sondern vielmehr ein Spektrum an neuen Erzähloptionen, die äußerst vielfältig sind und in ihrer Funktion das klassische Erzählen unterlaufen, aber auch bekräftigen können (vgl. Elsaesser, Hollywood, Thompson und Bordwell 661-693). Mit den Bewusstseinsfilmen können unterschiedliche Darstellungsanliegen verbunden sein, die eine lange Tradition haben. Sie dienen der Darstellung von ›verzerrten‹ Erinnerungsprozessen oder können spannungssteigernd eingesetzt werden, um die Wahrheitsfindung im Thriller zu verkomplizieren. Besonders prägnant werden zwei weitere Topoi, die unmittelbar mit dem konkurrierenden Medium des Computers und Computerspiels zusammen hängen: die zunehmende Technisierung des Bewusstseins und die dahinter liegende Frage nach dem Verhältnis von Mensch und Maschine sowie die Vorstellung der ›Verrücktheit‹. Persönlichkeitsspaltungen, Ängste, Doppelgängerfiguren, verbotene Bedürfnisse, Wünsche und Bilder – diese psychischen Phänomene werden mit neuer Intensität evoziert und können wie in Mulholland Drive zu einer Auflösung klassischer Subjektvorstellungen führen. Weniger experimentell ist A Beautiful Mind (Ron Howard, 2001) angelegt, aber das biopic über den Mathematiker John Nash veranschaulicht, wie flexibel das neue Interesse am Bewusstsein in ein ansonsten sehr traditionelles Liebesmelodrama integriert werden kann. Zahlreiche Szenen zeigen die Hauptfigur, die im Dienst des amerikanischen Verteidigungsministeriums versucht, gegnerische Spionagetätigkeiten zu entschlüsseln. Wie sich erst spät in der Filmerzählung herausstellt (kurze, aber uneindeutige Anzeichen gibt es schon früher), sind diese in Blautönen gehaltenen Handlungsteile imaginiert. Sie laufen nur im Bewusstsein der Hauptfigur ab und sind Ausdruck ihrer Schizophrenie. Sobald die romantisch-liebende Partnerin dies (zusammen mit den Zuschauern) durchschaut, verschiebt sich der Fokus vom Spionagethriller zum Melodrama, das von der Sorge um das Opfer der 227

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Krankheit bestimmt wird. Das Spiel mit Fantasie und Realität dramatisiert damit zum einen das Streben nach individuellem Glück, zum anderen bekommen die ›pathologischen‹ Fantasien gerade durch ihren irrealen Charakter den Status eines diffusen, größere kulturelle Strömungen aufgreifenden Zeitgefühls. Sie repräsentieren in diesem Beispiel die angstvolle Erinnerung an den Kalten Krieg und das atomare Wettrüsten. Die Dynamik einer verdrängten Angst, die im Fantasieleben der Figur durchbricht und dabei ein allgemeines kulturelles Zeitgefühl zum Ausdruck bringt, kennzeichnet auch das strukturell ähnlich gelagerte Beispiel Fight Club von 1999. Hier ist die Angst nicht die militärische Bedrohung von außen, sondern das innere Gefühl der eigenen ›Unmännlichkeit‹, jene Verunsicherung, die jugendliche (weiße) Anti-Helden seit James Dean (Rebel Without a Cause, Nicholas Ray, 1955) oder Dustin Hoffman (The Graduate, 1967) immer wieder beschäftigt hat. In Fight Club bringt sie die Fantasie eines potent-virilen Begleiters und Vorbilds hervor, dessen Status als imaginäre Wunschvorstellung des Ich-Erzählers (Edward Norton) erst im Verlauf der Erzählung offenbart wird. Archaische Rituale wie Boxkämpfe oder eine enthemmte Aggressivität sollen die verunsicherte Männlichkeit wieder herstellen, aber sie führen letztlich nur in die Selbstzerstörung. Im selben Jahr wie Fight Club erscheint mit The Matrix ein ScienceFiction-Film, der den Zusammenhang zwischen Subjektivität, Identitätskonfusion und Pathologie noch deutlicher mit technischen Prozessen verkoppelt. Wie mit Finchers cool-ironisch erzählter Kritik an Konsumismus und Konformität zeigt der Film der Wachowski-Brüder die erstaunliche Fähigkeit des amerikanischen Spielfilms, den populären Zeitgeist der Jugendkultur stilistisch zu prägen und gleichzeitig an traditionelle Erzählmuster zu binden. The Matrix führt dabei Tendenzen der 1990er Jahre zusammen, die Fantasietätigkeit und die Filmerzählung in den Computer zu verlagern (vgl. Kapitel 5.2). Der Film entwirft die Vorstellung, ein feindseliges System halte die Menschen im schönen Schein der Computerbilder gefangen, und er gewinnt damit die Möglichkeit, das Interaktionsprogramm des Konflikts – den Kampf zwischen unterdrückendem System und revolutionären Befreiern – im entfesselten Raum des Computerspiels ablaufen zu lassen. Als die afroamerikanische Helferfigur des weißen ›Helden‹ Neo (Keanu Reeves) gefangen genommen wird, beginnt ein Befreiungskampf, der Neo als den ›Auserwählten‹ bestätigt und seine Auflehnung gegen die Gefangennahme des Afroamerikaners Morpheus (Laurence Fishburne) mit idealisierendem Pathos in die Tradition der amerikanischen Antisklavereibewegung stellt. Der neue ›Rahmen‹ am Ende des Films ist eine technologisch bedingte Selbstermächtigungsfantasie, die das hierarchische Verhältnis zwischen Jugend und älterer Generation umkehrt: Gegen die Regeln und Kontrollversuche des Systems kann man die herrschenden Verhältnisse von innen heraus als revolutionärer Computer-Hacker aufbrechen und reformieren. In dieser Fantasie lässt sich unschwer auch eine Reflexion auf das Verhältnis von analogen zu digitalen Medien erkennen. Denn mit dem Befreiungs-Narrativ werden die digitalen Maschinen und Effekte in den Dienst eines tradierten Erzählmusters gestellt, das sie ergänzen, aber nicht unterminieren sollen. Der analoge Rahmen des klassischen Erzählens wird trotz der ›fortschrittlichen‹ Ästhetik auch in The Matrix nicht aufgehoben – zum Leben wieder erweckt wird Neo am Ende durch einen langen und leidenschaftlichen Kuss. 228

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Fight Club und The Matrix sind auch für ihre drastischen Gewaltdarstellungen bekannt geworden. Dieses wirkungsmächtige Element der Gewalt – geschundene Körper, offene Wunden, Waffen mit unfassbarer Zerstörungskraft – ist stilistisch, thematisch, aber auch erzähltechnisch für das amerikanische Kino von höchster Bedeutung, aber in der Filmgeschichte auf keinen Nenner zu bringen. Es würde wohl eine eigene Geschichte erfordern. Seit in den 1960er Jahren Filmproduktionen auf unterschiedliche Publikumssegmente ausgerichtet werden, hat eine Dynamik der Intensitätssteigerung von expliziten Gewalt- und Verwundungsdarstellungen sowie perfektionierten Spezialeffekten eingesetzt, die immer wieder auch den Hollywood-Mainstream erreicht und neue Niveaus etabliert. Was in der Vergangenheit als schockierend und provokativ galt, hat sich wenige Jahre später schon beinahe normalisiert. Einige Beispiele für diesen Prozess sollen ausreichen: The Wild Bunch (Sam Peckinpah, 1969), The Texas Chainsaw Massacre (Tobe Hooper, 1974), Taxi Driver (1976), Hamburger Hill (John Irvin, 1987), The Silence of the Lambs (1991), Saving Private Ryan (Steven Spielberg, 1998), Kill Bill I & II (Quentin Tarantino, 2003/2004) oder A History of Violence (David Cronenberg, 2005).

Abb. 11: A Clockwork Orange (Stanley Kubrick, Kamera: John Alcott, Warner Brothers, 1971). Die narrativen Funktionen dieser Gewaltästhetik sind vielfältig und müssen sorgfältig bestimmt werden, ebenso ihre kulturellen Auswirkungen. Aber in jedem Fall dient das Kino in dieser Hinsicht auf besonders ambivalente Weise einer Reflexion und Modellierung von imaginären Interaktionsformen, die individuelle oder strukturelle Gewalt als integralen Bestandteil von ›Konfliktlösungen‹ aufweisen. Es besitzt seit der Lockerung des Production-CodeVerbots, Verbrechen explizit zu zeigen, keine negative Ästhetik mehr – keine Ästhetik des Indirekten, Angedeuteten oder Unzeigbaren. Dadurch gerät jede Sichtbarkeit in den Strudel des visuellen Tabubruchs: Faszination vermischt sich mit Ekel oder Erschütterung und treibt die Darstellungsgrenzen an ihren nächsten Punkt. Dieses ambivalente Oszillieren zwischen Grausamkeit, Lust und Vergnügen wird in Stanley Kubricks A Clockwork Orange von 1971 als ultimative Kinosituation vorgeführt (vgl. Abb. 11). Die Hauptfigur Alex (Malcolm McDowell), ein gewalttätiger Vergewaltiger, soll im Kino desensibilisiert werden, indem er Bilder aus Konzentrationslagern zur geliebten 229

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Beethovenmusik sehen muss. Seine Konditionierung wird später in einer weiteren Drehung der satirischen Schraube wieder rückgängig gemacht, aber Kubricks Implikation ist klar: Das Kino ist ein Ort des Vergnügens, aber auch eine Technologie der irreversiblen Sichtbarkeit. D IE ZUKUNFT

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F ILMS

Das prägendste politische Ereignis der 2000er Jahre, die Anschläge in New York und Washington am 11. September 2001, sowie die daraus resultierenden Kriege im Irak und in Afghanistan sind im amerikanischen Erzählkino bislang nur punktuell und überraschend traditionell thematisiert worden. Vereinzelte Produktionen wie In the Valley of Elah (Paul Haggis, 2007) haben neue Wege aufgezeigt, aber Jarhead (Sam Mendes, 2005), Stop Loss (Kimberly Peirce, 2008) oder The Hurt Locker (Kathryn Bigelow, 2008) unterstreichen die Tendenz, das Debakel des Vietnamkriegs durch eine Restitution der warrior nation ›auszutreiben‹. Filme wie Fight Club, an dessen Ende junge Menschen ein Hochhaus in die Luft sprengen und sich durch die spektakuläre Zerstörung faszinieren lassen, führten zur Diskussion, ob das Kino mit seinen Zerstörungsfantasien zum Skript der terroristischen Anschläge vom September 2001 beigetragen hatte. Kurzzeitig hielten Studios Produktionen zurück, die angesichts der realen Ereignisse pietätlos gewirkt hätten. Mittlerweile ist jedoch deutlich geworden, dass die Entwicklungsdynamik einer auf der Bild- und Tonspur stattfindenden Ästhetik der Überwältigung und des spektakulären Effekts ungebrochen weitergeführt und zu neuer Intensität gebracht wird. Das seit den Massenszenen von Intolerance (D.W. Griffith, 1916) wirksame Faszinosum monumentaler Erschütterungen und Bilder der Vernichtung setzt sich unter den Bedingungen digitaler Bildmanipulation als Kino der Attraktionen unvermindert fort. Die vermeintliche oder tatsächliche ›Mitschuld‹ des Kinos an imaginären Zerstörungsfantasien führte demnach – wenig überraschend – zu keiner spürbaren Veränderung der Genres oder Produktionspraktiken. Wichtiger ist jedoch, dass im Unterschied zum Vietnamkriegs-Kino in den 1970er Jahren neue, experimentelle Formen des Erzählens nicht in gleicher Intensität entstanden oder dem mittlerweile etablierten Independent-Bereich vorbehalten sind. Wenn es zu einer spürbaren Politisierung der Filmkultur gekommen ist, dann eher im Dokumentarfilm, der sich kritisch mit der Ära von George W. Bush und den Täuschungsmanövern im Vorfeld des Irak-Kriegs (Fahrenheit 9/11, Michael Moore, 2004), aber auch mit den unfassbaren Vorgängen um Wirtschaftspleiten wie jene von Enron auseinandergesetzt hat (Enron: The Smartest Guys in the Room, Alex Gibney, 2005). Obwohl der Dokumentarfilm mit dem populistisch-unterhaltsamen Protest im Stil von Michael Moore wieder in die Kinosäle zurückgekehrt ist, hat sich seine klassische Funktion der politischen Mobilisierung jedoch immer stärker in das Internet verlagert. Die interaktive und kontroverse Diskussion über die ›wahren‹ Hintergründe der Anschläge vom September 2001 findet verstärkt auf Seiten wie statt. Es bleibt demnach eine offene Frage für die Zukunft des amerikanischen Kinos, ob die globalen politischen Konflikte in ähnlicher Form thematisiert und narrativ ›gerahmt‹ werden können, wie es in diesem Kapitel für die inneramerikanischen gezeigt wurde. Trotz einer wechselvollen und häufig 230

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widersprüchlichen Geschichte konnte der Spielfilm in der amerikanischen Binnenkultur zu einer Demokratisierung beigetragen, die Gleichheits- und Partizipationsideale sukzessive auf historisch benachteiligte Gruppen ausgedehnt hat. In den gegenwärtigen globalen, politisch-ideologischen und religiösen Konflikten wird Hollywood jedoch häufig mit dem westlichen Lebensstil schlechthin – und damit einem zentralen Feindbild – identifiziert. Es ist kaum vorstellbar, dass die damit verbundene kulturelle Alterität unterschiedlicher Weltregionen innerhalb des klassischen amerikanischen Erzählparadigmas aufgegriffen oder ›aufgehoben‹ werden könnte. Wie gezeigt, hat sich dieses Paradigma in einer modernen, durch Zuwanderung, soziale Mobilität, Multiethnizität, -kulturalität und -religiösität gekennzeichneten Gesellschaft herausgebildet, die damit bereits im 19. Jahrhundert spätere Entwicklungen vorwegnahm. Doch ob in diesem Prozess eine global wirksame Erzählformel gefunden wurde, die fundamentale Differenzen und Interessenskonflikte im geschützten Raum des Symbolischen aufzulösen vermag, ist fraglich. Zahlreiche Filme wie Short Cuts (Robert Altman, 1993), Magnolia (Paul Thomas Anderson, 1999), Traffic (Steven Soderbergh, 2000), L. A. Crash (Paul Haggis, 2004) oder Babel (Alejandro González Iñárritu, 2006) können als network narratives (Bordwell, Poetics 29) gelten – als Erzählungen, die verschiedene Personen, Lebenswege, Situationen, Nationalitäten und Kulturen ineinander verschachteln und auf diesem Weg die Vielfalt (nationaler) Identitätskonstruktionen betonen. Aber das sind momentan ambitionierte Einzelprojekte. Hollywood wird wohl eher seine in den 1920er Jahren etablierte Funktion festigen: Fluchtpunkt des westlichen Lebensstils zu sein – Fantasie oder Utopie von Glück, Individualität, Körperlichkeit, Coolness, Modernität, Dynamik oder poetischer Gerechtigkeit, aber auch Feindbild westlicher Dekadenz und eines imperialen Geltungsanspruchs. Das vorliegende Kapitel hat allerdings gezeigt, dass neben dem lukrativen Fundament des Mainstream, das einen höchst professionellen Produktionsapparat am Laufen hält, gerade die Vielfalt der amerikanischen Filmkulturen hervorzuheben ist. Neben den calculated blockbuster-Filmen mit ihren spektakulären Bildern und Erzählungen hat es ein Regisseur wie Woody Allen geschafft, seit den späten 1960er Jahren beinahe jährlich kleinere, aber eigenständige Filme fertig zu stellen. Es gibt trotz einer steigenden ökonomischen Medienkonzentration keinen Grund, für die zukünftige Entwicklung von einer Abnahme dieser Vielfalt auszugehen, eher im Gegenteil. Die sogenannte ›digitale Revolution‹ hat gerade dem künstlerisch innovativen und um Autonomie bemühten Low-Budget-Bereich neue Möglichkeiten eröffnet. Die absehbare Zunahme multimedialer Verwertungsoptionen für unterschiedliche Zuschauersegmente wird ebenfalls dazu beitragen, dass die Nachfrage nach einer großen Bandbreite von Produktionen steigt. Während der rasante technische Wandel seit den 1990er Jahren häufig als ›Tod‹ des Films gesehen wurde, ergibt sich für seine Zukunft also mittlerweile ein anderes Bild. Als Träger- und Projektionsmedium mag der Zelluloidfilm ›aussterben‹, aber das Kino als Erfahrungsraum und als spezifische Form des Imaginären ist davon nicht wirklich bedroht. Es bietet einen Raum der sozialen Zusammenkunft und des kollektiven Erlebens von audiovisueller Kultur, der weder durch das Fernsehen noch durch die Interaktivität des Computerspiels abgelöst werden kann. Wie James Camerons Projekt Avatar (2009) zeigt, das zugleich als Kinofilm und Computerspiel veröffentlicht 231

Christof Decker

wurde, gelingt es dem Kino, nach einer langen Phase der Konkurrenz in ein neues Stadium der fruchtbaren Wechselwirkung und lukrativen Parallelführung von jeweils unterschiedlichen Potentialen einzutreten. Wie bedeutsam das Kino als Rezeptionsraum ist, zeigt sich zudem an anderen Projekten, die aus der Digitalisierung sowie der damit verbundenen Übertragung in höchster Qualität resultieren. Im Jahr 2004 beginnt die Metropolitan Opera in New York mit der weltweiten Live-Übertragung ihrer Opern in ausgewählte Kinos unter dem Titel ›The Met: Live in HD‹ – eine neue Durchlässigkeit tradierter kultureller Hierarchien. Diese Beispiele belegen zum einen die ungebrochene Faszination von Filmerzählungen, zum anderen aber auch die Bedeutung der Kinosituation, in der sie rezipiert werden müssen, wenn sie als ästhetische Erfahrung umfassend wirksam werden sollen. Mit D.N. Rodowick lässt sich damit abschließend festhalten, dass die Zukunft des amerikanischen Kinos im Kern seiner eigenständigen, über hundert Jahre entwickelten Potentiale und Traditionen liegt. Es wird ein spezifischer Modus von Erfahrung bleiben, eine Quelle eigenständiger Erzählungen und ein breitenwirksames Forum der kulturellen Selbstverständigung: »As ›film‹ disappears in the successive substitutions of the digital for the analog, what persists is cinema as a narrative form and a psychological experience – a certain modality of articulating visuality, signification, and desire through space, movement, and time« (184185).

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4. Das amerikanische Fernsehen RALPH J. POOLE

4.1 Einleitung: Über das Fernsehen sprechen »M OVING TARGET «

UND

G ESCHICHTENERZÄHLER »Film yes, television no.« (Hilmes 113)

»Television? The word is half Greek, half Latin. No good can come of it.« (Scott [1928], zit. in Wasko 1)

Das Fernsehen ist zu einem alle Bereiche zeitgenössischer Kultur bestimmenden Faktor geworden. Mögen es viele wertneutral als das wichtigste der Massenmedien bezeichnen, so sind andere von der allumfassenden Verbreitung fasziniert, aber auch irritiert. Aufgrund der ständigen Veränderungen des technischen Mediums selbst wie auch der kritischen Betrachtung darüber nennt Janet Wasko das Fernsehen ein »moving target, […] a wondrous looking glass on the world« (2, 4). In den USA hat das Fernsehen die Funktion der zentralen Informationsquelle, und es zählt damit zum wichtigsten Einflussfaktor der Meinungsbildung. Trotz Internet haben 99 Prozent aller amerikanischen Haushalte mindestens ein Fernsehgerät, der Mittelwert liegt gar bei knapp 3 Geräten pro Haushalt. 66 Prozent der Amerikaner schauen fern beim Abendessen, und Fernsehgeräte gibt es in quasi allen öffentlichen Orten wie Schulen, Krankenhäusern, Gefängnissen, Bars, Restaurants, Einkaufsläden, Warteräumen etc. Signorelli und Bacue nennen das Fernsehen daher auch den Geschichtenerzähler der Nation: »Television’s role in society is one of common storyteller – it is the mainstream of our popular culture. […] It lets us know who is good and who is bad, who wins and who loses, what works and what doesn’t, and what it means to be a man or a woman« (527). Die Geschichte der Wissenschaft des Fernsehen hingegen ist kurz und ihr Zenit scheint bereits überschritten. Studenten und Studentinnen von heute mag es angesichts der medialen Entwicklung der jüngsten Zeit bereits anachronistisch vorkommen, von »terrestrischen Fernsehsystemen« zu hören. Selbst der das Fernsehverhalten revolutionierende Einsatz privater Videorekorder ist der gegenwärtigen Jugend schon wieder fremd, ist sie doch eher an Plasmabildschirmen und Online-TV interessiert. Dass das Studium des Televisuellen asynchron zur derzeitigen Medienlandschaft zu liegen scheint, mag aber auch der zunehmenden Einverleibung der Fernsehstudien unter die Ägide der New Media Studies oder der Visual Culture Studies geschuldet sein, die sich nicht nur ihrerseits teilweise überlappen, sondern ein spezifisches 239

Ralph J. Poole

Profil der Fernsehstudien zum Verschwinden bringen. Waren die Fernsehstudien immer schon »the bad object« (Hilmes), ein Stiefkind innerhalb der Medienstudien an den Universitäten und stets überschattet von den stärker profilierten Filmstudien, so bleibt zu befürchten, dass die Konvergenz von Fernsehen und Neuen Medien für den akademischen Status des Fernsehens selbst keine wirkliche Verbesserung mit sich bringt. Sollte das »Goldene Zeitalter« der Fernsehstudien also bereits vorüber sein, bevor es jemals wirklich angebrochen war? Die Fernsehstudien als ein von Anfang an »hybrid, interdisciplinary venture« (Spigel, »TV’s Next Season?« 83) haben sich in den 1970er und 1980er Jahren an anglophonen Universitäten und Verlagshäusern entwickelt und gründen nach Lynn Spigel auf mindestens vier Paradigmen: 1. der Kritik an einer »Massengesellschaft« und »Kulturindustrie«, die mit der Frankfurter Schule und deren Nachfolgern assoziiert wird (vgl. Adorno, Gitlin, im Überblick Kellner); 2. einer Texttradition, die auf Literatur- und Filmtheorie sowie seit den 1970er Jahren auf feministischer Rezeptionsforschung basiert (vgl. Lopate; Modleski; Rapping, Looking Glass World; im Überblick Kaplan, »Feminist Criticism«; Brunsdon, D’Acci und Spigel; Press); 3. quantitativer und qualitativer Forschung in den Kommunikationswissenschaften zu Publikumsverhalten und Programminhalten (vgl. Seiter, Borchers, Kreutzner und Warth; Ang); sowie 4. den kulturwissenschaftlichen Annäherungen an Medien und ihre Benutzer (vgl. Williams, Drama; Fiske, Television; Fiske und Hartley; für die Entwicklung von TV-Studien Newcomb, »Development«; Brunsdon, »Television Studies«; Hartley, Uses of Television). Bis in die 1990er Jahre hinein verschob sich das Studium des Televisuellen immer mehr von einem »top-down«-Modell, bei dem die Effekte des Fernsehens im Vordergrund standen, hin zum Nachdenken über das Fernsehen als Kultur, was eine Flut von Publikationen produzierte, angefangen von Studien zur institutionellen Geschichte und TV-Ästhetik bis hin zu Arbeiten über Genretheorien und Fanverhalten. Zu den ›Klassikern‹ der Fernsehforschung aus dieser Zeit zählen hierbei Erik Barnouws Tube of Plenty (1975, basierend auf seiner bahnbrechenden Trilogie A History of Broadcasting in the United States 1966-1970), Horace Newcombs TV: The Most Popular Art (1974), Lichty und Toppings Anthologie American Broadcasting (1975), Chris Sterlings und John Kittross’ Stay Tuned: A Concise History of American Broadcasting (1978) sowie E. Ann Kaplans Sammlung Regarding Television: Critical Approaches (1983), die erstmals eine feministische Agenda in das Feld einbrachte. William Boddys Fifties Television (1990) markiert die Quizshow-Skandale der 1950er Jahre als prägenden Einschnitt in der TVGeschichte und Lynn Spigels Make Room for TV (1992) nennt ebenfalls für die 1950er Jahre das ›Installieren‹ des Fernsehens im amerikanischen Wohnzimmer als radikal einschneidendes Erlebnis in der Gestaltung des sozialen Miteinanders. Besonders Versuche, das Fernsehen als ›Text‹ zu lesen, sind hier wegweisend für die Entwicklung der Fernsehstudien. Das individuelle Programm wird hierbei generell als prägende Einheit gesehen, als Kern dessen, wie Fernsehen produziert wird. Und doch ist das nicht unbedingt die Wahrnehmung des Publikums, das nicht unbedingt ein gezieltes Programm wählt, sondern das Fernsehen einfach ›laufen‹ lässt. Während Raymond Williams in seiner bahnbrechenden Untersuchung Television: Technology and Cultural 240

Das amerikanische Fernsehen

Form (1974) von der Fernsehübertragung als von einem »planned flow« spricht, definiert John Ellis in Visible Fictions (1982) das Fernsehen über seine Segmentierung in Kleinsteinheiten, die zu einer je nach Genre unterschiedlichen »combination of segments« zusammengefügt werden. Beide Autoren betonen jenseits der Definition des Fernsehtextes als Programm den medialen Charakter des Fernsehens, was auch in Newcomb und Hirschs Idee des »viewing strip« zum Ausdruck kommt – einem Konzept der Vermittlung zwischen dem Angebot der Fernsehübertragung und der individuellen Wahl des Zuschauers, der für sich selbst eine Sequenz des Schauens zusammenstellt. Hinsichtlich der Frage, was Fernsehstudien konstitutiert, kam es immer wieder zu Versuchen einer selbstreflektiven Historisierung. In seiner Studie zu Media and the American Mind warnt Daniel Czitrom schon 1982, dass sich das Fernsehen in der »post-McLuhan era« als massenmediales Kommunikationsvehikel vor einer Fetischisierung, aber auch Banalisierung schützen müsse. Wolle das Fernsehen eine Zukunft haben, sollte es sich seines Potentials der sozialpolitischen Kritikfähigkeit versichern. Czitrom sieht Marshall McLuhans Verdienst für die Medientheorie vor allem in dessen synchronen Überblendung einer literaturwissenschaftlichen Tradition, die aus dem New Criticism stammt, mit Theoremen aus der strukturalen Anthropologie, Linguistik und Semiotik. McLuhan sei es gewesen, der diese Disziplinen als ›legitime‹ Forschungsfelder in den Kulturstudien verankerte: »McLuhan himself may be viewed as a ›medium‹ who popularized these approaches by applying their techniques to the analysis of American media fare« (182). Czitroms Befürchtung ist es jedoch, dass das Erbe von McLuhan nicht eine »deeper and more sophisticated consciousness of the enormous role played by modern communication in everyday life« (183) sei, sondern eine blind-hedonistische Hingabe an einen »media hype«, der alle Definitionen und Grenzziehungen im Mediendiskurs verwischen und undeutlich werden lässt. Seine Hoffnung für eine produktive Zukunft nicht nur der Fernsehstudien, sondern generell der Kommunikationswissenschaft beruht daher auf dem Verständnis der dialektischen Spannungen innerhalb der amerikanischen Medienlandschaft und -geschichte: »The recovery of historical perspective, bringing the contradictions within American media into sharper relief, can perhaps help us to remember the future of modern communication« (196). Das selbstkritische Nachdenken über die Disziplin der Fernsehstudien zieht also vor allem in Betracht, dass dieses akademische Feld einerseits seine Inspirationen und Methoden aus vielen anderen wissenschaftlichen Bereichen holt und andererseits im Verlaufe seiner kurzen Geschichte zu einer eigenständigen Wissenschaft gereift ist, die kulturelle Zusammenhänge historisieren, analysieren und perspektivieren kann. »B REAKTHROUGHS «: GEGENWART

UND

ZUKUNFT

DER

F ERNSEHSTUDIEN

»[…] television studies is alive, television is alive, television is changing, and so can we.« (Miller, »Hullo Television Studies« 6)

Bei aller Verwischung der interdisziplinären Grenzen weisen die letzten zwanzig Jahre einige spezifische Trends in den Fernsehstudien auf. Studien 241

Ralph J. Poole

zu Nation, Mobilität, Migration und Diaspora haben die globale Funktion des Fernsehens diskutiert (vgl. Gillespie; Morley und Robins; Morley; Berry et al.), und auch die Bereiche Erziehung und Kulturpolitik haben das Fernsehen als pädagogisches Medium erkannt (vgl. Streeter; Ouellette; Hendershot; Miller, Technologies). Die feministische Fernsehkritik hat sich ausgeweitet und schließt nun breiter angelegte Geschlechterfragen wie Postfeminismus, Girlkultur sowie Gay-, Lesbian- und Transgender-Themen ein (vgl. Brunsdon, Feminist; Haralovich und Rabinovitz; Gross; Paul und Ganser). Als »breakthroughs« können darüber hinaus Studien zu den Analysekategorien gender, race und class gelten (vgl. Jhally und Lewis; Gray, Watching Race; Hamamoto; Torres; Noriega; Smith-Shomade). Toby Miller verweist im »editorial« von einer der ersten Ausgaben von Television & New Media auf die Stärken der Fernsehstudien als »both scholarly and committed« und bezeichnet als die Stärken des Feldes close reading, Ethnografie, Historisierung und politische Ökonomie (»Hullo« 4). Entgegen Unkenrufen, die das Ende der TV-Studien prognostizieren, spricht Miller von einer Transformation des Fernsehens statt einer Ablösung durch die sogenannten Neuen Medien: »A TV-like screen, located in domestic and other spaces and transmitting signs from other places, will be the future. It may even be that television as a word comes to take over what we now call ›new media‹« (5). Ungeachtet jüngster Publikationen wie David Marcs und Robert Thompsons Television in the Antenna Age (2005), dem von Janet Wasko edierten Companion to Television (2005) oder Gary Edgertons Columbia History of American Television (2007) sowie neuerer Fachzeitschriften wie Television & New Media (seit 2000) oder Online-Foren wie FlowTV (seit 2004) prognostizieren jedoch amerikanische Fernsehwissenschaftler dem Fernsehen als dem Massenprodukt par excellence und dem feminisierten »low other« des Films auch weiterhin keine akademische Zukunft. So meint Michele Hilmes kategorisch: »I predict that most Ivy League students will be studying ›new media‹ before television is ever allowed to darken the doorsteps of their institutions« (112). Und doch zeigt natürlich nicht zuletzt die Flut an Publikationen, dass das Sprechen über Fernsehen alles andere als ein trivialer akademischer Zeitvertreib ist. Es ist also angezeigt, das Fernsehen endlich wirklich ernst zu nehmen und nicht nur grob verallgemeinernd weiterhin am allseits beliebten TV bashing (Ackermann und Laferl 1) zu partizipieren. Davon, dass dem Fernsehen und somit auch den Fernsehstudien keine Zukunft beschert sei, kann also nicht die Rede sein. Während es in der Mediengeschichte nicht selten der Fall war, dass ein Medium das andere in seiner dominanten kulturbildenden oder unterhaltungsstiftenden Funktion ablöste, ist es ein wesentliches Kennzeichen des Fernsehens, dass es all diese Funktionen zu binden verstand. Toby Miller bezeichnet es daher als baren Unsinn, das Internet als jüngste mediale Konkurrenz für das Fernsehen zu betrachten: »The fact is that television is becoming more popular, not less. It is here to stay, whether we like it or not« (Television Studies 19). Wohl sieht er aber eine Transformation gegeben mittels derer die »shifts and shocks« (147) der Fernsehgeschichte kontextualisiert werden und die Spezifität des Fernsehens als kulturelles, ökonomisches und technologisches Medium anzuerkennen ist (vgl. auch Ellis; Spigel und Olsson; Corner). Zeitgemäße Fernsehstudien müssen die Kommodifizierung von Textualität, den globalen Austausch von kulturellen und kommunikativen Infrastrukturen sowie das Wechselspiel von 242

Das amerikanische Fernsehen

real physischer und visuell vermittelter Macht thematisieren (Hartley, Uses 13). Somit kann es in letzter Konsequenz auch keine Fernsehstudien mehr geben, die sich ausschließlich auf US-amerikanische Phänomene beschränken. Die Zukunft akademischen Forschens zum Fernsehen umfasst daher ethnografische, politisch-ökonomische, umweltbezogene und ästhetische Analysen auf globaler wie lokaler Ebene mit Verknüpfungen zwischen den Zentren kultureller Produktion und minoritären, diasporischen Gemeinschaften. Heute steht die Forschung zum Fernsehen wie andere kulturwissenschaftlich ausgerichtete Disziplinen sicherlich auch im Zeichen von Multi- und Transkulturalität und damit im globalen Kontext medialer Repräsentationspolitik und -praxis. Und doch machen Fernsehwissenschaftler auch darauf aufmerksam, dass die amerikanischen Fernsehstudien im transnationalen Kontext eine Sonderstellung einnehmen, zum einen, weil nirgendwo sonst die akademische Trennlinie von Film und Fernsehen derart rigide verläuft, und zum anderen, weil aus globaler Sicht Film und Fernsehen aus den USA Teile derselben weltweiten ›Amerikanisierung‹ darstellen. Das amerikanische Fernsehen reicht heute bis in den letzten Winkel der Erde und ist daher als wissenschaftlicher Untersuchungsgegenstand ein Phänomen, dessen Geschichte im Folgenden sowohl in seiner nationalen Spezifik als auch im transnationalen Kontext entwickelt werden soll.

4.2 »Birth of an Industry« oder »False Dawn«? 1928-1947 1939: E IN

ARRETIERTER

S IEGESZUG

»The idea of television existed long before its realization as a technology.« (Edgerton xiii)

Der erste Gebrauch des Wortes »Television« geht auf den russischen Physiker Constantin Perskyi zurück, der anlässlich des Internationalen Elektrizitätskongresses in Paris 1900 einen Vortrag hielt mit dem Titel »Télévision au moyen de l’électricité« (»Television mittels Elektrizität«) und damit den Gebrauch älterer Namen wie »Telephot« oder »Telektroskop« ersetzte (Abramson, History 23). Die erste schriftliche Fixierung des Wortes hingegen erfolgte gleichzeitig in dem Beitrag über die Erfindung des Foto-Telegrafen, »The Problem of Television«, durch den deutschen Physiker Arthur Korn 1907 in der Zeitschrift Scientific American sowie im selben Jahr durch den Antrag auf ein »Television«-Patent des Russen Boris Rosing (Fisher und Fisher 120). Obwohl die Idee, Bilder und Klänge über weite Entfernungen übermitteln zu können, weit ins 19. Jahrhundert zurückreicht und besonders durch die Erfindung des Telegrafen – den Beginn des modernen Kommunikationszeitalters (Czitrom 3) – in vorstellbare Nähe rückte, 1 dauerte es noch ein 1

Das erste Telegramm in den USA wurde von Samuel Morse, dem Erfinder des elektrischen Telegrafen, 1838 innerhalb des Landes und 1844 transatlantisch übermittelt (vgl. Czitrom 5-6, Winston 24).

243

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Jahrhundert, bis das erste kommerzielle Fernsehsystem auf der Weltausstellung in New York 1939 vorgestellt wurde, und eine weitere Dekade, bis das Fernsehen landesweit empfangen werden konnte. Trotz des langsamen, verzögerten Starts integrierte sich dann jedoch keine Technologie schneller in das amerikanische Leben: »Television took only ten years to reach a penetration of thirty-five million households, while the telephone required eighty years, the automobile took fifty, and even radio needed twenty-five« (Edgerton xi). In den Pionierjahren war es vor allem dem Geschäftssinn und der Visionskraft von David Sarnoff, dem Präsidenten der Radio Corporation of America (RCA, 1919 gegründet), zu verdanken, dass die neue Industrie des Televisuellen ›geboren‹ wurde. So lautete auch der Titel seiner Rede bei der Weltausstellung, bei der der »televisionary« Sarnoff, wie ihn die Zeitungen damals nannten, ganz dem Motto der Weltausstellung »Building the World of Tomorrow« folgend, verkündete: »Today we are on the eve of launching a new industry, based on imagination, on scientific research, and accomplishment. […] now we add radio sight to sound. It is with a feeling of humbleness that I come to this moment of announcing the birth in this country of a new art so important in its implications that it is bound to affect all society. It is an art which shines like a torch of hope in a troubled world« (Sarnoff, zit. in Edgerton 3, 12; vgl. »The History of World Expositions«; »April 1939«).

Sarnoffs Einführung des sogenannten Ikonoskops (Kameraröhre) und Kineskops (Bildröhre), die von dem russischen Emigré Vladimir Kosma Zworykin entwickelt wurden, gingen jahrelange Experimente und technologische Fehlstarts voraus (vgl. Udelson; Abramson, History). Dazu gehörte auch ein erbittertes Wetteifern zwischen den Forschern Zworykin und Philo T. Farnsworth, wobei Farnsworth zunächst die Oberhand gewann und 1934 in einem Museum in Philadelphia einer ausgewählten illustren Öffentlichkeit sein elektronisches Fernsehen vorstellte (vgl. Bilby; Abramson, Zworykin; Godfrey, Farnsworth; Schwartz; Stashower). Doch Sarnoff, Zworykin und RCA holten letztlich den Sieg, da dieses neue visuelle Medium auf der Weltausstellung einer viel breiteren Öffentlichkeit mit einem dreistündigen Programm präsentiert werden konnte, das neben Eindrücken des Ausstellungsgeländes als Höhepunkt die erste Fernsehaufnahme eines US-Präsidenten beinhaltete: Franklin D. Roosevelt. Obwohl prinzipiell auf denselben Grundtheorien der Elektrizität gründend wie der Telegraf und das Telefon, waren es viele Einzelerfindungen von etlichen internationalen Entwicklern, die schließlich ein für die breite Masse funktionierendes Fernsehgerät auf den Markt brachten (vgl. Marvin). Zu dieser Vorgeschichte des Fernsehers gehören das »Telephonoskop« des Franzosen Albert Robida (1882) und das »elektrische Teleskop« des Deutschen Paul Nipkow (1883), aber auch die Modelle eines mechanischen Fernsehgeräts in den frühen 1920er Jahren, das der Amerikaner C. Francis Jenkins »radiovisor« und zeitgleich der Schotte John Logie Baird »televisor« nannten (vgl. Ritchie; Godfrey, »Radio Finds Its Eyes«; »Television History«). Unter der technischen Leitung des schwedischen Einwanderers Ernst Alexanderson führte die kurze Hochphase des mechanischen Fernsehers in Shenectady, New York, 1928 zur Übertragung der ersten Sendung, dem Spionagemelo244

Das amerikanische Fernsehen

drama The Queen’s Messenger (Edgerton 34-36), bevor es aufgrund der mangelnden Übertragungsgeschwindigkeit und zum Teil auch bedingt durch die Weltwirtschaftskrise zugunsten des elektronischen Fernsehers ausgemustert wurde, der die Forschung der 1930er Jahre beherrschen sollte. Dass nur etwa 3000 Fernsehgeräte statt der von Sarnoff prognostizierten 100.000 in dem inaugurierenden Jahr 1939 verkauft wurden (Kisseloff 52), lag nicht zuletzt an der in seiner Rede angedeuteten Situation einer »troubled world«. Noch während die Weltausstellung in New York eine neue demokratische Zukunft ankündigte, begann in Europa durch den Einmarsch deutscher Truppen in Polen der Zweite Weltkrieg. Dies bedeutete für die Entwicklung des jungen Mediums Fernsehen in den USA ein jähes Arretieren auf dem Status Quo. Symbolisierte das Medium eine aufkeimende Industrie und eine neue Kunstform, so erwies sich der angekündigte Siegeszug des Fernsehens für die folgenden Kriegsjahre als »false dawn« (Sterling und Kittross 165) – die Wirtschafts- und Forschungsinteressen wurden (zunächst) in die Kriegsindustrie kanalisiert. K RISE , K RIEG , K ONKURRENZ

UND ( FAST SCHON )

F ARBFERNSEHEN

»Then, almost within one lifetime, in one amazing century (1840-1940), the whole concept of communication was turned inside out.« (Castleman und Podrazik 1)

Ein erneutes Kräftemessen zeichnete sich ab, das zum einen technologischer, zum anderen aber auch ästhetischer Natur war. Während Sarnoff weiter daran arbeitete, für eine landesweite Herstellung ›seines‹ Fernsehers (einem 441zeiligen System bei 30 Bildern pro Sekunde mit amplitudenmoduliertem AM-Klang) zu werben und damit einen schnellstmöglichen Übergang vom experimentellen zum kommerziellen Fernsehen zu schaffen, setzte William Paley, der Kopf des kleinen, aber ambitionierten Netzwerks Columbia Broadcasting System (CBS) sowohl auf inhaltliche wie auch technische Neuerungen. Schon als Radionetzwerk genoss CBS (gegründet 1927) den Ruf, Qualität zu bieten, vor allem auf dem Sektor der Nachrichtenprogramme. Die dafür engagierten Nachrichtenpioniere Edward R. Murrow und William L. Shirer können als Erfinder des Senderjournalismus bezeichnet werden. 1939 startete CBS mit täglichen, einstündigen Fernsehausstrahlungen im Sendebereich New York City (vgl. Murray). Bahnbrechend wäre allerdings in technologischer Hinsicht die Einführung des Farbfernsehens zu diesem Zeitpunkt gewesen: CBS strahlte in der Tat bereits 1940 die erste Farbsendung aus, aber mit einem System, das mit dem von Sarnoff lancierten Schwarz-Weiß-Fernseher nicht kompatibel war. Sarnoff drängte Paley vom Markt und die Entwicklung des Farbfernsehens kam erst nach dem Zweiten Weltkrieg sehr zögerlich wieder in Gang (Fisher und Fisher 299-332). Obwohl CBS in den kommenden Jahren zunächst eine kleinere Rolle spielte, galt das Netzwerk neben RCA und ihrer 1926 als Tochtergesellschaft gegründeten NBC (National Broadcasting Company) wegen seines qualitativ anspruchsvolleren Programms bis in die 1970er Jahre hinein als der Prestige- oder auch »Tiffany«-Sender unter den Hauptfernsehnetzen. 245

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Sarnoffs Erfolg gestaltete sich allerdings als Pyrrhussieg, denn er bekam Unterstützung von staatlicher Seite, wodurch letztlich sein Ziel der Kommerzialisierung des Fernsehens unterlaufen wurde (Fisher und Fisher 284-296). Die 1934 als unabhängige Behörde der US-Regierung gegründete Federal Communications Commission (FCC, vgl. ) sowie das National Television Systems Committee (NTSC) limitierten nicht nur zunächst die Kommerzialisierung und beschlossen den nationalen Standard des Fernsehsystems auf 525 Zeilen und 30 Bilder pro Sekunde mit frequenzmoduliertem FM-Klang, sondern sie gingen durch den »Report on Chain Broadcasting« (1941) gegen die Übermacht und Monopolisierung nationaler Netzwerke an, um die lokalen Sender zu schützen und konkurrenzfähig zu halten. Als Folge daraus musste NBC Teile der Firma verkaufen, woraus 1943 die American Broadcasting Company (ABC) und damit ein viertes großes Netzwerk entstand (MacDonald, One Nation 25).2 Mit solcherart Einschränkungen gab die FCC am 1. Juli 1941 den Start frei für die erste Übertragung des kommerziellen Fernsehens. Entlang der Ostküste sendeten Fernsehstationen u. a. Quiz- und Spielshows, Beiträge zu Kunstausstellungen, Werbung und Nachrichten, bis der 7. Dezember 1941 mit dem japanischen Angriff auf Pearl Harbor (und der vier Tage später erfolgten Kriegserklärung Deutschlands) den Eintritt der USA in den Krieg bedeutete. Bevor die Entwicklung der Fernsehtechnologie ganz in den Dienst des Kriegs gestellt wurde (z. B. durch Umfunktionierung der für das Fernsehen benutzten Kathodenstrahlröhre für die Entwicklung des Radars, des Oszillografen und des Funknavigationssystems Loran, aber auch durch Einsatz televisuell gesteuerter Waffen oder Erkennungsgeräte),3 gab es einen traurigen medialen Höhepunkt: die erste Live-Nachrichtensendung über den Pearl Harbor-Angriff: »Television news began on the experimental stations in the 1930s. A nine-hour report on WCBW, New York, on the day Pearl Harbor was attacked was the first television news instant special. At the time the CBS station was the only TV subscriber to the United Press radio wire and had a news staff of two« (Nielsen 421).

Das War Production Board erließ dann allerdings im Frühjahr 1942 ein Verbot der landesweiten Expansion des Fernsehens und arretierte einmal mehr die Entwicklung eines neuen Industriezweigs bis nach Kriegsende. Lediglich

2

3

Neben den drei anderen Netzwerken spielt noch DuMont in dieser Frühphase eine Rolle. Dieses Netzwerk ging auf den Forscher Dr. Allen B. DuMont zurück, der 1931 seine DuMont Laboraties gründete, die sich dann zu einem Fernsehnetzwerk ausweiteten, aber schließlich 1956 eingestellt wurden (vgl. Weinstein). In dieser Phase wurden zum Zwecke der Entwicklung von Hochpräzisionswaffen auch die für die Orthicon-Technik benutzten Bildröhren perfektioniert. Das verantwortliche RCA-Forschungsteam um Zworykin nannte diese Röhren verniedlichend »Immy« und später verweiblicht »Emmy«. Dieser Spitzname sollte ab 1949 die Trophäe des bedeutendsten Fernsehpreises bezeichnen. Die Statuette zeigt heute noch eine beflügelte Dame, die ein Atom in Händen hält, und zeugt daher von der Verknüpfung von Kunst und Wissenschaft (vgl. »History of Television Academy«; »History of Emmy Statuette«).

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Das amerikanische Fernsehen

einige wenige lokale Stationen sendeten in New York City, Schenectady, Philadelphia, Chicago und Los Angeles: »The green light given to television in mid-1941 changed to red on May 12, 1942, when a War Production Board order, implemented by the FCC, forbade further building of stations so that materials could go to the war effort. […] The commission allowed licensees who had construction permits and the necessary equipment to finish building in order to ›keep alive this new art during the war.‹ The FCC had previously dropped the minimum telecast hours from 15 to four per week in order to stretch material and manpower. Six stations throughout the country continued regular program service throughout the war. […] Many of the few thousand people with sets learned how to keep them working; about three-quarters of prewar sets survived the war, although many were in poor condition« (Sterling und Kittross 230).

Die Nachkriegszeit brachte den erhöhten Bedarf am Fernsehen zurück und sah sich einem völlig ungesättigten Markt gegenüber. Auf Druck der RCA entschied die FCC mit Unterstützung der Industrie erneut gegen noch zu entwickelnde, vor allem Farb-Technologien und bestätigte den NTSC-Standard aus der Vorkriegszeit als verbindlich: »To RCA’s great satisfaction and profit, almost the entire manufacturing industry favored RCA’s position: the immediate establishment of postwar television using prewar standards, and the postponement of potential improvements in both standards and allocations to a vague future« (Sterling und Kittross 253).

Die Nation stand in den Startlöchern, so argumentierte die Industrie, und wollte Fernsehen sofort, wenn auch mit mittlerweile veralterter Technik. Sterling und Kittross lassen keinen Zweifel an der weitreichenden Einschränkung, die diese Entscheidung sogar bis in die Gegenwart hinein mit sich brachte: »It would be hard to overemphasize the importance of the 1945 decisions […]. Much of their structure remains, and they are the source of many of today’s problems« (255). Mindestens bis zur Etablierung des Kabelfernsehens in den 1980er Jahren war durch diese Entscheidung – und durch die damit verbundene Einschränkung auf den VHF-Bereich – der mit wesentlich mehr Kanälen ausgestattete UHF-Bereich nicht zugänglich. Auch die überfällige Öffnung der UHF-Kanäle 1953 änderte daran nichts mehr, denn zu sehr hatte sich die Vormacht von NBC, CBS, ABC und DuMont zu diesem Zeitpunkt bereits etabliert (MacDonald, One Nation 37). 1946: N EUES LEBEN

MIT

F ERNSEHEN : S PORTLOKAL

UND

W OHNZIMMER

»The point is that television, during wartime connected with precision radar and explosives, enters the postwar American household, not as technology but as elegant furniture suitable for the ›country home.‹« (Tichi 18-19)

Und so konnte 1946 das von RCA entwickelte 630-TS Fernsehgerät »Modell T« in Massenproduktion gehen. Im selben Jahr wurden 10.000 Stück und bis Ende 1947 schon 200.000 Stück verkauft (Edgerton 77-78). Mit dem Kauf 247

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dieses Gerätes und den Modellen, die bald folgen würden, kam nicht nur eine Industrie endlich in Gang, die schon jahrelang in der Warteschleife gestanden hatte. Der Einzug des Fernsehens in die Häuser und Wohnungen vor allem der amerikanischen Mittelklasse veränderte ab diesem Zeitpunkt radikal die Freizeitgestaltung und das Familienverhalten sowie die häusliche Raumarchitektur und die Wahrnehmung der Außenwelt.

