Visuelle Evidenz: Fotografie im Reflex von Literatur und Film 9783110229202, 9783110229196

During the 19th century, photography was almost absolutely considered to represent a medium guaranteeing authenticity. B

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German Pages 298 [300] Year 2011

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Table of contents :
Inhalt
Visuelle Evidenz? Zum Reflex der Fotografie in Literatur und Film: Einführende Überlegungen
Medienreflexion
Verführung zum Erzählen. Fotografie zwischen Tatort und Fiktion
Pygmalions Erben. Spätromantische Kunst- und Medientheorie
Strategien der Sichtbarkeit. Fotografie im Stummfilm der Weimarer Republik
(Selbst-)Reflexion
Die Zeit des Bildes. Die Zeit der Schrift. Fotografie und Autobiografie am Beispiel von Roland Barthes und Sophie Calle
Auratisierungen. Zur Selbststilisierung und Fremdinszenierung Arno Schmidts in Pressefotografien seit 1958
»… eine Technik des Sehens, eine Grammatik des Lebens«. Fotografie als Paradigma in Robert Menasses Trilogie der Entgeisterung
Erinnerungsreflexe
Fotografie und Gedächtnis im französischen Gegenwartsroman
»Something to remember you by«. Fotografie und Schrift als Erinnerungsmedien in Christopher Nolans Spielfilm Memento
Die Fotografie und das Vergessen. Literarische und künstlerische Reflexionen über die Grenzen der Erinnerung
Das Auge der Erinnerung. Fotografie in Texten der klassischen Moderne und im Film von Michelangelo Antonioni
Geister sehen. Fotografie im Horrorfilm
Kulturreflexion
Visuelle Evidenz und neoviktorianische Appropriationen der Fotografie
Stumme Augenzeugen. Funktionen erzählter Fotos in englischsprachigen postkolonialen trauma novels
Minimalisten, Infektionsbiologen, Judith Butler. Neue Blicke auf das Leid der anderen
Beiträgerinnen und Beiträger
Personenregister
Sach- und Titelregister
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Visuelle Evidenz: Fotografie im Reflex von Literatur und Film
 9783110229202, 9783110229196

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Visuelle Evidenz

linguae & litterae

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linguae & litterae Publications of the School of Language & Literature Freiburg Institute for Advanced Studies

Edited by

Peter Auer · Gesa von Essen · Werner Frick Editorial Board Michel Espagne (Paris) · Marino Freschi (Rom) Erika Greber (Erlangen) · Ekkehard König (Berlin) Per Linell (Linköping) · Angelika Linke (Zürich) Christine Maillard (Strasbourg) · Pieter Muysken (Nijmegen) Wolfgang Raible (Freiburg) Editorial Assistant Aniela Knoblich

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De Gruyter

Visuelle Evidenz Fotografie im Reflex von Literatur und Film

Herausgegeben von Sabina Becker und Barbara Korte

De Gruyter

ISBN 978-3-11-022919-6 e-ISBN 978-3-11-022920-2 ISSN 1869-7054 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data Visuelle evidenz : fotografie im reflex von literatur und film / edited by Sabina Becker, Barbara Korte p. cm. - (Linguae & litterae ; 5) Includes bibliographical references. ISBN 978-3-11-022919-6 (acid-free paper) 1. Photography in literature. 2. Photography in motion pictures. 3. Literature and photography. I. Korte, Barbara, 1957- II. Becker, Sabina. PN56.P46V57 2011 809.913357-dc22 2010050346

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 2011 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/New York Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ⬁ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhalt

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Inhalt

Sabina Becker, Barbara Korte Visuelle Evidenz? Zum Reflex der Fotografie in Literatur und Film: Einführende Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

Medienreflexion Andrea Gnam Verführung zum Erzählen Fotografie zwischen Tatort und Fiktion . . . . . . . . . . . . . . . .

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Sabine Haupt Pygmalions Erben Spätromantische Kunst- und Medientheorie . . . . . . . . . . . . . .

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Franz Leithold Strategien der Sichtbarkeit Fotografie im Stummfilm der Weimarer Republik . . . . . . . . . . .

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(Selbst-)Reflexion Susanne Knaller Die Zeit des Bildes. Die Zeit der Schrift Fotografie und Autobiografie am Beispiel von Roland Barthes und Sophie Calle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Ralf Georg Czapla Auratisierungen Zur Selbststilisierung und Fremdinszenierung Arno Schmidts in Pressefotografien seit 1958 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Robert Krause »… eine Technik des Sehens, eine Grammatik des Lebens« Fotografie als Paradigma in Robert Menasses Trilogie der Entgeisterung

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Inhalt

Erinnerungsreflexe Roswitha Böhm Fotografie und Gedächtnis im französischen Gegenwartsroman . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 Martin Hermann »Something to remember you by« Fotografie und Schrift als Erinnerungsmedien in Christopher Nolans Spielfilm Memento . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 Monika Schmitz-Emans Die Fotografie und das Vergessen Literarische und künstlerische Reflexionen über die Grenzen der Erinnerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 Rolf G. Renner Das Auge der Erinnerung Fotografie in Texten der klassischen Moderne und im Film von Michelangelo Antonioni . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 Dorothee Birke, Michael Butter Geister sehen Fotografie im Horrorfilm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212

Kulturreflexion Eckart Voigts-Virchow Visuelle Evidenz und neoviktorianische Appropriationen der Fotografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 Gabriele Rippl Stumme Augenzeugen Funktionen erzählter Fotos in englischsprachigen postkolonialen trauma novels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 Christoph Ribbat Minimalisten, Infektionsbiologen, Judith Butler Neue Blicke auf das Leid der anderen . . . . . . . . . . . . . . . . . 268

Inhalt

VII

Beiträgerinnen und Beiträger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 Sach- und Titelregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289

Visuelle Evidenz?

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Sabina Becker, Barbara Korte

Visuelle Evidenz? Zum Reflex der Fotografie in Literatur und Film: Einführende Überlegungen

1. Fotografie – Evidenz – Wissen Der vorliegende Band ist ein Beitrag zum Programm ›Repräsentation und Wissen‹, das sich die ›School of Language and Literature‹ des ›Freiburg Institute for Advanced Studies‹ für ihre erste Arbeitsphase gewählt hat.1 Es liegt nahe, in diesem Zusammenhang auch über Fotografie nachzudenken – über eine Form der technisch produzier- und reproduzierbaren Repräsentation, die die Entdeckung der Welt und ihre Medialisierung im 19. und 20. Jahrhundert entscheidend geprägt hat. Im frühen 21. Jahrhundert kann man eine verstärkte Aufmerksamkeit für und Reflexion über Fotografie beobachten, an der die Literatur-, Kultur- und Medienwissenschaften regen Anteil haben.2 Ein Auslöser dieser Konjunktur dürfte der neueste Medienumbruch sein: die Herausforderung durch die digitalen Medien, die den älteren Me1

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Die Beiträge sind überarbeitete Fassungen von Vorträgen, die auf einem Symposium im Februar 2009 am ›Freiburg Institute for Advanced Studies‹ gehalten wurden. Für die Hilfe bei der Erstellung dieses Bandes danken wir Katja Bay und Cordula Hacker. Um nur einige Beispiele zu nennen: Bernd Stiegler: Philologie des Auges. Die photographische Entdeckung der Welt im 19. Jahrhundert. München 2001; Paul Hansom (Hrsg.): Literary Modernism and Photography. Westport, CT 2002; Philippe Ortel: La littérature à l’ère de la photographie. Enquête sur une révolution invisible. Nîmes 2002; Alex Hughes, Andrea Noble (Hrsg.): Phototextualities. Intersections of Photography and Narrative. Albuquerque, NM 2003; Christoph Ribbat: Blickkontakt. Zur Beziehungsgeschichte amerikanischer Literatur und Fotografie (1945–2000). München 2003; Megan Rowley Williams: Through the Negative. The Photographic Image and the Written Word in Nineteenth-Century American Literature. New York, London 2003; Michael Neumann: Eine Literaturgeschichte der Photographie. Dresden 2006; Bernd Stiegler: Theoriegeschichte der Photographie. München 2006; Sara Blair: Harlem Crossroads: Black Writers and the Photograph in the Twentieth Century. Princeton, NJ, Woodstock 2007; Stuart Burrows: A Familiar Strangeness. American Fiction and the Language of Photography, 1839–1945. Athens, GA 2008. – Eine ausführliche Bibliographie früherer Arbeiten bietet Eric Lambrechts: Photography and Literature. An International Bibliography of Monographs. London, New York 1992.

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dien eine neue Systemstelle zugewiesen haben. Die digitale Fotografie hat dem Verhältnis von Bild und Wirklichkeit, ›Original‹ und Reproduktion bzw. Fälschung neuen Impetus verliehen und den Blick zurück in Zeiten gelenkt, in denen Fotografie noch scheinbar ›analog‹ zur Wirklichkeit erfolgte und gerade als Abbildungsmedium das System des Wissens und der Künste provozierte. Die Beiträge des vorliegenden Bandes schreiben sich also in einen lebhaften Diskurs ein und leisten ihren spezifischen Beitrag vor allem durch Fallstudien zu Autoren und Werken der neueren deutsch-, englisch- und französischsprachigen Literatur, die bislang nicht oder wenig im Blickpunkt der Forschung standen.3 Sie werden ergänzt durch Artikel, die historische Perspektiven aufzeigen, des Weiteren durch Aufsätze zum Verhältnis von Foto und Film. Alle Beiträge verfolgen die Grundfragen: Was lassen uns Fotografien sehen und wissen, oder eben auch nicht sehen und nicht wissen? Was ist die ontologische, epistemologische und ethische Bedeutung der Fotografie? In welcher Weise kommentieren und reflektieren intermediale Bezüge zu Literatur und Film die spezielle visuelle Evidenz der Fotografie?4 Und wie reagieren Schriftsteller und Filmemacher auf kulturelle Diskurse über Fotografie, wie sie sich in den prominenten, fast schon kanonisierten Texten Walter Benjamins, Roland Barthes’ und Susan Sontags manifestieren? 3

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Monographien zur Bedeutung der Fotografie im Werk einzelner Autoren berücksichtigen Epochen vom Realismus bzw. Naturalismus bis zur Postmoderne. Vgl. u. a. Stephen C. Infantino: Photographic Vision in Proust. New York 1992; Peter Braun: Die doppelte Dokumentation. Fotografie und Literatur im Werk von Leonore Mau und Hubert Fichte. Stuttgart 1997; Susanne Blazejewski: Bild und Text – Photographie in autobiographischer Literatur. Marguerite Duras’ ›L’amant‹ und Michael Ondaatjes ›Running in the Family‹. Würzburg 2002; Irene Albers: Sehen und Wissen. Das Photographische im Romanwerk Emile Zolas. München 2002; Irene Albers: Photographische Momente bei Claude Simon. Würzburg 2002; Simon D. A. O’Sullivan: Photographic History in the Face of French Literature. The Case of Émile Zola. Didcot 2004; Monique Claire Vescia: Depression Glass. Documentary Photography and the Medium of the Camera-Eye in Charles Reznikoff, George Oppen, and William Carlos Williams. New York, London 2006; Graham Smith: ›Light that Dances in the Mind‹. Photographs and Memory in the Writings of E. M. Forster and His Contemporaries. Bern, Oxford 2007; Carolin Duttlinger: Kafka and Photography. Oxford 2007; Eva-Monika Turck: Thomas Mann. Fotografie wird Literatur. Frankfurt am Main 2004; Thomas von Steinaecker: Literarische Foto-Texte. Zur Funktion der Fotografien in den Texten Rolf Dieter Brinkmanns, Alexander Kluges und W. G. Sebalds. Bielefeld 2007; Lise Patt (Hrsg.): Searching for Sebald. Photography after W. G. Sebald. Los Angeles 2007. Vgl. zum Begriff der Evidenz: A. Kemmann: »Evidentia, Evidenz«. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hrsg. von Gert Ueding, mitbegründet von Walter Jens. 8 Bde. Bd. 3. Tübingen 1996, S. 33–47.

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Mit ihrer spezifischen Optik hat die Fotografie Wahrnehmungsweisen und künstlerische Darstellungsformen der Moderne zentral beeinflusst, ja variiert, und seit ihrer Erfindung ist die Fotografie an der Sammlung und Archivierung von Wissen beteiligt. »Photography is commonly regarded as an instrument for knowing things«, lesen wir bei Susan Sontag,5 für die jede Fotografie eine Aneignung von Welt ist: »To photograph is to appropriate the thing photographed. It means putting oneself into a certain relation to the world that feels like knowledge – and therefore, like power.«6 Boris von Brauchitsch hält fest: »Eines ist offensichtlich: Das Bedürfnis des Menschen, Erfahrungen zu machen und sich Wissen anzueignen, findet seine Entsprechung im Anfertigen und Sammeln von Fotografien.«7 Fotos nehmen zunächst eine Gegenwart auf, aber mit dem Vergehen dieser Gegenwart werden sie fast unmittelbar zu Erinnerungsstücken: zu persönlichen Souvenirs ebenso wie zu Archivalien der Kultur und der großen Geschichte. »Photographic images«, heißt es bei Sontag, »now provide most of the knowledge people have about the look of the past and the reach of the present.«8 Von Beginn an faszinierte die Fotografie mit dem ihr eigenen Bezug zur Wirklichkeit die älteren Künste; sie forderte ihre Ausdrucksmöglichkeiten heraus. Aus der Fotografie entwickelte sich, noch im 19. Jahrhundert, der Film, der dann seinerseits mit anderen Darstellungsformen, einschließlich der Fotografie, interagierte. Mit Blick auf das komplexe mediale und künstlerische Beziehungsgeflecht der Fotografie beschränkt sich dieser Band auf den Reflex der Fotografie in Literatur und Film, also auf Repräsentationsformen mit einer zeitlichen Dimension, die zur Statik der Fotografie eine besonders spannungsreiche Beziehung eingehen. Die hier versammelten Beiträge fragen, wie Literatur und Film sich reflexiv und kreativ mit der Fotografie auseinandersetzen oder ihre Techniken und Verfahren applizieren. Besondere Aufmerksamkeit liegt dabei auf der Fähigkeit der Fotografie, in einem ganz wörtlichen Sinn die Wirklichkeit über den Sehsinn zu erschließen und damit einen Wahrnehmungsmodus zu forcieren, der für die Moderne und

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Susan Sontag: On Photography. New York 1973, S. 93. Ebd., S. 4. Boris von Brauchitsch: Kleine Geschichte der Fotografie. Stuttgart 2002, S. 16. Siehe hier auch das Kapitel »Jäger und Sammler«. Schon im 19. Jahrhundert wurde Fotografie in der Wissenschaft und als Medium der Kultur- und Sozialdokumentation (vgl. etwa in Deutschland Heinrich Zille oder in den USA Jacob Riis) eingesetzt. Sontag: On Photography, S. 4.

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die Modernisierung richtungweisend war – auch in der Literatur, deren Geschichte nicht zuletzt eine Sehgeschichte und als solche eng mit der Geschichte der optischen Medien verschränkt ist. Das Spezifische der fotografischen Repräsentation wurde wiederholt formuliert und ist in Topoi fixiert: Die Fotografie hat dank der Art ihrer Herstellung durch physikalisch-chemische Prozesse und die unmittelbar reproduktive Art ihrer Repräsentation einen speziellen Wirklichkeitsbezug. Sie ist, wie es der englische Fotografiepionier William Henry Fox Talbot formulierte, »the pencil of nature« – der Zeichenstift der Natur.9 Das fotografische Bild entsteht aus der Kopräsenz von fotografiertem Objekt, fotografischem Apparat und fotografierendem Subjekt; es entsteht in dem Moment, in dem es aufgenommen wird, als direkte Reproduktion von etwas, das in der Wirklichkeit so existiert. Bis zur digitalen Fotografie, bei der die Aufdeckung von Fälschungen schwieriger – wenn auch nicht unmöglich – geworden ist, hinterließ die fotografierte Wirklichkeit auf der Bildplatte oder dem Negativ eine unmittelbare Lichtspur. Roland Barthes prägte diesbezüglich das Bild von der ›Nabelschnur‹, die zwischen der Fotografie und dem realen Objekt besteht,10 Susan Sontag wiederum spricht von einer unmittelbaren Matrize (»stencil«) des Wirklichen: […] a photograph is not only an image (as a painting is an image), an interpretation of the real; it is also a trace, something directly stencilled off the real, like a footprint or a death mask. While a painting, even one that meets photographic standards of resemblance, is never more than the stating of an interpretation, a photograph is never less than the registering of an emanation (light waves reflected by objects) – a material vestige of its subject in a way that no painting can be.11

Die Fotografie verspricht mithin, auch wenn sie dieses Versprechen nicht in jedem Punkt einlöst bzw. es ihr im Diskurs über Fotografie immer wieder abgesprochen wurde, Dokumentarität und Objektivität. Sie suggeriert das Vermögen, die materielle Welt technisch-unbestechlich abzubilden, mit szientifischer Genauigkeit und damit besser, als es das menschliche Auge vermag. Aus dieser Eigenschaft rührt der Status der Fotografie in der Beweisführung – ob in der Kriminalistik, im Journalismus oder ganz profan im Tourismus. Es ist zu einem Allgemeinplatz geworden, dass auch Fotos

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William Henry Fox Talbot: The Pencil of Nature. London 1844. Roland Barthes: Die helle Kammer. Frankfurt am Main 1985. Übersetzt von Dietrich Leube. Titel der Originalausgabe: La chambre claire. Note sur la photographie [Paris 1980], S. 121. Sontag: On Photography, S. 154.

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immer schon interpretieren,12 und man hat immer schon Bilder retuschiert und gefälscht. Gleichwohl hält der Medienwissenschaftler Andreas Schreitmüller fest: »Fotografische Bilder besitzen eine Glaubwürdigkeit, der wir uns beim besten Willen nicht entziehen können, nicht einmal nach einer gründlichen medienwissenschaftlichen Ausbildung.«13 Zur Zeit der Erfindung der Fotografie gehörte ihr Authentizitätseffekt zu den größten Überraschungen überhaupt. Die Daguerreotypie markierte eine – wie es bei Roland Barthes heißt – »Zäsur, die die Geschichte der Welt spaltet«;14 sie war ein »Weltriß«,15 der die kulturellen Formen des Sehens wie auch ästhetische Möglichkeiten von Kunst und Literatur erweitert hat. Dabei sollte aber nicht übersehen werden, dass die Fotografie selbst ein Resultat kultureller und wahrnehmungspsychologischer bzw. physiologischer Veränderungen, selbst also ein Produkt einer Aufwertung des Augen- und Sehsinns ist.

2. Das Jahrhundert des Auges Insbesondere mit der Mechanisierung und Dynamisierung des Raumes und der Zeit seit den 1830er Jahren entfalten Prozesse ihre Wirkung, die zu neuen Auffassungen von Zeitlichkeit und Räumlichkeit, aber auch von Realitätsaneignung und Erkenntnisvermögen führen. Sie verlangen den Zeitgenossen erhebliche Änderungen ihres Verhaltensrepertoires ab und leiten zugleich einen Mentalitäts- und ›Sinneswandel‹ ein. Es war vor allem der englische Maler und Kunst- bzw. Kulturtheoretiker John Ruskin, der die veränderte Bedeutung des Auges, aber auch die hohe Wertschätzung des Augensinns gegenüber dem Ohr und dem Hörsinn zum Ausdruck brachte. In seiner Schrift A Joy for Ever aus dem Jahr 1857 heißt es: You know we have hitherto been in the habit of conveying all our historical knowledge, such as it is, by the ear only, never by the eye; all our notion of things being ostensibly derived from verbal descriptions, not from sight. Now […] we shall discover at last that the eye is a nobler organ than the ear; and that through

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Vgl. etwa Sontag: On Photography: »Although there is a sense in which the camera does indeed capture reality, not just interpret it, photographs are as much an interpretation of the world as paintings and drawings are« (S. 6f.). Andreas Schreitmüller: Alle Bilder lügen. Foto – Film – Fernsehen – Fälschung. Konstanz 2005, S. 11. Barthes: Die helle Kammer, S. 97. Heinrich Heine: Die Bäder von Lukka. In: Ders.: Sämtliche Werke. Bd. 7/1: Reisebilder III/IV. Hrsg. von Manfred Windfuhr. Hamburg 1986, S. 81–152, hier S. 95.

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Sabina Becker, Barbara Korte the eye we must in reality obtain, or put into form, nearly all the useful information we are to have about this world.16

Es kam im Verlauf des 19. Jahrhunderts mithin zu einer historischen Wissensformation des Visuellen, an deren Entstehung neue Medien (Panorama, Fotografie, später auch Film) mit ihren Regeln des Wahrnehmungsmodus und des Wahrnehmungsausdrucks wesentlichen Anteil hatten, während sie selbst bereits aus dem neuen Dispositiv hervorgingen. In diesem Jahrhundert des Auges revolutionierte der Sehsinn geradezu die Raum-Zeit-Wahrnehmung, und hierbei liefert die Fotografie, wie Götz Großklaus hervorgehoben hat, die »Leitbegriffe des mediengeschichtlichen Wandels des Zeitbewußtseins«: magische Präsenz, magische Zeugenschaft, Verdichtung zu Punkten intensiver Gegenwart, Verwischung der alten Zeitgrenzen, Verschwinden der Intervalle, Dehnung zu Feldern gleichzeitiger Gegenwarten bzw. Vergangenheiten.17 In solchen Leitbegriffen sind auch die neuen Ästhetiken angelegt, die mit der Aufwertung des Sehsinns einhergehen: im 19. Jahrhundert zunächst der Realismus, später auch der Modernismus. Beides sind Bewegungen, die gerade zur Fotografie eine enge Affinität haben. Allerdings hatte sich die Wendung zum Auge, einschließlich eines neuen Kunstverständnisses, bereits im 18. Jahrhundert angekündigt, wie Sabine Haupt in ihrem Beitrag zu diesem Band argumentiert, antizipiert doch die spätromantische Kunst- und Medientheorie Diskurse, die sodann in Zusammenhang mit der Fotografie explizit artikuliert wurden. Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts lässt sich bereits darüber hinaus ein realistisches Verlangen lokalisieren, das die Menschen antrieb, die Bilder der Camera obscura zu fixieren. Movens ist die Überzeugung, dass die genaue Abbildung der äußeren Erscheinung Auskunft gibt über eine innere ›Wahrheit‹. Realitätsaneignung und Erkenntnisvermögen sind nicht mehr nur das Ergebnis von rationaler Reflexion, sondern auch der visuellen Anschauung und optischen Aufnahme. Das deutsche Biedermeier hatte in der ihm eigenen minutiösen Darstellung der Einzelheiten bzw. einzelnen Dinge der Idee Vorschub geleistet, über das Erfassen des äußeren Erscheinungsbildes das Wesen der Dinge benennen zu können. Auch in der Malerei häufen sich seit der zweiten Hälfte 16

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John Ruskin: »A Joy for Ever« (The Political Economy of Art [1857]). In: Ders.: The Works. London 1902–1912. Hrsg. von E. T. Cook, Alexander Wedderburn. Bd. 16. London 1905, S. 90f. (»The worst of me is that the Desire of my Eyes is so much to me! Ever so much more than the desire of my mind.«). Götz Großklaus: Medien-Zeit, Medien-Raum. Zum Wandel der raumzeitlichen Wahrnehmung in der Moderne. Frankfurt am Main 1995, S. 37f. – Vgl. dazu auch Georg Christoph Tholen, Michael O. Scholl (Hrsg.): Zeit-Zeichen. Aufschübe und Interferenzen zwischen Endzeit und Echtzeit. Weinheim 1990, insbes. S. 38.

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des 18. Jahrhunderts die Anzeichen für eine neue, unmittelbare Wahrnehmungsweise der Realität, die sich nicht nur in der Vernachlässigung der Bildkomposition zugunsten eines realitätskonformen, perspektivisch exakten, mit Hilfe der Camera obscura gewählten Ausschnitts (so etwa in der Landschaftsmalerei) kundtut, sondern auch in einer Vorliebe für neue Motive. In Verbindung mit dem Prozess der Visualisierung kam es schon vor Erfindung der Fotografie und parallel zu ihr zu einer Dominanz der optischen Phänomene und der angeschauten Dinge, ohne die eine realistische Kunst kaum denkbar wäre. Dass die Daguerreotypie um die Mitte des 19. Jahrhunderts erfunden wurde, dass sie eine sofortige weite Verbreitung erfuhr und in kurzer Zeit zu einem viel beachteten und diskutierten Medium avancierte, hat also vornehmlich damit zu tun, dass sie einem mentalitäts- und kulturgeschichtlichen Bedürfnis entsprach: Bereits um 1800, spätestens aber seit den 1820er und 1830er Jahren, hat man eine regelrechte »Sehsucht«,18 d. h. einen Bedeutungszuwachs des Visuellen und eine Optisierung des Lebens diagnostiziert. Es kam zu einer neuen Art des Sehens, ausgelöst durch Technisierung, Industrialisierung und Elektrifizierung der Lebenswelt und der Gesellschaft; die Inbetriebnahme der ersten Eisenbahn, die Beleuchtung der Städte, aber auch technische Erfindungen wie Panorama, Diorama und letztlich auch die Fotografie sind hier zu nennen.19 Gerade sie ist das Resultat eines Bedürfnisses nach anschaulicher, visueller Evidenz, und das heißt auch, sie ist von evidenter Visualität. Beides war zu diesem Zeitpunkt nur mehr über die technische Konstruktion zu haben, denn die Menschen verlangten nach unmittelbarer Anschauung und nach der genauen, ›realistischen‹ Darstellung des Realen, Wahrnehmbaren und Erlebbaren. Die Präsenz und Evidenz visueller Bilder, ja die Macht des Bildes relativieren zugleich das geschriebene Wort, mit der Erfindung der fotografischen Technik verändert sich maßgeblich die Stellung der Schrift. Eine wachsende fotografisch durchdrungene Wirklichkeitsdarstellung gehört hierzu, eine Darstellung, die der wachsenden »Sehkraft«20 entsprach – ein Vorgang, der 18

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Sehsucht. Über die Veränderung der visuellen Wahrnehmung. Hrsg. v. Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland GmbH. Redaktion Uta Brandes [Schriftenreihe Forum, Band 4]. Göttingen 1995. Vgl. Heinz Buddemeier: Panorama, Diorama, Photographie. Entstehung und Wirkung neuer Medien im 19. Jahrhundert. München 1970; Jonathan Crary: Techniken des Betrachters. Sehen und Moderne im 19. Jahrhundert [Original: Techniques of the Observer. Cambridge, MA 1990]. Dresden, Amsterdam 1996. Gottfried Keller an Paul Heyse, 30. 12. 1880. In: Ders.: Gesammelte Briefe in 4 Bänden. Hrsg. v. Carl Helbing. Bern 1950ff., Bd. 3.1, S. 49–51, hier S. 50.

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Sabina Becker, Barbara Korte

im 19. Jahrhundert zur Korrektur der ›ut pictura poiesis‹-Debatte führte.21 Denn die Fotografie bedeutet nicht nur eine Erweiterung des Feldes des Sichtbaren, sondern impliziert auch eine Reflexion über die Wahrnehmung und das Sichtbare überhaupt, was gegen Ende des Jahrhunderts in einem Diktum Ernst Machs zum Ausdruck kommt: »Verändern Sie das Auge des Menschen, und Sie verändern seine Weltanschauung.«22 Im Zuge dieser Visualisierung des Lebens ging das Monopol der Repräsentation und Erzeugung von Wirklichkeit vom Buchmedium auf die Bildmedien über; mit der Erfindung der Daguerreotypie kam es zu einer Überprüfung aller Werte, die visuelle Erkenntnis betreffend.

3. Fotografie und (literarischer) Realismus: Anthropologische und kulturgeschichtliche Konvergenzen Die bereits angesprochene Vermutung, dass die Fotografie und der europäische Realismus sich auf der gleichen anthropologischen und kulturellen Basis entwickeln, also im Anschluss an die Lust des Menschen an einer illusionären Vorspiegelung des Realen, an das Verlangen nach konkreter Wirklichkeit, wird durch die Erscheinungsdaten vieler bedeutender Werke des europäischen Realismus seit den 1850er Jahren erhärtet.23 Dabei lassen vor allem die Romane Gustave Flauberts erkennen, dass Literatur nicht mehr nur das Ergebnis von rationaler Reflexion, sondern auch der visuellen Anschauung und optischen Aufnahme ist, dass also das Sehen nun anders als im 18. Jahrhundert auch Wissen bedeutet. Flauberts Konzept der ›impartialité‹24 etwa lässt sich als Spiegelbild der von der zeitgenössischen Fotografie erzwungenen Demokratisierung des Bildes bzw. des Blicks werten: Hier hat alles ein 21

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Vgl. dazu Hans Christoph Buch: Ut Pictura Poesis. Die Beschreibungsliteratur und ihre Kritiker von Lessing bis Lukács. München 1972. Ernst Mach: »Wozu hat der Mensch zwei Augen?« [1866]. In: Ders.: Populär-wissenschaftliche Vorlesungen. 5. vermehrte u. durchgesehene Auflage. Leipzig 1923, S. 78–99, hier S. 93. Zum Verhältnis von Fotografie und literarischem Realismus u. a. vgl. Nancy Armstrong: Fiction in the Age of Photography. The Legacy of British Realism. Cambridge, London 1999; Daniel Akiva Novak: Realism, Photography, and Nineteenth-Century Fiction. Cambridge 2008, sowie Sabina Becker: Literatur im Jahrhundert des Auges. Realismus und Fotografie im bürgerlichen Zeitalter. München 2010. Gustave Flaubert an Leroyer de Chantepie, 12. 12. 1857. In: Ders.: Correspondance. Troisième Série (1854–1869). Paris 1907, S. 114–117, hier S. 117: »Il faut pourtant que les sciences morales prennent une autre route et qu’elles procèdent comme les sciences physiques, par l’impartialité. Le poète est tenu maintenant d’avoir de la sympathie pour tout et pour tous, afin de les compendre et de les décrire.«

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Recht auf Abbildung, und so entsteht eine Form der visualisierten Beschreibung, die nahezu ohne Reflexion auskommt. Fotografie und Literatur treten im 19. Jahrhundert über kultur- und wahrnehmungsphysiologische Faktoren in eine Interdependenz, die der realistische Roman prononciert zum Ausdruck bringt. Es spricht grundsätzlich einiges dafür, Literatur- und Mediengeschichte auch als eine Geschichte der Wahrnehmung zu denken. Menschen sind bildbedürftig, weil sie Welt überhaupt nicht anders haben können als in Projektionen, oder besser: in Bildprojektionen. Auch können Literatur Sinnesorgane und Sinneswahrnehmung bzw. -tätigkeit nicht gleichgültig sein: Ganz im Gegenteil ist das Visuelle eines ihrer Hauptmomente, Literatur produziert Bilder: Die optische Dimension ist eine der bedeutendsten Ebenen des Schreibens, vielleicht sogar, und das gilt nicht nur für den Realismus oder die in einer realistischen Tradition stehende Literatur, sondern für Literatur überhaupt, die bedeutendste. Handlung, Figur und Raum sind über das Optisch-Visuelle konzipiert, und Literatur wird über die optische Wahrnehmung und Vorstellungskraft (des Lesers) rezipiert. Im 19. Jahrhundert nun profiliert sich die Literatur dezidiert als ein bildanaloges Genre: Die allmähliche Wiedereingliederung des Bildes in die literarische Produktion ist bereits in der Literaturtheorie der Romantik zu beobachten, findet dann aber in Otto Ludwig und Friedrich Spielhagen ihre wirkungsmächtigen Fürsprecher. Für Otto Ludwig gewinnt ›der realistische Roman‹ im Vergleich mit einem Bild seine Konturen25,

sei es in der deutschen, französischen oder englischen Literatur. So haben z. B. Ernst Robert Curtius und Erich Auerbach für die Romane Honoré de Balzacs festgehalten, dass sie das Ergebnis einer Aneinanderreihung von Bildern seien26 – einer Methode, für die die Physiognomik und Transparentbildmalerei des 18. Jahrhunderts,27 aber sicherlich auch die zeitgleich wirkende Fotografie Pate gestanden haben. Der Grundgedanke des Panoramas, des ersten Massenmediums überhaupt, »ein so kunstvolles Bild zu liefern, dass der Betrachter an ihm nicht

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Stiegler: Philologie des Auges, S. 249. Ernst Robert Curtius: Balzac. Frankfurt am Main 21985, S. 162f.; Erich Auerbach: Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur. Berlin, Bern, München 41967, S. 436–442. – Auerbach bezieht sich auf den Beginn des Romans Le Père Goriot aus dem Jahr 1834. Vgl. Birgit Verwiebe: »›Wo die Kunst endigt und die Wahrheit beginnt‹. Lichtmagie und Verwandlung im 19. Jahrhundert«. In: Sehsucht. Über die Veränderung der visuellen Wahrnehmung, S. 83–94.

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die gemalte, sondern die reale Natur zu sehen« glaubte,28 gilt in gleichem Maße für die Fotografie: Sie faszinierte gerade aufgrund ihrer bestechenden reproduzierenden Möglichkeiten. Während die frühen Fotografen sich noch in der Verpflichtung sahen, die in der Malerei gültigen Regeln zu befolgen, begannen die Literaten, und hier an erster Stelle die Romanschriftsteller, mehr oder weniger zögerlich und mehr oder weniger erfolgreich, dem von der Fotografie ausgehenden Impuls zu folgen: Echtheit schaffen wird zu einem Leitmotiv der Literatur des 19. Jahrhunderts. In der Folge dieser Ambition entwickelt der Realismus Annäherungsstrategien an das fotografische Medium, entwirft eine der fotografischen Technik vergleichbare Erzählweise der Anschauung, Echtheit, Präzision und Genauigkeit. Die Faszination, die die Fotografie als ein sozusagen hyperrealistisches Medium auf die realistische Autorengeneration ausübte, lässt sich hinter einer solchen Ausrichtung von Ästhetik und Literatur nur schwer verbergen. Der realistische Roman des 19. Jahrhunderts scheint so eng mit der Fotografie verwoben, dass der heute vor allem in der englischsprachigen Literatur verbreitete ›neoviktorianische Roman‹ (der die viktorianische Epoche für ein gegenwärtiges Publikum appropriiert) vielfach auf die Fotografie rekurriert. Wie der Aufsatz von Eckart Voigts-Virchow im vorliegenden Band zeigt, geschieht dies auch mit dem Bestreben, hinter die wahrnehmungsskeptischen Positionen des Modernismus zurückzukehren. Im 19. Jahrhundert war man beeindruckt von der Möglichkeit einer fotografischen Erfassung von Wirklichkeit, und zwar nicht nur aufgrund des Interesses an einem Medium, das die Quintessenz realistischer Darstellung zu bedeuten schien. Die Fotografie setzte auch, wie Nathaniel Hawthorne formulierte, jenen Sachverhalt um, der nach der Erfindung dieses Mediums für das gesamte 19. Jahrhundert Gültigkeit haben dürfte: den Wunsch der Schriftsteller nämlich, für die Welt der Literatur etwas zu finden, das der Fotografie im Feld des Sichtbaren entsprach und sich zugleich als eine von ihr unabhängige und radikal unterschiedene Verfahrensweise profilieren konnte: I wish there was something in the intellectual world analogous to the Daguerrotype (is that the name of it?) in the visible – something which should print off our deepest, and subtlest, and delicatest thoughts and feelings, as minutely and accurately as the above-mentioned instrument paints the various aspects of Nature.29

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Stefan Oettermann: Das Panorama. Die Geschichte eines Massenmediums. Frankfurt am Main 1980, S. 41. Vgl. Nathaniel Hawthorne: Brieffragment an Sophia Peabody, 11. 12. 1839. In: The Centenary Edition of the Works of Nathaniel Hawthorne. Bd. XV: The Letters 1813–1843. Ohio 1984, S. 384–386, hier S. 384.

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Sicherlich war im 19. Jahrhundert schon zu erkennen, dass das fotografische Medium zugleich für Arretierung und Moderneabwehr stand. Denn die Fotografie ist ein verzögerndes Medium, das die Zeit anhält, und genau diese Arretierung ist letztlich auch als ein Aufbegehren gegen die Modernisierung zu verstehen. Waren im 19. Jahrhundert die Prozesse der Beschleunigung des Lebens, der Kommunikation und der Gesellschaft insgesamt ebenso wie die »Mobilisierung«30 und Entgrenzung des Blicks entscheidend, wie sie etwa bei einer Eisenbahnfahrt, aber auch beim Panorama einsetzten, so steht die Fotografie von Beginn an für die Stillstellung der Wahrnehmung und analog der Realismus für die Begrenzung und Rahmung des Blicks (im Unterschied zum panoramatischen Sehen der Romantik). Sie bediente ein Bedürfnis nach Verlangsamung und nach »visueller Musealisierung«,31 das der politischen und kulturellen Positionierung des Bürgertums wie auch des Realismus nachkam. Die Fotografie ist ein Versuch, den Moment dem Fluss der Zeit zu entheben, die Bewegung in Statik zu überführen, das Flüchtige und Vergängliche zu bannen.32 Damit widerspricht sie den Beschleunigungsprozessen, denen die Gesellschafts-, Mentalitäts- und Industriegeschichte im 19. Jahrhundert unterliegt. Ausgehend von dieser Vorstellung hat man den »Spiegel der Daguerreotypie als ein Hilfsmittel gewürdigt, dem ›Passionsweg der Moderne‹ (Walter Benjamin) Einhalt zu gebieten«.33

4. Fotografie und Moderne – Statik und Bewegung Die Verbundenheit von Literatur und Fotografie (sowie anderer Medien) im 19. Jahrhundert wird letztlich an dessen Ende noch einmal bestätigt. Um 1900 ist die Wirkungsphase des Realismus beendet, die realistische Bewegung verliert an Bedeutung und Überzeugungskraft, gleichfalls die Fotografie, der mit der Entwicklung des Films der Rang als wirkungsmächtigstes technisches Medium genommen wird. Wichtig ist diese Erinnerung der Wirkungszeiten und Hochphasen beider Phänomene, des Realismus im 30

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Ernst Kieninger, Doris Rauschgatt: Die Mobilisierung des Blicks. Eine Ausstellung zur Vor- und Frühgeschichte des Kinos. Wien 1995. Großklaus: Medien-Zeit, Medien-Raum, S. 117. Vgl. hierzu auch Talbots Ausführungen: »Such is the fact, that we may receive on paper the fleeting shadow, arrest it there, and in the space of a single minute fix it there so firmly as to be no more capable of change, even if thrown back into the sunbeam from which it derived its origin« (William Henry Fox Talbot: »Photogenic Drawing«. In: The Athenaeum, Ausgabe 589 vom 9. 2. 1839, S. 114–117, hier S. 115). Busch: Belichtete Welt, S. 288.

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19. Jahrhundert und der Fotografie, mit Blick auf ihre ›anti-moderne‹ Disposition. Wie die fotografische Aufnahme geht realistisches Schreiben von der Bannung des Augenblicks und von der Umkehrung des Flüchtigen und Vergänglichen aus, hier im Moment der verzögernden Beschreibung. Insofern werden beide, Realismus und Fotografie, ›Opfer‹ des Verlangens einer dynamischen und dynamisierten Gesellschaft nach bewegten Bildern. Auch das Auge verlangt Bewegung, und in immer rascherer Folge werden Apparate und Maschinen entwickelt, die der Bewegungssucht der beginnenden Moderne entgegenkommen, oder umgekehrt formuliert, die Bewegung überhaupt erst als Kennzeichen der Moderne etablieren. Im Film kommt die in den einzelnen fotografischen Phasenbildern angehaltene Zeit mit der mechanischen Mobilisierung der Bilderreihe selbst wieder in Fluss: Wie Filme der Weimarer Republik die Spannung von bewegtem und unbewegtem Bild nutzen, auch ausdrücklich zur Medienreflexion, illustriert der Beitrag von Franz Leithold zum vorliegenden Band. Von der Idee her ist der Film ein Kind des 19. Jahrhunderts, analog zu dem Befund, dass die Momente der Geschwindigkeit und Beschleunigung Erfahrungswerte bereits des bürgerlichen Zeitalters sind. Der Film, bei dem die fotografischen Momente des Stillstands hintereinander gesetzt und rasch abgespult werden, hebt die Arretierungstechnik der Fotografie auf, integriert die Einzelbilder wieder in einen natürlichen Ablauf von Bildern, aber auch die Nachdrücklichkeit der menschlichen Wahrnehmung. Vermutlich lag ein Teil der Faszination, die von den um die Jahrhundertwende gezeigten ersten Filmrollen ausging, in der Tatsache begründet, dass man über ein halbes Jahrhundert in Form der Fotografien ausschließlich unbewegte, starre Bilder gekannt hatte.34 Zugleich aber sind es die arretierende Dimension und das verzögernde Wesen des fotografischen Bildes, welche im 20. Jahrhundert, in der Literatur und vor allem im Film, ein Interesse an der Fotografie aufrechterhalten. Das bewegte Medium, das Medium der Bewegung, greift auf das arretierende Verfahren der Fotografie zurück. Mit Blick auf diese Wechselwirkung steht letztere nicht nur an der Schnittstelle von Gesellschaft, Technik bzw. Wissenschaft und Kunst, sondern ist zugleich ein Medium am Schnittpunkt von 34

Vgl. hierzu die Beschreibung in Frank Norris’ 1899 erschienenem Roman McTeague. A Story of San Francisco (New York 1904, S. 105): »The kinetoscope fairly took their breaths away. ›What will they do next?‹ observed Trina, in amazement. ›Aint’t that wonderful, Mac?‹ McTeague was awe-struck. ›Look at that horse move his head‹, he cried excitedly, quite carried away. ›Look at that cable-car coming – and the man going across the street. See, here comes a truck. Well, I never in all my life!‹«

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gesellschaftlicher, kultureller und industrieller Moderne. Dies zeigt sich bereits am Ende des 19. Jahrhunderts, denn im Umfeld des Naturalismus und des Impressionismus weist die Fotografie einen entscheidenden Weg in eine moderne Ästhetik bzw. in die Ästhetik der Moderne: Das Fotografische reißt den Moment, den Augenblick und den Ausschnitt aus dem Fluss der Zeit und der Abläufe heraus, dies aber auch als Fragment: Damit ist die Idee des fotografischen Moments als »blitzartig aufgefasste[, nervöse] Szene«35 – wie der deutsche Naturalist Paul Ernst formuliert – gedacht und die Fragmentpoetik bzw. Montagetechnik der visualisierten und beschleunigten Moderne vorbereitet. Susan Sontag hat diese Affinität der Fotografie zur modernistischen Ästhetik des Augenblicks hervorgehoben: Fotos brechen Narrativität, sie überlassen jedes kontextualisierende Verstehen dem Subjekt.36 In diesem Sinne hat das Foto im Modernismus auch eine besondere Affinität zu literarischen Kurzformen ausgebildet: zur Prosaskizze (im deutschen Impressionismus etwa in Peter Altenbergs Wie ich es sehe von 1896), zum ›poème en prose‹ oder zur Short Story bzw. Kurzgeschichte.37 So wird gerade im 20. Jahrhundert offensichtlich, dass Literatur, sei es bewusst oder unbewusst, durch das fotografische Medium veranlasst wurde, formale und rhetorische Möglichkeiten zu überdenken, ästhetische Mittel zu überarbeiten und Beschreibungstechniken zu variieren; vor allem in den 1920er Jahren, in Verbindung mit dem »neuen Sehen« – oder wie der Bauhauskünstler Moholy-Nagy formulierte, dem »gesteigerten Sehen«, dem »mehr-sehen«38 – der Neuen Sachlichkeit bzw. der nouvelle objectivité. Auch im forcierten Dokumentarismus der englischen und amerikanischen Literatur der 1930er und 1940er Jahre kommt es zu einer Integration und produktiven Nutzung des fotografischen Mediums.39 Die amerikanische Dokumentarliteratur der 1930er Jahre arbeitet explizit mit Fotos: Zu verweisen ist an erster Stelle auf das Gemeinschaftswerk Let Us Now Praise Famous Men (1941) des Schriftstel35

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Paul Ernst: »Die neueste literarische Richtung in Deutschland«. In: Die Neue Zeit. Revue des geistigen und öffentlichen Lebens (1890/91), S. 509–519, hier S. 518. »Strictly speaking, one never understands anything from a photograph. […] Only that which narrates can make us understand« (Sontag: On Photography, S. 23). Vgl. u. a. Jane M. Rabb (Hrsg.): The Short Story and Photography, 1880’s-1980’s. A Critical Anthology. Albuquerque, NM 1998. Vgl. Laszlo Moholy-Nagy: »fotografie: die objektive Sehform unserer Zeit«. In: Telehor. Internationale Zeitschrift für visuelle Kultur, Sonderheft 1–2: László MoholyNagy, 1936, S. 120ff. Zitiert nach: Krisztina Passuth, »Laszlo Moholy-Nagy et Walter Benjamin. Une rencontre«. In: Cahiers du Museé National d’art moderne. Paris 1980, S. 342–344, hier S. 343. Vgl. Joseph B. Entin: Sensational Modernism. Experimental Fiction and Photography in Thirties America. Chapel Hill, NC 2007.

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lers James Agee und des Fotografen Walker Evans. Und auch die Gegenwartsliteratur setzt sich weiterhin mit der Fotografie auseinander, sowohl im Roman als auch in der Kurzform der Lyrik, für die Susan Sontag eine besondere Beziehung zum intensiven fotografischen Sehen reklamierte: The ethos of photography – that of schooling us (in Moholy-Nagy’s phrase) in ›intense seing‹ – seems closer to that of modernist poetry than that of painting. […] Poetry’s commitment to concreteness and to the autonomy of the poem’s language parallels photography’s commitment to pure seeing. Both imply discontinuity, disarticulated forms, and compensatory unity: wrenching things from their context (to see them in a fresh way), bringing things together elliptically, according to the imperious but often arbitrary demands of subjectivity.40

Nicht zuletzt zeigt die Gegenwartsliteratur besonders deutlich, wie sich im literarischen Diskurs über die Photographie bestimmte Topoi herausgebildet haben.

5. Literatur und Fotografie in der Gegenwart: Beziehungsformen und Topoi Die Beiträge zu literarischen Texten in diesem Band verdeutlichen, wie vielfältig die intermedialen Bezüge zwischen Literatur und Fotografie ausfallen. Fotografien werden in Texten beschrieben, und sie regen zu Texten an. Fotografien werden in literarischen Texten abgebildet (und stehen dann u. U. in einem Spannungsverhältnis zum geschriebenen Wort), oder sie werden im Text in Sprache übersetzt. Nicht selten ist dabei die literarische Interaktion mit und Reflexion über Fotografie geprägt durch Topoi des kulturellen Diskurses über Fotografie. Es liegt nahe, dass gerade literarische Texte WortBild-Relationen thematisieren, die Walter Benjamin mit dem Begriff der »Beschriftung« angesprochen hat.41 Besonders prägnant kommt die Relation von Text und Fotografie in den ›Foto-Büchern‹ zum Ausdruck, die Monika Schmitz-Emans analysiert. Auch in den Beiträgen von Andrea Gnam, Susanne Knaller und Robert Krause stehen Fragen wie die folgenden im Zentrum der Diskussion: Wie aussagekräftig sind Bilder an sich? Wie unterscheidet sich die visuelle Evidenz des Bildes von der diskursiven des Textes? Wie denken Texte Sinnzusammenhänge, die Fotografien andeuten, weiter? Unterstreicht das Foto im literarischen Text die bedeutungskonstitutive 40 41

Sontag: On Photography, S. 95f. Walter Benjamin: »Kleine Geschichte der Photographie.« In: Ders.: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Frankfurt am Main 1963, S. 65–94, hier S. 93.

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Rolle der Sprache? Wie bewertet der literarische Text die wirklichkeitsvermittelnde und wissensrelevante Rolle von Fotografien? Verbunden werden solche Fragen mit der nach der Rolle von Fotografien in der individuellen und kollektiven, der persönlichen und öffentlichen Erinnerung, die im Fall von fotografierten Menschen immer auch mit einem besonderen Eindruck der Vergänglichkeit verbunden ist.42 Susanne Knaller betrachtet den Zusammenhang von Erinnerung, Autobiografie und Fotografie, und Roswitha Böhm untersucht die Darstellung von Fotografie und Gedächtnis im französischen Gegenwartsroman. Gabriele Rippl befasst sich mit dem Status von Fotografien in postkolonialen Romanen, die traumatische Erfahrungen und Erinnerungen ihrer Protagonisten thematisieren. Berührt wird hier auch die Bedeutung von Fotografien als ›Augenzeugnissen‹ von Verbrechen gegen die Menschlichkeit – eine ethische Dimension der Fotografie also, die an ihren Anspruch auf Authentisierung von Wirklichkeit gekoppelt ist. Diese Authentisierung, der Aufzeichnungscharakter und der Objektivitätsanspruch von Fotografie sind in Fotodiskursen des 20. Jahrhunderts immer wieder in Frage gestellt worden. In Bezug auf Menschenrechtsverletzungen werden sie in Susan Sontags Regarding the Pain of Others (2003) diskutiert. Das Foto als arretierter Moment – etwa im Gegensatz zum laufenden Fernsehbild – zwingt zum Hinsehen etwa bei Kriegsgräueln, Hunger oder extremer Armut, aber es bringt auch eine Ästhetisierung mit sich, die distanzieren kann.43 Letztendlich konstatiert Sontag in Bezug auf eine affektive und ethische Involvierung der Rezipienten sogar eine Überlegenheit des Narrativen (ob im Roman oder Film) über das statische Foto: »A narrative seems likely to be more effective than an image. Partly it is a question of the length of time one is obliged to look, to feel.«44 Christoph Ribbats Beitrag zu diesem Band nennt Sontag stellvertretend für eine bürgerlich-intellektuelle Position, die im Diskurs über die Evidenz von Dokumentarfotografie eine grundsätzlich skeptische Haltung einnimmt und eine Rezeption von Fotos unter dem Aspekt des ›Authentischen‹ als naiv disqualifiziert. Einer sol42

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»Fotografie war immer eine besondere Form der Erinnerung. Sie kann uns Menschen zu einem längst vergangenen Zeitpunkt ihres Lebens vergegenwärtigen. Wir kennen möglicherweise ihr weiteres Schicksal, während sie auf den Aufnahmen noch unwissend in die Zukunft blicken« (von Brauchitsch: Kleine Geschichte der Fotografie, S. 13). Vgl. auch Sontag: On Photography, S. 111: »Despite the illusion of giving understanding, what seeing through photographs really invites is an acquisitive relation to the world that nourishes aesthetic awareness and promotes emotional detachment.« Susan Sontag: Regarding the Pain of Others. New York 2003, S. 122.

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chen Objektivitäts- und Authentizitätsdekonstruktion entgegengesetzt ist die Position, für die u. a. der prominente amerikanische Kriegsfotograf James Nachtwey steht, der an das dokumentierende und berührende Moment seiner Bilder glaubt.45 Eine vermittelnde Position sieht Ribbat bei Judith Butler artikuliert, die in ihrem Essay Precarious Life aus dem gleichnamigen Band (2004) zwar nicht zu einer Abbildfunktion von Fotografie zurückgeht, ihr aber im öffentlichen Diskurs doch eine Wirkungsmacht und damit eine ethische Funktion zugesteht. Ein englischer Roman, der – durch Sontag inspiriert – diese Fragen aufgreift und u. a. am Beispiel des Kriegsjournalismus und der Kriegsfotografie thematisiert, ist Pat Barkers Double Vision (2003).46 Hier wird das ethisch wirksame Foto als eines identifiziert, in dem der Betrachter berührt wird, weil bereits der Fotograf seine subjektive Betroffenheit im Bild zum Ausdruck gebracht hat: »But Ben had included his own shadow in the shot, reaching out against the dusty road. The shadow says I’m here.«47 Häufiger als öffentliche Funktionen von Fotografie thematisiert Literatur deren persönliche Relevanz, wie oben bereits für den Erinnerungsdiskurs angesprochen wurde. In enger Berührung hierzu steht das Foto als Porträt, das Ralf Czapla in seinem Bezug zum literarischen Porträt am Beispiel von Arno Schmidt untersucht.48 Auch über Porträts liegt ein Schatten der Morbidität, der wiederholt für die Fotografie konstatiert worden ist und der in der Literatur regelmäßig aufgegriffen wird. Im Foto prallen zwei Zeit- und Seinszustände aufeinander, die ihm den Status des Liminalen verleihen: Gegenwärtiges und Vergangenes, Präsentes und Absentes, ein unheimliches Gleichzeitiges von Da-Sein und Nicht-da-Sein. Roland Barthes hat dies ebenso betont49 wie Susan Sontag, für die alle Fotografien »memento mori« sind: »To take a photograph is to participate in another person’s (or thing’s) mortality, vulnerability, mutability. Precisely by slicing out this moment and freezing it, all photographs testify to time’s relentless melt.«50 Nicht zufällig 45

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Vgl. zu Nachtwey auch den Dokumentarfilm War Photographer von Christian Frei (Schweiz 2001). Zu den Ausführungen dieses Romans über Kriegsfotografie vgl. Barbara Korte: Represented Reporters. Bielefeld 2008, S. 141–146. Pat Barker: Double Vision. London 2003, S. 123. Zu Fotografie sowie Autobiografie und Fotografie und Porträt vgl. auch Susan S. Williams: Confounding Images. Photography and Portraiture in Antebellum American Fiction. Philadelphia, PA 1997; Timothy Dow Adams: Light Writing & Life Writing. Photography in Autobiography. Chapel Hill, NC 2000. »[…] il y a toujours en elle un écrasement du temps: cela est mort et cela va mourir« (Barthes: La Chambre clair, S. 150). Sontag: On Photography, S. 15.

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werden gerade im Medium des Films, das eine Spannung von Statik und Bewegung konkret verbildlichen kann, die Topoi von Morbidität und Vergänglichkeit besonders prägnant eingesetzt.

6. Spielfilm und Fotografie in der Gegenwart Filme greifen jene Topoi und Diskurse auf, die in literarischen Texten begegnen. Auch der Film reflektiert über die Beweiskraft der Fotografie und die Ethik des Sehens und Fotografierens, etwa im Kriegsreporterfilm Under Fire (USA 1983), der in einer Schlüsselszene das Fälschen eines Fotos durch den eigentlich der Objektivität verpflichteten Reporter zeigt. Aber der Film hinterfragt auch die Aussagekraft des fotografischen Bildes gegenüber dem Wort. In dem Thriller Memento (2000), den der Beitrag von Martin Hermann analysiert, ersetzt der Protagonist sein ausgefallenes Kurzzeitgedächtnis durch Polaroidfotos, d. h. durch einmalige und an sich nicht manipulierbare ›Erinnerungsstücke‹, doch werden diese Fotos unzuverlässig, weil sie durch Beschriftungen umgedeutet werden. Da Memento ein Kriminalfilm ist, wird auch der Topos des Fotos als kriminalistischer Beweis außer Kraft gesetzt. Der Film teilt mit der Fotografie eine Mediengeschichte, und er kann, wo er Fotografien repräsentiert und/oder über Fotografie reflektiert, dies, im Gegensatz zur Literatur, in einer engen medialen Entsprechung tun, d. h. im fotografierten Bild selbst und nicht nur in einer sprachlich evozierten Visualität. Die Zahl der Filme, die Fotos darstellen oder fotografische Akte – oft auch als dezidiert voyeuristische Akte – schildern, ist groß, und die Arten, in denen sie Fotos reflektieren, sind ebenso vielfältig wie in der Literatur. Klassiker des Films wie Alfred Hitchcocks Rear Window (Fenster zum Hof, USA 1954) und Michelangelo Antonionis Blow-Up (GB 1966; im vorliegenden Band von Rolf G. Renner besprochen)51 setzen in ihrer Handlung um Fotografen – und um die Aufklärung krimineller Handlungen – bewegtes und stehendes Bild zueinander in einen metareflexiven Bezug, in dem die Evidenz des Fotos dem hermeneutischen Potenzial der bewegten Erzählung in beiden Fällen unterlegen scheint.52 51

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Zum fotografischen Diskurs von Blow-Up siehe auch Torsten Scheid: Fotografie als Metapher: Zur Konzeption des Fotografischen im Film. Ein intermedialer Beitrag zur kulturellen Biografie der Fotografie. Hildesheim 2005, S. 41–58. Hitchcocks Film ist in seiner Optik deutlich durch Wahrnehmungsweise und Ästhetik der Fotografie geprägt. In der Filmhandlung bedeutsam ist allerdings vor allem das Foto, das im entscheidenden Moment nicht geschossen wird, nämlich das des vom Fotografen beobachteten Mordes. Und gerade aus diesem absenten Foto

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Für den Film der Gegenwart (den Mainstream ebenso wie die Avantgarde) geht Torsten Scheid sogar von der These aus, dass jede Darstellung von Fotografie im Film einen Beitrag zum Diskurs über Fotografie macht: Jede Fotohandlung in einem Film ist zugleich Darstellung eines fotografischen Aktes wie Akt der Darstellung, also stets eine Fotohandlung als Fotohandlung und als deren darstellerische Figur. Eine Darstellung von Fotografie bzw. von Fotohandlung im Spielfilm ist also notwendigerweise metaphorische Darstellung. Selbst da, wo Fotografie als veristisches Moment oder dokumentarisches Belegstück figuriert, formuliert die filmische Metapher eine Vorstellung des Fotografischen, gespeist aus jenen Charakteristika, mit denen das Medium behaftet ist oder behaftet wird. Anders gesagt: Die filmische Metapher Fotografie bzw. die filmische Figur Fotografie bringt implizit – in Andeutungen – oder explizit eine Metastruktur des Fotografischen, ein Ensemble diskursiver und nicht-diskursiver Formen vor Augen.53

Allerdings leitet sich aus dem ästhetischen Kontrast zwischen bewegtem und statischem Bild auch der zentrale Wirkungseffekt der Fotografie im Film ab. Als die Bilder laufen lernten, ließ sich die sichtbare Wirklichkeit auch in ihrem natürlichen zeitlichen Verlauf abbilden. Wird diese Kontinuität arretiert, verleiht dies in der Sprache des Films dem stehenden Bild eine besondere Qualität. In der Film-Syntax54 wirkt es wie ein Ausrufezeichen: Es hebt aus dem Fluss des laufenden Films einen Augenblick hervor. Schon die Standkopierung friert das Filmbild scheinbar ein und hat so einen fotografischen Charakter; als Fotografie, d. h. als ein im Film abgebildetes Foto, erscheinen stehende Bilder allerdings erst aufgrund zusätzlicher Mittel, wie etwa einer anderen Färbung des Bildes, einer Bildrahmung, einer Fotoblende oder des akustischen Signals eines Kameraauslösers. Ein weiterer Filmklassiker, der amerikanische Spätwestern Butch Cassidy and the Sundance Kid (1969), setzt derart markierte Fotografien seiner Hauptfiguren im Kontext der Aussage ein, dass die beiden Outlaws Relikte einer vergangenen Zeit

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ergibt sich dann die spannende Handlung des FiIms. Der Kunst- und Bildhistoriker Michael Diers geht daher so weit, Rear Window als Allegorie auf die Überlegenheit des erzählenden Films über das Foto zu interpretieren: »die aktuellen Bilder liefert allein der Film, für den Fotografen Jeff ist hier, nachdem es zum master shot nicht gekommen ist, nichts zu holen« (Michael Diers: »›Der entscheidende Augenblick‹. Bild- und Medienreflexion in Alfred Hitchcocks Das Fenster zum Hof«. In: FotografieFilmVideo. Beiträge zu einer kritischen Theorie des Bildes. Hamburg 2006, S. 140–173, hier S. 158). Scheid: Fotografie als Metapher, S. 14f. Zur Vorstellung von »Interpunktionszeichen« im Film vgl. James Monaco: Film Verstehen. Kunst, Technik, Sprache, Geschichte und Theorie des Films. Reinbek bei Hamburg 1980, S. 211.

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sind und gewissermaßen Opfer in einer sich modernisierenden Welt, welche in der Filmhandlung selbst gerade durch Fotografien als modernes Medium der Abbildung und Erinnerung indiziert wird: Im Wilden Westen der Jahrhundertwende ist für die beiden Männer kein Platz mehr, und sie beschließen, in Südamerika ein neues Leben zu beginnen. Vor dem Aufbruch dorthin zeigt eine als Fotostrecke erzählte Sequenz, wie Butch und Sundance sich für kurze Zeit als Touristen in New York vergnügen; die Schauspieler wurden hierfür in historische Fotos hineinretuschiert. Die Fotos sind Schnappschüsse einer unbeschwerten Zeit, bevor die beiden Helden ihren Untergang erleben. Im letzten Moment ihres Lebens friert die Standkopie das Filmbild ein und nimmt dann allmählich eine ›historische‹ Sepiatönung an. Es wird aus dem Präsens der Erzählung in ein Foto aus der Vergangenheit verwandelt, das in der Rezeption des Films allerdings die Funktion einer Vergegenwärtigung erfüllt: Der Film zeigt Butch und Sundance am Ende eben nicht als Tote, sondern hält sie als Legende im entzeitlichten Foto am Leben; aus der bewegten Wirklichkeit gehen sie in das Bildarchiv eines mythischen Westens ein. Während in diesem Fall das erstarrte Bild dem Topos der Morbidität des Fotos entgegenwirkt – es hält die Helden ›am Leben‹ –, wird in anderen Filmen gerade die Beziehung der Fotografie zum Tod und zum Jenseitigen inszeniert. Ein komplexes Spiel mit dem Foto als Beweismittel, seiner Affinität zum Reich der Toten und seiner Rolle als Memento treibt der Spielfilm Photographing Fairies (GB 1997). Seine Haupthandlung ist nach dem Ersten Weltkrieg angesiedelt und setzt, wie Butch Cassidy and the Sundance Kid, das Medium Fotografie in einen expliziten Bezug zur Moderne. Nach dem Tod seiner Frau hat der Fotograf Charles eine Todessehnsucht entwickelt und agiert im Krieg als unerschrockener Frontfotograf. Nach Kriegsende leistet er in seinem Fotostudio dann einen besonderen Beitrag zur Bewältigung des Kriegstraumas: Er fälscht Erinnerungsstücke, indem er bestehende Porträts von gefallenen Soldaten in neu aufgenommene Familienporträts hineinretuschiert.55 Ein Foto, das so im wirklichen Leben nie aufgenommen wurde und keine reale Referenz hat, wird den Überlebenden zum tröstlichen Erinnerungsstück. Kontakt zu den Toten wurde seit dem 19. Jahrhundert auch im Spiritismus gesucht. Die so genannte Geisterfotografie, die u. a. Bernd Stiegler ausführlich gewürdigt hat,56 war um 55

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Zur Rolle des Familienfotos im Film vgl. auch den Aufsatz von Phil Powrie: »The ›family portrait‹, Trauma and the punctum in Distant Voices, Still Lives (1988)«. In: Wendy Everett (Hrsg.): The Seeing Century. Film, Vision, and Identity. Amsterdam 2000, S. 20–35. Vgl. Stiegler: Philologie des Auges, S. 118–135; Stiegler: Theoriegeschichte der Photographie, S. 87–89 und S. 115–130; Christiane Arndt: Abschied von der Wirklichkeit. Pro-

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die Jahrhundertwende ein blühendes Genre, dem technisch entgegenkam, dass man mit Überbelichtung und Doppelbelichtung geisterhafte Bilder erzeugen konnte; grundsätzlich war die Fotografie in ihren Anfängen auch als unheimlich wahrgenommen worden.57 Die Geisterfotografie erlebte um die Zeit des Ersten Weltkriegs eine neue Konjunktur. So überblenden sich auch in der Handlung von Photographing Fairies zwei Begriffe des Mediums: das szientifisch-technische Medium der Fotografie mit seinem Objektivitätsanspruch und das Medium als Kontakt zu einer anderen, okkulten Welt. In Photographing Fairies entlarvt der Fotograf bei einem Vortrag der britischen spiritistischen Gesellschaft ein Foto, das angeblich Feen zeigt, als klare Fälschung. Sein professionell geschultes Auge durchschaut sofort, wie die Fälschung bewerkstelligt wurde. Aber dann kommt er an ein Foto schemenhafter Feen, dem er die Fälschung nicht nachweisen kann; im Gegenteil scheint selbst die extreme Vergrößerung zu bestätigen, dass das Foto authentisch ist, und der Fotograf beginnt selbst, an eine Welt jenseits des für das menschliche Auge Sichtbaren zu glauben. Der Film thematisiert damit – wie viele andere Filme, die Fotografien integrieren – gleichzeitig die Möglichkeiten und die Grenzen der Fotografie als Medium der Erkenntnis und des Weltwissens. Im vorliegenden Band zeigen Dorothee Birke und Michael Butter, wie selbst der zeitgenössische Horrorfilm eine Spannung des Fotografiediskurses zwischen Magischem und Positivistischem nutzt – und zwar nicht nur für die genrespezifische Evozierung von Ängsten, sondern auch für Medienreflexion und die Artikulation eines Unbehagens mit den Medien der Gegenwart. Die Fotografie hat, so konnten diese einführenden Bemerkungen nur anreißen, nicht nur selbst einen viel kommentierten Medienumbruch bewirkt. Sie ist auch zu einer ›Projektionsfläche‹ für generelle Medienreflexion und speziell der Reflexion über ihre nachfolgende mediale ›Revolution‹ geworden. Fotografie ist seit Mitte des 19. Jahrhunderts mit anderen Künsten viel-

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bleme bei der Darstellung von Realität im deutschsprachigen literarischen Realismus. Freiburg im Breisgau, Berlin, Wien 2009, S. 84–140. – Georges Méliès’ Kurzfilm von 1903, The Spiritual Photographer, greift diese Mode auf; es ist nicht verwunderlich, dass gerade diese Art der Fotografie einen ›Filmmagier‹ und Pionier des Trickfilms faszinierte. Vgl. auch Tom Gunning: »Phantom Images and Modern Manifestations: Spirit Photography, Magic Theater, Trick Films, and Photography’s Uncanny«. In: Patrice Petro (Hrsg.): Fugitive Image. From Photography to Video. Bloomington, IN 1995, S. 42–71. »At the same time that the daguerreotype recorded the visual nature of material reality it also seemed to dematerialize it, to transform it into a ghostly double« (Gunning: Phantom Images, S. 43).

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fache intermediale Beziehungen eingegangen, und die lebhafte Diskussion um und künstlerische Auseinandersetzung mit dieser Intermedialität wird dafür sorgen, dass die Fotografie als Medium der Moderne ihren Platz im kulturellen Diskurs der post-postmodernen Gegenwart behaupten wird.

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Medienreflexion

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Verführung zum Erzählen Fotografie zwischen Tatort und Fiktion

1. Der Fotograf – ein Voyeur? »Hat man dadurch, daß man einen Ort fotografiert oder gefilmt hat, zu diesem Ort ein anderes Verhältnis, als wenn man dort nur für einen Moment verweilt und bloß geschaut hätte? Entsteht dabei eine Art von ›Besitzverhältnis‹? Was trägt der, der sich ›ein Bild gemacht hat‹ von einem Ort, mit sich davon?«, fragt Wim Wenders im Vorwort zu einem Fotografieband. »Was bleibt von dem Ort in dem Bild? Für einen Maler ist dies sicher eine ganz andere Frage; der, so denke ich mir«, fährt Wenders mit seinen Überlegungen fort, schenkt eher einem Ort etwas mit dem Bild, das er von ihm malt, statt daß er nimmt. Auch ein Erzähler, dessen Geschichte an einem bestimmten Ort spielt, nimmt diesem Ort nichts weg: entsteht doch das Bild dieses Ortes dann erst immer vor dem inneren Auge jedes Lesers. Aber ein Fotograf stiehlt sich oft genug davon wie ein Dieb; jedenfalls habe ich das beim eigenen Fotografieren mitunter selbst schmählich so empfunden, und kann mich dieses Eindrucks auch beim Anblick anderer Fotos manchmal nicht erwehren.1

Wie sechzig Jahre zuvor in Walter Benjamins Kleiner Geschichte der Photographie (1931) ist hier von einem Ort die Rede, der mit dem Eingriff des Fotografen zum Tatort wurde. Der Fotograf, der sich davonstiehlt, hat mit seiner Aufnahme etwas davongetragen, das er, anders als der Maler oder der Erzähler, mit seinem Werk nicht wieder zurückgeben kann. Das Unbehagen, das Wenders hier gegenüber dem Medium formuliert, die Scheu, mit der ›Aufnahme‹ etwas aufzunehmen, das dem Fremden nicht zusteht, mit der Kamera in eine Wirklichkeit eingedrungen zu sein, die durch diese ›Berührung‹ womöglich Schaden nimmt – zumal dann, wenn ihr Bild reproduziert und ausgestellt wird – könnte eine späte Weiterführung der Benjamin’schen Überlegungen zu Fotografie und Film sein. Allerdings mit einer etwas anderen Gewichtung: Der Fotograf muss sich, wie auch der Filmemacher, von Wenders fragen lassen: »Was tut er seinen Orten an? Was gibt er ihnen? Was nimmt er ih-

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Wim Wenders: »Wintermärchen«. In: The Act of Seeing. Texte und Gespräche. Frankfurt am Main 1992, S. 158–160, hier S. 158.

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nen?«, während Benjamin den Fotografen dazu bestimmt, einen Ort mit seinen Aufnahmen zu einem Tatort werden zu lassen, einem bezeugten Schauplatz im geschichtlichen Prozess. Besteht bei Wenders der Diebstahl des Fotografen darin, einen selbstversunkenen, in der Geschichte schlummernden Moment zu erhaschen, ist bei Benjamin die Tat des Fotografen ambivalent besetzt; sie ist ein Eingriff und stellt doch zugleich auch eine Unterlassung dar. Im Fokus der Kamera, unter dem Blick des Fotografen, wird der Ort mit einem historischen Index versehen und damit zu einem Ort, an dem Geschichte sich abspielt, wie unbedeutend der Ort oder das Geschehen zunächst auch erscheinen mögen. Allein die Tatsache, dass eine Aufnahme gemacht worden ist, zeigt, dass etwas beobachtet und Spuren aufgezeichnet wurden. Und es bedarf, wie Benjamin einfordert, einer »Beschriftung«, um den Spekulationen, dem erzählerischen Reflex angesichts des neu hinzugekommenen Archivmaterials, eine – nach allgemeiner Lesart: politische – Wende zu geben. Bilder können zu »Beweisstücken im historischen Prozeß« werden:2 Immer kleiner wird die Kamera, immer mehr bereit, flüchtige und geheime Bilder festzuhalten, deren Chock im Betrachter den Assoziationsmechanismus zum Stehen bringt. An dieser Stelle hat die Beschriftung einzusetzen, welche die Photographie der Literarisierung aller Lebensverhältnisse einbegreift, und ohne die alle photographische Konstruktion im Ungefähren stecken bleiben muß. Nicht umsonst hat man die Aufnahmen von Atget mit denen eines Tatortes verglichen. Aber ist nicht jeder Fleck unserer Städte ein Tatort? nicht jeder ihrer Passanten ein Täter? Hat nicht der Photograph – Nachfahr der Augurn und der Haruspexe – die Schuld auf seinen Bildern aufzudecken und den Schuldigen zu bezeichnen?3

Oder wäre, bezieht man Benjamins wenige Jahre später im »Kunstwerk-Aufsatz« – allerdings für den Film – formulierten Gedanken mit ein, nicht eher eine ›Selbstanzeige‹ nötig, da der Mann mit der Kamera-Apparatur wie der Chirurg in den Körper der ›Wirklichkeit‹ eingreift? »Wer hat ihn dazu autorisiert?«, würde sich Wenders vielleicht fragen, eine Frage, die Benjamin – aus historischen Gründen – so nicht gestellt hat. Das Verhältnis von Schrift und Fotografie, die Neugierde auf den tatsächlichen oder vermeintlichen Tatort, der auch einfach nur ein Ort des Geschehens sein kann, wurde schon im ersten Fotografiebuch The Pencil of Nature 2

3

Walter Benjamin: »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit.« 2. Fassung [1939]. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Bd. I.2. Frankfurt am Main 1980, S. 471–508, hier S. 485. Walter Benjamin: »Kleine Geschichte der Photographie«. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd II.1. Frankfurt am Main 1980, S. 368–385, hier S. 385.

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von William Henry Fox Talbot (1844) thematisiert. Dort beschreibt er eine eigentlich harmlose Ansicht eines Pariser Boulevards wie einen Tatort. Banale Vorgänge wie ein offen stehendes Fenster, das Sprengen der Straße mit Wasser, wartende Droschken werden nicht durch ihr Vorhandensein auf dem Bild, wohl aber durch die Beschreibung des Bildes mit Erwartung aufgeladen: Der Betrachter blickt nach Nordosten. Es ist Nachmittag. Die Sonne verläßt gerade die säulengeschmückte Häuserreihe: Die Fassade ist schon im Schatten, aber ein einzelner Fensterladen steht weit genug offen, um einen Schimmer Sonne zu erhaschen. Das Wetter ist heiß und staubig, und eben ist die Straße mit Wasser besprengt worden, so daß man auf ihr zwei breite Schattenstreifen wahrnimmt, die sich im Vordergrund treffen, da die Reparaturarbeiten an einem Teil der Straße (man kann Schubkarren etc. etc. sehen) die Wasserwagen gezwungen haben, zur anderen Straßenseite hinüberzuwechseln. Am Straßenrand wartet eine Reihe von cittadine-Kutschen und Cabriolets, und weit hinten rechts steht eine einzelne Kutsche.4

Das »Instrument«, die Kamera, registriert alles, was es wahrnimmt, und hält es mit »Unparteilichkeit« fest, heißt es dann, aber statt der erwarteten Verfolgungsjagd wird der Betrachter jäh wieder auf sich selbst zurückgeworfen: Die Ansicht wurde aus einer beachtlichen Höhe aufgenommen, wie man leicht bemerken kann, wenn man das Haus rechter Hand betrachtet. Notwendigerweise befindet sich das Auge auf einer Höhe mit dem Teil des Gebäudes, an dem die horizontalen Linien oder Steinlagen parallel zum Bildrand verlaufen.5

Der Zeitmodus, dem das fotografische Bild unterliegt, verspannt im Verein mit der späteren Beschriftung durch den Fotografen Vergangenheit, Gegenwart und bereits vollendete Zukunft: Der Fotograf Talbot ist selbst in die Rolle des Erzählers geschlüpft und erzieht mit dem Leser den Betrachter seines Bildes zum Voyeur. Seine Fotografie soll beim Betrachter Neugierde auf ein unbestimmt bleibendes Ereignis wecken, das in der – möglicherweise unmittelbar – nach der Aufnahme vergangenen Zeit stattgefunden haben könnte. In der Polizeifotografie vom Tatort indes interessiert, was vor der Aufnahme am Tatort passiert ist. Nur die Existenz der Aufnahme und natürlich der Text wecken dieses Interesse, das der Betrachter oder Leser sonst in dieser Form einer beliebigen Zeitstelle in der Vergangenheit und einem beliebigen Ort wohl schwerlich entgegengebracht haben dürfte.

4

5

William Henry Fox Talbot: »Der Zeichenstift der Natur«. In: Wilfried Wiegand (Hrsg): Die Wahrheit der Fotografie. Klassische Bekenntnisse zu einer neuen Kunst. Frankfurt am Main 1981, S. 45–89, hier S. 61. Ebd.

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2. Eine andere Natur Auf den ersten Blick Ähnliches findet sich in einer Beschreibung von Pierre Mac Orlan, eines in Frankreich angesehenen Schriftstellers und Zeitgenossen Benjamins, der sozialkritische Abenteuerromane, Reportagen und Erotica veröffentlichte; Benjamin empfiehlt 1927 in einer Rezension eines seiner Bücher zur Übersetzung.6 Mac Orlan nimmt 1928 ebenfalls eine Straßenszene in einer europäischen Großstadt zum Anlass, um Spekulationen anzustellen über Rätsel, welche die Fotografie dem Fotografen, der schreibend über seine eigene Aufnahme sinniert, beim Betrachten der Aufnahme nachträglich zu lösen aufgibt: […] ein Reiseerlebnis im Londoner Chinesenviertel: Pennyfields. Ein Betrunkener unterhielt sich mit ebenfalls angetrunkenen Mädchen, die vor den Türen ihrer Häuser standen, mit einer Würde und Haltung, als käme er gerade aus dem Musée Grévin. Meine Anwesenheit – nachmittags so gegen fünf Uhr – schien alles Leben aus dieser Straße verscheucht zu haben. Die im Nebel verschwimmenden Gestalten wirkten wie Wachsfiguren. Das Bild wollte ich unbedingt fotografieren. So schnell es ging, machte ich auf gut Glück einige Aufnahmen. Sie waren zwar schlecht, aber desto amüsanter waren die Abzüge. Man sah auf dem Vordergrunde der einen Aufnahme eine Tür mit zerbrochenen Glasscheiben. Eine dieser Türöffnungen war mit einem chinesischen Plakat verklebt. Die menschenleere Straße war der Länge nach aufgenommen. Alle Haustüren rechts der Straße waren genau zu erkennen und in jeder Tür ein Frauenrock. Aber eben nur ein Rockzipfel, denn alle diese weiblichen Wachsfigürchen flüchteten Hals über Kopf, als sie mich mit meiner Kamera hantieren sahen. Im Vordergrunde auf dem chinesischen Plakat erschienen vereint ein sehr schönes Bein und ein Rockzipfel. Mit diesem Bein begann das Geheimnis. Die Fotografie hatte eine wichtige Einzelheit festgehalten, deren Bedeutung ich im Augenblick nicht erfaßt hatte. Nur das Gesamtbild dieser Straße, in der ich spazieren ging, konnte mich daran erinnnern.7

Bei Mac Orlan bleibt das Geheimnis in sein Recht gesetzt, es wird nicht aufgedeckt. Das durchaus zweifelhafte Verdienst des Mediums ist es, ein Gedächtnis für das, was man nicht bewusst gesehen hat, zu schaffen. Die Unzulänglichkeit der sinnlichen Wahrnehmung und des Erinnerungsvermögens scheint auf, wenn die eigenhändig aufgenommenen Fotografien eine fremd anmutende, unbewusste oder verdrängte Dimension des Gesehenen 6

7

»Sous la lumière froide. Pors d’eaux mortes-Docks. Les feux du ›Batavia‹«, das im Dirnen- und Zuhältermilieu spielt und »förmlich zu einer marxistischen Analyse« verführe (Walter Benjamin: »Bücher, die übersetzt werden sollten«. In: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. III: Kritiken und Rezensionen. Hrsg. von Hella TiedemannBartels. Frankfurt am Main 1980, S. 174–176, hier S. 175). Pierre Mac Orlan: »Fotografie« [1928]. In: Wolfgang Kemp, Hubertus von Amelunxen (Hrsg.): Theorie der Fotografie. Bd. 2, S. 98–100, hier S. 99f.

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oder der eigenen Vergangenheit zeigen, die möglicherweise auch Aufschluss über einen Verlauf in der Zukunft geben kann. Das ist im Übrigen nur dann irritierend, wenn der Kamera zugestanden wird, sie zeige Vorgänge so, wie sie sich in der Lebenswirklichkeit abspielen, und nicht so, wie ein Objektiv sie nach den Vorgaben seiner technischen Möglichkeiten zeigt. Benjamins viel zitiertes, da für die Medientheorie grundlegendes, auf den Film bezogenes Diktum, es ist eine »andere Natur […], die zu der Kamera als die zum Auge spricht«,8 müsste – mit Gültigkeit für die Fotografie – erweitert werden: ›Es ist eine andere Natur, die die Kamera, als die das Auge konstruiert‹.

3. Phantastische Unruhe Besonders die Schwarz-Weiß-Fotografie besitzt eine Evidenz, die durch strukturelle, rein visuelle Analogien besticht. Linienführung, Licht und Schattenverhältnisse, Proportionen, Grauschattierungen sind die Gestaltungsprinzipien, die dieses Medium auszeichnen. Mac Orlan macht dies in seinem Essay von 1928 deutlich, Benjamin ist dieses autonome, konstruktive Moment wohl eher suspekt oder genauer: durch und durch kommentarbedürftig. »Aber muß nicht weniger als ein Analphabet der Photograph gelten, der seine eigenen Bilder nicht lesen kann? Wird die Beschriftung nicht zum wesentlichsten Bestandteil der Aufnahme werden?«, gibt Benjamin im Fotografie-Aufsatz zu bedenken, ein Einwand, der in der Regel politisch gelesen wird. »Bei Kertész spiegelt sich die phantastische Unruhe europäischer Hauptstädte in den Geheimnissen von Licht und Schatten genau ebenso wie bei anderen in romanhaften Vorgängen«, schreibt Mac Orlan im Anschluss an die beschriebene Szene im Chinesenviertel Londons über André Kertész. Das Medium Fotografie sei »von unbestechlicher Beweiskraft für alle, die an die oft subtilsten Einzelheiten des Phantastischen, Sozialen, Aktuellen erinnert sein wollen«. Die »Beschriftung« wäre hier der Fotografie selbst schon inhärent und eine rein visuelle: augenfällige Verbindungen, die jenseits der Sprache einen Sachverhalt ins Licht setzen. Der Fotograf sieht sie, während oder bereits bevor er die Aufnahme macht. Alfred Stieglitz, Pionier einer neuen, sachorienierten, ›direkten‹ Fotografie, die sich aller Bearbeitungen enthält, führt dies in einer Notiz aus dem Jahr 1907 aus, in der er die Vorgeschichte seines berühmten Fotos »The Steerage« erzählt. Rein ästhetisch ist die Faszination, die sein fotografisch geschultes Auge angesichts einer Szene von eng zusammengepferchten Aus8

Benjamin: »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«, S. 500.

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wanderern auf einem Ozeandampfer leitet, ein Anblick, der dem Luxusreisenden streng verwehrt bleibt: Ein runder Strohhut, der nach links zeigende Schornstein, die nach rechts zeigende Treppe, die weiße Hängebrücke mit ihrem Geländer aus runden Kettengliedern, dann weiße Hosenträger, die sich auf dem Rücken eines Mannes aus dem Unterdeck kreuzen, die runden Formen des eisernen Räderwerks, ein Mast, der ein Dreieck aus dem Himmel herausschneidet. […] Ich sah den Zusammenhang der Formen, sah ein Bild, das aus Formen bestand und das mein Lebensgefühl zum Ausdruck brachte. Und während ich noch überlegte, ob ich versuchen sollte, diese so neue und packende Vision festzuhalten – Menschen, ganz einfache Menschen, die Stimmung von Schiff, Himmel und Meer, und das Gefühl der Erlösung, diesem Mob, diesen sogenannten Reichen entkommen zu sein – in diesem Moment kam mir Rembrandt in den Sinn, und ich fragte mich, ob er wohl empfunden hätte wie ich.9

Der Fotograf Stieglitz, der hier nur knapp der Sozialromantik entrinnt, schildert – mit Rückgriff auf die Fotografie – die ästhetische, imaginäre, ja, wie er sagt, visionäre Dimension des Fotografischen und codiert unter der Hand das Wort ›Mob‹ um: Nicht die zusammengepferchten Auswanderer, sondern die Luxusreisenden werden in seiner Beschreibung zum Mob. Für den Schriftsteller Mac Orlan indes ist die Sache ganz klar: Es ist die Fotografie, welche die Sprache der Lüge bezichtigt, nicht die Sprache, welche die Fotografie »zur Lesbarkeit« kommen lässt. Die Beispiele, die Mac Orlan in diesem Zusammenhang in seinem Aufsatz zur Fotografie nennt, gelten unabhängig vom spezifisch historischen Kontext. Das ist besonders festzuhalten, da gerade Fotografien von staatlich begangenen, geduldeten oder von einer Kriegspartei begangenen Verbrechen, gilt es den Schuldigen zu suchen, je nach Beschriftung für die eigenen Zwecke eingesetzt werden können. Beispiele aus der Geschichte der Kriegsfotografie gibt es genug, noch lange bevor die digitale Bildbearbeitung ganz neue Möglichkeiten der Manipulation eröffnet hat. Fotografien klagen Verbrechen gegen die Humanität an, aber sie tun dies in der Lesart von Mac Orlan zunächst unabhängig von der (politischen) Schuldfrage. Sie verweisen lediglich auf die Diskrepanz zwischen schöner Rede und brutaler Praxis, bilden einen Diskurs, der die politische ›Beschriftung‹ unterläuft: Will man die Humanität kennenlernen, so sehe man sich reportagehafte Fotografien in den Tageszeitungen und Zeitschriften an. Wenn man sieht, wie einem Chinesen von einem fetten und gleichgültigen Henker mit einem Säbel der Kopf ab9

Alfred Stieglitz: »Wie es zu ›The Steerage‹ kam«. In: Wiegand (Hrsg.): Die Wahrheit der Fotografie, S. 173–177, hier S. 174f.

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geschlagen wird, wenn man die Aufnahme einer jungen Frau sieht in kurzem Rock mit seidenen Strümpfen, die auf dem elektrischen Stuhl festgeschnallt ist, wenn man die Berge von Leichen von Russen, Rumänen, Bulgaren usw. sieht, die geschändeten, verstümmelten und enthaupteten Leichen, werden einem die Gesetze der Humanität von 1928 klar.10

Mit dieser Beschreibung lenkt Mac Orlan den Blick des Lesers auf die visuellen Details, die Zeichencharakter annehmen: der kurze Rock, die seidenen Strümpfe, die Wohlbeleibtheit des Henkers.

4. Corrigez la nature! Benjamins 1931 formulierte Hoffnung auf eine direkte, politische Gebrauchsweise der (Porträt-)Fotografie, die wie bei August Sanders enzyklopädischem Projekt »Menschen des 20. Jahrhunderts« schon im Vorfeld Aufschluss über den moralischen Zustand einer Gesellschaft und ihrer künftigen Täter geben könnte, ist indes schon bald von der Geschichte überholt worden. Wie auf einem »Übungsatlas«, schreibt Benjamin über Sanders Werk, ließe sich hier lernen, wie sich Personen anhand ihrer Physiognomie taxieren ließen.11 Wie schnell man sich bei derlei Übungen verspekulieren kann, hatte Alfred Döblin, der seinerzeit das Vorwort zu Sanders Antlitz der Zeit schrieb, später in einem – auf den ersten Blick – launigen Experiment gezeigt. Döblin erhielt von der Redaktion einen Packen mit Fotografien, auf denen anonym die Porträts von acht Männern zu sehen waren – bekannte Künstler, porträtiert von Hugo Erfurth, die Döblin angeblich nicht erkannt haben wollte. Für den Essay, der 1946/47 in der Zeitschrift Das Kunstwerk erschien, schil10 11

Mac Orlan: »Fotografie«, S. 100. »Über Nacht könnte Werken wie dem von Sander eine unvermutete Aktualität zuwachsen. Machtverschiebungen, wie sie bei uns fällig geworden sind, pflegen die Ausbildung, Schärfung der physiognomischen Auffassung zur vitalen Notwendigkeit werden zu lassen. Man mag von rechts kommen oder von links – man wird sich daran gewöhnen müssen, darauf angesehen zu werden, woher man kommt. Man wird es, seinerseits, den anderen anzusehen haben. Sanders Werk ist mehr als ein Bilderbuch: ein Übungsatlas.« Benjamin: »Kleine Geschichte der Photographie«, hier S. 3. – Aber auch Sander musste sich an seinem Projekt von linker Seite fehlende ›Beschriftung‹ vorwerfen lassen; man forderte »eine schärfere und klarere soziologische formulierung. hier müsste das ziel sozusagen ein herbarium menschlichen daseins sein: standort, jahr, tätigkeit, klasseneinordnung, wie sich das aus dem satz von marx ergibt […].« Vgl. a bis z. Organ der gruppe progressiver künstler, 1930, S. 22. Zitiert nach: Jochen Becker: Passagen und Passanten. Zu Walter Benjamin und August Sander. Fotogeschichte 9 (1989), Nr. 32, S. 37–48, hier S. 41.

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derte Döblin, was ihm, dem Romancier, beim Betrachten der Fotos durch den Kopf ging: Die Nummer 1 aus dem Paket. Darunter ein junger Quadratschädel, ein Bullenbeißer, ein unangenehmer Mensch. Finster zusammengezogene Brauen. Dem Mann geht alles verkehrt, er ist verbittert, er will es mit Gewalt machen. Das ist ein Staatsanwalt. […] Das Tollste in der Serie ist die Nummer 3. Da ist es […] geglückt, einen Räuber, einen richtigen, aufzutreiben und von ihm eine Großaufnahme machen zu lassen. […] Diesen Kerl, Nummer 3, möchte ich einmal mit Nummer 4, dem slawischen Revolutionär zusammenbringen, das gäbe Gespräche. Typisch für den aus dem Bagno, bevor er hierherkam, die weiße Krawatte und der ordinäre Kragen. Übrigens hängt seine linke Gesichtshälfte, die Augen stehen verschieden (Fazialisschwäche, hereditär?).12

Als sich die Sache aufklärte (der aus dem Bagno ist Lovis Corinth, der junge Revolutionär Kokoschka) wurde das Ganze zu einem Plädoyer gegen die Physiognomik, was als eine bittere – mit den rassistischen Entgleisungen der Nationalsozialisten, aber auch den Greueltaten harmlos aussehender Familienväter in KZs und als Soldaten in Zusammenhang zu bringende – zeitbedingte Wende zu verstehen ist: So wie ich sie beschrieben habe, sehen sie wirklich aus, sind es aber nicht. Die Natur fühlt sich nicht verpflichtet aus der Visage ein Aushängeschild zu machen. Sie macht die Physiognomie zu ihrem Versteck. Die Fotografen fotografieren unentwegt die Abscheu der Menschen vor dem Fotoapparat. […] Ich bin für Puder, Schminke, Lippenstift, für Perücke und Plastik. Corriger la nature. Ich bin für Masken.13

So schließt Döblin seine Überlegungen. Von seinen eigenen Kenntnissen irreführen lassen hat sich auch Benjamin selbst, der, wie Fritz Kempe dargelegt hat, im »Fotografie-Aufsatz« eine Porträtaufnahme falsch zuordnet und so bei der falschen Dame schon in ihrer Jugend den melancholischen Blick einer späteren Selbstmörderin erkannt haben will.14

5. Die Hilflosigkeit des Fotografen Reflektiert worden ist das Dilemma der Vermittlung zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem, aber auch des Verhältnisses von Evidenz und Fiktion, von Fotografen, Künstlern, Filmregisseuren und Schriftstellern. Prekär wird es für den Fotografen besonders dann, wenn seine Abzüge etwas zeigen, 12

13 14

Alfred Döblin: »Fotos ohne Unterschrift«. In: Das Kunstwerk. 1. Jg. Nr. 12, 1946/47, S. 24–33, hier S. 24f. und S. 33. Ebd., S. 26. Vgl. Fritz Kempe: Daguerreotypie in Deutschland. Seebruck am Chiemsee 1979, S. 7.

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das er selbst zwar aufgenommen und damit in einer gewissen Weise bezeugt, aber doch nicht mit Bewusstsein gesehen hat. Während Talbot und Pierre Mac Orlan die Erwartungshaltung des Lesers schüren, sich aber doch mit zu weitgehenden Deutungen des Geschehens zurückhalten, zeigt Michelangelo Antonionis in den 1960er Jahren gedrehter Film Blow-Up, in welche Grauzonen sich der Fotograf begibt – sieht er auf seinen Bildern doch einen möglichen Tatort und versucht er die wahre oder doch nur imaginierte Geschichte seiner Aufnahmen zu rekonstruieren. Die mehrmals bis zur Auflösung hin vergrößerten Fotografien in Blow-Up, auf denen der Fotograf eine Schusswaffe auszumachen glaubt, geben keinen Aufschluss über den Tathergang und das Vorgefallene. Der Fotograf sucht den Ort, eine idyllische Stelle in einem Park, nachts noch einmal auf, findet eine Leiche, führt aber seinen Fotoapparat nicht bei sich. Als er am nächsten Morgen zurückkehrt, ist die Leiche verschwunden. Der Fotograf steht seinem Erzeugnis hilflos gegenüber: Er hat aufgenommen, was er nicht gesehen hat, schließt aus einem verdächtig erscheinenden Kontext auf ein Verbrechen und kann doch mit Hilfe seiner Apparatur nicht entziffern, was vorgefallen ist. Die Einbettung der Szene in eine theatralische Rahmenhandlung – der Fotograf begegnet zu Beginn und am Ende einem umherziehenden Theatertrupp – lässt überdies die Grenzen zwischen Inszenierung und Dokumentation brüchig werden. Der Topos ›Tatort‹ erfreut sich auch in der künstlerischen Fotografie des 21. Jahrhunderts lebhaften Interesses: Ein inszenierter Tatort, der ein Zimmer zeigt, das den Anschein erweckt, hier hätte gerade ein Dieb nach Wertgegenständen gesucht und dabei alles in heillose Unordnung gebracht, ist auf Jeff Walls früher fotografischer Arbeit »The Destroyed Room« in einem großformatigen Leuchtkasten zu sehen.15 Thomas Demand baut aus Pappe das Modell eines Tatortes nach, von dem aus ein Attentat begangen werden sollte, um das Modell anschließend zu fotografieren, danach zu vernichten und unter dem harmlosen Titel »Attempt« zu veröffentlichen.16 Noch vor einigen Jahren entbrannte die Diskussion um den Schweizer Polizeifotografen Arnold Odermatt, dessen im Dienst vorgenommene Aufnahmen von Fahrzeugen am Unfallort erstmals von Harald Szeemann auf der Biennale in Venedig 2002 im Kunstkontext gezeigt und später im Fotomuseum Winterthur ausgestellt wurden. Auch Christian Boltanski greift das Motiv auf, indem er in einer Rauminstallation »El Caso« vergrößerte Zeitungsfotos von 15 16

Jeff Wall: »The Destroyed Room« (1978). Thomas Demand: »Campingtisch« (1999). In: Karlheinz Lüdeking: Grenzen des Sichtbaren. München 2006, S. 312.

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Ermordeten zeigt und an die Wand Kästen montiert, welche eine Beschreibung des Tatorts oder des Fundortes der Leiche enthalten.17 Joel Sternfeld zeigt harmlose Orte, die durch die Beschriftung als Tatorte ausgewiesen werden. Ein ähnlich irritierendes Verhältnis von Schrift und Bild erfährt der Betrachter von Taryn Simons Fotografien, die in der Ausstellung The American Index of Hidden and Unfamiliar 2007 im Museum für Moderne Kunst in Frankfurt gezeigt wurden. Die Amerikanerin hat Orte aufgenommen, die nur mit Spezialerlaubnis betreten (und fotografiert) werden dürfen. Es bleibt dem Betrachter nichts anderes übrig, als dem ausführlichen Text Glauben zu schenken, der neben den Fotografien ausgestellt ist und auf auf weite Strecken hin das Spektakuläre dieser Tatsache erst vor Augen führt. Wenn Schriftsteller das Medium der Erinnerung thematisieren, selbst Schauplätze fotografieren oder Fotografien anderer in ihr Werk einbinden, gerät dies, so es reflektiert betrieben wird, zum feinen, ins Überall und Nirgendwo der Fiktion führenden Spiel mit stabilisierenden oder destabilisierenden Momenten der Medien Schrift und Bild. W. G. Sebald, der Geschichten zu gefundenen Fotografien erzählt, ist ein in jüngster Zeit ausgiebig behandeltes Beispiel, während das Vorgehen Gerhard Roths, der parallel zu seinem schriftstellerischen Werk seine Kamera einsetzt, um visuelles ›Material‹ zu beschaffen, im Vergleich zu Sebald nicht im gleichen Maß Beachtung findet.18 Roth hat für seinen siebenteiligen Roman- und Essayzyklus Die Archive des Schweigens19 in den 1980er Jahren selbst einen – nach eigenen Angaben mehr als 10 000 Aufnahmen umfassenden – fotografischen Fundus zur Beschreibung des österreichischen Lebens angelegt. Der harte Alltag in der Steiermark, die beharrliche Weigerung der Bewohner, sich mit der NS-Vergangenheit zu beschäftigen, und die Hauptstadt selbst sind Gegenstand seines Schreibens. Die fotografische Materialsammlung ist ihm dabei zunächst Erinnerungshilfe und wird später zum, wie er schreibt, »maßstabgetreuen« Modell seiner mitunter recht surreal anmutenden Beschreibungen des Landlebens.20 Neben diesen 17

18

19

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Die Installation »El Caso« (1988) befindet sich in der Kunstsammlung NordrheinWestfalen K 21, Düsseldorf. Vgl. Sebalds Essay zu Gerhard Roths Roman Landläufiger Tod. In: Gerhard Roth: Atlas der Stille. Fotografien aus der Südsteiermark von 1976–2006. Wien, München 2007, S. 10–14. Gerhard Roth: Archive des Schweigens (Romane und Essays): Der Stille Ozean, 1980; Landläufiger Tod, 1984; Am Abgrund, 1986; Der Untersuchungsrichter, 1988; Im tiefen Österreich, 1990; Die Geschichte der Dunkelheit, 1991; Eine Reise in das Innere von Wien, 1991. Vgl. Roth: »Eine Expedition ins tiefe Österreich. Über meine Fotografie«. In: Ders.: Atlas der Stille, S. 9.

