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German Pages [99] Year 2020
9. Jahrgang 2 | 2020 | ISSN 2192-1202 | € 20,–
faden Leid
FA C H M A G A Z I N F Ü R K R I S E N , L E I D , T R A U E R
VERTRAUEN
die tragende Kraft
Friederike Westerhaus Neues wagen – Vertrauen
in Zeiten des Umbruchs Diana Staudacher Vertrauen als soziale Energie – Aspekte einer vertrauensbasierten Humanität Thomas Geldmacher Vertrauensverlust nach Trennungen Andreas Heller Frieden mit dem Tod schließen: Vertrauenshaltung oder Planungsmodus?
EDITION LEIDFADEN – NEUE BÄNDE
Nicole Friederichsen | Stefan Springfeld Fundraising in der Hospiz- und Trauerarbeit – ein Praxisbuch 2020. 119 Seiten, mit 22 Abb. und Download-Material, kartoniert € 17,00 D | € 18,00 A ISBN 978-3-525-40689-2 eBook: € 13,99 D | € 14,40 A
Für das Fundraising im Trauerbereich bietet dieses Buch handfeste Unterstützung: Mit einem Praxischeck ist zunächst schnell zu erkennen, was in einer Organisation gut läuft, aber vor allem auch, was noch besser werden könnte. Die Autoren präsentieren eine Menge praktischer Ideen für Veranstaltungen und Kampagnen, die schnell und einfach umsetzbar sind, auch unter Nutzung des dazugehörigen DownloadMaterials.
Marianne Bevier | Christoph Bevier Selig sind die Trauernden Trauer in der Seelsorge 2020. 135 Seiten, kartoniert € 17,00 D | € 18,00 A ISBN 978-3-525-40690-8 eBook: € 13,99 D | € 14,40 A
Die Autoren geben eine biblische und theologische Grundlegung in Seelsorge und eine psychologische Grundlegung in Trauer. In Kapiteln zu Bestattung, Weisheit und Resilienz, Ritualen, Schuld in der Trauer und Hoffnungs- und Trostbildern werden Aspekte von Trauerseelsorge nahegebracht. Eines der Hauptanliegen dieses Buches ist, seelsorgliche Kompetenzen für die Trauerseelsorge zu vermitteln und zu ermutigen, den Transzendenz- und Gottesbezug in die Beziehung einzubringen.
Urs Münch Anhaltende Trauer Wenn Verluste auf Dauer zur Belastung werden Mit einem Vorwort von H. Müller. 2020. 119 Seiten, mit 22 Abb. und Download-Material, kartoniert € 17,00 D | € 18,00 A ISBN 978-3-525-40691-5 eBook: € 13,99 D | € 14,40 A
Die international kontrovers diskutierte, mit der ICD-11 auf uns zukommende Diagnose der »Anhaltenden Trauerstörung« will für betroffene Menschen eine verbesserte Versorgung schaffen. Eine solche Diagnose bringt aber auch Ängste vor einer Pathologisierung von Trauer mit sich. Umso mehr braucht es Wissen, das hilft, die Betroffenen in ihrer Beeinträchtigung erkennen zu können, ihnen Würde wahrend zu begegnen sowie sie angemessen zu unterstützen.
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EDITORIAL
Liebe Leserinnen und Leser, unsere Gesellschaft erlebt in diesen Tagen und Wochen eine Krise, die einzigartig in der Geschichte der Menschheit ist. Unser bisheriges Leben ist unterbrochen. Scheinbar Unmögliches ist auf einmal möglich geworden. Unvorstellbares ist Wirklichkeit. Die Situation führt uns mit höchster Deutlichkeit vor Augen, wie verwundbar und wie erschütterbar wir sind. Auch unser Vertrauen ist erschüttert. In dieser Zeit größter Unsicherheit und Ungewissheit erscheint dieses LeidfadenHeft zum Thema »Vertrauen«. »Vertrauen ist eine Erfahrung, die es Menschen erlaubt, sich auf Unsicherheit einzulassen«.1 Ein Mensch, der vertrauen kann, hat die Kraft, mit Ungewissheit zu leben. Vertrauen ermöglicht, sich Anderem, Unbekanntem und Fremden gegenüber zu öffnen, ohne sich dadurch in der eigenen Sicherheit gefährdet zu fühlen. Die Fähigkeit, zu vertrauen, führt dazu, sich mit negativer Wirklichkeit konfrontieren zu können. Verlust, Leiden, Schmerz lassen sich annehmen, ohne dass die Persönlichkeitsstruktur zu zerbrechen droht. Wer Vertrauen hat, kann mit Ambivalenzen leben. Krisen- und Leidenssituationen sind oft mit dem Verlust des Welt- und Selbstvertrauens verbunden. Bisherige haltgebende Muster erweisen sich als nicht mehr stark genug, um mit der aktuellen Lebenssituation umgehen zu können. Dadurch ist die psychische Integrität fundamental bedroht. Wie kann es dann gelingen, Vertrauen wiederaufzubauen? Die Fähigkeit des Vertrauens beruht auf frühesten Erfahrungen in der sozialen Umwelt. Die Qualität eines sorgenden, tragenden und empathischen Bindungserlebens entscheidet darüber, ob Menschen vertrauen können oder nicht.
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Vertrauen ist also eine zutiefst soziale Kraft. Sie ermöglicht, sich dem anderen Menschen und der Welt zu öffnen, statt vorwiegend selbstzentriert zu leben. Somit eröffnet Vertrauen die prosozia le Dimension des menschlichen Lebens. Die Krise, die wir im Moment erleben, erschüttert die soziale Dimension unseres Lebens fundamental. Wir beginnen, über Vertrauen als soziale Kraft in unserem Leben neu nachzudenken. Krisen haben einen hohen und leidvollen Preis. Indem sie das Bisherige unterbrechen, eröffnen sie aber auch einen Raum für Neues. Möge es Ihnen gelingen, sich einen solchen Raum zu erschließen und Vertrauen leben zu können.
Die für Mai 2020 vorgesehene Fach tagung in Naters (Schweiz) zum Thema dieses Hefts wurde verschoben auf den 21. Mai 2021. Das Thema lautet »Neu beginn? Bewahren und Verändern«.
Erika Schärer-Santschi
Sylvia Brathuhn
Diana Staudacher
Benson, O.; Gibson, S.; Boden, Z.; Owen, G. (2016). Exhausted without trust and inherent worth: A model of the suicide process based on experiential accounts. In: Social Science & Medicine, 163, S. 126–134.
Inhalt Editorial 1
4 Diana Staudacher
Die »Brücke« zwischen Ich und Welt – Grundlagen des Vertrauens aus neurobiologischer Sicht
10 Friederike Westerhaus
Neues wagen – Vertrauen in Zeiten des Umbruchs
4 Diana Staudacher | Die »Brücke« zwischen Ich und Welt
14 Esther Spinner
Dem Wort vertrauen – Von der Kraft der Sprache
19 Diana Staudacher
Vertrauen als soziale Energie – Aspekte einer vertrauensbasierten Humanität
25 Kate Binnie
Mamas Tod, 28. August 2019 – Und dann ist es passiert
28 Eva Schulte-Austum
Vertrauen – die unsichtbare Kraft
32 Erika Schärer-Santschi
Leichtsinn oder Vertrauen – Eine Kurzgeschichte
10 Friederike Westerhaus | Neues wagen – Vertrauen in Zeiten des Umbruchs
33 Monika Müller
Sich selbst vertrauen oder dem Selbst trauen? Gedanken zum Vertrauen als Ressource von Sterbenden/Trauernden und ihren Begleiterinnen/ Begleitern
38 Kurzinterview aus der Praxis mit Hans Schilli
19 Diana Staudacher | Vertrauen als soziale Energie
53 Birgitta Hadatsch-Metz | Erschüttert durch traumatisierende Erfahrungen
39 Andrea Frölich Oertle und Peter Oertle
Schritte ins »Paaradies« – Heilendes Vertrauen in Beziehungskrisen
43 Stephan Dorschner
»Schlimm ist eigentlich für mich die Einsamkeit …« – Verlusterfahrungen
pflegender Angehöriger
47 Kurzinterview aus der Praxis mit Rita Suppiger Saier
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Thomas Geldmacher Vertrauensverlust nach Trennungen
51 Eva Schumacher-Wulf
Vertrauen – Ein wichtiger Begleiter in schwierigen Zeiten
Erfahrungen – Vertrauen und Misstrauen aus Sicht der Polyvagal-Theorie
58 Hildegard Kusicka
Auffangen – Informieren – Begleiten und aushalten
87 Ausstellung 91 Verbandsnachrichten 92 Cartoon | Vorschau 93 Impressum
53 Birgitta Hadatsch-Metz
Erschüttert durch traumatisierende
84 Rezensionen
60 Kurzinterview aus der Praxis mit Barbara Leu
62 Christian Ruch
Blicke auf dich selbst in den Augen deiner Dämonen – Der Umgang mit dem Bösen in Christentum und tibetischem Buddhismus
67 Andreas Heller
Frieden mit dem Tod schließen: Vertrauenshaltung oder Planungsmodus?
71 Helmut Kaiser
Reflexionen zur Manie des Vertrauens – Eine sinnvolle Rekonstruktion eines überhöht gebrauchten Begriffs
77 Aus der Forschung: Bescheidenheit ist eine Zier … 80 Fortbildung: Vertrauen stärken
71 Helmut Kaiser | Reflexionen zur Manie des Vertrauens
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Die »Brücke« zwischen Ich und Welt Grundlagen des Vertrauens aus neurobiologischer Sicht
Diana Staudacher »Wir alle erfahren am Anfang des Lebens das Zerbrechen einer Bindung – die Geburt. Wir werden getrennt von einer Einheit, von einer Verschmelzung« (Marin 2019, S. 1). Vertrauen entsteht als Brücke zwischen zwei Welten. Sie verbindet die vorgeburtliche Welt mit dem In-der-Welt-sein. Der neugeborene Mensch »verlässt die schützende Hülle der Gebärmutter und gelangt in einen völlig andersartigen, fremden Raum« (Posth 2014, S. 36). Um dieses Fremdsein zu bewältigen, braucht es ein soziales Umfeld, das die verlorene »schützende Hülle« ersetzen kann. Warum ist dieser Schutzraum weiterhin notwendig? Der Mensch kommt mit einem unreifen Nervensystem zu Welt. Auch das Gehirn ist bei der Geburt noch nicht ausgereift (Shonkoff 2014). Die Reifungsprozesse geschehen erst nach der Geburt. Dadurch sind sie Einflüssen aus der Außenwelt ausgesetzt. Dauerhaft intensive Reizanflutung kann die unreifen Systeme überfordern (Shonkoff 2014). Deshalb kommt dem Schutz vor »toxischem« Stress höchste Bedeutung zu. »Toxisch« wirkt Stress, wenn das Neugeborene ohne eine schützende Person lange Zeit und wiederholt hochintensiven Außenweltreizen ausgesetzt ist (»Toxic Stress Model«; Shonkoff 2014). Besteht idealerweise ein »extrauterines« Schutzmilieu, begegnet der neugeborene Mensch einer Welt, die ihm sorgend, empathisch und verstehend entgegenkommt. Negative Körper- und Seelenzustände haben schnell ein Ende. Es gibt Menschen, die beruhigend, tröstend und besänftigend eingreifen. Dadurch entsteht ein Gefühl tiefer seelischer Sicherheit. Dank sensibler Bezugspersonen lässt sich Angst lindern. Traurigkeit löst sich in Freu-
de auf. Auf Anspannung folgt Entspannung. Die Welt wirkt dadurch nicht bedrohlich. Sie überfordert nicht. Das Sicherheitsempfinden ist so stark, dass Fremdes und Anderes nicht angsterregend sind. Dadurch kann der neugeborene Mensch eine zentrale Erfahrung machen: Er kann sich der Welt annähern – und Vertrauen empfinden. Frühe Verletzlichkeit Ohne einen »extrauterinen« Schutzraum sieht die nachgeburtliche Welt völlig anders aus. Ein unempathisches Umfeld, häufiges Alleinsein und fehlende soziale Resonanz wirken sich verheerend auf das unreife Nervensystem aus (Shonkoff 2014). Zu häufig strömen zu starke Außenweltreize auf das Neugeborene ein. Ohne Schutzschild erlebt es eine überwältigende, unberechenbare und überfordernde Welt (Gruen 2016). Um sich selbst zu schützen, muss es sich von der Welt zurückzuziehen oder sich gegen sie verteidigen. Negative Emotionen halten lange Zeit ungemildert an. Aus eigener Kraft lassen sie sich nicht regulieren. Nur wer immer wieder getröstet wird, kann sich mit der Zeit selbst trösten (»hetero-matic affect regulation«; Taipale 2016). Ohne fürsorgenden Reizschutz erscheint die Welt feindlich, aggressiv und hoffnungslos. Der kindliche Organismus ist hohen Mengen an »toxischen« Stresshormonen ausgesetzt. Das Nervensystem ist zu häufig und zu stark aktiviert: »Häufige und andauernd aktivierte stressbezogene Gehirnsysteme können zu erhöhter Vulnerabilität für eine Reihe von physiologischen und verhaltensbezogenen Beeinträchtigungen während der gesamten Lebensspanne führen« (Shonkoff
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Bleibendes Verbundensein Der Psychologe Arno Gruen sprach von der »ununterbrochenen Beziehung der Nähe und der nicht abreißenden Verbindung mit der lebensgebenden Person […]. Das Kind hat neun Monate [im Mutterleib] verbracht. Darum ist es kata strophisch, wenn diese Verbindung unterbrochen wird« (Gruen 2014, 36). Vertrauen lässt sich als verinnerlichte »Verbindung mit der lebensgebenden Person« verstehen. Damit sich Vertrauen bilden kann, muss ein Mensch nach der Geburt zunächst eine »Fortsetzung« des vorgeburtlichen Verbundenseins erleben. Dies geschieht durch »biologische Synchronie« (Feldman 2007). Dabei handelt es sich um das Miteinanderteilen physiologischer Rhythmik und emotionaler Intensität. Regelmäßige, gleichartige Rhythmen vermitteln eine Kontinuität des vorgeburtlichen Erlebens.
Dadurch können Muster der Vorhersehbarkeit entstehen. Fein abgestimmtes Erkennen, Auffangen und Teilen der kindlichen Emotionen entlasten das unreife Nervensystem (Feldman 2015). Zentral sind feinfühlige Resonanz und sensibles Eingehen auf die Gefühle des Kindes (Feldman 2007). Der neugeborene Mensch erlebt dann eine Gefühlsgemeinschaft. Sogar hochintensive negative Emotionen lassen sich miteinander teilen und dadurch ertragen (Kinreich et al. 2017). Dank hoher Synchronie und sensibler »Affekt abstimmung« (»affect attunement«) ist der kindliche Organismus vor zu häufigen Stressreaktionen geschützt (Berlin et al. 2019). Frühes Synchronieerleben trägt somit wesentlich zur Genese des Vertrauens bei. Harmonie zwischen »innen« und »außen« Fehlende Synchronie und mangelnde Responsivität der Bezugspersonen sind Formen emotionaler Vernachlässigung (»emotional neglect«)
Paula Modersohn-Becker Liegende Mutter mit Kind, 1906 / akg / P. Modersohn-Becker Museum
2012, S. 4). In einem stressbelasteten Umfeld kann kein Vertrauen entstehen.
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(Shonkoff 2019). Sie verhindern die Genese des Vertrauens. Indem Bezugspersonen die emotionalen Bedürfnisse des Kindes kontinuierlich missachten, ignorieren und entwerten, ist das unreife Stresssystem hochgradig belastet. Verletzte psychische Grundbedürfnisse bilden eine gefährliche Kombination mit empfindlichen Phasen der Gehirnentwicklung. Es bleiben nicht nur »neurobiologische Narben« in der Gehirnarchitektur (Shonkoff et al. 2019). Eine zentrale vertrauensbildende Erfahrung fehlt: »Ich werde als fühlendes Wesen verstanden, also bin ich« (Fonagy und Allison 2011). Das Ich-Empfinden verdankt sich der Anerkennung durch Andere. Selbst-Vertrauen setzt voraus, als Person mit einer eigenen innerseelischen Welt von anderen anerkannt zu werden: »Ich sehe, wie es dir geht. Ich kann mir vorstellen, wie du dich im Moment fühlst« – dieses Erleben ist vertrauensbildend (Bateman und Fonagy 2017). »Weltvertrauen« setzt Harmonie zwischen »innen« und »außen« voraus. Die Außenwelt ist auf die kindliche Innenwelt »abgestimmt«. Um Fremdem und Anderem angstfrei begegnen zu können, braucht es am Anfang des Lebens die Erfahrungen der Ähnlichkeit (»Similarity-Attraction«Konzept; Van Oudenhove und Hofstra 2006). Ähnliches vermittelt Sicherheit. Allzu große An dersheit würde das reifende Nervensystem überfordern (Mikulincer et al. 2005). Das »innere Du« Getragen, geschützt und umhüllt zu sein, macht die »Unheimlichkeit« des Auf-der-Welt-Seins erträglich (Bystrova et al. 2009). Zentral ist eine »haltende Umwelt« als »Fortsetzung« des vorgeburtlichen Raums. Wer berührt und gehalten wird, spürt die Grenzen des eigenen Körpers (Boehme et al. 2019). Durch Berührung entsteht ein vertrauensvolles Körper-Selbsterleben: Inte grität in einem schützenden Raum (Ciaunica und Fotopolou 2017). Berührtwerden mildert Stressreaktionen und wirkt schmerzlindernd (Gentsch
et al. 2015). Das Konzept der »psychischen Hülle« (»enveloppe psychique«) beschreibt den zentralen Stellenwert des Umhülltseins für das körperliche und seelische Integritätserleben (Ciccone 2001). Die »psychische Hülle« basiert auf dem »HautIch« – dem Empfinden der eigenen Körpergrenzen als schützender Barriere zwischen Innen- und Außenwelt (Anzieu 2003). Vertrauen hat somit tiefe körperliche Wurzeln (Feldman et al., 2002). Sich physisch geschützt und geborgen zu fühlen, weitet sich aus zu psychischem Selbstwert- und Würdeempfinden (Ratcliffe 2008). Frühes Schutz- und Sorgeerleben verdichtet sich zu einem »inneren Bild« – zur Repräsentanz des »inneren Du« (Felman und Laub 1992). Somit basiert Vertrauen auf der verinnerlichten Beziehung zum sorgenden, haltenden und verstehenden »Du«. Dieses »innere Du« repräsentiert erlebte Sicherheit, Anerkennung und Würde. Wer sich auf ein »inneres Du« beziehen kann, ist geschützt vor emotionaler Vereinsamung, Verzweiflung und Sinnverlust. Erinnertes Vertrauen In Gestalt von Nervenzellnetzwerken ist das frühe Erleben von Sicherheit auch im Erwachsenenalter jederzeit aktivierbar. Dies geschieht durch »Security Priming« – der neurobiologische »Basis« des Vertrauens (Gillath und Karantzas 2019). Dieser Aktivierungsprozess löst ein Gefühl tiefer seelischer Sicherheit aus – vergleichbar mit der realen Anwesenheit einer Bindungsperson. Diese »Hintergrundsicherheit« besteht unterhalb der Bewusstseinsschwelle. Sie prägt das gesamte Selbst- und Welterleben (Gillath und Karantzas 2019). Wie Studien belegen, wirkt sich »Security Priming« unter anderem aus auf • die Interpretation der Sinneseindrücke (Mikulincer und Shaver 2001); • das verstärkte Erleben positiver Emotionen und das Abmildern negativer Emotionen (Liao et al. 2017);
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• die offene Haltung gegenüber allem, was Nicht-Ich ist (Mikulincer und Shaver 2001); • die Fähigkeit, die Perspektive des Anderen einzunehmen (Boag und Carnelley 2016); • die Fähigkeit, Empathie zu entwickeln und zugunsten des Anderen zu handeln (Gillath et al. 2005); • verringerte Aggression und Todesangst (Gillath und Hart 2010). Somit stellt vertrauensbasiertes »Security Prim ing« die Grundlage für weltoffenes, prosoziales Verhalten dar. Geprägte Zukunft Menschen nehmen wahr, was sie erwarten (De Lange et al. 2018). Erfahrungen der frühesten Kindheit werden zu Erwartungsmustern, die durch »Predictive Coding« sämtliche Wahrnehmungsprozesse prägen (De Lange et al. 2018). Positives frühes Erleben führt zu zuversichtlichen Erwartungsmustern (Friston und Kiedler 2009). Diese dienen ein Leben lang als Metamodelle (»Priors«; Peters et al. 2017). Dank positiver Modelle besteht die Erwartung, auch schwierige Lebensereignisse bewältigen zu können. Wer Vertrauen verinnerlicht hat, kann sich negativer Realität stellen, ohne dabei durch belastende Vorstellungsbilder überwältigt zu werden. Somit ist »Vertrauen eine Erfahrung, die es Menschen erlaubt, sich auf Unsicherheit einzulassen« (Benson et al. 2016, S. 126). Wer Vertrauen hat, kann mit Ambivalenzen leben und Ungewissheit akzeptieren. Vertrauen befreit von ständigem Streben nach Sicherheit und Selbstschutz. Erst dadurch ist es möglich, sich anderen Menschen und der Welt zu öffnen. Ohne verinnerlichtes Vertrauen reagiert das Gehirn auf Unbekanntes mit erhöhter Aktivierung angstbezogener Areale. Es fehlt die Fähigkeit, »sich effizient und effektiv auf Zukünftiges vorzubereiten« (Grupe und Nitschke 2013, S. 488). Negative Erwartungsmuster dominieren. Da-
durch kommt es zu »exzessiver Antizipation von Bedrohung« (Grupe und Nitschke 2016, S. 488). Überwiegend pessimistische Vorstellungsbilder führen dazu, Gefahren zu überschätzen. Selbst positive oder neutrale Reize erscheinen als bedrohlich und überfordernd. Als Folge fehlenden Vertrauens tritt eine »Intoleranz der Unsicherheit« ein (Moriss und McSorley 2019). Dies kann zu starkem seelischem Leiden führen. Bei einer Depression fehlen verinnerlichte Bilder, die erlebte Sicherheit und Zuversicht aktivieren könnten. Da negative Erwartungsmuster dominieren, können positive Erlebnisse nicht mehr zur Geltung kommen (Badcock et al. 2017). Hier deutet sich die bedeutende Rolle des Vertrauens für das Entstehen seelischen Leidens an. »Katastrophale Einsamkeit« »Ein Teil von uns ist durch haltende, schützende und wärmende Körper […] belebt und bewohnt, der andere durch Abwesenheiten, Strafen, Kälte und Verlassenheit unbewohnt, entlebendigt, anästhesiert« (Eisenberg 2016, S. 1). »Vertrauen« und »Misstrauen« sind »existenzielle Grund gefühle« (Ratcliffe 2008). Es sind Körperzustände, die sich zum Weltempfinden und Selbstempfinden ausweiten. Sie bestimmen den »Zugang eines Menschen zur Welt« (Ratcliffe 2008). Schwerwiegende Traumatisierung kann Vertrauen zerbrechen. Dann erlischt das »inneren Du« (Laub 1991). Der Verlust des »inneren Du« ist ein kata strophales Ereignis. Es löst ein »Trauma der Verlassenheit« aus. Zurück bleibt eine »Welt, in der die Vorstellung eines Du nicht mehr möglich ist«. Dadurch zerbricht die »Hoffnung, gehört zu werden, als Mensch anerkannt zu werden und eine Antwort zu erhalten« (Laub 1991, S. 81). Was die Seele verletzt, ist nicht nur das erschütternde Lebensereignis – sondern vor allem die emotionale Verlassenheit, das Fehlen einer schützenden, empa thisch antwortenden Person (Ferenczi 1932). Weltund Selbstvertrauen brechen zusammen, wenn das lebenstragende »Gefühl menschlicher Bezo-
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genheit« auf einmal unerreichbar ist (Laub 1991, S. 81). »Katastrophale Einsamkeit« bedeutet, kein Gegenüber zu haben, um Erlittenes zum Ausdruck zu bringen und soziale Resonanz auf Erlittenes zu erhalten (Grand 2000). Umso wichtiger ist es, dass Menschen in Krisensituationen ein »äußeres Du« erleben. Dieses »äußere Du« könnte vorübergehend die Rolle des verlorenen »inneren Du« übernehmen – durch Mitsein, Mittragen und Anerkennen. Durch den »Zustrom der Anteilnahme« wird die verletzte Psyche »wie von einem schützenden Mantel umhüllt« (Düsing 2007, S. 73). Dies könnte das verletzte Ich vor »katastrophaler Einsamkeit« bewahren. Das Ökosystem des Vertrauens Neurobiologische Erkenntnisse zur Genese des Vertrauens vermitteln eine zentrale Botschaft: Vertrauen ist kein Phänomen »unter anderen«. Es geht um »die Entwicklung eines sicheren, stabilen psychischen Fundaments« (Mikulincer und Shaver 2012, S. 14). In diesem Sinn wäre es wichtig, folgende Punkte zu beachten: • Vertrauen ist untrennbar verbunden mit der Art und Weise, wie Kinder aufwachsen. Deshalb ist es dringend erforderlich, den Bedingungen des Aufwachsens hohe Priorität zuzuweisen. • Vertrauen basiert nicht ausschließlich auf familiären Strukturen. Es sind die breiteren sozioökonomischen Bedingungen, welche die Lebenssituation der Eltern bestimmen und das Aufwachsen des Kindes beeinflussen (»Family Economic Hardship«; Hsu und Wickrama 2015). • Fehlendes Vertrauen ist mit hoher psychischer und physischer Vulnerabilität verbunden. Es wäre wichtig, Gesundheit in einer ökosystemischen Perspektive zu betrachten. Modelle wie »Developmental Origins of Health and Disease« (Gluckman et al. 2007)
sensibilisieren für die Einheit von Individuum und sozialem Umfeld: Krankheit entsteht, wenn Menschen in einer benachteiligenden Umwelt aufwachsen. Wer nicht vertrauen kann, ist nicht in der Lage, empathische Sorge zu zeigen und Personen in Notsituationen zu helfen (Mikulincer et al. 2005). In einer Kultur, die »Autonomie« und »Unabhängigkeit« als Höchstwerte schätzt, fehlt das Bewusstsein für die biologische Notwendigkeit symbiotischer Bindung am Anfang des Lebens. Umso wichtiger wäre es, Erkenntnisse der neurobiologischen Forschung in die therapeutische, sozia-
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In einer Kultur, die »Autonomie« und »Unabhängigkeit« als Höchst werte schätzt, fehlt das Bewusstsein für die biologische Notwendigkeit symbiotischer Bindung am Anfang des Lebens.
le und pädagogische Arbeit einzubringen, damit sie für zukünftige Generationen vertrauensbildend wirken können: »Wo kein Du, ist kein Ich« (Feuerbach 1841, S. 113). Die Literaturliste ist bei der Autorin erhältlich. Dr. phil. Diana Staudacher studierte Germanistik und Humanmedizin. Sie arbeitet als freie Publizistin und ist als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Universitätsspital Zürich sowie an der Fachhochschule St. Gallen, Fachbereich Gesundheit, tätig. E-Mail: [email protected]
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Neues wagen – Vertrauen in Zeiten des Umbruchs Friederike Westerhaus Wolfgang Amadeus Mozart hat mit seinem Klarinettenquintett – speziell dem 2. Satz, Larghetto – eine Musik geschrieben, die für mich eines sehr stark ausdrückt: Vertrauen. 1789 hat er diese Noten als 33-Jähriger zu Papier gebracht. Er konnte damals nicht wissen, dass er nur zwei Jahre später sterben würde. Geschrieben hat er dieses Stück für seinen Freund, den Wiener Klarinettisten Anton Stadler. Der hatte Mozart mit seinem wunderbar weichen Klarinettenton eine neue Welt eröffnet. Und so ging Mozart mit diesem Werk neue Wege. Er stieß die Tür zu einer Klangwelt auf, die er mit dem berühmten Klarinettenkonzert von 1791 weiter erkundete, einem seiner letzten Werke. Was also spricht aus diesem Larghetto, was kommt uns da entgegen? Die Streicher spielen eine ruhige Achtelbegleitung, sanft dahingleitend. Sie tragen die Klarinettenstimme förmlich auf ihren Händen. Sie bereiten den sicheren Boden, auf dem sich die einzelne Stimme der Klarinette entfalten kann. Diese Begleitung hat etwas Fließendes, Lichtes, sie bietet eine Kontinuität. Und irgendwie scheint es, als hätte diese Musik schon immer existiert. Wir blenden uns nur ein, in diesem Moment, in dem wir beginnen, sie wahrzunehmen. Auf diesem Boden kann sich die Klarinette frei entfalten, sie stimmt einen ganz intimen Gesang an. Sie ist ganz bei sich und doch strahlt sie nach außen. Möglich wird das nur durch den Halt, der ihr vom Fundament der Streicher gegeben wird. Ohne diese Begleitung würde die Klarinettenstimme einfach nur hohl klingen, in der Luft hängen. Sie wäre einem Abgrund ausgesetzt. Das kann man sich auch ganz bildhaft in der Par-
titur vorstellen, in der diese Achtel der Begleitung unter der Klarinettenstimme förmlich ein Netz spannen. Und dann passiert ein Moment, der uns aufhorchen lässt: Wenn sich nämlich die erste Violinstimme zu der Klarinettenstimme hinzugesellt und sie in einen Dialog treten. Da öffnet sich etwas, da geht etwas auf – da passiert Leben in dieser Nähe, die dort entsteht. Warum spricht für mich aus dieser Musik Vertrauen? Vertrauen kann nur dort entstehen, wo die Erfahrung von Halt ist. Von einer Halt gebenden Struktur, von einem Halt gebenden Boden. Oder wie der Existenzanalytiker Alfried Längle es formuliert: Vertrauen ist die Einwilligung, sich einer haltgebenden Struktur zu überlassen, um die wahrgenommene Unsicherheit (Risiko) zu überbrücken. Der tiefe Halt sind geistige Haltungen mit Inhalten, die Vertrauen vermitteln. Je tiefer die geistige Haltung gründet, desto mehr Halterfahrungen sind möglich (Längle und Bürgi 2014, S. 88). Vertrauen ist also etwas ganz Basales, etwas, das uns die Existenz überhaupt erst ermöglicht. Ohne Vertrauen in der Welt zu sein hieße im Grunde, dass wir das Risiko unserer eigenen Existenz nicht tragen könnten. Nicht er-tragen könnten. Die empfundene Unsicherheit würde uns in den Abgrund reißen. Längle fasst das Vertrauen in einem Bild als Brücke. Eine Brücke über den Strom der Unsi-
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Halt – Mut – Vertrauen Halt – Mut – Vertrauen: Das ist ein Dreiklang, der uns hilft, Unsicherheiten im Leben und damit auch der Unsicherheit des Lebens an sich zu begegnen. Diesen Dreiklang hören wir gewissermaßen besonders laut in Krisensituationen, in Zeiten des Umbruchs und des Wandels. Wenn es darum geht, Neues zu wagen. Wenn der Strom der Unsicherheit besonders viel Wasser zu führen scheint und besonders laut rauscht. Je stärker dann unsere Brücke des Vertrauens ist, je stärker die Brückenpfeiler Halt und Mut sind, desto gelassener können wir die neuen Wege beschreiten. Ich persönlich wurde mit diesem Thema in den letzten Monaten sehr intensiv konfrontiert. Es ging dabei um eine berufliche Weichenstellung. Schon früh hatte ich den Wunsch, Journalistin
zu werden. Und eine weitere große Leidenschaft war die klassische Musik. Der Weg in den Musikjournalismus war also naheliegend und wie vorgezeichnet. Er führte mich zum Radio. Auch da geht es wie bei der Musik ums Zuhören. Der Weg mündete in der Festanstellung in einer Musikredaktion des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Es lässt sich denken, dass das sehr auf den Brückenpfeiler »Halt« einzahlte. Die Stelle war mit großer Sicherheit verbunden. Parallel aber entwickelte sich in den letzten Jahren ein Strang, mit dem ich überhaupt nicht gerechnet hatte: Eher zufällig bin ich mit Coaching in Verbindung gekommen. Nach einer systemischen Coaching-Ausbildung begegnete mir dann das Existentielle Coaching, basierend auf den Grundlagen der Existenzanalyse und Logotherapie. Was ich in der Ausbildung bei dem zuvor zitierten Alfried Längle in Wien erlebte, war ein Gefühl von Nach-Hause-Kommen. Nicht nur, was die Inhalte des Existentiellen Coachings anging, sondern auch, was die phänomenologische Haltung in diesem humanistischen Ansatz betraf.
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cherheit. Was aber sind die Brückenpfeiler? Da ist auf der einen Seite der eben beschriebene Halt, auf dem die Brücke ruht. Und auf der anderen Seite – der zweite Brückenpfeiler – ist der Mut.
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Co
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Je stärker unsere Brücke des Vertrauens ist, je stärker die Brückenpfeiler Halt und Mut sind, desto gelassener können wir die neuen Wege beschreiten, wenn der Strom der Unsicherheit besonders viel Wasser zu führen scheint und besonders laut rauscht.
