Kraft und Last der Erinnerungen: Leidfaden 2022, Heft 2 [1 ed.] 9783666407949, 9783525462836, 9783525462812, 9783525462829, 9783525407943


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Kraft und Last der Erinnerungen: Leidfaden 2022, Heft 2 [1 ed.]
 9783666407949, 9783525462836, 9783525462812, 9783525462829, 9783525407943

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11. Jahrgang  2 | 2022 | ISSN 2192-1202

faden Leid

FA C H M A G A Z I N F Ü R K R I S E N , L E I D , T R A U E R

KRAFT und LASTder

ERINNERUNGEN

Verena Kast Die Erinnerungen ­gehören uns  Birgit Schreiber Vergangenheit

anders erzählen – Warum Geschichten heilsam sein können  Ina Schmidt In der Erinnerung werden wir zu denen, die wir sind – Ist die persönliche ­Erinnerungskultur eine ­moralische Aufgabe?  Bianca Melle Gute Erinnerungen für die Hoffnung auf einen guten Morgen

Neue Selbsthilfe-Reihe: V&R SELF

Stefan Balázs Setze dein Leben neu zusammen

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Isabel García Wie sage ich eigentlich …?

Leonie Feuerbach Fremd in der eigenen Familie

Isabel García gibt 30 Kommunikationstipps, mit denen es gelingt, ehrlich mit sich selbst und wertschätzend mit dem Gegenüber umzugehen – privat und beruflich. Mit Audiobeispielen.

Wie kann es passieren, dass die eigenen Eltern zu Fremden werden? Das Bewusstsein, anders zu sein als die Ursprungsfamilie, schmerzt. Trotzdem kommt ein Kontaktabbruch nur für die wenigsten infrage. Gespräche mit Fachleuten zeigen Wege auf, wie gute Beziehungen weiterhin möglich sind.

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Wenn sich Kinder von ihren Eltern entfernen V&R SELF. 2022. 206 Seiten, französische Broschur € 23,00 D ISBN 978-3-525- 46282-9 Auch als e-Book erhältlich.

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EDITORIAL

Über die Kraft und die Last der Erinnerungen

»Als ich vor einiger Zeit mit Menschenrechtsorganisationen zusammenarbeitete, entwarf ich die von mir so bezeichnete und aus sieben zentralen Artikeln bestehende ›Charta des Rechts, Geschichten zu erzählen‹ (ich gebrauche den Begriff Artikel, weil dieser auch in der Allge-

meinen Erklärung der Menschenrechte verwendet wird): Artikel 1. Jeder Mensch hat das Recht, seine Erfahrungen und Probleme mit eigenen Worten und Begriffen zu beschreiben. Artikel 2. Jeder Mensch hat das Recht, dass sein Leben im Kontext seiner Erfahrungen sowie im Kontext seiner Beziehungen zu anderen Menschen verstanden wird. Artikel 3. Jeder Mensch hat das Recht, ihm wichtige Personen zur Mitwirkung an dem Prozess einzuladen, in dem er sein Leben von den Auswirkungen qualvoller Erlebnisse zurückfordert. Artikel 4. Jeder Mensch hat das Recht, von Problemen frei zu sein, die durch Traumatisierung und Ungerechtigkeit so in seinem tiefsten Innern verankert sind, als ob sie ein individuelles Defizit darstellten. Die Person ist nicht das Problem; das Problem ist das Pro­blem. Artikel 5. Jeder Mensch hat das Recht, dass seine Reaktionen auf schwere Zeiten respektiert werden. Niemand nimmt Notlagen passiv in Empfang. Menschen zeigen immer Reaktionen. Menschen lehnen sich immer gegen Ungerechtigkeit auf.  Artikel 6. Jeder Mensch hat das Recht, dass seine Überlebensfähigkeiten und -kenntnisse respektiert, gewürdigt und anerkannt werden. Artikel 7. Jeder Mensch hat das Recht, zu wissen und zu erfahren, dass seine in schweren Zeiten gemachten Erfahrungen einen Beitrag zum Leben anderer Menschen in ähnlichen Situationen leisten können.« (David Denborough: Geschichten des Lebens neu gestalten. Grundlagen und Praxis der narrativen Therapie. Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, 2017, S. 23)

© Hendrik Lüders

Es geht in diesem Themenheft ums Erinnern und um das, was Erinnern ausmacht, was es bewirkt und wie die Erzählungen über (unser) Erlebtes Erinnerungen ausgestalten. Es sind unsere Geschichten von Erfahrenem, die ihr Eigenleben entfalten, die bei jedem Erzählen unmerklich oder deutlich variieren und so unser Erinnern verändern. Damit sind Erinnerungen unzuverlässig, und oft können wir nicht mehr mit Bestimmtheit sagen, was damals, in dieser konkreten Situation, nun genau geschah. Sprechen fünf Menschen miteinander über einen gemeinsamen Ausflug, den sie vor Jahren miteinander unternahmen, werden sie sich fünf Geschichten erzählen. Geschichten, die in manchen Facetten übereinstimmen und in vielen anderen sich ergänzen oder auch widersprechen. Wie es also genau war, lässt sich nicht mehr klären. In persönlichen Erinnerungen haben es sich die Einzelnen individuell in ihrer Biografie als ganz eigene Erzählung eingewoben. Andererseits wissen wir, dass Erinnerungen lebenslang überleben. Auch wenn sie nicht mehr erinnert werden, bewahren sie ihr Eigenleben. Viele bleiben wohl im unbewussten Dunkel, andere melden sich in bestimmten Lebenssituationen, drängen bei bestimmten Düften, Tönen oder Ereignissen ans Tageslicht des Bewusstseins und überraschen, erschrecken oder erfreuen. Wieder andere lassen sich hervorlocken, als vergessene Ressourcen bergen oder geben sich als potenzielle Entfaltungsmöglichkeiten zu erkennen. All diese Erinnerungen sind nicht verhandelbar, sondern einzigartiger Privatbesitz. Darauf weist David Denborough in seiner »Charta des Rechts, Geschichten zu erzählen« hin.

Petra RechenbergWinter

Peggy Steinhauser

Inhalt Editorial 1

4 Robert A. Neimeyer

Bedeutung und Erinnerung: Die Rekonstruktion von Beziehungen nach einem Verlust

8 Ann-Kristin Ruddies M U S I K 

Unser emotionales Gedächtnis

8 Ann-Kristin Ruddies | M U S I K – Unser emotionales Gedächtnis

14 Barbara Brauchle

Kollektives Trauern und Erinnern – Wenn uns der Tod fremder Menschen bewegt

19 Verena Kast

Die Erinnerungen gehören uns

23 Andrea Züger und Swantje Goebel

Erinnerungen: Erzählt. Gewürdigt. Hinterlassen – Einblicke in die Würdezentrierte Therapie

28 Andreas Maercker

Erinnerungen, ihre Eigenschaften und Pathologien – und der therapeutische Lebensrückblick

32 Michael Clausing

Ode an die Freude

44 Jenny von Borstel | Das Lied der Erde – das Netz des Lebens erinnern

34 Birgit Schreiber

Vergangenheit anders erzählen – Warum ­Geschichten heilsam sein können

49 Eva Eusterhus | Die Macht und die Last von Erinnerung

70  Bianca Melle | Gute Erinnerungen für die Hoffnung auf einen guten Morgen

38 Stefanie Schulz

Online trauern und erinnern – Die Online­ beratungs­stelle www.youngwings.de für ­Jugendliche und junge Erwachsene

Vera Kalitzkus Trost in der Trauer durch die Natur

79 Aus der Forschung: Studie zur Wirksamkeit von Familientrauerbegleitungsangeboten

44

Jenny von Borstel

49

Eva Eusterhus

Das Lied der Erde – das Netz des Lebens erinnern

84 Fortbildung: Erinnerungsarbeit mit Collagen: »Seelenbilder«

Die Macht und die Last von Erinnerung

52 Ina Schmidt

In der Erinnerung werden wir zu denen, die wir sind – Ist die persönliche Erinnerungskultur eine moralische Aufgabe?

58

77

Bettina Alberti

86 Rezensionen 89 Verbandsnachrichten 93 Cartoon | Vorschau 94 Impressum

Wenn Erinnerungen nicht weitergegeben ­werden – Über die seelischen Folgen des Schweigens für die Kriegsenkelgeneration

62 Axel Enke

Katastrophen und was wir von ihnen erinnern – Reflexionen nach einer Naturkatastrophe

66 Roland Kachler

»Die Bilder deines Sterbens quälen mich immer wieder« – Traumatische Verlusterinnerungen und  Verlustbilder bearbeiten und lösen

70 Bianca Melle

Gute Erinnerungen für die Hoffnung auf einen guten Morgen

79 Aus der Forschung: Studie zur Wirksamkeit von Familientrauer­ begleitungsangeboten

4

Bedeutung und Erinnerung: Die Rekonstruktion von Beziehungen nach einem Verlust Robert A. Neimeyer Während sich das zweite Pandemiejahr dem Ende zuneigt und ein drittes beginnt, bietet sich uns die Gelegenheit, über unsere gemeinsamen und unsere einzigartigen Verluste nachzudenken – von Menschen, Projekten und Möglichkeiten, die einst für den Sinn unseres Lebens von zentraler Bedeutung waren und deren Abwesenheit eben diesen Sinn in Frage stellt und verändert. Die Trauer, die folgt, wenn diese Verluste tiefgreifend sind, kann uns dazu auffordern, die Erzählung darüber, wer wir sind und wohin wir gehen, zu überprüfen, wiederherzustellen oder zu revidieren, auch wenn wir dies vielleicht nur widerwillig tun. Eine Annäherung an die Trauer als Prozess der Sinnrekonstruktion erkennt die existenzielle Bedeutung dieser Anstrengung an, die in der Regel auf eine Weise unternommen wird, die zutiefst persönlich, sozial, kulturell und häufig auch spirituell ist, da wir uns bemühen, Ressourcen auf all diesen Ebenen zu erschließen, um erneut eine Lebenserzählung zu finden, die sowohl nachvollziehbar als auch bedeutsam ist. Ich bin eingeladen worden, auf diesen wenigen Seiten diesen Ansatz zur Trauer als sinnstiftenden Prozess zu skizzieren und dabei kurz auf die umfangreichen psychologischen Forschungsergebnisse zu ihrer zentralen Rolle bei der Anpassung an den Verlust einzugehen. Ich werde auch eine der zahlreichen kreativen Techniken vorstellen, die dabei helfen, die Prinzipien der Sinnrekon­ struktion in die Praxis umzusetzen. Unabhängig davon, ob die Methode in der formellen Trauerbegleitung eingesetzt wird oder in unseren persönlichen Bemühungen, die Realität des Verlustes zu integrieren, kann sie dazu beitragen, eine sinnvolle Bindung zu den geliebten Menschen

zu stärken und aufrechtzuerhalten, und zwar auf eine Weise, die nicht weniger real ist. Sinn und Trauer Besonders wenn wir jemanden oder etwas verlieren, der oder das für unsere Identität von zentraler Bedeutung ist, gerät der Boden unter uns ins Wanken, manchmal seismisch. Und mit dieser Verschiebung können viele der Strukturen von Gewohnheiten, Rollen, Beziehungen und Erwartungen erschüttert oder zerbrochen werden, was uns weniger sicher und manchmal völlig schutzlos zurücklässt in einem Terrain, das durch den Tod eines Elternteils, eines Partners oder eines Kindes verwüstet wurde, traumatisiert durch einen Suizid, einen Unfall oder eine plötzliche tödliche Krankheit eines geliebten Menschen oder durch den Verlust der Gesundheit, des Zuhauses oder des Berufs, konfrontiert mit Herausforderungen an unsere Kernidentität und unser Selbstverständnis. All diese Verluste, besonders aber die tragischen und unerwarteten, können unsere Vorstellungen davon, wie das Leben ist oder sein sollte, in Frage stellen und uns in der veränderten Landschaft einer Gegenwart und Zukunft, die sich radikal von der vertrauten Vergangenheit unterscheidet, emotional beraubt, unsicher und desorientiert zurücklassen. An diesem Ort der Angst, der Sehnsucht und der Verwirrung beginnen wir in der Regel das, was für uns von Bedeutung ist, erneut zu bekräftigen und zu rekonstruieren, um schließlich unsere Identität als Individuum, als Familie, als Gemeinschaft und manchmal sogar als Menschheit neu zu gestalten, je nach dem Ausmaß der Verluste, mit denen wir konfrontiert sind.