Abb. 1: »Modell T«, das erste massenproduzierte Fernsehgerät 630-TS von RCA, 1946. David Sarnoff Library . Diese technologisch bedingte Umwälzung, der television boom (von Schilling 95), ging Hand in Hand mit einer demografischen Entwicklung, die sich unter dem Schlagwort »suburbanization« fassen lässt. Neben dem ökonomischen Auftrieb sowie dem sogenannten baby boom waren auch gesetzliche Initiativen wie die G.I. Bill (1944), wodurch zurückkehrenden Soldaten Universitätsbildung und Häuserkauf finanziell ermöglicht wurden, Faktoren für eine Massenbewegung in die Vorstadtregionen großer urbaner Ballungsgebiete. Die nun schlagartig voranschreitende Verbreitung des Fernsehens war aber nicht nur Teil der Aufbruchsstimmung nach dem Krieg, sondern trug im Gegenteil entscheidend als Vehikel dazu bei: »TV especially helped Americans adapt quickly to this ever-changing cultural landscape by reinforcing the era’s emphasis on consumption, increasing levels of comfort, and consensus« (Edgerton 80). Das Fernsehpublikum etablierte sich in dieser Phase, nicht erst in den 1950er Jahren, wie lange behauptet wurde, und es waren die lokalen Sender, nicht die großen Netzwerke, die den stärksten Einfluss auf die frühe Programmgestaltung hatten. Douglas Gomery beschreibt die ›typischen‹ Fernsehzuschauer der späten 1940er Jahre folgendermaßen: »pioneering TV set owners lived principally in cities or suburbs, were more likely to buy if neither very rich nor very poor, were relatively well educated, young, had two or three children in the household, and were quick to praise the new technology« (Gomery, »Finding« 127). Auch Donald Godfrey und Michael Murray bestätigen die lokale Verortung der frühen Fernsehkultur: »Much of what has been written about these early years would make it appear that everything emanated from the network and was passed on to local stations, in reality,

248

Das amerikanische Fernsehen however, many programs and personalities were successful at the local level before they were nationally distributed. […] The programming innovations of local television are legion« (Murray und Godfrey xxvii).

Während die Programmgestalter an der besten Lösung für das neue Fernsehpublikum bastelten, zeichnete sich von Kulturkritikern und Pädagogen bereits die für die 1950er Jahre bestimmende Rhetorik des Kalten Kriegs für das Fernsehen ab. So verglichen die einen das Fernsehen in Printmedien wie der Saturday Review of Literature mit der Kernspaltung (»the sundered atom is far behind the TV tube as the greatest technological influence on the daily lives of millions of Americans«), während andere mit Blick auf die Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs und den nun eintretenden radikalen Veränderungen im Ablauf von Haushaltsaktivitäten vor einer »home invasion« des Fernsehens warnten, aber auch vor dem Verlust der väterlichen Autorität oder der Aufmerksamkeit der Ehemänner ihren Frauen gegenüber sowie den montäglichen »TV hangovers« von Jugendlichen nach einem Übermaß an Fernsehkonsum am Wochenende (zit. in Fuller-Seeley 91, 94). Es gab aber auch andere Stimmen wie die von Lee De Forest, der u. a. schon 1919 sein erst viel später verwendetes Tonaufzeichnungsverfahren für Film patentieren ließ. Bereits 1942 sagte er die soziokulturelle Macht und die erzieherische Funktion des Mediums für die Ära der suburbia voraus: »A population which once more centers its interest in the home will inherit the earth, and find it good. It will be a maturer population, with hours for leisure in small homes, away from today’s crowded apartments. Into such a picture ideally adapted to the benefits and physical limitations of television, this new magic will enter and become a vital element of daily life« (zit. in Newcomb, »Development« 17).

Im Zuge des Abwanderns in die Vororte wurden die großen Kinos in den Zentren der Städte zugunsten eines stärker gemeinschaftlichen Fernseherlebnisses in den kleinen häuslich-familiären Kreis verlagert. In dem Maße aber, wie sich die tradierten Rituale um Mahlzeiten, Hausaufgaben der Kinder, Hausarbeiten der Frauen und Freizeitgestaltung der Väter dem neuen Medium anpassten, reflektierten und beeinflussten diese Veränderungen wiederum die Entwicklung des Fernsehens in Technologie und Programmgestaltung: »Television and public discourses about it were also shaped – domesticated – by the families who watched it. […] TV would have to learn to accommodate itself to existing gender practices and family ideology« (Fuller-Seeley 91-92). Diese Interaktion zeigt sich am deutlichsten in dem doppelt geteilten Publikum dieser frühen Jahre: Raum wie auch Geschlecht divergierten und bereiteten den Fernsehgestaltern entsprechend Kopfschmerzen. Denn nicht nur in der privaten Familiensphäre der Wohnzimmer wurde geschaut, sondern auch in dem von männlichem Publikum beherrschten sozialen Raum öffentlicher Bars. Solange Fernsehgeräte in Haushalten noch Mangel- und Luxusware waren, zog es die sportbegeisterten Männer in Lokale zum gemeinsamen Fernsehschauen. Es gab demnach ein breites partizipatorisches Interesse an öffentlichen Fernsehübertragungen, und besonders Boxen, Ringen und Bowling waren sehr populär bei diesen Sportliebhabern. Ein bahnbrechendes Medienereignis war hierbei die erste koordinierte Übertragung der World Series im Jahr 1947 durch alle Ostküstennetzwerke. 249

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Millionen von Männern schauten den konkurrierenden Baseball-Mannschaften der New York Yankees und der Brooklyn Dodgers zu und genossen nicht nur die Dramatik der Live-Übertragung, sondern wollten daraufhin unbedingt ein eigenes Fernsehgerät für zukünftige Ereignisse erstehen. Auf der Ebene des privaten Haushalts entsprach diese kollektive Fernsehkultur den organisierten wie auch ad hoc-Parties, zu denen sich Kinder, Jugendliche und Frauen zusammenfanden, um ein Lieblingsprogramm gemeinsam zu schauen. Das Wohnzimmer wurde dabei seiner privaten Sphäre entfremdet und zu einem Heimkino umfunktioniert. Diese Phase des »split TV audience« (von Schilling 87) war aber 1950 bereits im Abklingen: Fernseher gab es jetzt auch über den Sears-Katalog zu bestellen, sodass nahezu die Hälfte der Haushalte in den Gegenden mit Fernsehempfang ein Gerät hatten. Die Männer zogen bald die gemütlichere Atmosphäre des heimischen Sofas dem gemeinschaftlichen Wetteifern an der Bar vor: »The biggest winner of the 1947 World Series«, so James von Schilling, war das Fernsehen, wie sich schon im folgenden Monat zeigen würde: »25,000 more Americans bought TV sets, and a television boom had begun« (von Schilling 95). Während den Männern ein ›natürliches‹ Recht auf Sportsendungen eingeräumt wurde, und Kinder sich Puppensendungen (vor allem Howdy Doody) anschauten, entspann sich um das Fernsehverhalten der Frauen eine soziale Debatte. Es gab zwar schon die seriellen Soap Operas im Radio, die speziell auf Hausfrauen abgestimmt waren mit kurzen melodramatischen Handlungssegmenten um familiäre Probleme und Werbung aus dem Bereich der häuslichen Warenpalette. Diese Sendungen waren aber nur 15 Minuten lang und verlangten aufgrund des repetitiven Charakters weder eine Unterbrechung der Hausarbeit noch eine erhöhte Konzentration. Sie erfüllten allerdings eine entscheidende psychologische Rolle, schufen sie doch »fantasy friends and families to keep women company at home. Radio became a vital link for housewives to the outside world« (Fuller-Seeley 97). Im Unterschied zum Hören von Radio befürchteten Kritiker der späten 1940er Jahre, dass das Fernsehen die Frauen bei ihrer häuslichen Tätigkeit stören würde. Die Werbungen für Fernsehgeräte spiegelten diese Befürchtung wider, indem sie entweder die Frauen in der Küche beim Abwasch zeigten, während der Rest der Familie im angrenzenden Wohnzimmer fernsah, oder indem sie das neue Medium in die häusliche Landschaft und damit die Welt der Hausfrau integrierten – z. B. durch eine Kombination aus Herd und Fernseher oder indem das Gerät ein teures Möbelstück imitierte (vgl. Altman; Spigel, Make Room). Auch das Fernsehprogramm zeigte in dieser frühen Phase – anders als für die spezifisch auf Männer oder Kinder ausgerichteten Sendungen – keine ausgesprochenen ›Frauenprogramme‹. Tagsüber gab es zunächst fast gar nichts und dann lediglich billig produzierte Live-Sendungen ums Kochen und Einkaufen. Die große Zeit der daily soap operas war also noch nicht angebrochen.

250

Das amerikanische Fernsehen

4.3 Television Boom und Golden Age: Diversifizierung, Distribuierung, Professionalisierung, 1948-19634 1948: E XPANSION , »F REEZE «

UND DER ERSTE

TV-S UPERSTAR

»When vaudeville died, television was the box they put it in.« (Bob Hope [1949], zit. in Edgerton 113)

1947 war der Fernsehempfang noch beschränkt auf elf größere Städte entlang der Ost- und Westküste sowie des Mittleren Westens. Lediglich 18 Stationen sendeten an nicht einmal 50.000 Haushalte (Fuller-Seeley 103). Das folgende Jahr sah nun zwei einander entgegenwirkende Entwicklungen: Zum einen war 1948-49 die erste voll durchgeplante Fernsehsaison u. a. mit Toast of the Town (CBS) im Programm sowie The Gillette Cavalcade of Sports, das Serienprogramm Kraft Television Theatre und das Musikprogramm Texaco Star Theater mit Milton Berle (alle NBC) (Brooks und Marsh 122-123). Dieser wachsenden Professionalisierung und dem damit auch erhöhten Bedarf stand aber zum anderen der sogenannte »freeze« gegenüber: Während hunderte neue Stationen sich um Sendelizenzen bemühten, erteilte die FCC einen Stopp für neue Sendezuteilungen. Der Grund hierfür lag in der unzureichenden Anzahl an Kanälen, sodass Stationen, die sich einen Kanal teilen mussten und zu nahe beieinander lagen, Interferenzen erzeugten. Anders als mit der auf die lange Bank geschobenen Verzögerung des Farbfernsehens musste die FCC hier schnell agieren und neue Standards errechnen. Der gerade beginnenden explosionsartigen Verbreitung durchs ganze Land wurde (erneut) ein jähes vorläufiges Ende bereitet und die Nation entlang einer technologischen Achse geteilt. Von 1948 bis zur Aufhebung des »freeze« 1952 und der endgültigen Einführung des Farbfernsehens ein Jahr später blieb das neue Medium Fernsehen in einem »peculiar state of suspended animation, just on the verge of expanding into a national mass medium. […] While part of the nation continued to wait breathlessly for the longpostponed arrival of television, people in the rest of the country became caught up in the new focus of popular entertainment« (Castleman und Podrazik 37).

Was aber schauten sich die wenigen Privilegierten an, die Zugriff auf einen der noch raren Fernsehkanäle hatten? Es gab weiterhin viele Sportsendungen, doch eine Neuerung stahl dem Sport die Show: The Texaco Star Theater (1948-1956, NBC) war die unumstrittene Nummer 1 der nächsten Jahre. Damit hielt das totgeglaubte Vaudeville erneuten Aufschwung und der erste Superstar des Fernsehens war geboren: Milton Berle, auch »Mr. Television« 4

Ich folge hier wie insgesamt der nach zeitgeschichtlichen bzw. für die Fernsehgeschichte signifikanten Brüchen gegliederten Columbia History of American Television von Edgerton (wie auch der History of American Broadcasting von Kittross und Sterling) im Unterschied zu der chronologisch nach Jahren bzw. Dekaden gegliederten Six Decades of American Television von Castleman und Podrazik und der Biography of American Television von Hilliard und Keith oder dem nach thematischen Schwerpunkten geordneten Companion to Television von Wasko.

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genannt (von Schilling 102). Die Zeitschrift Variety bezeichnete das Comeback des Vaudeville 1948 als »television’s hottest development« und gab ihm einen neuen Namen: »Vaudeo« (zit. in Edgerton 114). Obwohl auch andere Sender diesen Trend mitmachten, war es vor allem Milton Berles Multitalent zu verdanken, dass die NBC diesen durchschlagenden und anhaltenden Erfolg erzielen konnte. Er brachte sich mit schrägen Kostümen, noch schrägeren Witzen und fast akrobatischem Körpereinsatz in die musikalischen und komödiantischen Nummern der Vaudeville-Stars ein und stellte sich so immer selbst gekonnt in den Vordergrund. Lediglich Ed Sullivan mit seiner Sendung Toast of the Town, die ab 1955 in The Ed Sullivan Show umbenannt wurde und fast ein Vierteljahrhundert die Samstagabend-Institution der CBS wurde, konnte Berle Konkurrenz leisten. Die beiden Entertainer waren sehr unterschiedlich und zeigten die Bandbreite dessen, was das Vaudeo zu leisten vermochte. Während Berles Talent in einer urbanen One-Man-Show lag, die stark von seinem jüdischen Humor und einer überbordenden ›physical comedy‹ geprägt war, war Sullivans Rezept das eines zwar steifen, aber perfekten Organisators und Moderators mit einem eher suburbanen Zielpublikum im Visier. Sullivans ausbalanciertes Programm hatte etwas für jeden, von Akrobaten und Zauberern über Komödianten, Sänger und Schauspieler bis hin zu Puppentheater für die Kinder. Sullivans längerfristiger Erfolg lag zum Teil an dieser Ausgewogenheit in der Unterhaltung, Berles frühzeitiges Ende als TV-Star mag aber auch an der flächendeckenden und landesweiten Ausdehnung des Fernsehempfangs gelegen haben, wodurch sein eigentliches Publikum der urbanen Ostküste an Quotenstärke verlor. Das Phänomen des überregionalen Fernsehens als Massenmedium wurde in vielfältiger Weise registriert und diskutiert, von den Bildern des bekannten Illustrators Norman Rockwell, der die durch die Fernsehantenne veränderte Silhouette der Städte Amerikas und die nationale Vernetzung eines jeden Haushalts einfing, bis hin zu den massenproduzierten Häuser- und Wohnanlagen der neuen privatisierten suburbanen Stadtkultur, die mit der massiven Expansion des neuen Mediums in Verbindung gebracht wurde. In dem Maße, wie sich die Familien von einem stärker kommunalen Leben in ihre Eigenheime zurückzogen und beispielsweise weniger das Kino besuchten, spiegelte der Fernseher als »electronic hearth« diesen Trend zur Konzentration auf die nukleare Familie wider: »Television was not so much the culprit as an accomplice of a great change in American lifestyle. What is notable about television is its immense cultural contribution to this cultural change from community to family, public to private. […] Television was well suited to the nesting habit. From its beginning it was presented as the new hearth. […] Around the electronic hearth the family was turned in on itself, to the television, and its back to its neighbors and community. Domesticity was an anticommunity message« (Butsch 249).

Die Metapher des »electronic hearth« deutet darauf hin, dass es sich beim Fernsehen nicht nur um ein technologisches, sondern auch um ein räumliches Phänomen handelt. Der Medientheoretiker Marshall McLuhan bezeichnet bereits Anfang der 1960er das Fernsehen als »environmental« (ix), und Cecelia Tichi macht diese räumliche Konfiguration des Fernsehens besonders für die 1950er Jahre geltend. So gestalten komfortable Fernsehsessel den neuge252

Das amerikanische Fernsehen

schaffenen Fernsehraum, wo auf portablen Fernsehtabletts die 1954 erfundenen »TV dinners« serviert werden, vorgekochte und in Plastiktabletts abgepackte Malzeiten, die nur noch warm gemacht werden müssen und nicht einmal mehr schmutziges Geschirr verursachen. Die Familie, die sich statt um den Tisch nun zum gemeinsamen Essen um den elektronischen Ersatzkamin schart, misst dem Fernsehgerät mehr als nur die Funktion eines Möbelstücks zu. Tichi argumentiert, dass sich das eskapistische Bild des »TV hearth« vom imaginären »bomb shelter« im Kalten Krieg bis hin zum Cocooning der jüngsten Gegenwart durchzieht und den amerikanischen Mythos eines zeitlos-gesicherten privaten Rückzugraums einer »domestic tranquility« fortschreibt: »And the TV hearth is still functioning as a time trip out of the tumult of history into the placid realm of American myth. No matter what discordant images may flash across the screen – wars, racial hatreds, disease, family violence, abject poverty, natural catastrophe – they are to be neutralized, in fact denied, by the TV hearth. The receiver itself reassures viewers that all images are as safely contained as the flickering firelight within the hearth« (61).

1953: V OM V AUDEO

ZUR

S ITCOM . M OLLY UND L UCY F ERNSEHSTARS

ALS

ERSTE WEIBLICHE

»[…] it was not until January 19, 1953, that three separate events marked the point at which television became synonymous with American popular culture.« (Castleman und Podrazik ix)

Milton Berle und sein Texaco Star Theater haben mittlerweile Kultstatus erreicht – nicht zuletzt die bis dato höchsten Einschaltquoten zeigen das. Berles Ruhm reicht aber weit über die 1950er Jahre bis in die Gegenwart hinein: »He has been the subject of nearly every show business tribute and award […] devoted to his contributions and legacy in broadcasting« (Smith, »Milton Berle«). Doch der Mann vom Vaudeville war nicht der einzige populäre Star der 1950er Jahre, er bekam Konkurrenz von weiblicher Seite und damit von einem neuen TV-Genre, das nicht nur weibliche Stars ins Zentrum stellte, sondern sich auch vor allem an ein weibliches Publikum richtete: die sogenannte Sitcom oder Situationskomödie. Im Unterschied zum eher brachialen Humor des Vaudeo zeigten die Sitcoms eine domestizierte, realitätsnahe Form des Humors, der die Erfahrungen von einfachen Familien und Arbeitnehmern in ihrem Kampf um materiellen Erfolg und sozialen Aufstieg ins Visier nahmen. Gleichzeitig zeugt der Ruhm weiblicher Stars von der endgültigen Einkehr des Mediums Fernsehen in die amerikanischen Haushalte. Das bestätigt schon ein Autor des New York Times Magazine im Jahr 1953: »The rise of the comedienne in TV may be attributed to the nature of the medium itself. Since the TV audience is the family at home, the domestic comedy, revolving about the woman of the house, is a natural formula« (zit. in Edgerton 136). Das Jahr 1953, in dem die endgültige nationale Ausweitung des amerikanischen Fernsehnetzwerks vollzogen wurde, begann mit einer ›dreifachen 253

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Geburt‹: Lucy Ricardo, die fiktionale Hauptfigur der Sitcom I Love Lucy, wurde in der Sendung Mutter; Lucille Ball, die reale Schauspielerin der Serie, hatte kurz zuvor tatsächlich ihr eigenes Baby bekommen; und das doppelte Schauspiel der in den Medien stark beachteten Fernsehschwangerschaft von Lucy/Lucille überschattete das dritte Ereignis des Tages: die Inauguration von Präsident Eisenhower und Vizepräsident Nixon, »the first to be televised live, coast-to-coast, giving millions of Americans their first glimpse at the pageantry and ceremony in the American style of transferring power« (Castleman und Podrazik ix). Die beiden Autoren Castleman und Podrazik eröffnen mit diesem Medienereignis ihre Dokumentation der amerikanischen Fernsehgeschichte und bezeichnen diese dreifache ›Geburt‹ als Startschuss einer neuen Ära amerikanischer Populärkultur im Zeichen des Fernsehens. Diese Phase, die einerseits durch geografische Ausdehnung, andererseits durch zunehmende Programmvielfalt gekennzeichnet war, brachte eine einschneidende Neuerung mit sich: zwei weibliche Allround-Stars. Noch vor dem medialen Auftritt von Lucille Ball sorgte nämlich eine andere Figur für eine Trendwende im Fernsehgeschehen: Gertrude Berg, auch heute noch »one of the few women in television history to reign on both sides of the camera« (Doherty, Cold War 38). Wie Aviva Kempner in ihrer Filmbiografie Yoo-Hoo, Mrs. Goldberg (2009) verkündet, ist Gertrude Berg alias Molly Goldberg ein vergessener Superstar des frühen Fernsehens: »The most famous woman in America that you never heard of« (zit. in Timberg). Gertrude Berg kann mit Recht als die maßgebliche Begründerin der amerikanischen Familien-Sitcom betrachtet werden. Schon im Radio machte die im jiddisch-amerikanisch Jargon witzelnde Matriarchin »Molly Goldberg« von 1929-1949 und dann im Fernsehen von 1949-1956 (nacheinander bei CBS, NBC und DuMont) in der von ihr selbst kreierten Show The Goldbergs Furore: Sie war Autorin, Regisseurin und Darstellerin in einem. Die Serie erzählt vom Leben dreier Generationen jüdisch-amerikanischer Einwanderer, die zunächst in der Bronx, später in einem fiktiven Vorort angesiedelt sind und die vom noch fremdländisch wirkenden Einwanderer der ersten Generation bis zu den völlig assimilierten und amerikanisierten Kindern der dritten Generation reichen. Das ikonische Kennzeichen der Serie aber ist zweifelsohne Molly Goldberg selbst, wie sie aus dem Fenster mit dem einsamen Geranientöpfchen (einer Sanka-Tasse) lehnt und mit ihrem typisch für die zweite Einwanderergeneration jiddisch flektierten Bronx-Dialekt ihren Nachbarn »Yoo-Hoo« zuruft, während sie genüsslich eine Tasse löslichen Sanka-Kaffee trinkt. Die Serie ist in vielerlei Hinsicht außergewöhnlich, nicht zuletzt durch ihre Koinzidenz mit dem sogenannten »Golden Age of Television«: In der Dekade von 1948-1958 entwickelte sich das Fernsehen »from apprenticeship to sophisticated anthologies to series, from New York to Los Angeles, and from live dramas to recording on film or videotape» (Hawes 2). Mag zwar Kempners Film (sowie eine jüngst erschienene Biografie zu Gertrude Berg von Glenn D. Smith) von einem wiederaufkeimenden Interesse für jüdische Ethnizität in der Populärkultur zeugen (vgl. z. B. die zentralen jüdischen Familien in Serien wie Seinfeld, NBC, 1989-1998 oder The O.C, Fox, 20032007), so erklärt dies nicht den verblüffenden Erfolg einer jüdischen Familienserie in einer Zeit, die von Antikommunismus wie auch Antisemitismus geprägt war. The Goldbergs war das wohl bekannteste Beispiel ethnischer 254

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Sitcoms im frühen Fernsehen, die mit The Life of Riley (1949-1958), Mama (1949-1956), Amos ’n’ Andy (1951-1953) und Life with Luigi (1952) häusliche oder berufliche Szenen irischer, norwegischer, afroamerikanischer und italienischer Arbeiterfamilien ins Zentrum stellten. Im Fall von The Goldbergs war es besonders die Leitfigur von »homespun, lovable Molly Goldberg, a Yiddische mama who ladled out malapropisms and folk wisdom with the chicken soup simmering perpetually on her stove. […] Her humor derived from the Yiddish lilt in her voice as she fumbled through the twists and turns of American vernacular« (Doherty, Cold War 39-40). Zum Teil kann der Erfolg der Serie aber auch durch ihre zeittypische Mischung aus Experiment und Innovation erklärt werden. Obwohl keinesfalls kunstvoll im Sinne einer fortgeschrittenen Fernsehästhetik, sondern eher das experimentelle Rohprodukt früher Live-Studioaufnahmepraxis, hat die Serie doch erstaunlich distinkte ästhetische Qualitäten, die zum einen aus der Theater- und Filmerfahrung der Darsteller stammen, zum anderen dem kommerziellen Impuls des neuen Mediums Fernsehen geschuldet sind. Molly Goldberg ist nicht nur das narrative, sondern auch das visuelle Zentrum der pro Folge 30-minütigen Serie: ihr verbaler Humor überlagert den der anderen Charaktere und ihre körperliche Figur dominiert den Bildschirmrahmen. Im Unterschied zur später für TV-Serien etablierten Praxis des close up und der eher flachen, zweidimensionalen Mise-en-scène, bestechen The Goldbergs durch eine inszenatorische Tiefenwirkung, die an das Bühnenund Filmmelodramen-Tableau erinnert. Molly als steter Fokalisator ist hierbei omnipräsent auf der ›vorderen Bühne‹, die anderen Figuren sind hingegen nach hinten in bis zu drei sichtbaren Räumen gestaffelt. In dieser visuell-narrativen Frontfunktion kam ihr auch die alleinige und – ebenfalls mit späteren Konventionen nicht kongruente – Aufgabe der Werbeträgerin zu. In geradezu verblüffend offensivem Bruch mit der diegetischen Narration nahm Molly – meist durch eine dramatische 180-Graddrehung ihres Körpers – Kontakt mit dem Publikum auf, indem sie direkt in die Kamera sprach: »She does so only during her commercial pitches, which she does in character, often using the ›problems‹ of other characters in the narrative as excuse to talk about the calming properties of Sanka decaffeinated coffee or Rybutol vitamins« (Deming 137). Dieser Wechsel von der Narration zur Werbung bzw. von story zu discourse unterstrich und unterbrach durch die Personalunion von intradiegetischer Figur und extradiegetischer Sprecherin das Illusionsspiel, auf dem das kommerzielle Erzählfernsehen von Anfang beruhte. In anderen Live-Sendungen etablierte sich gleichzeitig der Übergang durch Ausblenden der Szene und Einblenden eines an der narrativen Handlung unbeteiligten Werbesprechers, der anderswo im Studio platziert war; später wurde dies durch die bis heute übliche Überblendungstechnik des fade to black ersetzt. Die Struktur der televisuellen Unterbrechung war zwar primär durch kommerzielle Zwecke gegeben, sie blieb aber untrennbar mit der Ästhetik verknüpft: besonders narrative Fernsehserien integrieren die Werbeunterbrechung bis heute in die Erzählstruktur und unterminieren damit die besonders für den Hollywood-Film so wichtige illusionistische Komponente des fließenden Übergangs: »In stark contrast to the classical Hollywood narrative (often characterized as seamless), the televisual text is all about seams,

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or segment markers, which don’t interrupt the programs so much as help to constitute them« (Deming 129).5 Die beiden wichtigsten Sitcoms dieser Ära – The Goldbergs und I Love Lucy – verbindet neben den weiblichen Leitfiguren auch die politische Brisanz der McCarthy-Kommunistenhetze. Mollys TV-Ehemann wurde zunächst gespielt von dem bekannten Bühnenschauspieler und Theatermanager Philip Loeb. Dieser war auch ein politischer Aktivist, engagiert u. a. in der Schauspielergewerkschaft und der popular front. Obwohl man ihm direkte kommunistische Parteimitgliedschaft nie nachweisen konnte, erschien sein Name auf der notorischen Liste Red Channels: The Report of Communist Influence in Radio and Television, einem 1950 von einem FBI-Mitarbeiter verfertigten Pamphlet, das 151 Medienpersönlichkeiten als gefährlich auflistete, so auch Loeb. Auf hohen Druck durch Sponsoren und Fernsehverantwortliche (der Television Authority) sah sich Gertrude Berg nach anhaltendem Widerstand schließlich gezwungen, ab 1952 ohne Loeb weiterzudrehen. Der Fall I Love Lucy stellt sich hingegen ganz anders dar. Obwohl sich die Hauptdarstellerin der Serie, Lucille Ball, nachweislich in den 1930er Jahren bei einer regionalen Wahl in Kalifornien als Wählerin bei der Kommunistischen Partei registrieren ließ (angeblich um ihrem Großvater einen Gefallen zu tun), sprach das HUAC (House Committee on Un-American Activities) sie 1953 öffentlich von jedem Vorwurf frei mit einer freilich nicht ganz eindeutigen Formulierung, die auf eine potentielle Ungleichbehandlung von Prominenten verweist: »The prominence of Miss Ball as an outstanding moving picture and television artist is secondary to the committee’s determination to be fair and just in all instances« (zit. in Doherty, Cold War 54). Ehemann und Mitproduzent Desi Arnez nutzte sowohl das Live-Forum von I Love Lucy wie auch das seit 1953 etablierte populäre Printmedium TV Guide mit dem einzigen Artikel zur schwarzen Liste während der Hochzeit der McCarthy-Ära, um über »my favorite redhead« zu verkünden: »That’s the only thing red about Lucy – and even that is not legitimate« (zit. in Doherty, Cold War 56). Die große Unterstützung von Presse und Öffentlichkeit sowie des HUAC und ihrem Haussender CBS in der Affäre »Lucille Ball Story« bestätigten das Credo des historischen Moments: We all love Lucy!

5

Mit der Übertragung der 9/11-Ereignisse und der Fernsehserie 24 nennt Carol Deming zwei einschneidende Medienereignisse der Gegenwart, die das televisuelle Spiel mit der »real time« demonstrieren, wie es von Anfang an Teil der Fernsehtechnologie des Live-Broadcasting war: »Television’s capacity (if not its dominant practice) to deliver events in real time remains its most salient claim to importance. As the unfolding events of September 11, 2001 demonstrated, it does deliver the real thing often enough to keep the claim to immediacy viable. […] television’s capacity for liveness is managed [however] so that what is (increasingly) simultaneous is not the event and the experience of it but rather the event and its representation (and, ultimately, immediacy and its mediation). […] the fictional series 24 […] claims to render its narrative in ›real time,‹ complete with scenes running simultaneously on a divided screen. The fact that a represented hour is not an hour long is glibly elided along with the ›missing‹ time needed for advertising and promotion. In the context of contemporary television, ›real time‹ is a construct that, like liveness, grows increasingly surreal« (128).

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Anders als Philip Loeb war Lucille Ball nicht austauschbar, konstatiert Thomas Doherty, sondern das die Serie tragende Markenzeichen: »As a television commodity, Lucy was irreplaceable, sui generis. […] Lucy embodied the franchise« (Cold War 58). Im Jahr der glimpflich überstandenen Hetzjagd war I Love Lucy die meistgesehene Sendung des Fernsehens mit zum Teil bis zu 50 Millionen loyalen Zuschauern jeden Freitagabend.

Abb. 2: I Love Lucy (Jess Oppenheimer, Madelyn Pugh, Bob Carroll, Season 1, Episode 8 »Men Are Messy«, CBS, 1951). Im Unterschied zu späteren CBS-Familienkomödien der 1950er Jahre wie Father Knows Best (1954-1963) und Leave It to Beaver (1957-1963), die die Mütter zwar auf ein immer höheres Podest stellten, sie aber auf der Handlungsebene immer mehr zum Verschwinden bringen ließen, bildeten Lucy und Molly in jeder Hinsicht das Handlungszentrum dieser früheren ethnischen Familienkomödie aus dem Arbeitermilieu. Und doch war Lucille Ball ein ganz anderer Frauentyp als Gertrude Berg: keine matronenhafte Matriarchin, sondern ein körperlich agiler, wild-anarchischer Rotschopf, der als Lucy Ricardo gemeinsam mit ihrem temperamentvollen kubanischen Film- und wirklichen Gatten Desi Arnez alias Ricky Ricardo eine bis heute (nicht nur) von feministischen Kritikerinnen gefeierte Unterminierung des dominanten repressiven Frauen- und Familienbildes der 1950er Jahre auf den Bildschirm und in die Wohnzimmer des ganzen Landes brachte. I Love Lucy wurde von 1951-1957 bei CBS ausgestrahlt und bescherte dem Sender die höchsten Einschaltquoten der Zeit. Es war nicht nur die erste Kult-Fernsehserie, die von Küste zu Küste empfangen werden konnte, sie setzte auch ästhetisch neue Maßstäbe. Anders als das statische Vaudeo von Milton Berle, das das Fernsehen noch als theatralische Proszeniumsbühne inszenierte, und auch anders als Gertrude Bergs vom Radio übernommene Live-StudioPerformance wurde I Love Lucy zwar vor einem Live-Publikum, aber mit gänzlich neuer und wegweisender mobiler Kameratechnik gefilmt und dann in 24-minütige Sequenzen (bzw. ein halbe Stunde inklusive Werbung) geschnitten: »Drawing the blueprints for the sitcom genre, producer-star Desi Arnez devised the innovative three-camera setup for filming rehearsals and live performances, the sharper resolution of 35mm celluloid and the smooth intercutting of close-ups and

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Ralph J. Poole medium shots showcasing the malleable face and agile physicality of his versatile spouse-star« (Doherty, Cold War 49).

Im Unterschied zu dem sonst üblichen, aber qualitativ minderwertigen »Kinescope«-Verfahren, bei dem die Sendungen von einem Bildschirm abgefilmt wurden, produzierte I Love Lucy mit einem »3-Kamera-Aufbau«: Während sich zwei Kameras auf die Figuren konzentrierten, filmte die dritte Kamera das gesamte Geschehen in der Totalen. Der auf der MultikameraTechnik gründende nachträgliche Zusammenschnitt verschiedener Perspektiven aus drei Filmstreifen blieb lange Zeit, zum Teil bis heute Standard. Die verbesserte Qualität ebnete auch den Weg zur syndication, also der Vermarktung der Serie durch Wiederholungen bei unabhängigen, lokalen Fernsehsendern, die nicht den großen Netzwerken angehörten. 1954: Z ENSUR UND A UFKLÄRUNG . TV-K AMPF GEGEN M C C ARTHYISM UND L OW E NTERTAINMENT »TV was a fantasy ›bomb shelter‹ kind of escape, featuring showgirls and dancing puppets – a perfect tranquilizer for a nation worried about Commies at the door and subversives under the bed.« (Fuller-Seeley 109)

Senator Joseph McCarthys Kommunistenhetze ist sicherlich ein prägender, obgleich nicht alles bestimmender kultureller Faktor für die Mediengeschichte der 1950er Jahre. Auch wenn Fernsehkritiker zurecht vermerken, dass es vor allem der reaktionären und polarisierenden Rhetorik des Politikers zu verdanken ist, dass landesweit von einem repressiven Klima des »McCarthyism« als Synonym für den Kulturkampf gegen die ›rote Gefahr‹ gesprochen wurde, so war der Einfluss des Senators de facto weitaus geringer als sein Ruf. Obwohl, wie Thomas Doherty vermerkt, »today Joseph McCarthy seems more ›-ism‹ than man«, muss doch eingeräumt werden: »Perversely, McCarthy is given too much credit for McCarthyism« (Doherty, Cold War 13, 15). Wiewohl McCarthy sich der Macht des Mediums Fernsehen bewusst war und es gekonnt zu seinen politisch agitatorischen Zwecken einzusetzen wusste, so brachte es ihn doch auch ironischerweise zu Fall. Moderatoren wie Edward R. Murrow und Programmgestalter wie Pat Weaver waren maßgeblich daran beteiligt, McCarthy und seiner Politik durch Nachrichtensendungen und Dokumentationen die Stirn zu bieten. Murrow, der schon während des Zweiten Weltkriegs als Radioreporter aus Europa berichtete und dadurch in der amerikanischen Öffentlichkeit Prominentenstatus erlangte, schrieb in den 1950er Jahren Fernsehgeschichte mit seinen zwei Sendungen See It Now (CBS, 1951-1958) und Person to Person (CBS, 1953-1961). Person to Person ist der erste Vorstoß in das Feld des Prominentenjournalismus der Fernsehgeschichte. Jeden Freitag plauderte Murrow im Nachtprogramm mit bekannten Politikern, Filmstars, Schriftstellern, Musikern und Sportlern. Diese immens populäre Sendung machte ihn nicht nur selbst zu einer der prominentesten Medienpersönlichkeiten, sie war

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auch Ausdruck von Murrows tiefverwurzeltem Glauben an das demokratische Recht auf freie Meinungsäußerung.

Abb. 3: Edward R. Murrow mit Louis Armstrong bei See It Now, 31. Mai 1956. Edward R. Murrow Collection, Digital Collections and Archives, Tufts University . Noch mehr als in dieser Talkshow nutzte Murrow die Nachrichtensendung See It Now, um seinem demokratischen Idealismus Ausdruck zu verleihen. Sonntagabends berichtete Murrow der Nation in nahezu obsessiver Manier vom militärischen Chaos des Koreakriegs, von rassistischen Zuständen in segregierten Schulen, vom wirtschaftlichen Elend in der Dritten Welt und über internationale Politik vor Ort in Interviews mit Staatsoberhäuptern aus Jugoslawien, China oder Israel. Einen bleibenden Namen aber machte sich Murrow, der später unter Präsident Kennedy die Leitung der U.S. Information Agency übernehmen sollte, vor allem durch seinen Aufklärungsfeldzug gegen den Senator aus Wisconsin, Joseph McCarthy. Diese einschneidende Episode der Fernsehgeschichte wurde jüngst geadelt durch George Clooneys Film Good Night, and Good Luck (2005) mit zeitgenössischen Originalaufnahmen besonders von McCarthy. In mehreren Episoden der Spielzeit 1953-1954 wurde McCarthy selbst bzw. die Wirkung des McCarthyism zum Thema von See It Now. Vor allem die folgenschwere Sendung vom 9. März 1954 war ein Bravourstück aufklärerischen Dokumentationsfernsehens: Nahezu kommentarlos wurden Worte und Bilder von McCarthys öffentlichen Auftritten zu einer vernichtenden Demontage des agitatorischen Politikers geschnitten. Nur etwa zwei Wochen nach dem »Murrow-McCarthy conflict« (Barnouw 182) wurden militärische Untersuchungen gegen McCarthy wegen Verdachts der Verschwörung und des Amtsmissbrauchs eingeleitet, und es war vornehmlich dem Fernsehmedium zu verdanken, dass seine Taktiken vor zum Teil bis zu 30 Millionen Zuschauern bei den öffentlich übertragenen Verhören entblößt wurden. Die eminente Rolle des Fernsehens als Medium der Aufklärung hat das Jahr 1954 als Kampf archetypischen Ausmaßes erscheinen lassen: der Sünder gegen den Heiligen. So meint Thomas Doherty: »Whether as co-conspirators or sworn enemies, paired in symbiosis or antagonism, television and McCarthyism are fellow travelers in American history, the rising arc of the medium and

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the falling arc of the man intersecting at a pivotal moment for each« (Cold War 260). Während Murrow gewiss der sichtbarste Mann vor der Kamera war, der zur Wissenskultur der 1950er Jahre einen entscheidenden Beitrag leistete, so war dies Pat Weaver hinter den Kulissen. Weaver war maßgeblicher Programmgestalter der NBC von 1949 bis 1956, und er verstand es, die kommerzielle Ausrichtung des Fernsehens mit strategischen Serviceleistungen für das Publikum zu verbinden: NBCs »Enlightenment Through Entertainment« bot pädagogisch ausgerichtete Kinderserien wie Kukla, Fran and Ollie an, »Operation Wisdom« war auf kulturelle Fernsehdokumentationen spezialisiert (Weaver nannte sie »telementaries»), und »Operation Frontal Lobes« sollte Hochkultur wie Oper, Theater, Kunst, aber auch wissenschaftliche, soziale und politische Debatten einem breiten Publikum nahebringen. Wenngleich Beavers Ziele hier zu hoch gesteckt waren und der Aufklärungsanspruch sich nicht ganz mit den Unterhaltungsstandards vereinbaren ließ (zum Teil, weil seine »spectaculars«, wie er die regelmäßigen Sondersendungen nannte, zwar u. a. im Einsatz von Farbfernsehen revolutionär waren, aber Unsummen von Geld verschlangen), so waren Teile des Programms, vor allem die Quizshows, richtungsweisend für die Programmgestaltung der späten 1950er Jahre (vgl. Boddy, »Operation Frontal Lobes« und Wilson, »NBC Television’s ›Operation Frontal Lobes‹«). Erst der Quizshow-Skandal von 1958 sorgte für die erste einschneidende Krise im Programmfernsehen (vgl. Hoerschelmann 69-85). Das Durchsickern der Gerüchte um im Vorfeld präparierte Kandidaten der CBS-Show The $64,000 Question und NBCs Twenty One führte zu Gerichtsverhandlungen und dem vorläufigen Ende der Erfolgswelle für dieses Format, das wie kein anderes für den Nachkriegskonsum in Verbindung mit dem televisuellen Medium stand: »No programming format mesmerized televiewers of the 1950s with more hypnotic intensity than the ›big money‹ quiz show, one of the most popular and ill-fated genres in U.S. television history. […] To an age as yet unschooled in credibility gaps and modified, limited hang-outs, the mass deception served as an early warning signal that the medium, and American life, might not always be on the up and up« (Doherty, »Quiz Show Scandals«).

Bis weit in die 1960er Jahre hinein blieb allerdings Weavers Konzept des »TH-T« insgesamt erfolgreich. Hierbei ging es vor allem darum, Programmzeiten jenseits der abendlichen Hauptsendezeit auszureizen und dadurch auch andere Publikumssegmente in die Programmgestaltung einzubeziehen. T-H-T stand als Signatur für drei Programme: Today, Home und Tonight! Today war hierbei das Morgenmagazin für diejenigen, die vor der Arbeit oder Schule den Fernseher anschalten wollten. Home schloss sich daran an und war speziell auf die Interessen von Hausfrauen ausgerichtet; und Tonight! war eine spätabendliche unterhaltsame Talkshow mit viel Musik, vor allem aber Gesprächen, die angefangen mit Steve Allen als Moderator von 1954-1957 TVGeschichte schrieb (Allen hatte schon ab 1948 zuerst im Radio, dann im Fernsehen die halbstündige The Steve Allen Show moderiert und dadurch Weavers Aufmerksamkeit auf sich gezogen). Später wurde die Sendung in The Tonight Show umbenannt und ist eines der am längsten laufenden Programme der Fernsehgeschichte mit den Moderatoren Jack Paar (1957-1962), 260

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Johnny Carson (1962-1992), Jay Leno (1992-2009) und Conan O’Brien (seit 2009). 1955-1963: C OWBOYS , R OCKSTARS UND P RÄSIDENTEN . C OOLE S TARS EINES H OT M EDIUMS »I can think of nothing more boring for the American people than to have to sit in their living rooms for a whole half hour looking at my face on their television screens.« (Dwight D. Eisenhower, zit. in Wasko, »Introduction« 9)

Rückblickend auf das ›Goldene Zeitalter‹ des amerikanischen Fernsehens weisen Fernsehforscher mittlerweile auf die nachträgliche Glorifizierung der 1950er Jahre besonders im Hinblick auf die sogenannten »live dramas« oder »teledramas« hin. Programme wie The Kraft Television Theater brachten großes Theater in das traute Heim, so versprachen die Fernsehgestalter zu Beginn der Dekade (MacDonald, One Nation 79). Nicht nur sind von den tausenden Live-Abendsendungen heute nur mehr etwa fünf Prozent in Archiven noch einsehbar, woraus die Schwierigkeit resultiert, von wenigen konservierten, aber vielleicht besonders hervorstechenden Beispielen auf ganze Genres zu schließen, deren quantitativ größter Anteil verloren ist (Edgerton 194). J. Fred MacDonald meint sogar: »For every memorable dramatic success, the medium offered hundreds – many hundreds – of shows that were average at best» (One Nation 82). Die gezielt durch Werbekampagnen kreierte Aura um diese Sendungen sollte aber dennoch den kränkelnden TV-Status aufwerten. Die »›golden age‹ dramas« wurden daher schnell zum »ideal marketing vehicle for major U.S. corporations seeking to display their products favorably before a national audience. […] Borrowing specific elements from the legitimate stage, network radio, and the Hollywood film, the newly constructed dramas on television (teledramas) fashioned a dynamic entertainment form that effectively fused these high and low cultural expressions« (Everett, »›Golden Age‹«).

Gerade mittels dieser Teledramen wurde der signifikante Stil geschaffen, dessen Ästhetik und Dramaturgie speziell auf den kleinformatigen Bildschirm abgestimmt war. Das intime close up und die damit verbundene Präferenz von Charakterisierung über Handlung und Ausstattung setzten deutlich andere Akzente als der Hollywood-Film. Während der dem Theater (Broadway und Vaudeville) noch verbundenere ursprüngliche New Yorker-Stil stärker den improvisierten Live-Charakter hervorhob, spezialisierte sich die sogenannte Chicago School auf den simplifizierten Realismus einer Studioaufnahme ohne Live-Publikum mit intimer Kamera und intimem Interieur sowie einem hohen Maß an Konnektivität mit dem Publikum (Edgerton 161). Diese zur Formel gewordene Technik überzeugte das amerikanische Publikum durch den sofortigen Erkennungswert und das geradezu rituell-repetitive Moment lustvoll antizipierter Vorhersehbarkeit. Das so entstandene Format wurde durch Serien wie Perry Mason (CBS, 1957-1966), der ersten erfolg-

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reichen Krimiserie (legal drama television series), installiert und ist in modifizierter Form heute noch gültig. Die 1950er Jahre gelten als Schwellenphänomen der amerikanischen Kulturgeschichte. Neben dem baby boom, der bis 1964 währte, dem Nachkriegswohlstand und der Suburbanisierung kristallisierte sich das Fernsehen als ein die Kulturindustrie bestimmendes Markenzeichen heraus. Fernsehen wurde zum Babysitter der Nation mit Kinderprogrammen wie The Howdy Doody Show (NBC, 1947-1960) und Disneyland (ABC, 1954-1961, später auf anderen Kanälen, zuletzt wieder ABC bis 2008). Beide Programme hatten überdies teil an einer im Jahr 1955 für das Fernsehen schlagartig einsetzenden nostalgischen Renaissance des Mythos vom amerikanischen Westen, zunächst inkarniert in der Figur des Westernhelden Davy Crockett, später dann ausgedehnt auf Westernserien wie Gunsmoke (CBS, 1955-1975) und Bonanza (NBC 1959-1973). Davy Crockett als teils reale, teils mythisierte Figur der amerikanischen Geschichte stand im Zentrum einer Reihe von Telefilmen, einem neu kreierten Genre, das z. T. aus dem Zusammenschluss von ABC mit der Filmgesellschaft Paramount entstand (vgl. Anderson, Hollywood TV) und dem Fernsehen höchste Einschaltquoten sowie der Wirtschaft den Verkaufsschlager Jeans bescherte. Diese ikonische Hose, getragen vom TV-Crockett und seinen Westernserien-Epigonen wurde nicht nur für die heranwachsende Jugend zu einem identifikatorischen Kultobjekt, sie charakterisierte geradezu den neuen Typus des »Teenager«, der für eine neue Klasse an Konsumenten stand und sein popkulturelles Interesse besonders über das televisuelle Medium auslebte. Rock’n’Roll, vertreten durch Elvis Presley und präsentiert in der neuen Popmusik-Sendung American Bandstand (ABC), eroberte die Nation und wurde zum rebellischen Markenzeichen dieser neuen Generation (vgl. Bodroghkozy). Elvis’ ungeheure Körperpräsenz löste aber auch die Diskussion um die sexuelle Darstellung für ein primär familienorientiertes Publikum aus. Trotz des Versuchs, seinen Sexappeal in Schach zu halten durch gediegene Kostümierung und zensierende Kameratechniken, die den Fokus von Elvis’ provokant rotierendem Becken ablenken sollten, war offensichtlich, dass für Moderatoren von Sendungen wie The Milton Berle Show, The Steve Allen Show und The Ed Sullivan Show eine neue Ära von Stars angebrochen war, die sich politisch mit der ikonischen Leitfigur John F. Kennedy fortsetzen sollte. Mit dem Einsatz des Mediums Fernsehen als politischer Bühne seit dem Wahlkampf von Dwight Eisenhower (vgl. Allen, Eisenhower) änderte sich grundsätzlich das Verhältnis von Politik und Öffentlichkeit: »The time span between General Eisenhower’s announcement that he was running for president and John Kennedy’s burial at Arlington Cemetery is the period of greatest change in the nature of the relationship between the chief executive and the American people, change that was a direct result of the new medium« (Watson, »Television and the Presidency« 205).

Die Fernsehübertragung von Eisenhowers Wahlkampf im Jahr 1952 legte den Grundstein für eine bis heute andauernde und mit dem Wahlkampf Barack Obamas von 2008 einen vorläufigen Höhepunkt erreichende Funktionalisierung des Fernsehens für politische Zwecke und öffentliche Meinungsbildung. Während Eisenhower sich noch widerwillig, aber dem dringlichen Vorschlag 262

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seiner Berater folgend dem Medium stellte und dafür ein umfassendes Coaching über sich ergehen ließ, zeichnete sich Kennedys Umgang mit dem Medium schon 1956 bei der Versammlung der Demokratischen Partei und dann endgültig bei der Präsidentschaftskampagne von 1960 als meisterlich aus. Die viertägige werbefreie TV-Übertragung im Anschluss an das tödliche Attentat auf Kennedy in Dallas, Texas, am 22. November 1963 markierte einen traurigen Höhepunkt seiner televisuellen Karriere, beschied der amerikanischen Nation aber auch die Möglichkeit kollektiver Trauer. Nach Kommunistenhetze, Werbeskandal und Rock’n’Roll-Fieber konsolidierte sich hier eine breite Öffentlichkeit und ließ kritische Gegenstimmen verstummen, die dem Fernsehen eine kulturvernichtende Funktion – von »wasteland« war die Rede – zuschrieben und Teil waren der »TV’s public relations crisis of the late 1950s« (Boddy, Fifties Television 214): »Television as a bond of American common culture reached its acme of cohesion during the early 1960s. The news, entertainment programs, and commercials of three networks permeated public perceptions and defined the popular American identity. Of all the shared experiences, the nearness to John Kennedy television provided to American citizens was the most encompassing. His campaign for the presidency, his administration, and his death constitute a discrete chapter in broadcast history – one in which the medium and American life had been transformed« (Watson, Expanding Vista 229).