In Resonanz gehen Die phänomenologische Haltung: ein Sich-Öffnen, ein Zuhören und Auf-sich-wirken-Lassen. Was kommt mir entgegen, wenn der Coachee mir etwas von sich erzählt, von seiner oder ihrer Wahrnehmung, dem Anliegen? Wie resoniert das in mir? Und wie kann ich das, was in mir zum Klingen gebracht wird, ausdrücken? Ich war selbst überrascht, wie nah das an dem war, was ich die ganze Zeit schon gemacht hatte. Mit dem intensiven Hören von Musik, dem Zuhören, und der Verbalisierung dessen, was ich dort wahrnahm, hatte ich im Grunde schon über Jahre diese phänomenologische Haltung geübt, ohne es zu wissen. Dass sich dort ein Gefühl von Vertrautheit einstellte, ist nicht weiter verwunderlich. Das dieses Gefühl allerdings so heranreifen würde, dass es mich immer mehr in die Richtung des Existentiellen Coachings zog und der Wunsch entstand, dem mehr Raum in meinem Leben zu geben – das hat mich überrascht. Und dann war er da, der Moment, in dem ich mich gefragt habe: Wie gehe ich jetzt damit um? Bleibe ich in dem Sicheren, Gewohnten – oder habe ich den Mut, auf das Neue zuzugehen? Und da war die Frage nach dem Vertrauen: Habe ich
das Vertrauen, dass da etwas Gutes entstehen kann? Ist meine Brücke des Vertrauens stark genug, um den ganzen Strom der Unsicherheit und des Risikos zu überspannen? Nicht weggerissen zu werden? Es hat sich angefühlt wie ein Sprung zu mir selbst. Den Mut zusammenzunehmen, die Kündigung auszusprechen, und die Arme auszubreiten, um das Neue willkommen zu heißen. Den Absprung zu wagen, ohne zu wissen, was daraus entsteht. Den Brückenpfeiler des Muts habe ich zuvor selten so stark gespürt wie in diesem Moment. Und ich hatte eine starke Überzeugung und das Vertrauen, dass es nur gut sein kann, wenn ich dieser inneren Stimme zuhöre, die mich zu diesem Neuen geführt hatte. Ich hätte das einige Jahre zuvor nicht geahnt. Aber das war jetzt da, es war ein Teil meiner Realität. Es war wie ein Angebot des Lebens – und ich hatte mich entschieden, mich dem zuzuwenden. Das fühlte sich gut an. Entschieden. Das war getragen von einer inneren Zustimmung. Der Absprung war aber nur der erste Schritt. Und das Thema des Vertrauens rückte in den darauffolgenden Monaten noch etwas anders in mein Blickfeld. Ich erlebte nämlich plötzlich, dass die Seite des Halts sich spürbar verändert hatte. Die
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Carr Bridge mit Dulnain / INTERFOTO / David Wall
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Seite, die zuvor mehr betont war als die Seite des Muts, war nun plötzlich schwächer geworden. Das Vertrauen wurde nochmal neu geprüft. Da wackelte etwas. Die Brücke ruhte nicht gleichmäßig stabil auf beiden Seiten. Und in dieser Phase habe ich mir nochmal verstärkt die Fragen nach dem Halt gestellt. Was gibt mir denn nun eigentlich Halt? Ist es das Abgesichertsein für die Zukunft? Für eine Zukunft, von der ich nicht weiß, was sie bringen wird? Alfried Längle spricht in seiner schon oben zitierten Definition von Vertrauen von dem »tiefen Halt«: Der tiefe Halt sind geistige Haltungen mit In halten, die Vertrauen vermitteln. Je tiefer die geistige Haltung gründet, desto mehr Halt erfahrungen sind möglich (Längle 2014, S. 88). Die geistigen Haltungen: Hoffnung, Treue, Wahrhaftigkeit und Glauben. Sie können bis ganz in die Tiefe hinein Vertrauen vermitteln. Ein Vertrauen, das ein Leben mit innerer Zustimmung ermöglicht: das Erleben einer Konstanz. Das Erleben, dass ich getragen bin. Und da sein kann. Mich dem zuwenden, was ich mag. Das Erleben, dass ich nicht allein bin. Dass ich
permanent mit anderen Menschen, mit dem Außen, im Dialog stehe. Das Erleben, dass ich mich selbst entfalten darf – mit der Stimme, die mir gegeben ist. Das Erleben, dass ich meinen Beitrag leisten soll zur Musik des Lebens. Die Brücke des Vertrauens ist nicht immer gleich stabil. Und wenn sie mal zu wanken scheint, dann lohnt sich der Blick, das In-mich-Hinein hören: Was braucht es gerade? Was könnte mir jetzt gerade zusätzlich Halt geben? Familie, Freunde, Ruhe, Meditation? Was kann mir helfen, den Mut für den nächsten Schritt zu haben? Und ist der Strom der Unsicherheit wirklich so reißend, wie er gerade scheint? Auch da lohnt der Blick. Friederike Westerhaus arbeitet als freie Musikjournalistin, Moderatorin und Existentieller Coach in Berlin und Hamburg. E-Mail: [email protected] Website: ww.existenzielles-coachingberlin.de Literatur Längle, A.; Bürgi, D. (2014). Existentielles Coaching. Theoretische Orientierung, Grundlagen und Praxis für Coaching, Organisationsberatung und Supervision. Wien. Mozart, W. A. (1789). Klarinettenquintett A-Dur, KV 581. Daraus: Larghetto (2. Satz). Martin Fröst & Vertavo String Quartet, BIS.
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Dem Wort vertrauen Von der Kraft der Sprache
Esther Spinner O brich nicht, Steg, du zitterst sehr! O stürz nicht Fels, du dräuest schwer! Welt, geh nicht unter, Himmel, fall nicht ein, Eh ich mag bei der Liebsten sein! Dieses Gedicht von Ludwig Uhland, geschrieben 1811 (zitiert nach Echtermeyer und von Wiese 1956, S. 385), richtet sich an jemanden oder etwas, das dafür sorgen soll, dass weder Fels noch Himmel fallen und der Dichter heil nach Hause kommt. Die Worte sind es, die helfen müssen, die Worte, denen der Dichter vertraut: Nichts wird passieren, was ihm den Weg zu seiner Liebsten versperrt. Er ist geschützt durch das Wort. Die Ängste, in Worte gefasst, verlieren ihren Schrecken, der Trost hingegen wird durch das Wort verstärkt. Dies zeigt sich auch in Uhlands Gedicht »Frühlingsglaube« (zitiert nach Echtermeyer und von Wiese 1956, S. 384). Die sich wiederholenden Zeilen nun armes Herze, sei nicht bang, nun muss sich alles, alles wenden trösten durch die Wortwahl ebenso wie durch den Rhythmus. Gedichte, Gebete, Zauberformeln, sie alle vertrauen der Macht des Wortes. Nicht ohne Grund wurde Apollo von den Griechen als Gott der Heilkunst und der Dichtkunst verehrt, was darauf verweist, dass das Heilen und das gestaltete Wort miteinander verwandt sind (Petzold und Orth 1995, S. 24). Und die Märchen sammelnden Brüder Grimm schrieben, dass im Wort mehr Kraft liege als im Stein oder Kraut: Und bei allen Völkern geht aus ihm Segen oder Fluch her vor (Petzold und Orth 1995, S. 22). Schamaninnen und Heiler kennen diese Kraft und nutzen sie, so auch in Tibet, wo die folgende Geschichte erzählt wird:
Caspar David Friedrich, The Tree of Crows, ca. 1822 / akg-images / De Agostini Picture Library
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Ein kleines Mädchen war schwer erkrankt, und die Mutter bat eine tibetische Nonne, Mantras für das Kind zu rezitieren. Noch war der Arzt im Haus, als die Nonne sich ans Bett des Mädchens setzte und zu reden begann. Der Arzt ärgerte sich und schimpfte über die abergläubischen Tibeter. Da sagte die Nonne lächelnd und mit freundlicher Stimme: Du hirnloser Dummkopf, du hast doch keine Ahnung vom Heilen. Der Arzt schnappte nach Luft und bekam einen roten Kopf. Die Nonne aber sagte, immer noch lächelnd: Wenn ein kleiner Satz dich so ärgern kann, dann werden auch meine Mantras etwas bewirken (nach Wetzel 2007, S. 149). Mantras, Zauberformeln, Gedichte gleichen Träumen. Auch wenn sie auf den ersten Blick unverständlich sind, berühren sie etwas in den Menschen, die sie lesen oder hören. Denn es sind vor allem gebundene Worte, das Lied oder das Gedicht, die eine starke Kraft entfalten. Ihre Worte verbinden sich ganz direkt mit der Seele der Leserinnen und Leser, sie treffen ins Unbewusste. Sprache benennt das Ungreifbare, Unverständliche, und macht es durch die Benennung verfügbar. So stark wirken Worte, dass, wie oben beschrieben, Krankheiten be-sprochen und geheilt werden können. Einige Zeit unterrichtete ich Menschen mit psychischen Problemen. Den Zugang zu ihnen zu finden, fiel mir nicht leicht. Ich begann damit, am Ende jeder Stunde ein Gedicht vorzulesen. Meine immer gleiche Frage dazu: »Möchte jemand etwas dazu sagen?« Erst nach einigen Wochen wagten einige zu reagieren: »ein schönes Gedicht«, »hat mir gefallen« oder auch: »Blödsinn«. Als ich zum ersten Mal vergaß, am Ende der Stunde ein Gedicht vorzulesen, ging ein Raunen durch die Gruppe und schon kam die Frage: »Und das Gedicht?« Ich bin seither von der Kraft von Gedichten überzeugt. Sie trugen dazu bei, dass wir bald ein vertrautes Verhältnis zueinander hatten. Die Gedichte schufen einen ge-
meinsamen Raum, in dem sich einige trauten, ihre Meinung auszudrücken. Hilarion Petzold berichtet Ähnliches von der Arbeit mit alten Menschen, die schon beinahe verstummt waren, weil ihnen die Ansprache fehlte. Gedichte hätten sie aufgeweckt und ihnen geholfen, Worte zu finden, um ihre Gefühle und ihre Situation zu beschreiben. Sie konnten Vertrauen entwickeln, nicht nur zur Sprache, sondern auch zu ihrem Leben (Petzold und Orth 1995, S. 249). Mehr als Worte Gedichte schaffen Vertrauen zwischen Menschen. Doch um Vertrauen zu entwickeln, braucht es das Verstehen. Bei Gesprächen müssen Mimik, Gestik und der Tonfall mitgelesen und ebenso entschlüsselt werden wie die Wörter und Sätze. Wir müssen uns aufeinander einlassen, um zu verstehen, um miteinander vertraut zu werden. Dazu müssen wir uns verändern. Den Anderen verste hen zu wollen ist ein widersprüchliches Ideal: Es verlangt von uns, dass wir uns ändern, ohne anders zu werden, der Andere zu sein, ohne uns selbst auf zugeben, schreibt Octavio Paz (1991, S. 41). Dieser Schritt auf andere zu, dieser Mut, uns selbst zu verändern, verlangt von allen Menschen viel. Vielleicht ist auch das in Uhlands Gedicht mitgemeint: nun muss sich alles alles wenden. Zum Verstehen gehören auch die Situation, in der die Worte gesprochen werden, und die Beziehung zwischen den Sprechenden. Den Worten traue ich erst, wenn ich der Sprecherin, dem Sprecher traue, und ihm oder ihr vertraue ich dann, wenn ich mich ernst genommen fühle. Jemanden ernst nehmen ist eine Frage der Haltung und weniger der Technik, wobei dank Techniken wie der Gewaltfreien Kommunikation oder des Aktiven Zuhörens das Ernstnehmen eingeübt werden kann. Resonanz vom Gegenüber zu spüren, gibt mir die Gewissheit, gehört zu werden. Diese Zuversicht vermittelt Vertrauen. Einer Person, deren Resonanz ich spüre, nehme ich die
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Die Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller betrachtet das Ungesagte im Satz als einen Fächer, der sich plötzlich öffnet.
Worte ab, die sie sagt. Ob sie immer und jederzeit die genau richtigen trifft, ist dann nicht so wichtig, ich vertraue ihrer Sprache, ich glaube ihrer Wahrheit. Denn in der Sprache, im Sprechen miteinander, geht es nicht nur um die Aneinanderreihung von Wörtern, sondern um das Herstellen von Sinnzusammenhängen für alle Beteiligten (Petzold und Orth 1995, S. 71). Dazu gehören auch die Leerstellen, die Zwischenräume, die mit Vertrauen gefüllt werden müssen. Die deutsche Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller betrachtet das Ungesagte im Satz als einen Fächer, der sich plötzlich öffnet (Müller 2016, S. 77). Dieser Fächer enthält ungeahnte Möglichkeit, auch die des Missverständnisses, der Ungewissheit, aber auch die des Vertrauens, der Sicherheit, der Zuversicht. Je nach Blickwinkel zeigt der Fächer im Satz die
eine oder andere Seite. Es gibt einen Überschuss im Satz, ein Zuviel, das in den Zwischenräumen lagert, zwischen den Zeilen oder am Rand des Gesichtsfeldes, im Augenwinkel. Den einen Augenblick ist es da, im anderen ist es fort. Verflogen, wie Wörter eben verfliegen, Wörter im Wind, der Augenblick ist vorbei, der Augenwinkel leer, der Fächer wieder zu. Das Vertrauen aber bleibt, wenn es sich im Fächer gezeigt hat. Hat sich jedoch etwas eröffnet, das den sicht- und hörbaren Wörtern widerspricht, dann wird es schwierig, Vertrauen aufzubauen. Auch der deutsche Filmemacher und Schriftsteller Alexander Kluge spricht von dem, was dazwischen steht: In Texten und noch mehr bei mündlichen Überliefe rungen ist wichtig, was zwischen den Zeilen steht. Was unter der Haut des Formulierten mitschwingt (Kluge 2019).
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Gerhard Janson / Pixabay
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Wie Vertrauen entsteht Unter der Haut passiert das Wesentliche. Das, was oberhalb passiert, sollte mit dem Unsichtbaren verwandt sein, darf durchaus noch eine Facette hinzufügen, einen weiteren Gedanken, eine Anregung, aber, wenn Vertrauen entstehen soll, nicht dem Gesagten unvereinbar entgegenstehen. Doch diese Übereinstimmung gelingt nicht immer. Alle Menschen lügen, sogar mehrmals am Tag (Hampel 2019). Das beginnt schon bei der Antwort auf die Standardfrage »Wie geht’s?«. Die übliche Antwort »gut« ist nicht immer wahr, oft ist es ein Versuch, das, was sich unter der Haut verbirgt, zu verstecken. Wer will schon im Treppenhaus oder im Lift von gesundheitlichen oder finanziellen Problemen erzählen. In dem Sinne schützen die Lügen vor einem Gespräch im falschen Augenblick. Sind sie allzu häufig, verhindern sie den wirklichen Kontakt zu anderen Menschen, verhindern sie, dass Vertrauen entsteht. So mehrdeutig und unzulänglich Sprache ist: Sie kann viel. Sie kann als Gedicht Menschen im Innersten berühren, sie kann beeindruckende Bilder malen, wie den zitternden Steg, den dräuenden Fels, sie kann zwischen Menschen Vertrauen schaffen, wenn wir sorgfältig mit ihr umgehen. Ob wir mit anderen sprechen oder mit uns selbst: Sprechend und schreibend werden wir Andere. In Lebenskrisen das aufzuschreiben, was einen bewegt, Briefe zu schreiben an Menschen, mit denen man sich auseinandersetzen will, Trost gedichte zu lesen oder sich selbst eines zu schreiben: All das sind Möglichkeiten, dank der Sprache wieder Vertrauen zu finden ins eigene Handeln und Tun, ins eigene Leben. Wie Vertrauen entstehen kann, erzählte mir meine Freundin, die als Beraterin bei einem Notfalltelefon arbeitet. Einmal habe eine aufgeregte Frau angerufen, die mit Worten kaum erreichbar gewesen sei. Kurz vor Schließung der Beratungsstelle fragte meine Freundin die Anruferin: »Was kann ich in diesen fünf Mi-
nuten für Sie tun?« »Mich in den Arm nehmen«, antwortete die Frau. Meine Freundin ließ sich darauf ein. Sie sagte: »Setzen sie sich bequem hin und schließen Sie die Augen. Jetzt lege ich Ihnen die Hände auf die Schultern. Spüren Sie meine Hände?« Ein leises »Ja« kam zurück. »Jetzt fahre ich über Ihre Arme, über Ihre Hände und wieder zurück. Und jetzt streiche ich langsam rechts und links Ihrer Wirbelsäule entlang.« Nach dieser Berührung auf Distanz habe sich die Frau ruhig bedankt. Das habe ihr sehr gut getan, so nahe sei ihr schon lange niemand mehr gewesen. Meiner Freundin war es gelungen, mit Worten so viel Vertrauen aufzubauen, dass die verbale Berührung selbst durch das Telefon wirksam wurde. So machtvoll sind Worte.
© Katrin Simonett
Esther Spinner, Pflegefachfrau, Berufsschullehrerin für Pflege, Ausbildung in Poesie- und Bibliotherapie. Sie befasst sich als Schriftstellerin und Leiterin von Schreibwerkstätten seit vielen Jahren mit Sprache und ihrer Wirkung. Ihr letzter Roman: »Alles war« (Zürich, 2018). E-Mail: [email protected]
Literatur Echtermeyer, T.; Wiese, B. von (1956). Deutsche Gedichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Düsseldorf. Hampel, L. (2019). Kleine Lügen. In: Sonntagszeitung, 11.3.2019 Kluge, A. (2019). Leseratte! In: Neue Zürcher Zeitung NZZ. 28.10.2019. Müller, H. (2016). Mein Vaterland war ein Apfelkern. Ein Gespräch. Frankfurt a. M. Paz, O (1991). Lektüre und Kontemplation. Frankfurt a. M. Petzold, H. G. (1995). Poesie- und Bibliotherapie mit alten Menschen, Kranken und Sterbenden. In: Petzold, H. G.; Orth, I. (Hrsg.): Über die Heilkraft der Sprache. Poesietherapie, Bibliotherapie, literarische Werkstätten. Paderborn. Petzold, H. G.; Orth, I. (1995). Zu den Grundlagen von Poesie- und Bibliotherapie. In: Petzold, H. G.; Orth, I. (Hrsg.): Über die Heilkraft der Sprache. Poesietherapie, Bibliotherapie, literarische Werkstätten. Paderborn. Wetzel, S. (2007). Worte wirken Wunder. Reden mit Herz und Verstand. Stuttgart.
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Vertrauen als soziale Energie Aspekte einer vertrauensbasierten Humanität
Die »Geburt der Humanität« besteht im Engagement für das Schicksal des Anderen – im Sein für den Anderen (Bauman 2010, S. 97). Humanität beginnt in dem Moment, in dem ein Mensch seine Selbstbezogenheit überwindet, um dem Anderen die erste Stelle einzuräumen (Levinas 2000). Diese »Priorisierung des Anderen« geht bis zur letzten Konsequenz – bis zum Einsatz des eigenen Lebens für einen anderen notleidenden Menschen (Bauman 2000). Humanität bedeutet somit, die »unendliche Verantwortung« für das Schicksal des Anderen zu übernehmen (Levinas 2000). Dies heißt konkret, den anderen Menschen nicht seinem Leiden, seiner Sterblichkeit und seinem Tod zu überlassen. Unmenschlichkeit geschieht durch »seelenlose Gleichgültigkeit« gegenüber dem Anderen (Bauman 2000, S. 92). Gleichgültigkeit »verwandelt den interpersonalen Raum in einen toten Raum. […] Wo seelenlose Indifferenz herrscht, verblassen menschliche Bindungen« (Bauman 2000, S. 92). Wie ist es möglich, dass Menschen sich nicht nur um sich selbst sorgen? Wie lässt sich nachvollziehen, dass Menschen sich für das Wohl ihrer Mitmenschen einsetzen und bereit sind, dafür Opfer zu bringen? Wie ist Sozialität möglich? Bei der Antwort auf diese Fragen kommt dem Phänomen des Vertrauens eine tragende Rolle zu. Soziale »Antwortlichkeit« Vertrauen beruht auf frühen Erlebnissen sozialer »Antwortlichkeit« (»Responsivität«; Feldman 2015; Gutknecht 2010; Bachtin 1990). Ein neugeborener Mensch macht die Erfahrung, dass seine soziale Umwelt
Paula Modersohn-Becker, Zwei Mädchen in weißem und blauem Kleid, 1906 / akg-images
Diana Staudacher
Die Welt erscheint als ein Ort, der zum eigenen Empfinden in Beziehung steht. Das Kind erkennt sich selbst im Spiegel der Welt. Dadurch erscheint die Welt nicht fremdartig und bedrohlich.
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• achtsam auf seine Blicke, Gesten, Bewegungen und Laute eingeht; • sich durch Affektangleichung auf seine Gefühlswelt abstimmt und Emotionen weitgehend mit ihm durchlebt; • sich mit ihm synchronisiert, um Rhythmen und Bewegungen mit ihm zu teilen; • seine Ausdruckszeichen der Entspannung und Anspannung, der Zugewandtheit und Abgewandtheit, der Offenheit und des Ruhe bedürfnisses wortlos versteht und achtet; • Äußerungen der Schwäche, des Schmerzes, der Enttäuschung, der Verzweiflung und der extremen seelischen Not aufgreift und mitträgt; • besänftigend und beruhigend einwirkt durch gemeinsame Atemberuhigung und Tonusabsenkung; • tröstenden Körperkontakt in Situationen intensiver Negativität ermöglicht; • seinen Emotionsausdruck nicht verurteilt oder bestraft, sondern Emotionen ein Recht einräumt; • zu intensive und fremdartige Umgebungsreize fernhält; • durch Blickdialoge, stimmlich-sprachmelodische Interaktionen und feinfühlig koordinierte Bewegungs-/Berührungsinteraktionen eine Gefühlsgemeinschaft herstellt und dadurch intensive Vitalitätsaffekte ermöglicht (Feldman 2015; Gutknecht 2010).
sich selbst zu setzen (Bollas 2017; Echterhoff et al. 2009). Das Erleben der Außenwelt ist hier von Anfang an dialogisch. »Ich bin, weil du mich erkennst und spiegelst«. Diese Erfahrung ist zentral, um sich als Ich zu fühlen. Das Selbstbild ist dem Menschen nicht angeboren. Es entsteht im Dialog mit der Welt – mit dem »Spiegelstadium als Bildner des Ich« (Lacan 2014). Vertrauen ist ein Verhältnis zur Welt, das auf einem empathischen Dialog basiert. Ich und Welt bilden keinen Gegensatz. Sie antworten einander empathisch. In diesem Kontext kann sich ein vertrauenserfülltes Ich entwickeln, das mit anderen mitfühlen kann.
Das Ich im »Spiegel« der Welt Unter diesen Bedingungen erlebt ein neugeborener Mensch die Außenwelt als antwortenden »Spiegel« seiner Innenwelt. Die Welt erscheint als ein Ort, der zum eigenen Empfinden in Beziehung steht. Das Kind erkennt sich selbst im Spiegel der Welt. Dadurch erscheint die Welt nicht fremdartig und bedrohlich. Das Kind macht eine Schlüsselerfahrung: Die Welt antwortet mir. Sie fühlt mit mir. Diese Erfahrung ist zentral, um Vertrauen in die Welt, in andere Menschen und in
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Der Dialog mit dem »inneren Du« Im feinfühlig-sorgenden Dialog entsteht ein »inneres Du« (Laub 2013). Dieses »Du« ist eine psychische Repräsentanz – die verinnerlichte Erfahrung des bedeutungsvollen, empathischen Anderen (Laub 2013). Das »innere Du« verleiht dem Erleben des Kindes eine dialogische Struktur. Vertrauen lässt sich als lebenslanger Dialog mit dem verinnerlichten sorgenden »Du« beschreiben (Laub 2013). Das »innere Du« bildet den immerwährenden Bezugspunkt der Welt- und Selbstwahrnehmung. Es erfüllt zentrale psychische Funktionen:
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Menschsein bedeutet Verbundensein mit dem Anderen und der Welt. In diesem Sinn ist das Ich keine un abhängige, separate, »autonome« Einheit, sondern eingebettet in eine Gemeinschaft.
• Das Ich kann sich jederzeit an das »innere Du« wenden – in der Sicherheit, gehört, verstanden und anerkannt zu werden. • Das Ich ist vor emotionaler Vereinsamung geschützt. Falls die Außenwelt emotional vernachlässigend oder traumatisierend ist, kann sich das Ich auf das »innere Du« beziehen. • Das Ich ist zu keiner Zeit auf sich selbst zurückgeworfen – es findet im »inneren Du« einen mitempfindenden »Zeugen« seiner Lebensereignisse: »Du bist nicht allein.« • Das Ich kann sein Erleben stets auf das »innere Du« beziehen – es hat die Möglichkeit, Erfahrenes und Erlittenes zu »erzählen« und zu teilen. • Das »innere Du« bildet eine schützende und hoffnungsvolle Gegenwelt in Situationen des Leidens, der Verlassenheit, des Unverstandenseins und der Demütigung. • Das Ich erlebt im Dialog mit dem »inneren Du« Vitalität, Anerkennung und Verständnis. Es fühlt sich als Mensch angenommen. Es ist weitgehend geschützt vor entmenschlichenden Erfahrungen (Laub 2013). Vertrauen als lebenslanges inneres Bezogensein auf das »inneren Du« entspricht einem soziozentrischen Menschenbild. Menschsein bedeu-
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tet Verbundensein mit dem Anderen/den Anderen und der Welt. In diesem Sinn ist das Ich keine unabhängige, separate, »autonome« Einheit, sondern eingebettet in eine Gemeinschaft. Das vertrauensvolle Ich hat eine »soziale Identität« (Cruwys 2014). Vertrauensbasierte Identität entsteht durch mitmenschliche Anerkennung. Zu keiner Zeit ist Anerkennung so wichtig wie am Beginn des Lebens. Jede Geste, jeder Blick, jede Bewegung kann ein Akt der Anerkennung sein: »Ich sehe, wie es dir geht, und ich stimme mein Dasein auf dein Dasein ab.« Anerkennung bedeutet, gehört und gesehen werden – und eine empathische Antwort zu erhalten. Denn »nichts ist schmerzhafter (für einen Menschen), als nicht gehört, nicht gesehen zu werden und keine Antwort zu erhalten« (Bachtin 1986, S. 127). Die Würde der kindlichen Emotion Die »Anerkennung (des Kindes) für sein ihm eigenes Selbst« ist zentral, um eine vertrauensvolle Persönlichkeit zu entwickeln (Gruen 2010, S. 2). Auf die Emotionen des Kindes einzugehen ist Ausdruck der Achtsamkeit gegenüber seiner persönlichen Gefühlswelt. Das Kind darf die Welt so sehen und empfinden, wie es seinen eigenen Wahrnehmungen entspricht. Dadurch bleibt es in Kontakt mit seinen eigenen Emotionen (Gruen 2010). Es ist nicht gezwungen, Emotionen abzuspalten, weil Eltern sie abwerten. Durch Anerkennen und Miteinanderteilen der kindlichen Emotionen kann sich die »emotionale Substanz« einer Persönlichkeit bilden (Gruen 2010). Das Kind erlebt, dass »Menschen Leid, Schmerz und Not akzeptieren und teilen können. Nur dann kann eine innere Kraft zustande kommen, wodurch Gleichmut trotz Unsicherheit, Sicherheit trotz Hilflosigkeit die Substanz eines Menschen prägen« (Gruen 2010, S. 1). Dies ist nicht selbstverständlich in einer Kultur, in der »Leid, Schmerz und Hilflosigkeit als Schwäche gebrandmarkt werden« (Gruen 2010, S. 1).
Fehlt das Miteinanderteilen der Emotionen, spaltet das Kind seine Gefühle ab. Es verliert den Kontakt zu seinem eigenen Empfinden. Es hat erlebt, dass es die Welt nicht so sehen soll, wie es seinen eigenen Wahrnehmungen entspricht. Es soll den Bedürfnissen der Eltern entsprechen, die Leid, Schmerz und Hilflosigkeit als Schwäche verurteilen (Gruen 2010). Das Kind ist gezwungen, sich zu unterwerfen – dem Willen der Eltern und der Gesellschaft (Gruen 2003). Gehorsam erweist sich hier als Gegenteil des Vertrauens: »Lange bevor wir sprechen können und sich unser Denken organisert, müssen wir lernen, gehorsam zu sein und unsere Gefühle zu unterdrücken. Gehorsam ist die Unterwerfung unter den Willen eines anderen. Dieser Andere übt Macht über den Unterworfenen aus. Bereits in frühester Kindheit beginnt diese Unterwerfung, lange bevor Sprache und Denken sich ordnen – sodass der Gehorsame später seine Unterwerfung während der Kindheit gar nicht wahrnimmt« (Gruen 2014, S. 13). Geringschätzung des Fühlens führt zum Verlust der Empathie. Mit der Empathie verlieren Menschen das, was sie zu Menschen macht: Mitfühlendes Anteilnehmen am Leben des Anderen ist »die Schranke gegen Unmenschlichkeit« (Gruen 1997).
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Keine Empathie ohne Vertrauen »Empathie formt die Landschaft unseres sozialen Lebens durch prosoziale Motivationsprozesse, sorgendes Verhalten, Aggressionshemmung und Förderung der Kooperation« (Decety et al. 2016, S. 371). Empathie ist dem Menschen nicht eingeboren. Sie setzt Vertrauen und tiefe psychische Sicherheit voraus. Fehlte diese Sicherheit, wirkt Fremdes bedrohlich. Vorurteile gegenüber Fremden lassen sich weitgehend auf fehlende sicherheitsgebende Erfahrungen in der Kindheit zurückführen (Van Oudenhove und Hofstra 2006). Verinnerlichte Sicherheitsmuster sind eine wertvolle Ressource. Sie ermöglichen, Energie auf andere Verhaltenssysteme zu übertragen (Mikulincer et al. 2005). Zudem wirken sie als »Schutzschild«. Wer sich psychisch sicher fühlt, wird beim Anblick eines schmerzleidenden Menschen nicht überwältigt. Prosoziales, empathisches Handeln ist in Stresssituationen nicht möglich. Im Fokus der Aufmerksamkeit steht das eigene Selbst. Ohne Repräsentanzen psychischer Sicherheit (»Security Priming«) entsteht ein Bedrohungsgefühl. Dadurch setzt selbstschützende Verteidigung ein (»ego-protective defense«) (Gillath und Karantzas 2019; Decety et al., 2016). Selbstschutz erfordert hohe Mengen an Energie. Dadurch steht keine Energie zur Verfügung, um die Aufmerksamkeit vom Selbstschutz auf die Sorge für andere zu übertragen (Mikulincer et al. 2005). Aggression, Machtund Geltungsstreben dienen dazu, fehlende, vertrauensbasierte Sicherheit zu kompensieren (Mikulincer et al. 2005). In diesem Zusammenhang deutet sich der Stellenwert des Vertrauens für eine humane Gesellschaft an. Feindliche Fremdheit Eine Welt, die von zwischenmenschlichen, interethnischen, internationalen Konflikten und Gewaltformen gezeichnet ist, stellt ein Spiegelbild psychischer Verhältnisse dar (Mikulincer et al.
2005). Beispielsweise geht aus Studien hervor, dass • fremdenfeindliche Einstellungen auf fehlende frühere Erfahrungen der Sicherheit zurückzuführen sind (Rüssmann et al. 2010); • Anerkennungsdefizite, Frustration, geringes Selbstwertempfinden und begrenztes Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten zu Aggression gegenüber anderen Menschen führen; • das Fremdbild auf dem Vorhandensein oder dem Fehlen einer empathischen, emotional verfügbaren Bezugsperson basiert; • frühe Erfahrungen mit dem sozialen Umfeld zur Akzeptanz oder Nicht-Akzeptanz der eigenen Person führen. Aufgrund der Zuverlässigkeit und Ansprechbarkeit der Bezugspersonen entsteht ein positives Selbstwertgefühl, gegründet auf das Vertrauen in andere Menschen; • infolge permanent unzuverlässiger Bezugspersonen keine Offenheit gegenüber anderen Personen entstehen kann. Fremd- und Selbstbild sind negativ geprägt. Hierfür fehlt die notwendige kognitive Flexibilität. Je weniger Sicherheit eine Person in der frühen Kindheit erlebte, desto fremdenfeindlicher ist sie (Rüssmann et al. 2010). Das »äußere Du« als Zeugin/Zeuge Als gefährlichste »Krankheit« einer Gesellschaft beschrieb der Soziologe Zygmunt Bauman die Desensibilisierung für das Leiden und die Not anderer Menschen (Baumann 2000). Was geschieht, wenn eine Gesellschaft zunehmend »blind« und »taub« wird für soziale Werte? Was passiert, wenn bereits die Kindheit durch individualistische Werte wie Unabhängigkeit und Selbstständigkeit geprägt ist? Wie wachsen Kinder heran, die keine Möglichkeit hatten, ein »empathisches Du« zu verinnerlichen? Angesichts dieser Fragen deutet sich die soziale Funktion der helfenden Berufe an. Menschen in Leidenssituationen brauchen ein
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»äußeres Du«. Dieses »äußere Du« tritt in einen »leeren Kreis« ein. Er entstand durch das fehlende oder verlorene »innere Du« (Laub 2013). Helfende Berufe übernehmen die Rolle der Zeugin/ des Zeugen für erlebtes Leiden. Als Zeugin/Zeuge • stellt das »äußere Du« eine dialogisch antwortende Situation her; • bietet das »äußere Du« psychische Sicherheit, emotionale Verfügbarkeit und sensible Resonanz; • schützt das »äußere Du« vor emotionaler Vereinsamung und sozialer Isolation; • spiegelt das »äußere Du« die Emotionen des leidenden Ich und teilt dessen Gefühlswelt; • vermittelt das »äußere Du« Anerkennung und stärkt die verletzte Ich-Identität; • ermöglicht das »äußere Du«, fehlendes oder verlorenes Welt- und Selbstvertrauen (wieder) zu erlangen. Nicht das individuelle Bewältigen steht im Vordergrund, sondern Miteinanderteilen und Solidarität mit dem leidenden Menschen. Krankheit, Leiden und Traumata entstehen häufig nicht »im« Menschen, sondern »zwischen« Menschen – wenn der »interpersonale Raum« zerbrochen ist. Dies macht es erforderlich, dass helfende Berufe Widerstand leisten gegenüber Verhältnissen, die sozialen Schmerz auslösen. Vertrauen ist eine wertvolle soziale Energie. Um sie zu erhalten, braucht es ein Nein gegenüber Ideologien, Systemen und Normen, die Menschen ausgrenzen, diskriminieren, stigmatisieren, demütigen und entwürdigen (Bauman 1990). Dr. phil. Diana Staudacher studierte Germanistik und Humanmedizin. Sie arbeitet als freie Publizistin und ist als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Universitätsspital Zürich sowie an der Fachhochschule St. Gallen, Fachbereich Gesundheit, tätig. E-Mail: [email protected]
Literatur Bachtin, M. (1986). Speech genres and other late essays. Austin. Bachtin, M. (1990). Art and answerability. Austin. Bauman, Z. (1990). Effacing the face: On the social management of moral proximity. In: Theory, Culture & Society, 7, S. 5–38. Bauman, Z. (2000). Ethics of individuals. In: The Canadian Journal of Sociology, 25(1), S. 83–96. Bauman, Z. (2010). Amour liquide. De la fragilité des liens entre les hommes. Paris. Bollas, C. (2107). The shadow of the object. London. Cruwys, T. (2014). Depression and social identity: An integrative review. In: Personality & Social Psychology Review, 18, 3, S. 215–238. Decety, J.; Bartal, I.; Uzefovsky, F.; Knafo-Noam, A. (2016). Empathy as a driver of prosocial behaviour: highly conserved neurobehavioural mechanisms across species. In: Philosophical Transactions of the Royal Society B: Biological Sciences, Jan 19; 371 (1686). Echterhoff, G., Higgins, E., Levine, J. (2009). Shared r eality: Experiencing commonality with others’ inner states about the world. In: Perspectives on Psychological Science, 4, S. 496–521. Feldman, R. (2015). Sensitive periods in human social development: New insights from research on oxytocin, synchrony, and high-risk parenting. In: Development and Psychopathology, 27, 2, S. 369–395. Gillath, O.; Karantzas, G. (2019). Attachment security priming: A systematic review. In: Current Opinion in Psychology. https://doi.org/10.1016/j.copsyc.2018.03.001. Gruen, A. (1997). Der Verlust des Mitgefühls. München. Gruen, A. (2003). Die Konsequenzen des Gehorsams für die Entwicklung von Identität und Kreativität. Lindauer Psychotherapiewochen. Gruen, A. (2010). Empathie und Kooperation. Rede anlässlich der Verleihung des Finnischen »Loviisa Peace Prize 2010«. Kongress »Gewalt verstehen und begegnen«, Universitätsklinikum Würzburg. Gruen, A. (2014). Über das Böse. Interview. In: Das Magazin, 45, S. 35–41. Gutknecht, D. (2010). Professionelle Responsivität. Pädagogische Hochschule Heidelberg. Dissertation. Lacan, J. (2014). Écrits. Paris. Laub, D. (2013). Reestablishing the internal ›Thou‹ in testimony of trauma. In: Psychoanalysis, Culture & Society, 18, 2, S. 184–98. Levinas, E. (2000). Entre nous. Essays on thinking-of-theother. London. Mikulincer, M.; Shaver, P.; Gillath, O.; Nitzberg, R. (2005). Attachment, caregiving, and altruism: boosting attachment security increases compassion and helping. In: Journal of Personal and Social Psychology, 89, 5, S. 817–839. Rüssmann, K.; Dierk, S.; Hill, P. (2010). Soziale Desintegration und Bindungsstil als Determinanten von Fremdenfeindlichkeit. In: Zeitschrift für Soziologie, 39, 4, S. 281– 301. Van Oudenhove, J., Hofstra, J. (2006). Personal reactions to ›strange‹ situations: Attachment styles and acculturation attitudes of immigrants and majority members. In: International Journal of Intercultural Relations, 6, S. 783–798.