B e d e u t u n g u n d E r i n n e r u n g    5

Außer wenn wir das nicht können. Dann stehen wir vor scheinbar unüberwindbaren Hindernissen, wenn es darum geht, den Verlust selbst, unsere veränderte Beziehung zu dem, was wir verloren haben, oder unser Verständnis davon, wer wir nach dem Verlust sind, zu begreifen. Dutzende von Studien unserer Forschungsgruppe und anderer dokumentieren eindeutig die zentrale Rolle der Sinnfindung bei der Bewältigung solch schwieriger Lebensübergänge und umgekehrt das Ausmaß, in dem das Unvermögen, Verständnis und Bedeutung für den Verlust zu finden, unseren anhaltenden Kampf mit lähmender Trauer nicht nur in der Gegenwart, sondern auch Monate und sogar Jahre in der Zukunft vorhersagt. Unsere jüngsten Forschungen zur Trauer im Zusammenhang mit der Pandemie zeigen in der Tat, dass Sinn die Trauer befriedet, was erheblich die einzigartigen Risikofaktoren der Covid-19-­ Trauer betrifft, nämlich die Unfähigkeit, unsere Lieben am Ende des Lebens zu begleiten, die quälenden Bilder, wie sie isoliert von der Familie oder sogar von medizinischen Betreuer:innen um ihr Leben kämpfen, die Zersplitterung sozialer Unterstützungsnetze, die Unzufriedenheit mit Beerdigungs- und Gedenkfeiern und vieles mehr. Aber die Dezimierung des Sinns, der die Umstände unseres Verlusts mit unseren symptomatischen Kämpfen verbindet, hat auch eine hoffnungsvolle Seite, da sie darauf hindeutet, dass wir wieder ein lebenswertes Leben finden können, wenn wir den Sinn unseres Verlusts auf eine Weise rekonstruieren können, die Stimmigkeit und Verständlichkeit wiederherstellt. Die im Folgenden beschriebene einfache Technik ist eine von vielen, die einen Beitrag zu diesem Bemühen leisten können. Bedeutung und Erinnerung In gewissem Sinne sind wir alle »Nachahmer-Persönlichkeiten«, die Bruchstücke der vielen Menschen widerspiegeln, deren Eigenschaften und Werte wir unbewusst in unser eigenes Identitätsgefühl übernommen haben. Dieses »Erbe« geht

über die Genetik hinaus, da wir nicht nur von Großeltern und Eltern, sondern auch von Mentor:innen, Freund:innen, Geschwistern oder sogar Kindern, die wir geliebt und verloren haben, stark oder subtil geprägt werden können. Auch sind diese Einflüsse nicht immer positiv: Manchmal können wir unsere Selbstkritik, unser Misstrauen, unsere Ängste und unsere emotionale Distanz auf einst einflussreiche Beziehungen zurückführen, die uns jetzt nur noch innerlich begleiten. Eine Möglichkeit, mit diesen Lebenseindrücken zu arbeiten, besteht darin, über jemanden nachzudenken, den wir geliebt und verloren haben, und seinen oder ihren Einfluss auf unser Leben auf den folgenden Ebenen nachzuvollziehen, indem wir einen Satz oder einen Absatz zu jeder Ebene schreiben. In Workshops oder Therapiesitzungen lade ich die Teilnehmenden dann oft dazu ein, ihre Beobachtungen mit einem Partner, einer Partnerin, einem Familienmitglied oder mit mir im Rahmen einer Einzeltherapie zu besprechen. Das Grundgerüst für die Reflexion darüber lautet wie folgt: Die Person, deren Prägung ich nach­spüren möchte, ist:  Diese Person hatte folgenden Einfluss auf:

• meine Eigenheiten oder Gesten:   • meine Art zu sprechen und zu kommunizieren:  • meine Arbeits- und Freizeitaktivitäten:   • meine Gefühle gegenüber mir selbst und anderen:  • meine grundlegende Persönlichkeit:  

Kraft und Last der Erinnerungen

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• meine Werte und Überzeugungen:   • Die Prägungen, die ich am liebsten bekräftigen und weiterentwickeln würde, sind:   • Die Prägungen, die ich am liebsten aufgeben oder verändern würde, sind:  

Ich füge die beiden letztgenannten Anregungen in Anerkennung der Tatsache ein, dass Lebensprägungen manchmal ambivalent sind, so dass sogar eine nahestehende Person (zum Beispiel eine hingebungsvolle Mutter) einige Eigenschaften (zum Beispiel eine Tendenz zur Angst) vorleben kann, die die Überlebenden in ihrem eigenen Leben lieber loslassen würden. In solchen Fällen kann die Lebensprägung-Übung dazu beitragen, eine nuanciertere Sichtweise auf eine komplexe Beziehung zu entwickeln, die es uns ermöglicht, einige echte Gaben, die uns die oder der andere gegeben hat, anzunehmen und gleichzeitig konkrete Schritte zu unternehmen, um Einflüsse loszulassen, die uns eher eingeschränkt haben. Eine Illustration In einer gemeinsamen Sitzung nahmen sich ­Erika und ihre erwachsene Tochter Sabine ein paar Minuten Zeit, um darüber zu schreiben, welchen Einfluss Hans, der kürzlich verstorbene Ehemann und Vater der Familie, auf ihr Selbstverständnis als Individuen hatte. Beim anschließenden Austausch in derselben Sitzung schaute Sabine aufmerksam zu, als Erika bewegend beschrieb, wie sie jetzt das Vertrauen in sich trägt, das ihr Partner immer in sie gesetzt hatte, als er sie trotz ihrer eigenen Unsicherheit unterstütze, einen höheren Abschluss zu machen, und wie seine unendliche

Liebe zu ihr, selbst nachdem sie ein Kind durch eine Totgeburt verloren hatten, ihr Hoffnung einflößte und sie den Entschluss fassen ließ, »es noch einmal zu versuchen«. Erika wurde dann bestätigt, als Sabine – das Produkt dieses zweiten Versuchs, eine Familie zu gründen – erzählte, wie die Erinnerung an die spielerische Beschäftigung ihres Vaters mit ihr in ihrer Jugend und sein Ausdruck von Stolz auf sie, als sie zur Frau wurde, in ihr nun die Überzeugung schuf, leidenschaftlich zu leben und ihre eigenen Ambitionen zu verfolgen. Durch einen Tränenschleier hindurch blickten beide Frauen in die Augen der anderen und umarmten sich, wobei sie die Gegenwart von Hans als ein weiteres Paar Arme spürten, das sich um sie beide legte. Weitere Überlegungen Zu den Variationen der Lebensprägung-Übung gehört die Ermutigung, die eigene Stimmung in einem Wort oder einem Satz zu beschreiben, nachdem man die schriftliche Reflexionsübung gemacht hat, und dann noch einmal, nachdem man sich mit einer anderen Person ausgetauscht hat, die über denselben oder einen anderen Verlust geschrieben hat; oder einfach mit einem Freund oder Familienmitglied zu sprechen, dem man zutraut, dass er oder sie die Bedeutung versteht. Dabei zeigt sich in der Regel eine Verschiebung von einem Gefühl der Trauer zu einem Gefühl von Feierlichkeit, wobei viele individuelle Variationen möglich sind, die darauf hindeuten könnten, ob weitere Tagebuchaufzeichnungen oder angeleitete Offenlegungen für die jeweilige Person therapeutisch wirksamer sein könnten. Ebenso habe ich die Erfahrung gemacht, dass die Lebensprägung-Methode eine starke Medizin sein kann, wenn jemand dabei ist, einen geliebten Menschen durch eine schwächende Krankheit zu verlieren, da sie die Aufmerksamkeit von der Beschäftigung damit, die Krankheit zu bewälti-

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Paul Klee, Heroic Roses, 1938 / Bridgeman Images

B e d e u t u n g u n d E r i n n e r u n g    7

gen, auf die Wertschätzung des Lebensvermächtnisses der kranken oder sterbenden Person lenken kann. Häufig ergibt sich aus dem Schreiben die Einsicht, dass der geliebte Mensch in tiefgehender und subtiler Weise in uns und durch uns (und damit auch durch viele andere) weiterlebt, wodurch eine positive Bindung gestärkt wird, die unsere Sicherheit erhöht und die sein Vermächtnis als etwas Lebendiges in unserer emotionalen, praktischen und sozialen Welt würdigt. Die Beschäftigung mit der Lebensprägung stellt somit einen sinnstiftenden Akt dar, der ein Selbst- und Beziehungsgefühl wiederherstellt, das durch den Tod nicht ausgelöscht wurde.

Robert A. Neimeyer, PhD, leitet das Portland Institute for Loss and Transition (www.portlandinstitute.org), das weltweite Online-Schulungen und Zertifizierungen in der Trauertherapie anbietet. Er gibt er die Fachzeitschrift »­Death Studies« heraus und ist als Trainer, Berater und Coach tätig. Kontakt: [email protected] Literatur Neimeyer, R. A. (2019). Meaning reconstruction in bereavement: Development of a research program. In: Death Studies, 43, S. 79–91. Neimeyer, R. A. (Hrsg.) (2022). New techniques of grief therapy: Bereavement and beyond. New York. Steffen, E. M.; Milman, E.; Neimeyer, R. A. (Hrsg.) (2022). The handbook of grief therapies. London.

Kraft und Last der Erinnerungen

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M U S I K  Unser emotionales Gedächtnis Ann-Kristin Ruddies Erwartungsvolle Stille: Sebastian Knauer betritt die große Bühne der Elbphilharmonie in Hamburg. Vor ihm der Steinway-Konzertflügel, hinter ihm das Streichorchester. Der erste Ton von Bachs Halleluja, Kantate No. 142, recomposed von Arash Safaian, erklingt: rhythmisch treibend, aufwühlend, wiederkehrend wie eine Welle am Strand. Das Publikum hält die Luft an. Die Stille, sie atmet mit. Derselbe Abend spät in der Nacht, ein Club in Berlin. DJ Ben Klock legt Techno und House auf, die Musik ohrenbetäubend laut. Schwitzende Körper tanzen bis in die frühen Morgenstunden. Zwei gegensätzliche ­Szenarien, andere Musikstile und Räume. Dennoch verbindet sie die Vorliebe für Musik. Denn das Interesse an Musik ist weltweit bei 97 Prozent der Menschen deutlich ausgeprägt. Auch wenn der Musikgeschmack unterschiedli­cher nicht sein kann: Rock, K ­ lassik, Jazz, Schlager, Pop und so weiter. Jeder Mensch hat eine ganz eigene Präferenz. Wofür ist Musik gut? Erst einmal fördert Musik die akustische Mustererkennung und das Gedächtnis. Diese Fähigkeit war schon für unsere Urahnen in Zeiten ständiger Bedrohung durch heranschleichende Raubtiere von großer Bedeutung. Das Erkennen akustischer Signale sicherte das Überleben. Wir

können uns das Verhalten unserer Vorfahren in etwa so vorstellen, wie es heute noch ­Murmeltiere tun: Sie warnen ihre Artgenos­sen bei Attacken durch den Adler mit anderen Rufen als bei Angriffen durch einen Fuchs, der sich auf ebener Erde anschleicht. Laute schützen also nicht nur vor Feinden oder ­herannahenden Gefahren, sondern geben auch die Richtung vor, aus der die Gefahr kommen könnte. Die Menschheitsgeschichte hat sich weiterentwickelt, und Musik ist darin tief verankert. Das Geheimnis der im Laufe der Jahrhunderte entwickelten Melodien und Rhythmen beschäftigt heute Evolutionsforscher:innen, Psycholog:innen und Neurowissenschaftler:innen gleichermaßen. Woher aber kommt der unwiderstehliche Sog von Musik, so dass sich Menschen auf den Weg in den Konzertsaal oder in einen Club machen? Eine Antwort scheinen Evolutionsforscher:innen­­gefunden zu haben. Die Wissenschaftler:in­ nen gehen davon aus, dass die Menschheit das Musizieren schon lange vor der Landwirtschaft entwickelt hat, denn manche Funde von Knochenflöten sind älter als 50.000 Jahre. Musik gab es also bereits vor »dem täglich Brot«. Musik hat wohl auch frühzeitig das Zusammengehörigkeitsgefühl von Stammesgruppen gestärkt. Der Psychologe Robin Dunbar (in Altenmüller 2018) von der Universität Liverpool argumentiert, dass

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schon frühe Hominide ihre Gehirne durch gemeinsames Musizieren und Tanzen quasi in beglückenden Endorphinen gebadet hätten – als Äquivalent zum gegenseitigen Lausen von Affen, das zu einer Dopamin-Ausschüttung im Gehirn führt und so soziale Strukturen festigt. Musik könnte damit eine »Endorphin-­ Lücke« schließen, die seit der Entstehung der eher verstandesbetonten Kommunikation durch Sprache entstanden sein könnte. Interessant ist eine weitere Betrachtung: Beim Musikhören und -bewerten ist der höchstentwickelte Teil direkt mit dem entwicklungsgeschichtlich ältesten Segment unseres Gehirns verbunden. Musik schafft es, große Gruppen zu verbinden. Soziale Zugehörigkeit wird auch über Musik definiert. In einem Konzert mit Gleichgesinnten gehen wir in Resonanz, wir bewegen uns im gleichen Rhythmus zur Musik. Wissenschaftler:innen haben erforscht, dass Musik auf allen Ebenen des Gehirns wirkt und damit einen direkten Zugang zu unseren Emotionen besitzt. Emotionen haben evolutionär betrachtet eine große Bedeutung. Sie waren schon lange vor dem Auftreten der Sprache fester Bestandteil der Wahrnehmung und des Verhaltens. Emotionen bewerten erfreuliche wie gefährliche Situationen und prägen sich im Gedächtnis ein. Musik kann zwar nicht alle Emotionen auslösen. So ist es zum Beispiel schwierig, mit Musik Ekel hervorzurufen. Aber sie kann mächtige Emotionen erzeugen und uns Glücksgefühle und Gänsehautmomente bescheren. Viele kennen das Gefühl: Wir spüren einen Schauer und die Haare stehen uns zu Berge. Dabei steigt die Herzfrequenz. Der US-amerikanische Psychobiologe Jaak

»Musik ist die Kurzschrift des Gefühls.« 

Leo Tolstoi

Panksepp nannte dieses Phänomen einen »HautOrgasmus«. Er untersuchte die Reaktionsmuster der Gänsehaut eingehend an der Universität Ohio. In unserem Seelenleben spricht Musik besondere Dimensionen an: Wir werden von einer schönen Melodie tief bewegt, ein ausdrucksstarker Gesang vermag uns zu Tränen zu rühren. Es gibt keine zwei Menschen, bei denen die Nervenzellen im Gehirn beim Hören derselben Musik im gleichen Muster feuern. Jeder Mensch hört und empfindet Musik also auf einzigartige Art und Weise.