4.4 Herrschaft der Networks und Konsensus-TV: 1964-1975 D REI -K ONZERNE -O LIGARCHIE , H ILLBILLY -H UMOR UND W OHNZIMMERKRIEG »The widescale introduction of color was perhaps the only noteworthy TV innovation of the 1960s.« (Marc and Thompson, Television 66)

Die turbulenten 1960er Jahre begannen in den USA wirklich erst, als durch die Ermordung Kennedys die ›lange‹ Dekade der 1950er Jahre ein abruptes Ende fand. Und ebenso währte dieses Jahrzehnt voll radikaler Veränderungen bis in die Mitte der nächsten Dekade hinein und fand seinen Abschluss mit dem Rückzug der Truppen aus Vietnam und dem Watergate-Skandal. In den Jahren dazwischen mobilisierten sich unter anderem die Bürgerrechts-, Frauen- und Anti-Vietnam-Protestbewegungen als Teil der sich gegen etablierte Institutionen wendende counterculture. So chaotisch diese Jahre hinsichtlich ihrer sozialen und politischen Umwälzungen waren, so stabil waren sie im Hinblick auf die Entwicklung des Fernsehens. Dies war vor allem der DreiKonzerne-Oligarchie zu verdanken. Im Jahre 1964 waren 93 Prozent der insgesamt 564 Fernsehstationen in den USA in den Händen von NBC (37%), CBS (34%) und ABC (22%) (Sterling und Kittross 834), und dies sollte sich auch im Wesentlichen bis Mitte der 1970er Jahre nicht ändern. Die drei Konzerne kontrollierten den Markt bezüglich Firmenkooperationen, Programmgestaltung und Werbekosten, wobei sich im Laufe der 1960er Jahre CBS un263

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ter Leitung von »poster boy« James Aubrey (Edgerton 244) deutlich in den Vordergrund spielte, besonders was die Nielsen-Ratings – das damals führende Messverfahren für Zuschauerzahlen, benannt nach dem Medienforscher Arthur C. Nielsen – betraf. James Aubreys Strategie sah vor, vor allem ein junges Publikum anzuvisieren und insgesamt ein Programm mit einer möglichst großen Breitenwirkung nach Maßgabe des geringsten gemeinsamen Nenners vorzustellen. Das Vorzeigeprogamm hierfür war die Comedy-Serie The Beverly Hillbillies (CBS, 1962-1971), eine der populärsten und erfolgreichsten Serien in der Geschichte des amerikanischen Fernsehens überhaupt und nach I Love Lucy ein neuer Höhepunkt in der Entwicklung der amerikanischen Sitcom. Die Serie erzählt die Erfolgsgeschichte der ärmlichen Familie Clampett aus der Ozark-Bergregion (daher das als Schimpfwort geläufige ›Hillbilly‹), die durch Glück und Unverstand zu Öl und Reichtum kommt, sich im illustren Beverly Hills in Kalifornien niederlässt und dort für allerlei Unfug und Unruhe sorgt. Trotz des zur peinlichen Blödelei neigenden Humors und des von etlichen Kritikern beklagten »public embarassment« angesichts »the nation’s having slipped another notch into pandering anti-intellectualism« (Cullum) zeichnete sich erst gegen Ende der 1960er Jahre ein Kurswechsel in der Programmgestaltung ab. Ein Grund für den Erfolg war sicherlich der in der Serie ausgetragene Kampf »between the homespun, right-minded [country] values of the Clampetts and a cutthroat, money-ruled technocracy, represented by the city people« (Marc, Demographic Vistas 56). Dieser Kulturkampf zwischen der ›gesunden, guten‹ Landbevölkerung und den ›korrumpierten, schlechten‹ Stadtbewohnern gestaltete sich als eine »consensus narrative«, die laut David Thorburn, auf einer Kommodifizierung und Kommunizierung von Überzeugungen beruhte, die von einer breiten Masse geteilt wurde.6 Das kommerzielle amerikanische Fernsehen sah daher eine Serie wie The Beverly Hillbillies als ein Produkt ›mit Botschaft‹, das sich auszeichnete durch eine »ambition or desire to speak for and to the whole of its culture, or as much of ›the whole‹ as the governing forces in society will allow« (Thorburn 167-168). Während also die gesellschaftspolitische Realität immer stärker die einer von mannigfachen Krisen gerüttelten und entzweiten Nation war, mag der Erfolg dieser »consensus narrative« dafür sprechen, dass die breite Bevölkerung diese Realitäten nur allzu gerne zu ignorieren und zu verdrängen gewillt war. Marc und Thompson sprechen daher auch von den »ruralcoms« als »cultural anaesthetic«: »By presenting a contemporary world devoid of the race riots, war crimes, and peace demonstrations of the 1960s, they functioned as a kind of passive-aggressive rebuttal to the evening news« (Marc und Thompson, Television 85). Der Wille der 6

Der damalige NBC-Programmchef Paul Klein nannte diese Philosophie die »least objectionable program (LOP) theory«, wonach Zuschauer stets dasjenige Programm auswählten, das bei ihnen auf den wenigsten Widerstand stieß. Angesichts der Tatsache, dass die drei Networks in den 1960er Jahren generisch und stilistisch ähnliche Programme hatten, zeugte dies vom Versuch, stets das breiteste Publikum zu gewinnen und spezielle Zuschauersegmentierungen zu vermeiden: »The prominence of the LOP theory during the 1960s among network executives had the result of making TV an extremely bland medium, emphatically devoid of social, intellectual, or artistic issues or contexts« (Marc und Thompson, Television 70).

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Nation zu einem Konsensus mag nicht verwundern, wenn man sich die diversen politischen, sozialen und kulturellen »Kriegsschauplätze« Ende der 1960er Jahre vergegenwärtigt, allen voran den Einsatz der US-Armee in Vietnam. Anders als in den fiktionalen TV-Genres, und hier besonders den Sitcoms, stand dieser Krieg im Zentrum einer zunehmend regierungskritischen Fernsehberichterstattung. Das Debakel des Vietnamkriegs war demnach eines, das im Fernsehen in den nicht fiktionalen Formaten dokumentiert und vom Fernsehkritiker des New Yorker, Michael Arlen, als »living-room war« bezeichnet wurde. Dieses prägende Epitheton verweist nicht nur darauf, dass es sich um den ersten Krieg handelte, dessen Berichterstattung vor allem über das Medium des Fernsehens geschah. Die Übertragungen setzten überdies gezielt auf den Schockeffekt, der beispielsweise durch die Dokumentation der Tet Offensive im Januar 1968 ausgelöst wurde. Diese militärische Invasion von Südvietnam, wo sich die amerikanischen Truppen befanden, brachte einen Wendepunkt im Kriegsgeschehen wie auch in der Wahrnehmung der amerikanischen Öffentlichkeit mit sich. Kriegsberichterstatter wie Walter Cronkite nahmen einen zunehmend kritischen Tonfall an, der von der amerikanischen Fernsehnation, die vom Wohnzimmer aus zusah, ebenso zunehmend geteilt wurde. David Halberstam bestätigt, dass es das erste Mal in der amerikanischen Geschichte war, dass ein Krieg durch einen Nachrichtensprecher – Cronkite in seinem Report from Vietnam: Who, What, When, Where, Why? vom Februar 1968 – als beendet bzw. gescheitert erklärt wurde. Präsident Lyndon Johnson soll gesagt haben, dass wenn er die Unterstützung von Walter Cronkite eingebüßt habe, dann habe er auch »Mr. Average Citizen« verloren (Halberstam, The Powers That Be, 514). Kurz darauf, im März 1968, verkündete Johnson, er werde bei den nächsten Präsidentschaftswahlen nicht mehr kandidieren. Wiewohl insgesamt Blut- und Gewaltszenen des Vietnamkriegs eher die Ausnahme blieben, so waren sie dennoch richtungsweisend für die Meinungsbildung der Öffentlichkeit. Auch die Nachrichtenübertragung der sich in kurzer Abfolge ereignenden Attentate auf Martin Luther King Jr. (April 1968) und Robert Kennedy (Juni 1968) sowie die gewaltsamen Straßenschlachten zwischen Polizei und Kriegsgegnern in Chicago (August 1968) standen alle im Zeichen einer ›Invasion‹ des Wohnzimmers als ›Heimatfront‹ durch die Gewalt der Realität.

Abb. 4: M*A*S*H (Larry Gelbart, Season 1, Episode 23 »Ceasefire«, CBS, 1973). 265

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Jenseits der Nachrichten tauchte Vietnam jedoch kaum in anderen, vor allem fiktionalen Fernsehformaten der Zeit auf. Mit der signifikanten Ausnahme der parodistischen Serie M*A*S*H (nach dem Film von Robert Altman, 1970, der den Koreakrieg thematisierte, aber auf Vietnam bezogen wurde), die auf CBS von 1972-1983 ausgestrahlt wurde, gab es erst ab 1980 eine Trendwende, eingeläutet durch die Serie Magnum. P.I. (CBS, 1980-1988). In dieser und anderen Serien wie The A-Team (NBC, 1983-1987) wurden Vietnamkriegsveteranen als fernsehtaugliche Helden gezeigt. Obwohl sie generell ein durch das Kriegstrauma induziertes Misstrauen gegenüber sozialen Institutionen zum Ausdruck brachten, vermittelten sie doch auch einen durch das Kriegserleben gestärkten Teamgeist (vgl. Braestrup; Anderegg). In der weiteren Vietnam-Aufarbeitungsgeschichte durch das Fernsehen sticht besonders die 13-teilige PBS-Dokumentation Vietnam: A Television History von 1983 sowie die Serie China Beach (ABC, 1988-1991) heraus. Bei letzterer wurde mittels einer komplexen Genremischung von Kriegsdrama, Krankenhausserie und Seifenoper das kollektive Gedächtnis aus der narrativen Perspektive der daheimgebliebenen Frauen aufgerufen. Die 1960er Jahre endeten mit publikumsträchtigen televisuellen Höhepunkten. Eine weltweite Zuschauerschaft von 528 Millionen Menschen wohnte der ersten bemannten Mondlandung am 20. Juli 1969 auf dem Fernsehbildschirm bei. Die drei Networks teilten sich die Übertragung und erzielten damit gemeinsam die höchste Einschaltquote seit Bestehen des Fernsehens. Die Mondlandung war aber natürlich jenseits des technologischen Erfolges auch ein politischer Erfolg der USA im Kampf um die letzte »frontier«, wie schon John F. Kennedy die Eroberung des Weltalls als Teil des Kalten Kriegs und Wettlaufens mit der Sowjetunion bezeichnet hatte. Dieser Erfolg wurde konterkariert durch die desaströse Einstellung des USVietnameinsatzes 1973 und der sich daran anschließenden Watergate-Affäre, die Präsident Nixon das Amt kosten sollte. Erstmals durften Kameras 1974 bei einer Debatte im Repräsentantenhaus filmen, hier bei der Verhandlung der Amtsenthebungsklage gegen Nixon, und niemals zuvor wurde eine Rede des scheidenden Präsidenten live vor 110 Millionen Zuschauer übertragen. Auch hier wechselten sich die drei ›Großen‹ in der Berichterstattung ab, und es sollte das letzte televisuelle Großereignis für diese oligarchische Medienherrschaft bleiben. 1964: D IE ›G EBURT ‹

DES

F ERNSEHFILMS

»The simple imperative of product differentiation, driven by a belief in the audience’s desire for novelty, decreed that the telefilm circa 1960 had to diversify. Innovation in this environment was borne of industry pressures and desperation, […] and, on occasion, originality and creativity.« (Alvey, »Independents« 154)

1961 wurde eine Trendwende eingeläutet, die ab 1964 zu einem neuen Programmschwerpunkt wurde: der Film im Fernsehen. Zunächst begann die NBC mit einer neuen Abendserie, Saturday Night at the Movies, die großen Hollywood-Filme der 1950er Jahre auf den häuslichen Bildschirm zu brin266

Das amerikanische Fernsehen

gen. ABC zog schon ein Jahr später, 1962, mit ABC Sunday Night at the Movies und CBS 1965 mit CBS Thursday Night Movies nach. Der Konkurrenzkampf zwischen den drei ›Großen‹ führte einerseits zu immer höheren Ausleihgebühren für die Filme, andererseits aber auch zu einem allmählich versiegenden Markt: es waren schlicht nicht genügend Filme für die steigende Nachfrage in Reserve. Diese missliche Lage wiederum führte zu einer besonders durch die NBC betriebenen systematischen Entwicklung des speziell für das Fernsehen produzierten Films, was eine ungeahnte Popularitätswelle auslöste und in den 1970er Jahren dann bei allen drei Networks in großem Umfang reüssierte. Der Fernsehfilm löste damit die Beliebtheit des Hollywood-Films fürs Fernsehen ab und zählte neben den Sitcoms und den Krimiserien zu den beliebtesten Fernsehgenres der Zeit. Der Erfolg der wöchentlichen 90-minutigen Westernserie The Virginian (NBC, 1962-1971), die auf Owen Wisters genreprägenden Roman von 1902 zurückging, zeigte bereits, dass starkes Interesse an einem Langformat für das Fernsehen bestand. Der Plan, »minimovies« speziell für das Fernsehen zu drehen, entwickelte sich daraus und wurde 1964 mit der Ausstrahlung des Krimimelodramas See How They Run (NBC, David Lowell Rich) und des Neonoir-Films The Hanged Man (NBC, unter der Regie von Don Siegel als Remake des Spielfilms Ride the Pink Horse von Robert Montgomery, 1947) verwirklicht. Das Erfolgsrezept beruhte auf verschiedenen Faktoren, die hier ineinandergriffen. Die zunehmend als mit Sexualität und Gewalt gespickt wahrgenommenen Hollywood-Filme boten dem Fernsehfilm die Möglichkeit, ein moderateres, familienfreundlicheres Gegenmodell zu entwickeln. Außerdem waren die Kosten durch schnellere Produktion und geringeren Staraufwand weitaus niedriger als beim Leinwandspielfilm (vgl. Kapitel 3.5). Gleichzeitig entwarfen alle drei Networks für das kaufentscheidende weibliche Zielpublikum zwischen 18 und 49 ein Programmkonzept, das durchaus aktuelle und brisante Themen wie Drogenmissbrauch, ungewollte Schwangerschaft, Rassenkonflikte, Homosexualität und Vietnamheimkehrer aufgriff. Einschlägige Beispiele hierfür sind der erste größere Erfolg bei den Kritikern und der erste Fernsehfilm mit Emmy-Auszeichnungen, My Sweet Charlie (NBC, 1970, Lamont Johnson) sowie The Ballad of Andy Crocker, That Certain Summer und Go Ask Alice. My Sweet Charlie ist ein soziales Melodrama mit zwei Hauptdarstellern, die in typischer Manier für dieses Genre das gesamte Geschehen bestimmen. Zwei aktuelle Themen werden aufgegriffen: ein junges weißes, ungebildetes und unverheiratetes Mädchen der Unterschicht (Patty Duke) wird von Vater und Freund verstoßen, weil sie schwanger ist; und ein schwarzer radikaler und mittelständiger Rechtsanwalt (Al Freeman Jr.) muss untertauchen, weil er bei einer Bürgerrechtsdemonstration einen weißen Mann aus Notwehr getötet hat. Die beiden treffen in einem verlassenen Haus aufeinander und müssen erkennen, dass ihr Überleben nur möglich ist, wenn sie ihre jeweiligen rassistischen Vorurteile bekämpfen und Freundschaft, die später sogar zur platonischen Liebe wird, schließen. In The Ballad of Andy Crocker (ABC, 1969, George McCowan) muss ein Vietnam-Veteran (Lee Majors) erkennen, dass seine Freundin während seines Kriegseinsatzes einen anderen geheiratet hat, dass überdies sein Betrieb ruiniert ist und seine alten Freunde verschwunden sind. Dieser Film – Teil der 1969 inaugurierten und überaus erfolgreichen ABC-Programmserie Movie of 267

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the Week – war einer der ersten, der dieses Thema aufgriff, ebenso wie That Certain Summer (NBC, 1972, Lamon Johnson) der erste Fernsehfilm war, der Homosexualität nicht in karikierender oder pejorativer Art thematisierte. Er handelt von einem Teenager, der mit dem Geheimnis der Homosexualität seines geschiedenen Vaters (Hal Halbrook) und dessen neuen Lebenspartner konfrontiert wird. Go Ask Alice (ABC, 1973, John Korty, nach einem anonym veröffentlichten angeblichen Tatsachenbericht, der zeitweise indiziert war) wiederum erzählt die Geschichte eines 14-jährigen Mädchens, das in einen Strudel von Sex und Drogen gerät und schließlich professionelle Hilfe sucht. Alle diese Filme zeigen wenig Handlung und konzentrieren sich stattdessen auf Charakterstudien und die Intimität persönlicher Interaktion. Außerdem legten sie den Grundstein für eine völlig neue Generation von Fernsehstars jenseits von Hollywood. Der durchschlagende Erfolg des neuen Genres Fernsehfilm inspirierte die Programmgestalter, besonders die Möglichkeiten des aktuellen Zeitgeschehens nicht nur fiktional, sondern auch dokumentarisch umzusetzen: »Between 1971 and 1973, the Movie of the Week’s most significant contribution to the TV movie genre was converting the topicality of the new telefeature into the factbased formula of the docudrama. […] The higher the concept, the better the chance of earning bigger ratings and shares because there is ›no word of mouth‹ for a TV movie« (Edgerton 258).

Da der Telefilm generell nur einmal ausgestrahlt wurde, war es umso wichtiger, eine ›starke‹, werbewirksame Geschichte zu haben. Das erste Dokudrama der ABC hatte ein solches Thema: die interethnische Freundschaft zweier professioneller Footballspieler, Brian Piccolo (James Caan) und Gale Sayers (Billy Dee Williams). Das preisgekrönte Dokudrama, Brian’s Song (Buzz Kulik), basiert auf den Memoiren von Gale Sayers und wurde 1971 gesendet. An diesem Beispiel zeigt Edgerton allerdings die Einschränkungen, die dem Genre trotz seiner Aktualität und Brisanz anhafteten: »This scenario is ›based on a true story,‹ meaning that it promises to be an accurate retelling of a historical, socially significant, or controversial tale, but, unfortunately, Brian’s Song neutralizes the latter criterion by characterizing the racial interaction between Sayers and Piccolo without any of its ›real life‹ rough edges« (259).

Und die Inszenierung des langsamen Krebstodes von Piccolo gerate gar zu einem »disease of the week«-Melodrama, »complete with bedside goodbyes and an excess of tears and sentiment« (Edgerton 259). Janet Staiger betont daher auch, dass es sich bei solchen Produktionen um »non-fictional drama« handle, denn es inkorporiere die standardisierten dramaturgischen Konventionen von Film und Fernsehen auch für die Repräsentation von Zeitgeschichte, vor allem den Anspruch der emotionalen Beteiligung der Zuschauer: »Thus, the docudrama is a mode of representation that, as its name reflects, combines categories usually perceived as separate: documentary and drama« (Staiger). Weitere und spätere Beispiele hierfür sind The Burning Bed (1984) über häusliche Gewalt, The Karen Carpenter Story (1989) über Magersucht, Roe vs. Wade (1989) über die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs zur Legalisierung von Abtreibung, oder Everybody’s Baby: The Rescue of Jessi268

Das amerikanische Fernsehen

ca McClure (1989) über die Rettung eines Säuglings aus einem Brunnen (vgl. Rapping, The Movie of the Week; Goodwin). Gerade den Telefilmen und Dokudramen ist es jedoch zu verdanken, dass hier Aspekte des amerikanischen Lebens auf den Kleinbildschirm gebracht wurden, die sonst nicht zu sehen waren. Im Unterschied zum Serienformat von Sitcoms beispielsweise begünstigte die Singularität jedes einzelnen Fernsehfilms, dass hier mutiger und progressiver Programm gestaltet wurde: »In hindsight, the greatest contribution made by the television movie was the influence it had on closing the almost schizophrenic gap between the topicality of TV news and the escapist nature of most entertainment programming throughout the 1960s« (Edgerton 260). S CHWARZE R EPRÄSENTANTEN

IM WEISSEN

F ERNSEHEN

»[…] the imaginary world presented by fictional television in the middle decades of the twentieth century was one of black invisibility structured by the logic of color blindness and driven by the discourse of assimilation.« (Gray, »Remembering« 350)

Abgesehen von einigen, wenngleich signifikanten Ausnahmen im Genre der ethnischen Sitcom ist die Geschichte des amerikanischen Fernsehens durch eine lang anhaltende Absenz von Afroamerikanern und anderen ›nichtweißen‹ Gruppen geprägt, woran sich der prinzipiell konservative Charakter des Fernsehens als Institution und Industrie nicht nur in den 1950er Jahren, sondern besonders auch in der Zeit der Drei-Konzerne-Oligarchie ablesen lässt. Trotz der gesellschaftlichen Umbrüche, die die 1960er Jahre in den USA bestimmten, zeigten sich diese z. T. radikalen Mentalitätsänderungen kaum im Fernsehen, vor allem was die Präsenz von Schwarzen auf dem Bildschirm und in den beliebten Sitcoms, also dem Unterhaltungssektor der Fernsehens, betraf. Abgesehen von der Ed Sullivan Show als einziger Abendsendung, wo seit den 1950er Jahren regelmäßig schwarze Künstler wie Ella Fitzgerald, Nat King Cole,7 Eartha Kid und Fats Domino oder Sportler wie Sugar Ray Robinson, Willie Mays und Wilt Chamberlain auftraten, bildeten lediglich die Nachrichtensendungen oder zuweilen dokumentarisch ausgerichtete Beiträge eine Ausnahme. Ein historisches Schlüsselereignis war Martin Luther King Jr.’s berühmte Rede »I Have a Dream« vom 28. August 1963 in Washington, die von der CBS live an die ganze Nation übertragen wurde. Fernsehnachrichtenprogramme wie die CBS Evening News berichteten von den Ereignissen des »Freedom Summer« von 1964, der gekennzeichnet war vom Mord an weißen und schwarzen Bürgerrechtskämpfern. Besonders durch die Reportagen über den Tod von weißen Aktivisten übernahm das Fernsehen hier einmal mehr eine aufklärerische Funktion, indem es die Zuschauer davon überzeugte, dass die Bürgerrechtsbewegung alle Bürger, nicht nur die Schwarzen 7

Die Nat »King« Cole Show war 1956 der Versuch der NBC, eine ›schwarze‹ Sendung zu implementieren. Sie musste aber mangels Sponsoren nach einem Jahr wieder abgesetzt werden, obwohl es nicht an Prominenz fehlte, die in der Show auftrat. Zur Repräsentation von Schwarzen im Fernsehen vgl. Bogel; Gray, Watching Race; MacDonald, Blacks and White TV; Torres.

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unter ihnen betraf (Everett). Und dennoch blieben das Ausnahmen, generell galt: »What was consistently projected without public fanfare but in teeming myriads of programs, scenes, news priorities, sportscasts, old movies, ads, was the naturalness and normalcy of social whiteness« (Downing). Lediglich die erfolgreiche Radiokomödienserie Amos ’n’ Andy, die vom Alltag der Afroamerikaner handelte, aber ursprünglich von zwei weißen Männern gesprochen wurde, die einen schwarzen Dialekt in einer Art von auditivem »blackface« imitierten, und in verschiedenen Formaten von 1928 bis 1960 gesendet wurde, schaffte 1951 den Sprung ins Fernsehen mit einer komplett schwarzen Besetzung (CBS, 1951-1953). Die Beschwerden der weißen wie schwarzen Bevölkerung, wenngleich aus ganz unterschiedlichen Gründen, waren allerdings derart massiv, dass die Serie bald abgesetzt werden musste. Sie blieb ein einmaliges Ereignis bis zur Besetzung der Agentenserie I Spy (NBC, 1965-1968) mit Bill Cosby, der an der Seite von Robert Culp zur Kultfigur avancierte, mehrmals den Emmy-Award erhielt und später mit seiner eigenen The Cosby Show (NBC, 1984-1992) reüssierte. Bill Cosby stellt in der Fernsehgeschichte insofern eine Ausnahmeerscheinung dar, als er einer der wenigen schwarzen Komiker mit eigenen Shows war, der auch als Produzent, Autor und Filmschauspieler und somit als Trendsetter Erfolg verbuchen durfte. Obwohl es in I Spy noch kaum Anspielungen auf seine Hautfarbe gab, begann Cosby bereits in der Rolle als Sportlehrer Chet Kincaid an einer städtischen integrierten High School in seiner ersten Soloserie The Bill Cosby Show (NBC, 1969-1971) einen Typus des Afroamerikaners zu kreiieren, der zuvor auf dem Bildschirm nicht zu sehen gewesen war. Er war weder ein bemitleidenswertes Opfer sozialer Ungerechtigkeit noch ein militanter Bürgerrechtler, sondern ein ›normaler‹ Schwarzer inmitten eines afroamerikanisch geprägten Umfelds. Von der Titelmusik von Quincy Jones (gesungen von Cosby selbst) über Fotos von Martin Luther King und Bilder des Künstlers Charles White an den Wänden seiner Wohnung bis hin zur Arbeit mit benachteiligten schwarzen Kindern und dem Verzehr von ›soul food‹ im schwarzen Restaurant: Kincaid wurde als Freund, Kollege, Lehrer, Mentor und Mitglied einer black community gezeigt. Obwohl die Serie sich nur zwei Staffeln halten konnte, zeigte sie einige wichtige Neuerungen. Anders als die meisten anderen Sitcoms der Zeit verzichtete sie beispielsweise auf den »laugh track«, das eingespielte Gelächter eines fingierten Publikums, und markierte damit, dass es sich nicht um eine Komödienform handelte, bei der lauthals gelacht werden sollte. Der moderate Humor wurde stattdessen eingesetzt, um in der für seine spätere Cosby Show perfektionierten typischen Manier ›Lebensweisheiten‹ auf lehrreiche, aber amüsante Art zu vermitteln. Die gemischtethnische Buddy-Konstellation aus I Spy wiederum sollte sich besonders erfolgreich mit dem Duo Don Johnson und Philip Michael Thomas in Miami Vice (NBC, 1984-1990) wiederholen, zuvor gab es außerdem noch die von Aaron Spelling produzierte Serie The Mod Squad (ABC, 1968-1973) über drei Hippie-Polizisten, »one black, one white, one blonde« (Clarence Williams III, Michael Cole, Peggy Lipton), wie der Werbeslogan lautete und wodurch auf die Nähe des coolen Dreierteams zu ihren counterculture-Kriminellen angespielt wurde. Wirklich durchschlagenden televisuellen Erfolg für die black community gab es erstmals 1977 mit der Miniserie Roots (ABC, nach dem Roman von Alex Haley), der bis zu 140 270

Das amerikanische Fernsehen

Millionen Zuschauer beiwohnten. Mit der Serie wurde erstmals eine breite Fernsehöffentlichkeit mit der Brutalität der Sklaverei als Teil der amerikanischen Geschichte konfrontiert. 1971: N EUES PUBLIKUM ,

NEUES

P ROGRAMM

»How will you make it on your own? The world out there is awfully big, and girl this time you’re all alone.« (Titellied von The Mary Tyler Moore Show, zit. in Dow, »How Will You Make It« 379)

Die 1970er Jahre begannen mit einer Neuorientierung des Fernsehens. Vor allem die CBS erwies sich schnell als führend, was eine neue Publikumsausrichtung und Programmgestaltung betraf. Jüngere, städtische und kaufkräftige Zuschauer sollten mit neuen Sendungen versorgt und gelockt werden, Evergreens und alte Hits wie The Ed Sullivan Show und The Beverly Hillbillies mussten trotz anhaltend guter Quoten in Ruhestand gehen (beide wurden 1971 abgesetzt). Zwei neue Sitcoms standen für diese frische Ausrichtung und bestimmten gemeinsam auf Jahre das Samstagabendprogramm: All in the Family und The Mary Tyler Moore Show. All in the Family (CBS, 1971-1983) erwies sich nach einem verhaltenen Start als eine der erfolgreichsten und einflussreichsten Sitcoms der amerikanischen Fernsehgeschichte überhaupt. Mit ihr begann eine neue Ära, in der man im Serienformat nicht mehr vor kontroversen und sozial relevanten Themen wie Vietnam, Frauenrechte, Homosexualität, Impotenz, Vergewaltigung, Wechseljahre oder Alkoholismus zurückscheute. Die Hauptfigur, der Familienpatriarch Archie Bunker (Carroll O’Connor), ist ein bigotter, rassistischer Hafenarbeiter aus Queens, New York, der im ständigen Clinch mit seinem liberalen und aufgeschlossenen, polnisch-amerikanischen Schwiegersohn, dem Collegestudenten Mike alias Meathead (Rob Reiner), liegt. Während Archie für eine konservative, intolerante Haltung steht, bemüht sich Mike stets um die Belange von Minoritäten und sozial Benachteiligten. Archies bösartige Schimpfreden und sein flegelhaftes Sozialverhalten, aber auch Mikes Liberalismus sowie sein offenkundig aktives Sexleben mit Archies Tochter führten zu öffentlichen Debatten darüber, was diesem Format adäquat sei. Archie wurde – trotz seiner ideologischen Verblendung – zu einer Fernsehikone und brachte der Serie nicht nur zahlreiche Preise, sondern erzielte auch anhaltende Wirkungen auf viele andere Serien. In ähnlicher Weise wandten sie sich einer neuen Generation von Zuschauern zu, die nicht mehr nur leichte Unterhaltung, sondern durchaus auch brisante Aktualität wünschten (darunter als ›spin off‹ Maude mit Beatrice Arthur, CBS 1972-1978). The Mary Tyler Moore Show (CBS, 1970-1977) erlangte ebenfalls Kultstatus, allerdings mit einem ganz anderen Konzept. Entgegen früheren Ausprägungen der Sitcom wurden hier keine fixen Schablonencharaktere und schematisch narrative Vorhersehbarkeit eingesetzt, sondern komplexe Figuren in einem ebenso vielschichtigen Handlungs- und Beziehungsgefüge. Die Ausgangssituation zeigt die Hauptfigur Mary Tyler Moore alias Mary Richards als eine berufstätige alleinstehende Frau in den Dreißigern, die nicht auf Männersuche, sondern auf Karrierekurs ist. Zuvor hat sie mit einem Mann zusammengelebt, dem sie das Medizinstudium finanzierte und der sich 271

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dann von ihr trennte, woraufhin sie die Stadt wechselt und nach Minneapolis zieht, um dort ihren eigenen Weg zu gehen. Ihre private und berufliche Karriere als unabhängige Frau führt sie in die Nachrichtenabteilung eines fiktiven Fernsehsenders und in das Umfeld etlicher neuer Freunde und Kollegen, mit denen sie bald eine Art ›Arbeitsplatzfamilie‹ bildet und deren Verhältnis zueinander sich ständig ändert und neu definiert wird. So vollzieht beispielsweise ihr Vorgesetzter Lou im Zuge seiner Scheidung als nun alleinstehender Mann mittleren Alters eine völlige Persönlichkeitswandlung und wird später zur Hauptfigur einer eigenen ›spin-off‹-Serie Lou Grant (CBS, 1977-1982). Nach den gesellschaftlichen Erfolgen der Frauenbewegung, des second wave feminism, wurde nun auch im Fernsehen erstmals feministisches Neuland betreten. Die Serie brach in der Darstellung von Frauen mit bisherigen TV-Konventionen und war damit wegweisend für den »1970s Lifestyle Feminism« (Dow, Prime-Time Feminism 24-58). Eine Frau wie Mary Richards brauchte keinen Mann, um glücklich zu sein, was sie aber nicht hinderte, mit Männern auszugehen. Wie Archie wurde auch Mary zu einer Ikone und diente als Vorbild für spätere Serien wie Ally McBeal und Sex and the City, wobei Mary Tyler Moore jenseits der Serie gemeinsam mit ihrem Ehemann auch überaus erfolgreich als Produzentin u. a. von Hill Street Blues und L.A. Law war. Die Produktionsfirma der beiden, MTM Productions, stand für ein gehobenes TV-Unterhaltungssegment, das später als »quality television« bezeichnet wurde. Mit diesen und ähnlichen Serien auch bei NBC (z. B. Sanford and Son über einen afro-amerikanischen Trödelhändler und dessen Sohn, 1972-1977; oder die im mexikanisch-amerikanischen Barrio von Los Angeles spielende Serie Chico and the Man, 1974-1978) und ABC (z. B. die multikulturelle Polizeiserie Barney Miller, 1975-1982) erreichte die Network-Oligarchie 1975 ihren Höhepunkt mit zusammen über 90 Prozent der Marktanteile im Prime-Time Sektor. Eine Firma wie die MTM Productions war bereits ein Vorbote für die radikal entgegengesetzte Philosophie, die das nächste Jahrzehnt dem Fernsehmarkt bescherte: die »broadcasters« verwandelten sich in »narrowcasters« (Edgerton 278), und damit gewann eine auf Nischen orientierte Fernsehprogrammgestaltung die Oberhand.

4.5 Neuerfindung: Glamour, Videoästhetik, Publikumserweiterung, 1976-1994 S ATELLITEN -

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»Television! Teacher, mother, secret lover!« (Homer Simpson, zit. in Wasko 11)

Die Wende zum Nischen-Fernsehen, die sich Mitte der 1970er Jahre vollzog, wurde vorbereitet und eingeleitet durch gesetzliche Bestimmungen und ihre Auswirkungen auf die Programmgestaltung. Bereits 1967 trat der Public Broadcasting Act in Kraft, der dem nicht kommerziellen Fernsehen (und Radio) den Weg ebnete. Hier sollten Nischen gefüllt werden mit Kindererziehungsprogrammen, Heimwerker- und Kochsendungen, Dokumentationen und anspruchsvollen Dramen. Und so ging 1969 die Sesame Street auf Sen272

Das amerikanische Fernsehen

dung, produziert vom Children’s Television Workshop (CTW) und ausgestrahlt vom Public Broadcasting Service (PBS, umbenannt vom National Education Television); in The French Chef wurde mit Julia Child ab 1970 gekocht; und nach ihrem sensationellen Debüt während der WatergateAnhörungen der Regierung im Jahr 1973 für PBS bekamen die Nachrichtensprecher Robert MacNeil und Jim Lehrer die Sendung The Robert MacNeil Report ab 1975 (später umbenannt in PBS NewsHour). Darüber hinaus veröffentlichte die FCC ihren über mehr als eine Dekade recherchierten Report and Order on Network Television Broadcasting im Jahr 1970. Vor allem die daraus resultierende »Financial Interest and Syndication Rule« (Fin-Syn) limitierte die Menge an Programmen, die CBS, NBC und ABC produzieren und – auch im Ausland – vertreiben konnten und ermöglichte im Gegenzug neuen unabhängigen Produktionsfirmen den Zugang zur Fernsehindustrie. Neben Nachrichtenprogrammen war es vor allem der Sport, der das amerikanische Fernsehpublikum für nationale und internationale Ereignisse begeistern konnte. ABC machte sich mit Wide World of Sports besonders darum verdient, das Showbusiness in das Sportfernsehen zu bringen und damit das Seherleben der Sportzuschauer zu verändern und auch zunehmend weibliche Zuschauer einzubinden. Nicht nur war die Kamera- und Tontechnik mobil und innovativ, auch der erstmalige Einsatz des Atlantiksatelliten machte es möglich, Sport live von überall zu übertragen, so die Olympischen Spiele 1976 von Innsbruck und Montreal. Immer bedeutsamer wurde, das Publikum nicht nur zu informieren, sondern emotional einzubinden, beispielsweise durch die Zelebrierung von Starpersönlichkeiten wie die amerikanische Olympiasiegerin im Eiskunstlauf Dorothy Hamill. Im Zuge steigender Konkurrenz des Kabelfernsehens initiierten NBC, CBS und ABC jeweils eigene Werbe- und Marketingstrategien, die eine treue Zuschauerschaft an sie binden sollten und die später als Branding bezeichnet wurden. ABC nutzte den Marktvorteil der Olympiaerfolge, um sich »the network of the Olympics« zu nennen. NBC hieß »the network of America«, und CBS brüstete sich mit der höchsten Attraktivität, »to catch the brightest stars« (Edgerton 290). Die Zeit der drei Großen näherte sich jedoch trotz des fulminanten Erfolges vor allem der ABC ihrem Ende. 1985 wurde ABC an Capital Cities Communication verkauft, im selben Jahr wurde NBC von General Electric übernommen, und obwohl sich CBS einer feindlichen Übernahme durch das Turner Broadcasting System (zu dem das Cable News Network CNN zählt)8 entziehen konnte, erholte sich auch dieses letzte Netzwerk nicht mehr gänzlich. Die stetig steigenden Zuschauerzahlen und Fernsehhaushalte (von über 70 Millionen Haushalten 1976 auf 93 Millionen bzw. 98 Prozent im Jahr 1991) gingen einher mit einer Vervielfachung der empfangenen Fernsehsen8

Zur Erfolgsgeschichte von Ted Turners Kabelfernsehimperium, zu dem auch TNT (Turner Network Television) und TCM (Turner Classic Movies) zählen, vgl. Reeves und Epstein. Einen besonderen Coup landete Turner mit der nonstop Live-Übertragung des Golfkriegs auf CNN: »In 1991, as the only TV network in the world operating live from the very beginning of Operation Desert Storm, CNN reported everything the military permitted – from the first bombing of Baghdad to the tank blitz that ended the conflict. […] Ted Turner had forever changed the history of television news with his innovation of CNN« (Gomery, »Cable News Network«). Zum Golfkrieg aus bildtheoretischer Perspektive vgl. Mitchell.

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der von knapp 8 Kanälen 1976 auf 33 Kanäle im Jahr 1990 und über 60 Kanäle zehn Jahre später (Sterling und Kittros, Stay Tuned 864, 868). Die Zuschauer konnten – und wollten – wählen, und das brach die Herrschaft der drei Großen. Zunehmend gewann das Kabel- und Satellitenfernsehen an Einfluss, allen voran der 1972 gegründete und bereits ein Jahr später mit vollem Programm verfügbare Satellitenkabeldienst Home Box Office (HBO). Was war so neu und revolutionär bei HBO? Nach drei Jahren des Experimentierens mit Mikrowellenübertragung sendete HBO 1975 die Boxmeisterschaft im Schwergewicht zwischen Muhammad Ali und Joe Frazier aus Manila via Satellit. Der phänomenale Erfolg führte zu einer regelmäßigen Übertragung des Programms auf diesem Weg. Mit rapide steigenden Subskribentenzahlen wurde HBO nicht nur zu einem profitablen Netzwerk, sondern auch zu einem Vorbild für andere Kabelkanäle wie Showtime (ab 1976), CBN (Christian Broadcasting Network ab 1977), USA Network (ab 1977), den Kinderkanal Nickelodeon (ab 1979), CNN (Cable News Network ab 1980), BET (Black Entertainment Television ab 1980) und MTV (ab 1981). Fernsehkritiker sprechen seit der Etablierung von HBO und den damit verknüpften ästhetischen Veränderungen vom »HBO Effekt« als Kennzeichen der Ära des quality tv: »Home Box Office has continually attempted to redefine television as we know it, gaining a reputation for offering high quality original programming […]. In recent times, HBO’s influence has reached across the television landscape. Other networks have begun to imitate the formula in terms of style and content, the ›HBO effect,‹ if you want« (Leverette et al. 1).

Das Zeitalter des Kabel- und Satellitenfernsehens war Ende der 1980er Jahre in vollem Schwung, als die alten drei großen Netzwerke 1986 noch einmal neue Konkurrenz mit der Gründung eines vierten großen Networks bekamen: Fox Broadcasting Company. Statt die Etablierten durch Konkurrenzsendungen in Bedrängnis zu bringen, stärkte es durch diverse alternative Strategien seine Marktposition, vor allem durch zielgerichtete Unterhaltungsprogramme für ein junges, urbanes und multikulturelles Publikum. Nicht nur konnten die Rechte für die Übertragung der National Football League erstanden werden; gerade die neuen Serien wie 21 Jump Street (1987-1991, mit Johnny Depp), In Living Color (1990-1994, mit Jamie Foxx), Beverly Hills 90210 (19902000, mit Jason Priestley) und vor allem die Zeichentrickserie The Simpsons (ab 1989) dienten bald als Aushängeschilder für Fox. »L ET ’ S BE CAREFUL OUT THERE «. P OLIZISTEN IN STILISTISCHER D IVERSITÄT : H ILL S TREET B LUES , C AGNEY & L ACEY , M IAMI V ICE Drei Polizeiserien prägten auf jeweils unterschiedliche Art die neue Dramaturgie und Ästhetik der 1980er Jahre: Hill Street Blues mit seinem generischen Mix aus Sitcom und Soap Opera inmitten hyperrealistischer Urbanität, Cagney and Lacey’s protofeministische Agenda sowie das postmoderne Styling der »MTV cops« von Miami Vice. Hill Street Blues (NBC, 1981-1987, produziert von Mary Tyler Moores MTM Enterprises) stand unter dem Einfluss der Ensemble-Polizeisitcom Barney Miller, hatte aber auch starke Vor274

Das amerikanische Fernsehen

bilder in anspruchsvollen Sitcoms à la M*A*S*H und The Mary Tyler Moore Show. Von ersterer übertrug die neue Polizeiserie das Setting eines Kriegsgebiets auf die urbane Zone des gegenwärtigen amerikanischen Großstadtmilieus und von letzterer das Prinzip des Arbeitsplatzes als erweiterte Familiekonstellation (vgl. Feuer et al.). Die Polizeistation »Hill Street« fungierte dabei als sicherer Hort inmitten einer hochkriminalisierten und durch Rassenkämpfe geplagten fiktionalen Industriemetropole. Die einzelnen Episoden verfolgten jeweils einen Tag im Leben der Polizisten, vom frühen Morgenappell, der stets mit der Formel endete »Let’s be careful out there«, bis zur spätnächtlichen Zusammenschau der Tageserlebnisse. Trotz der multinarrativen Ensembleformel blieb zentrale Figur immer der ›Patriarch‹ Captain Frank Furillo (Daniel Travanti), der neben seiner Funktion als Schaltfigur zwischen den Streifenpolizisten und der Bürokratie auch mit seinen persönlichen Problemen wie Alkoholismus, einer gescheiterten Ehe und der geheimen Affäre mit einer Strafverteidigerin zu kämpfen hatte, was zur melodramatischen Serienstruktur beitrug. Die Gemengelage aus Öffentlichem und Privatem, Episodischem und Seriellem, temporeicher Action und intimen Momenten, radikal dokumentarisch anmutenden Straßenszenen (mit improvisiert wirkender Handkameratechnik) und stilisierter Überhöhung der fürsorglichen Familienbande, all dies führte zwar nicht zum sofortigen großen Publikumserfolg, wohl aber zu Kritikerhymnen und zahlreichen Auszeichnungen. Der lang anhaltende Einfluss zeigt sich auch in späteren Serien wie NYPD Blue, Homicide: Life on the Streets oder Law and Order. Cagney and Lacey (CBS, 1982-1988) ist heute eine der am meisten diskutierten Serien der Fernsehgeschichte. Die Serie spiegelt in ihrer Fokussierung auf zwei weibliche Hauptfiguren nicht nur die zeitgenössische Diskussion über das problematische Verhältnis von stereotypen Frauendarstellungen im Fernsehen wider, sondern allgemeiner auch den Umgang des Mediums mit sozialkritischen und kulturell brisanten Themen. Ursprünglich sollte Cagney and Lacey ein Spielfilm sein, doch das Autorenteam Barbara Corday und Barbara Avedon konnte 1974 das Drehbuch weder bei Filmfirmen noch als Serie bei Fernsehproduktionen unterbringen. 1981 gab es schließlich einen Fernsehfilm, der durch seinen Überraschungserfolg in eine Serie übertragen wurde. Schon die schwierige Produktionsgeschichte ist Teil der Ausgrenzung, die Frauen traditionell als Autorinnen oder Produzentinnen erfuhren, besonders wenn es sich dabei noch um frauenzentrierte Projekte handelte. Julie D’Acci macht in ihrer Studie zur Serie deutlich, dass sich diese kulturelle Verhandlung über den gesamten Zeitraum der Ausstrahlung sowie auf allen Ebenen der Produktion, Repräsentation und Rezeption mit- und weiterverfolgen lässt – so beispielsweise in der Diskussion um die ursprüngliche Besetzung von Chris Cagney. In der ersten Staffel wurde diese Figur von Meg Foster gespielt, die aber aufgrund einer früheren Fernsehrolle als Lesbierin von den Programmchefs und Teilen der Öffentlichkeit als zu ›maskulin‹ und ›aggressiv‹ wahrgenommen wurde. Die Serie bekäme dadurch eine homosexuelle ›Färbung‹, so der Vorwurf. Durch Drohungen der CBS, die Serie ganz abzusetzen, musste die Rolle mit einer anderen, femininer und heterosexueller wirkenden Darstellerin, Sharon Gless, ersetzt werden. Ähnliche, wenn auch nicht immer derart sichtbare Konflikte bestimmen Handlung und Ästhetik der Serie, angefangen vom Styling der beiden Haupt275

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figuren (»the actresses and the characters they played were in their midthirties; both were from working-class backgrounds, and there was a distinct minimization of glamour in their clothing, hairstyles, and makeup«, D’Acci 6) bis hin zu den behandelten Themen wie Vergewaltigung, Inzest, Abtreibung oder Brustkrebs. Trotz niedriger Einschaltquoten konnte sich die Serie nicht zuletzt durch Ehrungen und Einschreiten der National Organization of Women vor der immer wieder geplanten Absetzung behaupten. Das Innovative der Serie bestand aus einer interessanten Mischung verschiedenster narrativer Strategien. Als primär kumulative Serie war jede einzelne Folge in sich abgeschlossen in ihrer Darstellung von Frauen in einer von Männern dominierten Arbeitswelt und Kriminalfällen, die mit sozialen Problemen korrelierten. Mit dem Abschluss der Fälle wurde immer auch der während der Folge entstandene Geschlechterkonflikt beigelegt. Es gab aber darüber hinaus narrative Langzeitstrategien, so die allmählich durch den Arbeitsstress zerfallende Familie und Ehe von Lacey und das zunehmende Alkoholproblem von Cagney. Die traditionelle cop show hat sich hier einerseits generisch konsequent weiterentwickelt, andererseits durch den feministischen Einfluss radikal verändert: »What is significant about the development is that it altered not only the series present and future, but its history as well, and simultaneously altered the ›triadic‹ structure of social issue, personal problem, and police drama« (Newcomb, »Cagney and Lacey«). Von den drei Polizeiserien, die die Fernsehlandschaft der 1980er Jahre veränderten, war die von Miami Vice (NBC, 1984-1989) getragene Neuerung von ganz anderer Natur. Die als »MTV cops« gefeierten Ermittler James ›Sonny‹ Crockett (Don Johnson) und Ricardo Tubbs (Philip Michael Thomas) galten bald als Kult in Sachen Lifestyle. Miami Vice zeigte eine völlig neue und sehr zeitgemäße Ästhetik durch die nahezu konstante Untermalung von Rock-, Pop- und Synthesizerklängen (Soundtrack von Jan Hammer), die wie permanente Musikvideoclips wirkte und sogar Musiker wie Phil Collins oder Sheena Easton in Nebenrollen auftreten ließ. Diese Videoästhetik war dem Musiksender MTV zu verdanken, der seit 1981 das Musikvideo im Fernsehen populär machte und dessen Reduktion auf ein standardisiertes Format von vier Minuten für das zunehmend konsumorientierte Verhalten Jugendlicher stand: »MTV reproduces a kind of decenteredness, often called ›postmodernist‹, that increasingly reflects young people’s condition in the advanced stage of highly developed, technological capitalism evident in America« (Kaplan, Rocking 5; vgl. auch Mundy; Lewis; McGrath). Während Lawrence Grossberg eine solche postmoderne Oberflächenästhetik für die Serie als »the perfect televisual image, minimalist (the sparse scenes, the constant long shots, etc.) yet concrete« (28) bezeichnet, betont Douglas Kellner die polysemische Komplexität der Serie: »Behind the high-tech glitz are multiple sites of meaning, multiple subject positions, and highly contradictory ideological problematics« (41). Neben den verführerisch pulsierenden Rhythmen von Miami Vice war auch die Inszenierung der Stadt Miami mit vielen Szenen an Originalschauplätzen von zentraler Bedeutung: die bunten Art Deco Gebäude, die multikulturelle Bevölkerung, das tropisch-karibische Flair mit Strand, Sonne und reichlich nackter Haut wurde in einer Weise in Szene gesetzt, die gleichzeitig einer postmodernen Pop-Ästhetik geschuldet war, aber auch die Kehrseite einer moralischen Korruption mit sich brachte: Drogenhandel, Prostitution, 276

Das amerikanische Fernsehen

mafiöse Glücksspielringe. Im Unterschied zu den anderen Serien waren hier die beiden Protagonisten durchaus selbst ›verführbar‹: Nicht so sehr die Lösung eines Falles stand im Vordergrund, sondern die teilweise ungeschickten, teilweise scheiternden und oftmals nicht ganz ›sauberen‹ Ermittlungsmethoden des gemischt-ethnischen Buddy-Duos. Zu gut kannten sich die beiden in der kriminellen Unterwelt aus, sodass die Grenzen zwischen Recht und Unrecht zeitweise unscharf wurden und ein ethisches Dilemma daraus entstehen konnte. Diese moralische Ambivalenz verknüpfte die Serie einerseits mit der Tradition des zynischen hard-boiled-Detektivromans à la Raymond Chandler oder Dashiell Hammett und der Ästhetik des Film Noir (vgl. Kapitel 3.4). Andererseits wurde die Serie zum anhaltenden Trendsetter in ihrer Repräsentation einer neuen, metrosexuellen Männlichkeit für Serien wie NYPD Blue mit ihrer ambivalenten Ethik oder Homicide mit ihrer experimentellen visuellen Ästhetik. R ACE

UND

C LASS

IN DER

S ITCOM : T HE C OSBY S HOW

UND

R OSEANNE

»Family or domestic sitcoms were perhaps the bedrock of broadcast television. They were what you grew up on, gently and amusingly teaching two important skills: how to watch television (media literacy); and how to live in families with tolerant mutual accommodation, talking not fighting (life skills).« (Hartley, »Situation Comedy« 79)

Die Sitcom der frühen 1980er Jahre galt als ein abklingendes Genre bis zu ihrer Erneuerung durch zwei Serien, die unterschiedlicher nicht sein konnten und doch beide überraschend den Puls der Zeit trafen: The Cosby Show und Roseanne.9 The Cosby Show (NBC, 1984-1992) war zwar zunächst ein Überraschungserfolg, muss aber wohl als die prägendste Sitcom der 1980er Jahre gelten. Mit den Alltagsproblemen einer schwarzen Familie der oberen Mittelschicht wurden Fragen nach ethnischer und Klassenzugehörigkeit plötzlich zu einem sichtbaren kontroversen Thema. Eine Familie wie die Huxtables im schicken Brooklyn brownstone-Haus gab es zuvor nicht im Fernsehen: Cliff (Bill Cosby) ist ein erfolgreicher Gynäkologe, seine Frau Clair eine angesehen Anwältin, die älteste Tochter von insgesamt fünf Kindern studiert in Princeton. Die minimalen Alltagsprobleme dieser glücklichen Vorzeigefamilie inmitten von Wohlstand und Bildung, dokumentiert auch durch zeitgenössische Kunst an den Wänden und Jazzmusik im Hintergrund, vollführte den Coup eines gezielten recoding herkömmlicher Darstellungen von Afroamerikanern im Fernsehen, wofür unter anderem auch ein schwarzer Psychologe zu Rate gezogen wurde. Statt gängiger schwarzer Stereotype wurde ein ganz ungewohnter Merkmalskatalog entworfen: »These qualities included: a strong father figure, a strong nuclear family, parents who were professionals;

9

Vgl. aber auch die Ausnahmeerscheinung The Golden Girls (NBC, 1985-1992), einer auch heute noch in ihren Wiederholungen international erfolgreichen Sitcom um das Leben von vier älteren Damen in Miami. Niemals zuvor wurde Weiblichkeit und Alter derart amüsant und ironisch auf den Bildschirm gebracht.