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Mamas Tod, 28. August 2019 Und dann ist es passiert
Kate Binnie Ich sitze auf der Hinterhoftreppe von Mamas Wohnung. Es ist total still, heiß, ein später Augustnachmittag. Nichts scheint sich zu bewegen. Nix los. Ich könnte in den Hügeln oberhalb von Nizza sein; klarer blauer Himmel, Kiefernduft, trockene Erde – Zeichen des Urlaubs. Ich ploppe mir ein kleines italienisches Bier auf, das ich in Mamas Kühlschrank gefunden habe – seit Tagen habe ich nichts Alkoholisches getrunken, es ist kalt und lecker. Mein Körper entspannt und ich lehne mich an die Backsteinwand und schließe meine Augen. In der Wohnung ist es merkwürdig still. Mama liegt tot auf dem Krankenbett. Wir haben sie aufgebahrt und ihre Augen sind geschlossen, die Spritzenpumpe ist entfernt, aber wir haben es nicht hingekriegt den Blasenkatheter zu entfernen. Ihre Hände sind dunkelblau, die Fingernägel fast schwarz. Ihre Füße sind kalt, das bröckelnde rosa Puder hell gegen ihre sich verdunkelnde Haut. Ich habe ihre Mundwinkel gereinigt und ihre Haare gebürstet. Es ist heiß und ich weiß, dass ich sie nicht rumliegen lassen kann, und ich denke an die Verbrennungsplätze in Indien und ich stelle mir Mama vor: eingehüllt in ein weißes Leichentuch, verschnürt mit Ringelblumen und Flammen lecken in den hellen Himmel. Ich fühle mich leicht und müde. Es klingelt an der Tür. Zwei junge Männer stehen feierlich auf der Schwelle in der grellen Sonne in schwarzen Anzügen. Sie wurden geschult, so zu stehen auf spezielle Art, die Füße fest nebeneinander gesetzt und die Hände respektvoll vor sich verschränkt. Der jüngere hat erfolglos versucht sich einen Bart wachsen zu lassen und sein Flaum erinnert mich an meinen achtzehnjährigen Sohn. Ich kämpfe gegen ein Kichern an. Ich
biete Ihnen unangemessener Weise ein Bier an, das sie natürlich ablehnen. Sie sagen mir, dass sie gekommen seien, um Mama in ihre Obhut zu nehmen. Ich schiele hinter sie, ein Transporter parkt am Ende der Treppe. Sie halten diskret einen Leichensack hinter sich. Ich entschuldige mich für das Bier und finde mich selbst wieder, als wäre ich auf einer Cocktailparty, plaudere über die seltsame Eigenheit ihrer Arbeit und die Hitze. Ich will nicht, dass sie sie mitnehmen, hier nimmt jetzt etwas seinen Lauf und ich werde nie wieder mit Mama zusammen sein, tot oder lebendig in unserer Privatsphäre, die wir erschaffen haben, um ihre Sterbearbeit zu tun. Die jungen Männer sehen mich plappern, aber sie werden sich nicht ablenken lassen. Sie fragen höflich nach dem Papierkram, dann, wo sie ist, und ich geleite sie in das schmale Zimmerchen. Ich habe ein Gefühl der Panik. Das Kind, das von seiner Mutter getrennt wird. Ich komme zurecht; Schultern zurück und atme. Wir quetschen uns um das Krankenbett und ich streife ein paar Rosen, die jemand vorbeigebracht hat, die weichen Blütenblätter fallen zu Boden. Sie mustern den Raum und bitten mich hinaus. Die jungen Männer schauen diskret weg als ich mich über sie beuge und sie küsse oberhalb ihres kalten Ohres. Ich rieche sie. Mama. Ich flüstere »Danke dir« und gehe nach hinten raus, um mein Bier runterzustürzen. Mein Herz rast in meiner Brust. Meine Familie ist daheim, niemand, den ich liebe, ist hier außer meiner toten Mutter, die gerade abgeholt wird. Ich fühle den Wohnblock warten und beobachten. Bebauung von drei Seiten mit dem Parkplatz in der Mitte, kein Ausweg aus der Öffentlichkeit.
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Ich stelle mich unters Vordach, die dumpfen Schläge und Stöße zu hören ertrage ich nicht. Was machen die da? Ich stehe vor der Tür und versuche würdevoll auszusehen. Ich weiß, dass die Leute aus ihren Wohnungen schauen. Als die jungen Bestatter aus Mamas Wohnungstür treten, schwitzend, eine schwarze Bahre mit etwas schwerem darin tragend, sehe ich ein Paar, das einige Türen weiter aus seiner Wohnung kommt, wahrhabend, was passiert, und in seine Wohnung zurückschrecken wie Kaninchen in ihren Bau. Ich wünsche mir, dass jeder, der sie kannte, kommen würde, um zu singen, zu weinen, Trommeln zu schlagen und mich zu stützen. Stattdessen ein total stiller leerer Raum, durch den ich mit gesenktem Kopf hinter dem Körper meiner Mutter hergehe, als die jungen Männer ihn die Betontreppe heruntertragen. Die Hitze dringt durch meine Flipflops. Die Bestatter schieben den Leichensack feinsäuberlich in ein Regal hinten im Wagen. Es ist Platz für vier Körper da drin, aber sie ist die Einzige. Ich bin kurz erleichtert darüber, dass sie da nicht zu anderen reingeschoben wird, und denke an die groteske Würdelosigkeit von Massengräbern und die Haufen miteinander verhedderter Körper in Bergen-Belsen. Die Wagentür ist zu. Die schwitzenden Männer sehen mich an, nehmen ihre respektvolle Haltung ein und sagen, dass der Bestatter sich am Dienstag melden wird. Morgen wird nichts passieren wegen des Feiertags. Ich nicke, um zu signalisieren, dass ich verstanden habe, schüttle ihre heißen Hände und sage »danke, danke«. Ich fange an zu weinen, als der Wagen in drei Zügen wendet und wegfährt. Ich gehe rauf in die Wohnung und da ich mich beobachtet fühle, gehe ich weiter mit gestrafften Schultern, obwohl ich gleichzeitig zu Boden gehen möchte und das Gras mit meinen Zähnen ausreißen, splitternackt und singend und heulend in der sengenden Sonne. Zwanzig Minuten später. Die Wohnung ist abgeschlossen, Mamas Bett glattgestrichen. Ich sitze auf meinem Rad, den Wind in den Haaren,
rausche ich den Hügel hinab zum Fluss. Mir ist, als sei ich über Wochen in weit entfernten, staubigen Ländern herumgereist, eine Odyssee, auf der mich niemand begleiten konnte außer meine Mutter. Wir haben’s geschafft! Ich rase durch die Auen in das Land der Lebenden und mein steifer Körper, der sich seit Tagen nicht bewegt hat, beginnt zu summen und zu brummen zu meinen strampelnden Beinen und meinem schneller schlagenden Herz. In Sichtweite meine Kinder und mein Mann am Fluss sitzend und meine Hunde rasen auf mich zu. Die Weinflasche ist geöffnet, Tortilla-Chips verzehrt. Die Kinder springen auf und winken, und ich jauchze, küsse alle, reiße mir die Kleider vom Leib und springe in das dunkelgrüne Wasser, fühle, wie sich das Schilf
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um meine Beine schlingt und den Schlamm zwischen meinen Zehen. Ich lasse mich vertrauensvoll untergehen und als die Kühle und Stille über meinen Kopf plätschert, sage ich, »ich danke dir, ich danke dir, ade«. Begleitreflexionen von Christina Gerlach Vor drei Jahren durften wir an dieser Stelle lesen von »Papas Tod, 1. April 2016« (Leidfaden, 4/2016, S. 66 ff.). Nun hat Kate Binnie auch ihre Mutter verloren und lässt uns teilhaben an dem Momentum der ersten unmittelbaren Trauer nach dem Tod eines nahestehenden Menschen. Für Kate ist es befreiendes Schreiben. Uns Zuschauerinnen und Zuschauer bietet es die Möglichkeit
zur Reflexion. Kate Binnie ist eine hervorragende diplomierte Musiktherapeutin, die ihren Master of Science in Palliative Care mit Auszeichnung bestanden hat. Nun erlebt sie in der Begleitung ihrer Eltern am Lebensende, dass – wenn ich das als Freundin so sagen darf – ihr hingebungsvoller und gelebter Anspruch an Palliativversorgung nicht von allen geteilt wird, die in diesem Feld ihr Brot erwerben. Sie erfährt das sowohl in der Rolle als Angehörige als auch als Arbeitnehmerin. »Leidfaden« hatte dem Thema »Trauer am Arbeitsplatz« ein ganzes Heft (3/2012) gewidmet. Ob aus dem Momentum ein gelingender Trauerprozess wird, hängt nicht nur von der Trauernden ab. Kate erfährt im Mutterland der modernen Hospiz- und Palliativbewegung keine Trauerbegleitung, weder durch das zuletzt behandelnde ambulante Palliativteam noch durch andere. Die Pflege der Mutter und die aktuelle, lähmende Trauerzeit werden nicht als Begründung für eine Verlängerung ihrer wissenschaftlichen Förderung akzeptiert. Wann immer wir trauernde Kolleginnen und Kollegen nicht in der gewohnten Qualität oder schieren Präsenz am Arbeitsplatz handeln sehen, sollten wir zu allererst unsere eigenen Erwartungen überprüfen. Kate würde das niemals einfordern, sich aber möglicherweise freuen, wenn ihr Text hilft, die Vulnerabilität des trauernden Menschen zu respektieren, auch dann, wenn es einer von uns ist. Kate Binnie MSc, Studium der Musik und Englischen Literatur, ist Musiktherapeutin und Achtsamkeits- und Yogalehrerin in Oxford (England). E-Mail: [email protected] Dr. med. Christina Gerlach MSc ist Ärztin und arbeitet an der Universitätsmedizin Mainz. Ihr Forschungsschwerpunkt liegt in der Integration palliativmedizinischer Versorgung von Patienten und Angehörigen. Sie unterrichtet Medizinstudierende im Querschnittsbereich Palliativmedizin und Gesprächsführung und ist in der außeruniversitären Aus- und Weiterbildung aktiv. E-Mail: [email protected]
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Vertrauen – die unsichtbare Kraft Eva Schulte-Austum Wir spüren es, wenn wir tief in die Augen unseres Partners, unserer Partnerin blicken. Es ist da, wenn wir einem Freund, einer Freundin unser Herz ausschütten. Es sorgt dafür, dass wir Menschen an unseren Erlebnissen teilhaben lassen. Es hilft uns, Probleme gemeinsam zu meistern: Vertrauen, das unsichtbare Band, das Menschen verbindet. Und das ist noch lange nicht alles, was die kleine Schwester des Muts so besonders macht. Vertrauen gibt uns Halt in unsicheren Zeiten, bietet uns Orientierung, wenn wir den Überblick
verlieren, und spendet uns Energie, um Krisen zu überstehen: Vertrauen ist die unsichtbare Kraft, die uns stärkt. Vertrauen ist der Schlüssel Nicht ohne Grund gilt Vertrauen als der Schlüssel für Liebe, Zufriedenheit und Glück. Aus der Glücksforschung wissen wir: Vertrauen ist der wichtigste Faktor für persönliches Glück und ein erfülltes Leben. Und tatsächlich: Vertrauen allein
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Nicht ohne Grund gilt Vertrauen als der Schlüssel für Liebe, Zufriedenheit und Glück. Aus der Glücksforschung wissen wir: Vertrauen ist der wichtigste Faktor für persön liches Glück und ein erfülltes Leben.
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macht zwar nicht glücklich, aber ohne Vertrauen ist glücklich zu sein verdammt schwer. Denn wir nehmen uns jede Chance auf Verbundenheit, Nähe und Geborgenheit. Genau diese brauchen wir Menschen jedoch, um Glück zu empfinden, denn wir sind soziale Wesen. Vom ersten Atemzug an erlernen wir deshalb eine Art soziale Grammatik, die uns das Zusammenleben mit anderen erleichtert. Vertrauen ist ein wesentlicher Teil davon. Ebenso wie die Fähigkeit, uns in andere einzufühlen und ihnen zu helfen. Misstrauen ist Gift Und doch: Jeder von uns kennt Personen, die sich mit Vertrauen schwertun. Häufig wurden diese Menschen sehr enttäuscht, stark verletzt, oder das Leben hat ihnen übel mitgespielt. Da wundert es nicht, dass diese Menschen skeptisch sind, häufig zweifeln und anderen misstrauisch begegnen. Dabei ist Misstrauen ein nervenaufreibendes Unterfangen, dass nicht nur die Betroffenen, sondern auch ihre Mitmenschen belastet. Vertrauen ist oft der Anfang einer Beziehung, Misstrauen ihr Ende. Dabei ist es egal, ob wir über Verbindungen zu Freunden, Nachbarn oder Kollegen sprechen. Misstrauen ist in jeder Hinsicht Gift für ein gutes Miteinander. Vertrauen hingegen wirkt wie ein Dünger, der das Beste in Menschen hervorbringt und Beziehungen stärkt. Das Paradoxe daran: Vertrauen brauchen wir oft dann am meisten, wenn es uns am schwersten fällt: in Krisen. Vertrauen ist angeboren Die gute Nachricht. Wir können unser Vertrauen nicht gänzlich verlieren, denn ein Teil dessen ist angeboren. Wir alle kommen mit der Fähigkeit und der Bereitschaft, anderen Menschen zu helfen, auf die Welt. Vertrauen gehört zur Grundausstattung eines jeden von uns. Die Forschung zeigt: Etwa 10 bis 20 Prozent unseres Grundvertrauens ist angeboren. Dieser Teil verblasst zwar,
wenn wir sehr enttäuscht und verletzt werden, aber er verschwindet nicht. Wir können ihn reaktivieren und darauf aufbauen. Misstrauen ist erlernt Anders verhält es sich mit Misstrauen. Verschiedene Studien kommen zu dem Schluss, dass es keine genetische Veranlagung für Misstrauen gibt. Mit anderen Worten: Misstrauen ist komplett erlernt. Im Laufe unseres Lebens machen wir immer wieder auch negative Erfahrungen. Wir werden enttäuscht, belogen, betrogen, verletzt. Damit uns das nicht noch einmal passiert, versuchen wir uns mit Skepsis und Misstrauen gegen erneute Verletzungen zu schützen. Was auf den ersten Blick sinnvoll klingt, ist in Wirklichkeit ein Trugschluss. Denn das Gegenteil ist der Fall. Die selbsterfüllende Prophezeiung Misstrauen schützt uns nicht vor schlechten Erfahrungen, Misstrauen macht schlechte Erfahrungen gerade erst wahrscheinlich. Psychologen nennen diesen Effekt »selbsterfüllende Prophezeiung«. Der Mechanismus dahinter ist simpel: Misstrauen wir unserem Gegenüber, spürt er dies auch ohne Worte, und gibt sich folglich wenig Mühe, uns eines Besseren zu belehren. Ganz nach dem Motto: Ist der Ruf erst ruiniert, lebt es sich ganz ungeniert. Die gute Nachricht: Dieser Effekt lässt sich jedoch auch positiv nutzen. Gehen wir etwa davon aus, dass wir einem Freund oder einer Freundin vertrauen können, steigt die Wahrscheinlichkeit enorm, dass wir es tatsächlich können. Besonders wahrscheinlich werden positive Erfahrungen mit unseren Mitmenschen, wenn wir ihnen sagen, dass wir ihnen vertrauen. Der Grund: Vertrauen setzt an einem sehr sensiblen Punkt an: an unserer Ehre. Wer weiß, dass er das Vertrauen eines anderen genießt, wird sich eher vertrauenswürdig verhalten und versuchen, das geschenkte Vertrauen zu bestätigen. Psychologen nennen diese positive Form der selbsterfüllenden Prophezeiung »Pygmalion-Effekt«.
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Anderen Vertrauen zu schenken ist also klug, wenn wir positive Erfahrungen machen wollen. Wie aber gelingt es, nach Enttäuschungen und Schicksalsschlägen, sich wieder zu öffnen und auf andere Menschen einzulassen? Die Antwort darauf bringt Frida – eine NS-überlebende, die ich in Kanada zum Interview treffe – auf den Punkt: »Vertrauen ist eine Entscheidung. Unabhängig von dem, was du erlebt hast, unabhängig von dem Leid, das dir Menschen angetan haben. Vertrauen ist im Übrigen eine sehr kluge Entscheidung. Denn das Leben ist viel zu kurz, um es mit Misstrauen zu versauen.« Vertrauen ist eine Entscheidung Vertrauen ist eine Entscheidung, die jeder für sich selbst treffen kann – unabhängig von dem, was
man bisher erlebt hat. Diese Erkenntnis habe ich auf meinen Reisen durch die vertrauensstärksten Länder der Welt gewonnen. Mehr als 350 Menschen habe ich in neun Ländern der Erde interviewt, um zu verstehen, was Vertrauen im Kern ausmacht und wie es sich stärken lässt. Tatsächlich gibt es eine Sache, die Menschen in Vietnam, Kanada, den USA, Schweden, der Schweiz, Dänemark, Norwegen und den Niederlanden grundsätzlich anders machen als Menschen in Deutschland. Die Bewohner/-innen dieser Länder geben anderen erst einmal einen Vertrauensvorschuss. Sie leben nach der Devise: Ich vertrauen meinen Mitmenschen so lange, bis sie mich eines Besseren belehren. Eine Haltung, mit der die Menschen anderenorts nicht nur mehr positive Erfahrungen machen, sondern auch eine Einstellung, die glücklich macht.
Foto: m.schröer
Misstrauen schützt uns ni cht vor schlechten Erfahr un gen, Misstrauen macht sc hlechte Erfahrungen gera de erst wahrscheinlich. Psycho logen nennen diesen Effek t »selbsterfüllende Propheze iung«.
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Selbstfürsorge ist wichtig
Vertrauen ist Übungssache
Wer Vertrauen (wieder) aufbauen will, muss sich zunächst gut um sich selbst kümmern. Was banal klingt, ist in der Praxis nicht immer leicht. Wenn wir auf die Grundbedürfnisse unseres Körpers – genug Schlaf, gutes Essen, ausreichend Erholung – nicht achten, bedeutet das für unseren Körper Stress. Die Forschung zeigt wiederum, dass wir unter Stress deutlich ängstlicher, schreckhafter und vorsichtiger sind. Mit anderen Worten: Wir neigen eher dazu, skeptisch und misstrauisch zu sein – und hadern damit, anderen Menschen zu vertrauen. Menschen, denen es gelingt, auch in Krisen gut für sich zu sorgen, überstehen die schwierige Zeit besser, überwinden schneller die empfundene Traurigkeit und gehen in den meisten Fällen gestärkt aus der Situation hervor. Im Grunde ist Vertrauen wie ein Rettungsring. Mit Vertrauen an unserer Seite können die Wellen noch so hoch sein und die See noch so stürmisch. Wir werden vielleicht nass und ganz schön durchgeschüttelt, aber wir behalten den Kopf oben und gehen nicht unter.
Am Ende ist Vertrauen wie Fahrradfahren. Man kommt vielleicht aus der Übung, aber man verlernt es nicht gänzlich. Sind wir lange nicht aufs Rad gestiegen und machen die ersten Fahrversuche, eiern wir mitunter durchs Gelände. Damit wir unser Gleichgewicht auf dem Zweirad zurückgewinnen, brauchen wir Geduld mit uns selbst, Training und Ausdauer. Und dann ist Vertrauen tatsächlich so leicht wie Fahrradfahren.
Glück, Gesundheit, Gelassenheit Vertrauen fühlt sich im Übrigen nicht nur gut an, sondern ist auch gesund. Eine Studie aus Schweden (Rosengren et al. 1993) konnte zeigen: Menschen mit einem hohen Vertrauen in andere besitzen eine signifikant geringere Sterbewahrscheinlichkeit. Anders ausgedrückt: Vertrauen verlängert das Leben. Zudem sind Menschen mit einem hohen Grundvertrauen in andere im Vergleich zu misstrauischen Menschen seltener krank und haben deutlich größere Heilungschancen – weil sie bei Erkrankungen früher zum Arzt gehen und an den Behandlungserfolg glauben. Wer anderen vertrauen kann, fühlt sich gesünder und glücklicher als jemand mit einem gering ausgeprägten Vertrauen. Zudem erhöht Misstrauen auch das Risiko für Angsterkrankungen und verstärkt Depressionen.
© Dieter Düvelmeyer
Eva Schulte-Austum ist Wirtschaftspsychologin, systemischer Coach, Keynote Speaker und Deutschlands führende Vertrauensexpertin. Als TV-Expertin ist sie regelmäßig im Fernsehen zu Gast und erklärt psychologische Phänomene aus dem Alltag. E-Mail: [email protected] Website: www.eva-schulte-austum.de
Literatur Barefoot, J. C.; Maynard, K. E.; Beckham, J. C.; Brummett, B. H.; Hooker, K.; Siegler, I. C. (1998). Trust, health, and longevity. In: Journal of Behavioral Medicine, 21, 6, S. 517– 526. Bell, R. A.; Leroy, J. B.; Stephenson, J. J. (1982). Evaluating the mediating effects of social support upon life events and depressive symptoms. In: Journal of Community Psychology, 10, 4, S. 325–340. Berkman, L. F.; Glass, T. (2000). Social integration, social networks, social support, and health. In: Berkman, L. F.; Kawachi, I. (Hrsg.): Social epidemiology (S. 137–173). Oxford, New York. Cohen, S. (2004). Social relationships and health. In: American Psychologist, 59, 8, S. 676. Cohen, S.; Gottlieb, B.; Underwood, L. (2000). Social relationships and health. In: Cohen, S.; Underwood, L.; Gottlieb, B. (Hrsg.), Measuring and intervening in social support. New York. Hamamura, T.; Li, L. M. W.; Chan, D. (2016). The association between generalized trust and physical and psychological health across societies. In: Social Indicators Research, 134,1, S. 1–10. Lin, N. (1979). Social support, stressful life events, and illness. In: Journal of Health and Social Behavior, 20, S. 108 f. Rosengren, A.; Orth-Gomer, K.; Wedel, H.; Wilhelmsen, L. (1993). Stressful life events, social support, and mortality in men born in 1933. In: BMJ: British Medical Journal, 307, 6912, S. 1102.
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Leichtsinn oder Vertrauen Eine Kurzgeschichte
Erika Schärer-Santschi Agnes, sieben Jahre, und Peter, zehn Jahre, gehen baden. »Gib Acht, hier ist ein Loch! Langsam, Schritt für Schritt, gib mir deine Hand!«, ruft Peter besorgt. Doch Agnes meint: »Nein, ich kann das allein! Lass mich los!« Peter steht im hüfttiefen Seewasser. Seine Schwester tastet sich langsam vom Ufer in die Tiefe des Sees. Ein aufgeblasener Reifenschlauch trägt sie durch das Wasser. »Uuups, eine Welle« – Agnes schluckt das Wasser, das in ihren offenen Mund strömt. »Pass auf! Halt dich fest!«, ruft Peter. »Mach ich doch!«, antwortet Agnes. Sie kann noch nicht schwimmen. Doch sie liebt es, sich im grünblauen Seewasser treiben zu lassen. Peter hingegen ist schon ein guter Schwimmer. »Was macht ihr da?«, ruft plötzlich ein Bauer, der das Heu auf der Wiese zusammenbringt. »Wir baden!«, antwortet Peter. »Die Kleine kann aber anscheinend nicht schwimmen. Und der See ist tief!«, meint der Bauer. »Aber ich habe doch meinen Reifenschlauch – und meinen Bruder!«, ruft Agnes. »Ja, ich gebe auf sie Acht. Uns passiert schon nichts«, versichert Peter. »Ich werde trotzdem ein Auge auf euch werfen. Wer weiß, was alles passieren kann!«, gibt der Bauer zu bedenken. Agnes und Peter zieht es immer weiter in den See hinaus. Sie genießen es, einander mit Wasser zu bespritzen. Dabei merken sie kaum, dass langsam dunkle Wolken am Himmel aufziehen. Durch den aufkommenden Wind werden die Wellen stärker. Dadurch macht alles noch viel mehr Spaß. »Kommt raus! Ein Gewitter zieht auf!«, ruft der Bauer aus voller Kehle. »Kommt zurück!« Es beginnt schon zu regnen. Durch die Regentropfen
bilden sich überall Kreise im Wasser. Die Kinder sind fasziniert. Wohin sie auch blicken – überall sind sie von immer neuen Kreisen umgeben … Als es donnert, ruft Peter: »Komm, Agnes! Ich ziehe dich am Ring. Wir müssen zurück. Es donnert schon! Komm, das schaffst du!« »Uh, ich komme kaum vorwärts. Ich bin so müde«, klagt Agnes. »Ich ziehe dich! Stell dir vor, du wärst ein Fisch und hättest Flossen …«, ruft Peter ihr zu. »Ja, ich versuch’s …«, sagt Agnes mit leiser Stimme. Wie sehr sich die beiden auch anstrengen – sie kommen nur langsam voran. Peter macht Agnes Mut: »Komm schon, wir schaffen das!« Agnes bleibt ruhig – obwohl die Wellen immer stärker werden. »Ja, das schaffen wir schon! Wir sind ja zu zweit!«, ruft sie – und der Regen überströmt ihr Gesicht. »Der Herrgott im Himmel hilft uns auch!«, hört Agnes ihren Bruder rufen. Fünf Minuten später erreichen sie endlich das Ufer – müde und erschöpft. »Das war aber knapp!«, murmelt der Bauer, als die beiden aus dem See kommen. »Ja. Aber wir haben es geschafft!«, ergänzt Peter. Leichtsinn oder Vertrauen? Agnes wurde eine Spitzenschwimmerin. Mit sechzehn Jahren hat sie ihren ersten Schweizer Meistertitel in 100 Meter Freistil gewonnen. Erika Schärer-Santschi, Diplomierte Pflegefachfrau HF, MAS Palliative Care, IFF Wien, ist Trauerbegleiterin in eigener Praxis in Thun, Berufsschullehrerin für Gesundheits- und Krankenpflege, NLP-Master, Dozentin und Referentin im Bereich Palliative Care. E-Mail: [email protected]
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Sich selbst vertrauen oder dem Selbst trauen? Gedanken zum Vertrauen als Ressource von Sterbenden/ Trauernden und ihren Begleiterinnen/Begleitern
Monika Müller Das Leben von Frau W. neigt sich dem Ende zu, die Kollegen auf der Palliativstation sprechen von Finalphase. Es wird erzählt, dass Frau W. vor ihrer Erkrankung eine weithin bekannte und sozial sehr anerkannte Person war und beruflich ein sehr ausgefülltes Leben geführt hatte. Nun liegt Frau W. sehr verloren in ihrem Bett, mustert einen Punkt an der Zimmerdecke und murmelt: »Auf nichts und niemanden kann ich setzen.« Sie scheint zutiefst erschüttert. Das Erleben von Frau W.s Sterbeprozess wirft Fragen auf zum Thema Vertrauen und Selbstvertrauen: Ist Vertrauen für Menschen am Lebensende, in Krisen und tiefem Leid überhaupt eine Option? Ist Vertrauen mit Hoffnung in Verbindung zu bringen? Wem oder was ist denn in dieser Krise zu trauen? Dem Sterben, dem Leiden trauen? Ein Bild taucht auf. Ein kleines Kind wirft sich jubelnd vom Klettergerüst in die hoch gereckten Arme des Vaters. Es weiß, dass es aufgefangen, nicht fallengelassen wird. Es erwartet zu Recht, dass der starke Vater es empfängt, hält und trägt. Der im Wort (Ver)Trauen steckende Begriff der Treue bezeugt genau diese Sicherheit; mit dem Vater und seiner Zuverlässigkeit ist aus Erfahrung zu rechnen. Wenn Vertrauen also die Erwartung in etwas Positives oder Bekanntes meint, dann ist es am Lebensende oder in tiefer Krise, so scheint es, keine angemessene Reaktion oder Einstellung.
Der im Sterben befindliche oder leidgeprüfte Mensch weiß nicht, was auf ihn zukommt. Er hat keine Vorstellung, wie der Vorgang des Sterbens sein wird, noch hat er irgendeine Ahnung davon, wie und was »danach« sein könnte. Er hat keine Erfahrungen und Informationen zur Verfügung, welche ein mögliches Vertrauen begründen könnten. Selbst seine größten überstandenen Krisen im Leben erlauben keinen Vergleich mit dieser letzten Aufgabe der Selbstabgabe. Der Vorgang des Sterbens bleibt ein großes und letztes Wagnis und begründet keine Sicherheit. Sich anvertrauen Haben Menschen auch kein Erfahrungswissen zum Sterbevorgang, so hatten sie vielleicht doch im Laufe ihres Lebens Begegnungen, in denen sie Beistand erlebt, Freundschaft geschenkt bekommen, Solidarität kennen gelernt, sich nicht im Stich gelassen gefühlt haben. In der nun größer werdenden körperlichen Schwäche oder seelischen Verwundbarkeit gibt es den wachsenden Wunsch, sich auf andere zu stützen, zu verlassen, ihnen Verantwortung zu übergeben. Ein klassischer Satz ist der dann an den Arzt gerichtete »Herr/Frau Doktor, was, meinen Sie, kann man jetzt noch tun?« oder auch die Frage »Was täten Sie an meiner Stelle?«. In dieser Phase ihres Lebens geben Patienten und Klienten oftmals ihre Entscheidungskraft an einen anderen, dem oder der sie höhere fachliche Kompetenz zusprechen. Hier kommen die viel besprochene Partnerschaftlichkeit und Autonomie oft genug an ihre Grenzen.
Paul Cézanne, Sous-bois provençal, um 1900 / 02 / akg-images
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Viele Leidende wollen und können nicht mehr entscheiden, haben in der Irritation des Lebens den Boden unter den Füßen verloren, haben keinen Bezug mehr zum eigenen Können und Wissen und sind oft dankbar, ihre Kontrolle aufgeben zu können, sich auf einen anderen Menschen zu verlassen und Vertrauen in ihn und sein Können setzen zu dürfen. Sie sind oft nicht mehr in der Lage, für sich selbst einzustehen, brauchen hier die Übernahme anderer, ihnen wohl gesonnener Menschen, die ihr »Handwerk« verstehen, sich in Krankheit und Verlustschmerz auskennen und den ihnen Anvertrauten alle erdenkliche Fürsorge angedeihen lassen. Das Wort Sorge erhält hier seine vornehmste Ausprägung: Sorge meint hier ein Sich-Kümmern, ein Sorgetragen für den anderen. Es geschieht immer wieder, dass Menschen, die ursprünglich den tiefen Wunsch des Zu-Hause-Sterbens hatten, auch nach der Sicherung von Schmerztherapie und Symptomerleichterung nicht mehr von der Palliativstation oder aus dem Hospiz entlassen werden wollen. Die Erfahrung des Aufgehobenseins im Hospiz/auf der Palliativstation und sogar im Krankenhaus gibt ihnen eine tiefe Geborgenheit, eine große Sicherheit, die sie aus sich nicht mehr herstellen können. Übrigens scheint mir auch hier einer der Gründe zu liegen, warum viele Menschen noch nach 25 Jahren ambulanter, qualifizierter Hospizarbeit in Deutschland im Krankenhaus versterben. Den anderen betrauen Vielfach suchen sich Menschen sehr wohl denjenigen selbst aus, dem sie sich anvertrauen wollen und können. Nicht die Profession ist hier ausschlaggebend, nicht die Sicherheit des Auftretens, nicht die Fülle der verfügbaren Antworten, sondern die Vertrauenswürdigkeit des Gegenübers, die sich oft genug in Blicken, in kleinen Gesten spiegelt. In einem Krankenhaus in der Schweiz wurde in den 1990er Jahren eine umfangreiche Stu-
die durchgeführt mit der Fragestellung, wem vom Personal die Patienten und Angehörigen im Zeitraum des letzten Jahres am meisten Vertrauen entgegengebracht hätten. Es entspann sich ein leiser Wettstreit zwischen den Chefärzten, den Stationsleiterinnen und den Mitarbeitern der Seelsorge; jeder rechnete sich gute Chancen aus. Die Verblüffung war groß, als die portugiesische Putzfrau, die noch nicht einmal des Schwiizerdütsch ausreichend mächtig war, den Zuschlag der meisten Nennungen erhielt. Ihr Blick beim Betreten und Verlassen des Zimmers und das gelegentliche Lächeln in Richtung der Betten seien so Vertrauen erweckend gewesen. Vielfach werden gerade auch ehrenamtlich Mitarbeitende für eine solche Beziehung ausgewählt. Man hat keine gemeinsame Geschichte miteinander (wie mit Familienmitgliedern), man ist nicht abhängig in Behandlung und Pflege (wie bei Ärzten und Pflegenden) und somit nicht auf jene angewiesen, sie erwarten nichts an Mitarbeit oder Compliance und sind im besten Fall absichtslos zugegen. Ein vertrauenswürdiger Begleiter hat nicht die Idee, den Schwerstkranken zu einem Sterben im eigenen Sinne zu bewegen oder dem Trauernden zu einem »richtigen« Verlustumgang zu verhelfen. Vertrauenswürdige Helfer und Helferinnen zeigen sich oft im besten Sinne des Wortes als ratlose Helfer, indem sie auf Ratschläge verzichten. Häufig werden sie dann in der Folge und im Laufe einer wachsenden Beziehung mit Aufgaben betraut. Manchmal dürfen Begleiterinnen und Begleiter Einblicke in Lebensgeschichten nehmen, die anderen verwehrt sind, ein anderes Mal werden sie sogar zu Anwälten des fremden Willens gegenüber Dritten gebeten. Vielleicht erklären solche Beispiele dann auch das Wort Amt beim Begriff des Ehrenamts, die ehrenamtlich Tätigen bekommen im wahrsten Sinne ein Amt, eine konkrete Aufgabe zugeschrieben, für den Leidenden und seine Bedürfnisse einzustehen, stellvertretend und anwaltschaftlich.