Erinnern durch Musik – Erinnern an Musik Emotionen führen zu Erinnerungen, und wenn die Emotionen etwas mit Musik zu tun hatten, kann diese Musik die Erinnerungen auch in einer neutralen Situation wieder wachrufen: Erinnern wir uns an einen schönen Sommerurlaub und an ein bestimmtes Musikstück, das wir abends zur geöffneten Flasche Wein, Brot und Käse am Strand zusammen mit unserem Partner gehört haben. Hören wir diesen Titel nach Jahren wieder, können wir den Wein förmlich schmecken, die Wärme der letzten Sonnenstrahlen und die zärtliche Berührung im Arm unseres Partners spüren. Wir erinnern uns an das Gefühl, das genau mit dieser Stimmung verbunden war. Hierbei handelt es sich um eine Erinnerung durch Musik. Diese Emotion wird also durch das Hören eines bestimmten Musiktitels wieder in uns hervorgeholt.

Kraft und Last der Erinnerungen

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Bevor wir uns an ein Lied erinnern, sind im Gedächtnis hinterlegte Hörerinnerungen nötig, um sich Musik vorstellen zu können. Die Erinnerung an Musik ist komplex, denn wir erkennen ein Lied oft auch wieder, wenn es schneller oder langsamer, in einer anderen Tonart oder statt von einem Piano von einer Gitarre gespielt wird. Das

»Musik ist die Poesie der Luft.« 

Jean Paul

musikalische Gedächtnis kann dabei auch noch nach Jahren einen Fehler in der Melodie erkennen. Jemand summt das Stück, und uns fällt auf, welcher Ton falsch ist. Dass Töne zu Musik werden, ist das Verdienst einer enormen Analyseleistung des Gehirns: Musik fängt nur dann an, überhaupt zu existieren, wenn Vergangenes und Gegenwärtiges in Beziehung gesetzt werden, und dazu bedarf es der Funktion des Gedächtnisses. Musik ist eine Struktur in der Zeit. Betrachten wir einen ganz einfachen Ton: Er ist überhaupt nur dann ein Ton, wenn wir einzelne Augenblicke zusammenfassend begreifen und dadurch den Ton als Ton überhaupt erst erleben. Hätten wir diese Fähigkeit zur Synthese über die Zeit hinweg nicht, so könnten wir keine Töne hören. Bei einer Melodie wird noch deutlicher, dass wir die Töne »online« halten müssen, um sie zueinander in Beziehung zu setzen. Eine Melodie gibt es nur, wenn mehrere Töne zusammen über die Zeit betrachtet werden, und das Erleben von Musik setzt zudem das Wiedererinnern bereits gehörter Strukturen voraus. Musik hat immer eine zeitliche Dimension. In dieser Dimension entwickelt unser Gehirn und unser Geist Vermutungen darüber, was wohl als Nächstes kommt. Diese Vermutungen sind wesentlicher Bestandteil der folgenden musikalischen Erwartung. Aber gute Komponisten arbeiten auch immer mit einer unerwarteten Überraschung wie zum Beispiel Elton John oder Joseph Haydn, der in letzter Sekunde noch einen

überraschenden Akkord einsetzt, einen Akkord, der keine vollkommene Auflösung bringt. Diesen Trugschluss benutzte Haydn sehr häufig. Oder bei Maurice Ravel, der aufgrund einer Schädigung seines linken Cortex keine Tonhöhen mehr wahrnehmen konnte. Dennoch blieben ihm Klangfarben erhalten, und dieses Defizit verschaffte ihm die Inspiration zu seinem wohl berühmtesten Werk, dem Bolero, dessen Faszination sich nur von den Variationen der Klangfarben nährt. Wir haben beim Hören dieses Stücks das Gefühl, dass das Tempo ständig anzieht, weil immer mehr Instrumentenfarben dazu stoßen. Dies ist ein Trugschluss. Allein die Klangfarben verändern für uns gefühlt die Wahrnehmung des Tempos. Resonanzboden der Erinnerung In allen Kulturen entwickeln sich ähnliche Hörbiografien: Zuerst kommen Wiegenlieder, also einfach strukturierte, gut zu singende, getragene Melodien, darauf folgen Kinderlieder, deren Tonumfang schon größer ist und die auch mit einem höheren Tempo vorgetragen werden können. Während der Kindheit und Jugend gelingt es dann, zunehmend komplizierte akustische Strukturen einzuspeichern und beim Hören derartige Muster wiederzuerkennen. Das musikalische Erleben verbindet sich später mit vorhandenen biografischen Erinnerungen. Mit einem »musikalischen Tagebuch« können so auch die Gefühle von damals bewahrt werden. Welche emotionale Beziehung haben Profis zu Musik? Hierzu sagt der deutsche Pianist und Festivalleiter Sebastian Knauer: »Beim aktiven Spielen, aber auch beim Hören von Klassik, bin ich eher weniger emotional besetzt. Da ich beruflich in der klassischen Musik zu Hause bin, höre ich hier anders zu, eher sachlich. Ich bin zwar ein sehr emotionaler Mensch, und natürlich berührt mich

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len nicht berührt, sondern voll konzentriert. Ich bin anschließend berührt durch die Emotionen, die mein Spiel beim Publikum auslöst.« Musik kann einen schlechten Tag zu einem guten machen Eine lange Autofahrt wird mit der richtigen Musik erträglicher, sie kann einen trägen Tag zu einem energetischen machen. Der deutsche Neurowissenschaftler Stefan Kölsch hat in Untersuchungen zeigen können, dass fröhliche Musikstücke wie zum Beispiel das Allegro aus Bachs 4. Brandenburgischen Konzert die Konzentration des Stresshormons Cortisol im Blut verringern kann. Kölsch ist Professor für biologische und medizinische Psychologie an der Universität Bergen in Norwegen. Er forscht zur neuronalen Verarbeitung von Musik und deren Einfluss auf die Gesundheit. Musik kann uns, so hat er mit seinem Team herausgefunden, über die Nervenbahnen vitalisieren, beruhigen und unsere Regeneration fördern. Es muss nur das richtige Musikstück sein, und das empfindet jeder individuell.

Christian Stoll-scaled / Sebastian Knauer

klassische Musik auch in einer gewissen Art. Da aber diese Musik meinen Beruf ausmacht und ich die Klassik nie wirklich im Hintergrund hören kann, kommen gewisse emotionale Momente eher bei anderer Musik auf, zum Beispiel bei Pop, Soul oder Jazz. Mit dieser Musik verbinde ich oft Erinnerungen, die mit Emotionen verbunden waren. Sei es die erste Liebe, das Freiheitsgefühl, zum ersten Mal allein mit dem Auto durch Südfrankreich zu fahren oder mit Freunden ausgelassen zu feiern.« Der griechisch-russische Dirigent Teodor Currentzis vergleicht seine Beziehung zur klassischen Musik mit einem kommunikativen Raum. In der für den Sender Arte produzierten Dokumentation von Andreas Ammer sagt der Chefdirigent des SWR-Symphonieorchesters: »In der Musik tut sich plötzlich ein Raum auf, in dem ich sprechen kann: über meine Liebe, meine Probleme, das Glück und die Einsamkeit«. Sebastian Knauer empfindet sich selbst als ein Medium für den Komponisten. »Ich bin dazu da, die Menschen zu berühren, sie emotional anzustecken durch die Musik. Ich selbst bin beim Spie-

Kraft und Last der Erinnerungen

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Bewusst hören Im Alltag bewerkstelligen wir oft mehrere Dinge gleichzeitig: auf das Smartphone schauen, im Internet surfen, ­Fernsehen gucken, kochen etc. Beim Hören von Musik ist zumindest eine Sache begrenzt, denn wir müssen uns für einen Musiktitel entscheiden, den wir hören möchten. Denn das parallele Abspielen von zwei Musikstücken klingt nicht harmonisch. Zwei Musiktitel erzeugen eine Klangkakophonie. So verhilft uns das bewusste Hören eines Musiktitels zu mehr akustischer Achtsamkeit. Wir lassen uns nur auf eine Sache ein. Allein die Reduktion auf nur eine Sache kann uns entstressen. Wenn Sprache verstummt Musik ist häufig auch als motorisches Programm abgespeichert und wird in rhythmische Bewegungen umgesetzt. Allein schon das Hören der Lieblingsmusik bei Schlaganfallpatient:innen führt zu einer schnelleren Erholung von Aufmerksamkeitssteuerung und Gedächtnisfunktionen. Die richtige Musik kann verschüttete Erinnerungen zurückholen und dem Leben wieder einen emotionalen Halt geben. So eng verwoben scheint Musik mit unserer Biografie, dass sie als emotionaler Kern selbst dann zurückbleibt, wenn die Erinnerungen mehr und mehr verschwinden. Das Langzeitgedächtnis für Musikstücke ist besonders stabil, was man häufig mit der starken emotionalen Wirkung von Musik erklärt, denn bekanntlich prägen sich emotionale Erlebnisse besonders gut im Gedächtnis ein. Hier spielt eine Besonderheit der Alzheimer-Demenz eine wichtige Rolle: Die Nervenzentren, die in der Hörrin-

»Musik hat eine wunderbare Kraft, (…) starke Gemütserregungen in uns wieder wach zu rufen, welche vor längst vergangenen Zeiten gefühlt wurden.«   Charles Darwin

de ­liegen, sind vom Absterben der Nervenzellen erst sehr spät betroffen. Das heißt, selbst wenn die Demenz sehr weit fortgeschritten ist und Sprachfähigkeit und biografisches Gedächtnis weitgehend verloren sind, kann die Musik diese Patient:innen noch erreichen und zur Entspannung oder motorischen Aktivierung beitragen. Mittlerweile gibt es zahlreiche musiktherapeutische Programme, die erfolgreich in Pflegeheimen und Psychiatrien eingesetzt werden. Musik kann auch Depressionen lindern. Das stellten Forscher:innen an Menschen fest, die täglich eine halbe Stunde ihre Lieblingsstücke hörten. Eine gewisse Selbstbehandlung betreibt im Grunde jeder, der sich im Verlauf des Tages mit dem richtigen Song einen kleinen oder größeren Kick verschafft. Eine der grundlegenden Funktionen von Gedächtnis und Musik ist die Ordnungsbildung. Hier hilft uns das Gehirn wiederum, denn das Erkennen von Strukturen beim Hören von Musik führt zur Reduktion von Unsicherheit, und genau dies scheint eine Quelle von Glücksgefühlen zu sein, die für uns mit Musikhören verbunden ist. Besonders deutlich kann sich die ordnungsgebende Fähigkeit von Musik in einer Krise zeigen. Die Struktur, Harmonie und der Rhythmus von Musik können eine unterstützende Intervention in Umbruchzeiten und Krisen bilden. Sprachlosigkeit ist bei Trauer ein großes Thema. Uns bleibt das Wort im Halse stecken, wir weinen, können kaum noch reden. Trauer macht sprachlos.