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visuellen Vermessungen des eigenen Landes dienen Reisefotografien Roth dazu, fotografisch geprägte Wahrnehmungen in die Erzählung einfließen zu lassen. Im Roman Ein neuer Morgen (1979)21 werden eigene Bilder aus New York oder auch nur der kamerageschulte Blick zum Ausgangspunkt ungewöhnlicher Stadtansichten. Eine Reise Roths durch die Mönchsrepublik Athos schuf die visuelle Grundlage für den Roman Der Berg (2000). Eine Suggestion eigener Art geht von solchen Foto-Betrachtungen aus, da sie beim Lesen – besonders für den fotografiegeschichtlich bewanderten Betrachter – eine Art Album aufzuschlagen scheinen, durch das es sich, wie heute durch eine computergenerierte Animation, mit den Augen spazieren gehen lässt. Nur konsequent ist es indes, dass seine ›Anti-Kriminalgeschichten‹ ins Leere münden. Die beiden männlichen Protagonisten, der Fotograf Weininger im Neuen Morgen, der Journalist Gartner in Der Berg, die sich in kulturell fremder Umgebung in New York und Griechenland als Hobbydetektive versuchen, fotografieren Schauplätze und Leichen als erste Tatortzeugen. Der Berg wurde von der Kritik sehr unterschiedlich aufgenommen, manch ein Rezensent beklagte, dass die Handlung Spuren auslege, die wie in Antonionis Blow-Up in sich selbst zurückliefen,22 wieder andere schätzen gerade dies.23 Eine brisante politische Dimension ist im Hintergrund angedeutet, wird aber kaum bearbeitet: Der Journalist Gartner sucht nach dem von den Geheimdiensten verfolgten serbischen Dichter Goran R., der über Ikonen schrieb. Ein Poem, das die Legende der – historisch wohl nicht korrekten – Blendung und Heilung eines serbischen Königs zum Gegenstand hat, findet mehrfach Erwähnung.24 Der Dichter soll über den Kontakt zu einem befreundeten General »im Jugosla21 22

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Gerhard Roth: Ein neuer Morgen. Frankfurt am Main 1976. Klaus Nüchtern spricht vom »Subtext«, den Blow-Up für den Roman bereitstelle (In: Falter, 23. 2. 2000), sehr negativ äußert sich Arno Russegger in seiner OnlineKritik auf www.literaturhaus.at (18. 7. 2000) über die Konstruktion des Romans. Karl-Markus Gauss formuliert seine Kritik etwas zurückhaltender: »Am Ende fragt man sich, ob dieser Kriminalroman, der keiner sein will und von einem ungewissen Verbrechen auf einem virtuellen Balkan handelt, nicht vielleicht selbst eine Täuschung ist, mit der der Autor seinen Lesern oder sich selbst etwas vormachen wollte.« Karl-Markus Gauss: »Ein Wiener beim Komplott auf dem Balkan«. In: FAZ, 17. 06. 2000. Dabei verweist Roths Roman selbst auf Antonionis Film. Vgl. Beginn und S. 306f. Auf S. 51 wird Blow-Up als einer der Filme genannt, die Gartner im Kino der Mutter angesehen hatte. Heribert Hoven ist fasziniert von Roths »magischer Mehrdeutigkeit« und bescheinigt dem Buch, den Leser in eine »Schule des Sehens« zu nehmen. Vgl. Heribert Hoven: »Der Blick des Odysseus ins Innere Europas.« In: Süddeutsche Zeitung, 23. 02. 2000. Roth: Der Berg, S. 16, S. 68.

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wienkrieg Augenzeuge des Massakers in S geworden«25 sein, hat sich aber nie dazu geäußert, sich vielmehr einer Vorladung als Zeuge vor dem Kriegstribunal in Den Haag durch Flucht entzogen. Gartner vermutet, dass der Dichter sich auf dem Berg Athos in einem Kloster verborgen hält. Augenzeugenschaft und Tatort, Fotografie und Schrift destabilisieren sich im Fortgang der Geschichte, der Suche Gartners nach dem Dichter, wechselseitig. Dies geschieht materiell wie auf der Sinnebene. Der Journalist hat sämtliche um die Jahrtausendwende verfügbaren Kommunikations- und Speichermedien im Einsatz, die nach und nach versagen: Der Laptop wird von der Polizei beschädigt, das Notizbuch erleidet einen Wasserschaden. Tonbandgerät und ein Film geraten ebenfalls in die Hände der Polizei; die wenigen vorab in Sicherheit gebrachten Negative sind unbrauchbar geworden, die Kamera hatte wohl einen Schaden. Das Fotografierte selbst verweist schon zum Zeitpunkt seiner Aufnahme auf Sinnebenen jenseits des Realen: auf Konstellationen von zufälligen und zugleich bedeutsamen Zeichen, für die es, um mit Walter Benjamin zu sprechen, zur Entschlüsselung eines Haruspex oder eines seiner Nachfahren bedürfte. Schon ganz zu Beginn der Geschichte gibt es eine magische Parallelität der Ereignisse. Gartner ist im Paläontologischen Institut der Universität Thessaloniki, während er auf einen Wissenschaftler wartet, der den Kontakt zum Dichter herstellen soll, gerade damit beschäftigt, Aufnahmen von einem Tierschädel anzufertigen, den der Wissenschaftler für ihn bereitgestellt hat. Er wird dabei zum Ohrenzeugen eines Mordes: »›Der Mörder hatte den Wissenschaftler möglicherweise in dem Moment getötet, als Gartner den Schädel fotografierte‹, überlegte er weiter. Jedenfalls hatte er hierauf die Schritte und das Geräusch der ins Schloß fallenden Türe gehört.«26 Das Opfer hatte einen betäubenden Schlag auf den Kopf erlitten und bekam dann die Kehle durchgeschnitten. Der blessierte Kopf des Toten und die Aufnahme der Tierschädel sind nicht nur bildlich, sondern auch zeitlich durch Auslöser und Schnitt miteinander verknüpft, aber das fotografische Dokument bezeugt nicht den aktuellen Vorfall, sondern längst Präpariertes. Gartner ist trotz seiner Kamera nur zum Ohrenzeugen, nicht zum Augenzeugen geworden, und später stellt sich heraus, dass auch der Dichter nur Ohrenzeuge, nicht Augenzeuge des Massakers gewesen sein will.27 Auf der weiteren Suche Gartners nach dem Dichter als schweigendem Zeugen, die ihn schließlich allein auf eine viertägige Reise in die Mönchsrepublik Athos aufbrechen lässt, haben Fotografien zwar eine Vorlage in der 25 26 27

Ebd., S. 11, 61, 216, 226. Ebd., S. 14. Ebd., S. 227f.

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realen Zeitgeschichte, aber sie reihen sich ein in Zeichenwelten des Textes, die miteinander korrespondieren. Und diese können, wie es der Protagonist möchte, unentwegt aufeinander bezogen werden. Beschädigte Ikonen, Fotografien von Flecken, Formationen von Insekten an der Wand einer Zelle, die ein Mönch mit Sternenbildern vergleicht, das Raster eines Zeitungsfotos, ein gesprenkelter Fußboden, Glasscherben auf der Fensterbank28 – alles kann sich wechselseitig erhellen und zugleich auch wieder verdunkeln. Jede Wahrnehmung, die im Dienst der Suche steht, gerät zu einem Indiz, einem Ausschnitt aus einer Bildwelt quer durch die von Linné taxierten Reiche (der Mineralien, der Pflanzen und der Tiere), deren Ordnung aus den vorliegenden Eindrücken zwar als Suchbild oder Umriss aufscheint, die aber doch nicht erfasst werden kann. Kamerabild, Ikone, Fresko, Insektenformation, Verwitterungsrückstände, optische und mechanische Gerätschaften fordern zu melancholischen Konstruktionen auf, die in sich zusammenfallen, noch ehe sie zur Gänze aufgerichtet sind. In einem schwindelerregenden, kunstvollen, geradezu allegorischen Looping verweist ein Medium auf das andere. So wird eine mehrfach übermalte Ikone, die einen Brand überstanden hat, vor den Augen Gartners von einem Ikonenspezialisten, der ebenfalls auf den Spuren des Dichters durch die Mönchsrepublik Athos reist, Schicht um Schicht untersucht: Um älteren Bildern zur Sichtbarkeit zu verhelfen, zerstört er die oberen Lagen. Schließlich erscheint die älteste Figur, Christus als Weltenherrscher. Auf einer Abbildung, die Gartner kurz zuvor angesehen hatte, erinnerte ihn das Evangelium in der Mitte des Bildes an die Fotobox seines Vaters. Aber was Gartners neugieriges Auge erspähte, war diesmal gewiß kein fotografischer Apparat, sondern ein aufgeschlagenes Evangelium mit verschmierten Zeichen, welche ihn in an die Schrift in seinem schwarzen Notizbuch erinnerten, die bei der nächtlichen Seefahrt vor Ierissos durch das Meerwasser unleserlich geworden war.29

Die Medienkette endet im Rauschen. Literatur ist ein Reflexionsmedium, das ein imaginäres Band zu Vorgängen der Lebenswirklichkeit unterhält. Sie nimmt Elemente auf, unterstellt sie ihren eigenen narrativen Gesetzen, stellt Sinn her, löst ihn wieder auf, ganz so, wie dies in der Fotografie nach Maßgaben des fotografischen Mediums geschieht. Seit Talbots Fotografiebuch The Pencil of Nature sind Fotografien aber auch Anlass zum Erzählen, zur spekulierenden Fiktion, die zusätzliche Sinnebenen und weiterreichende Zusammenhänge in Aussicht stellt, die 28 29

Vgl. ebd., S. 29, 169f., 201, 213, 214. Ebd., S. 184.

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weit über das hinausreichen, was zu sehen ist. Möglicherweise ist der Topos des Tatortes, der unter der Hand bei Talbot auftaucht und von Benjamin explizit zum Gegenstand politischer Überlegungen gemacht wird, der Beliebtheit des Detektivromans und später den Gebrauchsweisen der Fotografie im polizeilichen Kontext geschuldet.30

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Sowie Fotografie die Grenzen des Mediums überschreitet, wird es so schwierig wie bei Roth geschildert – erst recht, wenn nicht Tatorte, sondern Taten und Ereignisse fotografiert und mit den neuen Medien Handy und Internet auch unmittelbar in die Kommunikationsnetze eingespeist werden oder gar, wie jüngst in der NZZ berichtet, von Wehrmachtsangehörigen geknipste Bilder von Schlachtfeldern oder ihre Fakes bei ebay von den Enkeln versteigert werden. Vgl. Martin Pollack: »Wenn Frauen aus der Grube lächeln. Am Ende der Scham – wie im Internet Soldaten-Schnappschüsse aus dem Zweiten Weltkrieg gehandelt werden«. In: NZZ, 26. 1. 2009, Nr. 20, Internationale Ausgabe, S. 23.

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Pygmalions Erben Spätromantische Kunst- und Medientheorie

1895, als ›die Bilder laufen lernten‹, war das für die Zeitgenossen eine größere Sensation als seinerzeit die Erfindung des Buchdrucks oder des Mikroskops. Die ersten öffentlichen Kinovorführungen kurz vor der Jahrhundertwende bedeuteten mehr als eine neue Jahrmarktsbelustigung. Nun wurde – und zwar eben nicht nur für einen eingeschränkten Kreis von Benutzern, sondern für die breite Masse – etwas sinnlich erfassbar, was zuvor nur den Status einer Phantasie hatte oder bestenfalls auf relativ leicht zu durchschauenden optischen Tricks beruhte, wie sie die Vorläufer des Kinos in einer langen Reihe präkinematographischer Apparate in zahlreichen Varianten präsentierten. Vom simplen Daumenkino bis zu elaborierteren Formen der Laterna Magica: Stets ging es dabei nicht nur um technische Raffinesse, sondern vor allem um ein großes, optisches, auch emotional wirksames Erlebnis, nämlich um die Illusion bewegter Bilder, die Erweckung des starren bildlichen Simulacrums zu Bewegung und Leben. Der realen Erfindung technisch bewegter Bilder voraus ging deren literarische Antizipation. Dies ist eine Beobachtung, die unter kulturwissenschaftlichen Gesichtspunkten im Grunde nicht weiter erstaunt, ist die Literatur als Reservoir von gedanklichen Möglichkeiten doch eine in sehr vielen Bereichen antizipatorische Kulturleistung. So auch hier: Es waren die Dichter, die den Bildern Leben einhauchten, die darüber nachdachten und phantasierten, welche Konsequenzen und Bedeutungen diese besondere Form der Kreativität haben könnte, was geschähe, wenn ein Kunstwerk – gewissermaßen in einem Akt sekundärer, menschlicher Schöpfung – zum Leben erwachte. Die Verlebendigung des Bildes ist sicher eines der ältesten und vielfältigsten Motive der Weltliteratur; auch ist es besonders aufschlussreich in kulturgeschichtlicher Hinsicht, weil hier nicht nur ein beliebter Erzählplot variiert wird, sondern weil das Motiv ein im Kern intermediales ist, das Fragen nach dem Zusammenspiel von Kunst und Technik, aber auch der Künste untereinander aufwirft. Und es ist natürlich ein eminent selbstreflexives Motiv, mit dem die Kunst ihr eigenes Wesen und ihre eigenen Gesetze befragt. Wer von der Animation des Bildes erzählt, redet über das Lebendige und Authen-

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tische der Kunst und damit über eine der Grundfragen von Ästhetik und Poetik. Dieser Beitrag gibt einen kurzen Einblick in literarische Formen und Diskurse, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts – also unmittelbar vor und mit der Erfindung der Fotografie – das Motiv der Bildanimation bzw., auf einer theoretischeren Stufe, die Frage der Lebendigkeit von Kunst aufwerfen und poetisieren. Ich muss mich dabei auf einige wenige Beispiele und Aspekte beschränken, möchte zuvor aber einen Blick auf Vorstufen im 18. Jahrhundert werfen. Dass Bilder sich aus ihrer Starre lösen und bewegen, ist nicht der Normalfall, sondern die – je nach Kontext und Genre – mehr oder weniger übernatürliche, wunderbare oder unheimliche Ausnahme. Die Bewegung widerspricht nämlich, zumindest nach traditionellen Vorstellungen, ihrem ureigenen medialen Charakter: Bilder haben – so will es die mediale Norm – statisch zu sein, sich weder dynamisch noch sukzessiv zu gebärden. Maßgebend für die vorromantische Poetik, d. h. für die sich allmählich vom Klassizismus ablösende Poetik des 18. Jahrhunderts, und in unserem Zusammenhang besonders aufschlussreich ist Lessings Bestimmung der Literatur in seiner poetologischen Schrift Laokoon (1766). Lessing definiert hier die Eigenheiten der Literatur am Gegensatz zur Malerei. Dabei wendet er sich ausdrücklich gegen die klassische, auf die Poetik des Horaz zurückgehende Doktrin der ut pictura poesis, d. h. gegen die Lehre von der Entstehung der Literatur aus der bildenden Kunst und der damit verbundenen Vorstellung einer Übertragbarkeit der ästhetischen und medialen Regeln. Für Lessing ist die Literatur – im Gegensatz zu Horaz und seinen Nachfolgern – eine eigenständige Kunst, die sich von Malerei bzw. Bildhauerei in fundamentalen Punkten unterscheidet. Der Grundunterschied dabei ist ›Sukzessivität‹ statt ›Statik‹: Nach Lessing ist die Literatur eine zeitliche Kunst, die Bildhauerei dagegen eine räumliche. Der Unterschied liege darin, dass die Literatur »eine sichtbare fortschreitende Handlung [sei], deren verschiedene Teile sich nach und nach, in der Folge der Zeit, ereignen«, die bildende Kunst hingegen »eine sichtbare stehende Handlung, deren verschiedene Teile sich nebeneinander im Raum entwickeln«. Dementsprechend definiert Lessing die Dichtkunst und das Erzählen als »fortschreitende Nachahmung«, als eine Folge von »artikulierte[n] Töne[n] in der Zeit«,1 d. h. als zeitlich-dynamische Mimesis, als eine Bewegung von Worten und Zeichen. Das Statisch-Räumliche hingegen 1

Vgl. Gotthold Ephraim Lessing: »Laokoon: Oder über die Grenzen der Malerei und der Poesie« [1766]. In: Ders.: Werke. Hrsg. von Herbert G. Göpfert u. a. Bd. 6. Darmstadt 1996, S. 7–187, hier Kap. XV, S. 102.

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sei das Spezifikum des Bildes. Von hier aus wird verständlich, wie groß die mediale Herausforderung für die bildende Kunst ist, ohne die Dimension der Zeit Gegenstände, womöglich gar belebte Gegenstände wie Menschen und Tiere, nachzuahmen und abzubilden. ›Bewegung‹ und ›Belebung‹ sind also Kategorien, die dem Medium des Bildes zunächst fremd sind. Sie bedeuten mediale Grenzüberschreitung, Außer-Kraft-Setzen fundamentaler Gesetze. Es gibt nun zahlreiche Gründe, warum diese mediale Grenzüberschreitung in der Nachfolge Lessings, Rousseaus und Diderots und dann besonders in der Literatur des 19. Jahrhunderts eine so große Rolle spielt, warum die zunächst rein ›magische‹, später zunehmend auch technisch bzw. pseudotechnisch imaginierte Animation von Bildern in den Jahrzehnten nach 1800 eine besondere Konjunktur erfährt. Hinter der mehr oder weniger unheimlichen Belebung von Bildern verbirgt sich unter anderem – so meine erste These – eine Spitze der romantischen Poetologie gegen die Ästhetik des Klassizismus, dessen normative Vorstellungen einer auf traditionellen Regeln beruhenden Harmonie seit der legendären Querelle des anciens et des modernes im 17. und frühen 18. Jahrhundert immer wieder heftiger Kritik ausgesetzt waren. Die sich im 18. und 19. Jahrhundert gerade auch in Deutschland herausbildende bürgerliche Kritik am höfisch-akademischen Klassizismus mit seinem Ideal des Ausgleichs, Ebenmaßes und der Ruhe wehrt sich vor allem gegen dessen Regelsystem, das als starr und leblos empfunden wird. Diese Abwehr geschieht zum einen durch theoretische Einlassungen, wie beispielsweise in Diderots Essais sur la peinture (1766) oder in August Wilhelm Schlegels kunsttheoretischem Gespräch Die Gemählde (1799), in denen die vermeintlich ›klassische Kälte‹2 der antikisierenden Darstellungen bemängelt wird. Zum anderen geschieht diese Kritik durch fiktionale Gestaltungen, welche die Nacht- und Schattenseiten des menschlichen Daseins betonen, seine psychischen Unstimmigkeiten, seinen Irrationalismus, seine existentiellen Widersprüche und bizarren Rätsel, seine 2

Schlegel bezieht sich hier auf das Werk Poussins. Freilich operiert auch der klassizistische Diskurs bereits mit dem Motiv der Verlebendigung. So spielt bei Winckelmanns berühmter Beschreibung des Apoll von Belvedere der Aspekt der Vivifizierung der Statue eine zentrale Rolle. Winckelmann greift dabei zurück auf das ihm Naheliegendste: auf den Pygmalion-Mythos: »Mit Verehrung scheinet sich meine Brust zu erweitern und zu erheben […], und ich fühle mich weggerücket nach Delos und in die lycischen Haine, Orte, welche Apollo mit seiner Gegenwart beehrete: denn mein Bild scheinet Leben und Bewegung zu bekommen, wie des Pygmalions Schönheit« (Johann Winckelmann: »Geschichte der Kunst des Altertums [1763–1768]«. 11. Buch. Kap. 3. In: Ders.: Sämtliche Werke. Hrsg. von Joseph Eiselein. Bd. 6. Osnabrück 1965 [Reprint der Ausgabe von 1825], S. 223).

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körperlichen Gebrechen. Insbesondere die zahlreichen auflebenden Steinbilder, ganz prominent natürlich die zum Leben erwachenden Venusfiguren des 19. Jahrhunderts, partizipieren an dieser Auflösung und Dynamisierung des klassizistischen Marmors. Motivgeschichtlich ließe sich die wie von Geisterhand belebte dämonische Venusstatue – am bekanntesten im deutschen Sprachraum ist hier sicherlich Eichendorffs Erzählung Das Marmorbild – als eine Variante des PygmalionStoffs aus der Antike definieren. Doch haftet der Sage der Statuenbelebung zunächst nichts Unheimliches an. Dem von Ovid überlieferten Mythos zufolge werden der zypriotische Bildhauer Pygmalion und die von ihm gefertigte Statue aus Elfenbein ein durchaus glückliches und harmonisches Paar. Diesbezüglich findet also im 19. Jahrhundert eine Umwertung statt. Sowohl bei Herder als auch bei Diderot hat die Marmorstatue – im Gegensatz zu anthropologischen Fragestellungen bei Rousseau oder Condillac3 – in erster Linie die Funktion einer kunstphilosophischen Metapher. Als Allegorie einer idealisierten Natur verweist Pygmalions steinerne Frau auf das Ideal makelloser Schönheit und völliger Hingabe. Die Belebung der Statue impliziert sodann zwei zentrale kunstphilosophische Komponenten: Sie ist zum einen das Ergebnis einer vollkommenen Mimesis, einer an der Natur orientierten Kunstschöpfung, also höchste Kunstfertigkeit (techné), zum anderen ist sie ein Werk der Magie bzw. des Eros, d. h. einer Instanz, die die Möglichkeiten des zielorientierten menschlichen Handelns überschreitet. Die Liebe des Künstlers und die Hilfe der Liebesgöttin machen aus der toten Materie einen beseelten, lebendigen Menschen. Kunst, d. h. Kunstfertigkeit allein genügt offenbar nicht, um ein Werk lebendig werden zu lassen. 3

Der mit Rousseau und Diderot befreundete Abbé Etiènne Bonnot de Condillac hatte mit seiner 1754 veröffentlichten Schrift Traité de sensations die im 18. und frühen 19. Jahrhundert immer wieder aufgeworfene Frage nach der Rolle der Umwelt- und Erziehungseinflüsse bei der Herausbildung des menschlichen Erkenntnisvermögens gestellt. Es handelt sich bei diesem Beitrag gewissermaßen um eine Fortsetzung der schon erwähnten anthropologischen Diskussion, die seit Descartes Traité de l’homme um die Frage nach der Mechanik des Körpers bzw. nach dem Unterschied bzw. der Gemeinsamkeit von Mensch und Maschine kreiste. Zur Veranschaulichung seines Argumentationsgangs entwirft Condillac ein hypothetisches Experiment, bei dem er eine menschliche Statue Schritt für Schritt zum Leben erweckt. Condillacs Marmorstatue entwickelt – entsprechend seiner materialistisch-sensualistischen Philosophie – die Grundlagen des Denkens aus den Informationen ihrer Sinnesorgane. Erst wenn sie unterschiedliche Düfte oder Geräusche wahrgenommen hat, lernt sie zu vergleichen, sich zu erinnern, zu urteilen. Ziel des gedanklichen Erziehungsexperiments ist die Herstellung eines perfekten Menschen.

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Innerhalb der Kunstkritik und Kunstphilosophie des 17. und 18. Jahrhunderts kommt dem Pygmalion-Mythos nun eine ganz besondere, in gewissem Sinne metadiskursive Rolle zu. Das Motiv wird hier zu einer kunsttheoretischen mise-en-abyme, einer Art medialer Selbstreflexion. Denn zunächst erfüllt die zum Leben erwachende antike Statue in idealtypischer Weise die doppelte Ausrichtung des klassizistischen Imitatio-Prinzips. Dieses verlangt nämlich vom Künstler zum einen die Nachahmung und schöpferische Fortbildung der musterhaften Werke der Antike (das wäre der erste ›Imitatio‹-Aspekt), zum anderen die Nachahmung der Natur (zweiter ›Imitatio‹-Aspekt). Ein klassischer Mythos, der nun erzählt, wie ein Kunstwerk zu Leben, d. h. in reale Natur verwandelt wird, erscheint daher zur Selbstthematisierung besonders geeignet, weil damit, wie angedeutet, beide Aspekte des Imitatio-Prinzips, der klassizistische wie auch der naturalistische, berücksichtigt werden. Hinzu kommen noch andere im 18. Jahrhundert zentrale Funktionen. Kunsthistoriker sehen beispielsweise in der Renaissance des Motivs zu Beginn des 18. Jahrhunderts die zunehmende Infragestellung der theologischen Schöpfungsgeschichte. Zudem ließe sich im Erwachen des in Stein gebannten Körpers, also in der sinnlichen Fleischwerdung des Bildes, seiner Auflösung und Erlösung, gewiss auch psycho-, sozial- und kulturhistorisch eine symbolische Befreiung aus körperfeindlichen Normen sehen. Und sie bedeutet, wie schon gesagt, die kunsttheoretische Überwindung der klassizistischen Starre und Steifheit. Vorbereitet wird diese zuletzt genannte Tendenz in der Kunstkritik des späten 18. Jahrhunderts. Das von Frankreich vor allem über Gottsched und Wieland vermittelte Kunstideal des französischen Klassizismus, beispielsweise eines Boileau, wird von Theoretikern wie Herder heftig kritisiert. Qualitätskriterium für Kunst sei, so Herder und seine Freunde im Umkreis des Sturm und Drang, nicht länger die Einhaltung von bestimmten Regeln der Harmonie, sondern vor allem ihre Lebendigkeit. Diese Position aber ist in der Kunstgeschichte zunächst nichts grundsätzlich Neues: Schon die italienischen Meister des 16. Jahrhunderts wie Michelangelo, Raffael oder Corregio wurden wegen der Dynamik und Lebendigkeit ihrer Figuren gelobt. Dasselbe gilt für die Skulpturen von Michelangelo, Bologna oder Bernini, deren Lebendigkeit als Zeichen einer gesteigerten Mimesis gewertet wurde.4 Beim Zusammenspiel von Kunstkritik, allgemeiner 4

Doch erst im 18. und 19. Jahrhundert erlebt das Pygmalion-Motiv eine ganz besondere Konjunktur. Maler wie Jean Raoux erfassen den Moment der Belebung, indem sie der Marmorstatue einen rosig-fleischfarbenen Oberkörper verleihen

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Ästhetik und Literatur bekommt der Topos der Lebendigkeit gegen Ende des 18. Jahrhunderts nun aber ein ganz neues Gewicht. Er wird nämlich zum polemischen Kampfbegriff gegen eine vermeintlich ›tote‹ französische Klassik, und er findet Eingang in die Sphäre der Literatur. Das Nachahmungsoder Imitatio-Prinzip erstreckt sich nun auf das Leben selbst: Der Künstler wird zu Prometheus, zum Schöpfer und Demiurgen. Entsprechend heißt es bei Herder, dessen Schrift Pygmalion. Die wiederbelebte Kunst (1801) programmatisch ist: »Eine Statue muß leben: ihr Fleisch muß sich beleben: ihr Gesicht und Mine sprechen. Wir müssen sie antasten, glauben und fühlen, daß sie unter unseren Händen erwärmt.«5 Innerhalb weniger Jahrzehnte wird Pygmalion zum Schlüsselmythos für eine neue, lebendige und verjüngte Kunst. Zusammenfassend ließe sich sagen: Schon im 18. Jahrhundert wird der Mythos von der belebten Statue – zunächst im Ballett, dann in der Malerei, und schließlich um die Mitte des Jahrhunderts auch in der Bildhauerei und in der Literatur – zum Sinnbild einer erneuerten, unvergänglichen, da ›lebendigen‹ Kunst. Galatée oder Elise, wie die Statue in Johann Jakob Bodmers Erzählung Pygmalion und Elise (1747) vielfach genannt wurde,6 gelten als Beweise für die kreative Potenz des menschlichen Genies.

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und den unteren Teil der Statue – der gewissermaßen den noch unbelebten Stein abbildet – in mineralischen Farbtönen gestalten (Raoux’ berühmter Pygmalion aus dem Jahr 1717 hängt heute im Louvre). Weitere berühmte Darstellungen sind die Ölbilder Pygmalion (1729) des französischen Rokoko-Malers François Le Moyne, Pygmalion et Galatea (1767) von François Boucher, Pygmalion and the Image – The Soul Attains (1868–78) von Edward Burne-Jones, Pygmalion et Galatea von Louis-JeanFrançois Lagrenée (1781), Jean-Léon Gérômes Pygmalion et Galatea (1890) und, um noch ein Beispiel aus dem 20. Jahrhundert zu nennen: Paul Delvaux’ Pygmalion von 1939. Und ergänzend: »Pygmalion erschafft die Künste neu, / Daß froh verjünget Jede höher schreite, / Von Dunst und Trug und Vorurtheilen frei« (Johann Gottfried Herder: »Pygmalion. Die wiederbelebte Kunst« [1801]. In: Ders.: Sämtliche Werke. Hrsg. von Bernhard Suphan. Hildesheim, New York 1884 [Reprod.]. Bd. 28, S. 264–282, hier S. 269). Vgl. auch Goethes Italienische Reise. Hamburger Ausgabe. Bd. 11. Hrsg. von Erich Trunz. München 1982, S. 126: »Da Pygmalions Elise, die er sich ganz nach seinen Wünschen geformt und ihr so viel Wahrheit und Dasein gegeben hatte, als der Künstler vermag, endlich auf ihn zukam und sagte: ›Ich bin’s!‹, wie anders war die Lebendige als der gebildete Stein!«; oder Edmond de Goncourts Hysterie-Roman La fille Elise oder das Blumenmädchen Eliza in Georges Bernard Shaws Komödie Pygmalion (1913/14). Am Ende von Gautiers Erzählung Arria Marcella wird die im Pompejanischen Lavastein verewigte und zeitweise wiederauferstehende Geliebte ersetzt durch »Ellen«, eine »jeune et charmante Anglaise« (Théophile Gautier: »Arria Marcella, souvenir de Pompéi« [1852]. In: Ders.: Le roman de la momie, précédé de trois contes antiques. Une nuit de Cléopâtre. Le roi Candaule. Arria Marcella. Paris 1963,

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Eine zentrale Rolle bei diesen Anverwandlungen des Pygmalion-Mythos spielen immer wieder Fragen der Medialität, genauer der medialen und mimetischen Grenzüberschreitung: Wie kann die Belebung eines – ja prinzipiell statischen – Bildes und damit die Verlebendigung der Kunst überhaupt dargestellt werden? Ballett und Theater als zeitlich-sukzessive Künste haben da andere, einfachere Möglichkeiten als die bildende Kunst. Besonders deutlich wird diese Differenz in der enthusiastischen Besprechung, die Diderot 1763 über die berühmte Pygmalion-Skulptur von Falconet publizierte. Dort lobt er den meta-ikonischen Charakter des Kunstwerks und damit den im Grunde aporetischen Versuch des Bildhauers, die Belebung einer Statue ausgerechnet im statischen Medium der Skulptur darzustellen. Diderots lobende Betrachtungen gipfeln in der Bemerkung: »Le sujet est supérieur aux possibilités de l’art.«7 Damit weise der dargestellte Gegenstand über die mimetischen Möglichkeiten der Kunst hinaus. Denn welche Darstellungsmöglichkeiten stehen dem Bildhauer überhaupt zur Verfügung? Da sind zum einen angedeutete Gesten der Bewegung, etwa ein zum Schritt erhobener Fuß, eine leicht geöffnete Hand, oder, in der Malerei, die vom steinernen Weiß allmählich in ein hautfarbenes Rosa übergehende Karnation der Statue. Mehr kann man – 100 Jahre vor der Erfindung der seriellen Fotografie und des Films – von der Bildkunst nicht erwarten. Zugleich rückt ein zweites Problem ins Zentrum des säkularisierten, entmythologisierten und kunstphilosophisch adaptierten Pygmalion: Woher, wenn nicht mehr von Gott bzw. von einer Göttin, soll der Lebensfunke kommen, der das Bild animiert? Schon bei Diderot finden sich darüber recht ausführliche Interpretationsvorschläge, die alle – analog zu den reizphysiologischen Vorstellungen des 18. Jahrhunderts und lange vor Mesmerismus und Vitalismus – auf eine Art Energie-Übertragung hinauslaufen. Den Transfer von Lebensenergie zwischen Pygmalion und seiner Statue stellt Diderot sich als eine Art magnetische Kette von Aktion und Reaktion vor, dargestellt als überaus komplexe Pantomime aus zahlreichen subtilen Gesten. Deutlich wird dieser Ansatz in seiner sehr detaillierten Beschreibung einer idealen Pygmalion-Plastik.8 Solche Belebungsansätze deuten in gewisser Weise vorweg auf fantastische Verfahren der Energieübertragung, wie sie im

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S. 109–145, hier S. 145). Den Namen ›Galatea‹ erhält Pygmalions Statue nicht bei Ovid, sondern erst in der Neuzeit. Bei Jean-Jaques Rousseau: Pygmalion, Scène lyrique (1762) heißt die Statue erstmals Galathée. Vgl. z. B. auch die Tragödie Galatia (1872) des neugriechischen Dramatikers Spiridon Vasiliadis. Zit. nach Victor Stoichita: L’effet Pygmalion. Pour une anthropologie historique des simulacres. Droz, Genf 2008, S. 201. Vgl. ebd., S. 209f.

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späten 19. und frühen 20. Jahrhundert etwa in Romanen von Villiers de l’Isle Adam, Hawthorne oder, in der trivialeren Variante, bei Jules Verne, Mynona oder Maurice Renard zur Belebung von Simulacren entwickelt werden. Hinter der Frage nach der Art der Bildbelebung stehen freilich immer auch die bereits seit der Antike diskutierten und im Kontext von Okkultismus und Lebensphilosophie des Fin de Siècle wieder aktuellen Spekulationen über die Beschaffenheit einer allumfassenden Lebenskraft.9 Doch die Romantik vertritt zunächst einen ganz anderen, unbiologischen Ansatz: Bei der im 19. Jahrhundert einsetzenden, neuen romantischen Bildanimation handelt es sich, noch deutlicher als bei Ovids Pygmalion, um einen rein geistigen, projektiven Vorgang. Der Betrachter des Bildes ahnt, dass er es mit einer Illusion zu tun hat, die Belebung geschieht mittels oder sogar nur in seiner Phantasie. Der eigentliche Pygmalion ist – so könnte man die Pointe dieser Ästhetik formulieren – der Betrachter des Bildes. Es ist die kreative Einbildungskraft, die das Bild zum Leben erweckt. In Balzacs berühmter Novelle Le chef-d’œuvre inconnu (dt.: Das unerkannte Meisterwerk) wird – in radikalisierendem Anschluss an E.T.A. Hoffmann – dieser projektiv idealistische Ansatz konsequent und kritisch zu Ende gedacht. Denn dort existiert das famose, absolute und lebendige Kunstwerk nur noch in der Einbildung des Künstlers. In Wirklichkeit ist sein Bild nichts als ein wirres Durcheinander von Farben und Linien. Nur der seinem eigenen kreativen Wahn verfallene Künstler ist in der Lage, darin ein lebendiges Bild zu erkennen. Eine ähnliche Konstellation hatte bereits E.T.A. Hoffmann in seinen Malernovellen Der Artushof und Die Jesuiterkirche von G. inszeniert. Die semantische Stoßrichtung ist in allen Fällen eine Art hypertro9

Die alte chinesische und hinduistische Philosophie kannte die ›Ch’i-Kraft‹ bzw. das ›Prajna‹, Hippokrates sprach von ›enormon‹, Thomas Galen von ›physis‹ bzw. von ›pneuma‹ (›Facultas Formatrix‹, ›eloptic energy‹), der Sufismus kannte das ›baraka‹, Paracelsus sprach von einer Lebensenergie, die er ›Munia‹ nannte, Luigi Galvani von ›Lebenskraft‹, Mesmer vom ›thierischen Magnetismus‹, Samuel Hahnemann, der Begründer der Homöopathie, von ›Lebensenergie‹ oder ›Autocratie‹, der französische Spiritist Allan Kardec von ›Perisprit‹, der deutsche Arzt und Naturforscher Karl von Reichenbach vom ›Odlicht‹, der französische Astronom und Okkultist Camille Flammarion von ›énergie vitale‹, Henri Bergson vom ›elan vital‹, die Theosophin Blavatsky vom ›Astrallicht‹, der Lebensphilosoph Hans Driesch mit Aristoteles von ›Entelechie‹, Sigmund Freud von der ›Libido‹, Wilhelm Reich vom ›Orgon‹, Alexander und Lydia Gurwitsch von der ›mitogenetischen Strahlung‹, Erwin Schroedinger von der ›Negativen Entropie‹, Arthur Köstler von der (integrative tendency), Kirlian von ›bioplasmatischer Strahlung‹, V. S. Grischenko und Victor Inyushin vom ›Bioplasma‹, Charles Muses von ›Noetic Energy‹, Andrija Puharich vom ›Psi-Plasma‹.

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pher Idealismus: Als eigentliche schöpferische Leistung zählt primär keine handwerkliche, sondern allein die gedanklich-emotionale Disposition. Es ist die Einbildungskraft, die Phantasie, es sind Eingabe und Intuition, die den wahren Künstler auszeichnen. So und ähnlich lauten die Postulate der idealistisch-frühromantischen Kunstphilosophie, prominent vertreten z. B. bei Ludwig Tieck und Wilhelm Heinrich Wackenroder in den Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders von 1796, in denen auch der in diesem Zusammenhang aufschlussreiche kunsttheoretisch-mystische Topos des ›Raffael ohne Hände‹ aufgegriffen wird. Autoren wie E.T.A. Hoffmann, Balzac, später dann auch Edgar Allan Poe setzen sich im 19. Jahrhundert mit dieser frühromantisch-idealistischen Auffassung auseinander, bisweilen kritisch, oft auch satirisch. Dass bei dieser Auseinandersetzung auch der PygmalionMythos ins Visier gerät, ist naheliegend. In Hoffmanns ›Nachtstück‹ Der Sandmann ist es der projektive Blick des – narzisstischen – Künstlers Nathanael, der eine Puppe, den weiblichen Tanzautomaten Olimpia, scheinbar zum Leben erweckt. Der Schöpfer des Kunstwerks ist hier derjenige, der im emphatischen oder, um mit Hoffmann zu sprechen, ›serapionistischen‹ Sinne zu ›sehen‹ vermag bzw., auf der negativen Kehrseite, wahnsinnig genug ist, einen weiblichen Androiden für echt zu halten. Ausgangspunkt dieser Vorstellung ist die auf Fichte zurückgehende idealistische Kunstlehre, wie sie besonders plastisch und anschaulich in Jean Pauls berühmter kleiner Schrift Über die natürliche Magie der Einbildungskraft zur Sprache kommt. Dort heißt es: »Die fünf Sinne heben mir außerhalb, die Phantasie innerhalb meines Kopfes einen Blumengarten vor die Seele; jene gestalten und malen, diese tut es auch; jene drücken die Natur mit fünf verschiedenen Platten ab, diese als sensorium commune liefert sie alle mit einer.«10 Bei Hoffmann bedarf es allerdings – und das ist nicht unerheblich für die weitere Entwicklung des Motivs der Bildanimation im 19. Jahrhundert – zu dieser Verwandlung bereits eines technisch-optischen Geräts. Ohne sein Taschenperspektiv, das den Blick magisch bzw. technisch verändert, bliebe Nathanael in der banalen Alltagswahrnehmung befangen. Mit der Romantik setzt dann allerdings ein Umdenken ein, wodurch – und das wäre meine zweite These – der idealistische Ansatz zunehmend ambivalent wird: Qualitätskriterium für Kunst ist, wie gesagt, vor allem ihre Lebendigkeit, das Echte, Authentische, ›wahrhaftig Geschaute‹, wie E.T.A. Hoffmann seinen Einsiedler Serapion sagen lässt. Das aber hat seine Kehrseite, 10

Jean Paul: »Über die natürliche Magie der Einbildungskraft«. Leben des Quintus Fixlein (Abschnitt: »über die natürliche Magie der Einbildungskraft«) [1796]. In: Ders.: Werke. Bd. 4. Hrsg. von Norbert Miller. München 1962, S. 195.

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seinen ästhetischen und psychischen Preis: Ist nämlich das Kunstwerk tatsächlich lebendig, so entzieht es sich notwendigerweise ab einem bestimmten Punkt der vernunftmäßigen Kontrolle des Künstlers. Es entwickelt ein Eigenleben, wird autonom. Solches Eigenleben wird nun in zahlreichen Werken des 19. Jahrhunderts ambivalent, wenn nicht gar als Bedrohung oder Dämonie gedeutet, beispielsweise indem man der Statuenbelebung das Motiv des weiblichen Unholds zur Seite stellt. Die magisch auflebenden Venusbilder oder technisch animierten Spielautomaten symbolisieren die Gefahren einer Einbildungskraft, die außer Kontrolle, also jenseits der Vernunft gerät, wobei in der genannten Kombination der Kontrollverlust über das Werk durch den sexuellen Kontrollverlust motivisch intensiviert wird. Diese zweite poetologische Funktionsebene des Motivs hat also wiederum eine kritische Zielrichtung: Die dämonisierte Belebung bezieht sich auf die Angst vor einer Verselbstständigung der Kunst bzw. vor der allzu subjektiven Einbildungskraft des Künstlers, oder anders formuliert: Hier artikuliert sich die romantische Kritik an den idealistischen Grundlagen ihrer eigenen Poetik. Dabei sind, wie gesagt, E.T.A. Hoffmann und Honoré de Balzac diejenigen Autoren, die mit ihren zahlreichen problematischen Künstlerfiguren diesen Komplex immer wieder – tragisch oder satirisch – aufgegriffen und bearbeitet haben. Was Frenhofer, der wahnsinnige Maler aus Balzacs Le chef-d’œuvre inconnu, an fast allen Bildern bemängelt, ist deren fehlende Lebendigkeit und Beseeltheit: Was fehlt dann? Ein Nichts, aber dieses Nichts ist alles. Ihr habt den Anschein des Lebens, aber ihr drückt seine überschäumende Fülle nicht aus, dieses Etwas, das vielleicht die Seele ist und wolkengleich über der äußeren Hülle schwebt, kurzum den Schmelz des Lebens, den Tizian und Raffael eingefangen haben. Wenn man dort erst begänne, wo ihr aufhört, so könnte man vielleicht etwas Ausgezeichnetes malen […].11

Die Pointe in Le chef-d’œuvre inconnu ist nun, dass Frenhofers lang gepriesenes Meisterwerk – analog zu Berklingers Gemälden in Hoffmanns Artushof – nichts als ein abstraktes Durcheinander von Farben und Formen darstellt. Das aber veranlasst seine Freunde zu der angesichts des künstlerischen Desasters scheinbar sarkastischen Bemerkung, Frenhofer sei »noch mehr Dichter als Maler«.12 Genau diese Bemerkung führt nun direkt ins Zentrum der auch bei Hoffmann schon impliziten intermedialen Problematik: Was der 11

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Honoré de Balzac: Das unbekannte Meisterwerk. Hrsg. von Sebastian Goeppert, Herma Goeppert-Frank. Frankfurt am Main 1987, S. 48. Ebd., S. 113.

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Maler mit seiner statischen Kunst handwerklich nicht einzufangen weiß, nämlich das Leben, das kann die Dichtung erzählen bzw. die Kunsttheorie erörtern. Wie auch viele Künstlerfiguren bei E.T.A. Hoffmann ist Frenhofer ein handwerklicher Dilettant, doch von solch kunstkritischem und kunstphilosophischem Sachverstand, zugleich besessen von einem kindlich frommen Glauben an die Macht der Kunst, dass seine Utopie der lebendigen Kunst deren Realisierung überflüssig macht. Der Maler ohne Bild, der Komponist ohne Werk, der Geigenvirtuose, der nur noch ›innerer Musik‹ mächtig ist, um nur einige Beispiele aus den Werken Hoffmanns und Balzacs zu nennen – das alles sind Präfigurationen einer hochmodernen Kunst-Utopie ex negativo, einer Utopie, die die Vollendung des Kunstwerks als unmöglich erkennt, am Absolutheitssanspruch aber festhält und diesen an die Negation verweist. Die Vollendung ist eine gedanklich im Unvollendeten, im Fragmentarischen dialektisch aufgehobene Utopie, deren Programm zu formulieren – und hier zeigt sich wieder die implizite These einer medialen Überlegenheit der Literatur – freilich Dichtung und Philosophie obliegt. Eine solche Übereinstimmung von Kunst und Theorie ist bereits aus den Werken der deutschen Frühromantik bekannt, vor allem bei Friedrich Schlegel oder Novalis; sie wird bei Hoffmann und Balzac nun aber narrativ radikalisiert und in allen – ästhetischen wie psychischen – Konsequenzen durchgespielt. Es gilt also, zwei unterschiedliche Konzepte von ›lebendiger Kunst‹ grundsätzlich zu unterscheiden: zum einen das in der Bildhauerei der Spätrenaissance und im Barock entwickelte hypermimetische Verständnis einer möglichst natürlich scheinenden, bewegten, dynamischen Kunst, die sozusagen das Leben nachahmend einfängt, sowie zweitens das romantische Konzept einer beseelten, durch den Willen des Künstlers belebten Kunst, bei der das Endprodukt, das Bild selbst, zweitrangig ist, ja sogar ganz fehlen kann. Wahre, lebendige Kunst ist hier, was unmittelbar der Seele des Künstlers entspringt.13 Von hier aus ist es ideengeschichtlich nur noch ein Schritt bis zu den erwähnten trivialisierenden Vorstellungen einer okkulten Energie-Übertragung auf das Bild.14 Zahlreiche Werke der Spätromantik und frühen Phantastik erzählen nun von den Gefahren dieses ungeheuren Anspruchs, von der Dämonie der projektiven Beseelung. Beispiele dafür finden sich nicht nur bei Hoffmann und 13

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Erst in der Dekadenzdichtung des fin de siècle mit ihrer Aufwertung des Artifiziellen und Anorganischen erfolgt dann eine Ablösung vom Postulat der lebendigen Kunst. Vgl. Anmerkung 9.

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Balzac. Auch Hebbel und Heine, Mary Shelley, Gogol, Hawthorne, Poe und Gautier sowie deren Nachfolger, von Apollinaire über Mynona und Pirandello bis hin zu Bioy-Casares und Tournier, inszenieren kunstphilosophische Settings, bei denen die Beseelung des Kunstwerks zu Lasten des Künstlers oder des Modells geht. Das Urbild wird geopfert, damit das Abbild beseelt werden kann, und das bisweilen in einer recht krud-materialistischen Übertragung feinstofflicher Lebensenergie. Die Animation des Bildes wird hier um den Preis des Todes oder zumindest des Wahnsinns realisiert. Die prometheische Utopie wird offenbar begleitet von der Angst, diese könne nur mit einem ontologischen Trick gelingen: Nur wenn dem Bild etwas bereits Lebendiges – also die Seele des Modells, des Künstlers oder des Betrachters – integriert bzw. geopfert werde, könne es zum Leben erwachen.15 Es ist nun kein Zufall, dass diese Ambivalenz von utopischen und dystopischen Aspekten im Kontext der technischen Bildanimation eine zusätzliche Verschärfung erfährt. Wer zur Herstellung belebter Bilder auf technische Verfahren zurückgreift, muss, so will es die spätromantisch-fantastische Poetik, mit dem Schlimmsten rechnen. Das beginnt, wie gesagt, bereits bei E.T.A. Hoffmanns Sandmann. Hier ist es das erwähnte Taschenperspektiv, das den Helden ins Verderben stürzt. In anderen Erzählungen Hoffmanns sind es Spiegel und Brillen, bei Tieck und Gautier gibt es metallische Pokale, auf deren Oberfläche sich bewegte Bilder zeigen. Im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, in der Phantastik und frühen Science Fiction, dominieren dann kompliziertere optische, teilweise auch fotografische oder kinematographische Verfahren. Die Nähe zum Pygmalion- und Androiden-Motiv und zum Thema des erotischen Voyeurismus führt dazu, dass es in vielen Texten um die technische Belebung eines Frauenbildes geht. Wenn sich diese technisch-optisch erzeugte Frau dann nicht als dämonische Femme fatale oder als okkultes, kaum fassbares Wesen entpuppt, wie in Villiers de l’Isle-Adams okkultistischem Science-Fiction-Roman L’Eve future (1886), entstehen zumindest andere unerwünschte Verwicklungen, aus denen sich erahnen lässt, dass irgendetwas an diesem technischen Bildverfahren nicht geheuer scheint, dass man den technisch erzeugten Bildern des Lebens nicht trauen darf. Diese Si15

Vgl. Sabine Haupt: »Gettatori und Medusen. Von bösen Blicken, tödlichen Pinseln und gefräßigen Kameras. Eine intermediale Motivgeschichte«. In: Urs Meyer, Roberto Simanowski und Christoph Zeller (Hrsg.): Transmedialität. Zur Ästhetik paraliterarischer Verfahren. Göttingen 2006, S. 152–184; Sabine Haupt: »Reflets mortels. Un motif au carrefour des arts et des médias: Hoffmann, Poe, Maupassant, Brioussov, Pirandello, Benjamin«. In: Pierre André Bloch, Peter Schnyder (Hrsg.): miroirs – reflets. Esthétiques de la duplicité. Strasbourg 2003, S. 35–53.

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mulacren erfüllen nun eine ähnliche Funktion wie die zuvor durch eine allzu erhitzte Einbildungskraft erzeugten dämonischen Bilder: Sie werden ihrem Schöpfer (oder dem Modell) zum Verhängnis. Eine eher harmlose, ja vergleichsweise optimistische Variante ist Hoffmanns letzte Märchenerzählung Meister Floh. Hier ist es ein Mikroskop, durch das zwei berühmte Optiker des 17. Jahrhunderts, und zwar die historisch verbürgten Leeuwenhoek und Swammerdam (im Text werden sie auch als Magier bezeichnet), die verschwundene Prinzessin Gamaheh als »kleines fremdartiges Körnlein«16 in einem Tulpenkelch erspähen und schließlich dank avanciertester optischer, sozusagen proto- oder prä-fotografischer Technik wieder zum Leben erwecken. Deutlich wird an diesem Text – es handelt sich, wie gesagt, um ein Märchen – das offenbar unproblematische Ineinander und Miteinander von Magie und Technik: Es genügt, wenn ich Euch sage, daß es uns mittels des geschickten Gebrauchs verschiedener Gläser, die ich meistenteils selbst präparierte, glückte, nicht allein die Prinzessin unversehrt aus dem Blumenstaub hervorzuziehen, sondern auch ihr Wachstum in ihrer Art zu fördern, daß sie bald zu ihrer natürlichen Größe gelangt war. – Nun fehlte freilich noch das Leben, und ob ihr dieses zu verschaffen möglich, das hing von den letzten und schwürigsten Operationen ab. – Wir reflektierten ihr Bild mittels eines herrlichen Kuffischen Sonnenmikroskops und lösten dieses Bild geschickt los von der weißen Wand, welches ohne allen Schaden vonstatten ging. Sowie das Bild frei schwebte, fuhr es wie ein Blitz in das Glas hinein, welches in tausend Stücken zersplitterte. Die Prinzessin stand frisch und lebendig vor uns.17

Charakteristisch für die Entwicklung des Motivs ist – schematisch gesehen – der mit der Erfindung der Fotografie verbundene Wechsel von märchenhaftmagischen Formen der Bildanimation zu optisch-technischen Herstellungsprozessen von Bildern, oft unter Anspielung auf religiöse oder okkultistische Kontexte, wobei sich die Probleme offenbar verschärfen: Das lebendige Bild bzw. der mit optischen Mitteln erzeugte Android zeigen immer offener die hybride Kehrseite ihrer utopischen Verwandlung. Die dabei verwendeten Zauberspiegel, magischen Lorgnetten, Brillen oder Operngläser werden zwar allmählich abgelöst von mehr oder weniger fantastischen fotografischen Verfahren. Doch erscheint es mir insgesamt sinnvoller, von einer motivgeschichtlichen Kontinuität auszugehen, statt markante Brüche zu postulieren, denn die literarische Motiventwicklung hält weitgehend Schritt mit der Medienentwicklung: Von belebten Gemälden 16

17

E.T.A. Hoffmann: Meister Floh. Ein Märchen in sieben Abenteuern zweier Freunde. Frankfurt am Main 1981, S. 51. Ebd., S. 53.

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und Statuen über Laterna Magica, Stereoskopie und Fotografie gelangt der Bildzauber zur Chronofotografie, zum Film, ja bis zur Holografie. Dabei erfährt der Topos der lebendigen Kunst nun im Rahmen der Medienkonkurrenz von Malerei und Fotografie eine ganz besondere Bedeutung. Die Fotografie, die insbesondere die Porträtmalerei massiv in Bedrängnis brachte, wird nämlich von den Verteidigern der Malerei, darunter zahlreiche Literaten wie Baudelaire, Maupassant, Heyse oder Gorki, nicht nur als oberflächlicher Schund abgekanzelt, man wirft ihr auch explizit ihre mangelnde Lebendigkeit vor. Dem einmaligen, organisch lebendigen, kreativ geschauten Gemälde steht, in dieser ideologischen Konzeption, die Banalität der Kopie gegenüber. Man hoffte, sich die lästige neue Konkurrenz vom Leibe zu halten, indem man wie der Genfer Zeichner und Ästhetik-Professor Rodolphe Töpffer oder der Journalist Eduard Kolloff behauptete, die Daguerreotypie sei reine Mechanik, nur die Malerei sei Kunst. Der Topos der Lebendigkeit wird nun also verwendet, um das neue Bildmedium zu denunzieren. Fotografien fehle, so heißt es, etwas Entscheidendes, nämlich das Leben. Die Fotografie sei »eine Platte ohne Leben«, so Töpffer,18 während Kolloff schon kurz nach der offiziellen Vorstellung des neuen Bildverfahrens wusste: »Alles Unbewegliche und Leblose bildet sich im Daguerreotyp aufs vollkommenste ab.«19 Dieser Diskurs lässt sich freilich nicht auf rein pragmatisch-merkantile Aspekte reduzieren. Offenbar weckt das objektivistische Pathos – der »pencil of nature«20 bzw. die positivistische ›visuelle Evidenz‹, mit dem die Fotografie für sich Werbung macht – nicht nur Hoffnungen, sondern auch vitale Ängste. Ängste vor dem totalen, ja totalitären Zugriff und der vermeintlich devitalisierenden, womöglich tödlichen Kraft der Fotografie. Diese paranoide Reaktion auf solche Objektivität, die Furcht vor der mimetischen Kraft, dem alles durchdringenden ›bösen‹ Blick des neuen Mediums, beerbt damit gewissermaßen den romantischen ›Aberglauben‹ vom Bildzauber, vom Seelenraub durch den Künstler oder Magier und bildet somit ein geeignetes Substrat moderner ›Horrorgeschichten‹ über die Assoziation von Fotografie und Tod. Das um 1800 aufkommende romantische Ideal einer absoluten, von äußeren Faktoren unabhängigen Kunst impliziert, so hatten wir gesehen, eine anti-mimetische Position. Worauf es in der Kunst ankommt, ist nicht der 18

19 20

Rodolphe Töpffer: »Über die Daguerreotypie« [1841]. In: Wolfgang Kemp (Hrsg.): Theorie der Fotografie I: 1839–1912. München 1999, S. 70–77, hier S. 73. Eduard Kolloff: »Der Daguerreotyp« [1839]. In: Ebd., S. 64–67, hier S. 66. William Henry Fox Talbot: The Pencil of Nature. London 1844.

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Schein von Lebendigkeit, sondern das produktions- bzw. rezeptionsäthetische Gefühl, d. h. die innere Lebendigkeit, die das Kunstwerk im Künstler bzw. im Betrachter hervorruft. Umgekehrt wird nun die mimetische Kunst, also die noch im 18. Jahrhundert geforderte Nachahmung der Natur, zu einem dämonischen Popanz. Der Vorsatz zur unbedingten Naturnähe, der dem Ehrgeiz entspringt, alles bisher Geschaffene zu übertreffen, bedeutet nun – in den Augen der spätromantischen Literaten – eine Verfehlung: und zwar sowohl im moralischen wie im künstlerischen Sinne. Angesichts des positivistisch-wissenschaftlichen Diskurses zur Fotografie erklären deren ästhetische Gegner die Frage des lebendigen Bildes zu einer Sache des lebendigen Gefühls. ›Leben‹ verleiht nicht die Technik, nicht die möglichst naturgetreue Abbildung, sondern – und das führt, trotz der Akzentverschiebungen im Realismus und Naturalismus, bis in die abstrakten Ästhetiken der klassischen Avantgarde hinein – allein die seelische Disposition, das Bewusstsein des Künstlers und des Kunstbetrachters. Damit aber liefert die romantisch-idealistische Kunsttheorie auch die Grundlage für die – bis in moderne Medientheorien hineinreichende – Kritik an der vermeintlichen Morbidität und Dekadenz von Fotografie und Film. Angesichts der anstehenden Medienkonkurrenz zieht sich die Kunst aus der Ästhetik der Nachahmung zurück und überlässt der Technik das Feld, wobei sich die Ambivalenz dem neuen Medium gegenüber, das Schwanken zwischen Faszination und Furcht, im Diskurs über das vermeintlich Lebendige oder Tote der verschiedenen Bildmedien artikuliert. Dass Bilder sich bewegen, echtes Leben simulieren, ist faszinierend und unheimlich zugleich. Und dass diese mediale Grenzüberschreitung bis heute als eine, wenn nicht metaphysische, so zumindest existentielle Herausforderung wahrgenommen wird, zeigen u. a. aktuelle Werke, die sich, wie z. B. die Matrix-Filme,21 mit dem Phänomen des Cyberspace befassen.

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Andy und Larry Wachowski: The Matrix (1999), Matrix Reloaded (2003), Matrix Revolutions (2003).

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Strategien der Sichtbarkeit Fotografie im Stummfilm der Weimarer Republik

Fotografie und Film sind Kinder und Zeugen des 19. Jahrhunderts. Beide können auf eine lange und bewegte Geschichte blicken, haben ihre Ursprünge in Camera obscura, Guckkasten und Laterna magica. Das fotografische Bild ist die Bedingung für Film, dessen schnell ablaufende Einzelbilder dem träge reagierenden menschlichen Auge Bewegung vorspielen. Beide Medienformen hatten seit ihrer Entstehung bis in die Weimarer Republik hinein immer wieder um die Anerkennung ihrer Seriosität zu kämpfen, von ihrer Wertschätzung als Träger künstlerischer Werke ganz zu schweigen. Interessant ist, dass die von Max Dauthendey1 einem – offensichtlich von ihm erfundenen – Leipziger Stadtanzeiger 2 zugeschriebene Zeitungsnotiz bis in die jüngste Zeit als Beleg für Attacken von religiöser Seite gegen die neue Technologie angeführt wird: Flüchtige Spiegelbilder festhalten zu wollen, ist nicht bloß ein Ding der Unmöglichkeit, wie es sich nach gründlicher deutscher Untersuchung herausgestellt hat, sondern schon der Wunsch, dies zu wollen ist eine Gotteslästerung. Der Mensch ist nach dem Ebenbilde Gottes geschaffen, und Gottes Bild kann durch keine menschliche Maschine festgehalten werden.3

Für Walter Benjamin ist ein solcher Standpunkt Ausdruck eines »fetischistischen, von Grund auf antitechnischen Begriffs von Kunst«, wie er in seiner Kleinen Geschichte der Photographie im Jahr 1930 ausführt.4 Doch vor allem in der zeitgenössischen Kunsttheorie wurde der Fotografie ein ästhetischer Werkcharakter abgesprochen. In seinem System der Ästhetik konstatiert Johannes Volkelt: 1

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3 4

Max Dauthendey: Der Geist meines Vaters. Aufzeichnungen aus einem begrabenen Jahrhundert. München 1912. Ein Leipziger Stadtanzeiger hat jedenfalls nie existiert und ist auch nicht nachgewiesen in: Gert Hagelweide: Deutsche Zeitungsbestände in Bibliotheken und Archiven. Düsseldorf 1974. Siehe hierzu auch: Wolfgang Kemp (Hrsg.): Theorie der Fotografie I, 1839–1912. München 1980, S. 68f. Zitiert in: Helmut Gernsheim: Die Fotografie. Wien 1971, S. 23. Walter Benjamin: »Kleine Geschichte der Photographie.« In: Ders.: Gesammelte Schriften. Hrsg. v. Rolf Tiedemann, Hermann Schweppenhäuser. Bd. II.1. Frankfurt am Main, S. 368–385.

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So wichtig auch für die Kunst die Mitwirkung der Photographie in vielen Beziehungen sein mag, so ist sie doch keine Kunst im strengen Sinne. Die abbildliche Wiedergabe, also die Hauptsache, geschieht auf mechanischem Wege. Sonach kann es sich hier nur um Zuhilfenehmen künstlerischer Gesichtspunkte handeln. Das heißt: es liegt eine angewandte Kunst, allerdings höchst wertvoller Art vor.5

Selbst Siegfried Kracauer spricht in seinem Aufsatz »Die Photographie« (1927) dem Lichtbild einen autonomen Kunstcharakter ab. Ohne Berücksichtigung des jeweiligen historischen Hintergrundes verliere ein Foto seine Bedeutung. Es könne letztlich lediglich Ähnlichkeit erzielen, während ein Gemälde Transparenz vermittele.6 Und auch Walter Benjamin fragt, ob nicht »die Beschriftung zum wesentlichen Bestandteil der Aufnahme« werde.7 Mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs bekamen Fotografien in den auflagenstarken deutschen Illustrierten eine tragende Bedeutung. Sie »waren nicht mehr Beiwerk zum Text, sondern tragendes Element der Reportagen«.8 Bereits 1914 wurde eine Bildzensur eingeführt; ohne vorherige Genehmigung durften keine Fotos mehr veröffentlicht werden. Stand das Foto in den Pressepublikationen bis dahin als Dokumentation, Beweis und für Objektivität der transportierten Nachrichten, so wurde mit der Kriegssituation schlagartig deutlich, dass das Foto in der Presse nunmehr ebenso wie die Sprache beziehungsweise der Text als ein manipulatives Darstellungsmittel einsetzbar war.9 Auch der Film musste lange Zeit nicht nur um seine gesellschaftliche und künstlerische Anerkennung kämpfen, sondern war zeitweise sogar in seiner Existenz bedroht. In der so genannten Kinoreformbewegung10 um 1907 forderten bürgerliche Vertreter sogar ein radikales Verbot des Films, Gewerkschafter zumindest eine Zensur zum Schutze der Jugend und vor allem der Frauen. So beispielsweise Max Grempe in seinem Artikel »Gegen die

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9 10

Johannes Volkelt: System der Ästhetik. Bd. 3. München 21925, S. 410. Siegfried Kracauer: »Die Photographie«. In: Ders.: Schriften. Bd. 5.2. Frankfurt am Main 1990, S. 83–98. Benjamin: »Kleine Geschichte der Photographie«, S. 385; Rolf H. Krauss: Walter Benjamin und der neue Blick auf die Photographie. Ostfildern 1998, S. 38, konstatiert: »Weder in ihrer originären, noch in ihrer dienenden Form gesteht Benjamin der Photographie Kunstcharakter zu.« Bernd Weise: »Fotojournalismus. Erster Weltkrieg – Weimarer Republik.« In: Deutsche Fotografie. Macht eines Mediums 1897–1979. Köln 1997, S. 72. Ebd. Vgl. hierzu vor allem: Heide Schlüpmann: Unheimlichkeit des Blickes. Das Drama des frühen deutschen Kinos. Basel, Frankfurt am Main 1990, S. 189–236.

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Frauenverblödung im Film« (1913).11 Zum schlechten Image des Films trug sicherlich auch bei, dass er in den ersten Jahren seiner Existenz vor allem auf Jahrmärkten – wie auch die Fotografie – und in Varietétheatern zu sehen war. Schon die Brüder Skladanowsky priesen ihren Filmprojektor, das Bioskop, anlässlich der ersten öffentlichen Filmvorführung am 1. 11. 1895 im Berliner Varietétheater Wintergarten als »amüsanteste und interessanteste Erfindung der Neuzeit«. Ernst genommen wurde Film zunächst nur als Illustrator von Nachrichten in Wochenschauen oder als zeitgeschichtliches Zeugnis wie in den kurzen Streifen der Brüder Lumière: Arbeiter verlassen die Lumière-Werke oder Ein ankommender Zug. Zum großen Erfolg dieser dokumentarischen Szenen bei einem verblüfften Publikum vermerkt der französische Filmhistoriker Edgar Morin: Lumière, au contraire d’Edison dont les premiers films montraient des scènes de music-hall ou des combats de boxe, eut l’intuition géniale de filmer et projeter en spectacle ce qui n’est pas spectacle: la vie prosaique, les passants vaquant à leurs affaires. […] Il avait compris qu’une curiosité première s’adressait au reflet de la réalité. Que les gens avant toutes choses s’émerveille – raient de revoir ce qui ne les émerveille pas: leurs maisons, leurs visages, le décor de leur vie familière.12

Und auch die »Fotografie reflektiert ein Bild des Realen, wie sie das Bild umgekehrt prägt«.13 Doch ist es ein Trugschluss anzunehmen, dass das Objektiv der Foto- und Filmkamera für eine Objektivität der Darstellung bürgen könne. Durch die Wahl des Objektivs, der Brennweite, des Blickwinkels und Bildausschnitts wird Stellung gegenüber dem Objekt, der Realität bezogen. Das Bestreben von Fotografie und Film war es, die Realität nicht nur abzubilden, sondern einen dezidiert subjektiven Standpunkt gegenüber der abzubildenden Wirklichkeit einzunehmen und sie künstlerisch zu durchdringen. 11

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13

Max Grempe: »Gegen die Frauenverblödung im Film« [1913]. In: Jörg Schweinitz (Hrsg.): Prolog vor dem Film. Nachdenken über ein neues Medium. 1909–1914. Leipzig 1992, S. 120–127. Edgar Morin: Le cinéma ou l’homme imaginaire. Essai d’Anthropologie. Paris 1956, S. 22. In der Übersetzung: Der Mensch und das Kino. Eine anthropologische Untersuchung. Aus dem Französischen übersetzt von Kurt Leonhard. Stuttgart 1958, S. 18: »Im Gegensatz zu Edison, dessen erste Filme Kabarettszenen und Boxkämpfe zeigten, hatte Lumière den genialen Einfall, gerade das zu filmen und als Schauspiel zu projizieren, was kein Schauspiel ist: das prosaische Leben, die Passanten, die ihren Geschäften nachgehen. […] Er hatte begriffen, dass eine ganz unmittelbare Neugier dem Reflex der Realität galt. Dass die Menschen sich verwunderten, das wiederzusehen, was sie nicht verwunderte: ihre Häuser, ihre Gesichter, die Kulisse ihres Familienlebens.« Klaus Honnef, Gabriele Honnef-Harling: Von Körpern und anderen Dingen. Deutsche Fotografie im 20. Jahrhundert. Heidelberg 2003, S. 20.

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Interessant erscheint mir, dass beide Medienarten in ihrer Entwicklung versuchten, das jeweils Spezifische der anderen teilweise zu adaptieren, ohne jedoch ihre Selbständigkeit aufzugeben. Bestand das Genuine des Films darin, Bewegung in ihrem Fluss zu zeigen, so versuchte die Fotografie seit den 1870er Jahren, diese Bewegung im Bild festzuhalten. Berühmt sind die Reihenaufnahmen von Eadweard Muybridge, die beispielsweise 1872 zum Beweis dafür dienten, dass ein galoppierendes Pferd zeitweise mit keinem Bein den Boden berührt. Bekannt ist die Reaktion des Bildhauers Auguste Rodin, der über die Fotografien Muybridges sagte: »Es ist der Künstler, der die Wahrheit spricht, und das Photo, welches lügt, denn in der Wirklichkeit steht die Zeit nicht still.«14 Der Physiologe Étienne-Jules Marey versuchte, durch Mehrfachbelichtungen Bewegungsabläufe festzuhalten und »die einzelnen Phasen wiederum in ein Bild zu synthetisieren«, um so eine »Verbildlichung der Bewegung« zu erreichen.15 Auch in Schnappschüssen sollte Bewegung festgehalten und visualisiert werden. Eine assoziative, beinahe filmische Sichtweise intendierte das in der Weimarer Republik erfolgreiche Fotobuch mit Beispielen wie Malerei Fotografie Film (1925/27) von László Moholy-Nagy oder Das Antlitz der Zeit (1929) von August Sander – um nur zwei der prominentesten Fotografen jener Zeit zu nennen. Hanne Bergius vermerkt über die Form der Rezeption der Fotobücher: Der Rhythmus des Sehvorgangs, der Vergleich der Abbildungen und die Suggestion der Fotoanordnungen sensibilisierten für ein neues voraussetzungsloses Sehen, das aktiv teilnahm an den erweiterten Möglichkeiten des Kamera-Auges. Beim Blättern ereignete sich – Filmschnitten gleichzusetzen – eine zwischenbildliche Bewegung, die der Leser im Unterschied zum Film selbst bestimmte.16

Nicht vergessen werden darf die in der Weimarer Republik vor allem zur Darstellung gesellschaftlicher Widersprüche eingesetzte Fotomontage John Heartfields, Raoul Hausmanns oder Hanna Höchs. In der Gegenüberstellung oder Reihung verschiedener Fotografien kommt in ihr das spezifisch filmische Verfahren der Montage zum Tragen. Der Fotografie ging es also darum, Bewegung einzufangen, zu fixieren und sichtbar zu machen, wobei sie zuweilen auf filmische Montagetechniken zurückgriff. 14

15

16

Zitiert bei: Maurice Merleau-Ponty: Das Auge und der Geist. Philosophische Essays. Hamburg 1984, S. 39. Ronald Balczuweit: »Die Flucht der Erscheinungen. Zum photographischen und filmischen Bild«. In: Theresia Birkenhauer, Annette Storr (Hrsg.): Zeitlichkeiten – Zur Realität der Künste. Theater, Film, Photographie, Malerei, Literatur. Berlin 1998, S. 160. Hanne Bergius: »Die neue visuelle Realität. Das Fotobuch der 20er Jahre«. In: Deutsche Fotografie. Macht eines Mediums 1870–1970. Köln 1997, S. 88.

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Wird Fotografie aber als Darstellungsmittel im Film eingesetzt, so kann sie – wie im Film der Weimarer Republik – zur Metapher unterschiedlicher Bedeutungen werden. Sie hebt das Typische bestimmter filmischer Genres hervor, verweist auf subtextuelle Ebenen oder reflektiert am Ende der Stummfilmära der Weimarer Republik film- und fotoästhetische Diskurse und schließlich das filmische Bewegungsbild an sich.17 Gemeint ist hier aber nicht nur die Darstellung von als Fotografien erkennbaren Abbildungen im Film oder die filmisch dargestellte Aktion des Fotografierens, sondern auch das Auftreten im Bewegungsbild von der Fotografie zugeschriebenen Merkmalen, insbesondere im Standbild oder freeze frame. Das Weimarer Kino ist »aufgeklärt und doppelbödig«, wie Thomas Elsässer konstatiert;18 es ist vielschichtig und autoreferenziell, d. h., es verweist immer wieder auf sich selbst, seine Darstellungsverfahren und seine technischen wie ästhetischen Bedingungen. Dies geschieht auch im Reflex auf Fotografie, oder, wie Volker Pantenburg feststellt: »Die Grenze zwischen Film und Fotografie ist daher als ein weiterer Ort zu beschreiben, an dem – aus der Oszillation zwischen beiden Polen – eine theoretische Bestimmung des jeweiligen Mediums resultiert.«19 Eine Rekurrenz auf die Fotografie erfolgt, wie die folgende Skizze belegt, in zahlreichen Filmen der Weimarer Republik und in einer Bandbreite von Erscheinungsformen: vom Foto als diegetischem Element bis zur komplexen filmästhetischen Reflexion. Ernst Lubitschs Komödie Die Austernprinzessin ist eine überaus originelle Persiflage auf die Auswüchse des amerikanischen Kapitalismus der damaligen Zeit.20 Die exzentrische Tochter des Multimillionärs Quaker, der sein Vermögen im Austernhandel erworben hat, bekommt einen Tobsuchtsanfall, weil eine Konkurrentin einen Grafen geheiratet hat und damit in den Adelsrang erhoben wurde. Um die Tochter zu beruhigen, beauftragt der Vater einen Heiratsvermittler mit der Suche nach einem Prinzen. Die Szene im Büro des Heiratsvermittlers zeigt eine ganze Fotogalerie möglicher Kandidaten, unter denen sich ein echter – leider völlig mittelloser – Prinz befindet. Der Einsatz der Fotografie dient hier der Steigerung der grotesken Situation in der massenhaften Vervielfältigung komischer Typen und steht zunächst im Kontrast zu den Erwartungen der Millionärstochter. Der Gebrauch der Fotografie ist in der Austernprinzessin also durchaus auch genrespezifisch zu sehen. 17

18 19

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Zum Stummfilm der Weimarer Republik vgl. Corinna Müller: Vom Stummfilm zum Tonfilm. München 2003. Thomas Elsaesser: Das Weimarer Kino – aufgeklärt und doppelbödig. Berlin 1999. Volker Pantenburg: Film als Theorie. Bildforschung bei Harun Farocki und Jean-Luc Godard. Bielefeld 2006, S. 191. Die Austernprinzessin. Regie: Ernst Lubitsch, 1919.

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In der Verfilmung von Bram Stokers Dracula-Roman schuf Friedrich Wilhelm Murnau mit Nosferatu nicht nur eine kongeniale Adaption der literarischen Vorlage, sondern auch ein vielschichtiges Kunstwerk mit zahlreichen Subtexten.21 Neben der vordergründigen Geschichte des Vampirs Graf Orlok, der 1838 die Pest nach Wisborg bringt, bietet der Film auch eine raffinierte Visualisierung unterdrückten sexuellen Verlangens. Thomas Hutter lebt in offensichtlich platonischer Beziehung mit seiner jungen Frau Ellen zusammen. Anders ist kaum zu erklären, wie sie sich als ›unschuldige‹ Frau am Ende des Films dem Vampir hingeben kann, um ihre Heimatstadt von der Pest zu befreien. Bei seinem Besuch auf dem Schloss des Grafen in den Karpaten fällt Hutter ein Medaillon mit dem Porträtfoto seiner Frau aus der Tasche, das Orlok gierig betrachtet und feststellt: »Ihre Frau hat einen schönen Hals.« Hutter nimmt das Bild an sich und küsst es – allein in seinem Zimmer – zärtlich. Die Assoziationen bei ein und demselben Bild sind vollkommen unterschiedlich: Für den Vampir wird Ellens Abbild ein Objekt der Begierde, für den jungen Ehemann das reiner Liebe. Damit macht Murnau sehr geschickt ein gespaltenes Frauenbild in Hure und Mutter bzw. Schwester filmisch evident. Orlok reist – angezogen von der schönen Frau Hutters bzw. deren schönem Hals – überstürzt nach Wisborg, und Hutter folgt ihm, um seine Frau zu beschützen. Die Fotografie Ellens ist Ursache für die Reaktion Orloks, bestimmt den Fortgang der Handlung, weist schon auf das Ende des Films hin und deutet die metatextuelle Ebene an. Erwähnenswert erscheint, dass Murnau die Handlung des Romans in das Jahr 1838 verlegt,22 in das Jahr vor der Erfindung der Daguerreotypie. Seinen Erfolgsfilm Dr. Mabuse, der Spieler eröffnet Fritz Lang mit Fotografien.23 Die Titel- und Hauptfigur nimmt Porträtaufnahmen von einem Stapel und fächert sie in ihrer Hand auf wie Spielkarten. Mabuse mischt sie, nimmt eine verdeckte Fotografie heraus und übergibt sie seinem Maskenbildner. In den folgenden Einstellungen wird dann offensichtlich, dass jedes Foto eine Maske zeigt, in welcher der Psychoanalytiker im Verlauf des Films seine kriminellen Handlungen durchführen wird. Die erstarrten Abbilder Mabuses werden im Laufe der Geschichte zum Leben erweckt, beginnen sich zu bewegen und bestimmen den Fortgang der Handlung und das Schicksal der Menschen, die ihnen begegnen. Bereits am 21 22

23

Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens. Regie: Friedrich Wilhelm Murnau, 1921. Der Film beginnt mit dem Zwischentitel: »Aufzeichnung über das große Sterben in Wisborg anno Domini 1838«. Dr. Mabuse, der Spieler. Regie: Fritz Lang, 1921/1922.

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Abb. 1: Die Masken des Dr. Mabuse in Fotografien

Anfang weist Fritz Lang so auf die Metaebene des Mabuse-Films hin: das Trügerische des Sichtbaren und die Magie des Blicks. Nicht ohne Grund ist der Psychoanalytiker Mabuse ein Meister der Hypnose. Im zweiten Teil des Films veranschaulicht Fritz Lang dies durch eine Massensuggestion, die er als Film im Film inszeniert. Der Film Dr. Mabuse, der Spieler ist nicht nur ein faszinierendes Bild der Zeit, wie alle zeitgenössischen Kritiken beinahe enthusiastisch hervorheben. Er ist auch ein Hinweis auf das Potential des Kinos, die Zuschauer in seinen Bann zu ziehen, wie auch eine Andeutung des Trügerischen, das sich im vordergründig Sichtbaren verbergen kann. Auf dieser filmischen Metaebene spielt der Film zugleich auf zeitgenössische Diskussionen innerhalb der Psychologie an, die sich mit dem hypnotischen Potential des Films befassen.24 24

So zum Beispiel: Robert Gaupp: »Der Kinematograph vom medizinischen und psychologischen Standpunkt« In: Robert Gaupp, Konrad Lange: Der Kinematograph als Volksunterhaltungsmittel. München 1912, S. 1–12; Albert Hellwig: »Illusio-

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Abb. 2: Die Miniaturkamera des Agenten

Leitet Fritz Lang seinen Mabuse-Film mit Fotografien ein und gibt damit bereits einen wichtigen Hinweis auf ein zentrales Thema des Films, so variiert und intensiviert er dieses Thema in dem Kriminalfilm Spione,25 der in seiner Thematik der des Dr. Mabuse ähnlich ist. Fotografie erfüllt in Spione eine filmästhetisch bedeutsame dramaturgische, strukturierende und metatextuelle Funktion. Wie auch in Mabuse ist ein wesentliches Sujet das der Sichtbarkeit, ein weiteres das der Referenzialität des Bildes. Schon in der Eingangssequenz wird das Thema Fotografie in Form einer Miniaturkamera eingeführt, die ostentativ von zwei Händen ins Bild gehalten wird.

25

nen und Halluzinationen bei kinematographischen Vorführungen«. In: Zeitschrift für pädagogische Psychologie, Pathologie und Hygiene, 5/1914, S. 37–40; Walter Pahl: Die psychologischen Wirkungen des Films unter besonderer Berücksichtigung ihrer sozialpsychologischen Bedeutung. Leipzig 1926. – Zu diesem Themenbereich vgl. vor allem: Stefan Andriopoulos: Besessene Körper. Hypnose, Körperschaften und die Erfindung des Kinos. München 2000. Spione. Regie: Fritz Lang, 1928.

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Abb. 3: Die Masken des Agenten 326

Abb. 4: Der demaskierte Syndikatschef Haghi

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Abb. 5: Ein Opfer der Spione

Abb. 6: Matsumotos Foto: Objekt der Begierde Kittys

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Abb. 7: Unbekannte Opiumsüchtige neben Lady Leslane

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Abb. 8: Bitte recht freundlich: Das filmische Standbild als Foto

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Diese wird einem Agenten abgenommen, der bislang unerkannt innerhalb des Geheimdienstes als ›Maulwurf‹ für eine Verbrecherorganisation tätig war. Der Film bezieht seine Spannung daraus, dass die beiden Kontrahenten – der von Willy Fritsch gespielte Agent 326 und Syndikatschef Haghi – sich erst am Ende des Films begegnen und füreinander bis zu diesem Zeitpunkt quasi nicht sichtbar sind. Haghi kennt 326 nur über Fotos, die jedoch nicht die wahre Identität des Agenten zeigen. Sie offenbaren lediglich dessen Maskerade. Wenn am Ende des Films die Fahndungsfotos veröffentlicht werden, der Verbrecher Haghi endlich ein Gesicht bekommt, ist die Aufklärung dennoch nur eine scheinbare. Denn der Zuschauer wird ebenso wie Agent 326 nicht erfahren, welche Beweggründe sich hinter dem Gesicht verbergen. Er bleibt für den Geheimdienst wie für das Publikum anonym. Nicht ohne Grund stirbt der Verbrecher am Ende in der Maske eines Clowns, mithin ohne Identität. Die bislang den Spionen zum Opfer gefallenen Agenten sind in einem Fotoband verewigt. Fotografie erscheint hier als Träger visueller Erinnerung, die jedoch nicht eigenständig, sondern – ganz im Sinne Kracauers und Benjamins – nur durch ihre Bildunterschrift ihre Bedeutung erhält und bewahrt. Wie auch in Nosferatu werden Fotografien in Spione mit jeweils konträren Konnotationen belegt. Ist das Foto von Agent 326 für den Chef der Organisation das Objekt für einen Mordauftrag, so wird es für die russische Agentin Barranikowa im Laufe der Handlung vom Objekt des Spotts zum Abbild ihres Geliebten. Kitty dient das Porträt des japanischen Agenten Matsumoto nicht nur zur Identifikation. In ihrer Reaktion auf das Foto wird bereits deutlich, dass der Japaner auch zum Objekt und Opfer ihrer erotischen Phantasien wird. Lady Leslane wird vom Kopf der Verbrecherorganisation mit einem Foto erpresst, das sie im Opiumrausch zeigt. Lang setzt hier zwei Mal das Foto einer Opiumsüchtigen, auf dem nur undeutlich Lady Leslane identifizierbar ist, ihrem filmischen Bild entgegen. Das schon abgenutzt aussehende Foto dient der Einleitung einer Rückblende und stigmatisiert die Erpresste gleichzeitig als verruchte Opiumsüchtige mit einem Bild, wie es in der Weimarer Republik schon beinahe zum fotografischen Fundus gehörte. Die Welt des Sichtbaren ist sowohl für die Protagonisten in Spione als auch für den Zuschauer trügerisch. Den illusionären Charakter des vermeintlich Realen thematisiert Lang immer wieder durch den Einsatz von Fotografien und spiegelt diese Thematik auch in den Bereich des filmischen Bildes.

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In den bisher besprochenen Filmen hatten wir es mit Fotografien zu tun, die durch ihre Rahmung eindeutig zu identifizieren waren und sich somit auch vom filmischen Bild abhoben, mithin als eigenständig oder zitierend ausgewiesen waren. Dem Rahmen kommt nach Georg Simmel bei einem Kunstwerk eine doppelte Funktion zu: es nach außen hin abzugrenzen und nach innen zusammenzuschließen. Ein Rahmen »schließt alle Umgebung und also auch den Betrachter vom Kunstwerk aus und hilft dadurch, es in die Distanz zu stellen, in der allein es ästhetisch genießbar wird«.26 Die folgenden Beispiele illustrieren Verfahren, die den Rahmen im doppelten Sinne sprengen und somit die Grenze zwischen Film und Fotografie aufheben. In seinem Dokumentarfilm Berlin. Die Sinfonie der Großstadt zeigt Walter Ruttmann 24 Stunden im Leben der Hauptstadt.27 Der Film beginnt mit einer rasanten Zugfahrt entlang von Vororten und Schrebergärten in die Metropole. Dieser filmische Einstieg erhält sein enormes Tempo durch schnelle Schnitte, die auf den Zug montierte Kamera und die rhythmische Musik Edmund Meisels. In Berlin angekommen verlangsamt sich das Tempo und stagniert schließlich in Standbildern, die auch als rahmenlose Fotografien wahrgenommen werden können. Langsam kommt dann – im wahrsten Sinne des Wortes – Bewegung in die Bilder: Die Stadt erwacht, und ihre Bewohner beginnen sich durch die Bilder zu bewegen. ›Filmisch‹ ist dann wiederum die Darstellung der beginnenden Produktion und des Alltagslebens in Berlin. Dieser Kontrast zwischen starrem Bild, also Fotografie, und der Darstellung von wiedergegebener Bewegung im filmischen Bild kann letztlich auch als Hinweis auf die Grenzen der Fotografie und die Möglichkeiten des Films gesehen werden. Als Höhe- und zugleich Endpunkt in der ästhetischen Entwicklung des Stummfilms der Weimarer Republik kann der Avantgardefilm Menschen am Sonntag (1930) gelten.28 Gerade auch im Umgang mit den ästhetischen Verfahren von Fotografie und Film hat dieses Produkt der filmischen Neuen 26

27 28

Georg Simmel: »Der Bildrahmen. Ein ästhetischer Versuch«. In: ders.: Gesamtausgabe. Hrsg. v. Rüdiger Kramme, Angela Rammstedt und Otthein Rammstedt. Frankfurt am Main 1995, Bd. 7, S. 101–108, hier S. 101. Berlin. Die Sinfonie der Großstadt. Regie: Walther Ruttmann, 1927. Menschen am Sonntag. Regie: Robert Siodmak, Rochus Gliese, Edgar G. Ulmer, 1929/1930. Das junge Produktionsteam im Alter zwischen 23 und 29 Jahren sollte später Weltruhm erlangen: Das Buch stammte von dem 23-jährigen Billy Wilder nach einer Reportage von Curt Siodmak. Einzig der Kameramann war ein ausgewiesener Profi: Eugen Schüfftan, Jahrgang 1893, ihm assistierte der 22-jährige Fred Zinnemann.

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Sachlichkeit Maßstäbe gesetzt.29 An einem Samstag lernen sich am Bahnhof Zoo der Weinvertreter Wolf und das Mannequin Christel kennen. Sie verabreden sich für den nächsten Tag zu einem Ausflug an den Nikolassee. Christel will ihre Freundin, die Grammophon-Verkäuferin Brigitte, mitbringen. Zur gleichen Zeit bittet Anni ihren Freund, den Taxifahrer Erwin, am Abend mit ihr ins Kino zu gehen. Man spiele einen Film mit Greta Garbo, Erwins Lieblingsschauspielerin. Während sich beide für den Kinogang schick machen, kommt es zu ersten Sticheleien. Erwin seift ein Starfoto von Annis Lieblingsschauspieler Willy Fritsch mit Rasierschaum ein, daraufhin bearbeitet Anni ein Porträt von Erwins Schwarm Greta Garbo mit der Brennschere. Nach einer Diskussion über die Art und Weise, wie Anni ihre Hutkrempe tragen solle, fällt der Kinogang aus und beide reißen die Fotos der Schauspieler-Galerie im Wohnzimmer herunter. Diese Szene weist in metaphorischer Form auf die Konzeption des Films hin. Menschen am Sonntag will ganz bewusst einen Bruch mit dem trivialen Star-Kino der damaligen Zeit auf der konzeptionellen wie visuellen Ebene vollziehen. Nicht nur, indem konsequent Laiendarsteller eingesetzt werden, sondern indem auch auf bildlicher Ebene die gerahmten Schauspielerporträts vernichtet werden. Der Film erzählt keine reißerische Story, sondern schildert den ganz unspektakulären Sonntag von vier jungen Leuten am Nikolassee, ihre Beziehungen zueinander, ihre Verliebtheit und die empfundene Enttäuschung über nicht erfüllte Wünsche. Menschen am Sonntag »lebt weniger von seiner Geschichte als von der Atmosphäre, dem auf kleine Details achtenden Kamerastil, der Gestik und Mimik und der leisen Ironie, die dadurch zustande kommt, dass der Film die Grenze zwischen wirklichkeitsnahem Dokumentarfilm und Fiktion verwischt«.30 In Menschen am Sonntag ist nun eine äußerst interessante Variante beim Einsatz von Fotografien zu beobachten. In den bis hierhin erwähnten Filmen waren Fotos in gerahmter Form zu sehen und dadurch vom filmischen Kontext visuell abgegrenzt. In der Austernprinzessin beispielsweise sind die Bilder wie in einer Galerie an der Wand befestigt. Ellens Bild in Nosferatu ist in ein Medaillon gefasst, und die Fotos von Mabuse haben – wie damals in der Schwarz-Weiß-Fotografie üblich – einen weißen Rahmen. Auch sind sie als 29

30

Vgl. dazu auch: Norbert M. Schmitz: »Zwischen ›Neuem Sehen‹ und ›Neuer Sachlichkeit‹. Der Einfluß der Kunstphotographie auf den Film der zwanziger Jahre«. In: Gleißende Schatten. Kamerapioniere der zwanziger Jahre. Hrsg. v. Cinema Quadrat e.V., Mannheim. Berlin 1994, S. 79–94. Anton Kaes: »Film in der Weimarer Republik. Motor der Moderne.« In: Wolfgang Jacobsen, Anton Kaes, Hans Helmut Prinzler (Hrsg.): Geschichte des deutschen Films. Stuttgart 22004, S. 39–98, hier S. 64.

Strategien der Sichtbarkeit

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eigenständige Bilder definiert und vom filmischen Kontext abgehoben. In Sinfonie der Großstadt durchbricht Walter Ruttmann die Rahmung, die Bewegung vollzieht sich mit dem erwachenden Berlin dann in den Aufnahmen, es kommt also Bewegung in die Bilder. In Menschen am Sonntag setzen die Filmemacher an zentraler Stelle ein ganz anderes, innovatives Verfahren ein. Ein Fotograf macht Porträtfotos der Badegäste. Die Sequenz wird eingeleitet durch einen Zwischentitel – »Bitte recht freundlich« – und beendet mit einem »Dankeschön«. Ist damit die Szene insgesamt textlich gerahmt, so sind es die Bilder aber nicht. Zunächst zeigt ein establishing shot einen Fotografen, der die Besucher des Wannsees porträtiert. Die Bilder sind als Großaufnahmen kadriert und werden dann zur visuellen Markierung des Vorgangs des Fotografierens für kurze Zeit eingefroren und leicht überbelichtet – wohl um ein Negativ anzudeuten – projiziert. Insgesamt sehen wir zehn Porträts, die in Standbilder übergehen. Nachdem uns dann zweimal der Kameramann zugelächelt hat, verfährt der Film nun bei zwei Porträtaufnahmen umgekehrt: Die Bewegung entsteht jeweils aus dem Standbild heraus. Dann folgen insgesamt 24 Großaufnahmen in beinahe sekündlichem Abstand (insgesamt 26 Sekunden), ohne jetzt in ein Standbild überzugehen. Diesen gerade in der Natürlichkeit der dargestellten Menschen äußerst eindringlichen Bildern setzen die Filmemacher abschließend acht Studio-Porträtaufnahmen gegenüber, die sich durch ihre Künstlichkeit deutlich von den vorherigen Bildern abheben. Jeder Filmemacher weiß, dass durch die Projektion von Gesichtern in Großaufnahmen intensive emotionale Erregung, bis hin zum Schock, ausgelöst werden kann. Auch für die Fotografie konstatierte André Bazin, dass ihre größte Bedeutung darin liege, dass sie einem »fundamentalen Bedürfnis der menschlichen Psyche« entgegenkomme, nämlich, »den Menschen durch sein Abbild zu retten«, vor der Vergänglichkeit und dem Vergessen. Und Wim Wenders bemerkte: »Die Kamera ist die Waffe gegen das Elend der Dinge, nämlich gegen ihr Verschwinden.«31 In keinem Film der Weimarer Republik wurde so deutlich und kreativ mit filmischen und fotografischen Motiven und deren Ausdrucksmöglichkeiten gespielt wie in Menschen am Sonntag. Die Auseinandersetzung mit der Bildästhetik wird explizit zum Thema gemacht. Fotografie im Stummfilm der Weimarer Republik impliziert eine visuelle und thematische Reflexion der technischen Besonderheiten und ästhetischen Möglichkeiten beider Medienformen. Wir haben es hier mit einem oft übersehenen Feld visueller Inter31

Wim Wenders: Die Logik der Bilder. Essays und Gespräche. Hrsg. v. Michael Titeberg. Frankfurt am Main 1988, S. 10.

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Abb. 9: Bitte recht freundlich: Das filmische Standbild als Foto

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medialität zu tun. Ist die Fotografie anfänglich – insbesondere durch ihre Rahmung – als eigenständiges Medium abgegrenzt, so gehen beide Medien am Ende ineinander über, zitieren sich und verweisen aufeinander. In diesem intermedialen Wechselspiel und der Aufhebung medialer Grenzen liegen die Strategien der Sichtbarkeit des Stummfilms der Weimarer Republik.

(Selbst-)Reflexion

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Die Zeit des Bildes. Die Zeit der Schrift Fotografie und Autobiografie am Beispiel von Roland Barthes und Sophie Calle

I Die Beziehung von Fotografie und Autobiografie ist seit dem 20. Jahrhundert intensiv und facettenreich. Intermediale Zusammenführungen von Bild und Text wie in Walter Benjamins Berliner Kindheit um Neunzehnhundert oder Paul Austers The Invention of Solitude finden sich ebenso wie Formen verbaler Präsenz von Fotografien, die beschrieben oder von denen erzählt wird. Beispiele dafür sind Hervé Guiberts L’image fantôme oder Marguerite Duras’ L’Amant. Fotografien bilden aber auch ohne Textanbindung und in Kombination mit anderen Bildmedien autobiografische Erzählungen. In diesem Zusammenhang lassen sich die Arbeiten von Robert Frank, Nan Goldin und Christian Boltanski nennen. Für dieses produktive Verhältnis können verschiedene Gründe angeführt werden: Fotografie und Autobiografie verbindet eine bis in das 20. Jahrhundert gültige Einstufung als kunstlose Gebrauchsgattung. Erklärbar ist diese Zuordnung durch den nicht aufhebbaren referentiellen Charakter beider Formen, der lange als kunstwidrig galt. Gleichzeitig ist Fotografie und Autobiografie aufgrund dieser Referentialität ein diskursiv und ästhetisch ertragreiches Spannungsverhältnis zwischen Realität und Fiktion, Geschichte und Konstruktion, Kopie und Gestaltung eingeschrieben. Beide, Fotografie und Autobiografie, sind prädestiniert, die jedem Akt von Selbst- und Fremdreferentialisierung unterlegte Frage nach den medialen Bedingtheiten von Referentialität und Wirklichkeitsdarstellung auszutragen. Schließlich stärkt die Kombination von Fotografie und Autobiografie das im fotografischen Rezeptionsprozess produktive Verhältnis von Bild und Text. Schon William Henry Fox Talbot versucht in The Pencil of Nature (1844), das Fotografische des Bildes durch Narration und Deskription, durch die Entstehungsgeschichte und die Beschreibung raum-zeitlicher Koordinaten einzuholen: This view was taken from one of the upper windows of the Hotel de Douvres, situated at the corner of the Rue de la Paix. The spectator is looking to the Northeast. The time is the afternoon. The sun is just quitting the range of buildings

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Susanne Knaller adorned with columns: its façade is already in the shade, but a single shutter standing open projects far enough forward to catch a gleam of the sunshine. The weather is hot and dusty, and they have just been watering the road, which has produced two broad bands of shade upon it, which unite in the foreground, because, the road being partially under repair (as is seen from the two wheel-barrows, &c. &c.), the watering machines have been compelled to cross to the other side. By the roadside, a row of cittadines and cabriolets are waiting, and a single carriage stands in the distance a long way to the right. A whole forest of chimneys borders the horizon: for, the instrument chronicles whatever it sees, and certainly would delineate a chimney-pot or a chimney-sweeper with the same impartiality as it would the Apollo of Belvedere. The view is taken from a considerable height, as appears easily by observing the house on the right hand; the eye being necessarily on a level with that part of the building on which the horizontal lines or courses of stone appear parallel to the margin of the picture.1

Roland Barthes stellt sich ein gutes Jahrhundert später ebenfalls der Frage nach dem Verhältnis von fotografischem Bild und sprachlicher Semiosis. In Auseinandersetzung mit der Referentialisierungsfrage schreibt Barthes dem fotografischen Bild einen für die Schrift niemals möglichen Beglaubigungsgrad zu,2 hält aber gleichzeitig das Paradoxon seines die Beglaubigung der Fotografie authentisierenden Textes virulent, indem er in La chambre claire (1980) nicht auf rationale Beweisführung setzt, sondern auf eine affektive Simultaneität von fotografischem Bild und Diskurs, die er schon 1975 in seinem autobiografischen Essay Roland Barthes par Roland Barthes durch die Kombination von privaten Bildern und autobiografischem Gestus vorbereitet hatte. Jede Auseinandersetzung mit Fotografie und Autobiografie – sei sie theoretischer oder künstlerischer Natur – impliziert eine Diskussion über Realität und Medialität. Die Zusammenführung von Fotografie und Autobiografie bringt das, was Michel Foucault die historischen Formationen des Sichtbaren und Sagbaren nennt, die Schichtungen von Evidenzen und Diskursivitäten, von Wirklichkeit und Codes, von Realität, Körper und Kultur in ein komplexes Verhältnis.3 Diese diskursive und ästhetische Brisanz der Kombination von Fotografie und Autobiografie will ich im Folgenden anhand der Kategorie Zeit darlegen. 1

2

3

Mike Weaver (Hrsg.): Henry Fox Talbot. Selected Texts and Bibliography. Oxford 1992, S. 85f. Vgl. Roland Barthes: »La chambre claire. Note sur la photographie«. In: Ders.: Œuvres complètes. Hrsg. von Éric Marty. Bd. 3. 1974–1980. Paris 1995, S. 1105–1200, insbes. S. 1169. Vgl. für die dt. Übersetzung: Ders.: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie. Frankfurt am Main 1985, S. 96. Vgl. Michel Foucault: L’archéologie du savoir. Paris 1969. Vgl. auch Gilles Deleuze: Foucault. Paris 1986, S. 55f.