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Mit Hoffnung für jemand anderen betraut zu sein, wenn dessen Zuversicht und Glauben wegbrechen, ist eine ehrenvolle Aufgabe, die nicht wenig Ansprüche an das eigene Denken und Sein stellt. Sich vertraut machen Betraut werden kommt nicht von ungefähr. »Zähmen, das ist eine in Vergessenheit ge ratene Sache«, sagte der Fuchs. »Es bedeutet: sich vertraut machen«. »Vertraut machen? Was muss ich da tun?«, sagte der kleine Prinz. »Du musst sehr geduldig sein«, antwortete der Fuchs. »Du setzt dich zuerst ein wenig abseits von mir ins Gras. Ich werde dich so verstohlen, so aus dem Augenwinkel anschauen, und du wirst nichts sagen. Die Sprache ist die Quelle der Missverständnisse. Aber jeden Tag wirst du dich ein bisschen näher setzen können.« In dem Ausschnitt aus dem »Kleinen Prinzen« von Antoine de Saint-Exupéry (1943/dt. 1950) werden sehr treffend die Geduld und die nichtsprach liche Kommunikation als vertrauenswürdigende Voraussetzungen der Beziehung auch zwischen dem sterbenden oder trauernden Menschen und seinem Begleiter beschrieben. Abwarten können, ob oder bis der Patient, die Bewohnerin oder der Gast das Angebot der Begleitung überhaupt annimmt, und dann vor allem nicht darauf drängen, unverzüglich auf »tiefe und letzte Dinge« sprechen zu kommen, sind hospizliche Fertigkeiten, die in jedes Befähigungscurriculum gehören. Sich getrauen Wenn alle Therapien aufgebraucht sind und keine Hoffnung mehr auf Heilung besteht oder der schmerzliche Verlust eingetreten ist, leisten Menschen oft Großes. Es gilt anzuerkennen, dass nun aktives Aufbegehren und Kampf nicht mehr die Mittel der Wahl sind, sondern dass die letzte Leis-
tung das Sich-Anheimstellen ist. Sterbende, aber auch um ihre Liebsten trauernde Menschen, lehren uns eine Fülle an Umgangsmöglichkeiten mit dem Unbeirrbaren: Hingabe, sich überlassen, zustimmen, dulden, erdulden, einwilligen, akzeptieren, ermöglichen, bewilligen, ermächtigen, gewähren, bejahen. Sich diese Haltung zu trauen bedeutet sich einzugestehen, dass nicht wir das Größte sind, weil nur dieses Wir uns bekannt und vertraut ist, sondern dass etwas über uns ist, viel größer als das Bekannte und fern unserem Zugriff. Und dass es ein erhabener Moment sein kann, mit diesem unvergleichlich Großen in Kontakt und in Auseinandersetzung zu sein. Dem Selbst zu trauen statt sich selbst zu trauen »Der Mensch kann nicht leben ohne ein dauerndes Vertrauen zu etwas Unzerstörbarem in sich, wobei sowohl das Unzerstörbare als auch das Vertrauen ihm dauernd verborgen bleiben können« (Franz Kafka). Frau W., deren schweres Sterben einleitend benannt wurde, war dieses Unzerstörbare offensichtlich nicht vorstellbar. Sie wusste nicht von ihrer Unaufhörlichkeit. Ihre Sterbeangst war darauf begründet, ihr Ich zu verlieren, ihr Selbst, das sie ausgemacht hatte, wie sie annahm. Eine Version erhoffter Unsterblichkeit ist das Vertrauen in die Erinnerung der Hinterbliebenen. Andere glauben an die Unsterblichkeit der Wirkung; hoffen, dass Durchdachtes, Gesprochenes, Getanes weiterhin wirken, zum Tragen kommen und nachhaltig Einfluss ausüben. Aber auch hier nimmt das Wissen, dass das Verwahrende selbst vergänglich ist, dem Begriff »Unsterblichkeit der Wirkung« seine Gültigkeit. »Ach, alles war umsonst«, so die erschütternde Klage von Frau W. Dies betrifft sogar Werke des Geistes und der Kunst, deren größte nicht der Auslöschung durch die Zeit widerstehen werden. Was selber sterblich ist und enden wird, kann nicht das Medium von Unsterblichkeit und Unendlichkeit sein.
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Paul Klee, Auswerwaehlter Knabe, 1918 / INTERFOTO / SuperStock
Es gilt a nzuerkennen, dass nun aktives Auf begehren und Kampf nicht mehr die Mittel der Wahl sind, s ondern dass die letzte Leistung das Sich-Anheimstellen ist.
Die Minute des Todes wird oft von Anwesenden als ein großes, ja heiliges Moment beschrieben. Wo mag es hingehen, »heimkehren«, das Wesen eines Menschen, das mehr ist als sein Ich, sein subjektiv erlebtes kleines Selbst, das ihm Ureigene, das ihn unverwechselbar gemacht hatte? Gibt es einen Teil in uns, der die Erscheinung des Todes überdauern kann? Der unaufhörlich wäre neben all dem, was endet im Tod? Im Tod enden Bilder, Konzepte, Vorstellungen und ein Bewusstsein, das von Bildern, Konzepten, Vorstellungen, Interpretationen und Projektionen bedingt und bestimmt ist. Nach dem Tod treten wir möglicherweise in ein Bewusstsein, das sich keines Dinges bewusst ist, ein Bewusstsein, das sich selbst er-lebt. Das große Selbst, das, was nicht aufhört, ist möglicherweise gar nicht in einem zeitlichen und räumlichen Jenseits zu suchen, sondern in einem Drinnen, einem tief Drinnen, in einer radikalen Verinnerlichung. Gelegentlich wendet sich die kleine todkranke Kristine an die Ordensfrau, die neben ihr sitzt, sie streichelt, ihr den Schweiß abwischt, ihr zu trinken gibt. Das Mädchen macht sich Sorgen
um ihre Eltern, die tief erschüttert bei ihr weilen, es nicht annehmen können, dass ihr kleiner Liebling gehen wird. »Sag ihnen, dass da, wo ich hingehe, nichts Schlimmes ist«, bittet sie die Schwester. »Weißt du denn, wo du hingehen wirst?«, fragt diese zurück. »Ich gehe dahin, wo ich schon immer war. Dahin, wo ich auch jetzt schon bin«, antwortet die Kleine in tiefer Weisheit und mit großer Zuversicht. Dem, was wir wissen, müssen wir nicht mehr vertrauen, denn das wissen wir ja. Der Ahnung gehört die Zuversicht. Es könnte eine Möglichkeit sein, dass wir uns im Sterben mit dem, was sich verborgen hat oder verloren gegangen scheint, wieder verbinden, weil es uns einmal vertraut war. Monika Müller, M. A., war Leiterin von ALPHA Rheinland, der Ansprechstelle in NRW zur Palliativversorgung, Hospizarbeit und Angehörigenbegleitung mit Sitz in Bonn. Sie ist Dozentin und Supervisorin im Bereich Trauerbegleitung und Spiritual Care. Literatur Kafka, F. (1917–18/1931). Die Zürauer Aphorismen. Berlin. Saint-Exupéry, A. de (1943/dt. 1950). Der kleine Prinz. Bad Salzig.
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Kurzinterview aus der Praxis Hans Schilli, Lehrer für Krankenpflege – pensioniert; Heilpraktiker mit eigener Praxis in Thun 1. Welchen Stellenwert hat Vertrauen für Sie in Ihrer Arbeit? Vertrauen ist das A und O in meiner Arbeit. Menschen, die zu mir kommen, vertrauen auf Kompetenz, Erfahrung – und auf Wissen meinerseits. Vertrauen impliziert auch, dass die Informationen des Patienten vertraulich sind. Der Patient vertraut darauf, ernst genommen zu werden. Er weiß, dass ich mir Zeit nehme … 2. Wie würden Sie Vertrauen aufbauen, wenn Menschen in einer Grenzsituation sind? Ich bleibe in der Ruhe, verbreite keinen Stress. Ich kann zuhören und Verständnis zeigen. 3. Welches sind die größten Hindernisse beim Aufbau des Vertrauens? Mögliche Hindernisse sind Vorurteile, Überheblichkeit, Zeitmangel und voreilige Diagnosen. 4. Leben wir in einem Zeitalter des Vertrauens oder Misstrauens?
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Wir leben heute in einer Zeit des Misstrauens: Der Stärkere ist der Bessere. Für unsere Zeit typisch ist auch das Verbreiten von Unwahrheiten. Existenzängste und negative Erfahrungen sind weit verbreitet. Vertrauenspersonen fehlen – früher gab es den Hausarzt oder den Pfarrer, die sich Zeit nehmen konnten. Hektik und Einsamkeit sind Zeichen unserer Zeit.
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Schritte ins »Paaradies« Heilendes Vertrauen in Beziehungskrisen
Andrea Frölich Oertle und Peter Oertle Krisen und Konflikte gehören in jede Beziehung und halten diese gesund und lebendig. Eine Beziehung ohne Krisen gibt es nur als ideale Vorstellung. Als Illusion, die tatkräftig genährt wird von Film und anderen Medien. Theoretisch wissen wir es alle. Doch in der Praxis bewerten wir eine Beziehung sehr oft nach Häufigkeit und Intensität der Krisen. Viele Konflikte – schlechte Beziehung. Wenig Konflikte – gute Beziehung. Keine Konflikte – Traumbeziehung. Wir wollen im Folgenden einen Blick auf Beziehungskrisen werfen, der über die polarisierende Haltung von gut und schlecht hinausgeht. Einen Blick, der Beziehungskrisen als Heilungsund Entwicklungsmöglichkeiten sieht. Einen Blick, der weniger auf Problem und Lösung fokussiert als vielmehr auf das Vertrauen in Lebensrhythmen und in die sinngebende Vernetzung der Geschehnisse.
verwandt, und gleichzeitig sind sie fasziniert von ihrer Andersartigkeit. Aufgrund dieser Gegensätzlichkeit, die sie füreinander attraktiv macht, verlieben sie sich ineinander. Ganz im Sinne von »Du bist alles, was mir fehlt«. Etwas unroman tisch ausgedrückt, führt uns die Verliebtheit in die kleinste Art von Selbsthilfegruppe und die beste Form von Therapie. Im »Paaradies« der Verliebten sind die beiden ein Herz und eine Seele – die Ergänzung ist perfekt. Mit der Zeit hält jedoch der Alltag Einzug und damit auch Auseinandersetzungen und Krisen. Sie stören die einstmals innige Nähe und schaffen schmerzlich Distanz. Der Fall aus dem »Paaradies« lässt die Partner die gegenseitige Andersartigkeit spüren. In der Folge erlebt das Paar die ergänzenden Anteile vermehrt als polarisierende Gegensätze. Auch diese ergänzen sich perfekt, ganz im Sinne von »Du hast mir gerade noch gefehlt«.
Es gibt zwei Sprichwörter, die herkömmlich auf Beziehungen angewandt werden: »Gleich und gleich gesellt sich gern« und »Gegensätze ziehen sich an«. Auf den ersten Blick scheinen sich diese beiden auszuschließen. Wir sind jedoch der Meinung, dass beide in der Beziehung gleichzeitig zum Tragen kommen und die Dynamik einer Beziehung ausmachen. Sie bringen das, was in einer Beziehung geschieht, auf den Punkt: Zwei Menschen finden sich aufgrund einer ähnlichen Ohnmacht, die sie aus ihrer Kindheit mitbringen, mit der sie jedoch auf gegensätzliche Art umzugehen lernten. Irgendwie fühlen sich die beiden
Illustration: Linus Riegger, Basel
Du bist alles, was mir fehlt – Du hast mir gerade noch gefehlt
Gegensätze
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Beziehungskrisen sind aus dieser Warte ein kräfteraubendes Seilziehen um die Macht. Denn keiner der beiden will mit der alten Ohnmacht und den dazugehörenden Gefühlen aus Kinderjahren wieder in Kontakt kommen. Doch Beziehungskrisen haben die Macht, genau diese alten Emotionen wie Trauer, Wut, Schuld, Scham und Schmerz wieder an die Oberfläche zu bringen. Die Partner reinszenieren miteinander auf der Gefühlsebene die »alten Geschichten« und die damit verbundenen Überlebens- und Abwehrmuster im Hier und Jetzt. Das »Paaradies auf Erden« Doch Gegensätze sind auch Gegenschätze. Im »Paaradies auf Erden« wird eine Beziehungskrise aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet und auch als Chance verstanden. Sie ermöglicht uns, miteinander und aneinander zu wachsen und in Verbundenheit die eigene Individualität (lateinisch »Ungeteiltheit«) wiederzuentdecken. Dafür braucht es eine gute Portion Vertrauen: Vertrauen ins Leben, in die Liebe, in die Beziehung, in den Partner oder die Partnerin und in sich selbst.
eins ist. Mit dem Fall aus dem Paradies zerfiel die Einheit in zwei Teile. Nehmen wir als Beispiel einen Tag von vierundzwanzig Stunden. Darin enthalten sind Tag und Nacht. Erst diese Gegensätze ermöglichen es, zu unterscheiden, zu benennen und zu erkennen. Von der Ebene der Ganzheit aus betrachtet, ist ein jedes Gegenteil letztlich Ausdruck des Gleichen und die beiden Teile gehören absolut gleichwertig zusammen. Doch können wir nicht gleichzeitig beide Seiten wahrnehmen. Eine Hälfte bleibt im einen Moment verborgen, auch wenn die Ganzheit immer da ist. Denn erst ein nächster Moment erlaubt, auch die andere Seite zu sehen. Oft fällt es schwer, beiden Seiten Gleichwertigkeit einzuräumen. So geben wir dem Tag mit seinen Erlebnissen meist mehr Bedeutung als der Nacht mit ihren Träumen. Anzuerkennen, dass Gegensätze die zwei Seiten ein und derselben Medaille sind, braucht Mut und Vertrauen. Vertrauen in Lebenszusammenhänge und einen wachen, couragierten Geist, um der Gleichwertigkeit der Gegensätze immer wieder und immer öfter Raum zu geben.
Illustration: Linus Riegger, Basel
Vertrauen in die Liebe
Gegenschätze
Vertrauen ins Leben Das Leben ist geprägt von Gegensätzen, die zusammen ein Ganzes bilden. Dieses Ganze kann mit dem Paradies verglichen werden, in dem es keine Unterschiede gibt und in dem alles mit sich
Aus diesem ganzheitlichen Blickwinkel ist die Liebe ebenfalls »ein Tag von vierundzwanzig Stunden« und beinhaltet Tag und Nacht. Sie umfasst alles: Einssein und Getrenntsein durch Gegensätze und Widersprüche. Sie verlangt, sich mit Sonnen- und Schattenseiten zu zeigen und anzunehmen. Sie fordert ein tiefes Vertrauen in alle Facetten des Seins. Vertrauen in die Beziehung Um das Vertrauen in Beziehungskrisen zu stärken, möchten wir das Thema Beziehung noch etwas genauer beleuchten. • fifty-fifty Beziehung ist etwas Drittes, das zwei Menschen miteinander kreieren, einem Kind gleich. Bezie-
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hung ist das, was zwischen diesen beiden entsteht und sie umgibt. Sie ist mehr als die Summe zweier Menschen. Sie ist ein lebendiges System, für das beide, mit allem, was sie tun und nicht tun, zu je fünfzig Prozent verantwortlich sind – in guten wie in schlechten Zeiten. Aus diesem Blickwinkel gibt es in Beziehungskrisen keinen Schuldigen und Unschuldigen, sondern nur eine Paardynamik, die beide mitgestalten und zu der beide das Ihre beitragen, sei es aktiv oder passiv. Entlastend ist, dass keiner allein die gegenwärtige Situation verursacht hat. Schwierig ist, dass jeder auch nur fünfzig Prozent Kontrolle über die Beziehung hat. Das, was geschieht, entzieht sich der Macht des Einzelnen. Das ist meist unangenehm und macht ohnmächtig. Das Gute daran ist, dass da, wo Kontrolle begrenzt ist, Neues eindringen kann und damit Weiterentwicklung gesichert ist. • Das Damals im Heute Beziehung kreiert einen vertrauten Raum. Einen Raum, der bewusste und unbewusste Erinnerungen an die ersten Beziehungen zu Mutter, Vater und Geschwistern weckt. Auch frühste unbewusste Erinnerungen an unser Erleben während der Schwangerschaft, Geburt und unseren ersten Kinderjahren werden berührt. Die damit verbundenen Gefühle, angenehme wie unangenehme, werden durch die Beziehung getriggert. Sie werden wieder an die Oberfläche gespült, verbinden sich mit den aktuellen Emotionen, die durch den Partner, die Partnerin ausgelöst werden, und führen zu einer heftigen Reaktion, die der aktuellen Situation nicht angepasst ist. Diese Überreaktion, das kann »Explosion oder Implosion« sein, ruft beim Anderen ebenfalls seine alten Emotionen aufs Tapet. Auch seine Reaktion ist in Bezug auf die aktuelle Krise nicht adäquat. Altbekannte Gefühle aus der Vergangenheit befeuern so den Konflikt. Aus diesem Geschehen ergibt sich eine Paardynamik, in der die »alten Geschichten« nahtlos ineinandergreifen und die in jeder Auseinandersetzung zu finden ist.
Beziehungskonflikte sind unumgänglich und heilsam, wenn sie zu einem späteren Zeitpunkt reflektiert und in der je eigenen Geschichte verortet werden. Jeder Partner ist aufgefordert, Eigenverantwortung für seine alten, bisher unverdauten Gefühle zu übernehmen. Das heißt zum Beispiel, die Wut so zum Ausdruck zu bringen, dass er weder sich noch andere damit verletzt. Mit diesem Wissen sind Krisen in der Beziehung auch Chancen, die helfen, abgespaltene, verdrängte Anteile bewusst zu machen und sie zu sich zurückzunehmen und zu integrieren. Hierfür braucht es Vertrauen in die intuitive Weisheit der Partnerwahl und die Sinnhaftigkeit von Beziehungen. Vertrauen in den Partner oder die Partnerin Sich dem Anderen gegenüber verletzlich und ehrlich mit all seinen Gefühlen zu zeigen, stärkt das Vertrauen zueinander. Für viele Menschen ist es unvorstellbar, dass die gegenseitige Offenbarung unliebsamer Gefühle ein Zeichen der Liebe sein kann. Doch würde sich kaum jemand einem Menschen gegenüber öffnen und »nackt« zeigen, der ihm gleichgültig ist. Unsere Erfahrung in der Arbeit mit Paaren zeigt: Einander gefühlvoll zu begegnen, festigt die Verbundenheit mit dem Partner, der Partnerin und stärkt die Beziehungsresilienz. Es bedeutet ein umfassendes Ja füreinander mit allen Sonnen- und Schattenseiten. In diesem Vertrauen können wir uns mehr und mehr im Anderen erkennen und spüren, dass er nicht gegen, sondern mit uns ist. Vertrauen in sich selbst Und nicht zuletzt braucht es in Beziehungskrisen Vertrauen in sich selbst. Vertrauen und Hingabe an Prozesse, die wir einerseits nicht allein und andererseits nicht ausschließlich mit unserer Willenskraft und unserem Intellekt steuern können. Unbewusstes aus den Kinderjahren gehört
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Caspar David Friedrich, Swans in the Reed, ca. 1820 / Bridgeman Images
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oft in die vorsprachliche Zeit. Meist sind es Körperempfindungen und Gefühle, jenseits des Erklärbaren. Es geht um subjektive Wahrnehmung und gefühlte Stimmigkeit. Um etwas, das in unserem Innersten Resonanz findet und dem es zu vertrauen gilt. Nur wir selbst können das hilflose innere Kind und seine Bedürfnisse verstehen. Nur wir können Verantwortung und Selbstfürsorge für dieses übernehmen. Das braucht Vertrauen in die eigene innere Beziehungsfähigkeit, die Heilung und Entwicklung ermöglicht. Jede Beziehung trägt das Potential zur Heilung in sich und fordert auf, notwendige Schritte in Richtung Selbstheilung zu gehen. In diesem Prozess sind alle Vertrauensebenen aktiviert, miteinander vernetzt und beeinflussen sich gegenseitig. Dem Vertrauen zu schenken ist nicht ganz einfach, doch es lohnt sich, ganz in Sinne von: »Lass dich fallen und du wirst auf dem höchsten Gipfel landen« (Zenweisheit). Andrea Frölich Oertle ist in eigener Praxis tätig als LebensArchäologin, Lebensund Trauerbegleiterin und Supervisorin. Peter Oertle arbeitet selbstständig als Psychosynthese Guide mit dem Schwerpunkt Männer- und Suchtarbeit. Gemeinsam führen sie seit 1999 unter dem Namen »pandrea« eine Praxis für Paarberatung und Persönlichkeitsbildung.
Literatur Alberti, B. (2003). Die Seele fühlt von Anfang an. Wie pränatale Erfahrungen unsere Beziehungsfähigkeit prägen. Kreuzlingen. Canacakis, J. (1992). Ich sehe deine Tränen. Trauern, klagen, leben können. Stuttgart. Levine, P. A.; Frederick, A. (1998). Trauma-Heilung. Das Erwachen des Tigers. Unsere Fähigkeit, traumatische Erfahrungen zu transformieren. Essen. Moeller, M. L. (1992). Die Wahrheit beginnt zu zweit. Das Paar im Gespräch. Reinbek. Anmerkung 1
Dieser Artikel basiert auf dem Buch »Drei Schritte zum Paaradies« (2019) von Andrea Frölich Oertle und Peter Oertle. Es wurde darauf verzichtet, auf Zitate jeweils explizit hinzuweisen.
Andrea Frölich Oertle, Peter Oertle (2019). Drei Schritte zum Paaradies. Frieden finden zu zweit. Winterthur: Edition Spuren Zwei Menschen gehen eine Beziehung ein, weil sie am Gleichen leiden und gegensätzlich damit umgehen. Dieses Buch regt Paare an, einen Pfad durch den Beziehungsdschungel zu finden. Einen Weg, der die vermeintlichen Gegensätze von individueller Entwicklung und Beziehung aufs Engste miteinander verbindet. Denn Gegensätze sind Gegenschätze.
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»Schlimm ist eigentlich für mich die Einsamkeit …« Verlusterfahrungen pflegender Angehöriger
Stephan Dorschner
Einleitende Begriffsklärungen Verluste gehören zur menschlichen Existenz. Von frühester Kindheit an machen Menschen materielle und immaterielle Verlusterfahrungen in allen Lebensbereichen. Die Beschäftigung mit Verlusterfahrungen pflegender Angehöriger setzt zunächst eine Begriffsklärung voraus: Angehörige sind »alle Personen, zu denen eine besondere Bindung auf der Basis einer verwandtschaftlichen und/oder emotionalen Beziehung besteht, die im Spannungsfeld zwischen Fürsorge und Verpflichtung gelebt wird« (Bauernschmidt und Dorschner 2018a, S. 307). Mit dieser Definition wird berücksichtigt, dass Verwandtschaftsbeziehungen unabhängig von ihrer Qualität eine besondere Bedeutung zukommt, nach Jacoby resultierend aus einem einzigartigen »Gefühl lang anhaltender Solidarität, die auf geteilten Erfahrungen beruht und durch die gemeinsame Blutsverbindung symbolisiert ist« (2008, S. 38). Andererseits werden nichtverwandte Personen eingeschlossen, was zwar der juristischen Sichtweise widerspricht, aber durch die lebensweltliche Wahrnehmung pflegeempfangender Personen begründet ist. Der Begriff »Spannungsfeld« stellt die Verbindung zwischen Fürsorge und Verpflichtung als ein Kontinuum dar und verdeutlicht, dass die individuelle Position in diesem Spannungsfeld dynamisch ist und durch vielfältige Faktoren im Verlauf beeinflusst wird. Darüber hinaus werden auch die Auswirkungen gesellschaftlicher Wandlungsprozesse auf das familiale Zusammenleben integriert (Bauernschmidt und Dorschner, 2018a, S. 307). Verlusterfahrungen pflegender Angehöri-
ger lassen sich grundsätzlich in akute, plötzliche beziehungsweise einmalige Ereignisse (sofortiger/endgültiger Verlust) und Verluste »auf Raten« (schleichender Verlust) unterscheiden. Verlustdimensionen Art und Qualität der Verlusterfahrung werden insbesondere von folgenden Dimensionen beeinflusst: • Beziehung zur pflegebedürftigen Person Aus einer verwandtschaftlichen Perspektive lassen sich drei Gruppen unterscheiden: (1) Ehe-/ Lebenspartner/-innen pflegen ihre Ehe-/Lebenspartner/-innen. Gleichgeschlechtliche Partnerschaften erweitern das Spektrum. (2) Kinder pflegen ihre Eltern. (3) Eltern pflegen ihre Kinder. Aktuell kann davon ausgegangen werden, dass in etwa jedem dritten häuslichen Pflegearrangement die Hauptpflegeperson ein Mann ist. Der Personenkreis erweitert sich jedoch, wenn die vorgestellte Definition von Angehörigen zugrunde gelegt wird. • Pflegeaufwand In vielen häuslichen Pflegearrangements sind mehr als eine Person involviert, allerdings laufen in der Regel bei einer Person die Fäden zusammen. Unter Hauptpflegepersonen sind nichtberuflich agierende (nichtprofessionelle) Helfer/-innen von Hilfe- und Pflegebedürftigen zu verstehen, »die regelmäßige Unterstützung leisten und dabei mehr als andere informelle Helfer mit der Hilfe oder Pflege befasst sind« (Infratest, 1993, S. 2).
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• Dauer der Pflegebeziehung Es lassen sich kurze Pflegeverläufe (zum Beispiel traumatische oder aggressiv verlaufende onkologische Erkrankungen; einige Tage bis wenige Monate) von langen Pflegeverläufen (zum Beispiel im Zusammenhang mit Mehrfachbehinderungen oder demenziellen Erkrankungen, hier finden sich zum Teil Verläufe über mehrere Jahrzehnte) unterscheiden. Da in diesem Beitrag speziell pflegende Angehörige in den Blick genommen werden, werden die Sonderfälle akuter Unfalltod, das Sterben aus scheinbarer Gesundheit heraus oder der Suizid nicht berücksichtigt. Männer, die ihre an Demenz erkrankten Ehefrauen pflegen Am Beispiel von Männern, die ihre an Demenz erkrankten Ehefrauen im häuslichen Umfeld versorgen und pflegen, sollen Verlusterfahrungen pflegender Angehöriger dargestellt werden. Im Rahmen des Forschungsprojekts »Männer als Hauptpflegepersonen in häuslichen Pflegearrangements« (BMBF) wurden in einer Teilstudie Männer im Alter von 67 bis 95 Jahren (Mittel-
wert = 78) interviewt, die ihre Ehefrauen im Alter von 61 bis 86 Jahren (Mittelwert = 75) in BadenWürttemberg, Bayern, Berlin, Nordrhein-Westfalen und Thüringen pflegten. Die Pflegedauer lag zwischen eineinhalb und dreißig Jahren. Hinsichtlich des Erlebens und der Alltagsbewältigung konnten sieben Themen identifiziert werden (siehe Abbildung 1): • »Demenz ist eine schlimme Krankheit …« – Krankheit als schleichende Krise • »Da ist doch eine Bindung …« – Beziehung • »Streit, der sich nicht so ohne Weiteres lösen lässt …« – Konflikt • »Von dem ist nichts mehr …« – Verlust • »Die Pflege, die wurde nicht weniger, die wur de mehr …« – Pflege • »Die Welt wird kleiner …« – Einschränkungen • »Ich hab das nicht ungern, dass mir jemand hilft …« – Unterstützung »Gebundensein« ist das die Themen verbindendende, konstitutive Muster. Verlusterfahrungen durchziehen dabei alle Themen.
»Streit, der sich nicht so ohne weiteres lösen lässt …« Konflikt
»Von dem ist nichts mehr …« Verlust
»Da ist doch eine Bindung …« Beziehung
»Demenz ist eine schlimme Krankheit …« Krankheit als schleichende Krise
»Die Pflege, die wurde nicht weniger, die wurde mehr …« Pflege »Ich hab das nicht ungern, dass mir jemand hilft …« Unterstützung
»Die Welt wird kleiner …« Einschränkung
Gebundensein
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So wie die Krankheit für die Männer eine »schleichende Krise« darstellt, werden auch die Verlusterfahrungen oft als schleichend erlebt. Die Auflösung der Identität, die neben den Verlust der alltagspraktischen Kompetenzen tritt, ist für die Ehemänner besonders schmerzhaft: »Sie ist auch nicht mehr die Frau, die ich geheiratet habe.« Diese Veränderungen werden begleitet von Verhaltensweisen, die den bislang erlebten Umgangsformen entgegengesetzt sind und eine zunehmende Belastung für das alltägliche Zusammenleben darstellen: »Seit sie das hat, ist sie so was von aggressiv, benützt Ausdrücke, die sie niemals verwendet hat« oder »Da hat sie nach mir geschlagen«. In den Erzählungen der Männer spielt die Beschreibung der Beziehung zu ihren Ehefrauen eine zentrale Rolle. Sie bringen in vielfältigen Bildern zum Ausdruck, dass die erkrankte Partnerin nicht mehr in der Lage ist, an einem partnerschaftlichen Zusammenleben teilzuhaben. Die krankheitsbedingten Veränderungen ihrer Beziehung werden in zwei Phasen beschrieben: In der ersten Phase »Aber wir haben uns noch!« äußern die Ehemänner das Empfinden, ihre Frau noch erreichen zu können: »Sie versteht mich zwar nicht, aber ich hab manchmal den Eindruck, es geht Einiges in sie hinein«. Die Wahrnehmung, trotz Demenz noch immer von Bedeutung für die Lebenspartnerin zu sein, ermöglicht, Freude in einer Lebenssituation zu empfinden, die von Verlust und Trauer geprägt ist: »Aber manchmal kommt so ein kleines Lächeln, da freut man sich darüber«. Kennzeichnend für die zweite Phase ist die Auflösung der Verbindung zur Partnerin: die »totale Verwandlung«. Ein Ehemann empfindet das Zusammenleben als unerträglich und wünscht sich, dass seine Gattin den Bezug zu seiner Person nach dem Heimeinzug verliert: »Viel leicht ergibt sich’s, dass die nach drei Wochen, äh, gar nicht mehr weiß, wer ich bin«. Konflikte nehmen zu. Dabei können neben der Konfliktlinie »Partnerschaft« zwei weitere Konfliktlinien identifiziert werden: innerfamiliale Spannungen sowie Konflikte mit Behörden und Institutionen.
Die Männer sehen in der Partnerschaft die Grundlage für die Pflegeübernahme. Die Sorgearbeit wird aus einem Gefühl der Pflicht, aus der Selbstverständlichkeit des langjährig geteilten Lebensalltags und aus der emotionalen Verbundenheit übernommen: »Solange ich’s kann, muss ich es machen, mach ich es auch, mach ich es gerne«. Diese drei Aspekte werden individuell in unterschiedlicher Gewichtung wirksam: »… das ist nicht mehr so sehr meine Ehefrau, … das ist eine mir von Gott auferlegte Pflicht« oder »Ja, wenn sie nicht kann, musst du das machen, anders geht es ja nicht«. Pflege wird zudem als Mittel eingesetzt, um Ziele zu erreichen: gemeinsame Rituale weiterzuführen, die Partnerschaft fortzusetzen oder erfahrene Loyalität zurückzugeben und damit das Alleinsein zu vermeiden sowie das gewohnte Lebensumfeld (möglichst lang) zu erhalten. Verlusterleben bezieht sich auch auf das eigene Leben: »Ich komm überhaupt nicht aus dem Haus«. Beschränkung entsteht durch die Erschöpfung, die dem Pflegetag folgt: »dann hab ich das Ge fühl, jetzt bin ich frei, und da merk ich eben, dass ich ganz unheimlich müde bin vom Tag.« So wird die Welt »kleiner und auf der kleinen Welt muss man eben versuchen, … sie auch schön zu finden und was daraus zu machen«. Die Männer trauern trotz physischer Anwesenheit um ihre Partnerin und fühlen sich einsam: »Über kurz oder lang muss sie ja ins Pflegeheim, … aber wenn ich da alleine irgendwo wohne, … das ist schwierig. Ich war auch der jüngste von drei Brüdern, ich war praktisch nie allein«. Obwohl es Männern gelingt, eine emotionale Verbundenheit aufrechtzuerhalten, gehen große Bereiche der bislang gelebten Beziehung unwiederbringlich verloren. Die Krise kann nicht mehr gemeinsam mit der Lebenspartnerin bewältigt werden, die Ehemänner fühlen sich allein. Dazu kommt der Verlust sozialer Kontakte, Freunde oder Bekannte »haben sich verdünnisiert«. Zur sozialen Isolation kommen die fehlende Unterstützung in der schwierigen Lebenssituation: »Schlimm ist eigentlich für mich meine Einsamkeit hier« und der
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Christiane Knoop
det die Grundlage für die Pflege, die ohne eine Beziehung zur erkrankten Person nicht möglich wäre. Die damit einhergehenden Einschränkungen resultieren aus dem An-Gebundensein durch die Pflegeübernahme. Die Wahrnehmung von Unterstützung wird durch das Ein-Gebundensein in einen sozialen Kontext bestimmt. Erstreckt sich diese primär auf die Paarbeziehung, kann die Einbeziehung von familialer, formeller und informeller Hilfe erschwert sein. Zusammenfassend lässt sich festhalten: Die dargestellten Verlusterfahrungen pflegender Angehöriger sind extrem vielfältig. Dies ist die zentrale Herausforderung für professionell Helfende.