277

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affluence and fiscal responsibility; a strong emphasis on education; a multigenerational family; multiracial friends, and low-key racial pride« (Hunt).

Abb. 5: The Cosby Show (Ed Weinberger, Michael Leason, Bill Cosby, Season 1, »Pilot«, NBC, 1984). Darnell Hunt macht weiter darauf aufmerksam, dass die Serie durchaus auch Kritiker hatte, die die Huxtables als »white family in blackface« bezeichneten. Und angesichts von Präsident Reagans überragendem Wiederwahlerfolg, der mit dem Beginn der Serie zusammenfiel, wurde gar von »reformist conservatism« gesprochen im Hinblick auf die offenkundig wohlhabende und atypische Familie gemessen am real herrschenden Standard sozialer Ungleichheit in dieser Ära (zit. in Hunt). Sogar von einer Art Verschwörung oder einem Bündnis mit dem weißen Publikum war die Rede (vgl. Fuller; Havens). Sut Jhally und Justin Lewis bestreiten dies keinesfalls, erkennen darin aber ein prinzipielles Dilemma des amerikanischen Fernsehens: »Americans, whether black or white, do not want to see working class black people play a part in television’s stories or to see those stories deal with problems of crime, poverty, joblessness, broken families, or drug addiction. The only black people they will invite into their homes regularly are people like the Huxtables. […] To challenge and try to change those prejudices would result in financial failure within the present arrangements of American commercial television« (144).

Roseanne (ABC, 1988-1995) schlug im Vergleich zur Cosby Show einen diametral entgegengesetzten Kurs ein. Zentrum der Familie ist hier kein fürsorgender, liebevoller Vater, sondern die selbsternannte »domestic goddess« Roseanne Conner (gespielt von Roseanne Barr Arnold), eine Bezeichnung, die nur ironisch gemeint sein kann. Roseanne ist die eher schmuddelige, übergewichtige Matriarchin einer Familie im Arbeitermilieu, die mit ihrem derben Humor und rüden Benehmen in ständigem Konfrontationskurs mit ihrer Umwelt steht. Gerade im Humor zeigt sich das Erbe Roseannes als eine der wenigen weiblichen Stand Up-Komödiantinnen. Die meisten Witze gehen auf das Konto der Hauptdarstellerin: die erweiterte Familie mit Ehemann, drei Kindern (1995 sogar noch ein weiteres, was durchaus als Tabubruch angesichts des fortgeschrittenen Alters der Eheleute gedeutet werden kann), Roseannes Schwester sowie den Partnern der Töchter, aber auch Ro278

Das amerikanische Fernsehen

seanne selbst sind Zielscheibe ihres beißenden Sarkasmus. Die Connors sind ständig in Geldnöten, wechseln häufig die Arbeitsstellen und -tätigkeiten und haben fortwährende Beziehungsprobleme, die nicht selten auch handgreifliche Ausmaße annehmen können. Trotz der brachialen Art, in der Roseanne über ihre Familie herrscht, gibt es doch immer wieder Kippmomente der Intimität und Zuneigung, aus denen Roseanne als zwar widerspenstige, aber doch auch liebenswerte Mutter und Ehefrau hervorgeht. Kathleen Rowe hat diese Art der Sitcom auch die Komödie der »unruly woman« genannt, eine Genealogie, die sich auf I Love Lucy zurückbeziehen und bis zu Figuren wie Grace und Karen in Will and Grace (NBC, 19882006) sowie Dharma in Dharma and Greg (ABC, 1997-2002) weiterverfolgen lässt. Die »unruly woman« ist eine widerspenstige Frau, die durchaus Merkmale des Grotesken hat, dabei einerseits durch den starken Fokus auf den unbändigen weiblichen Körper (dies kann Figur, Stimme, Kleidung oder Habitus sein), andererseits aber durch das exzessive Brechen von sozialen Schranken gekennzeichnet ist. Im Unterschied zum filmischen Genre der romantischen Komödie, die normalerweise um Liebeswerben kreist und in der Glücksheirat endet, hat diese Form der Sitcom nicht nur ein offenes Ende, sondern sie taucht tief in den Ehe- und Familienalltag nach der Hochzeit ein: »the unruly woman became anchored in the family like television itself, no longer a bride but a wife, a mother, a matriarch« (Rowe 80). Die Serie Roseanne war zudem notorisch bekannt für Skandale vor und hinter den Kulissen. Während auf dem Bildschirm Masturbation, Verhütung, Drogen, Homosexualität (inklusive eines ›lesbischen‹ Kusses von Roseanne) oder Roseannes Gewichtsprobleme bzw. ihre diversen operativen Eingriffe diskutiert wurden, war Roseanne auch als Produzentin, Regisseurin und Autorin immer wieder in den Schlagzeilen, besonders wenn es um die Kontrolle über die Serie ging, für die sie den Weg an die Öffentlichkeit nicht scheute. 1978: D ALLAS DES

»S OAPOPERAFICATION « A BENDPROGRAMMS

UND DIE

»The ›quality dramas‹ of the 1980s were perhaps the greatest beneficiaries of Dallas and its imitators.« (Thompson 35) »It is in this world of the imagination that watching melodramatic soap operas like Dallas can be pleasurable: Dallas offers a starting point for the melodramatic imagination, nourishes it, makes it concrete.« (Ang 80)

Bis 1978 waren Soap Operas ausschließlicher Bestandteil des Tagesprogramms. Der Name wurde von der amerikanischen Presse bereits in den 1930er Jahren geprägt und bezeichnete ursprünglich ein immens populäres, serielles und speziell an Hausfrauen gerichtetes Radiogenre, dessen tagtägliche Sendungen insgesamt bis zu 90% des kommerziellen Programms ausmachten. »Soap« stammte von den Firmen, die ihre Haushaltsprodukte wie Waschmittel in diesen Sendungen anpriesen; und »opera« kann als ironische 279

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Bezeichnung gelten für die Inkongruenz zwischen alltäglicher Handlung im häuslichen Ambiente und der hoch(melo)dramatischen Bühnenform der Oper. Aus diesem Grund haftet dem Genre bis heute eine mindere ästhetische und kulturelle Wertigkeit an. Im Unterschied zu vielen anderen Serienformaten ist herausragendes Kennzeichen der Soap Opera das komplexe serielle Narrativ einer potentiell unendlichen Geschichte. Jede Episode hat meist eine Haupthandlung und mehrere Nebenhandlungen, die meist nicht restlos aufgelöst werden, sondern in die nächste Episode reichen. Konzeptuell gründet die Soap Opera somit auf der unendlichen Kontinuität und widersteht den aristotelischen Regeln, die durch den Handlungsbogen von Anfang (Exposition) über Mitte (Höhepunkt) hin zum Ende (Lösung) gekennzeichnet sind. Die typische Soap Opera-Episode folgt im Gegensatz hierzu einer »infinitely extended middle« (Fiske, Reading 180). Das Spannungsmoment wird daher gerne durch einen »cliffhanger« erzeugt, also einen besonders dramatischen Höhepunkt am Ende einer Episode, der aber unaufgelöst ›in der Luft hängen‹ bleibt und deshalb die Spannung in die nächste Folge trägt. Als die 15-minütigen Serien in den frühen 1950er Jahren für das Fernsehen adaptiert wurden, änderte sich deren Format zunächst nicht wesentlich. In keinem anderen Genre gab es jedoch mehr weibliche kreative Persönlichkeiten, allen voran Irna Phillips, die Seifenopern über Jahrzehnte hinweg für beide Medien erfand und Drehbücher schrieb; so The Guiding Light ab 1937 für das Radio und ab 1952 für das Fernsehen (CBS) als erste Serie, die den Medienwechsel erfolgreich schaffte und zwischen 1952 und 1956 sogar in beiden Medien gleichzeitig lief. Bei ihrem Ende im Jahr 2009 war The Guiding Light im Guinness Book of World Records als die Serie mit der längsten Laufzeit verzeichnet. Phillips war es auch, die mit As the World Turns (CBS) 1956 die halbstündige Soap Opera einführte, die nun als Neuerung eine langsamere Erzählzeit, tiefere Figurencharakterisierungen und multiple Kameratechnik einsetzte. 1963 wurde mit General Hospital (ABC) die noch heute beliebte Subkategorie der Medical Soap ins Leben gerufen (vgl. beispielsweise St. Elsewhere, Chicago Hope, ER, Grey’s Anatomy, Private Practice), bei der das häusliche Familienleben durch die emotionalen Spannungen und intriganten Querellen im Krankenhaus ersetzt wurde. Mit diesen Serien wurden auch kontroverse soziale Probleme wie Inzest, Impotenz, Amnesie oder Gewaltakte thematisiert und damit eine neue Experimentierphase eröffnet, die sich auf das Genre insgesamt auswirkte. So wagte ABC 1964 mit Peyton Place (als Adaption des Bestsellers von Grace Metalious von 1956 und mit Dorothy Malone in der Hauptrolle) den Sprung ins Abendprogramm mit zwei halbstündigen Folgen pro Woche. Obgleich nur ein kurzer Erfolg (das Ende kam 1969), bedeutete dies den Start der Karriere für Mia Farrow und Ryan O’Neal, und die Serie kann als Vorläufer der Prime Time Soap Operas der 1980er Jahre gelten. ABC war auch am experimentierfreudigsten, was die Daytime Soap Operas betraf, besonders mit der Serie One Life to Live (ab 1968), die drei ethnisch markierte Arbeiterfamilien (irisch-amerikanisch, polnisch-amerikanisch und jüdisch-amerikanisch) mit der im Zentrum stehenden reichen WASP-Familie in (romantische) Verwicklungen geraten ließ. Im Zuge der aussterbenden ›alten‹ Generation an Zuschauerinnen kamen einerseits die seit den 1950er Jahren gesendeten Seifenopern in eine Krise, andererseits führte dies notgedrungen zu einem Innovationsschub mit der 280

Das amerikanische Fernsehen

Verlegung der Produktion nach Hollywood, einem zunehmend filmischen Stil sowie durch Thematik und Darsteller einem neuen, jüngeren Zielpublikum. Titel wie The Young and the Restless (CBS, seit 1973) bis hin zu The Bold and the Beautiful (CBS, seit 1987), Beverly Hills 90219 (Fox, 19902000) und Melrose Place (Fox, 1992-1999) sprechen für das neue Glamourkonzept: hochattraktive Schauspieler in Haute Couture-Roben inmitten von stilvollem Ambiente traten täglich bzw. wöchentlich an im Kampf um die besten Einschaltquoten. In den 1980er Jahren erlangte die weitgehend von Kritikern ignorierte Soap Opera schließlich eine breite Sichtbarkeit jenseits treuer Fangemeinden, sie wurde als kulturelles Phänomen anerkannt. Im 1975 gegründeten Soap Opera Digest wurden die einzelnen Episoden der Serien zusammengefasst, Schauspieler porträtiert und Blicke ›hinter die Kulissen‹ gewährt (vgl. Modleski; Allen, Speaking; Seiter et al.; Gerathy; Nochimson; Mumford; Hayward; Brunsdon, Feminist). Der entscheidende Impuls für den Boom der Seifenoper besonders auch im Abendprogramm und mit erweitertem Publikumsinteresse in den 1980er Jahren war zweifelsohne der Start der Serie Dallas im Jahr 1978 (CBS, 19781991). Die Intrigen um die reiche texanische Öldynastie Ewing erzielte nationale wie weltweite Aufmerksamkeit, so besonders der Cliffhanger »Who Shot J.R.?« als Abschluss der zweiten Staffel (März 1980) und der Start der dritten Staffel (November 1980), der den Veranstaltern die bis dato höchste Einschaltquote in der Geschichte der Fernsehserien bescherte und Dallas bald zu einer der beliebtesten Fernsehprogramme aller Zeiten werden ließ. Gemeinsam mit dem direkten Konkurrenten Dynasty (ABC, 1981-1989, vgl. Gripsrud) waren dies die ersten amerikanischen Serien, die auch international erfolgreich vermarktet werden konnten und besonders in Westeuropa als Vorlage für eigene Seifenopern adaptiert wurden (später kam The Bold and the Beautiful als erste international vermarktete tägliche Soap Opera hinzu, vgl. Allen, To Be Continued). Trotz der »larger than life«-Dimension von Setting, Charakteren und Handlung – die megareichen, supergestylten Ölfamilienclans der Ewings in Dallas oder der Carringtons in Dynasty auf gigantischer Farm Southfork bzw. herrschaftlichem Anwesen in Denver und verwickelt in kriminelle und sexuelle Intrigen – sowie den brachialen deus ex machinaKonfliktlösungen nahmen die Zuschauer diese Welt als emotional realistisch wahr im Sinne von »what is experienced as ›real‹ indicates above all else a certain structure of feeling which is aroused by the programme« (Ang 47). Dieser Realismus beruht nicht auf der diegetisch repräsentierten Wirklichkeit der Serie, sondern auf dem real erlebten Vergnügen an der Stilisierung seitens der Zuschauer. Jane Feuer sieht angesichts der Koinzidenz des Beginns von Dynasty und von MTV mit der Inaugurierung von Präsident Ronald Reagean einen Kulminationspunkt der amerikanischen »society of the spectacle« (Feuer), der einen neuen Höhepunkt der Fernsehgeschichte markierte – »Television’s Second Golden Age« (Thompson). Mit dem Ende der Babyboom-Jahre und der wachsenden Zahl an arbeitenden Frauen, aber auch mit den technologischen Veränderungen der 1980er Jahre – Satelliten- und Kabelfernsehen, Videorekorder oder Fernbedienung – veränderten sich die Sehgewohnheiten und Segmentierungen des amerikanischen Publikums grundlegend (vgl. Mullen; Winston; Butsch). Gerade die Soap Opera war jenes Genre, das am meisten »time shifted«, also per Videoaufzeichnung zu einem späteren Zeitpunkt geschaut wurde. Am Beispiel der 281

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Seifenoper wird zudem deutlich, dass das ursprüngliche Zielpublikum der Hausfrau, die tagsüber während der häuslichen Arbeit ›ihre‹ Lieblingsserien verfolgte, sich ausgedehnt hatte auf ein jüngeres gemischtes Publikum sowie ältere männliche Zuschauer, die sich nun abends oder gespeichert auf VHSKassette in die vielfältigen Welten der Soap Operas begaben.

4.6 Das Ende von TV? Experiment und Nostalgie: 1995-heute 1995: D IGITALES Z EITALTER , H IGH B RANDING

UND

L IFESTYLE -TV

»[T]he television environment [is] total and therefore invisible. Along with the computer, it has altered every phase of American vision and identity.» (McLuhan und Fiore 134)

Kaum hatte das Kabelfernsehen zwei Drittel der US-Haushalte erreicht, galt es schon als veraltet und wurde ab 1995 rapide vom digitalen Fernsehen überholt, die dritte ›Geburtsstunde‹ des Fernsehens hatte begonnen: »The key to the future of television is to stop thinking about television as television. TV benefits most from thinking of it in terms of bits« (Negroponte 48-49). Das die gesamte Gesellschaft infiltrierende und transformierende digitale Zeitalter erreichte den Bereich des Fernsehens durch die flächendeckende Einführung des Internets: Fernsehen gab es fortan schneller, verfügbarer, billiger, besser und individueller. Gewünschte Unterhaltung erfolgte nun auf Abfrage, Amerika verwandelte sich in eine »on-demand nation« (Edgerton 417). Obwohl die technologischen Neuerungen immer schon die Entwicklung der Fernsehformate und -inhalte mitbestimmt hatten, traf dies niemals so umfassend zu wie bei dem Kurzschluss von Technologie, Ökonomie und Ästhetik im Digitalfernsehen. Denn während das Kabelfernsehen der 1980er Jahre auf gruppenspezifische Nischenprogramme setzte, stand das Digitalfernsehen schnell für ein individualistisches Marketingmodell, das auf die singulären Bedürfnisse der Konsumenten abzielte, und darauf aufbauend für das Designprinzip der Synergie, wonach Programme so kombiniert wurden, dass sie möglichst große Schnittmengen der immer stärker wachsenden Publikumsfragmentierung ansprachen. Hierzu gehörte auch, dass alle verfügbaren Plattformen verschiedenster Medien (neben Fernsehen vor allem Video und Internet sowie Audio- und Printmedien) einbezogen wurden. Fernsehen wurde auf die multiplen Lebensentwürfe des Publikums abgestimmt, wie Gary Edgerton betont: »Narrowcasting and audience segmentation were thus pushed to their logical extremes. In other words, they were given added precision with a bottom-up approach, in which targeted audience segments were grouped together by clustering them according to a sophisticated array of relevant demographic, psychological and lifestyle characteristics« (352).

Die von Todd Gitlin bereits für die 1980er Jahre deklarierte »era of recombinatory excess« (79) kommt im digitalen Fernsehen zur vollen Blüte. Der Stil 282

Das amerikanische Fernsehen

der Genre-Rekombination wird dabei immer mehr zum jeweiligen Aushängeschild eines Senders, d. h. bestimmte Genres erhalten vor allem Bedeutung für das Branding. Die jeweilige Sendung wird als Marke verkauft und soll ein emotionales Band zum Publikum knüpfen, das sich über das Genre mit dem Sender identifiziert. Diese ausgeklügelte Form des Marketing – »high branding« – geht also weit über die Inhalte oder Formen einzelner Genres hinaus. Diese werden vielmehr so zusammengestellt, dass sie einen möglichst hohen Wiedererkennungseffekt haben und mit dieser Signalwirkung das Publikum an sich zu binden vermögen. Im Fall von Programmsendern wie »History Channel«, »Discovery Channel«, »CNN«, »ESPN« (Entertainment Sports Programming Network), »A&E Television Networks« (Arts and Entertainment), »The Learning Channel«, »Animal Planet«, »Food Network« oder »HGTV« (Home and Garden Television) ist dies durch den Sendernamen bereits angezeigt, aber auch »HBO«, »Showtime« oder »The WB« (Warner Bros. Television Network) setzen auf dieses Branding, meist durch Serien.10 Ein weiteres, damit verbundenes Phänomen ist die Bereitschaft von Fernsehfans, die sich einem bestimmten Sender besonders verbunden fühlen, ihre Sehgewohnheiten auszudehnen auf den Bereich der interaktiven Fan-Websites und Diskussionsforen. Gerade durch die Multiplikation der Kanäle wie auch die technischen Möglichkeiten, zeitverschoben und ortsungebunden fernzusehen, hat sich das Medienverhalten der sogenannten Generation X massiv verändert. Im Gegenzug zeugt die Branding-Strategie der Sender vom Einfluss des Lifestyle dieser jungen Zuschauer und Zuschauerinnen auf die Programmgestaltung. Viele der nach 1980 geborenen Amerikaner wissen gar nicht mehr um den Unterschied von Kabel-, Satelliten- oder Digitalfernsehen: »They can’t remember a time when ›channel surfing‹ meant switching among three, four, or five channels – all of which had more or less the same types of programs at the same times of the day and week. […] The array of television programs available through cable, DBS, and even the Internet in the twenty-first century is at least a hundred times greater than what is available using a broadcast antenna alone« (Mullen 1).

»I T ’ S

NOT TV , IT ’ S

HBO«: E INE M ARKE

UND IHRE

K OPIEN

»This desire to appear innovative – but not too innovative – has long been a part of commercial television.« (Capsuto 2)

Zu den beliebtesten Serien um 2000 zählten Friends (NBC, 1994-2004), ER (NBC, 1994-2009) und CSI (CBS, ab 2000). Und doch war es HBO, das sich Ende der 1990er Jahre zum führenden Sender in Sachen Programmqualität 10 Die Aushängeschilder von Showtime waren bzw. sind unter anderem Queer as Folk, The L Word, Dexter, The Tudors und Californication, die von The WB Buffy the Vampire Slayer, Dawson’s Creek, 7th Heaven, Felicity, Charmed, Smallville und Gilmore Girls. Gerade »The WB« war um 2000 der Teen-Sender schlechthin: »by targeting programming specifically to teens and young adults [the WB] established a focused and successful broadcast network in an era defined by cable television’s incursion into the national television broadcast audience« (Lynn Schofield Clark, zit. in Ross und Stein 15).

283

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und Innovation vorgearbeitet hatte. HBO kann als geradezu prototypisches Unterhaltungskonglomerat für das Zeitalter des digitalen Fernsehens bezeichnet werden: »Home Box Office was the first pay-cable channel to scramble its signal to combat piracy in 1986; offer its service on DBS in 1994; adopt digital compression transmission enabling HBO to multiplex (or split its signal into two or more channels, thus expanding its service) in 1994; develop multiplexing further to the megabrand, ›HBO the works,‹ in 1998, which includes HBO2, HBO Signature, and HBO Family, later adding HBO Comedy and HBO Zone in 1999 and HBO Latino in 2000; as well as introduce HBO on Demand (VOD, video on demand) in 2001)« (Edgerton 364).

Ursprünglich galt HBO als führender Sender, um Kinofilme ins Wohnzimmer zu bringen, doch bald wurde er auch assoziiert mit qualitativ hochwertigen (Mini-)Serien, TV-Filmen, Dokumentarfilmen, Stand Up-Komödien und Sport. HBO platzierte sich auf dem Markt ähnlich einem Designer Label; der 1996 initiierte Markenslogan lautet daher auch »It’s Not TV, It’s HBO«. Seit dem Start der Serien Sex and the City (1998-2004) und The Sopranos (19992007) ist HBO marktführend, was innovative Originalserien betrifft, darunter OZ (1997-2003), The Wire (2002-2008), Deadwood (2004-2006), Big Love (ab 2006), True Blood (ab 2008), Hung (ab 2009) oder How to Make It in America (ab 2010).

Abb. 6: Ally McBeal (David E. Kelley, Season 1, »Pilot«, Fox, 1997). Und doch ist HBOs Supermarkenzeichen Sex and the City sicherlich undenkbar ohne Ally McBeal (Fox, 1997-2002). Dieses als ›Dramedy‹ bezeichnete Genrehybrid verband Sitcom, Soap Opera, Gerichtsserie und MTV auf bis dato unbekannte Weise. Während der Mix aus episodenübergreifender Narration und abgeschlossenem Gerichtsfall strukturell eher konventionell verblieb, waren sowohl die verhandelten Themen oftmals gegenläufig zu dominanten sozialen Werten (so etwa die Frage, ob eine ménage à trois ein praktikables Beziehungsmodell sei) als auch die stilistischen Mittel ungewöhnlich realitätsstörend – etwa die verzerrten Trickbildsequenzen, in denen Ally McBeals Zunge beim Missfallen einer Person überdimensional groß herausschnellte. Die Hauptfigur Ally McBeal (Calista Flockhart) war in ihrer doppelten Codierung als unabhängige, erfolgreiche Anwältin gleichzeitig 284

Das amerikanische Fernsehen

eine neurotische, verletzbare Frau, die mit romantisch verklärter Sicht auf ›Mr. Right‹ wartete. Die Diskussion, die sich um die Serie entspannte, entzweite vor allem die feministische Kritik: Während die einen die Serie als frauenfeindlich und rückständig kritisierten, lobten andere deren postfeministische Zeitgemäßheit. Diese Diskussion erreichte jedoch ihren wirklichen Höhepunkt erst im Zuge von Sex and the City. Die Serie um die Kolumnistin Carrie Bradshaw (Sarah Jessica Parker) und deren drei Freundinnen basierte lose auf den Artikeln, die Candace Bushnell für den New York Observer schrieb. Carries narrative Funktion in der Serie ist es, das Thema ihrer jeweiligen Kolumne mit ihren Freundinnen durchzusprechen und zu erleben. Es geht dabei immer um Sex, so bei Fragen wie »How often is normal?« oder »Are threesomes the new sexual frontier?«, und immer hat jede der Frauen einen anderen Zugang zu dem Thema, der von eher konservativ (Charlotte), über praktikabel (Miranda) bis zu progressiv (Samantha) reicht. Nie zuvor ist im Fernsehen so offen über Männer und ihr Sexleben aus der Sicht von Frauen gesprochen worden. In gewisser Weise hat sich hier der Mythos des um Frauenwitze kreisenden schmuddelig-zotigen Männerkneipenstammtisches entäußert und in eine gepflegte Shopping- und Cocktailrunde in der 5th Ave. verwandelt. Die vier nicht mehr ganz jungen, beruflich erfolgreichen und äußerst attraktiven Frauen standen schnell für einen neuen Typus von Frau, der dem sogenannten »third-wave feminism« bzw. dem postfeministischen Zeitalter zugeordnet wurde und der gleichermaßen Unabhängigkeit wie Sexualität der Frau als weibliche Ermächtigungsstrategien feiert. Gegnerinnen sahen hier den Ausverkauf feministischer Befreiungsbewegungen. Die Faszination der Charaktere an Trivialitäten wie Mode und Lifestyle sowie Carries stereotype Suche nach ›Mr. Right‹ würden auf Kosten von Fragen der geschlechtlichen Gleichstellung in der Arbeit oder im sozialen Leben gehen (vgl. Akass und McCabe; Arthurs). Unbestreitbar revolutionär war die Serie in formaler Hinsicht: Niemals zuvor hatte eine Sitcom so radikal das Studio verlassen und war auf die Straße gegangen. Manhattan fungierte geradezu als fünfter Protagonist, was eine völlig neue Art des Realismus in dieses Genre brachte und entschieden zur Komplexität der Charaktere und der narrativen Entwicklung beitrug.

Abb. 7: Sex and the City (Darren Star, HBO, Season 1, Episode 11 »The Drought«, 1998). 285

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Branding, wenn es besonders erfolgreich ist wie im Falle von HBO, hat den Nachteil, dass es leicht kopiert werden kann. So haben denn auch andere Sender das Konzept von HBO mit Erfolg für eigenes Branding umsetzen können, beispielsweise FX Networks (der Fox Entertainment Group zugehörig) mit der Polizeiserie The Shield (2002-2008), der Ärzteserie Nip/Tuck (2003-2010) und der Feuerwehrserie Rescue Me (ab 2004), Fox selbst mit der Actionserie 24 (2001-2010), der Teenagerserie The O.C. (2003-2007), der Krankenhausserie House (ab 2004), dem Polizeidrama Bones (ab 2005) und der Sitcom Arrested Development (2003-2006). Wiewohl HBO insgesamt marktbestimmend blieb, so landete doch die ABC einen Coup mit Desperate Housewives (ab 2005) als erster Fernsehserie, deren Episoden auf iTunes heruntergeladen werden konnten. Interessanterweise war nun gerade diese Serie, so innovativ ihre Vermarktung und der formale Mix aus ironischer Soap Opera und schwarzhumoriger Sitcom auch sein mag, einer nostalgischen Wende im Genrefernsehen geschuldet, die sich unterschwellig selbst bei HBO-Serien angedeutet hatte. Marc Cherry, der die Idee für die Serie entwickelte, strebte zwar dezidiert eine Mischung aus Sex and the City und Six Feet Under an – also zwei Serien, die für das Erfolgsrezept von HBO standen –, und der phänomenale, weltweite Erfolg gab ihm auch Recht (Carter 162). Doch das biedere suburbane Setting und die überwiegend stereotype, an die 1950er erinnernde Frauendarstellung zeugte eher von einem gefälligen statt subversiven Programmkonzept (vgl. Vickery). Auch die Serie Mad Men (AMC, ab 2007) nimmt mit ihrer perfekten Hochglanz-Retroästhetik an dieser Nostalgiewelle teil. Sie spielt im Werbemilieu Manhattans in den frühen 1960er Jahren und ist ein Feuerwerk politischer Unkorrektheiten: Misogynie, Homophobie, Antisemitismus und Rassismus werden freien Lauf gelassen. Die in tadellos grauem Flanell gestylten Werbemänner (die »Mad Men«) kennzeichnen in ihrer kettenrauchenden, whiskeytrinkenden und ihre Frauen betrügenden Machomanier die denkbar deutlichste Abkehr des jüngst noch als subversiv gefeierten metrosexuellen Männerbildes, und die hyperfeminisierten Frauen sind einmal mehr mit Stöckelschuh, Mieder, Petticoat und Turmfrisur in die aufreizende, aber passive Rolle von Waren- und Tauschobjekten gezwängt. Es wundert nicht, dass in Blogs bereits vom Mad Men-Effekt einer »Menaissance« gesprochen wird. Interessanter sind daher Ausblicke auf Serien, in denen das dominante, heterosexuell-romantische Narrativ auf bislang nicht normierte Sexualitäten ausgedehnt und damit eine der letzten Lücken im Fernsehprogramm geschlossen wurde (vgl. Capsuto). Larry Gross beschreibt die amerikanische Medienlandschaft als bis in die jüngste Zeit inhärent homophob und zutiefst diskriminierend: »The rules of the mass media game have had a double impact on gay people: not only have they mostly shown them as weak and silly, or evil and corrupt, but they continue for the most part to exclude and deny the existence of normal, unexceptional as well as exceptional lesbians and gay men« (16).

Den Weg in die televisuelle Sichtbarkeit ebnete hier vor allem eine schwule Figur wie Jack aus der Teensoap Dawson’s Creek (The WB, 1998-2003). Nicht nur zählte er zur Gruppe der Hauptdarsteller, ihm wurde auch relativ viel Raum bis zuletzt in der Serie eingeräumt. Wiewohl Jack (Kerr Smith) 286

Das amerikanische Fernsehen

zunächst eher der an seiner Sexualität leidende junge Mann war und so einem stereotypen »coming out script« (Capsuto 4) folgte, gewann die Figurenzeichnung doch über die Staffeln hinweg an Komplexität, was sogar zu einem Happy End (schwule Partnerschaft mit Kind) am Serienende führte. Queer as Folk (Showtime, 2000-2005) ging weiter, indem die ganze Serie im schwulen Milieu spielte, vielschichtige Charakterstudien entwarf und dabei auch vor Themen wie Schutzalter, Schwulenhetze, AIDS und schwuler Ehe nicht zurückscheute (vgl. Poole). Ähnlich verfuhr dann The L Word (Showtime, 2004-2009) mit überwiegend lesbischen Protagonistinnen. Im Genre der Sitcom war legendär das Coming Out von Ellen DeGeneres 1997 in ihrer Show Ellen (ABC, 1994-1998), gerade weil hier die in der Öffentlichkeit oftmals fantasierte enge Verknüpfung von Starpersona (DeGeneres als lesbische Frau) mit dem Sitcom-Star (Ellen als Hauptdarstellerin) in einem Moment tatsächlicher Realisierung kulminierte (vgl. Dow, »Ellen«). Die Sitcom Will and Grace (NBC, 1998-2006) wiederum beschritt Neuland, da hier gleich zwei schwule Hauptdarsteller – der schillernd-tuntige Jack (Sean Hayes) und der bieder verklemmte Will (Eric McCormack) – sich unentwegt verbale Gefechte über das ›richtige‹ schwule Leben lieferten und so erstmals die Kategorie des schwulen Humors prominent im Serienformat platzieren konnten. Eine weitere Branding-Serie von HBO, Six Feet Under (20012005), zeigte erstmals eine interethnische homosexuelle Beziehung zwischen einer der Hauptfiguren, David (Michael C. Hall), und dem immer stärker in das Seriengeschehen eingebundenen Keith (Mathew St. Patrick). Noah’s Arc (LOGO, 2005-2006) schließlich war gänzlich im schwulen afroamerikanischen und Latino-Milieu von Los Angeles angesiedelt und handelte von einer Viererclique, die nun auch Themen wie homophoben Rassismus und ethnische Stereotypisierung in die Serienlandschaft einbrachte (vgl. Kapitel 3.6). »F OR

GENERATION X , TV IS THE DEFINING MEDIUM «:

REALITY (&) TV

»It’s tempting to define Generation X as simply an age group, but that classification ignores the fact that Xers are all members of one TV nation. Although not the first group of Americans to grow up on TV, Xers are the first group for whom TV served as a regularly scheduled baby-sitter.« (Owen 5) »You know you love me. X.O.X.O. Gossip Girl.« (Schlussworte aus Gossip Girl)

Obwohl Reality TV keine Neuerung des digitalen Fernsehens war, erreichte es doch dort seine größte Popularität. Schon MTV, der prägende Sender für die sogenannte Generation X und damit stellvertretend für das Fernsehen als »defining medium« (Owen xii) insgesamt, hatte mit der Dokusoap The Real World (ab 1992) einen anhaltenden, spartenbedingten Erfolg beim jungen Publikum. Hier wurden an jährlich wechselnden Schauplätzen in einem Haus sieben Menschen sechs Monate lang zusammengebracht und zwar nach repräsentativen Typen gemischt: der schwarze Rapper, die asiatische Austauschstudentin, die liberale Jüdin, der konservative Moslem, der schwule Aktivist, der weiße Republikaner etc. (vgl. Owen 126). Doch erst die Soap-, 287

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Abenteuer-, Spiel-Show Survivor (CBS, ab 2000) brachte derart unerwartete Einschaltquoten, dass Reality TV zur populärsten Programmsparte avancierte. Der Trend zur Live-Reality-Show, der durchaus ein internationaler ist (erkennbar am weltweiten Erfolg der europäischen Dokusoap Big Brother seit 1999), manifestierte sich in den unterschiedlichsten Ausprägungen: von der Spielshow Who Wants to Be a Millionaire? (ABC, ab 1999), der Talentshow American Idol (Fox, ab 2002) über »makeover«- und Stylingprogramme wie Extreme Makeover (ABC, 2002-2007) oder Queer Eye for the Straight Guy (Bravo, 2003-2007), Datingshows wie The Bachelor (ABC, ab 2002), Shows für Arbeitssuchende wie The Apprentice (NBC, ab 2004) bis hin zu Star-Komödien wie The Simple Life mit Paris Hilton (Fox, 20032007), Sportwettwerben wie The Contender mit Sylvester Stallone (NBC, ab 2005) und Talkshows wie The Oprah Winfrey Show (seit 1986 auf verschiedenen Kanälen durch Syndikatsbildung).11 Reality TV ist ein ausgesprochen hybrides Genre, das während seiner kurzen Medienkarriere bereits etliche Stadien der Transformation durchlaufen hat. Ursprünglich als Notfall-Aufklärungsprogramm gedacht und daher mit Sendungen wie Unsolved Mysteries (NBC, 1987-2002) auch als »Trauma TV« bezeichnet, hat sich Reality TV immer mehr zum Infotainment-Fernsehen mit einer Mischung aus ›harten‹ Fakten (Augenzeugenberichte, Täter-, Opferbekenntnisse, Dokumentaraufnahmen) und eher fiktionalisierten Techniken der Vermittlung entwickelt (Erzähler- und Expertenkommentare, Rekonstruktionen von Tatvorgängen, serielles Format, ›Vérité‹-Kamerastil). Die ›Verpackung‹ ist wichtig, da sie gezielt mit den Sehgewohnheiten der Zuschauer spielt und zwischen Lust am Verbotenen oder Schrecklichen und dem Gefühl der Warnung und Sicherheit pendelt. Mittlerweile werden unter Reality TV aber auch Programme gefasst, die im weitesten Sinn einen Realitätseffekt hervorrufen: »›Reality TV‹ is now used as a genre description of any factual programme based on an aesthetic style of apparent ›zero-degree realism‹ – in other words a direct, unmediated account of events, often associated with the use of video and surveillanceimaging technologies« (Jon Dovey, zit. in Creeber 136).

Angesichts des umfassenden und vorgeblich unkritischen Konsums solcher Realformate wird auch von »junk food television« gesprochen (Hill 105). Annette Hill macht allerdings deutlich, dass ein Großteil des Publikums sehr 11 Auch in den fiktionalen Genres schlägt sich der Realitytrend nieder, so in der Teensoap Gossip Girl (The CW, ab 2007), die von einem anonymen, unsichtbaren Mädchen ›moderiert‹ wird, das die Skandale der gestylten Jugend aus der New Yorker High Society im Moment des Geschehens fotografisch festhält, mittles ihres KlatschBlog auf die iPhones der Blogger Community weiterleitet und zusätzlich den Fernsehzuschauern durch Voice-Over-Kommentare informiert. Auch die Teen-Musical-Soap Glee (Fox, seit 2009) übernimmt das Realityformat der Talentshow und siedelt es im Milieu einer High School an. Der »Glee Club« dieser Schule besteht aus einer Ansammlung von Außenseitern, die von allen anderen gehänselt werden und im Singen von Hits ein kollektives Zusammengehörigkeitsgefühl entwickeln. Wenngleich das Covern von Oldies (meist aus den 1980er Jahren) einen deutlich nostalgischen Effekt erzeugt, schlägt die Serie doch insgesamt einen zeitkritischen Ton an.

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Das amerikanische Fernsehen

wohl zwischen unterschiedlichen Varianten solcher Programme unterscheiden kann und um die jeweiligen Produktions- und Repräsentationstechniken weiß (vgl. auch Holmes und Jermyn; Murray und Ouellette). Ein schockierendes und doch in Bezug auf die Repräsentation von ›Realität‹ die Geschichte des amerikanischen Fernsehens für immer veränderndes Medienereignis war freilich der live übertragene Terroranschlag auf das World Trade Center in Manhattan am 11. September 2001. Kurz nachdem in den ersten der beiden Wolkenkratzer ein Flugzeug gerast war, begannen alle Nachrichtensender live zu berichten, und so wurde der Moment, als das Flugzeug der United Airlines in den zweiten, südlichen Turm einschlug, zeitgleich in die ganze Welt übertragen. Medienforscher sprechen hier von einem bereits seit Mitte der 1990er Jahre voranschreitenden Trend der »instant history« als einer veränderten Geschichtswahrnehmung, wonach lokale Vorkommnisse zu einem globalen Medienereignis mit einer weltweiten Zeugenschaft werden. Geschichte ist nicht mehr etwas, das sich in der Vergangenheit ereignet und nachträglich medial aufbereitet und aufbewahrt wird, sondern sie findet jetzt und hier vor unseren Augen – Bild für Bild – statt, und es ist das visuelle Medium des digitalen Fernsehens, das dieser Verschiebung die adäquate Technologie bietet (vgl. Dayan und Katz; Sobchack). Geschichte wird zunehmend medial inszeniert und damit auch notwendig verkürzt und simplifiziert, wie besonders die durch die Bush-Regierung gelenkte Berichterstattung im Nachgang von 9/11 und Irakkrieg zeigte: »[9/11] has been narrativized by way of the media into a primary, recognizable discourse, one with a distinct logic – a clear beginning (September 11, 2001), forceful middle (war), and moral end (victory)« (Chermak et al. 5). Gleichzeitig verursachte die Nonstopübertragung der Katastrophenereignisse einen ahistorischen Nostalgieeffekt, der einerseits durch die amerikanische Politrhetorik des Exzeptionalismus die Wirkung evozierte, dass hier etwas völlig Einzigartiges geschehen sei, was gänzlich außerhalb bekannter Kategorien liege: »9/11 quickly took on an exceptional ahistoricity«, meint James Der Derian (zit. in Spigel, »Entertainment Wars« 239). Andererseits löste die Dauerberichterstattung von Zerstörung und Verlust einen nostalgischen Rückbezug auf frühere nationale Katastrophen aus, »mainly in the sepia tones of the Second World War – to prepare America for the sacrifice and suffering that lay ahead« (Der Derian in Spigel, »Entertainment Wars« 239). Repräsentationen des ›Realen‹ im Zeitalter des digitalen Fernsehens und das mit dieser Ära korrelierte technologische Wissen hat aber auch ästhetisch die fiktionalen Fernsehformate revolutioniert. Die Action- und Thrillerserie 24 (Fox, 2001-2010), in der der Regierungsbeauftragte Jack Bauer (Kiefer Sutherland) für die fiktionale Einheit der Counter Terrorist Unit in Los Angeles arbeitet, suggeriert durch die Synchronisierung der gezeigten Handlung mit der gespielten Erzählung das Gefühl der Echtzeit: Die 24 Folgen einer Staffel sind unterteilt in 24 einstündige Episoden (abzüglich der Werbezeit), die jeweils eine Stunde eines Tages ›dokumentieren‹ – eine digitale Uhr tickt derweil unentwegt auf den oft multiplen split screen-Sequenzen. Die »Windows«-Ästhetik der Serie imitiert damit Computerbildschirme und Videospiele, und Jack Bauer verkündet zweideutig am Anfang jeder Episode: »Events occur in real time«. Die Wirkung von 24 beruht in hohem Maß auf hyperreal inszenierten Weltuntergangsszenarien in Form von feindlichen, meist arabisch-islamistischen oder osteuropäischen Terroristen, was beim 289

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Zuschauer im Nachklang von 9/11 leicht die Grenzen von Realität und Fiktion verwischen lässt. Diese politisch eher konservative Tendenz wird verstärkt durch die ebenso eher nostalgische und stereotype Aufrufung des Action Hero-Genres mit dem Alleinkämpfer Jack Bauer als u. a. epigonalem Vertreter des Helden aus dem Kino des Kalten Kriegs, James Bond.

Abb. 8: CSI (Anthony E. Zuiker, Season 1, Episode 23 »Strip Strangler«, CBS, 2001). Eine andere Variante des drohenden Grenzverlustes von Realität und Fiktion geschieht durch den sogenannten CSI-Effekt, der auf die gleichnamige Serie zurückgeht. Kriminologen haben festgestellt, dass die hier repräsentierte hochtechnologisierte forensische Ermittlung von Tathergängen auf der Evidenzbasis (DNA-, Faser- und sonstige Laboranalysen) ein folgenschweres Problem verursacht hat: In tatsächlichen Gerichtsverfahren erwarten Jurymitglieder immer mehr, dass die ›Perfektion‹ solcher Beweisketten auch in Wirklichkeit bereitgestellt werden kann. Die fiktionale Übertreibung der Treffsicherheit forensischer Wissenschaft sowie das als glamouröses High Tech-Ambiente inszenierte Laborsetting (gefilmt im 35-mm-Kinoformat) hat sich hier auf die realen Erwartungen der Zuschauer übertragen: »CSI defied conventional wisdom by daring to try to make science ›sexy‹« (Cole und Dioso-Villa, vgl. auch Tyler). Die in der Postproduktion aufbereiteten Effekte zeigen überdies visuelle Repräsentationen der tatsächlichen Tatvorgänge, und zwar als beschleunigte Extremnahaufnahmen, die beispielsweise das Eintreten einer Kugel in den menschlichen Körper verbildlichen. Diese als »CSI shots« bekannt gewordenen Digitaleffekte zelebrieren eine Technologiebegeisterung, die zwar visuell radikal, jedoch oft ideologisch konservativ ist: »CSI’s international success may come down to the fact that in place of postmodern doubt it offers postmortem certainty« (Anthony 34). Auch wenn dies Neil Postmans in seinem Bestseller von 1985, Amusing Ourselves to Death, vertretene Diktum zu bestätigen scheint, wonach das kreative Potential einer einst kulturbildenden Zivilisation immer mehr schwinde und im Gegenzug besonders das Fernsehen den Gipfel der volksverdummenden Unterhaltungskultur darstelle, so zeigt gerade der CSI-Effekt, inwieweit das Medium Fernsehen auch vielfältige Energien freizusetzen vermag. Das durch die CSI-Serien ausgelöste studentische Interesse an forensischen und anderen technologischen Wissenschaften explodierte geradezu, 290

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und trotz der ideologischen Ambivalenz wurden nirgendwo im Fernsehen die Effekte von 9/11 derart umfassend und anhaltend in Szene gesetzt wie in der Serie 24. Für diese und ähnliche Programme gilt laut Toby Miller: »for viewers in search of entertainment delivered not just via broad-brush ideology but also through form and style, high-end US TV had become the repository of many values traditionally associated with art cinema« (Television Studies 93). Die Zeiten sind vorbei, dass vom Fernsehen als von einem »vast wasteland« (so der von John F. Kennedy bestellte Vorsitzende der FCC, Newton Minow, in seiner berühmten Rede von 1961) oder als einem »toaster with pictures« gesprochen werden kann (so Mark Fowler in derselben Funktion, diesmal von Ronald Reagan berufen, im Jahre 1981). Das andauernde und stets neu zu definierende Zusammenspiel von Technik, Formaten und Institutionen, von Ökonomie, Politik und Ästhetik sowie nicht zuletzt von Produktion, Repräsentation und Rezeption hat das Fernsehen im Verlauf seiner Geschichte zu einem komplexen kulturellen Medium reifen lassen, das sich selbst und sein Publikum vor immer neue Herausforderungen stellt. In dem Maße, wie sich die Effekte dessen, was wir auf dem Bildschirm sehen, in unsere Lebenswelt einschreiben, leistet das Fernsehen eine Mediatisierung und Intensivierung des Alltags, die durch die vielfältigen, höchst innovativen Formen und Stile, die gerade das amerikanische Fernsehen hervorgebracht hat, zu einer echten Alltagskultur beitragen konnte. Das populäre Fundament des Mediums ist dabei nicht die vielbeklagte Schwäche des Fernsehens, sondern seine wahre Stärke.

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5. Die amerikanischen digitalen Medien: Cybertheorien und Computerspiele RANDI GUNZENHÄUSER »The visible symbols of technological aspiration that characterized the Space Age [...] have disappeared from our vision and our consciousness. The newly proliferating electronic technologies of the Information Age are invisible, circulating outside of the human experiences of space and time. That invisibility makes them less susceptible to representation and thus comprehension at the same time as the technological contours of existence become more difficult to ignore [...].« Scott Bukatman, Terminal Identity (152)

5.1 Einleitung: Von Hypertexten zu Cybermedien Für den Kultur- und Medienwissenschaftler Scott Bukatman zeichnen sich die zeitgenössischen digitalen Technologien dadurch aus, dass sie ihre Präsenz in besonderer Weise verschleiern und unsichtbar bleiben. Einerseits haben neue Medien die Tendenz, ihre Fähigkeiten auszustellen, andererseits kann ein Medium wie der Computer seine Macht gerade dort effektiv einsetzen, wo er als Medium in den Hintergrund tritt und seine Eingriffe nicht spürbar werden, und dabei sind die digitalen Technologien, so Scott Bukatmans These, extrem effektiv. So gehört die Nachbearbeitung eines digitalen Fotos heute zur alltäglichen, stillschweigenden Praxis der Werbefotografie. Ihre Effekte sind eminent sichtbar, der Bearbeitungsprozess an sich bleibt jedoch verborgen (vgl. Kapitel 2.6). Um die visuelle Arbeit zu analysieren, die digitale Medien leisten, muss demnach ein Bereich gefunden werden, in dem sie sich in den Vordergrund drängt. Ralf Schnell geht in seiner Monografie Medienästhetik davon aus, dass es, wenn von Medienästhetik im Zusammenhang von Computer und Internet gesprochen werden soll, »in erster Linie [...] um das Design der Nutzeroberfläche geht« (271-272). Dieser Annahme tritt Brenda Laurel entgegen, wenn sie in Computers as Theatre insistiert, dass der Computer nicht einfach ein Arbeitsgerät, sondern ein Medium ist, das zur kreativen Interaktion einlädt (xi). Ich werde die Arbeit digitaler Medien dort beobachten, wo sie ihre interaktiven Fähigkeiten explizit thematisieren; dort, wo sie ihre technischen und 301

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ästhetischen Möglichkeiten zur Schau stellen. Nicht allein die Nutzeroberfläche, also das technische Interface zwischen Soft- bzw. Hardware und User, soll hier im Vordergrund stehen. Vielmehr geht es mir um die Strukturmerkmale von Texten, die mit Hilfe des Computers generiert und rezipiert werden, Merkmale, die aus Texten Hypertexte bzw. Cybertexte machen und aus Leserinnen aktive User. Wie Bolter und Grusin feststellen, sind digitale Hypertexte nicht linear aufgebaut, sondern bilden komplexe dynamische und offene, netzartig programmierte Strukturen (53). Diese Strukturen bestehen aus Worten und basieren auf einem System von Verbindungen, sogenannten Links. Links können zahlreiche nodes verbinden, Knotenpunkte, an denen verschiedene Textfragmente aufeinanderstoßen und sich der Leseprozess verzweigt. Hier muss ich mich entscheiden, in welche Richtung ich weiterklicke. Das System von Links und nodes etabliert nicht nur flächig angeordnete Strukturen, sondern auch solche von unterschiedlicher Tiefe. Das Konzept des Hypertextes wird oft auf den Begriff Hypermedia erweitert und schließt damit explizit alle medialen Anteile wie Bilder und Sound mit ein. Im Gegensatz zum Hypertext hat Espen J. Aarseth in Cybertext: Perspectives on Ergodic Literature einen weiteren Begriff geprägt, der das spielerische Element, das Ludische betont: Cybertext. Im Unterschied zu Hypertexten stellen Cybertexte nicht lineare, labyrinthische Räume zur Verfügung, eine »world simulation« (21), die sich vor allem durch die Forderung nach interaktivem Engagement auszeichnet. Die Betonung liegt hier auf der performativen Qualität der Rezeptionsprozesse, die bei jedem Durchgang durch einen Cybertext aktiv einen buchstäblich neuen, immer wieder anderen Text produzieren. User ›nutzen‹ diesen Raum kreativ: Sie erkunden seine Regeln und die Möglichkeiten, sich innerhalb dieser Regeln einzurichten. Aarseth stellt somit einen Ansatz zur Verfügung, der Texte aller Art über den Spielbegriff erschließt, beschränkt sich selbst allerdings vor allem auf schriftbasierte adventure games. Das suchende ›Wandern‹ durch die komplexen, räumlich angelegten Strukturen eines Cybertextes trägt für Aarseth alle Züge des Spiels. Spielerinnen müssen jederzeit bereit sein, die Welt, in der sie sich bewegen, zu verändern; sie müssen zupacken, sich engagieren, beweisen, überleben. In den parallel existierenden ›Räumen‹ computergenerierter Welten reihen sich die Möglichkeiten aneinander, Ereignisse auszulösen und Entscheidungen zu treffen. Die Räume können ebenso wie die in ihnen stattfindenden Ereignisse mehrfach aufgerufen und manipuliert werden. Die netzartige, wuchernde Form macht es nötig, nach dem nächsten Schlupfloch, dem anschließenden Raum zu suchen. Der User sammelt Informationen, geht einen Schritt zurück, überprüft seine Annahmen, wendet neues Wissen an, übt Bewegungen oder Strategien und geht weiter. Hier haben Aktionen Konsequenzen für den Fortgang der Wanderung, mit jedem Durchgang kann sich die Welt und mein Verhältnis zu ihr verändern. In diesem Sinn lässt sich auch Brenda Laurels Postulat vom Computer als einem ›theatralen‹, performativen, partizipatorischen Medium verstehen. Die Netzmetapher an sich ist nicht neu, existiert sie doch bereits in der Sprachtheorie, um die Unendlichkeit sprachlicher Vernetzungsstrukturen zu beschreiben. Allerdings wird die Metapher im Zusammenhang mit den digitalen Medien dort wieder aktuell, wo es um die Performativität der Rezepti302

Die amerikanischen digitalen Medien

onsprozesse geht. Das Computerspiel kreiert offensichtlich fiktionale Welten, die uns einiges an Aktivität abfordern – Welten, an denen wir nicht nur teilhaben, sondern die wir aktiv mitgestalten müssen. In Computerspielen, so die Grundannahme dieses Kapitels, feiern die digitalen Medien ihre cybermedialen Wirkungsmöglichkeiten in besonders spektakulärer Weise. Heutzutage gehört dazu zwingend die Berücksichtigung von visuellen und auditiven Elementen. Um dies auch für jene kenntlich zu machen, die eine enge Auffassung des Wortes Text haben und damit allein Sprachtexte meinen, kann es sich anbieten, von Cybermedien zu sprechen. Um die Wirkungsmechanismen digitaler Medien zu verdeutlichen, werde ich zuerst einige Begriffe klären, die für das Verständnis von ›US-amerikanischen‹ Cybermedien wichtig sind. Sodann konstruiert dieses Kapitel eine sehr kursorische Technologie-, Medien- und Kulturgeschichte des Digitalen in den USA anhand von Computerspielen und verknüpft sie mit Ausführungen zu den Genres, die für den jeweiligen Zeitraum wichtig sind. Jedes Genre, so die Grundannahme, verlangt von Spielern jeweils unterschiedliche Arten des Einsatzes und schult dementsprechend andere Fähigkeiten.