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II Dabei gehe ich von der These aus, dass fotografischer Sinn im temporalen Modus einer präsentischen Nachträglichkeit entsteht. Dieser Zeitstruktur ist ein Subjekt-Welt-Verhältnis eingeschrieben, das sich durch das vielfach diskutierte Paradoxon des Beobachters von Welt als gleichzeitig Teilnehmendem (an der Realität) beschreiben lässt. Welt ist das Ergebnis einer Differenzierung zwischen Beobachter und Beobachtetem, Selbst und Anderem. Teilnahme (In-der-Welt-Sein) wie Realitätsbegriff können daher nicht unmittelbar, sondern nur von höherstufigen Beobachtungsebenen erfasst werden. Im Falle der analogen Fotografie ist nun zu bedenken, dass hier das Verhältnis von Teilnahme, Beobachtung und Begriff zum einen durch den indexikalischen Charakter bedingt ist,4 zum anderen durch die dem fotografischen Akt inhärente Selbstreflexivität. Der Fotograf stellt sich der Wirklichkeit ebenso wie ihren Bildern bzw. Bildmöglichkeiten und der eigenen Wahrnehmung. Daher steht das fotografische Bild in einer prekären Spannung zwischen indexikalischer Aufzeichnung (Lichtspur) und Repräsenta4

Spätestens seit den 1980er Jahren, nach Barthes’ Insistenz auf der Indexikalität der Fotografie, bestimmt dieses Bildverständnis die Theorie. Rosalind Krauss erklärt, »[e]very photograph is the result of a physical imprint transferred by light reflections onto a sensitive surface. The photograph is thus a type of icon, or visual likeness, which bears an indexical relationship to its object« (Rosalind Krauss: »Notes on the Index«. In: Dies.: The Originality of the Avant-garde and Other Modernist Myths. Cambridge, MA 1985, S. 196–219, hier S. 203). Für Bernd Busch ist Fotografie die »technologische Verknüpfung des optischen Prinzips der perspektivischen Wahrnehmungsweise mit dem chemischen Aufzeichnungsverfahren der empfindlichen fotografischen Schicht« (Bernd Busch: Belichtete Welt. München 1989, S. 11). Und für Philippe Dubois schließlich gibt es ohne Referenten keine Fotografie. Dubois erkennt nach einer ersten Phase, in der die Fotografie als Mimesis, als Spiegel des Wirklichen definiert wurde, und nach einer zweiten Phase der Codes und der Dekonstruktion, in der mimetische Verhältnisse von Wirklichkeit und Bild nur als Effekte und Konstruktion verstanden wurden, eine dritte Phase, in welcher der Diskurs des Index und der Referenz dominiert. Die Theorie kehrt nach ihrem wichtigen poststrukturalistischen Durchlauf wieder zur Frage des »referentiellen Realismus« zurück (vgl. Philippe Dubois: Der fotografische Akt. Amsterdam, Dresden 1998, S. 17–45). Damit liegt der Sinn der Fotografien jedoch nicht in ihnen selbst. Das indexikalische Zeichen ist eine kontingente Spur, die gelesen und gedeutet werden muss. Authentische Bilder sind, wie Wortmann darlegt, eben nicht der Welt entrissene Fundstücke, sondern »Wirklichkeitsbilder«, in denen Erfahrungen und Diskurse als (objektives) Bild der Welt gespiegelt wiedergefunden werden (vgl. Volker Wortmann: »Was wissen Bilder schon über die Welt, die sie bedeuten sollen? Sieben Anmerkungen zur Ikonographie des Authentischen«. In: Susanne Knaller, Harro Müller [Hrsg.]: Authentizität. Diskussion eines ästhetischen Begriffs. München 2006, S. 163–184, hier S. 180).

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tion von Wahrnehmung, Wirklichkeit und Begriff. Dadurch umfasst die Rezeption des fotografischen Bildes die des Aufgezeichneten (Realitätsspur) ebenso wie die der zweiten Beobachtungsebene (d. h. Weltformierung und Begriffsbildung). Diskursiv und ästhetisch produktiv wird diese Struktur, wenn die Simultaneität von Wahrnehmung und Welt zur Disposition gestellt und das Verhältnis von Realität und Beobachtung variabel und stets neu bestimmbar gedacht wird. Deshalb liegt das Faszinosum der Fotografie nicht nur in der Evidenzierung des Abgebildeten oder in ihrer Kontingenz (ihre nicht-selektive Direktheit, die konstruktiven Möglichkeiten durch Details und nur durch sie mögliche Ansichten),5 sondern auch, und dafür sind Barthes’ Arbeiten zur Fotografie ein Beispiel, in ihrer diskursiven Kraft. Das Foto ist objektiv-aufzeichnendes, wahrnehmungsreflexives und diskursives Bild.6 Vor allem die Definition der Fotografie als strikt objektabbildendes, dokumentarisches Bild wird damit außer Kraft gesetzt. Das lässt sich an Talbot verdeutlichen, der sich zwischen apparativem Aufzeichnen, Wahrnehmen und aktivem Gestalten positioniert. Das fotografierende Subjekt und das fotografierte Objekt gehen nicht auf in einer Synthese von Aufzeichnen, Wahrnehmen und Welt, Medialität wird nicht neutralisiert, sondern bewusst als Qualität des Bildes verstanden. In der Folge wird das fotografische Bild 5

6

Das fotografische Bild gibt Aspekte frei, die mit freiem Auge, im alltäglichen Wahrnehmungsvorgang verborgen geblieben wären. Wie die frühen Theoretiker zeigen, provoziert die Fotografie geradezu den Gebrauch von Lupen und später Detailvergrößerungen. Samuel Morse stellt nach einem Blick durch ein Vergrößerungsglas fest: »The effect of the lens upon the picture was in a great degree like that of a telescope in nature« (Samuel Morse, Brief vom 9. 3. 1839, zit. nach André Gunthert: »Ein kleiner Strohhalm oder Die Geburt des Photographischen«. In: Oliver Fahle (Hrsg.): Störzeichen. Das Bild angesichts des Realen. Weimar 2003, S. 15–22, hier S. 17). Morses Vergleich verweist auf den wissenschaftlich-objektiven Enthüllungscharakter des Bildes ebenso wie auf die Anwesenheit von während des raschen Aufnahmevorgangs vom Fotografen nicht vollständig kontrollierbaren Spuren. Die Fotografie hält in ihrer Gleichzeitigkeit von Präsens (die indexikalische Spur) und Präteritum (die Nachträglichkeit der Wahrnehmungsform und des Bildes) Erfahren, Erfahrendes und Beobachtung fest, was sich in der Aporie von Barthes’ Gleichzeitigkeit von Denotation (Codelosigkeit durch Analogie) und Beschreibung (Kodifizierung und Konnotierung) ausdrücken lässt (vgl. Roland Barthes: »Le message photographique« und »Rhétorique de l’image«. In: Ders.: L’obvie et l’obtus. Essais critiques III. Paris 1982, S. 9–24, hier S. 11f., bzw. S. 25–42, hier S. 34f. Vgl. für die dt. Übersetzung: Roland Barthes: »Die Fotografie als Botschaft« und »Rhetorik des Bildes«. In: Ders.: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Kritische Essays III. Frankfurt am Main 1990, S. 11–27, hier S. 13f., bzw. S. 28–46, hier S. 38f.).

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auch zur Mimesis (Darstellung) des Sehens.7 Mit seiner Auffassung vom aufzeichnenden und zu beschreibenden fotografischen Bild verdeutlicht Talbot wiederum die Tatsache, dass die Fotografie zum Text-Bild wird: Sie ist Innehalten und Isolation eines Augenblicks. Sie desintegriert Zusammenhänge in Ausschnitte, ist Dekontextualisierung und Fragmentierung der Situation:8 Die Natur bildet sich zwar in der Auffassung Talbots selbst ab, der Apparat ist mechanisch aufzeichnend, nicht selektiv, aber das Bild muss als Bild bewusst werden, um seine Funktion zu erlangen. Dazu Bernd Busch: Der Zwang zur sprachlichen Verarbeitung gründet geradezu in der aufgebrochenen Kluft zwischen der fotografischen Zeit der Fixierung und der Zeit der Wahrnehmung, der vergangenen des Motivs wie der nachträglichen des Bildes. Als Gegenstand des Wahrnehmungssinns bedarf die Evidenz des Bildes der Beschreibung, um sich aus der Ferne, in der sie versunken ist, zu lösen.9

Die hier zitierte Evidenz hat jedoch, wie Rüdiger Campe zeigen kann, »mit der Zuweisung von Repräsentation oder ihrer Annehmbarkeit durch Menschen zu tun«.10 Evidenz unterliegt daher auch in ihrer Definition als unmittelbarer Gewissheit dem jeweiligen Verfahren der Evidenzgewinnung und -zuschreibung.11 Besonders augenscheinlich wird diese Verfahrensabhängigkeit in der Rhetorik, wo Evidenz sogar eine fiktive Struktur zugeschrieben wird, insofern als Augenscheinlichkeit selbst dort erzeugt werden kann, wo keine ist. Evidenz ist dann das Resultat rhetorischer und argumentativer Verfahren in Erzählungen, Beschreibungen, Erklärungen usw. und kann in der 7

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10

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Vgl. Susanne Knaller: Ein Wort aus der Fremde. Geschichte und Theorie des Begriffs Authentizität. Heidelberg 2007, S. 85f. Vgl. Irene Albers: Photographische Momente bei Claude Simon. Würzburg 2002, S. 139. Bernd Busch: »Fotografie/fotografisch«. In: Karlheinz Barck, Martin Fontius, Dieter Schlenstedt, Burkhart Steinwachs und Friedrich Wolfzettel (Hrsg.): Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 2. Stuttgart, Weimar 2001, S. 494–550, hier S. 501. Rüdiger Campe: »Evidenz als Verfahren. Skizze eines kulturwissenschaftlichen Konzepts«. In: Uwe Fleckner, Wolfgang Kemp, Gert Mattenklott (Hrsg.): Vorträge aus dem Warburg-Haus, Bd. 8. Berlin 2004, S. 107–133, hier S. 108. Vgl. auch Ansgar Kemmann: »Evidentia, Evidenz«. In: Gert Ueding (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 3. Tübingen 1996, S. 33–47. Vgl. Campe: »Evidenz als Verfahren«, S. 110: »Evidenz – die sogenannte metaphysische oder mathematische Evidenz – bezeichnete den Anspruch auf die Unmittelbarkeit ihrer Einlösung, was die Einigkeit und Selbstigkeit von Evidenz einschloß. Andererseits gab es Herstellungsverfahren von Evidenz in der Rhetorik und der Ästhetik, was die Einheit der Evidenz wieder ausschloß. Und darüber hinaus sprachen z. B. das Recht, die Naturwissenschaft und die Geschichte von (historischen oder moralischen) Evidenzen in jeweils unterschiedlichen Weisen.« Vgl. auch Kemmann: »Evidentia, Evidenz«, S. 39.

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Folge auch explizit als Ergebnis dieses operativen Vorgehens auftreten. Es ist daher stets zu fragen, um welche Evidenzen es sich jeweils handelt, für die Figuren, Tropen oder Bilder eingesetzt werden. Wird das Bild realitätsabbildend aufgefasst, ist Fotografie wirklichkeitsbeglaubigend, authentifizierend und selbst-evidentiell und schließt zwei mögliche Effekte explizit selbstreflexiver Evidenzbildung aus: den Verweis auf das Paradoxon von Welt und Beobachtung und affektbildende Kontingenz.12 Die Fotografie und die autobiografische Form potenzieren in ihrer wechselseitigen Kombination beide Möglichkeiten von Evidenz.13 Die Autobiografie lässt sich als eine besondere Form von Selbsthistorisierung oder Selbstevidenzierung verstehen, die sich dem Beobachtungsparadoxon, der Differenz zwischen Teilnahme, Beobachtung und Begriff über einen narrativen Ich-Modus stellt. Sie kann dadurch die in der Fotografie problematisierte Referenzbildung auch im Hinblick auf die jeder Referentialisierung stets vorausgehende Ich-Bildung semiotisch behandeln. Die zuvor dargelegten, im selbstreflexiven Gestus der Fotografie anschaulich werdenden Verhältnisse von Wahrnehmung und Welt ergänzt die autobiografische Form durch die ihr inhärente Problematik von Geschichte (des Selbst, also das Problem der Faktizität) und Poesis (die Fiktionalisierung des Ich durch Semiosis). Diskutiert werden oder ästhetisch zur Darstellung gelangen damit auch wichtige Sinnbildungsverfahren der Moderne, im Besonderen Selbstreflexivität und Empirie. Wie im Falle der Fotografie handelt es sich dabei um komplexe temporale Strukturierungen von Nachträglichkeit, die sich mit Paul Ricoeur kurz darstellen lassen. In Le temps raconté (Die erzählte Zeit) geht Ricoeur von der Unmöglichkeit strenger Überführbarkeit von Erleben (also der phänomenologischen Zeit des Erlebens) und Abstraktion (der Zeitachse von Vergan12

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Vgl. zum Evidenzbegriff auch Ludwig Jäger: »Schauplätze der Evidenz. Evidenzverfahren und kulturelle Semantik. Eine Skizze«. In: Michael Cuntz, Barbara Nitsche, Isabell Otto, Marc Spagniol (Hrsg.): Die Listen der Evidenz. Köln 2006, S. 37–52. Bei Barthes führt das in eine Form von Konvergenz, die Campe auch im aufklärerischen Optimismus Johann Heinrich Lamberts im 18. Jahrhundert erkennen kann. Lambert würde deutlich sehen, dass das optisch-geometrische Modell das Modell für Evidenz ist, aber eben nur ein Modell, übertragbar auf andere Evidenzfelder. Gerade Lamberts ästhetische Beispiele (die Perspektive, die Guckkastenbühne) verbinden Optik und Geometrie mit Fremdwahrnehmung und Erinnerungsleistung und lassen zu dem Schluss führen, dass »bei Lambert das Modell der Evidenz, die ›Zeichnung des Scheins‹, nur eine Metafigur – eine Formel für die Spannung zwischen der einen Evidenz und ihren vielen Verfahren« ist (Campe: »Evidenz als Verfahren«, S. 132).

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genheit, Gegenwart und Zukunft) aus. Die damit verbundene Aporetik der Zeit kann mithilfe von historischen Prozeduren wie Kalender, Archiv, Dokument usw. (eine Einschreibung der phänomenologischen Zeit in die Zeitachse) verdeckt oder gezeigt werden. So legt ein explizites Inbezugsetzen von Aporie und historischen Prozeduren, etwa durch Offenlegung des Verbundes von Geschichte und Fiktion, den gemeinhin für die mimetische Poetik oder die realistische Episteme akzeptierten Modus der Repräsentanz als einen dar, der sein paradoxales Verhältnis zur ›wirklichen‹ Vergangenheit zwar kaschieren, aber nicht aufheben kann.14 Sophie Calle z. B. führt diese Konfrontation von Aporie der Zeit und historischen Verfahren in höchster Ironie vor, wenn sie in Douleur exquise (2003) Chronik und Dokumentation einer unglücklichen Liebe in die buchstäbliche Auslöschung der Erzählung münden lässt und damit die diese Geschichte illustrierende Fotografie eines Hotelzimmers zum leeren Bildrest degradiert. Gestärkt wird mit dem Einsatz der Fotografie nicht die Vorstellung von einer authentischen Dokumentation des Lebens, sondern die Annahme einer stets neuen Umschreibbarkeit der Geschichte. Bei Roland Barthes wiederum zeigt sich die Spannung zwischen Referenz und Poesis, indem er in seiner Diskussion des Verhältnisses von Zeichen und Wirklichkeit diskursive und literarische Strategien gleichzeitig führt. Die von Barthes gewählte autobiografische Form erlaubt es ihm, Selbst- und Fremdreferenz simultan und damit einen pathetischen Modus bereitzuhalten, mit dem seine Theorie der Fotografie nicht im rationalen Diskurs aufgeht. In der Folge stellt die gewählte autobiografische Form auch eine Möglichkeit der Auseinandersetzung mit Referenz und Darstellung von Referentialität dar. Die Fotografie ist dabei nicht nur zu definierendes Objekt, sondern dient auch als Mittlerin und als Vergleich/Figur für einen postsemiotischen Realismus. Sowohl in Calles intermedialen Arbeiten als auch in Barthes’ Schriften wird die temporale Struktur der Nachträglichkeit – im Falle der Fotografie durch den indexikalischen Charakter, in dem der Autobiografie durch die Selbstbeobachtungsstruktur markiert – diskursiv und ästhetisch produktiv. Diese Verfahren will ich im Folgenden skizzieren und mit einigen Überlegungen zu Roland Barthes par Roland Barthes und La chambre claire beginnen.

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Vgl. Paul Ricoeur: Temps et récit. Tome III: Le temps raconté. Paris 1985, S. 181–185. Vgl. für die dt. Übersetzung: Ders.: Zeit und Erzählung. Band III: Die erzählte Zeit. München 1991, S. 159–162.

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III Auslöser für La chambre claire ist ein Gedanke, der Roland Barthes anlässlich einer Fotografie des jüngsten Bruders von Napoleon, Jérôme, aus dem Jahr 1852 nicht mehr loslässt: Ich sehe die Augen, die den Kaiser gesehen haben – eine Erkenntnis, die aber niemanden zu interessieren scheint. Klarheit über dieses Interesse erhält Barthes erst beim Anblick einer Fotografie seiner verstorbenen Mutter, eines Kinderfotos, das für Barthes aufgrund seiner affektiven Aufgeladenheit in Evidenz bringt, was ein Sein einmalig und unwiederholbar ausgemacht hat.15 Diese Wahrheit ist für Barthes eine Wahrheit der Zeit, des In-der-Zeit-Seins: Le nom du noème de la Photographie sera donc: »Ça-a-été«, ou encore: l’Intraitable. […] L’important, c’est que la photo possède une force constative, et que le constatif de la Photographie porte, non sur l’objet, mais sur le temps. D’un point de vue phénoménologique, dans la Photographie, le pouvoir d’authentification prime le pouvoir de représentation.16

Schon in Barthes’ strukturalistischer und semiotischer Phase steht seine Haltung zum Verhältnis von Realität, Sprache und fotografischem Bild als temporales Problem zur Diskussion. Der treibende Mittelpunkt der sprachlichen Zeit, so Barthes in »Écrire, verbe intransitif ?«, ist immer das Präsens der Äußerung. Jedoch sei zu bedenken, dass das Präsens des Sprechers von dem des Sprechens zu unterscheiden ist: Das Ich der Aussage ist nicht identisch mit dem Ich des Ausgesagten. Behält man diese Differenzen im Auge, gelangen im Präsens der Äußerung Ereignis und Schreiben nicht mehr zur Deckung, es entsteht eine Differenz von Leben und Diskurs. Das Präsens, das Barthes interessiert, ist das Präsens des Sprechens, das keine begriffliche oder rhetorische Fusion des Vorgängigen im Akt bewirken soll, sondern eine Nachträglichkeit, die Einmaligkeit (des Ereignisses, des Individuums) und Allgemeinheit (des Diskursiven, der sprachlichen Handlung selbst) simultan hält. Es ist das Foto, das diese Zeitstruktur aufweist, sich aber ohne den Diskurs nicht äußert oder seinen Referenten frei lässt.17 15

16

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Vgl. Barthes: La chambre claire, S. 1188. Vgl. für die dt. Übersetzung: Ders.: Die helle Kammer, S. 124. Ebd., S. 1163 und 1170. »Der Name des Noemas der Photographie sei also: ›Esist-so-gewesen‹ oder auch: das Unveränderliche. […] Wichtig ist, daß das photographische Bild eine bestätigende Kraft besitzt und daß die Zeugenschaft der Photographie sich nicht auf das Objekt, sondern auf die Zeit bezieht. Phänomenologisch gesehen, hat in der Photographie das Bestätigungsvermögen den Vorrang vor der Fähigkeit zur Wiedergabe« (Barthes: Die helle Kammer, S. 87, 97). Vgl. Roland Barthes: »Écrire, verbe intransitif ?«. In: Ders.: Le Bruissement de la langue. Essais critiques IV. Paris 1984, S. 21–32, hier S. 24. Vgl. für die dt. Überset-

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Barthes’ Autobiografie Roland Barthes par Roland Barthes besteht daher aus einem Album mit Fotografien und Legenden und einem fragmenthaften, nicht-chronologischen essayistischen Teil in der ersten und dritten Person. Das Foto ist kongenialer Ausdruck einer Zeit jenseits und vor der Schrift. Embrassant tout le champ parental, l’imagerie agit comme un médium et me met en rapport avec le »ça« de mon corps; elle suscite en moi une sorte de rêve obtus, dont les unités sont les dents, des cheveux, un nez, une maigreur, des jambes à longs bas, qui ne m’appartiennent pas, sans pourtant appartenir à personne d’autre qu’à moi: me voici dès lors en état d’inquiétante familiarité: je vois la fissure du sujet (cela même dont il ne peut rien dire). […] L’imaginaire d’images sera donc arrêté à l’entrée dans la vie productive […]. Un autre imaginaire s’avancera alors: celui de l’écriture. Et pour que cet imaginaire-là puisse se déployer (car telle est l’intention de ce livre) sans être jamais retenu, assuré, justifié par la représentation d’un individu civil, pour qu’il soit libre de ses signes propres, jamais figuratifs, le texte suivra sans images, sinon celles de la main qui trace.18

Jedoch entsteht das Album nachträglich, nach dem Text, und reflektiert damit nicht nur die autobiografische Diskontinuität zwischen Erfahrung und Begriff, sondern widerspricht auch Barthes’ proklamierter Trennung von Bild und Schrift.19 Es ist diese Zusammenführung der sogenannten Imagi-

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zung: Roland Barthes: »Schreiben, ein intransitives Verb?«. In: Ders.: Das Rauschen der Sprache. Kritische Essays IV. Frankfurt am Main 2006, S. 18–28, hier S. 21. Roland Barthes: »Roland Barthes par Roland Barthes«. In: Ders.: Œuvres complètes, S. 79–250, o. S.: »Die Bilderreihe wirkt wie ein Medium und bringt mich in Beziehung zu dem ›Es‹ meines Körpers; sie weckt in mir so etwas wie einen dumpfen Traum, dessen Einheiten die Zähne sind, die Haare, eine Nase, Magerkeit, Beine mit Kniestrümpfen, die nicht zu mir und doch niemandem anders als mir gehören: so befinde ich mich nun in einem Zustand beunruhigender Vertrautheit: ich sehe den Riß des Subjekts (eben das, wovon er nichts sagen kann). […] Das Imaginäre von Bildern wird also an der Schwelle zum produktiven Leben […] zum Stillstand gebracht. Ein anderes Imaginäres tritt dann nach vorn: das des Schreibens. Und damit dieses Imaginäre sich entfalten kann (denn das ist die Absicht dieses Buches), ohne jemals von der Darstellung eines standesamtlich bestimmten Individuums zurückgehalten, sichergestellt und gerechtfertigt zu sein, damit es von seinen eigenen, niemals figurativen Zeichen frei sei, kommt danach der Text ohne Bilder, außer denen der Hand, die die Spur einträgt« (Roland Barthes: Über mich selbst. München 1978, o. S.). Das Album ist nicht einer Chronologie der biologischen Entwicklung oder education intellectuelle verpflichtbar. Vorbild darin und auch später kann ihm Prousts Recherche sein, die Barthes immer wieder herausstellt und deren biografische Leistung er im Rhapsodischen, im »Versetzen« persönlicher Elemente, in der produktiven Aufhebung der illusorischen mathematischen Reihenfolge würdigt. (Vgl. Roland Barthes: »Longtemps, je me suis couché de bonne heure«. In: Ders.: Le Bruissement, S. 333–346, hier S. 338f. Vgl. für die dt. Übersetzung: Roland Barthes: »Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen«. In: Ders.: Das Rauschen, S. 307–320, hier S. 312f.).

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Abb. 1: Roland Barthes par Roland Barthes. Aus: Roland Barthes. Œuvres complètes, S. 79–250, o. S.

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narien, die aus der Sprache ohne Gedächtnis, aus dem rationalen Diskurs der Schrift einerseits und den narrativen Spiegel-Bildern andererseits in die pathetische und figurative Form führt.20 Eine »andere Art des Aussagens«: »Je n’avais d’autre solution que de me ré-écrire – de loin, de très loin – de maintenant: ajouter aux livres, aux thèmes, aux souvenirs, aux textes, une autre énonciation, sans que je sache jamais si c’est de mon passé ou de mon présent que je parle.«21 Barthes denkt an ein Schreiben, in dem sich das Subjekt unmittelbar zeitgleich mit dem Schreiben konstituiert, sich durch das Schreiben vollzieht und – wie er es nennt – in Mitleidenschaft zieht.22 In den Termini des Beobachtungsparadoxons zeigen diese Überlegungen an, dass Weltbegriff wie Selbstbegriff nur über einen medialen, selbst-bewussten, darstellerischen Akt möglich werden, es nicht darum gehen kann, Vergangenheit und Gegenwart differenzlos einzuholen: Contrairement à l’illusion courante des autobiographies et des romans traditionnels, le sujet de l’énonciation ne peut jamais être le même que celui qui a agi hier: le je du discours ne peut plus être le lieu où se restitue innocemment une personne préalablement emmagasinée.23

Mit der autobiografischen, intermedialen Form stellt Barthes die Darstellungsfrage in den Kontext der paradoxalen Situation, in den Kontext von Selbst- und Fremdreferentialität und der damit verbundenen zeitlichen Bedingtheit des Nachträglichen: Mais je n’ai jamais ressemblé à cela! – Comment le savez-vous? Qu’est-ce que ce »vous« auquel vous ressembleriez ou ne ressembleriez pas? Où le prendre? A quel étalon morphologique ou expressif ? Où est votre corps de vérité? Vous êtes le seul à ne pouvoir jamais vous voir qu’en image, vous ne voyez jamais vos yeux,

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Vgl. zur Zusammenführung von Erleben und Theorie Ronald Berg: Die Ikone des Realen. Zur Bestimmung der Photographie im Werk von Talbot, Benjamin und Barthes. München 2001, S. 225–227. Barthes: Roland Barthes par Roland Barthes, S. 203. »Ich hatte nur eine Lösung: mich neu-schreiben – von weitem, von sehr weit weg – von jetzt: den Büchern, Themen, Erinnerungen, Texten eine andere Art des Aussagens hinzufügen, ohne daß ich jemals wüßte, ob ich von meiner Vergangenheit oder von meiner Gegenwart spreche« (Barthes: Über mich selbst. S. 155). Vgl. Barthes: »Écrire«, S. 30. Vgl. für die dt. Übersetzung: Barthes: »Schreiben«, S. 27. Ebd., S. 24. »Im Gegensatz zur gängigen Illusion der Autobiographien und der traditionellen Romane kann das Subjekt der Äußerung niemals mit dem identisch sein, das gestern agiert hat – das ich des Diskurses kann nicht mehr der Ort sein, an dem sich eine zuvor angesammelte Person unbedarft wieder zusammenfügt« (Barthes: »Schreiben«, S. 24).

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Susanne Knaller sinon abêtis par le regard qu’ils posent sur le miroir ou sur l’objectif (il m’intéresserait seulement de voir mes yeux quand ils te regardent): même et surtout pour votre corps, vous êtes condamné à l’imaginaire.24

Unumgehbar ist auch die aus der Selbst- und Fremdreferentialisierung, die aus dem Darstellungsvorgang resultierende Fiktionalisierung des Subjekts und des Beobachteten, daher stellt Fiktionalität auch den Rahmen, in den Barthes sein autobiografisches Projekt bildhaft setzt: Auf dem Titelblatt steht die handschriftliche Aufforderung, den Text so zu lesen, als sei er von einer Romanfigur (»Tout ceci doit être considéré comme dit par un personnage de roman«), ein »Schriftbild«. Hieran knüpft am Ende, auf dem letzten Blatt vor dem Umschlag, ein abermals handschriftlicher Vermerk an: »Et après? – Quoi écrire, maintenant? Poussez vous encore écrire quelque chose? – On écrit avec son désir, et je n’en finis pas de désirer.«25 In einer Vorlesung am Collège de France entwirft Barthes 1978 ein autobiografisches Projekt, das er folgendermaßen beschreibt: Je vais donc parler de »moi«. […] ce n’est personne d’autre que celui à qui nul ne peut se substituer, pour le meilleur et pour le pire. C’est l’intime qui veut parler en moi, faire entendre son cri, face à la généralité, à la science.26

Ein solcherart konzipierter Roman würde ermöglichen, was schon in Roland Barthes par Roland Barthes seinen Anfang nahm, nämlich die Einholung von Pathos und Affekt: […] le Roman, tel que je le lis ou le désire, est précisément cette Forme qui, en déléguant à des personnages le discours de l’affect, permet de dire ouvertement cet affect: le pathétique y est énonçable. […] son instance est la vérité des affects, non

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Barthes: Roland Barthes par Roland Barthes, o. S. »Aber so habe ich doch nie ausgesehen! – Woher wissen Sie das? Was ist dieses ›Sie‹, dem Sie ähnlich sehen oder nicht? Wo soll man es finden? An welchem morphologischen oder expressiven Maß? Wo ist Ihr Wahrheitskörper? Sie allein können sich immer nur als Bild sehen, niemals sehen Sie Ihre Augen, es sei denn verdummt durch den Blick, den Sie auf den Spiegel oder das Objektiv richten (mich würde nur interessieren, meine Augen zu sehen, wenn sie dich ansehen): sogar und vor allem für Ihren Körper sind Sie zum Imaginären verurteilt« (Barthes: Über mich selbst, o. S.). »Und nun? – Was jetzt schreiben? Könnten Sie noch etwas schreiben? – Man schreibt mit dem Begehren, und endlos ist mein Begehren« (Barthes: Über mich selbst, S. 208). Barthes: »Longtemps«, S. 340. »Ich werde also über ›mich‹ sprechen. […] dieses Ich ist hier niemand anderer als derjenige, dessen Stelle auf Gedeih und Verderb niemand einnehmen kann. Das Innerste will aus mir sprechen und angesichts der Allgemeinheit, der Wissenschaft einen Schrei erschallen lassen« (Barthes: »Lange Zeit«, S. 314).

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celle des idées: il n’est donc jamais arrogant, terroriste: selon la typologie nietzschéenne, il se place du côté de l’Art, non de la Prêtrise.27

Diese affektive und gleichzeitig diskursive Form kann nur in einem Modus bewerkstelligt werden, der sich auf die Trennung zwischen Objekt- und Metasprache nicht einlässt: Je me mets en effet dans la position de celui qui fait quelque chose, et non plus de celui qui parle sur quelque chose: je n’étudie pas un produit, j’endosse une production; j’abolis le discours sur le discours; le monde ne vient plus à moi sous la forme d’un objet, mais sous celle d’une écriture, c’est-à-dire d’une pratique […].28

In diesem Sinn lässt sich Barthes’ Buch über Fotografie als Ich-Erzählung über Autobiografie, Realität und Schrift angesichts und mittels der Fotografie verstehen. Die Kraft der Fotografie liegt dabei nicht allein in ihrer Wiedergabe (sie ist in La chambre claire niemals als Illustration eingesetzt) oder ihrem Erinnerungsvermögen; sie ist nicht Kopie, sondern temporaler Index und affektives Ereignis. Ihr Bestätigungsvermögen und ihre Zeugenschaft sind nicht bezogen auf das Objekt (das gelingt auch der historischen Narration oder Chronik), sondern auf die Zeit. Fotografie und Autobiografie vereint dabei die Zeitform der Nachträglichkeit, eine Form mit repetitivem, memorialem Charakter, die Jetzt (die Zeit der Äußerung und der Rezeption) und Damals (die Zeit des Erzählten, Dargestellten) inkludiert. In der Autobiografie handelt es sich um durch die präsentische Schrift generierte perfektive Existenzen. In der Fotografie ist in die Perfektivität des Dargestellten, die Zeit des Es ist so gewesen, eine zukünftige Perfektivität, die Zeit des Es wird gewesen sein, eingeschrieben. Das Bild der Mutter als Kind trägt deren zukünftigen Tod mit sich, der wiederum Anlass für Barthes’ Theoriebuch zur Fotografie ist. Zeit tritt den Leser/innen nicht nur als Konzept entgegen, sondern bleibt als Ereignis evident.

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Ebd., S. 345: »[…] der ›Roman‹, wie ich ihn lese oder begehre, ist genau jene ›Form‹, die den Diskurs des Affekts an Personen delegiert und dadurch gestattet, diesen Affekt offen auszusprechen: Das Pathetische ist darin sagbar. […] seine Instanz ist die Wahrheit der Affekte, nicht die der Ideen: er ist also nie arrogant, terroristisch: in der Typologie Nietzsches steht er auf seiten der ›Kunst‹, nicht des ›Priestertums‹« (Barthes: »Lange Zeit«, S. 319). Ebd., S. 346: »Ich versetze mich in die Lage desjenigen, der etwas macht, und desjenigen, der über etwas spricht: Ich untersuche kein Produkt, ich nehme eine Produktion auf mich; ich hebe den Diskurs über den Diskurs auf; die Welt kommt nicht mehr in Gestalt eines Objekts auf mich zu, sondern in der eines Schreibens, das heißt einer Praxis […]« (Barthes: »Lange Zeit«, S. 320).

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IV Mit dieser Möglichkeit der temporal bewirkten Affektivität des Bildes spielt auch Sophie Calle in Douleur exquise, einer Arbeit, die autobiografische Narration und Fotografie kombiniert. Calles Arbeiten stehen im Kontext der Situationisten und der intermedialen Entwicklungen seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Dazu gehören Zusammenführungen von Bild- und Schriftmedien, von Fotografie, Dokumentarfilm und autobiografischen Textformen und schließlich die Inklusion der physischen und biografischen Person der Künstler/innen und Autor/innen. Noch bevor mit dem Begriff der autofiction oder der nouvelle autobiographie in der Literatur eine neue Zeit des Autobiografischen proklamiert wurde, lässt sich in Fotografie, Film und Kunst eine Form von autobiografischem Dokumentarismus bzw. Realismus jenseits modernistischer und idealistischer Selbstdarstellungen beobachten. Die Strategien sind dabei vielfältig und auf verschiedene Medien verteilt: von autobiografischen Lebensentwürfen zu fiktiven Identitätsannahmen, von dokumentarischen Aufzeichnungen oder dem Ausstellen von autobiografischem Material in Form persönlicher Gegenstände zu jahrzehntelangen Projekten in Auto-Dokumentationsform. Dass es sich dabei nicht um Projekte zur Formierung hermeneutischer autobiografischer Ganzheit oder eines einheitlichen Lebenszusammenhanges handelt, davon zeugen die Titel der neueren kritischen Arbeiten: Mythologies personnelles, Konzeptuelle Selbstbildnisse, Selbstbildnisse ohne Selbst.29 29

Isabelle de Maison Rouge (Hrsg.): Mythologies personnelles. L’art contemporain et l’intime. Paris 2004; Susanne Düchting: Konzeptuelle Selbstbildnisse. Essen 2001; Martina Weinhart: Selbstbildnisse ohne Selbst. Berlin 2004; Barbara Steiner, Jun Yang: Autobiography. London 2004. – Eine wichtige Etappe in der Formierung der autobiografischen Kunst bildet die Konzeptkunst, in der sich eine persönliche bzw. zitathafte Präsenz der Künstler im Material zeigt. Nicht als autoritäre Geste, sondern präsentiert als Moment im Sinnbildungsprozess. Darüber hinaus die Body Art mit oftmals feministischen bzw. genderkritischen Perspektiven sowie die Land Art, in der komplexe, multimediale Selbstdokumentationen geschaffen wurden. Im weiteren Sinne autobiografisch, zumindest was die Identitätsfrage im Zusammenhang mit Rollenbildern, Genderzuschreibungen, ethnischer Zugehörigkeit und Medienrepräsentation betrifft, arbeitet auch die Appropriation Art. In fiktiven Bildern und Narrationen wie in theatralischen Selbstinszenierungen, in Fotografie, Film und Text werden soziale und kulturelle Performativitäten durchgespielt. Für die Konzeptkunst lässt sich Ilya Kabakov nennen, für die Body Art Carolee Schneeman. Im Bereich der Land Art Robert Smithson. Cindy Sherman, Robert Prince und Jeff Koons sind Beispiele der Appropriation Art. Für den Film kann Jonas Mekas genannt werden, innerhalb der Fotografie bildet Robert Franks The Lines of My Hand einen Meilenstein. Seit den 1980er Jahren werden die genannten

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In ihren seit den 1970er Jahren andauernden autobiografischen Projekten – den Tagebüchern Des histoires vraies (1994) und Autobiographies (1988–2003), den Reisejournalen Anatoli (1984), No Sex Last Night (1992) und The Detachment (1996) – und Installationen schafft Calle immer wieder eine verdoppelte Situation zwischen Faktizität und Fiktion. Die Installation und Buchproduktion Douleur exquise (2003) ist ein letzter Höhepunkt dieser autobiografischen Poetik.30 Zwei zusammenhängende Geschichten werden erzählt: Die unglücklich endende Liebesgeschichte zwischen Sophie und einem langjährigen Freund ihres Vaters und die trotz Widerstandes des Geliebten angetretene Reise zu einem Stipendiumsaufenthalt nach Japan, die sie per Zug über die Sowjetunion und China bewältigt. Diese Reise führt in das abrupte Ende der Liebesbeziehung in einem Hotelzimmer in Neu Delhi, in dem Sophie vergeblich die ganze Nacht auf ihren Freund wartet, der nach einer faulen Ausrede telefonisch kurz und bündig zugibt, eine andere Frau gefunden zu haben. In einem ersten Teil erzählt Calle in Countdown-Struktur, aus der Perspektive der auf ein glückliches Reiseende Hinfahrenden. Das Gespräch, das die beiden am Telefon führen, ist kurz und markiert mit seiner zeitlichen Diskrepanz zur langen Warte- und Vorbereitungszeit auf das Wiedersehen die Prägnanz der Katastrophe. Der zweite Teil der Arbeit besteht aus immer wieder erzählten Versionen dieser Nacht, dokumentiert durch ein Foto des Hotelzimmers mit rotem Telefon. Diese als Schmerztherapie deklarierte Repetitionsstrategie wird unterstützt durch Erzählungen von anderen, Bekannten oder Unbekannten, die Sophie auffordert, über ihr schmerzvollstes Erlebnis zu berichten: De retour en France, le 28 janvier 1985, j’ai choisi, par conjuration, de raconter ma souffrance plutôt que mon périple. En contrepartie, j’ai demandé à mes interlocuteurs, amis ou rencontres de fortune: ›Quand avez-vous le plus souffert?‹ Cet échange cesserait quand j’aurais épuisé ma propre histoire à force de la raconter, ou bien relativisé ma peine face à celle des autres. La méthode a été radicale: en trois mois j’étais guérie. L’exorcisme réussi, dans la crainte d’une rechute, j’ai délaissé mon projet. Pour l’exhumer quinze ans plus tard.31

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Ansätze auch auf explizit autobiografisch ausgerichtete Kunst appliziert: Tracey Emin, Nan Goldin (stellvertretend für die autobiografische neue Fotografie), Art Spiegelman, Lynn Hershman (Electronic Diaries seit 1984, fiktive Identitäten wie The King, The Ballerina, The Nurse seit 1972 und die fiktive Frau Roberta Breitmore), Dorit Margreiter, Friedl Kubleka und Sophie Calle. Vgl. Knaller: Ein Wort aus der Fremde, S. 192–196. Sophie Calle: Douleur exquise. Paris 2003, o. S.: »Zurück in Frankreich, am 28. Jänner 1985, beschloss ich, wenn ich gefragt wurde, lieber über mein Leiden als über meine Reise zu erzählen. Im Gegenzug fragte ich meine Gesprächspartner, Freunde oder zufälligen Bekanntschaften: ›Wann haben Sie am stärksten gelitten?‹

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Abb. 2: Aus: Sophie Calle, Douleur exquise. Paris 2003, o. S.

Im Gegensatz zur Reisegeschichte zählt Calle die einzelnen Wiederholungen aufsteigend, bis zur Auslöschung des Schmerzes und der Geschichte. Verbildlicht wird dieser Prozess durch die Schrift, die mit dem jeweiligen Neuerzählen der Ereignisse in dem Hotelzimmer in Delhi immer blasser wird, bis der – auch immer kürzer werdende – Text am Ende unlesbar ist. Allerdings verteilen sich Anfang und Ende nicht einfach linear aufsteigend oder retrospektiv absteigend, lassen sich auch nicht voneinander trennen oder differenzieren. Verschiedene Strategien verunsichern die autobiografische Authentizität. So ist die Herkunft der Bilder und ihre Entstehungsgeschichte keinesfalls eindeutig. Die Feststellung, dass Calle ihre Geschichte

Dieser Austausch sollte solange weiter gehen, bis ich meine eigene Geschichte aufgrund des Erzählens verbraucht oder meinen Schmerz, in Konfrontation mit dem der anderen, relativiert hätte. Diese Methode war effektiv: innerhalb von drei Monaten war ich geheilt. Obwohl der Exorzismus gelungen war, beschloss ich aus Angst vor einem Rückfall, das Projekt sein zu lassen. Um es 15 Jahre später wieder auszugraben« (meine Übersetzung).

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erst fünfzehn Jahre nach den Ereignissen in Angriff nehmen konnte, wird durch die Tatsache widerlegt, dass eine 1984 entstandene Arbeit, nämlich Anatoli, ein Bericht von einer Reise mit der transsibirischen Eisenbahn, Bilder und Narration mitbildet. Offen bleibt daher, ob die Reise mit der transsibirischen Eisenbahn (auch) in einem ganz anderen Kontext stattgefunden hat. Daher lässt sich die Geschichte je nach Zugang in eine jeweils andere verändern. Ein weiterer Bruch mit Authentisierungskonventionen lässt sich in der Form intermedialer Kombination von Bildern und Texten ausmachen. Fotos, Legenden, abgedruckte Briefe und Textteile scheinen ebenso wie die Fotografien und Bilder, die den fremden Erzählungen beigefügt sind, zunächst illustrativen oder symbolischen Wert zu haben. Diese wechselseitige Authentisierung von Bild und Text ist auf den ersten Blick nicht ironisch gebrochen, wäre da nicht das letzte Bild vor dem erhofften Wiedersehen, auf dem Sophie strahlend lächelnd zu sehen ist, begleitet von den Textzeilen: »Nur mehr ein Tag. Ich war noch nie so glücklich in meinem Leben. Du hast auf mich gewartet.« Dies ist ein Kommentar, der Barthes’ »Es wird gewesen sein« aufruft, steht doch Sophie schon in der Katastrophe der verlorenen Liebe. Gleichzeitig ist sie umarmt von einem anderen Mann. Bild und Schrift scheinen einander zu widersprechen und die Situationen austauschbar zu machen. Dieser Manipulationscharakter der Schrift zeigt sich auch in ihrer Bildhaftigkeit und Indexikalität, die dadurch entstehen, dass die Geschichte der unglücklichen Nacht immer mehr verblasst und schließlich unsichtbar wird. Schließlich ist Calles künstlerische Umsetzung von Referentalität als Ende und gleichzeitig stetem Anfang höchst ironisch schon im mehrdeutigen Titel enthalten – Douleur exquise steht für akute Pein wie Lust. Während sich der eigene Schmerz in der Geschichte langsam aufzulösen scheint, bleiben die Geschichten der anderen in wiederholbarer Unveränderbarkeit und überwältigender Tragik erstarrt: C’était une fin d’après-midi hivernale, en 1974. Je ne me souviens ni du mois ni du jour. Ce devait être un samedi. Une demi-heure plus tôt, rue Scribe, alors que j’étais follement épris de lui, T. m’avait annoncé notre rupture. Je ne sais plus quels mots il avait employés, mais ils avaient un caractère définitif. Je me suis retrouvé seul, place de l’Opéra. J’ai descendue les marches du métro, tandis que sortait de mon estomac, sortait de ma gorge, sortait de ma voix nue voix que je n’avais jamais entendue. Je poussais des braillements qui me stupéfiaient, me tordaient le ventre, ouvraient grande ma bouche. Je hurlais dans le métro. Par hasard, j’avais entre les mains une pile de quarante-cinq tours: les tubes de l’été. Je me suis effondré sur un banc. Alors, un Noir assis à côté de moi m’a retiré très doucement les disques des mains, il en a lu les titres à haute voix, en les chantonnant au fur et à mesure. Love me Baby, Sugar Baby Love … Le métro est ar-

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Abb. 3: Aus: Sophie Calle, Douleur exquise, o. S.

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rivé, j’ai répris les quarante-cinq tours. Mes cris avaient cessé, mes larmes ruisselaient.32

Sophies exorzistische Taktik der Reproduktion des Unglücks anderer gestaltet sich zwar als aneignend und egozentrisch, gleichwohl bleibt auch ihr Schmerz akut – er ist nicht auslöschbar, nur Geschichten davon und Bilder darüber. Der Schmerz ist ein Ereignis, das dokumentiert, erzählt, beschrieben, verstanden, erklärt, aber nicht bewältigt und beendet werden kann. Der Verlust als Ausgangspunkt der Geschichte ist wie bei Barthes ihr Ende und ihr Anfang: Folle ou sage? La Photographie peut être l’un ou l’autre: sage si son réalisme reste relatif, tempéré par des habitudes esthétiques ou empiriques (feuilleter une revue chez le coiffeur, le dentiste); folle, si ce réalisme est absolu, et, si l’on peut dire, originel, faisant revenir à la conscience amoureuse et effrayée la lettre même du Temps: mouvement proprement révulsif, qui retourne le cours de la chose, et que j’appellerai pour finir l’extase photographique.33

Das Wirkliche – Selbst und Welt – ist stets ein vergangenes wie präsentisches Wirkliches, darin besteht auch die Faszination der Fotografie für Roland

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Calle: Douleur exquise, S. 243: »Es geschah an einem späten Nachmittag im Winter 1974. Ich erinnere mich weder an den Monat noch an den Tag. Es muss ein Samstag gewesen sein. Eine halbe Stunde zuvor, in der Rue Scribe, hat T., in den ich wie verrückt verliebt war, unsere Beziehung beendet. Ich kann mich nicht an die Worte erinnern, die er verwendete, aber es war endgültig. Jetzt war ich allein am Place de L’Opéra. Ich ging die Stufen zur U-Bahn hinunter, und dort, aus meinem Magen, aus meinem Mund, aus meiner Stimme, kam diese Stimme, die ich nie zuvor gehört hatte. Ich brachte ein Geheul zustande, das mich betäubte, das meinen Magen verknotete und meinen Mund weit aufschraubte. Ich schrie in der U-Bahn. Ich brach auf einer Bank zusammen. Ich hatte zufällig einen Stapel von Singles in meinen Händen, die Hits jenes Sommers. Ein Schwarzer, der neben mir saß, streckte seine Hand aus, nahm sie sanft aus meinen Händen und las nacheinander singend die Titel vor. Love Me Baby, Sugar Baby Love … Der Zug kam an. Ich nahm die Platten zurück. Das Geheul hatte aufgehört, meine Augen strömten über« (meine Übersetzung). Barthes: La chambre claire, S. 1192: »Ist die Photographie nun verrückt oder zahm? Sie kann eines so gut wie das andere sein: zahm, wenn ihr Realismus sich in Grenzen hält, wenn er von ästhetischen oder empirischen Gewohnheiten gemildert bleibt (etwa beim Durchblättern einer Zeitschrift beim Zahnarzt oder Friseur); verrückt, wenn dieser Realismus absolut und sozusagen ursprünglich ist und damit das Signum der Zeit ins verliebte und erschreckte Bewusstsein dringen läßt: wahrhaftig eine Umkehrbewegung, die den Lauf der Dinge wendet und die ich abschließend die photographische Ekstase nennen möchte« (Barthes: Die helle Kammer, S. 130).

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Abb. 4: Roland Barthes par Roland Barthes. Aus: Roland Barthes: Œuvres complètes, o. S.

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Barthes in der Frage nach Sinnbildung und für Sophie Calle in der Frage nach Selbstdarstellungsmöglichkeiten. Die Wahrheit der Fotografie ist eine Wahrheit der Zeit, des In-der-Zeit-Seins, nicht die des Abbildens.

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Auratisierungen Zur Selbststilisierung und Fremdinszenierung Arno Schmidts in Pressefotografien seit 1958

1. Das Dichterporträt: Wesen, Wirkung und Interferenzen im digitalen Zeitalter Die Progression visueller Medien hat in den vergangenen Jahrzehnten weltweit zu einer beispiellosen Verbreitung fotografischer Porträts geführt. Millionenfach sind Aufnahmen von Schauspielern und Popstars, von Vertretern der Parteien und der Kirchen, von Schriftstellern, Komponisten und bildenden Künstlern, aber auch von völlig unbekannten, zufällig im Alltag fotografierten Menschen in den Datenbanken der Bildagenturen gespeichert, um bei Bedarf abgerufen und neu kontextualisiert zu werden. Längst ist die Bildfähigkeit eines Menschen keine Frage seines sozialen Status oder seiner gesellschaftlichen Reputation mehr. Jeder kann fotografieren, jeder kann aber auch fotografiert werden und sich in Posen und Haltungen inszenieren bzw. inszenieren lassen, die ehedem als Signifikanten bestimmter Berufsgruppen galten. Wo nicht im Sinne der malerischen Tradition eine unverwechselbare Kulisse, ein spezifischer Hintergrund oder typische Accessoires die Profession des Porträtierten zu identifizieren helfen, sind Aufnahmen von Schriftstellern, Wissenschaftlern oder Gelehrten allenfalls graduell noch voneinander unterscheidbar. Hinzu kommt, dass sich, bedingt durch die insbesondere durch das Fernsehen in den letzten Jahrzehnten betriebene Popularisierung von Literatur, das Schriftstellerporträt zu solchen Sparten der Fotografie hin geöffnet hat, mit denen es sich zuvor allenfalls zufällig berührte: Da Lesungen immer häufiger den Charakter von Events oder von Performances mit rezitativer Untermalung annehmen, geraten auch ihre Protagonisten mitunter in die Nähe von Popstars. Schriftstellerinnen präsentieren sich auf den Covern ihrer Bücher im Akt oder stellen sich in Posen zur Schau, die denen von Pin-upGirls ähnlicher sind als denen von Vertreterinnen der schreibenden Zunft.1 1

Zu welchen Missverständnissen die Selbstinszenierung einer Schriftstellerin als erotisch affizierender Blickfang führen kann, musste jüngst die Norwegerin Ragnhild Moe erfahren, die sich auf dem Cover ihres unter dem Pseudonym Edy

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Der Fußballer schreibt, der Schallplattenproduzent tut es ihm gleich, die Lebensgeschichten und -beichten von Renegaten der Model- und Pornobranche finden ein mediales Interesse, wie es manch einem literarischen Werk zu wünschen wäre, und sichern ihren Verfassern auf dem Buchmarkt eine Präsenz, die durch die Verwertung ihrer Texte in Form von Film und Hörbuch noch um ein Beträchtliches gesteigert wird. Wer auch nur ein Buch veröffentlicht hat, gilt in den Medien bereits als Schriftsteller, was nicht ohne Folgen für die Porträtkunst bleibt: Die Bestätigung der Identität des Porträtierten im Sinne einer objektivierbaren »Wahrheit«2 weicht der Akzentuierung einer Facette seiner komplexen und im Falle des Schriftstellers sich nicht allein über das Schreiben mehr definierenden Persönlichkeit. ›Wahrheit‹ schließt Vieldeutigkeit und Vielgestaltigkeit nicht mehr aus. Freilich hat sich nicht nur das Bild des Schriftstellers gewandelt. Auch der Bestand an historischen Fotografien erfährt tiefgreifende Veränderungen. Systematisch durchgeführte Digitalisierungen von Aufnahmen, die aufgrund unterschiedlich motivierter Selektionsprozesse bislang von der Rezeption ausgeschlossen blieben,3 erweitern und ergänzen den überlieferten Fundus stetig. Erinnert sei in diesem Zusammenhang daran, dass bis vor wenigen Jahren Dokumentationen zum Dritten Reich in Bild- und Printmedien

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Poppy publizierten Romans Anatomi. Monotoni (Oslo 2005) als Rückenakt abbilden ließ, der eine Treppe hinabkriecht. Der Goldmann Verlag nutzte das solchermaßen geweckte Interesse, um die deutsche Übersetzung als erotischen Roman zu bewerben (Die Hände des Cellisten, München 2008) und ordnete den Text damit einer Sparte zu, in welche die Autorin ihn nicht gestellt wissen wollte. Moes äußere Erscheinung wurde somit zu einem Teil ihres Werkes, ähnlich wie es knapp zehn Jahre zuvor die US-Amerikanerin Elizabeth Wurtzel – allerdings bewusst und mit marketingstrategischem Kalkül – mit dem Cover ihres Buches Bitch. In Praise of Difficult Women (New York 1998. Dt.: Bitch: Ein Loblied auf gefährliche Frauen. München 1999) provoziert hatte, indem sie darauf nicht nur in einer retuschierten Aktaufnahme zu sehen war, sondern ihr ausgestreckter Mittelfinger auch den Buchstaben I des Titels bildete. Vgl. Roland Scotti: »›Denn sie sind nicht wahr, obwohl sie den Schein der Welt tragen‹«. In: Bodo von Dewitz, Roland Scotti (Hrsg.): Alles Wahrheit! Alles Lüge! Photographie und Wirklichkeit im 19. Jahrhundert. Die Sammlung Robert Lebeck. Katalog zur Ausstellung des Agfa Foto-Historama im Wallraf-Richartz-Museum/Museum Ludwig, Köln, 30. November 1996 bis 2. Februar 1997. Amsterdam, Dresden 1996, S. 15–19. Wie sehr die Inszenierung einer Persönlichkeit Selektionsprozessen des verfügbaren Materials unterliegt, zeigt exemplarisch die Dokumentation von Rudolf Herz: Hoffmann & Hitler. Fotografie als Medium des Führer-Mythos. Anläßlich der Ausstellung im Fotomuseum im Münchner Stadtmuseum, im Deutschen Historischen Museum Berlin und im Historischen Museum Saar in Saarbrücken. München 1994.

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fast ausschließlich mit Duotone- statt mit den in den Archiven durchaus verfügbaren Farbaufnahmen illustriert wurden. Da Kodak und Agfa bereits Mitte der 1930er Jahre den Dreischichtfarbfilm etabliert hatten, der auf der bis heute in der analogen Fotografie gebräuchlichen Kombination aus Silberhalogenid-Kristallen und Farbkupplern basiert,4 ist z. B. der überwiegende Teil der Aufnahmen von den Nürnberger Reichparteitagen in Farbe gehalten, mag das publizierte Material auch den Anschein erwecken, sie seien schwarzweiß. Warum man bei der visuellen Aufarbeitung des Dritten Reichs hinter einen bereits erreichten technischen Standard zurückging, liegt auf der Hand. Lässt man wirtschaftliche Aspekte einmal außer Acht – Reproduktionen in Farbe waren lange Zeit kostspieliger als solche in Duotone –, so leisten Schwarzweißaufnahmen das, wozu Farbaufnahmen schwerlich imstande gewesen wären: Sie schaffen eine zeitliche Distanz zum Geschehenen und weisen es als eine bereits historisch gewordene Vergangenheit aus. Die Beschäftigung mit Farbfotografien fordert daher in jenen Fällen, in denen die Motive bereits in einer Schwarzweiß-Version bekannt waren, zu einer neuerlichen Betrachtung und ggf. zur Revision dessen auf, was sich bis dahin als Bild einer Epoche oder bestimmter Ereignisse und Gestalten der Geschichte verfestigt hatte. Zwischen Schauspielern und Politikern auf der einen und Schriftstellern, Komponisten und Malern auf der anderen Seite besteht freilich ein fundamentaler Unterschied. Sieht man einmal von wenigen Ausnahmen wie etwa Thomas Mann oder Hermann Hesse ab, so besaß ein Schriftsteller in der Vergangenheit oftmals nur bedingt jenen Status einer öffentlichen Person, dem ihm der mediale Hype des Literaturbetriebs heutzutage sichert. Das wohl beredtste Beispiel dafür bietet der US-amerikanische Erzähler Jerome David Salinger. So katapultartig ihn die Auszeichnung seines Romans The Catcher in the Rye (1951, dt.: Der Fänger im Roggen) mit dem Pulitzerpreis ins Rampenlicht der Öffentlichkeit befördert hatte, so entschieden entzog er sich ihm – aus freien Stücken und seit 1965 sogar bis zur völligen Verweigerung. Jahrelang verfügten die Bildagenturen über kein aktuelles Foto von ihm, mochte die Literaturkritik ihn auch zum Mythos erhoben haben, indem sie den Zeitraum zwischen 1948 und 1959 als ›Ära Salinger‹ feierte, mochten die im Abstand von nur zwei Jahren erschienenen Memoiren seiner Tochter Margret Salinger und seiner Geliebten Joyce Maynard seiner Persönlichkeit 4

Zur Entwicklung der Farbfotografie vgl. Michel Frizot: »Eine natürliche Künstlichkeit. Die Hypothese der Farbe«. In: Ders. (Hrsg.): Neue Geschichte der Fotografie. Köln 1998, S. 415–417, sowie die Beiträge in: du. Die Zeitschrift der Kultur, 60/2000, 7: Fotografie. Der lange Weg zur Farbe.

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auch eine Plastizität verleihen,5 die sich aus seinem literarischen Werk allein nicht gewinnen ließ. So war es nicht weiter verwunderlich, dass die Würdigungen, die anlässlich des 90. Geburtstags des Autors am 1. Januar 2009 erschienen, eines jener beiden Porträts zierte, die für Salinger bereits mehr als ein halbes Jahrhundert zuvor imagekonstituierend geworden waren, Fotos, von denen man nicht recht weiß, wann und wo sie entstanden – der UllsteinBilderdienst und Keystone Press datieren sie übereinstimmend auf das Jahr 1953 –, und noch weniger, von wem sie stammen. Offenkundig ratlos geworden angesichts des Blickes eines Mannes, der so verschlossen wirkt, dass er nicht nur jedwede Kommunikation mit dem Betrachter zu verweigern, sondern sich auch jeglicher Deutung zu entziehen scheint, behalf sich die Feuilleton-Redaktion der Tageszeitung Die Welt daher mit der Abbildung eines Roggenfeldes.6 Wie er aussah, trat im Falle Salingers mehr und mehr hinter dem zurück, was er schrieb, und es ist bezeichnend, dass er Jahre, nachdem er als Gesicht von der Bildfläche verschwand, auch als Schriftsteller verstummte.

2. Das Dichterbildnis in historischer Perspektive Das Bedürfnis nach Bildnissen von Dichtern besteht nicht erst seit den Zeiten digitaler Datenbanken und der durch sie garantierten ubiquitären Abrufbarkeit per Internet. Schon in der Antike fragten die Menschen nach dem Aussehen von Dichtern und schufen Porträts, bei denen es sich zumeist um idealisierende Projektionen handelte, weil sie dem Typus näherstanden als dem Individuum. Vor allem die Totenmaske lieferte in einer Zeit, da der Gedanke an ein gedächtniskonservierendes Medium wie die Fotografie dem Menschen fernstand, den Maßstab für das tatsächliche Aussehen des Verstorbenen, und so erscheint die innerhalb von Archäologie und Kunstgeschichte geführte Diskussion, ob das an den Fassaden zahlreicher Bildungseinrichtungen des 19. Jahrhunderts angebrachte Bildnis des blinden Homer nicht nach einer ebensolchen modelliert worden sei, nur als logische Konsequenz dieses Interesses.7 Wie der Münchner Kunsthistoriker Paul Zanker überzeugend nachgewiesen hat, vergegenwärtigten Griechen und Römer im Bildnis Homers vor allem den Typus des Epikers. Sein mächtiger Schädel 5

6

7

Margaret A. Salinger: Dream Catcher. A Memoir. New York 2000; Joyce Maynard: Tanzstunden. Mein Jahr mit Salinger. München 2002. Vgl. Wieland Freund: »›Fuck‹ gebrauchte J. D. Salinger am liebsten«. In: Die Welt, 31. Dezember 2008. Vgl. dazu etwa Arthur Zweiniger: Der lebendige Homer. Eine Wiederherstellung der Gesichtszüge des lebendigen Homer auf Grund der Totenmaske. Leipzig 1909.

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verweist auf den Sitz der Erinnerung an tausende von Versen und an den Schöpfer einer inneren Bilderflut in Form von Sprache und Rhythmus und wäre ohne die Kenntnis von Ilias und Odyssee kaum in dieser Weise bildnerisch gestaltet worden.8 Entsprechend beschrieb Goethe nach einem in Konstantinopel gefundenen Bruchstück das Antlitz Homers. Spiegele sich auf dem Gesicht einerseits die Anstrengung, die mit der Deklamation der unzähligen Verse seiner Epen verbunden sei, so verweise andererseits die Blindheit auf das inwendige Schauen des Sehers, in dem das Ideal des puer senex, des als Greis und Kind zugleich wesenden Genies, zur Vollendung gelange. Johann Caspar Lavater nahm 1775 Goethes Text in den ersten Band seiner Physiognomischen Fragmente zur Beförderung der Menschenliebe und der Menschenkenntnis auf: Tret ich unbelehrt vor diese Gestalt; so sag ich: Der Mann sieht nicht, hört nicht, fragt nicht, strebt nicht, wirkt nicht. Der Mittelpunkt aller Sinne dieses Haupts ist in der obern, flach gewölbten Höhlung der Stirne, dem Sitze des Gedächtnisses. In ihr ist alles Bild geblieben, und alle ihre Muskeln ziehen sich hinauf, um die lebendigen Gestalten zur sprechenden Wange herabzuleiten. […] Diese eingesunkne Blindheit, die einwärts gekehrte Sehkraft, strengt das innere Leben immer stärker und stärker an, und vollendet den Vater der Dichter. Vom ewigen Sprechen durchgearbeitet sind diese Wangen, diese Redemuskeln, die betretnen Wege, auf denen Götter und Heroen zu den Sterblichen herabsteigen; der willige Mund, der nur die Pforte solcher Erscheinungen ist, scheint kindisch zu lallen, hat alle Naivetät der ersten Unschuld; und die Hülle der Haare und des Barts, verbirgt und verehrwürdiget den Umfang des Haupts.9

Im 18. Jahrhundert wich die Plastik als Medium der ehrenden Anschauung dem gemalten Porträt. Der Dichter Johann Wilhelm Ludwig Gleim (1719–1803) beauftragte renommierte Maler wie Anton Graff (1736–1813) und Johann Heinrich Tischbein d. Ä. (1722–1789) mit dem Entwurf einer Gemäldegalerie, in der alle Dichterfreunde in nach Größe, Stil und Farbgebung aneinander angeglichenen Porträts verewigt werden sollten, und zwar unter Verzicht auf auffällige Posen. Diese Nivellierung etwaiger Standesunterschiede formierte die Galerie zu einem einzigartigen Monument der literarischen Freundschafts- und Geselligkeitskultur,10 aus der ab 1780 eine nun breiter angelegte Sammlung von »Zeitgenossen, um Vaterland und verdiente 8

9

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Vgl. Paul Zanker: Die Maske des Sokrates. Das Bild des Intellektuellen in der antiken Kunst. München 1995. Johann Wolfgang Goethe: »Vier Silhouetten nach trefflichen Männern«. In: Ders.: Ästhetische Schriften 1771–1805. Hrsg. von Friedmar Apel. Frankfurt am Main 1998 (Bibliothek deutscher Klassiker, 151), S. 150f. Vgl. Horst Scholke (Hrsg.): Der Freundschaftstempel im Gleimhaus zu Halberstadt. Porträts des 18. Jahrhunderts. Bestandskatalog, Leipzig 2000.

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Männer« erwuchs und die als »Saal des Angedenkens« in Stefan Georges 1893 in den Blättern für die Kunst veröffentlichter Dichtergalerie eine fotografische Aktualisierung fand. Als Gleims Freundschaftstempel 1862 Besuchern zugänglich gemacht wurde, befanden sich darin 136 Porträts, dazu etwa 10 000 Bücher und 368 Handschriften. Jede der dargestellten Personen war somit vernetzt in einem Gewebe von Text und Kontext, das anhand der Gesichter memoriert werden konnte und umgekehrt. Gleims Projekt bildete einen Markstein innerhalb der mächtigen und stetig wachsenden Strömung der visuellen Gedächtniskultur in Europa und mag das Vorbild für die nach dem Sieg Napoleons über Preußen von dem kunstsinnigen Bayernkönig Ludwig I. geplante deutsche Ruhmeshalle gewesen sein, wie sie die Römer als Pantheon erfunden und die Franzosen um 1770 nachgeahmt hatten. Rund siebzig Jahre später entstand in der Nähe von Regensburg die deutsche Walhalla, die an Geistesgrößen unterschiedlichster Disziplinen erinnerte. Im Unterschied zu der 1856 in London eröffneten National Portrait Gallery wirken die Büsten und Köpfe in der deutschen Walhalla jedoch stereotyp und gleichförmig. Geistige Kapazität oder Lebensleistung, wie sie im Homerporträt zur Anschauung gebracht wurde, spiegelt sich in ihnen nicht wider. Seitdem der Physiker François Arago 1839 die Fotografie der Academie française vorgestellt und zur Annahme empfohlen hatte,11 demokratisierte sie die Porträtkunst nicht nur, sondern nahm als Technik der Reproduktion die führende Rolle bei der Verbreitung von Dichterporträts ein. Konterfeis von Schriftstellern und Poeten sind im 19. Jahrhundert allgegenwärtig. Sie zieren Frontispize und Buchumschläge ebenso wie Postkarten, die von Verlagen oder literarischen Gesellschaften vertrieben wurden.12 Dass das Aussehen eines Dichters das Leserpublikum nicht minder in den Bann zog als sein Werk, belegt eine Jubiläumsproduktion, die der Rowohlt Verlag 1954 anlässlich des Erscheinens des 100. Bandes der rororo-Taschenbücher herausgab. Sie trägt den sprechenden Titel Was sie schreiben – wie sie aussehen. Biografische Skizzen und kurze Charakterisierungen des literarischen Werks der Hausautoren werden darin durch kleinformatige Porträts ergänzt. Ohne Vorbild war diese zur damaligen Zeit recht aufwändige Aktion von Rowohlt 11

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Vgl. Dominique François Arago: »Bericht über den Daguerrotyp (1839)«. In: Wolfgang Kemp (Hrsg.): Theorie der Fotografie. Bd. 1: 1839–1912. München 1999 (Nachdruck der Ausgabe München 1980), S. 51–55. Vgl. Ralf Georg Czapla: »Ein Porträt des Künstlers als alter Mann. Zur Ikonographie des Raabe-Porträts in der zeitgenössischen Photographie und Malerei«. In: Herbert Blume (Hrsg.): Von Wilhelm Raabe und anderen. Vorträge aus dem Braunschweiger Raabe-Haus. Bielefeld, Gütersloh 2001 (Braunschweiger Beiträge zur deutschen Sprache und Literatur, 5), S. 11–43.

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allerdings nicht. Schon 1937 hatte der Münchner Verlag Langen-Müller mit dem Kleinen Buch der Dichterbildnisse einen Kanon der deutschen und nordischen Literatur geschaffen,13 und lenkt man den Blick noch weiter zurück, so stößt man mit der Bibliotheca Chalcographica des Jean-Jacques Boissard, deren erster Teil 1650 erschien, auf eine Literatur- und Gelehrtengeschichte in Kupferstichen. Seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts wurde es, befördert nicht zuletzt durch die sich nunmehr bietenden technischen Möglichkeiten, geradezu Mode, Literaturgeschichten mit Reproduktionen von Fotografien oder Gemälden zu illustrieren. So schrieb Albert Soergels erstmals 1911 aufgelegtes Monumentalwerk Dichter und Dichtung der Zeit mit seinen Abbildungen lange Zeit ein bestimmtes Bild von einem Dichter fest.14 Im Dritten Reich adelte ein arisch anmutendes Profil gar das Werk eines Dichters.15 Dichterporträts waren in der Frühzeit der Fotografie von zwei Faktoren abhängig, einem eher konzeptionellen und einem technischen. Orientierten sie sich auf der einen Seite an Posen, die aus der Malerei vertraut waren, so waren auf der anderen Seite bestimmte Formen der Inszenierung der zunächst noch beträchtlich langen Belichtungszeit geschuldet. Um Bewegungen, die bei der Abbildung unweigerlich Unschärfen provoziert hätten, zu vermeiden, bevorzugten die Lichtbildner solche Arrangements, bei denen der Dichter entweder völlig ruhte oder aber sein Körper durch das Aufstützen des Armes zusätzlichen Halt fand. Letzteres erklärt den überproportional großen Anteil an Melancholie-Posen selbst bei solchen Dichtern, denen man kaum ein melancholisches Gemüt unterstellte. Albrecht Dürers Melencholia I lieferte dafür das Vorbild. Dichterporträts – dies klang bereits in den Beispielen von Homer, Gleims Ruhmeshalle und auch Salinger an – stehen von jeher in einem interdependenten Verhältnis zum literarischen Werk dessen, den sie abbilden. Heute begleiten sie Berichte über Preisverleihungen und Lesungen, illustrieren Buchbesprechungen und sichern in Nachrufen zu der verbal-abstrakten Erinnerung auch die visuelle. Die Auswahl der Motive folgt dabei nicht nur illustrativen oder memorialen Erwägungen, sondern auch exegetischen. Sie zielt darauf ab, das Charakteristische und Unverwechselbare der Persönlich13

14

15

Das kleine Buch der Dichterbildnisse. 58 deutsche und nordische Dichter der Gegenwart. München 1937 (Die kleine Bücherei); Was sie schreiben – wie sie aussehen. Hrsg. zum 100. Band der rororo Taschenbücher. Hamburg 1954. Vgl. Albert Soergel: Dichtung und Dichter der Zeit. Eine Schilderung der deutschen Literatur der letzten Jahrzehnte. Leipzig 1911 [345 Abbildungen]. Vgl. Hellmuth Langenbucher: Volkhafte Dichtung der Zeit. Mit 52 Dichterbildnissen. Berlin6 1941; Ders.: Die deutsche Gegenwartsdichtung. Eine Einführung in das volkhafte Schrifttum unserer Zeit. Berlin 1940 [16 Dichterbildnisse].

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keit eines Schriftstellers zum Ausdruck zu bringen, wie man es aus seinen Texten destilliert zu haben glaubt. Insofern entsprechen die Lesarten von Text und Bild einander.

3. Autor, Werk, Porträt – das Paradigma Arno Schmidt Zu den Schriftstellern, denen man eine ausgeprägte Affinität zur Fotografie attestieren kann, gehört der 1914 in Hamburg geborene, in Schlesien aufgewachsene und von 1958 bis zu seinem Tode im Jahre 1979 im Heidedorf Bargfeld ansässige Arno Schmidt. Schmidt bediente sich nicht nur in seiner Prosatheorie der fotografischen Nomenklatur, etwa wenn er in Berechnungen I die von ihm inaugurierten neuen Prosaformen als »Foto=Text=Einheiten« beschrieb,16 sondern beschäftigte sich, wie zwei in den vergangenen Jahren aus dem Nachlass publizierte Bildbände zeigen,17 auch praktisch mit der Fotografie. Qualität und Funktion dieser »zwischen ›Porst‹ und verdorrten Sumpf=Birken« entstandenen Resultate, zumeist Aufnahmen der Ländlichkeit in der näheren Umgebung von Bargfeld, wurden von der Kritik unterschiedlich beurteilt. Werteten die einen sie als »optische Notiz[en]«18 und damit als visuelle Pendants zu jenen Zetteln, auf deren Grundlage spätestens seit den 1960er Jahren Schmidts Texte entstanden,19 so galten sie den anderen als Ausdruck eines bildnerisch sich artikulierenden Kunstwillens. Dass Schmidt beim Schreiben fotografische Vorlagen verwendete, ist seit der grundlegenden Studie von Wolfgang Martynkewicz unbestritten; dass er die Fotografie darüber hinaus aber auch dazu nutzte, sich selbst zu inszenieren oder inszenieren zu lassen, soll im Folgenden anhand einiger signifikanter Beispiele gezeigt werden. Arno Schmidt war im Mai 1959 der elfte deutschsprachige Schriftsteller, der auf dem Titelblatt des Hamburger Nachrichtenmagazins Der Spiegel erschien. Diese Ehre war mit den Nobelpreisträgern Thomas Mann (1947, 16

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18

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Arno Schmidt: »Berechnungen I«. In: Ders.: Essays und Biographisches. Bd. 3. Zürich 1995 (Bargfelder Ausgabe III/3), S. 163–168, hier S. 164. Arno Schmidt: Vier mal vier. Fotografien aus Bargfeld. Hrsg. von Janos Frecot. Eine Edition der Arno-Schmidt-Stiftung. Frankfurt am Main 2003; Arno Schmidt, Alice Schmidt: SchwarzWeißAufnahme. Fotografien aus drei Jahrzehnten. Hrsg. von Janos Frecot. Frankfurt am Main 2009. Vgl. Wolfgang Martynkewicz: Bilder und EinBILDungen. Arno Schmidts Arbeit mit Fotografien und Fernsehbildern. München 1993 (Bargfelder Bote. Sonderlieferung), S. 133. Vgl. Ralf Georg Czapla: »Arno Schmidt und Helmut Newton. Erinnerungen an Bücher, Menschen und Fotografien«. In: Fine Art Foto. Magazin für sinnliche Fotografie 5/2004, 2, S. 70f.

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Abb. 1: Arno Schmidt, Spiegel-Titelblatt, Mai 1959

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1954) und Hermann Hesse (1958), den Dramatikern Max Frisch (1953) und Carl Zuckmayer (1955), dem Erfolgsschriftsteller Erich Maria Remarque (1952), den Erzählern Friedrich Sieburg (1954), Heimito von Doderer (1957) und Gregor von Rezzori (1959) sowie dem literarisch im Grenzgebiet zwischen Belletristik und Naturwissenschaft arbeitenden Arthur Koestler (1953) bis dato nur solchen Vertretern der schreibenden Zunft zuteil geworden,20 die bereits vor 1945 schriftstellerisch in Erscheinung getreten waren und insofern als arriviert gelten durften – lediglich das ›Fräuleinwunder‹ Ingeborg Bachmann (1954) bildete eine Ausnahme. Jetzt aber zeichnete das Blatt einen der progressivsten und zugleich innovativsten zeitgenössischen Autoren aus, einen Autor zudem, der die Öffentlichkeit seit rund einem Jahrzehnt polarisierte wie kaum ein anderer sonst. Hatte Schmidt sich einerseits 1949 mit Leviathan oder die beste der Welten als einer der ersten deutschen Schriftsteller an die literarische Aufarbeitung der jüngsten deutschen Vergangenheit gewagt, so war andererseits seit März 1956 gegen ihn wegen der ein Jahr zuvor in Alfred Anderschs Zeitschrift Texte und Zeichen erschienenen Erzählung Seelandschaft mit Pocahontas ein Verfahren wegen Gotteslästerung und Pornografie anhängig. Nun schickte er sich an, kaum dass er eine unter schwierigen Bedingungen erarbeitete Biografie des vergessenen romantischen Dichters Friedrich de la Motte Fouqué (1777–1843) vorgelegt hatte, von der sich eine zweite verbesserte und ergänzte Ausgabe in Vorbereitung befand, mit Johann Wolfgang von Goethe den zum Kollektivsymbol deutschen Dichter- und Denkertums avancierten Weimarer Titan vom Sockel des Nationaldichters zu stürzen, auf den man ihn im 19. Jahrhundert gehoben hatte und auf dem er wechselnden Moden und Geschmäckern zum Trotz immer noch monumental und unangefochten stand. Das Layout des Spiegel-Titelblatts verrät ungeachtet seiner Einfachheit kompositorische Raffinesse und bedient sich – welch eine Ironie angesichts der von Schmidt unentwegt artikulierten Kritik an der restaurativen Politik Konrad Adenauers, die Funktionsträger des NS-Staates wieder hoffähig hatte werden lassen – einer Aufnahme des wegen seiner »Ästhetisierung des poli20

Wiederabdruck der Titelbilder bei: Hans-Dieter Schütt, Oliver Schwarzkopf (Hrsg.): Die SPIEGEL-Titelbilder 1947–1999. Mit einem Vorwort von Rudolf Augstein und einem Gespräch mit Stefan Aust. Berlin 2000. Ausländische Schriftsteller, die vor Mai 1959 das Titelblatt des Spiegel zierten, waren der italienische Erfolgsautor Giovanni Guareschi (1953), die Franzosen Beatrix Beck (1954), Jean-Paul Sartre (1956) und Françoise Sagan (1958), die Briten Christopher Fry (1953) und Agatha Christie (1956), der US-Amerikaner Richard Wright (1956) sowie mit dessen Landsmann William Faulkner (1953) und dem Russen Boris Pasternak (1958) zwei Nobelpreisträger für Literatur.

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tischen Lebens«21 im Dritten Reich zwar belasteten, durch geschickte Bereinigung seiner Biografie nach 1945 aber unbescholten gebliebenen und fortan freiberuflich tätigen Fotografen Max Ehlert (1904–1979).22 Mit der Dreiteilung von Titel, Bild und Unterschrift lässt das Cover eine fast schon emblematische Struktur erkennen bzw. spielt bewusst mit der Tradition der sinnbildlichen Darstellung, innerhalb deren sich Bild (pictura) und Text (inscriptio und subscriptio) wechselseitig erhellen und interpretieren. Wie in Emblemen das Motto bzw. die Überschrift oftmals in das Bild integriert ist, so auch hier. Der Kopf des Schriftstellers ist zentriert gesetzt und ragt in den in Schattenschrift gehaltenen Titel der Zeitschrift hinein, wodurch nicht nur auf die metaphorisch-aufklärerische Bedeutung des letzteren verwiesen, sondern zugleich auch der Eindruck erweckt wird, als trete das Gesicht ähnlich wie beim stereoskopischen Verfahren des 3D-Bildes aus dem Bildraum heraus. Die Bilddiagonalen schneiden sich über dem Nasenrücken, und die fehlende Tiefenschärfe exponiert das Motiv zusätzlich, zumal ansonsten alles, was die Aufmerksamkeit des Betrachters ablenken könnte, ausgeblendet wird. Vergleicht man dieses Cover mit dem anderer Spiegel-Ausgaben jener Jahre, so wird deutlich, dass die Art und Weise, wie Arno Schmidt hier ins Bild gesetzt wird, vor allem progressiven Persönlichkeiten mit innovativen Anschauungen und Ideen vorbehalten blieb.23 Schmidts Blick trifft sich mit dem des Betrachters. Er scheint sein Gegenüber nicht nur zu fixieren, sondern es geradewegs zu durchdringen – ein Eindruck, der durch die Zentrierung von Iris und Pupille auf dem Augapfel und den leichten, über den Pupillen befindlichen Lichtreflexen noch verstärkt 21

22

23

Walter Benjamin: »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«. In: Ders.: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Drei Studien zur Kunstsoziologie. Frankfurt am Main 272001, S. 7–44, hier S. 42. Mit Blick auf seine Aufnahmen von den Nürnberger Parteitagen und den Olympischen Spielen 1936 in Berlin bezeichnet Klaus Honnef den PK-Fotografen Ehlert zu Recht als einen »Meister der Inszenierung nationalsozialistischen Gepränges«. Dass Rudolf Augstein an Ehlerts Ästhetik Gefallen fand und ihr mit den Titelblättern des Spiegels ein Forum bot, ist auch ihm unverständlich. Vgl. Klaus Honnef: »Von der Realität zur Kunst. Fotografie zwischen Profession und Abstraktion«. In: Deutsche Fotografie. Macht eines Mediums 1870–1970. Hrsg. von der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland in Zusammenarbeit mit Klaus Honnef, Rolf Sachsse und Karin Thomas. Köln 1997, S. 186–192, hier S. 187. Geradezu konservativ wirkt demgegenüber das nur zwei Monate später erschienene Titelblatt mit dem Bildnis des Schweizer Dramatikers Friedrich Dürrenmatt im Juli 1959.

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wird. Im Verein mit der leicht hochgezogenen rechten Augenbraue – ein Markenzeichen Arno Schmidts, das er in Foto- und Filmaufnahmen geradezu spielerisch einsetzte24 – und der recht auffälligen, die Wirkung des Gesichts noch hebenden Hornbrille signalisiert er intellektuelle Regsamkeit und, damit verbunden, den Besitz einer außergewöhnlichen Erkenntnis. Um welche es sich handelt, illustriert die unter der pictura befindliche subscriptio. Sie besteht zu einem Teil aus einem in Versalien gesetzten Zitat (»Goethes Prosa ist eine Rumpelkiste«), während der andere, in Sperrdruck gehaltene, das Geheimnis auflöst, um wen es sich bei dem Abgebildeten handelt, der da so kühn zum geistigen Vatermord schreitet. Beide Teile werden durch einen großzügig bemessenen Weißraum der Aufmerksamkeit des Lesers empfohlen. In funktionaler Hinsicht leistet die subscriptio zweierlei: Sie macht den Leser sowohl mit dem Aussehen als auch mit dem poetischen Programm eines Schriftstellers vertraut, der durch die Verleihung des Großen Literaturpreises der Mainzer Akademie der Wissenschaften und der Literatur für den bereits genannten Leviathan 1951 zwar kurzfristig in den Blickpunkt des öffentlichen Interesses getreten war, der aber nur ausgesprochenen Insidern der Literaturszene der fünfziger Jahre bekannt gewesen sein dürfte, auch wenn zum Zeitpunkt des Erscheinens der Spiegel-Ausgabe seine wichtigsten Erzähltexte bereits vorlagen, Brand’s Haide (1951), Aus dem Leben eines Fauns (1953) und Das steinerne Herz (1956) eingeschlossen. Der Neologismus »Sprach-Schüttler« kondensiert Schmidts Techniken der Sprachverwandlung zu einer griffigen Formel und suggeriert zusammen mit dem Porträt des Schriftstellers, dass sein Tabubruch, die Inauguration von Prosaformen, die sich von der traditionellen Vorstellung eines narrativen Kontinuums, wie Goethes Erzähltexte sie vortäuschen, zugunsten der Montage der erwähnten »Foto=Text=Einheiten« verabschieden, mit der Autorität eines Mannes geschieht, der gleichermaßen über Durch-Blick und Ein-Sicht verfügt. Schließlich zielt sein Angriff mit dem Werther und dem Wilhelm Meister auf zwei Marksteine in der Geschichte des deutschen Romans. Das unter das Konterfei gesetzte Zitat, das zugleich als Aufmacher dient, verweist nicht nur auf den im Inneren des Heftes befindlichen Bericht, sondern darüber hinaus mit dem Faun auch auf einen Text, in dem Schmidt das ästhetische Konzept praktisch umsetzt, das er Mitte der fünfziger Jahre in den in Alfred Anderschs Zeitschrift Texte und Zeichen publizierten Berechnungen theoretisch dargelegt hatte:

24

Vgl. die DVD »Fernseh-Interviews mit Arno Schmidt« im Anhang zu: Arno Schmidt: Lesungen, Interviews, Umfragen. Frankfurt am Main 2006 (Bargfelder Ausgabe Supplemente II).

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[D]er »Aristipp« ist immer noch der einzige historische Roman, den wir im Deutschen besitzen, d. h., der uns Leben und Wissen gibt; aurum potabile. Wieland ist mein größtes formales Erlebnis neben August Stramm! (Und was könnte man erst über seine Verserzählungen sagen, tolle lege; aber da finge ein neuer Hymnus an: Nimm und lern!) – Dies als Beispiel, wie sich ein großer Prosaschreiber lebenslang fleißig und tiefsinnig um das eine seiner beiden Ausdrucksmittel bemüht hat. – (Und gleich der Gegensatz: bei Goethe ist die Prosa keine Kunstform, sondern eine Rumpelkiste – den »Werther« beiseite; und »Wahrheit und Dichtung«, wo allerdings ja gar kein Problem einer Stofformung vorliegt –: gewaltsam aneinandergepappte divergente Handlungsfragmente; grob an den Hauptfaden geknotete Novellen; Aforismensammlungen; Waidsprüchlein aller Art – todsicher den ungeeignetsten Personen in den Mund gelegt: was läßt er das Kind Ottilie für onkelhaft weltkundige »Maximen« in ihr Tagebuch schreiben! – Das demonstrativste Beispiel ist der »Wilhelm Meister«, zumal die »Wanderjahre«: was er sich hier, z. B. an Kapitelübergängen leistet, ist oft derart primitiv, daß ein wohlgeratener Primaner, der n bißchen was auf sich hält, sich ihrer schämen würde. Eine freche Formschlamperei; und ich mache mich jederzeit anheischig, den Beweis anzutreten (wenn ich nicht meine Arbeitskraft ernsthafteren Dingen schuldig wäre: Goethe, bleib bei Deiner Lyrik! Und beim Schauspiel!).25

Fast gleichlautende briefliche Äußerungen gegenüber seinem Schwager Werner Murawski belegen, dass sich das literarische Ich des Erzählers im Faun nicht prinzipiell, sondern allenfalls graduell von dem empirischen des Autors unterscheidet.26 Wieland, Dickens, Poe und – so darf man ergänzen – Joyce bilden für Schmidt den Gipfel der europäischen Erzählkunst, nicht aber Goethe. Der Tabubruch, der sich auf dem Titelblatt der Spiegel-Ausgabe in dem komplexen Verweissystem von Bild und Text ankündigt, wird in einer Abbildung im Inneren des Heftes endgültig vollzogen. Von den insgesamt fünf Schmidt-Fotografien, die den Beitrag illustrieren und die für den Autor wie für seine Frau dessen eigentlichen Wert ausmachten,27 zeigt die gleich zu Eingang des Artikels platzierte und ebenfalls von Max Ehlert stammende 25

26

27

Arno Schmidt: Aus dem Leben eines Fauns. In: Ders.: Romane, Erzählungen, Gedichte, Juvenilia. Bd. 1. Zürich 1987 (Bargfelder Ausgabe I/1), S. 299–390, hier S. 351f. Vgl. Arno Schmidt: »Briefe aus der ›Wundertüte‹. An Uffz. Werner Murawski«. In: Ders.: Essays und Biographisches. Bd. 3. Zürich 1995 (Bargfelder Ausgabe III/3), S. 49–61, hier S. 58. Vgl. Arno Schmidt: »Materialien für eine Biografie«. In: Ders.: Fragmente. Prosa, Dialoge, Essays, Autobiografisches. Frankfurt am Main 2003 (Bargfelder Ausgabe Supplemente I), S. 342–344, hier S. 344: »Was bisher über mich im Druck erschienen ist, kann nicht ernst genommen werden; zumal die Veröffentlichung im SPIEGEL vom Mai (?) 1959, die ich zwar nicht gelesen habe (dies auch nicht zu tun gedenke), deren hauptsächl. Wert jedoch in der Widergabe einiger alter Fotos bestehen soll, wie mir meine Frau sagt; das meiste übrige seien Tartarennachrichten.« Alice Schmidt irrte sich freilich: Nur zwei Porträts ihres Mannes und eines von ihr stammten aus Privatbesitz.

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Abb. 2: Arno Schmidt am Schreibtisch. Fotografie von Max Ehlert / Der Spiegel

Aufnahme Arno Schmidt bei der Arbeit am Schreibtisch, greift also ein im Horizont der fotografischen Darstellung von Schriftstellern gängiges und für Schmidt nachgerade typisches Motiv auf. Mit Nachschlagewerken, Handbüchern und der wegen einer angeborenen Kurzsichtigkeit beim Lesen benötigten Lupe befinden sich darauf Requisiten, die den Lesern seiner Texte aus zahlreichen Selbstspiegelungen in alterego-Figuren hinlänglich vertraut sind. Das Studieren des vor ihm aufgeschlagen liegenden Buches, das – so signalisieren es die Stirnfalten – konzentriert und akribisch zugleich erfolgt, vergegenwärtigt seine in vielen Äußerungen dargelegte Faszination für »Daten und Namen«,28 seinen gewissermaßen mathematischen Zugriff auf die empirische Welt und auf die Literatur. Entsprechend hatte Schmidt in dem bereits erwähnten Brief an Werner Murawski 1948 das Wesen des Schriftstellers, wenn nicht des Gelehrten schlechthin charakterisiert: Und deshalb kommt bei uns viel eher als bei den ganz wenig »Glücklichen« das Bedürfnis nach Wahrheit, nach der Erkenntnis des eigentlichen Hinter-Grunde dieses Weltmechanismus, der so düster und eisenhart um, in und durch uns rollt. 28

Arno Schmidt: »Der Dichter und die Mathematik«. In: Ders.: Essays und Biographisches. Bd. 3. Zürich 1995 (Bargfelder Ausgabe III/3), S. 356–359, hier S. 359.

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Abb. 3: Arno Schmidt am Schreibtisch. Fotografie von Max Ehlert / Civis

Viel eher, viel eindringlicher, viel rücksichtsloser; viel ehrlicher, viel selbstloser, viel radikaler. Und wiederhole Dir, was ich Dir früher über den Kursus sagte, den jeder Denker durchlaufen muß, wenn er überhaupt von uns gehört werden will: zur Erkenntnis unserer räumlichen Situation: Mathematik, Astronomie, Geographie; zum Überblick über die zeitlichen Verhältnisse: Geologie, Paläontologie, Geschichte; zur Orientierung in seiner Umwelt: rezente Biologie, Physik, Chemie, Kulturgeschichte. Das Ergebnis seiner Studien ist Dir klar; nimm an, daß Du Dich als denkendes Wesen der Sonne nähern könntest, und erschrick vor dem johlenden Flammencyklopen; denke an die Infusionszahlen gequälter, zerfallner, gestorbener Dinge; gestern sah ich einen Heringsschwarm im Fjord: wie sie Körper an Körper vorwärts jagten, unter ihnen, hinter ihnen, kauten Großfische an ihnen; ein Katzenhai fraß wahnsinnig, erbrach Alles in Stücken; füllte sich wieder mit Höllengier, erbrach, fraß, erbrach (es hat mir in den Händen gezuckt, Gott zu zerreißen; und klaffte sein Maul über tausend Spiralnebel, ich spränge ihn an!). Andererseits sehen wir, in einigen merkwürdigsten Individuen, wie »das Glück« sich zuweilen fast zu verkörpern scheint, manchmal auf Jahre, auch wohl für ein ganzes Leben: Alexander, Sulla, Napoleon. (Suche selbst Beispiele; Werner Murawski und Arno Schmidt sind jedenfalls keine.) Aber Goethe! […] Die Welt war Glück, war positiv: er hatte es ja erlebt und erlebte es noch täglich; er hatte wie ein Sultan (Schach Gebal – weißt Du noch?) den Beweis in Händen. Wer unglücklich war, gequält war, hatte also Unrecht (Kleist, Grabbe, Hoffmann, etc.); noch mehr: er war wohl irgendwie schuldig, verdächtig, gezeichnet, zu meiden! Er war instinktiv »objektiv«, ein Wesen der Oberflä-

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che; jede Tiefe erspürte er sogleich als feindlich-unheimlich, und kehrte um, mit all dem brutalen Egoismus, mit dem er die Falschheit (Verlogenheit) seiner Weltkonzeption um jeden Preis schützte; deshalb lehnte er auch die Beschäftigung mit den fundamentalen Problemen des Seins überhaupt ab (nach dem Rezept »Das Unerforschliche ruhig verehren«). Er wollte nicht Wahrheit, sondern persönliche Sicherung: »Was Euch das Innre stört, sollt Ihr nicht leiden!« (»sollt«, was für eine Formulierung!); das aber ist die Methode des Vogel Strauß ins »bedeutend Allgemeine« gewendet. Denn er ist gar nicht bis an die Grenzen gegangen, welche seiner Zeit der Wissenschaft und der Philosophie erreichbar waren: die Astronomie z. B. war ihm unerträglich; wenn er von Lichtjahren und Unendlichkeit hörte, da war es ihm, als müsse er unsinnig werden; Mathematik – das war auch so eine böse Lücke: mühselig hat er es als Vierzigjähriger noch bis zu den Anfangsgründen der Trigonometrie gebracht (sic!!) – und denke an Plato: nemo geometriae ignarus intrato – obwohl er von Gauß sogar schon Einiges von den nichteuklidischen Geometrien hätte hören können. Schopenhauers »Welt als W.u.V.« las er auch; aber was er zu Adele darüber urteilte, läßt Einen unwillkürlich zurücktreten: ist je etwas – ja, Sinnärmeres – darüber geäußert worden? – Was muß das für ein Mensch sein, der sieht, wie ein Tier das andere fressen will, und dabei entzückt ruft: »Was für ein köstliches abgemessenes Ding ist doch ein Lebendiges? Wie wahr! Wie seiend!«. (Da lob’ ich mir den Don Sylvio; wenn’s auch gerade mal keine Fee war!).29

Seine Brisanz gewinnt das Schmidt-Porträt freilich nicht nur daraus, dass es einen Schriftstellertypus visualisiert, der gegenüber den Vätern der Literatur emanzipatorisch Autonomie zu behaupten sucht. Dadurch, dass es in seiner Komposition mit Albrecht Dürers Darstellung des heiligen Hieronymus im Gehäus30 den Archetyp des Gelehrten im Studierzimmer zitiert und travestiert, vollzieht es auch einen Bruch mit der traditionellen Darstellung des Dichters. Die Schriftsteller-Ikonografie wird in Ehlerts Fotografie überblendet durch die vor allem aus trivialen Zusammenhängen, etwa dem populären Kino- und Fernsehfilm, vertraute Piraten-Ikonografie, mit dem Unterschied 29 30

Schmidt: »Wundertüte«, S. 50–52. Vgl. Roland Kanz: Dichter und Denker im Porträt. Spurengänge zur deutschen Porträtkultur des 18. Jahrhunderts. München 1993, S. 25: »Unmittelbarer als das Handlungsmotiv des Studierens über aufgeschlagenen Büchern bewirkt der abgegrenzte Raum, der die Hermetik des Denkaktes mit der attributiv funktionalisierten Raumhülle zum Ausdruck bringt, ein scheinbar unbeabsichtigtes Sich-Zeigen eines isolierten, nur auf sich selbst und das Denken bezogenen Vorgangs. Entsprechend dieser Tendenz zur innerbildlichen Raumhermetik können auch die Distanzmechanismen zwischen Bildraum und Betrachterraum eine tatsächlich rahmenhafte oder auch nur imaginative, mehr oder minder strikte Barriere zum Betrachter aufweisen und ihm seine Beobachtungsposition bewußt machen. Analog zur abgeschirmten Raumsituation ist das Studieren als ein innerweltlicher Vorgang zu begreifen, den das Individuum nur mit dem ihm eigenen Erkenntnisvermögen zu leisten imstande ist.«

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freilich, dass der Bleistift die üblicherweise zwischen den Zähnen befindliche Enterwaffe des Messers ersetzt. Schmidts Stilisierung seiner selbst als Freibeuter steht ihrerseits nun wieder im Zusammenhang mit der Faktur seiner Texte, verstand er sich doch in der Tradition der von ihm verehrten Wilhelm Hauff, James Joyce und anderer als »Meisterdieb«,31 der sich nicht scheut, Phrasen, Sätze und manchmal ganze Passagen aus der Literatur vergangener Epochen in Form markierter Zitate, Plagiate oder Allusionen in seine Prosa einzupassen, um durch eine solchermaßen konstruierte Intertextualität den Leser zu einem intellektuellen Rätselspiel herauszufordern, das er durch auktoriale, metanarrative und die erzählerische Illusion durchbrechende Einschübe wie z. B. »Hoho, wer errät’s« in Enthymesis oder W. I. E. H,32 bisweilen sogar unverhohlen initiiert. Dass es sich bei dem Spiegel-Porträt tatsächlich um die Parodie des berühmten und in der Dichter-Ikonografie unzählige Male adaptierten und modifizierten Vorbildes handelt, lässt der Vergleich mit einem weiteren Foto aus dieser Serie deutlich werden, das im August 1963 in der bürgerlich-konservativen Zeitschrift Civis erschien. Nähe zu und Abgrenzung von Dürer werden darin insofern deutlicher akzentuiert, als sich hier sämtliche Requisiten seines Stiches beisammen finden: der abgeschlossene Raum des Studierzimmers, der über die Schriften gebeugte Gelehrte, das Schreibpult mit den Büchern und sogar der Löwe, den mit der Hauskatze eine domestizierte Spezies der Gattung Felides vertritt. Schmidt, der »Eremit in der Bücherhöhle«,33 begegnet dem Leser als eine Aktualisierung des in bildlichen Darstellungen oftmals als Eremit in Erscheinung tretenden Hieronymus. Die Bemühungen der Civis-Herausgeber um Anschluss an den vier Jahre zuvor erschienenen Spiegel artikulieren sich freilich nicht nur in der Verwendung von Fotografien mit ähnlicher bzw. leicht variierter Motivik, sondern auch in der Gestaltung des Covers. Die disjunktive Frage »Arno Schmidt: Außenseiter oder Mittelpunkt?«, die unter Verwendung einer auffallend verspielt wirkenden Kursive in den recht großzügig bemessenen Weißraum platziert ist, scheint durch die Position des Bildes, das sich von dem des Spiegel nur unwesentlich unterscheidet, unmissverständlich beantwortet zu werden. 31

32

33

Vgl. Arno Schmidt: »Die Meisterdiebe. Vom Sinn und Wert des Plagiats«. In: Ders.: Dialoge, Bd. 1. Zürich 1990 (Bargfelder Ausgabe II/1), S. 333–357. Arno Schmidt: »ENTHYMESIS oder W. I. E. H.«. In: Ders.: Romane, Erzählungen, Gedichte, Juvenilia. Bd. 1. Zürich 1987 (Bargfelder Ausgabe I/1), S. 7–31, hier S. 15. So offenbar mit Blick auf Schmidts Selbststilisierung: Gunar Ortlepp: »Der Eremit in der Bücherhöhle. Zum Tod des Schriftstellers Arno Schmidt«. In: Der Spiegel, 33/1979, 24, S. 177–182.