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Hier kann Musik ein Gefühl ausdrücken, was Sprache nicht vermag. Musik kann somit »sprachmächtige Sprachlosigkeit« sein. Töne verbinden die innere Welt mit der äußeren. Musik schafft Räume für das Fühlen und das Erinnern. So wie der Raum der Elbphilharmonie und der Techno-Club. Musikalische Interventionen und Kraftpotenziale für die Praxis Am stärksten sind die positiven Effekte von Musik, wenn man sich beim Hören auf die Musik konzentriert. Sie können Ihr eigenes Hörerlebnis oder das Ihrer Klient:innen mit eine der folgenden Maßnahmen unterstützen: • Beim Musikhören Kopfhörer verwenden, den Takt der Musik mitklopfen, die Atmung dem Takt der Musik bewusst anpassen, innerlich oder laut mitsingen, summen, zur Musik tanzen. • Wenn Sie immer wiederkehrende negative Gedankenschleifen bemerken, beenden Sie diese umgehend und konzentrieren Sie sich auf Musik. Ein paar Minuten Musik zu lauschen, die für Sie positiv ist, hat bereits einen Einfluss auf die Stimmung und kann positive Botenstoffe im Gehirn auslösen. • Machen Sie es sich zur Gewohnheit, Musik bewusst als Stimmungsaufheller zu nutzen. Gehen Sie spazieren oder wandern Sie mit Musik, verbinden Sie Erlebnisse in der Natur mit Musik. Rhythmus: Wenn Sie spazieren gehen, können Sie Musik in dem von Ihnen bevorzugten Tempo passend auswählen. Zählen Sie dazu Ihre Schritte per Geh-Minute. Sind dies zum Beispiel 90 pro Minute, können Sie bei Youtube Titel mit 90 beats per minute (bpm) finden. Oder verwenden Sie eine App, die als Metronom feststellt, welche Musik Ihrem Gehtempo entspricht. • Die Geräusche der Natur können wie Musik klingen: Entdecken Sie den Rhythmus der

Meereswellen am Strand oder lauschen Sie auf die Obertöne der Vögel im Wald. • Sterbe- und Trauerbegleitung: Welche Musik verbinden Sie/verbindet die Klient:in mit einem besonderen Kraftmoment in Ihrem/in ihrem Leben?  Mit welchem Musikstück möchten Sie/ möchte die Klient:in nach dem Tod in Erinnerung bleiben? • Welche Musik hat schon einmal in Krisenzeiten funktioniert? Mit welcher Musik kann ich mich freudvoll verbinden? Übergangszeiten sind oft krisenbehaftet, dann brauchen wir besonders viel Struktur in unserem Leben. Durch die Struktur in der Musik werde ich gehalten, Musik kann uns wieder eine Ordnung geben. Mit Harmonie, Struktur und Rhythmus können wir uns spürbar wieder in Verbindung mit dem Leben bringen. Die abgebildeten Keramik-Figuren sind von der Hamburger Künstlerin Johanna Beil: www.johanna­beil.de – Die Fotos hat Axel F ­ idelak erstellt.

Ann-Kristin Ruddies wirkte 25 Jahre als Führungskraft in Kultur und Wirtschaft. Seit über 13 Jahren arbeitet sie als Systemische Coachin, Supervisorin und Organisationsentwicklerin (DGSF) in Hamburg und bildet als Dozentin Systemische Coaches aus. Ihr Arbeitsschwerpunkt liegt in der Unterstützung von Einzelpersonen und Organisationen in Krisenzeiten und Veränderungsprozessen. Kontakt: [email protected] Website: www.coach-supervision.de Literatur Altenmüller, E. (2018). Vom Neandertal in die Philharmonie. Warum der Mensch ohne Musik nicht leben kann. Berlin/ Heidelberg. Ammer, A. (2018). Die Sprache unserer Träume – der Dirigent Teodor Currentzis. SWR Classic & Arte. Jourdain, R. (1998). Das wohltemperierte Gehirn. Wie Musik im Kopf entsteht und wirkt. Heidelberg/Berlin. Knauer, S. (2022). Persönliches Interview mit der Autorin per Zoom-Video. Januar 2022. Kölsch, S. (2019). Good Vibrations. Die heilende Kraft der Musik. Berlin. Ortheil, H.-J. (2006). Das Glück der Musik. Vom Vergnügen, Mozart zu hören. München. Pankseep, J. (2004). Affective neuroscience: The foundations of human and animal emotions. Oxford, USA.

Kraft und Last der Erinnerungen

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Kollektives Trauern und Erinnern Wenn uns der Tod fremder Menschen bewegt

Barbara Brauchle »Jeder 11. September ist eine frische ­Wunde,« sagt Steven Ragaglia, Feuermann aus New York, zum 20. Gedenktag von 9/11. Sein Bruder Leonard ist damals beim Einsatz als Feuerwehrmann im World Trade Center gestorben (vgl. Meier 2021, 00.00–00.21). Auch Lara Bothe hat es schwer mit dem öffentlichen Erinnern an die Terroranschläge von 2001: »Das ist eigentlich das, was mir am schwersten fällt, die Bilder einfach um den Tag immer zu sehen. Weil für mich sind’s halt nicht einfach nur die Bilder, sondern die letzten Sekunden im Leben von meinem Papa.« Ihr Vater, Klaus Bothe, starb in einem der beiden Flugzeuge, die ins World Trade Center flogen (vgl. Peter und Remsperger 2021, Folge 4, 23:40–25:45). 2.996 Menschen starben bei den Anschlägen vom 11. September 2001. Tausende Menschen wurden weltweit an diesem Tag zu Hinterbliebenen. Medial haben nur wenige Ereignisse international eine solche Aufmerksamkeit erfahren und Schock, Entsetzen sowie kollektives Trauern in zahllosen Ländern der Welt ausgelöst. »Die Hinterbliebenen sind in ihrer Trauer nicht allein« wurde immer wieder zum Ausdruck gebracht. Weltweit setzten Menschen Zeichen der Anteilnahme. Auch über zwanzig Jahre danach ist 9/11 im kollektiven Gedächtnis. Bewegende ­Gedenkfeiern in den USA, Bilder, Filme und mehr sorgen zu jedem Jahrestag weltweit für kollektives Erinnern. Alljährlich werden aber auch die Hinterbliebenen von 9/11 mit Bildern und kollektivem Erinnern konfrontiert – wo auch immer sie in ihrem

eigenen Trauerprozess gerade stehen. Es ist für sie kaum möglich, dem kollektiven Erinnern zu entkommen. Lara Bothe schildert es als Belastung. Anderen Hinterbliebenen mag das öffentliche Erinnern Trost oder Hilfe sein. Einen wesentlichen Anteil am kollektiven Erinnern zu 9/11 haben Millionen von Menschen, die nicht persönlich betroffen waren. Was bewegt uns, um Menschen zu trauern, die Opfer von Unglücken oder Anschlägen geworden sind, die wir aber persönlich nie kennen gelernt haben? Welche positiven, aber auch problematischen Seiten haben kollektives Mittrauern und Erinnern für Hinterbliebene? Was ist für trauernde Hinterbliebene bei öffentlicher Aufmerksamkeit wichtig? Zum kollektiven Trauern und Erinnern wurde bislang wenig geforscht. Dieser Artikel begibt sich auf die Suche nach Antworten auf diese Fragen. Begriff kollektives Trauern Eine eindeutige Definition des Begriffs »kollektive Trauer« oder ein einheitliches Begriffsverständnis fehlen. Der Psychoanalytiker und Verhaltenstherapeut Ralf T. Vogel sieht »kollektive Trauer« so: »Der Begriff selbst beschreibt zunächst erst mal nur die gesellschaftlichen Äußerungsformen von Trauer, Abschied und Verlust. Dafür braucht es in der Regel ein mediales Interesse, eine politische Willensäußerung und die Betroffenheit einzelner Menschen, die dann ansteckend wirkt. Mit dieser persönlichen Betroffenheit steht und fällt eine kollektive Trauer, die diesen Namen dann auch verdient« (in Ustorf 2021, S. 54).

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Rolle der Medien Diese Begriffsbestimmung greift die zentrale Rolle der Medien für die Entstehung kollektiver Trauer auf. In Printmedien, Rundfunk, Fernsehen und in Online-Varianten werden spektakuläre, erschütternde und berührende Geschichten über die Menschen erzählt, die ihr Leben verloren haben. Wir erfahren Details über ihr Leben, ihre Träume, ihre letzten Stunden und ihr Sterben. Über Tage und oft Wochen werden immer neue Details berichtet. Auch die Hinterbliebenen als persönlich Betroffene, ihre Gefühle und Reaktionen sind im Fokus der medialen Aufmerksamkeit. Medien erfüllen dabei nicht nur ihre Informationspflicht und tragen zur Meinungsbildung bei, sondern werden über das öffentliche Erinnern zum Impulsgeber für kollektive Trauer. Dazu gehört, dass Zeichen kollektiver Anteilnahme (Kerzen, Blumen etc.) in Medien gezeigt werden, was

National September 11 Memorial, World Trade Center, Manhattan, New York City / akg-images / Mel Longhurst

Einen wesentlichen Anteil am kollektiven Erinnern zu 9/11 haben Millionen von Menschen, die nicht persönlich betroffen waren. Was bewegt uns, um Menschen zu trauern, die Opfer von Unglücken oder Anschlägen geworden sind, die wir aber persönlich nie kennen gelernt haben?

Weitere zum Mittrauern und zum Ausdruck von Verbundenheit einlädt. Emotional aufgeladene Geschichten nehmen – je nach Ereignis – Millionen von Menschen mit in eine Welle kollektiver Trauer. Bei den Medien sorgen bewegende Geschichten zu Sterben, Tod und Trauer verlässlich für Auflage, Quote, Clicks etc. und sind damit wichtige Wirtschaftsfaktoren. Diese wirtschaftliche Bedeutung »guter« Geschichten und Bilder kann für Hinterbliebene zur Belastung und manchmal zum Albtraum werden. Neben den traditionellen Medien (Print, Rund­ funk, Fernsehen) gewinnt Social Media für kollektive Trauer und kollektives Erinnern zunehmend an Bedeutung. Besonders junge Menschen wählen den Weg, ihre Trauer über soziale Netzwerke auszudrücken und zu teilen. Auf Social-MediaPlattformen wie Facebook und Instagram werden Bilder von Verstorbenen, Videos und Textbeiträge zur Erinnerung veröffentlicht. Hier können Hin-

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terbliebene und Mittrauernde schnell und rund um die Uhr aktiv Inhalte einbringen, in den Austausch gehen und mitgestalten. Anders als bei herkömmlichen Medien müssen sie keine passi� ve Rolle einnehmen. Perspektive der Hinterbliebenen – Positive und problematische Aspekte kollektiven Trauerns und Erinnerns Eine große öffentliche Anteilnahme kann Trost spenden und Kraft geben, zum Beispiel für Hinterbliebene von politisch motivierten Gewalttaten. Wenn viele das erlebte Leid teilen, kann eine so große Gemeinschaft in schweren Stunden wohltuend sein. Verstorbene werden durch die Medien bekannt, und durch Gedenktage bleiben sie und ihre Geschichte im Gedächtnis. So wurden zum 20. Jahrestag von 9/11 wieder alle Namen der Menschen vorgelesen, die bei den Anschlägen 2001 ihr Leben verloren hatten. Je nach Bedeutung des Ereignisses haben auch Hinterbliebene die Möglichkeit, über ihre Verstorbenen in den Medien zu sprechen und von ihrem eigenen Weiterleben seit dem Verlust zu berichten. Bei guten Rahmenbedingungen kann ein solcher Weg Trauernden helfen. Aber kollektive Trauer kann in Verbindung mit medialer Aufmerksamkeit auch sehr problematische Seiten entwickeln. Annika Sondenheimer hat solche Erfahrungen gemacht:

koco / photocase.de

Am 24. März 2015 war ihr Ehemann als Flugkapitän auf dem Germanwings-Flug von Barcelona nach Düsseldorf, als der Co-Pilot das Flugzeug in den französischen Westalpen zum Absturz brachte. 150 Menschen starben. Anfangs war die Absturzursache nicht klar, und Annika Sondenheimer musste mit dem Gedanken leben, dass ihr Mann vielleicht einen Fehler gemacht haben könnte. In dieser Zeit wurde das Haus der Familie von Journalist*innen aus der ganzen Welt belagert. Es sei die

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schlimmste Zeit in ihrem Leben gewesen (vgl. Rosenkranz 2020, 05:34–10:20). Beim Absturz dieses Germanwings-Flugzeugs starben auch 14 Schülerinnen und Schüler sowie zwei Lehrende des Joseph-KönigGymnasiums in Haltern am See. Sie waren auf dem Rückflug von einem Schulaustausch in Barcelona. Mika Baumeister war damals Schüler an dieser Schule und kannte beide Lehrende und einige der getöteten Schülerinnen und Schüler. In seinem Blog schilderte er seine Eindrücke und Erfahrungen mit den Medien in den Stunden und Tagen nach dem Absturz. Das internationale Medienaufgebot sprengte dort alle Erwartungen und machte einen geschützten Raum für Trauernde kaum möglich. Schon auf dem Weg zur Schule soll befragt und gefilmt worden sein. Schülerinnen und Schülern soll Geld für Interviews angeboten worden sein, und Journalist*innen sollen an Türen betroffener Familien geklingelt haben (vgl. Baumeister 2015). Eigentlich steckt der Pressekodex des Deutschen Presserats den medialen Rahmen in »Richtlinie 11.3 – Unglücksfälle und Katastrophen« klar ab: »Die Berichterstattung über Unglücksfälle und Katastrophen findet ihre Grenze im Respekt vor dem Leid von Opfern und den Gefühlen von Angehörigen. Die vom Unglück Betroffenen dürfen grundsätzlich durch die Darstellung nicht ein zweites Mal zu Opfern werden« (Deutscher Presserat 2021). Die beiden Beispiele zum Germanwings-Absturz zeigen, dass durch kommerzielle Interessen, durch die Suche nach Sensationen, nach der »guten Geschichte« oder dem ultimativen Bild der Pressekodex schnell aus dem Blick geraten kann. Die Übergänge zur Sensationsgier sind fließend. In der Folge des Medien-Hypes geriet die Medienberichterstattung zum GermanwingsAbsturz in die öffentliche Kritik. Der Deutsche Presserat hatte dazu Hunderte Beschwerden zu bearbeiten.