5.2 Konzepte digitaler Medien ›US- AMERIKANISCHE ‹

DIGITALE

MEDIEN

Was aber ist amerikanisch an den digitalen Medien? Diese Frage lässt sich einmal in Bezug auf die technische Entwicklung beantworten, zum zweiten den Markt betreffend, zum dritten, was die Geschichte der digitalen Medien im Kontext der US-amerikanischen Kultur angeht. Digitale Technologien wie Computer oder das Internet verdanken sich internationalen Anstrengungen, welche die Entwicklung digitaler Geräte aus Lochkartentechnologien und mechanischen Computern während des gesamten 19. und 20. Jahrhunderts weltweit vorantrieben. Wichtige digitale Produkte wurden und werden in den USA ersonnen und hergestellt. So wird IBM, das in den USA angesiedelte Weltunternehmen International Business Machines, bis heute synonym gebraucht mit mainframe computers, also Großrechnern, zwischenzeitlich auch mit Mikrocomputern. Auf dem Mikrocomputermarkt haben sich auch andere amerikanische Firmen hervorgetan, etwa Atari mit der berühmtesten Spielhallen- und Heimkonsole Pong (Atari; Atari, als Spielhallen-Spiel 1972 bzw. als Heim-Konsolenspiel 1975),1 Apple Macintosh mit dem ersten Personal Computer, dem Apple I (1976), bzw. Commodore mit dem PET (1977) sowie mit dem meistverkauften Mikrocomputer, dem C64 (1982). Die Grundidee des Internets stammt zwar von einer US-amerikanischen Denkfabrik während des Kalten Kriegs, doch kooperierten Briten und Amerikaner in den 1960er Jahren auf der Suche nach einem postnuklearen dezentralen militärischen Kommunikations-Netzwerk. Diese Anstrengungen führten in den USA zur Entwicklung des ARPANET (ARPA = Advanced 1

Im Folgenden stehen in Klammern hinter Spieletiteln zuerst die Entwicklerfirma, dann die Vertriebsfirma, dann das Erscheinungsjahr, manchmal auch das Erscheinungsjahr der letzten bekannten Folge einer Serie.

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Research Projects Agency), das mit Hilfe spezieller standardisierter Protokolle 1989 wiederum das Meta-Netzwerk Internet hervorbrachte. Das World Wide Web als ein bestimmter Teil des Internets, der durch das HypertextFormat gekennzeichnet ist, verdankt sich wiederum den Anstrengungen des CERN in Genf (Griscom). Dass der Computer trotzdem als ein US-amerikanisches Produkt gilt, verdankt sich der starken Stellung der USA nicht allein auf dem Computermarkt, sondern auf dem Medienmarkt insgesamt. Ökonomisch gesehen dominieren die USA den digitalen Markt nicht. In Bezug auf Spiele-Software gingen 2003 nur ungefähr ein Drittel der globalen Spiele-Verkäufe in die USA, während Asien und die pazifische Region den größten Marktanteil hatten (Egenfeldt-Nielsen, Smith und Tosca 13). USamerikanische Firmen wie Microsoft, Apple, Google oder Amazon üben indes nicht allein in den USA ökonomischen Einfluss aus, sondern weltweit. Sie prägen digitale Medien bis heute strukturell und inhaltlich. So nennt stern.de 2008 als die wichtigsten IT-Unternehmen weltweit Microsoft, Apple, Yahoo, Google, Sun Microsystems, Nintendo, Sony, Dell, Ebay, Amazon, Deutsche Telekom, News Corp. und AOL. Die meisten dieser Firmen haben ihren Hauptsitz in den USA. Als weltweit größter Medienkonzern ist Time Warner, der von New York aus operiert, ebenfalls ein von Amerika aus geführtes Unternehmen. Umgekehrt haben viele große japanische IT-Firmen wie Nintendo oder Sony wichtige amerikanische Niederlassungen und Beteiligungen. Die digitalen Medien verkörpern die Wesenszüge eines vernetzten multinationalen Marktes, der aber in vielerlei Hinsicht immer noch von den USA dominiert wird – wenn nicht ökonomisch, so doch zumindest, was kulturelle Paradigmen angeht. Die USA wollen auf dem Weltmarkt bestehen, indem sie Produkte herstellen, die möglichst viele sehr unterschiedliche Käufergruppen ansprechen. Sie engagieren sich in vielfältigen, oft ineinander verschränkten Medienbereichen. Der Effekt ist eine convergence culture, ein Begriff, mit dem Henry Jenkins im gleichnamigen Buch die heutige Medienwelt charakterisiert. Bei digitalen Spielen wird dieses Zusammenwirken verschiedenster Medien, Plattformen und ökonomischer Bereiche in jüngster Zeit etwa dort offensichtlich, wo Nutzerinnen mehrere digitale Maschinen parallel verwenden: Sie spielen an ihrem US-amerikanischen Personal Computer (PC) ebenso wie an Apples iPhone, aber auch auf einem mobilen Computer aus Japan, und sie nutzen gemeinsam mit der Familie eine japanische Heimkonsole. Verschiedene Maschinen ermöglichen alle das Spielen, doch jede Maschine stellt eigene Interfaces, Kontexte und partizipatorische Möglichkeiten für die User bereit, wie Jenkins betont (Convergence Culture 15). Er macht allerdings klar, dass die Öffnung auf eine partizipatorische Medienkultur ursprünglich eine japanische Strategie zur Förderung von Fankulturen war, gegen die sich der amerikanische Markt in den 1980er und 1990er Jahren noch sperrte (Convergence Culture 160-161). Heute lädt jedoch auch die amerikanische Medienökonomie zur Partizipation ein. Speziell auf dem Spielemarkt gibt es auch in den USA immer wieder Gruppen, die Spiele nicht nur konsumieren, sondern aktiv mitgestalten, ob es sich um Multiplayer-Rollenspiele handelt oder um die World Wrestling Entertainment SmackDown vs. Raw-Spielserie (Yuke’s; THQ, 2000-2010), die auf Aktionen von Schau-Ringern des World Wrestling Entertainment basiert. 304

Die amerikanischen digitalen Medien

Im Folgenden geht es vor allem um die Geschichte digitaler Medien in den USA. Digitale Maschinen lassen sich kulturell zu keinem Zeitpunkt, spätestens aber seit Ende der 1970er Jahre auch nicht annähernd als ein rein amerikanisches Phänomen diskutieren. Allerdings sorgten US-amerikanische digitale Spiele zumindest im Westen dafür, ein positives Bild der neuen Medien zu vermitteln und neue Generationen an die heimischen digitalen Geräte zu binden, wie Mark J.P. Wolf in seiner Einleitung zu The Medium of the Video Game betont (5). Während Malliet und Meyer von einer anfänglichen klaren Dominanz amerikanischer Firmen auf dem Computerspielemarkt ausgehen, sprechen sie ab 1978 von der »japanischen Invasion« (28). Der technische und ökonomische, aber auch gestalterische Einfluss Japans ist heute auf keinem Gebiet so intensiv wie bei Computerspielen; vergleichbar stark ist höchstens der Einfluss von Manga- und Anime-Traditionen auf US-amerikanische Comics und Zeichentrickfilme, die aus diesen Gründen auch strukturelle Ähnlichkeiten mit digitalen Spielen teilen, wie Jenkins zeigt (vgl. Convergence Culture 160-165). Somit ist die Internationalisierung des Computermarkts einer seiner zentralen Wesenszüge. Das Computerspiel Max Payne ist ein Beispiel für diese Entwicklung. Es wurde 2001 von dem finnischen Programmierteam Remedy Entertainment entwickelt, von der texanischen Firma Apogee/3D Realms produziert, und seine heutige Vertriebsfirma Rockstar sitzt in Edinburgh. Ihre in Großbritannien geborene Chefs, Dan und Sam Houser, operieren heute von New York aus. Rockstar machte das Neo-Noir-Action-Adventure international erfolgreich, das an der Ostküste der USA in den 1990er Jahren spielt und US-amerikanische populärkulturelle Traditionen in allen Medien ausgiebig zitiert und ironisch kommentiert. Rockstar bringt auch die GTA-Serie heraus, die seit 1998 die Geschichte der Firma und der Computerspiele mit bestimmt und ebenso wie Max Payne beißende Kommentare zur US-amerikanischen Kultur abgibt. Diese transnationale Vielstimmigkeit ist ebenso typisch für alle zeitgenössischen amerikanisch beeinflussten Medien wie die Genrevielfalt und die immer stärkere Ausdifferenzierung einzelner Alters-, Interessenund Zielgruppen. An solche globalen Phänomene sind Erscheinungen der mediascape gekoppelt, wie sie Arjun Appadurai definiert. Eine mediascape ist medial geprägt, wird durch ein komplexes Netz von Bildern, narrativen Strukturen und kulturellen Diskursen gebildet und beruht auf elektronischen Informationstechnologien. Mediascapes verbreiten sich über die verschiedensten Kanäle wie Bücher, Werbung, Fernsehen, Film oder Computerspiele hinweg als soziale Praxis des Sehens, Hörens und Fühlens (vgl. Appadurai 35). Mediascapes verdanken sich den Herstellungs- und Verbreitungsfähigkeiten des Supermediums Computer, das alle bisherigen Medien zusammenbringt und damit Möglichkeiten der Produktion und Rezeption schafft, die technisch, ökonomisch und inhaltlich weltweit vernetzt sind (vgl. Desser 534-535). Aus kulturwissenschaftlicher Sicht ist es von Interesse festzustellen, wie sich gerade US-amerikanische Erzählstrategien und Medientechnologien um die Wende zum 21. Jahrhundert als tauglich für solche mediascapes erweisen. Wie ordnen sie Medien, Bilder und Körper an? Die vergleichenden Analysen in diesem Kapitel sollen zeigen, dass sich amerikanische populäre Me-

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dien aufgrund ihrer Offenheit und Flexibilität auch heute wieder als enorm anpassungs- und anschlussfähig erweisen. Populäre Medien in den USA weisen in dieser Hinsicht eine Erfolgsgeschichte auf. In Zeiten verunsichernder Medienumbrüche stellen sie immer wieder Möglichkeiten der Angstbewältigung bereit, die erfolgreich das Spektakuläre hervorkehren und damit seit dem frühen 19. Jahrhundert die unterschiedlichsten Rezeptionsgemeinschaften zugleich faszinieren und wahrnehmungstechnisch disziplinieren helfen, wie LeRoy Ashby in With Amusement for All: A History of American Popular Culture Since 1830 beschreibt. Als tragfähig haben sich Narrative erwiesen wie der amerikanische Westen als frontier – als Zwischenbereich, in dem Wildnis und Zivilisation gewaltsam, aber produktiv aufeinanderstoßen – oder die USA als Land der unbegrenzten Möglichkeiten und des American Dream. Die Produktion von sozial wirksamem, verbindlichem Sinn scheint vielen angesichts der rapiden Entwicklung des Digitalen, in dem sich herkömmliche Medien verschränken, dringend vonnöten. Florian Rötzer etwa beklagt in seinem Aufsatz »Virtuelle und reale Welten« u. a. die Manipulationsmacht, welche die Digitalisierung auszeichnet (81). Konzepte wie ›Cyberspace‹, eine Wortschöpfung von William Gibsons Science-Fiction-Roman Neuromancer, oder ›Information Superhighway‹, ein Schlagwort der ersten Präsidentschaftskampagne Clinton/Gore, beschwören das Bild vom digitalen Datenraum als einem unzivilisierten Gebiet, einer new frontier. Die neuen Technologien sollen in der Hand der Anwender die ungezähmte Wildnis des Digitalen, die sie überhaupt erst herstellen, gezielt strukturieren helfen, damit der wertvolle Datenrohstoff ungehindert zu jedem einzelnen gelangen kann. Vorreiter dieser Entwicklung sind in Cyberpunk-Romanen von William Gibson oder Pat Cadigan zu finden, in Filmen wie Blade Runner (Ridley Scott, 1982) oder The Matrix (Andy und Larry Wachowski, 1999), in TV-Serien wie Dark Angel (FOX, 2000-2002) und in Computerspielen wie Blade Runner (Westwood Studios; Electronic Arts, 1997) oder Deus Ex (Ion Storm; Eidos, 2000). Diese Texte feiern Computerhacker und andere wagemutige Technik-Abenteurer. Dem Anspruch auf Freiheit im allseits zugänglichen Datenraum der frühen alternativen Netzkultur steht die Forderung nach einem kontrollierbaren, finanziell profitablen Information Highway gegenüber. Arthur Kroker und Michael A. Weinstein insistieren in Data Trash: The Theory of the Virtual Class, dass Maßnahmen ökonomischer Kontrolle der digitalen Medien eine ›virtuelle Elite‹ voraussetzen, eine ›Zivilisierung‹ des Digitalen demnach ohne ein Bündnis zwischen individualistischen Vertretern der Technokultur und Vertretern von Wirtschaftsinteressen nicht denkbar ist. Neben den Bildern des wilden, umkämpften Datenraums vermehren sich auch die von neuen Gemeinschaften, die zum Teil nach US-amerikanischem Vorbild entstehen. Jay David Bolter weist bereits 2001 in Writing Space darauf hin, dass die elektronische Kommunikation in der Form von E-Mail, Datenaustausch und dem World Wide Web unser Verständnis von Gemeinschaft prägt. Mediennetzwerke wie YouTube, soziale Netzwerke wie Facebook und Computerspielgemeinschaften wie bei World of Warcraft (Blizzard Entertainment; Blizzard Entertainment, 2004) illustrieren diese Tendenz zu neuen Formen menschlicher Interaktion. Wie vielfältig und widersprüchlich die Interessen im und am Cyberspace sind, lässt sich auch am Verhältnis zwischen den digitalen und den älteren Medien zeigen. Bei allen Unterschieden 306

Die amerikanischen digitalen Medien

teilen die digitalen Anwendungen eine Eigenschaft: Sie ziehen ihre User ins Geschehen am Bildschirm hinein. Henry Jenkins sieht daher das immersive Videospiel als ein typisch amerikanisches Medium. Er argumentiert in Convergence Culture, dass populäre, partizipatorische Medien Menschen nicht so sehr intellektuell als emotional bewegen. D AS V ERHÄLTNIS

ZWISCHEN › NEUEN ‹ UND ALTEN

MEDIEN :

CONVERGENCE , REMEDIATION UND REPURPOSING IM

Z EICHEN

DER I MMERSION

Digitalen Medien wird eine besondere Wirkungsmacht zugeschrieben. Wie Constance Penley und Andrew Ross bereits 1991 in Technoculture konstatieren und N. Katherine Hayles in How We Became Posthuman 1999 erneut bekräftigt, hatten die digitalen Medien schon in den 1990er Jahren des 20. Jahrhunderts neben den im engeren Sinn technischen Feldern längst alle kulturellen Bereiche durchdrungen und spielen seither überall, auch in Drucktexten und Filmen, eine zentrale Rolle. ›Alte‹ und ›neue‹ Medien thematisieren einander, spiegeln sich ineinander, lernen voneinander, kritisieren und verstärken sich gegenseitig. Zum einen bieten digitale Cybermedien ein wissenschaftliches Betätigungsfeld, auf dem sich die geschriebene und gesprochene Sprache stärker als zuvor sowohl gegen das stehende und bewegte Bild als auch gegen Musik und Ton durchsetzen muss, und das die Kulturwissenschaft dazu herausfordert, die eigenen Abgrenzungen zu nicht sprachbasierten Medien zu überprüfen. Zum anderen verändert sich auch das intertextuelle Zusammenspiel mit Zeitschriften, Büchern, Filmen oder Musik. Neben textinternen Belangen müssen auch diese intermedialen Veränderungen Berücksichtigung finden. Dabei ist ein wichtiger Aspekt der Computertechnologien, dass sie nicht ohne weiteres als eine Kombination bestehender Medien definiert werden können. So gehört die Perspektivierung durch eine Kamera im Gegensatz zum Film nicht zu den dominierenden Eigenschaften der digitalen visuellen Darstellung. Das bedeutet, dass die Grafik in Computerspielen zur räumlichen Darstellung im Film neu in Bezug gesetzt sowie filmische Rezeption von spielerischer Navigation unterschieden werden sollte. Es gilt, digitale Texte und Umgebungen nicht getrennt von den traditionellen Medien zu behandeln, sondern gerade Computerspiele kontextuell und intermedial zu betrachten. Digitale Cybermedien, zu denen auch Computerspiele gehören, vereinen als künstlerische ebenso wie als populäre Unterhaltungsmedien offensichtlich die verschiedensten medialen Darstellungs- und Erzähltraditionen in sich, oft als explizite Zitate. Jay David Bolter und Richard Grusin nennen die Aneignungs- und Verschiebungsprozesse, die zwischen neuen und traditionellen Medien stattfinden, remediation und repurposing. Repurposing liegt in solchen Fällen vor, in denen digitale Spiele alte Spielideen aufgreifen, etwa Schach oder Kartenspiele, Brett- oder Kriegsspiele, pen-and-paper-Rollenspiele oder Sportarten wie Fußball und Golf, die auf dem Rechner simuliert werden. Remediation definieren Bolter und Grusin hingegen als das Einbeziehen eines Mediums in ein anderes. ›Hypermedia‹, für Bolter und Grusin elektronische Texte, die auf ihre eigene Medialität aufmerksam machen und ihre 307

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Form selbstreflexiv thematisieren, beziehen sich beständig auf die Traditionen älterer Medien: »It is easy to see that hypermedia applications are always explicit acts of remediation: they import earlier media into a digital space in order to critique and refashion them« (53). Computerspiele zitieren und kommentieren häufig frühere Medien, sind also remediating media. Andererseits nehmen sie sich medial über weite Strecken zurück, werden an manchen Stellen quasi unsichtbar, um dem unmittelbaren Agieren im Datenraum nicht im Wege zu stehen. Unmittelbarkeit und Transparenz auf die Spielewelt hin zeichnen diese Momente aus, doch auch sie können einer selbstreflexiven remediation dienen, wie etwa das Beispiel von Max Payne zeigt (vgl. Unterpunkt 5.4 in diesem Kapitel). In beiden Ausprägungen haben Computerspiele den Anspruch, die Spielerin ins Geschehen ›hineinzuziehen‹, sie unmittelbar an der Spielewelt teilnehmen zu lassen. Immersion, das Hineinziehen der Rezipierenden bzw. Spielenden, ist denn auch eine Funktion, die Medien heutzutage auf den verschiedensten Gebieten leisten. Kommerzielle Computerspiele zeichnen sich dadurch aus, dass sie zur aktiv erlebten Immersion einladen, zum Handeln verführen. Es geht darum, Simulationseffekte ›authentisch‹ erlebbar zu machen, dem User Teilhabe an der simulierten Welt zu versprechen. Die Rezeptionsintensität soll gesteigert werden und ist auf ständige Wiederholung, Verschiebung und Intensivierung der Affekte angewiesen, die auf den unterschiedlichsten Ebenen erreicht werden: inhaltlich ebenso wie ästhetisch und partizipatorisch. Die verschiedenen Immersionseffekte sind zum Teil gender-spezifisch zu verorten. Spielerinnen wird in Nintendogs (Nintendo; Nintendo, 2005) oder The Sims (Maxis; Electronic Arts Games, 2000) mit sozialer Ausrichtung nach wie vor das Angebot gemacht, sich emotional beteiligen zu lassen. Hier folgen Computerspiele den Traditionen, die sich in typischen Frauengenres anderer Medien entwickelt haben. Zugleich laden Sport-, Action- oder Rollenspiele eher technisch orientierte, oft programmiertechnisch geschulte Männer ein, an partizipatorischen Medienkulturen teilzuhaben, indem sie Spiele verbessern, selbst weiterentwickeln oder in anderen Medien kommentieren. Andererseits wird auf dem Gebiet der Immersion offensichtlich, dass es schwer geworden ist, bestimmten Medien eindeutig entweder aktive Partizipation oder passive Konsumption, intellektuelles oder emotionales Engagement zuzuschreiben und damit dem Bereich der Kunst oder dem Unterhaltungssektor zuzuordnen. Die wissenschaftliche Analyse muss daher unterschiedliche Zugänge berücksichtigen. Nur durch das Abwägen von traditionell-spektakulären Effekten einerseits und den repetitiv-interaktiven Immersionsaspekten andererseits lässt sich ein Computerspiel hinreichend beschreiben. Somit können auch intellektuelle und emotionale Teilhabe, Einzelspiel und Gruppendynamik nicht klar voneinander getrennt werden. Sowohl Rollenspiele als auch Adventures, aber ebenso Simulationen leben von der Spannung zwischen diesen unterschiedlichen Immersionseffekten. So setzt N’Gai Croal in »Sims Family Values« die Multiplayer-Genres aufgrund des Verhältnisses von Actionelementen und sozialem Networking voneinander ab und folgert: »In other words, online games are succeeding not just as an outlet for competition but as a forum for social interaction. Even shoot-’em-ups can benefit from adding a social element« (59). Dieses soziale, 308

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kommunikative Element steht bei vielen Multiplayer-Spielen im Vordergrund und macht einen Großteil der Faszination dieser Spiele aus. Der Erfolg der Online-Spiele gründet nicht zuletzt auf der Vielfalt ihrer Immersionsangebote, die sich zwischen konkurrenzorientiertem Spiel und gemeinschaftlich motivierten Spielaspekten auftun. Das Wechselspiel zwischen Zuschauen und Teilnehmen bestimmt die Form des Computerspiels deutlich: Spielerinnen dirigieren ihren Avatar, ihren meist grafischen Stellvertreter am Bildschirm, über weite Strecken aktiv durch das Geschehen, bis sie gezwungen sind, in eher kontemplativen filmischen Sequenzen innezuhalten, die oft dazu dienen, die Handlung voranzutreiben. Digitale Texte können auch von der »confessional form« profitieren, die nach Jenkins etwa die Erzeugnisse auf YouTube auszeichnet (Convergence Culture 271). Diese von den Usern selbst hergestellten Produkte greifen auf eine Formsprache zurück, die den Eindruck von unvermitteltem Engagement erweckt, etwa durch Handkamera, direktes Ansprechen der Zuschauerinnen und das Bezeugen emotionaler Betroffenheit. Diese Vielfalt der Wirkungsweisen lässt sich nicht zuletzt darauf zurückführen, dass in digitalen Medien verschiedene Medien konvergieren, wie Henry Jenkins argumentiert: »[...] the world of media convergence [...] – across different media systems, competing media economies, and national borders – depends heavily on consumers’ active participation [...] as consumers are encouraged to seek out new information and make connections among dispersed media content« (Convergence Culture 3).

Rezeptionsprozesse verändern sich zwangsläufig gemeinsam mit den Texten, mit denen sie sich auseinandersetzen und an denen sie sich schulen. Jenkins beschreibt die Zuschauerinnen hier wie Spielerinnen, die aktiv in mediale Prozesse eingreifen: »Rather than talking about media producers and consumers as occupying separate roles, we might now see them as participants who interact with each other according to a new set of rules that none of us fully understands« (Convergence Culture 3). Im Gegensatz zur Unübersichtlichkeit dieser partizipatorischen Kultur bieten viele Computerspiele klassischerweise überschaubare Szenarien an, deren Regeln sich im Lauf des Spiels erschließen lassen. Wie andere zeitgenössische mediale Beispiele verdeutlichen sie, dass aus Zuschauerinnen Mitspielerinnen werden können, ja müssen, wenn sie in der Computerspielwelt überleben wollen. Spiele ermöglichen in diesem Sinn ein unverbindliches Austesten der eigenen Strategien und Fähigkeiten. Sie sind aber zugleich Anlass und Teil von real life-Kommunikation und Konkurrenz. ›Real life‹ ist für Rollenspielerinnen die Bezeichnung des Lebens außerhalb des Spiels. Der Begriff kategorisiert also Leben aus der Perspektive der Spielenden als Nicht-Spiel – und das, obwohl sich gerade im MultiplayerSpiel diese Bereiche eben nicht trennen lassen. Denn das Internet verbindet User nicht nur innerhalb des digitalen Spielraums, sondern verknüpft zugleich das digitale Spiel mit den Lebensbereichen, die gemeinhin außerhalb des Ludischen verortet werden. Die verschiedenen Kommunikationsebenen reichen ganz explizit ins tägliche Leben hinein, fordern Stellungnahmen ein, helfen, das Spiel angesichts der privaten und öffentlichen Verpflichtungen zu organisieren und es überhaupt erst zu ermöglichen. Wenn sich also Spieler 309

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mit Hilfe eines Kommunikationsfensters, das Teil des Spiels ist, zu einem Kampf verabreden und ihre Strategie planen, so greifen in dieser Kommunikationssituation real life und game life direkt ineinander. In der zeitgenössischen Populärkultur ist eine solche Verzahnung von Immersion in eine fiktionale Welt einerseits und Abstandnehmen andererseits überall festzustellen. Selbstreflexive »Metaculture« – vom Modding, dem Erstellen von Erweiterungen zu einem Spiel, bis zum Organisieren von Meisterschaften – definieren Egenfeldt-Nielsen, Smith und Tosca als ein zentrales Charakteristikum des »hard-core gaming« (157-161). In ähnlicher Weise beschreibt Henry Jenkins »convergence culture« als eine Populärkultur, in der Autoren, Leser, Zuschauer und Spieler zusammenarbeiten, um den Schluss eines Erzählvorgangs so lustvoll wie möglich hinauszuzögern – und zwar über den einmaligen Rezeptionsvorgang hinaus. In diesem Sinn fungiert Komplexität in der postmodernen Populärkultur ebenso wie in der traditionellen Hochkultur als Qualitätsmerkmal, das Texte über die einmalige, immersiv wirkende Rezeption hinaus spannend macht: Je mehr Energie Leserinnen oder Zuschauerinnen in einen komplexen Text wie die Matrix-Trilogie investieren, desto größer ist der Mehrwert, den sie erzielen können – und zwar beim mehrmaligen Schauen, bei der genauen Analyse, beim Vergleich mit anderen Texten, im Gespräch mit weiteren Interessierten. An diesem Punkt setzt auch Steven Johnson an, wenn er in Everything Bad is Good for You: How Popular Culture Is Making Us Smarter ausführt, wie komplex Populärtexte heute sein können. Der kooperative Umgang mit derart selbstreflexiven Texten fördert das transmediale Erzählen, das Jenkins folgendermaßen beschreibt: »A transmedia story unfolds across multiple media platforms, with each new text making a distinctive and valuable contribution to the whole. In the ideal form of transmedial storytelling, each medium does what it does best [...]. Each franchise entry needs to be self-contained so you don’t need to have seen the film to enjoy the game, and vice versa. Any given product is a point of entry into the franchise as a whole. Reading across the media sustains a depth of experience that motivates more consumption« (Convergence Culture 97-98).

Jenkins macht deutlich, wie stark die ästhetischen und die ökonomischen Interessen im digitalen Zeitalter über einzelne Medien hinweg ineinandergreifen, um populäre Texte mit Bedeutungen anzureichern. Die Möglichkeit, die unterschiedlichsten Medien auf neue Weise in digitalen Geräten zusammenzuführen, sorgt somit nicht nur für distinktive ästhetische Ausdrucksformen, sondern fördert zugleich einen Markt, der sich immer stärker an dieser Medienvielfalt ausrichtet. Jenkins geht es jedoch nicht darum, den Computer als das einzig verbleibende Medium vorzustellen. Ältere Medien werden seiner Meinung nach bestehen bleiben, und neue Entwicklungen bringen immer auch Inkompatibilitäten zwischen Generationen von Geräten, Herstellern und Maschinen mit sich. Computerspiele stellen dabei ein wichtiges Segment innerhalb der sich ständig verändernden Medienökonomien dar. Sie sind profitabel und bieten ein offenes Betätigungsfeld mit extrem vielen Genre- und Stilausrichtungen, typisch in seinen Tendenzen zur medialen Konzentration und Verdichtung ebenso wie in der immer stärkeren Ausdifferenzierung.

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Das veranlasst viele Kreative und Künstlerinnen, ihre Ideen auf dem Spielemarkt einzubringen. Die personelle Verzahnung und kommerzielle Nähe zu den anderen Unterhaltungsmedien und zu den Künsten führt dazu, dass Computerspiele die Entwicklungen in Film und Fernsehen, in der Musik und in der Kunst beeinflussen, aber umgekehrt von den Entwicklungen auf diesen Gebieten auch profitieren. Ralf Schnell beschreibt als grundsätzliches Prinzip der »rechnergesteuerten Informationsmaschinen«: »Sie zeichnen nicht auf, sondern entwerfen« (237). Auch für andere Medienkritiker tritt demnach bei computergenerierten Bildern der virtuelle Charakter deutlicher in den Vordergrund als bei anderen Darstellungsverfahren. Andererseits betont die Kunst- und Kulturwissenschaftlerin Sigrid Schade, dass den digitalen Medien heute einige der Eigenschaften älterer technischer Medien wie Fotografie und Video zugesprochen werden. Während etwa Fotografie und Video innerhalb der Kunstgeschichte inzwischen vielfach zur ›Kunst‹ aufgestiegen sind, fällt nun den digitalen Medien die wenig kreative Eigenschaft zu, als ›reine Aufzeichnungstechnik‹ zu fungieren. Wie abwegig die Betonung einer einzigen Funktion digitaler Medien ist, zeigt die Beschäftigung mit Computerspielen, aber auch ihr pädagogischer Einsatz. Wie Schade in Bezug auf museale Funktionen betont, gehen verschiedenste Medienaufgaben heute auf den PC über, »auch die Funktion des Zeigens, des Zu-Sehen-Gebens wird von der digitalen Technologie übernommen« (274). D AS S PIEL

IN DER

P OSTMODERNE

Traditionell wurde dem Spiel kaum Bedeutung für die ernsteren Bereiche des Lebens zugebilligt. Es wurde vom Blickpunkt des Arbeitsalltags aus als Nicht-Leben definiert, oft als unnütz oder sogar lebensfeindlich. Johan Huizinga, der Verfasser von Homo Ludens, betont noch 1938 den Gegensatz zwischen protestantischer Arbeitsethik und Spiel. Diese Einschätzung änderte sich mit der Postmoderne, wie Florian Rötzer in »Konturen der ludischen Gesellschaft im Computerzeitalter« schreibt (178). Die Postmoderne postulierte seit ihren Anfängen in der Architektur und Literatur eine Nähe zum Spielerischen. Dementsprechend hat die Spielmetapher in den letzten Jahrzehnten eine deutliche Aufwertung erlebt. Konstruktivistische Theorien von Macht und Widerstand, von produktivem Zwang (oder ›Struktur‹) und Ermächtigung (oder agency) gehen von Machtbeziehungen aus, die sich scheinbar spielerisch ständig in die Praktiken des täglichen Lebens und in die Körper einschreiben. Egenfeldt-Nielsen, Smith und Tosca stellen in ihrem Kapitel »What is a Game?« einzelne Modelle zum Zusammenhang von Spiel, Sprache und Kommunikation vor (22-44). Für die Kulturwissenschaften sind vor allem solche Ansätze von Interesse, die Spielen eine zentrale Funktion für die Kommunikation und Sozialisation einräumen, wie es Gregory Bateson in Steps to an Ecology of Mind tut. Er definiert das Spiel als einen meta-kommunikativen Raum, innerhalb dessen wir jenseits alltäglicher Kontexte über unsere Rollen nachdenken und sie üben können. Dem Spiel kommt gemäß dem Erziehungswissenschaftler Brian SuttonSmith oder dem Psychologen George Herbert Mead gerade bei Lernprozessen Bedeutung zu (Egenfeldt-Nielsen, Smith und Tosca 29-30). Es dominiert 311

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heute nicht mehr nur die Unterhaltung, sondern auch das Lernen, aber auch die Kunst und nicht zuletzt auch ganz praktische digitale Alltagsanwendungen. Auf dem Spielemarkt lassen sich neben den neuesten, im engeren Sinn technischen Entwicklungen demnach auch aktuelle kulturelle Problemstellungen und Lösungsansätze verfolgen. Wenn also die Spiele-Entwicklerin Celia Pearce ›game‹ als »a structured framework for spontaneous play« definiert (zit. in Buckingham 5), so beschreibt sie damit nicht nur Spiel als Freizeitbeschäftigung, sondern auch als Versuchsanordnung und Simulation. Die Bestandteile des Spiels, die sie nennt, sind ebenfalls aus alltäglichen Zusammenhängen bekannt: ein Ziel, Hindernisse, Ressourcen, Belohnungen und verschiedene Informationssysteme. Was also ist das Besondere am digitalen Spiel? Zum einen ist es enorm vielfältig. Computerspiele gibt es für die unterschiedlichsten Plattformen, vom Großrechner zu handhelds, von Konsolen zum PC und Mobiltelefon. Dementsprechend unterschiedlich sind die Spielerfahrungen der Nutzerinnen, und sie lassen sich nicht ohne weiteres von Arbeit und Alltagserfahrung abgrenzen: Büro-Softwarepakete enthalten Karten- oder Geschicklichkeitsspiele; die Konsole mischt den privaten Fitnessbereich auf und kommt inzwischen sogar im Seniorenheim zum Einsatz. Partyspiele bereichern manches Fest, Spielanwendungen auf dem Mobiltelefon oder unter Facebook vertreiben die Zeit. Soldaten und Feuerwehrleute lernen mit Simulationsprogrammen, und wir werden spielerisch durch Museen geleitet. Zum zweiten schaffen digitale Spielsituationen extrem anpassungsfähige und interaktive Umgebungen, loten Raum- und Körperrelationen bildhaft aus, konstruieren dialogische, performative Subjektpositionen sowie Körperkonzepte. Sherry Turkles Postulat von 1995, »[c]omputers embody postmodern theory and bring it down to earth« (18), scheint heutzutage in die Tat umgesetzt. In diesem Sinn lassen sich am Computer Raum-Körper-Konzepte (de)konstruieren, mit denen die User sich ständig wandelnde Subjektivierungsstrategien testen können. Die konkreten Nutzungsangebote solcher Spielsituationen werden im Folgenden zur Sprache kommen. V IRTUALITÄT : D AS C OMPUTERSPIEL ALS S CHNITTSTELLE ZWISCHEN F IKTION UND W IRKLICHKEIT Virtualität ist ein Schlagwort, das eine neue Beziehung zwischen Wirklichkeit und Fiktion postuliert. Die Neuartigkeit dieses Verhältnisses wird vor allem durch die neue Medialität des Digitalen bestimmt – eine Medialität, die sich von Anfang an nicht allein technischen Entwicklungen verdankt, sondern zugleich ästhetisch und offen fantasmagorisch erzeugt wird. Sie hat also mit jeweils spezifischen Angst- und Wunschkonstellationen zu tun, die sich auf das ›neue‹ Medium richten. Das technisch reproduzierbare Bild gerät durch die Digitalisierung wie bei jeder früheren medialen Verschiebung in eine Krise, und angesichts des Computers steht seit dem Ende des 20. Jahrhunderts das nicht digitalisierte Bild erneut in Frage. Die machtvollen Traditionen technischer Bilder wie des Stichs oder der Fotografie, klare Abbildungsverhältnisse zu suggerieren, werden heute durch die weitaus produktivere digitale Pluralisierung von Ab312

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bildungsverhältnissen unterlaufen, gehen aber zum Teil auch auf Computerbilder über. Die visuelle Organisation digitaler Medien ist immer noch stark an Fotografie, Film und Fernsehen angelehnt, d. h. die Filmkamera dient als Vorbild sowohl für den Bildaufbau als auch für die Bewegung der Bilder am Rechner. Wie stark diese Abhängigkeit zwischen alten und neuen Medien ist, betont Bruce Block in The Visual Story: Creating the Visual Structure of Film, TV and Digital Media, einem Buch, das 2008 bereits in zweiter Auflage erschienen ist und praktische Hinweise für Bildschaffende gibt. Auch Lev Manovich geht in seiner stärker theoretisch ausgerichteten Monografie The Language of New Media bei allen Unterschieden von grundsätzlichen Ähnlichkeiten des visuellen Feldes in alten und neuen Medien aus. Das ist keine Selbstverständlichkeit, schließlich zeichnet sich der Computer dadurch aus, dass er streng genommen nicht auf das Fotografieren oder Filmen mit einer Kamera angewiesen ist, sondern Bilder berechnen und somit völlig synthetisch bzw. malerisch herstellen und verändern kann. Ähnlich wie beim Animationsfilm haben sich am Rechner trotzdem traditionelle Strategien des Kontrastes, der Räumlichkeit oder der Bewegung durchgesetzt, die das Medium rein technisch gesehen eigentlich vernachlässigen könnte. Wiewohl sich einige vor-digitale Strategien des Sehens und Zu-SehenGebens in digitalen Medien erhalten haben, lösten die ›neuen‹ Medien eine Krise des Visuellen aus. Das Problembewusstsein für diese Krise lässt sich anhand von US-amerikanischen Filmbeispielen der 1980er und 1990er Jahre illustrieren. Die Disney-Produktion Tron konstruierte schon 1982 ein ebenso konkurrenzbetontes wie ästhetisch anspruchsvolles Computerspielszenario. Raum und Körper werden dominiert von modernistisch anmutenden geometrischen Grundformen und Leuchtfarben – zu einer Zeit, als digitale Spiele der Öffentlichkeit vor allem in Spielhallen zugänglich waren und grafisch jenseits basaler Farbgebung noch wenig zu bieten hatten. In Tron wird ein Spielhallenbesitzer und Computergenie zum Teil eines Großcomputers, in dem er seinen Antagonisten, einen gemeinen Software-Piraten, auf Leben und Tod bekämpft. Der Film setzt teilweise auf frühe digitale Verfahren, vor allem aber auf traditionelle filmästhetische Darstellungsformen wie NeonFarbdesign, fließend-technologische Sounds und eng anliegende Kostüme aus Kunstfasern, um den virtuellen Raum des Digitalen vom Alltag zu unterscheiden. Solche ästhetisch einfallsreichen Lösungen aus der Science-Fiction-Tradition zeichnen viele frühe Spielfilme über digitale Medien aus. In der Regel stellen sie digitale Technologien als moralisch zweifelhaft dar, vor allem dienen sie dazu, Alltagsrealität und digitale Welt klar zu unterscheiden (vgl. Kapitel 3.6). Inhaltlich steht dabei immer wieder das Problem im Vordergrund, dass Lebens- und Spielwelten ineinander zu fallen drohen. War Games zeigt 1983, wie ein Computerspieler mit Hilfe seiner Kriegssimulation beinahe einen nuklearen Krieg auslöst. In dem italienischen Film Nirvana von 1997 kommt ein Avatar zu Bewusstsein und wird zum Teil der real world, wo er seinen Entwickler bedroht. In eXistenZ von 1999 schieben sich Alltagsrealität und Spielfiktion untrennbar ineinander, sodass die Protagonisten nicht mehr wissen, ob sie Teil einer Lebens- oder einer Spielrealität sind, was lebensbedrohlich wird. Die Matrix-Trilogie, die Andy und Larry Wachowski zwischen 1999 und Ende 2003 herausbrachten, ist ein weiteres, populäres Beispiel für 313

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die Angst vor dem Ineinanderfließen der fiktionalen Bereiche virtual und real life. Auf der Handlungsebene besteht die Gefahr der Matrix darin, dass sie es unmöglich macht, die verschiedenen Bewusstseins- und Realitätsebenen auseinanderzuhalten. Sie schafft es, die Menschen, denen in Wirklichkeit die Lebensenergie ausgesaugt wird, gleichzeitig durch das Vorspiegeln einer virtuellen Scheinwelt ruhig zu stellen. Oberflächen- und Tiefenqualitäten von Virtualität und scheinbarer Alltagsrealität überlappen sich für die meisten Bewohner der menschlichen Welt im Film untrennbar. Auf der Zuschauerebene des Films werden die Welten jedoch sorgfältig auseinandergehalten; dafür sorgen die optischen und auditiven Spezialeffekte, die stark von Computerspielen beeinflusst sind und den Raum innerhalb und außerhalb der Matrix in zwei distinkte ästhetische Bereiche teilen. Für das Publikum ist es entscheidend zu wissen, dass die Matrix künstlich geschaffen und trügerisch ist, dass in ihr eigene Gesetze gelten. Zwischen Schein und Sein klafft für die Zuschauerinnen, ähnlich wie in Tron, ein ästhetischer und zugleich moralischer Abgrund. Digitale Technik kann filmisch aber auch als ›authentisch‹, als besonders wahr inszeniert sein. Dieser Effekt lässt sich bei Handkamera-Einstellungen auf YouTube ebenso beobachten wie in dem Film In the Valley of Elah (2007), wo verpixelte Handy-Videos als Realitätseffekte dienen: Sie geben dem Filmmaterial im Gegensatz zur perfektionierten Hollywood-Darstellung den Anschein von Echtheit und Authentizität. In dem 2009 veröffentlichten 3D-Blockbuster Avatar von James Cameron tritt eine ähnliche ästhetische Funktion von digitalen Technologien in den Vordergrund. Die nicht menschliche Welt Pandoras ist für humanoide Eindringlinge nur medial über Späher in der Gestalt der Pandora-Wesen und über Computertechnologien zugänglich. Die Zuschauerinnen können sie nur gemeinsam mit dem computeranimierten Protagonisten, dem Avatar, erforschen, der dem Film auch den Namen gibt. Wir treffen auf eine Welt, die wie das Arcade-Spiel (Arcade = öffentliche Spielhalle) in Tron in Neonfarben getaucht und damit offensiv digital gestaltet ist, was in diesem Fall aber die größtmögliche Naturhaftigkeit Pandoras und der ›edlen Wilden‹ in ihr signalisiert. ›Natur‹ und Technik verbinden sich und simulieren quasi-natürliche Schönheit. Digitale Bild- und Tonverfahren durchziehen demnach inzwischen alle Film- und Werbegenres als Realitätseffekte in verschiedener Weise. Sie können einerseits den Unterschied zwischen manipuliertem Material und als authentisch gekennzeichneten kruden Bildern und Tönen versinnbildlichen, andererseits können sie eine bruchlose Wirklichkeitsdarstellung signalisieren. Sie schaffen immer wieder Hyperrealität und versprechen, in der Klarheit der Zuordnung effektiver zu sein als die älteren Medien. Digitale Verfahren werden also inszeniert, als könnten sie Wirklichkeit eins zu eins darstellen. Zwar lässt sich mit Hilfe von digitalen Verfahren in kürzester Zeit alles in optimaler Qualität nachbearbeiten und bruchlos aneinanderfügen – von Körpern über einzelne Räume zu ganzen Welten. Rein technisch vermeidbare Brüche, Qualitätsunterschiede oder Schönheits›fehler‹ sind jedoch nicht nur als ästhetisches Problem inszeniert, sondern dienen als Realitätseffekte und versprechen damit eine Authentizität, die Bilder zuvor nicht hatten.

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Die amerikanischen digitalen Medien

V ISUALITÄT

DES

D IGITALEN : O BERFLÄCHE

UND

S PEKTAKEL

Andrew Darley formuliert in Visual Digital Culture: Surface Play and Spectacle in New Media Genres einige für die Diskussion der digitalen Medien zentrale Punkte. Zum einen betont er, dass es nötig ist, die technischen Oberflächenqualitäten in den Vordergrund zu stellen, wenn man die visuelle Spezifik digitaler Medien analysiert. Er weitet ein Argument aus, das David Bordwell in Making Meaning 1991 bereits für den Film vertritt, nämlich dass das hermeneutisch-kritische Erbe der Literaturinterpretation für die film studies nicht ausreicht. Gleiches gilt für die medialen Entwicklungen an der Schwelle zum dritten Jahrtausend. Auch die digitalen Medien können nicht allein auf ihre Bedeutung hin analysiert werden (Darley 5), weil man so wesentliche strukturelle Eigenschaften, darunter auch visuelle Aspekte, aus den Augen zu verlieren droht: »[Today’s] visual digital genres and expressions [...] tend greatly to play up form, style, surface, artifice, spectacle and sensation [...]. They tend toward pure diversion, consisting of forms that are immediate and ephemeral in their effect« (Darley 6). In diesem Sinn ist es für die Analyse digitaler Texte wichtig, Formen des Spektakels zu untersuchen und das Bild um des Bildes willen anzuerkennen, auch wenn es gerade diese Aspekte sind, die den neuen Medien den Ruf des Verschwenderisch-Dekadenten einbringen (vgl. Darley 5-6). Nicht die Bedeutungsfrage steht bei einer solchen Analyse im Vordergrund, sondern das sinnliche Interagieren mit dem Medium. Die Sinne erlauben ein Eintauchen in die emotional aufgeladene, digital generierte Welt ebenso wie die Bewunderung ihrer technischen Meisterschaft. An diesem Punkt stellt sich kulturwissenschaftlich gesehen im zweiten Schritt die Frage nach kulturellen Bedeutungen des sinnlichen Genusses, dessen Motor und Gegenstand visueller Exzess ist. Die spektakulärste, deshalb aber auch durchaus typische digitale Textform ist das Computerspiel. Zwar setzt es viele Traditionen älterer Medien fort, es hat sich jedoch zugleich dem Neuen verschrieben. Parallel zu technischen Entwicklungen verändern sich Computerspiele beständig, und jedes neue Produkt wirbt mit seiner Neuartigkeit. So treiben Computerspiele den Markt neuer Soft- und Hardwareprodukte stetig an; und zumindest was die populärsten Genres betrifft, misst sich jede neue Generation von Spielen immer an den neuesten technischen Errungenschaften. Spiele definieren sich entlang der Grenzen des technisch Möglichen und erlauben einen Blick auf medial-ästhetische Entwicklungen. Sue-Ellen Case macht in The Domain-Matrix als zentrale Differenz zu früheren Medien darauf aufmerksam, dass Fokussierung generell nicht zu den dominierenden Eigenschaften der digitalen Darstellung gehört. Der kontrollierende Blick, der sich über den Fokus organisiert, gewisse Dinge in den Blick nimmt und andere ausblendet, ist im Digitalen nicht selbstverständlich: »The computer screen [...] is not, by nature, composed by focus. This screen has no camera – no eye. While the user-friendly aim of software replicates the function of the camera, other functions instate another form of organization. The increasing anxiety around the loss of focus in the new technological age marks the dawning of a new mode of organization that is unlike that of the Gaze and the camera« (71).