Auratisierungen

Abb. 4: Arno Schmidt, Civis-Titelblatt, August 1963

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Das Porträt des Schriftstellers ist sowohl horizontal als auch vertikal beschnitten und an den linken Rand gerückt. Schmidts Blick, der anders als auf dem Cover des Hamburger Wochenmagazins nicht geradeaus gerichtet ist, sondern vom Betrachter aus gesehen zum linken Bildrand tendiert, ist der eines Mannes, der trotz der Bedeutung, die ihm im Inneren des Heftes zugesprochen wird, unter den Autoren der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur marginalisiert zu sein scheint. In den Folgejahren gerät das Bild des emsig am Schreibtisch arbeitenden Schriftstellers zum dominanten Motiv in der Schmidt-Ikonografie und wird von den Verlagen, in denen Schmidts Bücher erscheinen, auch zu Werbezwecken verwendet.34 Der Typus des heiligen Hieronymus im Gehäus, der in Anwesenheit der Raubkatze schreibt, wird zunächst noch variiert, ehe er mehr und mehr von den bekannten und inzwischen weit verbreiteten Aufnahmen verdrängt wird, die Schmidt vor seinen Zettelkästen zeigen, eher sortierend und ordnend als schreibend, und häufiger mit der Pinzette als mit einem Schreibgerät hantierend. In den 1960er Jahren entstanden nicht nur der Roman KAFF auch Mare Crisium (1960) und die zehn Erzählungen aus Kühe in Halbtrauer (1964), Texte, die mit der Vieldeutigkeit der Sprache experimentieren und, soweit es KAFF betrifft, mit der Aufteilung in zwei, unterschiedliche Bewusstseinsebenen markierende Spalten auf die gigantischen Typoskripte des Spätwerks vorausweisen; in den sechziger Jahren konzipierte und schrieb Schmidt auch Zettels Traum, seine ins Gigantische getriebene Analyse der Werke Edgar Allan Poes, die 1970 in einer vom Autor signierten Auflage erschien und ihn noch einmal ins Rampenlicht der literarischen Öffentlichkeit zurückführte, zumal das DIN-A3-formatige Werk rasch vergriffen war und die Verbreitung eines Raubdrucks die Justiz beschäftigte. Die Außenseiterrolle, die Schmidt im Kreise der zeitgenössischen Autoren einnahm – einer Schule oder einer Gruppe schloss sich der »Eremit aus der Heide« niemals an, öffentliche Lesungen vermied er geflissentlich – hatte mit diesem Buch auch ihren visuellen Ausdruck gefunden. Inszeniert wird Schmidts Exzeptionalität innerhalb der deutschen Nachkriegsliteratur noch einmal in Gunar Ortlepps im März 1983 erschienenem Spiegel-Bericht über den nach dem Tod des Schriftstellers 1979 zwischen S. Fischer und Haffmans entbrannten Streit um die Verlagsrechte. Ein wesentliches 34

Schon am 4. Februar 1958 hatte der Karlsruher Stahlberg-Verlag im Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel eine Anzeige für Schmidts Roman Die Gelehrtenrepublik geschaltet, die sich einer imagegebend gewordenen Aufnahme des Autors bei der von den Blicken einer Katze begleiteten Arbeit an den Zettelkästen bediente. Vgl. Axel Dunker (Hrsg.): Arno Schmidt (1914–1979). Katalog zu Leben und Werk. München 1990 (Bargfelder Bote. Sonderlieferung), S. 78.

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Abb. 5: Arno Schmidt bei der Arbeit an seinen Zettelkästen. Alice Schmidt/Arno-Schmidt-Stiftung

Element bilden hierbei Aufnahmen, die Kai Greiser dreizehn Jahre zuvor für einen Bericht über das Erscheinen von Zettels Traum gemacht hatte, und eine Fotografie des mit Schmidt über Jahre hinweg befreundeten Studienrats Wilhelm Michels, der Schmidt auch finanziell unterstützte, etwa beim Kauf des Hauses in Bargfeld. Michels hatte Schmidt des Öfteren porträtiert, wenn Zeitschriften beim Autor um Fotografien angefragt hatten.35 Sein im Rahmen des 35

Vgl. beispielsweise die Korrespondenz zwischen Schmidt und Michels vom Beginn des Jahres 1956 in: Arno Schmidt: Der Briefwechsel mit Wilhelm Michels. Mit einigen Briefen von und an Elfriede Bokelmann, Erika Michels und Alice Schmidt. Hrsg. von Bernd Rauschenbach. Zürich 1987 (Arno-Schmidt-Brief-Edition II), S. 61–66.

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Spiegel-Berichts von 1983 offenbar erstmals erschienenes Foto fügt den bis dahin dominierenden (Selbst-)Inszenierungen des Autors als Eremit, poeta doctus, akribischer Arbeiter und kreativer Sprachverwandler eine weitere hinzu, auch wenn diese aus heutiger Sicht kaum noch als solche erkennbar sein mag und sich nur durch einen Blick auf die Pressefotografie jener Zeit erschließt. Das Foto zeigt Schmidt auf jenem Findling im Garten seines Hauses sitzend, unter dem Jan Philipp Reemtsma und Schmidts Witwe Alice am 23. September 1979 seine Asche beisetzten, wie aus Ortlepps Bericht zu erfahren ist.36 Schmidt kehrt dem Betrachter den Rücken zu, während er durch den Maschendrahtzaun, der sein Grundstück umgibt, in die Ländlichkeit hinausblickt, die ihm von jeher, vor allem aber seit seinem Umzug nach Bargfeld im November 1958 als die ihm gemäße galt. »›Flachland & Nachschlagwerke‹!: mein CREDO«, lässt er in Die Wasserstraße sein alter ego geradezu bekenntnishaft verkünden,37 einer zunächst in der Zeitschrift konkret veröffentlichten, später mit neun weiteren in Kühe in Halbtrauer zusammengefassten Erzählung, in der er mit Hilfe des psychoanalytischen Instrumentariums Sigmund Freuds, das er bereits an den Werken Karl Mays erprobt hatte, die Landschaft schier phantastisch in eine anthropomorphe Körperwelt verwandelte. Das Foto, das als Dichterporträt denkbar ungeeignet erscheint, da der Autor, wäre man mit seiner Silhouette und dem Aufnahmeort nicht vertraut, darauf nicht zweifelsfrei zu identifizieren wäre, erhält seine Bedeutung aufgrund der Tatsache, dass es ein Foto zitiert, das 1951 von dem amerikanischen Fotografen John Halsman für das Life Magazine in England aufgenommen wurde, und darf insofern als ein Musterbeispiel für Interpikturalität gelten.38 Halsman zeigt den britischen Premierminister Winston Churchill im Garten seines Landsitzes Chartwell in der Grafschaft Kent, und zwar in derselben Einstellung, die Michels später für sein Schmidt-Porträt wählte. Schmidts Statur, die derjenigen des britischen Premiers nicht unähnlich war, der Untergrund, auf dem der Schriftsteller Platz nahm, und die im Hintergrund sich öffnende Weite der Landschaft mögen Michels dazu veranlasst haben, Halsmans berühmte und seinerzeit in sämtlichen marktführenden Illustrierten reproduzierte Aufnahme nachzustellen.

36

37

38

Vgl. Gunar Ortlepp: »Bis zum letzten Gericht. Über Tod und Erbe des Schriftstellers Arno Schmidt«. In: Der Spiegel 37/1983, 11, S. 192–202, hier S. 193. Arno Schmidt: »Die Wasserstraße«. In: Ders.: Romane, Erzählungen, Gedichte, Juvenilia. Bd. 3. Zürich 1987 (Bargfelder Ausgabe I/3), S. 423–454, hier S. 447. Vgl. zum Begriff Michael Wetzel: Die Wahrheit nach der Malerei. München 1997, S. 999; Valeska von Rosen: »Interpikturalität«. In: Ulrich Pfisterer (Hrsg.): Metzler Lexikon Kunstwissenschaft. Ideen, Methoden, Begriffe. Stuttgart, Weimar 2003, S. 161–164.

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Abb. 6: Arno Schmidt, auf einem Findling in seinem Garten sitzend. Wilhelm Michels / Der Spiegel

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Einem Selbstzeugnis Halsmans zufolge entstand das Bild aus schierer Verlegenheit. Da Churchill ihm die Arbeit so schwer wie nur irgend möglich zu machen versuchte und zu befürchten gewesen wäre, dass sich der Politiker dem Fotografen entzogen hätte, falls dieser Anstalten gemacht hätte, ihn frontal aufzunehmen, habe er die Rückenansicht gewählt. Letztlich wurde sie nicht nur Halsmans bekanntestes Churchill-Porträt, sondern avancierte neben Yousuf Karshs Repräsentationsbild aus dem Jahre 1941 und den zahlreichen, nahezu austauschbaren Fotos, die Churchill in Victory-Pose zeigen, zu den berühmtesten Porträts des britischen Premiers überhaupt.39 Worin aber besteht das Verbindende zwischen Schmidt und Churchill, das Michels’ Foto insinuiert, obwohl Schmidt in seinen Werken doch wiederholt nicht nur seiner ablehnenden Haltung gegenüber Churchills politischem Pragmatismus Ausdruck verliehen, sondern auch seinen Unmut darüber kund getan hatte, dass dieser 1953 u. a. für sein mehrbändiges Werk The Second World War mit dem Literaturnobelpreis eine Auszeichnung erhalten hatte, die einem James Joyce, einem Alfred Döblin und einigen anderen verweigert wurde: Man betrachte England: da erhält ein Churchill den Nobelpreis für Literatur! Also ein Journalist von ausgesprochenem Mittelmaß, der dichterisch überhaupt nicht ernst zu nehmen ist. Aber James Joyce hat die rettenden 150 000 Mark nicht gekriegt. (Oder, um deutsche Namen zu nennen, nicht Rilke, Däubler, Döblin, Brecht – wie man sich denn oft in eine geistige Ruhmeshalle versetzt glaubt, wenn man die Dichter sich vorstellt, die den Nobelpreis nicht erhielten.)40

Die Verbindung von Schmidt zu Churchill ergibt sich über einen Gedanken, der zentral ist für Schmidts Verständnis von der Rolle des Dichters in der Gesellschaft. Wenn man so will, transformiert das Foto das von Goethe 39

40

Vgl. Jane Halsman Bello, Steve Bello (Hrsg.): Philippe Halsman. Eine Retrospektive. Fotografien aus der Halsman Family Collection. Einleitung von Mary Panzer. Zürich, New York 1998, S. 36f. Arno Schmidt: »Die Wüste Deutschland«. In: Ders.: Essays und Biographisches. Bd. 3. Zürich 1995 (Bargfelder Ausgabe III/3), S. 447–450, hier S. 447. Vgl. ferner Arno Schmidt: »Das steinerne Herz«. In: Ders.: Romane, Erzählungen, Gedichte, Juvenilia. Bd. 2. Zürich 1987 (Bargfelder Ausgabe I/2), S. 7–163, hier S. 127; Arno Schmidt: »Der Sonn’ entgegen …«. In: Ders.: Romane, Erzählungen, Gedichte, Juvenilia. Bd. 3. Zürich 1987 (Bargfelder Ausgabe I/3), S. 293–313, hier S. 308; Arno Schmidt: »Stigma der Mittelmäßigkeit«. In: Ders.: Essays und Biographisches. Bd. 3. Zürich 1995 (Bargfelder Ausgabe III/3), S. 295–297, hier S. 296; Arno Schmidt: »Ein unerledigter Fall. (Zum 100. Geburtstag von GUSTAV FRENSSEN.)«. In: Ders.: Dialoge. Bd. 3. Zürich 1991 (Bargfelder Ausgabe II/2, S. 93–141, hier S. 124; Arno Schmidt: »Klopstock oder verkenne Dich selbst«. In: Ders.: Dialoge. Bd. 1. Zürich 1990 (Bargfelder Ausgabe II/1), S. 359–388, hier S. 367.

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stammende Diktum, dass »der Dichter mit dem König gehen« solle, auf das sich Schmidt zwar bereits in einigen in den1950er Jahren entstandenen, seinerzeit freilich unveröffentlicht gebliebenen Texten zuweilen im unmittelbaren Rekurs auf Platon bezogen hatte,41 das er aber nirgends so deutlich problematisiert wie in seiner Dankadresse anlässlich der Verleihung des Goethepreises im Jahre 1973, die, weil er selber sich weigerte, nach Frankfurt zu reisen, um den Preis entgegenzunehmen, von seiner Frau Alice verlesen wurde. Schmidt verzichtet, nicht zuletzt im Hinblick auf den Namenspatron des ihm verliehenen Preises, darauf, das Goethe-Wort zu kommentieren, gibt jedoch unmissverständlich zu verstehen, dass nur die Autonomie des Geistes, nur die Phantasie dem Dichter Freiheit garantiere: GOETHE – und seine Hand spendet eben immer noch Segen! – hat einmal, und vermutlich völlig bewußt, empfohlen, der Dichter solle mit dem König gehen. Eine Diskussion darüber erübrigt sich, infolge der Verminderung der Herrscherhäuser seitdem: ›Es hat mich sehr gefreut; es war sehr schön.‹ 20 Kilometer östlich meines Wohnörtchens wird, noch weit bewußter, verfügt, der Dichter solle mit dem Arbeiter gehen. Da es sich um eine so aktuelle, viele Millionen, zumal auch Deutscher, betreffende Forderung handelt, darf ich mit meiner Ansicht darüber nicht zurückhalten: ein derart anmaßend geführter Arbeiter= und Bauernkrieg gegen die Phantasie, diese ›seltsame Tochter Jovis, sein Schoßkind‹ kann eigentlich nur in einer ebenso fruchtbaren wie sterilen Gebrauchsliteratur enden. (Und daß die marxistisch beliebte Formulierung vom ›schreibenden Arbeiter‹ imgrunde eine Diffamierung des BerufsSchriftstellers bedeutet – gleichsam wie wenn man derlei auch ohne lebenslange mühsame Ausbildung, so nach Feierabend nebenbei mit=ausüben könne – sei doch ausgesprochen.)42

Der Dichter dürfte sich weder von einem Regenten vereinnahmen lassen noch sich mit der Masse gemein machen.43 »Die Summe meiner Erfahrung je41

42

43

Arno Schmidt: »Der Schriftsteller und die Politik«. In: Ders.: Essays und Biographisches. Bd. 3. Zürich 1995 (Bargfelder Ausgabe III/3), S. 327–329, hier S. 329; Arno Schmidt: »Es soll der Dichter mit dem König gehen«. In: Ders.: Essays und Biographisches. Bd. 3. Zürich 1995 (Bargfelder Ausgabe III/3), S. 259–266, hier S. 259. Arno Schmidt: »Dankadresse zum Goethepreis 1973«. In: Ders.: Essays und Biographisches. Bd. 4. Zürich 1995 (Bargfelder Ausgabe III/4), S. 462–466, hier S. 462. Vgl. Arno Schmidt: »Brand’s Haide«. In: Ders.: Romane, Erzählungen, Gedichte, Juvenilia. Bd. 1. Zürich 1987 (= Bargfelder Ausgabe I/1), S. 115–199, hier S. 137: »Dichter: erhältst Du den Beifall des Volkes, so frage Dich: was habe ich schlecht gemacht?! Erhält ihn auch Dein zweites Buch, so wirf die Feder fort: Du kannst nie ein Großer werden. Denn das Volk kennt Kunst nur in Verbindung mit -dünger und -honig.«

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denfalls hat zu lauten: der Schriftsteller soll alleine gehen«, schließt Schmidt das Exordium seiner Rede, in der Überzeugung, dass Literatur nur dann gelingen könne, wenn der Schriftsteller sein eigener Herr und nur den Gesetzen der Kunst verpflichtet sei. Was zunächst den Anschein eines candid picture, einer bei Gelegenheit entstandenen Aufnahme, erweckt, entpuppt sich bei näherer Betrachtung als die von Michels absichtsvoll vorgenommene, weil an einem konkreten Vor-Bild orientierte Stilisierung von Schmidts Selbstverständnis als Schriftsteller und seinem Anspruch auf geistige Führung. Schmidt hat diesen Anspruch bis zuletzt vertreten und gelebt.

4. Die Wahrheit des Privaten Der überwiegende Teil der Fotografien, die von Arno Schmidt kursieren, stammt aus Privatbesitz. Aufgenommen wurden sie von seiner Frau Alice oder von Freunden wie Wilhelm Michels in zumeist häuslicher Umgebung. Fotostudios scheint Schmidt kaum aufgesucht zu haben, und einem Pressefotografen Zeit zu opfern, um Modell für offizielle Aufnahmen zu stehen, fand er sich, wenn überhaupt, dann nur höchst unwillig bereit. Allzu unbedeutend erschien ihm die Person des Autors im Vergleich zum Werk, in dem sich nach seiner Überzeugung das eigentliche Leben vollzog: »Das Werk […] funkelt; den schäbigen Rest, den Autor selbst nämlich, besieht man sich besser nicht.«44 Das Bedürfnis von Lesern, sich den Autor zu »besehen«, konnte Fotografen, die von den Zeitschriftenredaktionen dazu bestellt wurden, dieses Bedürfnis zu befriedigen, allzu leicht in bizarre Situationen stürzen. Dem Pressefotografen Kai Greiser verdanken wir eine der wenigen authentischen Beschreibungen des Ablaufs einer solchen Session. Greiser hatte 1970 im Auftrag des Spiegel Schmidt in Bargfeld aufgesucht, um Bildmaterial für Gunar Ortlepps Reportage anlässlich des Erscheinens von Zettels Traum anzufertigen: Ich bin 1970 im Auftrag des Spiegel nach Bargfeld gefahren, um zur Illustration einer Rezension von Zettels Traum, die Gunar Ortlepp geschrieben hatte, ein Foto von Arno Schmidts Haus zu machen. Man hatte mich vorgewarnt, dass der Dichter sehr scheu ist und sich ungerne fotografieren lässt. Um so verwunderter war ich, nachdem ich ein paar Außenaufnahmen gemacht hatte, das Haus lag am Ortsende an einem unbefestigten Feldweg, der ins Nirgendwo führte, als er hinter einem großen Tor auftauchte, das mit einer schweren Kette verschlossen war und mich fragte, wer ich sei. Ich bestellte ihm Grüße von Herrn Ortlepp und bat ihn, ein paar Fotos für den Spiegel machen zu dürfen. Eher wortlos öffnete er das Vor44

Schmidt: »Die Meisterdiebe«, S. 346f.

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Abb. 7: Arno Schmidt und Alice Schmidt im Garten ihres Hauses. Kai Greiser/Der Spiegel

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hängeschloss, ließ mich auf sein mit Fichten bestandenes Grundstück und fragte mich, was er machen solle, womit er wohl meinte, wie ich ihn fotografieren wolle. Ich war von seinem Angebot so überrascht, dass ich mich in dieser Situation erst zurechtfinden musste. Ich hatte von den Außenaufnahmen ein mittellanges Tele an der Leica und brauchte etwas Abstand, was eine Regieführung und spontane Aufnahmen erschwerte. Während ich mich erst einmal umsah, begann er von selbst zu posieren. Auf der ersten Aufnahme hockte er wie zufällig zwischen Fichten, als arbeitete er im Garten, kam dann auf der zweiten Aufnahme direkt auf mich zu, die linke Hand auf ein umgehängtes Fernglas gelegt. Dann bat ich ihn, um sein klausnerisches Lebensumfeld zu schildern, vor die Rückseite seines Hauses. Vor der offenen Veranda neben einem Brunnen stehend nahm er eine Katze auf den Arm, während Alice hinzukam. Es entstand eine kleine Serie von vier Fotos mit Katze und Alice, während er abwehrend auf dem Brunnenrand saß. Keine Dichterpaaridylle, wie mir schien. Es folgte aber noch ein Augenblick für zwei Aufnahmen, als er auf meine Bitte hin auf mich zukam, mit querender Katze und anhimmelnder Alice im Hintergrund, der das Verhältnis von Arno und Alice zueinander erahnen ließ. Nach nur einer knappen Viertelstunde war die Fotobereitschaft zu Ende. Schmidt stellte sich noch einmal vor den Giebel seines Holzhauses in Positur und begleitete mich zum großen Tor, um es wieder zu verschließen, hält mit der Kette in der Hand, nach einer Bitte von mir, aber noch einmal unterm Torbalken still. Wie ein Zerberus. Ein grimmiger Wächter seiner Zettelkästen, wie mir schien.45

Arno Schmidts Rückzug ins Private hat die Kanonisierung der von ihm veröffentlichten Fotografien entscheidend begünstigt. Die Abgeschiedenheit Bargfelds diente ihm als Bühne für seine letzte große Selbstinszenierung. Die »Welt der Kunst & Fantasie« sei die wahre, »the rest is a nightmare«, lässt er in seinem nachgelassenen, unvollendet gebliebenen Typoskript Julia oder die Gemälde sein alter ego Ihering Worte sagen, die axiomatisch sowohl über seinem literarischen Werk als auch über seiner Existenz stehen könnten, enthalten sie doch ebensowohl ein Bekenntnis zur Phantasie als der eigentlichen Seinsform des Künstlers als auch zur solipsistischen Lebensweise, zumal wenn Ihering ergänzt: »Wenn ich nicht unbedingt muß, dränge ich mich Niemandem mehr auf: ich habe im Zimmer weit größere Freiheit, als draußen.«46 Die Phantasie befreit den Geistesmenschen aus den Fesseln der Empirie und aus dem Albtraum, den Fremdbestimmung und kollektive Konditionierung ihm bedeuten. Greisers Aufnahmen wurden bis in die 1990er Jahre hinein vom S. Fischer Verlag für Werbeplakate und -broschüren verwendet. Die schwierigen Umstände, unter denen sie entstanden, lassen sich nicht einmal erahnen. Vom Schriftsteller Arno Schmidt ist darauf allerdings auch nicht mehr viel zu sehen. Gestatteten frühere Fotografien dem Be45 46

Brief von Kai Greiser an Ralf Georg Czapla vom 30. Mai 2009. Arno Schmidt: Julia oder die Gemälde. Zürich 1992 (Bargfelder Ausgabe IV/4), S. 4.

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trachter wenigstens für einen kurzen Moment noch Einblick in den Entstehungsprozess seiner Texte, so bleibt er nun vollends davon ausgeschlossen. Greisers Aufnahmen konservieren die Aura eines Geistesarbeiters, der, abgeschirmt von allem Öffentlichen, im ländlichen Idyll die ihm gemäße Lebensform und seine Wahrheit gefunden hat.

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Robert Krause

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»… eine Technik des Sehens, eine Grammatik des Lebens« Fotografie als Paradigma in Robert Menasses Trilogie der Entgeisterung

I Die Fotografie ist in nahezu allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens omnipräsent.1 Auch in der Literatur finden sich mannigfache »Verweise auf Fotografien, Fotografen und Fotografisches«.2 Noch im ausgehenden 20. und bis in das beginnende 21. Jahrhundert bildet die Fotografie ein wichtiges Thema und Referenzsystem in Texten verschiedener literarischer Gattungen: Sowohl in Roland Barthes’ Autobiographie Roland Barthes par Roland Barthes (1975) als auch in Winfried G. Sebalds Roman Austerlitz (2001) sind fotografische Bilder ein integraler Bestandteil der Narration. Und in Les années, der Autobiographie von Annie Ernaux (2008), wird die Zeit seit dem Zweiten Weltkrieg bis in die Gegenwart anhand von Erinnerungen und Fotos rekonstruiert. Diese Fotos sind genau beschrieben, jedoch, anders als bei Barthes und Sebald, nicht im Buch abgebildet. 1

2

Susan Sontags Beschäftigung mit der Fotografie nimmt ihren Ausgang in den ästhetischen und moralischen Problemen, »posed by the omnipresence of photographed images« (On Photography [1973]. London 2002, S. VII). Auch der Medienwissenschaftler Heinz Buddemeier stellt bereits zu Beginn der 1980er Jahre fest: »Fotos sind eine Selbstverständlichkeit geworden« (Heinz Buddemeier: Geschichte und Theorie der Fotografie als Grundlage eines neuen Urteils. Reinbek bei Hamburg 1981, S. 11). Zum Fotografischen in der Literatur vgl. die umfassende Darstellung von Irene Albers, die nachdrücklich auf die Relevanz dieses Themenfeldes hinweist: »Begegnungen zwischen Literatur und Fotografie sind häufiger, als man auf den ersten Blick vermuten würde. So wenig eigenständige Texte es von Schriftstellern über Fotografie gibt, so omnipräsent sind die verstreuten und impliziten Verweise auf Fotografien, Fotografen und Fotografisches in der Literatur: kaum ein Autor des 19. und 20. J[ahr]h[underts], bei dem die Untersuchung dieses Feldes nicht vielversprechend wäre« (Irene Albers: »Das Fotografische in der Literatur«. In: Karlheinz Barck, Martin Fontius, Dieter Schlenstedt, Burkhart Steinwachs, Friedrich Wolfzettel (Hrsg.): Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Bd. 2: Dekadent – Grotesk. Stuttgart, Weimar 2001, S. 534–550, hier S. 534f.).

»… eine Technik des Sehens, eine Grammatik des Lebens«

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Die Präsenz des Fotografischen in der Literatur soll im Folgenden anhand eines weniger evidenten Beispiels vorgeführt und analysiert werden. An Robert Menasses Trilogie der Entgeisterung wird zu zeigen sein, inwiefern die Fotografie diese Romane als Paradigma mit fundiert. Anschließend an Herta Wolfs Überlegungen ist das »Paradigma Fotografie« folgendermaßen zu begreifen: »Sie [die Fotografie] ist als ›Modell in pragmatischer Funktion‹ charakterisiert, als Modell, dessen Funktion darin liegt, Regeln für die Reflexion zu deduzieren.«3 Fotografische Bilder prägen unsere Vorstellungen von Realität, Präsenz und Genauigkeit und sind damit bis in die Spät- beziehungsweise Postmoderne konstitutiv für unser Erleben und Denken. Auch in Menasses postmoderner Trilogie4 finden sich vielfältige Bezüge und Exkurse zur Fotografie, insbesondere zu fotografischen Momentaufnahmen von Bewegungen. Dabei werden aus dem Modell Fotografie explizite Regeln für die geschichtsphilosophische Reflexion deduziert, die zu erörtern sind, erscheinen sie doch aus interdisziplinärer und medienkomparatistischer Perspektive als origineller Versuch, eine Synthese zwischen der Literatur und dem fotografischen, aber auch dem philosophischen Diskurs zu leisten.

II Robert Menasses Trilogie der Entgeisterung ist ein umgekehrter Bildungs- und Entwicklungsroman in drei Teilen, der durch einen philosophischen Traktat ergänzt wird und die Trilogie somit in die Nähe einer Tetralogie rückt.5 Sie besteht aus den Romanen Sinnliche Gewißheit, Selige Zeiten, brüchige Welt und Schubumkehr sowie der Abhandlung Phänomenologie der Entgeisterung. Geschichte des verschwindenden Wissens.6 Die Texte wurden 1997 gemeinsam als Trilogie der 3

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Herta Wolf: »Einleitung«. In: Dies. (Hrsg.): Paradigma Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters. Frankfurt am Main 2002, S. 7–19, hier S. 9. Für eine epochale Zuordnung der Romantrilogie zur Postmoderne argumentiert Aneta Jachimowicz: Das schwierige Ganze. Postmoderne und die »Trilogie der Entgeisterung« von Robert Menasse. Frankfurt am Main 2007. Jürgen Meyer sieht den »Tenor des ›Posthistoire‹« als »zeitgenössischen Hintergrund« für die Aussagen Menasses: Jürgen Meyer: »Spiegel, Videos und Drogen als ›künstliche Wirklichkeiten‹ im Werk Robert Menasses«. In: Bernd Flessner (Hrsg.): Die Welt im Bild. Wirklichkeit im Zeitalter der Virtualität. Freiburg i. Br. 1997, S. 73–95, hier S. 75. Durch zahlreiche Vorausdeutungen und intertextuelle Verweise auf diesen Traktat in den Romanen und durch eine Autorfiktion bei seiner Erstveröffentlichung, als der Traktat unter dem Namen der Romanfigur Leo Singer publiziert wurde, wird die Zusammengehörigkeit der Texte deutlich. Robert Menasse: Sinnliche Gewißheit. Roman. Zweite, revidierte Aufl. Frankfurt am Main 1996. Aus dieser Ausgabe wird im Folgenden unter Verwendung der Sigle

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Entgeisterung herausgegeben.7 Jeder Teil der Trilogie vereint in sich Elemente unterschiedlicher literarischer Genres: Es finden sich typische Merkmale des philosophischen Romans, des Essay- oder Diskursromans und des Künstler- oder Gelehrtenromans, aber auch des Kriminal- und Liebesromans und schließlich der jüdischen Familiensaga. Vor allem aber handelt es sich um eine groß angelegte und originelle Auseinandersetzung mit Georg Wilhelm Friedrich Hegels Phänomenologie des Geistes. Diese wird sowohl in den drei Romanen als auch in dem Traktat von Menasse zum programmatischen Ausgangspunkt genommen, um die Geschichte des modernen Bewusstseins als fortschreitende »Entgeisterung« zu erzählen. Menasses Trilogie ist ein voraussetzungsreiches Projekt, das voller intraund intertextueller Verweise steckt und zahlreiche Bezüge zu wirkungsmächtigen Werken der europäischen Kultur-, Philosophie- und Literaturgeschichte herstellt. Diese vielfältigen Bezüge, Menasses Erzähltechnik ebenso wie sein Beitrag zur Romanpoetik und zur literarischen Postmoderne sind von der Forschung bereits verschiedentlich untersucht worden.8 Dabei wurde vereinzelt auf die Dimension des Medialen und des Virtuellen hingewiesen.9 Kaum beachtet wurde jedoch bislang die Präsenz der Fotografie, die eine wichtige Facette dieser Dimension ist.10 Insbesondere im ersten Teil der Tri-

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SG im Fließtext zitiert. Ders.: Selige Zeiten, brüchige Welt. Roman. Frankfurt am Main 1994 (Sigle SZ). Ders.: Schubumkehr. Roman. Frankfurt am Main 1997 (Sigle Sch). Ders.: Phänomenologie der Entgeisterung. Geschichte des verschwindenden Wissens. Frankfurt am Main 1995 (Sigle PE). Zur Entstehungsgeschichte der Trilogie vgl. Katrin Krause: Robert Menasses »Trilogie der Entgeisterung«. Ein Beitrag zur Theorie des Romans. Bielefeld 2005, S. 12f. Zu den vielfältigen intertextuellen Bezügen auf andere literarische Werke und auf bestimmte Motive vgl. Werner Frizen: »Muse – Femme fatale – Pietà. Über Thomas Mann, Georg Lukács und Robert Menasse«. In: Dieter Stolz (Hrsg.): Die Welt scheint unverbesserlich. Zu Robert Menasses »Trilogie der Entgeisterung«. Frankfurt am Main 1997, S. 147–177. Zur Erzähltechnik Menasses vgl. Kathrin Krause: »Das Zerschellen des Lebens an der Form. Ein Beitrag zu Robert Menasses Montageprinzip in Selige Zeiten, brüchige Welt«. In: Stolz (Hrsg.): Die Welt scheint unverbesserlich, S. 130–145. Kathrin Krause hat auch die bereits angeführte Monographie über die Romantheorie von Menasses Trilogie vorgelegt: Krause: Robert Menasses »Trilogie der Entgeisterung«. So hat Jürgen Meyer in einem Aufsatz »Spiegel, Videos und Drogen als ›künstliche Wirklichkeiten‹ im Werk Robert Menasses« analysiert. In: Flessner (Hrsg.): Welt im Bild, S. 73–95. Die Fotografie, die Teil »des Feldes der visuellen Kultur« ist (Wolf: Einleitung. In: Dies. [Hrsg.]: Paradigma Fotografie, S. 13), wird nur in Meyers Aufsatz kurz erwähnt: Meyer: »›Künstliche Wirklichkeiten‹ im Werk Robert Menasses«. In: Flessner (Hrsg.): Welt im Bild, S. 74 und S. 82.

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logie, dem Roman Sinnliche Gewißheit, finden sich zahlreiche und unterschiedliche Bezugnahmen auf den Themenkomplex der Fotografie. Dort wird etwa die Geschichte zweier Brüder erzählt, die über das fotografische Medium und die Malerei miteinander wetteifern. Ein Urlaubsfoto wird einer akribischen Bildbetrachtung unterzogen, weil es das Ziel der allgemeinen geschichtlichen Entwicklung ablesbar mache. Ferner erscheinen die fotografischen Bilder als gesellschaftlich generierte Geschichten, die an die Stelle des Bewusstseins für Geschichte getreten sind. Diese wesentlichen Bezüge auf die Fotografie sollen im Folgenden vorgestellt und hinsichtlich ihrer Form und Funktion in der Romantrilogie untersucht werden. Dabei wird auch zu fragen sein, in welchem Verhältnis der Themenkomplex des Fotografischen und die romaninterne Auseinandersetzung mit Hegels Phänomenologie stehen, auf die bereits der Romantitel hindeutet: Sinnliche Gewißheit lautet auch der Titel des ersten Kapitels von Hegels Phänomenologie des Geistes.11

III Der wichtigste Handlungsschauplatz und das geographische Zentrum von Menasses Roman Sinnliche Gewißheit ist die Bar Esperança in São Paulo, von den Stammgästen Bar jeder Hoffnung genannt. Dorthin begibt sich der aus Österreich stammende Protagonist Roman Gilanian fast jeden Abend, um seine Freunde Leo Singer und Judith Katz zu treffen, mit ihnen zu diskutieren, trinkend die anderen Gäste zu beobachten oder sich gelangweilt die Zeit zu vertreiben. Diesen drei Figuren erzählt der Barbesitzer Oswald die Geschichte einer produktiven Medienkonkurrenz, und sie handelt von den bereits erwähnten Brüdern, Thomas und Martin Daher: »Martin, der jüngere, hat gemalt. Thomas, der ältere, fotografiert« (SG, 136). Als Geschichte eines Bruder- und Künstlerzwists thematisiert der Roman hier in Form einer Binnenerzählung bekannte Fragen, die von medien- und kunsttheoretischem Interesse sind und auf die jeweiligen Vor- und Nachteile von Malerei und Fotografie abzielen. Die Diskussionen der Brüder, von Oswald nacherzählt, werden zur Grundsatzdebatte über die Möglichkeiten und Grenzen der zeitgenössischen Kunst und Mimesis. Malerei und Fotografie erscheinen dabei als zwei epochale und miteinander konkurrierende Ausdrucks- und Sinnsysteme. Über die Rekonstruktion dieser Debatte können der im Roman integrierte Fotodiskurs und seine theoretischen und ästhetischen Implikationen dargestellt werden. 11

Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes [1807]. Nach dem Texte der Originalausgabe hrsg. von Johannes Hoffmeister. Hamburg 1952, S. 79–89.

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Thomas, der Fotograf, argumentiert medienhistorisch. Er ist der Ansicht, dass »die Malerei von der Fotografie abgelöst worden ist, künstlerisch überholt, nur noch Dekoration«. Sein Bruder Martin aber zweifelt »den künstlerischen Wert […] von Fotografie überhaupt« an (SG, 136). Bei dem Bruderund Künstlerzwist geht es also zum einen um die Existenzberechtigung der Malerei seit der Entdeckung der Fotografie, zum anderen um die Frage, ob Fotografie Kunst ist oder sein kann; eine Diskussion, die die Fotografie von Beginn an zu führen hatte.12 Der malerisch tätige jüngere Bruder hält nur das für Kunst, »was bleibt, was weiterlebt oder überlebt« (SG, 136), der ältere glaubt dagegen, »sein Haupttrumpf ist die historische Entwicklung, und da ist er seinem Bruder automatisch voraus, so daß er nichts anderes mehr machen braucht, als schöne Bilder zu knipsen« (SG, 137). Während der Maler Martin nach Einschätzung Oswalds »schon eine ziemlich gute Technik gehabt hat und […] wirklich nachgedacht und probiert und sich entwickelt [hat]«, vertraut sein Bruder nur auf die avancierte Technik des Fotoapparats. Thomas ist überzeugt, als Fotograf seinem malenden Bruder gegenüber einen medialen Vorteil, einen ›Vorsprung durch Technik‹ zu besitzen. Ohne tiefere Gedanken über das Motiv, die Bildkomposition und die Abbildungstechniken anzustellen, vermeint er nur noch »knipsen« zu müssen, um zutreffende und »schöne Bilder« zu erzielen (SG, 137). Im fiktiven Streit der Künste aus Menasses Roman wird damit die vermeintliche »Richtigkeit der fotografischen Wiedergabe« als Argument gegen die Malerei und für die Fotografie in Anschlag gebracht (SG, 147). Letztlich habe die Fotografie »dasselbe Ziel wie die Malerei, nämlich die Realität abzubilden«, und könne dieses Ziel »auf Grund ihrer modernen Technik rascher, effizienter, treuer« erreichen, so dass »die Malerei überflüssig geworden« sei (SG, 138).13 Die hier artikulierte Überzeugung des Fotografen Thomas entspricht dem, was Roland Barthes pointiert die »zweifache Anschauung der Fotografie« genannt hat: 12

13

Vgl. Gerhard Plumpe: Der tote Blick. Zum Diskurs der Photographie in der Zeit des Realismus. München 1990. Die Diskussion, ob Fotografie eine Kunstform darstellt, ist davon abhängig, was man als Kunst definiert. Diesbezüglich sei exemplarisch auf Heinz Buddemeiers konzise Fotogeschichte und -theorie verwiesen, in welcher der Autor fragt, »ob es so etwas wie eine künstlerische Photographie gibt« (Buddemeier: Geschichte und Theorie der Fotografie, S. 170). Hierbei handelt es sich um eine einseitige und teleologische Argumentation, da lediglich eine Form der Fotografie, die »historisch-dokumentarische Fotografie«, berücksichtigt und als maßgeblich angesehen wird (Buddemeier: Geschichte und Theorie der Fotografie, S. 162). Der interpretative Charakter des Fotos und der Malerei bleiben außer Acht. Zu diesen vgl. Sontag: On Photography, S. 1–24, insbes. S. 6f.

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Man hat eine zweifache Anschauung der Fotografie, und beide sind jeweils übertrieben oder falsch. Entweder denkt man sie als eine rein mechanische und exakte Transkription der Wirklichkeit. Das ist dann das Reportagefoto […]. Am anderen Ende denkt man das Foto als eine Art Ersatz für die Malerei, das nennt man die Kunstfotografie […].14

Zum Exponenten einer solchen schematisierenden »zweifachen Anschauung der Fotografie« wird in Sinnliche Gewißheit die Figur des Thomas Daher. Dieser vertritt eine positivistische Weltsicht. Die »Realität abzubilden« erscheint ihm als »Ziel« aller Künste und Darstellungsverfahren, wobei er die »Realität« mit der äußeren empirischen Welt gleichsetzt. Für die Abbildung der Wirklichkeit vertraut er auf die »moderne […] Technik« der Fotografie (SG, 138). Ein solcher positivistischer und technikbegeisterter Glaube hat eine lange Tradition und war bereits in der Anfangszeit der Fotografie weit verbreitet. Das vermeintliche Vermögen einer fotografischen Abbildung, ohne Beteiligung des Fotografen die Wirklichkeit zu transkribieren, galt seit der Entdeckung der Fotografie als eines ihrer charakteristischen Merkmale.15 Diese naturalistische Vorstellung ist noch in Thomas Dahers Postulat, die »Realität abzubilden«, erkennbar (SG, 138). Roland Barthes weist jedoch darauf hin, dass sowohl die Vorstellung einer exakten Transkription der Wirklichkeit durch die Fotografie als auch die Idee, die Fotografie ersetze die Malerei, »übertrieben oder falsch« sind: »[…] selbst ein Reportagefoto bedingt eine Gestaltung, eine Ideologie des Aufnehmens«.16 Die Begriffe und Vorannahmen des Fotografen reflektiert auch Vilém Flusser in seinen philosophischen Prolegomena der Fotografie. Dabei stellt er fest: »Um den Apparat für künstlerische, wissenschaftliche und politische Bilder einstellen zu können, muß der Fotograf Begriffe von Kunst, Wissenschaft und Politik haben: Wie anders sollte er sie sonst ins Bild übersetzen können? Es gibt kein naives, unbegriffenes Fotografieren. Die Fotografie ist ein Bild von Begriffen.«17

14

15

16

17

Roland Barthes: »Über Fotografie. Interview mit Angelo Schwarz« (1977). Übersetzt von Dieter Hornig. In: Wolf (Hrsg.): Paradigma Fotografie, S. 82–85, hier S. 83. »Ein Foto wird von einer Maschine hervorgebracht. […] Der Rückzug des Menschen aus dem Abbildungsvorgang gibt der Natur die Möglichkeit, selbst zu Wort zu kommen« (Buddemeier: Geschichte und Theorie der Fotografie, S. 20). Barthes: »Über Fotografie«, S. 83. Auf den gestalterischen Einfluss des Fotografen, der häufig mehrere Bilder von ein und demselben Motiv aufnimmt und letztlich eine Bildauswahl trifft, weist Susan Sontag hin: On Photography, S. 6. Vilém Flusser: Für eine Philosophie der Fotografie [1983]. [Edition Flusser. Bd. 3. Hrsg. von Andreas Müller-Pohle]. Göttingen 102006, S. 34.

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Die These, durch die Fotografie sei »die Malerei überflüssig geworden«, begründet Thomas mit dem Vermögen der Fotografie, rasch, effizient und getreu »die Realität abzubilden« (SG, 138). In der Wirklichkeit kommen so gut wie keine Momente völliger Bewegungslosigkeit vor. Die Malerei, so Thomas, sei jedoch nicht in der Lage, Bewegungen, dynamische Prozesse und Geschehenszusammenhänge glaubhaft darzustellen. Ein gemaltes Bild wirke zwangsläufig statisch.18 Einzig die Fotografie transportiert für Thomas das Gefühl des Dynamischen: Wenn man aber ein Foto anschaut, schon einen simplen Schnappschuß mit einer einfachen Kamera, dann sieht man, daß da auch ein Bewegungsausschnitt ist, wie auf einem Gemälde, aber man sieht das Augenblickliche der Bewegung sofort, man kann sich sofort ihr Zustandekommen und ihr Weitergehen vorstellen […]. (SG, 139)

Ein Foto, so behauptet Thomas hier, zeige den Augenblick als Augenblick in einem größeren Zusammenhang von Bewegungen.19 Man erkenne auf einem Foto nicht nur »das, was ist und wo es ist« (SG, 139), sondern darüber hinaus sehe man eine Entwicklung: auch wenn das Foto völlig scharf ist, keine Linie zweideutig ist, […] sieht man doch in den meisten Fällen die Bewegung mit, durch die diese Konstellation zustande gekommen ist, und man sieht die Fortsetzung, von der sie, also die abgebildete Konstellation, nur ein flüchtiger Zwischenmoment ist. Man sieht also oder kann sehr oft auf einer Fotografie sehen, daß die Statik nur durch das Bild hergestellt ist, aber nicht wirklich existiert. (SG, 139)

Auch ein Foto kann nur eine Momentaufnahme sein und damit ein statisches Bild zeigen, weil die Fotografie auf Immobilisierung der bewegten Natur basiert und Bewegungen bildlich festhält.20 Dabei werden bewegte Bilder in statische übersetzt, ohne jedoch die abgebildeten Bewegungen gänzlich auszublenden. Das fotografische Bild, so legt Menasses Romanexkurs zur Fotografie nahe, lässt jedoch trotz seiner Statik die wirkliche Dynamik des Abgebildeten noch erkennen. Dieses auf den ersten Blick widersprüchliche 18

19

20

Vgl. dagegen das Bild Las Hilanderas von Diego Velázquez (um 1650), das Bewegungsunschärfe abbildet, indem das Drehen eines Spinnrads durch Verwischungen und Lichtreflexe verdeutlicht wird. Dieser Hinweis verdankt sich der Studie von Wolfgang Ulrich: Die Geschichte der Unschärfe. Berlin 2002, S. 80. Auch der italienische Futurismus, vertreten durch Filippo Tommaso Marinetti, beschäftigte sich mit der Frage nach der Abbildbarkeit von Bewegungen. Einen solchen Bewegungszusammenhang veranschaulichen z. B. die fotografischen Studien von Eadweard Muybridge, der Pferde beim Galopp aufnahm und so die Frage nach deren Beinstellung im schnellen Lauf klären konnte. Zur Immobilisierung vgl. Buddemeier: Geschichte und Theorie der Fotografie, S. 93.

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Vermögen der Fotografie wird im Roman rezeptionsästhetisch begründet und auf die spezifischen Sehgewohnheiten und Erwartungen beim Betrachten von Fotografien zurückgeführt: »beim Foto weiß man und denkt man mit, daß es das Dargestellte aus einer Bewegung herausreißt […]« (SG, 140f.). Aber lässt das nicht andererseits die Bewegung gerade schmerzhaft vermissen? Die fotografische Abbildung einer Bewegung liefert nur einen Bild- und Bewegungsausschnitt. Der abgebildete Moment ist kontingent; er erscheint beliebig, »oft absurd« und leitet das Auge des Betrachters dazu an, die nicht gezeigten Momente selbsttätig zu ergänzen (SG, 140): Und wenn wir dann also ein Foto anschauen, dann fordert dieser zufällig festgehaltene Moment der Bewegung eine Erklärung, das Auge ist irritiert und unruhig, auch wenn es belustigt ist, und es stellt das Zustandekommen dieser Bewegung wieder her, rekonstruiert sie, zieht sie durch. (SG, 140)

Der gezeigte Bild- und Bewegungsausschnitt wirkt irritierend und stimulierend auf das Auge. Dieses geht bei der Betrachtung automatisch über das Abgebildete hinaus und rekonstruiert die Bildkonstellation aus der fotografierten Wirklichkeit. Die Annahme, es könne dem betrachtenden Auge überlassen werden, selbsttätig das zu ergänzen, was im fotografischen Bild fehlt, erinnert an Ideen und Verfahren der modernen Malerei. Auch der vom französischen Maler und Kunsttheoretiker Paul Signac zusammen mit seinem Freund Georges Seurat begründete Neoimpressionismus zielt auf die Syntheseleistung des Auges. Signac und Seurat mischten bei ihrer Malerei die Farben nicht länger, sondern trugen diese in zahllosen Pünktchen unvermittelt nebeneinander auf die Leinwand, das Vermischen der Farben erfolgt erst im Auge des Betrachters. Vom Auge wird auch in der skizzierten Fototheorie aus Menasses Roman das betrachtete Bild erst komplettiert. Dabei vollzieht der Betrachter die gesamte Bewegung in ihrer Genese und Dynamik auf Grundlage des gezeigten Bewegungsausschnitts imaginativ nach. Mit diesen essayistischen Überlegungen legt Menasse in seinem Roman eine rezeptionsästhetisch ausgerichtete Theorie des Fotos und der Bildbetrachtung vor. Eine der folgenden Romanepisoden schließt explizit an diese Überlegungen an und bietet die Möglichkeit, die in nuce entwickelte Fototheorie weiterzuführen und mit der Haupthandlung sowie der Leitidee des Romans zu verknüpfen. IV Ein Urlaubsfoto wird, vom Protagonisten Roman achtlos auf die Theke der Bar jeder Hoffnung gelegt, zum Gegenstand des allgemeinen Interesses und einer fundierten Bildbetrachtung. Der Barbesitzer Oswald und Leo Singer,

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»Professor« genannt, nehmen den Schnappschuss als »Beispiel« (SG, 162f.), um die zuvor erörterten theoretischen Überlegungen nun praktisch anzuwenden. Anhand des vorliegenden Bildausschnittes diskutieren sie das Verhältnis von Statik und Dynamik und versuchen, die auf dem Bild festgehaltene Bewegung zu rekonstruieren. Das verwackelte Foto, von einem anderen Urlauber amateurhaft aufgenommen, zeigt Roman und seine Arbeitskollegin Monika am Strand von Bertioga. Romans Erklärungen, denen zufolge das Foto deshalb unscharf sei, weil sie sich just bewegt hätten, um dem anderen Urlauber die Apparatbedienung zu erklären, werden von Oswald als »uninteressant« abgetan:21 das Wesentliche sei, daß die beiden sich bewegt haben, und das Foto fixiere natürlich einen winzigen Moment dieser Bewegung, aber es werde nicht bloß dieser Moment festgehalten, sondern der Anschein von Bewegung überhaupt. Und diese Bewegung denke man weiter, weil die abgebildete, festgehaltene, absurde Verrenkung das Auge beunruhige, deswegen sei in einem Bild, das Bewegung abbilde, immer auch miteingebildet, wohin sie führen werde, auch wenn die Bewegung selbst das gar nicht wisse. (SG, 162)

Bei der Bildbetrachtung wird »eine Technik des Sehens« (SG, 161) vorgeführt, die genau das fotografische Phänomen der »Immobilisierung« und die Rekonstruktionsleistung des Auges ernst und zum Ausgangspunkt kühnen Spekulierens und philosophischer Reflexionen nimmt. Unter explizitem Bezug auf die Binnenerzählung, die Geschichte des Fotografen Thomas und des Malers Martin, interpretiert der »Professor« das Urlaubsfoto. Dabei folgert er: »der festgehaltene Moment erschein[t] dann als etwas buchstäblich Vorbildliches, als die Idee, die dem Sein in seinen scheinbar so ziellosen Bewegungen zugrunde lieg[t]« (SG, 162). Die zuvor aus dem Paradigma Fotografie deduzierten Regeln der Reflexion werden nun in die Analysepraxis überführt und sollen Aufschluss über »die Idee, die dem Sein […] zugrunde lieg[t]«, geben. Der Zuhörer Roman ist verwundert. Als er »mit jener Mischung aus Neugier und überheblicher Ungläubigkeit« nachfragt, »was […] nun die Idee« sei, die den »hier abgebildeten Bewegungen zugrunde lieg[e]« (SG, 163), erhält er als Antwort eine treffende Charakterisierung seiner eigenen Lebenshaltung und der Persönlichkeit Monikas: Bei Monika sei die zugrunde liegende Idee »offenbar die Idee des kon21

Wolfgang Ullrich hat die Unschärfe von Bildern untersucht und darauf hingewiesen, dass »es unscharfe Bilder [sind], die die größte Faszination ausüben […]. [D]ie Unschärfe […] macht aus jedem Betrachter einen Detektiv, der davon träumt, auf dem Foto doch noch das entscheidende Indiz zu entdecken, das Aufschluss über das Unvorstellbare gibt, das kurz darauf eintreten wird« (Geschichte der Unschärfe, S. 7).

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zentrierten Geschehenlassens, sagte Singer und bei [ihm] die des blinden Vorgehens und nicht Eingreifen-Könnens« (SG, 163f.). Die auf dem Foto abgebildete Bewegung verweist auf bestimmende menschliche Auffassungen und Handlungsweisen; »eine Grammatik des Lebens« zeichnet sich damit im fotografischen Bild ab (SG, 161).22 Der Gedanke, eine Grammatik des Lebens, d. h. eine Beschreibung der Struktur des Lebens, könne von kleinen Gesten und Bewegungen ausgehen, wird mehrfach und in unterschiedlicher Form in Sinnliche Gewißheit aufgegriffen. Dabei postuliert Menasses Roman stets auf realistisch-fotografische Weise eine charakteristische Verbindung von unscheinbaren Details und umfassenden Lebenszusammenhängen, die auch schon am Urlaubsfoto abzulesen war.23 Die fotografisch abgebildeten kleinen Bewegungen werden in einen umfassenden Zusammenhang gestellt, wie die hypothetischen Überlegungen Professor Singers illustrieren. Dieser möchte in der Folge »jetzt aber endlich diesen allgemeinen Begriff Bewegung durch einige allgemeine Attribute etwas konkretisieren – gesellschaftliche Bewegung zum Beispiel, ökonomische, politische, künstlerische Entwicklung … hm!« (SG, 164). Das Urlaubsfoto dient ihm dabei lediglich als zufälliger Ausgangspunkt für seine Aperçus. Im Sinne der rezeptionsästhetisch ausgerichteten Bildbetrachtung, die zuvor skizziert wurde, ergänzt der Professor das im Bild vermeintlich Fehlende und denkt die Zusammenhänge weiter. Die angewandte Fotolektüre folgt dem von Walter Benjamin beschriebenen »Zwang, in solchem Bild […] die unscheinbare Stelle zu finden, in welcher, im Sosein jener längstvergangenen Minute das Künftige noch heut und so beredt nistet, daß wir, rück22

23

Auch Susan Sontag bezeichnet Fotografien als eine Grammatik und Ethik des Sehens: »They are a grammar and, even more importantly, an ethics of seeing« (On Photography, S. 3). Dieses Herstellen eines Zusammenhangs erinnert an Honoré de Balzacs schriftstellerisches Verfahren. Vermittelt doch der französische Realist durch die Schilderung einzelner Details die Quintessenz eines Lebens oder die Stimmung eines Ortes. Erich Auerbach hat anhand des Beginns von Le perè Goriot [1834] dieses Verfahren Balzacs präzise untersucht: Vgl. Erich Auerbach: Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur. Bern [u. a.] 41967, S. 437–442. Susan Sontag referiert ebenfalls diesen Aspekt von Balzacs Realismus und vergleicht das Verfahren mit der Fotografie: »The Balzacian operation was to magnify tiny details, as in a photographic enlargement, to juxtapose incongruous traits or items, as in a photographic layout: made expressive in this way, any one thing can be connected with everything else. For Balzac, the spirit of an entire milieu could be disclosed by a single material detail, however paltry or arbitrary-seeming. The whole of a life may be summed up in a momentary appearance« (On Photography, S. 151–180, hier S. 159).

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blickend, es entdecken können«.24 Es wirkt, als sei in einer Fotografie, die etwas Vergangenes zeigt, bereits das Nachfolgende mit angelegt. Man betrachtet mit dem Foto einen Ausschnitt aus der Vergangenheit und sucht zugleich auch nach Spuren der aktuellen Gegenwart. An diese Idee Benjamins scheint der Roman Sinnliche Gewißheit anzuknüpfen, wenn erwogen wird, dass man »den Ausgangspunkt der Bewegung begreifen müsse« (SG, 164). Doch Singer möchte aus der Fotografie nicht nur die eigene Gegenwart herauslesen. Darüber hinaus gelte es auch, »durch eine analytische Darstellung des Bestehenden das Künftige vorblitzen zu lassen« (SG, 165). Der Professor nutzt daher das Foto als Medium, um in die Zukunft zu blicken. Seiner Ansicht nach bildet das Urlaubsfoto zwar nur eine kleine Bewegung ab; auch diese sei jedoch wie in einem lebenden Organismus ein Teil der umfassenden geschichtlichen Entwicklung. Die Geschichte verlaufe teleologisch, ihr Ziel richte alles, auch die auf dem Foto abgebildete Bewegung, sinnvoll aus. Leo Singer betreibt geschichtsphilosophische Spekulation. Geschult an Hegels Phänomenologie des Geistes, über die er promoviert, denkt er auch bei der Bildanalyse in Hegel’schen Kategorien. Die auf dem Urlaubsfoto erkennbaren Bewegungen Monikas und Romans erscheinen ihm daher als Stufen oder Momentaufnahmen zweier verschiedener Entwicklungen des Bewusstseins, deren Ziel »die reine Anschauung und das Geschehenlassen« einerseits und andererseits »die blinde Negation« sei (SG, 164).25 Beiläufig führt er damit nicht nur die treffende Charakterisierung Monikas und Romans fort, die aufgrund ihrer unterschiedlichen Lebenshaltungen als Antipoden erscheinen. Darüber hinaus entwickelt Singer auch die zuvor skizzierte Fototheorie weiter und überführt die rezeptionsästhetischen Überlegungen in geschichtsphilosophische Spekulation Hegel’scher Provenienz. Vom fotografischen Bild und den dort erkennbaren Bewegungen ausgehend rekonstruiert und imaginiert er den größeren Bewegungs- und Sinnzusammenhang. Dabei ver24

25

Walter Benjamin: »Kleine Geschichte der Photographie«. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Bd. II.1. Frankfurt am Main 1977, S. 368–385, hier S. 371. Der Begriff des »reinen Anschauens« wird von Hegel in seiner Phänomenologie des Geistes, im Kapitel Sinnliche Gewißheit, verwendet und dort als Zustand des unmittelbar wahrnehmenden Ich [sic] definiert. Hegel gibt das Beispiel eines Ich, das einen Baum wahrnimmt und diesen auch als Baum bestimmt: »Ich, dieser, behaupte also das Hier als Baum und wende mich nicht um, so daß mir das Hier zu einem Nichtbaum würde; ich nehme auch keine Notiz davon, daß ein anderer Ich [sic] das Hier als Nichtbaum sieht, oder daß Ich selbst ein anderes Mal das Hier als Nichtbaum, das Jetzt als Nichttag nehme; sondern ich bin reines Anschauen […]« (Hegel: Phänomenologie, S. 84).

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folgt Singer die erkennbaren Bewegungen bis auf die Ebene des Bewusstseins derjenigen Personen, die auf dem Foto abgebildet sind. Schließlich spekuliert er in Hegel’scher Manier über die Entwicklung des Geistes und den Gang der Geschichte.

V Hegel’sche Kategorien und dialektische Denkfiguren sind in allen Teilen von Menasses Romantrilogie präsent, die Phänomenologie des Geistes fungiert als beständiger Subtext der Trilogie. Menasse antizipiert Hegels Phänomenologie, indem er die dort beschriebene Entwicklung des Geistes und den Gang der Geschichte invertiert. Geschichte erscheint ihm in der Trilogie der Entgeisterung als Rückentwicklung des Geistes. Jeder Teil der Trilogie illustriert eine Stufe dieser (Rück-)Entwicklung. In Sinnliche Gewißheit, dem ersten Teil, ist der Titel zugleich das Programm. Dort diagnostiziert die Figur Leo Singer den derzeitigen Status Quo folgendermaßen: Ausgangspunkt und Ziel [sind] identisch geworden […], wir sind zum Anfang zurückgekehrt, das heißt, wir sind am Ende. […] Fortschritt? Vergeßt das. Wachsendes Bewußtsein? Lächerlich. Magisches Denken, ja, aber kein Bewußtsein, geschweige denn Wissen. Unüberschaubarkeit ja, o schöner Fetisch Unüberschaubarkeit, das ist eben sinnliche Gewißheit. […] Wir werden es sehen. Wir – egal! Hegel lesen! (SG, 165)

In dieser Gegenwartsdiagnostik negiert Singer den geschichtlichen Fortschritt, die Weiterentwicklung des menschlichen Bewusstseins und das rationale Denken und propagiert demgegenüber ein zyklisches Geschichtsbild, »magisches Denken« und »Unüberschaubarkeit«. Unüberschaubarkeit ist das Wesen der »sinnlichen Gewißheit«, in der alles Wahrgenommene nur vereinzelt und zusammenhangslos erscheint.26 Der hier behauptete fragmentarische Charakter der wahrgenommenen Welt wird zum Sinnbild der Postmoderne, in der die Unterscheidung zwischen Original und Zitat hin26

Die »Sinnliche Gewißheit« wird im gleichnamigen Roman Menasses unter explizitem Rekurs auf das erste Kapitel von Hegels Phänomenologie folgendermaßen definiert: »›Hegel beschreibt doch im ersten Kapitel der Phänomenologie‹, sagte Professor Singer […] ›jene Bewußtseinsform, die sich unmittelbar und aufnehmend verhält, das heißt, die die Dinge so nehmen will, wie sie sind, ohne etwas zu verändern oder wegzulassen. Diese Bewußtseinsform, die er Sinnliche Gewißheit nennt und die eine unendlich reiche Erkenntnis zu verbürgen scheint […] drückt in Wahrheit die abstrakteste und ärmste Wahrheit aus, denn sie kann von dem, was sie aufnimmt, letztlich nur aussagen, daß es ist. Ihre Wahrheit enthält nur das Sein der Sache‹« (SG, 126).

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fällig geworden ist und anstelle der sinnvollen Form nur noch das leere Ornament zurückbleibt. Die Genese und Eigenart des postmodernen Bewusstseins hat Menasse nicht nur fiktional in den drei Romanen erzählt, sondern auch theoretisch in seiner Abhandlung Phänomenologie der Entgeisterung. Geschichte des verschwindenden Wissens reflektiert. Der Traktat schließt mit dem programmatischen und definitiven Satz: »›Im Anfang ist die Kopie‹« (PE, 87). Während Hegels Phänomenologie als beständiger Subtext der Romantrilogie Menasses fungiert und dort – in abgewandelter invertierter Form – die Postmoderne präfiguriert, ist der Fotografie-Diskurs weniger auffällig und durchzieht vor allem den ersten Teil der Trilogie. Dort wird die Fototheorie jedoch bei der Bildanalyse des Urlaubsfotos mit der spekulativen Geschichtsphilosophie Hegels verbunden. Diese Verbindung ist bemerkenswert, weil sie paradox anmutet. Denn während es sich bei der Fotografie vor allem um eine sinnlich-visuelle Erfahrung handelt, versucht die Spekulation gerade »jenseits der Welt der sinnlichen Erfahrung das wahre Seiende, die Ideen oder Gott zu erfassen«.27 Die Paradoxie zwischen diesen zwei Erfahrungsbegriffen besteht jedoch nur scheinbar. Versteht man die Fotografie als Paradigma, so ist der vermeintliche Widerspruch aufzuheben und eine Verbindung von Fotografie und Geschichtsspekulation durchaus zu leisten. Der Begriff des Paradigmas muss hierbei in Zusammenhang mit Hans Blumenbergs Überlegungen zu einer Metaphorologie und mit Immanuel Kants Begriff des Symbols gesehen werden, denn, darauf hat Herta Wolf aufmerksam gemacht: als Paradigma fungiert das, was Blumenberg als ›absolute Metapher‹ ausweist. […] Um die Funktionsweise dieser absoluten Metapher zu veranschaulichen, rekurriert Blumenberg auf Kants ›Übertragung der Reflexion über einen Gegenstand der Anschauung auf einen ganz anderen Gegenstand, dem vielleicht nie eine Anschauung direkt korrespondieren kann‹.28

Als ein solcher »Gegenstand der Anschauung« im Sinne Kants erscheint das fotografische Bild, während es sich bei der in Menasses Roman erwähnten »Idee, die dem Sein […] zugrunde liegt« (SG, 163), um einen »ganz anderen Gegenstand [handelt], dem vielleicht nie eine Anschauung direkt korrespondieren kann«. Indem Menasses Romanprotagonist Leo Singer das Urlaubsfoto weiterdenken und auf einen übergeordneten Sinnzusammenhang 27 28

Herbert Schnädelbach: Hegel zur Einführung. Hamburg 1999, S. 18. Wolf: »Einleitung«. In: Dies. (Hrsg.): Paradigma Photographie, S. 9. Herta Wolf bezieht sich hier auf Hans Blumenbergs »Paradigmen zu einer Metaphorologie«. In: Anselm Haverkamp (Hrsg.): Theorie der Metapher. Darmstadt 1983, S. 285–315, hier S. 289. Das Zitat von Immanuel Kant findet sich in Paragraph 59 seiner Kritik der Urteilskraft. Mit einer Einleitung u. Bibliographie hrsg. von Heiner F. Klemme. Hamburg 2001, S. 255.

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schließen will, versucht er genau die hier von Kant erwähnte »Übertragung der Reflexion« zu leisten. Die »Regel […] für die Reflexion« wird aus dem Paradigma Fotografie gewonnen und in der Übertragung der vermeintliche Widerspruch zwischen dem Sinnlich-Visuellen und der Spekulation überwunden.29 Der Fotodiskurs in Menasses Roman legt eine originelle und nahezu einzigartige Verbindung mit der Philosophie Hegels und möglicherweise Kants nahe;30 zugleich findet jedoch auch eine Reinterpretation dieser Philosophie im Zeichen der Postmoderne statt. Wurden im 19. und 20. Jahrhundert, insbesondere im Zuge des Positivismus, die Erkenntnis und das Weltwissen zunehmend visuell konzeptualisiert, so treten in der Postmoderne die fotografischen Bilder an die Stelle des nunmehr als unmöglich erkannten Weltwissens und der Erkenntnis. Die fotografisch abgebildeten Bewegungssauschnitte wirken nur auf den ersten Blick beliebig und kontingent; sie repräsentieren jedoch vielmehr einzelne Elemente einer nachvollziehbaren Gesamtbewegung. Erzeugen die Bilder damit eine Form der Totalität? Fast wirkt es so. In Menasses Roman jedenfalls konstatiert der Protagonist irritiert, dass eine Diskrepanz zwischen seinem Bewusstsein von der Welt und der auf Fotos abgebildeten Welt besteht. Das Urlaubsfoto zeigt mehr als Romans Gedächtnis. Er nimmt nur die von Singer konstatierte »Unüberschaubarkeit« wahr, die charakteristisch für die Bewusstseinsstufe der »sinnlichen Gewißheit« ist (SG, 165). Auf dem Foto wird aber das Vergangene in seinen unzähligen Details festgehalten, die logisch zusammenzuhängen und zusammengenommen wieder »ein Ganzes« zu ergeben scheinen (SG, 160). So suggeriert das fotografische Bild eine Totalität und Kausalität der Welt. Als verkleinertes Abbild dieser Welt und als fixierter Bildausschnitt generiert das Foto des Weiteren eine neue räumliche und zeitliche Ordnung. Es verfügt über eine spezifische »Raumzeit«, wie man im Rekurs auf Vilém Flusser formulieren könnte: Diese dem Bild eigene Raumzeit ist nichts anderes als die Welt der Magie, eine Welt, in der sich alles wiederholt und in der alles an einem bedeutungsvollen Kontext teilnimmt. Eine solche Welt unterscheidet sich strukturell von der der historischen Linearität, in welcher sich nichts wiederholt und in der alles Ursachen hat 29 30

Wolf: »Einleitung«. In: Dies. (Hrsg.): Paradigma Photographie, S. 9. Ein weiterer Ansatz zu einer Verbindung von Hegels Philosophie und der Fotografie findet sich bei Sarah Kofmann, die den fotografischen Entwicklungsvorgang in Beziehung zur Hegel’schen Dialektik setzt: »von der Dunkelheit ins Licht überzuwechseln. Das fotografische Entwickeln würde dann die Entfaltung des Geistes ausdrücken, der im Laufe der Zeit zu sich selbst zurückkehrt, die Aufhebung des Negativen durch das Positive« (»Freud – Der Fotoapparat«. Übersetzt von Dieter Hornig. In: Wolf [Hrsg.]: Paradigma Photographie, S. 60–66, hier S. 64).

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und Folgen haben wird. […] Die Bedeutung des Bildes ist magisch. Der magische Charakter der Bilder muß bei ihrer Entzifferung berücksichtigt werden. So ist es falsch, in Bildern ›gefrorene Ereignisse‹ sehen zu wollen. Vielmehr ersetzen sie Ereignisse durch Sachverhalte und übersetzen sie in Szenen.31

Die Fotografie ist eine Reproduktion der Dinge. Als solche Reproduktion schafft sie »eine Welt, in der sich alles wiederholt«. Damit entspricht die fotografische Welt dem zyklischen und ahistorischen Geschichtsbild Singers aus Menasses Roman: Beide unterscheiden sich nicht nur »strukturell von der [Welt] der historischen Linearität«, sondern sind auch durch eine umfassende Kausalität charakterisiert. Flussers Bestimmung des Bildes als »magisch« ist analog zu Menasses Bildtheorie zu sehen: »Magisches Denken, ja«, so räumt Leo Singer im Roman ein (SG, 165). Bei seiner Analyse des Urlaubsfotos sind die abgebildeten Bewegungen ein Teil der geschichtlichen Entwicklung und erhalten ihren Sinn durch das übergeordnete Ziel der Geschichte; wie bei Flusser formuliert, nimmt also »alles an einem bedeutungsvollen Kontext teil […]«. Alles wiederholt sich, so dass »Ausgangspunkt und Ziel identisch geworden sind« (SG, 165). Hegels Geschichtsphilosophie invertierend und an Benjamins Angelus Novus-Interpretation anknüpfend fliegt der »Engel der Geschichte« in der Trilogie der Entgeisterung rückwärts.32 Durch diesen Perspektivenwechsel lässt selbst das Urlaubsfoto Vergangenheit und Zukunft zugleich aufscheinen. Die Fotografie erscheint in Sinnliche Gewißheit als Paradigma, aus dem die Regeln für die geschichtsphilosophische Reflexion deduziert werden. Ändert man das Paradigma, so ändert man zwangsläufig auch den Regelkanon. Der Fortgang des Romans und die beiden anderen Teile von Menasses Trilogie illustrieren dies anschaulich. Letztlich wird die Fotografie vom Film abgelöst, der fortan die Weltwahrnehmung bestimmt. »Der Exfotograf« Thomas installiert gegen Ende des ersten Teils in der Bar jeder Hoffnung Videokameras: 31 32

Flusser: Philosophie der Fotografie, S. 9. Zu Benjamins Interpretation von Paul Klees Bild Angelus Novus vgl. Ders.: »Über den Begriff der Geschichte«. These IX. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. I.2: Abhandlungen. Frankfurt am Main 1974, S. 697f. Diese Deutung des »Engel[s] der Geschichte« (ebd.) ist ein Grundmotiv von Menasses Romantrilogie, in der sich vielfach explizite und implizite Bezüge auf Benjamins Geschichts-Thesen finden: Vgl. exemplarisch die Friedhofszene, in der das Bild Klees beschrieben und Benjamins Ausführungen fast wortwörtlich zitiert werden: SG, 208f. Jutta MüllerTamm hat das Motiv des Engels in Menasses Romantrilogie vor dem Hintergrund von Benjamins neunter These als Prätext untersucht: »Die Engel der Geschichten. Zu einem Motiv in Robert Menasses Romantrilogie«. In: Stolz (Hrsg.): Die Welt scheint unverbesserlich, S. 50–67, insbes. S. 52–54.

»… eine Technik des Sehens, eine Grammatik des Lebens«

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Nun gab es, wie im Kassenraum einer Bank, Videokameras, auf bizarren, metallenen Greifarmen waren sie montiert, über dem Eingang, hinter der Theke neben dem Flaschenschrank, über den Tischen, sie schienen das Leben in jedem Winkel der Bar zu filmen, aber auf den Monitoren, die an den Wänden angebracht waren, flimmerte nur das Standbild der menschenleeren Bar. (SG, 312f.)

Die Videokameras zeichnen potenziell bewegte Bilder auf. Hier zeigen sie aber keine Szenen des animierten abendlichen Barlebens, sondern »nur das Standbild der menschenleeren Bar«. Ein zuvor aufgenommenes stehendes Bild wird also als Mittel der Arretierung eingesetzt und damit die Fotografie in den Kontext des Mediums Film integriert. Das projizierte Standbild subvertiert die Erwartungen und Wahrnehmungsgewohnheiten der Barbesucher: »Obwohl auf den Monitoren kein Mensch zu sehen war, schienen doch alle mit dem Auge der Kamera zu rechnen, vielleicht auch nicht, vielleicht rechneten sie nur aus Gewohnheit mit dem Auge der Kamera. Die Stimmung war gehoben wie eine Augenbraue« (SG, 313). Entgegen ihrer Erwartung zeigen die Filmkameras weder Bildfolgen noch Bewegungen oder Menschen, sondern nur Leere und Absenz. Die Idee, dass die aufgenommenen Videobilder nur noch leer sind und keinen Sinn mehr repräsentieren, wird schließlich in Schubumkehr, dem dritten und letzten Teil der Trilogie, wieder aufgenommen. In programmatischer Zuspitzung erscheinen die sinnentleerten Filme dort als Analogie des menschlichen Bewusstseins. Der Protagonist Roman ist nach Österreich zurückgekehrt. Dort findet er jedoch keine Heimat mehr, sondern wird nur noch mit grotesken Szenarien konfrontiert, die er mit Hilfe seiner Videokamera aufzunehmen versucht. Der allgemeine Kontrollverlust radikalisiert sich schließlich so weit, dass Romans Bewusstsein zu regredieren beginnt und er flieht. Seine Filme veranschaulichen diese Regression und Absenz, sie dienen als neues zeitgemäßes Paradigma, eben weil sie jegliche visuelle Evidenz vermissen lassen. Die Videoaufzeichnungen, die Roman hinterlässt, sind für die anonymen Betrachter unverständlich: Häufig wirkt das Bild »verzerrt« (Sch, 7); »nichts mehr [ist] zu sehen, reine Bewegung, sonst nichts, […] verwackelt und unscharf, die Kamera hat keine Zeit, sie präzis zu fokussieren« (Sch, 16). Am Schluss des Romans Schubumkehr ist das Bewusstsein des Protagonisten so leer wie die Videokassette, die gefunden wird. Die Betrachter können nur noch spekulieren, ob Roman den Inhalt der Kassette »wieder gelöscht« oder »gar nichts mehr aufgenommen« hat (Sch, 180). Die Geschichte (aus) der Romantrilogie ist damit an ihr Ende gekommen.

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VI Seit ihrer Entdeckung beeinflusst die Fotografie die menschliche Wahrnehmung und Gestaltung der Welt. Das Aufkommen und die massenhafte Verbreitung der fotografischen Bilder haben zum Bruch mit etablierten Sehund Denkgewohnheiten geführt und einen neuen Blick auf die Welt wie auch eine neue Darstellung der Welt inauguriert. Dieser Bruch wird vielfach in der Literatur reflektiert, so auch in Menasses Romantrilogie. Seine Trilogie der Entgeisterung hebt jedoch nicht nur die von jeher gerühmte Genauigkeit der Fotografie hervor. Vielmehr wird eine rezeptionsästhetische Theorie des Fotos skizziert. Menasse schlägt vor, fotografische Bilder als Momentaufnahmen kleinster Bewegungen zu lesen und diese Bewegungen als Teile eines übergeordneten Sinnzusammenhangs weiterzudenken. Indem sie diesen Sinnzusammenhang abbilden und dem Intellekt des Betrachters zugänglich machen soll, wird die Fotografie in den Rang eines ästhetischen und theoretischen Paradigmas der Moderne erhoben. Der Foto-Diskurs verbindet sich dabei durchaus ironisierend mit einer geschichtsphilosophischen Spekulation, im Zuge deren Hegel’sche Begriffe und Kategorien appliziert und auf die Bildbetrachtung angewandt werden. Über diese philosophische Relektüre fotografischer Bilder eröffnet die Fotografie in Menasses Romantrilogie somit einen sehr eigenwilligen neuen Blick auf die Welt.

Erinnerungsreflexe

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1. Zur Beziehung von Literatur und Fotografie Bereits für die Epoche der Entdeckung und der öffentlichen Einführung der Fotografie in der Mitte des 19. Jahrhunderts lässt sich eine Verbindung zwischen dem neuen Medium und jenem der Schrift herstellen; sowohl die Erfinder der verschiedenen fotografischen Verfahren, wie Joseph Nicéphore Niépce oder William Henry Fox Talbot, als auch ihre Fürsprecher versuchten, sich in ihren Abhandlungen über deren Besonderheiten zu verständigen. In immer neuen Anstrengungen ging es in einer gegenläufigen Bewegung von Abgrenzung und Parallelisierung in Bezug auf historische sowie andere zeitgenössische Bildpraktiken darum, die Eigenständigkeit und Signifikanz des neuen Mediums zu begründen. Erst im Verlauf dieser terminologischen Arbeit setzte sich der Begriff der Fotografie allmählich gegen die ursprünglich noch tastenden Bezeichnungen wie »gravures«, »rétines«, »épreuves« oder auch »photogenic drawings« und »calotypes« durch.1 Abgesehen von diesen begriffsgeschichtlichen Implikationen können die Memoranden der Entdecker als die erste Station der sich über viele Jahre erstreckenden Auseinandersetzung zwischen Literatur und Fotografie gelten, denn damit wurde nicht nur die wissenschaftliche wie politische Öffentlichkeit über die entsprechenden Forschungen informiert, sondern es liegt eine erste Form der schriftlichen Auseinandersetzung mit dem fotografischen Bild vor. Besonders ausgeprägt ist dies im Fall von Fox Talbot, der »am konsequentesten den Eigentümlichkeiten seiner Entdeckung nachzuspüren versucht hat«.2 In The Pencil of Nature (1844), dem ersten fotografisch illustrierten Buch, vermitteln die Texte und Bilder einen Eindruck von Talbots Verständnis dieser 1

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Zur Begriffsgeschichte der Fotografie siehe Bernd Busch: »Fotografie/fotografisch, Kap. I–IV«. In: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Hrsg. von Karlheinz Barck, Martin Fontius, Dieter Schlenstedt, Burckhardt Steinwachs und Friedrich Wolfzettel. Bd. 2. Stuttgart, Weimar 2001, S. 494–534; darin insbesondere die »Einleitung: Fotografiegeschichte als Begriffgeschichte« (S. 494–496) und Abschnitt »I: Arbeit am Begriff: anfängliche Benennungen der fotografischen Verfahren« (S. 496–506). Ebd., S. 500.

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neuen Kunsttechnik. Um Gebrauchsweisen des fotografischen Bildes zu erläutern und eine Annäherung an die Aufnahmen zuzulassen, umgibt Talbot die Fotografien »gleichsam mit einem Gewebe sprachlicher Information«,3 so dass die Wahrnehmung und das Verständnis des Betrachters vom Text tief beeinflusst, wenn nicht hergestellt werden. Für Bernd Busch hat Talbot damit eine erste Theorie des Fotografischen entworfen, die sich aus der Spannung zwischen Bildern und Texten entwickelt: Der Zwang zur sprachlichen Verarbeitung gründet geradezu in der aufgebrochenen Kluft zwischen der fotografischen Zeit der Fixierung und der Zeit der Wahrnehmung, der vergangenen des Motivs wie der nachträglichen des Bildes. Als Gegenstand des Wahrnehmungssinns bedarf die Evidenz des Bildes der Beschreibung, um sich aus der Ferne, in der sie versunken ist, zu lösen. Das Bild ruht gleichsam auf einem vergangenen Geschehen, in dessen Verlauf es eingebrochen ist und das im Augenblick der Aufnahme abreißt. Die im Bild angehaltene und aufgehobene Zeit soll nun durch den Text der Wahrnehmung zurückgegeben werden – die Worte betten die Anschauung der ›Ansichten‹ auf die Reformulierung ihrer Geschichten.4

Die Auseinandersetzung mit der Diskrepanz zwischen der Zeit der Fixierung und der Zeit der Wahrnehmung ist eines der leitmotivisch wiederkehrenden Merkmale der zahlreiche Wechselwirkungen umfassenden Beziehung zwischen den Medien Literatur und Fotografie. Dazu zählen kunstkritische, ästhetische Essays, wie jener Charles Baudelaires,5 Fotografiegeschichten, wie jene Walter Benjamins,6 oder der surrealistische Montageroman,7 aber auch Formen der bildenden Kunst wie die dadaistische Collage, deren Aussagewert entscheidend durch das Zusammenspiel zwischen Text(fetzen) und (fotografischen) Bildern bestimmt wird,8 oder der weite Komplex der Illustration von Büchern durch Fotografien.9 Im Zusammenspiel mit den literarischen Tex3 4 5

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Ebd., S. 501. Ebd. Charles Baudelaire: »Salon de 1859: II. Le public moderne et la photographie«. In: Ders.: Œuvres. Hrsg. von Y.-G. Dantec. Paris 1954, S. 767–772. Walter Benjamin: »Kleine Geschichte der Photographie«. In: Ders.: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Drei Studien zur Kunstsoziologie. Frankfurt am Main 1977, S. 47–64. Als bedeutendste Vertreter seien hier genannt: Louis Aragon: Le paysan de Paris (Paris 1926) und André Breton: Nadja (Paris 1928). Zur Form der dadaistischen Collage siehe Carl-Heinrich Haenlein (Hrsg.): DadaPhotographie und Photocollage. Hannover 1979; sowie Evmarie Schmitt: Abstrakte Dada-Kunst. Versuch einer Begriffserklärung und Untersuchung der Beziehungen zur künstlerischen Avantgarde. Hamburg 1992. Hierzu sind zahlreiche Studien erschienen. Vgl. insbesondere: Hubertus von Amelunxen: »Quand la photographie se fit lectrice. Le livre illustré par la photo-

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ten kann die Fotografie zum einen als Gegenstand der Kunstkritik oder der Kunstgeschichtsschreibung dienen – und damit als ›Vorwand‹ bzw. Ausgangspunkt für ästhetische Reflexionen, die über den eigentlichen Gegenstand hinausführen.10 Sie wird zum anderen als zu bearbeitendes ›Rohmaterial‹ für avantgardistische Kunstwerke verwendet und dann verfremdend in den Kontext einer Collage – wie bei Max Ernst – eingearbeitet.11 Begleitet sie einen literarischen Text, können durch das Einfügen der Fotos in den Text über den illustrierenden Effekt hinaus ›unterirdische‹ Verbindungen zwischen Schrift und Bild entstehen, die überraschend neue Sinndeutungen ermöglichen – wie in André Bretons surrealistischem Roman Nadja12 oder in jüngster Zeit in den Prosatexten W. G. Sebalds, die sich »in weiten Strecken als eine durch Überblendung, Montage und Zitat strukturierte Folge von Bildern lesen lassen«.13 Trotz aller Unterschiede in der Kombination der beiden Medien lässt sich in den auf die Fotografie referierenden Texten eine Reihe von Gemeinsamkeiten ausmachen. Seit ihrer Erfindung wohnt der Fotografie ein spezifisches Faszinationspotential inne, das zur zustimmenden oder ablehnenden Stellungnahme herausfordert. Zahlreiche sich mit dem Thema befassende literarische oder fotografiehistoriografische Texte nennen als Begründung für die vielfach empfundene Faszination den – erst von Roland Barthes auf den Begriff gebrachten – »effet de réel«,14 also die einzigartige und sie von der Malerei unterscheidende Fähigkeit der Fotografie, die Wirklichkeit ›einzu-

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graphie au XIXe siècle«. In: Romantisme 47/1985, S. 85–96; Frank Heidtmann: Wie das Photo ins Buch kam. Der Weg zum photographisch illustrierten Buch. Berlin 1984; J. Hillis Miller: Illustration. Die Spur der Zeichen in Kunst, Kritik und Kultur. Konstanz 1993. Baudelaire wirft der Fotografie im »Salon de 1859« insbesondere ihre Wirklichkeitsnähe vor und wendet sich gegen die Vorstellung, Kunst könne nur in der exakten Reproduktion der Natur bestehen. Vgl. zu Baudelaires ›Abrechnung‹ mit der Fotografie: Susan Blood: »Baudelaire against Photography. An Allegory of the Old Age«. In: Modern Language Notes 101/1986, S. 817–837; Wolfgang Drost: »Photographie als Unkunst? Historisch-ästhetische Analyse von Baudelaires Verurteilung der Photographie«. In: Lendemains 34/1984, S. 25–33. Zu den Fotomontagen und -collagen Max Ernsts vgl. Erwin Koppen: Literatur und Photographie. Über Geschichte und Thematik einer Medienentdeckung. Stuttgart 1987, S. 110ff. Vgl. dazu etwa Franz-Josef Albersmeier: »Collage und Montage im surrealistischen Roman«. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 46/1982, S. 46–63. Heiner Boehncke: »Clair obscur. W. G. Sebalds Bilder«. In: Text + Kritik 158/2003. W. G. Sebald, S. 43–62, hier S. 48. Roland Barthes: »L’effet de réel«. In: Ders.: Le bruissement de la langue. Paris 1984, S. 167–174.

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fangen‹ und festzuhalten. Schon Walter Benjamin spricht in Bezug auf die starke unmittelbare Präsenz der abgebildeten Dinge oder Personen von der »Aura«, die aufgrund des technisch erforderlichen langen Stillhaltens der Modelle, die »in das Bild hineinwachsen«, als »Synthese des Ausdrucks« zustande kommt.15 Bei Roland Barthes ist in diesem Zusammenhang die Rede vom sogenannten »punctum«,16 das sich, wiederum mit Benjamin, erklären lässt als »das winzige Fünkchen Zufall, Hier und Jetzt« bzw. die »unscheinbare Stelle, in der im Sosein jener längstvergangenen Minute das Künftige noch heute nistet, daß wir, rückblickend, es entdecken können«.17 Ein in diesem Zusammenhang häufig wiederkehrendes Schlagwort ist auch jenes des Archivs, denn durch ihre bewahrende Funktion dienen die Fotos der Erinnerung und stellen einen Konnex zur Vergangenheit her.18 Wie bereits erwähnt, wird hier die zeitliche Kluft zwischen dem Moment des Abbildens und dem des Betrachtens besonders deutlich, was auch positive Effekte haben kann: Erst das aufgrund der technischen Gegebenheiten der Fotografie notwendig zeitversetzte Betrachten der abgebildeten Person oder der von ihr durchlebten Situationen auf dem fotografischen Abzug ermöglicht einen analytischen Blick und den Versuch einer verstehenden Einordnung. Zugleich jedoch zieht die Reflexion über die magische Wirkung (historischer) fotografischer Bilder Überlegungen über die Vergänglichkeit und den Tod mit sich: Die Fotografie versteht es zwar einerseits, Wirklichkeit zu bannen und zu bändigen, doch andererseits beinhaltet der Blick auf das in der Vergangenheit Abgelichtete stets den drohenden Verweis auf die Möglichkeit des Entschwindens.19

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Benjamin: Kleine Geschichte der Photographie, S. 52. Roland Barthes: La chambre claire. Note sur la photographie [1980]. Paris 2001, S. 49. Benjamin: Kleine Geschichte der Photographie, S. 50. Bereits im 19. Jahrhundert sind die Beschreibungen der Fotografie als Archiv der Welt, das die direkte Betrachtung der Gegenstände ersetzen und auch Reisen überflüssig machen kann, ein Topos. Vgl. Bernd Stiegler: Philologie des Auges. Die photographische Entdeckung der Welt im 19. Jahrhundert. München 2001, S. 11. Zur Aktualität der Auseinandersetzung mit der Vorstellung des Archivs in der bildenden Kunst siehe den Ausstellungskatalog interarchive. Archivarische Praktiken und Handlungsräume im zeitgenössischen Kunstfeld. Hrsg. von Beatrice von Bismarck u. a., Köln 2002. Vgl. etwa die entsprechenden Überlegungen bei Kurt Tucholsky: »Altes Licht«. In: Ders.: Gesammelte Werke. Hrsg. von Mary Gerold-Tucholsky, Fritz J. Raddatz. Bd. 2 (1925–1928). Reinbek 1960, S. 914–916.

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2. Zum Verhältnis von Literatur und Geschichte Nach diesen einführenden Hinweisen zur Geschichte der Beziehung zwischen Literatur und Fotografie will ich im Folgenden zunächst einige Überlegungen anstellen zum erinnerungskulturellen Anspruch all der Bücher, die einer Konjunktur des ›neuen historischen Erzählens‹ zugerechnet werden können, bevor ich mich im letzten Teil meines Beitrags zwei exemplarischen Vertretern dieser Textsorte zuwende: Dora Bruder (1997) von Patrick Modiano und Mes petites communautés (1999) von Olivia Rosenthal. In den Büchern Modianos und Rosenthals, vergleichbar denen anderer französischer Autoren wie Agnès Desarthe und Cécile Wajsbrot, spielt die Auseinandersetzung mit der Individual- und Kollektivgeschichte der nahen Vergangenheit eine große Rolle. Sie sind Teil des Phänomens einer neuen Form literarischer Memorialistik, in der sich zahlreiche französische, aber auch deutsche und spanische Autoren und Autorinnen aus der Sicht der zweiten und dritten Generation der ›Nachgeborenen‹ mit den 1930er und 1940er Jahren auseinandersetzen. Diese ›Romane‹, die fiktionale Elemente mit dokumentarischem Material mischen, behandeln die Zeit des Bürgerkriegs und der Franco-Diktatur in Spanien, den Nationalsozialismus und das Dritte Reich in Deutschland, die Okkupation und das Vichy-Regime in Frankreich. Thematischer Nukleus, um den diese hybriden Textformen mehr oder weniger offen kreisen, ist darüber hinaus häufig die Judenverfolgung und -vernichtung. Unternimmt man den Versuch einer zumindest groben Typologisierung dieser Bücher, so finden sich einerseits Erzähltexte, die von der Kritik als ›Familienromane‹ oder als eine »Form der Geschichtsschreibung in der ersten Person« bezeichnet wurden.20 Ihre Verfasser und Verfasserinnen gehen darin auf die Suche nach vergessenen, verdrängten, verschwundenen (realen oder fiktiven) Familienmitgliedern, deren Lebenslinien von der politischen Ereignisgeschichte des 20. Jahrhunderts beeinflusst wurden. In der Hand halten sie eine »Zeitkapsel« (Thomas Medicus) mit den geringen materiellen Überresten – Fotografien, Briefen, Notizbüchern – aus denen »in Gestalt widersprüchlicher, nebulöser, fragmentierter Geschichten«21 die private Er20

21

Ulrich Raulff: »Großvater und Gral. Monumentale Intimität: Die NS-Zeit als Familienroman«. In: Süddeutsche Zeitung 56/8. 3. 2004, S. 11. – Zur Problematik des von Sigmund Freud stammenden Begriffs des ›Familienromans‹ und zu einem Definitionsversuch im Kontext der deutsch-jüdischen Literatur siehe Manuel Gogos: Philip Roth & Söhne. Zum jüdischen Familienroman. Hamburg 2005, S. 20ff. und S. 276ff. Harald Welzer: »Schön unscharf. Über die Konjunktur der Familien- und Generationenromane«. In: Mittelweg 36 1/2004, S. 53–64, hier S. 56.

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innerung der Familien rekonstruiert werden soll. Dies beinhaltet das Ausleuchten der familiären Konstellationen während der eigenen Kindheitsund Jugendjahre und dient unter Einbezug zeithistorischer Aspekte in erster Linie dazu, der Elterngeneration ein Gedächtnis zu erschreiben. Daneben treten Erinnerungstexte mit exemplarischen Protagonisten, die sich »explizit als Nachgeborene auf den zumeist steinigen Weg in eine fremde Vergangenheit machen und darin vor allem die Schwierigkeiten der Aneignung gerade des nicht miterlebten Geschehens« reflektieren.22 Ein bedeutendes Kennzeichen ist die Suche nach geeigneten Erzählformen, um – und dies betrifft einen Teil der Texte – »im Rahmen einer literarischen Rekonstruktion von Geschichten denjenigen zu einer dauerhaften Existenz zu verhelfen, die weder in der Geschichtsschreibung noch mittels eines über die jeweilige Kleinstgruppe Familie hinausgehenden kollektiven Gedächtnisses in der Gegenwart verankert sind«.23 Ein anderer Teil, wie beispielsweise die Erzähltexte Patrick Modianos, weist als Charakteristikum gerade die stetige, aber stets uneingelöste Annäherung an die Geschichte auf und reflektiert durch die Markierung von Leerstellen im Erzählfluss die Uneinholbarkeit des Vergangenen, dessen Versatzstücke nicht überliefert wurden und die unerzählt bleiben müssen.24 Dennoch handelt es sich bei all diesen Spielarten historischen Erzählens um Formen der Gedächtnisarbeit im Modus der Literatur. Diese sind, so könnte man mit Corinna Dehne formulieren, einerseits bestimmten generischen Normierungen und literarhistorischen Konventionen erzählter Geschichte verpflichtet und haben andererseits teil am medial breitgefächerten Aktionsfeld kultureller Vergangenheitssicherung.25 Die Erzähltexte begegnen einer solchen Problematik der Literarisierung von Gedächtnis, Erinnerung und Geschichte mit einer diskursiven Strategie, die spezifische konzeptionelle und narrative Gestaltungslösungen beinhaltet. Die metanarrative Reflexion des Verhältnisses zwischen historisch verbürgter Realität und der Fiktionalisierung derselben (oder im Gegenteil des Anspruchs auf Unterlassung gerade dieses Verfahrens) sowie die Verquickung von individueller und kollektiver Geschichte können geradezu als Gattungsmerkmale dieser Me22

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Corinna Dehne: Der ›Gedächtnisort‹ Roman. Zur Literarisierung von Familiengedächtnis und Zeitgeschichte im Werk Jean Rouauds. Berlin 2002, S. 10. Ebd. Vgl. Mona Körte: »Okkupation und Obsession. Judenfiguren in der französischen Nachkriegsliteratur«. In: Eva Lezzi, Monika Ehlers (Hrsg.): Fremdes Begehren. Transkulturelle Beziehungen in Literatur, Kunst und Medien. Köln, Weimar, Wien 2003, S. 281–293, hier bes. S. 289–291. Vgl. Dehne: Der ›Gedächtnisort‹ Roman, S. 9.

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morialromane gelten. Des Weiteren wird beständig nachgedacht über den Charakter und die Funktion materieller wie immaterieller Spuren, die zur literarischen ›Rekonstruktion‹ von Vergangenheit herangezogen werden. Unterscheiden lässt sich hier zwischen subjektiven Erinnerungsauslösern wie Echobildern oder Gerüchen – also all dem, was die Autorin Cécile Wajsbrot in einer Buchvorstellung einmal als »l’impalpable« bezeichnet hat,26 sowie den materiellen Erinnerungsträgern offizieller wie privater Natur – dazu gehören Archive, Zeitungen, Telefonbücher, Akten, Tagebücher, Lieder, Filme oder eben Fotografien. Die Autoren bzw. Ich-Erzähler reflektieren neben der Frage der Verpflichtung zur Zeugenschaft auch jene der Gedächtnisleistung verschiedener Medien, weshalb ich im Folgenden untersuchen möchte, welche Rolle die Fotografie bzw. ganz bestimmte Fotografien als vermeintlich authentische und objektive visuelle Erinnerungsträger spielen.

3. »Écrire à la place de«: Zur Gedächtnisproblematik bei Patrick Modiano und Olivia Rosenthal Anders als Patrick Modiano, der – geboren im Juli 1945 in Boulogne-Billancourt – als einer der »begabtesten französischen Romanautoren der Nachkriegszeit« gilt,27 ist die zwanzig Jahre später in Paris zur Welt gekommene Olivia Rosenthal bisher nur einem eingeweihten Kreis von Lesern bekannt.28 Modianos literarischem Œuvre vergleichbar, das von La place de l’étoile (1968) bis heute zwischen Fiktionalem und Faktualem oszilliert, entziehen sich allerdings auch Rosenthals Texte einer eindeutigen Gattungszuordnung. Seit 1999 hat die Autorin, Dramaturgin, Performance-Künstlerin und Universitätsdozentin im Pariser Verlag Verticales sieben Bücher veröffentlicht, die sie selbst als récits bezeichnet, darunter auch Mes petites communautés (1999) – einer ihrer ersten ›Romane‹, der im Folgenden im Mittelpunkt stehen soll.29 Ihre narrativen Texte bilden mittlerweile ein literarisches Werk »aux contours 26

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Anlässlich einer »Lecture-débat autour de Mémorial (2005)« am Frankreich-Zentrum der Technischen Universität Berlin am 23. Januar 2006. Birgit R. Erdle: »Patrick Modiano«. In: Kindlers Neues Literatur-Lexikon. Hrsg. von Walter Jens. Bd. 11. München 1990, S. 799–802, hier S. 801. Ich danke Marie-Odile André (Paris), die mich auf Rosenthals Werk aufmerksam gemacht hat. Vgl. dazu Marie-Odile André: »Éclats d’Allemagne dans la littérature contemporaine«. In: Wolfgang Asholt, Marc Dambre (Hrsg.): Un retour de normes romanesques? Le roman français contemporain. Paris [im Druck]. Die Titel der übrigen Bücher lauten Dans le temps (1999), Puisque nous sommes vivants (2000), L’Homme de mes rêves (2002), Les Fantaisies spéculatives de J. H. le sémite (2005), Les sept voies de la désobéissance (2004) und On n’est pas là pour disparaître (2007).

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flous, ouverts, interrogeant l’acte même de l’écriture par le biais de fictions nommées romans – puisqu’il faut bien, le travail accompli, donner un genre«.30 Doch Rosenthal schreibt ebenfalls für Rundfunk und Theater und hat sich insbesondere in ihren letzten Büchern Viande froide (2008), einem Reportagenband, und Les lois de l’hospitalité (2008), einem Theaterstück, sehr stark mit »la part d’oralité que toute écriture recèle«31 auseinandergesetzt. Dafür hat sie Gespräche mit denjenigen geführt, die normalerweise nicht mit Hilfe eines literarischen Textes das Wort ergreifen und deren témoignage sie in der Form eines von ihrer eigenen Erzählstimme orchestrierten Chors festhält. Dieser auf transkribierten Interviews beruhenden Auseinandersetzung mit den Sprachgewohnheiten anderer misst sie eine große Bedeutung bei, da sie ihr als Schriftstellerin im Hinblick auf Rhythmus, Syntax und Lexik eine Verschiebung (»un déplacement«), eine Neudefinition (»une redéfinition«) bzw. eine Grenzüberschreitung (»un passage de frontière«) ermögliche.32 Sich der Sprache der anderen auszusetzen, sich des Abstands zwischen der Sprache der anderen und der eigenen bewusst zu werden, um dann aber nach einem gemeinsamen Ausdruck für beide zu suchen, bedeutet für Rosenthal eine Annäherung an die Vielfalt und Vielgestaltigkeit der Welt mit nahezu utopischem Charakter: C’est pour moi une manière de disponibilité au murmure du monde, à la variété des discours qu’il véhicule. Et aussi c’est le moyen que j’ai trouvé pour interroger ce qui lie l’expérience de l’un à l’expérience de l’autre. Écrire à partir d’entretiens, ce n’est pas seulement repérer du dissemblable, c’est aussi essayer de construire de la cohérence, essayer d’inventer par la langue une manière de vivre ensemble.33

Sind die Themen ihrer Erzählungen »le flux de pensée ou de conscience, le choc entre différents flux de pensées, ou entre la conscience et la matière du monde«, so sprechen ihre Theaterstücke über »l’alchimie du dialogue, les malentendus, le rôle des silences, les erreurs d’interprétation de la parole de l’autre«.34 Beide Genres jedoch sind gekennzeichnet durch eine beständige 30

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Pierre Hild: »Olivia Rosenthal, Puisque nous sommes vivants«. In: Le Matricule des Anges 32/September-November 2000, S. 38. N.N., »Olivia Rosenthal« [Autorenporträt der Éditions Verticales], http://www. editions-verticales.com/auteurs_fiche.php?rubrique=4 (Stand: 30. 7. 2009). Olivia Rosenthal: »Entrer dans la langue de l’autre et la saisir de l’intérieur. Entretien avec Guénaël Boutouillet« (19. Februar 2009), 1. Teil, http://remue.net/ spip.php?article3084 (Stand: 30. 7. 2009). Olivia Rosenthal: »Entrer dans la langue de l’autre et la saisir de l’intérieur. Entretien avec Guénaël Boutouillet« (19. Februar 2009), 2. Teil, http://remue.net/ spip.php?article3085 (Stand: 30. 7.2009). Rosenthal: »Entrer dans la langue de l’autre« (19. Februar 2009), 1. Teil.