Kollektives Trauern und Erinnern – Beweggründe Was bewegt uns, solche Medieninformationen zu konsumieren und um Menschen zu trauern, die Opfer von Naturkatastrophen, Unglücken oder Anschlägen geworden sind, die wir aber persönlich nicht kannten? Durch unser Mittrauern können wir Betroffenheit, Solidarität mit Angehörigen und Verbundenheit ausdrücken und uns zum Beispiel gegen politisch motivierte Taten positionieren. Durch Mittrauern werden wir aber auch Teil einer Trauergemeinschaft, die sich im Schock eines Ereignisses verbindet. Wir können eine Gemeinschaft auf Zeit erleben – verbunden durch Posts in Social Media, durch die traditionellen Medien, durch die entzündeten Kerzen oder die niedergelegten Blumen. Nicht nur Ereignisse wie 9/11 mit derart historischer Tragweite, sondern auch tödliche Unfälle auf einer Landstraße können Orte in wenigen Stunden zu Orten kollektiven Trauerns und Erinnerns machen. Auch der Tod von Prominenten wie David Bowie, Lady Diana oder Robert Enke löst immer wieder Wellen kollektiven Trauerns und Erinnerns aus. Welche weiteren Erklärungen gibt es für die Bereitschaft, kollektiv um Fremde zu trauern und an sie zu erinnern? Sterben, Tod und Trauer begegnen uns ständig in den Medien – in Nachrichten, Krimis, Krankenhaus-Serien. Im Privaten dagegen sind Sterben, Tod und Trauer tendenziell ein Tabu. Ralf T. Vogel sagt dazu: »Wir haben es beim Thema Tod in unserer Gesellschaft also mit einer Paradoxie zu tun. Wir sind trainiert auf Verfügbarkeit und Zugriff auf alles. Doch durch den Tod werden wir mit Unkontrolliertheit konfrontiert, mit Unergründbarkeit, mit Unverfügbarkeit, was uns als Gesellschaft nicht behagt. Denn alles, was wir von uns fernzuhalten versuchen – die Ohnmacht, Vergänglichkeit, die generelle Unberechenbarkeit und Ungewissheit der menschlichen Lebenserfahrung –, das steht uns im Todesthema

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gegenüber. Aus diesem Grund haben wir es trotz unserer medialen Todesfaszination auf einer individuellen Ebene mit einer anhaltenden Verleugnung zu tun, einer fast aggressiv-feindseligen Haltung gegenüber allem, was mit dem Tod in Verbindung steht, besonders dann, wenn er in unserer Nähe auftaucht« (in Ustorf 2021, S. 53). Oft fehlt es auch an persönlichen Erfahrungen in den Familien. Sterben findet viel in Institutionen statt. Die Folge sind Berührungsängste und Unsicherheit – auch im Umgang mit Trauernden. Kollektives Trauern um Fremde ermöglicht – wenn auch auf eine indirekte Weise – die Auseinandersetzung mit der Endlichkeit. K ­ atastrophen und Unglücke lassen Fragen aufkommen wie: Was, wenn es mich getroffen hätte? Mittrauern um Fremde kann darüber hinaus ein emotionales Üben für eigene Verlusterfahrungen ermöglichen – ohne dass persönliche Konsequenzen entstehen. Was wäre, wenn mein liebster Mensch im abgestürzten Flugzeug gesessen hätte? Wie wäre mein Leben dann? Mittrauern kann aber auch als Ventil hilfreich sein, eigene – eventuell unterdrückte – Verlust­ erfahrungen zu verarbeiten und bereits vorhandene Gefühle zu leben. Trauernde brauchen Schutz Alle möglichen Beweggründe für kollektive Trauer dürfen nicht dazu führen, dass Hinterbliebene in den Medien vorgeführt werden und dadurch Erinnerungen entstehen, die zur Belastung werden. Als Trauernde, die im Licht der Öffentlichkeit stehen, haben sie es ohnehin nicht leicht, ihre eigene Trauer ohne Störung von außen für sich stimmig zu leben. Überraschend können ihnen in den Medien schmerzhafte Bilder und Texte begegnen oder neue Erkenntnisse. Zeitpunkt und Inhalte können sie in der Regel nicht beeinflussen. Auch sind die Umstände von Todesfällen, die mediale Aufmerksamkeit erreichen und kollektive Trauer auslösen, in der Regel ohnehin dramatisch und machen das Begrei-

fen schwer – ein Anhaltspunkt für mögliche erschwerte Trauerverläufe. Trauernde brauchen Schutz – Schutz vor Kameras, Trauma-sensible Kommunikation (vgl. dazu auch Deinyan 2020) und vor allem geschützten, intimen Raum und Zeit für ihre Trauer und ihre ganz persönlichen Erinnerungen. Barbara Brauchle ist Diplom-Erwachsenenpädagogin. Ihr Herzensthema ist, Lernen von Menschen zu ermöglichen. Sie arbeitet als Systemischer Coach, ­Teamcoach, Gesundheitscoach und Trau­­erbegleiterin in Hamburg. Kontakt: [email protected] Quellen Baumeister, M. (2015). Umgang der Medien mit Schülern und Angehörigen in Haltern (Online, Blog von Mika Baumeister). https://meistergedanke.de/2015/umgang-der-medienmit-schuelern-und-angehoerigen-in-haltern/43 (Zugriff am 27.10.2021). Deinyan, M. (2020). Mein Blick auf den Journalismus. Balance zwischen Empathie und Distanz (Online, Journalist.de). https://www.journalist.de/startseite/detail/article/balancezwischen-empathie-und-distanz (Zugriff am 27.10.2021). Deutscher Presserat (2021). Pressekodex. Ethische Standards für den Journalismus (Online). Verfügbar unter: https:// www.presserat.de/pressekodex.html?file=files/presserat/ dokumente/pressekodex/Presse-kodex_Leitsaetze_RL12.1.pdf (Zugriff am 27.10.2021). Meier, C. (2021). Die Story im Ersten: Die Kinder von 9/11. Aufgewachsen im Schatten des Terrors (Film, DAS E ­ RSTE (ARD)), 00.00–00.21. https://www.daserste.de/information/ reportage-dokumentation/dokus/videos/die-kinder-von911-video-100.html (Zugriff am 27.10.2021). Peter, J.; Remsperger, D. (2021). Dokumentarfilm im Ersten: Deutschland 9/11. Folge 4: Im Krieg (Film, rbb, ARD-Mediathek), 23:40–25:45. https://www.ardmediathek.de/sendung/deutschland-9-11/Y3JpZDovL3JiYi1vbmxpbmUu ZGUvZGV1dHNjaGxhbmQtOS0xMQ/  (Zugriff am 27.10.2021). Rosenkranz, J. (2020). Menschen hautnah: Fünf Jahre nach dem Germanwings-Absturz. Unser Leben ohne Dich (Film, WDR,YouTube), 05:34–10:20.https://www.bing.com/videos/ search?q=Menschen+hautnah%3a+F%c3%bcnf+Jahre+ nach+dem+Germanwings-Absturz&&view=detail&mid=C C33ABF849B8AB1549EECC33ABF849B8AB1549EE &&FORM=VRDGAR&ru=%2Fvideos%2Fsearch%3Fq%3 DMenschen%2520hautnah%3A%2520F%25C3%25 BCnf%2520Jahre%2520nach%2520dem%2520Ger­manwings-Absturz%26FORM%3DVDVVXX (Zugriff am 27.10.2021). Ustorf, A.-E. (2021). Du weißt weder Tag noch Stunde. In: Psychologie Heute Compact »Trauer und Verlust. Was wir verlieren. Wie wir trauern. Was uns tröstet«, Heft 64, S. 52–55.

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Die Erinnerungen gehören uns Verena Kast

Der Reichtum unserer Erinnerungen Die Erinnerungen an das gelebte Leben gehören uns – man kann man sie uns nicht nehmen. Das Schicksal hat keinen Zugriff auf die Vergangenheit. Rückwirkend müssen wir nicht mit einem Schicksalseinbruch rechnen, unser gelebtes Leben wird nicht, wie etwa einer unserer Zukunftsentwürfe, plötzlich über den Haufen geworfen, weil etwa eine Pandemie herrscht. In unseren Erinnerungen sind wir sicher, außer wir verlieren die mentalen Fähigkeiten, uns zu erinnern. Wir haben aber dennoch eine gewisse Freiheit unseren Erinnerungen gegenüber. Wir können die Erinnerungen zwar nicht einfach umschreiben, Fakten bleiben Fakten, aber diese können wir in einem unterschiedlichen Licht wahrnehmen und bewerten. Das liegt in unserer Verantwortung und ereignet sich oft im Teilen der Erinnerungen mit anderen – und je nachdem, wie wir unsere Erinnerungen sehen, spüren wir unser gelebtes Leben als Ganzes. Gelebtes Leben – das ist ein Reichtum, und dieser Reichtum ist uns in den Erinnerungen zugänglich. Erinnerungen, in denen man auch kramen kann, sind ein Schatz. Sie machen unsere Identität aus. Wir können uns immer wieder auf emotional wichtige vergangene Situationen beziehen und sie uns vergegenwärtigen. Erinnern wir uns an den Apfelkuchen, den die Großmutter gebacken hat – an den ganz speziellen Duft, der das ganze Haus durchzogen hat, und an den damaligen Duft bei ihr überhaupt. Durch das Erinnern wird das Erleben damals mit der Großmutter lebendig, man ist zufrieden, gleichzeitig auch traurig und sehnsüchtig. Man erlebt in der Vorstellung, wie geborgen man damals war – vielleicht auch etwas idealisierend. Solche

Erinnerungen, wenn sie denn emotional sind, haben einen großen Einfluss auf das Selbsterleben, es ist eine Emotion, die unsere Stimmung zum Besseren hin verändert. Es ist eine positive getönte Erinnerungsspur an gelebter Vergangenheit – Freude und Trauer sind beide erlebbar: Freude über das Gewesene, Trauer über das Verlorene, Hoffnung, dass auch im Jetzt und in der Zukunft ähnliche gute Erfahrungen möglich sind (Sedikides und Wildschut 2006, S. 11). Sedikides und Wildschut stellten in Studien fest, dass wir Menschen mehr positive Gefühle wahrnehmen als negative, wenn wir über unsere nostalgischen Erfahrungen schreiben, und dies ganz besonders, wenn wir uns die Erinnerungen vergegenwärtigen. Dann sind diese wieder präsent, sind ganz in unserem Gefühl: Wir freuen uns an ihnen – oder aber wir tragen schwer daran oder eben beides. Unser Gedächtnis ist kreativ-konstruktiv Unsere emotionale Stimmung entscheidet darüber, was wir von dem vielen, was wir erinnern könnten, aktuell erinnern. Sind wir in einer freudigen Stimmung, erinnern wir eher freudige Situationen, in einer ärgerlichen Stimmung eher ärgerliche. Ereignisse, die uns emotional sehr berührt haben, erinnern wir besser. Wollen wir auch beglückende Erlebnisse erinnern, oder hängen wir an unseren unglücklichen Erinnerungen? Aber auch: Je nachdem, mit wem wir unsere Erinnerungen teilen, verändern sie sich leicht, bekommen eine etwas andere Färbung. Sind andere Menschen interessiert? Können sie zuhören? Ist uns dieser Mensch wichtig? Wie möchten wir uns vermitteln? Und: Verstehen wir es zu erzählen oder informieren wir andere Menschen einfach?