(drohende) Verlust der gewohnten Umgebung, der mit einer Beendigung der häuslichen Pflege verbunden sein kann: »Na, das Haus wäre Unsinn für einen, aber wenn ich da alleine irgendwo woh ne, weiß ich nicht, das ist schwierig«. Die Ehemänner fühlen sich durch die zunehmende Hilflosigkeit und Orientierungslosigkeit der erkrankten Frau gebunden, unabhängig davon, ob sie diese noch als Ehepartnerin wahrnehmen. Zunächst entwickelt sich das personenbezogene, emotionale Gebundensein über die Zeit des gemeinsam verbrachten Lebens hinweg und stabilisiert und institutionalisiert durch die Eheschließung: »In guten und in schlechten Zeiten …«. Die emotionale Bindung kann hiervon unberührt bleiben oder aber beeinträchtigt werden. Im letzteren Fall tritt das personenbezogene Gebunden sein zurück und es wird die »Pflicht« aus der institutionalisierten Beziehung heraus betont. Die Bindung an eine Person ist die Voraussetzung für das Empfinden von Verlust. Zugleich stellen das Gebundensein an eine sich verändernde Person und die durch Beaufsichtigung und Pflege erforderliche Präsenz, was (zumindest zeitweise) als eine unentrinnbare Situation erlebt wird, den Rahmen für Konflikte dar. Gebundensein bil-
Prof. Dr. phil. Stephan Dorschner ist Professor für Theorie und Praxis der Pflege und Direktor des Georg-Streiter-Instituts für Pflegewissenschaft an der Ernst-Abbe-Hochschule Jena und Dozent an der HES-SO Wallis, Visp (Schweiz). E-Mail: [email protected] Literatur Bauernschmidt, D., Dorschner, S. (2014). Männer, die ihre Ehefrauen pflegen – Zwei phänomenologische Studien zum Erleben männlicher Hauptpflegepersonen in häuslichen Pflegearrangements. Teil II: Pflegende Männer demenziell erkrankter Ehefrauen. In: Pflege, 27, 5, S. 297– 306. Bauernschmidt, D., Dorschner, S. (2018). Angehörige oder Zugehörige? Versuch einer Begriffsanalyse. In: Pflege, 31, 6, S. 301–309. Dorschner, S., Bauernschmidt, D. (2014). Männer, die ihre Ehefrauen pflegen – Zwei phänomenologische Studien zum Erleben männlicher Hauptpflegepersonen in häuslichen Pflegearrangements. Teil I: Pflegende Männer pflegebedürftiger Ehefrauen nach einem Schlaganfall. In: Pflege, 27, 4, S. 257–267. Infratest Sozialforschung (1993). Hilfe- und Pflegebedürftige mit Hauptpflegepersonen. Sekundäranalyse, Tabellenband. München. Jakoby, N. (2008). (Wahl-)Verwandtschaft – Zur Erklärung verwandtschaftlichen Handelns. Wiesbaden.
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Kurzinterview aus der Praxis
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Rita Suppiger Saier, Stellenleiterin Telefon 143, Dargebotene Hand, Fachgruppe Suizidprävention Bern
1. Welchen Stellenwert hat Vertrauen für Sie in Ihrer Arbeit? Vertrauen hat einen sehr großen Stellenwert. Ich kann mir die Arbeit ohne Vertrauen nicht vorstellen. Ich vertraue lieber mal zu viel und werde enttäuscht, als dass ich immer auf der Hut sein müsste und mich frage, ob ich Vertrauen in diese oder jene Person haben kann. Mir hilft die Vorstellung, dass jeder Mensch die Welt auf seine Weise erlebt – mit dem eigenen Lebenshintergrund, den eigenen Erfahrungen. Wenn ich etwas anders erlebe oder wahrnehme, denke ich nicht gleich, dass die Person mich anlügt, sondern eher, dass es ihre Realität ist und ich diese respektiere. 2. Wie würden Sie Vertrauen aufbauen, wenn Menschen in einer Grenzsituation sind? Sachte. Einfach da sein. Nichts erzwingen. Kleinste positive Zeichen verstärken, wenn möglich. Da sein, oder besser: dabei sein. 3. Welches sind die größten Hindernisse beim Aufbau des Vertrauens? Meine eigenen Normen und Werte, mein eigenes Befinden. Es braucht Offenheit, Respekt und Menschenliebe – und das ist nicht immer gleich einfach. Wenn ich merke, dass es nicht geht, kann ich es nicht erzwingen, zum Beispiel bei starker Antipathie … 4. Leben wir in einem Zeitalter des Vertrauens oder Misstrauens? So könnte ich das nicht beantworten. Es ist sehr wichtig, dass wir immer wieder am gegenseitigen Vertrauen arbeiten. Meine Hoffnung ist: Vertrauen und Hingabe sind enorm bereichernd. Wer sie erlebt hat, möchte sie nicht missen.
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Vertrauensverlust nach Trennungen Thomas Geldmacher »You don’t know what you’ve got till it’s gone« (Aus dem Song »Big Yellow Taxi« von Joni Mitchell, 1970) Beginnen wir mit der schlechten Nachricht: Vertrauen, einmal enttäuscht, lässt sich nicht wiederherstellen. Egal, was die vielfältige Ratgeberliteratur dazu sagt. Eine Entwicklung, an deren Ende eine zwischenmenschliche Beziehung nach dem Vertrauensbruch wieder genau so ist wie vor dem Vertrauensbruch, ist schlicht nicht denkbar. Es ist ein bisschen wie mit der Trauer: Wir werden nie wieder so sein wie vor dem Tod der geliebten Person. Nicht notwendigerweise besser oder schlechter – aber anders. Trennungen vom Partner oder der Partnerin sind praktisch immer mit Vertrauensverlust verbunden. Enttäuschte Erwartungen, gebrochene Versprechen, Lügen und Halbwahrheiten – am Ende einer Beziehung stehen viele Paare vor dem Scherbenhaufen dessen, was einmal von Vertrauen gekennzeichnet war. Tatsächlich gibt kaum eine fragilere Konstellation menschlicher Beziehungen als Vertrauensverhältnisse. Aber was tun, wenn das Vertrauen einmal zerstört ist? Ich werde versuchen, diese Frage aus der Perspektive eines (Scheidungs-)Mediators zu erörtern, dessen Rolle es ist, den Kommunikationsprozess zwischen den Beteiligten zu strukturieren und die Bemühungen zur Konfliktregelung zu unterstützen. Vertrauen und Handeln Vertrauen, so hat es der deutsche Soziologe Georg Simmel schon 1908 formuliert, lässt sich definieren als »Hypothese zukünftigen Verhaltens, die sicher genug ist, um praktisches Handeln dar-
auf zu gründen«. Besondere Betonung liegt auf dem Wort »Hypothese«: Wir wissen nicht positiv, ob sich das zukünftige Verhalten der anderen Person so darstellen wird, wie wir glauben, aber wir vertrauen eben darauf. Vertrauen ist daher »ein mittlerer Zustand zwischen Wissen und Nichtwissen um den Menschen« (Simmel 1908, S. 263). Das bedeutet aber auch, dass Vertrauen eine Voraussetzung für Handlungsfähigkeit ist. Geht das Vertrauen verloren, so hat dies negative Konsequenzen für den eigenen Aktionshorizont, und das wiegt bei und nach Trennungen besonders schwer. Darüber hinaus wird gerade bei zwischenmenschlichen Beziehungen eine Vertrauensebene berührt, die Simmel als »religiös« bezeichnet: »Dieses Vertrauen, diese innere Vorbehaltlosigkeit einem Menschen gegenüber ist weder durch Erfahrungen noch durch Hypothesen vermittelt, sondern ein primäres Verhalten der Seele in Bezug auf den andern« (S. 263). Und wird diese »innere Vorbehaltlosigkeit« erschüttert, sind die Folgen dramatisch. Vertrauen versus Transparenz – oder: Mediation Nicht selten wird in gesellschafts- oder unternehmenspolitischen Fragen die Ansicht vertreten, man könne durch Transparenz Vertrauen schaffen. Doch das ist ein Trugschluss, wie unter anderen der Philosoph Byang-Chul Han überzeugend dargelegt hat. Aufbauend auf Simmel, argumentiert Han, dass Vertrauen Handeln ermögliche trotz Nichtwissen. Transparenz hingegen ist ein Zustand, »in dem jedes Nichtwissen eliminiert ist«, und daher in gewisser Hinsicht das Gegenteil von Vertrauen. Die Forderung nach Transparenz
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Informationen (Giddens 1996, S. 102 ff.), aber in dem vergleichsweise kleinteiligen Bereich einer Zweierbeziehung lässt sich zweckgerechte Transparenz, den guten Willen aller Beteiligten vorausgesetzt, herstellen. Rollenvertrauen Verlässlichkeit kann die Basis für ein neues Vertrauensverhältnis sein. Allerdings gilt es hier, eine Rollendifferenzierung im Sinne des österreichisch-amerikanischen Psychiaters und Soziologen Jacob L. Moreno (1982) vorzunehmen: Ich habe wohl kein Vertrauen mehr zu meinem Exmann in seiner Rolle als Partner, aber in seiner Rolle als Vater kann ich ihm vertrauen. Die Fra-
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weise darauf hin, »dass das moralische Fundament […] brüchig geworden ist« (Han 2012a; vgl. auch Han 2012b). Am Ende einer Beziehung lässt sich diese Diagnose zweifellos häufig stellen, und daher eignen sich Transparenz und umfassende Informationen in Mediationsprozessen recht gut als Ersatz für Vertrauen. Paare in Trennung vereinbaren sehr häufig extrem detaillierte Regelungen, was den Informationsaustausch in Bezug auf die Kinder oder auch zukünftige rechtliche oder finanzielle Schritte betrifft. Das Befolgen dieser Regeln erzeugt Verlässlichkeit und ermöglicht Handeln in dem neuen Beziehungskontext. Dem amerikanischen Soziologen Anthony Giddens zufolge erwächst zwar die Notwendigkeit sozialen Vertrauens aus dem Fehlen vollständiger
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ge lautet nicht: »Wie kann ich ihm jemals wieder vertrauen?«, sondern: »In welcher Rolle kann ich ihm vertrauen?« Es geht also darum, eine andere Art von Vertrauen, das man als Rollenvertrauen bezeichnen könnte, zu derselben Person aufzubauen, wobei klar sein muss, dass die eine Rolle Einfluss auf die Ausgestaltung der anderen hat. Dieser Schritt ist im Rahmen eines Mediationsprozesses schwierig, aber möglich. Mechanisches Vertrauen Oder aber wir entscheiden uns, so zu tun, als würden wir vertrauen. Das klingt zunächst nicht besonders plausibel, kann aber in Situationen für Entlastung und Selbstermächtigung sorgen, in denen die vollständige Beziehungsbeendigung nach einem Vertrauensbruch nicht möglich oder nicht angezeigt erscheint. Der österreichische Philosoph und Soziologe Alfred Schütz hat Vertrauen in drei Grundannahmen gegliedert, »die für die natürliche Einstellung in der Lebenswelt charakteristisch sind und selbst als fraglos gegeben angesetzt werden: nämlich Annahmen der Konstanz der Weltstruktur, der Konstanz der Gültigkeit unserer Erfahrung von der Welt und der Konstanz unserer Vermöglichkeit, auf die Welt und in ihr zu wirken« (zitiert nach Endreß 2002, S. 20). Gerade wenn unsere Annahmen von der »Konstanz der Weltstruktur« infrage gestellt werden – etwa wenn das Urvertrauen in die Liebe unserer Eltern erschüttert wird –, kann mechanisches Vertrauen (in Anlehnung an den von dem kanadischen Mediator Martin Golder [2019] geprägten Begriff der mechanischen Empathie) nützlich sein, um die Handlungsfähigkeit zu erhalten. Unser Vertrauen mag arg ramponiert sein und wir mögen emotionale Vorsicht walten lassen, aber in unserem Verhalten gegenüber den Personen, die unser Vertrauen verletzt haben, ist kein Unterschied feststellbar zwischen einem vertrauensvollen Verhältnis und einer Beziehung, in der Vertrauen nur dargestellt wird. Es gilt, wenn man so will, das Prinzip, auf dem Stars wie Da-
vid Hasselhoff ihre Karrieren begründet haben: »Fake it till you make it.« Erschüttertes Vertrauen in sich selbst Doch nach Trennungen ist das verlorengegangene Vertrauen in den ehemaligen Partner oder die ehemalige Partnerin nur eine Hälfte des Problems. Denn die mit dem Vertrauensverlust einhergehende Enttäuschung führt häufig zu Zweifeln am eigenen Urteilsvermögen und mithin zu einer Krise des Selbstvertrauens: »Wie konnte ich mich nur so in ihm (oder ihr) täuschen!? Und wie soll ich jemals wieder irgendjemandem vertrauen!?« Diese Fragen können im Rahmen einer Mediation nur am Rande behandelt werden. Ist das Selbstvertrauen erschüttert, können nur tiefe Reflexionsprozesse, gegebenenfalls unterstützt durch Psychotherapie oder Coaching, Linderung bringen. Die gute Nachricht ist, dass das Vertrauen in sich selbst und in die eigene Entscheidungskompetenz und Urteilsfähigkeit – im Gegensatz zum Vertrauen in andere Menschen – wiederhergestellt werden kann. Thomas Geldmacher ist Politikwissenschaftler, Mediator und Gesellschafter von Rundumberatung, einem Unternehmen, das sich unter anderem Fragen von Tod und Trauer am Arbeitsplatz widmet. E-Mail: [email protected] Literatur Endreß, M. (2002). Vertrauen. Bielefeld. Giddens, A. (1996). Konsequenzen der Moderne. Frankfurt a. M. Golder, M. (2019). Mechanical empathy. https://martingolder.wordpress.com/2019/06/19/mechanical-empathy (Zugriff am 11.12.2019). Han, B.-C. (2012a). Transparent ist nur das Tote. In: Die Zeit 3/2012. https://www.zeit.de/2012/03/Transparenzgesellschaft (Zugriff am 14.12.2019). Han, B.-C. (2012b). Transparenzgesellschaft. Berlin. Moreno, J. L. (1982). Definition der Rollen. In: Petzold, H., Mathias, U. (Hrsg.), Rollenentwicklung und Identität. Von den Anfängen der Rollentheorie zum sozialpsychiatrischen Rollenkonzept Morenos (S. 277–285). Paderborn. Simmel, G. (1908). Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Berlin.
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Vertrauen – Ein wichtiger Begleiter in schwierigen Zeiten Eva Schumacher-Wulf »Hab Vertrauen!« Unzählige Male habe ich diese Aufforderung schon gehört. Ich soll vertrauen. Ja, das wäre sicherlich gut. Aber ist das nach der Diagnose »Krebs. Unheilbar« überhaupt noch möglich? In wen oder was sollte ich überhaupt Vertrauen haben? Und was bedeutet es, Vertrauen zu haben? Vertrauen ist etwas Schönes. Es ist beruhigend, schafft Hoffnung, nimmt Angst. In meinem bisherigen Leben habe ich das so empfunden. Ich hatte immer Vertrauen, dass alles gut wird. Dass sich ein Weg findet. Dass der schlimmste Fall schon nicht eintreten wird. Auch nach meiner ersten Krebsdiagnose vor 15 Jahren hatte ich meistens Vertrauen, dass die Krankheit nicht zurückkommt. Dieses Vertrauen ist mit der Diagnose »metastasierter Brustkrebs« geschwunden. Denn es wird nicht mehr gut. Ich glaube auch nicht an Wunder. Meinen Blick in die Zukunft würde ich als »hoffnungsvoll realistisch« bezeichnen. Ich habe es verloren, das Vertrauen in eine göttliche Fügung, in meine Gesundheit, in meinen Körper. Wie konnten sich die Krebszellen unbemerkt in meinem Körper ausbreiten? Permanent wende ich meinen Blick nun nach innen, in mich hinein, versuche zu hören oder spüren, ob irgendwo wieder etwas wächst. Denn ich habe nicht mehr das Vertrauen, es rechtzeitig zu merken. Höre ich in mich hinein, spüre ich aber nicht nur die Tumorzellen wachsen. Ich stelle mir vor, wie sie durch meine Medikamente geschwächt werden. Ja, ich habe Vertrauen in meine Therapie, durch sie wird mir noch etwas Zeit bleiben. Und meine Ärzte sind da, um mich zu beraten, wenn das Tumorwachstum weitergeht. Ich weiß,
dass sie für mich da sind. Ich vertraue ihnen. Ich habe Vertrauen, dass sie mich als Mensch sehen und nicht als Fallpauschale. Dass sie verstehen, wie sehr ich am Leben bleiben will. Dass sie alles versuchen werden, um mir Zeit zu schenken. Und dass sie mich auch an meinem Lebensende begleiten werden. Ist das nicht schön? Für mich ist es ein Geschenk. Das größte Geschenk jedoch ist meine Familie. Könnte es in so einer Situation etwas Besseres geben als eine Familie, die einfach da ist? Ohne Wenn und Aber? Ich spüre tiefes Vertrauen in meine Familie, so tief, dass es sich wie eine feste Umarmung anfühlt. Ich fühle mich geborgen, begleitet, beschützt. Auch von Freunden. Von denen, die noch da sind. Das Leben mit metastasiertem Brustkrebs ist brutal. Die Endlichkeit sitzt wie ein übler Begleiter auf meinen Schultern. Sie ist immer da. Und sie wird bleiben. Ich werde mit ihr leben müssen. Das ist jeden Tag eine neue Herausforderung. Oft habe ich mich im Umgang mit Menschen in dieser Situation gefragt, wie sie es aushalten können, das Wissen um die kurze Lebenserwartung. Wie gestalten sie ihren Tag? Wie setzen sie Prioritäten? Haben sie überhaupt noch unbeschwerte Momente? Ich war immer froh, nicht zu wissen, wie sich das anfühlt. Jetzt weiß ich es. Und ich glaube, dieses Gefühl liegt außerhalb jeglicher Vorstellungskraft von gesunden Menschen. Trotzdem gibt es glückliche Momente, intensive Erlebnisse, wertvolle Begegnungen. Vieles sortiert sich neu. Loslassen ist ein gutes Rezept für die kommende Zeit. Loslassen von dem, was war und was nicht wiederkehrt. Zuwenden zu dem, was das Leben für mich vorgesehen hat. Vertrauen hilft,
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diesen neuen Weg zu gehen. In meinem Fall ist es das Vertrauen in meine Familie, Freunde und Ärzte, das mich stärkt. Sie gehen den Weg mit mir. Bis zum Ende. Darauf werde ich mich besinnen, wenn mir wieder jemand sagt: »Hab Vertrauen!« Ja, werde ich sagen, ich habe Vertrauen. Und es fühlt sich gut an.
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Eva Schumacher-Wulf ist Chefredakteurin der Brust- und Eierstockkrebsmagazine Mamma Mia!, die sie vor 15 Jahren gründete. Sie erkrankte 2004 im Alter von 34 Jahren an Brustkrebs. 2018 wurde die Diagnose »metastasierter Brustkrebs« gestellt. Damit ist die Krankheit nicht mehr heilbar.
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E-Mail: e [email protected]
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Erschüttert durch traumatisierende Erfahrungen Vertrauen und Misstrauen aus Sicht der Polyvagal-Theorie
Birgitta Hadatsch-Metz Der Titel dieses Artikels enthält einige Begriffe wie »traumatisierende Erfahrungen«, »Vertrauen« und »Misstrauen«, die durchaus unterschiedliche Konnotationen in Ihnen als Leserinnen und Lesern hervorrufen werden. Ich werde in diesem Text durch die »Brille« der »Polyvagal-Theorie« auf die genannten Phänomene schauen. Dieses Modell begegnete mir vor einigen Jahren im Rahmen meiner Traumatherapie-Fortbildungen, als ich begann, mich für diesen Bereich zu spezialisieren. Es veränderte mein berufliches Handeln und meine Sicht auf das Verhalten von Menschen nachhaltig. Die Polyvagal-Theorie Die Polyvagal-Theorie ist eng mit dem Namen Stephen W. Porges verbunden. (Es lohnt sich, Videos auf YouTube anzusehen, die meist Interviews mit diesem Wissenschaftler zeigen. Dabei wird seine sehr wertschätzende und achtsame Haltung gegenüber allem Menschlichen deutlich, die auch beim Lesen seiner Bücher spürbar wird.) Porges entwickelte seine Theorie aufgrund seiner langjährigen wissenschaftlichen Forschungsarbeit. Seine Reise als Wissenschaftler war die einer »persönlichen Suche nach einer vermittelnden Variable, die individuelle Verhaltensunterschiede erklärte« (Porges 2017, S. 20). Dabei lernte er »die Bedeutung des autonomen Zustandes [= Zustandes des autonomen Nervensystems] als neuronale Plattform für Verhalten und psychologisches Erleben unter Einschluss von Gefühlen der Sicherheit zu verstehen« (Porges 2017, S. 20). Mit anderen Worten: Seine Reise führte ihn direkt in die Funktionen und Entwicklung des Autonomen Nervensystems.
Das Autonome Nervensystem (ANS): Entwicklung, Aufbau und Funktion Gemäß der Polyvagal-Theorie unterscheiden wir hinsichtlich des ANS drei Bereiche: den Sympathikus und zwei Vaguspfade des Parasympathikus (ventraler Vagus und dorsaler Vagus). Diese drei Subsysteme des ANS sind zu unterschiedlichen Zeiten entstanden. Der dorsale Vagus ist evolutionsbiologisch der älteste Vaguspfad. Ist dieser aufgrund einer Defensivreaktion in Funktion, so schaltet der Organismus auf »Notprogramm« um und reduziert damit die Lebensfunktionen auf ein Mindestmaß (Immobilisierung, Shutdown, umgangssprachlich auch als »Totstellreflex« bezeichnet). Menschen verfügen über eine breite Palette von Reaktionsweisen des dorsalen Vagus. Der Sympathikus, der sich evolutionär als Nächstes entwickelte, fungiert bei Gefahr als weiteres Defensivsystem. Durch die Ausschüttung von Stresshormonen (wie Adrenalin, Noradrenalin und Cortisol) ermöglicht er die Reaktionen von Kampf oder Flucht. Hierbei ist es wichtig, zur Kenntnis zu nehmen, dass die beiden hier vorgestellten Systeme des dorsalen Vagus und des Sympathikus nicht nur defensive Funktionen zu erfüllen haben, sondern auch der Regulation des Organismus dienen. Der Sympathikus unterstützt uns zum Beispiel beim Spiel, Sport etc. Diese Aspekte werden hier jedoch aus Platz- und kontextuellen Gründen vernachlässigt. Mit dem Auftreten der Säugetiere bildete sich ein zweiter Vaguspfad des parasympathischen Nervensystems, der sogenannte ventrale Vagus, der durch die ihn umgebende Myelinschicht eine
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dient. So lautet auch der Titel eines seiner Bücher bezeichnenderweise »Die Polyvagal-Theorie und die Suche nach Sicherheit«. Was bedeutet dies im Zusammenhang mit traumatisierenden Erfahrungen? Im Laufe der Evolution bildeten sich demnach verschiedene Stränge des autonomen Nervensystems heraus, die das Überleben sichern sollten, indem »das Nervensystem ohne Mitwirkung des Bewusstseins Gefahren einschätzt und dann versucht, ein neuronales System zu aktivieren, das dem Kontext und der wahrgenommenen Gefahr
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schnellere Leitfähigkeit hat. Die Unterscheidung und Beschreibung der beiden dem Parasympathikus zugehörigen Vaguspfade, die völlig unterschiedliche Funktionen haben, ist das große Verdienst von Porges und seiner Polyvagal-Theorie. Aufgabe des ANS sind die Regulation des Organismus von Lebewesen und die Anpassung an die äußeren und inneren (= innerhalb des Organismus befindlichen) Bedingungen unterhalb der Bewusstseinsschwelle. Porges betont immer wieder, dass jede Reaktion unseres Nervensystems, egal wie fremd oder absurd diese uns erscheint, von der Grundabsicht her unserem Überleben und der (Wieder-)Herstellung von Sicherheit
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entspricht« (Porges 2017, S. 104). Insofern sind wir beständig auf der Suche nach Sicherheit. Nur solange von uns wahrgenommen wird, dass wir in Sicherheit sind, können wir im Einflussbereich des ventralen Vagus sein und bleiben. Dieser – auch als System für soziales Engagement bezeichnet – ermöglicht, dass wir uns in Resonanzbeziehungen mit anderen begeben können (was für Säugetiere und daher auch Menschen überlebensnotwendig ist, da diese als »Frühgeburten« von der Aufzucht und Pflege durch die Eltern abhängig sind) und nicht aus Angst flüchten müssen. Der ventrale Vagus ist zudem mit der Gesichts-, Hals- und Mittelohrmuskulatur sowie dem Kehlkopf verbunden. An der Mimik, der Kopfhaltung, der Geschwindigkeit und der Prosodie der Sprache erkennt unser Organismus sofort, ob sich jemand im Einflussbereich des ventralen Vagus befindet. Sollte dies nicht der Fall sein, wird dies von uns sofort als Unsicherheit registriert und es werden die Defensivsysteme unseres ANS (Sympathikus bzw. dorsaler Vagus) aktiviert. Ein Beispiel aus eigener Erfahrung: Mein Schwager litt an Zungengrundkrebs. Im fortgeschrittenen Stadium wurde seine Mimik zunehmend starr. Ich bemerkte an mir, dass ich immer, wenn ich in sein Gesicht blickte, nervös wurde, mich unwohl fühlte und am liebsten den Raum verlassen hätte. Seine zunehmend bewegungslose Mimik vermittelte meinem Nervensystem Gefahr. Nachdem ich meine Körperempfindungen und Bewegungsimpulse bewusst wahrnahm und nach Anzeichen von Sicherheit suchte – der Blick in seine lebendigen Augen half mir dabei –, konnte ich immer wieder meine Aktivierung und somit mein ANS beruhigen und in den Funktionsbereich des »sozialen Vagus« zurückkehren. Die genannten drei neuronalen Schaltkreise sind hierarchisch angeordnet: Der jüngere hemmt, solange es möglich ist, den jeweils älteren Schaltkreis. So versucht der Organismus bei Gefahr
zunächst durch Mobilisierung von Energie und in der Folge mittels der Defensivreaktionen von Kampf und/oder Flucht wieder Sicherheit herzustellen. Schätzt unser Nervensystem diese Reaktionen jedoch als unzureichend ein und erleben wir uns hilflos einer Situation ausgeliefert, ermöglicht der dorsale Vagus dem Organismus, in den Shutdown (Immobilisierung) zu gehen. Alle diese Prozesse sind keine bewussten Entscheidungen. Unser Nervensystem »legt aufgrund seiner Einschätzung Prioritäten bezüglich adaptiven Verhaltens fest, die nicht kognitiver Art sind« (Porges 2017, S. 31). Alle diese Reaktionen sind vorerst sinnvoll und wir dürfen sie bei uns und anderen mit Wertschätzung wahrnehmen. Aus den vorangegangenen Ausführungen folgt, dass es keine bestimmten Ereignisse gibt, die auf jeden Fall traumatisierende Auswirkungen haben, sondern dass unser ANS diese »Entscheidung« trifft. Fischer und Riedesser (2009) beschreiben dementsprechend ein Trauma als »ein vitales Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen Situationserfahrungen und individuellen Bewältigungsmöglichkeiten, welches mit Gefühlen von Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe einhergeht und so eine dauerhafte Erschütterung von Selbst- und Weltverständnis bewirkt«. Wenn wir traumatisiert werden, bleiben wir gewissermaßen im traumatischen Geschehen verhaftet. Das macht sich dann schmerzhaft bemerkbar, wenn unser Nervensystem in Situationen Gefahren »erkennt«, wo es keine gibt, weil irgendetwas an die traumatisierende Situation erinnert hat. Traumatisierung und Vertrauen Thomas von Aquin beschreibt Vertrauen als »durch Erfahrung bekräftigte Hoffnung auf Erfüllung von erwarteten Zuständen« (https://de.wikipedia.org/wiki/Vertrauen). Gleichzeitig bedarf Vertrauen aber auch der Fähigkeit, sich einer gewissen Unsicherheit auszusetzen. Vertrauen bedeutet eben nicht, dass ich etwas mit völliger Si-
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cherheit erwarten kann. Vor allem Menschen, die von anderen Menschen traumatisiert wurden, haben damit Schwierigkeiten. Das Verhältnis von Traumatisierung und Vertrauen soll im Folgenden an einem Fallbeispiel aus eigener Praxis dargestellt werden:
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Ein Klient, 45 Jahre alt, erlebte als Kind durch seine Mutter schwerste Traumatisierung. Er sucht meine Praxis auf, um Hilfe wegen seiner massiven Panikattacken zu bekommen. Er trifft auf mich als Therapeutin; eine Frau, die zwar nicht im Alter seiner Mutter ist, aber dennoch um einige Jahre älter als er selbst. Sehr bald wird deutlich, dass er sich alles andere als sicher fühlt. Ich werde von seinem ANS als Gefahr »identifiziert«. Der Sympathikus wird angeregt, hierdurch wird ein Fluchtimpuls ausgelöst, mit dem Ziel, seine in Gefahr gebrachte
Sicherheit wiederherzustellen. Gleichzeitig nehme ich wahr, dass sein ANS in den Shutdown geht. Zu meiner Vorgehensweise gehört es, dem Klienten etwas über sein ANS zu erzählen, dessen Funktions- und Reaktionsweisen zu erklären, um dann gemeinsam zu erkunden, wie sich dies jeweils in der konkreten Situation anfühlt. Wir verbringen viele Sitzungen damit, auszuprobieren, wo im Raum, in welchem Abstand und in welcher Richtung wir sitzen müssen, dass es für ihn möglich ist, im Raum zu bleiben und eben nicht zu flüchten oder in die Erstarrung zu gehen. Ich lade ihn ein, sich immer wieder im Raum zu orientieren, um seinem Nervensystem zu ermöglichen, über seine Sinne Hinweise zur Erlangung seiner Sicherheit zu bekommen. Gleichzeitig trachte ich danach, mein eigenes ANS so zu regulieren, dass ich meinem Klienten über mei-
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ne Mimik, Kopfhaltung, die Prosodie meiner Sprache und so weiter Signale gebe, dass ich als sicher einzustufen bin. Dabei vertraue ich darauf – diese Erfahrung durfte ich oftmals machen –, dass ich auf diese Weise das ANS meines Klienten einlade, auch den ventralen Ast des Parasympathikus zu nutzen, um mit mir in eine förderliche Resonanzbeziehung einzutreten. Nach mehr als einem Jahr teilt er mir seine Beobachtung über unser gemeinsames Arbeiten mit: Er merke, dass er vor mir deutlich weniger Angst habe, da er die Erfahrung gemacht hat, dass ich nichts tue, was er nicht möchte. So war es ihm zunehmend möglich, die verbliebene Restunsicherheit bewusst wahrzunehmen und darauf zu vertrauen, dass ich weiterhin nichts unternehmen werde, was er nicht möchte.
Um vertrauen zu können, brauchen Menschen ein Mindestmaß an gefühlter, nicht nur gedachter, Sicherheit, sodass die im Vertrauen implizit beinhaltete Unsicherheit aufgefangen werden kann. Für Menschen, deren Organismus durch Traumatisierung erschüttert ist und bei denen das Gefühl der Unsicherheit vorherrscht, liegt Misstrauen näher als Vertrauen. Für diese Menschen ist es von größter Bedeutung, auf ein Gegenüber zu treffen, das sich selbst immer wieder gut regulieren und beruhigen kann und so fähig ist, eigene Aktivierungsimpulse entsprechend wahrzunehmen und zu integrieren. In einem solchen wechselseitig vergewisserten Vertrauen erwächst der Gedanke von Max Frisch zur Wahrheit: »Hei mat ist der Mensch, dessen Wesen wir vernehmen und erreichen« (1950, S. 335). Birgitta Hadatsch-Metz, Psychotherapeutin (SF) und Juristin, langjährige Bereichsleiterin für Klinische Psychologie und Psychotherapie im St. Josef Krankenhaus, Wien. Sie ist Psychotherapeutin in eigener Praxis mit den Schwerpunkten Psychoonkologie, Palliative Care, Traumatherapie sowie Supervisorin im Sozial- und Gesundheitswesen. E-Mail: [email protected]
Um vertrauen zu können, brauchen Menschen ein Mindestmaß an gefühlter, nicht nur gedachter, Sicher heit, sodass die im Ver trauen implizit beinhaltete Unsicherheit aufgefangen werden kann.
Literatur Dana, D. (2019). Die Polyvagal-Theorie in der Therapie. Den Rhythmus der Regulation nutzen. Lichtenau/Westf. Fischer, G.; Riedesser, P. (2009). Lehrbuch der Psychotraumatologie. 4., aktual. und erweiterte Auflage. München. Frisch, M. (1950). Tagebuch 1946–1949. Frankfurt a. M. Levine, P. A. (2012). Sprache ohne Worte. Wie unser Körper Trauma verarbeitet und uns in die innere Balance zurückführt. München. Porges, S. W. (2017). Die Polyvagal-Theorie und die Suche nach Sicherheit. Traumbehandlung, soziales Engagement und Bindung. Lichtenau/Westf. Porges, S. W.; Dana, D. (Hrsg.) (2019). Klinische Anwendungen der Polyvagal-Theorie. Ein neues Verständnis des autonomen Nervensystems und seiner Anwendung in der therapeutischen Praxis. Lichtenau/Westf. Rahm, D.; Meggyyesy, S. (Hrsg.) (2019). Somatische Erfahrungen in der psychotherapeutischen und körpertherapeutischen Traumabehandlung. Wie wir durch heilsame Begegnungsprozesse lernen können, unsere Nervensysteme zu regulieren und uns wieder sicher und aufgehoben zu fühlen. Lichtenau/Westf.