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Arbeit am Text als eine Arbeit am Rhythmus und an der Satzmelodie über die Methode des wiederholten lauten Skandierens, was von der Kritik honoriert wird, die an Rosenthals Stil »une phrase ample et libre […] d’inspirations classiques et de reliefs modernes, toujours belle« hervorhebt und den Leser auffordert, sich das Vergnügen des lauten Vorlesens auch selbst nicht entgehen zu lassen.35 »Retrouver les traces des choses, plutôt que les choses elles-mêmes«,36 so formulierte wiederum Patrick Modiano in einem Interview das Motiv seines Schreibens. Modianos Texte, die in einer rückwärtsgewandten Bewegung vergangene Existenzen zu bewahren versuchen,37 sind gespickt mit intertextuellen Verweisen: Sie enthalten Einsprengsel anderer Textsorten, Stimmen verschollener Figuren, Fotografien und andere materielle Erinnerungsspuren, die als Katalysatoren von Vergangenheit fungieren.38 Auch wenn es sein Anliegen ist, die Vergangenheit wieder aufleben zu lassen, formuliert der Autor an anderer Stelle sein Misstrauen, ob ein solches Vorhaben gelingen kann. Seine Rede von Dunkelzonen des Vergessens, Fragmenten, Spuren und Resten betont die Fragmentarisierung der Erinnerung, die die Vergangenheit nur als partiell rekonstruierbar erscheinen lässt. So entsteht die Vorstellung einer bruchstückhaften Überlieferung des Vergangenen in der Art eines Puzzles, bei dem entscheidende Teile verloren gegangen sind. Während sich Modiano in seinen erinnerungsbesessenen Büchern überwiegend mit der unbewältigten Vergangenheit Frankreichs beschäftigt, indem er Kollaboration, Antisemitismus und Résistance thematisiert, füllt Olivia Rosenthal den Anspruch auf Zeugenschaft auf andere Weise aus. Auch sie sieht den Schriftsteller in der Pflicht gegenüber denjenigen, die keinen Platz finden im öffentlichen Diskurs. In Interviews hat sie mehrfach den Anspruch des »écrire à la place de« erhoben,39 allerdings verleiht ihre Stimme 35 36

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Hild: »Olivia Rosenthal«, S. 38. Laurence Liban: »Patrick Modiano: L’entretien«. In: Lire 319/2003, S. 98–104, hier S. 100. Vgl. Brigitta Coenen-Mennemeier: »Patrick Modiano«. In: Kritisches Lexikon der romanischen Gegenwartsliteraturen, 1. Lfg./1984, S. 1–6, A-G, hier S. 3. Zur Verknüpfung von Geschichte und Literatur als Merkmal seines Erzählwerks siehe Baptiste Roux: Figures de l’Occupation dans l’œuvre de Patrick Modiano. Paris, Montréal 1999, Sabine Schutz: »Une sale histoire«. Die unbewältigte Occupation bei Patrick Modiano. Frankfurt am Main 1998 sowie William VanderWolk: Rewriting the Past. Memory, History and Narration in the Novels of Patrick Modiano. Amsterdam, Atlanta, GA 1997. Erdle: »Patrick Modiano«, S. 802, unterstreicht, dass bei Modiano »die Materialität des mnemotechnischen Prozesses« zum Stoff der Erzählung werde. Olivia Rosenthal: »On n’est pas là pour disparaître. Olivia Rosenthal parle de son nouveau livre […] dans les bureaux des éditions Gallimard«, mercredi 31 octo-

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Personen und Themen mit einem stärkeren Gegenwartsbezug Ausdruck: einem an Alzheimer Erkrankten und seinen Angehörigen (in On n’est pas là pour disparaître), Migranten in Beschäftigungsmaßnahmen (in Les lois de l’hospitalité) oder den auf einer Großbaustelle Tätigen vom einfachen Hilfsarbeiter bis zum Polier (in Viande froide). Dennoch gibt es Parallelen auch zu Modianos Anliegen, die Frage nach der eigenen Zugehörigkeit zu stellen, nach dem Leiden und der Angst, die mit der Abwesenheit einer sozial anerkannten, durch ein erzählbares Familiengedächtnis verbürgten Identität verbunden sind. Insbesondere On n’est pas là pour disparaître, das von einem »creux«, einer »absence de témoignage«40 ausgehen muss, stellt die Frage, was von der menschlichen Identität bleibt, die normalerweise »par notre relation à notre histoire, à notre passé, à notre mémoire« geprägt sei,41 wenn es aufgrund einer Alzheimer-Erkrankung kein Gedächtnis mehr gibt.

4. Gespensterspuk: Die Fotografie als Projektionsfläche in Mes petites communautés (1999) Eine andere, stark auf die Familiengeschichte bezogene Befragung des Gedächtnisses findet sich in Olivia Rosenthals Mes petites communautés, das der »mémoire des vivants« gewidmet ist, dessen gesamter letzter Abschnitt aber eine Aufforderung zum Vergessen formuliert, die in dem Satz kulminiert: »Mais pour une fois, oublions …«.42 Der rezeptionslenkende Klappentext auf der Rückseite des Buches nennt zwar gleich zu Beginn den einen autobiographischen Bezug insinuierenden Schlüsselbegriff der »recherche de ses origines«, doch betont er dann überdeutlich den fiktiven Charakter der von der Ich-Erzählerin skizzierten Porträts einzelner Familienmitglieder: Ne se fiant qu’à demi à ce qu’elle voit ou à ce qu’on lui raconte, elle esquisse, à partir de bribes recueillies de-ci, de-là de son avant et après naissance, le tableau fictif de ce que devrait être une famille, et invente le portrait de ses grands-parents, parents, oncle et sœur. Portraits convenus, portraits élogieux, portraits factices dont la ressemblance avec l’original est absolument sans importance puisqu’il n’y a pas

40 41 42

bre 2007, http://www.youtube.com/watch?v=fiKSBt2MZI8, 04:33 min (Stand: 30. 7. 2009), hier 02:05–02:24 min. Vgl. auch Rosenthal: »Entrer dans la langue de l’autre« (19. Februar 2009), 1. Teil: »[…] l’écrivain, c’est celui qui écrit […] à leur place. Je trouve que c’est une belle manière de comprendre le travail de l’écrivain, son horizon et son impossibilité.« Rosenthal: On n’est pas là pour disparâitre, 02:05–02:24 min. Ebd., 01:08–01:47 min. Olivia Rosenthal: Mes petites communautés. Paris 1999, Zitate S. 7 und S. 151. Im Folgenden werden Zitate aus dieser Ausgabe unter einfacher Angabe der Seitenzahlen im Fließtext belegt.

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d’original ou qu’il s’est retiré en un lieu où l’on aurait bien du mal à le dénicher, fût-on chasseur, détective ou juge suprême. (Klappentext)

Das Buch, dessen Motto auf die »jubilation spéciale […] à décrire l’extraordinaire des vies communes« (9) verweist, ist in vier Kapitel strukturiert, die wiederum durch kursiv gesetzte Überschriften in Unterabschnitte unterteilt sind. Es unternimmt den Versuch, anhand einzelner Porträts, die »Grandspères, grands-mères« (11–50), »Père et mère« (51–85), »Mon oncle d’Amérique« (87–123) und »Sœur et sœur« (125–147) gewidmet sind, die Puzzleteile einer fiktiven Familiengeschichte zusammenzusetzen. Im Kontext unserer Fragestellung ist dabei insbesondere der erste Teil des Buches bemerkenswert, in dem die Ich-Erzählerin in immer neuen, durchnummerierten Varianten ein Portrait de mon grand-père zu verfassen sucht, da ihr Interesse am Großvater väterlicherseits durch eine Fotografie ausgelöst wird, bei der es sich allerdings anfänglich nur um ein ›mentales‹, ein vor ihrem geistigen Auge auftauchendes Bild handelt, wie noch zu erläutern sein wird. Das erste Kapitel beginnt mit einem Dialog zwischen Zeugin und Ich-Erzählerin, zwischen Großmutter und Enkelin, in dem jene insbesondere darauf verweist, dass viel Zeit erforderlich sei, um »toute l’histoire« (11) zu erzählen. Diesem Prolog folgt ein erstes Porträt des Großvaters in den Worten seiner Frau, das die Ich-Erzählerin zu transkribieren vorgibt. Hier ist bereits die Rede von der besonderen Ausstrahlung dieses Mannes, »son élégance« (11), »sa prestance et […] son charme« (12), wobei die Erzählung der Großmutter allerdings bereits auf sein Ende in Demenz und Krankheit anspielt: »je le laisse donc dans mon souvenir défaire lui-même en connaissance de cause et presque sans pudeur son impérieuse image et sa poigne s’amollir […]« (14). Unzufrieden über die Ungenauigkeit des Erzählten verlangt die Enkelin unter Hinweis auf eigene, äußerst vage Erinnerungsbilder nach präziseren Auskünften, die die Befragte ihr verweigert. Als Konsequenz dieses ersten Versuchs einer Annäherung an die familiäre Vergangenheit deklariert die Ich-Erzählerin, dass sie sich im Folgenden darum bemühen wird, das exakte Porträt ihres Großvaters zu erstellen, und zwar »non pas tel qu’il fut ou tel que je l’ai connu, mais tel qu’il aurait, a et aura pu être, tel que je l’imagine […]« (15). Bestand schon im Ursprungsporträt der Großmutter eine Spannung zwischen dem ausschmückenden Erfinden und der Enteignung des Porträtierten von seiner eigenen Geschichte, so wird nun deutlich auf das Vorhaben verwiesen, dass hinzu erfunden werden muss, da die Geschichte nur in Fragmenten bekannt sei. Die Ich-Erzählerin, die über sich selbst die von ihrer Mutter stammende Fremdcharakterisierung wiedergibt, sie sei eine »fille indigne qui se fiche pas mal de toute la mémoire du monde en général et de ses ancêtres en parti-

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culier« (17), empfindet ihr kurzfristig aufgetretenes Interesse an der Person und Lebensgeschichte des Großvaters als »une bizarre obsession«, der sie nichtsdestoweniger mit großer Hingabe nachgeht. Aufgetreten ist diese ›seltsame Besessenheit‹ erstmals in einem Pariser Café in der Nähe des Jardin du Luxembourg, wo die Ich-Erzählerin mit einer früheren Liebesbekanntschaft, der sie zufällig wiederbegegnet ist, Banalitäten über die Veränderungen in ihrem Leben austauscht. Ihre Gedanken jedoch kreisen unablässig um die erwähnte Phantom-Fotografie: […] et cette image mentale représentait sans doute aucun une photographie de mariage posée sur une table de nuit anonyme, photographie ancienne (d’un noir et blanc plutôt sépia) sur laquelle je croyais reconnaître, sans en être tout à fait sûre, des membres de ma famille que j’étais pourtant incapable de nommer. (18)

Es quält sie eine merkwürdige Familienähnlichkeit, zugleich überdeutlich ins Auge stechend und doch schwer festzumachen, da sie ihr verdeutlicht, dass die auf dem Foto Abgebildeten ihr einerseits ganz nah, andererseits aber völlig unbekannt sind. Hier folgt eine detailreiche Beschreibung der auf dieser ›mentalen‹ Fotografie abgebildeten jungen Eheleute mit Angaben zu ihrer Pose, zu Kleidung und Eheringen, zu ihrem Teint und ihrer Haarfarbe sowie zum Altersunterschied; mit Überlegungen zum Ort und zum Zeitpunkt der Aufnahme und mit einer spekulativen Ausdeutung ihrer Gesichtsausdrücke. In einem nächsten Schritt verschafft sich die Ich-Erzählerin in der Wohnung ihrer Eltern, wo sie Zugang zu den »albums de famille de ces cent dernières années« (20) hat, das ›Original‹ der in ihrer Vorstellung herumgeisternden Fotografie. Sie wird es nicht sofort betrachten, sondern versucht im Gegenteil zu vergessen, was sie bei einem flüchtigen Blick darauf gesehen hat. Stattdessen bevölkert sie das Bild mit den Gesichtern der vertrauten Unbekannten, die als Gelegenheitsgespenster in ihrem Kopf herumspuken. Erst nach dieser lang andauernden geistigen Übung betrachtet sie ausgiebig auch die reale Fotografie, was ihr einen »choc« (21) versetzt, da sie feststellen muss, dass die beiden Fotografien identisch sind. Den Lesern wird nun das Ergebnis einer »observation complète et la plus exhaustive de ce cliché« mitgeteilt, wobei ihre Beschreibung »de ceux qui y posent pour une brève éternité photographique« (22) zwar auch auf Äußerlichkeiten eingeht (und beispielsweise die Form des Gesichts, der Augen, der Hände oder die Art des Haarschnitts nennt), jedoch sehr viel stärker als zuvor auf eine Deutung des Gesichtsausdrucks und möglicher Empfindungen des Brautpaares aus ist. Hier bleibt ihr Blick insbesondere am »air impassible, impénétrable, triste ou sérieux ou pensif« (22) des Großvaters hängen. Sie empfindet sein Gesicht als »indéchiffrable«, seinen Körper als »inexpressif« (22) und liest aus seiner

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Haltung und seinem Gesichtsausdruck eine Neigung zur Melancholie ab, die sie dazu veranlasst, sich weiter für dieses Gesicht zu interessieren: Je ressasse, je m’exalte, je me conforte, je rêve, je commence le récit de ce visage, pourquoi pas l’autre, celui de la femme, je ne sais pas, c’est sur celui-là que je m’emporte et me concentre, sur celui-là que je me mets en marche tout en ayant conscience […] que ce visage ne m’intéresse que lié malgré tout à l’autre, qu’il m’appelle comme l’autre visage, l’autre visage de la femme, son complément imperturbable et mystérieux, sa doublure malheureuse. (23)

Ein erster Besuch bei der Großmutter mütterlicherseits bringt Klarheit über die tatsächliche Identität der auf dem Foto Abgebildeteten und führt bei der Ich-Erzählerin – deren Verhältnis zur Familie bisher durch Schuldgefühle, Desinteresse und Vergessen gekennzeichnet war – zu einem Gefühl der Glückseligkeit angesichts der unvermuteten Rückkehr des Großvaters in ihr Leben.43 Diese Erleichterung über eine von Vorwürfen unbelastete Begegnung mit den »ancêtres« (23), die sich den Großvater (und den Rest der Familie) frei erfindet ohne familiäre Vorbelastungen, wird aber angesichts des bevorstehenden Besuchs bei der Großmutter väterlicherseits wieder getrübt. Die Ich-Erzählerin muss sich eingestehen, dass ihre Annäherung an die reale Geschichte der Großeltern notwendigerweise durch »malhonnêteté« und »impudeur« (27), durch eine gewisse Unehrlichkeit und Schamlosigkeit gekennzeichnet sein wird. Will sie wirklich deren Fortsetzung nach dem Zeitpunkt der Aufnahme des Hochzeitsbildes erfahren, muss sie eine Grenze überschreiten und die körperliche wie seelische Intimsphäre ihrer Großmutter verletzen, weil dem wahren, auch körperliche Vorgänge implizierenden Geschehen nur auf die Spur zu kommen ist, wenn die opake Oberfläche der Fotos, die impassibilité der fotografierten Gesichter durchdrungen wird. Das nun folgende Portrait de mon grand-père 5 (28) reproduziert nahezu wortgleich den Dialog zwischen Großmutter und Enkelin vom Kapitelanfang. Danach beginnt eine ausführliche subjektive Schilderung des Beginns der Beziehung zwischen den Großeltern, die den umfangreichsten Teil des ersten Kapitels ausmacht und am ehesten einem romanesken Porträt des Großvaters entspricht – nicht umsonst wird die Ich-Erzählerin in Reaktion auf Inhalt und Stil der großmütterlichen Erzählung mutmaßen, diese habe zu viele Romane gelesen.44 Die Großmutter schildert die über zwei Sommermonate sich erstreckenden sonntäglichen Ausflüge mit dem Großvater bis zum Tag ihrer Verlobung. Ihr Bericht verweilt stärker bei ihren eigenen, ihr selbst im Rückblick naiv-romantisch anmutenden Vorstellungen über Liebe, Flucht 43 44

Vgl. Rosenthal: Mes petites communautés, S. 25f. Ebd., S. 31.

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und Abenteuer als bei einem lebensnahen Porträt ihres Verlobten. Als sie aus Erschöpfung ihren récit abbricht und die Enkelin bittet, die Fortsetzung auf den nächsten Tag zu verschieben, stellt dies nicht nur eine kurze Unterbrechung ihrer Erzählung, sondern letztlich den Abbruch des gesamten Erzählunternehmens dar. Im Portrait de mon grand-père 6 (44) ergreift wieder die Enkelin das Wort, die auf die wahre Flucht der beiden aus Nazideutschland nach Frankreich zu sprechen kommt, auf ihre prekäre Unterkunft und die Lebensbedingungen im Versteck, auf die weitere Flucht in die »zone libre« (46) im Süden Frankreichs. Die Abreise aus Deutschland war auf Geheiß des Großvaters erfolgt, dem seine junge Ehefrau gehorsam Folge leistete, ihre gesamte Familie zurücklassend und (nichtsahnend) dem späteren Verderben ausliefernd. Die Erzählerin deutet an, dass in dieser durch den Großvater intuitiv frühzeitig veranlassten Flucht und dem von ihm nicht verhinderten Tod aller nahen Verwandten der Großmutter, an dem sie später ihrem Mann eine Mitschuld gab, der Schlüssel liegt zum Verlust seiner »belle prestance et son allure de prince« (46), seiner Selbstsicherheit und Siegesgewissheit. Sein umfassender körperlicher wie geistiger Verfall erlaubte es der Enkelin später nicht, ihren Großvater auf seinem Hochzeitsfoto wiederzuerkennen. Beim nächsten Gesprächstermin mit ihrer Großmutter am folgenden Tag fühlt sich die Ich-Erzählerin von einer »grande lassitude« befallen, »une lassitude à ne pas avoir envie de connaître le destin de mes ancêtres« (49), und sie beschließt, sich den »remords«, das Schuldgefühl der Großmutter, nicht weitergeben zu lassen, nicht »le maillon de cette chaîne haineuse«, nicht »une autre femme souffrante après une femme souffrante« (49) zu werden, sich letztendlich aus ihrer Rolle des unbedarften Kindes, dem man die grausame Realität verheimlicht, nicht zu lösen, und das Gespräch auf unbestimmte Zeit zu vertagen.

5. Stumme Zeugen: Das Foto als blinde Spur in Dora Bruder (1997) Auch in Patrick Modianos ›Roman‹ Dora Bruder spielen Familienfotos bei der Spurensuche eine bedeutende Rolle. An seinem Beginn findet sich eine Vermisstenanzeige, die am 31. Dezember 1941 in der Zeitung Paris Soir erschienen war und in der die titelgebende Protagonistin gesucht wird.45 Das Buch entfaltet auf den folgenden, knapp einhunderfünfzig Seiten eine detailliert dokumentierte Recherche, die es sich zum Ziel gesetzt hat, die Lebensumstände der Personen, »que l’on range dans la catégorie des ›individus non identifiés‹« (65), nachzuzeichnen. Seinen Versuch einer Annäherung an das 45

Vgl. Patrick Modiano: Dora Bruder (1997). Paris 1999, S. 7.

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Schicksal von Dora Bruder und ihrer Familie verschränkt Modiano mit autobiographischen Erinnerungen und der Suche nach seinem eigenen Vater.46 Leitmotivisch werden stets aufs Neue die Schwierigkeiten einer solchen Spurensuche reflektiert. Doras Eltern, Ernest und Cécile Bruder, charakterisiert der Ich-Erzähler als des personnes qui laissent peu de traces derrière elles. Presque des anonymes, [qui] ne se détachent pas de certaines rues de Paris, de certains paysages de banlieue, où j’ai découvert, par hasard, qu’elles avaient habité. Ce que l’on sait d’elles se résume souvent à une simple adresse. Et cette précision topographique contraste avec ce que l’on ignorera pour toujours de leur vie […]. (28)

Hier wird bereits zu Beginn des Buches betont, dass präzise Angaben, die erfolgreich eruiert wurden, im Kontrast stehen zu all dem, was nie über die betroffenen Personen zu erfahren sein wird, so dass trotz aller Bemühungen stets – und so endet die zitierte Passage »ce blanc, ce bloc d’inconnu et de silence« (28) verbleibe. Der Ich-Erzähler verdeutlicht deshalb die verschiedenen Formen und Materialien, die ihm bei seiner Reise in die Vergangenheit behilflich sind. Er stützt sich bei seiner Suche zunächst auf konkrete Spuren und authentische Materialien, also auf zeitgenössische Dokumente mit Zeugencharakter. Er konsultiert die Archive und Melderegister und zieht Geburtsurkunden, Karteikarten, Verwaltungsanordnungen und -berichte, Transport- und Internierungslisten zu Rate, deren Wortlaut teilweise im Buch wiedergegeben wird. Auch Fotografien werden in Dora Bruder mehrfach als Teil der Spurensuche herangezogen. Gleich in der ersten Erwähnung ist die Rede von einem »photo-souvenir« (8), einem Erinnerungsfoto, und zwar als der Ich-Erzähler, ausgelöst durch die bereits erwähnte Vermisstenanzeige mit der Adressangabe »41 boulevard Ornano« (7), seine eigenen, ihn mit diesem Quartier verbindenden Kindheits- und Jugenderinnerungen durchstreift. Dieses »photosouvenir«, ein typisches Beispiel für eine individuelle Erinnerungspraxis, in der es sich eingebürgert hat, die wesentlichen biographischen Stationen fotografisch zu dokumentieren,47 wird allerdings nicht gemacht, sondern bloß feilgeboten, von einem Fotografen, der auf dem Bürgersteig der Avenue hin46

47

Zum Aspekt der ›Familiengeschichte‹ im Werk Modianos vgl. Roswitha Böhm: »La littérarisation d’une histoire familiale dans l’œuvre narrative de Patrick Modiano«. In: Elisabeth Arend, Dagmar Reichardt, Elke Richter (Hrsg.): Histoires inventées. La représentation du passé et de l’histoire dans les littératures française et francophones. Frankfurt am Main 2008, S. 229–241. Vgl. Tobias Wendl: »›God never sleeps‹. Fotografie, Tod und Erinnerung«. In: Ders., Heike Behrend (Hrsg.): Snap me one! Studiofotografen in Afrika. München, London, New York 1998, S. 42–50.

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ter seiner auf einem Stativ befestigten Kamera im Winter vergeblich auf Kundschaft wartet. Die Erwähnung dieser Aufnahmepraxis verweist bereits auf die Fotografien, die im weiteren Verlauf des Buches eine Rolle spielen werden – oder eben gerade nicht. Eine zentrale Stelle in diesem Zusammenhang nimmt das sechste Kapitel ein, das ausschließlich der Beschreibung einer Reihe von Fotografien gewidmet ist, die der Ich-Erzähler erhalten hat. Eingeleitet wird es mit Überlegungen dazu, dass ihm nichts bekannt sei über seine ›Protagonisten‹ – Vater, Mutter, Tochter Bruder – und zwar für den gesamten Zeitraum seit ihrer Niederlassung in Paris bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs. Nach kurzen Spekulationen über mögliche berufliche Tätigkeiten der Eltern wendet sich der Erzähler im nächsten Absatz den »quelques photos de cette époque« (31) zu, die er zunächst in chronologischer Reihenfolge vor den Augen der Leser ausbreitet. Begonnen wird mit »La plus ancienne, le jour de leur mariage«, also dem Hochzeitsfoto der Eltern, bis hin zu einem »photo de forme ovale où Dora est un peu plus âgée – treize, quatorze ans, les cheveux plus longs […]« (32f.), bevor noch einmal zwei Bilder älteren Datums betrachtet werden: eines, das nur die Mutter zeigt, mit einer Kindersilhouette im Hintergrund, über die nur gemutmaßt werden kann, dass es sich dabei um Dora handeln könnte; ein zweites, das »Dora seule, à neuf ou dix ans« (33) zeigt. Modianos Ich-Erzähler beschreibt das auf den Fotografien Abgebildete genau: die Anzahl und Anordnung der fotografierten Personen; ihre Frisuren, ihre Kleidung und mögliche Accessoires; ihren Gesichtsausdruck, ihre Posen und ihr geschätztes Alter sowie die räumliche Gestaltung des Hintergrundes und die Lichtverhältnisse. Dazu ein Beispiel: Une photo de Dora, prise certainement à l’occasion d’une distribution des prix. Elle a douze ans, environ, elle porte une robe et des soquettes blanches. Elle tient dans la main droite un livre. Ses cheveux sont entourés d’une petite couronne dont on dirait que ce sont des fleurs blanches. Elle a posé sa main gauche sur le rebord d’un grand cube blanc ornementé de barres noires aux motifs géométriques, et ce cube blanc doit être là pour le décor. (32)

Es wird in wenigen, stilistisch eher karg anmutenden, wenn auch durchaus detailreich schildernden Zeilen wiedergegeben, was auf diesen acht Fotografien zu sehen ist, die einen Auszug aus dem Familienalbum darstellen könnten, dessen Funktion darin besteht, die privaten Erinnerungen an Lebensstationen und familiäre Abstammung visuell zu fixieren.48

48

Michel Frizot: »Familienalbum«. In: Ders. (Hrsg.): Neue Geschichte der Fotografie. Köln 1998, S. 679.

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Das Kapitel endet mit der Beschreibung des letzten Fotos, ohne dass sich daran Spekulationen oder gar Schlussfolgerungen anschlössen, ob und inwiefern diese Fotos etwas zur Erhellung der Grauzonen des Vergessens beigetragen haben, da sie genau dies nicht zulassen. Sie scheinen blinde Spuren zu sein, die zwar die ehemalige Gegenwart des jetzt Vergangenen im Sinne des Barthes’schen Ça-a-été noch attestieren, die darauf verweisen, dass die auf ihnen Abgebildeten existiert haben, die dem Spectator darüber hinaus aber jegliche Auskunft verweigern über Lebensumstände, Hoffnungen und Ängste des Spectrums.49 Diese Leere entsteht, weil sich die Bedeutung der in Fotoalben versammelten und zu einer bildlichen Autobiographie geordneten Bilder nur ihren eingeweihten Nutzern erschließt.50 Während für einen fremden Betrachter wie Modianos Ich-Erzähler auf der ikonischen Ebene opake Stereotypie vorherrscht, würde die indexikalische Bindung der Aufnahme an ihren Anlass es dem intimen Nutzer ermöglichen, über das Sichtbare hinauszuschweifen und das Bild narrativ zu ergänzen und zu kontextualisieren. Erst sechzig Seiten später wird auf die eben beschriebenen Fotos nochmals eingegangen, und zwar in negativer Abgrenzung, als der Ich-Erzähler darüber berichtet, dass er ein weiteres Foto von Dora gefunden habe, das sich von den bisherigen unterscheide: »J’ai pu obtenir il y a quelques mois une photo de Dora Bruder, qui tranche sur celles que j’avais déjà rassemblées« (90). Worin besteht der Unterschied, der diesem Foto Besonderheit und Bedeutung verleiht? Es handelt sich vermutlich um die letzte Aufnahme Doras, entstanden 1941 oder im Frühjahr 1942, die letzte vor ihrer Flucht aus dem katholischen Mädcheninternat Saint-Cœur-de-Marie, ihrer erneuten Flucht aus dem Elternhaus, ihrem Aufgegriffenwerden durch die Polizei, ihrer Internierung und anschließenden Deportation am 18. September 1942 nach Auschwitz. Schon durch diese Koordinaten erhält das Foto als letztes über ihre Existenz Zeugnis gebendes Abbild Bedeutung. Es handelt sich dabei um das Porträt dreier Frauen verschiedener Generationen, das Dora mit ihrer Großmutter und ihrer Mutter zeigt. Die beiden erwachsenen Frauen lächelten nicht, so der Erzähler. Über Dora hingegen heißt es: »Elle tient la tête haute, ses yeux sont graves, mais il flotte sur ses lèvres l’amorce d’un sourire. Et cela donne à son visage une expression de douceur triste et de défi« (91). Den Kopf hochgehalten, ernste Augen, doch die Lippen vom Anflug eines Lächelns umspielt – in diesem Gesichtsaus49 50

Für diese Begriffe vgl. Barthes: La chambre claire, S. 120 und S. 22. Vgl. Timm Starl: Knipser. Die Bildgeschichte der privaten Fotografie in Deutschland und Österreich von 1880 bis 1980. München, Berlin 1995.

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druck, einer Mischung aus trauriger Sanftheit und herausforderndem Trotz, sieht der Erzähler eine weitere Besonderheit, die diese Fotografie von den anderen Kindheitsbildnissen unterscheidet, da er auf den Charakter Doras und ihre wechselvolle Lebensgeschichte – an anderer Stelle ist die Rede von einem »caractère rebelle et indépendant« (102) – zu verweisen scheint. Im Gegensatz zu den zuvor beschriebenen ›leeren‹ Kindheitsfotografien hat der Ich-Erzähler in diesem Bild mit dem besonderen Gesichtsausdruck Doras sein ›punctum‹ gefunden, jenes Detail, das seine Vorstellungskraft stimuliert, hebt er doch die Bedeutung der »extrême précision de quelques détails« (53) als Stimulans für die Vorstellungskraft des Romanciers hervor. So werden auch andere als lediglich Porträt-Fotografien in Modianos Text erwähnt, insbesondere Abbildungen von Stadtlandschaften und Geländen, die – dem Metroplan gleich, den er betrachtet »[pour] imaginer le trajet qu’elle [Dora Bruder, R.B.] suivait« (45) – dem Vorstellungsvermögen des Ich-Erzählers auf die Sprünge helfen, ihm das notwendige Einfühlungsvermögen übermitteln sollen. Die meisten der im Verlauf der Spurensuche herangezogenen Fotografien bezeugen zwar noch vergangene Präsenz, vergleichbar den Urkunden, Karteikarten und all den anderen »traces [qui] subsistent dans des registres« (13), die konkrete Angaben über Namen, Daten und Örtlichkeiten wiedergeben. Dennoch bleiben sie merkwürdig stumm und offenbaren wenig über das Leben der auf ihnen abgebildeten oder durch sie kategorisierten Individuen. Der Ich-Erzähler ergänzt sie deshalb durch andere Verfahren der Annäherung, von denen sich drei unterscheiden lassen und die sich in Modianos Projekt der Reaktualisierung von Vergangenheit als Teile einer »metonymischen Verschiebung« verstehen lassen.51 Zum einen wird aus historisch verbürgtem oder vom Ich-Erzähler recherchiertem Wissen über die Lebensbedingungen eines bestimmten Kollektivs auf das Individuum geschlossen. Dazu kommen zweitens assoziative Erinnerungen, die durch Schnittstellen mit der eigenen und der väterlichen Biographie, also durch die Übereinstimmung von Orten, Ereignissen, Personen hervorgerufen werden und die dem Ich-Erzähler im Rückblick nicht als Zufälle erscheinen, sondern auf die Verquickung des eigenen Schicksals mit jenem der Dora Bruder hinweisen. Ein solches Verfahren der suggestiven Einfühlung ist häufig an die Bewegung innerhalb der Stadt gebunden. Und dies verweist auf das dritte Verfahren der Annäherung an die Vergangenheit, das darin besteht, durch die Beschreibung relevanter Örtlichkeiten Lücken innerhalb des récit zu schlie51

Birgit Schlachter: Schreibweisen der Abwesenheit. Jüdisch-französische Literatur nach der Shoah. Köln, Weimar, Wien 2006, S. 202.

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ßen.52 Die Evokation der in diesem Zusammenhang beschriebenen Räume dient wie das Heranziehen anderer materieller und immaterieller Erinnerungsträger dazu, das äußerst lückenhafte und teils nur auf Hypothesen beruhende Wissen des Ich-Erzählers schrittweise zu verdichten und narrativ zu ergänzen, um so gegen die »couche épaisse d’amnésie« (131) anzuschreiben. Das derart entstehende Lebensmosaik der titelgebenden jungen Jüdin Dora Bruder, das zugleich ein Mosaik der eigenen Biographie mit zeithistorischem Bezug ist, spiegelt ein Misstrauen gegenüber den einst Objektivität und Authentizität verheißenden materiellen Spuren der Überlieferung wider, da diese letztendlich nicht in der Lage sind, die Essenz eines historischen Individuums zu offenbaren.

6. Zum Gedächtniswert von Fotografien Patrick Modiano erinnert in Dora Bruder an ein vom Vergessen bedrohtes, exemplarisches Einzelschicksal. Der Erfahrung, dass diese historisch-biographische Annäherung allerdings nur partiell erfolgreich sein wird, da blinde Flecken, Grauzonen und Leerstellen verbleiben, entspricht Modianos fragmentarische Schreibweise mit der Aufkündigung des linearen Erzählens in chronologischer Reihenfolge und häufigen Wechseln von Ort, Zeit und Figuren. An den Leser vermittelt wird der beim Ich-Erzähler vorherrschende Eindruck kollektiven Vergessens und die sich in der Erzählbewegung widerspiegelnde Einsicht, dass seine obsessive Spurensuche, für die auch alte Fotografien herangezogen werden, immer uneingelöst bleiben wird. Trotz einer solchen »sensation de vide«, die dem Ich-Erzähler beim Studieren alter Akten, beim Betrachten der Bruder’schen Familienfotos und beim Durchschreiten von Pariser Örtlichkeiten entgegenschlägt, empfindet der Autor das geradezu manisch versessene Anschreiben gegen das Vergessen als eine Aufgabe, die in Dora Bruder als Vermächtnis an die Nachwelt formuliert wird: »Si je n’étais pas là pour l’écrire, il n’y aurait plus aucune trace de la présence de cette inconnue […]. Rien que des personnes – mortes ou vivantes – que l’on range dans la catégorie des ›individus non identifiés‹« (65). Es wurde gezeigt, dass auch Olivia Rosenthal als Autorin den Anspruch erhebt, ihre literarische Stimme für diejenigen zu erheben, deren Schicksal im öffentlichen Diskurs keinen oder wenig Platz erhält. Im Fall von Les petites communautés jedoch plädiert die Ich-Erzählerin letztendlich für das Verges52

Siehe dazu Roswitha Böhm: »Topographien der Erinnerung im Werk Patrick Modianos«. In: Kirstin Buchinger, Claire Gantet, Jakob Vogel (Hrsg.): Europäische Erinnerungsräume. Frankfurt, New York 2009, S. 103–116.

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sen, da dies der einzige Ausweg scheint, um mit der – im Buch spielerischironisch behandelten – Familiengeschichte umzugehen. Die in ihrem Text aufgerufene Fotografie ist zunächst eine ›mentale‹, ein Bild, das nur in der Vorstellung vorhanden ist. Mit dem Begriff der ›mentalen Fotografie‹ greift Rosenthal die im Rahmen einer von fotografischen Verfahren beeinflussten Gedächtnismetaphorik entstandene »Reflexion über die Beziehung zwischen mentalen ›inneren‹ Bildern und fotografischen Aufnahmen« auf.53 Diese verlagerte, so Irene Albers, im Rahmen einer neuen Semantisierung des Fotografischen nach der Abkehr vom Naturalismus den Modellcharakter der Fotografie vom Produkt, vom fotografischen Bild und von seinen mimetischen Qualitäten, zum Apparat, zur Dunkelkammer und zu der Entstehung der (latenten) Bilder im Inneren des Apparates.54 Bei Olivia Rosenthal allerdings erfährt diese fotomnemonische Bedeutung des Begriffs des ›mentalen Bildes‹ eine Umgewichtung, denn bei ihr kommt es zu einer Form der Geisterbeschwörung. Geht es bei der intermedialen Reflexion über Literatur und Fotografie darum, dass Wahrnehmung, Imagination und Gedächtnis »nach dem Modell des fotografischen Prozesses von Aufnahme, Entwicklung und Speicherung« konzipiert werden,55 so liegt dem imaginierten Familienbild bei Rosenthal eine real existierende Fotografie zu Grunde. Die IchErzählerin benötigt den Umweg über die mentale Fotografie, das sich aufdrängende Erinnerungsbild, um all die in ihrem Kopf als ruhelose Gespenster herumspukenden »ancêtres« festzuhalten und zumindest aufs Bild zu bannen. Über diese Form der Realitätsflucht, die ausgiebige ›Betrachtung‹ der mentalen Fotografie, wird durch die dabei beobachtete Familienähnlichkeit bei der Ich-Erzählerin ein Gefühl der Beunruhigung hervorgerufen, denn diese signalisiert eine Spannung zwischen Nähe und Fremdheit. Zugleich spricht das Hilfskonstrukt der mentalen Fotografie von der Spannung zwischen dem Wunsch, in eine Familie eingebunden zu sein, diese sich aber frei von familiären Vorbelastungen, Schuldgefühlen oder realen Verpflichtungen zu erfinden und derart ein unbelastetes Verhältnis zu den einzelnen Familienmitgliedern aufbauen zu können. Dieses Anliegen steht in einem starken Kontrast zur fiktionsinternen Realität, und zwar zum einen auf der Ebene der ›tatsächlichen‹ Geschichte dieser jüdischen Familie, die – zumindest in der mütterlichen Linie – geprägt ist durch Flucht, Exil, Auslöschung. Zum anderen aber auf der Ebene der Gegenwart, in der verschiedene, teils 53

54 55

Irene Albers: »Fotografie/fotografisch, Kap. V«. In: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, S. 545f. Ebd., S. 545. Ebd., S. 546.

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diffuse Formen des Schuldgefühls auffällig sind: der Großmutter als Überlebender des Holocaust gegenüber ihren ermordeten Verwandten, des Großvaters gegenüber seiner Frau wegen der ihr auferlegten Trennung von ihrer Familie, der Ich-Erzählerin gegenüber ihren Eltern und Großeltern, weil sie sich ihrer Familie entzieht. Die Entscheidung der Ich-Erzählerin in Mes petites communautés, ihre durch eine mentale, schließlich fiktionsintern real existierende Fotografie ausgelöste Spurensuche bzw. ihre Konfrontation mit der Familiengeschichte zu beenden, bedeutet letztendlich, etwas nicht anzunehmen, von dem Cécile Wajsbrot als »un poids qui n’est pas le mien, une vie qui n’est pas la mienne mais dont l’ombre varie avec les heures« spricht.56 Die Erzählerin in Mes petites communautés verweigert sich dem generationenübergreifenden Leid. Insofern fungiert die mentale Fotografie bei Rosenthal als eine Projektionsfläche und ein – durchaus ironisiertes – Wunschbild einer von den historisch-politischen Ereignissen des 20. Jahrhunderts und insbesondere von der Vernichtung der europäischen Juden unbelasteten Familiengeschichte.

56

Cécile Wajsbrot: Beaune la Rolande. Paris 2004, S. 16.

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Martin Hermann

»Something to remember you by« Fotografie und Schrift als Erinnerungsmedien in Christopher Nolans Spielfilm Memento

1. Ein fotografisches Gedächtnis Die ersten Bilder von Christopher Nolans Spielfilm Memento (2000)1 zeigen in Großaufnahme ein Polaroidfoto, auf dem eine Leiche zu sehen ist. Darüber ist der Titel des Films eingeblendet, so dass mit der ersten Einstellung sogleich eine enge Verbindung zwischen Fotografie und Erinnerung suggeriert wird. Fotografie in ihrer Eigenschaft als ein Medium, das Augenblicke aufzeichnet und somit der Erinnerung dient, steht auch im weiteren Verlauf von Memento im Mittelpunkt. In der Auseinandersetzung des Films mit Erinnerungsmedien2 spielen Fotos eine besondere Rolle, auch in Verbindung zu einem anderen Erinnerungsmedium: der Schrift. Die Erinnerungsfunktion von Fotografien ist wiederholt herausgestellt worden.3 Außergewöhnlich an

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Memento, Regie Christopher Nolan, Newmarket 2000. Alle Zeitangaben (Stunden:Minuten:Sekunden) beziehen sich auf die DVD-Veröffentlichung von Columbia Tristar Home Entertainment aus dem Jahr 2002. Zu Medien und Erinnerung/Gedächtnis siehe den zweiten Teil von Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München 1999, davon insbesondere die Kapitel 2, 3 und 4 in Bezug zu Schrift, Bild und Körper als Speichermedien. Zu Schrift als Speichermedium siehe außerdem das zweite Kapitel in Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München 2007. Zu Medien und Gedächtnis allgemein des Weiteren Aleida Assmann: »Texte, Spuren, Abfall. Die wechselnden Medien des kulturellen Gedächtnisses«. In: Hartmut Böhme, Klaus Scherpe (Hrsg.): Literatur und Kulturwissenschaften. Reinbek 1996, S. 96–111 sowie Kapitel 5 »Medien und Gedächtnis« aus Astrid Erll: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart 2005. Zu Fotografie als Speichermedium siehe Jens Ruchatz: »Fotografische Gedächtnisse. Ein Panorama medienwissenschaftlicher Fragestellungen«. In: Astrid Erll, Ansgar Nünning (Hrsg.): Medien des kollektiven Gedächtnisses. Konstruktivität, Historizität und Kulturspezifizität. Berlin 2004, S. 83–105. Zwei klassische Beiträge zu Wesen und Funktion von Fotografie, die auch die Rolle von Fotos als Erinnerungsmedium herausstellen, sind Susan Sontag: On Photography. New York 1978 und

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Nolans Film ist jedoch die Art, wie die Rolle von Fotografien als ›Memento‹ hier in eine besondere Art des filmischen Erzählens eingebettet ist. Memento wird partiell rückwärts erzählt. Dieses analytische Moment ist durch das kriminalistische Element des Films motiviert, vor allem aber durch die Tatsache, dass der Protagonist (und ›Ermittler‹) unter einem Gedächtnisproblem leidet. Dem Foto als ›Beweisstück‹ und Erinnerungsspeicher kommt damit in der Handlung des Films eine besondere Rolle zu. Memento handelt vom ehemaligen Versicherungsfahnder Leonard Shelby (Guy Pierce), der den Mörder seiner Frau sucht. Leonard ist der Auffassung, dass zwei Einbrecher bei einem Überfall auf sein Haus seine Frau vergewaltigt und ermordet haben. Er selbst wurde, nachdem er einen der beiden Täter erschießen konnte, vom anderen schwer am Kopf verletzt. Seitdem leidet er an anterograder Amnesie, einer Störung des Kurzzeitgedächtnisses. Aufgrund dieser Störung kann er neue Erfahrungen nicht dauerhaft in Erinnerung behalten. Als Kompensation hat er ein System aus Notizen, Tätowierungen und Polaroidfotos entworfen, mithilfe dessen er sein funktionsuntüchtiges Gedächtnis zu ersetzen versucht. Er macht Fotos von Dingen, die bedeutsam für ihn sind, und von Personen, die ihm begegnen, damit er sie später wieder identifizieren kann. Die Bilder beschriftet er, um das dort Abgebildete eindeutig zuweisen oder bewerten zu können. Grundsätzlich wichtige und dauerhaft relevante Informationen notiert er sich als Tätowierungen auf seinen Körper. Das sind zum einen Informationen, die seinen Alltag im Allgemeinen organisieren, wie die Erinnerung daran, zu essen oder Fotofilme zu kaufen. Zum anderen sollen die Tätowierungen seine Suche nach dem Mörder seiner Frau unterstützen. Sie liefern ihm eine vage Täterbeschreibung – »THE FACTS« – und geben ihm Hinweise, auf was er bei seiner Untersuchung achten sollte. Darüber hinaus organisiert Leonard sein Leben mithilfe von Konditionierung, dem ständigen Wiederholen von Tatsachen oder Vorgängen. Bei seiner Suche nach John G., so der mutmaßliche Name des Mörders seiner Frau, unterstützt ihn Teddy (Joe Pantoliano), ein Polizist, der sich Leonard gegenüber als sein Freund ausgibt. Teddy beeinflusst Leonard, indem er ihn in dessen Motel, das er für ihn ausgesucht hat, anruft oder ihm dort Briefumschläge unter der Tür durchschiebt. Er lässt ihn glauben, dass der Drogendealer Jimmy Grantz der Mörder seiner Frau ist. Teddy will Leonard damit zu seiner Rache verhelfen und gleichzeitig die 200 000 Dollar, die Jimmy für einen Drogendeal mitgebracht hat, für sich einstreichen. Roland Barthes: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie. Frankfurt am Main 2005 [La chambre claire. Note sur la photographie [1980]].

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Als Leonard nach der Ermordung von Jimmy Grantz Zweifel an der Berechtigung seiner Tat kommen, wird er von Teddy mit der Wahrheit konfrontiert:4 Leonard hat mit Teddys Hilfe den wahren John G. schon vor über einem Jahr gefunden und getötet. Hierzu bezieht sich Teddy auf ein Polaroidfoto, das den glücklichen Leonard kurz nach Vollendung der Tat zeigt. Weiter führt Teddy aus, dass Leonards Frau den Überfall überlebt hatte und in der Folge nicht mit Leonards Gedächtnisverlust weiterleben konnte. An Diabetes leidend brachte sie Leonard dazu, ihr dreimal in kurzer Abfolge eine Insulinspritze zu setzen, was zu ihrem Tod führte. Leonard wurde daraufhin in ein Heim gebracht. An all dies kann er sich nicht erinnern, da sämtliche Ereignisse erst nach dem Überfall stattgefunden haben. Um seinem Leben einen Sinn zu geben, konditioniert er sich mit Hilfe der Tätowierungen auf seinem Körper die Geschichte des Mörders John G. an. Grundlegende Informationen hierfür bietet ihm die Polizeiakte, die er aber so zensiert und geschwärzt hat, dass sie seine Version der Vorgänge stützt. Seine tatsächliche Vergangenheit – die Zuckerkrankheit seiner Frau, seinen Aufenthalt im Heim – hat er dagegen auf Sammy Jankis transferiert, mit dessen Fall er in seiner früheren Tätigkeit als Versicherungsfahnder betraut war. Teddy zufolge war Sammy ein Versicherungsschwindler, der vorgab, unter anterograder Amnesie zu leiden. Leonard ist jedoch nicht gewillt, die Wahrheit über seine Vergangenheit zu akzeptieren. Er zerstört die Fotografien, die die Vollendung seiner Rachemission, die Morde an John G. und Jimmy Grantz, dokumentieren. Anschließend übernimmt er Jimmys Kleidung und dessen Jaguar, in dem sich das Geld für den Drogendeal befindet. Er lässt sich danach ein Tattoo mit dem Kennzeichen von Teddys Wagen auf seinen Körper stechen, wodurch Teddy zu Leonards nächstem John G. wird. Teddys wahrer Name ist nämlich in der Tat John Gammell. Bei der erneuten Suche nach John G. trifft Leonard auf Natalie (Carrie-Anne Moss), Jimmy Grantz’ Freundin, und Dodd, Jimmys kriminellen Geschäftspartner, der Jimmy die 200 000 Dollar für den Drogendeal zur Verfügung gestellt hatte. Natalie manipuliert Leonard, damit 4

Hierzu muss man bemerken, dass sich Teddy im Verlauf der Handlung immer wieder als Lügner und Manipulator entpuppt und somit nicht vertrauenswürdig ist: siehe auch William G Little: »Surviving Memento«. In: Narrative 13/2005, 1, S. 67–83, hier S. 68. Es ist aber zu vermuten, dass er in dieser Szene die Wahrheit sagt: vgl. Rosalind Sibielski: »Postmodern Narrative or Narrative of the Postmodern? History, Identity, and the Failure of Rationality as an Ordering Principle in Memento«. In: Literature and Psychology 49/2004, 4, S. 82–100, hier S. 96f.; Glenn Whitehouse: »Unimaginable Variations. Christian Responsibility in the Cinema of Broken Identity«. In: Literature & Theology 18/2004, 3, S. 321–350, hier S. 336.

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er ihr hilft, Dodd loszuwerden. Dieser glaubt nämlich, Natalie hätte Jimmy beseitigt und das Geld an sich genommen. Gleichzeitig hilft sie Leonard bei der Suche nach John G. Über das tätowierte Autokennzeichen beschafft sie ihm eine Kopie der Registrierung des Wagens und des Führerscheins seines Besitzers. Dies erlaubt es Leonard, Teddy als John G. zu identifizieren, ihn zu töten und mit Hilfe eines weiteren Polaroidbildes diese Tat festzuhalten. Die Idee eines orientierungslosen Protagonisten findet ihre Entsprechung in der formalen Umsetzung des Films. Der Film versucht, die Zuschauer in Leonards Position zu versetzen. Dies äußert sich besonders in der Zeitstruktur des Erzählens. Der Film beginnt mit dem Schluss der Geschichte, der Ermordung Teddys durch Leonard und dem anschließenden Entwickeln des Fotos, das Leonard von dem Toten aufgenommen hat. Diese Sequenz, die in Farbe gezeigt wird und rückwärts abläuft, markiert für die Zuschauer, dass sämtliche folgenden Farbsequenzen des Films als rückwärts montiert zu lesen sind; die letzte gezeigte Farbszene stellt also die in der Chronologie der Geschichte früheste Szene dar. Mit diesem Mittel des Rückwärtserzählens erreicht Memento, dass die Zuschauer, genau wie Leonard, orientierungslos sind, weil sie nicht wissen, was zuvor passiert ist. Gegenüber der Figur haben die Zuschauer allerdings den Vorteil, dass sie wissen, was danach passieren wird. Zwischen die Farbsequenzen sind Schwarz-Weiß-Sequenzen eingefügt, die zeitlich voranschreiten und Teddys Manipulationsversuche zeigen.5 Im ersten Telefongespräch mit Teddy erzählt Leonard ihm die Geschichte von Sammy Jankis, im zweiten und dritten Telefonat überzeugt Teddy Leonard davon, dass Jimmy Grantz Leonards John G. ist. Am Ende des Schwarz-Weiß-Handlungsstranges trifft sich Leonard mit Jimmy Grantz, bringt ihn um und nimmt ein Polaroidfoto von ihm auf. Während dessen Entwicklung ändert sich die Farbqualität des Films von SchwarzWeiß in Farbe. Neben diesem Foto von Jimmy Grantz entstehen in Memento sechs weitere Polaroidbilder, mit deren Hilfe Leonard Shelby sich ein fotografisches Gedächtnis erstellt. Die Bezeichnung ›fotografisches Gedächtnis‹ ist in diesem Zusammenhang zutreffend und ironisch zugleich. Sie ist zutreffend, da Leonard seine Erinnerungsfähigkeit unter anderem auf diese Fotografien stützt; ironisch, weil er mit diesen Fotografien seine Erfahrungen nicht genau, sondern nur teilweise und ungenügend aufzeichnen kann und sie damit keines5

Eine schematische Aufbereitung der Montierung der Farb- und Schwarz-WeißSequenzen findet sich bei Andy Klein: Everything you wanted to know about »Memento«, 2001. http://archive.salon.com/ent/movies/feature/2001/06/28/ memento_analysis/index2.html (Stand: 24. 03. 2009).

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wegs als effektives ›Memento‹ fungieren. Neben dieser Inadäquatheit der Fotografie wird auch die Fehlbarkeit weiterer Erinnerungsmedien thematisiert: Leonards Fotobeschriftungen und die Schrifttätowierungen auf seinem Körper. In einem besonderen Spannungsfeld steht dabei das Verhältnis zwischen Bild und Schrift, gerade im Hinblick auf ihre Fähigkeit, Erinnerungen abzuspeichern. Im Folgenden soll vier Fragen in Bezug auf die Bewertung der Erinnerungsmedien Fotografie und Schrift in Memento nachgegangen werden: Was wird über die Erinnerungsfunktion von Fotos ausgesagt? Welchen Wirklichkeitsbezug haben Leonards Polaroids? Wie ist das Verhältnis zwischen Schrift und Fotografie charakterisiert? Wie wird die Verlässlichkeit von Schrift als Erinnerungsmedium bewertet? Anhand dieser Leitfragen wird gezeigt, dass der Film die Funktionalität von Erinnerungsmedien grundsätzlich in Frage stellt. Sowohl Fotografie als auch Schrift sind Instrumente, die Erinnerung konstruieren und damit deren Verfälschung dienen können.

2. Fotografien als Gedächtnisstütze Die Funktion von Fotografien in der Erhaltung von Gedächtnis und Erinnerung ist häufig beobachtet worden.6 In Memento ist Leonard tatsächlich von seinen Polaroidbildern als Gedächtnisstütze abhängig: »Die Fotos sollen keine Erinnerungen wecken, sondern diese vielmehr ersetzen«.7 Die Eignung von Fotografien als Gedächtnisersatz wird jedoch von Aleida Assmann in Frage gestellt: Diese Erinnerungshilfe mag feinkörnig und scharf konturiert sein, sie bleibt jedoch sprachlos. Deshalb führt das ausgezeichnete und unversiegelte Gedächtnis der Photographien bald ein Eigenleben als Phantomerinnerung, sobald der rahmende kommunikative Erzähltext abbricht, der allein die externen Gedächtnisbilder in lebendige Erinnerung zurückzuübersetzen vermag.8

Diese Position wird auch in Memento vermittelt. Leonards Fotos versagen selbst in ihrer fundamentalen Wiedererkennungsfunktion. Teddy gegenüber weist Leonard die Vorteile seiner Form des Gedächtnisses gegenüber der üblichen Art von Erinnerung aus: »Look, memory can change the shape of a

6

7

8

Lynne Kirby: »Death and the Photographic Body«. In: Petro Patrice (Hrsg.): Fugitive Images: From Photography to Video. Bloomington 1995, S. 72–84, hier S. 76. Torsten Scheid: Fotografie als Metapher – zur Konzeption des Fotografischen im Film. Ein intermedialer Beitrag zur kulturellen Biografie der Fotografie. Hildesheim 2005, S. 163. Assmann: Erinnerungsräume, S. 221.

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room, it can change the color of a car.«9 In der »Annahme der Identität von Referent und Bild«10 glaubt er an den Vorteil seines fotografischen Gedächtnisses. Er geht davon aus, dass Fotos eine mimetische Repräsentation der Realität darstellen. Genau das aber ist sein Problem. Dadurch, dass er sich aus praktischen und systematischen Gründen auf nur eine Fotografie pro Person beschränkt, erhält er lediglich ein einseitiges Abbild derselben, das als Erinnerung genügen muss. Zwar ändert sich sein fotografisches Memento nicht, die Person selbst aber kann sich in ihrem Aussehen verändern und sich somit seinem Gedächtniszugang entziehen. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn Leonard sich mit Natalie in einem Restaurant trifft, um die das Autokennzeichen betreffenden Informationen auszutauschen. Leonards Versuch, Natalie anhand seines Fotos von ihr wiederzuerkennen, können die Zuschauer durch die rückwärts gewandte Struktur des Films in dieser Szene nachvollziehen. Sie sehen Natalie hier zum ersten Mal und sind beim Versuch, sie zu erkennen, wie Leonard vollkommen auf dessen Fotografie angewiesen. Leonard kann sie, da sich ihr Äußeres im Vergleich zu seiner Fotografie verändert hat, unter den Gästen nicht erkennen. Sein fotografisches Gedächtnis funktioniert nicht, wie Natalie auch explizit hervorhebt: »You don’t remember me.«11 Dabei hatte Leonard das Foto von Natalie ausdrücklich gemacht, um sie wieder erkennen zu können: »Something to remember you by.«12 Ein weiteres Problem von Fotografien als Erinnerungsmedium ist ihre Verfügbarkeit. Während man auf das mentale Gedächtnis jederzeit Zugriff hat, muss Leonard seine Polaroidbilder aktiv heranziehen, insbesondere dann, wenn er jemanden identifizieren oder zuordnen muss. Doch auch hier versagt mitunter Leonards System. So vergisst er, seine Bilder zu befragen, als er unerwartet den zusammengeschlagenen und gefesselten Dodd in seinem Motelzimmer findet. Erst als Dodd Leonard darüber aufklärt, dass dieser selbst für Dodds blutverschmiertes Gesicht verantwortlich ist, kommt es Leonard in den Sinn, seine Fotos zu Rate zu ziehen. Eine weitere Schwäche von Leonards fotografischem Gedächtnis ist die Tatsache, dass ein Teil seiner Fotografien für ihn bedeutungsleer ist. Dies entspricht einer generellen Beobachtung von Susan Sontag zur Semantik von Fotografien: »Strictly speaking, one never understands anything from a

9 10 11 12

Memento, 0:23:21. Scheid: Fotografie als Metapher, S. 239. Memento: 0:17:16. Memento: 1:17:51.

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Abb. 1 und 2: Leonards Polaroidfoto von Natalie, sie sitzt im Restaurant

photograph.«13 In Memento erweist sich dies besonders deutlich bei den Polaroids, auf denen Menschen abgebildet sind. Diese Bilder sind ohne Kommentar für Leonard nicht einzuordnen und deshalb mit Namen beschriftet: Teddy, Natalie, Dodd. Leonards tätowierte Anleitung für die Einordnung seiner Fotografien kategorisiert zwar seine Bilder von Menschen nach »friend« und »foe«, diese Einteilung findet aber in Leonards Praxis keine An13

Sontag: On Photography, S. 23.

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Abb. 3: Leonards Tätowierung gibt ihm Informationen zu seinen Fotografien

wendung. So nimmt er immer wieder Kontakt zu Teddy auf, obwohl dieser mit dem Kommentar »Don’t believe his lies« auf der Rückseite des Polaroids wenn nicht als Feind, so doch als zwielichtige Person gekennzeichnet ist. Leonard handelt oft völlig willkürlich, die Einordnung seiner Fotografien gibt ihm tatsächlich keinerlei Handlungsanweisung. Das liegt mitunter auch daran, dass Leonard seine Fotografien nicht in der Reihenfolge belässt, die ihm die Tätowierung vorgibt. Somit funktioniert sein selbst entworfenes System nur theoretisch, nicht aber praktisch. In Memento sind Fotografien, wenn es um die Beurteilung von etwas oder jemandem geht, wertlos. Dass Leonards Polaroidbilder für sich allein keine Beurteilungen ermöglichen, zeigt sich auch in der unterschiedlichen Bewertung desselben Bildes, sprich derselben Person, durch verschiedene Charaktere. Die Bedeutung, die Fotografien zugemessen wird, ist nicht fixiert, wie unter anderem Susan Sontag feststellt: »Any photograph has multiple meanings […]. Photographs, which cannot themselves explain anything, are inexhaustible invitations to deduction, speculation, and fantasy.«14 So schaffen auch Leonards Polaroids keine Fakten, sondern bleiben offen für verschiedene Interpretationen. Leonard selbst ist sich dieser Tatsache sogar bewusst: »It’s all about

14

Ebd. – Vgl. dazu auch Boris von Brauchitsch: Kleine Geschichte der Fotografie. Stuttgart 2002, S. 16.

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context«.15 Auch diese Einschätzung klingt wie ein Echo von Sontags Ausführungen: »A photograph changes according to the context in which it is seen.«16 Und genau hierin steckt Leonards Problem. Seine Fotos stellen für sich genommen keinen Kontext, durch den man die abgebildete Person einschätzen könnte, zur Verfügung: »[T]he photographs become for him nothing more than a ›rubble of distinct and unrelated signifiers‹ whose meaning he can not decode because he can not place them in any kind of coherent context.«17 Deshalb muss das Foto als Signifikant bei jeder Betrachtung neu mit einem Signifikat verbunden werden. Dies trifft besonders auf Teddy zu, der je nach Kontext und beurteilender Person unterschiedlich ausgelegt wird. Der Motelpförtner Burt glaubt aufgrund seiner Beobachtungen, dass Teddy Leonards Freund ist. Leonard hingegen sieht in Teddy den Mörder seiner Frau. Nolans Film illustriert somit grundlegende fototheoretische Annahmen: dass jede Fotografie den Betrachter als ›Bezugspunkt‹18 hat und dass Fotos »erst durch Narrationen zu Gedächtnismedien«19 werden.

3. Manipulation und Zensur von Fotografien Durch die Beschränkung auf eine Handvoll Polaroidbilder stellt Leonards fotografisches Gedächtnis eine extrem eingeschränkte und subjektive Wirklichkeit her, welche durch Manipulation und Zensur noch stärker verzerrt wird. Fotografien werden in Memento sogar in ihrer bildlichen Aussagekraft manipuliert. Als Leonard vor der Ermordung von Jimmy Grantz ein Polaroidfoto von Teddy vor seinem Motel machen will, entgegnet ihm Teddy erschrocken: »Oh wait, don’t. Not here.«20 Stattdessen schlägt er ein anderes, wohl neutraleres Hintergrundmotiv vor: den Pick-up Truck, den Leonard als sein Auto bezeichnet, bevor er Jimmy Grantz’ Jaguar in Besitz nimmt. Da er den Truck aber bald aufgibt, wird dieser von Leonard wie auch von den Zuschauern, aufgrund der besonderen Zeitstruktur von Memento, nur als inhaltsleerer Signifikant im Bildhintergrund wahrgenommen. Das Motel als Hintergrundmotiv hätte es Leonard dagegen erlaubt, einen von Teddy scheinbar gefürchteten Bezug herzustellen. Dies weiß Teddy aber durch die von ihm vorgenommene Manipulation zu verhindern.

15 16 17 18 19 20

Memento: 0:22:02. Sontag: On Photography, S. 106. Rosalind Sibielki: »Postmodern Narrative«, S. 86. Barthes: Die helle Kammer, S. 95. Erll: Kollektives Gedächtnis, S. 139. Memento: 1:31:46.

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Eine noch bedeutsamere Rolle als solche Manipulationen spielt die Zensur von Fotografien. Leonard selbst zensiert sein fotografisches Gedächtnis, indem er Fotografien zerstört, präziser gesagt, verbrennt. Die Tatsache, dass Leonard seine Erinnerungen mit einer Polaroidkamera aufnimmt, erleichtert sein Vorhaben, denn die Sofortbildkamera produziert nicht duplizierbare Einzelstücke.21 Mit der Verbrennung solcher Unikate wird für Leonard jegliche Erinnerung an das Fotografierte gelöscht. Klassische Filmkameras oder die zur Entstehungszeit des Films schon etablierte Digitalfotografie würden hingegen immer die Möglichkeit offen halten, dass noch weitere Abzüge oder Kopien existieren. Die Nutzung einer Polaroidkamera beruht daher in Memento nicht nur auf filmlogischen und filmästhetischen Gründen, aufgrund deren sie ohnehin die meist verwendete Art der Fotokamera im Film ist.22 In erster Linie ist ihr Einsatz Leonards erinnerungszensorischen Absichten geschuldet. Das Verbrennen von Polaroids, das sinnbildlich und faktisch für den Löschungs- und Zensurvorgang in Leonards Gedächtnis steht, scheint für Leonard ein routinemäßiger Vorgang zu sein. So gehört ein Feuerzeug, mit dessen Hilfe er die Polaroidbilder verbrennt, zu den wenigen Dingen, die er in seinen ausschließlich funktional besetzten Taschen trägt: »You need like a jacket that’s got like six pockets. […] Particular pockets for particular things«.23 Dem Feuerzeug, und demzufolge dem Verbrennen von Fotos, kommt in Leonards System, das seinen Alltag organisiert, auf diese Weise eine wichtige Rolle zu. Mit dem Verbrennen der Polaroids löscht er alle Erinnerungen, die seinem selbst gegebenen Lebenssinn, den Mörder seiner Frau zu finden, im Weg stehen: »[I am living o]nly for revenge.«24 So kann er seine Suche nach John G. fortsetzen bzw. wieder von vorne beginnen lassen. Diran Lyons unterstreicht, dass Leonard aus seiner Perspektive ohne Daseinsberechtigung und ohne Identität wäre, hätte er John G. schon gefunden: »Shelby’s purpose in living emanates solely from the chance to re21 22

23 24

Von Brauchitsch: Geschichte der Fotografie, S. 218. Scheid: Fotografie als Metapher, S. 39. Es ist zu vermuten, dass die Beliebtheit von Polaroidkameras im Film im Vergleich zu herkömmlichen analogen Fotoapparaten an der zeitlichen Unmittelbarkeit zwischen Aufnahmevorgang und Bildproduktion liegt. Sie erlaubt eine sofortige Betrachtung und Benutzung des Fotos im Film. Dazu sind digitale Kameras auch in der Lage; ihnen fehlt jedoch die materielle Beschaffenheit der Polaroidbilder, weshalb sie für die Benutzung im Film weniger praktisch sind, da man Digitalfotos nicht ohne weiteres mit sich herumtragen und zeigen oder aufhängen kann. Memento: 0:10:10. Memento: 0:23:45.

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pay.«25 Dies wird deutlich, als Teddy ihm jenes Polaroidfoto zeigt, das daraufhin deutet, dass Leonard John G. schon längst getötet hat. Statt seine Mission damit für beendet zu erklären, verbrennt Leonard das Foto und löscht so den Akt der Rache aus seinem fotografischen Gedächtnis. Aus dem gleichen Grund verbrennt Leonard auch jenes Polaroid, das Jimmy Grantz’ Leiche zeigt.26 Die für Leonard existenzbedrohende Rolle von Fotos wird besonders anschaulich, als er das Polaroidbild von sich selbst in einem von Teddys Briefumschlägen erstmals zu sehen bekommt. Das Vorhandensein dieses Fotos erschüttert den Sinn seiner Ermittlungen. Diese Sichtweise wird durch eine Einstellung unterstützt, in der wir das Foto aus der Untersicht sehen. Gemeinsam mit dem Briefumschlag verdeckt es beinahe Leonards Kopf. Leonards Kopf scheint hier metonymisch für seine selbst geschaffene Identität als Rächer seiner Frau zu stehen, die hinter dem Polaroidfoto zu verschwinden droht.

4. Schrift als privilegiertes Erinnerungsmedium Wie bereits angedeutet, ist das Verhältnis zwischen Fotografie und Beschriftung in Memento dahingehend zu beschreiben, dass nur Leonards Kommentar den Polaroidfotos eine Bedeutung verleiht. Diese Auffassung vertritt schon Walter Benjamin in seinem Essay Kleine Geschichte der Photographie. Darin weist er darauf hin, dass »die photographische Konstruktion im Ungefähren stecken bleiben muss«, wenn sie, Benjamins Begriff verwendend, ohne »Beschriftung«27 ist. Durch die Trennung von Bild und Beschriftung – das Bild auf der Vorderseite, der Kommentar auf der Rückseite des Polaroidabzugs – wird der Eindruck in Memento noch verstärkt, dass Fotografie und Beschriftung verschiedene Funktionen zukommen. Die Vorderseite dient lediglich der Wiedererkennung durch Bild, Namen und, in Teddys Fall, Telefonnummer. Die Rückseite hingegen ist für erläuternde Kommentare vor25

26

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Diran Lyons: »Vengeance, the Powers of the False, and the Time-Image in Christopher Nolan’s Memento«. In: Angelaki 2/2006, S. 127–135, hier S. 133. Interessanterweise hat das Verbrennen nichtfotografischer Mementos den genau entgegengesetzten Effekt. Als Leonard Andenken an seine Frau verbrennt, ruft das in ihm tatsächliche, wenn auch wohl teilweise manipulierte Erinnerungen an sie aus der Zeit vor dem Überfall hervor. Leonard beschreibt sein Dilemma angemessen: »Probably tried this before. Probably burned truckloads of your stuff. Can’t remember to forget you« (0:54:01). Im Gegensatz zu seinem fotografischen Gedächtnis kann er Teile seiner mentalen Erinnerungen nicht einfach löschen. Walter Benjamin: »Kleine Geschichte der Photographie«. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt am Main 1980, S. 368–385, hier S. 385.

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Abb. 4: Ein Polaroidfoto von Leonard droht seine selbst geschaffene Identität zu verdecken

gesehen, die dann von Leonard als Handlungsanleitung angenommen werden.28 Das Zusammenspiel von Bild und Beschriftung lässt sich besonders deutlich an den Figuren Teddy und Natalie zeigen. An diesen beiden Beispielen wird ersichtlich, dass das Wort in Hinblick auf Bewertbarkeit über der bildlichen Information steht. Auch Sontag beobachtet eine solche Hierarchie zwischen Bildkommentar und Fotografie: »[W]ords do speak louder than pictures. Captions do tend to override the evidence of our eyes.«29 Die Schrift als Erinnerungsmedium gegenüber Bild oder Fotografie zu privilegieren, ist eine Tradition, die bis in die Renaissance zurückgeht und seitdem den westlichen Erinnerungs- und Geschichtsdiskurs beherrscht: »Diese Option zugunsten der Schrift ist in der abendländischen Kultur im Wortsinne geschichtsmächtig geworden, ist sie doch unmittelbar in die Definition dessen eingegangen, was ›Geschichte‹ genannt worden ist.«30 In Memento zeigt sich Teddy über diese Hierarchie beunruhigt: Teddy: You can’t trust a man’s life to your little notes and pictures. Leonard: Why not? Teddy: Because! Your notes could be unreliable.31

28

29 30 31

Vgl. dazu auch Jo Alyson Parker: »Memento, the Reverse of Time’s Arrow, and the Defects of Memory«. In: KronoScope 4/2004, S. 239–257, hier S. 244. Sontag: On Photography, S. 108. Assmann: Erinnerungsräume, S. 219 Memento: 0:22:56.

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Es ist bezeichnend, dass Teddy sich ausschließlich um die Unzuverlässigkeit von Leonards Notizen sorgt. Die Fotografien scheinen für ihn nicht unzuverlässig sein zu können. Sie dienen nur Erkennungszwecken, treffen aber selbst keine wertenden Aussagen. Diese Sichtweise wird im Verlauf des Films wiederholt bestätigt. Ohne Beschriftung ist zum Beispiel Leonards Bild von Teddy für eine Beurteilung der Person Teddy nutzlos. Das zeigt sich beispielsweise in der Szene, als Teddy am Tatort von Jimmys Tod auftaucht und Leonard nach Betrachtung des Bildes vergeblich nach einem Kommentar sucht. Die Brauchbarkeit des Fotos für die Bewertung Teddys ändert sich erst, als Leonard wenig später den Kommentar »Don’t believe his lies«32 hinzufügt. Von diesem Zeitpunkt an wird Leonard sich Teddys Vorschlägen widersetzen, sofern er sein fotografisches Erinnerungssystem zu Rate zieht. Aufgrund der Notiz auf der Bildrückseite wechselt Leonard trotz Teddys Bitte seine Kleidung nicht, und er streicht auch Teddys Anmerkung Natalie betreffend (»You can’t trust her«) auf Natalies Foto wieder durch. Die Tatsache, dass Teddy auf dem Bild freundlich lächelt und dadurch ein positives Erscheinungsbild abgibt, ist für Leonard dagegen irrelevant. Während der Kommentar auf Teddys Polaroid dessen Schicksal negativ beeinflusst, hat die Notiz auf Natalies Foto für sie und ihre Glaubwürdigkeit positive Auswirkungen. Auch hier hat Leonard bis zu dem Zeitpunkt, an dem er ihr Foto mit einem Kommentar versieht, keinerlei Anhaltspunkte, wie er sie einzuschätzen hat. Da er ihre Versuche, ihn zu manipulieren, nicht notieren kann und schließlich wieder vergisst, bewertet er ihre Person bei jedem Aufeinandertreffen von neuem. Nachdem er schließlich ihr Polaroidbild mit dem Kommentar »She has also lost someone. She will help you out of pity«33 versieht, vertraut er ihr und den Informationen, die sie ihm gibt. Dabei ist offensichtlich, wie sehr ihn der Fotokommentar in seiner Bewertung Natalies beeinflusst. Als Natalie ihm anbietet, sich mit ihm zu treffen, um die Information über das Autokennzeichen auszutauschen, bedankt sich Leonard mit den Worten: »You know it’s great that you … well that you’re helping me like this.«34 Leonards Bewertung von Natalie wird hier vollkommen durch die Bildbeschriftung bestimmt. Wie schon im Fall Teddys ist die Fotografie selbst für Leonard lediglich ein Mittel zur Wiedererkennung.35 32 33 34 35

Memento: 1:43:32. Memento: 0:37:23. Memento: 0:23:29. Im Vergleich zu Teddys Foto wirkt Natalie auf Leonards Polaroid, da sie nicht posiert, eher abweisend und desinteressiert. Interessanterweise trifft dies eher den Kern ihres Verhältnisses zu Leonard als der Bildkommentar. Leonard ist aller-

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5. Schrift als fehlbares Erinnerungsmedium Obwohl der Bildkommentar eine der Fotografie offenbar übergeordnete Bedeutung hat, ist auch die Schrift in ihrer Funktion als Erinnerungsmedium fehlbar. Das lässt sich am Wahrheitsgehalt von Leonards Beschriftungen und seinen Tätowierungen, der zweiten Ausformung von verschriftlichter Erinnerung in Memento, erkennen. In Form von Tätowierungen hat Schrift in Memento eine Qualität, die Leonards Fotografien und Fotokommentaren nicht zugeschrieben werden kann: Die Erinnerungen sind dauerhaft. Vergleicht man die Aussagen von Bildkommentar und Tätowierungen mit dem, was die Zuschauer im Verlauf des Films erfahren, erscheint Schrift als ebenso manipulierbar und damit genauso wirklichkeits- und gedächtnisverzerrend wie die Fotografie. Die Kommentare und die damit einhergehenden Bewertungen, mit denen Leonard Teddys und Natalies Fotos versieht, entsprechen nicht der Beurteilung, die Leonard in Besitz eines normalen Erinnerungsvermögens machen würde. Sie sind in ihrer Aussage entweder zu beschränkt oder geradezu falsch. Es ist in der Tat so, dass Teddy, im Einklang mit dem ihn betreffenden Kommentar »Don’t believe his lies«, Leonard öfter belügt: Er lässt ihn zum Beispiel glauben, dass Jimmy Grantz der Mörder von Leonards Frau ist; er behauptet, dass sein Chevrolet, und nicht der Jaguar, Leonards Auto ist. Es ist jedoch ebenso oft der Fall, dass Teddys Aussagen wahr sind: Teddy erzählt Leonard die Wahrheit über den Tod seiner Frau und den wahren John G., Teddy warnt Leonard vor Natalie. Das Problem von Leonards Bildkommentaren ist, dass sie keine Differenzierung erlauben und im Affekt entstehen. Er schreibt »Don’t believe his lies« auf Teddys Polaroid, nachdem ihm Teddy die unliebsame Wahrheit über den Tod seiner Frau und den bereits toten John G. mitgeteilt hat. Damit und mit dem Notieren von Teddys Autokennzeichen versucht er zu verhindern, dass er in Zukunft noch einmal mit der Wahrheit konfrontiert wird. Auch der Kommentar zu Natalie entspringt einer temporären Stimmungslage und gründet nicht auf einer sorgfältigen Evaluation ihrer Person. Seine Beurteilung hätte an anderer Stelle, beispielsweise nach Natalies Ankündigung ihn auszunutzen, anders ausgesehen, wenn Leonard in diesem Moment einen Stift zur Verfügung gehabt hätte. Mögen Leonards Bildkommentare auch teilweise die Wirklichkeit wiedergeben, so sind sie insofern problematisch, als sie momentane Stimmungen in den Stand dauerhafter Gültigkeit erheben. dings nicht in der Lage, das Bild dementsprechend zu deuten, und vertraut stattdessen auf die Autorität seiner Beschriftung.

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Diese Problematik trifft auch auf die Tätowierungen zu, die sich Leonard im Verlauf des Films auf die Haut schreibt oder schreiben lässt. Die Fehlbarkeit der Schrift als Erinnerungsmedium wird hier noch zusätzlich unterstrichen. Zwei der sechs Tätowierungen, die sich auf die Täterbeschreibung beziehen und die offensichtlich etwas Unwahres aussagen, werden von Leonard bezeichnenderweise als ›Fakten‹ wahrgenommen. Seine Tätowierung »DRUG DEALER« wurde ihm von Teddy über das Telefon eingeflüstert, damit die Beschreibung auf das nächste Opfer Jimmy Grantz passt. Das Tattoo »car license number: SG1371U« hat Leonard sich selbst vorgelogen, um Teddy zum nächsten John G. zu machen. Es ist zu vermuten, dass die anderen »Fakten« ebenfalls ohne hinreichende Beweislage entstanden sind. Aber sobald etwas auf Leonards Körper verewigt ist, wird es für ihn zu einer unumstößlichen Tatsache. Die dauerhafte Natur seiner Tätowierungen scheint sich jedoch als Problem für Leonards Konstruktion eines Lebenssinns herauszukristallisieren. Mit Zunahme der ›Fakten‹ wird der Kreis derjenigen, die als John G. in Frage kommen, immer kleiner, so dass sich Leonards Mission, als dauerhafte Sinnkonstruktion angelegt, nicht ohne weiteres von neuem erfüllen lässt. War John G. zunächst ein männlicher Weißer mit dem Vornamen John (oder James) und dem Initial des Nachnamens G., so schränkt Leonard den Täterkreis weiter ein. Am Schluss der Geschichte ist Leonards John G. ein Drogendealer, und sein Auto hat das Kennzeichen »SG1371U«, was letztlich eindeutig auf Teddy hinweist. Man kann jedoch davon ausgehen, dass Leonard problemlos einen neuen John G. suchen und finden können wird, wendet er doch zwei Strategien zu diesem Zweck an. Zum einen ergänzt er seine Tätowierungen so, dass die Zahl der potentiellen Täter wieder größer wird. Das ist die einzige Erklärung, warum er das Faktum »First name John or James« erst nachträglich, wie die Schriftqualität unterstreicht, um den Namen James erweitert hat. Zum anderen ignoriert Leonard die Fakten, die nicht zu seinem Täterprofil passen. Wenn er Teddys Autoregistrierung und Führerschein mit seinen Tattoos abgleicht, sucht er nur nach Übereinstimmungen, nicht nach Abweichungen. Teddys Autokennzeichen ist der Registrierung zufolge »SG137I[!]U«. Leonards Tattoo sagt aber aus, dass John G.s Kennzeichen »SG1371[!]U« ist.36 Die Frau, die Leonards Notiz von Teddys Kennzeichen auf seinen Körper tätowiert, interpretiert Leonards Buchstaben ›I‹ fälschlicherweise als Ziffer ›1‹. Gemäß der Stimme aus dem Off liest Leonard das Tattoo aber so, dass es zu Teddys Beschreibung passt und dieser zum Mörder seiner Frau wird. Um seine Rachegelüste verfolgen zu können, leug36

Memento: 0:14:27.

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net Leonard sogar die schriftlich permanent auf seinem Körper gespeicherten Fakten und dekonstruiert damit die Glaubwürdigkeit seines selbst entworfenen Erinnerungssystems vollkommen. Schrift zeigt sich somit nur so zuverlässig, wie es der Schreiber und der Leser sind, und ist ebenso manipulierbar bzw. zur Manipulation einsetzbar wie Fotografie.

6. Konstruktion der Erinnerung Die Ausführungen haben gezeigt, dass ein Topos in der Diskussion über Fotografie, ihre Funktion als Medium der Erinnerung, in Memento grundlegend in Frage gestellt wird. Fotografie eignet sich weder als Gedächtnisstütze, noch ist sie in der Lage, die Vergangenheit zuverlässig zu dokumentieren. Dies wird durch die besondere Situation des Protagonisten verdeutlicht, der in seinen Bemühungen um Erinnerung zu einem großen Teil auf seine Fotos als ›Mementos‹ angewiesen ist. Der Schrift kommt als Erinnerungsmedium eine bedeutsamere Rolle zu. Nur sie ist imstande, Dinge und Menschen zu bewerten und einer Einordnung zu unterziehen. Fotografie kommt dagegen über ihre Eigenschaft als bloßes Abbild nicht hinaus. Jedoch wird auch die Verlässlichkeit von Schrift als Erinnerungsmedium unterminiert. Sie wird als ebenso manipulierbar und wirklichkeitsverzerrend wie die Fotografie dargestellt. So dienen diese beiden Gedächtnismedien nicht der Erinnerung an eine tatsächliche Vergangenheit, sondern einer verfälschenden Konstruktion des Vergangenen. Diese postmoderne Weltanschauung – Vergangenheit, Erinnerung und Identität als Konstruktion – spiegelt sich in der Machart des Films wider. Durch die größtenteils rückwärts gerichtete Anordnung des Plots sind die Zuschauer dazu gezwungen, den chronologischen Ablauf der Geschichte und damit die Kausalität der Ereignisse selbst zu konstruieren. Memento unterstreicht damit, wie auch in seiner Reflexion über die ›Evidenz und Beweiskraft‹ von Fotografie und Schrift, seine Eigenschaft als postmoderner Film.

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Die Fotografie und das Vergessen Literarische und künstlerische Reflexionen über die Grenzen der Erinnerung

1. Fotografie und Erinnerung: Zur Semantik eines Mediums Die Frage nach der Welthaltigkeit ästhetischer Repräsentationen wird vielfach anlässlich von Medienvergleichen erörtert, etwa durch Gegenüberstellung von Malerei und Fotografie oder von bildlicher und sprachlicher Darstellung. Zu bedenken ist gerade dabei allerdings, dass es kein Medium ›an sich‹ gibt; Medien und Darstellungsformen konturieren, profilieren und bespiegeln einander wechselseitig. Zu erörtern wäre, ob die Sprache im Kontext verschiedener medialer Repräsentationsformen gegenüber anderen eine Sonderrolle innehat, insofern sie ja zur expliziten Auslegung der anderen Darstellungsmedien in besonderem Maße disponiert ist.1 Die im Folgenden verglichenen Werke setzen sich mit der Frage nach dem jeweils eigenen ›Gegenstands‹- und ›Weltbezug‹ auseinander, indem sie über die sie selbst konstituierenden Darstellungsmedien implizit oder explizit reflektieren. Genutzt werden dabei insbesondere die Möglichkeiten der Kombination von Text und Fotografie, wie sie das aus Text- und Fotobestandteilen komponierte Buch bietet. Die Welthaltigkeitsfrage steht in allen Fällen unter einer spezifischen Akzentuierung: Es geht um Prozesse der Revokation. Den weiteren Bezugsrahmen der vorzustellenden Bücher bildet die Kultur-, Technik- und Diskursgeschichte der Fotografie. Die Fotografie wird seit ihrer Entstehung wie wohl kein anderes Medium im privaten wie im öffentlichen Leben dazu eingesetzt, Vergangenes darzustellen und es damit für den Einzelnen wie für ganze Kollektive memorierbar zu machen. Im Foto scheint sich das Gedächtnis zu materialisieren. Man betrachtet Fotoalben als Archive gesammelter Lebenserinnerungen und als Konkretisationen des Familiengedächtnisses, und vielfach stehen Fotos im Zentrum von Kulten des 1

Bernd Stieglers Bilder der Photographie belegen exemplarisch, inwiefern die Fotografie seit ihren Anfängen Projektionsfläche sprachlicher (metaphorischer) Zuschreibungen war. Bernd Stiegler: Bilder der Photographie. Ein Album photographischer Metaphern. Frankfurt am Main 2006.

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persönlichen und des kollektiven Gedenkens. Über Fotografie unter dem Aspekt ihrer Beziehung zum Vergessen zu sprechen, scheint demgegenüber zunächst abwegig. Gleichwohl konvergiert das Interesse der im Folgenden zu behandelnden Künstler und Schriftsteller an der Fotografie in der Akzentuierung des scheiternden Gedenkens, der illusionären oder der verlöschenden Erinnerung. Ein Geflecht von in unserer Kultur weitgehend akzeptierten Annahmen soll am Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen stehen: (1) Auf der Basis von Erinnerungen konstituiert sich Geschichte, und zwar sowohl als individuelle als auch als kollektive Geschichte; meine/unsere Geschichte ist das, was grundsätzlich als meine/unsere Geschichte erinnert wird. Das heißt nicht, dass zur eigenen Geschichte nur das gehört, woran man sich aus eigener Erfahrung erinnern kann; die Differenz zwischen eigenen Erinnerungen und denen anderer ist für die Auseinandersetzung mit Geschichte sogar von maßgeblicher Bedeutung. Aber nur Erinnerbares kann Bestandteil der Geschichte sein. (2) Der Besitz einer durch Erinnerung konstituierten Geschichte wiederum ist Bedingung von (kollektiver oder persönlich-individueller) Identität. Darum ist u. a. die Kohärenz von Erinnerungen maßgeblich für das eigene Identitätsgefühl. (3) Als Stütze der Erinnerung fungieren Materialisierungen des (kollektiven oder individuellen) Gedächtnisses wie amtliche und private Dokumente, aufgeschriebene Erinnerungen, bildliche Darstellungen, Monumente oder Tonkonserven. (4) Die Fotografie spielt innerhalb dieser Materialisierungen des Gedächtnisses eine besonders prominente Rolle, da sie einem allgemeinen Verständnis ihrer spezifischen Medialität zufolge vergangene Momente ins Bild bannt, sie fixiert, so dass man auf diese Momente zurückkommen, ihrer bei der Betrachtung des Bildes gedenken kann. Scheinbar ist das Vergangene im fotografischen Bild ja »gegenwärtig«.2 Scheinbar bezeugt sich das Vergangene im Foto selbst;3 scheinbar wird es hier als ein Sich-selbst-Bezeugendes evident.4 2

3

Vgl. zu Roland Barthes und Die helle Kammer Herta Wolf: »Das, was ich sehe, ist gewesen. Zu Roland Barthes’ Die helle Kammer«. In: Dies.: (Hrsg.): Paradigma Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters. Frankfurt am Main 2002, S. 89–107. Laut Wolf signalisiert die Fotografie »einen epistemologischen Bruch. Vor ihrem ersten Auftreten war es undenkbar, daß Vergangenem die gleiche Präsenz wie dem Gegenwärtigen zukommen könnte. Weil sie Vergangenheit zu authentifizieren vermag, wird die Fotografie zu einem anthropologisch neuen Gegenstand« (ebd., S. 97). Siegfried Kracauer deutet noch 1960 in seiner Theorie des Films Fotografie und Film als ›unmittelbare‹ Formen der Aufzeichnung von Realität – und als Medien, welche die äußere Wirklichkeit ›retten‹. Er stellt der Fotografie und dem Film die traditionellen Künste Malerei, Literatur, Theater gegenüber. Vgl. Siegfried Kracauer:

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Kunst und Literatur setzen sich mit kulturellen Grundannahmen auseinander, reflektieren deren Implikationen und verhalten sich kritisch zu ihnen. Solche Auseinandersetzung erfolgt vor allem durch eine Re-Inszenierung kultureller Praktiken und Topoi, die ihren Inszenierungs- und ZitatCharakter zu erkennen gibt. Die Erinnerungsthematik besitzt zumindest latent eine ethisch-moralische Dimension. Wir sollen uns erinnern – vor allem an die Opfer der Geschichte und an die Geschichte der Gewalt, die sie zu Opfern machte.5 Vorgestellt seien im Folgenden ausgewählte Beispiele für die literarisch-ästhetische Inszenierung von Erinnerungsprozessen, bei denen (a) auf die genannten Grundannahmen Bezug genommen wird, (b) die ethisch-moralische Dimension der Frage nach den Bedingungen und Bedeutungen des Erinnerns neben der kulturtheoretischen und erkenntniskritischen mit im Blick ist und (c) die Beziehung zwischen Erinnern und NichtErinnern (Vergessen oder Nicht-Gedenken-Können) besonders betont wird. Literatur und bildende Kunst arbeiten selbst eben mit denjenigen Medien, die auch im Dienst des Erinnerns stehen. Dies gestattet es ihnen unter anderem, Erinnerungsprozesse zu simulieren. Reflexion über Erinnerung ist in Kunst und Literatur darum stets zumindest implizit auch Reflexion über die Medien des Erinnerns respektive der Darstellung von Erinnertem. Das Interesse literarischer und künstlerischer Reflexionen über das Erinnern zielt insgesamt auf die komplexe Semantik jener Medien, auch auf deren Konzeptualisierungen und Metaphorisierungen, die sinnbildlichen Dimensionen derjenigen Formen, in denen sich Erinnerung ›materialisiert‹. Literarische Werke, die Fotos enthalten, welche den Gegenstand der Erzählung zu illustrieren scheinen, können als Nachfahren jener Texte betrachtet werden, welche die Pseudo-Beglaubigungsfigur ›Natürlich eine alte Handschrift‹ verwenden. Diese suggeriert auf eine durchschaubar zitathafte Weise Authentizität: Sich auf eine alte Handschrift (eine Quelle, einen ›Wahrheit‹ verbürgenden Basistext) zu berufen, ist spätestens seit Cervantes eine autoreferenzielle literarische Strategie, die als Konstruktion durchschaut

4

5

»Die Errettung der physischen Realität«. In: Franz-Josef Albersmeier (Hrsg.): Texte zur Theorie des Films. Stuttgart 2001, S. 241–255. – Zur Kritik an dieser Vorstellung vgl. u. a. Joel Snyder: »Das Bild des Sehens«. In: Wolf (Hrsg.): Paradigma Fotografie, S. 23–59. Vgl. Wilhelm Halbfass: »Evidenz«. In: Joachim Ritter (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 2. Basel, Stuttgart 1972, Sp. 829–834. Wie sensibel in dieser Hinsicht auf Versuche zur Einebnung der Differenz zwischen Fiktionalem und Faktischem reagiert wird, illustrieren beispielhaft die Diskussionen um Wahrheitswert und Legitimität der Lebenserinnerungen von nur vorgeblichen Holocaust-Opfern.

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werden soll. Wie der Hinweis auf eine fingierte ›alte Handschrift‹ als PseudoBeglaubigung indirekt den fiktionalen Charakter einer Narration verdeutlicht, so werden Fotos in literarischen Narrationen eingesetzt, um auf die Scheinhaftigkeit einer Verbürgung der Vergangenheit, einer Evidenz des Vergangenen hinzudeuten. Die literarischen Foto-Bücher, die im Folgenden vorgestellt werden, bebildern, ohne zu illustrieren, sie machen – paradox formuliert – Nicht-Evidenz evident.6

2. Versuchsanordnung I: Das Fehlen des wahren Bildes: Roland Barthes’ La chambre claire (1980) La chambre claire von Roland Barthes hat in doppelter Hinsicht prägenden Einfluss auf die Geschichte des literarischen Foto-Buchs genommen: auf thematischer Ebene als Reflexion über die Fotografie sowie auf darstellerischer Ebene als ein Buch, in dem Text und Bilder miteinander kombiniert sind. Barthes hat wiederholt betont, wie gern er Beziehungen zwischen Texten und Bildern herstellt – und dass es ihm dabei gerade nicht um die Erzeugung von Kongruenzen, nicht um wechselseitige Bestätigung, nicht um den Eindruck ›illustrierender‹ Bilder geht, sondern vielmehr um das Oszillieren zwischen Text und Bild, um die Spannungen zwischen ihnen.7 In der Erzählung La chambre claire geht es um das Erinnern; sie nimmt ihren Ausgangspunkt von einem autobiografischen Datum – vom Tod der Mutter. Diese Erfahrung gibt den Impuls, sich mit Fotos zu beschäftigen, und das Buch bezeigt – als eine Art materialisierter Spur – diese Beschäftigung. Fotografie und Tod sind in 6

7

Der Ausdruck Foto-Buch wird im Folgenden für Kunstwerke verwendet, für welche der Einsatz von Fotografien sowie die Buchform konstitutiv ist. Hinzu kommen in den behandelten Fällen literarische Elemente. »Es gibt eine Arbeit, die ich sehr liebe, nämlich das Herstellen einer Beziehung zwischen Text und Bild. […] – Im Grunde liebe ich die Beziehung zwischen Bild und Schrift, eine sehr schwierige Beziehung, die aber gerade dadurch wirkliche schöpferische Freuden bringt, etwa so, wie früher die Dichter gern an schwierigen Problemen der Versifikation arbeiteten. / Die heutige Entsprechung dazu ist das Finden einer Beziehung zwischen einem Text und Bildern« (Roland Barthes: »Über Fotografie. Interview mit Angelo Schwarz [1977] und Guy Mandery [1979]«. In: Wolf (Hrsg.): Paradigma Fotografie, S. 82–88, hier S. 87f.). – In der Vorbemerkung zu Barthes’ Japan-Buch Das Reich der Zeichen heißt es, der Text sei kein ›Kommentar‹ zu den Bildern, die Bilder keine ›Illustrationen‹ zum Text; beide hätten vielmehr »als Ausgangspunkt für eine Art visuellen Schwankens« gedient: »Text und Bilder sollen in ihrer Verschränkung die Zirkulation, den Austausch der Signifikanten […] ermöglichen […]« (Roland Barthes: Das Reich der Zeichen. Frankfurt am Main 1981, S. 11).

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La chambre claire von vornherein assoziativ miteinander verknüpft, und der gesamte Erzählerbericht dient der Bekräftigung und Ausfaltung dieses Bezugs. Die fotografische Darstellung wird zum Inbegriff einer nur scheinhaften Präsenz, welche in ihrer Scheinhaftigkeit gerade die Absenz des Dargestellten bespiegelt. Das Bild ist zwar an einen Referenten gebunden, doch dessen Seinsweise ist vom Standpunkt des Bildbetrachters aus gesehen eine rein phantasmagorische.8 Der Moment, in dem jemand fotografiert wird, ist der Moment seiner Verwandlung in ein Phantom; sein Erscheinungsbild löst sich von ihm selbst ab, gewinnt ein phantomatisches Eigenleben. Wer sich fotografieren lasse, so Barthes, werde in einem »äußerst subtilen Moment« abgebildet, in dem er »weder Subjekt noch Objekt« sei, sondern ein »Subjekt, das sich Objekt werden fühlt«; jeder erfahre dabei »im kleinen das Ereignis des Todes (der Ausklammerung)«: »Ich werde wirklich zum Gespenst«.9 Die verstorbene Mutter, das Objekt des Begehrens, wird in La chambre claire vom Erzähler in mehrfacher Hinsicht als Phantom inszeniert: Der Text spricht von ihr nur als von einer Abwesenden, ein Bild, das sie angeblich darstellt, wird nicht gezeigt. Ein längerer Teil des Textes gilt der Betrachtung von Fotografien, auf denen die Mutter in verschiedenen Lebensaltern abgebildet ist und auf denen der Erzähler sich dennoch zunächst vergeblich bemüht hat, »sie« wiederzufinden. Ein einziges Foto aus der Jugend der Mutter scheint dem inneren Bild zu entsprechen, das er von ihr behalten hat. Obwohl La chambre claire viele reproduzierte Fotos enthält, fehlt dieses Bild im Buch – wie im Text selbst auch ausdrücklich hervorgehoben wird. Dass die Entsprechung zwischen dem gefundenen (und dem Leser vorenthaltenen) Bild und der Erinnerung an die Mutter zudem nur eine Suggestion respektive eine Konstruktion sein könnte, deutet sich darin an, dass der Erzähler diese Entsprechung erst auf den zweiten Blick entdeckt haben will und dass er sie ins Zeichen des »Beinahe« stellt. Er sieht sie auf dem Bild »beinahe« und entwirft dann für sich selbst ein Bild der Mutter, ausgehend von dem Jugendfoto, das sie in einer Lebensphase vor seiner eigenen Geburt zeigt: »Ich betrachtete das kleine Mädchen und fand endlich meine Mutter wieder.«10 Er sei kein Anhänger des Realismus, so hat Barthes in einem Interview erklärt, in dem es um seine Beziehung zur Fotografie ging. Der Fotograf sei »Zeuge« nur »seiner eigenen Subjektivität, das heißt der Art und Weise, wie 8

9 10

Vgl. dazu Hubertus von Amelunxen: »Photographie und Literatur. Prolegomena zu einer Theoriegeschichte der Photographie«. In: Peter V. Zima (Hrsg.): Literatur intermedial. Musik – Malerei – Photographie – Film. Darmstadt 1995, S. 209–231, insbes. S. 213f. Vgl. Roland Barthes: Die helle Kammer. Frankfurt am Main 1989, S. 22f. Ebd., S. 76–78.