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Erzählen – die Macht der Vorstellungskraft Gutes Erzählen ist auch gutes Erinnern. »Stell dir vor, was mir eingefallen ist …« – so beginnen wir in der Regel eine Erzählung von etwas, das uns bewegt hat. Wir fragen, ob wir erzählen dürfen, rekurrieren aber bereits auf die Vorstellungskraft des anderen. Indem wir uns eine Situation bildhaft vorstellen – auch eine Situation in der Vergangenheit –, vergegenwärtigen wir uns diese Situation und sie ist auch emotional wieder präsent. Ohne unsere Vorstellungskraft, die wir alle haben, könnten wir uns weder erinnern, noch könnten wir etwas für die Zukunft planen. Stellen wir uns für einen Moment vor, wie das Leben wäre ohne unsere Vorstellungskraft: Wir hätten keine Dichtkunst, keine Malerei, keine Musik, könnten nicht Probleme lösen, uns nicht in andere hineinversetzen, könnten uns weder erinnern noch planen – und diese Übung könnten wir auch nicht machen.

Die Vorstellungskraft können wir nützen: Wir können uns vergangene Situationen ganz lebendig vorstellen, mit allen unseren Sinnen – mit unserem inneren Ohr, unserem inneren Auge, unserem inneren Hören, Spüren und so weiter. Je plastischer wir uns in vergangene Situationen hineinversetzen, umso emotionaler wird die Situation, umso mehr betrifft sie uns ganz direkt. Das nenne ich »vergegenwärtigen«. Es ist dann, als wäre man noch einmal dort – aber man ist auch ganz da, im Hier und Jetzt. Es geht in keiner Weise um das Suhlen in der Vergangenheit. Und wenn wir einander etwas erzählen, dann teilt man miteinander einen gemeinsamen Erzählraum, der auch ein gemeinsamer Vorstellungsraum ist – und in diesem Raum kann sich die Sicht auf Vergangenes verändern, versöhnlicher werden, neue Pläne können entstehen. Im Rahmen der Verarbeitung von Trauer wird viel »Erinnerungsarbeit« geleistet.

Gelebtes Leben – das ist ein Reichtum, und dieser Reichtum ist uns in den ­Erinnerungen zugänglich.

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D i e E r i n n e r u n g e n g e h ö r e n u n s    2 1

Eine trauernde Frau erzählt: »Mit meinem Partner war ich so oft in den Bergen. Wir haben dafür gesorgt, dass wir ›wasserdicht‹ angezogen waren, ein leichtes Zelt, den notwen­ digsten Proviant dabeihatten, und dann sind wir losgezogen. Wir sind dorthin, wo es uns hingezogen hat. Das ging natürlich nicht immer gut. Stellen Sie sich vor: Da wurde es Nacht, wir waren zu hoch oben in den Bergen, es begann zu stürmen. Absteigen ging nicht mehr – man sah nichts mehr. Und dann haben wir das kleine Zelt aufgestellt und gehofft, dass unser beider Gewicht es am Boden halten möge. Wir haben schon noch versucht, eine gute Stelle zu finden. Und da waren wir dann einfach – und haben auf den Morgen gewartet. Es war eine beunruhigende und sehr schöne Situation – wir miteinander. Und das habe ich nicht mehr. Aber das habe ich gehabt. Dieses Vertrauen in die Spontaneität – das Vertrauen, dass man auch schwierige Situationen meistern kann. Wenn ich so daran denke, dann spüre ich, dass ich auch allein wieder etwas spontaner sein könnte – diese Fähigkeit und die Freude daran wurde doch im Zusammensein mit meinem Partner auch in mir geweckt. Das will ich jetzt nicht verloren geben …«

dert sich auch nichts. Ohne Emotion verändern wir uns nicht. Und wir fühlen uns auch nicht lebendig. Aus Forschungen wissen wir, dass gerade im Zusammenhang mit schwierigen Erinnerungen diese verallgemeinert werden, sie legen sich dann über das ganze Leben (Holmes et al. 2016, S. 258 ff.). »Alle haben es schon immer schlecht mit mir gemeint«, »Ich kann mich an gar keine positiven Erfahrungen erinnern«, »Mir geht es schlecht, und es wird mir immer schlecht gehen« und in der Folge ängstigt man sich auch wegen allem, was die Zukunft bringen wird. Solche verallgemeinernden Aussagen lassen keine Veränderung zu. Holmes hat nachgewiesen, dass zum Beispiel bei Menschen, die an Depressionen leiden, solche verallgemeinernden Aussagen häufig anzutreffen sind. Gelingt es, spezifische Erinnerungen hervorzurufen, indem man anregt, vorstellungsbezogen Episoden aus dem

Unterschied von Information zu vorstellungsbezogenem Erzählen

ju_see / Shutterstock.com

Beim vorstellungsbezogenen Erzählen werden unsere Emotionen und die wahrgenommenen Emotionen, die Gefühle spürbar – wir spüren, dass das Erinnerte uns etwas angeht, uns berührt und uns dazu bringt, neu über das Erlebte nachzudenken – dankbar vielleicht, vielleicht aber auch, indem wir eine neue Wertung vornehmen. Vor allem aber erleben wir uns als lebendig. Informieren wir einander nur, dann haben wir zwar viele Fakten – und es geht auch wesent­ lich schneller als das Erzählen, aber es berührt nicht unser Gemüt, es berührt nicht, weder einen selbst noch die anderen, und dadurch verän-

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gelebten Leben zu erzählen, werden diese Erinnerungen spezifisch und können auch verändert werden. Zudem ist nachgewiesen, dass Menschen, die bildhaft emotionale Vorstellungen haben, eher positive Emotionen spüren, wer eher sprachlich abstrakt informiert, hat eher negative (Fox et al. 2018). Auch wenn Menschen, die an Depressionen leiden, meinen, nur negative Erinnerungen zu haben, haben sie doch auch positive, wenn man sie danach fragt. Schreiben sie über eine Woche verteilt jeden Abend eine positive Erinnerung – vorstellungsbezogen – auf, werden die depressiven Symptome reduziert und die depressiven Wahrnehmungen von Situationen werden weniger, ihre Stimmung verbessert sich deutlich. (Holmes et al. 2016). Das gilt aber nicht nur für Menschen mit depressiven Zügen; es gilt überall dort, wo wir generalisierend erinnern. Auch unsere Ängste verführen uns dazu, nicht präzise hinzusehen, was denn aktuell Angst ausgelöst hat, sondern man ängstigt sich generell und umfassend. Man spricht dann von einer generalisierten Angst statt von einer präzisen Situation, mit der man umgehen kann und auch umgehen muss. Also nicht einfach: Ich habe so eine wahnsinnige Angst, sondern: Welche Vorstellung ängstigt mich jetzt besonders und wie kann ich damit umgehen, wie bin ich früher damit umgegangen? Was zählt, ist das gelebte Leben Es gibt auch eine Kunst der Erinnerung. Voraussetzung dafür sind ein freundlicher Blick auf das eigene Leben und die Fähigkeit, das wertzuschätzen, was war, die Wegmarken unseres gelebten Lebens. Es gilt dabei nicht, nach großartigen Situationen zu suchen, die dürfen natürlich auch sein, aber auch nicht, sich zu grämen über das, was nicht war und was wohl auch nicht mehr möglich sein wird, sondern sich einfach noch einmal in verschiedene Situationen des Lebens vorstellungsmäßig zu vertiefen – und wenn möglich, sich mit anderen darüber auszutauschen, die sich

vergleichbare Situationen in ihrem Leben auch vergegenwärtigen (Kast 2010). So erzählt sich eine kleine Gruppe älterer Menschen, wie sie einen Lebensübergang bewältigt haben. Sie versetzen sich imaginativ in diese Zeit zurück, »sehen« sich mit dem inneren Auge, wie sie damals ausgesehen haben, wie die Welt um sie herum war, welche Menschen wichtig waren. Was hat geholfen? Wer hat geholfen? Wem bin ich dankbar? Über diese Vorstellungen und Erkenntnisse wird sich ausgetauscht, soweit man das möchte – die anderen hören zu. Eine Folge dieser Übung ist es, dass den Teilnehmenden deutlich wird, dass sie schon einige Lebensübergänge gut bewältigt haben, einige sprechen sogar davon, dass sie Krisenkompetenz haben – und dass diese Erfahrung sie ermutigt: Warum sollten kommende Krisen nicht auch zu bewältigen sein? Prof. Dr. phil. Verena Kast, Studium der Psychologie, Philosophie und Literatur, Promotion in Jungscher Psychologie. Sie war Professorin für Psychologie an der Universität Zürich und ist Dozentin und Lehranalytikerin am dortigen­­ C.-G.-Jung-Institut. Kontakt: [email protected] Website: www.verena-kast.ch Literatur Fox, K. C. R.; Andrews-Hanna, J. R.; Mills, C.; Dixon, M. L.; Markovic, J.; Thompson, E.; Christoff, K. (2018). Affective neuroscience and self-generated thought. In: Annals of the New York Academy of Sciences, S. 1–27. Holmes, E. A.; Blackwell, S. E.; Burnett Heyes, S.; Renner, F.; Raes, F. (2016). Mental imagery in depression: Phenomenology, potential mechanisms, and treatment implications. In: Annual Review of Clinical Psychology, 12, S. 249–280. Kast, V. (2010). Was wirklich zählt ist das gelebte Leben. Die Kraft des Lebensrückblicks. Freiburg. Sedikides, C.; Wildschut, T. (2006). Self and affect: The case of nostalgia. In: Forgas, J. P. (Hrsg.), Affect in social think­ ing and behaviour: Frontiers in social psychology. New York.

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Erinnerungen: Erzählt. Gewürdigt. Hinterlassen Einblicke in die Würdezentrierte Therapie

Andrea Züger und Swantje Goebel Wie werden wir einmal sterben? Was wird uns dann erwarten? Und was fürchten wir? Vermutlich sind uns diese Fragen heute näher als vor zwei Jahren. Unsere Bilder im Kopf sind dramatisch. Allein in Deutschland gab es hunderttausend Corona-bedingte Sterbeverläufe (Stand November 2021). Dazu die Sterbeverläufe anderer Ursachen, die Corona-bedingt ebenfalls als dramatisch zu bewerten sind. Ein Schreckensszenario – und das auch, weil der Corona-Tod uns genau das vorführt, was wir eindringlich fürchten, wenn wir den eigenen Tod antizipieren: ein menschenunwürdiges Sterben. Unsere Furcht vor dem Sterben ist nicht Corona-neu, und sie ist nicht Corona-spezifisch. Sie ist spezifisch für unsere Todesgegenwart insgesamt; sie verrät viel über unsere Haltungen gegenüber Krankheit und Leiden, Gebrechlichkeit, Alter und Sterben. Was also erwartet uns? Aller Statistik nach erleben wir heute ein spätes und langes Sterben. Bedingt durch einen langwierigen Krankheits­ verlauf, einhergehend mit komplexer Symptomlast. Vielleicht werden wir am Ende pflegebedürftig, auf Hilfe angewiesen sein. Und damit vielfältig herausgefordert, durch immer weitere Einschränkungen und Verluste. Sterben bedeutet heute meist ein schrittweises Verabschieden aus der Welt. Irgendwann ist gewiss, dass der Tod absehbar kommen wird; doch wann genau, bleibt unabsehbar. Wie mag es uns in diesem Prozess ergehen? Schwer vorauszudenken. Was wir aber von anderen wissen: Manche Menschen kommen in dieser Situation an einen Punkt, an dem sie sich selbst nur noch als Träger*in eines beschädigten Organs oder Tumors wahrnehmen

und nicht mehr als vollumfängliche Persönlichkeit. Manche Menschen entwickeln dann einen Sterbewunsch. Und sie entwickeln ihn als Reaktion darauf, dass sie existenzielles Leid empfinden. Menschen, die absehbar sterben werden, können durch ihre Erkrankung so herausgefordert sein, dass sie nicht mehr leben wollen. Dies ist ein drastischer Kausal­zusammenhang. Und drastisch ist auch, wie der Sterbewunsch begründet ist! Er referiert auf die Grundverfasstheit des Menschen, auf die Würde: Das Gefühl, die eigene Würde verloren zu haben, kann dazu führen, dass Menschen nicht mehr leben wollen. Würde wiegt für Betroffene stärker als etwa symptombegründete Belastungen. Das zeigen zahlreiche Studien, exemplarisch eine der ersten aus den Niederlanden von van der Maas et al. (1991), der Ärztinnen und Ärzte um retrospektive Einschätzung bat, warum Palliativpatient*innen Sterbehilfe wünschten. Demnach lag Würdeverlust mit 57 Prozent auf Platz eins, vor Schmerzen. Würde bis zum Schluss Vor diesem Hintergrund wurde die Würdezentrierte Therapie (WzT) vom kanadischen Psychiater Harvey Max Chochinov und Team forschungsbasiert entwickelt (Chochinov 2017). Als psychologische Intervention für Palliativpatient*innen zielt sie darauf, Betroffene in ihrem Würdeerleben zu stabilisieren und für ihren weiteren Weg zu stärken, indem die Wertschätzung für das eigene Leben erhöht und die Sinnfindung unterstützt wird. Dies geschieht mithilfe eines Interviewgesprächs. Unterstützt durch Nachfragen, werden bedeutsame Erinnerungen erzählt und bespro-