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Die nicht fokussierende Inszenierung des Blicks im digitalen Bild steht im Widerspruch zum Ideal der kontemplativen, subjektzentrierenden, sammelnden Aufmerksamkeit, welche angeblich für die Kunst vor dem Aufkommen der Massenmedien typisch war. Walter Benjamin konstatiert in seinem Aufsatz »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit« für den frühen Film die Zerstreuung der Aufmerksamkeit mit Genugtuung, weil sie einem kritischen Publikum neue Interpretationsmacht verspricht. Ähnliches gilt potentiell für Computer-User. Sie können allerdings nicht nur bestehende Cybermedien kritisieren, sondern direkt in bestehende Texte eingreifen und darauf aufbauend ihre eigenen fiktionalen Welten entwerfen. Jenkins erwähnt beispielsweise Strategien wie »Machinima« (Convergence Culture 156-157) – 3-D-Filme, die mit Hilfe von Spiele-Software kreiert werden. Das ist für die Fangemeinde sehr reizvoll, für die wissenschaftliche Kritik hingegen stellt gerade die spektakuläre Qualität ein Problem dar. So erinnert Simanowski in »Einige Vorschläge und Fragen zur Betrachtung digitaler Literatur« an die Gefahr »der Verführung des technischen Effekts«. Spektakuläre Aspekte, die das wahrnehmende Subjekt vom intellektuell-wertenden Abstand ablenken und zur Zerstreuung der Wahrnehmung führen, sind den Literatur- und Geisteswissenschaften mit jedem neuen Medium wieder suspekt: »Die Bilderflut ist eine alte Gefahr, und immer wird sie diskutiert im Zusammenhang mit Zerstreuung, Amüsement oder Spektakel. Jochen Schulte-Sasse spricht 1988 in diesem Zusammenhang von einer ›Dramaturgie des Spektakels‹, die ›kaum noch der Sprache [vertraut], um ihre Ziele zu erreichen‹« (Simanowski).

Simanowski betont, dass die Ablehnung des Spektakulären den wissenschaftlichen Umgang mit Computertexten erschwert. Multimediale Hypertexte können seiner Meinung nach nicht positiv bewertet werden, solange das Spektakel pauschal mit Oberflächlichkeit gleichgesetzt wird. Die ›Ästhetisierung des Banalen und Kommerziellen‹ scheint vielen Literaturwissenschaftlern ebenso bedrohlich wie die Möglichkeit, die Bilder auf dem Rechner in Bewegung zu versetzen – und die User mit ihnen. Gerade Computerspielen wird nachgesagt, dass sie Menschen die moralisch-distanzierte Kontrolle verlieren lassen, sie ›verbilden‹, denn schließlich arbeiten die neuen Medien dieser Einschätzung gerade dort zu, wo sie besonders immersiv wirken. Die Gewaltdiskussion um Computerspiele verdankt sich demnach nicht allein den Inhalten. Sie speist sich auch aus der Angst, dass zerstreuende Medien die Anwenderinnen – und vor allem die Jugendlichen – manipulieren könnten. Die Nutzer digitaler Medien werden innerhalb dieser Diskussion in der Mehrheit als Kinder und Jugendliche wahrgenommen und als angeblich leicht zu vereinnahmende, unkritische, distanzlose Masse eingeschätzt. Doch weder bilden Computeruser oder Spielerinnen eine solch homogene Gruppe, noch lassen sich digitale Texte oder Computerspiele so einfach und eindeutig als gefährlich lesen. Im Folgenden geht es also gerade darum, eindeutige Interpretationen des digitalen Feldes zurückzustellen, um das Potential von Computerspielen und anderen digitalen Textsorten in den Vordergrund zu rücken. Diese Sicht verdankt sich nicht zuletzt den Game Studies der letzten Jahre.

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Die amerikanischen digitalen Medien

D ER B LICK

AUF DIGITALE

S PIELE

Wie Paul Zelevansky in »Attention SPAM®« betont, verändern sich heutige Rezeptionsprozesse nicht nur im Verhältnis zu digitalen Medien, sondern auch in Bezug auf ältere Medien wie Drucktexte oder Filme, die – oft im direkten Kontakt mit Computertechnik – ihre Form ändern und traditionelle Lesekompetenzen herausfordern (135). So haben digitale Verfahren die Technik des Setzens vor allem in Trendzeitschriften revolutioniert, aber auch Standbildbearbeitung, Filme und Popmusik grundlegend beeinflusst. Die medialen Veränderungen basieren auf und führen zu neuen Rezeptionskompetenzen, was eine neuartige Ungleichzeitigkeit und Ungleichheit der Leseweisen unterstützt: Rezeptionskompetenzen unterscheiden sich je nach Alter, Bildungsstand und kultureller (ethnischer, nationaler, gruppen- und medienspezifischer) Sozialisation. Das bedeutet, dass sich Rezeptionsgemeinschaften immer deutlicher gegeneinander verschieben und dass Bilder immer offensichtlicher vielfältige Wirkungen bei unterschiedlichen Gruppierungen erzielen. Solchen Entwicklungen gehen manche Literaturwissenschaftler wie Zelevansky nach, aber vor allem Kenner der Populärkultur wie z. B. Henry Jenkins in Fans, Bloggers, and Gamers: Exploring Participatory Culture. Jim Collins wandte sich bereits 1989 in der Monografie Uncommon Cultures: Popular Culture and Post-Modernism gegen das Postulat einer als homogen wahrgenommenen Rezeptionshaltung den populären Medien gegenüber. Während die Cultural Studies allerdings in bezug auf die wissenschaftliche Anerkennung populärer Drucktexte und Filme recht erfolgreich waren, steht eine breite wissenschaftliche Anerkennung von massenwirksamen digitalen Texten noch aus. Die Intermedialität und Popularität digitaler Medien und Computerspiele machen die Zusammenarbeit verschiedenster Wissenschaften nötig: Kulturwissenschaften, Medien- und Kommunikationswissenschaften, Filmstudien oder Musikwissenschaften, aber auch die Kenntnis von Literatur und Narrativik oder angrenzende Wissensgebiete wie die Semiotik sind auf diesem Forschungsgebiet hilfreich. Mit digitalen Spielen im engeren Sinne setzen sich die »Computer Game Studies« auseinander. Das neue Wissenschaftsgebiet wird meist kurz »Game Studies« genannt. Die Game Studies entstanden erst in den 1990er Jahren als wissenschaftliche Disziplin, in einer Zeit, als die Kulturwissenschaften fachübergreifende, von Diskurstheorie und Poststrukturalismus beeinflusste Theoriebildung in viele Richtungen voran trieben. Es existieren denn auch in den Game Studies heute unzählige Fragestellungen und eine große Methodenvielfalt. Wenige Wissenschaftler kannten sich damals mit digitalen Spielen aus, wobei sich fehlende Kenntnisse in Bezug auf diese Textform allein schon deshalb nur schwer aufholen lassen, da es besonders langwierig ist, Computerspiele auf allen Ebenen und mit ihrem gesamten Möglichkeitsspektrum zu erfahren. Seit 2001 existiert die elektronische Zeitschrift Game Studies, die international ausgerichtet ist und zwischen Ansätzen aus den USA, Südamerika und Europa vermittelt. Sie ist ebenso wie die Game Studies selbst interdisziplinär ausgerichtet, was Fächerherkunft und Methodik der Autorinnen und Herausgeberinnen anbelangt. Die internationale Zeitschrift Games and Culture, im Untertitel A Journal of Interactive Media, versammelt ebenfalls die unterschiedlichsten wissenschaftlichen Ansätze zum elektronischen Spiel. Im 317

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englisch- und deutschsprachigen Raum steht die Zeitschrift GEE (Game – Education – Entertainment) an der Schnittstelle zwischen der wissenschaftlichen, pädagogischen und kommerziell ausgerichteten Beschäftigung mit digitalen Spielen. Außerdem existiert eine Reihe von Publikumszeitschriften zu digitalen Spielen, die oft nach Plattformen getrennt operieren. Die Game Studies bemühen sich, digitale Spiele in einen historischen Zusammenhang zu stellen, was aber, wie Erkki Hubtamo in seiner ›Archäologie‹ der Spielhallen-Spiele betont, selten aus kulturwissenschaftlicher Perspektive geschieht. Ich werde im Folgenden immer wieder auf Texte verweisen, die sich intensiver mit einzelnen Zeiträumen auseinandersetzen, auf individuelle Firmen eingehen oder technische Aspekte in den Vordergrund stellen, die visuelle Aspekte betreffen. Für die Einteilung in Perioden nehme ich den Beitrag von Malliet und Meyer zum Handbook of Computer Game Studies aus dem Jahr 2005 als Ausgangspunkt. Die Autoren liefern eine gute Übersicht über spieltechnische und ökonomische Entwicklungen in den USA. Sie orientieren sich an den wirtschaftlichen Krisen, die technische Entwicklungen vorantrieben und sowohl ökonomische wie generische Ausdifferenzierungen begünstigten. Außerdem stütze ich mich auf das Kapitel »History« in der Monografie Understanding Video Games: The Essential Introduction von Egenfeldt-Nielsen, Smith und Tosca aus dem Jahr 2008 (45-96). Die drei Autoren nehmen eine Periodisierung des US-amerikanischen Spielemarkts vor, welche die für jeden Zeitabschnitt zentralen Genre-Entwicklungen in den Vordergrund stellt. Neben technisch motivierten Neuerungen innerhalb eines Zeitraums lassen sich andere durch generische Präferenzen erklären: Technik- und Genre-Entwicklungen gehen Hand in Hand.

5.3 Zur Geschichte der US-amerikanischen Computerspiele: 1950er Jahre-1999 Nach ihrem Spielort sind in der Computerspiel-Geschichte drei Arten von digitalen Spielen zu unterscheiden: a) Spiele im öffentlichen Raum wie etwa in Spielhallen; b) Spiele im privaten Raum, z. B. am heimischen Computer oder auf einer Konsole; und c) Spiele auf mobilen Plattformen, die vom klassischen Handheld Computer zum Telefon reichen. Was die Massenwirksamkeit anbelangt, beschreiben diese drei Spielsorten auch drei Phasen der Computerspielgeschichte, die an öffentlichen Orten begann, sich dann stärker ins Private verschob, um schließlich immer deutlichere nomadische Züge anzunehmen. Alle Formen existieren heute parallel. Diese Veränderungen prägen auch die Struktur digitaler Spiele. ArcadeSpiele teilen Eigenschaften mit analogen Spielautomaten, die bereits seit dem 19. Jahrhundert existieren. Sie sind auch soziale Ereignisse, weil – meist männliche – Spieler gegeneinander antreten und Nicht-Spieler die Menschen an den Maschinen beobachten und anfeuern. Spielhallen-Maschinen fordern zum kurzen Spielen auf; das Spielprinzip muss leicht verständlich sein und innerhalb weniger Minuten zu einem Ergebnis führen. Spiele auf der eigenen Hardware, ob Konsole oder Personal Computer, erfordern hingegen oft eine Spielzeit von durchschnittlich 50 bis 100 Stunden und können potentiell unendlich lang andauern, wodurch andere Genres ent318

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standen sind, die konzeptionell, räumlich und thematisch anspruchsvoller aufgebaut sein können als Arcade-Games und verschiedene Arten von Komplexität mit Brettspielen, Film oder Fernsehserien teilen. Ein Heimrechner, dessen Komponenten wie Prozessor, Grafik- und Soundkarte, Bildschirm und Lautsprechersystem, aber auch Netzanbindung fürs Spielen optimiert sind, ist für lange, technisch oder strategisch anspruchsvolle Spiele ideal. Auf Arbeitsrechnern und auf Handhelds oder Telefonen nimmt man hingegen eher casual games in Angriff, die willkommene kurzzeitige Unterhaltung bieten. Hier kommen die Prinzipien traditioneller Karten- und Geschicklichkeitsspiele zum Einsatz. Je mobiler das Spielen wird, desto praktischer sind kurze, leicht zu unterbrechende Spiele, die auf den frühen mobilen Telefonen mangels technischer Möglichkeiten eine ähnlich primitive Grafik aufwiesen wie in der frühen Computerspielgeschichte. Aufgrund digitaler Kommunikationsformen entstehen außerdem ganz eigene Spiele, die auf Internet-Oberflächen aufsetzen, etwa die Echtzeit-Single-Player-Simulation FarmVille, die Zynga für das Netz 2009 entwickelt hat. Solche Spiele mischen die Eigenschaften von privaten und öffentlichen Plattformen besonders offensichtlich, bauen Charakteristika früherer Spiele stärker aus, präsentieren aber auch ganz eigene Lösungen und Verbesserungen, die oft von den Usern selbst angeregt werden. Spiele für vernetzte Anwender gab es vom Beginn der Computerspielentwicklung an. Sie reichen von Angeboten für weltweit vernetzte User bis zu lokalen Netzwerk-Spielen. Die Mehrfachspieler-Anordnungen lassen sich nicht allein nach der Art der Netzwerke unterscheiden. Sie verbinden sehr unterschiedliche Gruppierungen von Spielerinnen, von technisch interessierten, in einzelnen Genres sehr versierten hardcore gamers, die einen Großteil ihrer Freizeit mit Computerspielen verbringen, bis zu casual gamers, wie die weniger engagierten Nutzerinnen oft genannt werden. Doch wie kam es zum Einsatz des Rechners als Spielgerät? V OM G ROSSRECHNER ZUR S PIELHALLE : D IE F RÜHGESCHICHTE DER DIGITALEN S PIELE , 1958-1972 Die Geschichte des Computers beginnt mit seiner Verwendung als Rechenmaschine und Speichermedium, während die visuelle Komponente zunächst zweitrangig blieb, was Ralf Schnell in Medienästhetik zu dem Schluss kommen lässt: »Ob man ihn [den Computer] überhaupt als ein ›Medium‹ ansehen kann, dem eine spezifische ›Ästhetik‹ zukommt, ist durchaus fraglich« (237). In jedem Fall ist die digitale Ästhetik stark abhängig von den technischen Entwicklungen, die vor allem die Dominanz des Visuellen stärken. Die grafischen Komponenten sind bis heute wichtige Verkaufsargumente für digitale Geräte und für Computerspiele. Digitale Maschinen besitzen denn auch medial – und markttechnisch – gesehen eine große Affinität zu anderen technischen visuellen Medien, wobei ihre Stärken inzwischen auch im kommunikativen und auditiven Bereich liegen. Die Frühgeschichte amerikanischer Computerspiele setzte nach Malliet und de Meyer Ende der 1950er Jahre ein. Computerspiele entwickelten sich an den Orten, wo es – zuerst einmal wissenschaftlich – u. a. um die Visualisierung rechnerischer Phänomene ging; so etwa am Brookhaven National 319

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Laboratory, wo 1958 Tennis for Two entstand, ein ›Spiel‹, das allein die Funktionsweise eines wissenschaftlichen Geräts – eines Oszilloskops – demonstrieren sollte. Dem Ingenieur Higinbotham ging es noch nicht um das Zählen von Treffern, auch ökonomische Belange blieben außen vor; so meldete er das Spiel nicht zum Copyright an. Malliet und de Meyer beschreiben Tennis for Two folgendermaßen: »[It] converted an oscilloscope (a machine that transforms vibrations into a wavelike motion on a screen) into a kind of pinball game. A speck of light moved across the screen and with the help of two boxes with push buttons one could control the curve it followed« (23). Tennis for Two ist visuell sehr einfach aufgebaut, es diente schließlich zu Demonstrationszwecken vor einem nicht wissenschaftlichen Publikum. Und doch initiierte es ein vor allem für die Anfangszeit einflussreiches Spielprinzip. Aphra Kerr befasst sich in The Business and Culture of Digital Games mit verschiedenen Interessengruppen, welche die Computerspielentwicklung vorantrieben. Sie verortet die ersten digitalen Spiele in der Zeit von »rock and roll music, the Space Race and the Cold War«, als der Dienstleistungssektor boomte und öffentliche Einrichtungen gefördert wurden, die nicht zuletzt der militärischen und Weltraumforschung gewidmet waren (13-14). Die erste Generation von Spiele-Entwicklern und -Nutzern waren meist männliche Angestellte dieser Forschungsinstitute, beeinflusst durch die populären Genres ihrer Zeit, wie Kerr zusammenfasst: »science fiction, Tolkienesquefantasy and pinball« (15). Ralph Baer konstruierte 1966 einen Nachfolger von Tennis for Two, diesmal für ein Fernsehgerät; 1967 folgte eine Hockey-Simulation. Neben Baer arbeiteten andere Techniker an ihren ersten Videospielen. Spacewar! entstand 1962 am Massachusetts Institute of Technology (MIT) für einen wissenschaftlichen Großrechner zum Zeitvertreib und löste eine Welle von ähnlichen Spielen an universitären Rechnern aus: Zwei Spieler kontrollierten zwei Pixel-Raumschiffe, die gegeneinander kämpften. Nolan Bushnell entwickelte Spacewar! weiter zu Computer Space, ein kommerzielles Produkt, das 1971 herauskam und auf einer eigenen Arcade-Maschine gespielt wurde. Er schob damit sowohl die Tradition der digitalen Spielhallen-Spiele an als auch die profitorientierte Spieleentwicklung. Das Projekt selbst war aber finanziell nicht erfolgreich. Bushnell brachte in seinem nächsten Arcade-Spiel, Pong, 1972 alle existierenden Spielansätze zusammen, indem er die Handlung von Tennis for Two an seine Plattform anpasste und damit auch erstmals eine Öffentlichkeit erreichte. Darstellungen solcher grafisch sehr einfachen frühen Games finden sich auf der vom International Arcade Museum herausgegebenen »Killer List of Videogames«. Sport- und Kampfspiele sind die ältesten Genres, mit welchen die Computerspielgeschichte aufwartet. Beide gehören zu den frühen Actionspielen, die Reaktionsschnelligkeit betonten und die erzählerische Komponente vernachlässigten. D ER B EGINN

DER

S PIELEINDUSTRIE : 1973-1977

Anfang der 1970er Jahre wurden digitale Spiele ein lohnendes Geschäft. 1972 war der Mikroprozessor erfunden worden, der einige Jahre später auch die Entwicklung von Spielhallen- und Konsolenspielen beeinflusste und letztlich zur Entstehung des Personal Computers führte. Nolan Bushnell rief im 320

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selben Jahr Atari ins Leben, um seine Spielhallen-games zu vertreiben. Bald dominierte Atari auch den Vertrieb von Heimkonsolen wie Home Pong, die um ein einziges Spiel herum konzipiert waren. Atari soll in der Anfangszeit bis zu 80 Prozent des US-amerikanischen Marktes digitaler Spiele kontrolliert haben (Kerr 17). 1976 übernahm der Mediengigant Warner Atari (Wirsig 79). Die wechselvolle Geschichte der Firma, die bis 2003 dreimal weiterverkauft wurde, zeigt, wie unsicher das Geschäft mit digitalen Spielkonsolen war und blieb. Aufgrund vermehrter Entwicklungskosten und verstärkter globaler Konkurrenz konnte der Flop eines einzigen Spiels schon früh über das Wohl und Wehe einer Firma entscheiden, während die Konvergenz von Unterhaltungsindustrien und Inhalten gegen Ende des 20. Jahrhunderts zum Verschwinden einst erfolgreicher Einzelunternehmen aus der Pionierzeit der Computerspiele führte (Kerr 17). In die 1970er Jahre fiel die Entwicklung erster externer Datenträger zum Speichern von ›Code‹ (Programmbefehlen), was es ermöglichte, verschiedene Spiele für ein und dasselbe Gerät zu entwickeln. In der Mitte des Jahrzehnts boomten die Heimkonsolen- und Arcade-Spiele in Amerika. Drei neue Spielprinzipien kamen in dieser Zeit auf. Zum einen setzte Atari mit seinem vierten Spiel, Got’cha (Atari; Atari, 1973), das als das erste maze game in die Computerspielgeschichte einging, neue Standards; hier verfolgt der Avatar eines Spielers den des anderen in einem irrgartenartigen Szenario. Zweitens baute Atari das Genre der Sportsimulation 1974 mit dem Rennspiel Grand Track (Atari; Atari) weiter aus. Zum dritten stellte das Spielhallen-Game Tank (Kee Games; Kee Games, 1974) einen Fortschritt in der Grafik dar, indem es zwei sich bekämpfende Panzer als klar umrissene zweidimensionale Körper zeigte. Das Spiel hatte auch vier Joysticks, auf denen für jeden Spieler ein Druckknopf zum Feuern montiert war, und einen Stereoverstärker für die Abfeuergeräusche. Außerdem führte es das Prinzip »töten oder getötet werden« ein, das zum Vorbild für shoot ’em ups wurde. Egenfeldt-Nielsen, Smith und Tosca betonen, dass mit dem Ende der 1970er Jahre Vertreter aller großen digitalen Spielprinzipien entstanden waren, die sie unter den Kategorien Action-, Adventure-, Strategie- und ›prozessorientierte‹ Spiele zusammenfassen und damit die hauptsächlichen Interessen bzw. Aktionen der Spielerinnen beschreiben. Auch der Widerstand gegen digitale Spiele, den Kerr eher in westlichen Kulturen verortet als in asiatischen (19), formierte sich in dieser Zeit: Death Race (Exidy; Exidy, 1976) war das erste Actionspiel, das als zu gewalttätig kritisiert wurde. Es erlaubte der Spielerin, als Striche dargestellte ›Figuren‹ zu überfahren, die im Augenblick der ›Berührung‹ mit dem Cursor zu Kreuzen wurden. Mit Night Driver (Atari; Atari) kam 1976 ein Rennspiel mit fortlaufender Ich-Perspektive auf den Markt, das die Darstellung eines statischen Raums in einem Einzelbild illusionistisch einfallsreich sprengte. Zu sehen waren neben Zeit, Punktestand und Geschwindigkeit am oberen Rand des Bildschirms nur die Begrenzungspfosten der Straße rechts und links im schwarzen Raum, wobei sich die Pfosten zum Horizont hin perspektivisch verjüngten und Kurven vorgaben. Night Driver arbeitete demnach sehr früh mit einem fortlaufenden Scrolling-Effekt. Die Vektorgrafik brachte die kalifornische Firma Cinematronics bereits 1977 in Space Wars (Cinematronics; Cinematronics) in Umlauf. Im Gegensatz zur Pixelgrafik, bei der einzelne Bildpunkte gitterförmig angeordnet sind, setzt die Vektorgrafik geometrische Bildelemente, also 321

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einfache Vektorformen ein. Bei der Pixelgrafik tauchen oft störende Treppen in der Darstellung von runden Formen auf, andererseits ermöglicht sie bei einem engmaschigen Gitter von Bildpunkten fotorealistische Abbildungen. Neben dem actionbetonten grafischen Spielprinzip gab es bereits seit Anfang der 1970er Jahre unter eingefleischten Computer-Usern das wortbasierte Adventure, ein erzähl- und wortlastiges Genre. Das einflussreichste Design und den Namen lieferte Adventure, ein Fantasy-Rollenspiel, das an Großrechnern von Hochschulen zwischen 1972 und 1976 entwickelt und über das militärische ARPANet, den rudimentären Vorläufer des Internet, umsonst verteilt wurde. Reine Schrift-Adventures existieren seit den 1980er Jahren nur noch unter Liebhabern des ansonsten bedeutungslosen Genres; sie laufen heute unter dem Begriff »interaktive Fiktion«. Ein Vorläufer solcher digitaler Adventures sind die Pen-and-Paper RolePlaying Games der frühen 1970er Jahre. Bereits 1974 hatten Gary Gygax und Dave Arneson Dungeons and Dragons heraus gebracht, ein Rollenspiel, das Spielerinnen mit Hilfe von Stift und Papier oder Verkleidungen (Live Action Role-Playing Games) performativ umsetzten, wobei Dialoge im Vordergrund standen. Das Spiel basiert auf J.R.R. Tolkiens The Lord of the Rings und auf Fantasy-Kriegsspielen, die einen spezifischen Zugriff auf fantasievoll ausgestaltete Welten vergangener Zeiten inszenierten und damit bis heute den Standard für quasi-mittelalterliche Szenarien in Büchern, Rollen- und Computerspielen sowie Filmen vorgeben. ›Das Mittelalter‹, wie wir es aus den populären Medien heute kennen, ist ein typisches transmediales Phänomen, das seine wesentlichen Impulse dem Fantasie-Genre und seinen gerade in digitalen Spielen erfolgreichen Inszenierungen verdankt. Als sich die Firma Strategic Simulations Inc. 1987 die Rechte an Dungeons and Dragons sicherte, setzte sie die Spiele – anfangs im Einzelspielmodus – auf den Computer um. Zu den Prinzipien gehört die Darstellung einzelner Fantasy-Charaktere mit ihren typischen Eigenschaften in einer Fantasiewelt, die in den ersten Jahren rein sprachlich – also etwa durch die Rede der Charaktere und beschreibende Passagen –, später auch visuell und akustisch einen Eindruck von Mittelalter schaffte; außerdem ist sprachliche und kämpferische Interaktion mit anderen Charakteren wichtig. Spielerinnen müssen mit ihrem Avatar Erfahrungspunkte sammeln, indem sie Missionen erfüllen, Kämpfe bestehen, aber auch Rätsel lösen. Das erste Mehrspieler-Szenario MUD – Multi-User Dungeon – von 1979 basierte auf dem Dungeons and Dragons-System und war ein sprachliches Rollenspiel, das im lokalen Netz von Großrechnern der Essex University gespielt wurde, also nur einer kleinen und privilegierten Nutzergruppe zugänglich war, bis die Universität 1980 ans ARPANet angeschlossen wurde. User betraten eine rein schriftliche Fantasy-Welt und interagierten online ›in Echtzeit‹ mit anderen: Alle Spielerinnen bewegten sich in derselben Welt, die sie durch ihre Aktionen ständig füreinander veränderten. MUD selbst lief auf einem zentralen Server, der alle Eingaben speicherte, sodass sich die Spielewelt ausdehnte bis zu dem Punkt, an dem in regelmäßigen Abständen der Ausgangszustand wiederhergestellt wurde. MUDs waren ebenso wie die ersten Mehrspieler-Strategie-Spiele – etwa das rundenbasierte Empire, das seit 1973 in verschiedenen Folgen erschien – wichtige Vorgänger heutiger MMORPGs (Massively Multiplayer Online Role-Playing Games).

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Rollenspiele weisen eine Verwandtschaft zu Adventures auf, die sich ebenfalls in den 1970er Jahren sowohl in gedruckter Version wie auch als Computerspiele unter hardcore-Fans des Genres verbreiteten. Zwischen 1977 und 1979 entstand mit Zork ein witziges Adventure, das zuerst als Freeware, also nicht kommerziell auf einem Rechner am MIT installiert war. Zork war das erste Spiel, »das den Sprung aus der Subkultur der Computerhacker in die Geschäftswelt und auf Heimcomputer schaffte«, wie Lischka in »Der große Sprung« schreibt. Zork verband nicht nur die Welt der Computerkenner mit den Gelegenheitsspielern, es verdankte seine Existenz auch kooperativen Strategien, die sich später bei kommerziellen Rollen- und Strategiespielen durchsetzen sollten, wo User sich für die Verbesserung und Erweiterung ›ihres‹ Spiels aktiv einsetzen. Anhand von Adventures und Rollenspielen lässt sich die Genre-Problematik bei Spielen verdeutlichen. Ein Game-Genre kann man zum einen aufgrund seines Spielprinzips einordnen, das die Art der Aktionen beschreibt. Außerdem ist es möglich, Games nach ihrem Szenario zu beurteilen, also gemäß der Atmosphäre, des Ortes, der Zeit und der Ästhetik, die sie aufbauen. Zum dritten lässt sich der Spielmodus feststellen: Ein Game kann eine Einzelspielersituation vorgeben, Vielspieler-Möglichkeiten für einige Mitspielerinnen bereitstellen oder eine Massively-Multiplayer-Situation vorgeben. Während Adventures und Rollenspiele viele Eigenschaften des Spielprinzips teilen, sind Szenarien des Adventures bedeutend vielfältiger als die des Rollenspiels, das Fantasy bevorzugt. Die Geschichte digitaler Spiele zeigt, dass einige Charakteristika (Rätsellösen, Einzelspielermodus) an Attraktivität verloren, während andere (Action- und Kampfelemente sowie das Mittelalter-Szenario) zunehmend Spieler anzogen. Ordnet man Adventures und Rollenspiele gemäß ihren Schwerpunkten auf einer fortlaufenden Skala an, so befindet sich das Adventure an einem Ende, das Massively-Multiplayer-Online-Rollenspiel am anderen: Adventures zehren von Rätseln und komplexen Erzählsituationen, Einzelspieler-Rollenspiele setzen auf Handlung und Charakterentwicklung, während Multiplayer-Rollenspiele Charakterentwicklung und Interaktion mit anderen Spielerinnen betonen. Literaturwissenschaftlerinnen interessierten sich vor allem für das erzählerische Element des Adventures und des Einzelspieler-Rollenspiels, bei dem die Entfaltung einer Erzählhandlung wichtig bleibt, allerdings ohne einer vorgegebenen, fortlaufenden Erzählstruktur zu folgen. Bei Multiplayer-Rollenspielen nimmt die Bedeutung des zielgerichteten, vorgegebenen Plot zugunsten einer größeren individuellen, spontanen Handlungsfreiheit ab. Somit überwiegen performative Aspekte des Spielens in der Gruppe, und die Mensch-Maschine-Interaktivität verschiebt sich zugunsten der Beziehungen zwischen Menschen. Im Multiplayer-Rollenspiel bestimmen die Planung und Koordination von Kampfhandlungen und Gruppenaktionen den Ablauf. Ein solch prozessualer, gruppenorientierter, aber individuell wahrgenommener Verlauf sperrt sich ganz offensichtlich gegen gängige textanalytische Verfahren und stieß eher bei den Wissenschaften auf Interesse, die sich mit sozialen Strukturen beschäftigen. Nicht kommerzielle Programmierer und Spieler nutzten bereits in den 1970er Jahren sowohl die erzählerischen wie die strategischen und atmosphärischen Vorzüge digitaler Spiele. Sie ließen sich aber auch auf das Vernet323

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zungs- und Vielspieler-Potential ein, das in digitalen Spielen steckte und ihnen auf der Basis wissenschaftlicher Netzwerke zur Verfügung stand, wobei sie auf grafische Komponenten verzichteten. So leisteten computerbegeisterte junge Wissenschaftler wichtige Vorarbeiten auf diesen Gebieten. Zur gleichen Zeit basierten die meisten kommerziell erfolgreichen und eher unter Computerlaien populären Spiele immer noch auf dem spieltechnisch und grafisch wenig ausdrucksvollen Pong-Konzept. Veraltete Maschinen führten Ende der 1970er Jahre zur ersten Krise der jungen Industrie. D IE N INTENDO -Ä RA : 1978-1989 Gegen Ende der 1970er Jahre boten immer mehr Konsolenspiele farbige Bilder. Sie beschränkten sich nicht mehr auf einen einzigen immer gleichen Bildausschnitt, der den Bildschirm ausfüllte, sondern hatten einen Screen, der sich scrollen ließ. Bis 1984 dominierte Atari den Verkauf von Konsolenspielen für den privaten und öffentlichen Raum. Dementsprechend hart traf das Unternehmen die Stagnation des amerikanischen Spielemarktes, die angesichts dringend nötiger Neuerungen im Jahr 1978 und wieder 1984 auftrat. Japanische Firmen wie Nintendo, Universal und Sega profitierten von der Schwäche des Marktführers; sie drängten mit obstacle bzw. platform games in die amerikanischen Läden. In die 1980er Jahre fiel der Durchbruch des Personal Computers, der nun auch zur Konkurrenz der Konsolen wurde. Die unterschiedlichsten Speichermedien sorgten dafür, dass die Software-Pakete geräteunabhängig wurden und immer größere Datenmengen fassten. Spiele konnten jetzt auch auf der Ebene der Hardware zulegen, was auf dem Gebiet der Grafik deutliche Verbesserungen brachte. So wurde das schriftbasierte Adventure zunehmend durch das bebilderte Point-and-Click-Adventure abgelöst, das schriftbasierte Rollenspiel durch grafische Formen. Auf dem PC begannen die Spielewelten nicht kommerzieller und kommerzieller Entwickler zusammenzuwachsen. Sowohl spieltaktische Action Games oder Simulationen wie auch erzählerisch anspruchsvolle Genres (z. B. Adventures) fanden im PC die ideale Plattform. Für Konsolen drängten japanische Geräte und Spielkonzepte auf den westlichen Markt. Japanische Firmen brachten maze games wie das ArcadeSpiel Pac-Man (Namco, Bally; Namco, Midway, 1980) heraus, ein farbenfrohes, humorvolles, auch für Kinder attraktives Genre. Die Spielumgebung ist wie ein Irrgarten in der Aufsicht ausgelegt, durch den sich die Spielfigur unter Umgehung der Hindernisse und Einheimsen von Punkten schlagen muss. Pac-Man war das erste weltweit erfolgreiche Spiel, das eine zentrale Figur hatte, die auch den Vertrieb von Merchandising-Produkten erlaubte. Das aus Japan importierte Prinzip der platform-Games fand auf dem amerikanischen Markt sofort Anklang und wurde ausgehend von der Spielhalle auf allen Geräten erfolgreich. Das Spielfeld eines platform-Game wie Donkey Kong (Nintendo; Nintendo, 1981 Arcade-Spiel) oder Mario Bros. (Nintendo; Nintendo, 1983 Arcade-Spiel) zeigt einen in sich statischen, vertikal ausgerichteten Raum, in dem von unten nach oben aufeinandergeschichtete Plattformen zu sehen sind. Der schnauzbärtige Mario hat immer wieder neue Hindernisse zu überwinden, während er nach und nach von einer Ebene in die jeweils nächste aufsteigt, die er z. B. über Leitern erreicht, bis er vom unteren Bildschirmrand zum oberen gelangt ist. Das Spielprinzip ist einfach 324

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zu lernen und zu kontrollieren, vielfältig erweiterbar und auf unterschiedlichste Themen und Kontexte anzuwenden, wie die einzigartige Erfolgsgeschichte Marios beweist. Das platform-Game lässt sich auf einen von unten nach oben scrollenden Bildschirm ebenso übertragen wie auf einen, der von links nach rechts wandert. Es ist Teil des Actiongenres, bei dem es um motorische Fähigkeiten und Hand-Augen-Koordination geht. Während Mario Bros. noch ganz ohne scrollenden Bildschirm auskommt, ist Super Mario Bros. (Nintendo; Nintendo, 1985) horizontal zu scrollen. Ideal geeignet ist das Genre für Handhelds wie den GameBoy, den Nintendo ab 1989 verkaufte und der mit Mario-Spielen vertrieben wurde. In den 1980er Jahren zeigte sich nicht zuletzt am Beispiel von platform-Spielen, die von der Spielhalle weiter auf Heim-Plattformen angepasst wurden, dass das Portieren eines Prinzips auf verschiedene Maschinen sehr einträglich sein konnte. Angesichts des verstärkten Konkurrenzdrucks aus Japan wurde Innovation zum wichtigsten Verkaufsargument für US-amerikanische Spielehersteller, allen voran für die Firma Atari, die zumindest bis 1984 mit einigen Konzepten Verkaufserfolge verzeichnete. Sie brachte 1979 mit Adventure (Atari; Atari) das erste grafische Adventure in Farbe heraus. Apple entwickelte 1976 den APPLE I, den ersten Personal Computer, und bot bereits 1977 Computerspiele für den APPLE II an. Es schlossen sich Hersteller wie Radio Shack, Texas Instruments und Commodore mit dem Commodore 64 an (Schnell 241). In den 1980er Jahren wurden Personal Computer wie der Sinclair, Acorn und Commodore deutlich billiger. Für viele Hardware-Anbieter war angesichts der Krisen auf dem Spielemarkt allerdings nicht klar, ob sie die Spielefähigkeiten ihrer Computer explizit bewerben oder allein ihre Multifunktionalität anpreisen sollten (Kerr 18). Richard Garriot schaffte 1980 mit der ersten Ausgabe von Ultima (Origin Systems, Electronic Arts et al.; Origin Systems, California Pacific, Sierra, Electronic Arts et al.) eine digitale Rollenspiel-Welt für Einzelspieler, die schon damals erzählerisch sehr dicht, aber spielmechanisch eher einfach gehalten war und auf die verschiedensten Systeme angepasst wurde, vom Apple II und Atari 8-bit über den C-64 und die PlayStation zu DOS und Windows: Der User wandert durch eine Fantasy-Welt und kämpft mit Monstern. Im Lauf der Jahre kamen bis 1999 immer mehr und immer anspruchsvollere Folgen des Spiels heraus. Labiner bezeichnet die Ultima-Serie 1991 als »Maß aller Dinge« im Rollenspielbereich (8). Ultima Online (Origin Systems, Electronic Arts; Origin Systems, Electronic Arts) basierte auf der gesamten Ultima-Serie und wurde zwischen 1997 und 1999 eines der erfolgreichsten Online-Spiele. 1980 bot Ultima zwar eine sehr einfache farbige Grafik und minimale Soundeffekte, was aber durch die spielerische Komplexität aufgewogen wurde. Auch in späteren Folgen tragen non-player-characters, also Figuren, die nicht durch eine menschliche Spielerin gelenkt werden, sondern Teil des Programms sind, Realitätseffekte bei: Sie tauchen in dem Spiel, dessen Zeitraster den Tagesablauf simuliert, nur zu bestimmten Tageszeiten auf, gerade so, als würden sie nur tagsüber ›arbeiten‹, nachts aber ›schlafen‹. 1988 kam mit Dungeon Master (FTL Games; FTL Games für Atari) das erste Einzelspieler-Rollenspiel in räumlicher Grafik und Echtzeit heraus. Man bewegt sich durch ein Labyrinth, das dungeon-typisch einfach gehalten ist; dafür ist die Benutzerführung höchst ergonomisch gestaltet. Seither bieten 325

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Computer-Rollenspiele grafisch und soundtechnisch immer aufwändiger präsentierte Welten, wohingegen die Komplexität der Figuren, die zur Auswahl stehen, oder die Handlung von Anfang an weit entwickelt war. FATE – Gates of Dawn (reLINE Software; reLINE Software – für Amiga) etwa stellte schon 1991 zwanzig Wizard-Sorten und fünfzehn nicht magische Berufe zur Auswahl. Eine organisatorische Gruppe (party) bestand aus bis zu sieben Figuren, die zusammen gegen verschiedene Gegner kämpfen; vier parties ließen sich pro Spiel abwechselnd dirigieren. Die Figuren hatten bereits Tamagotchi-Eigenschaften: Sie waren hungrig, durstig und wurden müde. Im Jahr 1984 begann die Steuerung des Computers mit Hilfe bildlicher Symbole (icons), einer grafischen Benutzeroberfläche und der Maus. Benutzerfreundlichkeit wurde die Voraussetzung für den Siegeszug des ›persönlichen‹ Computers. Erst die grafischen Icons eröffneten den nicht in Programmiersprachen geübten »Computeranalphabeten« (Schnell 245) einen stärker intuitiven Zugang zur Rechenmaschine Computer. Symbole ersetzten computersprachliche Zeichen und ermöglichten ein quasi-spielerisches Verhältnis zum technischen Gerät, unterstützt durch ansprechenderes Design sowie durch Sounds und Farben auf dem Bildschirm. Diese Entwicklungen betrafen alle Spielgenres, sie veränderten aber gerade die vorher sehr schriftlastigen Adventures. In den 1980er Jahren entstanden die typischen point-and-clickAdventures, für die Sierra und Lucas Arts berühmt wurden, von der Reihe King’s Quest (Sierra; Sierra, ab 1984) über viele Folgen von Leisure Suit Larry (Sierra; Sierra, 1987-2009) zur Monkey Island-Serie (Lucas Arts; Lucas Arts, 1990-2010), die alle Einzelplatzspiele waren.2 Der PC bewährte sich auch als Plattform für prozessorientierte Simulationen. Einer der berühmtesten und langlebigsten Vertreter dieses Genres war der Microsoft Flight Simulator (ACES Game Studio – Microsoft Game Studios; Microsoft Game Studios), den es von 1982, noch in monochromer Ausführung und Drahtgitter-Grafik, bis 2006 zu kaufen gab. Hier stand die Qualität der Grafik im Vordergrund, weil nicht nur die Anzeigen im Cockpit abzubilden waren, sondern auch die Landschaften, die man aus dem Flugzeug heraus wahrnahm. Ab der Version 4.0 von 1989 war der Flight Simulator mit dynamischer Szenerie ausgestattet; es waren viele Zusatzmodule zu diversen Landschaften, Flughäfen und Flugzeugen im Angebot. 2

Die immer rasantere Entwicklung bei Hard- und Software in den 1980er Jahren machte deutlich, dass alte Systeme sowie auf ihnen entwickelte und gespeicherte Cybertexte schwer zu erhalten sind. Zu jeder Generation von digitalen Spielen muss demnach nicht nur die Soft-, sondern auch die Hardware erhalten werden, wie zum Beispiel die Ausstellungen des Computerspiele-Museums in Berlin zeigen. Für manche älteren bzw. für Arcade- oder Konsolen-Systeme existieren im Netz Emulatoren, die es einer Privatperson erlauben, ein historisches Spiel mit einem zeitgenössischen Betriebssystem auf dem PC laufen zu lassen. Ein Verzeichnis solcher Emulatoren findet sich auf der Seite von Retrogames. Um Arcade-Spiele macht sich das International Arcade Museum verdient, indem es im Netz die ausgezeichnete »Killer List of [Arcade] Videogames« herausgibt; neben einer Auflistung finden sich aktuelle Beschreibungen und Bildmaterial zu historischen Spielen. Theodor Lauppert führt auf seiner Seite zur Geschichte der »Adventure Games« viele Links zu Bildbeispielen auf, aber auch Überblickstexte wie Wirsigs Das große Lexikon der Computerspiele liefern reichlich Bildmaterial.

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Aus Japan kam die Idee, eine Lebenssimulation zu kreieren, die Activision 1985 in dem Spiel Little Computer People umsetzte (Activision; Activision), ein Konzept, das bis heute in The Sims (Maxis; Electronic Arts, 2000) weiterlebt, dem nach Walker (»The Sims Overtakes Myst«) weltweit erfolgreichsten Spiel überhaupt. Bei der legendären Wirtschaftssimulation SimCity (Maxis, Nintendo; Brøderbund, Maxis, Nintendo) kann man seit 1989 als Bürgermeister vieler Städte der Welt, die in unendlich vielen Fortsetzungen zur Auswahl stehen, seine strategisch-planerischen Fähigkeiten beweisen. Die Spielerin hat die Aufgabe, die Stadt zu gründen und bei ausgeglichenem Haushalt weiter auszubauen, dabei aber ihre Bewohner zufrieden zu stellen. In den 1980er Jahren finden erstmals auch serious games, Lernspiele, gerade im Personal Computer ihre Plattform (vgl. EgenfeldtNielsen, Smith und Tosca 205-222). Where in the World Is Carmen Sandiego? (Brøderbund, 1985-1996) ist mit 4 Millionen verkauften Exemplaren der wichtigste Titel im Edutainment-Genre. Das Spiel eröffnet (im Rahmen eines großen Franchise-Angebots von Filmen und TV-Sendungen) Lernumgebungen für Kinder in Geografie, Geschichte, Mathematik, Englisch und anderen Fächern. Heimgeräte erwiesen sich als die ideale Plattformen für Spiele, die sorgfältige Analyse und strategische Planung voraussetzten. 1987 erschien Empire – Wargame of the Century (Northwest Software; Interstel Corporation), ein rundenbasiertes militärisches Strategiespiel, dessen ursprüngliche Struktur von 1978 stammte. Der Klassiker unter den Strategiespielen erschien für Amiga, Apple II, Atari ST, Commodore 64 und DOS. Die User begannen mit wenigen Ressourcen und mussten die Spielewelt erforschen, um feindliche Nationen aufzuspüren und letztlich zu besiegen (Egenfeldt-Nielsen, Smith und Tosca 69). Die Grafik war bei diesem Genre zweitrangig, da es vor allem auf gute Kriegskarten und auf die effektive Verwaltung verschiedener Variablen ankam. Empire hatte einige Nachfolger, die nicht nur Einzelspieler-, sondern auch Mehrspieler-Szenarien boten. Zum Ende der 1980er Jahre hatten sich einige neue Spielkonzepte herausgebildet, die sich bis heute auf dem Markt behaupten. Das Konsolengeschäft erholte sich vom Crash des Jahres 1984, während der PC als Spieleplattform Anhänger fand, sodass viele Heimgeräte für das audiovisuelle ›Hochrüsten‹ und die immer komplexer werdenden Produktionsprozesse der 1990er Jahre genutzt wurden und der Spielemarkt ein sehr breites, über die Plattformen verteiltes Angebot bereitstellte. K RIEG

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3D: 1990-1999

Ende der 1980er Jahre war klar, dass Heim-PC und -Konsole als Spielgeräte die Arcade-Konsole im Kampf um Marktanteile geschlagen hatten. Grafik und Sound waren auf dem PC jetzt so weit entwickelt, dass er sich auch der Konsole gegenüber endgültig als Spielgerät durchsetzen konnte. Die 1990er Jahre standen ganz im Zeichen der Vernetzung. Glasfaserkabel zur schnelleren Datenübertragung gab es seit Ende des letzten Jahrzehnts (Schnell 274). 1992 wurde der WWW-Standard verabschiedet, das Internet-Protokoll. Es ermöglichte den weltweiten dezentralen Austausch von Daten und vereinfachte die »Kommunikation in Form visueller Zeichen und Kürzeln« (Schnell 270).

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Der Siegeszug der Netzwerktechnologien und des Internet brachte auch die Spielebranche voran: Multiplayer-Spiele wurden erfolgreicher als je zuvor. In den 1990er Jahren wurden Computerspiele demnach nicht nur ökonomisch immer wichtiger, die erste User-Generation, die mit Spielen aufgewachsen war, und die immer größere Verbreitung digitaler Spiele führten auch zu einer stärkeren Beachtung seitens der Öffentlichkeit. Außerdem nahm die Bedeutung digitaler Technologien für die Filmproduktion zu: Im ausgehenden 20. Jahrhundert hatten digitale Spiele Einfluss auf die Bildanimation, Spezialeffekte und den Sound. Gerade hinsichtlich der Klanggestaltung waren im ausgehenden 20. Jahrhundert Fortschritte zu verzeichnen. Während die ersten digitalen Spiele keine Geräusche hatten, bestand seit den 1970er Jahren die Möglichkeit, Töne für Spiele aufzunehmen und direkt abzuspielen oder als MIDI-Daten zu speichern und mit der Soundkarte wiederzugeben. Noch bis weit in die 1980er Jahre war es üblich, dass einzelne Töne oder kurze Tonfolgen Vorkommnisse wie den Einschlag eines Sprengkörpers oder das Auftauchen eines fremden Raumschiffs immer wieder begleiteten, also allein kontextbasiert auftauchten. Die Einschränkung durch mangelnden Speicherplatz fiel zumindest für den PC in den 1990er Jahren weg, doch die Prozessorgeschwindigkeit setzte der Dynamisierung der Tontechnik auf allen Plattformen immer noch Grenzen. Nintendo sicherte sich die Zusammenarbeit mit Sony bei der Entwicklung der CD-ROM als einem neuen Speichermedium, was Sony zu einem weiteren Konkurrenten auf dem Spielemarkt machte (Kerr 20). CD-ROMs sorgten für eine zusätzliche Verbreitung von Spielen auf dem PC im Verlauf der 1990er Jahre, wobei Heimkonsolen nicht an Bedeutung verloren. Die Ablösung der Floppy Disk durch die CD-ROM bedeutete, dass Spiele hinsichtlich des Datenumfangs immer größer werden konnten. Mit zunehmender Komplexität der Grafik war dies auch nötig, denn zweidimensionale BitmapGrafik (Rastergrafik) wurde jetzt vermehrt durch 3D-Polygonen-Grafik ersetzt. Als erster 3D-Shooter erschien 1992 Wolfenstein 3D (id Software, Apogee Games), 1993 gefolgt von Doom (id Software, Cdv Software Entertainment): Der 3D-Ego-Shooter (Englisch: 1st-person shooter), eines der erfolgreichsten Actionspielgenres überhaupt, war ›geboren‹. Grafik und Sound trugen hier zu einem Raumgefühl bei, das zuerst rein technisch gesehen gar nicht dreidimensional war, sondern bei einer festgelegten Höhe des Raums Dreidimensionalität nur simulierte. Erst mit Quake (id Software, GT Interactive) kam 1996 ein echtes 3D-Spiel heraus, in dem Gegner und Gegenstände aus Polygonen, d. h. aus 3D-Modellen bestanden. Damit lässt sich die Welt von allen Seiten aus dynamisch betrachten, was dem Multiplayer-Mode zugute kommt. Die Spielerin blickt im Ego-Shooter über eine Waffe hinweg in den meist als Korridor dargestellten Raum. In der Mitte – später auch stärker am Rand des Blickfelds – befindet sich ein Fadenkreuz. Mit ihm zielt man auf die Gegner, die meist unvermittelt und in großer Zahl auftauchen. Die eigene Lebensenergie und der Munitionsvorrat werden am Rand des Bildschirms angezeigt. Die LAN-Technologie (Local Area Network) ermöglichte das Zusammenspiel mehrerer Spieler von Wolfenstein oder Doom in einem lokalen Netzwerk, das verschiedene Computer verband.