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er sich selbst als Subjekt zu einem Objekt verhält«.11 La chambre claire macht nichts evident und verweigert sich dem phänomenologischen Projekt einer Hinwendung zu den Dingen.12 Stattdessen stellt es einen imaginären Referenten in den Modus eines mehrfach gestaffelten Entzugs. Die nicht abgebildete Mutter selbst ist dabei nichts anderes als eine Metapher: für den phantasmagorischen Grund und Ursprung, den das Ich im Durchgang durch die Repräsentationen in den Dingen selbst finden möchte und nie findet. Der Einsatz der sichtbaren, reproduzierten Fotos ist darauf abgestimmt. Wird ein Essay von Abbildungen begleitet, so erwartet man normalerweise, dass es sich um Illustrationen handelt, welche das, was im Text erörtert wird, visualisieren – es gleichsam in bildlicher Übersetzung verdoppeln, um ihm Evidenz zu verleihen. Illustrationen stehen in nachvollziehbaren Beziehungen zu dem Text, den sie illustrieren. In Barthes’ Buch verhalten sich die Dinge anders: Manche Fotos werden zwar durchaus im Text kommentiert (so das Foto des zum Tode verurteilten Lewis Payne) und ›illustrieren‹ diesen in diesem Sinn, freilich niemals ohne eine stark subjektive Semantisierung des Bildes.13 Andere Fotos können zwar auf das, was der Text inhaltlich ausführt, bezogen werden, sind als solche aber eher Repräsentanten für andere Fotos, die ebensowohl hätten ausgewählt werden können; dies gilt vor allem für diejenigen Bilder, die den Ausführungen über das ›punctum‹ von Fotos zuzuordnen sind. Es muss nicht das Bild der schwarzen Bürgerfamilie sein, an der der Erzähler als ›punctum‹ ein bestimmtes Detail hervorhebt. Nachvollziehbar im Sinne von beweisbar machen lässt sich der Punctum-Effekt ja ohnehin nicht. Insofern ist die Konzeption eines solchen ›punctums‹ dem Prinzip des ›Illustrierens‹ gegenläufig. Und das Foto der Mutter (oder Frau) von Nadar steht als Platzhalter für ein Bild, das dem Text zufolge gerade nicht gezeigt wird: für das Bild der Mutter des Erzählers. Das fehlende Foto ist das Zentrum des Buchs, das dieses Defizit durch sein Fehlen via negationis evident macht. Keine vom Mutterbild gestiftete Evidenzerfahrung liegt dem Erzählerbericht zugrunde, sondern er zitiert Kon11 12

13

Barthes: »Über Fotografie«. In: Wolf (Hrsg): Paradigma Fotografie, S. 84. Hertha Wolf analysiert die Sprache und die Darstellungsweise in Barthes’ Buch: Dieses könne nicht als »neuerliche Hinwendung […] zur Phänomenologie gelesen werden« (Wolf: »Das, was ich sehe, ist gewesen«, S. 89). Es sei vielmehr dem Gedanken verpflichtet: »Da Objektivität nur als imaginäre Größe existiert, kann die Schreibweise (écriture) niemals objektiv sein« (ebd.). – Vgl. auch den Beitrag von Snyder: »Das Bild des Sehens«, S. 41. Analoges gilt für das Foto des Bruders von Napoleon, mit dem der Erzähler den Gedanken assoziiert, diese Augen hätten Napoleon gesehen – da wird ein ›Sehen‹ imaginiert, nicht vollzogen bzw. arrangiert.

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zepte (wie das von der Nabelschnur, die den fotografierten Referenten und das Foto miteinander verknüpfen) und Texte (wie etwa Prousts Recherche, wo eine Fotografie der Großmutter in einer Weise beschrieben wird, die auf La chambre claire vorausweist).14 Es ist insofern nur folgerichtig, dass »la chambre claire« fortan viel zitiert wird. Dadurch, dass Barthes die Reflexion über die Absenz des Vergangenen und den phantomatischen Charakter des Erinnerten in die Form eines Foto-Buchs gebracht hat – eines Buches zudem, in welchem das zentrale Foto als der Nukleus des Erinnerungsprozesses gerade eine Leerstelle ausmacht –, wird er impulsgebend für verschiedene Versuchsanordnungen. Über Barthes hinaus gehen diese damit, dass sie die Abhängigkeit der fotografischen Bilder selbst von der Zeit stärker akzentuieren: die Möglichkeit, Bilder zu verlegen oder zu verlieren, ihre Flüchtigkeit und Zerstörbarkeit, ihre Unschärfe und Dunkelheit.

3. Versuchsanordnung II: Ausschnittvergrößerung als Abtasten einer Oberfläche: Monika Marons Pawels Briefe (1999) Monika Marons Buch Pawels Briefe gilt einem Abschnitt ihrer eigenen Familiengeschichte. Der Großvater der Ich-Erzählerin (einer autobiographischen Erzählerin) ist wegen seiner jüdischen Abstammung zum Opfer der Nationalsozialisten geworden; seine nicht-jüdische Frau Josefa war zwar keines gewaltsamen Todes gestorben, als Folge der auf sie ausgeübten Repressionen aber wohl früher und unter traurigen Umständen. Zu den vier Kindern Pawels und Josefas gehört Hella, die Mutter der Erzählerin, die einen hochrangigen DDR-Funktionär geheiratet hat. Briefe des Großvaters Pawel Iglarz haben in der Erzählerin, die diese Briefe erst spät entdeckte, das Bedürfnis nach Rekonstruktion ihrer Vergangenheit ausgelöst. Maron zitiert sie im Erzählerbericht auszugsweise. Sie versucht, das Leben der Großeltern auf der Basis der ihr zur Verfügung stehenden Informationen zu rekonstruieren – Informationen, zu denen vor allem Auskünfte ihrer Mutter Hella gehören. Es wird aber deutlich, dass die Möglichkeiten hier begrenzt sind. Hella ist eine unzuverlässige Zeugin; sie erinnert sich an vieles ganz anders als ihre Tochter, und sie hat Teile ihrer Vergangenheit und ihrer Familiengeschichte offenbar zeitweilig ganz vergessen. So vermittelt der mehrfach gestufte Er14

Prousts Erzähler betrachtet in der Recherche das Bild seiner toten Großmutter, erfährt dieses als Schock und empfindet den Tod der Großmutter mit besonderem Nachdruck. Vgl. dazu: Anselm Haverkamp: »LICHTBILD. Das Bildgedächtnis der Fotografie. Roland Barthes und Augustinus«. In: Ders., Renate Lachmann (Hrsg.): Memoria. Vergessen und Erinnern. München 1993, S. 47–66.

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innerungsbericht vor allem die Einsicht in die Begrenztheit, Subjektivität und Perspektivik aller Erinnerungen. Maron integriert in ihren autobiographisch-familiengeschichtlichen Bericht Familienfotos. Interesse erregt die Art des Umgangs mit den reproduzierten Bildern, denn er hat metaphorische Qualitäten: Die Fotos werden ausschnittweise vergrößert und tauchen insofern jeweils doppelt auf. So sieht man beispielsweise zunächst die Reproduktion eines Porträtfotos – und dann ein Detail des Gesamtarrangements. Es ist, als bewege man sich als Leser auf die Bilder zu. Tatsächlich aber verraten die Bildausschnitte auch nicht mehr über ihre Sujets. Alle Vergrößerungen spielen sich stets nur auf Oberflächen ab; der Zoom durchdringt diese Oberflächen nicht, sondern macht sie als Oberfläche nur nachdrücklicher bewusst. Vielleicht hat die Barthes’sche Konzeption des ›punctum‹ die Bildregie von Marons Buch beeinflusst. Aber das ›punctum‹ ist ja gerade die subjektive, nicht evident zu machende Dimension des Bildes. Wenn es mit den Ausschnittvergrößerungen bei Maron um ein solches ›punctum‹ der Bilder gehen sollte, dann ginge es gleichsam per definitionem um etwas Unsichtbares. Wie die reproduzierten Fotos so suggeriert auch die faksimilierte Handschrift eines Großvater-Briefs auf dem Buch-Cover einerseits, dass die Spur der Großeltern bis in die Gegenwart hinein lesbar ist. Andererseits aber ist die Wahrnehmung einer solchen Spur noch keine Basis für eine Revokation dessen, was diese Spur hinterlassen hat. Das Zoomen ist wie der Erzählprozess eine Auseinandersetzung mit etwas Uneinholbarem. Die Familienfotos bilden keine lebendige Nabelschnur zu den Angehörigen der vorletzten Generation. Die Toten entziehen sich dem Wissen und dem Verstehen. Was durch das Buch darstellbar ist, ist der Gestus versuchter Annäherung an sie – in Form einer reflexiv gebrochenen Geschichte über die eigene Spurensuche und in Form von vergrößerten Bildausschnitten.

4. Versuchsanordnung III: Ein Nachlass ohne Archivar: Peter Henischs Die kleine Figur meines Vaters (1975, überarbeitet 1987, »aktualisiert« 2003) Auch Peter Henisch schreibt in Die kleine Figur meines Vaters über einen Abschnitt seiner Familiengeschichte. War La chambre claire mit dem Tod der Mutter verknüpft, Pawels Briefe mit dem der Großeltern, so ist Henischs Buch ein Erinnerungsbuch an den eigenen, mittlerweile verstorbenen Vater. Wie Pawels Briefe stützt sich Die kleine Figur meines Vaters auf Gespräche zwischen den Generationen: Die nötigen Grundlagen, insbesondere aufgezeichnete Gespräche mit dem Vater, wurden in dessen letzter Lebensphase zusammengetragen.

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Fotografien spielen in diesem Buch eine mehrfache Rolle. Zum einen sind sie dem Erzählerbericht als Dokumente beigefügt, und mittels ihrer wird die Zeit ins Bild gesetzt, auf die sich der Bericht bezieht. Zum anderen stehen die Fotos in einer besonderen Beziehung zum Vater selbst, denn dieser ist Fotograf gewesen und hat viele Aufnahmen hinterlassen. Aus diesen Beständen scheinen die Fotos im Buch zu stammen, auch wenn dies nur bemerkenswert lakonisch angedeutet wird. Warum gerade diese Fotos ausgewählt wurden, erfahren wir nicht. Henischs Vater war Kriegsberichterstatter gewesen und hatte sich, ohne überzeugter Nationalsozialist zu sein, in den Dienst staatlicher Propaganda nehmen lassen. Für seine teilweise tollkühnen Einsätze gefeiert, hatte er nach dem Krieg weiterhin als Pressefotograf gearbeitet. Die Bilder im Buch zeigen gerade nicht den Vater als den zentralen Gegenstand der Erinnerung; sie zeigen das, was der Vater fotografiert hat. Damit sind sie ihm zugleich ferner und näher. Wir sehen ihn nicht, aber wir sehen einen Moment lang mit seinen Augen – in die Vergangenheit. Dargestellt sind unterschiedliche Sujets aus der Kriegszeit: Aufnahmen aus dem Kriegsgeschehen, Aufnahmen der Zivilbevölkerung, Aufnahmen, die ›authentisch‹ wirken, auch wenn einzelne von ihnen auf Arrangements beruhen. Um Erinnerung (und Vergessen) geht es in Henischs Buch auf mehreren Ebenen: Der Sohn erinnert sich seines Vaters, dem er mit seinem Buch ein (keineswegs eindeutig verehrendes und verklärendes) Denkmal setzt. Der Vater ist derjenige, der als Augenzeuge der Kriegszeit für die Erinnerung an diese steht, aber er gehört eben auch zur Generation derer, die sich nicht an alles erinnern wollen, was sie erlebt haben. In Gesprächen zwischen Vater und Sohn Henisch (die das Buch dokumentiert) geht es unter anderem um Erinnern, Verdrängen und Vergessen. Die Fotos stehen in auffällig lockerer Beziehung zum Text des Erzählerberichts. Es scheint einerseits, als stünden sie, relativ beliebig ausgewählt, für mögliche andere Bilder; sie repräsentieren jeweils einen spezifischen Typus von Bild, und das macht sie interessant: das Bild von der Front, das Bild der einfachen Landbevölkerung, das Bild einer Soldatenbraut etc. Andererseits geht von den fotografischen Abbildern von namenlosen Menschen ein eigentümlicher (und sicher gewollter) Effekt aus: Der Anonymität zum Trotz interessiert sich der Betrachter für diese unversehens auftauchenden Gesichter. Er wird sich allerdings auch sofort dessen bewusst, dass er nie erfahren wird, wer die Abgebildeten sind. Die Fotos sind wie ›Zeugen‹, die fast jede Aussage verweigern. Henisch zitiert mit diesen Fotos die Institution des ›dokumentarischen‹ Fotos, des Fotos als ›Zeuge‹, legt es jedoch insgesamt darauf an, eben diese

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Zeugenschaft in Frage zu stellen – und mit ihr die Möglichkeit eines Blicks in die Vergangenheit. Fragwürdig und unzuverlässig ist die fotografische Dokumentation der Vergangenheit aus mehreren im Buch selbst reflektierten Gründen: Erstens ist die Perspektive des Fotografen kontingent. Kontingent sind auch die aufgenommenen Momente; gerade am Beispiel eines Pressefotografen wird ja deutlich, wie inkalkulabel die Umstände sind, unter denen eine spezifische Aufnahme zustande kommt. Zudem manipuliert der Fotograf seine Aufnahmen. Für alle, die nur die Fotos sehen, ist deren Informationswert beschränkt, und es gibt zudem gestellte und gefälschte ›Momentaufnahmen‹. Ohne die Kontinuität eines individuellen oder kollektiven Gedächtnisses als Rahmen oder Basis löst sich der Bezug der Fotos zu ihren Referenten im Laufe der Zeit; die Nabelschnur – ohnehin nur phantomatischer Art – verflüchtigt sich.

5. Versuchsanordnung IV: Bilder, die nichts zeigen: W. G. Sebalds Austerlitz (2001), Die Ausgewanderten (1992) Fotografie und Erinnerung gehören für Sebald zusammen – aber nicht in dem Sinn, dass die Fotografie als Stillstellung des aufgenommenen Moments dessen Erinnerbarkeit gewährleistete. Vielmehr erscheint sie selbst unter dem Aspekt ihrer Zeitverfallenheit. Für Sebald ist das Auftauchen der Bildkonturen einer fotografischen Aufnahme im Entwicklerbad zwar Metapher des Erinnerns, doch er modelliert das Erinnern als einen Entwicklungsprozess, der andauert und dabei unausweichlich die Bilder wieder zerstört. Die Figur Austerlitz sagt: Besonders in den Bann gezogen hat mich bei der photographischen Arbeit stets der Augenblick, in dem man auf dem belichteten Papier die Schatten der Wirklichkeit sozusagen aus dem Nichts hervorkommen sieht, genau wie Erinnerungen, sagte Austerlitz, die ja auch inmitten der Nacht in uns auftauchen und die sich dem, der sie festhalten will, so schnell wieder verdunkeln, nicht anders als ein photographischer Abzug, den man zu lang im Entwicklungsbad liegenläßt.15

Austerlitz sucht vergebens nach den Erinnerungsresten, von denen er hofft, sie verbänden ihn mit seiner Kindheit und mit seiner Mutter. Als jüdisches Kind aus dem von den Nazis besetzten Prag nach England geschafft und dort in Unkenntnis seiner Identität herangewachsen, begibt er sich als mittlerweile über seine Herkunft informierter Erwachsener nach Prag sowie nach Theresienstadt, um Spuren der Mutter zu finden. Seine Recherche wird 15

W. G. Sebald: Austerlitz. Frankfurt am Main 2001, S. 117.

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zur intensiven Auseinandersetzung mit Bildern, Bildvergrößerungen, selbstgemachten und in Archiven entdeckten Fotos, mit Filmkopien in Zeitlupe und mit Filmstills; lange findet er kein Bild seiner Mutter – und als er eines findet, ist es keine Nabelschnur zurück zur dargestellten Frau. Die Bildregie in Austerlitz gestaltet sich komplex und setzt auf die metaphorischen Potentiale der Präsentationsweisen von Bildern. So wirkt das Filmstill, das einem Film über das Theresienstädter Ghetto entstammt, wie eine Momentaufnahme aus der Unterwelt. Die beim Filmkopieren eingefügten digitalen Ziffern erscheinen wie die Visualisierung der Zeit selbst – zumal sie einen Teil der Frau verdecken, in der Austerlitz die Mutter wiederzuerkennen hofft. Beschädigte Filmbilder wirken durch das Eindringen diffus-grauer Bildflächen in die Szenerie, als werde hier der mit Geschichte unauflöslich verbundene Vernichtungsprozess sinnfällig; aus dargestellten Menschen werden gespenstische Schemen. Die Protagonisten der Ausgewanderten sind teils historische, teils fiktive Figuren,16 die (wie die von Austerlitz reflektierten Bilder in der Entwicklerflüssigkeit) durch das Gedächtnis dessen wandern, der von ihnen erzählt, um sich in diesem Durchgang dann doch zu verlieren – nicht trotz, sondern wegen der Fotos, die den Erzählerbericht begleiten. Auf den ersten Blick scheinen die Fotos illustrieren, vielleicht sogar ›belegen‹ zu wollen, wovon im Text die Rede ist. Dass die Auswahl der Fotos (und anderer Bildmaterialien) teilweise etwas beliebig wirkt, lässt sich allerdings kaum bestreiten. Entsprechend haben sie auch keine Legenden. Man kann Beziehungen zwischen Texten und Bildern herstellen, aber diese sind nicht eindeutig. Einerseits scheinen die Bilder etwas zu ›bezeugen‹ (und sei es auch nur, dass es jemanden oder etwas gab, der oder das so und so aussah), andererseits inszeniert Sebald sie gezielt als unzuverlässige Zeugen. Paul Bereyters Geschichte wird unter Heranziehung von Fotos aus einem alten Album sowie anderer Bildmaterialien aus dem Besitz des Erzählers rekonstruiert. Diverse Bilder sind nicht dazu da, etwas zu zeigen, sondern um das Nicht-Zeigen – den Entzug des Referenten – sinnfällig zu machen. So wird der Anfang des Erzählerberichts begleitet durch ein Foto, das Eisenbahnschienen zeigt. Zum Bericht über Bereyters Freitod auf den Schienen steht das Bild aber in einem rein assoziativen Verhältnis. Natürlich kann ein Foto nicht zeigen, was ein Mann in seinem letzten Lebensmoment sah. Hier aber geht es zudem um einen Mann, der ohne Brille nichts sah und diese bei seinem Tod weglegte. Die fotografischen Darstellungen 16

So wie der Wanderer in Die Ringe des Saturn Züge des Autors Sebald trägt, aber wohl kein autobiographisches Porträt ist.

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Bereyters selbst sind klein und wenig prägnant. Ein Kommentar des Erzählers zu einem der Bilder gilt dem Umstand, dass der damals schwer bedrückte Bereyter in seiner Magerkeit wirkt, als sei er dabei, bald zu verschwinden, will heißen, unsichtbar zu werden. Der Erzählerbericht und die ihn begleitenden Fotos suggerieren nicht, sie seien Revokationen (Vergegenwärtigungen) des toten Bereyter oder der Vergangenheit. Vielmehr sind sie Inszenierungen des Verschwindens. Sie besiegeln die Ungreifbarkeit des Vergangenen durch mehrere Gestaltungsstrategien: Die Bilder sind teilweise unscharf und schon durch die Kleinheit der dargestellten Motive keine auskunftsfreudigen Zeugen. Die aus einem Album stammenden Fotos bilden nur den sichtbaren Teil eines Korpus, das dem Leser des Buchs unsichtbar bleibt – und zudem ist ja auch ein Album keine erschöpfende Dokumentation vergangenen Lebens. Der gewollten Unschärfe der Bilder korrespondiert das Leitmotiv der Kurzsichtigkeit; Paul Bereyters Blick auf die Welt war zunehmend eingetrübt gewesen, und dies, obwohl gerade er ein großes Bedürfnis nach einem möglichst unverstellten Blick auf die Dinge gehegt hatte. Auch in der Geschichte Henry Selwyns wird das Nicht-Sehen zum einen thematisiert, zum anderen arrangiert. Selwyn hat selbst von einer Reise Dias gemacht, die er zusammen mit Freunden betrachtet; dabei zerspringt, wie der Erzähler berichtet, ein Dia als Folge seiner langen Betrachtung (es ist zu heiß geworden). Von Selwyn selbst zeigt das Buch kein Bild. Allerdings erfahren wir, dass er ähnlich aussah wie Nabokov auf einem Foto, das ihn anlässlich einer Bergwanderung zeigt. Dieses Nabokov-Bild ist dem Bericht beigefügt – aber entscheidend ist für seine Verwendung nicht, was es zeigt (Nabokov), sondern was es nicht zeigt (Selwyn). Ein analoger Effekt wird anlässlich der erinnerten Person des Johannes Naegeli erzeugt. Selwyn hatte den Bergführer Naegeli in seiner Jugend gekannt; dann war Naegeli bei einer Wanderung zu Tode gekommen. Sein Leichnam wurde vom Eis eines Gletschers verschluckt. Nach Selwyns Tod liest der Erzähler (der die Geschichte Naegelis von Selwyn erzählt bekommen hat), dass Überreste Naegelis vom Gletscher freigegeben und gefunden wurden. Anders als im Fall des berühmten Bergmann von Falun, der wohlkonserviert aufgefunden wurde, sind von Naegeli allerdings nur ein paar Knochen und seine Stiefel übrig geblieben. Darüber berichtet zwar ein Zeitungsausschnitt mit einer Fotografie, der in Sebalds Buch auch als Faksimile wiedergegeben wird, aber auf dem Bild sieht man nicht einmal die aufgefundenen Überreste, sondern nur eine hockende Figur, die vielleicht etwas sucht, vielleicht das ›Suchen‹ aber auch nur für das Zeitungsfoto simuliert. Der diese Episode gleichsam bilanzierende Satz »So also kehren sie wieder, die Toten« ist zumindest doppelbödig.

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Naegeli ist ja nicht ›wiedergekehrt‹. Man hat Überreste von ihm gefunden, aber nicht einmal diese sind auf dem Zeitungsbild zu sehen. Und Selwyn, für den das Ereignis der Auffindung jener Überreste eine Bedeutung hätte haben können, hat davon nicht einmal mehr gehört. Die von Sebald variantenreich durchgespielte Strategie der Kombination von Erzählerbericht und Fotografien dient insgesamt der Inszenierung scheiternder Seherfahrungen. In diesen spiegelt sich metaphorisch der Prozess der erinnernden Auseinandersetzung mit der Vergangenheit als ein ebenfalls scheiterndes Unterfangen.17 Vordergründig als ›Dokumente‹ herangezogen, verweigern diese die Aussage. Auf paradoxe Weise allerdings machen sie die Unsichtbarkeit des Unsichtbaren sichtbar. Das bedeutet übertragen auf den thematisch mit dem Sehen eng assoziierten Erinnerungsprozess: Sebald erinnert an die Nichterinnerbarkeit des Vergessenen.

6. Versuchsanordnung V: Das Anti-Porträt des Künstlers als toter Mann: Christian Boltanskis La vie impossible (2001) Erinnerung und Erinnerungsverlust, Zeitlichkeit und Tod sind dominante Themen in Boltanskis Oeuvre. Dies gilt vor allem für seine Fotos und Fotoinstallationen. Ein zweites, benachbartes Kernthema ist der Zusammenhang zwischen Erinnerung, Selbstdarstellung und (inszenierter) Identität. Ein drittes Kernthema ist die Fotografie selbst; Boltanskis Fotoinstallationen sind metafotografische Arbeiten. Sie reflektieren (im einleitend skizzierten Sinn) kritisch Grundannahmen über Fotografie und Erinnerung, klammern sie ein, beleuchten sie aus verschiedenen Perspektiven, bringen sie in eine Art Schwebezustand zwischen Affirmation und Negation. Die Erwartung, sich mittels fotografischer Bilder Vergangenes vergegenwärtigen zu können, wird von diesen Fotoarbeiten allerdings konterkariert. Die Fotografie ist bei Boltanski Darstellung eines Vergangenen, das sich nicht revozieren lässt, als Abwesendes durch die Fotografie aber gerade vor Augen gestellt wird. Boltanskis Fotos haben gespensterhafte Qualitäten; sie konstituieren respektive markieren einen Zwischenraum zwischen Anwesendem und Abwesendem. Dies liegt sowohl an den fotografierten Sujets als auch an den visuellen Qualitäten der Fotos selbst. Bevorzugtes Gestaltungsmaterial sind Personen- und Familienfotos. Einerseits arrangiert Boltanski 17

Inhaltlich geht es unter verschiedenen Akzentuierungen um Einschränkungen, Eintrübungen, Behinderungen des Blicks, um die Unzuverlässigkeit, Vergänglichkeit und Mehrdeutigkeit von Bildmedien bzw. medialen Bildträgern. Dem korrespondiert der Umgang mit Fotos.

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diese in einer Weise, die an die konventionelle Funktion von Fotografien als Medien des Gedenkens, der erinnernden Rekonstruktion von Vergangenheit erinnert. Andererseits unterläuft er diese Erwartungen dadurch, dass er erstens die Fotos anonymer Personen verwendet, mit denen der Betrachter gar keine persönlichen Erinnerungen verbinden kann, die zweitens aber auch keinen Bezug zu spezifischen kollektiven Erinnerungen besitzen – eben weil man nicht weiß, wer überhaupt dargestellt ist. Einerseits werden die Fotos vielfach vergrößert, wie um eine intensive Präsenz der Dargestellten zu erzeugen, und bei der Ausschnittvergrößerung konzentriert sich der Künstler oft auf die besonders suggestive Augenpartie. Andererseits verbindet sich mit der Vergrößerung ein Unscharf-Werden, und auch andere Mittel werden eingesetzt, um den Bildern ihre Schärfe zu nehmen. Die Bedeutung individuellen und kollektiven Erinnerns wird als solche nicht negiert, aber die Einlösbarkeit des Erinnerungspostulats wird in Frage gestellt. Boltanski verwendet ganze Familienalben, welche symbolisch für solch individuelle und kollektive Erinnerungen stehen – aber ihre Anonymisierung bewirkt, dass dem Betrachter die Unausweichlichkeit des Vergessens bewusst wird. Auf die Grenzen der Erinnerung verweisen insbesondere die Fotoinstallationen, deren Materialien explizit die Bilder von Toten sind. Für den Betrachter namenlos, sind die Bilder unentzifferbare Etiketten auf einer unzugänglichen Vergangenheit. Deren Sinnbild sind unter anderem die Blechdosen der Installation Les suisses morts. Boltanskis Credo lautet: »Wir können nichts vor dem Verfall retten. Genau davon handeln meine ersten Arbeiten: die Dinge zu bewahren im Wissen um ihre Vergänglichkeit.«18 – »Man kann noch so viele Archive anlegen, es ist unmöglich, ein Leben festzuhalten.«19 Das Projekt La vie impossible wurde in zweifacher medialer Form realisiert: als Ausstellung wie als Künstlerbuch.20 Es zitiert der Form nach eine ungeordnete Sammlung von Erinnerungsstücken und aus der Erinnerung an eine Person formulierten Aussagen. Diese Aussagen sind im Künstlerbuch in hel18 19 20

Christian Boltanski: Zeit. Darmstadt 2007, S. 51. Ebd., S. 65. Christian Boltanski: La vie impossible. Köln 2001. Die Seiten sind unpaginiert, die Texte dreisprachig (Französisch, Deutsch, Englisch). Das Künstlerbuch wurde zur Ausstellung La vie impossible de Christian Boltanski geschaffen, die vom 18. 11. 2001 bis zum 6. 1. 2002 in der Anhaltischen Gemäldegalerie Dessau stattfand. Den Text verfasste Boltanski 1985. 1990 erschien dieser zuerst in französischer Sprache in der Zeitschrift fig.4, 1991 wurden die deutsche und die englische Übersetzung in der Zeitschrift Jahresring 38 publiziert. Die Collagen des Bandes entstanden 2001.

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ler (unterschiedlich getönter) Schrift auf schwarzen Karton gedruckt. Ihnen gegenübergestellt findet sich jeweils eine abfotografierte Assemblage aus unterschiedlichen Materialien; diese erinnern an Scrapbooks, aber auch an den Anblick ungeordneter Schreibtische oder Schubladen. Wir sehen auf den Bildseiten Assemblagen von Dokumenten verschiedener Art – darunter vielfach Briefe, Ausweispapiere und andere Unterlagen, die sich explizit und erkennbar auf Boltanski beziehen: Korrespondenzen, die sich an ihn richten, Handschriftliches von ihm selbst, Amtliches, Berufliches und Persönliches. Diese Bild-Seiten sind auf semitransparentes Papier gedruckt.21 Die Fotos der Assemblagen sind schon darum unscharf. Zum einen suggeriert das Nebeneinander von Text- und Bildelementen einen wechselseitigen Stützungsund Kommentierungsbezug, ohne dass diese Erwartung eingelöst würde. Signifikant erscheint die Unschärfe der Bildelemente, die der Ungreifbarkeit dessen entspricht, von dem da aus einer (simulierten) Erinnerungsperspektive die Rede ist. Insbesondere lassen die Bilder keinen Rückschluss auf eine Chronologie ihrer Sujets oder ihres eigenen Entstehens zu: In diesem ›Archiv‹ liegt alles durcheinander. Die Farbe Schwarz als Symbolfarbe der Trauer, des Todes und der Unsichtbarkeit, des Nichtsehens, des Dem-Zugriff-Entgleitens dominiert das Buch. Die Schrift der Aussagen hebt sich von einem übermächtigen schwarzen Grund ab; die Fotos sind zwischen jeweils zwei schwarzen Seiten platziert. Und im Hintergrund der semitransparenten Bildseiten ist das Schwarz immer schon gegenwärtig – so wie das Vergessen im Hintergrund allen Erinnerns. Text- und Bildbestandteile heben sich vom Schwarz ab wie verbal gefasste oder bildlich materialisierte Erinnerungen vor dem Hintergrund eines übermächtigen Vergessens. Die Texte scheinen teilweise beschwören zu wollen, was die Fotos darzustellen verweigern. Aber auch sie müssen sich ihr Scheitern eingestehen. Die Rede ist vom Künstler selbst: Anonyme Stimmen sprechen über Boltanski als den Gegenstand ihrer Erinnerungen. Sein Name fällt allerdings – wiederum signifikanterweise – nicht. Auf das (doppelte) Thema der Erinnerung und der Ungreifbarkeit einer Person verweist indirekt schon das Motto, das den Band einleitet: »woran sie sich erinnern« (»ce dont ils se souviennent«/»what people remember about him«).22 Damit wird die Versuchsanordnung charakterisiert, die dem Buch – als einem fiktionalen Arrangement – zugrunde liegt: Suggeriert wird eine Befragung verschiedenster Zeugen (da21

22

Hinter ihnen befindet sich wiederum eine schwarze Kartonseite, die ganz unbedruckt ist. Ihre Rückseite trägt dann die nächste Aussage. Boltanski: La vie impossible, S. 1. Hier und im Folgenden: nachträgliche Paginierung durch die Verfasserin.

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runter Freunde, Schulkameraden, eine ehemalige Lehrperson, Galeristen, aber auch eher entfernte Bekannte) zu Christian Boltanski. Die einzelnen Textabschnitte geben dabei jeweils eine einzelne Aussage wieder. Was die ›Zeugen‹ sagen, ist sehr unterschiedlich und wirkt spontan; manche sprechen über Boltanski als Person, manche erwähnen Ereignisse oder Vorfälle, Verhaltensweisen oder Eigenarten. Alle sprechen aus der Perspektive dessen, der sich an jemanden erinnert. Suggeriert wird dabei auch – und dies macht das Arrangement als solches transparent –, der Gegenstand der Erinnerungen (Boltanski) sei tot. Ein ›Zeuge‹ sagt aus der post-mortem-Perspektive: »Ich habe ihn nicht gut gekannt, eine vorbeiziehende Silhouette, ein kleiner, leicht nach vorn gebeugter Mann, jetzt bedauere ich, daß ich nicht mit ihm gesprochen habe, aber ich hätte wahrscheinlich nicht gewußt, was ich ihm hätte sagen sollen.«23 So entsteht aus den ›Aussagen‹ fingierter Zeugen das Anti-Porträt des Künstlers als toter Mann. Manche der ›Zeugen‹ scheinen ›Boltanski‹ gemocht zu haben, manche weniger. Manche haben ihm nahegestanden, andere nicht. Mehrdeutig ist der Titel des Projekts (der sich auch auf der dem Motto folgenden Seite findet): La vie impossible kann zum einen ausdrücken, der Künstler habe ein ›unmögliches‹ (im Sinne von: schrilles, unkonventionelles) Leben geführt; die Wendung kann zum anderen andeuten, dass hier ein gegenüber der biographischen Realität alternativer Lebensverlauf simuliert wird, nämlich einer, der in diesem Moment schon beendet ist. Schließlich kann sie auch in dem Sinn verstanden werden, dass das Leben sich ›unmöglich‹ einfangen und repräsentieren lässt, dass es stets jenseits der Repräsentationen verläuft. Die Collage unter dem Projekttitel La vie impossible zeigt das stark vergrößerte, gerasterte und etwas unscharfe Foto eines Jungen sowie das eines Hampelmanns aus Pappe, wie Boltanski sie gelegentlich für seine Installationen gebastelt hat. Überhaupt zeigen die collagierten Bildmaterialien vielfach Arbeiten des Künstlers respektive Fotos solcher Arbeiten. Das Leben des im Buch positiv nicht darstellbaren C. B. manifestiert sich als Spur in seinen Projekten. Diese allerdings unterliegen ebenfalls der Zeitlichkeit und sind keine dauerhaften Monumente, die der Künstler sich gesetzt hätte. Das deutet sich vor allem in der (schlechten) Qualität der Fotos an. Die Aussagen der imaginären Zeugen beziehen sich auf C. B. in verschiedenen Lebensaltern. Sie widersprechen dabei nicht erkennbar solchen Aussagen, die sich über den realen C. B. machen ließen (wenn man von der unterschwellig erzeugten Suggestion seines Ablebens absieht). »Ich sehe ihn vor mir, er war klein, leicht vorgebeugt, machte stets einen unruhigen Eindruck und hatte ständig 23

Ebd., S. 91.

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eine Pfeife im Mund, ich kann wohl behaupten, daß ich ihn nie ohne seine Pfeife gesehen habe.«24 Es liegt nicht nur am Fehlen der ›passenden‹ Bilder, wenn ›Zeugenaussagen‹ nichts Verbindliches über eine Person mitzuteilen haben. Denn diese Person selbst ist, so wie sie sich nach außen darstellt, kein verbindlicher ›Zeuge‹ für das, was ihren Charakter ausmacht. Ein Kommentar meint: »Er war sehr nett, zu jedem sehr nett, so daß man sich sagte, der da ist zu nett, um ehrlich zu sein.«25 Die diesem Kommentar zugeordneten Fotos sind unscharf und zeigen verschiedene Personen. Manche ›Zeugenaussagen‹ geben Statements von C. B. wieder – signifikanterweise im Sinne negativer Aussagen darüber, was C. B. nicht war. Wiederholt geht es darum, was aus Boltanski gerade nicht herauszubringen war.26 Der Künstler erscheint als eine Gestalt, die von vielen wahrgenommen wurde, an die es aber keine homogene gemeinsame Erinnerung gibt. Was immer an persönlichen Bekanntschaften den Aussagen zugrunde liegen mag – Boltanski hat Aussagen über Boltanski verfasst, wie er sie von anderen wirklich gehört hat –, ändert doch nichts an deren Vagheit und an der Diffusion dessen, von dem da die Rede ist.

7. Bilanz (1) Mit Fotos verbindet sich zunächst die Suggestion eines möglichen Blicks in die Vergangenheit – ja eines Kontakts zu den Toten. Das Vergangene, so scheint es, ›zeigt sich‹. Es tritt aus seiner bisherigen Unsichtbarkeit heraus. (2) Die vorgestellten Autoren setzen bei dieser Suggestion an. In allen vorgestellten Beispielen geht es nicht allein auf inhaltlicher Ebene um Erinnerungsversuche; diese werden innerhalb des Buchraums zugleich inszeniert – durch den Umgang mit literarischer Sprache und mit Fotos, insbesondere durch das Zusammenspiel von Bild und Text – und dabei als scheiternde Unterfangen bespiegelt. In allen Beispielen geht es um erinnerte Personen (teilweise um historische wie bei Maron und Henisch, teilweise um erfundene wie bei Sebald, teilweise auch um solche, die diesbezüglich keine eindeutige Zuordnung zulassen; dies ist bemerkenswerterweise in dem Beispiel der Fall, wo es um den Künstler selbst als Objekt der Erinnerung geht). Die Erinnerten bleiben abwesend – in allen Fällen; dargestellt werden sie als allenfalls vage, fragmentarisch und ›unscharf‹ erinnerte Gestalten, und in Aussicht gestellt wird jeweils die völlige Auslöschung, die völlige ›Verdunke24 25 26

Ebd., S. 3. Ebd., S. 15. Ebd., S. 11 und 15.

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lung‹ jeder Erinnerung. Marons Thema ist – ausgehend von dem Projekt der Rekonstruktion eines verschütteten Teils der eigenen Familiengeschichte – das Ungreifbarwerden der Vergangenheit. Sebald komponiert ›geschichtete‹ Erzählerberichte, in denen sich jeweils eine Figur der anderen erinnert, aber unter diesen Schichtungen wird keine rekonstruierbare Wirklichkeit greifbar. Bildmedien, so suggerieren seine Text-Bild-Kompositionen, verweigern sich dem Wunsch nach Erinnerung, nach Wiederholung des Vergangenen. Sie partizipieren vielmehr selbst an dessen Flüchtigkeit. Von Boltanskis metaphotographischen Installationen her lassen sich die Foto-Bücher von Autoren wie Sebald, Henisch und Maron in den Blick nehmen. Verbindend ist das Interesse an der Semantisierung der Fotografie und des Buchs in seiner Materialität. Boltanski betreibt insbesondere eine Selbstinszenierung ›Boltanskis‹ als diffundierendes Ich. Er selbst ist Gegenstand der diffusen Erinnerungen anderer. Der unsichtbare Protagonist von La vie impossible vollführt eine doppelte Volte. Der Künstler entzieht sich, aber indem er sich selbst zum ungreifbaren Objekt seiner Kunst verwandelt, wird er durch das Buch in seinen künstlerischen Intentionen bestens porträtiert. (3) Alle vorgestellten Beispiele haben eine metafotografische Dimension. Sie reflektieren über das, was Bilder nicht zeigen, nicht darstellen können. Sie machen auf paradoxe Weise die Nichtevidenz sinnfällig. (4) Kunst erinnert an das Begehren des Verlorenen und zitiert die Suggestion seiner Wiedergewinnbarkeit. Sie enttäuscht – aber in dieser Enttäuschung ist das Begehrte aufgehoben – auch und gerade die Sehnsucht nach Evidenz.

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Das Auge der Erinnerung Fotografie in Texten der klassischen Moderne und im Film von Michelangelo Antonioni

I »Von heute an ist die Malerei tot«, erklärt der französische Historienmaler Paul Delaroche 1839 beim Anblick einer Daguerreotypie.1 Doch seine Einschätzung war unbegründet; schon sehr schnell traten beide Medien in eine Wechselbeziehung. Die niederländischen Maler bedienten sich bereits der Camera obscura, Corot, Daubigny und Menzel experimentierten mit der Fotografie, Franz von Lenbach und Franz von Stuck konnten um 1900 die Fülle ihrer Porträtaufträge nur noch mit ihrer Hilfe bewältigen. Erleichtert wurde dies dadurch, dass der fotografische Apparat eine technische Reproduktion des Auges war; das Zusammenspiel von natürlicher oder fotografischer Linse mit Retina oder Fotoplatte beruhte auf den gleichen Gesetzen der Optik. Aus dieser Gleichsetzung des Sehens mit dem Fotografieren ergaben sich theoretische Reflexionen und psychologische Effekte zugleich.2 Für das Aufklärungszeitalter vollzieht sich das Sehen noch allein nach den Gesetzen von Geometrie und Optik, wie wir auf einem Bild des Theaters von Besançon von Claude-Nicolas Ledoux sehen können; die visuelle Wahrnehmung wird zugleich mit der intellektuellen Wahrnehmung verglichen. Im 19. Jahrhundert jedoch stellt Hermann von Helmholtz die Verlässlichkeit der visuellen Wahrnehmung infrage. Schon vorher betrachtet der Physiker JeanBaptiste Biot die Fotografie als ein wissenschaftliches Experimentalverfahren, das die Grenzen der natürlichen Wahrnehmung überschreitet. Durch die Entdeckung der Fixierung wird der technisch realisierte Augen-Blick zu einem Dokument, das etwa mit dem fusil automatique der Analyse von Bewegungen jenseits der Wahrnehmungsschwelle dienen kann. Darüber hinaus wird die Fotografie zu einem Beweismittel in der detektivischen Polizeiarbeit. 1 2

Gaston Tissandier: Les merveilles de la photographie. Paris 1874, S. 64. Dazu bereits grundsätzlich: Hermann von Helmholtz: »Der optische Apparat des Auges«. In: Ders.: Populäre Wissenschaftliche Vorträge. Bd. 2. Braunschweig 1871, S. 3–98, hier S. 33.

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Gleichzeitig löst der Sachverhalt, dass die Fotografie zwar wie das Sehen funktioniert, aber das Gesehene zugleich speichern kann, unbewusste Reaktionen aus. Nicht anders als die Tafelbilder entfalten Fotografien eine Spannung zwischen Blick und Bild, die Gilles Deleuze als »Klebestelle« bezeichnet.3 Dies führt einerseits zu einer psychischen Recodierung, wie sie Freud am Beispiel der unbewussten Gleichsetzung von Auge und Phallus entfaltet hat, andererseits mobilisiert jedes fotografische Bild die Fantasie. »Man photographiert Dinge, um sie aus dem Sinn zu verscheuchen. Meine Geschichten sind eine Art von Augenschließen«, bemerkt Franz Kafka.4 Roland Barthes zielt auf diese Dialektik des fotografischen Bildes, wenn er es wie den Text als ein »champ de redistribution« behandelt.5 Zudem hat das technische Bild eine Zeitachse. In der Beziehung zwischen dem Fotografen, dem Betrachter und dem Bild bleibt der Referent des analogen Fotos zwar ein Element der Realität,6 doch eine sichere Aussage kann die Fotografie nur über das machen, was gewesen ist. Sie ist eine Verbindung »aus Realität und Vergangenheit«,7 fixiert Zeitpunkte, kann aber im Unterschied zum Film keine zeitlichen Abläufe zeigen. Während Texte Gegenwart zu stiften versuchen und zugleich Fantasieräume eröffnen, die der Vergänglichkeit entzogen scheinen, machen Bilder diese gerade bewusst. Barthes nicht anders als Susan Sontag bezeichnet das fotografische Bild deshalb als einen »Agenten des Todes«8 und als Zeichen der Erinnerung zugleich. Seinen Ort in der Gegenwart erhält das Foto allein durch den Betrachter. Die Spannung zwischen Blick und Bild setzt also nicht nur zwei unterschiedliche Codes, sondern auch zwei Zeitpunkte zueinander in Beziehung. Darauf lässt sich Roland Barthes’ Unterscheidung zwischen ›studium‹ und 3

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Gilles Deleuze: Das Bewegungs-Bild, Kino, Bd. 1. Frankfurt am Main 1997, S. 48. Zur Spannung zwischen Blick und Bild in psychologischer Hinsicht vgl. auch Jacques Lacan: »Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse«. In: Ders.: Das Seminar. Nach dem von Jacques-Alain Miller hergestellten französischen Text in deutscher Sprache hrsg. von Norbert Haas. Bd. 11. Olten 1980, S. 100. Gustav Janouch: Gespräche mit Kafka. Aufzeichnungen und Erinnerungen. Erweiterte Ausgabe. Frankfurt am Main 1968, S. 54. Roland Barthes: »Théorie du texte«. In: Claude Grégory (Hrsg.): Encyclopaedia Universalis, Bd. XV. Paris 1973, S. 1013–1017, hier S. 1015. Roland Barthes: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie. Frankfurt am Main 2003, S. 17. Barthes: Die helle Kammer, S. 86. Ebd., S. 102. Vgl. dazu auch Liam Kennedy: Mind as Passion. Manchester 1995, S. 88. In einem ihrer Essays über Fotografie deklariert Susan Sontag Fotografien als Objekte der Melancholie, dazu Susan Sontag: Über Fotografie. Frankfurt am Main 1999, S. 24.

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›punctum‹ beziehen,9 zwischen dem, was man das ›ausgedehnte Feld‹ des Historischen und Dokumentarischen nennen könnte, und dem Element des Bildes, das beim Betrachter eine spontane, häufig subversive emotionale Reaktion auslöst. Barthes entschlüsselt damit zwar die für die Fotografie typische Zeitstruktur ebenso wie das von ihr ausgelöste Zusammenspiel von bewusster und unbewusster Wahrnehmung, aber er zieht nicht in Betracht, dass Fotos wie auch andere Bilder den Imaginationsraum, den sie eröffnen, zugleich als sichtbare räumliche Struktur vergegenwärtigen. Dieser Exteriorisierung von Raum in Bild und Foto korrespondiert in der GutenbergGalaxis eine Interiorisierung von Raum durch die Fantasie,10 welche die visuelle Wahrnehmung nachstellt. Dies führt in der Literatur bereits seit 1800, also mit Beginn des Aufschreibesystems Text, zu einem experimentellen Umgang mit Raumentwürfen. Dabei werden die literarischen Raumdarstellungen von Goethe bis in den Roman der klassischen Moderne häufig mit Hinweisen auf die visuelle Wahrnehmung gekoppelt. Marcel Proust vergleicht die fotografische Notation mit der psychologischen Wirkung der impressionistischen Malerei und charakterisiert beide mit Hilfe der Metaphorik von Fläche und Tiefe; auch bei Robert Musil werden der flächige Wahrnehmungsraum und ein dreidimensionaler Raum, der Erinnerung und Imagination entfaltet, zueinander in Beziehung gesetzt. Allerdings spielt die Fotografie bei Musil keine Rolle, sondern allein die sie begründende moderne Optik, die den Blick verstärkt. In seinem Essay Triëdere schildert der Autor, wie die technische Verstärkung der Wahrnehmung die Dinge »unverständlich und schrecklich« erscheinen lässt und eine fantasmatische Prägung des männlichen Blicks deutlich macht. Die optischen Gesetze weisen bei ihm allein auf das Unbewusste und Nichtberechenbare. Der Sachverhalt, dass sich jedes Sehen auch auf einer Zeitachse vollzieht, bleibt bei dieser Überlegung ausgespart, er ist für Musil allein durch das »Zeit-Bild« des Kinos erschließbar,11 das er mit Blick auf Bela Balász beschreibt. Franz Kafkas Amerika-Roman dagegen macht im Rekurs auf das Foto gerade diese Zeitachse wieder sichtbar. Während die Bilder bei Musil an die symbiotischen Zustände primärer Mütterlichkeit erinnern, stehen die Fotos 9 10

11

Ebd., S. 35f. Vgl. Marshall McLuhan: Die Gutenberg-Galaxis. Das Ende des Buchzeitalters. Bonn u. a. 1995. Gilles Deleuze: Das Zeit-Bild, Kino. Bd. 2. Übersetzt von Klaus Engler. Frankfurt am Main 1997.

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bei Kafka im Zeichen einer Vaterordnung, unter deren Einfluss Bewegung wie Erinnerung stillgestellt werden. Karl Rossmann sieht im Zimmer der Oberköchin vor allem Familienfotos,12 die ihn an seinen Vater erinnern.13 Diese Fotos invertieren seine Bewegung in der freien Welt, die ursprünglich nach Westen führen sollte; seine Blickrichtung kehrt sich um, zielt am Ende, fixiert auf den Ort Ramses, allein noch auf den Osten, auf das verlassene Europa. Während die Fläche der Porträtfotografie mit diesem Blick zurück zugleich die einengende Macht der familialen Ordnungssysteme zeigt,14 eröffnet die perspektivische Raumfantasie des Naturtheaters von Oklahoma zunächst einen utopischen Verheißungsraum. Doch ausgerechnet der Tiefenraum, den die Landschaft dieses Naturtheaters eröffnet, wird wiederum durch einen Flächenraum von Bildern durchschnitten, der erneut eine Vaterordnung repräsentiert. Auf der Loge des Präsidenten der Vereinigten Staaten, die »in den freien Raum« ragt, sind wie in einer Fotoserie die »Medaillons früherer Präsidenten« zu sehen. Der Text kommentiert diese Kette von Vaterinstanzen mit der semantischen Doppeldeutigkeit: »Man konnte sich in dieser Loge kaum Menschen vorstellen, so selbstherrlich sah alles aus.«15 Dieses Moment der Fixierung, das mit einer Rückbindung an vorangegangene psychische Zustände verbunden ist, grenzt Kafkas Bildstrategie von derjenigen Prousts ab. Bei diesem geht von Fotos oder solchen Bildern, die sich fotografischen Fixierungen vergleichen lassen, nicht nur eine Rekonstruktion der Erinnerung aus, Bilder markieren bei ihm auch die Punkte, an denen die Rekonstruktion der Erinnerung in den Akt des Erzählens umschlägt. Die écriture entsteht aus dem après-coup des zumeist als kontingent bewerteten Fotos, sie macht die Differenz von Vergangenheit und Gegenwart bewusst.16 Die Darstellung der Fahrt in der Kutsche des Doktor Piercepied, bei der Marcel die Kirchtürme von Martinville und Vieuxvicq aus verschie12

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Franz Kafka: Amerika. Roman [1927]. In: Ders.: Gesammelte Werke. Taschenbuchausgabe in sieben Bänden. Hrsg. von Max Brod. Bd. 1. Frankfurt am Main 1976, S. 114f.; Franz Kafka: Der Verschollene [1927]. In: Ders.: Kritische Ausgabe. Schriften, Tagebücher, Briefe. Hrsg. von Jürgen Born u. a. Frankfurt am Main 1983, S. 177f. Kafka: Amerika, S. 87f.; Kafka: Der Verschollene, S. 134f. Kafka: Amerika, S. 87f., 114f., 242; Kafka: Der Verschollene, S. 134f., 177f., 419. Kafka: Amerika, S. 239; Kafka: Der Verschollene, S. 413. Vgl. dazu Vittoria Borsó: »Proust und die Medien. Ecriture und Filmschrift zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit«. In: Uta Felten, Volker Roloff (Hrsg.): Proust und die Medien. München 2005, S. 31–60, hier S. 49; Marcel Proust: A la recherche du temps perdu. Paris 1987. 4 Bde., hier Bd. IV, S. 447f. (Im Folgenden: Proust, Pl I–IV).

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denen Perspektiven flächig und im Tiefenraum wahrnimmt, spielt nicht nur mit einer Abfolge von zweidimensionalen und dreidimensionalen Bildern im perspektivisch wahrgenommenen Raum,17 sie lässt zugleich das Medium der Fotografie assoziieren, weil ein und dieselbe Ansicht gewissermaßen als Negativ und als entwickeltes Bild erscheint,18 dabei wird Handlungsraum zum Erinnerungsraum, der Erinnerungsraum zum Imaginationsraum.19 Vergleichbares geschieht in der Madeleine-Episode,20 selbst die Kirche von Combray wird zu einem Imaginationsraum, wenn sich der dreidimensionale Wahrnehmungsraum zur Zeit öffnet.21 Diese Strategie Prousts wird in W. G. Sebalds Roman Austerlitz aufgegriffen und explizit mit dem Thema der Fotografie verbunden. Bei Sebald fixiert das Medium der Fotografie nicht nur Eindrücke, es kopiert und beeinflusst zugleich den psychischen Vorgang der Erinnerung, der hier mit dem chemischen Prozess von Entwickeln und Fixieren korreliert wird. Während sich die Konturen des Fotos seiner Mutter beim Entwickeln allmählich herausbilden, evoziert dieser Vorgang bei Austerlitz, der Erfahrung Marcels in der Recherche vergleichbar, Erinnerungen und Fantasien zugleich. Der technische Prozess lässt sich dabei mit der Wandlung der Erinnerung von der Mneme zur Anamnesis vergleichen,22 er rekonstruiert verschüttete Erlebnisse.23 Mit 17

18 19

20 21 22

Proust: Recherche, Pl I. Paris 1987, S. 177–179. Zur Rolle von Zwei- und Dreidimensionalität vgl. grundsätzlich Vilém Flusser: Für eine Philosophie der Fotografie. 4. überarbeitete Auflage. Göttingen 1989, S. 8. Proust: Recherche, Pl I. Paris 1987, S. 178. »Ce n’est pas ma conception du roman. Comment vous dire cela? Vous savez qu’il y a une géométrie plane et une géométrie dans l’espace, Eh bien, pour moi, le roman ce n’est pas seulement de la psychologie plane, mais de la psychologie dans le temps. […] comme une ville qui, pendant que le train suit sa voie contournée, nous apparaît tantôt à notre droite, tantôt à notre gauche, les divers aspects qu’un même personnage aura pris aux yeux d’un autre, au point qu’il aura été comme des personnages successifs et différents, donneront – mais par cela seulement – la sensation du temps écoulé« (Marcel Proust: Contre Sainte-Beuve. Précédé de Pastiches et mélanges et suivi des Essais et articles. Hrsg. von Pierre Clarac. Paris 1971, S. 557). – Vgl. auch Marcel Proust: Recherche, Pl III, Paris 1987, S. 762: »Le seul véritable voyage, le seul bain de Jouvence, ce ne serait pas d’aller vers de nouveaux paysages, mais d’avoir d’autres yeux, de voir l’univers avec les yeux d’un autre, de cent autres, de voir les cent univers que chacun d’eux voit, que chacun d’eux est; et cela nous le pouvons avec un Elstir, avec un Vinteuil, avec leurs pareils, nous volons vraiment d’étoiles en étoiles.« Dazu Reinhard Hohl: »Proust in neuer Sicht. Kubismus und Futurismus in seinem Romanwerk«. In: Neue Rundschau 88/1977, S. 54–72, hier S. 66 (Anmerkung 14). Proust: Recherche, Pl I, S. 46f. Ebd., Pl I, S. 58–60. Vgl. dazu Anselm Haverkamp: »Hermeneutischer Prospekt«. In: Ders., Renate

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dieser Beschreibung der Erinnerung als einer Bewegung knüpft Sebald an Prousts Auffassung der Laterna magica an, die von Anfang an in der Erinnerung an Combray eine kinematografische Strategie entfaltet, wenn sich die mit der Laterna magica präsentierten Bilder der Geschichte von Geneviève de Brabant und Golo in Marcels Erinnerung mit dem abendlichen Vorlesen der Mutter verbinden und die Erinnerung aus dem Sehen und einer imaginierten Erfahrung zugleich entstehen lassen.24 Dieser Spur folgend zeigt die Verfilmung der Wiedergefundenen Zeit durch Raoul Ruiz (Chile, Frankreich, Portugal, Italien 2000) eine vergleichbare Verknüpfung der Erinnerung mit ihrer medialen Transformation. Die erste Erinnerungssequenz des kleinen Marcel entsteht durch eine technische Koppelung von Bild und Text. In Marcels Zimmer blickend sieht eine Abendgesellschaft, wie dieser mit einer Laterna magica Bilder an die Wand projiziert, gleichzeitig wird aus dem Off der Text der Legende von Golo und Geneviève gesprochen. Während sich die Bilder der Laterna magica dabei als eine bewegte Abfolge zeigen, die den gelesenen Text in einen Film zu transformieren scheinen, verwandeln sich die lebenden Menschen in Statuen, auf denen die projizierten Bilder bewegte Fantasiebilder auslösen. Vergleichbares geschieht in einem Nebenzimmer. Dort betrachtet ein Offizier reale Kriegsszenen durch ein stereoskopisches Guckkastenkino, dabei verwandelt sich ein Foto in ein bewegtes Bild.25 In nuce präsentiert Ruiz’ Film damit die intermediale Strategie, aus der er selbst hervorgeht. Dabei wird klar, dass die mediale Technik nur nachstellt, was in der Fantasie des Betrachters vor sich geht. Die technische Präsentation von Bildern verbindet Reales und Imaginäres, die unterschiedlichen Medien substituieren und verstärken sich dabei.

23 24

25

Lachmann (Hrsg. unter Mitwirkung von Reinhart Herzog): Memoria. Vergessen und Erinnern ( Poetik und Hermeneutik XV). München 1993, S. IX–XVI, hier S. XVI. Dazu grundsätzlich Frances A. Yates: Gedächtnis und Erinnern – Mnemotechnik von Aristoteles bis Shakespeare. Aus dem Englischen übersetzt von Angelika Schweikhart. Weinheim, Berlin 1990 und Reinhart Herzog: »Zur Genealogie der memoria«. In: Haverkamp, Lachmann (Hrsg.): Memoria, S. 3–8, hier S. 3, 8. Dazu auch Walter Benjamin: Gesammelte Schriften. Hrsg. von Rolf Tiedemann, Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt am Main 1977, Bd. I/2, S. 612f. W. G. Sebald: Austerlitz. München 2001, S. 381. Proust: Recherche, Pl I, S. 9. Deleuze bezieht sich auf diese Szene, wenn er folgert: »Proust bedient sich folglich kinematographischer Begriffe: die Einstellungen in der Bildtiefe koexistieren« (Deleuze: Das Zeit-Bild. S. 58f.). Zum Stereoskop und zu den Versuchen von Sir David Brewster und Charles Wheatstone vgl. Jonathan Crary: Techniques of the Observer. On Vision and Modernity in the Nineteenth Century. Cambridge, MA 1990, S. 116–129.

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Auch Sebalds Rekonstruktion des Vergangenen setzt die Medien Foto und Film in ein eigentümliches Verhältnis zueinander. Der Versuch, einen Film dadurch zum Mittel der Dokumentation zu machen, dass er in Zeitlupe gezeigt wird, führt zum Verlust der Tonspur und zur Verzerrung der wahrgenommenen Bilder. Der parallele Versuch, die dokumentarische Fixierung, die das Foto leistet, durch Vergrößerung zu unterstützen, scheitert ebenfalls. Was zu dokumentieren ist, wird unscharf, löst sich in der Körnung des Fotos auf. In beiden Fällen führt der Verlust an Genauigkeit im cool medium zu einer Mobilisierung der Fantasie und der Imagination. Die Auflösung der visuellen Konturen und die Verschleifung der Tonspur korrespondieren dabei dem Verfahren der Laterna magica, die sich als Vorläufer beider Medien präsentierte, indem sie Bilder selten auf einen festen und klaren Untergrund, häufiger auf künstlich erzeugten Nebel oder Rauch projizierte, um so einen Effekt der Verfremdung zu erreichen, der das Unbewusste und die Fantasie mobilisiert.

II Michelangelo Antonionis Blow-Up (1966) steht in engem Zusammenhang mit den Strategien der visuellen Rekonstruktion von Erinnerung bei Proust und Sebald. Zugleich entfaltet die von ihm gezeigte Mordgeschichte eine Medienreflexion. Diese konzentriert sich auf die durch Medien ausgelöste Veränderung der natürlichen Wahrnehmung und zeigt zugleich, wie sich beide Bildstrategien verschränken. Die Differenz der Bildmedien und die Besonderheit des Fotos lässt Antonionis Film dadurch deutlich werden, dass er unterschiedliche Funktionen der Fotografie thematisiert, die zum Medium des Films in Konkurrenz treten. Er konzentriert sich dabei auf zwei Strategien: Konstruktion und Rekonstruktion. Die Strategie der Konstruktion wird deutlich, wenn sich der Protagonist als Fotograf seines Mediums bedient, um Realität und menschliche Interaktion in der Weise zu präsentieren, wie er sie wahrnehmen will. Dies betrifft vor allem die Models, denen er sich nur vermittels des fotografischen Objektivs nähert und die er gleichzeitig durch das Klicken des Filmstransports auf Distanz hält. Hier verwandelt sich der Mann ganz in Blick, sein Blick beansprucht und distanziert zugleich. Deutlich wird dies in beiläufigen Szenen, besonders aber im zentralen Fotoshooting mit Veruschka von Lehndorff. Der Ablauf dieses Shootings ist gestisch, visuell und akustisch mit einem Geschlechtsakt parallelisiert, während dessen sich die Frau dem Mann, der nie die Missionarsstellung verlässt, als Objekt darbietet. Der Kontakt zwischen beiden ist weder emotional noch wirklich körperlich; er wird allein durch das

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Abb. 1: Blow Up. Regie: Michelangelo Antonioni. Mitwirkende: David Hemmings, Vanessa Redgrave, Sarah Miles. Großbritannien: MGM, 1966. Warner Home Video, 2004. DVD

Objektiv der Kamera gestiftet, die der Fotograf am Ende achtlos herabhängen lässt, während er sich gelangweilt abwendet. Zugleich zeigt diese durch den Fotoapparat vermittelte Interaktion nichts anderes als eine Inszenierung, eine Simulation von Wirklichkeit. Für den späteren Betrachter der so entstandenen Fotografien ist sie nur deshalb nicht durchschaubar, weil die in Bruchteilen von Sekunden aufeinander folgenden Fotos die Bewegung von Mann und Frau stillstellen, während sie auf der Ebene der Imagination invers funktionieren und die Fantasie des Betrachters wie einen Film in Gang setzen. Antonioni verdeutlicht dies, indem er seinen Fotografen die Bilder als Serie an die Wand hängen lässt; dabei erinnern die weißen Leerstellen zwischen den Bildern an die für den Filmbetrachter unsichtbaren Schnitte zwischen den Einzelbildern. Damit nimmt Antonioni eine Strategie vorweg, die in Chuck Palahniuks Fight Club (USA, 1999) eine zentrale Rolle spielen wird. Zugleich ist bei ihm vorgezeichnet, dass die Einbeziehung der Zuschauer, die Antonioni in der Interaktion von Foto und Film inszeniert, später, wenn es möglich ist, die Filme auf DVD zu spei-

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chern, neue analytische Möglichkeiten eröffnen wird. Zunächst gilt schon hier: Die für den Film zentrale Interaktion zwischen technischer Manipulation und imaginativer Konsistenzbildung durch den Zuschauer wird auf diese Weise analytisch visualisiert. Die Fotoserie macht bewusst, dass der technische Apparat des Films nicht nur die menschlichen Sinne ersetzt, sondern zugleich die menschliche Wahrnehmung überlistet; er führt zu einer »Denaturierung des Menschen«, dessen Gefühle allein noch der Manipulation durch das Medium unterstehen.26 Mit dieser Linie der Konstruktion eng verwandt und ihr zugleich entgegengesetzt ist die den gesamten Film beherrschende Strategie der Rekonstruktion. Hier wird das Foto benutzt, um etwas zu rekonstruieren, das sich der Verfügung des Fotografen entzieht. Das Foto kehrt also zurück zu seinen historischen Anfängen, es wird zum Mittel einer detektivischen Beweisführung, die mit wissenschaftlicher Akribie veranstaltet wird. Es leistet, was man sich in seinen Anfängen von ihm erhoffte: Es macht nicht Sichtbares oder nicht Gesehenes sichtbar. Zum einen dadurch, dass die Fokussierung des Blicks, die im Augen-Blick des Fotografierens zentral ist, Bedeutung nicht nur für die Aufmerksamkeitsfixierung des Fotografen, sondern auch für die Messung von Entfernung und Belichtung erhält. Zum anderen dadurch, dass im entwickelten Foto diese Fixierung des Blicks dezentriert wird – dort kann auch das Periphere ins Blickfeld genommen werden. Darüber hinaus ermöglicht das technische Medium zwei weitere Operationen, zum einen die Stillstellung des Augenblicks, zum anderen die Vergrößerung. In dem Moment, in dem das Foto als Instrument einer detektivischen Aufklärung benutzt ist, wird es genau umgekehrt eingesetzt wie das Filmbild. Das Filmbild täuscht, indem es Einzelbilder beschleunigt, das Foto dagegen ermöglicht eine Rekonstruktion, indem es den Augen-Blick festhält und vergrößert. Das Vergrößern führt nicht nur zu einer Dehnung und Ausdehnung des Raums, sondern auch zu einer Dezentrierung des Blicks, der nicht mehr wie im natürlichen Sehen und während der Aufnahme fokalisiert ist, sondern zu einem wandernden Blickpunkt wird.27 Dabei tritt allerdings der gleiche Effekt ein wie bei den Vergrößerungen im Text von Sebald; die Konturen des entdeckten Objektes beginnen zu verschwimmen, lösen sich in der Pixelung des Bildes auf.

26

27

Joseph Vogl: »Medien-Werden: Galileis Fernrohr«. In: Lorenz Engell, Joseph Vogl (Hrsg.): Archiv für Mediengeschichte – Mediale Historiographien. Bd. 1. Weimar 2001, S. 115–123, hier S. 115f. Dazu Wolfgang Iser: Der Akt des Lesens. 4. Auflage. München 1994, S. 182f.

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Exakt an diesem Punkt setzt bei Antonioni die narrative Strategie des Mediums Film ein. In der Interaktion mit dem Foto führt dieses Medium zwar den Zuschauer in die Imagination, suggeriert aber gleichzeitig, dass sich der Protagonist der Realität zuwendet. In der vom Film definierten wirklichen Wirklichkeit entdeckt dieser, was ihm das Foto nur andeutet und was er sich in seinen vom Foto angestoßenen Imaginationen nur vorgestellt hatte. In ihrer filmisch inszenierten Interaktion invertieren also beide visuelle Medien ihre zentrale Eigenschaft: Sie führen die Simulation vorgeblich zurück in die Realität und machen dadurch Erinnerung im Sinne Prousts erzählbar. Dies gelingt, solange der Fotograf als Akteur erscheint. Der Film scheint seinen Verfügungsanspruch über die Wirklichkeit zu bestätigen, er zeigt zugleich seinen souveränen Umgang mit dem Medium Foto, das der Protagonist auch dadurch manipuliert, dass er es kontextualisiert. Die entwickelten Bilder ordnet er als eine Serie von Bildern an. Diese Anordnung und ihre ständige Reorganisation während der kriminalistischen Spurensuche erinnern an die Konstruktion einer Filmsequenz. Es wäre allerdings zu kurz gegriffen, würde man den Film Antonionis auf diese Präsentation der unterschiedlichen Strategien der Medien Foto und Film reduzieren. Wichtiger ist, dass er beide Medien in Bezug auf die wahrnehmenden Subjekte und die wahrgenommenen Objekte untersucht und dabei die Bedeutung eines Dritten betont. Denn ausgelöst wird die detektivische Spurensuche des Fotografen dadurch, dass sich sein mit dem Fotoobjektiv verstärkter Blick plötzlich einem Gegenblick der Frau ausgesetzt sieht, die ihn von der fotografierten Szene ablenken will. Die Frau, ursprünglich wie ihr Partner als bloßes Objekt dem herrschenden Blick des Fotografen unterworfen, wird selbst zu einem Subjekt, das sich durch Sehen behauptet.28 Die Besonderheit von Antonionis Präsentation dieses Sachverhaltes liegt darin, dass diese Gegenreaktion der Frau, die im Foto festgehalten ist, während einer Zeitspanne erfolgt, die in der kontinuierlichen Bilderfolge des Films gerade in einem Schnitt, also einem blanc verschwindet. Zweifellos resultiert die Erregung der Frau daraus, dass sie annimmt, der Fotograf habe den Mord selbst fotografiert. Sie weiß nicht, dass sich der Fotograf zum Zeitpunkt der Tat bereits abgewandt hatte. Genau die Szene aber, die der Zeitablauf des Films ausspart, wird im Atelier des Fotografen ausgehend von den Fotos in einem Zusammenspiel von Bilddokument, Analyse und Imagination rekonstruiert. Dies gelingt allerdings nur deshalb, 28

Sie ist das »Blickhafte im Bild«, destruiert die Illusion des Subjekts des Sehens, dass es sehen kann, ohne selbst gesehen zu werden. Vgl. Lacan: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, S. 107 sowie S. 90.

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Abb. 2: Blow Up.

weil der Fotograf die Fotos nicht mehr als Abbilder liest, sondern als Rekonstruktionen von Blicken. Im stillgestellten Augen-Blick eines Fotos sieht er zunächst die auffällige Blickrichtung der Frau, erst davon ausgehend erkennt er am Rande des Bildes die zum Schuss erhobene Pistole des Mörders. Neben dem Psycho-Zeichen des Blicks wird die Pistole zu einem Chrono-Zeichen, zugleich markiert sie einen Vexierpunkt, vergleichbar dem von Jacques Lacan beschriebenen Fleck im Medium der Malerei.29 Das Foto allein macht für den Zuschauer die Lücke bewusst, die er in der Bilderfolge des Films nicht vermutet hatte; den Protagonisten im Film veranlasst es hingegen dazu, den Ort, an dem es gemacht wurde, wieder aufzusuchen. Erst jetzt scheint der vollgültige Beweis für eine Tat zu gelingen, die ihn das Foto nur hatte ahnen lassen. Der Fotograf sieht die Leiche eines Mannes, eben des Mannes, den er fotografiert hatte, als er die Frau, deren Gegenblick ihn hatte aufmerksam werden lassen, im Objektiv des Fotoapparats fokussierte. Allerdings ist gerade diese Restitution der Realität prekär; die Leiche ist kurze Zeit 29

Dazu Bernhard Siegert: »Der Blick als Bildstörung. Zwischen Mimesis und Mimikry«. In: Claudia Blümle, Anne von der Heiden (Hrsg.): Blickzähmung und Augentäuschung. Zu Jacques Lacans Bildtheorie. Zürich, Bern 2005, S. 103–126, v. a. S. 110ff., und Deleuze: Zeit-Bild, S. 39: »Für Antonioni gibt es nur eine chronische Krankheit: Chronos ist die Krankheit selbst.«

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später nicht mehr auffindbar, und der Zuschauer bleibt in Unsicherheit darüber, ob er die faktische Realität gesehen oder nur eine mediale Inszenierung verfolgt hat, zu der die Reaktion der Frau zu passen schien. Die Fotografie entfaltet also ihre Fähigkeit zur Rekonstruktion allein im Spannungsfeld von Blick und Gegenblick, im Gegeneinander von bewegter und stillgestellter Zeit und in der Deutung dieser Wechselbeziehungen durch die Imagination des nachträglichen Betrachters. Gleichzeitig lenkt sie die Aufmerksamkeit auf die manipulative Strategie des Films, dessen Schnitte Leerstellen schaffen, die durch Imagination gefüllt werden müssen. Für Film und Foto gilt deshalb gleichermaßen: Im Blick des Betrachters verschränken sich Reales und Imaginiertes, wird ein Drittes konstruiert, das an die Stelle der bloßen Realität tritt. Diese Spannung zwischen Blick und Bild, die den Protagonisten bestimmt, wiederholt sich für den Zuschauer in seiner Wahrnehmung der Interaktion von Foto und Film. Antonioni unterstreicht diese Interferenz des Realen und des Imaginären durch kinematografische Strategien. Dominierend unter ihnen ist der Wechsel vom bewegten Bild des Films in Farbe zum stillgestellten Bild der Fotos in Schwarz-Weiß. Damit gekoppelt ist ein Wechsel von Geräusch zu Stille. Auf den bewegten farbigen Bildern des Films dominiert das Rauschen des Windes in den Bäumen, im Atelier des Fotografen dagegen herrscht die analytische Stille eines Labors und sehen wir Bilder in Schwarz-Weiß. Mit dem Farbwechsel verbunden ist einerseits die in der Bildergalerie des Labors nach Art einer Filmsequenz präsentierte Transformation der Totalen zum Ausschnitt, andererseits der Wechsel von der Tiefenschärfe des Filmbilds zur Zweidimensionalität des Fotos. Allerdings bleibt diese Distinktion der visuellen Felder von Foto und Film nicht stabil, vielmehr werden beide Medien in einer signifikanten Passage durch einen kinematografischen Effekt miteinander verschränkt. Als der Fotograf die Blickwechsel, die seine Fotos festhalten, zu analysieren beginnt, hört der Filmzuschauer auf der Tonspur des Films das Rauschen des Windes, das vorher den Filmsequenzen im Park zugeordnet war. Dieser fantastische Effekt belegt, dass die visuelle Wahrnehmung die Erinnerung wie die Fantasie des Filmzuschauers mobilisiert, die mediale Verschränkung der Bilder findet ihre Entsprechung in dessen fantasmatischer Reaktion. Die Verschränkung von visueller und akustischer Wahrnehmung korrespondiert der Spannung zwischen Blick und Gegenblick und entfaltet den gleichen Effekt wie dieser. Der für Antonionis Bildregie zentrale Vorgang des Blickwechsels wird zudem in mehrfacher Hinsicht als Effekt des Mediums präsentiert. Zum einen durch die Fokussierung, welche die Fotos durch ihre Stillstellung des Blicks

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vornehmen, zum anderen durch die Bewegungsbilder des Films, die zum Teil mit dem Blick des Fotografen koordiniert sind, sich streckenweise aber auch von dessen Blickrichtung lösen. Die Modellierung der natürlichen Wahrnehmung durch die medialen Manipulationen der filmischen Beschleunigung und der langsamen fotografischen Entwicklung geht dabei mit einer psychologischen Modulation der Blickwechsel einher, die das Eigene mit dem Realen und dem imaginären Anderen, Lacans objet petit a, verknüpfen.30 Damit zeigt der technische Vorgang nicht nur die Simulationsmöglichkeiten, die sowohl dem Medium des Fotos als auch jenem des Films zur Verfügung stehen. Er macht auch deutlich, dass in der Psychologie der Wahrnehmung selbst die ikonischen Bilder einem semiotischen Kontext zugeordnet sind, innerhalb dessen von den Betrachtern kausale Verknüpfungen vorgenommen werden, weil sich jede Erinnerung in Form einer Erzählung präsentiert. Deshalb wird die medial inszenierte detektivische Spurensuche zugleich zur Erzählung einer Kriminalgeschichte, die technische Simulation wird zur Basis der Fiktion. Die von Antonioni im Film erzählte Geschichte ist eine mit medialen Mitteln veranstaltete Rekonstruktion der Erinnerung. In der Interaktion der medialen Strategien von Film und Foto ermöglicht letzteres ein Wiederfinden der verlorenen Zeit, die der Film durch seine Suggestionskraft aussparen konnte, ohne dass dieses dem Betrachter des Films bewusst wurde. Beide Medien entfalten ihre besondere Leistung in einer engen Wechselbeziehung mit dem betrachtenden Subjekt. Genau dazu aber gibt es in Antonionis Film eine ins Bild gesetzte Metareflexion. Der vermeintlichen Genauigkeit, die das visuelle Medium suggeriert und am Ende nicht einlösen kann, steht eine andere Form der Orientierung in der Wirklichkeit gegenüber. Der écriture des Textes vergleichbar, die Imaginäres in Buchstaben verwandelt, etabliert sich in Antonionis Film eine Spielkonfiguration: Menschen in Masken, die ein Tennisspiel simulieren. Dies ist in zweifacher Hinsicht von Bedeutung. Zum einen, weil die Menschen hier selbst wie in einer medialen Transformation erscheinen, denn ihre Gesichter sind durch Schminke und Maske verwandelt. Zum anderen deshalb, weil das simulierte Tennisspiel ohne Ball am Ende eine kommunikative Strategie stiftet. Der Protagonist, der zunächst nur Zuschauer ist, spielt schließlich das inszenierte Spiel mit. Allein auf der Zeichenebene und unter Auslassung eines wesentlichen Elements der Wirklichkeit, nämlich des Tennisballs, der ein Match erst ermöglicht, stiftet die allein durch Zeichen und pantomimische Gesten geschaffene Realität eine In30

Vgl. dazu Jacques Lacan: Das Ich in der Theorie Freuds und in der Technik der Psychoanalyse (Das Seminar, Bd. 2 [1954–1955]. Olten 1980, S. 310).

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Abb. 3: Blow Up.

teraktion. Korrespondierend zur Szene im Fotolabor, in der aus der Analyse die Imagination entfaltet und kinematografisch hervorgehoben wird, verschränken sich auch hier Bild- und Tonspur des Films auf signifikante Weise. Das simulierte Spiel, an dem der Fotograf teilnimmt, gewinnt für den Filmzuschauer imaginative Kraft, weil er am Ende des Films das Geräusch des nicht vorhandenen Balls hört. Noch deutlicher als in der Laborszene wird der Zuschauer dadurch in die imaginäre Interaktion nicht nur der Figuren, sondern auch der beiden visuellen Medien einbezogen. Imagination und Simulation erweisen sich gerade so als Kern jeder medialen Inszenierung von Wirklichkeit, der schriftlichen und literarischen wie der akustischen und visuellen.

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Geister sehen Fotografie im Horrorfilm

I Horrorfilme, so hat der amerikanische Filmwissenschaftler Robin Wood das Genre einmal prägnant charakterisiert, sind die kollektiven Alpträume einer Kultur.1 Unabhängig davon, ob Horrorfilme von übersinnlichen Phänomenen handeln, an weit entfernten Orten und in lange vergangenen Zeiten spielen oder aber im Hier und Jetzt angesiedelt sind und von grausamen, aber keineswegs übernatürlichen Verbrechen erzählen – sie inszenieren immer, wenn auch unterschiedlich explizit, Sorgen und Ängste, die in der Kultur, die sie hervorbringt, gerade virulent sind.2 Vor dem Hintergrund dieser grundlegenden Annahme soll hier das Thema Fotografie im Horrorfilm der Gegenwart erörtert werden. Wir interessieren uns speziell dafür, wie der zeitgenössische Horrorfilm Sorgen und Ängste verhandelt, die an das Medium der Fotografie geknüpft sind. Hierbei ist einschränkend festzustellen, dass Fotografien, die im Horrorfilm geradezu omnipräsent sind, nicht zwangsläufig eine wichtige inhaltliche Rolle zukommt. Oft genug sind sie, wie in anderen Genres, lediglich ein Mittel, um die Handlung möglichst ökonomisch voranzutreiben. So findet sich der Kameraschwenk über Fotos auf dem Kaminsims – ein »Topos des Hollywoodfilms«3 – auch am Beginn vieler Filme des Horrorgenres, da er es der filmischen Erzählung erlaubt, eine oder mehrere Figuren äußerst knapp zu charakterisieren. Lediglich der narrativen Effizienz dient auch die Funktionalisierung von Fotografien als Speichermedium der Erinnerung in Genre1 2

3

Vgl. Robin Wood: Hollywood from Vietnam to Reagan. New York 1986, S. 78. Was genau einen bestimmten Film zum Horrorfilm macht, ist in der Forschung umstritten. Vereinfacht lassen sich drei Ansätze zur Definition des Genres unterscheiden: Als Horrorfilm gilt demnach ein Film, der entweder eine bestimmte Anzahl von als genretypisch definierten Elementen aufweist oder beim Publikum Angst und Schrecken hervorrufen soll oder vom Publikum als Horrorfilm rezipiert wird. Einen Überblick über diese Definitionsversuche und ihre Vertreter gibt Peter Hutchings: The Horror Film. Harlow 2004, S. 1–33. Thorsten Scheid: Fotografie als Metapher. Zur Konzeption des Fotografischen im Film. Hildesheim 2005, S. 34.

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filmen wie Scream 3 oder der TV-Serie Buffy the Vampire Slayer. Im letzten Teil der Scream-Trilogie werden über Fotos die Handlungen aller drei Teile zusammengeführt; in Buffy werden in einigen Folgen Vampire über ihre Präsenz auf alten Fotografien als Untote entlarvt. Größere inhaltliche Bedeutung hat die Fotografie in Filmen wie The Shining (1980), wo Jack Nicholson am Ende in einer an der Wand hängenden Fotografie gefangen ist, oder Darkness (2002), wo das Böse zunächst aus einem Bild in die Welt eindringt. In der Aufweichung der ontologischen Grenze zwischen Realität und Repräsentation, wie sie in den genannten Filmen stattfindet, ist eine Reflexion über das Medium der Fotografie angelegt. Diese wird in einem Klassiker des Horrorgenres, The Omen (1976), ungleich expliziter gestaltet, da eine der Hauptfiguren des Films ein Fotograf ist, auf dessen Bildern sich der baldige Tod der Menschen, die sich dem Sohn des Teufels in den Weg stellen, durch Schlieren und Kratzer ankündigt. Das Unsichtbare sichtbar zu machen, ist die vielleicht wichtigste Funktion, die dem Medium Fotografie im Horrorfilm in den letzten Jahrzehnten zukommt. Sie findet sich in zahlreichen Filmen des Genres ebenso wie in dem Thriller The Sixth Sense (1999), der beim Horrorgenre lediglich Anleihen macht. Die Geister, die der im Mittelpunkt des Films stehende Junge sehen kann, erscheinen in einer der ersten Szenen als Lichtreflexe auf Fotos, die die Mutter des Jungen betrachtet. Die Prominenz dieses Motivs ist zunächst einmal nicht sonderlich überraschend, da im Genre des Horrorfilms beständig die Grenzen menschlicher Wahrnehmung thematisiert werden. Es geht um Phänomene und Wesen, die mit bloßem Auge nicht sichtbar sind, sondern nur in ihren Effekten wahrgenommen werden. Flüche liegen auf Menschen oder Gebäuden, ungesühnte Schuld aus der Vergangenheit belastet die Gegenwart. Geister gehen um; man kann sie nicht sehen, spürt aber ihre Präsenz und leidet unter dem, was sie tun. Die Fotografie ist hier wiederum ein effektives narratives Mittel, um diese Dimensionen der Geschichte zu verdeutlichen, die Handlung voranzutreiben und Spannung zu erzeugen. Allerdings erschöpft sich ihre Bedeutung nicht in dieser Funktion. In den einschlägigen Filmen scheint gleichzeitig die besondere »Verbindung von Bild und Tod« auf, die nicht nur »zum Fundus kunstphilosophischer, anthropologischer und mediensoziologischer Erkenntnisse« gehört,4 sondern seit den Anfängen der Fotografie im 4

Sabine Haupt: »Jettatori und Medusen. Von bösen Blicken, tödlichen Pinseln und gefräßigen Kameras. Eine intermediale Motivgeschichte«. In: Urs Meyer, Roberto Simanowski und Christoph Zeller (Hrsg.): Transmedialität. Zur Ästhetik paraliterarischer Verfahren. Göttingen 2006, S. 152–182, hier S. 152.

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19. Jahrhundert kulturell so ungebrochen virulent ist, dass sie sich in populärkulturellen Artefakten ebenso niederschlägt wie in theoretischen Schriften. Wenn Horrorfilme Geister auf fotografischen Repräsentationen sichtbar werden lassen, setzen sie Friedrich Kittlers Beobachtung, dass jedes Medium Gespenstererscheinungen liefere,5 im buchstäblichen Sinne um – und damit einen mehr oder weniger expliziten Reflexionsprozess über die Möglichkeiten und Gefahren des Mediums in Gang. Im Folgenden sollen mit Shutter (2008) und The Ring (2002) – beides amerikanische Remakes japanischer Horrorfilme – zwei Filme untersucht werden, in denen, ausgehend vom Motiv, dass auf Fotografien das Unsichtbare sichtbar wird, besonders intensiv und teilweise sehr elaboriert über die dem Medium Fotografie vermeintlich inhärenten Bedrohungen und Versprechen nachgedacht wird. Während Shutter ein fast naives Vertrauen in die Repräsentationskraft der Fotografie mit einer wesentlich komplexeren Erörterung des Nexus von Fotografie und Macht verbindet, entziehen sich in The Ring die Medien den Menschen und ihre Bilder der Bindung an die Realität vollkommen. Die Ängste und Hoffnungen, die sich in diesen beiden Filmen des frühen 21. Jahrhunderts niederschlagen, sind – was zunächst erstaunlich erscheinen mag – im Großen und Ganzen dieselben, die bereits im 19. Jahrhundert die Diskurse über das noch neue Medium bestimmten. Damals spielte, wie Bernd Stiegler in seiner Theoriegeschichte der Photographie (2006) darstellt, der Glaube an die Fähigkeit der Fotografie, zwischen der Welt des Sichtbaren und unsichtbaren Phänomenen zu vermitteln, eine entscheidende Rolle. Das neue Medium versprach, die Grenzen des Wahrnehmbaren zu erweitern. In ganz verschiedenen Feldern wurden neue Techniken entwickelt, mit deren Hilfe die Fotografie zu einem »zweiten Auge« werden und damit die »Sehschwäche« der menschlichen Organe kompensieren sollte.6 Die Momentfotografie etwa sollte die Trägheit des Auges ausgleichen, indem sie es ermöglichte, Details von Bewegungen festzuhalten, über die vorher nur spekuliert werden konnte. So belegten die berühmten Aufnahmen galoppierender Pferde von Eadweard Muybridge Ende der 1870er Jahre zum ersten Mal, dass die typische Haltung, wie sie gerne auf Jagdgemälden abgebildet wurde, im tatsächlichen Bewegungsablauf nicht vorkommt. Immer kürzere Belichtungszeiten und schnellere Auslösemechanismen erlaubten es, Phänomene 5 6

Friedrich A. Kittler: Grammophon, Film, Typewriter. Berlin 1986, S. 22. Siehe Bernd Stiegler: Theoriegeschichte der Photographie. München 2006, S. 87f. Die folgenden Ausführungen zur Fotografiegeschichte des 19. Jahrhunderts beziehen sich zu einem großen Teil auf das 3. Kapitel (S. 87–136) dieser Studie.

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wie den Flug von Pistolenkugeln im Bild festzuhalten. Die Röntgenfotografie wiederum ermöglichte Einblicke in das Innere des Körpers. Es erscheint somit nur folgerichtig, dass man auch darüber nachdachte, ob sich auf ähnliche Weise Geistererscheinungen ›dokumentieren‹ lassen könnten. Einerseits wurden Neuentdeckungen wie die »des ultravioletten Lichts, des sogenannten schwarzen Lichts, der Kathodenstrahlen, elektromagnetischen Wellen und später auch der Röntgenstrahlen […] als Beleg für die Existenzmöglichkeit übersinnlicher Phänomene interpretiert«.7 Andererseits versuchte man, die neuen Medien zur Herstellung eines »sichtbaren Beleg[s] einer Materialisierung von Geistererscheinungen« zu nutzen.8 Auch wenn die Experimente der spiritistischen Fotografen heute eher als Kuriositäten erscheinen mögen, weist die von ihnen hergestellte Verbindung zwischen Geistern und Fotos doch über die Frage hinaus, ob man daran glauben möchte, dass die toten Großeltern als Gespenster noch die Wohnzimmer ihrer Enkel bevölkern. Vielmehr geht es um die grundsätzlichere und potentiell beunruhigende Frage nach der Natur der Verbindung zwischen der Realität und ihren Abbildern: Die Photographie ist ein Speichermedium, das den Gegenstand als solchen archiviert und – so will es die technische Imagination des 19. Jahrhunderts – eine unauflösliche und mitunter permeable Beziehung ermöglicht. Über seine Photographie kann das Abgebildete erreicht werden. Die Photographie wird daher auch außerhalb des spiritistischen Diskurses als magische Kunst gedeutet, geliebt und gefürchtet.9

Die Angst vor der unheimlichen Macht der Bilder, die sich gerade in literarischen Werken über Jahrhunderte zurückverfolgen lässt,10 wird durch den gegenüber ›alten‹ Medien wie der Malerei als erweitert empfundenen Zugriff der Fotografie auf die Realität noch potenziert.11 Das ist jedoch nicht die einzige Befürchtung, die mit dem neuen Medium der Fotografie verknüpft wurde. Eine vielleicht noch größere Rolle spielt die Macht, die der Apparat demjenigen verleiht, der ihn kontrolliert: Dass diese Macht zu fragwürdigen Zwecken missbraucht werden kann, ist eine Sorge, die bereits im 19. Jahrhundert zum Ausdruck gebracht wurde, am prägnantesten vielleicht in Nathaniel Hawthornes Roman The House of the Seven Gables (1851).12 Dass die am7 8 9 10 11 12

Ebd., S. 119. Ebd., S. 122. Ebd., S. 127–129. Vgl. Haupt: »Jettatori und Medusen«, vor allem S. 156–172. Vgl. ebd., S. 163. In Hawthornes Roman, in dem es allerdings um Daguerreotypie geht, bringt die Aufnahme des Daguerreotypisten Holgrave zwar den wahren Charakter von

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bivalente Sichtweise der Fotografie – sowohl, was die Beziehung zwischen Abbild und Realität betrifft, als auch in Bezug auf die Frage nach der Kontrolle über die Bilder – keineswegs auf die Frühphase des neuen Mediums beschränkt ist, sondern sich auch mit höchst aktuellen Sorgen und Befürchtungen verbindet, zeigt der Blick auf die zwei Horrorfilme des 21. Jahrhunderts.

II Shutter erzählt die Geschichte der jungen Amerikanerin Jane, die ihren Ehemann Ben, einen Fotografen, unmittelbar nach der Hochzeit nach Japan begleitet, wo dieser in Tokio für eine Agentur, für die er früher schon gearbeitet hat, Modeaufnahmen machen soll. Auf dem Weg zu einem Ferienhaus auf dem Land, wo sie noch einige freie Tage verbringen wollen, bevor die Fotoshootings beginnen, überfährt Jane auf einer verschneiten Straße eine junge Frau, die plötzlich wie aus dem Nichts auftaucht. Beim Versuch, den Wagen anzuhalten, gerät sie ins Schleudern und fährt vor einen Baum. Als sie und Ben, der auf dem Beifahrersitz geschlafen hat, wieder zu sich kommen, fehlt vom Opfer des Unfalls allerdings jede Spur, weshalb die herbeigerufene Polizei schnell ihre Ermittlungen einstellt. Während Ben diese Episode psychisch gut verarbeitet, leidet Jane unter starken Schuldgefühlen – und zunehmend auch unter dem Gefühl einer unheimlichen Präsenz. Dieses Gefühl verdichtet sich einige Tage später, als sie auf Bildern von Ben und ihr selbst, die am Morgen nach dem Unfall aufgenommen wurden, seltsame Lichtspuren bemerkt. Bens japanische Assistentin deutet diese Spuren als Zeichen für die Anwesenheit eines Geistes und macht Jane mit dem Phänomen der Geisterfotografie bekannt. Geister erscheinen auf Bildern, so erklärt Jane ein Experte, den die Assistentin ihr vorgestellt hat, wenn sie noch »unfinished business« mit Lebenden haben. Janes Nachforschungen ergeben schließlich, dass es sich bei dem Geist um die Japanerin Megumi handelt, eine ehemalige Geliebte Bens, die dieser bei seinem letzten Aufenthalt in Japan kühl ›abserviert‹ hat. Ben tut diese Judge Pyncheon jenseits der alltäglichen Selbstinszenierung zum Vorschein und trägt somit zur Wiedergutmachung eines lange zuvor begangenen Unrechts bei; der Roman problematisiert gleichzeitig aber die Macht und Kontrolle über andere Menschen, die die neue Technologie demjenigen verschafft, der sie beherrscht. Siehe hierzu ausführlich Alan Trachtenberg: »Seeing and Believing. Hawthorne’s Reflections on the Daguerreotype in The House of the Seven Gables«. In: Larry Reynolds, Gordon Hunter (Hrsg.): National Imaginaries, American Identities. The Cultural Work of American Iconography. Princeton, NJ 2000, S. 31–51.

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Theorie zunächst als Humbug ab und weist alle Schuld von sich. Er ändert seine Meinung aber, als sich die mysteriösen Ereignisse häufen. Nicht nur sind sämtliche seiner Modeaufnahmen unbrauchbar, da sie ebenfalls Lichtspuren aufweisen; es kommen zudem zwei seiner Kollegen auf rätselhafte Weise ums Leben. Gemeinsam fahren Ben und Jane schließlich zu Megumis Haus, wo sie die verweste Leiche des Mädchens finden, die offenbar aus Liebeskummer Selbstmord begangen hat. Sie sorgen für eine Beerdigung und fliegen im Glauben, dass dies dem Geist Megumis endlich Ruhe gebracht hat, zurück nach New York. Dort entdeckt Jane jedoch, dass Ben und seine Freunde versucht hatten, Megumi mit vermeintlich verfänglichen Fotos zu erpressen, weil Ben sich von ihren Nachstellungen belästigt fühlte und die Frau sich deshalb das Leben genommen hat. Jane stellt Ben zur Rede und verlässt ihn unmittelbar danach. Nachdem Jane aus der gemeinsamen Wohnung ausgezogen ist, wird Ben vom Geist Megumis, der durch die Beerdigung keineswegs Ruhe gefunden hat, stärker als je zuvor bedrängt und sucht schließlich sein Heil im Selbstmord. Dieser Versuch, Megumi zu entkommen, scheitert jedoch, und der lediglich verletzte Ben findet sich in der letzten Szene des Films in der Psychiatrie wieder, wo der Geist Megumis völlig von ihm Besitz ergriffen hat, wie die allerletzte Einstellung zeigt: Als sich die Zimmertür hinter einer Krankenschwester schließt, spiegeln sich im Glas der zufallenden Tür der nun völlig apathische und zusammengesunkene Ben und der Geist, der auf seinen Schultern sitzt (Abb. 1). Dass der an sich unsichtbare Geist gerade im Spiegel sichtbar wird, ist die bewusste Umkehrung, aber auch die logische Konsequenz des seit Bram Stokers Dracula etablierten Motivs, dass Vampire kein Spiegelbild haben, weil sie keine Seele (mehr) besitzen. In vielen Horrorfilmen des frühen 20. Jahrhunderts können Vampire deshalb auch nicht fotografiert werden. In Stokers Roman und den mehr oder weniger lose auf ihm basierenden Filmen ist es daher die Abwesenheit im Spiegel und auf Fotografien, die auf den übernatürlichen Status der für das bloße Auge menschlich erscheinenden Geschöpfe hinweist. Da der Geist Megumis eine Seele ohne Körper ist, leuchtet es ein, dass in Shutter das Vampirmotiv invertiert und der an sich unsichtbare Geist gerade im Spiegel und auf Fotografien sichtbar wird. Der Film schreibt sich so in eine andere Tradition ein, nämlich in diejenige der Fotografie des Unsichtbaren, deren Virulenz im 19. Jahrhundert oben bereits genannt wurde. Mit einer Szene, in der Jane die Redaktion einer populären Zeitschrift für zeitgenössische Geisterfotografie besucht, suggeriert der Film, dass diese Tradition bis in die Gegenwart fortbesteht. Die aus der Anfangszeit der Fotografie stammende spirit photography wird so als eine etablierte Kulturpraktik zur Visualisierung des Übernatürlichen präsentiert und

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Abb. 1: Shutter (2008). Regie: Masayuki Ochiai. Ozla Pictures

dadurch auch legitimiert.13 Es ist, so insistiert Shutter, gerade die in der Fotografie geleistete lichtbasierte, technische Repräsentation der Welt, die das eigentlich Unsichtbare sichtbar machen und so das ›wahre Wesen‹ der Dinge anzeigen kann. Wenn daher Jane und Ben wiederholt Polaroidkameras verwenden, um Megumi, deren Präsenz sie spüren, auch sehen zu können, benutzen sie die Fotografie als ein Medium im Sinne des 19. Jahrhunderts. Damals nämlich, daran hat kürzlich Hans Belting erinnert, bezeichnete »der Begriff ›Medium‹ […] spiritistische Sitzungen, in welchen besondere Personen ihre Stimme den Geister, leihen […], denn man glaubte, dass Geister einen lebenden Körper besetzen, der ihnen als ›Medium‹ dient, und aus ihm sprechen«.14 So wie das menschliche Medium dem Geist Gehör verschafft, erhält 13

14

Während die Geisterfotografie im westlichen Kulturkreis seit dem 19. Jahrhundert an kulturellem Kapital verloren hat und höchstens noch ein Nischendasein fristet, erfreut sie sich im asiatischen Raum, wo der Glaube an Geister noch weit verbreitet ist, ungebrochener Popularität. Ein Vergleich der unterschiedlichen kulturellen Funktionen des japanischen Originals und des amerikanischen Remakes von Shutter aus der Perspektive der interkulturellen Hermeneutik wäre daher lohnend, kann hier aber nicht geleistet werden. Hans Belting: »Blickwechsel mit Bildern. Die Bildfrage als Körperfrage«. In: Ders. (Hrsg.): Bilderfragen. Die Bildwissenschaften im Aufbruch. München 2007, S. 49–75, hier S. 53.