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chen sowie Wünsche und Anliegen für die nahe�stehenden Menschen formuliert. Das Gespräch wird aufgezeichnet, verschriftlicht, vorgelesen, gegebenenfalls überarbeitet und schließlich als gebundenes Dokument dem Patienten oder der Patientin übergeben. Die Wirksamkeit dieser Intervention ist gut belegt (zum Beispiel Chochinov et al. 2011; Fitchett et al. 2015; Juliao et al. 2017; Houmann et al. 2013; Mai et al. 2018; McClement et al. 2007; Montross et al. 2013). Das bestätigen auch die Erfahrungen der inzwischen zahlreichen Fachkräfte, die die Würdezentrierte Therapie im deutschsprachigen Raum in ihren, meist hospizlich-palliativen, Settings anbieten. Im Folgenden werden drei Praktiken der WzT genauer beleuchtet: das Erzählen und Vorlesen im Rahmen der Intervention sowie später das Lesen des Dokuments durch die Angehörigen.1 Die WzT stärkt Schwerstkranke in ihrem Würdeempfinden. Einer der Wirkfaktoren ist das Beziehungsgeschehen im Rahmen der WzT, schließlich findet Selbstvergewisserung hier über das Erzählen zu einem Gegenüber statt. Entsprechend bedeutsam sind die Grundhaltung und Präsenz der behandelnden Person. Gerade Menschen in Not sind darauf angewiesen, dass wir ihnen als Persönlichkeit begegnen. So gilt der Satz des jüdischen Religionsphilosophen Martin Buber auch hier: »Der Mensch wird erst am Du zum Ich« (1923/2008, S. 3). Das Erzählen in der WzT ist nicht nur wirkmächtig, weil Begegnung stattfindet, sondern weil Begegnung in der Gegenwart stattfindet. Oft dreht sich der klinische Alltag prioritär um Anamnese und Prognose, doch die Gegenwart bleibt auf der Strecke. Auch wenn autobiografisches Erzählen zwangsläufig die Vergangenheit thematisiert, ist mündliches Erzählen durch und durch an die Gegenwart gebunden und macht Gegenwart erfahrbar. Und diese Erfahrung des Lebens im Hier und Jetzt ist nach Chochinov einer jener Aspekte, der würdebewahrende Wirkung haben kann; denn: »Im Hier und Jetzt aufzugehen kann großen Trost spenden, Mo-

mente mitmenschlicher Begegnung ermöglichen, Liebe, Feierlichkeit, Humor, Zuspruch und mitunter auch Versöhnung« (Chochinov 2017, S. 47). Nachdem die Erzählung transkribiert und editiert wurde, lesen die verantwortlichen Therapeut*innen diese den Patient*innen vor. Das Hören der eigenen Lebenserzählung durch eine andere Stimme ermöglicht Distanz. Bedingt durch diese Distanz eröffnet das Vorlesen eine mögliche Kohärenzerfahrung; eine Erfahrung des Verbundenseins, Verwachsenseins, ein Insich-Zusammenhängen. So äußerte sich eine Patientin auf die Frage, wie sie das Vorlesen erlebt habe: »Es hat sich rund angefühlt!« Nicht nur die Erzählung kann so als in sich zusammenhängend erfahrbar werden, sondern auch Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Denn im Moment des Vorlesens fallen Lebensrückblick, Gegenwart und Zukunft (erzählte Wünsche für die Angehörigen) zusammen. So bedeutet »Es hat sich rund angefühlt« vielleicht auch, das erzählte vergangene Leben und die erzählten Zukunftswünsche mit der Gegenwart zu verbinden und festzustellen: Alles ist miteinander verwachsen, hat Bestand, ist in sich rund – wer ich war, wer ich bin und wie ich in Erinnerung behalten werden möchte. Nicht zuletzt ermöglicht das Hören der eigenen Lebensgeschichte einen Zugang zu jenem Wunsch, der oft so bedeutsam am Lebensende ist: der Wunsch, dass etwas von einem bleibt, im Anderen, in der Welt. So kann das laute Lesen als »Verlebendigung von Geschriebenem« (Berti et al. 2005, S. 641) beschrieben werden. Durch die Stimme der Lesenden bekommt das Geschriebene eine Gestalt. Es kommt beim Lesenden auch zu einer »Inkorporation« (Fischer-Lichte 2012, S. 135) des Gelesenen, das »somatische – physiologische, emotionale, energetische – Wirkungen aus[löst]« (S. 138). So beschreibt eine Patientin das Hören ihrer Erzählung folgendermaßen: »Es war wie ein Zwischenstadium. Es war mein Leben, aber nicht mehr meine eigene Stimme, aber ich war noch dabei. Ich konnte mir vorstellen, wie es sein wird, wenn ich nicht mehr bin und mein

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Vincent van Gogh, Flowering almond branch in a glass with a book, 1888 / Photo © Christie’s Images / Bridgeman Images

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Sohn lesen wird. Das macht dann vielleicht auch was mit ihm und ich bleibe ein bisschen in ihm.« Das Hören respektive Rezipieren dieser Verlebendigung und Inkorporation lässt ein Imaginieren zu. Die Möglichkeit, Inkorporation und Verkörperung der eigenen Lebensgeschichte zu beobachten, kann am Lebensende Gewissheit geben, dass man nicht vergessen wird und in den Erinnerungen der nächsten Generation weiterlebt.

Trost für die Angehörigen Während die obigen Ausführungen sich auf die Patient*innen konzentrieren, steht nun jener Teil der WzT im Zentrum, der Angehörige unterstützen soll. Der Tod eines geliebten Menschen hinterlässt oft eine schmerzhafte Lücke. Erinnerungen können diese Lücke nicht schließen, jedoch Trost spenden. Im Lesen der verschriftlichten Erzählungen können solche Erinnerungen aktiviert werden; doch nicht nur im Lesen, sondern auch im Berühren. Denn das Rezipieren der Erzählungen in der WzT ist nicht nur das Rezipieren einer lesbaren Hinterlassenschaft, sondern das Rezipieren einer materiellen Hinterlassenschaft, die berührbar ist. Und diese Berührbarkeit kann zu den Verstorbenen Nähe schaffen. So beschreibt eine Angehörige das Lesen des Dokuments mit den Worten: »Es war, als berührte ich meine verstorbene Frau.« Diese Ausgabe widmet sich Erinnerungen in der Trauer. Trauer ist am Lebensende omnipräsent. Trauer um das gelebte Leben, den Verlust von Gegenwart,

Ulrike Rastin

Würdezentrierte Therapie zielt darauf, Betroffene in ihrem Würdeerleben zu stabilisieren und für ihren weiteren Weg zu stärken, indem die Wertschätzung für das eigene Leben erhöht und die Sinnfindung unterstützt wird.

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den bevorstehenden Abschied. Für Schwerst­ erkrankte und ihre Nahestehenden dreht sich oftmals alles um die Erkrankung, um Symptombehandlung, die alltäglichen immensen Herausforderungen, die zu bewerkstelligen sind. Dies kann dazu führen, dass der Blick auf die eigene Persönlichkeit getrübt ist, sich Betroffene mehr als Träger*in eines erkrankten Organs oder Tumors erleben und nicht mehr als vollumfängliche Persönlichkeit (vgl. Chochinov 2017, S. 34 ff.). Hier setzt die WzT an: Das Erinnern und Erzählen zu einem anerkennenden Gegenüber weitet den Blick über die Krankheitserfahrung hinaus. Das Vorlesen und das Zuhören bedeuten Würdigung im Hier und Jetzt. Und das Erstellen und Überrei�chen eines Vermächtnisses für jene, die zurückgelassen werden, können ein Stück Frieden bringen. So kann die WzT zu einer bedeutsamen Erfahrung werden, in der über die Erinnerung Gegenwart spürbar wird. Und wenn Angehörige ihre Liebsten verlieren, sie Abschied nehmen müssen und Trauer den Raum füllt, kann die WzT unterstützen und Trost spenden: indem die erzählten, in einem Dokument bewahrten Erinnerungen gelesen – und angefasst, berührt werden können. Andrea Züger ist Empirische Kulturwissenschaftlerin und promovierte in Gießen mit einer Ethnografie über die Würdezentrierte Therapie. Sie arbeitet am Nationalen Centrum für Tumorerkrankungen (NCT) in Heidelberg im Bereich Ethik und Patientenorientierung in der Onkologie und ist Lehrbeauftragte am Institut für Geschichte der Medizin an der Universität in Gießen.  Kontakt: [email protected]  Swantje Goebel ist Soziologin, im Akademieteam des Hospiz-Vereins Bergstraße e.V. (Südhessen) in der Bildungsarbeit aktiv und mit einer 50%-Professur an der IB Hochschule für Gesundheit und Soziales in Berlin für die Gesundheitssoziologie zuständig. Sie engagiert sich im Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Patientenwürde e. V. für die Verbreitung und Implementierung würdebezogener Konzepte in Einrichtungen des Gesundheitswesens. Kontakt: [email protected]

Literatur Berti, I.; Haß, H. D.; Krüger, K.; Ott, M. R. (2015). Lesen und Entziffern. In: Meier, T.; Ott, M. R.; Sauer, R. (Hrsg.): Materiale Textkulturen. Konzepte – Materialien – Praktiken (S. 639–650). Berlin. Buber, M. (1923/2008). Ich und Du. Stuttgart. Chochinov, H. M. (2017). Würdezentrierte Therapie. Was bleibt – Erinnerungen am Ende des Lebens. Göttingen. Chochinov, H. M.; Kristjanson, L. J.; Breitbart, W.; McClement, S.; Hack, T. F.; Hassard, T.; Harlos, M. (2011). Effect of dignity therapy on distress and end-of-life experience in terminally ill patients: A randomized controlled trial. In: The Lancet Oncology, 12, 8, S. 753–762. Chochinov, H. M.; McClement, S.; Hack, T.; Thompson, G.; Dufault, B.; Harlos, M. (2015). Eliciting personhood within clinical practice: Effects on patients, families, and health care providers. In: Journal of Pain and Symptom Management, 49, 6), S. 974–80. Fischer-Lichte, E. (2012). Performativität. Eine Einführung. Bielefeld. Fitchett, G.; Emanuel, L.; Handzo, G.; Boyken, L.; Wilkie, D. J. (2015). Care of the human spirit and the role of dignity therapy: A systematic review of dignity therapy research. In: BMC Palliative Care, 21, 14, S. 8. Houmann, L. J.; Chochinov, H. M.; Kristjanson, L. J.; Peter­ sen, M. A.; Groenvold, M. (2013). A prospective evaluation of Dignity Therapy in advanced cancer patients admitted to palliative care. In: Palliative Medicine, S. 1–11. Juliao, M; Oliveira, F.; Nunes, B.; Carneiro, A.V.; Barbosa, A. (2017). Effect of dignity therapy on end-of-life psychological distress in terminally ill Portuguese patients: A randomized controlled trial. In: Palliative Support Care, 7, S. 1–10. Mai, S. S.; Goebel, S.; Jentschke, E.; van Oorschot, B.; Renner, K. H.; Weber, M. (2018). Feasibility, acceptability and adaption of dignity therapy: A mixed methods study achieving 360 ° feedback. In: BMC Palliative Care, 17, S. 73. McClement, S.; Chochinov, H. M.; Hack, T.; Hassard, T.; Kristjanson, L. J.; Harlos, M. (2007). Dignity therapy: Family member perspectives. In: Journal of Palliative Medicine, 10, 5, S. 1076–1082. Montross, L.; Meier, E. A.; De Cervantes-Monteith, K.; Vashistha, V.; Irwin, S. A. (2013). Hospice Staff Perspectives on Dignity Therapy. In: Journal of Palliative Medicine, 16, 9, S. 1118–1120. Van der Maas, P. J.; van Delden, J. J.; Pijnenborg, L.; Looman, C. W. (1991). Euthanasia and other medical decisions concerning the end of life. In: Lancet, 338(8768): 669–74. Anmerkung 1

Die im Folgenden eingebauten Zitate sind im Rahmen des (noch unveröffentlichten) Dissertationsprojekts von Andrea Züger entstanden.