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Doom erschien zuerst als Shareware, konnte also kostenlos im Netz heruntergeladen werden. Das bedeutete, dass die User von Doom eigene Mods (Mod = modification/Modifizierung) entwickeln konnten (vgl. Wolf 1 und Manovich 245). Mit Hilfe eines mitgelieferten Editors oder spezieller im Spiel enthaltener Programmiersprachen (Wirsig 312) kann ein Fan mittels Mods ein bestehendes Spiel umbauen, zusätzliche Levels und Missionen erzeugen oder eine völlig neue Ästhetik gestalten. Ist der Quelltext (source code) freigegeben, lässt sich ein ganz neues Spiel entwickeln. Wirsig nennt als eines der erfolgreichsten Mods das von Fans mit Hilfe der Quake Engine für Half-Life (Valve, Sierra, 1998) entwickelte Spiel Counter-Strike, das Sierra 2000 als kommerzielles Produkt veröffentlichte und das zu einem der meistgespielten Spiele im E-Sport wurde. Vielfältige Modifizierungsmöglichkeiten verschafften nicht nur Doom eine riesige Fangemeinde. Mit der neuartigen Vertriebsform – zuerst als kostenloser Download, dann als registrierte, kostenpflichtige Software – veränderte id Software die traditionelle Beziehung zwischen Herstellern und Nutzern und band letztere stärker in den Herstellungs- und Verbesserungsprozess des Produkts ein. 1993 erschien neben Doom mit dem Adventure Myst eines der erfolgreichsten Computerspiele überhaupt. Lev Manovich zeigt anhand dieser beiden Spiele, dass die digitalen Medien in den 1990er Jahren bereits das Potential hatten, alle älteren Medien zu beeinflussen: »Each became a phenomenon whose popularity has extended beyond the hard-core gaming community, spilling into sequels, books, TV, films, fashion, and design. Together, they define the new field and its limits« (244). Für Manovich ist das räumliche Prinzip der space journey charakteristisch für jede Art der digitalen Medien: »The fact that they all consistently do [use it] suggests to me that navigable space represents a larger cultural form. In other words, it is something that transcends computer games and in fact, as we will see later, computer culture as well. Just like a database, navigable space is a form that existed before computers, even if the computer becomes its perfect medium« (248).

Die Arbeit mit Daten findet im ›navigable space‹, im sogenannten Cyberspace statt, und sowohl Raum als auch das wahrnehmende Subjekt befinden sich in ständiger Bewegung. Der entstehende ›non-place‹, »a new architecture of transit and impermanence« (Manovich 280), wird zur neuen Norm für das streng individualisierte Verhältnis von Raum auf der einen Seite und dem nie still stehenden User auf der anderen. Computerspiele machen diesen Raum anschaulich in seiner kinetischen, visuellen, generischen Vielfalt. Myst (Cyan Worlds, Brøderbund) war 1993 das erste einer Reihe von eher ›meditativen‹ Adventure-Computerspielen initiiert durch die Brüder Rand und Robyn Miller, denen es gelang, viele Millionen User in den Datenraum zu locken. Es war mit über sechs Millionen verkauften Exemplaren weltweit das erfolgreichste Spiel überhaupt, bis The Sims seine Verkaufszahlen 2002 überholte (Walker »The Sims Overtakes Myst«). In Myst eröffnet sich den Spielenden eine menschenleere, ästhetisch sehr vielseitige Welt voller nostalgischer Maschinen und technischer Geräte vergangener, vordigitaler Zeiten, die wir bedienen müssen, um die fiktionale Welt erschließen zu können. 329

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Seit 1993 hatte Myst einige Nachfolger bis hin zur Online- und schließlich Open-Source-Online-Version Myst Online: Uru Live (Cyan Worlds; Gametap, 2007). Auf der Erzählebene von Myst wird die gesamte Aktion durch die Existenz virtueller (Tage-)Bücher hervorgerufen, und die Nutzerinnen orientieren sich im Spielverlauf immer an diesen Schrift- und Druckdokumenten; auch in den späteren Folgen bleibt das Buch das zentrale Medium – sicherlich ein Grund für den Erfolg des Spiels und seiner Nachfolger bei literarisch Interessierten. Myst tat das Seine dazu, Computerspielen unter Buchliebhabern zum Erfolg zu verhelfen. Neben Myst war es in den späten 1990er Jahren jedoch vor allem die Protagonistin des Spiels Tomb Raider (Core Design, Eidos Interactive, 1996), Lara Croft, die Computerspiele bei einer breiteren Öffentlichkeit bekannt machte. Lara Crofts ausladender Busen warb erfolgreich für dreidimensionale Computerumgebungen, und als Gallionsfigur der Sony-PlayStation-Offensive trug sie maßgeblich zur Popularität von Sonys Konsole bei. Helen W. Kennedy argumentiert, dass Sony mit Lara für seine Playstation 1996 ein dezidiertes Zeichen setzte: »In the late 80s and early 90s both Nintendo and Sega made it very clear that to attempt to market games for girls would threaten their real market – boys and young men. Sony’s Playstation, by addressing youth culture in general, broke with this tradition«. Konsolenspiele waren nicht mehr nur männlichen Usern vorbehalten. Für Kennedy signalisiert Lara Crofts medialer Siegeszug, dass Computerspiele mittlerweile weithin wahrgenommen wurden: »people who had never played Tomb Raider could not help but have some awareness of Lara the character/icon«. Lara war die beste Werbefigur, die sich die Spieleindustrie wünschen konnte: Sie trat im Fernsehen auf, zierte die Titelseite von Zeitschriften und brillierte weltweit in Musikvideos, zum Beispiel im Video zum Lied »Männer sind Schweine« der deutschen Gruppe Die Ärzte (Hot Action Records, 1998). Der Kinostart eines Tomb Raider-Spielfilms war schon für 1999 geplant, ließ dann aber bis 2001 auf sich warten, als Simon Wests Lara Croft: Tomb Raider herauskam. 2003 folgte der nächste Film, Lara Croft: Tomb Raider, The Cradle of Life (Jan de Bont). Lara ist bis heute ein Vorzeigeprodukt des Computer- und Video-Zeitalters und ein Zeichen funktionierenden Merchandisings. Doch nicht nur auf dem Weltmarkt reüssierte die schlagkräftige Engländerin; sie war auch ein Erfolg an der feministischen Front und wurde als Ikone des Postfeminismus sowohl gefeiert als auch verflucht. Laras stärkste Waffe war immer ihr Körper. Und sie setzt ihn bis heute in den verschiedensten Actionversionen auf allen Plattformen gegen die Gefahren ein, die sie im Lauf des Spiels bedrohen. Deshalb trainieren die Spielerinnen zu Anfang von Tomb Raider nicht nur den schwierigen Umgang mit Feuerwaffen, sondern auch den mit Laras Renn-, Sprung- und Schwimmeigenschaften. Von Folge zu Folge wird Lara stärker, hat mehr und immer tödlichere Waffen zur Verfügung, begegnet ständig mehr Feinden, die in kürzer werdenden Abständen auf sie einstürmen und immer mehr Schaden anrichten. Für die Spielerin ist Übung alles, und so verlangt jede Folge nicht nur Lara, sondern auch den Spielenden mehr technisches Geschick ab als alle zuvor. Tomb Raider spielt man nicht in der EgoPerspektive, sondern in der dritten Person, aus dem sogenannten over the shoulder-Blickwinkel – die Spielerinnen wähnen sich hinter Lara und müssen an ihr vorbei umständlich auf die Gegner zielen. 330

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Die Bewegungsabläufe der Protagonistin sind so fließend animiert, wie es der jeweilige Stand der Programmiertechnik erlaubte, wobei es von Anfang an Kritik an der umständlichen Handhabung der Figur gab. Lara selbst war ursprünglich wie die Figuren eines Zeichentrickfilms ›von Hand‹ durch den Einsatz komplexer polygoner Verfahren entworfen worden. Die Körperbilder mussten möglichst nahtlos in die sich ständig wiederholende Kachelgrafik, die tiles der digitalen Umgebung eingepasst werden. 1996 existierte noch eine starke Diskrepanz zwischen der optischen Qualität der einzelnen Spiel-Bestandteile: Die Widersacher und die exotischen Umgebungen Laras waren deutlich stärker schematisiert als die Protagonistin selbst. Räume waren vor allem anfänglich bei allen optischen Tricks offensichtlich wie Würfel geschnitten, Wände und Gegenstände standen im 90-Grad-Winkel zueinander und waren mit wiederkehrenden Mustern sehr schematisch gestaltet. Mit zunehmender Rechenleistung und 3D-Beschleuniger nahm auch die Qualität des bewegten Bildes zu, Umrisse wurden im Lauf der Jahre runder, Bewegungen fließender. Die Räume erzeugten mit der Zeit stärkere Stimmungseffekte, obwohl sie nach wie vor labyrinthisch erschienen – ein Erbe des platform-Genres, dem Tomb Raider entstammt. Die Computergrafik entwickelte sich ab den späten 1990er Jahren rasant entlang den Standards, die nicht zuletzt Animationsfilme wie Toy Story (Pixar Animation Studios, Walt Disney Company, 1995), A Bug’s Life (Pixar Animation Studios, 1998) oder der mit Hilfe von Motion Capture (Erfassung und Aufzeichnung der Bewegungen von Schauspielern) produzierte The Polar Express (Castle Rock Entertainment, 2004) setzten. Die neueren Folgen von Tomb Raider zeigen Figuren, die dynamische Schatten werfen, Wasseroberflächen, die sich je nach Windrichtungen kräuseln, und Objekte, deren Oberflächen sich gemäß dem Lichtverlauf verändern. Figuren können ein Objekt von allen Seiten begutachten, animierte Objekte lassen sich in wechselnden Perspektiven in Bewegung verfolgen, während sie hinter anderen Gegenständen langsam verschwinden und wieder auftauchen. In den 1990er Jahren wurden Computerspiele in der Öffentlichkeit nicht nur im positiven Sinn immer sichtbarer. In dieser Zeit wurde auch der Protest gegen die Darstellung von Gewalt und Sexualität in digitalen Spielen immer lauter. 1987 war Street Fighter (Capcom; Capcom) bereits wegen Gewaltverherrlichung kritisiert worden, 1991/1992 stand der zweite Teil, Street Fighter II (Capcom; Capcom), noch stärker in der Kritik, weil er in seiner ComicÄsthetik und typischer ruckartiger Animation wieder Tod bringende Kampfsporttechniken zelebrierte. Ein anderes Beat ’em up-Spiel, Mortal Combat (Midway Games, Midway Games, 1992), kam wegen exzessiver Gewaltdarstellung ebenfalls in Misskredit; im Vordergrund der Diskussion standen seine death moves, besondere Bewegungsabfolgen, die auch das Aufreißen des gegnerischen Körpers nach dem Kampf beinhalteten. Die Entrüstung über diese Spiele führte 1994 auf Veranlassung des US-amerikanischen Kongresses zur Gründung des Entertainment Software Rating Board (kurz ESRB) durch die Entertainment Software Association (Egenfeldt-Nielsen, Smith und Tosca 136). Seither klassifiziert das ESRB jedes Computerspiel altersspezifisch. Trotzdem ist der Einfluss asiatischer Kampftechniken und Gewaltdarstellungen seit den 1990er Jahren gerade aus Beat ’em ups nicht mehr wegzudenken.

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Henry Jenkins weist in dem Kapitel »The War between Effects and Meanings: Rethinking the Video Game Violence Debate« darauf hin, dass eine US-amerikanische Grundsatzentscheidung Computerspiele aus dem ersten Zusatzartikel zur Verfassung – der Redefreiheit – ausnahm: »On April 19, 2002, U.S. District Judge Stephen N. Limbaugh, Sr., ruled that video games have ›no conveyance of ideas, expression or anything else that could possibly amount to speech‹ and thus enjoy no constitutional protection. [...] Constitutional status has historically rested on a medium’s highest potential, not its worst excesses. Limbaugh essentially reversed this logic – saying that unless all games expressed ideas, then no game should be protected« (»War« 209).

Der Richter setzte voraus, dass sich User der Wirkung von Spielen nicht entziehen können. Gegen ein solch effektzentriertes Modell, das von einer direkten Beeinflussung durch das Computerspiel ausgeht, führt Jenkins ein »meanings model« ins Feld: Er folgt Theoretikern wie James Gee, die argumentieren, dass Computerspieler aktiv Bedeutung schaffen und Probleme lösen, dass sich User also für diese oder jene Spielart und Interpretationsmöglichkeit entscheiden (»War« 212-214). Die öffentliche Diskussion um exzessive Gewalt ist historisch gesehen Teil jeder Debatte um ein neues Medium, dessen Macht – vor allem als eine Macht, die zur Immersion einlädt – nicht eingeschätzt werden kann. Diese Auseinandersetzung wird heutzutage durch Computerspiele, die sich explizit an Erwachsene wenden, angeheizt, unterscheidet sich aber nicht wesentlich von der Kampagne gegen Gewalt in Filmen, im Fernsehen oder auf Videos. Henry Jenkins historisiert die Gewaltdiskussion in seinem Aufsatz »›Complete Freedom of Movement‹: Video Games as Gendered Play Spaces« und betont, dass Gewalt bereits im 19. Jahrhundert Teil einer ›boy culture‹ war, aber meist außerhalb des Heims und somit jenseits der elterlichen Kontrolle stattfand. Als Jungen dann aber im 20. Jahrhundert mehr Zeit im Haus verbrachten und daher stärker überwacht waren, wurde jugendliche Gewalt zunehmend problematisiert. Je mehr Zeit Jungen und Mädchen im Haus zubrachten, um so ernster nahmen die Eltern ihre Aufsichtspflicht. Dazu kommt, dass der kindliche Bewegungsradius auch aufgrund veränderter Wohnverhältnisse im Verlauf des 20. Jahrhunderts immer kleiner wurde, wodurch Kinder stärker auf symbolische Räume angewiesen waren, etwa, so Jenkins, auf Räume und Kampfschauplätze in Computerspielen: »Twentieth century video game culture displaces [...] physical violence into a symbolic realm. Rather than beating each other up behind the school, boys combat imaginary characters, finding a potentially safer outlet for their aggressive feelings. We forget how violent previous boy culture was«. Der Gewaltdiskurs unterliegt jedoch nicht nur historischen Veränderungen, sondern sieht auch kulturell bzw. national sehr unterschiedlich aus. So ist Gewalt in den Medien für Japaner kein Zensurgrund, in den USA hingegen wird Sexualität bis heute in der Regel stärker zensiert als Gewalt, und die lebhafteste Auseinandersetzung über Gewalt findet in Europa statt. So hat auch jedes Land seine eigenen Institutionen, die über die Alterszuordnung jedes Films oder Spiels entscheiden. Dazu kommt, dass Eltern oft gar nicht wissen, was ihre Kinder spielen. Neuere medienpädagogische Ansätze beziehen deshalb nicht nur Kinder, sondern auch deren Eltern in Aufklärungskam332

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pagnen und Schulungen zur Medienkompetenz ein. Die öffentliche Auseinandersetzung um Gewalt in Computerspielen wird also aus verschiedenen Gründen, aber nicht zuletzt aufgrund von Angst, Unkenntnis und schlechtem Gewissen der Eltern sowie aufgrund handfester Interessen der Konkurrenzmedien schärfer und pauschaler geführt, als es angesichts der vorhandenen Kontrollinstanzen angemessen ist. Dabei lassen sich angesichts der immer stärkeren Ausdifferenzierung des Computerspielmarktes Pauschalurteile sogar gegenüber einem verpönten Genre wie dem Ego-Shooter nicht mehr fällen. Um bei steigenden Produktions- und Vertriebskosten möglichst viele User des sich ausweitenden Markts mit einem Spiel zu erreichen, kamen gegen Ende des Jahrzehnts generische Mischformen wie Echtzeit-Strategiespiele in Mode. Sie weisen neben den strategischen Eigenschaften ausgeprägte Action- und Kampfelemente auf. Typischerweise geht es darum, nicht nur Gegner zu besiegen, sondern gleichzeitig ein funktionierendes ökonomisches System aufzubauen. Einer der ersten Vertreter dieses Genres ist Command & Conquer, kurz CC genannt (Westwood Studios; Virgin Interactive), das 1995 veröffentlicht wurde und gleich zum erfolgreichsten Spiel des Jahres avancierte (Wirsig 98). Als Strategiespiel ist Command & Conquer einfach zu lernen, aber aufgrund seines sehr schnellen Gameplay schwer zu beherrschen. Wie andere Vertreter seiner Art bot Command & Conquer einen ausgefeilten erzählerischen Hintergrund. In CC konnten sich die Spieler »erstmals entscheiden, auf welcher Seite sie im wirtschaftlichen und militärischen Wettkampf antreten wollten: Gut oder Böse« (Wirsig 98), wobei die Kampfhandlungen eindeutig vor den wirtschaftlichen Erwägungen Vorrang hatten. Ihren Erfolg verdankt die inzwischen in vielen Einzel- und Mehrspielerversionen erschienene Serie nicht zuletzt ihren Soundtracks, die in ihren verschiedenen Stilrichtungen für die Atmosphäre entscheidend sind. Die sorgfältig ausgewählte Musik stellt ein verbindendes Element zwischen den einzelnen Folgen dar, die von 1995 bis heute auf den Markt kamen. Im Gegensatz zu den Adventures, die weiterhin ein typisches Einzelspieler-Genre blieben und deshalb seit den ausgehenden 1990er Jahren auf dem Markt nur noch bei Liebhabern eine Chance haben, sind die meisten Echtzeit-Strategiespiele auch in Onlineoder LAN-Versionen erhältlich, was ihnen bis heute Anhänger sichert. Der immer schnellere Austausch von Daten in Computernetzwerken führte dazu, dass sich gegen Ende der 1990er Jahre Spielerinnen zu immer größeren Formationen zusammenschlossen. 1997 entstand mit Ultima Online (Origin, Electronic Arts) aus dem Vorbild Ultima, das seit 1980 als Singleplayer-Reihe auf dem Markt war, das erste mainstream-MMORPG (Massively Multiplayer Online Role-Playing Game). Im Gegensatz zu MUDs, auf deren Servern User weltweit umsonst spielten, verlangten die Ultima OnlineBetreiber Geld für die Teilnahme an ihrer Welt. Zwar registrierten sich im ersten Jahr bereits 100.000 zahlende User, doch forderten diese für ihr Geld auch ausreichenden Service und verklagten die Ultima-Betreiber, als sie ihren Betreuungsverpflichtungen nicht nachkamen (Egenfeldt-Nielsen, Smith und Tosca 87). Ende der 1990er Jahre war klar, dass auf dem Gebiet der Multiplayer-Spiele zwar Geld zu verdienen war, dass aber die Bindung zahlender User an ein Spiel neue Finanzierungskonzepte und eine Umstrukturierung von Produktion und Vertrieb erforderte. Auf Betreiber kommerzieller

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MMORPGs kommen neben der anfänglichen Investition in die Entwicklung eines Spiels langfristig ständige Erweiterungs- und Verbesserungskosten zu. Im Verlauf der 1990er Jahre konsolidierte sich die Spielebranche. Digitale Spiele wuchsen zu einem Massenphänomen heran und erreichten immer mehr Haushalte, während die Konsolen der Wettbewerber Sony, Microsoft und Nintendo in die dritte Generation gingen. Konsolen-Games erzielten immer bessere Verkaufszahlen unter Kindern und Jugendlichen, während die PC-Spiel-Verkäufe darunter litten, dass sich PC-Software leicht kopieren lässt. Personal Computer gewannen gegen Ende des 20. Jahrhunderts aufgrund ihrer Internetfähigkeiten an Attraktivität und konnten mit MultiplayerSpielkonzepten viele User gewinnen. Grafisch waren sie den Konsolen gegenüber ohnehin oft überlegen, was ihnen Vorteile bei den erwachsenen Spielern verschaffte.

5.4 Spielästhetik im Detail: 2000-heute S PIELEN

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B EWEGUNG

Da die Hardware von Spiele-Rechnern im neuen Jahrtausend zunehmend leistungsfähiger wurde, nahm die technische Komplexität und Geschwindigkeit von Spielen zu. Die Tontechnik in digitalen Spielen holte gegenüber der Grafik auf, der Sound konnte nun dynamisch eingesetzt werden und lässt sich seither mit dem Einsatz von Musik und Ton im Film vergleichen, wie Gunter Süß in Sound Subjects: Zur Rolle des Tons in Film und Computerspiel im Jahr 2006 betont. Gleichzeitig wurden die Netzverbindungen immer schneller. 2004 wurde Web 2.0 ausgerufen und sorgt seither mit einer Vielzahl von Applikationen dafür, dass das Netz zum Integrationsmedium wird. Tamar Lewin berichtet 2010 in The New York Times von verstärkter InternetNutzung unter dem bezeichnenden Titel »If Your Kids are Awake, They’re Probably Online«. Diese Tendenzen führen insgesamt zur Abnahme von kleinen, lokalen Netzen und befördern Internet-Spiele, zu denen sich immer mehr User weltweit zusammenfinden. Die lokale und globale Ausweitung der Spielemärkte setzen offenere, komplexe Spielkonzepte voraus, die möglichst viele ganz unterschiedliche User ansprechen sollen. Wie Egenfeldt-Nielsen, Smith und Tosca betonen, erfordern die Entwicklung und Vermarktung eines Spiels inzwischen Teams und Budgets, die mit Filmproduktionen mithalten können (87). Die Herstellung von Konsolenspielen, früher deutlich billiger, kostet heutzutage oft so viel wie die von PC-Spielen – nicht zuletzt deshalb, weil die Konsolen ebenso wie die Handhelds zunehmend mit Internet-Fähigkeiten ausgestattet sind und die Funktionen des PC simulieren. Die Kluft zwischen den Usern, die am PC spielen, und denen an der Konsole verschwindet im neuen Jahrtausend zusehends. Waren im 20. Jahrhundert die ›harten‹ Spieler eher am PC anzutreffen und wurden daher sehr viele Spiele für den PC entwickelt, nahm das Interesse am Personal Computer als Spielgerät insgesamt eher ab. Nicht zuletzt durch die vielfältigen mobilen Spielangebote auf dem Telefon und durch die Zunahme von PartySpielen (party games) gibt es immer mehr Spieleplattformen in ein und demselben Haushalt. Das bedeutet zugleich, dass viele Spielerinnen heute sowohl 334

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hardcore als auch casual gaming betreiben, je nach Kontext, Plattform und Spielsorte. Inzwischen spielen alle Altersgruppen, Schichten und Geschlechter; das Angebot reicht von Lern-Software für Kleinkinder bis zu Sportprogrammen für Senioren. Um den Interessentenkreis für digitale Spiele stärker auszuweiten, waren seit Beginn des Jahrtausends neue Spielentwürfe gefragt. Peter Molyneux entwickelte mit Black and White 2001 ein Spiel, das durch sein offenes Gameplay viele neue User anzog (Lionhead Studios; Electronic Arts, Feral Interactive). Er setzte das Prinzip des god game ein, das er 1989 mit dem Spiel Populous erdacht hatte: Der Spieler schlüpft in die Rolle eines ›Gottes‹, der absolute Macht über die Spielewelt und seine Charaktere ausübt; diese Macht versinnbildlicht eine animierte Hand, die den Spieler am Bildschirm vertritt. Als ›Gott‹ übernimmt der Spieler die Verantwortung für eine Kreatur, die er trainiert, sodass sie ihm zur Seite stehen kann, sowie für alle Bewohner der Welt. Je nachdem, ob sich der Gott als gut und mitfühlend erweist oder seine Untertanen ängstigt und quält, wird die Welt im weiteren Verlauf immer heller und farbenfreudiger oder immer dunkler und furchterregend. Das god game-Genre gehört zu den Lebenssimulationen, wie sie ursprünglich in Japan populär waren. Erst in den 1990er-Jahren wurden Tamagotchi-Figuren, Formen künstlichen Lebens, die der Spieler erhalten und pflegen muss, auch im Westen beliebt. Das god game führt das Prinzip der gottähnlichen Perspektive weiter, die aus der Aufsicht den Überblick über eine Spielewelt erlaubt und Teil der meisten Strategie- und Simulationsspiele ist. Die gottesähnliche Perspektive verleiht dem Spieler symbolisch die absolute Macht über die Spielewelt, ohne ihn diegetisch zu einem Teil der Welt zu machen. Das god game hingegen macht den Spieler zum Gott und damit zu einem aktiven Charakter in der Welt, vertreten nicht durch das Körperbild eines Avatars, sondern allein durch eine Hand. Deutlicher als alle anderen Genres erhebt das god game die Machtfrage explizit zum diegetischen Funktionsprinzip der Welt selbst. Eine bis heute erfolgreiche Serie, die noch konsequenter als Black and White die Offenheit des Raums zum Prinzip erhob, begann bereits 1997 mit dem ersten Teil von Grand Theft Auto (DMA Design, Rockstar Games; Rockstar Games), kurz GTA genannt. GTA ist ein Actionspiel, das in seinem Titel die Bezeichnung für schweren Diebstahl von Kraftfahrzeugen (grand theft auto) aufgreift, was bereits die Fortbewegungsart des Protagonisten beschreibt: Er reißt einfach die Tür eines vorbeikommenden Fahrzeugs auf, wirft den Fahrer auf die Straße und setzt sich selbst ans Steuer. Das Actionspiel verweigert sich dem Zwang, technisch dem neuesten Trend zu folgen. Stattdessen erweitert es mit jeder Fortsetzung sein Konzept eines offenen digitalen Raums. Das Spielfeld dehnt sich von Folge zu Folge weiter aus und bietet stets neue inhaltliche Attraktionen. Die ersten beiden Folgen des ungewöhnlichen Renn- und Actionspiels werden aus der Vogelperspektive gespielt. Die Spielerin schlüpft in die Rolle eines Mafioso und hat zahlreiche verbrecherische Missionen zu erfüllen, die Polizei stets auf den Fersen. GTA 3 von 2001 ist der erste Teil mit 3D-Grafik; er spielt in einer fiktionalen Stadt, die dem Los Angeles der 1990er Jahre nachempfunden ist. Die nächste Folge, GTA: Vice City, nimmt sich ein noch großzügiger angelegtes Miami der 1980er Jahre zum Vorbild, und GTA: San Andreas kehrt an die Westküste der USA sowie in die alte Neighborhood 335

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zurück, spielt aber im gesamten Bundesstaat und damit in drei Großstädten und auf dem Land. In seiner Monografie The Art of Videogames von 2009 feiert Grant Tavinor GTA: San Andreas als eines der besten Sandkastenspiele (3). Ihn fasziniert vor allem die von vielen Kritikern missverstandene Haltung des Spiels, das den Ort – die amerikanische Westküste – und die Zeit – die 1990er Jahre –, in denen es spielt, ebenso ironisch kommentiert wie die Figuren: »Along the way [the main character] CJ encounters Los Angeles style gang wars and riots, corrupt cops, drug dealers and pimps trying to muscle in on his territory, shadowy FBI operatives and paranoid conspiracy theorists, a secret military base in the middle of the desert complete with top secret technology, and the high life in a city of bright lights, gambling, and [...] jumpsuit-wearing Elvis impersonators« (3-4).

Das Spiel lässt demnach kein Klischee aus, das wir aus Großstadtfilmen und Gangster Rap der 1990er Jahre kennen. GTA erhebt die unbeschränkte Fortbewegung, die in den meisten anderen Spielen ein Problem darstellt, zum Prinzip. Ein Verbrecher-Avatar vertritt den User in dieser frei navigierbaren Welt, in der er beinahe alle Fahr- oder Flugzeuge stehlen kann, um von Punkt A zu Punkt B zu gelangen. Was man mit einem der unzähligen Fortbewegungsmittel vom BMX-Rad über Auto oder Bus zu Helikopter und Boot macht, bleibt einem selbst überlassen. Je nach Geschmack kann man einfach am Strand entlang fahren und bei lauter Musik den Sonnenuntergang genießen. Erfolgreiche Missionen werden durch das Freischalten weiterer Gebiete im non-linearen Gameplay belohnt. Im Raum beweist das actionbetonte GTA seine besondere Stärke: Es vermittelt in seiner bildlichen, räumlichen und navigationsspezifischen Vielfalt das Gefühl ungehemmter Bewegungsfreiheit. Das Raumgefühl wird dabei durch den innovativen Einsatz von Sound verstärkt. Wann immer man ein Fahrzeug besteigt, schaltet sich dort das Radio ein, das etwa bei GTA: Vice City sieben Sender bietet, vom Hardrock zum Latin-Sound. Die Spielerin kann aber auch eigene Musikstücke im mp3Format einbinden. Das Radio fungiert als Realitätseffekt: Es setzt Musik diegetisch ein, trägt durch historisch passende Songs zur atmosphärisch dichten Darstellung der jeweiligen Zeit bei (in GTA: Vice City die der 1980er Jahre) und verschafft den Usern das Gefühl, in einer Raumkapsel durch den Verbrecherdschungel der Spielewelt zu steuern. Im Kontrast zur expansiven, actiongeladenen Außenwelt, deren Geräusche nur sanft ins Innere eines Gefährts dringen, vermittelt der Innenraum »a womb-like inner immersion«, wie Rob Bridgett in dem Artikel »Diegetic Devices« schreibt (42). Hier kann jeder den Sender parallel oder kontrastiv zu den eigenen Gefühlen wählen. In den geschlossenen Raum des Fahrzeugs kann allerdings jederzeit ein aggressiver Passant eindringen und den eigenen Avatar aus dem Wagen stoßen. Die Sicherheit ist eine Illusion, und immer liegt eine gewisse Spannung in der Luft. Die Spielerin navigiert in GTA: San Andreas mit dem Avatar Carl Johnson, einem scharzen Protagonisten, durch einen fiktiven Bundesstaat an der amerikanischen Westküste. Das Spiel evoziert populäre Darstellungen der HipHop-Kultur in den 1990er Jahren. Diese ist nicht nur ›cool‹, sondern, wie Hip-Hop-Filme und -Videos suggerieren, auch gefährlich. 336

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2008 erschien GTA IV; die Folge spielt in Liberty City, modelliert nach New York City. Seth Schiesel beschreibt das Spielgefühl in der New York Times: »[...] Grand Theft Auto IV is a violent, intelligent, profane, endearing, obnoxious, sly, richly textured and thoroughly compelling work of cultural satire disguised as fun [...] and sets a new standard for what is possible in interactive arts. It is by far the best game of the series which made its debut in 1997 and has since sold more than 70 million copies.«

Der Protagonist ist diesmal Nico Bellic, ein Veteran der Balkankriege. Der wichtigste Star ist allerdings die Stadt selbst: »It looks like New York. It sounds like New York. It feels like New York. Liberty City has been so meticulously created it almost even smells like New York«, schreibt Schiesel und betont, dass die Audio- und Musikproduktionen, die über die Radiostationen zu hören sind, jenen Stil treffen, der New York auszeichnet. Der PopSoundtrack ist natürlich auch als CD-Box-Set erhältlich, was für Gunter Süß »die zunehmende Verschränkung von Musik- und Spieleindustrie« (Sound Subjects 135-136) beweist. Solche transmedialen Überschneidungen finden einerseits über einzelne Medien hinweg statt, sind heute aber auch zwischen unterschiedlichen Plattformen gang und gäbe. Dasselbe Spiel erscheint in jeweils anderer Gestalt und mit unterschiedlichen Interfaces auf diversen Plattformen. Ein Beispiel ist Rayman: Raving Rabbids (Ubisoft Montpellier; Ubisoft, 2006), das, ursprünglich für die Wii Remote entwickelt, auf vielfältigen Plattformen erschienen ist: PC, PlayStation 2, GameBoy Advance, Nintendo DS und Xbox 360. Eine andere Entwicklung führte zur Wiederbelebung eines bereits totgeglaubten Genres im neuen Jahrtausend. Nachdem Mitte der 1990er Jahre kommerzielle Misserfolge fast zum völligen Verschwinden der Role-Playing Games geführt hatten, erhielt die Rollenspiel-Entwicklung mit dem Verkaufserfolg von Spielen wie Diablo (Blizzard North; Blizzard Entertainment, 1996), Baldur’s Gate (Bioware; Interplay, 1998) und Dark Age of Camelot (Mythic Entertainment; Mythic Entertainment, 2002) einen neuen Schub. Der wichtigste Vertreter dieser Entwicklung ist das MMORPG World of Warcraft (Blizzard Entertainment; Blizzard Entertainment, 2004). Das Geheimnis des WoW-Erfolges liegt in seiner Vielseitigkeit, die auf der Kombination verschiedener Rollenspiel-Konzepte beruht. WoW bietet seinen Millionen von registrierten Mitgliedern die Möglichkeit, den verschiedensten Gemeinschaften beizutreten, die zwar ganz nahe beieinander existieren, aber jeweils unterschiedliche, klar umrissene Ziele verfolgen. Ein Vergleich mit Diablo II, einem Multiplayer-Spiel mit bis zu acht Spielerinnen, und dem Massively Multiplayer Game Dark Age of Camelot mit bis zu 3.500 Spielerinnen soll zeigen, welche gegensätzlichen Elemente WoW aufweist. E IN V ERGLEICH

VON

D IABLO II

UND

D ARK A GE

OF

C AMELOT

Diablo II (Blizzard North; Blizzard Entertainment, 2000) und das Erweiterungsset Lord of Destruction (2001) wird mit Maus und Tastatur gespielt, Geschwindigkeit steht im Vordergrund. Der Multiplayer-Modus lässt gleichzeitig nur acht Spielerinnen pro Spiel zu, doch obwohl nur wenige User teil337

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nehmen, erscheint der Bildschirm meist übervoll und in Bewegung. Fast alle Räume in Lord of Destruction sind gefährlich. Monster bedrohen die Spielerinnen, und sie benötigen blitzschnelle Reflexe, um die zahlreichen Angriffe zu überleben. Die Kampfszenen bestehen demnach aus vielen identischen Konfrontationen, die direkt hintereinander ausgefochten werden müssen. Die direkte Umsetzung der eigenen körperlichen Reaktionsschnelligkeit in effiziente Aktionen auf dem Bildschirm ermöglicht ein erfolgreiches Spiel. Die Figuren bekämpfen sich spektakulär mit Explosionen und Feuerbällen. Kampfmaschinen und non-player helper characters füllen den Bildschirm und unterstützen den hektischen Eindruck der Kampfhandlungen. Dabei muss man ständig ein Auge auf die beiden Phiolen am unteren Bildschirmrand haben – die linke zeigt an, wieviel Lebensenergie dem Avatar noch bleibt, während die rechte verdeutlicht, wieviel magische Kraft (Mana) noch übrig ist. Die Spielerin kann die gängige Perspektive, die halbschräg von oben kommende Totale auf einen relativ kleinen Spielausschnitt, durch eine Aufsicht auf den Grundriss aller bereits erkundeten Abschnitte des Spielfelds ergänzen. Indem sie diese sogenannte auto map aufruft, eine Karte, die sich über den momentanen Bildausschnitt legt, kann sich die Spielerin ihre eigene Position innerhalb des Spiellevels anzeigen lassen und einen Überblick über das Spiel gewinnen. Ansonsten hat die Nutzerin immer denselben Blickwinkel auf den Bildausschnitt, innerhalb dessen sich die Avatarfigur gerade bewegt, und kann die Perspektive nicht verändern. Der Avatar befindet sich immer in der Mitte des sich je nach seiner Bewegung verschiebenden Bildausschnitts. Die hohe Spielgeschwindigkeit wird durch Teleporter-Funktionen unterstützt, die es ermöglichen, blitzschnell von einer Szene zu einer anderen zu wechseln. Dieses »Beamen« lässt die Distanzen zwischen Orten und Levels zusammenschrumpfen. Geschwindigkeit ist eine zentrale Eigenschaft des Spiels, und so darf auch das Durchqueren des Raums die Action nicht abbremsen. Das Spiel hat kein eindeutiges, für alle gültiges Ziel, und es führen viele Wege zum Erfolg. Jede Spielerin versucht, die vier Charakteristika ihrer Avatarfigur – Stärke, Geschicklichkeit, Vitalität und Energie – plus 30 mögliche Fertigkeiten pro Figur zu entwickeln. In Kämpfen sind sowohl Schnelligkeit als auch Effektivität wichtig, um die Gegner zu besiegen; um zu gewinnen, muss man die ideale Kombination von Fertigkeiten und Ausrüstungsgegenständen auswählen, komplexe Strategien zum sogenannten skilling seines Charakters sowie Taktiken zum Bestehen der Kämpfe entwickeln und seine Mitstreiterinnen richtig einschätzen. Denn um gegen die vielfältigen Angreifer zu gewinnen, die um so stärker werden, je mehr Spieler sich im Spiel befinden, ist Teamwork vonnöten. Sowohl um optimale Kampfbündnisse einzugehen wie auch um die eigene Avatarfigur zu optimieren, muss man ständig metaspielerische Überlegungen anstellen, um das Spiel in seiner Gesamtheit zu beurteilen. Zu diesem Zweck existieren die verschiedensten Menüs, die eine extreme Komplexität aufweisen. Beim Anklicken bestimmter Menüpunkte erscheinen Inventarbildschirme zum Ausstatten der Avatarfigur, aber auch zum Kaufen und Austauschen von Gegenständen. Die Return-Taste ermöglicht es, mit Mitspielerinnen zu chatten. Die direkte Kommunikation mit anderen ist ein zentrales Charakteristikum von Multiplayer-Rollenspielen, da sie die Spiele338

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rinnen nicht nur dazu befähigen, das Hier und Jetzt einer bestimmten Szene zu besprechen, sondern auch dazu, groß angelegte Strategien zu entwerfen oder sogar Themen anzusprechen, die mit dem Spiel selbst gar nichts zu tun haben. Chats erweitern die Bandbreite spielerischer Kommunikationsmöglichkeiten um eine selbstreferentielle und metaspielerische Dimension. So wechseln sich geschwindigkeitsbetonte, kämpferische Actionszenen und eher meditative, strategische Sequenzen andauernd ab. Ein MMORPG wie Dark Age of Camelot setzt Raum, Zeit und Navigation auf ganz andere Weise zueinander in Bezug, sodass andere immersive und selbstreflexive Effekte entstehen als in Diablo II und dessen Erweiterungsset. Die Ziele in Dark Age sind vielgestaltig und wie in Diablo II – Lord of Destruction unterschiedlich für jede Spielerin. Zunächst schafft man sich einen Charakter und legt damit die Grundausrichtung fest. Während man bei Diablo II nur die Wahl zwischen fünf bzw. sieben vorgegebenen Charakteren hat, stellt man sich in Dark Age seine Figur aus einem Pool von Eigenschaften selbst zusammen. Man kann den Avatar im Lauf des Spiels in alle möglichen Richtungen perfektionieren, muss sich aber für einen Weg entscheiden: Auf Stufe fünf sollte die Spielerin für ihren Avatar einen Beruf wählen. Innerhalb eines bestimmten Berufs stehen wiederum verschiedene Spezialisierungslinien offen. Als MMORPG erlaubt Dark Age of Camelot (2002) sehr komplexe Spiele, an denen bis zu 3.500 Spielerinnen und Spieler gleichzeitig teilnehmen können. Ein Server präsentiert eine Welt mit drei Reichen und ihren zugehörigen Grenzgebieten, den sogenannten frontiers. In Grenzgebieten und auf speziellen Schlachtfeldern, die nur Charakteren auf bestimmten Stufen offen stehen, können sich die Bewohnerinnen der drei ansonsten getrennten Reiche bekämpfen. Wie in Diablo II gilt es in Dark Age of Camelot, Scharmützel auszutragen, für die kleinere Kooperationen eingegangen werden und in denen sich relativ einfache Bewegungsabläufe wiederholen. Im Gegensatz zum älteren Rollenspielklassiker existiert in Dark Age jedoch außerdem die Möglichkeit, riesige Kriegszüge zu organisieren, an denen theoretisch alle Spielerinnen eines Reiches, die zur selben Zeit über den Server verbunden sind, teilnehmen können – so viele, wie sich zu einem Kampf zusammenfinden. Allerdings sind große Kriege relativ selten, da es schwer ist, genug Spielerinnen zusammenzurufen und sie über die komplexen Hierarchien, die in diesem Spiel herrschen, hinweg zu organisieren. Von kleinen Gruppen über Gilden zu Allianzen finden sich auf allen hierarchischen Ebenen spezifische Organisationsformen, die jeweils aufeinander abgestimmt werden müssen. Diese Komplexität macht ausgefeilte Kommunikationsstrategien notwendig und sorgt dafür, dass der ›Spielalltag‹, gemessen an Actionstandards, relativ unaufregend verläuft. Die Gruppenbildung ist für den Erfolg in diesem Spiel wichtig. Zu Gruppen schließen sich meist Charaktere mit verschiedenen Eigenschaften und Fähigkeiten zusammen, die sich gegenseitig ergänzen. Für den gemeinsamen Erfolg ist es förderlich, Mitglieder zu haben, die exzellente Kämpfer sind, gute Heiler und hervorragende Magier. Zusätzlich kommt den Gaunern mit ihren Tarnfähigkeiten in Kämpfen zwischen Reichen eine besondere Bedeutung unter anderem bei der Aufklärung zu. Man benötigt also sowohl Charaktere, die in Bezug auf die Gruppe optimal geeignet sind, als auch fähige Spielerinnen mit Teamgeist. 339

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Wie Diablo II wird auch Dark Age of Camelot mit Maus und Tastatur gespielt, allerdings ist die Spielgeschwindigkeit nicht zu vergleichen. Obwohl sich Tausende von Spielerinnen und Avataren zugleich in einem CamelotReich aufhalten können, macht der Bildschirm normalerweise einen völlig aufgeräumten und übersichtlichen Eindruck. Manchmal trifft man kaum auf eine Spielerin oder einen non-player character, während man den riesigen Spielraum erkundet. Das Spiel ist als ein zusammenhängender dreidimensionaler Raum konstruiert, der sich bei Bewegungen je nach gewählter Perspektive stufenlos verändert. Auf dem Bildschirm stößt der Avatar nicht mit anderen Figuren zusammen, sondern läuft geradewegs durch sie hindurch – so wird gewährleistet, dass sich die Avatare nicht gegenseitig behindern. In den vielen friedvollen, meditativen Momenten des Spiels kann man die zahlreichen Perspektiven bewundern, die sich dem Auge in Dark Age bieten. Zu diesem Zweck kann man durch eine Zoomfunktion die Perspektive stufenlos verändern und in alle Richtungen blicken, nach oben und unten, aber auch in einer Rundum-Bewegung einmal um die eigene Achse. Außerdem ist es möglich, sowohl eine radikale Ich-Perspektive zu wählen, in der der eigene Avatar nicht mehr im Blick ist, als auch eine Perspektive in der dritten Person, bei der sich der Avatar immer im Bild befindet. Die einzelnen Reiche bieten zumindest am Anfang mannigfaltige Anlässe zum Umherschauen, da sie grafisch aufwändig gestaltet sind und sie es ermöglichen, Gebäude und Landschaften von allen Seiten zu betrachten. So wirkt der Raum nicht wie in Diablo II durch die Geschwindigkeit der Navigation immersiv, sondern aufgrund der perspektivischen Komplexität und der Detailfülle. Jedes Reich besitzt eine eigene ästhetische Geschlossenheit, die sich sowohl den Klimaverhältnissen als auch einem je spezifischen architektonischen Stil verdankt. Innerhalb dieses Rahmens finden ständig Veränderungen statt: Es wird Nacht, der Tag bricht an, die Vegetation verändert sich von einem Gebiet zum nächsten, es beginnt zu regnen oder zu schneien. In jedem der Reiche sind große Distanzen zu überwinden. Im Gegensatz zu anderen Spielen dient die Teleporter- oder Beamer-Funktion nicht dazu, Wege abzukürzen, sondern schafft nur Zugang zu bestimmten Gebieten, die den Spielerinnen sonst verschlossen wären, etwa zu den feindlichen frontierGebieten. In der Regel müssen Distanzen also zu Fuß oder zu Pferd überwunden werden, sodass sich Raum und Zeit schier endlos ausdehnen und das Reisen dazu beiträgt, dass sich die Spielzeit über Stunden und Tage hinzieht. So reduziert sich die Spielgeschwindigkeit auf ein Schleichen. Das Zeitmanagement des Spiels versetzt die Spielerinnen in eine andere historische Periode. Sie müssen laufen oder reiten, um sich von Ort zu Ort zu bewegen, weit entfernte Figuren zu treffen und gemeinsame Aktionen zu unternehmen. Im Gegensatz zu Diablo II und vielen anderen Computerspielen ersetzt Dark Age of Camelot unser postmodernes westliches Tempo durch ein viel langsameres Lebensgefühl. Filme legen es in der Regel darauf an, Identifikationsmöglichkeiten durch Auswahl und Wechsel der Perspektive, durch dialogische Schnitte, voice-over und dramatische Musik zu schaffen. Speziell Hollywood-Produktionen, aber auch Werbefilme zielen traditionell auf Realitätseffekte ab, die durchgehend als homogen empfunden werden sollen und eine in sich geschlossene fiktionale Welt darstellen. Narrative Kontinuität bestimmt hier die Abfolge der Bilder. Parallel dazu kreieren auch Computerspiele Möglichkei340

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ten der Rezeption und Partizipation, die auf eine solche Form der Immersion abzielen: Spielerinnen navigieren durch eine über weite Strecken als homogen dargestellte räumliche Welt, gehen darin auf, spielen eine Rolle, nehmen an Kämpfen mit anderen teil. Wie Lev Manovich in The Language of New Media jedoch betont, existieren in Computerspielen außerdem ganz andere, nicht auf Geschlossenheit und Immersion abzielende Anteile. Auf immersive, spielerisch mitreißende Abschnitte, welche die mediale Struktur des Spiels in den Hintergrund drängen, folgen immer wieder Passagen, die strukturelle Aspekte in den Vordergrund rücken – in Rollenspielen etwa die vielfältigen Wechsel von der eigentlichen Spielebene zu den komplexen Auswahlmenüs und verschiedenen Chat-Ebenen. Die immersiven Spielabschnitte sorgen für ein selbstvergessenes Aufgehen im Raum und damit in der Handlung; die von dieser Handlung ablenkenden, (selbst-)reflexiven Passagen ermöglichen es hingegen, die eigene Figur zu strukturieren, mit den Mitspielerinnen über die Handlung zu kommunizieren und damit auf die eigene Positionierung und den Verlauf des Spiels Einfluss zu nehmen. Manovich schreibt zu diesem Verhältnis zwischen immersiven und selbstreflexiven Abschnitten: »The screen keeps shifting from transparent to opaque – from a window to fictional 3-D universe to a solid surface, full of menus, controls, texts, and icons. Threedimensional space becomes surface; […] a character becomes an icon. […] we can say that the screen keeps alternating between the dimensions of representation and control. What at one moment was a fictional universe becomes a set of buttons that demand action« (207-208).

Je nach Spielgenre und von Spiel zu Spiel gestaltet sich das Verhältnis zwischen diesen verschiedenen Ebenen sehr unterschiedlich, wie der Vergleich von Timing, Tempo und Navigation in Diablo II und Dark Age of Camelot zeigt. Seit 2005 haben sich Rollenspiele weiter verändert. Während die Ausgestaltung fiktionaler Räume und die Spieler-Avatar-Bindung bis heute gleich geblieben sind, haben sich in Zeiten, in denen Genres zunehmend Mischformen ausbilden, Rollenspiele und Adventures stärker differenziert. Zwischen 2005 und 2008 musste fast jedes Spiel Multiplayer-Komponenten aufweisen. Heute sind Single- und Multiplayer-Spiele stärker getrennt, vor allem was Rollenspiele betrifft. Im heute erfolgreichsten Rollenspiel, World of Warcraft, vermischen sich die Geschwindigkeit und actionlastige Spielweise eines Spiels wie Diablo mit den konkurrenzbetonten Aspekten von Dark Age of Camelot. In WoW dient der Konkurrenzgedanke allerdings nicht so sehr der Bindung an das eigene Reich als der Selbstverwirklichung individueller Spieler. Die performativen Aspekte fordern dazu auf, Subjektpositionen einzunehmen, die in der Interaktion mit vielen anderen nicht nur akzeptiert, sondern auch autorisiert werden. Sie dienen weniger der Gruppenbindung als vielmehr der Selbsterhöhung. Im Gegensatz zu Dark Age of Camelot, das die repetitiven Aspekte des Rollenspiels in den Vordergrund stellt, lässt WoW Stillstand gar nicht zu. Bruce Sterling Woodcock belegte in einer Präsentation bei der Konferenz der Online Game Industry 2008, dass World of Warcraft mit 11,5 Millionen subscribers das weltweit erfolgreichste Online-Game ist (16). Die Veröffentlichungen von Rudolf Inderst und Simon Walter zeigen, dass differenzierte 341

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gemeinschaftsbildende Aspekte von Online-Rollenspielen heute von besonderer Bedeutung sind. Dabei gilt es, für jene User ebenso attraktiv zu sein, denen die Rollenspielwelt neu ist, wie für Spielerinnen und Spieler, die sehr erfahren sind und bereits zur Verbesserung und Erweiterung verschiedener Games beigetragen haben.3 Das Netz gewinnt insgesamt an Bedeutung für PC-Spielerinnen, was sich auch die Hersteller zunutze machen. Unter der Überschrift »Kopierschutz mit Onlinezwang« beschreibt Alexander Frank die neuesten Strategien, mit denen Firmen wie Ubisoft oder Electronic Arts gegen Software-Piraterie vorgehen. Um Assassin’s Creed 2, Silent Hunter 5 oder Command and Conquer 4 auf dem PC zu spielen, muss sich die Spielerin nicht nur einmal online anmelden und damit den Zugang auf immer personalisieren, sondern sie muss während der gesamten Spielzeit im Netz bleiben – auch im EinzelspielerModus. Wenn die Verbindung abbricht, pausiert das Spiel, setzt etwa bei Assassin’s Creed 2 den Fortschritt auf den letzten gespeicherten Spielstand zurück. Wenn dann die Server ausfallen, wie dies bei Ubisoft bereits geschehen ist, ist kein Zugang zum eigenen Spiel möglich. Auch ein Weiterverkauf des Spiels an einen anderen Nutzer ist ausgeschlossen. Der Artikel macht allerdings darauf aufmerksam, dass auch eine solche Online-Anbindung grundsätzlich umgangen werden kann. Bei World of Warcraft können Raubkopierer anstatt auf den offiziellen Servern von Blizzard auf Privatservern spielen (20). Den Online-Verkauf für Konsolenspiele sieht hingegen Andreas Grote durchaus positiv. Während anfangs für Konsolen nur Mini-Spiele herunterzuladen waren, verzichtet etwa Sony bei der PSP Go bereits seit Herbst 2009 auf einen Modulschacht und testet, wie sich der reine Online-Kauf bewährt. Im Gegensatz zu den PC-Nutzern sind die Konsolen-Spieler dieser Maßnahme gegenüber aufgeschlossen, sind es viele doch gewohnt, Musik, Filme und Telefon-Spiele aus dem Netz herunterzuladen. In den Spiele-Online-Shops lassen sich Klassiker mitsamt dem entsprechenden Emulator ebenso vertreiben wie zusätzliche Welten oder Levels für Spiele, die man besitzt. Im Netz lassen sich zudem ganz eigene Games spielen, z. B. die EchtzeitSingle-Player-Simulation FarmVille, heute die populärste Spiel-Applikation 3

Aus rezeptionshistorischer Sicht soll die folgende Liste von Titeln die vielfältige Rollenspielerfahrung Philipp Martins, eines Studenten der TU Dortmund, verdeutlichen. Seit den späten 1990er Jahren hat er die folgenden role-playing games gespielt: Ultima Online (1997), Everquest 2 (Sony Online Entertainment; Sony Online Entertainment, 1999), Dark Age of Camelot, City of Heroes (Cryptic Studios and Paragon Studios; NC Soft, 2004), The Lord of the Rings Online (Turbine, Inc.; Turbine, Inc., Midway Games, Codemasters, 2007), Warhammer Online (Mythic Entertainment; Electronic Arts, 2008), Pirates of the Burning Sea (Flying Lab Software; Sony Online Entertainment, 2008), Age of Conan (Funcom; Funcom and Eidos Interactive, 2008), Tabula Rasa (Destination Games; NCsoft, 2007-2009) und World of Warcraft (Blizzard Entertainment; Blizzard Entertainment, 2004). Die genannten Spiele laufen auf dem PC, einige auch auf Mac-Rechnern. Die Liste zeigt auch, dass MMORPGs den Personal Computer als Plattform für Spiele voranbringen in einer Zeit, in der ansonsten immer weniger Games für den PC entwickelt werden. Philip Martin verdanke ich Anregungen zur jüngsten Entwicklung des Rollenspielgenres. Er schließt momentan seine Staatsexamensarbeit zum Thema »Soziale Aspekte in World of Warcraft« ab.