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der körperlose Geist im Medium der Fotografie Konturen. Shutter inszeniert diese Verschränkung zweier ›Medienbegriffe‹ recht offensichtlich, da eine Szene des Films dem Besuch bei einem menschlichen Medium gewidmet ist. Bezeichnenderweise nimmt der alte Mann, den Jane und Ben aufsuchen, dabei anhand eines der Geisterfotos Kontakt zur toten Megumi auf. Zur Aufklärung der Hintergründe kommt es hier jedoch noch nicht, da der Mann, der nur Japanisch spricht, mit Ben in Streit gerät, als er versteht, was geschehen ist. Ben und Jane verlassen darauf seine Wohnung, und Ben erklärt Jane, der Mann sei ein Betrüger. Während der Zuschauer somit erst am Ende des Films, nachdem Bens Rolle in der Geschichte aufgedeckt wurde, sicher sein kann, dass das menschliche Medium wohl wirklich Kontakt zum Geist Megumis hatte, geht Shutter ungleich offensiver mit dem ebenso nahe liegenden Vorwurf um, dass Bilder, die vermeintliche Geistererscheinungen zeigen, manipuliert sein können und dies oft genug auch sind. Jane äußert ihre entsprechenden Bedenken explizit gegenüber dem Chefredakteur der Zeitschrift für Geisterfotografie, worauf dieser mit einer Polaroidkamera ein Bild von ihr macht. Da es kein Negativ gebe und das Bild sofort aus der Kamera komme, so erklärt er ihr, könne solch ein Bild nicht manipuliert werden. Zeige es somit einen Geist, dann gebe es diesen Geist wirklich. Jane akzeptiert diese Erklärung, und die Logik der Geschichte verlangt, dass die Zuschauer es ihr gleichtun. Bis auf Polaroidbilder, suggeriert Shutter somit, können sowohl analoge als auch digitale Fotografien immer manipuliert werden. Werden sie dies jedoch nicht, so bieten sie nicht nur ein akkurates Abbild der Realität, sie können zudem Dinge sichtbar machen, die dem bloßen Auge ansonsten verborgen bleiben. Allerdings, so konzediert der Film, ist die Explikationskraft von Fotografien begrenzt – gerade wenn sie Phänomene zeigen, die nicht Teil der typischen Lebenswelt sind und daher nicht automatisch in einen Sinnzusammenhang eingeordnet werden können. Jane sieht Megumi zwar auf den Bildern und spürt schließlich die Leiche auf; die Hintergründe der Geschichte versteht sie aber erst, als sie nach der Rückkehr nach New York aus mehreren am Abend ihrer Hochzeit aufgenommenen Fotografien per Daumenkino einen Film macht. Auf dem so entstandenen ›Film‹ sieht Jane, wie Megumi durch das Zimmer auf ein an der Wand hängendes Foto von Jane zukriecht und hinter diesem in der Wand verschwindet. Hinter der Wand findet Jane Bens alte Kamera und darauf einen Speicherchip mit Bildern, die Megumi in enger Umarmung mit Bens Freunden zeigen. Dass mit diesen Bildern offensichtlich etwas nicht stimmt, machen Megumis angsterfülltes Gesicht und die grotesken Mienen der Männer sofort deutlich. Auch hier allerdings bedarf es der Narration, um herauszufinden, was genau vor sich ge-

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gangen ist. Diese Erzählung liefert der Film gleich darauf in einem Flashback mit Bens Voiceover: Weil er sich von Megumis Nachstellungen belästigt fühlte, hat Ben ihr damals in Japan eine Falle gestellt. Er hat sie unter Drogen gesetzt, um sie mit seinen Freunden in einer scheinbar verfänglichen Situation zu fotografieren. Nun endlich versteht Jane, dass Megumi sich nicht allein aus Liebeskummer umgebracht hat, sondern vor allem aus Scham. Die Morde an Bens Freunden waren Racheakte ihres Geistes, der Jane selbst hingegen niemals bedrohen, sondern lediglich warnen wollte. Die mediengeschichtliche Dimension des Übergangs von der Fotografie zum Film beinhaltet somit laut Shutter auch eine qualitative medientheoretische Differenz. Der Film teilt mit der Fotografie die über die Indexikalität gewährleistete Wirklichkeitstreue, ergänzt diese aber um die narrative Dimension. Er verfügt somit über ein im Vergleich zur Fotografie beträchtlich höheres Kontextualisierungs- und Erklärungspotenzial.15 In höherem Maße als die Fotografie legitimiert Shutter so letztendlich das Medium des Films – und insbesondere den Tonfilm, da die Auflösung der Geschichte nicht schon mit dem ›Stummfilm‹ erfolgt, den Jane aus den Fotografien bastelt, sondern erst in der nächsten Szene, in der sich Bilder aus der Vergangenheit mit dem sprachlichen Erzählvorgang in der Gegenwart verbinden.16 Mutet diese Deutung der Mediendifferenz von Film und Fotografie recht einseitig an, scheint in den gerade erörterten Szenen eine weitere Dimension des Themas Fotografie im Film auf, das wesentlich komplexer verhandelt wird. Shutter thematisiert durchgehend die Macht, die die Kontrolle über die Kamera und somit über das Bild mit sich bringt, und schreibt sich so in eine Tradition ein, deren bekannteste Vertreter sicherlich Alfred Hitchcocks Rear Window und Michelangelo Antonionis Blow-Up sind. Wie in Rear Window sind die Grenzen zwischen der Kamera als Erweiterung des Auges und als Waffe in Shutter fließend, wie besonders die Szene verdeutlicht, in der Ben die Bilder von Megumi und seinen Freunden macht. Durch die Kamera 15

16

Diese Ansicht wird in der Fotografietheorie häufig vertreten, z. B. von Susan Sontag, die darauf hinweist, dass eine Erzählung geeigneter dazu sei, Emotionen hervorzurufen und Menschen zum Nachdenken zu bringen, als ein einzelnes Bild ohne Kontext. Siehe Susan Sontag: Regarding the Pain of Others. New York 2003, S. 122. Auch in Hawthornes The House of the Seven Gables bedarf es der narrativen Kontextualisierung, damit die Bedeutung der Daguerreotypie, auf der der lebende Judge Pyncheon aussieht wie sein puritanischer Vorfahr, deutlich wird. Der Daguerreotypist Holgrave muss die Familiengeschichte der Pyncheons erzählen, damit die anderen Figuren die Signifikanz des Bildes verstehen: »Only by restoring this history […] can Holgrave render his daguerreotype of the Judge legible as a revelation of hidden truth« (Trachtenberg: »Seeing«, S. 39).

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wird Megumi hier symbolisch vergewaltigt. Weil er sie loswerden, also aus seinem Blickfeld haben will, verbannt Ben sie ins Bild. Dabei macht er sich einen patriarchalischen Diskurs zunutze, der bei sexuellen Transgressionen der Frau immer eine Mitschuld, wenn nicht sogar die alleinige Schuld gibt. Unabhängig davon, ob Megumi zu den Aufnahmen gezwungen wurde, würde ihre Veröffentlichung gerade im konservativen Japan ihre Reputation nachhaltig zerstören. Die Macht, die Ben somit über sie ausübt, und die Gewalt, die er ihr antut, sind dabei doppelt konnotiert: Da es sich um den Blick eines weißen Mannes auf eine asiatische Frau handelt, wird der männliche Blick, wie ihn Laura Mulvey prototypisch beschrieben hat, um eine koloniale Dimension erweitert. Der male gaze verschmilzt mit dem colonial gaze.17 Die Kamera ist in Shutter aber nicht intrinsisch mit männlicher oder kolonialer Hegemonie verbunden, sondern kann auch zum Zweck des Widerstands appropriiert werden. Megumis Präsenz auf Fotografien liefert Jane wichtige Hinweise – auch wenn sie diese erst korrekt deuten kann, als aus den unbewegten Bildern bewegte werden. Für Jane wird die Kamera so spät, aber nicht zu spät, zu einem Instrument der Wahrheit, das es ihr ermöglicht, aus einer Beziehung zu entkommen, in der sie manipuliert und hintergangen wurde. Für Megumi wird die fotografische Apparatur dagegen im Verlauf des Films zu einem Instrument der Rache: Sie schlägt einem von Bens Freunden – bezeichnenderweise als dieser gerade ein halbnacktes Model fotografiert – mit der Kamera ein Auge aus und verletzt Ben mit Entwicklerflüssigkeit. Ihre Präsenz auf Bens Modeaufnahmen entnervt diesen zunehmend, und schließlich ist es ein Polaroidfoto, welches sie auf Bens Schultern zeigt, das ihn in den Selbstmord treibt. Indem dieser mit dem Blitzgerät seiner Kamera unternommene Versuch der Selbsttötung scheitert, wird deutlich, dass die Macht über den Apparat nun völlig auf Megumi übergangen ist. Diese bei aller Problematisierung letztendlich doch positive Bewertung der Fotografie kulminiert darin, dass die an sich recht ausgewogene Verhandlung der mit dem Medium verknüpften Machtdispositive nicht selbstreflexiv auf den Film übertragen wird. Während die Fotokamera im Film ständig präsent ist und ihre Einsetzbarkeit zur Manipulation und Kontrolle durchgängig thematisiert wird, bleibt die Filmkamera in Shutter ›unsichtbar‹, da die Ästhetik des Films durchgängig den auf kohärente Illusionsbildung

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Zum male gaze siehe Laura Mulvey: »Visual Pleasure and Narrative Cinema«. In: Screen 16.3 (1975), S. 6–18.

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angelegten Konventionen verpflichtet ist, die während der sogenannten klassischen Ära des Hollywoodkinos herausgebildet wurden.18 Im Gegensatz zu einem Film wie Blow-Up, der durch extrem lange Einstellungen und unerwartete Schnittfolgen die Anwesenheit und somit auch die spezifische Perspektive der Filmkamera betont, hat das continuity editing in Shutter den entgegengesetzten Effekt: Das Publikum vergisst die Anwesenheit der Kamera und konzentriert sich nur auf die Handlung. Die Kontrolle, die der Film bzw. die für ihn verantwortlichen Filmemacher so mithilfe von Kameraführung und Schnitt über die Rezeptionshaltung des Publikums ausüben, spiegelt dabei zu einem gewissen Grad die übergreifende medientheoretische Reflexion auf der Handlungsebene des Films. In Shutter ist das Medium Fotografie fast immer unter der Kontrolle von Ben, Jane oder der noch stark menschlichen Megumi. Nur in ganz wenigen Momenten deutet sich eine Verselbständigung des Mediums an, etwa wenn Ben während der finalen Konfrontation mit Megumi die Polaroidkamera verärgert wegwirft und die auf dem Boden landende Kamera so endlich ein Bild macht, das ihm Megumis Anwesenheit bestätigt. Die Fotografie, suggeriert der Film, ist ambivalent einsetzbar, da sie ebenso zur Kontrolle anderer missbraucht wie zur Wiedergutmachung von Unrecht gebraucht werden kann. Die Fotografie erscheint somit in Shutter aber letztendlich noch immer als eine der »extensions of man« im Sinne der positiven Medientheorie Marshall McLuhans.19 In The Ring ist das anders.

III Im Mittelpunkt der Handlung von The Ring steht eine todbringende Videokassette: Wer das Video gesehen hat, muss innerhalb von sieben Tagen sterben. Nachdem einige Teenager auf ungeklärte Weise umgekommen sind, beginnt die Journalistin Rachel zu recherchieren. Sie hört Gerüchte über das Video, vor allem aber findet sie Fotos, die kurz vor dem Tod einer der Jugendlichen entstanden sind. Die letzten Aufnahmen zeigen das Mädchen und seine inzwischen ebenfalls toten Freunde mit merkwürdig verzerrten Gesichtern – ein Hinweis darauf, dass sie zu diesem Zeitpunkt bereits dem Tode geweiht sind. (Abb. 2) 18

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Zum »invisible style« des Hollywoodkinos vgl. David Bordwell, Jane Staiger, Kristin Thompson (Hrsg.): The Classical Hollywood Cinema. Film Style and Mode of Production to 1960. New York 1985, vor allem S. 1–83. Vgl. Marshall McLuhan: Understanding Media. The Extensions of Man. New York 1964.

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Abb. 2: The Ring (2002). Regie: Gore Verbinski. DreamWorks SKG

Mit Hilfe der Fotografien gelingt es Rachel, das Video zu finden und anzusehen. Es handelt sich um eine Aneinanderreihung verstörender, insgesamt aber unverständlicher Bilder. Von da an erscheint Rachels Gesicht auf Fotos ebenfalls verzerrt. Ihre Suche nach dem Urheber des Bandes dient nun nicht mehr nur der Aufklärung eines geheimnisvollen Falles, sondern ist auch ein Wettlauf gegen die Zeit, bei dem ihr eigenes Leben auf dem Spiel steht. Ihre Lage wird dadurch noch schwieriger, dass ihr kleiner Sohn Aidan das Video ebenfalls gesehen hat und bedroht ist. Hilfe erhält Rachel von ihrem Exfreund, Aidans Vater Noah, der Videospezialist ist und nach Ansehen des Videos nun ebenfalls um sein Leben kämpft. Die beiden verfolgen die Spur des Bandes und stoßen auf die Geschichte eines Familiendramas: Urheberin des Videos ist offenbar ein kleines Mädchen, Samara, das von seinen Eltern zunächst eingesperrt und dann von seiner Mutter ermordet wurde. Rachel macht sich auf die Suche nach Samaras Leichnam: Sie nimmt an, dass der Geist sich mittels des Videos Gehör verschaffen möchte und der Spuk ein Ende haben wird, wenn die Geschichte bekannt gemacht und das Skelett beerdigt wird – ganz im Sinne des bereits aus Shutter bekannten Musters. Zunächst scheint sich diese Sichtweise zu bestätigen, denn als sie diese Aufgabe gelöst hat, bleibt Rachel nach Ablauf der sieben Tage am Leben. Dann aber stirbt Noah, und es wird klar, dass die tödliche Bedrohung keineswegs ge-

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bannt ist. Rachel begreift, dass sie nur deshalb verschont wurde, weil sie eine Kopie des Films angefertigt und weitergegeben hat. In der letzten Szene des Films hilft sie ihrem Sohn, das Video zu duplizieren und somit das Grauen weiter zu verbreiten. Die letzte Einstellung zeigt bildfüllend weißes Rauschen – eines von mehreren Elementen in The Ring, die die Zuschauer des Films in die Handlung einbeziehen: Das, was wir gerade gesehen haben, so wird suggeriert, ist nichts anderes als eine Version des todbringenden Videos, das im Film gerade kopiert wurde. Wir befinden uns nun in der gleichen Lage wie zuvor Rachel. Auf diese Weise wird nahegelegt, dass die Grenze zwischen dem medial Dargestellten und der Realität durchlässig ist. Die bereits im 19. Jahrhundert verbreitete beunruhigende Vorstellung von einer permeablen Beziehung zwischen dem Abgebildeten und dem Abbild, in der die Bilder auf die Realität zurückwirken können,20 wird so zu einem zentralen Thema des Films. Dieses Thema wird auf verschiedenen Ebenen mit Hilfe des Leitmotivs des Rahmens in Szene gesetzt. Als klare Umgrenzungen, die verschiedene Seinsbereiche voneinander abtrennen können, tauchen Rahmen im Film immer wieder auf und werden vor allem immer wieder auf irritierende Art und Weise durchlässig. Besonders deutlich wird dies in der tödlichen Videosequenz, die wir zu sehen bekommen, als Rachel das Band findet. Sie dauert nicht länger als anderthalb Minuten und besteht zum Teil aus Schwarzweißbildern und Standaufnahmen, wird also schon durch die visuelle Inszenierung mit Hilfe von Anklängen an klassische Fotografie vom Rest des Films abgehoben. Manche der Bilder zeigen Orte und Personen, die meisten aber zunächst unverständliche und zum Teil widerwärtige Details wie einen roten Wasserstrudel, einen brennenden Baum, eine Fingerspitze, die auf einen Nagel gedrückt wird, ein Tierauge in Großaufnahme sowie eine Kiste mit abgeschnittenen Fingern, die sich bewegen. Die Einstellungen, in denen Menschen zu sehen sind, zeigen zum größten Teil eine dunkelhaarige Frau (Samaras Mutter, wie sich später herausstellt), die zunächst innerhalb eines ovalen Bilderrahmens abgebildet ist – wie auf einem Portrait, nur dass sie den Kopf bewegt und schließlich direkt in die Kamera blickt. Etwas später steht die Frau dann mit dem Rücken zur Kamera vor dem ovalen Rahmen, der nun als Spiegel fungiert, und kämmt ihr Haar. Solche Grenzüberschreitungen finden auch zwischen der im Video abgebildeten Welt und der als ›real‹ dargestellten diegetischen Welt des Films statt: Als Rachel den Film in einem Technikraum genauer betrachtet, kann sie eine Fliege, die im Video zu sehen ist, plötzlich aus dem Bild herausholen. 20

Vgl. Stiegler: Theoriegeschichte, S. 127.

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Analog zur Durchlässigkeit der Grenze von Realität und Repräsentation spielt der Film sowohl im Video als auch in weiteren Passagen mit den Übergängen von unbewegten Bildern wie Fotografien in bewegte, filmische Bilder. Viele Einstellungen zeigen zunächst eine Kulisse ohne Bewegung, die wie ein Foto oder Standbild erscheint, bis eine Figur hineintritt. Standbilder spielen zudem eine große Rolle in verschiedenen Szenen, in denen Figuren Bilder aus dem Video offenbar ›vor ihrem inneren Auge‹ sehen und davon tödlich erschreckt werden. Diese Sequenzen werden im Film so schnell abgespielt, dass die Zuschauer die Bilder kaum erkennen können. Dadurch wird die Ambiguität ihres Status betont: Zum einen bleibt unklar, ob diese Bilder als Teil der Filmhandlung zu betrachten sind (wir sehen, was die Figuren sehen) oder ob sie diese Handlung durchbrechen und sich direkt an die Zuschauer als Adressaten wenden, indem sie dazu anregen, den Film The Ring als Version des intradiegetischen Videos zu sehen. Zum anderen stellt sich die Frage, wo die Bilder herkommen und was sie eigentlich abbilden. Genau dieser Punkt ist es, an dem die Protagonistin Rachel mit ihrer Recherche ansetzt. Sie macht sich auf die Suche nach dem Ursprung der Aufnahmen und glaubt, dass die Bedrohung des Videos dadurch abgewendet werden kann, dass die Bilder richtig interpretiert, und das heißt hier: auf ihre Referenten in einer vorgängigen Realität zurückgeführt werden. Es erscheint folgerichtig, dass diese Aufgabe von einer Journalistin und einem Videospezialisten, also von Profis in Sachen Medienkompetenz, gelöst werden kann. In dieses Deutungsschema passt eine Schlüsselszene, in der es Rachel gelingt, auf einem Monitor im Technikraum den Bildausschnitt des Videos ein kleines Stück zu verschieben, so dass in einer der Landschaften ein Leuchtturm sichtbar wird – der entscheidende Hinweis, der Rachel in die Lage versetzt, Samaras Familie zu finden. Dieses Vorgehen erinnert an einen Topos der Fotografiebetrachtung aus dem 19. Jahrhundert, nämlich an den Glauben daran, man könne den Bildern mit Hilfe von Sehhilfen wie Lupen nahezu unbegrenzt immer weitere Informationen über die Wirklichkeit entlocken, die in ihnen »ungebrochen aufgezeichnet« sei.21 Während Filme wie Blow-Up im Laufe des 20. Jahrhunderts die Grenzen solcher Aufzeichnungsfähigkeit thematisieren, scheint der Versuch, die Referenten des Bildes durch technische Manipulation deutlicher zu erkennen, in The Ring zunächst erfolgreich zu sein. Bis zu der Szene, in der Rachel und Noah den Leichnam des 21

Vgl. Bernd Stiegler: »Das Sichtbare und das Unsichtbare. Kleine Wahrnehmungsgeschichte der Photographie«. In: Sabine Haupt, Ulrich Stadler (Hrsg.): Das Unsichtbare sehen. Bildzauber, optische Medien und Literatur. Zürich, Wien 2006, S. 141–159, hier S. 144.

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kleinen Mädchens beerdigen, sieht es so aus, als seien auch in The Ring die Medien der Fotografie und des Films in erster Linie Informationsträger und letztlich kontrollierbare Mittel, die von Menschen oder eben auch Geistern zur Kommunikation eingesetzt werden können. Wenn die Kommunikation geglückt ist, kann der Geist endlich ruhen. Samaras Bilder sind aber letztendlich eben keine Abbildungen einer vorgängigen Realität, die erkannt werden soll. Sie bilden eine eigenständige Wirklichkeit, losgelöst von Referenten. Die dramatische Wende am Ende des Films macht dies unmissverständlich klar, angedeutet wird es aber bereits vorher. Bei der Recherche findet Rachel heraus, dass Samara als Patientin in einer psychiatrischen Klinik war, wo sie rund um die Uhr per Videokamera überwacht wurde. Eine Einstellung, in der Samara nicht mehr beobachtet wird, sondern ihrerseits in die Kamera starrt, legt nahe, dass sie den Spieß umdrehen und lernen wird, sich die Technik anzueignen, mittels deren sie kontrolliert werden soll. Ähnlich wie in Shutter könnten wir das zunächst als die Umkehrung der über Medien ausgeübten Macht lesen. In dieser Aneignung aber wird das Medium selbst völlig verändert: Samaras Produkte, so suggeriert der Film, sind nicht zu vergleichen mit denen einer Fotografin oder Kamerafrau, sondern eher mit Kinderzeichnungen, auf denen eine imaginäre Welt Gestalt gewinnt. Die Vorstufe zu dem Video sind Bilder, die wie eine Kreuzung aus Röntgenaufnahmen, Fotonegativen und Kinderbildern wirken; direkt im Anschluss daran werden Großaufnahmen von Aidans Kinderbildern gezeigt, wodurch die Parallele deutlich hervorgehoben wird (Abb. 3). Die merkwürdigen Röntgenbilder werden von Samara selbst kommentiert; danach befragt, wie sie diese gemacht habe, sagt sie: »I don’t make them. I see them. And then they just are.« Unabhängig von Referenten sind die Bilder in der Welt und können nicht kontrolliert werden. Dazu passt, dass einige Passagen der Videosequenz, die wir als fortgeschrittene Version der ›Röntgenbilder‹ sehen können, nicht auf die Vergangenheit verweisen, sondern in die Zukunft. Die Einstellung etwa, die das Pferdeauge zeigt, ist später im Film wieder zu sehen, als Rachel auf einer Autofähre Zeugin wird, wie sich ein Pferd aus einem Anhänger befreit und, offenbar in einem Anfall von Panik, ins Meer stürzt. In dieser Episode wird auch klar, worum es sich bei dem rot gefärbten Wasserstrudel aus dem Video handelt: Der Pferdekörper wird von der Schiffsschraube erfasst, so dass sich das Wasser hinter der Fähre mit Blut mischt. Rachels Gegenwart verbindet sich so mit Samaras Geschichte, in der tote Pferde ebenfalls eine Rolle spielen. Während Rachel herausfindet, dass Samaras Präsenz die Pferde ihrer Mutter auf irgendeine Weise in den Selbstmord getrieben hat, scheint ihre eigene Anwesenheit auf der Fähre den gleichen Effekt auf das Pferd zu ha-

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Abb. 3: The Ring (2002).

ben. Das Video reproduziert insofern nicht lediglich gespeicherte Abbildungen vergangener Ereignisse, sondern die Bilder deuten auf das Geschehen voraus. Und mehr noch: Sie rufen Ereignisse erst hervor, denn das Video ist nicht der Indikator für einen tödlichen Fluch, sondern es sind die Bilder selbst, die schließlich töten. Die Darstellung der unkontrollierbaren Bilder als Bedrohung erreicht ihren Höhepunkt in einer Szene am Ende des Films, in der das Videobild des toten Mädchens dem Fernseher (der sich noch dazu selbsttätig eingeschaltet hat) entsteigt. Ein Blickwechsel mit Rachels Freund Noah genügt, um diesen umzubringen. Durch die Art und Weise, in der der Film den Zusammenhang zwischen den Bildern und dem Leiden bzw. Tod inszeniert, rücken gleich zwei Problemfelder des Fotografiediskurses in den Blick: Neben der Problematik der unkontrollierbaren Bilder wird auch auf die Frage nach den ethischen Implikationen der Rezeption von Abbildungen angespielt. Inwiefern haben sie das Potential, Empathie mit dem Leiden anderer zu erzeugen und so auch zum Handeln zu motivieren?22 Besonders deutlich stellt sich diese Frage im Zusammenhang mit Rachels Reaktion, als sie das Video zum ersten Mal sieht. In dieser Szene sehen wir nämlich nicht nur den Inhalt des Bandes, 22

Zur Frage des moralischen Potentials von Fotografien, die das Leiden anderer Menschen zeigen, siehe z. B. Sontag: Regarding the Pain of Others.

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sondern einmal auch Rachel als Zuschauerin: Nach der Einstellung mit dem Nagel, der einen Finger durchbohrt, gibt es einen Schnitt zu einer Großaufnahme ihres Gesichts, das sich in Schmerz oder Abscheu verzieht. Es scheint gerechtfertigt, diese Reaktion als Mit-Leiden zu interpretieren, da Rachel im Folgenden großen emotionalen Anteil an dem Schicksal des Mädchens nimmt, selbst wenn der Hauptzweck ihrer Mission darin besteht, ihr eigenes Leben (und das ihres Sohnes) zu retten. In einer Traumsequenz sieht sich Rachel an die Stelle Samaras versetzt, die in der Psychiatrie auf einem Stuhl sitzt und nicht genauer spezifizierten Untersuchungen mit Elektroden unterzogen wird – auch das steigert den Eindruck einer empathischen Haltung gegenüber dem Mädchen, die bis zur völligen Identifikation reicht.23 In der Szene schließlich, in der Rachel und Noah den Leichnam Samaras aus einem Brunnen bergen, verdichten sich diese Eindrücke zu einem Tableau: Die Einstellung, die Rachel zeigt, wie sie den toten Körper in ihren Armen hält, hat deutliche Anklänge an Darstellungen der Mutter Gottes mit dem toten Christus. In diesen Bildzusammenhang fügt sich auch das mehrfache Auftauchen des Nagels als Motiv: Die Assoziation von Finger, Nagel und Schmerz, der in der Videosequenz hergestellt wurde, wiederholt sich später, als Rachel an der Wand des Brunnenlochs die abgesplitterten Fingernägel Samaras findet, die vergeblich versucht hatte, sich aus dem Schacht zu befreien. Zusammengenommen laden diese Anspielungen auf die biblische Kreuzigung und die Pietà dazu ein, The Ring als eine Geschichte über Leiden, Sühne und Vergebung zu verstehen, in der die Bilder den Anstoß zu einem kathartischen Mit-Leiden geben können. Eine solche Deutung wird aber durch den letzten Teil des Films auf drastische Art und Weise konterkariert. In The Ring geht es, so wird schließlich deutlich, eben nicht um Sühne und Vergebung, sondern darum, wie Schmerz und Zerstörung perpetuiert werden. Damit erscheinen auch die Bilder in einem ganz anderen Licht: Sie dienen keinem positiven Zweck wie der Auffor23

Die Bilder des Mädchens im weißen Nachthemd und mit wirren Haaren sowie ihre Überwachung per Kamera in der Psychiatrie erinnern zudem an die bekannten Bilder der als Hysterikerinnen diagnostizierten Frauen aus der Salpêtrière. Zum Nexus zwischen Fotografie, der Kontrolle über Klassifikation und Interpretation von psychiatrisch relevanten Phänomenen sowie institutionalisierter (und geschlechtlich kodierter) Gewalt vgl. Georges Didi-Huberman: Invention of Hysteria. Charcot and the Photographic Iconography of the Salpêtrière. Cambridge, MA 2003 (franz. Orig. 1982), bes. S. 29–66. Für Zuschauer, die diese spezifische Assoziation nicht herstellen, evoziert die Szene auf einer allgemeineren Ebene kulturelles Wissen über männliche und als ›wissenschaftlich‹ institutionalisierte Gewalt über Frauen sowie über die Rolle, die Kameras zur Kontrolle der Insassen von Institutionen wie psychiatrischen Kliniken und Gefängnissen spielen können.

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derung, am Leiden anderer Anteil zu nehmen, sondern sind Mittel, mit dem dieses Leiden weiter verbreitet wird. Szenen, in denen die Figuren aus der Nase bluten, nachdem sie den Bildern ausgesetzt waren, weisen auf diese destruktive Funktion voraus. Auch die Traumsequenz in der Psychiatrie erscheint aus dieser Perspektive nicht als Beispiel für das besonders intensive Einfühlen in eine andere Person, sondern als Manifestation von Samaras Wunsch, das Leiden an andere Menschen weiterzugeben. Ihre ›Auferstehung‹ ist nicht mit einer hoffnungsvollen Botschaft verbunden, sondern verheißt einen sich immer weiter fortsetzenden Zyklus der Zerstörung (»It won’t stop«, wie sie selbst in dem Interview in der psychiatrischen Klinik sagt). Auf diese Weise verbindet sich in The Ring die Frage nach den Funktionen der Abbildung von Leiden mit dem Problem der Referenzlosigkeit der Bilder. Das legt es nahe, den Film als Kritik an den Massenmedien zu lesen, die auf vergleichbar unkontrollierbare Art Realitäten erzeugen und verbreiten und damit die Menschen ›vergiften‹: »What is it with reporters?«, wirft eine der Figuren der Journalistin Rachel vor: »You take one person’s tragedy and force the world to experience it. You spread it like sickness.« Nicht weniger plausibel erscheint es aber, die Bedrohung der Bilder ohne Referenten mit dem Prozess der Digitalisierung von Fotografie und Film in Verbindung zu bringen. Das Digitalbild, das nicht länger über die Projektion von Licht auf ein dauerhaftes Speichermedium entsteht, sondern über die Umrechnung von Licht in Zahlenwerte, so dass jedes einzelne Pixel eines Bildes unabhängig von den anderen bearbeitet und ausgetauscht werden kann, erscheint vielen Medienkritikern als Abkehr der Fotografie von der Wirklichkeitsabbildung: Die bildliche Evidenz der Photographie als chemisch-physikalische Übersetzung der Wirklichkeit weicht einer Bearbeitung technischer Bilder, deren Korrelat in einer phänomenalen Wirklichkeit nur noch als Ausgangspunkt einer Serie von Transformationen dient. Die Welt verschwindet im Bild.24

Lev Manovich spricht deshalb von einer neuen Ontologie des digitalen Bildes. Während das analoge Bild aufgrund seiner Indexikalität auf die Vergangenheit gerichtet sei, weise das digitale Bild – genau wie es das von Samara erzeugte Video tut – in die Zukunft: auf das, was sein wird.25 In The Ring, so könnte man daher sagen, gewinnt das Unbehagen, das die Möglichkeit von 24 25

Stiegler: »Das Sichtbare und das Unsichtbare«, S. 159. Vgl. Lev Manovich: »Die Paradoxien der digitalen Fotografie«. In: Hubertus von Amelunxen, Stefan Iglhaut und Florian Rötzer (Hrsg.): Fotografie nach der Fotografie. Basel, Dresden 1995, S. 58–66, hier S. 66.

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beliebig herstell- und manipulierbaren Bildern hervorruft, eine plastische Gestalt. Als die Verkörperung des ontologisch Bösen, als die sie sich letztendlich entpuppt, repräsentiert Samara zugleich die mit der neuen Ontologie des digitalen Bildes verbundenen Gefahren. Wie Stiegler in der Theoriegeschichte der Fotografie hervorhebt, sind diese Befürchtungen weder neu noch an die Entwicklung der Digitalfotografie gebunden. Dass Fotografien manipulierbar und interpretationsbedürftig sind, ist im Laufe des 20. Jahrhunderts zu einem Allgemeinplatz geworden. Dennoch haben die Zweifel an der Objektivität der Fotografie im digitalen Zeitalter eine neue Dimension erreicht und zumindest partiell zu einer retrospektiven Aufwertung der analogen Fotografie geführt, die im Vergleich mit der digitalen Variante nun ungleich ›authentischer‹ erscheint als zuvor. Diese Umwertung mündet bisweilen in einer regelrechten Nostalgie für die analogen Medien, die man auch in The Ring beobachten kann – aber ironisch gebrochen.26 Auf der anderen Seite steht allerdings das nach wie vor aktuelle Versprechen fotografischer Verfahren, mittels immer neuer Techniken immer weitere Teile der Wirklichkeit im Bild einzufangen. Während The Ring mit dieser aus den Anfängen der Fotografie stammenden Erwartung spielt und sie letztendlich enttäuscht, bestätigt Shutter die Hoffnung, dass in der Fotografie sichtbar wird, was dem bloßen Auge verborgen bleibt, problematisiert aber gleichzeitig die mit der Kontrolle über die Kamera verbundene Macht. In beiden Filmen erscheint die Fotografie somit als dasjenige Medium, das, wie Stiegler es formuliert, »die fundamentale Ambivalenz der Gegenwart vielleicht am deutlichsten faßt«.27

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Obwohl der Film in der Gegenwart angesiedelt ist, spielen digitale Medien in der Handlung keinerlei Rolle. Stattdessen geht es um analoge Fotografien, röntgenartige Aufnahmen und ein Videoband und somit um Medien, die das nostalgische Versprechen mit sich bringen, auf eine der Repräsentation vorgängige Realität zu verweisen. Dies tun sie jedoch gerade nicht oder nur in sehr eingeschränkter Weise. Wie das digitale Bild laut Manovich weisen sie stattdessen in die Zukunft – und verweisen gleichzeitig auf die Fähigkeit digitaler Medien, analoge Medien und deren Authentizitätseffekte wie Rauschen zu simulieren. Stiegler: Theoriegeschichte, S. 422.

Kulturreflexion

Visuelle Evidenz und neoviktorianische Appropriationen der Fotografie

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Visuelle Evidenz und neoviktorianische Appropriationen der Fotografie

1. Der neoviktorianische Roman als subkulturelle Hermeneutik des Visuellen Der neoviktorianische Roman ›aktualisiert‹ und ›appropriiert‹ das 19. Jahrhundert für ein zeitgenössisches Publikum und ist derzeit als Subgenre des historischen Romans besonders in der englischsprachigen Literatur sehr erfolgreich. Grob gesprochen können wir eine triadische Strukturierung in der jüngeren Geschichte dieses neoviktorianischen Romans konstatieren: 1. metahistoriographische Fiktion (z. B. in John Fowles’ The French Lieutenant’s Woman, 1969) 2. kulturhermeneutischer viktorianischer Ventriloquismus (z. B. in Antonia Byatts Possession, 1990) 3. subkulturhermeneutischer viktorianischer Ventriloquismus (z. B. in Michèle Roberts’ In the Red Kitchen, 1990, Sarah Waters’ Affinity, 1999 und Fingersmith, 2002 oder Michel Fabers The Crimson Petal and the White, 2002). All diese Texte sind in unterschiedlichen Explizierungsgraden bipolar zwischen dem 19. und dem späten 20. Jahrhundert eingerichtet. In ihren ›Bauchrednern‹ hören wir hybride Stimmen des vergegenwärtigten Viktorianismus. Das Pendel schwingt erkennbar zurück von der expliziten Selbstbezüglichkeit der fact/fiction-Unterscheidung und der Thematisierung von Geschichte vs. Fiktion bei Fowles. In Byatts Possession wird der hermeneutische Prozess des »reaching back«1 noch rekursiv thematisiert, aber Waters’ Roman verzichtet, trotz seiner implizit jederzeit evidenten Saturiertheit mit zeitgenössischer Gender-Theorie, auf eine prononcierte Distanzierung in der formalen Gestaltung seiner Erzählung – als liefen die bekannten Vorwürfe Fredric Jamesons gegen die libidinöse Stil-Imitation einer toten Vergangenheit2 inzwischen ins Leere. In seiner subkulturhermeneutischen Linie zeigt der neoviktorianische Roman ein dezidiertes Interesse am Medium Fotografie und 1

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Dana Shiller: »The Redemptive Past in the Neo-Victorian Novel«. In: Studies in the Novel 29 (1997), S. 538–560, hier S. 552. Fredric Jameson: Postmodernism, or, The Cultural Logic of Late Capitalism. London 1991, S. 16f.

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seiner viktorianischen Handhabung, speziell in den Bereichen der Pornographie und des Spiritismus. Es ist für meine Analyse wichtig, zunächst diese Hermeneutik zu charakterisieren, die sich als neoviktorianische Übersetzung, Interpretation oder Horizontverschmelzung einer viktorianischen Subkultur verstehen lässt.3 Während sich die herkömmlichen britischen heritage-Erzählungen à la Antonia Byatt durch eine – allerdings durch hermeneutische Filterung problematisierte – Nostalgie für die Kultur des ›verlorenen‹ 19. Jahrhunderts auszeichnen, ist bei Sarah Waters und anderen Vertreterinnen und Vertretern des subkulturell-hermeneutischen Romans eine paradoxe Nostalgie für die repressive Sexualmoral und das patriarchale two-sex model des Viktorianismus erkennbar. Durch diesen prägnanten Antagonismus gewinnen die Erzählungen von damals ›abweichenden‹ sexuellen Vorlieben ihr dramaturgisches Potenzial, das sie unter den Bedingungen eines erotischen anything goes verloren haben. Im Milieu der normativen Gender-Diskurse des 19. Jahrhunderts können sich die Schilderungen sexueller Transgression, die im Mainstream des 21. Jahrhunderts angekommen sind, noch antagonistisch entfalten.4 Mit Stallybrass und White lässt sich argumentieren, dass die sozial peripheren Subkulturen des 19. Jahrhunderts aus der Sicht eines hermeneutischen Dialogs mit dem 21. Jahrhundert symbolisch zentral werden.5 Auf diese Weise hilft der neoviktorianische Roman, ein facettenreicheres Bild des 19. Jahrhunderts zu zeichnen. Zwar weise ich in diesem Aufsatz die Spuren von John Berger, Susan Sontag und Roland Barthes im neoviktorianischen Roman nach, und aus Sicht des Historikers mag man daher kritisch einen Anachronismus anmahnen und äußern, dass diese Fototheorie nichts in der viktorianischen Zeit verloren hat (falls sie nicht metahistoriographisch reflektiert ist). Es ist jedoch genau dieses Amalgam aus Jetztzeit und Vergangenheit, das nun nicht mehr, wie noch etwa im metahistoriographischen Roman von John Fowles und anderen, permanent an der Textoberfläche explizit wird, es ist dieser polyphone Dialog, diese Heteroglossie, die die neoviktorianische Hermeneutik der Subkultur so faszinierend macht. 3

4

5

Vgl. hierzu Eckart Voigts-Virchow: »›In-yer-Victorian-face‹. A Subcultural Hermeneutics of Neo-Victorianism«. In: LIT: Literature Interpretation Theory 20 (2009), S. 108–125. Signifikant ist hier, dass die neoviktorianischen Romane generell stark im Mainstream des frühen 21. Jahrhunderts verankert sind. Dass einige Texte auch audiovisualisiert vorliegen, nämlich als Adaptionen für das britische Fernsehen, ist ein Beleg dafür, wie tauglich die Texte für den Mainstream geworden sind. Peter Stallybrass, Allon White: The Politics and Poetics of Transgression. Ithaca 1986, S. 5.

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Im Hinblick auf die Revisitation des viktorianischen Visuellen lässt sich folgende Hypothese formulieren: Die neuen Methoden der drucktechnischen Vervielfältigung von Bildern seit der Mitte des 19. Jahrhunderts verursachen eine Medienexplosion. Einerseits zelebriert der neoviktorianische Roman die viktorianische Zeit als ein klimaktisches Aufbäumen der damals noch leitmedialen literarischen Kultur gegenüber den bedrohlichen neuen ›visuellen‹ Medien sowie als Entdeckung der Langsamkeit gegen die zeitgenössische »fifteen-second culture«.6 Andererseits zeigt sich in den meisten dieser Texte ein besonderes retrospektives Interesse für die visuellen Umwälzungen im Medienumbruch besonders der mitt- und spätviktorianischen Zeit. Dies steht in zwiespältigem Zusammenhang mit dem Wunsch, hinter die wahrnehmungsskeptischen Positionen des Modernismus zurückzukehren und in der entfesselten Visualität des ausgehenden 19. Jahrhunderts Analogien zu optischen Präsenzformen des beginnenden 21. Jahrhunderts zu finden. Auch in vielen wissenschaftlichen Publikationen wird das gegenwärtig besonders ausgeprägte Interesse an der viktorianischen Visualität reflektiert.7 Zeitgenössische neoviktorianische Romane transponieren die Medienrivalität zwischen Wort und Bild gerade in subkulturell marginalisierte Randbereiche wie die viktorianische Pornographie und den viktorianischen Spiritismus. Ausgehend von der besonderen Attraktivität neoviktorianisch gefilterter Rückblicke auf das 19. Jahrhundert untersucht dieser Aufsatz eben diese Sphären viktorianischer Visualität – Pornographie und Spiritismus. Beide Phänomene partizipierten an der visuellen Expansion, z. B. wurden 1874 bei einer Razzia in einem einzigen Geschäft 130 000 pornographische Bilder entdeckt.8 Beide Bereiche sind auch mindestens zweifach miteinander verknüpft. Zum einen ist in beiden Subgenres der Aspekt der Gender-Konstruktion und des weiblichen Schreibens im ›feminozentrischen‹ Viktorianismus besonders zu beachten.9 Zum anderen unterstreichen beide Felder, dass 6

7

8

9

Sally Shuttleworth: »Natural History. The Retro-Victorian Novel.« In: Elinor Shaffer (Hrsg.): The Third Culture. Literature and Science. Berlin, New York 1998, S. 253–268, hier S. 268. Vgl. z. B. Kate Flint: The Victorians and the Visual Imagination. Cambridge 2000; Renate Brosch (Hrsg.): Victorian Visual Culture. Heidelberg 2008. Vgl. auch zu anderen Beispielen Linda Williams: »Pornografische Bilder und die ›körperliche Dichte des Sehens‹«. In: Herta Wolf (Hrsg.): Diskurse der Fotografie. Frankfurt am Main 2003, S. 226–266, hier S. 226. Vgl. Constance D. Harsh: Subversive Heroines. Feminist Resolutions of Social Crisis in the Condition-of-England Novel. Ann Arbor, MI 1994; Vanessa Dickerson (Victorian Ghosts in the Noontide. Women Writers and the Supernatural. Columbia, London 1996) beschreibt anhand der Geisterbeschwörung in Toni Morrisons Beloved – in allerdings methodisch fragwürdiger Verallgemeinerung – eine »more universal willing-

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die Fotografie von Beginn an weniger der Errettung der äußeren Wirklichkeit verpflichtet ist als vielmehr der Produktion plausibilisierender Simulakren, also der Abbildung von etwas nur phantastisch Vorgängigem. Ausgehend von der Dimension der Fotografie als Evidenz- und Erinnerungsmedium zum Zeitpunkt gerade auch ihrer wissenschaftlichen Entdeckung soll anhand der Felder Pornographie und Spiritismus gezeigt werden, wie der neoviktorianische Roman das Beweis- und Erinnerungsmedium Fotografie filtert.

2. Zurschaustellung: Sexualisiertes Sehen und maskuliner Blick In Michel Fabers Roman The Crimson Petal and the White begegnet uns mit der Prostituierten Sugar das Paradebeispiel eines subkulturhermeneutischen Hybridwesens. Die 19-jährige Sugar ist einerseits als Leserin von Titus Andronicus und Clarissa mit dem nostalgischen Impuls des neoviktorianischen Romans auf eine in Medienkonkurrenz untergehende literarische Welt verknüpft – sie erscheint ja auch in einem Roman von 895 Seiten. Als proto-feministische Autorin, die sich in ihren Texten gräuliche Todesarten für ihre widerwärtigen männlichen Kunden ausmalt, ist sie zwar oberflächlich Objekt phallischer Macht, aber heimlich auch mit der PorNo-Bewegung verknüpft; in den visualisierenden Beschreibungen erscheint sie als viktorianische Variante des androgynen fashion model, »stick-thin, flat-chested and bony like a consumptive young man« oder als »tall, gaunt boy«.10 Gleichzeitig repräsentiert sie das neue Weiblichkeitsideal der 1860er Jahre, das im Zuge der präraffaelitischen Kunst ein androgyneres Frauenbild gegen die betonte Weiblichkeit mittviktorianischer Mode setzt. Mit dem Verhältnis der präraffaelitischen Maler zu ihren Musen und Bildobjekten – oft tatsächlich Prostituierten – ist auch Fabers Sicht auf den mittviktorianischen Bilderkonsum vorgegeben. In seinem Roman ist Visualität immer in ein Netzwerk von visueller Lust, männlichem gaze und phallischer Macht verstrickt. Sowohl Sugar als auch der Erzähler des Romans lesen die viktorianische Zeit mit den Fototheorien John Bergers, Susan Sontags oder Abigail Solomon-Godeaus11 – Linda Williams’ Kritik an

10 11

ness of the female to readmit that which the dominant culture officially casts out« (S. 1), bevor sie weiblich-weiße Viktorianerinnen wie George Eliot, die Brontës und Mrs Gaskell mit ethnisch definiertem Geisterglauben in Zusammenhang bringt. Michel Faber: The Crimson Petal and the White. Orlando 2002, S. 26. John Berger: Sehen. Das Bild der Welt in der Bilderwelt. Reinbek 1974 [Ways of Seeing. London 1972]; Susan Sontag: Über Fotografie. Frankfurt am Main 1995 [On Photography, New York 1973]; Abigail Solomon-Godeau: Photography at the Dock. Essays on Photographic History, Institutions, and Practices. Minneapolis 31997.

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eindimensionalen Sichtweisen auf die frühe Pornographie als Ausdruck phallischer Machtausübung kam für sie offenbar zu spät.12 Wie ich an anderer Stelle expliziere, spinnt Faber ein Netzwerk männlicher Besitzergreifung mit den metaphorischen Materialien Buch (dem Schreiben, Besitzen und Lesen von Büchern), Bildern (der männlichen Objektauswahl und dem männlichen Blick auf die abgebildete, posierende Frau) und Prostitution.13 Die Fotografie ist demnach eine Besitzergreifung, um den Gegenstand »in Besitz zu nehmen, ihn unter Kontrolle zu bringen«.14 Faber hat verlauten lassen, John Bergers Ways of Seeing sei eines seiner Lieblingsbücher.15 In dieser klassischen, auf einer BBC-Fernsehserie beruhenden Studie aus dem Jahr 1972 findet sich im dritten Kapitel die Grundlage für Fabers Nexus zwischen phallischer Macht, männlichem Blick und visuellem Konsum: Eingeordnet in die Tradition männlicher Abbildung passiver weiblicher Akte erscheint hier auch die frühe Porno-Fotografie. Hauptkritikpunkt Bergers ist das Fehlen sexueller Aktivität in den Bildern – durch lange Belichtungszeiten in der frühen Fotografie ohnehin nicht möglich, aber natürlich in der Tradition des weiblichen Akts kulturhistorisch auch gar nicht vorgegeben und verfügbar. Berger argumentiert: Wir können vereinfachend sagen: Männer handeln und Frauen treten auf. Männer sehen Frauen an. Frauen beobachten sich selbst als diejenigen, die angesehen werden. […] Man malte eine nackte Frau, weil man es genoß, sie anzuschauen. […] Diese Nacktheit ist jedoch kein Ausdruck der eigenen Gefühle; sie ist das Zeichen ihrer Unterwerfung unter die Gefühle und Forderungen ihres Besitzers. (Der Besitzer der Frau und des Gemäldes.) […] Ein nackter Körper muß als Objekt gesehen werden, um zu einem Akt zu werden; […] ein Akt wird zur Schau gestellt. […] In der durchschnittlichen europäischen Aktmalerei ist die Hauptperson niemals dargestellt worden. Gemeint ist der als Mann vorausgesetzte Betrachter vor dem Bild. […] Das Bild wurde gemacht, um seine Sexualität zu reizen; mit ihrer Sexualität hat es nichts zu tun. […] Frauen werden nach wie vor in einer völlig anderen Art als Männer dargestellt – nicht etwa deshalb, weil sich das Weibliche vom Männlichen unterscheidet – sondern weil als ›idealer‹ Betrachter immer noch der Mann vorausgesetzt wird, und das Bild der Frau dazu bestimmt ist, ihm zu schmeicheln.16

12 13 14 15

16

Williams: »Pornografische Bilder und die ›körperliche Dichte des Sehens‹«, S. 229f. Voigts-Virchow: »›In-yer-Victorian-face‹«, S. 115. Sontag: Über Fotografie, S. 148. »John Berger’s Ways of Seeing, which is not even a novel but a book of art criticism, has had a big influence on my world view as I express it in my fiction« (Michael Faber: interview, bookreporter.com http://www.bookreporter.com/authors/ au-faber-michel.asp [Stand: 6. 2. 2009]). Berger: Sehen, S. 44, 48f., 51f. und S. 61.

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Michel Fabers neoviktorianische Hermeneutikerin, die Prostituierte Sugar, kennt diese Zusammenhänge des männlichen Blicks und der Selbstbeobachtung der Frau: »You sit still, he works, and then at the end of it, he gives you a painting in oils, like … like a reflection of how you’d see yourself in a looking-glass on the one day of your life when you were prettiest.«17 Berger argumentiert, dass wegen der Banalität abgebildeter unbekleideter Körper die frühe Fotografie Nacktheit nach dem Modell der Aktmalerei konstruiert, als »einen Akt, der seinerseits sexuelles Verlangen in Phantasie verwandelt, da er Anblick und Betrachter verallgemeinert und Sexualität zu etwas Beliebigem macht«.18 Frauen posieren in diesen Bildern, und nach Solomon-Godeau verschiebt diese posenhafte Zurschaustellung der Frau die Sexualität von einer Aktivität hin zu reiner Spekularität.19 Sugar nimmt nicht nur Anstoß an der stinkenden Magie der fotografischen Bildentstehung (»watching the images materialising in their shallow font of chemicals, like stigmata, like spirit apparitions«20). Sie protestiert ganz offensichtlich mit John Berger gegen diese verallgemeinerte, beliebige, abstrakte Spekularität (also wörtlich: gegen den Glanz, die Lichtintensität) ihrer Abbildung in einer Fotografie: She’s wondering if the photographer’s salon will last forever, and hoping they don’t. At the time, while the business was being done, she felt no qualms, and posed naked beside potted plants, in stockings by a curtained bed, and up to her waist in a tub of tepid bathwater. She didn’t even have to touch anyone! Lately, however, she’s come to regret it – ever since one of her customers produced a thumb-worn photograph of an awkward-looking naked girl and demanded that Sugar strike exactly the same pose […]. It was then that Sugar understood the permanence of being Sugar or Lotty or Lucy or whoever you might be, trapped on a square of card to be shown at will to strangers. Whatever violations she routinely submits to in the privacy of her bedroom they vanish the moment they’re over, half forgotten with the drying of sweat. But to be chemically fixed in time and passed hand to hand forever: that is a nakedness which can never be clothed again.21

Die mechanisch reproduzierbare Bilderflut für die zeitgenössische voyeuristische Bildersucht vergewaltigt ihre Objekte in der Falle eingefrorener Permanenz – so hören wir hier als Echo Susan Sontags. Wenn der Freier sein Foto als tableau vivant nachstellt, bildet sich die Wirklichkeit als Simulakrum nach Bildern ohne Original. Michel Faber erzählt und fiktionalisiert das 17 18 19 20 21

Michael Faber: The Crimson Petal and the White [2002]. Orlando 2003, S. 41f. Berger: Sehen, S. 57. Williams: »Pornografische Bilder und die ›körperliche Dichte des Sehens‹«, S. 256. Faber: The Crimson Petal and the White, S. 40. Ebd., S. 41.

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Theorem des männlichen Blicks wie auch die These vom Foto als Index, als Spur tatsächlicher Präsenz. Diese psychoanalytischen Denkgebilde des männlichen Machtblickapparats, der z. T. auch auf Fotografie und Film insgesamt ausgeweitet wurde, sind jedoch nicht unwidersprochen geblieben. Linda Williams greift die konsensuellen Attacken auf die Pornografie aus dreierlei Gründen an: 1. weil sie das Element phallischer Herrschaft überbewerten, das völlig auf den begehrenden männlichen Blick zugeschnitten sei (in Wirklichkeit gibt es sowohl andere Bildformen als das passive weibliche Posieren und auch Effekte auf den weiblichen Blick hin), 2. weil pornographische Bilder wegen ihres infamen Realitätseffekts denunziert werden, dem passive Zuschauer zum Opfer fallen (in Wirklichkeit entstehe in der Verschmelzung von Sehen und Körperakt – sprich: Onanie – eine »neue masturbatorische körperliche Dichte des Sehens«,22 als Resultat aus »der haptischen Unmittelbarkeit visueller Wahrnehmung«, die übergeschlechtliches Genießen induzieren kann und weit mehr ist als ein Ersatz für die Absenz des Realen, wie sie die psychoanalytische Bilderund Filmtheorie immer wieder charakterisiert hat), 3. weil eine differenzierte Sichtweise des Pornographischen die verschiedensten, historisch variablen Formen des Genießens berücksichtigen muss; sie darf das Bild nicht als Verführer sehen und muss erklären, nicht nach alter platonisch-cartesianischer Ikonophobie Schuld zuweisen. Faber tut aber genau dies: er weist dem phallischen Machtblick Schuld zu. Sein Erzähler postuliert zudem die kulturelle Situierung von Bildern, die als Spur des Realen immer in stärkerer Weise ihrer Zeit verhaftet bleiben müssen als etwa Worte, deren symbolische Kraft Raum und Zeit zu überwinden vermag. Die viktorianischen Pornobilder, einst als gefährlich angesehen, dekorieren nun coffee-table books, »innocuous, quaint, even strangely dignified! […] Unidentified prostitute, circa 1875, the book might say, and what could be more anonymous than that?«23 Sugar erschauert ob der Permanenz ihrer Fo22 23

Williams: »Pornografische Bilder und die ›körperliche Dichte des Sehens‹«, S. 240. Faber: The Crimson Petal and the White, S. 41. Auch in Sarah Waters’ Fingersmith bringt der Pornograph Lilly mit dem projizierten Enkelsohn eine kulturhermeneutische Perspektive auf die frühe erotische Fotografie zur Geltung, mit klarer kulturkritischer und ikonophober Perspektive: »Give photographs to your grandson: he will study them and think them quaint. He will laugh at the wax tips of your moustaches! But words, Hawtrey, words – hmm? They seduce us in darkness, and the mind clothes and fleshes them to fashions of its own« (Sarah Waters: Fingersmith. London 2002, S. 216).

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tografie noch lange nach dem Tod ihres Körpers – so als hätte sie Roland Barthes’ La chambre claire (1980) gelesen, in der die Fotografie als das Zusammen von Hier und Damals gesehen wird, als Spur des Wirklichen, als Evidenz des So-Gewesenen, Unveränderlichen. Fotografie, so stimmen Sugar und Barthes überein, ist Magie, nicht Kunst oder lediglich eine Kopie des Realen, sondern ein Index. Doch auch das Foto als Symbol, als gestalteter Sinnträger, und damit die Semiotik des Fotografischen, sein Konstruktcharakter als Instrument der Lüge, erscheint in The Crimson Petal and the White – wiederum als Emanation der phallischen Macht. Auf die Plotstruktur des Romans kann ich hier nicht näher eingehen, aber es sei angemerkt, dass Sugar von einer Straßenprostituierten zur Mätresse des Parfumfabrikanten Rackham aufsteigt, schließlich für seine Tochter Sophie eine Ersatzmutter wird und diese schließlich aus dem patriarchalen System entführt – hier bedient sich Faber vor allem am viktorianischen Sensationsroman wie etwa Ellen Wood’s East Lynne. Als Sugar Rackhams Frau Agnes ersetzt – die Karikatur des angel in the house, hier kindlich, einem repressiven Katholizismus verpflichtet und zunehmend aufgrund einer Krebserkrankung dysfunktional –, zieht Faber ein fotografisches Verfahren heran, um zu illustrieren, wie sich die patriarchale Herrschaft aus Versatzstücken, frankenstein- und pygmalionhaft, eine Objektfrau bastelt. Für Sugar ist dieser Aufstieg, wie Neumann zu Recht darlegt,24 eine Inversion der typischen viktorianischen Erzählung der fallen woman, jedoch verknüpft mit dem Verlust ihrer Identität und der völligen Integration in patriarchale Determiniertheit. Im Fotostudio des schwulen Fotografenpaars Tovey und Schofield wird unter dem Einsatz von trompe l’oeil-Kulissen und weiteren Tricks im Dienste des perfekten Moments der Aufnahme Porträtfotografie als kunstvolle Lüge inszeniert. Das Familienarrangement mit Rackham an der Spitze repliziert die patriarchale Ordnung. Der entmenscht-mechanische fotografische Prozess bleibt jedoch dubios und wird von Sugar mit der symbolischen Objektifizierung der Pornographie in Verbindung gesetzt: The hooded creature that is Tovey and his contraption has its eye open now; hidden chemicals are reacting, at this very instant, to the influx of light and a deepening impression of three carefully arranged human beings. […] How strange that an occasion which ought to fill her with hope for their shared future – a family portrait that installs her in the place of his wife – should arouse such foreboding in her. […] What in God’s name is he doing here, and why does she feel worse

24

Imke Neumann: ›The past is no foreign country‹. Der neo-viktorianische Roman in Großbritannien und Irland. Trier 2008, S. 217.

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than if she were being made to submit to naked indignities for the Use of Artists only?25

Schon Susan Sontag argumentierte: »Nicht die Realität wird durch Fotografieren unmittelbar zugänglich gemacht; was durch sie zugänglich gemacht wird, sind Bilder.«26 Hier sehen wir noch nicht einmal Sontags »Bruchstücke der Welt«, von denen wir Besitz ergreifen können, sondern den Weltbesitz als Fake, eine doctored photograph, eine gefälschte Realität, die nicht Sugars Zukunft als Ehefrau stabilisiert, sondern – im Gegenteil – lediglich ihren Rumpfkörper abbildet, um das Vergangene, nämlich die bereits an sich verlogene und verlorene Ehe mit Agnes, permanent zu materialisieren: A most peculiar photograph of the Rackham family all together, with Agnes Rackham’s head transplanted from a summer long ago, abnormally radiant, like one of those mysterious figures purported by spiritualists to be ghosts captured on the gelatine emulsion of film, which were never visible to the naked eye.27

Die Porträtfotografie soll etwas Geisterhaftes, nämlich die intakte bürgerliche Familie des viktorianischen Zeitalters, materialisieren und verifizieren – und anders als bei Barthes’ Mutter ist es hier die Spur von etwas, das nie gewesen ist, es entspringt lediglich einer patriarchalen Montage. Mit der Fotografie als Fabrikation von etwas Künstlichem sowie auch mit den geisterhaften Spuren der Fotografie, die bereits in den frühen Schriften zur Fotografie immer wieder akzentuiert wurden, ist die Brücke zum zweiten Teil dieses Aufsatzes geschlagen.

3. Geistersehen: Visuelle Evidenz Friedrich Kittler hat in Grammophon, Film, Typewriter alle Medien zu Produzenten von Gespenstererscheinungen erklärt, weil sie das Abwesende, nicht Wahrnehmbare reproduzieren.28 Wie Bernd Stiegler nachgezeichnet hat,29 erschien die spirit photography bereits Mitte der 1860er Jahre im Kontext der Porträtfotografie und der proliferierenden carte de visite-Fotografie. ›Geisterfotografie‹, besonders von Angehörigen Verstorbener, wurde bald zu einem professionalisierten und konventionalisierten Teilbereich der Porträtfotografie.30 Andererseits blieben sowohl der Spiritismus als auch seine fotogra25 26 27 28 29 30

Michael Faber: The Crimson Petal and the White, S. 790f. Sontag: Über Fotografie, S. 157. Faber: The Crimson Petal and the White, S. 794. Friedrich Kittler: Grammophon, Film, Typewriter. Berlin 1986, S. 22. Bernd Stiegler: Theoriegeschichte der Photographie. München 2006, S. 121. John Harvey: Photography and Spirit. London 2007, S. 58.

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fische Aufzeichnung unter dem kirchlichen Vorbehalt einer obskurantistischen, oft antichristlichen Subkultur,31 so dass etwa Florence Marryat ihren Spiritismus in Abgrenzung zum offiziellen, aus ihrer Sicht in vielfacher Weise korrumpierten Christentum positionierte.32 In der Folge der berühmten Poltergeisterscheinung im Haus Fox (Pennsylvania) im Jahr 1848 wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der Spiritismus in den USA und Europa anders als in Deutschland zu einer »Massenbewegung mit allen Anzeichen einer Volksreligion«, so Michael Hochgeschwender.33 Spätestens seit Gründung der Society for Psychical Research (1882) in Cambridge amalgamierte der Spiritismus mit weniger umstrittenen wissenschaftlichen Vorhaben. Anders als in der mittelalterlichen Tradition, die willentliche, ubiquitäre, multi-sensuelle und vielgestaltige Geisterscheinungen kannte, wurde dieser Zugang zu einer ›verzauberten‹, oft untergegangenen, toten ›zweiten‹ Natur nun zum verengten Feld einiger berühmter, meist weiblicher Medien. Ganz überwiegend ist die spirit photography mit der Porträtfotografie und damit der Fotografie als Erinnerungsmedium sowie letztlich als transzendentes Unsterblichkeitsmedium in Beziehung zu setzen.34 Bis zum Aufkommen der Fotografie war ein Zeugnis solcher Erscheinungen immer notwendigerweise subjektiv – erst mit der visuellen Evidenzkraft des neuen Aufzeichnungsund Speichermediums schien eine ›objektive‹ Spur der Geister sichtbar zu werden.35 In der Sprache der Semiotik handelt es sich um indexikalische Zeichen – wie zuvor etwa das Turiner Grabtuch oder das Schweißtuch der Veronica. »Die Photographien sind sichtbare Manifestationen der übersinnli31 32

33

34 35

Ebd., S. 66. »For centuries Spiritualism has been banned by the Church and thrust out of sight as an unclean thing. The Church, which encourages the State in upholding laws which are totally opposed to the teaching of its professed master Christ; which solemnises marriages which are nothing less than prostitution; which permits divorce, capital punishment, actions at law, winks at simony, and allots enormous revenues to its bishops and arch-bishops, whilst the poor rot and starve – this same Church forbids us to have any communication with spirits, who are the very first to denounce its corrupt practices« (Marryat: The Spirit World; zit. in Dickerson: Victorian Ghosts, S. 42). Die visuelle Metapher ist signifikant und wird von Dickerson selbst aufgegriffen, wenn sie argumentiert, das Schreiben von Übernatürlichem habe den viktorianischen Frauen »a wand of visuality« verliehen (ebd., S. 147). Michael Hochgeschwender: »Geister des Fortschritts. Der US-amerikanische Spiritualismus und seine mediale Vermittlung im 19. Jahrhundert«. In: Marcus Hahn, Erhard Schüttpelz (Hrsg.): Trancemedien und Neue Medien um 1900. Ein anderer Blick auf die Moderne. Bielefeld 2009, S. 79–96, hier S. 80. Harvey: Photography and Spirit, S. 58. Ebd., S. 11 und Stiegler: Theoriegeschichte, S. 127.

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chen Welt in der Welt der Sichtbaren.«36 Insofern lange Belichtungszeiten der frühen Fotografie Bewegungen als Unschärfe verzeichneten, ist auch auf diese Weise der Fotografie das Geisterhafte jenseits echter spirit photography eingeschrieben. Nach den ersten schemenhaften Geistern in den Bildern des Amateurfotografen William H. Mumler Mitte der 1860er Jahre waren es auch männliche Nachfolger wie Frederick A. Hudson, John Beattie und Sir William Crookes, die ihre oft weiblichen Medien zu Objekten ihrer Fotografien machten. Der Wert der Fotografie für den Spiritismus liegt auf der Hand, denn die besondere Evidenzqualität des Mediums diente zur Beglaubigung der Erscheinung, die sonst gern auf hysterische Reaktionen der (meist weiblichen) Medien zurückgeführt werden konnte.37 »Die Attraktivität der Photographie für den Spiritismus verdankt sich der ihr zugesprochenen Magie, eine mediumistische und zugleich naturwissenschaftlich erklärbare Beziehung zwischen dem Gegenstand und seinem Bild herstellen zu können.«38 Neue magnetische und elektrische Technologien sowie Medien wie die Telegraphie, der Phonograph und die Telephonie sowie die Radiographie durch Crookes und Röntgen begünstigten den Glauben an die Überschreitung unmittelbarer Körpergrenzen, die Möglichkeit von Distanzerscheinen und der Visualisierung des Verborgenen.39 Insofern treten nun die bildgebenden Verfahren der fotografischen Beglaubigung in Konkurrenz zur bislang z. B. durch Institutionen wie die katholische Kirche beglaubigten Gültigkeit. Fotografische Bildgebung fußt auf der Präsenz von Licht und beglaubigt insofern Lichtwesen. Dabei konnten die Erscheinungen – wie bereits in mittelalterlichen Darstellungen – als ganze Körper oder Teilkörper (nur Kopf) erscheinen; nicht jedoch in den auch vom Mittelalter bekannten skelettalen oder dekompostierten Zuständen und ebenso überwiegend nicht in dämonischen Szenarien des Christentums.40 So ›erschien‹ etwa Katie King im Medium der Florence Cook als ganzer Körper – zwar ektoplasmatisch gebildet, aber auch ertastbar.41 Solid materializations stood in the same relation to spirit photography as did the prostitute to pornography – reality replaced representation; that which was once at a remove (fixed in shadows) was now made immediate and accessible, permit36 37

38 39 40 41

Stiegler: Theoriegeschichte, S. 127. »Photograph me a ghost; chemicals have no fancies, plates don’t get nervous, and lenses tell no lies!« (Glendinning zit. in ebd., S. 74). Ebd., S. 130. Harvey: Photography and Spirit, S. 70–74. Ebd., S. 64f. Ebd., S. 19.

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ting the possibility of interaction, knowledge and intercourse (in the fullest sense of the word).42

Als mit Talbots The Pencil of Nature (1844–46) gleichsam die Natur selbst und nicht lediglich ein Künstler oder ein Visionär die Geister erscheinen ließ, wurden ihre nun wissenschaftlich reglementierten Erscheinungen eingeengt – ohne jedoch den Bezug zu traditionellen und konventionellen bildlichen Repräsentationen zu verlieren. So wie Erscheinungen der Jungfrau Maria der christlichen Ikonographie und den bekannten mittelalterlichen Pseudoikonografien folgen, so erscheinen die Geister der spirit photography wie zu einer porträtfotografischen Sitzung bestellt.43 Wenn auch ihr immaterieller Status meist durch blutleere Blässe beglaubigt wird, so orientieren sich die Geister, wie John Harvey und andere überzeugend nachgewiesen haben,44 in erster Linie an etablierten Bildanordnungen oder sogar literarisch transportierten Bildschemata, etwa an dem aus Charles Dickens’ A Christmas Carol (1843). Die erweiterten Möglichkeiten der Bildgestaltung vergrößerten auch das Spektrum einer virtualisierten Geisterfotografie. Nachdem durch die Verwendung des Gelatine-Trockenplatten-Verfahrens die zeitversetzte Nutzung verschiedener Fotoplatten möglich wurde, wurden z. B. auch die Größenverhältnisse von ›Geistern‹ und Menschen variabel.45 Geisterfotografie partizipiert immer an den manipulativen Möglichkeiten der Retusche und Vignettierung. Dieses Szenario visueller Beglaubigung des Spiritismus möchte ich nun mit dem neoviktorianischen Roman verknüpfen. Nach Rosario Arias Doblas findet im neoviktorianischen Roman, etwa in A. S. Byatts Possession (1990) und »The Conjugial Angel« aus Angels & Insects (1992), Sarah Waters’ Affinity (1999), Melissa Pritchards Selene of the Spirits (1998), Michèle Roberts’ In the Red Kitchen (1990) und Julian Barnes’ Arthur & George (2005) – zu ergänzen wäre Peter Careys Jack Maggs (1997) – ein rewriting des viktorianischen Spiritismus vor allem nach Kriterien der Gender-Forschung und Erinnerungskultur statt.46 Zu beachten ist hierbei vor allem die Verknüpfung von weiblichem Schreiben und Geist-Erscheinungen.47 Für Frauen, so Vanessa 42 43 44 45 46

47

Ebd., S. 82. Ebd., S 34–38 und S. 60. Ebd., S. 110–141. Ebd., S. 87–89. Rosario Arias Doblas: »The Return of the Victorian Occult in Contemporary Fiction«. In: Variations 14 (2006), S. 87–102. Vgl. hierzu auch Dickerson: Victorian Ghosts. In ihrer Einleitung skizziert sie den Zusammenhang von marginalisiertem subkulturellen Spiritualismus mit der typischen Subjektposition der schreibenden Frau im 19. Jahrhundert: »It was finally

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Dickerson, bedeutete Spiritismus den Zugang zu Wissen jenseits der ihnen verbotenen Wege des Mainstream: »Through spiritualism, mesmerism, and supernaturalism, the Victorian woman probed the nature and the extent of her spirituality and discovered expression, freedom, and power.«48 Alex Owen belegt am Beispiel u. a. von Florence Cook, dass die theatralen, teils von Theaterschauspielerinnen inszenierten Séancen oft ein bevorzugter Weg der Star-Medien zu gesellschaftlicher Akzeptanz sein konnten.49 Die neoviktorianischen Romane von Michèle Roberts und Sarah Waters setzen diese These Dickersons in ihren Erzählungen kulturhermeneutisch um. Roberts’ In the Red Kitchen, 1990 mit klarem feministischen Darstellungsziel geschrieben und 2008 unter dem Titel Delusion wiederveröffentlicht, basiert auf dem bekannten Scharlatanerie-Fall des Mediums Florence Cook, das unter Anleitung und Beobachtung des renommierten Wissenschaftlers William Crookes den Geist ›Katie King‹ sich materialisieren ließ. Im Roman wird Florence Cook zu Flora Hall, William Crookes tritt als William Preston auf, und Katie King wird zu Hat oder Hattie King, einer Erscheinung der Pharaonin und Schreiberin Hatschepsut. In Roberts’ Perspektivierung ist die Dichotomie von weiblichem Wissen (Flora, Hat King sowie auf einer Gegenwartsebene eine Schriftstellerin, die ebenfalls Hattie King heißt) gegen männliche Wissenschaftlichkeit (William Preston, der Skeptiker Charles Redburn) nur zu offensichtlich. Darstellungsdetails reichen vom Ort der Séancen – der weiblich konnotierten Küche – über die antithetische Farbsymbolik (Rot als weibliche Farbe, Blau als männliche Farbe der Wissenschaft) bis hin zur Charakterisierung der männlichen Figuren (Preston repräsentiert eine korrumpierte Wissenschaftlichkeit, die lediglich sexuellen Eigennutz bemäntelt). Die wissenschaftliche Erforschung der weiblichen spiritistischen Erfahrungswelt wird als Prostitution und phallische Vergewaltigung beschrieben, wobei der fotografischen Evidenz besondere Bedeutung zukommt. Preston fährt mit dem Medium Flora heimlich nach Paris zu Dr. Charcot, der dort im Krankenhaus La Salpêtrière seine neurologischen Untersuchungen durch vielfältige fotografische Beweismittel untermauert. Wie die jüngere kulturwissenschaftliche Forschung hervorgehoben hat, basiert die fotografische Diagnostik der Hysterie jedoch auf einer Reihe performa-

48 49

not in men’s but in women’s ghost stories that truly treated the return of the repressed and the dispossessed; ghost stories could provide a fitting medium for eruptions of female libidinal energy, of thwarted ambitions, of cramped egos« (S. 8). Ebd., S. 47. Alex Owen: The Darkened Room. Women, Power and Spiritualism in Late Victorian England. Chicago 1989, S. 49.

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tiver Akte, die den Frauen teils auferlegt, teils nahegelegt und teils durch Therapien induziert wurden.50 Fotografie lügt, dominiert und ergreift also auch hier Besitz – wie in der Pornographie und in der Porträtfotografie. Roberts’ Flora betrachtet die Fotografien von Charcots halbbekleideten, entfesselten Frauen und verknüpft sie mit der befreiten weiblichen Dynamik in dem Gemälde der Jungfrau von Orléans in ihrem Hotelzimmer. Sie erinnert sich auch an die Fotografien ihrer Séancen: William has taken many photographs of me during our seances together. Evidence that Hattie exists, and walks around his study while I lie in trance on the sofa in the library. Only Hattie doesn’t like to stand still, as you have to do for five minutes while the camera works. She comes out as a blur, because she moves too much. So William takes a second set, using me as the model for Hattie. Just to record her gestures. He places me in different positions, lifting my arm, adjusting my leg, tipping up my chin with his finger. He puts me in the attitudes he says Hattie strikes. He opens the front of Hattie’s robe to show her breasts, flicking the nipples to stiffen them. Hattie’s hands grasp the front of her robe and tear it open to show her breasts. He lays Hattie on the rug in front of the fire, her legs apart, her robe rucked up over them to show her plump white thighs, the golden tuft at the top. Hattie falls back onto the rug in front of the fire, not caring that her gown is rucked up anyhow, showing her legs. Hattie is shameless, because she is a spirit. William says there is no need to be ashamed. Flora copies what Hattie does, to help with the experiments. William puts his fingers inside Hattie, while Flora lies unconscious on the sofa next door. […] Remember the money. Remember I’ve promised to help you. William is a doctor so it’s all right. It’s science. It’s an experiment. […] I’m a good girl daddy. She only lets him because he’s a doctor. He’s feeling inside her because he needs to know how real Hattie is, what her responses are to stimulation of different sorts. […] Flora would never do what Hattie does.51

An dieser Passage ist vieles bemerkenswert – nicht zuletzt die patriarchal erzwungene Aufspaltung des Weiblichen. Die Erscheinung Hattie erweitert einerseits die weibliche Erfahrungswelt – vor allem jedoch verschafft sie der verstrickenden Phallokratie von Vater, Arzt und Realismus unter Umgehung der repressiven viktorianischen Sexualmoral und unter Beibehaltung etablierter Geschlechtermachtverhältnisse Zugang zu heteronormativer Lust. Der sexuelle Subtext des hier skizzierten ›Experiments‹ erhellt die dunkle Seite männlicher Machenschaft unter dem Deckmantel der Wissenschaft. Das Evidenzmedium Fotografie versagt jedoch, denn unter der Anleitung des Wissenschaftlers wird es als verfälschende visuelle Inszenierung entlarvt. Unter dem Vorwand problematisch langer Belichtungszeiten (die quasi 50

51

Georges Didi-Huberman: Invention of Hysteria. Charcot and the Photographic Iconography of the Salpêtrière. Ins Englische übertragen von Alisa Hartz. Cambridge, MA 2003. Michèle Roberts: In the Red Kitchen [1990]. London 1991, S. 122f.

Visuelle Evidenz und neoviktorianische Appropriationen der Fotografie

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›wirkliche‹ Geister kreieren würden), produziert Preston die von Crookes erhaltenen Fakes. Demgegenüber hält Flora an ihrer subjektiven Wahrheit fest, nämlich der Präsenz des Geistes Hattie und ihrer Rolle als Medium. Auf verschiedene Weise bringt Roberts das Schreiben als resubjektivierendes Evidenzmedium gegen die Objektivitätslüge wissenschaftlicher Fotografie in Stellung. Flora ist nur eine von insgesamt fünf Erzählerstimmen – es herrscht also das für die écriture feminine geforderte enthierarchisierte Erzählen vor. Die Pharaonin Hat ist ebenso wie die Autorin Hattie auf der Gegenwartsebene eine Schreiberin. Als Teil der männlich dominierten ägyptischen Schriftkultur der Hieroglyphen lässt Roberts Hat artikulieren: »To write is to enter the mysterious, powerful world of words, to partake of words’ power, to make it work for me. […] Words mean life; the absence of words means death: being forgotten by men for all eternity.«52 Schreiben artikuliert also subjektivierte Wahrheit und garantiert als Transmissionsmedium Erinnerung. Dem gegenüber ist die Fotografie lediglich das Speichern weiblicher Objektposen nach männlichem Arrangement. Doch Roberts bietet mehr als die Isotopie von anti-wissenschaftlichem und anti-fotografischem Affekt. Flora ist auch insofern nur ein Medium, als sie ihre Subjektivität jenseits der symbolischen Ordnung verliert: »I didn’t ask to be a medium. It is not pleasant. I carry other people’s suffering in my heart, I am a magnet for souls rushing irresistibly towards me and depositing in me their anguished histories. I translate the suffering of the living into joy; […] I […] am the cave they enter.«53 Hier artikuliert sie gleichzeitig in anachronistischer Weise die Funktion des spirituellen Mediums als Tröster mit Unsterblichkeitsversprechen und das Kulturstereotyp der passiven, identitätslosen Frau.54

52 53 54

Roberts: In the Red Kitchen, S. 24. Ebd., S. 92. Aus Platzgründen kann ich hier auf Sarah Waters’ Roman Affinity nicht ausführlich eingehen, der nach Foucaults Paradigma den Spiritismus und den nur in diesem Rahmen möglichen begehrenden weiblichen Blick sowie visuelles female bonding gegen das asexuelle wissenschaftliche Blickregime im Frauengefängnis Millbank abgrenzt (vgl. hierzu Imke Neumann: ›The past is no foreign country‹, S. 162–172; Heide Slettedahl Macpherson: Courting Failure. Woman and the Law in Twentieth-Century Literature. Akron, OH 2007, S. 48–54). Es ist aber signifikant, dass, in Umkehrung der viktorianischen Ordnung, das kriminelle Fake-Medium Selena schließlich erfolgreich in einen butch-femme-Lesbianismus entflieht, während die Betrogene Margaret, eine ›respektable‹ Viktorianerin, die Millbank eigentlich nur besucht, in dem metaphorischen Gefängnis von mediumistischer affinity und geisterhaftem haunting in den Selbstmord getrieben wird.

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Eckart Voigts-Virchow

4. Zusammenfassung Insgesamt lässt sich in den neoviktorianischen Romanen eine zunehmend subkulturelle Hermeneutik feststellen, die metahistoriographische Elemente weniger akzentuiert und stattdessen einer Art ›aufgeklärtem‹ Ventriloquismus zuneigt. Die Appropriation der viktorianischen Fotografie ist dabei ein ganz zentrales Anliegen der neoviktorianischen Bauchredner. In der Revisitation des 19. Jahrhunderts bestimmt weniger ein historisches Interesse die Darstellung als vielmehr eine von den derzeitigen Diskussionen der visual culture und des pictorial turn geprägte historisch-fiktionale Grauzone. Generell betonen die Romane eine ikonophobe Haltung, die oft das Theorem phallischer Herrschaft in fiktionale Erzählungen umsetzt und den apparativen Fotoblick als männlich akzentuiert. Gegen den männlichen Blick wird eine weibliche Kultur des Schreibens gesetzt. In dieser Perspektive gleichen sich der pornographische und der wissenschaftliche Blick, der male gaze des 19. Jahrhunderts auf die Frau – beide sind eine Zurschaustellung. Emanzipatorische Freiräume ebenso wie ikonokritische Erkenntnis ergeben sich gegen dieses Regime vor allem in zweifacher Weise: zum einen, allerdings in äußerst ambivalenter Weise, in den differenzierten Formen des Erscheinens im Spiritismus und in der Séance, insofern als dort Frauen aktiv werden können; zum anderen vor allem im Erschließen individualisierter, magischer Erfahrungs- und Imaginationsräume der Schrift.

Stumme Augenzeugen

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Gabriele Rippl

Stumme Augenzeugen Funktionen erzählter Fotos in englischsprachigen postkolonialen trauma novels

1. Fotografie und Text In seinem eindrücklichen, 1956 veröffentlichten Roman Train to Pakistan hat Khushwant Singh die Tragödie der Partition auf dem indischen Subkontinent festgehalten und so dem Exodus der muslimischen Bevölkerung, die im Sommer 1947 Indien verließ, um im neu gegründeten Pakistan ein neues Leben zu beginnen, ein bleibendes Denkmal gesetzt. Zum fünfzigsten Jahrestag des Erscheinens von Train to Pakistan gab der indische Verlag Roli Books eine Neuauflage des Romans heraus.1 Diese enthält jedoch nicht nur den Text Singhs, sondern auch zahlreiche Fotografien der berühmten amerikanischen Pressefotografin Margaret Bourke-White, die 1946 und 1947 Indien bereiste und die dramatischen Ereignisse der Partition mit der Kamera festhielt. Als ihre schonungslosen Bilder im Life Magazine veröffentlicht wurden, war die Welt vom Ausmaß der humanitären Katastrophe schockiert. Aus dem großen Fundus von Bourke-Whites Fotos wählte der Verlag unveröffentlichtes Material aus und illustrierte damit die Neuauflage von Singhs Roman. Auch Michael Ondaatje und Raj Kamal Jha haben in ihren englischsprachigen postkolonialen Gegenwartsromanen Anil’s Ghost und Fireproof auf beeindruckende Weise ethnische Konflikte in Südasien beschrieben.2 Beide Romane gehören zur trauma literature3 und haben zudem intermedialen Charakter, denn sie setzen sich mit dem Medium Fotografie und seinen Funktio1 2

3

Khushwant Singh: Train to Pakistan. 4. Auflage. Delhi 2007. Michael Ondaatje: Anil’s Ghost. London 2000; Raj Kamal Jha: Fireproof. London 2006. Vgl. Cathy Caruth: Unclaimed Experience. Trauma, Narrative and History. Baltimore 1996; Ronald Granofsky: The Trauma Novel. Contemporary Symbolic Depictions of Collective Disaster. New York 1995; Anne E. Kaplan: Trauma Culture. The Politics of Terror and Loss in Media and Literature. New Brunswick 2005; Laurie Vickroy: Trauma and Survival in Contemporary Fiction. Charlottesville, London 2002; Anne Whitehead: Trauma Fiction. Edinburgh 2004.

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Gabriele Rippl

nen auseinander: Ondaatje, indem er Fotografien als Mittel visueller Evidenz in der Form von Ekphrasen (eine verbale Repräsentation von visuellen Repräsentationen) im Text präsentiert, Jha, indem er seinem Text Fotografien beigibt, bei denen es sich wie bei der Neuauflage von Train to Pakistan um Pressefotos handelt. Das ist insofern interessant, als Fotografie und Text gerade in Debatten um Erinnerung, Trauma und Vergessen als konkurrierende Medien betrachtet und häufig gegeneinander ausgespielt wurden. Dagegen machen die genannten Romane darauf aufmerksam, wie eng die Medien Text und Fotografie miteinander verknüpft sind, wenn es um die Frage der Erinnerung geht. Anstatt die beiden Medien als Kontrahenten zu betrachten, halten die Romane fest, dass Foto und Text unauflösbar miteinander verwoben sind. Nicht nur können beide Medien als Erinnerungsstützen und als Mittel der Verdrängung auftreten, sie sind meistens – und das ist vielleicht noch wichtiger – in Kombination anzutreffen: Fotos treten in Begleitung von Text und Text mit Fotos auf. Auch wenn Fotografien nicht unmittelbar von Text umgeben sind, ist die Art und Weise, wie wir Fotografien anschauen und über sie sprechen, ganz wesentlich von theoretischen Fotodiskursen durchzogen, wie sie etwa Roland Barthes mit Die helle Kammer oder Susan Sontag mit Über Fotografie geliefert haben.4 Natürlich wirft die Tatsache, dass die Schauplätze für Anil’s Ghost und Fireproof die jeweiligen Geburtsländer der Autoren, Sri Lanka und Indien, sind, zusätzlich die Frage auf, ob und inwiefern die Texte auch Traditionen des Sehens in der hinduistischen und buddhistischen Kultur und Religion thematisieren. Diese Frage ist eigentlich nur in enger Zusammenarbeit mit Religionswissenschaft und Sozialanthropologie zu beantworten und kann im vorliegenden Aufsatz nur ansatzweise beantwortet werden.5 In erster Linie werde ich mich hier damit begnügen müssen, der Frage nachzugehen, wie Fotografie und Text in den beiden Romanen interagieren. Die Beantwortung dieser Frage setzt voraus, dass man sich noch einmal die medialen Unterschiede von Text und Fotografie vor Augen führt, bevor man die Korrelationen zwischen dem visuellen und dem verbalen Medium analysiert. Als 4

5

Roland Barthes: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie. Frankfurt am Main 1985; Susan Sontag: Über Fotografie. Frankfurt am Main 2006. Vgl. dazu auch Victor Burgin: Thinking Photography. London 1982; Clive Scott: The Spoken Image. Photography and Language. London 1999; sowie Alex Hughes, Andrea Noble (Hrsg.): Phototextualities. Intersections of Photography and Narrative. Albuquerque 2003. Ich danke meinen Berner KollegInnen Karénina Kollmar-Paulenz (Religionswissenschaft) und Heinzpeter Znoj (Sozialanthropologie), die in einer gemeinsam unterrichteten Lehrveranstaltung an der Universität Bern zahlreiche Interpretationsanregungen gegeben haben.

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Bilder wirken Fotografien ›auf einen Schlag‹, sie haben eine sinnliche und unmittelbare Wirkungskraft und können Evidenzfunktionen übernehmen. Diese Evidenz- und Beweisfunktion hat Roland Barthes in Die helle Kammer eindringlich beschrieben. Laut Barthes hat das Foto eine indexikalische Kraft, es besitzt eine »Spur des Realen, es gibt eine ›Wahrheit‹ des fotografischen Bildes: »[…] jedes Photo [ist] in gewisser Hinsicht die zweite Natur seines Referenten«, denn die Besonderheit des fotografischen Referenten ist, dass er als »notwendig reale Sache […] vor dem Objektiv plaziert war«.6 Es ist das Noema der Fotografie, dass das, was auf dem Bild zu sehen ist, »dagewesen ist«,7 dass die Fotografie eine »Emanation des Referenten« ist.8 Jede Fotografie ist für Barthes »eine Beglaubigung von Präsenz«.9 Auch Susan Sontag, die in ihrer Essaysammlung Über Fotografie soziologische Aspekte des Mediums Fotografie untersucht, betont, dass wir dazu tendieren, Fotografien als »Miniaturen der Realität«10 zu begreifen – sie »liefern Beweismaterial«: »Etwas, wovon wir gehört haben, woran wir aber zweifeln, scheint ›bestätigt‹, wenn man uns eine Fotografie davon zeigt. […] Eine Fotografie gilt als unwiderleglicher Beweis dafür, dass ein bestimmtes Ereignis sich tatsächlich so abgespielt hat.«11 Im Unterschied zu Fotografien beruht Sprache auf arbiträren Zeichen, die eine andere kognitive Verarbeitung erfahren als Bilder. Die indexikalische Kraft der Fotos verleiht ihnen einen (vermeintlichen) Wahrheits- und Authentizitätsgehalt, mit dem Sprache nicht konkurrieren kann: »[…] das Wesen der Photographie besteht in der Bestätigung dessen, was sie wiedergibt.«12 Roland Barthes hat die kulturelle Zuschreibung von Authentizität an die Fotografie analysiert: Wörtern trauen wir zu, dass sie lügen, die Vergangenheit verfälschen oder gar erfinden, gerade weil Sprache »ihrem Wesen nach Erfindung« ist: Nichts Geschriebenes kann mir diese Gewissheit geben. Darin liegt das Übel (vielleicht aber auch die Wonne) der Sprache: dass sie für sich selbst nicht bürgen kann. […] die Photographie aber verhält sich gleichgültig gegenüber jeder Vermittlung: sie erfindet nicht; sie ist die Bestätigung selbst.13

6 7 8 9 10 11 12 13

Barthes: Die helle Kammer, S. 86. Ebd. (Kursivierung im Original). Ebd., S. 90. Ebd., S. 97. Sontag: Über Fotografie, S. 10. Ebd., S. 11. Barthes: Die helle Kammer, S. 95. Ebd., S. 96.

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Gabriele Rippl

Der Diskurs über Fotografie hat wiederholt ihr Potenzial hervorgehoben, die Wirklichkeit wahrheitsgetreu darstellen zu können. Im heutigen digitalen Zeitalter wird natürlich mehr denn je deutlich, dass Authentizität keine mediale Eigenschaft der Fotografie ist, sondern hergestellt werden muss.14

2. Michael Ondaatjes Roman Anil’s Ghost Im Werk des kanadischen, auf Sri Lanka geborenen und aufgewachsenen Schriftstellers Michael Ondaatje spielt Visualität generell eine große Rolle. Seine Beschreibungen besitzen eine starke visuelle Qualität, und seine Texte erzielen aufgrund ihrer typographischen Anordnung zusätzliche visuelle Effekte. Während einige seiner Texte, z. B. seine autobiographische Familiengeschichte Running in the Family15 oder die literarische Biographie The Collected Works of Billy the Kid,16 Fotografien enthalten, wurde Ondaatjes Stil selbst als filmische Schreibweise charakterisiert. Dies ist nicht verwunderlich, denn Ondaatje ist nicht nur ein begeisterter Fotograf, sondern hat auch Kurzfilme gedreht.17 Anil’s Ghost (2000) spielt auf Sri Lanka, wohin der Autor in den späten 1970er Jahren nach langer Abwesenheit auf Besuch zurückkehrte.18 Sri Lanka, früher Ceylon, ist ein Land, das auf Jahrhunderte alte kulturelle Errungenschaften und Traditionen zurückschauen kann, aber auch auf eine koloniale Geschichte. 1505 unterwarfen Portugiesen das Land, 1656 die Holländer und 1796 die Briten. Von den britischen Kolonialherren wurde Sri

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15 16 17

18

Die digitale Fotografie hat mit der Idee der fotografischen Wahrheit und dem Authentizitätsanspruch zwar aufgeräumt, als Mediumbenutzer tendieren wir aber nach wie vor dazu, der Fotografie Authentizität und Wahrheit zuzuschreiben, auch wenn wir eigentlich wissen, dass Fotos heute leicht zu manipulieren sind. Vgl. William J. Mitchell: The Reconfigured Eye. Visual Truth in the Post-Photographic Era. Cambridge 1994, sowie Martin Lister (Hrsg.): The Photographic Image in Digital Culture. London 1995. Michael Ondaatje: Running in the Family. Toronto 1982. Michael Ondaatje: The Collected Works of Billy the Kid. Toronto 1970. Vgl. Leslie Mundwiler: Michael Ondaatje. Word, Image, Imagination. Vancouver 1984; sowie Lorraine M. York: The Other Side of Dailiness. Photography in the Works of Alice Munro, Timothy Findley, Michael Ondaatje, and Margaret Laurence. Toronto 1988, insb. S. 93–120. Andere bekannte srilankische Autoren tun es ihm gleich: Romesh Gunesekera hat wie Ondaatje Sri Lanka verlassen und lebt in London (1992 erschien seine Kurzgeschichtensammlung Monkfish Moon, 1994 sein Roman Reef ), genauso wie Shyam Selvadurai, der mit dem Roman Funny Boy (1994) berühmt wurde, welcher wie Ondaatjes Anil’s Ghost vom Singhala/Tamilen-Konflikt handelt.

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Lanka erst 1948 unabhängig. Der ethnische Konflikt zwischen den Bevölkerungsgruppen der Singhalesen und Tamilen war von Anfang an religiös unterlegt,19 spitzte sich allerdings zu mit dem Sinahala Only Act von 1956, der Singhalesisch gegen den Widerstand der Tamilen (und auch zur Benachteiligung der englischsprachigen Burghers) als offizielle Nationalsprache einführte, mit dem Ziel, die singhalesisch-buddhistische Kultur zu stärken.20 Damit wurde die tamilisch sprechende Minderheit aus dem höheren Staatsdienst ausgeschlossen, was – zusammen mit anderen Repressionen gegen die tamilisch-hinduistische Kultur – zur Formation der Tamil Tigers und zu deren blutigem Widerstand gegen den singhalesisch-buddhistischen Nationalismus führte. Nach Jahrzehnten, die von Unruhen geprägt waren, brach 1983 ein Bürgerkrieg aus, in den die Regierung, regierungskritische Aufständische im Süden und separatistische Guerillas im Norden verwickelt sind und der im Mai 2009 mit dem Sieg der Regierungstruppen über die Tamil Tigers angeblich zu Ende gegangen ist. Geprägt war dieser Bürgerkrieg von extremer ethnischer Gewalt, sozialen Umstürzungen und Unzähligen von Toten sowohl unter der tamilischen Minderheit als auch unter der singhalesischen Mehrheit, die das Land regiert. Anil’s Ghost kann aufgrund seines Themas, seiner Struktur und Bildlichkeit mit Berechtigung als trauma novel gelesen werden, denn dieser Roman erzählt von individuellen und kollektiven Traumata, die der Bürgerkrieg ausgelöst hat. Ein zentrales Anliegen des Romans ist es, die Vergangenheit aus der Vergessenheit zu heben. Nicht von ungefähr haben die Protagonisten deshalb Berufe, die sich mit der Vergangenheit auseinandersetzen: Sarath ist Archäologe und Anil forensische Anthropologin, letztere analysiert also körperliche Wunden, was auf die Bedeutung des griechischen Worts trauma anspielt. Zwar ergriff Ondaatje während des Bürgerkrieges nie Partei für eine der beiden Bevölkerungsgruppen Sri Lankas, aber er hat sich wiederholt für Frieden, Versöhnung und Vergebung ausgesprochen. Anil’s Ghost ist ein engagierter Roman, der politische Unruhen und ethnische Konflikte samt der mit ihnen einhergehenden brutalen Gewalt schonungslos beschreibt, gleichzeitig jedoch durch den Einsatz von nicht-linearen Erzählstrukturen

19

20

Die Singhalesen kamen um das 5. Jahrhundert nach Sri Lanka, die Tamilen etwas später und werden deshalb heute von singhalesischen Chauvinisten oft als Eindringlinge betrachtet, die den Buddhismus abschaffen wollten. Vgl. Olive Peacock: Minority Politics in Sri Lanka. Jaipur 1989; Sven Bretfeld: »Zur Institutionalisierung des Buddhismus und der Suspendierung der ethischen Norm der Gewaltlosigkeit in Sri Lanka«. In: Zeitschrift für Religionswissenschaft 2003, 11, S. 149–165.

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und Multiperspektivität eine Distanzierung erreicht, die neue Sichtweisen auf die Konflikte ermöglicht.21 Der Roman erzählt von den Erfahrungen der jungen Anil Tissera, die nach 15-jähriger Ausbildung in den USA in ihre Heimat Sri Lanka zurückkehrt, um im internationalen Auftrag und gegen den Willen der Regierung Verstöße gegen die Menschenrechte aufklären zu helfen. Die Geschichte, welche aus Anils Perspektive erzählt wird, durchwirkt Ondaatje mit Erinnerungsfragmenten verschiedener Figuren, die sich beim Lesen zu einem Patchwork-Bild der blutigen Vergangenheit Sri Lankas verweben. Ondaatjes Roman plädiert dafür, dass das erinnernde ›Durcharbeiten‹ und Nachleben von individuellen und kollektiven Traumata die Vorbedingung für einen Neuanfang ist. In diesem Sinne tragen Anils forensische Untersuchungen der körperlichen Überreste unzähliger namenloser Opfer des ethnischen Terrors zur Aufarbeitung der Gräuel bei, indem sie den Toten ihre Identität zurückgeben und so der kollektiven Amnesie im kriegsgebeutelten Sri Lanka entgegenwirken. Anil’s Ghost ist ein intermedialer Roman, in dem Medien wie Video, Spielfilm, Diorama, Zeichnung, Malerei, Stich und insbesondere die Fotografie eine wichtige Rolle spielen. Letztere wird als Medium des Gedächtnisses präsentiert, so etwa am Anfang des Romans, wo ein schwarz-weißes Pressefoto ekphrastisch beschrieben wird, das die Protagonistin als Teenager nach einem gewonnenen Schwimmwettbewerb zeigt und in ihrer Familie Ikonenstatus besitzt. Als Aufzeichnungsmedium des ›Realen‹ hält die Fotokamera Menschen, Dinge und Ereignisse vermutlich objektiv und emotionslos fest. Damit erfüllen Fotografien auch im Zusammenhang mit der Arbeit von Menschenrechtsorganisationen eine wichtige Funktion: Als stumme Augenzeugen sind sie ein Mittel visueller Evidenz, das die Wunden der Folteropfer und Ermordeten minutiös und unvoreingenommen festhält. Der Zwillingsbruder des Archäologen Sarath arbeitet als Arzt in einem Krankenhaus und ist mit diesen Fotografien konfrontiert: Interns listed the wounds and photographed the bodies. Still, once a week, he went over the reports and the photographs of the dead, confirmed what was assumed, pointed out fresh scars caused by acid or sharp metal, and gave his signature. He was running on the energy of pills when he arrived to do this, and spoke quickly into a tape recorder left for him by an Amnesty man; he stood by the windows so he could get more light on the terrible photographs, covering the faces with his left hand, the pulse in his wrist jumping. He read out the number of the file, gave his interpretation and signature. The darkest hour of the week. 21

Chelva Kanaganayakam: »The Anxiety of Being Postcolonial. Ideology and the Contemporary Postcolonial Novel«. In: Miscelánea. A Journal of English and American Studies 2003, 28, S. 43–54, hier S. 48.

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He walked away from the week’s pile of photographs. The doors opened and a thousand bodies slid in, as if caught in the nets of fishermen, as if they had been mauled. A thousand bodies of sharks and skates in the corridors, some of the dark-skinned fish thrashing … They had begun covering the faces on the photographs. He worked better this way, and there was no danger of his recognizing the dead.22

Unter den Fotos ist eines Tages auch das seines Bruders Sarath, den die Regierung foltern und umbringen ließ: The worker from the civil rights organization came in with the Friday reports of victims – the fresh, almost-damp black-and-white photographs, seven of them this week. Faces covered. The reports were left for Gamini on the table by his window. […] He turned on the tape recorder and began describing the wounds and how they were probably caused. When he got to the third picture, he recognized the wounds, the innocent ones. He left the reports where they were, went down one flight of stairs and ran along the corridor to the ward. It was unlocked. He began pulling the sheets off the bodies until he saw what he knew he would see. Ever since he had picked up the third photograph, all he could hear was his heart, its banging.23

Ondaatje verwendet Fotografien in Anil’s Ghost also als Gedächtnismedium, als Mittel visueller Evidenz und als Medium der Authentifizierung. Damit werden Funktionen des Mediums präsentiert, die ihm seit seinen Anfängen zugeschrieben wurden. Fotografien erlauben es Ärzten, Juristen und Menschenrechtsaktivisten, geschehenes Unrecht festzuhalten und für die Nachwelt zu archivieren. Als technischer Weltbezug ermöglichen sie Distanzierung, was allerdings die Möglichkeit der emotionalen Affizierung des Betrachters nicht ausschließt. Diese Affizierung hat viel damit zu tun, dass die abgelichteten Wunden indexikalische Zeichen tatsächlich erlittener körperlicher Gewalt sind. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass Ondaatje mit seinem Roman hinsichtlich der geschehenen Verbrechen in Sri Lanka für Aufarbeitung plädiert. Er macht jedoch im letzten Romanteil mit dem Titel »Distance«, der von zerschlagenen religiösen und kulturellen Traditionen handelt, noch eine weitere wichtige Aussage. Ondaatjes genaue Beschreibung der reichen kulturellen Vergangenheit Sri Lankas samt seiner religiösen Zeremonien wie der des Augenaufmalens lädt die LeserInnen ein, so meine Hypothese, zwischen der im folgenden Zitat beschriebenen Buddha-Statue und der Fotokamera eine Analogie zu ziehen. Gleich dem distanzierten, unbeteiligten, stoischen

22 23

Ondaatie: Anil’s Ghost, S. 212f. Ebd., S. 287.