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Auffangen – Informieren – Begleiten und aushalten Hildegard Kusicka Jede achte Frau erkrankt im Laufe ihres Lebens an Brustkrebs. Trotz Verbesserung von Früherkennung/Vorsorgeuntersuchung und stetig erweiterter Behandlungsmöglichkeiten bedeutet diese Diagnose, wenngleich sie im ersten Schreck einem Todesurteil gleicht, dies schon lange nicht mehr zwangsläufig. Obgleich sich die Heilungschancen in den letzten Jahren deutlich verbessert haben, löst die Mitteilung der Diagnose große Ängste bei den betroffenen Frauen aus und wirft viele Fragen auf: Sehe ich meine Kinder noch groß werden? Verliere ich meine Arbeit? Muss ich mich aus dieser Welt verabschieden? Manchmal werden die Sorgen so groß und bedrängend, dass die Betroffenen oder ihre Angehörigen Hilfe brauchen und sie auch suchen. In der Behandlung von an Krebs erkrankten Menschen kommt der psychoonkologischen Begleitung eine wichtige Bedeutung zu. Die Psychoonkologie richtet ihren Blick auf die Befindlichkeit des an Krebs erkrankten Menschen in seiner jeweiligen Lebenssituation. »Ich brauche keine Psychotherapie, wir können es kurz halten.« Mit diesen Worten begrüßt mich eine junge Frau (29 Jahre, frisch verheiratet, zehn Wochen vor der Entbindung), nachdem ihr kurz vorher die Diagnose Brustkrebs übermittelt wurde. Wütend und herausfordernd schaut sie mich an und dann sinkt sie in sich zusammen und weint. »Warum jetzt? Warum ich?«, fragt sie mich. »Ich kann Ihnen darauf keine Antwort geben«, sage ich zu ihr, »aber ich kann Ihnen behilflich sein bei der Suche nach Ihrer ganz persönlichen Antwort.« Häufig verbirgt sich hinter dem »Warum?« der plötzliche und sehr schmerzhafte Verlust des per-
sönlichen Lebensentwurfs. Die Krebsdiagnose zerstörte die eigene Geschichte dieser jungen Frau, das Leben, welches sie sich mit Mann und Kind und Freunden, mit Plänen, Arbeit und Freizeit für die Zukunft ausgemalt hatte. Die Patientin braucht eine neue Erzählung für ihr Leben. Als Psychoonkologin helfe ich ihr dabei, diesen neuen Lebensentwurf zu finden. Ein wesentliches Ziel in der Psychoonkologie ist es, eine wirksame Hilfe zu geben (manchmal auch ganz praktischer Natur), um, so gut es geht, die Lebensqualität zu erhalten oder wiederherzustellen. Oft sind die Betroffenen nach der Diagnose mit vielem überfordert. Im psychoonkologischen Schutzraum können sie sich in Ruhe sortieren und mit einem achtsamen, impuls
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gebenden Gegenüber ihre Wünsche, Bedürfnisse und Fragen aussprechen. Die Gespräche haben ganz unterschiedliche Inhalte. Es geht darum zu erfahren, wie es der Patientin geht, welche alltäglichen und auch besonderen Veränderungen die Krankheit mit sich bringt. Hierbei spielen auch Veränderungen oder Störungen im Körperbild und Körperlerleben sowie Selbstbild und Selbsterleben, die einer Neuorientierung und Integration bedürfen, eine Rolle. Gibt es Schmerzen, Behinderungen, Müdigkeit? Was bedeutet die Erkrankung für den Partner, die Kinder, die Familie und die Arbeit. Über diese Themen zu sprechen, gelingt den meisten noch ganz gut. Schwieriger wird es, wenn es um und die Sinnsuche oder das Sterben geht. Wir Menschen wissen alle, dass wir sterben müssen. Und doch gelingt es uns in der Regel ganz gut, dieses Bevorstehende immer wieder zu vergessen. Wenn jedoch die Diagnose Krebs ins Leben einbricht, dann wird es schwierig, die bisherigen Strategien zu verfolgen. Dann drängen sich machtvoll Fragen ins Bewusstsein: »Muss
ich jetzt sterben? Wird mir die Diagnose den Tod bringen? Werde ich dies alles überhaupt überleben?« Das sind die Fragen, mit denen ich in der psychoonkologischen Beratung konfrontiert werde. Für mich bedeutet es, dass auch ich mich mit dem Thema auseinandersetzen muss. Denn alles, was mich ängstigt, überträgt sich auf mein Gegenüber beziehungsweise nimmt Einfluss auf das gemeinsame Gespräch. »Ich habe solche Angst, dass ich mein Kind nicht mehr aufwachsen sehe. Sie ist doch erst vier Jahre alt und braucht mich«, sagt eine 32-jährige an Brustkrebs erkrankte junge Mutter zu mir. Ich frage sie … ich antworte ihr … Im gemeinsamen Gespräch arbeiten wir heraus, dass natürlich die Möglichkeit besteht, dass sie sterben könnte. Dass es jedoch im Moment keine konkreten Anhaltspunkte dafür gibt. Wir beschließen die Sitzung mit dem Satz: »Im Moment ruft das Leben nach mir und ich kann in nahezu jedem dieser Momente für mein Kind da sein. Und das tue ich.«
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Einen Menschen in einer existenziellen Krisensituation zu begleiten ist eine große Herausforderung und gleichzeitig ein Geschenk. In jedem dieser Begegnungen werde ich auch ein wenig mit mir selbst in Kontakt gebracht, werde ich auf eine besondere Weise an meine eigene Sterblichkeit erinnert. Es ist nicht immer schön, doch lehrt es mich, dass wir im Leben nicht alles in der Hand haben, sondern immer wieder auch das Wagnis eingehen müssen, Vertrauen zu haben, ohne genau zu wissen in wen oder was. Hildegard Kusicka, Krankenhausbetriebswirtin, Krankenschwester, Systemischer Coach und Psychoonkologin, ist Koordinatorin des Instituts für Frauengesundheit an der Universitäts-Frauenklinik Tübingen und Leiterin der dortigen Frauenakademie. Sie ist u. a. Mitglied des Bundesvorstandes Frauenselbsthilfe nach Krebs e. V. E-Mail: [email protected]
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Kurzinterview aus der Praxis Barbara Leu, Psychotherapeutin und Psychoonkologin in Zürich 1. Welchen Stellenwert hat Vertrauen für Sie in Ihrer Arbeit? In meiner Tätigkeit als Psychotherapeutin und Psychoonkologin in einem Schweizer Akutkrankenhaus und in einem Hospiz ist Vertrauen ein zentraler Wert. Vertrauen ist die Basis meiner Arbeit. Vertrauen ist für mich zudem das Bindeglied zwischen zwei Menschen in der therapeutischen Situation. Vertrauen kittet, es verbindet. Es stellt Beziehung erst her und ist daher relational. Vertrauen ist keine kognitive Angelegenheit; Vertrauen liegt im Gespür. Könnte ich ohne Vertrauen der Patientinnen und Patienten mir gegenüber überhaupt arbeiten? Und umgekehrt: Könnte ich ohne Vertrauen meinerseits mit den Patientinnen und Patienten arbeiten? Ich denke nicht, dass das möglich wäre. Vertrauen heißt auch: Auf den Menschen mir gegenüber ist Verlass. Ihm kann ich meine Anliegen, Wünsche, Ängste, Unsicherheiten anvertrauen. Da ist eine feste Basis. 2. Wie würden Sie Vertrauen aufbauen, wenn Menschen in einer Grenzsituation sind?
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Ich denke nicht, dass der Vertrauensaufbau bei Menschen in Grenzsituationen schwieriger ist als in anderen Situationen. Gerade bei Patientinnen und Patienten mit psychiatrischen Diagnosen scheint mir der Vertrauensaufbau oft schwieriger als in meiner Tätigkeit mit terminalen Patientinnen und Patienten oder mit Menschen, die gerade erst die Diagnose ihrer Krebserkrankung erhalten haben.
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Wichtig scheint mir hier, was Alfried Längle mit seiner ersten Grundmotivation meint: Mir als Psychoonkologin steht in solchen Grenzsituationen die Aufgabe zu, Schutz, Raum und Halt zu bieten. Die Menschen sollen erfahren, dass die Therapeutin mit-aushalten kann, dass sie tragen kann und nicht zusammenbricht, dass sie da ist und den Menschen in seinem Schmerz und in seinem Leiden nicht im Stich lässt. Dabei geht es darum: 1. die Begebenheiten zu benennen; 2. die Begebenheiten anzuerkennen, so, wie sie sind; 3. zu akzeptieren, dass es so ist, wie es ist (»radikaler Realitätsbezug«); 4. ein Gespür dafür zu entwickeln, wie es mir damit geht; 5. eine Haltung dazu zu entwickeln, um handlungsfähig zu werden. 3. Welches sind die größten Hindernisse beim Aufbau des Vertrauens? Wie bereits gesagt, halte ich die Vertrauensbildung für einen emotionalen Prozess. Ich kann viele gute rationale Argumente für den Vertrauensaufbau haben – wenn es emotional nicht »funkt«, geht Vertrauensbildung nicht. Ich halte Vertrauensbildung für einen Prozess und nicht für einen Akt. Bei manchen Menschen braucht Vertrauensaufbau viel Zeit, viele Situationen, in denen sie spüren, dass jemand bedingungslos für sie da ist. Dass sie nicht im Stich gelassen werden, dass kein Liebesentzug droht, wie sie es vielleicht in ihrer Kindheit oder Jugend erlebt haben, wenn sie nicht das getan haben, was von ihnen erwartet wurde. 4. Leben wir in einem Zeitalter des Vertrauens oder Misstrauens? Bei dieser Frage würde ich verschiedene Ebenen oder Aspekte unterscheiden: Gesellschaftspolitische Ebene: Diese scheint mir eher von Misstrauen geprägt zu sein – Misstrauen gegenüber Fremdem, fremden und andersartigen Menschen, gegenüber Politik und politischen Entscheidungsträgerinnen und -trägern. Digitale Welt: Im Zeitalter von Social Media, Cybercrime, der öffentlichen Selbstinszenierung und Selbstoptimierung von Menschen im Netz nehme ich eher Unbedarftheit und Vertrauen wahr – wo wohl eher eine gesunde Portion Misstrauen am Platz wäre. Emotionale Ebene: Je nach Disposition und Bindungserfahrungen der betreffenden Menschen können Vertrauen und Misstrauen auf einem Kontinuum unterschiedlich ausgeprägt sein. Zwischenmenschliche Beziehungen: Trotz der Öffentlichmachung des Intimem erfahre ich in meiner Tätigkeit in Beziehungen oft Verletzungen, Unsicherheiten, die das Vertrauen in die Partnerin, den Partner torpedieren. Vielleicht herrscht in Partnerschaften ein Klima des Misstrauens?
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Blicke auf dich selbst in den Augen deiner Dämonen Der Umgang mit dem Bösen in Christentum und tibetischem Buddhismus
Christian Ruch Sowohl das evangelikal-charismatische als auch das katholisch-traditionalistische Christentum kennen eine geradezu exzessive Beschäftigung mit Dämonen und dämonischer Besessenheit. Auf der Grundlage eines wortgetreuen Verständnisses des Neuen und Alten Testaments wird argumentiert, dass Jesus nicht nur selbst Dämonen ausgetrieben habe, sondern auch dazu aufgerufen habe, es ihm gleichzutun. Tatsächlich kann es keinen Zweifel daran geben, dass der historische Jesus als ein Kind seiner Zeit Dämonen subjektlogisch, also als personale Wesen begriffen und bekämpft hat. Allein, dass er mit den Dämonen in einen Dialog tritt – und sie mit ihm! –, beweist dies (siehe zum Beispiel Markus 5,1–20). Wie die Details der Geschichte von der Heilung des besessenen Jungen (Markus 9,14–29) nahelegt, kann dieses dämonische Handeln heute selbstverständlich auch ganz anders interpretiert werden, in diesem Fall als Epilepsie. Der subjektlogischen Deutung Jesu steht also eine medizinisch fundierte strukturlogische Erklärung gegenüber, die Krankheit gerade nicht an einen personalen Verursacher koppelt. Deprekativ versus imprekativ Diese alternative Interpretationsmöglichkeit hat bis heute Folgen für das kirchliche Handeln: Während im evangelikal-charismatischen und katholisch-traditionalistischen Christentum buchstäblich »auf Teufel komm raus« exorziert wird (Amorth 1998, 1998), also gegen den Bösen ge-
kämpft wird, geht es im landeskirchlichen Milieu eher darum, dem Menschen gegen das Böse beizustehen. Die Frage lautet also: Exorzismus oder Therapie? (Niemann und Wagner 2005). Im deutschsprachigen Katholizismus hat vor allem der Fall der 1976 zu Tode exorzierten Studentin Anneliese Michel aus Klingenberg in Unterfranken (Wolff 1999) dazu geführt, die exorzistischen Praktiken zu überdenken und, wenn überhaupt, statt des imprekativen einen deprekativen Exorzismus zu pflegen. Beim imprekativen Exorzismus gilt es, den Dämonen zu befehlen, aus dem von ihnen besetzten Menschen auszufahren (ein klassischer Exorzismus, wie man ihn auch aus Filmen kennt), beim deprekativen Exorzismus handelt es sich darum, im Gebet mit der vermeintlich besessenen Person um Befreiung vom Bösen zu bitten. Die Bitte des »Vaterunser« »und erlöse uns von dem Bösen« ist ein solcher deprekativer Exorzismus. Interes sant ist, dass schon Jesus beide Formen kannte (Markus 9,29). Die römisch-katholische Kirche hält nach wie vor an der Möglichkeit eines imprekativen Exorzismus fest, wenn auch unter strengen kirchenrechtlichen Auflagen: Can. 1172 des Codex Iuris Canonici legt in § 1 fest: »Niemand kann rechtmäßig Exorzismen über Besessene aussprechen, wenn er nicht vom Ortsordinarius eine besondere und ausdrückliche Erlaubnis erhalten hat.« Und in § 2: »Diese Erlaubnis darf der Ortsordinarius nur einem Priester geben, der sich durch Frömmigkeit, Wissen, Klugheit und untadeligen Lebenswandel auszeichnet.« Die im-
Lorenzo Salimbeni, Exorcism of a demon from a possessed woman / Bridgeman Images
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prekative Form darf nur zusammen mit der deprekativen verwendet werden, letztere auch allein (Probst und Richter 2002, S. 133). Im evangelisch-charismatischen Christentum gibt es aufgrund der Gemeindeautonomie solche
Regelungen nicht. Hier werden die sogenannten »Befreiungsdienste« nach dem jeweiligen Gutdünken durchgeführt, dies nicht immer zum Nutzen der Betroffenen (Lambrecht und Baars 2009, vor allem S. 17 ff.). »Befreiungsdienste« stellen
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Paul Klee, Untitled, 1939 / Bridgeman Images
Das Böse gibt es letztlich nicht, weil auf der Ebene der absoluten Wahr heit mit ihrer vollkommenen Leere gar keine Dualität wie gut/böse existieren kann, sondern allenfalls auf der Ebene der relativen Wahrheit.
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oft eine Art Mischform aus imprekativem und deprekativem Exorzismus dar, wobei die Wahrnehmung des Dämonischen eindeutig von einem personalen Bösen ausgeht, dies mit Verweis auf das Wirken und die Dämonenvorstellungen Jesu. Dämonen im tibetischen Buddhismus Auch der klassische Buddhismus kennt das personal gedachte Böse, so etwa in Form des Asura, das heißt eines Dämons, zu dem man werden kann, wenn es zu einer karmisch bedingt schlechten Wiedergeburt kommt. Daneben gibt es die teufelsähnliche Gestalt Mara, die auch die Funktion eines Verführers hat. Eine komplexe Dämonologie hat jedoch vor allem der tibetische Buddhismus (Vajrayana) hervorgebracht, was nicht zuletzt daran liegt, dass er eine Art Fusionsprodukt aus dem klassischen Buddhismus Indiens und der ursprünglich in Tibet beheimateten schamanistischen Bön-Religion darstellt. Der Missionsmythos des Vajrayana berichtet, wie sich der buddhistische Meister und Magier Padmasambhava die lokalen Götter und Dämonen untertan machte (Tsogyal 1996, vor allem S. 61 ff.) und so den Buddhismus in Tibet etablieren konnte. Der tibetische Buddhismus kennt Dämonen sowohl als Naturgeister (zum Beispiel in Flüssen und auf Bergen) als auch – und das ist besonders interessant – als Symbol für innerpsychische Vorgänge und Zustände. Vor allem in der tibetischen Medizin spielen Dämonen damit eine wichtige Rolle, weil sie als Symptom der Verblendung (Zorn, Anhaftung etc.) und dadurch ausgelöste physische und psychische Erkrankungen betrachtet werden. Die Dämonen symbolisieren zwar als Wesen mit allerlei Attributen die Symptome eines unerleuchteten Geistes, sind aber im Gegensatz zu den Naturgeistern keine autonom handelnden Subjekte (Coleman 1997, S. 297 f.). Durch die Techniken des Tantra kann man lernen, mit den negativen, dämonischen Aspekten auf dem Wege der Visualisation zu arbeiten, um so die Dämonen zu zähmen und die negativen Eigenschaften,
für die sie stehen, zum Verschwinden zu bringen (Coleman 1997, S. 391 f.). Im Gegensatz zum oben beschriebenen christlichen Exorzismus geht es im tibetischen Buddhismus also nicht darum, Dämonen zu bekämpfen und auszutreiben, sondern sich ganz bewusst ihnen auszusetzen und sozusagen mit ihnen zu arbeiten, um ihnen Macht und Schrecken zu nehmen. Der Bannung des Bösen im Christentum steht also im tibetischen Buddhismus die Transformation des Negativen gegenüber. Dem liegt die Vorstellung zugrunde, dass es das Böse letztlich nicht gibt, weil auf der Ebene der absoluten Wahrheit mit ihrer vollkommenen Leere gar keine Dualität wie gut/böse existieren kann, sondern allenfalls auf der Ebene der relativen Wahrheit. Zum eigenen Dämon werden Ich möchte nun in stark verkürzter Form eine für westliche Praktizierende sehr gut geeignete Visualisationsübung vorstellen, die »Chöd« heißt (Coleman 1997, S. 292). Darunter versteht man das Abschneiden oder Durchtrennen falscher Vorstellungen und selbstsüchtiger, verblendeter Konzepte. Chöd ist eine tantrische Praxis, die in Tibet vor allem auf Friedhöfen und anderen Orten des Schreckens praktiziert wurde, und geht auf eine tibetische Meisterin des 11. Jahrhunderts namens Machig Labdrön (1055–1145) zurück – angesichts des stark patriarchal geprägten Vajrayana durchaus bemerkenswert. Kurz gesagt geht es beim Chöd darum, zum eigenen Dämon zu werden und ihn zu füttern. Dies vollzieht sich in fünf Schritten: Finden Sie den Dämon in Ihrem Körper. Welches Problem plagt Sie wie ein Dämon? Scannen Sie Ihren Körper und fragen Sie sich: Wo ist der Dämon am stärksten in meinem Körper? Wie ist seine Form? Wie ist seine Temperatur?
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Personifizieren Sie den Dämon. Lassen Sie diese Empfindung aus Ihrem Körper ent-
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weichen und sich vor Ihnen als Wesen mit Gliedmaßen, Gesicht, Augen und so weiter personifizieren. Visualisieren Sie den Dämon so detailliert wie möglich (Ihrer Fantasie sind da keine Grenzen gesetzt!). Stellen Sie dem Dämon dann die folgenden Fragen: Was möchtest du? Was brauchst du wirklich? Wie wirst du dich fühlen, wenn du das bekommst, was du wirklich brauchst? Werden Sie der Dämon. Nehmen Sie sich einen Moment Zeit, um sich im Körper des Dämons niederzulassen. Fühlen Sie, wie es ist, der Dämon zu sein. Beachten Sie, wie Ihr normales Ich aus der Sicht des Dämons aussieht. Beantworten Sie diese Fragen und sprechen Sie als Dämon: »Was ich will, ist … Was ich wirklich brauche, ist … Wenn ich das bekomme, was ich wirklich brauche, fühle ich …« (Beachten Sie diese Antwort besonders!).
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Füttern Sie den Dämon. Nehmen Sie sich einen Moment Zeit, um sich wieder in Ihrem eigenen Körper zu erholen. Sehen Sie den Dämon gegenüber. Dann lösen Sie Ihren eigenen Körper in Licht auf. Das Licht hat die Qualität des Gefühls, das der Dämon haben würde, wenn er das bekommt, was er wirklich braucht (das heißt die Antwort auf die dritte Frage). Beachten Sie die Farbe des Lichts. Stellen Sie sich vor, dieses Licht bewegt sich auf den Dämon zu und nährt ihn. Beachten Sie, wie der Dämon es aufnimmt. Sie haben einen unendlichen Vorrat an Licht. Füttern Sie den Dämon zu seiner vollen Zufriedenheit und beobachten Sie, wie er sich dabei verändert. Dies kann einige Zeit dauern.
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Ruhen Sie im Zustand von Frieden und Gelassenheit. Machen Sie eine Pause, bis die Gedanken wieder beginnen, und kehren Sie dann allmählich zu Ihrem Körper zurück.
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Ich denke, für eine zeitgemäße angstbefreite Begleitung, sei es in Therapie oder Seelsorge, sind Visualisationsübungen wie Chöd um einiges geeigneter als imprekative Exorzismen. Chöd bindet nicht an die delegierte Vollmacht eines Exorzisten, sondern ermächtigt zu eigenem Handeln, stärkt also die Autonomie und damit das Vertrauen in Selbstheilungskräfte. Zudem kann es religionsunabhängig praktiziert werden, die Übernahme von buddhistischen Glaubensvorstellungen ist also keinesfalls nötig. Aus meiner eigenen Erfahrung mit Meditationskursen kann ich guten Gewissens feststellen, dass Chöd eine weitaus sanftere Methode ist, sich Belastendem zu stellen, als irgendwelche Dämonen auszutreiben, die gerade erst dadurch induziert werden. Denn wer den personal gedachten Dämon austreiben will, muss ihn erst einmal hineinlassen. Und das ist nun das Letzte, was Menschen mit psychischen oder körperlichen Problemen gebrauchen können – sie haben schon genug in sich, was sie als dämonisch empfinden. Dr. Christian Ruch, Historiker, Soziologe und Ritualgestalter, hat sich lange mit dem tibetischen Buddhismus sowie vereinnahmenden Gruppen/Sekten beschäftigt. Er lebt in Chur. E-Mail: [email protected] Literatur Amorth, G. (1988). Ein Exorzist erzählt. 3. Auflage. Stein am Rhein. Amorth, G. (1998). Neue Berichte eines Exorzisten. Stein am Rhein. Coleman, G. (1997). A handbook of Tibetan culture. A guide to Tibetan centres and resources throughout the world. 2. Auflage. Calcutta. Lambrecht, O.; Baars, C. (2009). Mission Gottesreich. Fundamentalistische Christen in Deutschland. Berlin. Niemann, U.; Wagner, M. (Hrsg.) (2005). Exorzismus oder Therapie? Ansätze zur Befreiung vom Bösen. Regensburg. Probst, M.; Richter, K. (2002). Exorzismus oder Liturgie zur Befreiung vom Bösen. Informationen und Beiträge zu einer notwendigen Diskussion in der katholischen Kirche. Münster. Tsogyal, Y. (1996). Der Lotosgeborene im Land des Schnees. Wie Padmasambhava den Buddhismus nach Tibet brachte. Frankfurt a. M. Wolff, U. (1999). Das bricht dem Bischof das Kreuz. Die letzte Teufelsaustreibung in Deutschland 1975/76. Reinbek.
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Frieden mit dem Tod schließen: Vertrauenshaltung oder Planungsmodus? Andreas Heller Wir leben in Gesellschaften, in denen das Vertrauen knapp zu werden scheint. Kann man etwa den Medien noch trauen? Was bedeutet es, wenn sie pauschal als »Lügenpresse« diffamiert werden? Das Internet ist eine Gegenöffentlichkeit, die das Vertrauen in den Wert von Informationen und Nachrichten aushöhlen kann. »Nachrichten« angeboten wie Produkte im Warenhaus? Welchen kann man trauen? Oder: Kann man den Politikern trauen, den Parteien, dem Staat? Immer wieder werden von »offiziellen Stellen« Nachrichten in die Welt gesetzt, die dann dementiert werden aufgrund von Gegenbeweisen. Die Bevölkerung reagiert mit Empörung und Protesten, sofort und unmittelbar. Sie will nicht belogen und in zynischer Weise für dumm verkauft werden. Oder: Auch die katholische Kirche etwa stand jahrhundertelang als Institution für Glauben und Vertrauen. Modern gesprochen bestand und besteht ihre Aufgaben in der Organisation und Kommunikation einer universalen Botschaft des Glaubens und Vertrauens. Nur: Kann man einer Kirche noch Glauben schenken, Vertrauen zu ihr haben, wenn ihre klerikalen Repräsentanten durch sexuellen Missbrauch an Minderjährigen diese Botschaft widerlegen? Nicht nur durch punktuelles und einzelnes, subjektives Fehlverhalten, sondern strukturell und systemisch. Im Umgang mit Fragen des Lebensendes, dem eigenen Sterben ist Vertrauen ein Schlüssel element. Wir wissen, am Lebensende nimmt das Bedürfnis der Profis, der sogenannten Fachleute und Palliative-Care-Experten nach Planung und Kontrolle zu. Das ist verständlich. Erst recht in einer Gesellschaft, die die Verantwortung für
das Leben und das Sterben radikal individualisiert und autonomisiert hat. Leben heute ist eben kein Großunternehmen in öffentlicher Hand. Wie ich leben und auch wie ich sterben will, wird mir weitgehend nicht mehr vorgeschrieben – weder durch die Kirche noch durch die Gesellschaft, weder durch bestimmte Moralkodizes noch durch elaborierte Konventionen. Die Errungenschaft der Moderne besteht darin, mich in meine Selbstbestimmung, in die Selbstgesetzgebung (Autonomie) freigesetzt zu haben. Also bin ich selbst verantwortlich für mein Leben, Lieben und Arbeiten, für meine Spiritualität genauso wie für die Antworten auf die Frage, wie ich sterben werde. Heute muss die Lebensgeschichte selbst geschrieben werden. Und für die Sterbegeschichte werden wir angehalten, rechtzeitig und im Voraus, lange bevor wir sterben, planend das Drehbuch zu schreiben. In die Rolle einer Patientin gebracht, die wir geduldig (lateinisch: patiens) nachvollziehen, sollen wir verfügen, was sein soll, wenn … Deshalb wurden in den letzten Jahren zahlreiche Vorlagen entwickelt, die millionenfach heruntergeladen wurde aus dem Netz, sogenannte Patientenverfügungen, die vor allem aus der Logik der Profis (haftungsrechtlich und versicherungsrechtlich) verfasst worden sind. Den Betroffenen jedoch, die Amateure des Lebens und des Sterbens sind, geht es um gute und vertrauensvolle Beziehungen in ihrem sozialen Umfeld und um viele existenzielle Fragen. Warum also sollte sich ihr Interesse ausschließlich und vordergründig in der Frage, welche medizinischen Behandlungen vermieden werden sollen, bündeln?
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Z2sam / photocase.de
Planungsmetapher
Die Errungenschaft der Moderne besteht darin, mich in meine Selbstbestimmung, in die Autonomie freigesetzt zu haben. Also bin ich selbst verantwortlich für mein Leben, Lieben und Arbeiten, für meine Spiritualität genauso wie für die Antworten auf die Frage, wie ich sterben werde.
Wie und in welchem Ausmaß lassen sich in gesunden und relativ guten Tagen Fragen der Versorgung am Lebensende, in relativ schlechten Tagen von Krankheit, Sterben und Tod, denken und planen? Über die Planungslogik lohnt es sich, vertiefter nachzudenken. Sie ist aufgeladen mit bestimmten Implikationen, vielleicht auch Ausdruck eines tiefsitzenden Misstrauens. Zum einen: Wenn wir etwas planen, zum Beispiel eine Reise mit einem bestimmten Ziel, wird unsere Wahrnehmung, konzentriert auf dieses Ziel, andere Ziele, die auch möglich sind, vernünftigerweise ausblenden. Mit den Planungsvorstellungen für die »letzte Reise« scheint das auch so zu sein. Wir fokussieren etwa auf medizinische Behandlungen. Das ist aber nur eine Dimension, die im Sterben wichtig sein kann. Es gibt diese Kleinigkeiten, dieses Andere, diese individuellen Entwicklungen im Sterben eines jeden Menschen, die sich nicht absehen lassen, die uns überraschen, die un�erwartet sind und daher nicht im Blick und nicht im Plan sind. »Pläne machen blind« (Karl Weick), obwohl sie mit dem Anspruch verkauft werden, uns sehenden Auges auf das Ende einzustellen. Aber: Wir sehen nur, was wir in diesem Plan sehen können. Wir reduzieren den Blick auf das, was wir planen, und erwarten im Rahmen der Fähigkeiten, die wir zurzeit haben. Sterben ist unvorhersehbar. Es kann Unerwartetes passieren. Prozesse verlaufen nicht so wie geplant. Auch kann ich mich selbst darin verändern, eine andere Einstellung und Haltung gewinnen. Solche Pläne entstehen auch aus der Logik, eine Verlässlichkeit und hohe Qualität, eine »Sterbequalität« zu produzieren. Wiederkehrende Ereignisse können so routinemäßig bewältigt werden. Was immer dann problematisch ist, wenn neuartige Ereignisse entstehen, wo Routinen versagen und die Wiederholung von eingelernten Muster oder auch die Festlegung auf einmal Entschiedenes keinen Sinn ergibt, sondern neue, andere innovative individuelle Handlungen erforderlich sein können, die nicht im Plan waren.
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Fr i e d e n m i t d e m To d s c h l i e ß e n 6 9
Ganz offensichtlich nährt der Diskurs der Planbarkeit im Kontext einer neoliberalen Gesellschaft eine Angstberuhigungsvorstellung. Die ambivalenten Gefühle und Vorstellungen zum Sterben sollen beruhigt werden, Unsicherheiten unter die Scheinsicherheit der Kontrolle gebracht werden, was man nicht will, soll einfach nicht stattfinden, bestimmte allgemeine Lagen (Überweisung ins Krankenhaus, Reanimation) sollen vermieden werden. Die Planungs- und Kon trollvorstellung legt einen »Vermeidungsdiskurs« nahe. Nicht zuletzt geht es auch am Lebensende um Umsätze, um Sparmaßnahmen und darum, spezifische medizinische kostenintensive Maßnahmen zu vermeiden. Vertrauen entwickeln Diese Denkfigur steht in engem Zusammenhang mit dem von nicht wenigen Betroffenen erlebten und artikulierten »Lastdiskurs«. Eine akute lebensbedrohliche Notlage kann selten von den Betroffenen im Vorhinein angemessen eingeschätzt werden. In der Regel dominieren diffuse Ängste vor Leiden und Schmerzen, dem Verlust der Würde und Autonomie, die Sorge um zunehmende Hilflosigkeit und dem demütigenden Gefühl, anderen zur Last zu fallen. Jede Form der »gesundheitlichen Vorausplanung« wird dies berücksichtigen müssen. Denn es kann durchaus sinnvoll sein, im Leben eher eine vertrauensvolle »auf sich zukommende Haltung« zu pflegen. Es gibt zweifelsohne die Klugheit des Vorausschauens, des Organisierens, des nichtplanenden und enttabuisierten Denkens und Sprechens. Es gibt eine Klugheit des Nichts-Tuns, eine Weisheit des Lassens und Unterlassens. Eine vertrauensvolle Klugheit, nicht zu planen, sich nicht auf alles vorzubereiten und nicht über alles nachzudenken, weil es Dinge im Leben gibt, die letztlich nicht geplant und beherrscht werden können. Man begegnet ihnen mit einer gewissen neugierigen Offenheit, so sie sich ereignen, mit einem ursprünglichen Vertrauen – und mit eher dankbarer Demut, solange sie ausbleiben.
Im Letzten lassen sich die Zerbrechlichkeit, das ausrinnende Leben, die Abwärtsentwicklung in der letzten Lebensphase, das Sterben mit seinen vielen Gesichtern, die Endlichkeit nicht beherrschen. Es ist eine Illusion, alles im Voraus wissen zu können und deshalb mit Aktivität, mit Mustern einer quasi imperialen Lebensweise dirigistisch und linear zu reagieren. In der gelassenen Passivität, der vertrauenden Empfangsbereitschaft liegt eine andere Weisheit. Die Weisheit der Passivität beweist Offenheit für Möglichkeiten, die sich ergeben, ohne dass man sie im Voraus nur geahnt hätte. Und sie kann sich auch darin konkretisieren, einem anderen, für mich wichtigen und bedeutsamen Menschen zu trauen und ihm zuzutrauen, dass er für mich da ist, in meinem Sinne sorgend, vorsorgend und mitsorgend handelt, wenn ich es nicht vermag. Dieser Mensch meines Vertrauens, vielleicht sind es auch zwei oder drei Menschen, weiß um mich, weil er mich aus persönlichen Gesprächen kennengelernt hat. Am besten Menschen, zu denen ich durch wechselseitige Selbstoffenbarung eine tiefe und intime Beziehung entwickeln konnte. Sie wissen um die Themen meines Lebens und die Anliegen, die mich end-gültig beschäftigen. Sie sorgen für mich (caring), ihnen kann ich mich überlassen, auch deshalb, weil es nicht nötig ist, den Tod planend in den Griff zu bekommen. Die Haltung des Caring öffnet den Blick auf eine umfassende Sorge, das Leben und die Lebenszusammenhänge auch in vulnerablen Situationen aufrechtzuerhalten. Care ist eine fundamental anthropologische Kategorie, die nicht auf »Pflege«, schon gar nicht auf Betreuung oder Behandlung reduziert werden kann. Sie hat mit der Erfahrung zu tun, dass wir uns in vertrauensvollen Beziehungen aufgehoben fühlen und uns diesen überlassen können, dass wir Frieden mit dem Tod schließen und finden können. Care ist pazifistisch (lateinisch: pax = Frieden, facere = tun, machen). Vielleicht können wir auch zur Ruhe kommen mit der Vorstellung, dass wir nicht alle Fragen
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Joseph Mallord William Turner, Landscape, ca. 1845 / Bridgeman Images
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unseres Lebens beantwortet haben werden. Vieles wird offen bleiben, wir sind eben nicht perfekt. Und als imperfekte Menschen können wir mit Fragen leben und unsere Lebensgeschichte vertrauensvoll offen lassen. Wir müssen sie nicht im Modus des Planens vorzeitig ab-schließen. Was sind die Fragen der Menschen? Was ist ein gutes Leben bis zum Ende für mich? Was möchte ich leben? Inwieweit lebe ich mein Leben? Was müsste ich also aufgeben, verlassen, ändern? Was schulde ich mir, was anderen? Was möchte ich nicht bereuen müssen? Was kann ich nicht mehr ändern – wie finde ich eine Haltung zu dem, was sich nicht mehr ändern lässt? Wie kann ich Hilfe und Sorge annehmen und empfangen? Wie gehe ich mit meiner, einer letzten Einsamkeit um in dem Bewusstsein, dass ich allein werde sterben müssen? Was oder wer trägt mich eigentlich im Letzten? Was kommt nach
dem Tod? Habe ich meinen Kindern genug ins Leben mitgegeben, wird es ihnen gutgehen? Was löst der Gedanke, das existenzielle Gefühl aus, unbedingt angenommen und gemeint zu sein von einem personalen Gegenüber? Diese oder ähnliche sind wohl die »eigentlichen« Fragen. Während hingegen aus einer Planungsperspektive gewissermaßen angenommen wird, dass ein Mensch über ein feststehendes Set von Werten und Meinungen in seiner Autonomie als gesund-rationaler Mensch verfügt und das Problem lediglich darin besteht, diese Sicherheit und Selbstgewissheit verbindlich, rechtsförmig, rational und antizipatorisch zu kommunizieren. Die Care-Ethik erinnert daran, dass wir als soziale Lebewesen unser Selbst und unsere Autonomie erst in Relation mit und zu anderen zur Geltung bringen können. Das, was wir wollen, wollen sollen, können wir oft erst in vertrauensvollen Beziehungen und in Kommunikation mit anderen entwickeln, entdecken und formulieren. Wir sind in den existenziellen Fragen des Lebens aufeinander verwiesen und angewiesen und unsere Autonomie ist eine relative und relationale und letztlich sinnvollerweise aufgehoben in vertrauenswollen Beziehungen zu anderen, die für uns bedeutsam sind und für die wir Bedeutung haben. Um solche Beziehungen sich zu sorgen ist wahrscheinlich eine der schönsten und sinnvollsten Aufgaben unseres Lebens. Es sind auch politische Beziehungen, weil wir in ihnen kontrafaktisch zu den Misstrauensdynamiken in der Gesellschaft leben. Univ.-Prof. Dr. Andreas Heller hat den Lehrstuhl für Palliative Care und Organisationsethik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Graz inne. E-Mail: [email protected]
Literatur Weick, K. E.; Sutcliffe, K. M. (2016). Das Unerwartete managen. Wie Unternehmen aus Extremsituationen lernen. 3. Auflage. Stuttgart.