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auf Facebook. Tim Walker berichtet in The Independent 2010 über FarmVille, »the world’s biggest social game« mit immerhin fast 80 Millionen Spielerinnen und Spielern. Als Landwirtschafts-Simulation setzt es auf den Tamagotchi-Effekt: Wer seine Felder nicht bestellt, verliert die Ernte. Wer sich hingegen um seine Pflanzen kümmert, wird bekannt. Über Facebook wird jeder Erfolg sofort an sämtliche Kontakte übermittelt. Besonders gut kommt voran, wer seine Freunde auffordert, mitzumachen (Linzmaier 122). Neben dem Netz wird auch das Telefon heute verstärkt als Spielgerät eingesetzt und lädt zum schnellen Download von casual games ein. Die wachsenden Spielfähigkeiten von Mobiltelefonen bei gleichzeitigen Hardware-Beschränkungen zwingen Entwicklerinnen, neben immer anspruchsvolleren neuen Spielen für die klassischen Plattformen auch minimalistische Konzepte zu verfolgen. Außerdem wächst der Bedarf an Umsetzungen älterer Spielkonzepte auf die mobilen Geräte. Solche Anpassungsprozesse vermitteln Spielerfahrungen voriger Generationen an die nächste weiter. A UF DER S UCHE NACH DER NÄCHSTEN ZIELGRUPPE : M AX P AYNE (2001) UND M AX P AYNE II (2003) Zwischen den 1980er Jahren und dem Ende des 20. Jahrhunderts hat sich die Situation digitaler Spiele drastisch verändert, wie Kerr in »Spilling Hot Coffee?« betont: Richteten sich frühe Konsolen- und handheld-Spiele noch vor allem an Kinder und Jugendliche, werden inzwischen immer neue Zielgruppen erschlossen (24). Aphra Kerr sieht den Wendepunkt mit dem Eintritt Sonys in den Spielmarkt – zuerst mit der PlayStation One 1994, dann mit der PS Two 2000. Die Kampagnen für diese Konsolen richteten sich explizit an jüngere Erwachsene, und der Inhalt der Spiele begann sich zu ändern, als die vollbusige Lara Croft sich 1996 erstmals auf der PlayStation durchsetzte, 1997 folgte der erste GTA-Titel, der zugleich auf PlayStation und PC erschien. Rockstar ist eine Firma, die mit ihren mature games, mit Spielen für Erwachsene, solche Veränderungen mit eingeleitet hat. Gewalt, komplexe intermediale Bezüge sowie eine kritische, ironische Haltung zur jüngeren amerikanischen Geschichte zeichnen Spiele wie GTA oder Max Payne aus. Eine Analyse des Spiels Max Payne von 2001 (Remedy Entertainment; Gathering of Developers, Rockstar Games), das als ein Vorreiter dieser Strategie gilt, und seines Nachfolgetitels Max Payne 2: The Fall of Max Payne von 2003 (Remedy Entertainment; Rockstar Games) soll abschließend zum einen verschiedene Tendenzen verdeutlichen, die den Markt heute noch bestimmen, und zum anderen zeigen, was diese Tendenzen für die Analyse visueller Aspekte digitaler Spiele bedeuten. Mit zwei Morden beginnt das Actionspiel Max Payne, das in Deutschland kurz nach seinem Erscheinen 2001 wegen seiner zu expliziten Darstellung von Gewalt indiziert wurde. Bis der Titelheld Max Payne die Mörder seiner Familie findet, muss der Spieler mit ihm eine Vielzahl starker Gegner aus dem Weg räumen. Alles alltäglich, normal, harmlos Scheinende täuscht in diesem Spiel. Sogar die Zwischenüberschriften sind reine Ironie: Der erste Teil von Max Payne heißt »The American Dream« und erweist sich wie der Titel von Teil drei, »A Bit Closer to Heaven«, als trügerisch. Die dargestellte

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Welt ist weit entfernt vom amerikanischen Traum und der Hölle immer näher als dem Himmel. Im Spiel überwiegt der Sarkasmus des hard-boiled-Krimis. Paynes Ideal vom bürgerlichen Leben wird brutal durch das Trauma von Gewalt und Tod durchkreuzt. Schreckliche Albträume verfolgen den Helden seit dem Mord an seiner Familie, und der Spieler muss sie mit ihm erleben. Die eigentliche Spielhandlung beginnt drei Jahre nach dem Verlust in einer Gegenwart, die von dieser Vergangenheit überschattet ist – der Tod motiviert das Spiel, durch ihn ist der Protagonist gezeichnet, er treibt die Handlung voran. Das Töten bestimmt auch Verlauf und Timing des Spiels, in dem sich der Spieler mit dem inzwischen undercover arbeitenden und vereinsamten Max Payne auf die Suche nach den Killern eines Kontaktmannes begibt. Der Tod seines Kontaktmannes wird Payne zur Last gelegt – jetzt wird er nicht nur von Verbrechern, sondern auch von ehemaligen Kollegen gehetzt. Er selbst verfolgt die wahren Mörder des Kontaktmannes und bringt die Geschichte zu einem zumindest vorläufigen Ende: Er findet die Mörder seiner Familie und deckt eine Verschwörung der Mafia auf. Die Geschichte von Max Payne ist um die Hauptfigur zentriert, die dem Spiel auch den Namen gibt. Im Gegensatz zu anderen Spielen mit Actionschwerpunkt wie Doom, Unreal oder Half-Life, welche den Avatar kaum mit individuellen Charakterzügen und einer Geschichte ausstatten, ist Paynes Vorgeschichte wie in einem Roman wichtig zum Verständnis des Protagonisten und wird damit zum Bestandteil des Geschehens in der spielerischen Gegenwart. Edge Staff drückt diese Verschiebung der Prioritäten folgendermaßen aus: »From 2001 to 2003, it wasn’t just a third-person camera that made the world revolve around Max Payne. Nor was it the mere sight of its excellent graphics, or of PCs taking a sideways leap into console land from where they would never fully return. More than anything, it was the man«.

Andere Eigenschaften des Spiels stehen ebenfalls in der narrativen Tradition von actionbetonten Schrift-, vor allem aber Filmtexten. So sind das Geschehen und die Levels linear strukturiert und schließen kein alternatives Ende ein. Actionspieltypisch bietet Max Payne allerdings nach Können abgestufte Lösungsmöglichkeiten: Je nach Stärke des Protagonisten tauchen schwächere oder stärkere Gegner auf, und es existieren drei Schwierigkeitsmodi, in denen das Spiel bewältigt werden kann. Es dominieren Actionszenen, in denen die Spielerin des Third-Person Shooters ihren Avatar erfolgreich durch die Spielewelt steuert, immer auf der Lauer nach versteckten Feinden und betrügerischen Freunden. Das Gameplay ist ganz auf das effektvolle Zielen und Schießen ausgelegt; die Interaktivität, nach Wolf das wichtigste Alleinstellungsmerkmal von Computerspielen, auf das Actionpotential hin optimiert (114). Körper und Waffen spielen die Hauptrollen in diesem Game und werden in den für das Actiongenre typischen spektakulären Bildern in Szene gesetzt. Durch filmische Mittel, etwa beeindruckende Perspektiven und Schnitte wird die Handlung vorangetrieben, was den Flow-Eindruck verstärkt, den Mihaly Csíkszentmihályi in Flow: The Psychology of Optimal Experience als die Erfahrung der absoluten Immersion, der Fokussierung auf die Performanz im Spiel beschreibt (67). Die komplexe Erzählung wird nicht, wie sonst üblich, durch filmisch gestaltete, selbst ablaufende cut scenes vermittelt. Dafür 344

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werden Erzählsequenzen in einer sprachunterlegten Comic-Ästhetik geschildert, die uns noch abrupter und pointierter als cut scenes aus der Diegese der Spielwelt herausreißen. So entsteht der Eindruck eines dezidierten Bruchs zwischen immersiven und Distanz schaffenden Anteilen von Max Payne. Payne selbst wird als ein ambivalenter, gebrochener Charakter eingeführt. Die Stadt New York ist sein wichtigster Widersacher, schmutzig und grau, die Menschen gemein, die Gegner hinterhältig. Allerdings findet der Protagonist schließlich nicht nur die Mörder seiner Familie, sondern er deckt zugleich ein großangelegtes Mafia-Komplott auf. Durch eine Verschwörungstheorie lassen sich gewalttätige Abgrenzungen gegen ein aggressives, nicht eingrenzbares Anderes rechtfertigen. Eine solche Rechtfertigung ist typisch für gewaltbetonte Texte, wie wir sie auch aus dem Comic oder Actionfilm kennen. Trotzdem wurde Max Payne überzogene Gewaltdarstellung vorgeworfen, was umso schwerer wiegt, da Actionspiele als besonders ›realistisch‹ gelten: Je realistischer die Darstellung von Gewalt, desto direkter wirkt sie nach Meinung vieler Kritikerinnen auf die Spielenden ein. Die detailgetreue und zugleich auf spektakuläre Weise dynamisierte Darstellung von Räumen und Körpern durch bewegte Bilder ist nämlich technisch gesehen keine Selbstverständlichkeit. Gerade in der Dynamisierung des Geschehens zeigt sich die besondere technische Meisterschaft des Actiongenres. Das Spektakuläre ist dementsprechend eine besondere Qualität der Inszenierung: Die spektakuläre Inszenierung setzt Körper und Maschinen ganz vordergründig ins Bild, macht sie zum Thema, verhandelt sie aggressiv und stellt sie oft exzessiv zur Schau. Erst die technische Meisterschaft des Mediums bringt die Meisterschaft des Körpers im Actionszenario hervor. Actionspiele feiern damit die Möglichkeiten des Mediums, alltägliche Handlungs-, Wahrnehmungs- und Darstellungsgrenzen zu überschreiten. Der ›Realismus‹, den sie anstreben, hat gerade nicht den Zweck, alltägliche Körpererfahrungen in wiedererkennbaren, klar gerahmten Bildern darzustellen, denn nur exzessive Bilder der Vernichtung von Körpern lassen die gegnerische Stärke ebenso augenfällig zu Tage treten, wie sie die Stärke des aufbegehrenden Helden demonstrieren. Detailreiche, perfekt ausgeleuchtete Bilder der Zerstörung dienen dazu, die Intaktheit von Körpern in Frage zu stellen, zugleich aber rituell immer wieder aufs Neue zu beschwören. In ihrer Untersuchung von Computerspielgenres fasst Ursula Krambrock »Jump-and-run, Geschicklichkeitsspiele, ›Ballerspiele‹«, also actionbetonte Genres unter einer Überschrift zusammen. Diese Art zu spielen fördert »Geschicklichkeit, Stressresistenz unter enormem Zeitdruck und Ausdauer, das Spiel immer wieder von neuem zu beginnen« (173). Definitionen von actionlastigen Spielen betonen generell, dass Zeit kaum mehr als historische Zeit in Erscheinung tritt, sondern in der gezielten Bewegung durch den Raum, also in Geschwindigkeit aufgeht. Erzählstrukturen, die historische Verbindungen herstellen, treten hinter der Faszination des Jetzt im Spielen zurück. Wiederholung kennzeichnet die Zeitstruktur des Genres, bei dem der Spieler die eigene Geschicklichkeit testet und übt. Krambrock betont für Actionspiele den labyrinthartigen Aufbau, der »als eine Art animiertes Bilderrätsel zentraler Bestandteil des Spiels« ist (173). Sie sind primär räumlich organisiert, sodass Bewegung und spielerischer Fortschritt nicht wie im Film zeitlich dargestellt werden, also durch Schnitttechnik, sondern durch die räumliche Ästhetik der Navigation und des Er345

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kundens. Lev Manovich führt zu dieser optischen Organisation in The Language of New Media aus: »Before reaching the end of the game narrative, the player must visit most of it, uncovering its geometry and topology, learning its logic and its secrets. […] narrative and time itself are equated with movement through 3-D space, progression through rooms, levels, or words. […] these computer games return us to ancient forms of narrative in which the plot is driven by the spatial movement of the main hero, traveling through distant lands to save the princess, to find the treasure, to defeat the dragon […]« (245-246).

Max Payne unterscheidet sich von vielen anderen Actionspielen, weil es das Verhältnis zwischen Zeit, Raum und Männlichkeit in besonders expliziter Weise inszeniert, zugleich aber darüber reflektiert und es ironisiert. Zu diesem Zweck zitiert das Spiel Medien- und Genrekontexte, betont also die Verbindung mit Film, Video, Comic und anderen Actionspielen. Vor allem organisiert Max Payne jedoch die Darstellungsmodalitäten anders, als dies vorher in Actionspielen üblich war: Das Spiel integriert filmische Schnitttechniken direkt in die Actionsequenzen. Computerspiel-Zeitschriften verglichen die ausgefeilte Grafik von Max Payne mit Filmen wie Pulp Fiction oder Face Off. Thomas Weiss urteilte 2001 über das Spiel: »Die Parallelen zu einem Kinofilm waren nie stärker. Und genau das ist das Ziel der Entwickler, wie Storyschreiber und Designer Sam Lake zugibt: ›Wir wollen eine Geschichte erzählen, so wie ein Film das tut. Die ausschweifenden Kameraperspektiven helfen uns dabei‹« (54).

Ungewöhnliche ›Kameraperspektiven‹ setzen wilde Verfolgungsjagden und Schießereien auf New Yorker Hochhäusern und Hinterhöfen, Explosionen und vor allem die choreografischen Meisterleistungen in Szene. Max Payne nutzt die Magie der Bilder und die Macht der Bildmedien, um spektakuläre, an den Konventionen des realistischen westlichen Erzählens gemessen, völlig ›unrealistische‹ oder besser, neorealistische Bilder zu schaffen. Die Erfahrungen von Raum und Zeit klaffen offensichtlich auseinander, und sowohl die physikalischen Gesetzmäßigkeiten wie die Möglichkeiten menschlicher Wahrnehmung werden überschritten. Um die Macht bewegter Bilder in Szene zu setzen, nutzt das Spiel alle actionfilmischen Möglichkeiten. So werden mitten im Kampf spektakuläre Kameraschwenks vorgeführt, die den Raum über Bewegung erschließen und ungewöhnliche Einblicke nicht nur in die teils riesigen Hochhäuser und Hallen geben, sondern auch brennende und einstürzende Bauten, Explosionen und die artistischen Kampfhandlungen dynamisch in Szene setzen. Dies hatte es vorher in Actionspielen so nicht gegeben. Damit schließen die Entwickler von Max Payne inhaltlich und darstellungstechnisch an Konventionen des Actionfilms an. Sie machen Zeit zum manipulierbaren Faktor, der beim Spielen das Gefühl von Intensität erzeugt und Eskelinen und Koskimaa von »temporally dynamic digital texts« sprechen lässt. Das aufregendste Beispiel für das Zurschaustellen technischer Möglichkeiten der Zeitmanipulation in Max Payne ist die bullet time, ein Darstellungsmodus, der den Zeitablauf reguliert. Die virtuelle ›Kamera‹ verlangsamt 346

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auf Knopfdruck etwa den Flug einer gegnerischen Kugel auf Zeitlupentempo, sodass die Reaktion der Spielfigur effektiver ausfallen kann – einzig der Protagonist (und damit der Spieler) kann noch treffsicher zielen; auch eigene Geschosse lassen sich so verfolgen. Auf der Spielebene verdeutlicht die bullet time ein wichtiges grafisches Prinzip: Das 3D-Spiel berechnet aufgrund eines eigenen Programmierverfahrens auch Details unter Berücksichtigung mehrerer Lichtquellen. Oberflächen erscheinen somit sehr differenziert ausgeleuchtet, Texturen plastisch. Dies gilt auch für Körper in Bewegung – sie werden ebenso detailversessen berechnet. Dementsprechend hat es keinen Sinn, eine Waffe einfach direkt auf einen Gegner zu richten, sondern es muss beim Zielen immer die Körperbewegung bedacht werden. Derselben Logik folgend werden bei den vielfältigen Schusswechseln die Patronenhülsen deutlich sichtbar zur Seite geschleudert. Mit technischen Mitteln werden Raum und Zeit transzendiert, und ähnlich wie im Hongkong-Actionfilm, dessen Konventionen bereits der Film The Matrix (Andy and Larry Wachowski, 1999) nutzte, um verschiedene bildliche Ordnungen moralisch gegeneinander auszuspielen, überwindet der Held die Schwerkraft und die ›realen‹, für ihn unvorteilhaften Machtverhältnisse. Naturgesetze, die für ein im westlichen Sinn ›realistischeres‹ Szenario maßgeblich wären, kann das Medium hier für Momente außer Kraft setzen. Die akustischen Effekte sind ebenso ausgefeilt wie die grafischen. Explosionen und Schüsse werden durch detaillierte Soundeffekte verstärkt, Geräusche im bullet-time-Modus ebenfalls verlangsamt. Sie nehmen eine intensivere, quasi intimere, persönlichere Qualität an: Herzschlag- und Atemgeräusche dominieren. Durch den Einsatz der bullet time und die damit einhergehende Verzögerung der Zeit entsteht eine Manipulationsmöglichkeit, die Max Payne übermenschliche Fähigkeiten verleiht. Da der Spieler die Kugeln der Gegner langsam heranfliegen sieht, kann er Payne rechtzeitig aus der Schusslinie steuern. Grafische und soundtechnische Raum- und Zeitdarstellung arbeiten demnach zusammen, um einerseits minutiöse Detailtreue zu erreichen, andererseits die magisch-realitätsüberschreitende Qualität der Technik in den Vordergrund zu stellen. In jedem Fall optimiert die Technik die Verfügungsmacht von Körpern über Objekte und die Kontrolle über den menschlichen Körper: Die Wahrnehmungsfähigkeit wird ins Übermenschliche gesteigert, die Reaktionsschnelligkeit erhöht, die Treffsicherheit verbessert. So macht die Verwendung von Schleifen ebenso wie der Einsatz der bullet time deutlich, dass Zeit in Computerspielen in ganz neuer Weise als strategisches, modulares Element – als modulierbare Zeit – genutzt wird. Während Actionfilme und -spiele meist Schnelligkeit betonen, also die Handlung stetig vorantreiben und sich durch hektische Bildfolgen auszeichnen, sind die Schleife, die Zeitlupe und die sie begleitenden Soundeffekte Mittel, um die Erlebnisintensität beim Zuschauen und Spielen zu unterstreichen. Die ausgefeilten grafischen und Soundeffekte in Max Payne stellten den Stand der Technik von 2001 dar und evozierten den Eindruck besonders intensiver, visuell ausgefeilter Raum- und Körperdarstellung. Gerade weil sie über traditionelle, ›realistische‹ Darstellungen hinausgeht, kann die digitale Technik bisher noch nie gesehene Realitätseffekte erzeugen. Traditionelle westliche Darstellungsweisen von Raum, Zeit und Körper werden durch andere, magische Darstellungsmodalitäten aufgebrochen.

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In diesem Sinn hebt Konrad Lischka die besondere Bedeutung von Raumerfahrungen für Computerspiele hervor: »Der Raum und die räumliche Erfahrung sind ein zentrales Motiv des Computerspiels. Ein Spiel beschreibt nicht, sondern wird erfahren, was das Experimentieren mit einer Menge von Raumentwürfen ermöglicht. Darum bemisst sich heute auch die Güte aktueller Spiele zu einem großen Teil nach Anzahl der gleichzeitig darstellbaren Bildpunkte, Farben, bewegten Flächen und Lichtreflexe. Denn je mehr solcher Attribute ohne sichtbare Zeitverzögerung für jede Perspektivänderung zu berechnen sind, desto räumlicher und interessanter wird ein Spiel. Erst mit der heutigen Rechenkraft ist eine wirklich eigenständige Ästhetik möglich, die nicht mehr nur eine Adaption bekannter Raumtheorien ist« (»In siebzig Millionen Polygonen um die Welt« 19).

Wie aber sieht diese von Lischka postulierte »eigenständige Ästhetik« aus, die bekannte Raumtheorien außer Kraft setzt? Roberto Simanowski und Jörn Glasenapp betonen, dass die Wirkungsmacht einer spezifischen Medientechnik unter anderem von den jeweiligen Immersions- und Realitätseffekten abhängt. Diese Effekte sind wiederum genretypisch und werden je nach Medienerfahrung der Nutzerinnen als mehr oder weniger immersiv erlebt. Der Eindruck eines Computerspiels ist direkt an die grafische und akustische Raumerfahrung geknüpft: Genrespezifische ›Authentizität‹ der Realitätseffekte – im Actionspiel definiert als grenzüberschreitende Wahrnehmungserfahrung, die auf einem Bund mit der Technik gründet – ist im Computerspiel Raumeindruck. Bereits die ›alten‹ Medien haben »das Ihrige dazu getan, das ›Vertrauen in das Bild‹ zu erschüttern und es durch die Faszination einer medialen Inszenierung zu ersetzen, die ihre Effekte offen zur Schau trägt und eine eigene Bildrealität erzeugt«, wie der Kunsthistoriker Hans Belting in seiner BildAnthropologie meint (41). Manche Genres tendieren dazu, das Vertrauen ins konventionalisierte Bild zu relativieren und den spektakulären Inszenierungseffekt in den Vordergrund zu stellen. Jeannine Schwemer konstatiert in »Kino der Explosionen«, dass das Actionkino der 1980er und 1990er Jahre das Publikum in eine »unmittelbare [...] sinnlich-affektive [...] Erregung« (175) versetzt, die den wertenden Abstand zum Bild verringert, indem sie einen Flow-Effekt schafft. Diese affektive Wirkung macht Schwemer vor allem für die Darstellung von Explosionen geltend: »Ihre vielen simultanen Wirkungen sind unkontrollierbar und ihre Ausmaße unvorstellbar. [...] Explosionen als Bewegungsgeschehen lösen die relativ beständigen Objekte des Blicks auf. Sie sind gekennzeichnet durch Wandel, Kontingenz, Inkonsistenz und Instabilität: letztlich sind sie unkontrollierbar wie der Fluss der Filmbilder selbst [...]« (175).

Nach Schwemers Meinung explodieren nicht nur Gegenstände und Körper im Actionfilm, sondern auch die Wahrnehmungskonventionen des bürgerlichen Realismus, dessen Realitätseffekte traditionell unsichtbar bleiben sollen. Die Akzeptanz bestimmter, auch genretypischer Realitätseffekte wird immer dann besonders offensiv verhandelt, wenn ein Text wie im vorliegenden Fall Max Payne indiziert wird. Die Indizierung ist Teil eines neuen Bilderstreits, in dem, wie Hans Belting schreibt, »Definitionsmonopole umkämpft sind« 348

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(11). Etabliert sich ein neues Medium, lässt sich beobachten, dass die Definitionsmacht der Medienkonzerne ebenso umstritten ist, wie die Definitionsmacht der bevorzugten Spielergruppe angefochten wird. Diese Aussage unterstützt auch Heiner Ullrich, wenn er über zeitgenössische Medien im allgemeinen und speziell über Computerspiele schreibt: »Dank der Dominanz der visuellen, auditiven Medien und der Vernachlässigung der Schriftkultur wird die Überlegenheit der Erwachsenen über die Kinder aufgehoben« (74-75). Die resultierende »Schwächung der pädagogischen Autorität der Eltern« führt nicht zuletzt zu einem erbitterten Streit um die Darstellungsmodalitäten von Computerspielen. Der Faktor ›Realität‹ bzw. die Effekte, um den Eindruck von Realität zu erzeugen, stehen dabei zur Disposition. Die spektakulären Aspekte des Actiongenres sind mit dem Realismusvorwurf relativ leicht anzugreifen – schließlich sind sie per definitionem eminent sichtbar und drängen sich schmerzhaft auf. David Herman beschreibt diesen Aspekt von Erzählkonventionen: »The realistic novel typically hid its representational conventions; characteristically, it aimed to create a wholly immersive experience by backgrounding its constructedness and passing itself off as a transparent window on the world. By contrast, experimental fictions foreground their own narrative structures, their status as stories that have been constructed« (6).

Auch in kommerziellen Computerspielen lenken Immersivität und Interaktivität den kritischen Blick eines Spielers oder einer Spielerin in der Regel von den Konventionen ab, welche eine bruchlose Identifikation mit dem Protagonisten gewährleisten sollen. Interaktivität mit der Hard- und Software ist die Konvention, die Computerspiele am deutlichsten von Büchern oder Spielfilmen unterscheidet und die ihren Immersionseffekt maßgeblich bestimmt. Die besten Immersionseffekte erzielen interaktive Medien dann, wenn einerseits das Interface, andererseits die Strukturelemente und Konventionen der Texte für den User unsichtbar bleiben und das zügige Navigieren im virtuellen Raum nicht offensichtlich stören. Allerdings prägt auch eine vielschichtige Intertextualität alle Ebenen des Spiels. So weisen Comicform und fotorealistische Sequenzen gleichermaßen intertextuelle Bezüge zum hard-boiled-Kriminalroman, zum Film Noir, zu anderen Medien und zu anderen Vertretern des Actiongenres auf: Die Sprache ist hart und sarkastisch, Licht- und Schatteneffekte erzeugen oft schlecht ausgeleuchtete, unheimliche, unübersichtliche Räume. Die Film-Noir-Anklänge sind postmodern gebrochen und nicht eindeutig zu lesen. Ironie und Selbstreferentialität erinnern an Filme im hyperrealistischen Stil von Quentin Tarantino, die ihrerseits verschiedene populäre Genres zitieren und ComicQualität haben. Das Neo-Noir-Genre, zu dem Spiele wie Blade Runner (Westwood Studios; Virgin Interactive Entertainment, 1997) und Max Payne gezählt werden, nennt David Desser »Global Noir« (517) und erklärt zu diesem Konzept des Globalen, das er mit den 1990er Jahren verstärkt aufkommen sieht: »Issues to be discussed include transnational capital and cultural flows, worldwide film distribution, and the creation of a global culture that can produce and consume films as from a single, formerly ›national‹ source« (518). Aus David Dessers Text lässt sich folgern, dass sich mit der sarkastischen, betont von der Spielewelt Abstand nehmenden Noir-Erzählhaltung 349

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breite Käuferschichten erreichen ließen, nicht nur, was die Altersgruppen innerhalb der USA anging, sondern auch, was die globale Verbreitung des Spielkonzeptes bertraf. Dass sich Max Payne vor allem an ältere User richtete, zeigt sich auch bei der ironischen Darstellung der Geschlechter, besonders der Darstellung von Männlichkeit, die im Titel des zweiten Teils, Max Payne 2: The Fall of Max Payne von 2003, bereits angedeutet wird. In einer der Comic-Szenen im ersten Teil tritt die Gefährdung traditioneller Männlichkeit besonders offen zu Tage: Max trifft auf die Killerin Mona Sax und muss sich mit ihr messen. Denn Mona ist keine verfolgte Unschuld, wie ihre drohenden Worte klarmachen: »I’d blow you away without batting an eye«. Max’ »credentials«, all das, was ihn als Mann autorisiert, muss hier ebenso neu verhandelt werden wie die Rolle der Frau, die ihm hier als Killerin gegenübersteht. Im Gegensatz zu Lara Croft aus Tomb Raider, die keine menschlichen Gegner erschießt, darf Mona Sax auch auf Männer zielen und sie treffen. Im zweiten Teil trifft Mona Max mitten ins Herz und wird seine Geliebte, was zu einer der wenigen Computerspiel-Sexszenen Anlass gibt.

Abb. 1: Max Payne 2 (2003) © Rockstar Games. Angesichts solcher Brechungen der Handlung und Unterbrechungen des Spielflusses lässt sich nochmals auf Lev Manovichs Definition von Erzählen im Computerspiel zurückkommen: »Instead of narration and description, we may be better off thinking about games in terms of narrative actions and explorations« (247). Manovich leitet diese Beschreibung von einer aktiven Spielerinnenposition ab: »Rather than being narrated to, the player herself has to perform actions to move narrative forward […]. If the player does nothing, the narrative stops. From this perspective, movement through the game world is one of the main narrative actions« (247). Diese Spielerinnenposition lässt sich gerade für die älteren User durch zwischenzeitliches Abstandnehmen und Innehalten ergänzen. In Max Payne wird das actionbetonte Vorantreiben der Handlung durch die klassische, eher passive Rezeptionshaltung in Erzählpassagen ergänzt, sodass unterschiedliche Spielerinnen angesprochen werden. 350

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Die Zitate traditioneller Erzählformen aus Comic, Literatur und Film, die in eine neue, spielerische Umgebung integriert sind, machen im Zuge der Integration in das ›neue‹ Medium auch Transformationen durch. Für die Analyse haben sie einen Verlust an Orientierungswissen zur Folge. Aufgrund multipler Rezeptionsmöglichkeiten bzw. Spielarten, die Teil der Kultur der digitalen Medien sind, kommt es zu vielschichtigen Verknüpfungen und Kombinationen und demnach zu einer komplexen Hybridisierungen: einer Vermischung, Verkettung und Vernetzung (Schneider 11). Kay Kirchmann stellt fest, dass digitale Medien zwar ein gering entwickeltes eigenes Profil besitzen, dafür aber eine enorme ästhetische und technische Kompatibilität aufweisen (77). In der Struktur des Computers ist das Hybride bereits angelegt, und es sorgt für eine nahezu unbegrenzte Kombinationsfähigkeit der computergesteuerten elektronischen Medien. Wie Kirchmann verdeutlicht, bedeutet eine hybride Architektur innerhalb der Informatik, dass analoge und digitale Daten interagieren oder, allgemeiner gesprochen, dass unterschiedliche technische Systeme auf einem Träger verbunden sind. So findet sich in allen digitalen Medien Hybridität und Doppel- bzw. Vielfachkodierung. Allerdings wird das Hybride seit mindestens zwei Jahrzehnten nicht nur als technisches, sondern auch als Kulturphänomen und ästhetische Erscheinung diskutiert, die Computerspiele heute besonders offensichtlich zelebrieren. Demnach können sich ludische und erzählerische Anteile des digitalen Spiels, um die sich die Game Studies traditionell ideologische Kämpfe liefern, gerade in zeitgenössischen Spielen, die ein breites Publikum erreichen sollen, produktiv ergänzen (vgl. Frasca). Wie die Analyse von Max Payne zeigt, zeichnen sich die Computerspiele des 21. Jahrhunderts im Vergleich zu Filmen und Fernsehproduktionen durch eine ganz eigene Offenheit und Hybridität aus. Michael Nitsche überschreibt das letzte Kapitel seiner Monografie Video Game Spaces mit »Places Forming Cultures« (244) und argumentiert, dass elektronische Medien – vor allem aber Computerspiele – aufgrund dieser Hybridität dafür prädestiniert sind, Orientierungsmöglichkeiten in der heutigen Welt aufzuzeigen. Der kurze Aufriss der Computerspielgeschichte beweist, dass Computerspiele von Anfang an dezidiert als offene mediale Systeme fungierten, die sich in den unterschiedlichsten Umgebungen auf verschiedenen Plattformen bei sehr heterogenen Anwendergruppierungen bewährten. Die größten Erfolge verzeichneten oft Spiele, die weniger mit technischer Perfektion aufwarteten als vielmehr mit einfachen, aber vielfältig einsetzbaren Konzepten, die sich immer wieder abwandeln ließen; ob es sich um ein Spielprinzip wie bei Pong handelte, um Rollenspiel-Konzepte, die sich von den frühen Dungeons and Dragons-Spielen bis zu World of Warcraft bewährt haben, oder um kooperative Strategien, die seit Zork und Ultima Computerhacker ebenso faszinieren wie Computerlaien. Der Wunsch nach einfach zu bedienenden, intuitiven Mensch-Maschine-Interfaces sorgt immer wieder für Veränderungen von Schnittstellen und Kontrollsystemen. Heute stehen solche Systeme hoch im Kurs, die direkt auf Körperbewegungen reagieren wie Sing Star (London Studio; Sony Computer Entertainment, 2004) oder Guitar Hero (Harmonix Music Systems; RedOctane, 2005) sowie das controlling device »Wii remote«. Immersion wird hier besonders offensichtlich zur aktiven, selbstbestimmten Erfahrung. Dabei haben sich Körperkonzepte ausgebildet, die wie in dem Tomb Raider-Avatar Lara Croft Rezipieren und Spielen, Schauen und 351

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Tun der User effektvoll aufeinander abstimmten. Auch Raum und Zeit erwiesen sich als individuell nutzbare Faktoren, sodass inzwischen ein und dasselbe Spiel eine große Bandbreite von Erlebnissen bereitstellt, von der größtmöglichen Schnelligkeit zum meditativen cruising. Solche ganz auf die eigenen Bedürfnisse zugeschnittenen Anpassungsmöglichkeiten versprechen Erfolg auf einem Markt, auf dem Flexibilität ein wichtiges Verkaufsargument ist. Populärkultur ist seit dem 19. Jahrhundert ein amerikanischer Exportschlager, wie LeRoy Ashby in Amusement for All beweist (514), und das gilt auch für Computerspiele. Doch zeigen gerade Computerspiele, dass diese Populärkultur kein im engeren Sinn nationales Produkt ist, weder was die Technik, den Inhalt oder die Spielerfahrung noch was den Vertrieb angeht. Computerspiele sind als Produkt des Space Age von Anfang an transnational gewesen. Gerade die Nähe und der gegenseitige Einfluss zwischen westlichen und asiatischen Maschinen, Spielprinzipien und Themen sorgten immer wieder dafür, dass der Computerspielmarkt sich auf neue Impulse hin veränderte. Andererseits orientieren sich die vorherrschenden Modelle nationaler Bedeutung und persönlicher Freiheit stark an westlichen Werten und an amerikanischen Narrativen: In raumzentrierten Spielumgebungen bedeutet Freiheit individuelle Bewegungsfreiheit auf Kosten all derer, die sich diesem Selbstentfaltungsdrang entgegenstellen; das veranschaulicht zum Beispiel die frontier-Welt des ironischen Action-Western-Spiels Red Dead Redemption (Rockstar San Diego; Rockstar Games, 2010). Den American Dream, das Versprechen, den mittelständischen Traum von Eigenheim und Kleinfamilie verwirklichen zu können, träumen Millionen von Usern in The Sims jeden Tag, während ihr Avatar alles tut, um die Liebe seines Lebens zu finden. Unterdessen bestellt der Anwender jede »App« (App = application/Anwendung), die ihm hilft, nicht nur sein neuartiges, gegenüber traditionellen PCs oft radikal »kastriertes« (Stöcker) Spielgerät in Form des Mobiltelefons oder eines Tablet wie Kindle oder iPad nach ganz individuellen Bedürfnissen aufzurüsten, sondern damit den eigenen Marktwert zu steigern – auf Kosten seiner Freiheit, wie Christian Stöcker betont. Denn nun können die HardwareHersteller noch umfassender als bisher bestimmen, welche Anwendungen sie auf ihre Geräte lassen, und sich diese ›Offenheit‹ teuer bezahlen lassen. Die heutige Vielfalt der Plattformen und Geräte hat also nicht nur einen Hybridisierungseffekt bewirkt, sondern sie führt zugleich zu einer weiteren Verschiebung der Machtverhältnisse zugunsten der Medienkonzerne.

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Index

129 Die in Jet 86 Adventure 322 All in the Family 271 Allen, Woody 218 Allie Mae Burroughs 126 Ally McBeal 284 Altman, Robert 213, 214 American Gothic 66 Amos ’n’ Andy 270 Anger, Kenneth 212 Annie Hall 218 Ansonia 89 Approaching Storm: Beach Near Newport 37 Arbus, Diane 133, 134 Artist in His Museum, The 28 Askew, Thomas 105 A-Team, The 266 Autumn Rhythm 76 Avatar 314 Avedon, Richard 133, 144 Ball, Lucille 256 Ballad of Andy Crocker, The 267 Beautiful Mind, A 227 Beaux, Cecilia 51 Bechtle, Robert 89 Before Stonewall: The Making of a Gay and Lesbian Community 223 Bellows, George 54 Berg, Gertrude 254 Berle, Milton 253 Berlin Abstraction 61 Bermuda Group: Dean George Berkeley and His Entourage, The 21 Best Years of Our Lives, The 203 Beverly Hillbillies, The 264 Bierstadt, Albert 41

Bingham, George Caleb 45 Birth of a Nation, The 183 Blade Runner 306 Blakelock, Ralph 40 Boys Don’t Cry 224 Brady, Mathew 106, 110 Brakhage, Stan 211 Brokeback Mountain 224 Burchfield, Charles 67 Cagney and Lacey 274 Capa, Robert 129 Capra, Frank 198 Cassatt, Mary 46 Cassavetes, John 211 Catlin, George 42 Chaplin, Charles 187 Church, Frederic Edwin 38 Citizen Kane 196 City, The 193 Close, Chuck 88 Cole, Thomas 31 Conversation, The 215 Copley, John Singleton 23 Coppola, Francis Ford 215 Cornelius, Robert 102 Cosby Show, The 270, 277 Counter-Strike 329 Course of Empire, The 33 Cropsey, Jasper Francis 34 Crowd, The 191 CSI 283, 290 Curtis, Edward Sheriff 118 Daguerre, Louis Jacques Mandé 102 Dallas 281 Dark Age of Camelot 339 Dawson’s Creek 286 Death of Wolfe, The 22 Demuth, Charles 63 359

Visuelle Kulturen der USA

Deren, Maya 202 Diablo II 337 Do the Right Thing 225 Double Indemnity 204 Douglas, Aaron 71 Dove, Arthur G. 57 Du Bois, W.E.B. 105 Dungeon Master 325 Dungeons and Dragons 322 Durand, Asher B. 34 Dyke, Willard van 193 Dynasty 281 Eakins, Thomas 22, 50 Easy Rider 214 Ed Sullivan Show, The 252 Edison, Thomas A. 175 Eggleston, William 136 Emerson, Ralph Waldo 32 Emigrants Crossing the Plains 41 Estes, Richard 89 Evans, Walker 123 FarmVille 319 Feke, Robert 21 Ferry Boat Wreck 58 Fight Club 228 Flaherty, Robert 192 Flood 80 Ford, John 208 Fox Hunt 49 Frank, Robert 131 Frankenthaler, Helen 81 Freake, Elizabeth Clarke 19 Friedlander, Lee 135 Friends 283 Fur Traders on the Missouri 45 Gardner, Alexander 110 General Store Interior 127 Gifford, Sanford Robinson 37 Glackens, William 53 Goings, Ralph 88 Goldbergs, The 255 Goldin, Nan 141 Good Night, and Good Luck 259 Got’cha 321 Gowin, Emmet 144 Grand Theft Auto 335 Great Train Robbery, The 180 Greenwood, John 22 Griffith, D.W. 183, 186 Gross Clinic, The 51

Hartley, Marsden 61 Heade, Martin Johnson 36 Henri, Robert 53 Hesselius, Gustavus 21 Hill Street Blues 274 Hine, Lewis 121 Hitchcock, Alfred 210 Homer, Winslow 48 Hopper, Dennis 214 Hopper, Edward 22, 54, 68 Hurwitz, Leo 196 I Love Lucy 254 I Saw the Figure 5 in Gold 63 Incidents of the War. A Harvest of Death 112 Inness, George 39 Jackson, William Henry 117 Jazz Singer, The 189 Johns, Jasper 83 Jolson, Al 189 Kazan, Elia 201 Kensett, John Frederick 35 Kid, The 187 Klein, William 133 Kline, Franz 77 Kubrick, Stanley 229 Lady Eve, The 195 Lane, Fitz Henry 36 Lang, Fritz 188 Lange, Dorothea 124 Lawrence, Jacob 72 Leacock, Richard 165, 211 Lee, Spike 225 Leibovitz, Annie 139 LeRoy, Mervyn 193 Leutze, Emmanuel 44 Lichtenstein, Roy 85 Lloyd, Harold 188 Lucas, George 217 Luks, George 53 Lynch, David 227 M*A*S*H 266 Man with the Cat 52 Manhatta 64, 191, 193 Mann, Sally 145 Mary Tyler Moore Show, The 271 Matrix, The 221, 228, 306 Max Payne 305, 308, 343 McElwee, Ross 222 Meshes of the Afternoon 202 360

Index

Miami Vice 274, 276 Migrant Mother 125 Migration of the Negro, The 72 Moccasin Bend from Lookout Mountain 117 Moore, Michael 222, 230 Morris, Errol 222 Motherwell, Robert 77 Mr. Smith Goes to Washington 198 Murrow, Edward R. 258 Muybridge, Eadweard 51, 113 My Sweet Charlie 267 Myst 329 Nanook of the North 192 Native Land 196 Newman, Barnett 77 Nichols, Mike 210 No Vietnamese Ever Called Me Nigger 212 O’Keeffe, Georgia 22, 59 O’Sullivan, Timothy 112 Pac-Man 324 Palmer, Alfred 128 Passion of Sacco and Vanzetti, The 69 Patio with Black Door 60 Paul Revere 25 Peale, Charles Willson 27 Peirce, Kimberly 224 Penn, Arthur 211, 213 Periscope (Hart Crane) 82 Perry Mason 261 Pigeons 56 Pollock, Jackson 76 Porter, Edwin S. 179 Prisoners from the Front 48 Rainy Season in the Tropics 38 Rauschenberg, Robert 83 Riis, Jacob 54, 121 Roseanne 278 Rothko, Mark 80 Rothstein, Arthur 124 Ryder, Albert Pinkham 40 Salt Marshes, Newburyport, Rhode Island 37 Samaras, Lucas 136 Sargent, John Singer 46 Scorsese, Martin 213

Sea Window – Tinker Mackerel 61 Searchers, The 208 Seinfeld 254 Sex and the City 284 Shahn, Ben 69 Sheeler, Charles 63, 191 Sherman, Cindy 137 Shinn, Everett 53 SimCity 327 Sims, The 327 Sloane, John 53 Some Like It Hot 207 Spielberg, Steven 217 Starting Out After Rail 50 Steichen, Edward 130 Steiner, Ralph 193 Steve Allen Show, The 262 Stieglitz, Alfred 57, 115 Strand, Paul 119, 191 Street Fighter 331 Stuart, Gilbert 30 Sunday, Women Drying Their Hair 55 Survivor 288 Talbot, Henry Fox 102 Taxi Driver 229 Tennis for Two 320 Texaco Star Theater, The 251 Texan – Portrait Robert Rauschenberg 84 That Certain Summer 268 The Oxbow 33 Tobey, Mark 75 Tomb Raider 330 Tron 221, 313 Trumbull, John 31 Twachtman, John Henry 39 Twentyfour – 24 289 Twombly, Cy 81 Ultima 325, 333 Untitled Film Stills 137 Upper Deck 64 Vanishing Race – Navaho, The 119 Veteran in a New Field, The 48 Vidor, King 191 Vir Heroicus Sublimis 78 Walsh, Raoul 193 War Games 220, 313 361

Visuelle Kulturen der USA

Warhol, Andy 86 Watson and the Shark 24 Welles, Orson 196 Wesselman, Tom 85 Westward the Course of Empire Takes Its Way 44 Whistler, James Abbott McNeil 46 White Cloud, Head Chief of the Iowas, The 42 Whitman, Walt 110, 192 Why We Fight 200 Wilder, Billy 204

Williams, William Carlos 63, 91 Willis Avenue Bridge 70 Winogrand, Garry 135 Winter – Fifth Avenue 116 Wiseman, Frederick 211 Wizard of Oz, The 195 Wood, Grant 66 World of Warcraft 306 Wyler, William 203 Young Mr. Lincoln 195 Yust, Larry 152 Zork 323

362

Autorinnen und Autoren

Böger, Astrid, Univ.-Professorin für Literatur und Kultur Nordamerikas an der Universität Hamburg. Forschungsschwerpunkte: Amerikanische Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, Medien- und Kulturwissenschaften, Visuelle Kultur, Populärkultur, Gender Studies. Decker, Christof, Professor für amerikanische Literatur und Kultur an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Forschungsschwerpunkte: Filmund Medienwissenschaften, Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, Visuelle Kultur, vergleichende Kulturtheorien. Friedl, Bettina, emeritierte Univ.-Professorin für Literatur und Kultur Nordamerikas an der Universität Hamburg. Forschungsschwerpunkte: amerikanische Literatur, Gender Studies, Malerei, Dokumentarfilm, Modetheorie und Kleiderkunst. Gunzenhäuser, Randi, Univ.-Professorin für Amerikanistik und Medienwissenschaft an der Universität Dortmund. Forschungsschwerpunkte: Literatur und Kultur der Romantik und Moderne, performative und immersive Aspekte der Textvermittlung, Film und Neue Medien, Ästhetik, Diskurstheorie und Gender Studies. Poole, Ralph J., Univ.-Professor für amerikanistische Literatur- und Kulturwissenschaft an der Universität Salzburg. Forschungsschwerpunkte: vergleichende Literaturwissenschaft, Populärkultur, Gender und Media Studies, amerikanisches Drama und Theater, Karibik, Ästhetik, Gattungstheorie.

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Kultur- und Medientheorie Barbara Eder, Elisabeth Klar, Ramón Reichert, Martina Rosenthal (Hg.) Theorien des Comics Ein Reader Dezember 2010, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1147-2

Erika Fischer-Lichte, Kristiane Hasselmann, Alma-Elisa Kittner (Hg.) Kampf der Künste! Kultur im Zeichen von Medienkonkurrenz und Eventstrategien März 2011, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-89942-873-5

Annette Jael Lehmann, Philip Ursprung (Hg.) Bild und Raum Klassische Texte zu Spatial Turn und Visual Culture April 2011, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1431-2

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Kultur- und Medientheorie Christoph Neubert, Gabriele Schabacher (Hg.) Verkehrsgeschichte und Kulturwissenschaft Analysen an der Schnittstelle von Technik, Kultur und Medien Dezember 2010, ca. 250 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1092-5

Roberto Simanowski Textmaschinen – Kinetische Poesie – Interaktive Installation Studien zu einer Hermeneutik digitaler Kunst Mai 2011, ca. 320 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-89942-976-3

Karlheinz Wöhler, Andreas Pott, Vera Denzer (Hg.) Tourismusräume Zur soziokulturellen Konstruktion eines globalen Phänomens September 2010, 320 Seiten, kart., zahlr. Abb., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1194-6

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Kultur- und Medientheorie Cristian Alvarado Leyton, Philipp Erchinger (Hg.) Identität und Unterschied Zur Theorie von Kultur, Differenz und Transdifferenz

Lutz Hieber, Stephan Moebius (Hg.) Ästhetisierung des Sozialen Reklame, Kunst und Politik im Zeitalter visueller Medien

Januar 2010, 332 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1182-3

Mai 2011, ca. 250 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1591-3

Matthias Bauer, Christoph Ernst Diagrammatik Einführung in ein kultur- und medienwissenschaftliches Forschungsfeld

Albert Kümmel-Schnur, Christian Kassung (Hg.) Bildtelegraphie Eine Mediengeschichte in Patenten (1840-1930)

September 2010, 372 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1297-4

Dezember 2010, ca. 250 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1225-7

Barbara Gronau, Alice Lagaay (Hg.) Ökonomien der Zurückhaltung Kulturelles Handeln zwischen Askese und Restriktion

Christopher F. Laferl, Anja Tippner (Hg.) Leben als Kunstwerk Künstlerbiographien im 20. Jahrhundert. Von Alma Mahler und Jean Cocteau zu Thomas Bernhard und Madonna

Juli 2010, 388 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1260-8

Marie-Hélène Gutberlet, Sissy Helff (Hg.) Die Kunst der Migration Aktuelle Positionen zum europäisch-afrikanischen Diskurs. Material – Gestaltung – Kritik Februar 2011, ca. 230 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1594-4

Anna Häusler, Jan Henschen (Hg.) Topos Tatort Fiktionen des Realen

Januar 2011, ca. 264 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 27,80 €, ISBN 978-3-8376-1211-0

Peter Mörtenböck, Helge Mooshammer Netzwerk Kultur Die Kunst der Verbindung in einer globalisierten Welt April 2010, 158 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 17,80 €, ISBN 978-3-8376-1356-8

März 2011, ca. 230 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1510-4

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

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