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Blick der Buddha-Statue hält die Fotokamera als Aufzeichnungsmedium interesselos das fest, was vor ihrer Linse erscheint: The 120-foot-high [Buddha] statue had stood in a field of Buduruvagala for several generations. Half a mile away was the more famous rock wall of Bodhisattvas. In noon heat you walked barefoot and looked up at the [Buddha] figures. This was a region of desperate farming, the nearest village four miles away. So these stone bodies rising out of the earth, their faces high in the sky, often were the only human aspect a farmer would witness in his landscape during the day. They gazed over the stillness, over the buzz-scream of cicadas which were invisible in the parched grass. They brought a permanence to brief lives. After the long darkness of night the rising sun would first colour the heads of the Bodhisattvas and the solitary Buddha, then move down their rock robes until finally, free of forests, it swathed down onto the sand and dry grass and stone, onto the human forms that walked on bare burning feet towards the sacred statues.24

Präsentiert wird hier eine kolossale Buddha-Figur, die aufgrund ihrer Größe hoch über den Menschen und deren Sorgen in einem killing field thront, auf dem Regierungstruppen lange Zeit Regimegegner ermordeten und verscharrten. Nach ihrer Zerstörung wird die Statue vom Handwerker und Künstler Ananda Udugama – Ananda war auch der Name von Buddhas Lieblingsjünger – während der Fruchtbarkeit und Neubeginn symbolisierenden Regenzeit in mühevoller Arbeit wieder zusammengesetzt. Gleich der altägyptischen Göttin Isis, die die zerstreuten Glieder von Osiris einsammelt, um sie wieder zusammenzusetzen, widmet sich Ananda trotz seiner Trauer um seine verschwundene Frau Sirissa, deren toter Körper nie aufgefunden wurde, der Wiederinstandsetzung der Statue. Seine besondere Aufmerksamkeit ist dem in »one hundred chips and splinters of stone«25 gebrochenen Gesicht gewidmet. Ondaatje beschreibt eine Netra-Mangala-Zeremonie, die von dem Künstler durchgeführt und aus dessen Perspektive beschrieben wird. Netra heißt ›Auge‹, und Netra Mangala ist die Zeremonie, während der der Maler eine Statue der Gottheit durch Augenaufmalen zum Leben erweckt. Dabei blickt er, gemäß den traditionellen religiösen Vorschriften, nie direkt auf die gemalten Augen: »He can only see the gaze in the mirror.« Nur auf den Spiegel fällt der direkte Blick der Augen Buddhas, denn »no human eye can meet Buddha’s during the process of creation«.26 Während sein Assistent den Spiegel hält, bemalt der Künstler das Gesicht der Statue, ohne es anzuschauen, indem er den Pinsel über seine eigene Schulter führt: 24 25 26

Ebd., S. 299. Ebd., S. 303. Ebd., S. 99.

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The boy held up the metal mirror so that it reflected the blank stare of the statue. The eyes unformed, unable to see. And until he had eyes – always the last thing painted or sculpted – he was not the Buddha. […] He was working on the second eye, sweating within the brocade costume though it was still just dawn heat. […] Soon, though, there would be the evolving moment when the eyes, reflected in the mirror, would see him, fall on him. The first and last look given to someone so close. After this hour the statue would be able to witness figures only from a great distance.27

Mit der Einführung der Figur des Künstlers Ananda und der ausführlichen Beschreibung der Netra-Mangala-Zeremonie weist Ondaatje darauf hin, dass es Versöhnung und dauerhaften Frieden nur dann geben kann, wenn man – gleich einer Buddha-Figur – die Welt aus Distanz betrachtet. Die Figur eines Buddhas, der abgehoben von Gefühlen ist und gleichzeitig in die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft schaut, ist eine typische Repräsentation des Erleuchteten.28 Die Qualität der Distanz, der Nichtinvolviertheit, macht die Buddha-Statue zu einem Symbol, das für die Überwindung des Leidens und des teuflischen Zyklus von Existenz steht.29 Der Buddha ist aufgrund 27 28

29

Ebd., S. 305f. So zeigen die berühmten Suayamblu Stupas von Katmandu die Augen des Buddhas auf allen vier Seiten der Statue, was die vier Universen symbolisiert und die Tatsache, dass Buddha alles sieht, die Vergangenheit wie die Zukunft. Schafft man eine Distanzierung nicht, dann stecken einen die Dämonen der Vergeltung an: »he knew if he did not remain an artificer he would become a demon. The war around him was to do with demons, spectres of retaliation« (Ondaatje: Anil’s Ghost, S. 304). Während die im Westen ausgebildete Wissenschaftlerin Anil mit ihrem Glauben an die heilende und aufklärerische Kraft der harten Fakten, die sie den körperlichen Überresten der geschundenen Opfer des Bürgerkriegs entnimmt, scheitert – sie trägt Mitschuld daran, dass ihr srilankischer Kollege Sarath von der Regierung ermordet wird –, scheint das Bild des Malers die Sinnlosigkeit der Suche nach Beweisen, harten Fakten und der Wahrheit an sich vor Augen zu führen: »Without the eyes there is not just blindness, there is nothing. There is no existence. The artificer brings to life sight and truth and presence« (Ondaatje: Anil’s Ghost, S. 99). Der indirekte Weg zur Wahrheit, für den die Metapher des Augenaufmalens steht, widerspricht Anils Aufklärungsarbeit und der damit verbundenen gefährlichen Suche nach den harten politischen Fakten. Laut Geetha GanapathyDoré unterstreicht auch Palipina, Saraths alter, blinder Lehrer, den Anil besucht, dass das Glück des Landes nicht die wissenschaftliche Suche nach Wahrheit und die objektiven Fakten der politischen Vergangenheit des Landes wichtig sind, sondern die heilende Kraft der Traditionen: Er erzählt vom Augenaufmalen und vom blinden buddhistischen Mönch und Epigraphisten, der die berühmten Felsengraffitis in Sigiriya entzifferte und sogar einen linguistischen Subtext in Pali entdeckte, der Sprache, in der die Texte des Theravada-Buddhismus zuerst in Sri Lanka niedergeschrieben wurden (1. Jh. n. Chr. auf Palmenblättern), bevor sie sich dann auf das ganze buddhistische Asien ausbreitete (Ondaatje: Anil’s Ghost, S. 81). Vgl. Ge-

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seiner Unbeteiligtheit und Distanz nicht in menschliche Leidenschaften und Leiden verstrickt und kann den verfeindeten Bevölkerungsgruppen in Ondaatjes Roman so den Weg aus der lähmenden Logik der Vergeltung weisen.

3. Raj Kamal Jhas Roman Fireproof In seinem dritten Roman Fireproof (2006) beschäftigt sich der in New Delhi lebende, auf Englisch schreibende Autor und ›Executive Editor‹ der Zeitung Indian Express, Raj Kamal Jha, mit den gewalttätigen ethnischen Ausschreitungen zwischen Hindus und Moslems in seiner indischen Heimat.30 Jhas erzähltechnisch raffinierter, typografisch experimenteller und formal anspruchsvoller Text ist eine Sammlung fiktiver Augenzeugenberichte, die von den Ausbrüchen kollektiver kommunaler Gewalt Zeugnis ablegen, deren nackte Tatsachen, Fakten und Zahlen Jha im Anhang seines Romans wie folgt festhält:

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etha Ganapathy-Doré: »Fathoming Private Woes in a Public Story. A Study of Michael Ondaatje’s Anil’s Ghost«. In: Jouvert. A Journal of Postcolonial Studies 3/2002, 6. http://english.chass.ncsu.edu/jouvert/v613/anil.htm (Stand: 2. 6. 2009). Am 27. Februar 2002 wird ein Zug nahe der indischen Stadt Godhra im Bundesstaat Gujarat gestoppt und angegriffen. Feuer bricht in einem der Wagen aus und greift schnell auf die anderen Wagen über. 59 Passagiere, alle Hindus, können dem Flammeninferno nicht entkommen und sterben einen qualvollen Tod. Der Vorfall wird im Anschluss von der Polizei und diversen Untersuchungskommissionen unterschiedlich beurteilt. Sicher sagen lässt sich lediglich, dass unter den Getöteten mehrere Aktivisten waren, die sich auf dem Rückweg von Ayodhya (im nordindischen Uttar Pradesh) befanden, wo sie sich für den Bau eines Tempels auf dem Areal der 500 Jahre alten Moschee Babri Masjid einsetzten. Diese war 1992 illegalerweise zerstört worden, was zu massiven gewalttätigen Ausschreitungen zwischen Hindus und Moslems geführt hatte, bei denen Hunderte starben. Zehn Jahre später, am 28. Februar 2002, bricht in zahlreichen Städten und Dörfern des Bundesstaat Gujarat eine bislang nicht da gewesene Welle kommunaler Gewalt aus, die sich gegen Moslems wendet. Viele Anzeichen sprechen dafür, dass die Polizei bei den Massakern absichtlich wegsah und bei der Ermordung von über tausend Männern, Frauen und Kindern, von denen über 70 Prozent Moslems waren, nicht einschritt. Zum Zusammenhang von kommunaler Gewalt, Hindu-Nationalismus und der politischen Funktionalisierung von Religion vgl. Shalini Randeria: »Hindu-›Fundamentalismus‹: Zum Verhältnis von Religion, Geschichte und Identität im modernen Indien«. In: Christian Weiss, Tom Weichert, Evelin Hust und Harald Fischer-Tiné (Hrsg.): Religion – Macht – Gewalt. Religiöser ›Fundamentalismus‹ und Hindu-Moslem-Konflikte in Südasien. Frankfurt am Main 1996, S. 26–56; Paul Brass: The Production of Hindu-Muslim Violence in Contemporary India. Seattle, London 2003; sowie Douglas Allen (Hrsg.): Religion and Political Conflict in South Asia. Delhi 1993.

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The numbers, as of June 2006: All figures are government figures, including official intelligence estimates: Total number killed: 784 Muslims, 258 Hindus. Number of houses destroyed: 12,000 Number of shops looted and burnt: 14,000 Number of villages affected: 993 Number of towns affected: 151 Total number of cases filed by the police: 4,252 Cases where charges were framed: 2,019 Cases closed for what the police said was ›lack of evidence‹: 2,032 The Supreme Court of India has played an exemplary role in prodding and pushing the state’s institutions to deliver justice. On its instructions, some cases were shifted out of state to ensure a free and fair trial. And all cases, including those previously closed, have been ordered to be reviewed. Total number of cases reviewed: 1989 Cases re-opened: 1763 Cases where trial is on: 28 Number of cases ending in convictions: 10 The trial in the train-attack case and the Gulbarga massacre are currently on hold pending the Supreme Court’s instructions.31

Hinter den hier genannten Zahlen von Gewaltopfern, die auf faktisch-unpersönliche Weise das Ausmaß der Gewaltausschreitungen festhalten, verbergen sich menschliche Schicksale und Tragödien, deren Einzelheiten die Zahlen jedoch nicht verraten. Das Hauptverdienst von Jhas Roman ist es, diese hinter den Zahlen verborgenen Schicksale sichtbar zu machen, Tätern und Opfern Namen zu geben und ihre individuelle Geschichte zu erzählen. Ganz in der rhetorischen Tradition der Prosopopoiia verleiht Fireproof damit denjenigen eine Stimme, die weder in der Berichterstattung der Tagespresse, des Fernsehens oder der Online-Nachrichten noch in den Diskursen der Historiographie direkt zu Wort kommen: den verstummten Tätern und den toten Opfern, die uns aus den Fußnoten zuflüstern und von ihren gewaltsamen Toden Zeugnis ablegen. Jha führt vor Augen, wo das Potenzial von Literatur im Allgemeinen und von engagierter Literatur im Besonderen liegt: Sie erzählt individuelle Geschichten, die sonst nirgendwo in dieser Form zu lesen sind. Den Lesern erlaubt dies, Standpunkte von Opfern und Tätern einzunehmen, d. h. Erfahrungen zu machen und Welten zu erschließen, die uns ansonsten verschlossen blieben. Theodor W. Adorno hatte bekannterweise Probleme mit engagierter Kunst, die statt künstlerischer Mehrdeutigkeit eindeutige politische Parolen favorisiert und gegen jedes bessere Wissen auf die Souveränität des

31

Jha: Fireproof, S. 386f. (Hervorhebung im Original).

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Subjekts setzt.32 Dieser Gefahr entkommt Jha dadurch, dass er eine multiperspektivische Ästhetik favorisiert, die realistischen Schreibweisen den Rücken kehrt und die beunruhigenden politischen Ereignisse in seinem Heimatland Indien, also die Zunahme von Hindunationalismus und kommunaler Gewalt, konsequent im Rückgriff auf den Diskurs der literarischen Fantastik erzählt, was seinen Plot einer spezifischen empirischen Realität entzieht und ihm quasi-emblematischen Charakter verleiht. Nicht alle Tage trifft man schließlich in politischen Romanen auf Erzähler, die als Tote sprechen, und nicht alle Tage reisen deren Protagonisten in die Unterwelt, um mit den eigenen Opfern und Gräueltaten, und damit den verdrängten Erinnerungen an die eigene Täterrolle und Schuld, konfrontiert zu werden. Genau das geschieht aber dem nicht durchschnittlichen Protagonisten, Herrn Jay, der – wie sich am Ende des Romans herausstellen wird – in einer Gruppe von drei weiteren Männern gefoltert und gemordet hat. Wir erfahren zunächst, dass Herr Jay während einer der kommunalen Gewaltausschreitungen ein neugeborenes Baby mit nach Hause nimmt, das schwere körperliche Deformationen aufweist und von dem er glaubt, dass es sein eigenes Kind ist. Das Baby besteht – einer modernen Fotokamera gleich – nur aus einem Rumpf. Es hat keine Gliedmaßen und ist deshalb unbeweglich. Dafür aber hat es wunderbare Augen, die Herrn Jay aufgeweckt anschauen und nie stillzustehen scheinen. Nicht nur die Fotografie, sondern Visualität und Sehsinn im Allgemeinen spielen in Jhas Roman eine zentrale Rolle, was sich an der den Text prägenden Isotopie sehen ablesen lässt. Überall, aber ganz besonders in den aus E-Mail-Anhängen bestehenden Kapiteln 11, 12 und 13 ist von Auge, sehen, zuschauen, überblicken, von visuellen Medien, Augenzeugen, Bildern, Fokus u. Ä. die Rede; auf Seite 183 kommt alleine das Wort to see zwölf Mal vor. Meine These ist, dass die visuellen Obsessionen des Romans mit der zentralen Rolle von darshan, dem SanskritWort für sehen, in der indischen Kultur und hinduistischen Religion zu tun haben, die auf dem engen Zusammenhang von Sehen und Denken, Bild und Idee beruht. Das Sehen des Göttlichen in einem Bild und der Glaube, vom göttlichen Blick berührt und gesegnet zu werden, sind wichtige Elemente hinduistischer Glaubensausübung: »Not only is seeing a form of ›touching‹, it is a form of knowing. […] Hinduism is an imaginative, an ›image-making‹, religious tradition in which the sacred is seen as present in the visible world.«33 32

33

Theodor W. Adorno: »Engagement«. In: Ders.: Noten zur Literatur. Hrsg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt am Main 1991, S. 409–430, hier S. 410 und S. 416. Diana L. Eck: Darsan. Seeing the Divine Image in India. Chambersburg, PA 1985, S. 9. – Vgl. auch Lawrence A. Babb: »Glancing: Visual Interaction in Hinduism«. In: Jour-

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Indien ist eine visuelle Kultur, in der sich das Göttliche visuell präsentiert. Die Tatsache, dass in Jhas Roman die Augen des deformierten Babys eine so wichtige Rolle spielen, denen – gleich den nie geschlossenen oder blinzelnden Augen der indischen Gottheiten – kein Geschehen auf Erden entgeht, machen die Augen des Kindes nicht nur zum Bild für das Medium Fotografie, sondern auch für göttliches Sehen. Wie sehr die Welt aus den Fugen geraten ist, lässt sich in Jhas Roman daran ablesen, dass Sehen nicht zu visueller Erleuchtung, sondern zu Traumatisierung führt. Bekannterweise hat die Erfindung der Fotografie die zunehmende Präsenz und Wichtigkeit von Bildern in der westlichen Kultur gefördert – Entwicklungen, die laut W. J. T. Mitchell zu einer visuellen Wende geführt haben,34 die Sprache, Schrift und Druckkultur marginalisiert. Diese Untergangsphantasien und Verfallsdiagnosen der Schrift wurden von Marshall McLuhan bereits in den 1960er Jahren unter dem Schlagwort vom Ende der Gutenberg-Galaxie vorhergesagt. Aber nicht nur im 19. Jahrhundert, als die Fotografie erfunden wurde, sondern auch heute lässt sich an der Literatur ablesen, dass die Entwicklung und Verbreitung neuer visueller Medien keineswegs nur apotropäische Gesten der Literatur hervorruft. So wie sich die Autoren des literarischen Realismus von der Fotografie inspirieren ließen,35 bildet auch die Gegenwartsliteratur in ihrer Auseinandersetzung mit visuellen Medien häufig neue ästhetische Formen heraus. Die von der Gegenwartsliteratur unternommenen zahlreichen intermedialen Grenzgänge zwischen Text und Bild sind also keinesfalls Defensivstrategien, sondern bergen Chancen, die der Literatur neue ästhetische Möglichkeiten und Dimensionen eröffnen. Die von Jha in Fireproof verwendeten Pressefotografien, die die Verwüstungen nach gewalttätigen Ausschreitungen im Bundesstaat Gujarat 2002 dokumentarisch festhalten, erlauben es ihm, neue Formen des

34

35

nal of Anthropological Research 1981, 37, S. 387–401. Ich danke Karénina KollmarPaulenz für diese Hinweise und die Gespräche über »Darshan«. Mitchell prägte seinen Begriff des pictorial turn in Analogie zu Richard Rortys Begriff des linguistic turn. Vgl. W. J. T. Mitchell: Picture Theory. Chicago, London 1994, S. 11–34. Paul Valéry beschrieb diesen Einfluss so: »Au moment que la photographie apparut, le genre descriptif commençait d’envahir les Lettres. En vers comme en prose, le décor et les aspects extérieurs de la vie avaient pris une place presque excessive dans les ouvrages.« Als die Fotografie erfunden wurde, zog also die Beschreibung, und mit ihr der Realismus, in die Literatur ein. Aufgrund ihrer mimetischen Akkuratheit wurde die Fotografie nun zum Symbol für die realistische Kunst. Vgl. Paul Valéry: »Discours«. In: Bulletin de la société française de photographie 1939, 3, S. 71–78. Hier zitiert nach Philippe Hamon: La description littéraire. De l’antiquité à Roland Barthes. Une anthologie. Paris 1991, S. 172.

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literarischen Schreibens auszubilden für das, was schwer zu sagen, zu kommunizieren und zu verstehen ist: Schuld, Gewalt, Trauma. Die Pressefotos wurden von Jhas Kollegen beim Indian Express, Javed Raja und Harsh Shah, gemacht.36 Vom ersten der Fotos, welches ein zerstörtes Gebäude zeigt, erscheint ein Ausschnitt, die untere Hälfte, bereits auf Seite 61 des Romans. Der Protagonist findet es in einem Krankenhausbett zwischen Matratze und Kopfstück eingeklemmt und nimmt es an sich, nachdem er zuvor die im Foto dargestellte Szene bereits geträumt hat. Schon hier lässt sich Jhas typisches Umgehen mit dem visuellen Medium Fotografie ablesen: Den Lesern wird neben dem Foto selbst zusätzlich seine ekphrastische Beschreibung geliefert, die das Bild zunächst detailgetreu und objektiv wiederzugeben scheint. Erst langsam merken die Leser, dass die an sie gerichtete und sie explizit einbeziehende Ekphrase des Fotos durch den Protagonisten insofern von der eigenen Wahrnehmung des Fotos abweicht, weil jener Dinge sieht und beschreibt, die die Leser auch nach noch so eingehender Inspektion des Fotos nicht sehen können, wie der Protagonist Jay selbst bestätigt: The photograph shows a pavement. A street in a city, perhaps this city itself because look at the rubble lining it, covering it completely, not even leaving a space for pedestrians to walk. There is a sapling that grows beside the pavement, you can see it in the bottom left-hand corner of the picture, and another a bit to the right, both stunted because their roots are trapped in cement, their leaves breathe in the fumes of petrol, diesel and kerosene of vehicles, their stems are drenched with the spit of strangers. In the foreground, that’s where I would like to draw your attention, in the pile of garbage, are three things lying on the street. Near the top edge of the picture, to the right of the half-way mark, you can see two stones, one on top of the other, the pair looking a bit like a hat dropped onto the pavement. Right in front of this are three things that don’t seem to be visible in the photograph: a book, a wristwatch. And then a piece of cloth, more like a towel, since I could see the threading on the fabric, the curls that give it its furry feel. The book is open, almost halfway. The watch is lying, face down, its strap unfastened, maybe its dial face has broken, maybe it fell. The towel lies inches away from the book and the watch in a tiny crumpled heap.37

Erst am Ende des Romans geht den LeserInnen ein Licht auf: Der Grund, weshalb der Protagonist auf dem Foto mehr sieht als wir, die Erklärung dafür, dass er quasi in das Foto hineinzoomen kann, ist die Funktion des Fotos als Erinnerungshilfe. Es löst in Herrn Jay vage Erinnerungen aus, die er verdrängt haben muss: seine Beteiligung an der Folterung und Ermordung mus36 37

Jha: Fireproof, S. 387. Ebd., S. 62.

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Abb. 1: Javed Raja / Harsh Shah, Pressefoto zu den gewalttätigen Ausschreitungen in Gujarat Ende Februar 2002 für den Indian Express (aus: Jha, Fireproof, S. 171).

limischer MitbürgerInnen. Auf seiner verzweifelten Suche nach Hilfe für das schwer behinderte Kind reist Herr Jay im Roman durch die in Gewalt versinkende Stadt, nachdem er von der mysteriösen Unbekannten Miss Glass in einer E-Mail Anweisungen erhalten hat, wohin er gehen müsse, damit dem Kind geholfen werde könne. Die E-Mail enthält drei Anhänge, Tariq.doc, Shabnam.doc und Abba.doc, die aus der Perspektive dreier muslimischer Kinder von den gewalttätigen Übergriffen von Hindus auf ihre Eltern berichten, die die Übergriffe nicht überleben und vor den Kindern gefoltert und ermordet werden. Da die Kinder selbst traumatisiert sind, stammen die Augenzeugenberichte von drei Objekten: einer Uhr, einem Handtuch und einem Buch. Jedem der drei E-Mail-Anhänge ist eine Schwarz-Weiß-Pressefotografie vorangestellt, die verwüstete Gebäude, Zimmer und Gegenstände zeigen. Das bereits in Teilen abgebildete Foto eines zerstörten Gebäudes (Abb. 1) wird in Kapitel 11, Tariq (The First Attachment), erneut beschrieben; allerdings wird nun sofort klar, dass es sich nicht um eine getreue Ekphrase dessen handelt, was auf dem Foto zu sehen ist: Der Junge, der beschrieben wird, ist nirgendwo zu entdecken. Das Foto übernimmt vielmehr eine andere wichtige narrative Funktion; es dient als Auslöser für das Erzählen von Tariqs

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Geschichte, der Augenzeuge der Vergewaltigung und Ermordung seiner Mutter wurde. Our first eyewitness is a boy. Name is Tariq, he is ten, or, at the most, eleven years old. He wears shorts and a T-shirt although this is February and it is cold, and if you look close enough, you will see his elbows and his knees are bare. The skin covering them is cracked and dry. A boy with not enough clothes in this city – he shouldn’t stand out in any crowd. Still they got to him. That’s his house in the picture. A simple frame. Simpler than the house a child would draw when told to draw a house. Just a long rectangular box, the windows cut out as an afterthought. The house built, as if, not to defy the elements (the rain, the sun, the dank or the chill), but instead to surrender itself to them, its plaster to be streaked, its corners to be shadowed, its walls to be eroded. Unprepared, totally, for fire, for men intending to kill and burn. That’s why the door’s gone, the windows and the ceiling, all shattered into countless pieces scattered inside and out. There are some clouds in the sky but no evidence of smoke, it’s bright, it’s clear.38

Auch Kapitel 12, Shabnam (The Second Attachment), beginnt mit der Ekphrase eines vorangestellten Fotos, auf dem eine ausgebrannte Auto-Rikscha zu sehen ist. Die Beschreibung des Fotos leitet erneut zur Geschichte der Folter und Ermordung, dieses Mal von Shabnams Eltern, über: This is her father’s auto-rickshaw, her father who had been killed, her mother, too. This is a city on fire. And she’s running, she’s running, she’s running, this second eyewitness. Name is Shabnam. Age sixteen, plus or minus one. This daughter this girl this woman this child, in black salwar kameez, her shoes with shoelaces, melting and dropping off, their soles, their straps, their leather, their plastic, their everything. […] And Shabnam isn’t used to running so hard, running so long, Father would have never allowed it. […] She runs past houses, apartment buildings named after Hindu gods and goddesses, the idols painted in cement, garlanded with marigold flowers made of plaster coloured red or orange, gods staring at her saying you are not welcome here, keep running.39

Anders funktioniert die Beziehung zwischen dem Text von Kapitel 13, Abba (The Third Attachment), und dem ihm vorangestellten Foto. Hier liefert der Erzähler keine Ekphrase40 des Fotos von einer verwüsteten Küche; vielmehr fungiert die zerstörte Küche auf dem Foto als Visualisierung des Schau38 39 40

Ebd., S. 171f. Ebd., S. 188f. und S. 194f. Vgl. James A. W. Heffernan: The Museum of Words. The Poetics of Ekphrasis from Homer to Ashbery. Chicago, London 1993, S. 2: Ekphrasis ist die »verbal representation of visual representation«.

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platzes eines weiteren grausamen Übergriffs auf eine junge muslimische schwangere Frau, die in der Küche für sich und ihren Schwiegervater eine Mahlzeit zubereitet, als sich die Mörder Zutritt zum Haus verschaffen. Was das Foto aufgrund seiner statischen Natur nicht zeigen kann, erzählt der Text: Die schwangere Frau wird vergewaltigt, erdrosselt, aufgeschlitzt und schließlich mit der Küche verbrannt. Dass Jha in seinem Roman über kollektive Gewalt, traumatisierte Opfer und Täter Fotografien aufgenommen hat, überrascht nicht, erinnert man sich an Susan Sontags viel zitierte Aussage, jede Fotografie sei »eine Art memento mori«.41 Anders als bei Ondaatje handelt es sich bei Jha um ein memento mori, das über Negativität funktioniert: Die Getöteten sind im Foto gar nicht anwesend, auf sie wird durch die verwüsteten Häuser und Zimmer lediglich indexikalisch verwiesen. Darüber hinaus haben die Fotografien als starre Bilder der Verwüstung gerade aufgrund ihrer medialen Eigenschaften Ähnlichkeiten mit den erstarrten, eingefrorenen Erinnerungsbildern der traumatisierten Kinder, die diese nur schwer werden abstreifen können. In der Vergangenheit wurde wiederholt auf den engen Zusammenhang zwischen Sprache und Trauma hingewiesen. Neuerdings hat Ulrich Baer die strukturelle Verbindung von Fotografie, Trauma und Tod ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. In seinem Buch Spectral Evidence. The Photography of Trauma diskutiert Baer »trauma as the puzzling accurate imprinting on the mind of an overwhelming reality«: The startling effect (and affect) of many photographs, then, results not only from their adherence to conventions of realism and codes of authenticity or to their place in the mental-image repertory largely stocked by the media. It comes as well from photography’s ability to confront the viewer with a moment that had the potential to be experienced but perhaps was not. In viewing such photographs we are witnessing a mechanically recorded instant that was not necessarily registered by the subject’s own consciousness. This possibility that photographs capture unexperienced events creates a striking parallel between the workings of the camera and the structure of traumatic memory.42

Während die Ausbrüche kommunaler Gewalt in Zeitungsartikeln mit dem Anspruch von Objektivität, Neutralität und Faktizität dargestellt werden, ermöglicht es Literatur, mit Fakten fiktional, emotional und subjektiv umzugehen. Die Pressefotografien verlieren in Jhas Roman zwar nicht ihre dokumentarische Funktion, übernehmen aber eine weitere wichtige Aufgabe als narrative Impulse: Sie erlauben den Lesern, sich in die traumatische Welt der 41 42

Sontag: Über Fotografie, S. 21. Ulrich Baer: Spectral Evidence. The Photography of Trauma. Cambridge, MA 2002, S. 8.

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drei Kinder und die gespaltene indische Gesellschaft hineinzubegeben. Die Verwendung des Präsens verleiht den Geschichten einen hohen Grad an Unmittelbarkeit und Aktualität. Dass der Roman für diese Aufgabe das Medium Text mit dem Medium Foto kombiniert und den Diskurs literarischer Fantastik mit dem fotografischen, auf Authentizität setzenden Diskurs der Dokumentation verbindet, eröffnet ihm Möglichkeiten, die anderen engagierten literarischen Texten nicht zur Verfügung stehen. Ekphrastisch-literarische Beschreibungen von Bildern im Allgemeinen und in Jhas und Ondaatjes Romanen im Besonderen leisten einen weiteren großen Dienst: Durch Versprachlichung verlängern sie unsere Betrachtungszeit der Bilder, sie disziplinieren und dehnen unsere Aufmerksamkeit, was hinsichtlich des heutigen, durch technische Medien induzierten Aufmerksamkeitsdefizits und Erinnerungsmangels besonders wichtig ist. Literatur scheint damit – medienanthropologisch gesprochen – auf die Fluten vorgefertigter Bilder und die Konstruktionsleistung von Medien für die menschliche Wahrnehmung zu reagieren. Visualität und visuelle Eindrücke evozierende Beschreibungen spielen in Jhas intermedialer Ästhetik eine wichtige Rolle. Jay David Bolter hat in seinem Aufsatz »Ekphrasis, Virtual Reality, and the Future of Writing«43 mit Blick auf die Zukunft der Schrift die These aufgestellt, dass Bilder den verbalen Text schon heute dominierten, ekphrastische Beschreibungen folglich um ihre Legitimation kämpfen müssten. Jhas Fireproof beweist das Gegenteil, denn ohne Beschreibung und »Beschriftung« blieben die Fotos in Jhas Roman zwar Fotos der Zerstörung, hätten aber keine spezifische zeitlich-räumliche Verortung und keine spezifische Botschaft: Sie blieben »im Ungefähren stecken«.44 In diesem Sinne hat Roland Barthes in seinem Aufsatz »Rhetorik des Bildes« die Notwendigkeit der sprachlichen Zähmung der Polysemie jedes Bildes unterstrichen.45 Jhas Fireproof macht damit auf eine wesentliche Me43

44

45

Jay David Bolter: »Ekphrasis, Virtual Reality, and the Future of Writing«. In: Geoffrey Nunberg (Hrsg.): The Future of the Book. Berkeley, Los Angeles 1996, S. 253–272, hier S. 261 und S. 271. Walter Benjamin: »Kleine Geschichte der Photographie«. In: Ders.: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Frankfurt am Main 1977, S. 45–64, hier S. 64. Roland Barthes: »Rhetorik des Bildes«. In: Ders.: Der entkommende und der stumpfe Sinn. Kritische Essays III. Frankfurt am Main 1990, S. 28–46, hier S. 34f.: Diese Polysemie impliziert »eine unterschwellig in seinen Signifikanten vorhandene ›fluktuierende Kette‹ von Signifikanten, aus denen der Leser manche auswählen und die übrigen ignorieren kann. […] Also entfalten sich in jeder Gesellschaft diverse Techniken zur Fixierung der fluktuierenden Kette der Signifikate, um gegen den Schrecken der ungewissen Zeichen anzukämpfen: Die sprachliche Botschaft

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diendifferenz aufmerksam und führt vor Augen, dass die dem Medium Fotografie zugeschriebene Evidenzfunktion gar nicht von diesem visuellen Medium selbst produziert wird: Es ist das sprachliche Medium, der Text, der den Evidenzeffekt der Fotografien hervortreibt.

4. Schluss Die Funktionen der in Michael Ondaatjes Anil’s Ghost beschriebenen und in Raj Kamal Jhas Fireproof beigegebenen Fotografien reichen von narrativer Arretierung und Impulsgebung über Dokumentationszweck, Evidenz und Evidenzverstärkung, Authentifizierung und visuelle Erkenntnis bis hin zur Ermöglichung von Prozessen des Erinnerns, Verdrängens und Vergessens. Wichtig ist festzuhalten, dass Fotografien diese Funktionen in beiden Romanen in Kollaboration mit dem anderen Medium, dem geschriebenen Text, übernehmen. Die »Beschriftung« erzeugt die dem Medium Fotografie zugeschriebene Funktion von Evidenz und Authentizität und stellt sie als Effekt des Mediums aus. Auch die heutige Fotokritik, die die zentrale Rolle von Text-Bild-Kombinationen betont, ist sich darüber im Klaren: »Authentizität … längst passé. Nun, so die Erwartung, soll sich das Bild mit anderen Medien verschränken, sollen dokumentarische Strategien weit über das Sammeln vorgeblicher Beweise und seelenvoller Porträts hinausgehen.«46 Insbesondere Jhas Roman stellt die Realitäts- und Evidenzfunktionen von Fotografie als Effekte zur Schau, die durch rhetorische Strategien und kulturelle Codes produziert werden. Das Medium Literatur wird damit zum gesellschaftlichen Metamedium, das einen kritischen Blick auf die Rolle der visuellen Medien zu werfen vermag. Literatur zwingt uns so, uns mit unserer Rolle als MedienbenutzerInnen auseinanderzusetzen, und schärft damit unser kritisches Bewusstsein.

46

ist eine dieser Techniken. […] der Text führt den Leser durch die Signifikate des Bildes hindurch, leitet ihn an manchem vorbei und lässt ihn andere rezipieren«. Christoph Ribbat: »In den Betten der Armen. Text, Bild und Dokumentardiskurs seit Bruce Davidsons East 100th Street«. In: Fotogeschichte. Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie 108/2008, 28, Themenheft zu »Licht/Schrift. Intermediale Grenzgänge zwischen Fotografie und Text«, S. 29–37, hier S. 30.

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Minimalisten, Infektionsbiologen, Judith Butler Neue Blicke auf das Leid der anderen

»Leute, die von Tragödien gelangweilt sind, werde ich sowieso nicht erreichen.« (James Nachtwey, Fotojournalist)1

1. Minimalisten Diese Überlegungen begannen im Januar 2009 vor vier schwarzen Quadraten in Berlin-Mitte; in den KunstWerken, jener ehemaligen Margarinefabrik in der Auguststraße, die seit den 1990er Jahren zu den bedeutendsten Kunsträumen des deutschen Sprachraums zählt. Die KunstWerke zeigten die Ausstellung Political/Minimal, kuratiert von Klaus Biesenbach (Museum of Modern Art, New York). Die Schau stellte Künstlerinnen und Künstler vor, die sich zwar der Formensprache des Minimalismus bedienen, aber im Kontrast zu jener »selbstbezogenen« Kunstbewegung der 1960er und 1970er Jahre, so der Ausstellungstext, elementare Formen »mit Geschichten und politischen Fragen nach dem Menschsein, dem Leben und Körper und der Gesellschaft« auflüden.2 Bei den schwarzen Quadraten handelte es sich um eine Installation des chilenischen Künstlers Alfredo Jaar mit dem Titel »Unseen (100 Days in 1994)«. Sie bestand aus Dia-Leuchtkästen, 103 cm x 103 cm groß, 14 cm tief. Die Rückseite der Kästen zeigte zum Betrachter, die Vorderseite an die Wand. Die vier Behälter hingen so eng nebeneinander, dass nur durch wenige Millimeter breite Fugen Licht nach hinten ausströmte und so ein Kreuz formte. Der begleitende Ausstellungstext erst spezifizierte die historische Referenz des Werks. Er berichtete von Alfredo Jaars Aufenthalt in Ruanda, unmittelbar nach dem Genozid von 1994. Die dort entstandenen Fotografien befanden sich auf der Vorderseite der Leuchtkästen, den Blicken des Besuchers entzogen. Jaars Werk vollzog so eine Geste der Verweigerung von Repräsentation. 1

2

Deike Diening, James Nachtwey: »Ich habe mich nie kugelsicher gefühlt«. In: Tagesspiegel, 31. Mai 2009, S. 1f. KW Institute for Contemporary Art, »Political/Minimal« [Ausstellungsinformation].

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Es lohnt sich, darüber nachzudenken, warum dieser Akt der Bildverweigerung interessant sein sollte. Warum sollten wir den Künstler bzw. den Kurator dafür bewundern, keine Bilder auszustellen, statt Bilder auszustellen? Wäre es nicht viel lohnender, diese Bilder tatsächlich zu sehen? Kenner werden einwerfen, dass es sich bei Alfredo Jaars Auseinandersetzung mit den Ereignissen in Ruanda um eine vielschichtige, nicht bloß verweigernde Verarbeitung der Möglichkeiten und Aporien fotografischer Darstellung handelt, dokumentiert etwa in seinem Künstlerbuch Let There Be Light und nur unzureichend repräsentiert durch die vier quadratischen Kisten in der Auguststraße.3 Andere werden auf die Grenzen der Repräsentation verweisen, an die ein Genozid führen muss – ein Problem, das den Fokus dieses Essays überschreitet.4 Kritische Fragen lohnen sich hier dennoch. Und die folgenden Bemerkungen werden aufzeigen, wie die Evidenzkraft fotografischer Darstellungen des Leidens anderer in jeweils unterschiedlichen interpretativen Gemeinschaften jeweils anders gelesen wird. Ein abschließender Teil stellt anhand von neueren Texten Judith Butlers eine vermittelnde Position zwischen diesen interpretativen Gemeinschaften vor. Ganz aufzulösen sind die Widersprüche jedoch nicht. Um diese Überlegungen zu pointieren, sollten wir uns einen Besucher der Ausstellung in den KunstWerken vorstellen, der (wie dieser Autor) aufgrund von Bildungslücken und/oder Informationsüberfluss im Moment seines Rundgangs über kein Hintergrundwissen zu Alfredo Jaars Arbeiten verfügte. Zur genaueren Beschreibung taugt hier das journalistische Präsens: Der Besucher steht vor den herumgedrehten Leuchtkästen, und alles, was er weiß, ist, dass diese Kästen Bilder aus Ruanda zeigen könnten, es aber nicht tun, weil es hier, im Kontext dieser Ausstellung – KunstWerke, Auguststraße, Berlin-Mitte – als nicht opportun, nicht intellektuell bzw. konzeptuell sauber erscheint, sie zu zeigen. So betrachtet er die schwarzen Quadrate und das Licht, das durch die Fugen fällt, und er nimmt, während er so schaut, einen leichten, aber nicht zu ignorierenden süßlichen Geruch wahr, einen Geruch nach Verwesung oder Fäulnis, der mit diesen schwarzen Quadraten auf eine 3

4

David Levi Strauss: »A Sea of Griefs is not a Proscenium. The Rwanda Projects of Alfredo Jaar«. In: Ders.: Between the Eyes. Essays on Photography and Politics. New York 2005, S. 79–105; Alfredo Jaar: Let There Be Light. The Rwanda Project 1994–1998. Barcelona 1998. Vgl. zur Diskussion um Holocaust und bildliche Darstellung: George Didi-Huberman: Bilder trotz allem. München 2007; zur hier ebenso relevanten Diskussion um den Minimalismus vgl. u. a. Michael Fried: Art and Objecthood. Essays and Reviews. Chicago 1998.

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schreckliche und intellektuell überhaupt nicht saubere Art zu korrespondieren scheint. Er ist verwirrt, meint zu halluzinieren, stellt aber fest, dass der Geruch echt ist und nicht von vorn kommt, aus der Richtung von Jaars Quadraten, sondern von links. Es riecht tatsächlich. Das, was riecht, ist Damien Hirsts Arbeit »Har Meggido«, ebenfalls eine elementare Form, eine kreisrunde Scheibe, ebenfalls schwarz. Der Besucher nähert sich »Har Meggido« bis auf wenige Zentimeter und stellt fest: Der Geruch stammt entweder von den Abertausenden von toten Fliegen, die über die gesamte Oberfläche dieser schwarzen Scheibe geklebt sind, oder von dem Lack, der diese toten Fliegen auf der Scheibe fixiert. Von dem süßlichen Geruch vertrieben begegnet der Besucher dann noch der Skulptur »Begräbnis«, für die die Künstlerin Teresa Margolies einen zu früh und tot geborenen Fötus in eine Betonform eingelassen hat. Es bleibt undeutlich, wie genau Tausende toter Fliegen und ein echter Fötus im Beton die »politischen Fragen nach dem Menschsein« angehen, wie es der Ausstellungstext verspricht. Klar ist aber, dass der dokumentierenden Fotografie hier definitiv nicht vertraut wird. Warum dieser Verzicht auf die Bilder, warum diese Distanz zu den Ritualen, mit denen Bilder Evidenz herstellen? Im Katalog zur Ausstellung beruft sich Jenny Schlenzka auf den Gewährsmann Gilles Deleuze und seinen Hinweis, dass das Charakteristikum der »modernen Zeit« darin bestehe, »dass wir nicht mehr an diese Welt glauben« und »sogar nicht mehr an die Ereignisse, die uns widerfahren, an Liebe und Tod«. Das »Band zwischen Welt und Mensch« sei »zerrissen«.5 Die Arbeit Jaars betrachtet Schlenzka als positiv widersprüchlich, zwischen der Notwendigkeit der »Darstellung und Zeugenschaft von Tragödien« und der »Unmöglichkeit der Repräsentation eines Ereignisses, das alle Vorstellungskraft übersteigt«. Wieder dient ihr ein französischer Philosoph als Gewährsmann, nun Lyotard, der dieses Paradox als zentral für die zeitgenössische Kunst sieht und den Künstler vom Journalisten dadurch unterscheidet, »dass er sich immer wieder mit der Frage auseinandersetzt, was es bedeutet, ein Bild zu machen«.6 Hier besteht die größtmögliche Distanz zu einer fotojournalistischen Begleitung von humanitären,

5

6

Jenny Schlenzka: »Mehr als man sieht«. In: Klaus Biesenbach (Hrsg.): Political/Minimal. Nürnberg 2008, S. 17–40, hier S. 18. Ebd., S. 30. Die Autorin bleibt allerdings skizzenhaft, indem sie etwa Hirsts Fliegenbildern (andere tragen Titel wie »Aids«, »Genocide«, »Holocaust«) attestiert, sie wiesen »schnell über ein Hier und Jetzt hinaus« (26), allerdings nicht deutlich macht, zu welchem Ergebnis dieses Hinausweisen führt, es sei denn, zu dem Gedanken, dass in Völkermorden Menschen wie Fliegen stürben, was ebenso fürchterlich wie banal wie überflüssig wäre.

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politischen und sozialen Krisen, die mit Wahrheitsanspruch und großen Emotionen ihre Bilderserien erzählt. Nichts daran ist verwerflich, natürlich nicht. Sicher ist aber, dass die Infragestellung fotografischer Evidenz in unterschiedlichen Interpretationsgemeinschaften komplett unterschiedlich erfolgt. Auch die Unterscheidung zwischen Kunst (›spielt mit Evidenz‹) und Journalismus (›glaubt an Evidenz‹) ist hier zu einfach, weil auch sie in unterschiedlichen Kontexten sehr breit variiert. Tatsächlich ist es weniger eine intellektuelle Errungenschaft als vielmehr ein Statusmerkmal der Intellektuellen und Kunstinteressierten, jeden Authentizitätsanspruch von Fotografien (oder auch von nichtfiktionalen Texten wie Autobiografien und anderen Lebensbeichten) in Frage zu stellen. Der Ursprung liegt hierfür in den 1960er und 1970er Jahren, als sich die Rede und Praxis von der Dokumentarfotografie-als-Kunst zu etablieren begann, womit eine Trennlinie gezogen wurde zwischen dem vermeintlich platten Fotojournalismus (an der Realität orientiert und folglich nicht Kunst) und einer neu definierten Dokumentarfotografie (ambivalent zum Realitätspotenzial und folglich Kunst).7 Je solider und avancierter die geisteswissenschaftliche Bildung, desto weniger Interesse für die wahren Geschichten, die wahren Bilder unserer Zeit: Zahllose Veröffentlichungen, Seminare und Symposien, Ausstellungen und Vorträge haben den Authentizitätsanspruch diverser Genres, Medien und Kunstformen seit Jahrzehnten auseinandergenommen, bis schon allein das Wort »Authentizitätsanspruch« nur noch ein müdes Lächeln provoziert. Kanonische Texte wie Roland Barthes’ Die helle Kammer erkunden zwar ein anderes Verhältnis zum Bild, Auseinandersetzungen mit Barthes’ »ekstatische[r] Umarmung der Beweiskraft der Fotografie« (John Tagg)8 verbleiben jedoch meist in einer essayistisch-philosophischen Denksphäre und werden kaum auf den Zugang zu Fotojournalismus und Dokumentarfotografie übertragen. Die Theorie und Kritik des Dokumentarischen rückt stattdessen die foucauldianische Kritik am Beobachtungsakt in den Vordergrund, bringt Macht und Auge symbolisch zusammen und überführt so den die Dinge ›für sich sprechen‹ lassenden Blick als naiv und verknüpft mit subtilen Mechanismen sozialer Kontrolle und Ausbeutung.9 Reportagefotografie behaupte »immer noch die Wahrheit der Welt«, bemerkt 7

8

9

Vgl. hierzu: Martin Parr, Gerry Badger: The Photobook. A History, Volume I. London 2004, S. 119. John Tagg: »Der Zeichenstift der Geschichte«. In: Hubertus von Amelunxen (Hrsg.): Theorie der Fotografie IV – 1980–1995. München 2000, S. 297–322. Vgl. etwa: Derrick Price: »Surveyors and Surveyed. Photography Out and About«. In: Liz Wells (Hrsg.): Photography. A Critical Introduction. London, New York 2000, S. 65–115, hier S. 95f.

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Urs Stahel in einem Essay, und damit sei auch klar, dass sie »insgesamt an stilistischer und gedanklicher Erschöpfung« leide.10 Eine von solchen Betrachtern als innovativ und konzeptuell überzeugend wahrgenommene dokumentarische Praxis stellt die Kraft des Bildes immer wieder in Frage11 – und endet dann, möglicherweise, bei vier Leuchtkästen, die die Bilder verbergen, statt sie zu zeigen. Visuelle Evidenz bzw. Authentizität kritisch zu hinterfragen ist so zu einem Distinktionsmerkmal geworden, ganz im Sinne Bourdieus. Der schreibt in einem anderen Kontext, dass die gelehrte Ästhetik alles Leichte ablehne, ja sich ekle, weil »seine Entzifferung mühelos geschieht, von der Bildung her wenig kostet« und »unmittelbar zugängliche und deshalb als ›infantil‹ oder ›primitiv‹ verschriene Freuden bietet«.12 Dies lässt sich problemlos ausweiten auf die nun als viel zu einfach verschrienen wahren Geschichten, wahren Bilder, die Freuden bieten, Leiden darstellen und ebenfalls scheinbar mühelos zu entziffern sind. Realistische fotografische Darstellung erscheint in gewissen Kreisen als eine fast tumbe Geste. Der kanadische Künstler Jeff Wall etwa spricht davon, dass das »Vertrauen auf unmittelbare Spontaneität« in der journalistischen Fotografie den Bildgehalt »verwässer[e]« und das »Niveau« senke, auf dem sich die »ständig wirksame Dialektik zwischen Schein und Sein abspielt«.13 Im Katalog seiner New Yorker Ausstellung Archive Fever beobachtet Okwui Enwezor eine Degeneration der Fotografie in den Massenmedien, ihre »Banalisierung in der populären Kultur« und einen die Fotografie umgebenden »Kult der Sentimentalität«. Die von ihm ausgewählten Kunstwerke dagegen, avancierte Meta-Dokumente und spielerische Textualisierungen von Realitätszitaten, seien »profunde Reflexionen der historischen Verhältnisse«.14 Die vielleicht prominentesten Texte in dieser Bewegung weg vom naiven Bild stammen von Susan Sontag, die sowohl in On 10 11

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Urs Stahel: Ja, was ist sie denn, die Fotografie? Zürich 2003, S. 41. So etwa: Tom Holert: »The Apparition of the Documentary«. In: Fritz Giersberg (Hrsg.): Documentary Now! Contemporary Strategies in Photography, Film, and the Visual Arts. Rotterdam 2005, S. 150–170. Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt am Main 2008, S. 757. Vgl. Bourdieu u. a.: Eine illegitime Kunst. Die sozialen Gebrauchsweisen der Photographie. Frankfurt am Main 1981. Zitiert in: Julia Hillgärtner: »Show and Tell – Die and Talk. Aspekte der Kriegsberichterstattung in einer Arbeit von Jeff Wall«. In: Barbara Korte, Horst Tonn (Hrsg.): Kriegskorrespondenten. Deutungsinstanzen in der Mediengesellschaft. Wiesbaden 2007, S. 359–373, hier S. 362. Okwui Enwezor: »Archive Fever. Photography between History and the Monument«. In: Ders.: Archive Fever. Uses of the Document in Contemporary Art. New York 2008, S. 11–51, hier S. 46.

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Photography als auch in Regarding the Pain of Others ein profundes Misstrauen gegenüber der fotografischen Bildwelt entwickelte. Sontag betont die voyeuristische Dimension des fotografischen Akts, die unüberbrückbare Distanz zwischen Leidenden und westlichem Publikum, die Apathie der Beobachter. »We don’t get it«, resümiert Sontag. »We truly can’t imagine what it was like.«15 Diese Festschreibung der Unkommunizierbarkeit von Kriegserfahrungen und menschlichem Elend bestätigt Alfredo Jaars Geste. Vielleicht ist der beste Platz für diese Bilder tatsächlich dort, wo wir sie nicht sehen, nur erahnen?

2. Infektionsbiologen Ein knappes halbes Jahr ist seit dem Besuch in den KunstWerken vergangen. Wir befinden uns nur rund einen Kilometer von der Auguststraße entfernt, im Max-Planck-Institut für Infektionsbiologie, auf dem Campus des Berliner Großkrankenhauses Charité. Das Institut, sonst kein Ausstellungsraum, zeigt Bilder des prominenten Kriegsfotografen James Nachtwey unter dem Titel Struggle for Life, unglücklich mit Ein Kampf für Leben übersetzt. Im Foyer des Forschungszentrums riecht es nicht nach toten Fliegen oder dem Lack, der tote Fliegen fixiert, sondern nach Mensa. Es klappert Geschirr und Besteck. Hier stärken sich Molekular- und Infektionsbiologen. In schroffem Kontrast zeigen ein paar Meter weiter James Nachtweys Fotografien die ausgemergelten Opfer von AIDS und durch AIDS ausgelöster Tuberkulose in Ländern wie Thailand, Kambodscha, Südafrika. Es sind dramatische Schwarzweißfotografien verfallender menschlicher Körper. Die Kamera hält auf die Knochen, die sich durch die Haut der Lebenden abzeichnet, nimmt Leichen ins Bild, zeigt aber immer wieder auch Gesten der Pflege, der Zärtlichkeit. Hauptfigur des ersten Ausstellungsteils ist Pater Michael Bassano, genannt Father Mike, ein katholischer Missionar in einem thailändischen AIDS-Hospital. Die Reihe öffnet mit einer Szene, in der Father Mike die Füße eines Aids-Patienten wäscht. Zwar hat der korrekt gescheitelte ältere Priester wenig von einer Christusfigur. Dennoch ist die religiöse Dimension dieser Bilderserie nicht zu übersehen. Immer wieder erscheinen Fotografien von Betenden, von religiösen Ritualen, teils katholischen, teils buddhistischen. Nachtwey geht es darum, sowohl die Leiden der Opfer zu zeigen als auch die Antriebskraft für das Handeln ihrer Helfer, ihre Motivation, ihr Wertesystem. 15

Susan Sontag: Regarding the Pain of Others. New York 2003, S. 125.

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Doch diese Bilder haben noch eine weitere Funktion. Indem Nachtwey den unerschütterlichen Glauben in den Mittelpunkt setzt, fordert er auch unseren Glauben an diese Bilder ein. Im Gegensatz zu den neueren dokumentarischen Praktiken der Gegenwartskunst, im Gegensatz zu minimalistisch-politischen Experimenten, handelt es sich bei dieser Ausstellung nicht um ein Spiel mit Fakt und Fiktion oder den Grenzen der Darstellbarkeit. Im Gegenteil: Alle künstlerischen Nuancen werden eingesetzt, um die realistische Darstellungskraft zu unterstreichen, um die Evidenz der Bilder stärker und immer stärker zu machen. Wir sollen diesen Bildern glauben, so wie Father Mike an seinen Gott glaubt und wie die Patienten an die Wirksamkeit der ihnen dargebotenen medizinischen Mittel.16 Jedoch: Kein Bild erreicht uns ohne Kontext – und auch hier, im MaxPlanck-Institut, begleiten diverse Textelemente Nachtweys Fotografien. Buchstäblich auf der Rückseite der Father-Mike-Serie, sichtbar erst, wenn der Besucher etwas umständlich um die Ausstellungswand herumgeht, wird deutlich, in welchem Zusammenhang diese scheinbar eigenständigen Menschenstudien erscheinen. Die bilderlose Wand präsentiert u. a. die Sponsoren der Ausstellung: die Max-Planck-Gesellschaft, eine Organisation namens Tuberculosis Vaccine Initiative (TBVI),17 Bayer Health Care und Bayer Schering Pharma. Der Immunologe Stefan Kaufmann schreibt in einem Kurztext an dieser Wand, dass »Kunst und Wissenschaft« in dieser Schau »eine eindrucksvolle Allianz« bildeten. Nachtweys Bilder würden wachrütteln und an die »humanitäre Verantwortung der Gesellschaft« appellieren. An diesem Ausstellungsort, im MPI, versuche die Wissenschaft, »einen Beitrag für eine bessere medizinische Versorgung zu leisten«. Kunst und Wissenschaft, so Kaufman, »reichen sich die Hände, um einen Unterschied zu bewirken«.18 Der kritische Betrachter, geschult in Ideologiekritik und Cultural Studies, findet hier natürlich eine ganze Reihe von Ansatzpunkten, die Nachtweys 16

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Synekdochisch zeigt ein Bild Nachtweys eine mumifizierte Leiche, aufgestellt in einem Sterbehospiz für AIDS-Kranke, und Father Mike sowie eine Figur in einem Rollstuhl im Gebet vor dieser Leiche. Im Ausstellungstext erfahren wir, dass einer der Patienten seine »Leiche dem Hospiz überlassen« habe, »damit sie zum Zwecke der Aidsaufklärung ausgestellt wird«. So erscheint das Bild pars pro toto für das gesamte Projekt, das schließlich ebenso Körper ausstellt, und zwar mit einem Realismus, der komplett unvermittelt sein will und seinen Betrachtern die Präsenz des leidenden Körpers aufzwingt, um sie zum Glauben (an die Bilder, an die Notwendigkeit humanitärer Hilfe) zu bringen. Die TBVI, das ergibt das Beiblatt der Ausstellung, ist ein Verbund zwischen Forschungseinrichtungen und pharmazeutischen Unternehmen. Wandtext [Struggle for Life, 2009].

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Projekt und die Schau im Max-Planck-Institut in Frage stellen. Dass sich hier »Kunst« und »Wissenschaft« tatsächlich gleichberechtigt die Hände reichen, kann nicht recht überzeugen. Nachtweys Bilder, so könnte ein polemischer Betrachter argumentieren, werden eher für den Zweck eingesetzt, einem Zusammenschluss von pharmazeutischen Unternehmen und Forschungseinrichtungen PR-Material zur Verfügung zu stellen. Im Beiblatt der Ausstellung spricht Nachtwey über seine Angst, dass er »vom Elend anderer profitieren könnte« – »tagtäglich« mache er sich Sorgen, dass er seine »Seele verkaufen würde, wenn ich jemals Karriere und Geld Herr werden ließe über mein Mitgefühl«.19 In den »Hintergrundinformationen« der Ausstellung allerdings werden kommerzielle Interessen sehr wohl sichtbar, etwa wenn der Vorstandsvorsitzende von Bayer Schering Pharma ebenso zu Wort kommt wie der Global Health Director der BD Becton Dickinson GmbH. Hier wird die fotografische Ausstellung über die Leiden der anderen auf unsere Welt bezogen – mit dem dramatischen Verweis: »Bürgerinnen und Bürger der EU sind zunehmend von Tuberkulose bedroht«, mit den Ausrufen: »Tuberkulose ist gegenwärtig eine der gefährlichsten gesundheitlichen Zeitbomben! Lösung: Neue und bessere Diagnosemethoden, Behandlungsmethoden und insbesondere Impfstoffe werden benötigt!«20 Selbst wenn man eine Diskussion über den potenziellen Voyeurismus, Exotizismus und auch Christozentrismus dieser Bilder vermeiden würde, wäre dennoch zu fragen, inwieweit diese Fotografien nur Werkzeug einer kommerziellen Strategie sind und die hier aus größter Nähe dargestellten Menschen nur austauschbare Figuren im Werbefeldzug von Bayer Schering, BD und diversen anderen Unternehmen. Die Heroisierung des James Nachtwey, des wohl prominentesten Kriegsfotografen unserer Zeit,21 heroisiert die beteiligten Pharmaziekonzerne gleich mit, macht zudem noch den Betrachter zum Helden, da die Intensität der Darstellung das Betrachten selbst zu einer dramatischen Handlung macht. Man könnte wie folgt argumentieren: Effekt dieser Dreifachheroisierung von Fotograf, Förderern und Betrachtern ist eine Entheroisierung der passiven Opfer und eine Mehrfachlegitimierung der Fotografien, deren Evidenz allein aus moralischen Gründen nun scheinbar nicht mehr hinterfragt werden darf – und nur von den Besuchern problematisiert wird, die sich den Bildern mit einer geistes19 20 21

»Hintergrundinformationen« [Struggle for Life, 2009]. »Hintergrundinformationen«. Vgl. zum inszenierten Kriegsreporter: Barbara Korte: »Dargestellte Kriegsdarsteller. Typisierungen des Kriegsreporters in Roman und Film des 21. Jahrhunderts«. In: Dies., Tonn (Hrsg.): Kriegskorrespondenten, S. 197–214.

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wissenschaftlichen Biografie nähern und gelernt haben, insbesondere den Bildern zu misstrauen, die als besonders selbstverständliche, harte Wahrheiten daherkommen. Während der Katalogtext zu Political/Minimal die Werke in französischer poststrukturalistischer Theorie verankert, stellt im Fall der Nachtwey-Schau ein Text der amerikanischen Immunologin Anne Goldfeld die Genese und Legitimation dieser Fotografien dar. Sie eröffnet ihren Text mit einer Beschreibung eines Sterbehospizes am Stadtrand von Phnom Penh, wo eine junge Witwe mit kahlrasiertem Kopf liegt, ausgemergelt mit fortgeschrittenem AIDS. Ihre kleine Tochter hat sie zur Adoption freigegeben. Nun bleibt ihr nur noch ein Foto. Goldberg schreibt: »When Jim Nachtwey and I found her in 2003, she was lying in bed staring at a snapshot of her baby girl, and waiting to die.«22 Aus dieser Momentbeobachtung leitet Goldfeld die Motivation des Projekts ab. Sie geht konsequent davon aus, dass die Sichtbarmachung dieser gefährdeten Leben etwas verändern könnte: It seemed to me that if people could only see with their own eyes the decimated young people, or the infected babies who knew nothing but fever and pain their short months on earth, the humanitarian agenda just might be shifted. And with this in mind, I approached Jim Nachtwey about a collaborative project on TB and AIDS in Asia and Africa. If we could make visible what was invisible, maybe things would change.

Im Folgenden beschreibt Goldfeld die Arbeitsweise Jim Nachtweys, seinen Zugang in die Intimität der Menschen, den emotionalen Kontext, in dem sein fotografisches Arbeiten den Kranken selbst als seine Wendung zum Besseren, als Signal der Hoffnung erscheine. Goldfeld beschreibt die Arbeit vor Ort, den Gang von Krankenbett zu Krankenbett, die Details des Schmerzes, der Krankheit, der Desintegration menschlicher Körper: An keiner Stelle geht es in ihrem Text um etwaige Probleme mit fotografischer Evidenz, mit dem Bezug zwischen diesen Fotografien und der Realität der Patienten, oder mit den problematischen Verbreitungskontexten von Bildern. Goldfelds Text setzt auf die Kraft der Menschen, den Schmerz eines anderen zu teilen: »Engaging that unique human ability to share the pain of another begins the process of repair.«23

22 23

Anne Goldfeld: »Struggle For Life« [Ausstellungstext, O.S]. Goldfeld: »Struggle For Life«.

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3. Judith Butler Die hier dargestellten Extreme scheinen recht unversöhnlich, denn es gibt keine mittlere Position. Entweder man glaubt den Bildern, oder man glaubt ihnen nicht. Entweder man glaubt, wie Anne Goldfeld, an die Möglichkeit, durch die Bilder den Schmerz des anderen zu teilen, oder man hält dies für eine fruchtlose Geste. Wenn man den Bildern nicht glaubt, verabschiedet man sich aus der journalistischen und dokumentarischen Tradition etwa in den Bereich des Minimalismus, indem es nur noch subtile Gesten sind, die auf die Realitäten der Menschen verweisen. Glaubt man den Bildern, nimmt man die gesammelten Vorwürfe zu Nachtweys Bildern im Max-Planck-Institut für Infektionsbiologie als scholastische Einwände auf, die gegenüber dem Leid der dargestellten Menschen als reine Spielerei erscheinen. Hier muss man sich also entscheiden, so scheint es, zwischen dem Glauben an die Kraft des Theoretisierens und dem Glauben an die Kraft der Bilder. Ein ›bisschen‹ visuelle Evidenz kann es, so gedacht, nicht geben. Neuere Texte der amerikanischen Philosophin Judith Butler ermöglichen jedoch möglicherweise eine andere Perspektive auf diese zwei extremen Positionen: eine Perspektive, die sich weniger am konzeptuellen und intellektuellen Purismus orientiert und genauso wenig am simplen humanistischen Realismus, sondern eher an dem, was Fotografien eigentlich erreichen, wenn sie präsent sind oder nicht präsent, betrachtet werden oder unsichtbar bleiben. In ihrem Essay Precarious Life etwa diskutiert Butler die Wirksamkeit von Reportagefotografien im Kontext von Emmanuel Levinas’ Konzept vom »Gesicht des Anderen«. Dieses Gesicht, so Butler, erreicht das Selbst »von außerhalb« und unterbricht den »narzißtischen Zirkel«.24 Es ist die »Vokalisierung von Trauer und Qual«, die Butler via Levinas im Gesicht des anderen sieht, das »Gefühl für die Gefährdetheit des Lebens«.25 Butler hält die »Forderung nach einem wahrhaftigeren Bild, nach mehr Bildern, nach Bildern, die den ganzen Schrecken und die Wirklichkeit des Leidens übermitteln«, für »wichtig und angebracht«, weil die »Tilgung dieses Leidens durch das Verbot von Bildern und Darstellungen« die »Sphäre des Erscheinens« eingrenze, also »den Bereich dessen, was wir sehen und was wir wissen können«. Zwar sei es nicht möglich, von den Bildern simplistisch Wirklichkeitsdarstellung zu erwarten. Dennoch insistiert Butler auf der Bedeutung von Bildern menschlichen Leids, bezieht sich auf die Fotografien aus dem Viet24

25

Judith Butler: »Gefährdetes Leben«. In: Dies.: Gefährdetes Leben. Politische Essays. Frankfurt am Main 2005, S. 154–178, hier S. 164. Im Original: Judith Butler: Precarious Life. The Powers of Mourning and Violence. London, New York 2004. Ebd., S. 169.

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namkrieg, die zivile Opfer, insbesondere Kinder zeigten und die »die amerikanische Öffentlichkeit schockierten, empörten, zu einem Gefühl der Reue und Trauer bewegten«.26 Hier liegt für sie das Verhältnis: Die Bilder lieferten zwar eine Realität, aber sie zeigten auch eine Realität, die das hegemoniale Feld der Darstellung selbst zerstörte. Trotz ihrer drastischen Wirksamkeit wiesen die Bilder auf etwas anderes hin, wiesen über sich selbst hinaus auf ein Leben und auf eine Gefährdetheit, die sie nicht zeigen konnten. Und aus dieser Erkenntnis der Gefährdetheit jener Menschenleben, die von uns zerstört wurden, entwickelten viele US-Bürger einen wichtigen und dauerhaften Konsens gegen den Krieg.27

Aus diesen historischen Beobachtungen, die der Fotografie eine zwar ambivalente, aber eben doch signifikante, wirkungsmächtige Rolle im politischen Prozess zubilligen, ergibt sich für Judith Butler die Frage nach der Rolle der Bilder in der Gegenwart, nach einer »ethischen Empörung, die sich unverkennbar für den Anderen, im Namen eines Anderen einsetzt«. Diese Empörung habe direkt mit den »derzeitigen Bedingungen der Darstellung« zu tun, mit den Bildern, die wir sehen: »Man müsste hören, wie das Gesicht anderes als in einer Sprache spricht, um die Gefährdetheit des Lebens zu erkennen, um die es geht.« Und Butler fragt, welche Medien uns »diese Zerbrechlichkeit wissen und fühlen lassen«,28 welche Medien »uns zum Menschlichen zurück[führen], wo wir nicht erwarten, es zu finden: in seiner Fragilität und an den Grenzen seiner Fähigkeit, verständlich zu sein«.29 Es wäre intellektuell unlauter, aus diesem Essay Butlers eine Apologie des vermeintlich konventionellen Fotojournalismus zu entwickeln. Die Philosophin versteht es, ihr eigenes Verhältnis zu diesen fotografischen Darstellungen menschlichen Leids zu verkomplizieren – und die Wirkung von Fotografien in der Öffentlichkeit als vielschichtigen Prozess darzustellen. Dennoch spricht Butlers Essay recht eindeutig von der Notwendigkeit einer wirksamen visuellen Darstellung des anderen. Ihr Text befasst sich eben nicht, wie so viele andere Auseinandersetzungen, mit dem endlos komplizierten Verhältnis der Fotografie zur Realität. Stattdessen wird die Funktion von Fotografie für eine globalisierte öffentliche Wahrnehmung analysiert, für eine durch Sprache und Bilder konstituierte Sozialität. Dass dieser Ansatz auch eine Abkehr von dem insbesondere durch Susan Sontag formulierten Misstrauen gegenüber fotografischen Darstellungen 26 27 28 29

Ebd., S. 177. Ebd. Ebd. Ebd., S. 178.

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des Leidens anderer bedeutet, wird in einem 2009 erschienenen Essay Butlers deutlich. In Torture and the Ethics of Photography setzt sich die Philosophin mit den Folter-Fotografien aus Abu Ghraib auseinander und befasst sich kritisch mit Sontags Thesen. Die Studie Regarding the Pain of Others, so argumentiert Butler, misstraue im Grundton den Bildern. So kulminierten Sontags Argumente etwa in einer Eloge auf Jeff Walls inszeniertes Kunstwerk »Dead Troops Talk« und damit in einem »museum piece«, abseits der »politischen Anforderungen des Krieges«, räumlich und zeitlich distanziert.30 Butler argumentiert für eine stärkere Auseinandersetzung mit den öffentlich zugänglichen Fotografien von menschlichem Leid und argumentiert, wie zentral und eng Fotografien verbunden sind mit der »grievability«, der Betrauerbarkeit von menschlichem Leben.31 Gegen dieses Misstrauen und diese Distanz setzt Butler ihr eigenes Interesse an den medial verbreiteten Bildern des Leids und der Folter. Diese erschienen zwar immer in den »frames of war«, den per se verfälschenden, choreographierenden Rahmungen öffentlicher Darstellung. Aber – so ließe sich Butler vereinfachend pointieren – immerhin werden diese Bilder sichtbar, immerhin zeigen sie das gefährdete Leben, das es zu betrauern bzw. zu beschützen gilt. »Wir müssen uns fragen«, so fordert sie in der Einleitung zu ihrem jüngsten Buch, »welche Bedingungen es möglich machen, ein Leben oder mehrere Leben als gefährdet wahrzunehmen und welche Bedingungen dies weniger möglich oder tatsächlich unmöglich machen.«32 Statt wie Sontag die grundsätzliche Apathie des Publikums und die per se korrumpierende Wirkung medialer Dispositive anzunehmen, setzt Butler auf einen theoretisch reflektierten Aktivismus, der trotz aller Bedenken und trotz aller Sprach- und Bildkritik in den Bildern vom »Gesicht des Anderen« affektive Anstöße findet, die politisches Handeln und Sprechen motivieren. Butlers Texte beschreiben ein Aushalten des fotografischen Paradoxes: Die Bilder vermitteln zwar nicht Wirklichkeit, kommunizieren aber dennoch das wirkliche Leid des anderen. Diese nuancierte Lektüre kann möglicherweise vermitteln zwischen einer interpretativen Gemeinschaft, die sich, wie James Nachtwey und die Infektionsbiologen, mit ›naivem‹ Realitätsverständnis an Begriffen von Machbarkeit, medizinischem Fortschritt und humanitärer Hilfe orientiert (und sie symbolisch mit dem Aufruf zur Unterstützung 30

31 32

Judith Butler: »Torture and the Ethics of Photography«. In: Dies.: Frames of War. When Is Life Grievable? London, New York 2009 (Übersetzung im Text vom Verfasser), S. 63–100, hier S. 99. Ebd., S. 13. Ebd., S. 2.

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von Hilfsprogrammen und pharmazeutischer Innovation verknüpft), und der interpretativen Gemeinschaft einer intensiv theoretisierenden Kunstszene (nennen wir die KunstWerke in der Auguststraße), die Bilderlösungen auf der Basis poststrukturalistischer Denkstrategien einfordert. Das eine Lager sieht nur die Bilder, das andere nur die »frames of war«. Butler fordert dazu auf, beides in den Blick zu nehmen.

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Sabina Becker, Prof. Dr., ist Professorin für Neuere Deutsche Literaturgeschichte an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Studium der Fächer Soziologie, Neuere Deutsche Literaturwissenschaft, Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft sowie Hispanistik an der Universität des Saarlandes. 1992 Promotion über Urbanität und Moderne. Studien zur Großstadtwahrnehmung in der deutschen Literatur 1900–1930. 1998 Habilitation über die Neue Sachlichkeit (2000). Weitere Arbeitsschwerpunkte sind Bürgerlicher Realismus. Literatur und Kultur im bürgerlichen Zeitalter 1848–1900 (2003), Literaturund Kulturtheorie (Literatur- und Kulturwissenschaften. Ihre Theorien und Methoden (2007), Exilliteratur, Alfred Döblins Poetik und Literatur im Jahrhundert des Auges: Realismus und Fotografie im bürgerlichen Zeitalter (2010). Roswitha Böhm, Dr., ist Wissenschaftliche Assistentin am FrankreichZentrum der Freien Universität Berlin. 2002 Promotion mit einer Studie zu den Feenmärchen der Marie-Catherine d’Aulnoy. Arbeitsschwerpunkte: Französische Literatur und Kultur des 17. Jahrhunderts, französische und spanische Gegenwartsliteratur, Literaturgeschichte und Kanon, Gender Studies, Kulturtransfer, Medien und Gedächtnis. Habilitationsprojekt: »Auf Spurensuche – Erinnerte Zeitgeschichte im europäischen Gegenwartsroman«. Bücher: Wunderbares Erzählen. Die Feenmärchen der Marie-Catherine d’Aulnoy (2003); als Mitherausgeberin: Französische Frauen der Frühen Neuzeit. Dichterinnen, Malerinnen, Mäzeninnen (1999, 2008); Siècle classique et cinéma contemporain (2009); Observatoire de l’extrême contemporain. Studien zur französischsprachigen Gegenwartsliteratur (2009); Du silence à la voix. Studien zum Werk der Cécile Wajsbrot (2010). Dorothee Birke, Dr., ist seit April 2008 Junior Fellow des Freiburg Institute for Advanced Studies (FRIAS) an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Studium der Anglistik und Germanistik in Freiburg und am Trinity College Dublin. Promotion zum zeitgenössischen englischen Roman im November 2007 an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Habilitationsprojekt zu Repräsentationen des Lesens in der englischen Literatur ab dem 18. Jahrhundert. Veröffentlichungen: Memory’s Fragile Power: Crises of Memory, Identity and Narrative in Contemporary British Novels (2008) sowie Artikel im Bereich der Narratologie, Erinnerungsforschung und englischer Gegenwartsliteratur.

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Michael Butter, Dr., ist seit April 2008 Junior Fellow am FRIAS. 1997–2003 Studium in Freiburg und Norwich; 2003–2007 Promotion in Amerikanistik in Bonn und Yale über The Epitome of Evil: Hitler in American Fiction, 1939–2002; 01/2007–03/2008 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Nordamerikastudienprogramm in Bonn. Veröffentlichungen zur amerikanischen und deutschen Literatur, zu Film und Populärkultur. Ralf Georg Czapla, PD Dr., ist seit August 2010 an der Forschungsstelle Europa Humanistica der Heidelberger Akademie der Wissenschaften tätig. Studium der Germanistik, Komparatistik und Latinistik in Bonn. Promotion 1992 mit einer Arbeit über Mythenrezeption bei Arno Schmidt, Habilitation 2008 mit einer Arbeit zum Bibelepos in der Frühen Neuzeit. Seit 2001 freier Mitarbeiter bei verschiedenen Fotozeitschriften (u. a. Akt & Foto, Fine Art Foto). 2008 Publikumspreis für das Foto Vergnügen an der Geschichte beim Fotowettbewerb Lesen, Bücher und Bibliotheken der Hessischen Landesbibliothek Wiesbaden. Seit 2009 steht er der Rückert-Gesellschaft vor. Weitere Forschungsschwerpunkte sind u. a. deutsch-italienische Literaturbeziehungen seit der Renaissance, Literatur im intermedialen Dialog (Fotografie, Malerei, Film, Comic, Tanz, Architektur), Literatur der Weimarer Republik. Letzte Veröffentlichungen: Die verewigte Stadt. Rom in der deutschsprachigen Literatur nach 1945. Hrsg. von Ralf Georg Czapla und Anna Fattori (2008) [mit eigenen Fotografien]; Friedrich Rückert und die Romdichtung des 19. Jahrhunderts. Hrsg. von Ralf Georg Czapla (2009). Andrea Gnam, PD Dr., lehrt als Privatdozentin für Neuere Deutsche Literatur an der Humboldt-Universität (Berlin), publizistische Tätigkeit zur Kunst, Fotografie und Literatur für Neue Zürcher Zeitung, Süddeutsche, mare, camera austria, DU, Deutschlandfunk, SWR II. Sie ist Mitglied der Deutschen Fotografischen Akademie. Buchpublikation u. a.: »Sei meine Geliebte, Bild!« Die literarische Rezeption der Medien seit der Romantik (2004). Weitere Informationen auf: www.andrea-gnam.de. Sabine Haupt, Prof. Dr., ist Titularprofessorin, Privatdozentin sowie Lehrund Forschungsrätin am Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der zweisprachigen Universität Freiburg (CH). Studium der Germanistik, Philosophie und Theaterwissenschaft in München und Genf. Seit 1987 Dozentin an den Universitäten Genf, Lausanne und Freiburg; Gastprofessuren in Bern und Basel; mehrjährige Forschungsbeiträge des

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Schweizerischen Nationalfonds (1996–1999 und 2001–2005). Zahlreiche Publikationen zur europäischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, zur Poetik der Romantik, zur Schweizer Moderne, zum Verhältnis von Literatur und optischen Medien bzw. Naturwissenschaften (Physik, Geologie, Neurologie); außerdem Arbeiten für Presse, Rundfunk und Fernsehen. Publikationsverzeichnis unter: www.unifr.ch/lettres/complit Martin Hermann ist Promovend an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. In seiner Dissertation arbeitet er zum Thema »Apokalyptische Erzählungen in Großbritannien«. Er studierte Englisch und Wissenschaftliche Politik in Freiburg. Seine Abschlussarbeit schrieb er zu Eltern-Kind-Beziehungen in den Filmen von David Lynch. Weitere Veröffentlichungen zu unnatürlichem Erzählen und osteuropäischer Identität im irischen Film. Barbara Korte, Prof. Dr., ist Professorin für anglistische Literaturwissenschaft an der Universität Freiburg. Publikationen der letzten Jahre u. a.: Bidding for the Mainstream? Black and Asian Film in Britain since the 1990s (2004); Der Erste Weltkrieg und die Mediendiskurse der Erinnerung in Großbritannien (2005); Represented Reporters. Images of War Correspondents in Memoirs and Fiction (2009); als (Mit-)Herausgeberin: The Penguin Book of First World War Stories (2007); Britische Literatur in der DDR (2008); Journal for the Study of British Cultures: Themenheft »Censorship in Britain« (2008); Multiethnic Britain 2000 (2009); Facing the East in the West (2010). Susanne Knaller, Prof. Dr., ist Professorin für Romanistik und Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Karl-Franzens-Universität Graz. Forschungsschwerpunkte: Geschichte und Theorie des Begriffs Authentizität, Kategorien und Typologien in den Kulturwissenschaften, Italienische Literatur 13.–20. Jahrhundert, Realitätskonzepte der Moderne. Publikationen der letzten Jahre: Zeitgenössische Allegorien – Literatur, Kunst, Theorie (2003). Ein Wort aus der Fremde. Geschichte und Theorie des Begriffs Authentizität (2007). Als (Mit-)Herausgeberin: Authentizität. Diskussion eines ästhetischen Begriffs (2006) (zus. mit Harro Müller), Realitätskonstruktionen in der zeitgenössischen Kultur. Beiträge zu Literatur, Kunst, Fotografie, Film und zum Alltagsleben (2008). Robert Krause, Dr., ist Akademischer Mitarbeiter am Deutschen Seminar der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Studium der Germanistik, Philosophie und Geschichte in Freiburg, Sevilla (Spanien) sowie in Straßburg;

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2009 Abschluss einer Promotion über das Thema Lebensgeschichten nach ›dunklen Zeiten‹. Autobiographien deutschsprachiger emigrierter SchriftstellerInnen als Beispiel literarischer Akkulturation nach 1933 (München 2010). Forschungsarbeiten und Veröffentlichungen zur Literatur der Moderne (Musil, Döblin, Rilke) und des Exils, zur Kultur- und Literaturtheorie und zur Diskursanalyse. Publikationen u. a.: Abstraktion – Krise – Wahnsinn. Die Ordnung der Diskurse in Robert Musils Roman »Der Mann ohne Eigenschaften« (2008), als (Mit-)Herausgeber: »Tatsachenphantasie«: Alfred Döblins Poetik des Wissens im Kontext der Moderne (2008). Franz Leithold, Dr., seit 1991 Fachreferent für Film- und Theaterwissenschaften, Slavistik und Audiovisuelle Medien, seit 2000 zudem Leiter des Dezernats Neue Medien und des New Media Center der UB Freiburg. Studium der Slavistik und Germanistik; Promotion 1989 mit Studien zu A.P. Cˇechovs Drama »Die Möwe«. 1989–1991 Ausbildung für den wissenschaftlichen Bibliotheksdienst; 2001 Verleihung des Landeslehrpreises für das Multimediaprogramm Literatur und Film – Effi Briest. Zahlreiche Lehrveranstaltungen zu Filmgeschichte, Filmästhetik und Filmpraxis; Produktion von Imagefilmen für die Universität sowie des Jubiläumsfilms 14:57. Seit 2005 ehrenamtlich Vorsitzender des Kommunalen Kinos Freiburg. Rolf G. Renner, Prof. Dr., ist Professor für Neuere deutsche Literatur an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und Vorsitzender des FrankreichZentrums, zugleich Profesor honorario der Universidad de Guadalajara (Mexiko). Er hatte zahlreiche Gastprofessuren in Europa, den USA, Südamerika, Australien und Neuseeland. Seine Hauptgebiete in Forschung und Lehre sind die Literatur des 20. Jahrhunderts, Literaturtheorie, Medientheorie und Literaturverfilmung. Er verfasste Monographien über Georg Lukács (1978), Peter Handke (1985), Thomas Mann (1985,1989) und über Postmoderne (1988), Edward Hopper (1988) und Marcel Proust (1994). Herausgegeben hat er vier Anthologien zur europäischen Geistesgeschichte (1991/92, 2007), ein Lexikon literaturtheoretischer Werke (1994), eine kommentierte Anthologie zu Texten gegenwärtiger Literaturtheorie (1995, 2008) und eine Anthologie deutscher Erzählungen des 20. Jahrhunderts (2004). Er verfasste mehr als achtzig Artikel in Fachzeitschriften und Sammelpublikationen. Christoph Ribbat, Prof. Dr., ist Professor für Amerikanistik an der Universität Paderborn. Seine Forschungsschwerpunkte sind die zeitgenössische amerikanische Literatur, die Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts und die

Beiträgerinnen und Beiträger

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Geschichte der Fotografie. Publikationen u. a.: Blickkontakt. Zur Beziehungsgeschichte amerikanischer Literatur und Fotografie (2003), Twenty-First Century Fiction. Readings, Essays, Conversations (Hrsg., 2005) und Mit den Dingen leben. Zur Geschichte der Alltagsgegenstände (Hrsg. mit Anke Ortlepp, 2009). Gabriele Rippl, Prof. Dr., ist Professorin für ›Literatures in English‹ an der Universität Bern. Studium der Anglistik, Amerikanistik und Germanistik in Konstanz und Bristol. Buchpublikationen: Lebenstexte (1998) und Beschreibungskunst (2005; über intermediale Beziehungen zwischen Text und Bild und die Kunst der Beschreibung in der angloamerikanischen Literatur seit dem späten 19. Jahrhundert). Aktuelle Forschungsinteressen sind Intermedialität, britisch-indische Gegenwartsliteratur, Trauma und Literatur sowie Antikenkonstruktion in anglophonen Literaturen des 20. und 21. Jahrhunderts. Monika Schmitz-Emans, Prof. Dr., ist Professorin für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum. Arbeitsthemen und Veröffentlichungen: zur allgemeinen Literaturtheorie und Poetik, zu Werk und Poetik einzelner Autoren, zu Beziehungen zwischen Literatur und Philosophie, Literatur und bildender Kunst, Literatur und Musik. Publikationen u. a.: Das visuelle Gedächtnis der Literatur. Allgemeine Überlegungen zur Beziehung zwischen Texten und Bildern (1999). Die Literatur, die Bilder und das Unsichtbare. Spielformen literarischer Bildinterpretation vom 18. bis zum 20. Jahrhundert (1999). Eckart Voigts-Virchow, Prof. Dr., Professor für Anglistik/Literaturwissenschaft an der Universität Siegen. Forschungsschwerpunkte: zeitgenössisches britisches Drama und Theater; viktorianischer und post-viktorianischer Roman, heritage culture und Literaturadaption, Literatur und Medien, Film- und Fernsehnarratologie. Ausgewählte Schriften: »In yer Victorian face – A Subcultural Hermeneutics of Neovictorianism«, LIT: Literature Interpretation Theory 20.1 (2009); »›Crazy Neighbourhoods‹. Urbanization, Urban Spaces and Experiences«. In Renate Brosch (Hrsg.): Victorian Visual Culture a&e 71 (2008); »Heritage and Literature on Screen. Heimat and Heritage«, Cambridge Companion to Literature on Screen, hrsg. Deborah Cartmell, Imelda Whelehan (2007); Introduction to Media Studies (2005); als Herausgeber Janespotting and Beyond. British Heritage Retrovisions since the Mid-1990s (2005); im Advisory Board der Zeitschriften Adaptation (OUP) und Adaptation in Film and Performance (Intellect).

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Personenregister

Personenregister

Adorno, Theodor W. 259 f. Agee, James (Let Us Now Praise Famous Men) 13 f. Antonioni, Michelangelo 17, 33, 43, 198, 204 f., 220 Arago, François 101 Aragon, Louis 144 Assmann, Aleida 164, 168 Auerbach, Erich 9, 133 Auster, Paul 75 Balzac, Honoré de 9, 46–50, 133 Barthes, Roland (Roland Barthes par Roland Barthes, La chambre claire) 2, 4, 5, 16, 75–95, 124, 128 f., 145 f., 159, 183–187, 199 f., 234, 240 f., 250 f., 266, 271 Baudelaire, Charles 52, 144 f. Benjamin, Walter 2, 11, 14, 25, 28, 36, 54 f., 75, 133, 144, 146, 174, 203 Berger, John 234, 236–238 Boltanski, Christian (La vie impossible) 34, 75, 192–197 Bourke-White, Margaret 249 Breton, André 144f. Butler, Judith (Precarious Life) 16, 268–280 Calle, Sophie (Douleur exquise) 75–95 Condillac, Étienne Bonnot de 42 Delaroche, Paul 198 Deleuze, Gilles 76, 199, 203, 208, 270 Diderot, Denis 41 f., 45 Duras, Marguerite 75 Eichendorff, Joseph von (Das Marmorbild ) 42 Elsässer, Thomas 58 Ernaux, Annie 124 Evans, Walker 14

Faber, Michael (The Crimson Petal and the White) 233, 236–240 Flaubert, Gustave 8 Flusser, Vilém 129, 137 f. Frank, Robert 75, 88 Freud, Sigmund 46, 116, 147, 199 George, Stefan 101 Gliese, Rochus 67 Goldin, Nan 75, 89 Guibert, Hervé 75 Hawthorne, Nathaniel (The House of the Seven Gables ) 10, 46, 50, 215, 220 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (Phänomenologie des Geistes ) 126 f., 134–138, 140 Henisch, Peter (Die kleine Figur meines Vaters ) 187–189, 196 f. Herder, Johann Gottfried 42–44 Hitchcock, Alfred (s. auch Rear Window ) 17, 220 Hoffmann, E.T.A. 46, 51, 110 Jaar, Alfredo 268–270, 273 Jha, Raj Kamal (Fireproof ) 249 f., 258–267 Kafka, Franz 199–201 Kittler, Friedrich 214, 241 Kolloff, Eduard 52 Kracauer, Siegfried 55, 66, 181 Lacan, Jacques 199, 207 f., 210 Lang, Fritz 59, 60 f., 66 Lavater, Johann Caspar 277 Lessing, Gotthold Ephraim 40 f. Levinas, Emmanuel 77 Lubitsch, Ernst 58 Mach, Ernst 8 Mac Orlan, Pierre 28–31, 33 Maron, Monika (Pawels Briefe) 186f., 196f.

288 McLuhan, Marshall 222, 261 Méliès, Georges 19 Menasse, Robert (Trilogie der Entgeisterung ) 124–140 Modiano, Patrick (Dora Bruder ) 147–152, 156–161 Moholy-Nagy, László 13 f., 57 Mulvey, Laura 221 Murnau, Friedrich Wilhelm 59 Musil, Robert 200, 284 Nachtwey, James 16, 268, 273–277, 279 Niépce, Joseph Nicéphore 143 Nolan, Christopher 164–179 Norris, Frank (McTeague) 12 Ondaatje, Michael (Anil’s Ghost ) 249 f., 252–258, 265–267 Proust, Marcel 2, 83, 186, 200–204, 207, 284 Ricoeur, Paul 80 f. Riis, Jacob 3 Rosenthal, Olivia (Mes petites communautés) 147, 149–156, 161–163 Roth, Gerhard 34 f., 38 Ruiz, Raoul 203 Ruskin, John 5 f. Ruttmann, Walter 67, 69 Salinger, Jerome David 98 f., 102 Sander, August 31, 57

Schlegel, August Wilhelm 41 Schmidt, Arno 96–123 Sebald, W. G. (Austerlitz, Die Ausgewanderten) 34, 124, 145, 189–192, 196 f., 202–204, 206 Seurat, Georges 131 Signac, Paul 131 Simmel, Georg 67 Simon, Taryn 34 Singh, Khushwant (Train to Pakistan) 249 f. Siodmak, Robert 67 Solomon-Godeau, Abigail 236, 238 Sontag, Susan 2–5, 13–16, 124, 133, 164, 169, 171 f., 175, 199, 220, 234, 236–238, 241, 250 f., 265, 272 f., 278 f. Sternfeld, Joel 34 Stiegler, Bernd 1, 9, 19, 180, 214, 225, 229 f., 241 Stieglitz, Alfred 29 f. Szeemann, Harald 33 Talbot, William Henry Fox 4, 11, 27, 33, 37 f., 52, 75, 78 f., 143 f., 244 Töpffer, Rodolphe 52 Ulmer, Edgar G. 67 Wall, Jeff 33, 272, 279 Wenders, Wim 25 f., 69 Zille, Heinrich 3

Sach- und Titelregister

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Sach- und Titelregister

Abbildung 2, 6, 9, 18 f., 53, 57 f., 78, 80, 95, 97, 99, 102, 128 f., 131, 140, 146, 160, 225–227, 229, 236–238, Album 35, 83, 158, 190 f. analog 9, 29, 77, 98, 139, 173, 199, 219, 229 f. Animation (des Bildes) 35, 39–53 Archiv 3, 19, 26, 81, 98, 146, 149, 180, 193, 215, 255 Arretierung 11 f., 139, 267 Aufzeichnung 15, 77–79, 88, 167, 181, 225, 242, 254, 256 Authentizität 15, 20, 47, 77, 81, 120, 149, 157, 161, 188, 230 Autobiografie 15, 75–95, 271 Berlin. Die Sinfonie der Großstadt 67 Beschriftung 14, 17, 26 f., 29–31, 34, 55, 168, 174–177, 266 f. Beweisführung 4, 76, 206 Beweiskraft 17, 29, 179, 271 Blow-Up 17, 33, 35, 204, 220, 222, 225 Buffy the Vampire Slayer 213 Butch Cassidy and the Sundance Kid 18 f. Camera obscura 6 f., 54, 198 Collage 44 f., 193, 195 Darkness 213 Dichterbildnis 99–103 Die Austernprinzessin 58 digital 1 f., 4, 30, 96 f., 99, 173, 190, 219, 229 f., 252 Diorama 7, 254 Dispositiv, mediales 279 Dokumentarfotografie 15, 18, 78, 88, 128, 147, 188, 200, 204, 261, 265, 267, 271 f., 274, 277 Dr. Mabuse, der Spieler 59 f. Duotone 98 Daguerreotypie 5, 7 f., 11, 52, 59, 198, 215, 220

Ekphrase 250, 262–264 Erinnerung 3, 11, 15–17, 19, 28, 34, 66, 80, 85, 87, 100, 102, 124, 146–149, 151, 153, 157 f., 160–162, 180, 198–211, 244, 247, 250, 254, 260, 262, 265 Erinnerungsmedium 164–179, 236, 242 Erster Weltkrieg 19 f., 55 Erzählung 17, 19, 35, 75, 79, 81, 87 f., 91, 124, 132, 172, 182, 210, 220, 248 Ethik 2, 15–17, 133, 182, 227, 278 Ethos 14 Evidenz 1–24, 29, 32, 52, 76, 78–80, 82, 139, 144, 179, 183, 185, 197, 229, 232–248, 250 f., 254 f., 267, 269–272, 274–277 Familienfoto 19, 156, 161, 187, 192, 201 Farbe 46, 48, 98, 131, 167, 194, 209, 245 Fight Club 205 Fiktion 25–38 Fotoalbum 35, 83, 158, 190 f. Foto als Zeuge 6, 36, 54, 82, 87, 149, 156 f., 188–191, 195 f., 249–267, 270 Foto-Buch 14, 57, 183, 186, 197 Fotografie als Speichermedium 164, 212, 215, 229, 242 Fotografie im Film 164–179 Fotografie und Schrift 7, 26, 34, 36 f., 66, 74–95, 106, 143, 145, 164–179, 183, 194, 248, 261, 266 freeze frame 58 Gedächtnis 15, 17, 28, 85, 99, 101, 105, 143–164, 166–169, 172–174, 177, 179–181, 189 f., 254 f., 281 Gedächtnismedium (s. auch Erinnerungsmedium) 172, 179, 254 f.

290 Geisterfotografie (s. auch spirit photography ) 19 f., 216–219, 241–247 Geschichte/Historie 3, 25 f., 37, 75, 79–81, 93, 98, 110, 134 f., 138, 147–149, 151, 181 f., 190, 197, 233, 264 Glaubwürdigkeit 5, 176, 179 Guckkasten 54, 80, 203 Horrorfilm 20, 212–230 Index 26, 77 f., 81, 87, 91, 159, 220, 229, 239 f., 242, 251, 255, 265 Intermedialität/intermedial 2, 14, 21, 39, 48, 71, 75, 81, 85, 88, 91, 162, 203, 249, 254, 261, 266 Kriegsfotografie 16 f., 19, 30, 55, 188, 203, 273, 275 Kurzgeschichte 13 Laterna magica 39, 52, 54, 203 f. Laokoon 40 Lyrik 14 male gaze 221, 248 Matrix 53 Medientheorie 6, 29, 39–53, 220, 222 Medienumbruch 1, 20, 235 Memento 17, 164–179 Memento mori 16, 265 Menschen am Sonntag 67–69 Moderne (s. auch Postmoderne) 3, 6, 10–14, 19, 21, 80, 88, 126, 131, 140, 198–211, 235, 270 Moment 4, 11–13, 15–19, 26, 29, 43, 88, 125, 130–134, 140, 146, 181, 184, 189, 201, 240, 276 Momentfotografie 125, 130, 134, 140, 189 f., 214 Montage 13, 57, 107, 144 f., 241 Multimedialität 88 Narration s. Erzählung Neoimpressionismus 131 neoviktorianischer Roman 10, 232–248 Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens 59,66,68

Sach- und Titelregister Objektivität 4, 15–17, 20, 52, 55f, 97, 161, 230, 247, 265 Optisierung 7 Original 2, 135, 154, 238 Panorama 6 f., 9–11 Photographing Fairies 19 f. Physiognomik 9, 31 f., 100 pictorial turn 248 poème en prose 13 Polaroid 164–179, 218 f., 221 f. Pornographie 105, 234–240, 243, 246, 248 Porträtfotografie 201, 240–242, 244, 246 Postmoderne 21, 125 f., 135–137, 179, 284 Präsenz 4, 6 f., 75, 88, 125 f., 146, 160, 184, 193, 213, 218, 221, 235, 239, 243, 251, 261 Pressefotografie 55, 96–123, 189, 249 f., 261–263, 265 Prosaskizze 13 punctum (vs. studium ) 146, 160, 185, 187, 200 Pygmalion-Motiv 39, 53, 240 Realismus 2, 4–12, 19 f., 36, 43, 53, 56, 66, 76–78, 80–82, 87 f., 93, 125, 128–130, 133, 147 f., 154 f., 162–164, 169, 181, 184, 195, 203 f., 207–209, 213–216, 219, 224–226, 229 f., 239–241, 243, 246, 251, 254, 260 f., 265, 267, 271 f., 274, 276–279 Realitätseffekt (effet de réel ) 145, 239 Rear Window (Das Fenster zum Hof ) 17 f., 220 Reproduktion 2, 4, 93, 98, 101 f., 138, 145, 198 Romantik 6, 9, 11, 30, 39–53, 105, 155 Salpêtrière 228, 245 f. Schwarz-Weiß 29, 68, 98, 167, 209, 224, 254, 263, 273 Scream 213 Sehsucht 7

Sach- und Titelregister Shutter 214, 216–223, 226, 230 Spione 61, 63, 66 spirit photography 19, 217, 241–247 Spiritismus 19, 234–236, 241–248 Standbild 58, 65, 67, 69 f., 139, 225 Stereoskopie 52, 106, 203 studium (vs. punctum ) 199 Stummfilm 54–71, 220 Tatort 25–38 Text-Bild-Beziehung 79, 197, 267 The Omen 213 The Ring 214, 222–230 The Shining 213 The Sixth Sense 213 Tod 19, 52, 87, 146, 176 f., 183–187, 190–92, 94, 99, 213, 222, 240, 259, 265, 270 Trauma 15, 19, 249–267, 285 trauma novel 249–267 Under Fire 17 ut pictura poesis 8, 40

291 Vergänglichkeit 15, 17, 69, 146, 192 f., 199 Vergessen 180–197 Voyeur/-ismus 17, 25–29, 50, 238, 273, 275 Wirklichkeit/Realität 2–4, 8, 10, 15, 18 f., 25 f., 56 f., 76–78, 81, 129, 131, 145 f., 172, 181, 189, 197, 205, 207, 210 f., 225 f., 229 f., 236, 238 f., 252, 278 Wissen 1–6, 8, 15, 20, 77, 86, 108, 135–137, 160, 167, 187, 193, 228, 245, 277 f., 284 Zeit 3, 5 f., 11–13, 16, 18 f., 27, 36, 40 f., 45, 56 f., 60, 69, 74–95, 98, 102, 110, 137, 139, 144, 146, 161, 172, 173, 186, 188–190, 192, 195, 199 f., 202, 207, 209 f., 239, 247, 266, 279 Zeugenschaft (s. auch Fotografie als Zeuge) 6, 36, 82, 87, 149, 151, 157, 189, 196, 249–267, 270