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Reflexionen zur Manie des Vertrauens Eine sinnvolle Rekonstruktion eines überhöht gebrauchten Begriffs
Der Haupttitel will provozieren. Der Untertitel will rekonstruieren. Das Vertrauen als Begriff und als Geschehnis hat sich in Theorie und Praxis so stark festgesetzt, hat eine so hohe Digni tät erreicht, dass keine grundsätzlichen Fragen mehr gestellt werden. Es geht in Zeitschriften oder Tagungen primär darum, das Vertrauen differenziert, praxisnah als Schlüsselparadigma oder Schlüsselpraxis aufzuweisen. Selbstkritisch gilt, dass ich das Vertrauen immer wieder wie eine absolute Wahrheit eingeführt und gebraucht habe. Der Suchbefehl »Wahrheit« in einer meiner geplanten Buchveröffentlichung ließ mich zusammenzucken. So habe ich bei mir selbst eine »Manie« des Vertrauens, eine Überhöhung, aufgedeckt, die es zu bearbeiten gilt. In allen Lücken der Ausführungen kann ich vorab als Resümee festhalten, dass ich von nun an das »Vertrauen« (tragende Kraft, Schlüsselpraxis) reflektiert »sinnvoll« gebrauchen will. Vertrauen ist konstitutiv für eine jede Gesellschaft Ein enzyklopädischer Durchmarsch durch die wissenschaftlichen Disziplinen zeigt, dass das »Vertrauen« konstitutiv für alle menschlichen Beziehungen sowie für die Institutionen in unserer Gesellschaft ist. Die Entwicklungspsychologie spricht von einem für die Ausbildung einer gesunden Identität notwendigen Urvertrauen, für die Psychiatrie ist die Unfähigkeit, Vertrauensbeziehungen einzugehen, ein Krankheitsbild. Im modernen Rechtsstaat ist das Vertrauen die Basis für das Rechtssystem und für den Bereich der Wirtschaft und der Unternehmen ist das Ver-
Jacob Lund / Shutterstock.com
Helmut Kaiser
trauen die Grundlage für Zusammenarbeiten und das Agieren am Markt. Für die Theologie gilt die Rede vom Gottvertrauen. So hat das Vertrauen vier Dimensionen, in denen es wirksam, bedeutsam, hilfreich, notwendig ist: Ich – Ich: Ich – Du: Ich – Es: Ich – Gott:
Selbstvertrauen Beziehungsvertrauen Systemvertrauen Gottvertrauen
Im Folgenden gebe ich keine abstrakte WikipediaDefinition von Vertrauen, sondern nenne vielmehr verschiedene Situationen des Vertrauens: • Das Kind springt von der zwei Meter hohen Mauer in die Arme des Vaters oder der Mutter.
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• Ein Bergsteiger, der in einem Rekordtempo die Eigernordwand durchsteigt, vertraut seinem Können auch dann, wenn er seinen Körper mit dem Pickel an einer Felskante von zwei Millimetern hochzieht. • Viele vertrauen darauf, dass ihre Partei bei der Abstimmung eine sachlich gut begründete Abstimmungsparole ausgearbeitet hat. • Die Touristen und Touristinnen vertrauen darauf, dass die Seilbahn auf die Zugspitze den bestehenden Sicherheitsbedingungen genügt. • Der Mann, der seine Ehefrau getötet hat, vertraut dem Gericht, dass dieses ein faires Gerichtsverfahren durchführt. • Ein 45-jähriger Mann hat seine Frau bei einem Autounfall verloren und sagt für sich: »Von guten Mächten wunderbar geborgen erwarten wir getrost, was kommen mag. Gott ist mit uns am Abend und am Morgen und ganz gewiss an jedem neuen Tag« (Dietrich Bonhoeffer, 1906–1945). Vertrauen ist demzufolge konstitutiv nicht bloß allgemein in unserer Gesellschaft, vielmehr in vielen Lebenssituationen unserer vielschichtigen Lebenswelt und den verschiedenen gesellschaftlichen Systemen. Dies vorausgesetzt, wird das Vertrauen fünffach destruiert: Fünf kritische Reflexionen Bei den kritischen Reflexionen greife ich auf Friedrich Nietzsche (1844–1900) zurück, der in meinem Studium auch der Philosophie in Tübingen eine wichtige Rolle spielte. Für mich ist Nietzsche ein unzeitgemäßer Philosoph, der auf der immerwährenden Suche nach der Wahrheit gegen den Strich argumentierte, subversiv dachte. Sein Anliegen war, Widersprüche zu erzeugen, bestimmte Vorstellungen von Mensch und Religion aufzuheben, zu demaskieren und radikal zu destruieren mit dem Ziel, neue Werte und Vorstellungen zu entwickeln. Es ging ihm um Aus-
legungen, um Umwertungen und um das Neue. Dazu gehörten Destruktionen und die Setzung seiner neuen Gedanken musste immer wieder dahingehend befragt werden, ob diese nun wirklich human ist. Nietzsche darf nicht leichtsinnig übernommen werden, doch wer einmal durch die Philosophie von Nietzsche gegangen ist, der stolpert quasi automatisch über fest etablierte und zu Paradigmen geronnene Begriffe wie »Vertrauen«. Statt Stolpersteine nenne ich die folgenden Gedanken »Reflexionen«. Vertrauen als »Cloud«-Geschehen Vertrauen wird als eine wichtige Voraussetzung für einen guten Umgang mit krisenhaften Lebenssituationen gesehen. Nun gibt es mindestens zwei Redewendungen, die das Vertrauen destruieren: »Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.« Und: »Blindes Vertrauen.« Redewendungen haben Erfahrungswissen gespeichert, das sich über lange Zeit als kollektives Wissen angesammelt hat. Dieses Erfahrungswissen ist evident und jeder und jede von uns kann praktische Beispiele nennen. Die erste Redewendung besagt, dass wir uns nur auf das verlassen können, was wir wissen. Vertrauen ist ein Verzicht auf Wissen. Bei der Begrifflichkeit vom blinden Vertrauen gilt, dass die Vielschichtigkeit menschlicher Beziehungen nicht erkannt wird, dass kein Differenzerkennungsvermögen vorhanden ist, die negativen Elemente von Beziehungen mit Vertrauen überformt werden. Das Vertrauen wird in seiner Absolutheit blind für die Realitäten des Lebens. Ein blindes Vertrauen kann zu einem Schönreden führen, Fragen der Wahrheit in der Zeit des Sterbens können übertüncht werden mit der rosaroten Farbe des Vertrauens. Vertrauen kennt keine Reflexion über ihr Gegenstück, das Misstrauen. Die Betrachtung des Vertrauens aus der Perspektive der übergeordneten Kontrolle/des Wissens fragt, inwiefern das Vertrauen eine diffuse Erfahrung ist, die zu unscharfen und formelhaften Beziehungen führt. Diese Frage gilt gerade
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www.mathiaslyssy.de
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auch für den Bereich des Sterbens, des Leids und der Trauer. Das »Vertrauen« als Wolken-Geschehen oder Wolken-Begriff ist demzufolge diffus, unbestimmt, blutleer und die positive Konnotation – tragende Kraft – von Vertrauen kann ihr Gegenteil nicht bedenken. Vertrauen und seine Gegnerin, die Angst Durch Vertrauen soll Angst überwunden werden. Angst ist ein Gefühl, das nicht nur unangenehm ist, Angst kann Lebensmöglichkeiten enorm einschränken, Angst kann Leben zerstören. Vertrauen dagegen schafft Sicherheit, Zufriedenheit, Lebensmut. Angst muss überwunden werden. Die meisten von uns kennen Menschen, die Flugangst haben, keinen Lift mehr benutzen oder keinen Tunnel durchfahren können. Solche Ängste müssen überwunden werden, weil sie das
Leben gefährden. Nun aber gibt es den Satz, dass ohne Angst das Leben nur ein Spiel sei. Vertrauen als Angstüberwindung macht das Leben also zu einem bloßen Spiel. Die Ernsthaftigkeit des Lebens geht verloren. Für professionelle Angstüberwinder und Angstüberwinderinnen, ob theologisch, psychologisch oder politisch motiviert, ist dieser Satz eine Herausforderung. Dieser will nicht Angst einjagen, er will uns dagegen darauf aufmerksam machen, dass Angst lebenswichtig sein kann, dass durch die Angst das Leben an Ernsthaftigkeit und Achtsamkeit gewinnt. Bekannte Dichter wie Johann Wolfgang Goethe (1749–1832), die Philosophen Martin Heidegger (1889–1976) und Søren Kierkegaard (1813– 1855) haben gesagt, dass unser Leben erst dann gelingen wird, wenn wir die Angst zum Beispiel vor dem Tod zulassen und nicht mit Vertrauen zuschütten.
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Jacob Heinrich Elbfas, Vädersolstavlan, 1636 / © David Lees Photography Archive / Bridgeman Images
R e f l e x i o n e n z u r M a n i e d e s Ve r t r a u e n s 7 5
Das Vertrauen ist darum bemüht, die Angst zu überwinden. Durch das Vertrauen kann es zu einer Vereisung der Angst kommen und damit zu einer Erstarrung einer existenzialen Emotion des Menschen. Eine Glorifizierung der Angst darf aber durch diese Destruktion des Vertrauens aus der Perspektive der Angst als Grundexistenzial des Menschen nicht geschehen.
Mensch schwach gemacht wird. Die allgemein anerkannte Grundhaltung/Tugend »Vertrauen« kann so unbeabsichtigt Folgen zeitigen, die zentralen menschlichen Zielen widersprechen: einen Menschen durch Vertrauen schwach zu machen. Das ist ein Paradoxon des Vertrauens, wenn das Vertrauen in seiner möglichen asymmetrischen Grundstruktur nicht erkannt wird.
Vertrauen versus Freiheit
Vertrauen als Opium des Volkes
Die Lebenssituationen, in denen Vertrauen geschieht, zeigen, dass Vertrauen verschieden ausgestaltet sein kann. Ein Kind, das in die Arme seiner Eltern springt, ist beim Absprung aktiv, doch dann ist es vertrauensvoll passiv. Frau Resiak, die sich einer Operation unterziehen muss, vertraut voll und ganz auf die Kompetenzen der Medizinerin. Die Beziehungen des Vertrauens haben oftmals eine asymmetrische Grundstruktur. Es ist so, dass bei einem Ereignis des Vertrauens das eine Subjekt etwas erhält und das andere etwas gibt. Vertrauen hat etwas Passivistisches in sich und kann den Imperativ enthalten: Du musst nur vertrauen, dann klappt es schon. Damit wird das Vertrauen in einer Beziehung zu einem Geschehen der Unterordnung, zu einem sich fügen, Vertrauen wird zu einem Machtgeschehen. Unterordnung, Macht, sich fügen sind das pure Gegenteil von Freiheit und Selbstbestimmung. Durch das Vertrauen besteht die Gefahr, dass ein
Es gibt verschiedene Formen des Vertrauens. Auch in der säkularen Gesellschaft wird das Gottvertrauen immer wieder erwähnt, welches gerade in der Situation des Sterbens und des Todes eine spezielle Bedeutung erhalten kann. Das Gottvertrauen bedeutet möglicherweise einen Glauben an ein Jenseits und bei diesem transzendenten Vertrauen muss gefragt werden, inwiefern dieses ein Opium des Volkes, eine billige Vertröstungsstrategie oder die eigene Herrschaft/Macht stabilisierende Disziplinierungsstrategie darstellt. Opium des Volkes (Karl Marx, 1818–1883) bedeutet, dass die Menschen Opium brauchen, um das erfahrene Elend betäuben zu können. Das Gottvertrauen kann missbraucht werden, um die Menschen mit einem konstruierten Jenseits (Paradies, Himmel) zu trösten, wobei dieses Jenseits mit unterschiedlichen Versprechungen ausgestattet sein kann. Das Gottvertrauen, wird es mit dem Gerichtsgedanken (Hölle, Himmel) verknüpft, stellt eine Strategie der religiösen beziehungsweise kirchlichen Disziplinierung dar. Die Gefahren des Gottvertrauens sind offensichtlich: Die Schwäche des Menschen etwa in der Lebensphase des Sterbens kann gebraucht werden, um geistlich übergriffig tätig werden zu können.
Die Schwäche des Menschen etwa in der Lebensphase des Sterbens kann gebraucht wer den, um geistlich übergriffig tätig werden zu können.
Vertrauen und Humor Zum Vertrauen gehören Verlässlichkeit, Verbindlichkeit, Respekt und durch Vertrauen wird eine
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Stabilität in den Beziehungen hergestellt. Aber: Gibt es eine Redewendung in Bezug auf das Vertrauen, in welcher gesagt wird: Mit Vertrauen geht alles besser? Wir kennen das geflügelte Wort »Mit Humor geht alles besser«, das Vertrauen scheint jedoch keine Beziehung zum Humor zu haben. »Trage es mit Humor« ist eine weitere Redewendung in Bezug auf den Humor. Vertrauen ist ein zutiefst ernsthaftes Geschehen, dem der Humor fremd zu sein scheint. Vertrauen impliziert einen Imperativ – Vertrauen herstellen! – und über diesen lässt sich nicht lachen, vielmehr gilt es, diesen Imperativ praktisch werden zu lassen. Der Humor und das dazugehörende Lachen befreien von aller krampfhaften Ernsthaftigkeit und sogar der schwarze Humor, der gerade bei Menschen beim Sterben intensiv zum Ausdruck kommen kann, gehört dazu: »Die letzte Zigarette raucht ewig«, so ein an Lungenkrebs auf den Tod erkrankter Mann bei einem Besuch im Spital. Auch das Lachen, das über das Gesicht eines Menschen huschte, der mit Schmerzmitteln sediert wurde, als ich diesem eine besondere Begebenheit aus unseren Begegnungen schilderte, bestätigt: Humor hat das letzte Wort und mit Humor geht sogar das Sterben besser. Resümee Die fünf Reflexionen destruieren das Vertrauen in seiner unbestrittenen Gültigkeit, Perfektion und Rezeptbuchintentionalität in Bezug auf die Beantwortung der existenziellen Fragen gerade am Lebensende. Die Praxis des Vertrauens kann diffus sein, zu einem Schönreden führen auf Kosten der Wahrheit, die Angst als Grundexistenzial unterdrücken, die Freiheit beschädigen und betäubendes Opium des Volkes sein, einen geistlichen Übergriff bedeuten sowie den Humor außer Acht lassen. Werden diese destruktiven Implikationen des Vertrauens erkannt und destruiert, dann kann ein Vertrauen rekonstruiert, entworfen und gelebt werden, das:
• Ängste zulässt und Unsicherheiten stehen lässt; • Hoffnungslosigkeit hoffnungslos sein lässt; • Konflikte ausbrechen lässt; • Zerbrechlichkeiten im Leben und Sterben, so wie sie sind, sein lässt; • mit Humor lachen lässt. So wird Vertrauen zu einer Erfahrung, die nicht linear und perfekt Phase um Phase sterben lässt. Vertrauen wird nicht zu einer Heilslehre überhöht und verklärt. Vielmehr wird erkannt, weil erfahrbar, dass die Erfahrung von Leid, Sterben und Tod immer Vertrauen aufhebt. Die Aufhebung von Vertrauen durch Sterben und Tod. Das ist die eigentliche Erfahrung und Herausforderung im Sterben. Helmut Kaiser, Studium der Theologie und Philosophie in Tübingen, Mitarbeiter am Institut für Sozialethik ISE des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes SEK (jetzt: Evangelisch-refor mierte Kirche Schweiz). Während dieser Zeit in verschiedenen Expertenkommissionen – Gentechnologie, Energie, Neuer Lebensstil – des Bundesrates Schweiz. Titular-Professor (em.) mit Lehrauftrag für Sozial- und Wirtschaftsethik an der Universität Zürich. Bis 2013 Pfarrer in Spiez (Schweiz). E-Mail: [email protected] Literatur Hartmann, M.; Offe, C. (Hrsg.) (2001). Vertrauen. Die Grundlage des sozialen Zusammenhalts. Frankfurt a. M. Helferich, C. (2012). Geschichte der Philosophie. Von den Anfängen bis zur Gegenwart und Östliches Denken. 8. Auflage. München. Höffe, O. (2013). Ethik. Eine Einführung. München. Kaiser, H. (2018). Kirche – Gott – Ethik. Die Perspektive der Radikalität. Aachen. Luhmann, N. (2014). Vertrauen. Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität. 5. Auflage. München. Mortzfeld, B. (Hrsg.) (2019). Übermensch. Friedrich Nietzsche und die Folgen. Hrsg. für das Historische Museum Basel. Basel. Renz, M. (2016). Hinübergehen. Was beim Sterben geschieht. Annäherungen an letzte Wahrheiten unseres Lebens. Freiburg i. Br. Schärer-Santschi, E. (Hrsg.) (2012). Trauern. Trauernde Menschen in Palliative Care und Pflege begleiten. Bern. Schulz, W. (1989). Grundprobleme der Ethik. Pfullingen.
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AUS DER FORSCHUNG
Bescheidenheit ist eine Zier … Vorgestellt von Lukas Radbruch H. P. Huynh, M. Arthur, A. Gamboa, E. Escamilla (2020): »Very humble« vs. »Not humble«: What do ratings of fictitious physician profiles with humility descriptors reveal about potential patient preferences and behaviors? In: Patient Education and Counseling (online first). Die Beziehung zwischen Arzt/Ärztin und Patient/ Patientin wird wesentlich vom Grad des Vertrauens geprägt. Das Vertrauen des Patienten wurde sogar als das zentrale und definierende Charakteristikum der Beziehung bezeichnet, die dieser Beziehung erst Sinn, Bedeutung und Substanz verleiht (Hall et al. 2001). Hohes Vertrauen führt Menschen eher zum Arzt, lässt sie sensible Informationen mitteilen, führt zu einer besseren Einhaltung der Behandlungsempfehlungen und dazu, dass der Arzt eher an andere empfohlen wird. Das Maß des Vertrauens kann auch das Behandlungsergebnis beeinflussen, zum Beispiel indem es den Placeboeffekt in der Behandlung stärkt. In einer großen amerikanischen Studie war die Zufriedenheit mit der erhaltenen Behandlung und die Einhaltung der Behandlungsvorgaben höher, wenn die Patienten dem Arzt vertrauten (Safran et al. 1998). Dies ist ja auch nicht erstaunlich, angesichts der Natur der Beziehung zwischen Arzt und Patient in einer vulnerablen Situation, in der die Patienten sich dem Arzt im Wortsinn an-vertrauen müssen, weil sie seine Unterstützung brauchen für die anstehenden wichtigen Entscheidungen zur Behandlung und zu ihrer Gesundheit. Auch bei dem heute eingeforderten Modell der partizipativen Entscheidungsfindung, bei der Arzt und Patient gleichermaßen Rechte und Pflichten bei
den Entscheidungen zur Behandlung haben, ist dennoch in hohem Maß Vertrauen in den Arzt erforderlich. Dafür, dass Vertrauen zwischen Patient und Arzt so einen zentralen Stellenwert hat, gibt es nur relativ wenig Forschungsliteratur dazu. Bereits vor zwanzig Jahren wurden mehr Studien zum Vertrauen eingefordert (Hall et al. 2001; Pearson und Raeke 2000), ohne dass sich in der Zwischenzeit viel bewegt hätte. Selbst für Patienten mit einer Krebserkrankung liegen nur wenige Studien zu Vertrauen vor (Hillen und de Haes 2011). Worauf beruht das Vertrauen? Grundsätzlich ist das soziale Vertrauen in die Institution (zum Beispiel Krankenhaus) oder die Berufsgruppe zu unterscheiden von dem zwischenmenschlichen Vertrauen (Interpersonal Trust), das sich erst bei wiederholten Interaktionen bilden kann, in denen die Annahmen über das vertrauenswürdige Verhalten des Anderen bestätigt werden können (Pearson und Raeke 2000). Dieses Vertrauen wird beeinflusst durch Kompetenz, Mitgefühl, Verschwiegenheit, Zuverlässigkeit und Kommunikation des Arztes. Es wird aber nicht nur durch Eigenschaften des Arztes geprägt, sondern auch durch den Patienten. So bewerteten Patienten mit externen Kontrollüberzeugungen (Locus of Control) das Vertrauen in Ärzte nach Videofilmen von onkologischen Arztgesprächen höher als solche mit internen Kontrollüberzeugungen und Patienten mit vermeidendem oder ängstlichem Bindungstyp gaben weniger Vertrauen an als solche mit sicherem Bindungstyp (Hillen et al. 2014). In der neuen Studie von Huynh et al. (2020) wird nun auf den Wert von ärztlicher Demut oder Bescheidenheit (Humility) als Vorbedingung für Vertrauen in der Patient-Arzt-Beziehung hinge-
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wiesen. Von der gleichen Arbeitsgruppe waren bereits zwei Studien zu Demut durchgeführt worden. In einer Befragung von Patienten zu ihrem letzten Arztbesuch wurde ein höheres Vertrauen ausgesprochen und mehr Zufriedenheit berichtet, wenn der Arzt als demütig eingestuft worden war (Huynh und Dicke-Bohmann 2020), und in einer Bewertung von Videoaufzeichnungen von Arztgesprächen wurden bei demütigeren Ärzte eine effektivere Kommunikation festgestellt (Ruberton 2016). In beiden Studien handelte es sich aber um retrospektive Bewertungen nach dem Arztgespräch. Deshalb war nun eine neue Studie mit einem experimentellen Design entwickelt worden, um den Einfluss der ärztlichen Demut auf das Verhalten des Patienten zu untersuchen. Die Teilnehmer der Studie wurden über Amazon Mechanical Turk (mTurk) gesucht, eine Online-Plattform, auf der sich jedermann registrieren kann für die angebotenen Arbeitsangebote. Die Autoren erklären, dass es sich dabei nicht um Patienten und Patientinnen handelt, aber die mTurk-Teilnehmer/-innen eher als repräsentativ für die Allgemeinbevölkerung gelten können als die mehr traditionellen Rekrutierungswege für klinische Studien. Die 417 Teilnehmer bewerteten mehrere fiktive Arztprofile, wie sie auf Bewertungsportalen im Internet eingestellt sind. Die Profile unterschieden sich in Geschlecht, Spezialisierung (Allgemeinmedizin oder Orthopädie), Bewertungsscore von Patienten (Effektivität) und Demut in einem Bewertungskommentar (»nicht demütig in seiner Patientenversorgung« oder »sehr demütig in seiner Patientenversorgung«). Die Teilnehmer bewerteten dann, ob sie diesen Arzt für sich selbst aussuchen und ob sie seinen Behandlungsempfehlungen folgen würden. Das antizipierte Vertrauen und die antizipierte Zufriedenheit wurden ebenfalls erfragt sowie, ob sie auch zusätzliche Zahlungen für die Behandlung in Kauf nehmen würden. Ärzte mit einem höheren Maß an Demut wurden in allen Bereichen besser bewertet. Allerdings waren diese Effekte besonders ausgeprägt bei den
Ärzten mit einem niedrigen Bewertungsscore zur Effektivität. Bei den effektiven Ärzten hatte hingegen Demut keinen Einfluss auf Einhaltung der Behandlungsempfehlungen, Vertrauen und Zufriedenheit. Die Spezialisierung führte ebenfalls zu unterschiedlichen Bewertungen. Allgemeinmediziner mit weniger Demut wurden zur Zufriedenheit und zur Bereitschaft von Zusatzzahlungen schlechter bewertet als solche mit mehr Demut, während dieser Unterschied bei den Orthopäden nicht zu finden war. Andere Faktoren wie zum Beispiel das Geschlecht von Arzt oder Patient beeinflussten die Bewertungen nicht. Die Ergebnisse der Studie legen den Schluss nahe, dass eine bescheidene und demütige Haltung des Arztes nicht nur für die gerade stattfindende Behandlung eines Patienten wichtig ist, sondern auch für die zukünftigen Interaktionen von Bedeutung sein kann. Patienten gehen davon aus, dass sie diesem Arzt trauen können und dass sie zufrieden sein werden. Ein Schwachpunkt bleibt aber bei der Diskussion der Ergebnisse. Die Autoren weisen selbst darauf hin, dass Begriffe wie »Vertrauen« oder eben auch »Humility« nicht einheitlich gebraucht werden. In der deutschen Übersetzung wird dies noch verstärkt, denn je nachdem ob »Humility« mit Bescheidenheit oder mit Demut übersetzt wird, ändert sich der Tenor der Aussage. Die Autoren definieren »Humility« als eine intra- und interpersonelle Dimension. Intrapersonell gehört dazu Offenheit gegenüber neuen Ideen und gute Einschätzung der eigenen Stärken und Schwächen. Die interpersonelle Dimension drückt sich im Fokus auf den Anderen aus, zum Beispiel indem die Interessen des Anderen vor die eigenen gestellt werden. Die Autoren trennen zwischen »Humility« und »Modesty« (Bescheidenheit) als einem verwandten Konstrukt, ohne den Unterschied genau zu erklären. In der deutschen Übersetzung scheint deshalb »Demut« eher geeignet als Begriff. Dies entspricht dem Bild des guten Arztes, das Klaus Dörner (2001) beschrieben hat: als Arzt vom Anderen
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zung der eigenen Stärken und Schwächen drückt sich dann immer wieder in der Frage aus: Wer hat denn jetzt das Problem: der Patient, die Zugehörigen oder wir als Behandler? Wenn es uns als Behandler dann gelingt, die Perspektive des Patienten oder der Zugehörigen zu verstehen, können wir sie auch respektieren lernen. Die Studie von Huyng et al. bestätigt, dass wir damit dem Patienten mehr helfen, als wenn wir auf unserer medizinischen Expertise, dem Recht haben beharren.
Sergey Nivens / Shutterstock.com
her, der fortwährend versucht den Patienten zu verstehen, und ihm in der Haltung eines Dienenden eine Dienstleistung anbietet. Ich finde diese Arbeit schon deshalb sehr wertvoll, weil sie meine Erfahrungen zum Wert einer unvoreingenommenen Haltung gegenüber dem Patienten und den Zugehörigen, die ich kennenlernen und möglichst auch verstehen lernen möchte, in der Palliativversorgung und den Beratungen des Ethikkomitees bestätigt. Die Einschät-
Literatur Dörner, K. (2001). Der gute Arzt. Lehrbuch der ärztlichen Grundhaltung. Stuttgart/New York. Hall, M. A.; Dugan, E.; Zheng, B.; Mishra, A. K. (2001). Trust in physicians and medical institutions: What is it, can it be measured, and does it matter? In: Milbank Quaterly, 79, 4, S. 613–639. Hillen, M. A. de; Haes, H. C.; Smets, E. M. (2011). Cancer patients’ trust in their physician – A review. In: Psychooncology, 20, 3, S. 227–241. Hillen, M. A.; de Haes, H. C.; Stalpers, L. J.; Klinkenbijl, J. H.; Eddes, E. H.; Verdam, M. G.; Smets, E. M. (2014). How attachment style and locus of control influence patients’ trust in their oncologist. In: Journal of Psychosomatic Research, 76, 3, S. 221–226. Huynh, H. P.; Arthur, M.; Gamboa, A.; Escamilla, E. (2020). »Very humble« vs. »Not humble«: What do ratings of fictitious physician profiles with humility descriptors reveal about potential patient preferences and behaviors? In: Patient Education and Counseling.
Huynh, H. P.; Dicke-Bohmann, A. (2020). Humble doctors, healthy patients? Exploring the relationships between clinician humility and patient satisfaction, trust, and health status. In: Patient Education and Counseling, 103, 1, S. 173–179. Pearson, S. D.; Raeke, L. H. (2000). Patients’ trust in physicians: Many theories, few measures, and little data. In: Journal of General Internal Medicine, 15, 7, S. 509–513. Ruberton, P. M.; Huynh, H. P.; Miller, T. A.; Kruse, E.; Chancellor, J.; Lyubomirsky, S. (2016). The relationship between physician humility, physician-patient communi ca tion, and patient health. In: Patient Education and Counseling, 99, 7, S. 1138–1145. Safran, D. G.; Taira, D. A.; Rogers, W. H.; Kosinski, M.; Ware, J. E.; Tarlov, A. R. (1998). Linking primary care performance to outcomes of care. In: Journal of Family Practice, 47, 3, S. 213–220.
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FORTBILDUNG
Vertrauen stärken Anna Caroline Türk Seit 2017 begleite ich die Netzwerkstatt Krebs, ein bundesweites Selbsthilfe-Netzwerk für junge, an Krebs erkrankte Menschen. Regelmäßig konzipiere und moderiere ich die Workshops des Netzwerks – online und vor Ort. Bei dieser Arbeit spielt Vertrauen eine zentrale Rolle: Das Vertrauen der Teilnehmenden in sich selbst und in andere, in den Prozess und das Ergebnis. Das Gleiche gilt für mich. Im Folgenden stelle ich zwei Werkzeuge vor, die ich in meinen Workshops nutze. Vier Bewusstseinsebenen
lichst leere und aufgeräumte Räume mit Tageslicht und frischer Luft. Vor dem Raum grüßt die Menschen ein handgeschriebenes Willkommensplakat. Ich verzichte bei meiner Arbeit bewusst auf Tische, die Barrieren aufbauen und hinter denen Menschen sich verschanzen können und die indirekt suggerieren, dass es sicherer ist, sich gegenseitig nicht zu nahe zu kommen. Ich möchte, dass Menschen sich auf Herz- und Augenhöhe begegnen können. Deshalb arbeite ich immer im Stuhlkreis, wo Hierarchien, so weit wie möglich, reduziert werden.
Der Verstand Auf der Verstandesebene wird Vertrauen durch eine rechtzeitige und herzliche Einladung gepflanzt, aus der hervorgeht, was das Thema des Treffens ist, wer einlädt und wie der grobe Ablauf sein wird. Auch Ill us im Workshopraum steht ein tr a ti on : Kath r handgeschriebenes Plakat mit der i n L u bi g Agenda, anhand derer ich nach dem ersKörper ten Kennenlernen den Ablauf des Treffens vorTemperatur, Licht, Luft, Möbel, Sauberkeit, Ord- stelle und die Teilnehmenden darüber informiere, nung oder ein Chaos im Raum, das verunsichert – welche Schritte geplant sind und wann es Pausen all das wirkt auf unser körperliches Bewusstsein gibt. Dieses Vorgehen schafft eine klare Struktur und trägt zu Vertrauen und Entspannung oder zu und Transparenz, gibt Orientierung und stärkt Verteidigung und Anspannung bei. Als Begleite- das Vertrauen auf mentaler Ebene, sodass der rin überprüfe ich rechtzeitig, wie einladend der Fokus auf den Inhalt und die Gruppenarbeit gephysische Raum ist, in dem Arbeit, Heilung und legt werden kann. Veränderung stattfinden sollen. Was kann ich im Darüber hinaus ist es während der gesamphysischen Raum tun, um zu einem angenehmen ten Zusammenarbeit wichtig, dass TeilnehmenKlima beizutragen? Ich bevorzuge helle, mög- de ihre Fragen beantwortet bekommen bezieAuf der Abbildung sind vier unterschiedliche Bewusstseinsebenen des Menschen aus holistischer Perspektive dargestellt: Verstand, Intuition, Emotionen und Körper. Bei der Arbeit mit Gruppen, Einzelarbeit und privat ist es hilfreich, Vertrauen auf allen vier Ebenen zu stärken.
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hungsweise klar kommuniziert wird, wann diese beantwortet oder die Antworten gemeinsam erarbeitet werden. Die Emotionen Vertrauen auf der mentalen und physischen Ebene tragen ausschlaggebend zur Vertrauensbildung auf emotionaler Ebene bei: Der einladende Raum, die klare Struktur – all das hat einen positiven Einfluss auf die emotionale Aufgeschlossenheit der Beteiligten. Gestärkt wird das so gewonnene Vertrauen, indem Ängste und Hoffnungen angesprochen werden dürfen, ohne dass sie korrigiert oder bewertet werden. Die Intuition Das Aufbauen von Vertrauen auf physischer, mentaler und emotionaler Ebene ist die Voraussetzung dafür, dass die Teilnehmenden Vertrauen in ihre eigene Intuition entwickeln. Fazit Durch das gewachsene Vertrauen auf allen vier Ebenen ist die Basis für eine erfolgreiche Zusammenarbeit gelegt. Der gestaltete Raum bietet Geborgenheit und eine Atmosphäre, in der die Teilnehmenden nicht durch unangenehme Einflüsse wie Lärm, Unordnung, schlechte Beleuchtung und so weiter abgelenkt werden. Die Geistesgegenwart der Begleiterin/des Begleiters schafft Vertrauen, dass sie/er das Geschehen intellektuell durchdringt und in der Hand hat. Die Gelassenheit und Aufgeschlossenheit der Teilnehmenden, die die Begleiterin/der Begleiter durch die Vorbereitung und die Leitung der Veranstaltung fördert, können die Teilnehmenden dazu bringen, auch emotional freundlich gestimmt und aufgeschlossen zu agieren. Die Menschen fühlen sich verbunden und vertrauen einander. Jetzt können sich die Teilnehmenden gegenseitig inspirieren und über sich selbst hinauswachsen. Sie kommen auf unerwartete Ideen, empfangen Eingebungen, Kreativität kann fließen und
die Beteiligten fühlen sich inspiriert und befeuert. Das Vertrauen auf allen vier Ebenen ist stark. Im Folgenden sollen diese theoretischen Erläuterungen durch eine beispielhafte Veranstaltung illustriert werden, um zu sehen, wie die vier Ebenen des Vertrauens in der Praxis umgesetzt werden können. Als zusätzliche Methode wird hier der Trauerzyklus als Kreislauf der Veränderung hinzugezogen. Der Trauerzyklus – Kreislauf der Veränderung Der Trauerzyklus oder Kreislauf der Veränderung – auf der Grundlage von Elisabeth KüblerRoss, erweitert durch Birgitt Williams – ist ein besonders hilfreiches Werkzeug, um offenzulegen, wo ein Mensch oder eine Gruppe in Bezug auf eine Veränderung steht. Er gibt Orientierung und hilft, über den eigenen Zustand zu sprechen. Die stark vereinfachte Darstellung benennt einzelne Stationen, die wir angesichts von Veränderung durchlaufen.
Während in der ersten Hälfte des Kreislaufs der Veränderung (Ereignis, Schock, Wut, Ablehnung, Erinnerungen) Vertrauen nicht die vorherrschende Qualität ist, kann sie in der zweiten Hälfte (Akzeptanz, Loslassen, Neues entsteht) wieder stärker wahrgenommen und angezapft werden.
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Das Arbeiten mit dieser Darstellung erleichtert den Einstieg in ein Gespräch über Trauer und Veränderung und die damit verbundenen Emotionen. In meinen Workshops lade ich die Teilnehmenden dazu ein, mit einem Punkt auf dem Plakat zu markieren, wo sie sich zurzeit emotional befinden. Danach tauschen wir uns über das Ergebnis aus. Dieses Gespräch erleben viele Teilnehmenden als erkenntnisreich und wohltuend. Die eigene Position im Kreislauf der Veränderung wird reflektiert, das Verständnis füreinander wächst und Vertrauen wird gestärkt. Durch das Sprechen über Emotionen und – oft auch schmerzliche oder weit zurückliegende – Erfahrungen entstehen neue Erkenntnisse, die Akzeptanz und Heilung ermöglichen, sodass Neues entstehen kann. Wo stehe ich? Workshop für Menschen mitten in Veränderung Anzahl von Teilnehmenden: 5–30 Material ▷ Stuhlkreis in der Anzahl der Teilnehmenden ▷ Zu Beginn Reflexionskarten am Boden verdeckt im Kreis ausgelegt ▷ Pinnwand mit Kreislauf der Veränderung zum Punkten ▷ Klebepunkte (oder Marker) in der Anzahl der Teilnehmenden ▷ Entsprechend der Teilnehmerzahl Stuhlkreise für 5 Menschen am Rand des Raums oder im Foyer aufgestellt mit jeweils einem Flipchart für die »Hoffnungen & Befürchtungen« ▷ Moderationskarten und Marker Plakate ▷ »Herzlich willkommen« ▷ Ablauf (einfach das Fettmarkierte aus der untenstehenden Agenda auf das Plakat übernehmen) ▷ Illustration »Kreislauf der Veränderung« ▷ Nächste Schritte/Verabredungen
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Agenda Zeit
Was Ankommen, Pause – Getränke, Snacks stehen bereit Willkommensplakat vor der Tür, Ablauf für Treffen auf einem Plakat an der Wand
alle
Begrüßung – erzählen, wie es zu dem Workshop kam
Begleiter/-in
0:13
Landen im Treffen und Thema – Einladung, eine Karte aus der Kreismitte zu ziehen – individuelle Reflexion zur Frage: »Was sagt mir das Bild, das Wort dazu, wie ich heute hier bin?«
allein
ab 30 Min. vorher 00:00
0:15
Treffen in Paaren mit Austausch über die Karte und die Reflexion
in Paaren
0:25
Vorstellen der jeweiligen Partnerin/des jeweiligen Partners mit einem Highlight von der Reflexion zur Karte
im Kreis
0:40
Hoffnungen & Befürchtungen für den Workshop und für den Umgang mit Veränderung – auf ein Plakat schreiben, malen, notieren: Kreativität ist erlaubt.
max. 5er-Gruppen – selbstorganisiert
0:53
Vorstellen der »Hoffnungen & Befürchtungen« von jeweils einer Person – nachfolgende Gruppen ergänzen nur das, was noch nicht genannt wurde
jeweils eine Person
1:03
Ablauf für das Treffen vorstellen
Begleiter/-in
1:05
Vorstellen des Kreislaufs der Veränderung. Die Teilnehmenden bitten, mit einem Punkt den eigenen Zustand zu markieren
allein
1:10
Im Kreis Ahas & Oh Neins austauschen. Jede/r darf sprechen – keiner muss
alle
1:25
Was macht mich traurig, glücklich, verrückt an meiner derzeitigen Situation oder in Bezug auf Veränderung? Während des Austauschs ist ein Minispaziergang möglich, es stehen Getränke zur Verfügung – die Gruppen wählen selbst den Ort für ihren Austausch (drinnen oder draußen). »Kommt mit fünf Stichworten – jeweils auf eine Moderationskarte geschrieben – zurück«
5er-Gruppen
1:55
Vorstellen und Gruppieren (Clustern) der Ergebnisse
je eine Person aus der Gruppe
2:02
Gemeinsamer Blick darauf: Was bemerke ich? Überrascht mich was?
alle
2:10
Persönliche Reflexion: Was habe ich gelernt? Was nehme ich mit? Möchte ich etwas als Ergebnis dieses Workshops machen/unternehmen/ändern?
einzeln
2:17
Austausch mit einer Partner/einem Partner: Teilen der persönlichen Highlights
in Paaren
2:30
Verabredungen: Gibt es etwas, das wir jetzt gemeinsam verabreden, angehen wollen?
im Kreis
2:40
Abschlussrunde: Wie war’s heute? Ggf. Bezugnahme auf »Hoffnungen & Befürchtungen« und auf die Reflexionskarte – einmal im Kreis herum
im Kreis
3:00
Ende des Workshops
Anna Caroline Türk arbeitet als Beraterin und Begleiterin für Führungskraftentwicklung. Ihre Spezialität ist das Begleiten (Moderieren) von partizipativen Workshops und Konferenzen – unter anderem mit der Methode Holistische Moderation und Open Space, die Module der Genuine-Contact-Ausbildung sind.
Literatur Arrien, A. (2005). Der vierfache Weg. Den inneren Krieger, Heiler, Seher und Lehrer entwickeln. Stuttgart.
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REZENSIONEN
Wenn Eltern um ihr Kind trauern
Norbert Mucksch
Christa Meuter (2019): Wenn Eltern um ihr Kind trauern. Eine Herausforderung in der Trauerbegleitung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 127 Seiten
Wenn ein Kind stirbt, dann stirbt ein Stück Zukunft. Und: Der Tod eines Kindes verstößt gegen ein Lebensgesetz, er unterbricht die Generationenfolge. Dieser Grundsituation, nämlich ein eigenes Kind sterben zu sehen und zu Grabe tragen zu müssen, stellt sich das Buch von Christa Meuter. Die Autorin liefert dazu zahlreiche authentische Fallbeispiele und sie schreibt dieses Buch auch aus der persönlichen Sicht als Mutter, die selbst eine Tochter verloren hat. Dieser biografische Zugang, die eigene langjährige Tätigkeit als Sterbe- und Trauerbegleiterin und die Verwendung unterschiedlichster Fallbeispiele machen dieses Buch und seinen klaren Praxisbezug aus. Meuter beginnt dieses Buch autobiografisch mit einem Blick auf den eigenen Verlust der Tochter im Alter von 16 Jahren. Nachfolgend erläutert sie theoretische Hintergründe erschließt in übersichtlicher Form einige zentrale Trauertheorien, quasi eine einführende Grundlegung zum Verständnis der verwendeten Fallbeispiele. Diese Fallbeispiele folgen dann im Hauptkapitel, das mit »Facetten der Elterntrauer« überschrieben ist. Diese Kapitelüberschrift macht bereits deutlich, dass es Meuter ganz wesentlich um
einen sehr weiten Blick auf trauernde Eltern geht, einen Blick mit vielen Facetten und aus unterschiedlichen Perspektiven. Sie weiß, dass es keine pauschalen Erklärungen zur Trauer- und Lebenssituation verwaister Eltern gibt und auch nicht geben darf. Den von ihr benannten fünf zentralen Aspekten der Elterntrauer stellt sie zwei entscheidende Fragen voran, die beim Lesen des Kapitels gedankliche Begleiter sein sollen. Zum einen die im Konjunktiv formulierte Frage: »Könnte dieser Aspekt der Elterntrauer mich berühren?« Also eine Frage, die intensiv die gebotene Qualifikation und Fähigkeit zur Selbstreflexion von Trauerbegleitenden anspricht. Zum anderen die Frage: »Welche Haltung habe ich zu diesem Aspekt der Elterntrauer?« Auch hier geht es um einen hohen selbstreflexiven Anteil. Darüber hinaus macht die Autorin deutlich, dass nicht Methode oder Technik in der Begleitung zählt, sondern wesentlich und ganz zentral eine erworbene und verinnerlichte Grundhaltung. Die Fallbeispiele schlagen einen weiten Bogen, betrachten viele Aspekte und zeugen von einem intensiven Erfahrungshintergrund der Autorin. So wie das Buch unmittelbare Erfahrung mit El-
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terntrauer »atmet«, so liefert das Kernkapitel mit seiner Fülle an Fallbeispielen den Beleg dafür, was im Infotext zu diesem Buch sehr treffend formuliert ist. Dort ist vom »Kosmos« trauernder Eltern zu lesen, in den die Autorin dieses empfehlenswerten Buches einen Einblick gibt. In der Tat öffnet Christa Meuter mit ihren vielfältigen Fallbeispielen, aber auch mit dem gesamten Buch hilfreiche Fenster und Türen zum Verständnis von Elterntrauer. Entstanden ist ein
»Das Wundersame …«
übersichtliches, gut lesbares und verständliches Fachbuch vor allem für Menschen, die sich der anspruchsvollen Begleitungssituation trauernder Mütter und Väter stellen. Anhand dieses herausfordernden Feldes zeigt Meuter allerdings auch sehr eindrücklich und hilfreich, welche Haltungen Trauerbegleitung insgesamt braucht. Insofern ist dieses Buch lesenswert für alle Menschen, die im Handlungsfeld Trauerbegleitung tätig sind oder tätig werden wollen.
Sylvia Brathuhn
Jess Redman (2019): The Miraculous. New York: Farrar, Straus and Giroux, 320 Seiten (englischsprachig)
Der elfjährige Wunder lebt mit seinen Eltern ein geborgenes und behütetes Leben. Als er fünf Jahre alt ist, erlebt er erstmals bewusst, dass es Dinge auf der Welt gibt, die ihn »wundern«. Fasziniert beschließt er, ein »Wunderentdecker« zu werden und seine gefundenen oder erlebten außergewöhnlichen Ereignisse oder Begebenheiten in einem Buch niederzuschreiben, das er »das Wundersame« nennt. Die Jahre vergehen, Wunder sammelt Außergewöhnliches und Nicht erklärbares und erlebt die Welt mit einem vertrauensvollem und unerschütterlichen Glauben als einen WUNDER-vollen Ort. Bis seine neugeborene, lang ersehnte und schon vor ihrer Ge-
burt geliebte, Schwester Milagros acht Tage nach ihrer Geburt stirbt. Mit ihrem Tod entleert sich für ihn die Welt von Wundern und wird zu einem harten, kalten Ort, an dem Menschen sterben, an dem Leid erfahren wird und lähmende Einsamkeit um sich greift. Jess Redman schafft es auf besondere Weise, der allumfassenden Trauer in einem Familiensystem Gestalt zu geben. Jeder trauert anders, jeder trauert auf seine eigene Weise, der Trauer prozess ist für jeden, der ihn geht, steinig, dornig und scheint kaum durchlebt werden zu können. Die entkräftende Trauer der Mutter, die umfassende Überfordertheit des Vaters, die isolieren-
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de Einsamkeit des Elfjährigen lassen im Leser, in der Leserin eine Ahnung aufkommen, was es bedeutet, einen geliebten Menschen an den Tod zu verlieren. Zugleich wird deutlich, wie schwer es auch für Außenstehende ist, mit einer solchen Situation umzugehen. Die Schilderung der erlebten und durchlittenen Trauerwelt wird auf geheimnisvolle Weise verwoben mit dem, was unser Verstand nicht begreifen kann, und lässt das Thema Spiritualität aufleuchten. Es entsteht eine magische Vermischung dieser beiden Welten, die auf intensive Weise Verstand und Herz berührt und die Leserin, den Leser miterleben lässt, wie das zukunftsentleerte Leben der Protagonisten zaghaft lebendiger wird. Dennoch bleibt man beim Lesen bis zum letzten Augenblick den Fragen verhaftet: Wie wird es weitergehen? Was wird geschehen? Wird der kleine Wunder wieder an das Außergewöhnliche, wird er wieder an das Nichtverstehbare, an Wunder im Leben glauben können? Wird die Mutter wieder ins Leben hineinfinden? Wird Wunder wieder Eltern haben, die sich um ihn kümmern und ihm zeigen, wie besonders und einzigartig er ist? Die
Fragen entspringen der Hoffnung auf eine bejahende Beantwortung. Es ist Jess Redman auf einzigartige Weise gelungen, mit ihrem ersten Roman ein WUNDERVOLLES Buch zu schreiben, dessen Lektüre vom Leser als Inspiration erfahren wird, für die kleinen Wunder, für das Außergewöhnliche und Unerklärbare unserer alltäglichen Welt offen zu sein und offen zu bleiben. Die Autorin zeigt auf ungewöhnliche und fantasievolle Weise, dass wir Menschen letztlich nur überleben können, wenn wir an Wunder glauben. Wenngleich Redman das Buch an junge, jugendliche Leserinnen und Leser adressiert hat, zeigt es auch Erwachsenen, dass in unserer rationalen Welt etwas über uns hinausweist, das wir auf einen Nenner gebracht mit dem Wort Liebe umschreiben können. Im Lesen wird erfahren, wie wichtig es ist, auch die Trauer des Geschwisterkindes zu berücksichtigen. Dieses Buch zu lesen, fesselt und berührt, es ist ein Geschenk, das zum Nachsinnen anregt und Vertrauen darin schafft, dass Leben wieder gut werden kann, wenn auch völlig anders.
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AUSSTELLUNG
Trauern. Von Verlust und Veränderung Ausstellung in der Hamburger Kunsthalle
Adelheid Scholten der Beerdigung des 1963 ermordeten amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy. Es zeigt sie in Nahaufnahme in ihrer individuellen Trauer. Gleichzeitig war Kennedys Tod ein großes Medienereignis. Warhol konzentriert sich im Schwarz-Weiß-Kontrast gehaltenen Siebdruck auf die Person der Witwe, die zum personifizierten Symbol eines persönlichen und nationalen Verlustes wird.
Andy Warhol (1928–1987), Jackie, 1964, Wolverhampton Art Gallery © 2019 The Andy Warhol Foundation for the Visual Arts, Inc. / Licensed by Artists Rights Society (ARS), New York
Trauer entsteht nicht nur beim Verlust eines geliebten Menschen durch Tod oder Trennung. Wir können bei Verlust von Gesundheit, von Heimat oder dem Abschied von eigenen Idealen trauern. Trauer hat immer einen kulturellen, sozialen oder politischen Kontext. Wenn wir individuell oder gemeinschaftlich Trauer durchleben, zeigen diese Bekundungen, wer wir als Mensch und als Teil der Gesellschaft sind. Die Trauer zeigt, an wen oder was wir unser Herz geschenkt haben. In der Trauer zeigen wir unsere Verletzlichkeit. Wie breit das Spektrum von Trauer in diesem Sinn sein kann, zeigt die Ausstellung »Trauern. Von Verlust und Veränderung« in der Hamburger Kunsthalle. 28 Künstlerinnen und Künstler der Gegenwart aus 15 Ländern haben Gemälde, Skulpturen, Fotografien, Videos, Dia-, Klangund Rauminstallationen zur Ausstellung beigetragen. Die Werke zeigen, welche unterschiedlichen Ausdrucksformen heute für den Schmerz des Verlustes gefunden werden können. Was sagt der Umgang mit Trauer über unsere Gegenwart aus? Um wen oder was trauern wir öffentlich? Welches politische Potenzial steckt in der öffentlichen Trauer? Wie verläuft der Prozess des Abschieds? Wie verändert uns Trauer? Solchen Fragen widmet sich die Ausstellung unter Kapiteln wie »Melancholie und Trauer«, »Demenz und Verlust«, »Kollektive Trauer«, »Verlust von Heimat«, »Formen des Abschieds«, »Trauer und Protest« oder »Antizipation des eigenen Abschieds«. Die beiden ältesten Werke sind aus dem Jahr 1964. Das eine ist das Eingangsbild »Jackie« von Andy Warhol (1928–1987). Er wählte den Ausschnitt der trauernden Witwe eines Fotos von
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Das ebenfalls 1964 entstandene Bild »Balken im Auge/Trauernde Hände« stammt von Maria Lassnig (1919–2014) und ist Teil des Kapitels »Beweinungsbilder«. Die Ausstellung zeigt insgesamt vier Gemälde der Künstlerin, die sich mit dem Tod der eigenen Mutter auseinandersetzen. In ihrem Konzept des Körperbewusstseins (»Body Awareness«) entwickelte Lassnig eine Bildsprache für Gefühlsäußerungen im Körper. Sie zeigt mit Farbe, welche Körperteile sie spürt und wo sich das Gefühl und der Schmerz äußern. Wir sehen im Hintergrund des Gemäldes den Leichnam der Mutter ganz in dunkellila gehalten. Das Gesicht der Toten ist deutlich erkennbar. Im Vordergrund rechts hockt die Malerin selbst. Sie hat der Toten ihren Rücken zugewandt. Ein Auge wird von einem hellen Holzbalken durchstoßen, der aus dem Sarg ihrer Mutter zu stammen scheint. Der linke Arm nimmt die Farbgebung des Leichnams auf. Die Hände der Tochter sind helllila, genau wie die eine sichtbare Hand der toten Mutter. Die Hände der Malerin scheinen in der identischen Totenstarre zu sein. Das blinde Auge und die blutleeren Hände der Malerin sind in diesem Zustand nicht arbeitsfähig. Sie malt ihre Infragestellung der künstlerischen Schaffenskraft. Sie zeigt uns ihre existenzielle Verunsicherung. Lassnig greift in diesem Bild die traditionelle Ikonografie der christlichen Beweinung auf. Eine aktuelle Werkserie »The Untitled Images« (2014) von bearbeiteten Fotografien (21 × 30 cm) aus dem Syrien-Krieg von Khaled Barakeh (*1976) wird unter dem Kapitel »Verletzlichkeit und Trauer« präsentiert. Barakeh nimmt eine Fotografie von Manu Brabo aus dem Internet, darauf ist ein junger Mann in der Hocke zu sehen, in seinen Armen liegt ein toter Mensch. Der Leichnam auf dem Foto wurde mit einem Skalpell aus dem Foto herausgekratzt. Der Künstler verletzt so das Papier und schützt gleichzeitig den Toten. Wir können das verstorbene Opfer des Krieges als Person nicht erkennen, wohl aber als Mitmenschen. Barakeh gibt dem Toten seine Würde zurück. Die Anonymität des Toten lässt
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Maria Lassnig (1919–2014), Balken im Auge / Trauernde Hände, 1964 © Maria Lassnig Foundation / VG Bild-Kunst, Bonn 2019
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des hockenden Mannes macht seine Trauer anschaulich und weckt beim Zuschauenden Assoziationen zur Ikonografie der Pietà, der trauernden Maria.
Khaled Barakeh (*1976), The Untitled Images, 2014, 5-teilige Serie, Artwork courtesy of the artist. Original photo by Manu Brabo
eine Leerstelle entstehen. Das bearbeitete Foto macht uns, dem Zuschauer, der Zuschauerin, den Verlust deutlich und kritisiert gleichzeitig den Voyeurismus der Bildmedien. Die Körperhaltung
Die präsentierte Kunst bietet eine Diskussionsbasis, um dieses gesellschaftlich relevante Thema anzupacken. Die Kuratorin Brigitte Kölle sagte bei der Eröffnung der Ausstellung, das Museum solle nicht nur ein Wohlfühlort sein, sondern auch ein Resonanzraum für Themen, die Menschen berühren. Gelegenheit, sich von den vielfältigen künstlerischen Positionen berühren zu lassen und damit ein neues oder ungewohntes Verständnis der eigenen und der gesellschaftlichen Trauer kennenzulernen, gibt es hoffentlich noch in diesem Jahr, nachdem Adelheid Scholten ist Kunstdie Ausstellung aufgrund der Corona-Krise historikerin und lebt in Berlin. Sie ist Trauerbegleiterin übergangsweise geschlossen werden musste. mit Zertifikat des BVT.
www.hamburger-kunsthalle.de
© Katharina Eglau
E-Mail: A delheid.Scholten @t-online.de
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VERBANDSNACHRICHTEN
Mehr als siebzig Trauerbegleiterinnen und Trauerbegleiter trafen sich vom 1.–3. März im Hans-Lilje-Haus in Hannover zur Jahrestagung des Bundesverbandes Trauerbegleitung. Etliche neue Gesichter, andere, die ich nur ein Mal im Jahr sehe. Sich immer wieder neu begegnen. Darum geht es auch in der Begrüßungseinheit, in der wir eingeladen sind, zu zweit oder dritt zu verschiedenen Themen ins Gespräch zu kommen. »Seit wann bist du im BVT?« »Was ist dir an der Verbandsarbeit wichtig?« »Wofür könntest/würdest du dich engagieren?« Es ist wichtig und tut gut, sich mit neuen beziehungsweise anderen Themen auseinanderzusetzen, dazuzulernen. Deshalb geht es mit verschiedenen Workshops weiter. »Welche Dynamiken verbergen sich hinter dem, was die künftige ICD11 mit dem umstrittenen Begriff ›langanhaltende Trauerstörung‹ bezeichnet?« »Wie kann durch Musik und Bewegung Trauer noch einmal ganz anders Ausdruck finden?« »Welche Möglichkeiten stecken in der Biografiearbeit mit Trauernden?« »Wie korrespondieren äußere und innere Haltung in der Trauerbegleitung?« Eine interessante Erfahrung, dies mit Hilfe von Bewegungsübungen aus dem budobasierten Achtsamkeitstraining zu üben und am eigenen Leib zu erfahren. Und natürlich kommt der (nicht nur) kollegiale Austausch bei allem nicht zu kurz. In der Arbeitsgruppe der Trauerbegleitenden wird am zweiten Tag über einen Evaluationsbogen für Trauerbegleitende und trauernde Menschen nachgedacht. Dieser Bogen soll zur Qua-
litätssicherung der Trauerbegleitung dienen und den trauernden Menschen eine Unterstützung sein. Eine entsprechende AG findet sich. Die Gruppe der Qualifizierenden spricht über das Fortbildungskonzept für Berater/-innen und Psychotherapeutinnen/Psychotherapeuten, die Qualifizierungsordnung und wird über einige Aspekte des Dialogs mit dem DHPV und die Möglichkeit einer Kooperation durch Anerkennung von Zertifikaten informiert. Über die beiden letzten Themen entstehen später im Plenum interessante Diskussionen. Ein Höhepunkt der Tagung ist für die meisten Teilnehmenden sicher der Vortrag von Prof. Dr. Luise Reddemann zum Thema »Trauer und Trauma« in der Stadtkirche. Die Tagung endet mit der Mitgliederversammlung am Dienstag. Neben den wichtigen, aber manchmal auch langweiligen Formalitäten berichten einzelne AGs über den Stand ihrer Arbeit und es werden neue Arbeitsgruppen gegründet, die sich unter anderem mit Evaluation für Trauernde und Trauerbegleitende, Flucht und Trauer, der Qualifizierungsordnung und den Standards des BVT beschäftigen. Schöne und intensive drei Tage mit vielen Begegnungen, Gesprächen und sehr lebhaften Diskussionen. Elke Hoffmann
© BVT
Der BVT zeigt Gesicht
∑: V + K + A = 100 (Summe aus Vertrauen plus Kontrolle plus Angst = 100)
Vorschau Heft 3 | 2020
9. Jahrgang
Leidfaden
Thema: Methoden
u. a. m.
Leidfaden
FA C H M A G A Z I N F Ü R K R I S E N , L E I D , T R A U E R
Von der VON DER LUST UND DER LAST MIT DEN METHODEN
Heldenreise: Schreibübung zu Wendepunkten – Arbeit mit Texten: Philosophische Praxis – Arbeit am Tonfeld – Ikebana – Körperarbeit – Healing Touch – Der Gong als Tor zur Schwingung unseres Lebens – Klangschalen – Qigong – Ethisches Konsil als Reflexion – Psychodrama – Empowerment – Systemische Interventionen – Kultursensible Sprache
3 | 2020 | ISSN 2192-1202 | € 20,–
und der mit den
LAST
Impressum Herausgeber/-innen: Monika Müller M. A., KAB-Ring 22, D-53359 Rheinbach E-Mail: [email protected] Prof. Dr. med. Lukas Radbruch, Zentrum für Palliativmedizin, Von-Hompesch-Str. 1, D-53123 Bonn E-Mail: [email protected] Dr. phil. Sylvia Brathuhn, Frauenselbsthilfe nach Krebs e. V., Landesverband Rheinland-Pfalz/Saarland e. V./Bundesverband e. V. Bonn Schweidnitzer Str. 17, D-56566 Neuwied E-Mail: [email protected] Prof. Dr. Arnold Langenmayr (Ratingen), Dipl.-Sozialpäd. Heiner Melching (Berlin), Dr. Christian Metz (Wien), Dipl.-Päd. Petra Rechenberg-Winter M. A. (Hamburg), Dipl.-Pflegefachfrau Erika Schärer-Santschi (Thun, Schweiz), Dipl.-Psych. Margit Schröer (Düsseldorf), Dr. Patrick Schuchter (Wien), Prof. Dr. Reiner Sörries (Erlangen) Bitte senden Sie postalische Anfragen und Rezensionsexemplare an Monika Müller, KAB-Ring 22, D-53359 Rheinbach Wissenschaftlicher Beirat: Dr. Colin Murray Parkes (Großbritannien), Dr. Sandra L. Bertman (USA), Dr. Henk Schut (Niederlande), Dr. Margaret Stroebe (Niederlande), Prof. Robert A. Neimeyer (USA) Redaktion: Ulrike Rastin M. A. (V. i. S. d. P.), Verlag Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Göttingen, Tel.: 0551-5084-423, Fax: 0551-5084-454 E-Mail: [email protected] Bezugsbedingungen: Leidfaden erscheint viermal jährlich mit einem Gesamtumfang von ca. 360 Seiten. Bestellung durch jede Buchhandlung oder beim Verlag. Jahresbezugspreis € 70,00 D / € 72,00 A. Institutionenpreis € 132,00 D / € 135,80 A / SFr 162,00, Einzelheftpreis € 20 D / € 20,60 A (jeweils zzgl. Versandkosten), Online-Abo inklusive für Printabonnenten. Preisänderungen vorbehalten. Die Bezugsdauer verlängert sich jeweils um ein Jahr, wenn nicht eine Abbestellung bis zum 01.10. erfolgt. Verlag: Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstr. 13, D-37073 Göttingen; Tel.: 0551-5084-40, Fax: 0551-5084-454 www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2192-1202 ISBN 978-3-525-40688-5 ISBN 978-3-666-40688-1 (E-Book) Umschlagabbildung: Bernhard Moser/www.farbebewegt-plus.ch Anzeigenverkauf: Anja Kütemeyer, E-Mail: [email protected] Bestellungen und Abonnementverwaltung: HGV Hanseatische Gesellschaft für Verlagsservice mbH, Servicecenter Fachverlage, Holzwiesenstr. 2, D-72127 Kusterdingen; Tel.: 07071-9353-16, Fax: 07071-9353-93, E-Mail: [email protected] Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. © 2020 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Gestaltung, Satz und Lithografie: SchwabScantechnik, Göttingen Druck und Bindung: Beltz Grafische Betriebe GmbH, Bad Langensalza Printed in Germany
EINE ETHISCHE REFLEXION DER PALLIATIVEN SEDIERUNG
Annette Riedel
Palliative Sedierung im stationären Hospiz Konstruktion einer Ethik-Leitlinie mittels partizipativer Forschung Pflegewissenschaft und Pflegebildung, Band 16 2020. 429 Seiten, mit 32 Abbildungen, gebunden € 65,00 D | € 67,00 A ISBN 978-3-8471-1043-9 Auch als eBook erhältlich
Die Autorin greift ein aktuelles, ethisch reflexionswürdiges Thema in der Praxis stationärer Hospizversorgung auf: die dauerhafte tiefe Palliative Sedierung am Lebensende. Im Rahmen des partizipativen Forschungsprozesses wurden wiederkehrende ethische Fragestellungen und Unsicherheiten erfasst, die in den stationären Hospizen im Kontext der Behandlungsoption existieren. Dieser Band expliziert indes nicht nur die ethischen Konfliktpotenziale, sondern bietet der hospizlichen Praxis zugleich ein konkretes handlungsleitendes Verfahren an, hin zu einer ethisch begründeten Entscheidungsfindung: eine Ethik-Leitlinie. Das Buch verbindet pflegewissenschaftliche Forschung mit praxisbezogener Replik, es verbindet die Sensibilisierung für ethische Reflexion mit ethisch begründeter Entscheidungsfindung.
Bücher zum Thema Sterben und Tod
Sarah Braun, Udo Lakovits, Andrea Strachota
Leben und gleichzeitig sterben Diagnose ALS Print: 296 Seiten, 29,95 Euro, ISBN 978-3-86321-452-4 E-Book (PDF): 21,99 Euro, ISBN 978-3-86321-512-5 Sarah Braun erhält im Alter von 24 Jahren die Diagnose ALS, amyotrophe Lateralsklerose. Es ist ein Todesurteil, denn ihre Lebenserwartung beträgt noch drei bis fünf Jahre. Dieses Buch liefert Einblicke in den Sterbeprozess aus Sicht einer Betroffenen sowie ihrer engsten WegbegleiterInnen. Es will Hoffnung darauf machen, dass es sich lohnt, dieses Leben zu leben.
Hans-Christoph zur Nieden / Christiane zur Nieden
Umgang mit Sterbefasten Fälle aus der Praxis Print: 190 Seiten, 19,95 Euro, ISBN 978-3-86321-428-9 E-Book (PDF): 31,99 Euro, ISBN 978-3-86321-493-7 Seit der Veröffentlichung ihres Erfolgsbuches „Sterbefasten“, in dem Christiane zur Nieden den Prozess des Sterbefastens ihrer Mutter liebevoll und eindringlich schilderte, haben sich zahlreiche Menschen mit ihren eigenen Geschichten bei der Autorin gemeldet. So entstand ein reger Austausch, in dem Christiane zur Nieden und ihr Mann Hans-Christoph, selbst Arzt, sowohl fachliche als auch mentale Unterstützung leisteten. Die Autoren haben diese Fallbeispiele von freiwilligem Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit am Lebensende gesammelt und kommentiert. Die Geschichten zeigen, dass auch medizinische Laien die Begleitung von Sterbefastenden durchführen können und machen dabei deutlich, wie individuell der Prozess ablaufen kann: alleine, im Kreis der Familie, in Heimen, im Hospiz. Die Erfahrungsberichte thematisieren sowohl durchgeführte Begleitungen als auch nicht ausgeführtes oder sogar abgebrochenes Sterbefasten sowie Sterbefasten bei Demenz.
Mabuse-Verlag GmbH Kasseler Str. 1 a · 60486 Frankfurt am Main [email protected] · Tel.: 069-70 79 96 16 · Fax: 069-70 41 52 · www.mabuse-verlag.de | www.mabuse-buchversand.de
EINE ETHISCHE REFLEXION DER PALLIATIVEN SEDIERUNG
Annette Riedel
Palliative Sedierung im stationären Hospiz Konstruktion einer Ethik-Leitlinie mittels partizipativer Forschung Pflegewissenschaft und Pflegebildung, Band 16 2020. 429 Seiten, mit 32 Abbildungen, gebunden € 65,00 D | € 67,00 A ISBN 978-3-8471-1043-9 eBook € 54,99 D | € 56,50 A ISBN 978-3-8470-1043-2
Die Autorin greift ein aktuelles, ethisch reflexionswürdiges Thema in der Praxis stationärer Hospizversorgung auf: die dauerhafte tiefe Palliative Sedierung am Lebensende. Im Rahmen des partizipativen Forschungsprozesses wurden wiederkehrende ethische Fragestellungen und Unsicherheiten erfasst, die in den stationären Hospizen im Kontext der Behandlungsoption existieren. Dieser Band expliziert indes nicht nur die ethischen Konfliktpotenziale, sondern bietet der hospizlichen Praxis zugleich ein konkretes handlungsleitendes Verfahren an, hin zu einer ethisch begründeten Entscheidungsfindung: eine Ethik-Leitlinie. Das Buch verbindet pflegewissenschaftliche Forschung mit praxisbezogener Replik, es verbindet die Sensibilisierung für ethische Reflexion mit ethisch begründeter Entscheidungsfindung.
MIT SPRACHPHILOSOPHISCHEM GRUNDLAGENWISSEN ZU NEUEN OPTIONEN FÜR BERATUNG UND THERAPIE KOMMEN Hans Lieb Werkzeug Sprache in Therapie, Beratung und Supervision Das Grundlagenbuch 2020. 336 Seiten, mit 8 Abb. und 3 Tab., kartoniert € 35,00 D | eBook (PDF/ePub) € 27,99 D ISBN 978-3-525-45385-8 Sprache ist das zentrale Medium in Therapie, Beratung und Supervision und Sprachkompetenz der Schlüssel zum Erfolg in diesen Arbeitsfeldern. Dieses Grundlagenbuch vermittelt das praxisrelevante sprachphilosophische Wissen und hält konkrete, sofort umsetzbare Empfehlungen für das eigene beraterische und therapeutische Tun bereit. Welche Facetten hat der Begriff Sprache in diesem Zusammenhang? Wie wird in welchen Systemen gesprochen? Welche Sprachstile gibt es? Wie kann man sie erkennen? Wie lassen sich neue Sprachstile effektiv in die eigene Praxis integrieren? Diese und viele weitere Fragen beantwortet der Band.
ISBN 978-3-525-40688-5
ISBN 978-3-525-40688-5 www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com € 20,–
9 783525 406885