Die Deutsche Gesellschaft für Patienten­würde e. V. bietet regelmäßig Grundkurse zur Würdezentrierten Therapie an. Weitere Infos und Anmeldung über:  www.patientenwuerde.de

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Erinnerungen, ihre Eigenschaften und Pathologien – und der therapeutische Lebensrückblick Andreas Maercker

»Je tiefer die Sonne am Horizont sinkt, desto ­länger werden die Schatten der Erinnerung.« Sinnspruch, überliefert nach Johannes Gillhoff (1861–1930)

Erkenntnisse aus der Reminiszenzforschung Innerhalb der Psychologie ist die Reminiszenzforschung zwar ein kleines Gebiet, aber seit dreißig Jahren gibt es interessante Befunde, die eine breitere Bekanntheit verdienen. Ausgangsfragen dieses Forschungsbereichs waren: Wie häufig und mit welchen Zwecken beschäftigen sich Menschen mit ihren Erinnerungen? Gemeint waren damit zunächst Menschen ohne Leidensdruck – also Menschen mit gutem Wohlbefinden. Dagegen ließ man Trauernde und Traumatisierte, die auf verschiedene Weise ganz besonders intensiv in ihren Erinnerungen leben, zunächst in dieser Forschungsrichtung außen vor. In diesem Artikel sollen alle diese Konstellationen des Sich-Erinnerns behandelt werden: gewöhnliche als auch belastete Lebensphasen wie die nach Verlust- und Schockerlebnissen. Abschließend wird der Lebensrückblick als psychologische Therapie­ form kurz umrissen. Entgegen einer landläufigen Annahme beschäftigen sich nicht nur alte Menschen häufig mit ihren Erinnerungen. Mit Fragebogen, wie der häufig eingesetzten Reminiscence Functions ­Scale von Jeffrey D. Webster, fand man heraus, dass Jugendliche und Ältere diejenigen sind, die sich am häufigsten erinnern – mittelalte Menschen

dagegen etwas weniger. Bei Jugendlichen diente das Sich-Erinnern zur Reduktion von Langeweile, zum Brüten über verbitterte Vorwürfe gegenüber anderen (wohl meist den Erziehungspersonen), zur Identitätsbildung (Vergegenwärtigen der eigenen Präferenzen) und zur Problemlösung (im Sinne von: wie habe ich es bisher gemacht und was kann ich davon lernen). Ältere Menschen vergegenwärtigten sich Vergangenes oft und gern für den Zweck, Argumente zu sammeln für Gespräche mit anderen und auch, um sich an frühere Näheerfahrungen zu erinnern. Etwas weniger war bei den Älteren der Zweck des Erinnerns im Sinne des Brütens über Vorwürfe gegenüber anderen (zum Beispiel Hyland und Ackerman 1988). Man untersuchte damals auch, ob es »Erinnerungsaktivisten« gibt, also solche Menschen, die dem Sich-Erinnern besonders viel Zeit widmen, und »Erinnerungsskeptiker«, die nichts daran finden, sich zu erinnern. Die Aktivisten gab es mit 55 Prozent häufiger als die Skeptiker mit 45 Prozent (Merriam 1993). Interessant ist, dass die Erinnerungsaktivisten sich keinesfalls nur positiven Erinnerungen hingeben. Viele von ihnen berichteten, dass ihnen natürlich auch Trauriges und Beunruhigendes dabei durch den Kopf geht. Eine Rechtfertigung der Skeptiker war unter anderem, dass sie die Vergleiche zu früher scheuten, weil es ihnen damals besser gegangen sei als gegenwärtig. Kurz vor dem Jahr 2000 wurde dann der inzwischen berühmte Alterseffekt der Inhalte der autobiografischen Erinnerungen für Menschen über vierzig Jahre gefunden. Etwas schwer übersetzbar wurde er im Englischen Reminiszence bump genannt – annähernd kann man ihn auf Deutsch »Erinnerungshügel« nennen. Nicht die Kindheit

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ist die Zeit, aus der man seine meisten Erinnerungen zieht, sondern das spätere Jugendalter und die junge Erwachsenenzeit – von 15 bis 25 Jahren. In dieser Phase liegen die letzte Zeit in der Schule, die erste Liebe – meist irgendwie mit Kummer gepaart –, die Berufswahl mit der Ausbildung und für manche schon die eigene Familiengründung. Der Psychologe Erik H. Erikson, der mit seinen theoretischen Schriften der Lebenslaufforschung entscheidende Impulse verlieh, hatte dieser Lebensphase die Identitäts- und die Intimitätsentwicklung als Aufgaben zugeordnet (Erikson 1966). Die konkreten Erlebnisse in diesen Zusammenhängen sind dann genau das, was wir uns üblicherweise lebenslang besonders einprägen. Inzwischen wissen wir, dass in anderen Kulturen als der westlichen der Erinnerungshügel früher beginnen und zeitlich variieren kann (innerhalb des Zeitraums von 10 bis 30 Jahren) in Abhängigkeit von der sozialen und geschlechts-

spezifischen Rollenzuschreibung in diesen Lebensabschnitten. Interessanterweise liegt das Alter des Erinnerungshügels in Japan etwas später als in Europa und den USA. Wie steht es um die Funktionen des Erinnerns bei älteren Menschen? Als mein Team (mit Simon Forstmeier, A ­ ndrea Horn und anderen) sich darüber Gedanken machte, flossen unsere Erfahrungen mit älteren Patienten ein, die wir in unseren Einrichtungen behandelt hatten. Dazu gehörten kognitiv Gesunde mit Alternsproblemen, Menschen mit Depressionen, aber auch welche in einem frühen Demenz­ stadium. Der Lebensrückblick, also das häufige Sich-Erinnern, hat demnach drei Funktionen: Elaborations-Funktion: das Gedächtnis durch die Beschäftigung mit Erinnerungsdetails so aktiv

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wie möglich zu halten und seine Urteile nicht auf vergröberte Zusammenfassungen des Erlebten zu gründen. Bilanzierungs-Funktion: durch Bilanzieren von Positivem als auch Negativem etwas für das persönliche Wohlbefinden zu tun. Blinde Flecken können aufgefüllt werden und dies kann im Endeffekt anhaltende Befriedigung verursachen. Sinngebungs-Funktion: Da sich die Erinnerungen um Motive herum strukturieren, führt deren Bewusstmachung dazu, dass man dem Erlebten einen Sinn geben kann; ein psychischer Prozess der Sinngebung des Erlebten. Über die Vorteile des autobiografischen Erinnerns Den breitesten Raum in den Forschungen im Reminiszenzbereich nehmen Studien zum Zusammenhang von Sich-Erinnern und Wohlbefinden ein. Hier wurde häufig ein vom Psychologen James Pennebaker entwickelte Erinnerungsmethode eingesetzt. Bei dieser wurden die Studienteilnehmenden aufgefordert, etwas aus ihrem Leben aufzuschreiben und mit Reflexionen darüber anzureichern – und zwar in vier bis fünf Schreibsitzungen zu jeweils 20 Minuten. Anfangs ging es in diesen Studien um zurückliegende Belastungserlebnisse; später untersuchten Kolleg:innen von Pennebaker dies mit jeder Art von aufgeschriebenen Erinnerungen. Dabei wurden Kontrollgruppen eingesetzt, die meist in gleicher Zeitdauer über Unpersönliches schreiben sollten. Für die sich autobiografisch Erinnernden ergab sich eine ganze Skala von positiven Folgen im Vergleich zu den Kontrollgruppen: Sie fühlten sich mittelund langfristig wohler, hatten weniger depressive Symptome bis hin zu weniger Arztbesuchen in den Folgemonaten, günstigere immunologische Parameter, schnellere Wundheilung, bessere Noten an einer Hochschule und vieles andere mehr. Eine »gut erzählbare Erinnerung« – oder mehrere – zur Verfügung zu haben, ist nicht nur emotionsregulatorisch und kognitiv günstig, sie hat

auch soziale Konsequenzen, wenn es ums Weitererzählen und die Kontaktmöglichkeiten mit anderen Menschen geht. Erinnerungen bei Trauer Ab den 2000er Jahren wurde begonnen, bei Trauernden nach dem erinnerungsbezogenen Symptom zu suchen, das komplizierte und anhaltende Trauerverläufe von sogenannter normativer Trauer unterscheidet. Man fand die Sehnsucht (englisch: yearning) als dieses Symptom. Wie zunächst große US-amerikanische Studien gezeigt haben, ist es in den beiden ersten Jahren nach Todesfällen das häufigste und das schwerwiegendste Leidenszeichen. Dieses Sehnsuchtssymptom hat eine emotionale und eine kognitive Komponente. Die emotionale Komponente wird meist als bittersüß gekennzeichnet, das heißt, sie ist eine Mischung von positiven (erinnerte Zuneigung) und negativen (Frustration über die Unmöglichkeit) Gefühlen. Die kognitive Komponente besteht in der »alternativen Realität« des Was wäre wenn?, die sich im Erinnerungsstrom herausbildet. Trauerbezogene Sehnsucht geht neurobiologisch mit Schmerz- und Suchtempfinden einher, das sich mit bildgebenden Verfahren im Nucleus Accumbens im basalen Vorderhirn lokalisieren lässt (O’Connor et al. 2008). Erinnerungen bei Traumatisierung Bei Traumatisierten mit einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) ist dagegen das relevante spezifische »Erinnerungssymptom« das Wiedererleben oder die Flashbacks. In den vorhergehenden Jahrzehnten war man davon ausgegangen, dass Intrusionen, also unwillkürliche belastende Erinnerungen, das Leitsymptom der PTBS sind. Es hat sich aber gezeigt, dass Intrusionen sehr häufig vorhanden sind und auch bei all denjenigen Traumatisierten vorhanden sind, die keine PTBS ausbilden. Auch diese resilienten Betroffenen denken von Zeit zu Zeit – ohne dass es von ihnen bewusst herbei-

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geführt oder gesteuert ist – traurig an das Schlimme, was ihnen passiert ist. Wiedererleben »im Hier und Jetzt«, auch Flashbacks genannt, sind dagegen kurze dissoziative Zustände des Bewusstseins, in denen sich die Betroffenen wieder in die Momente zurückversetzt fühlen, in denen das Trauma passierte. Flashbacks schockieren die davon Betroffenen meist durch die Wucht dieses Wiedererlebens. Die mit Leiden verbundenen psychischen Formen des Erinnerns lassen sich also untereinander differenzieren und diese Entwicklung wird weitergehen. Ausblicke auf die ­LebensrückblicksTherapie Sie hat eine ganz besondere inhaltliche Nähe zur Reminiszenzforschung. Historisch gesehen wurde der Lebensrückblick als heilende Intervention eigentlich von der Sozialarbeit und den Pflegewissenschaften entwickelt und in Gruppenformaten wie Erzählcafés oder in Pflegeeinrichtungen mit an Demenz erkrankten Menschen eingesetzt. Als man später entwickelte strukturierte Formen der Lebensrückblicks-Therapie bei depressiven Älteren untersuchte, hatte diese eine erstaunlich gute antidepressive Wirksamkeit, die sich mit der von Psychopharmaka durchaus vergleichen lässt (vgl. ­Maercker und Forstmeier 2013). Es gibt verschiedene strukturierte Formen der LebensrückblicksInterventionen, die aber alle mehr oder weniger dem Prinzip folgen, verschiedene emotionale Tönungen einzubeziehen (positive und negative Erinnerungen) und den Erinnerungsprozess in gewissem Umfang mit psychischer Verarbeitung oder Reflexions­tätigkeit zu begleiten (beispielsweise mit der Frage: »Was haben Sie daraus für sich mitgenommen?«). Die Lebensrückblicks-Therapie wurde außer bei schwer depressiven Personen auch bei Traumatisierten angewandt. In Israel wurde dazu eine Studie durchgeführt, die auf internationaler Zusammenarbeit basierte (Studienkonzept: Forstmeier et al. 2014). Israelische Holocaust-Überlebende mit einem mittleren Alter von 81 Jahren

hatten 20 bis 30 individuelle Sitzungen mit einer Lebensrückblicks-Intervention mit ausgebildeten Therapeut:innen. Eine Vergleichsgruppe führte eine gleichlange andere Intervention durch. Sowohl die PTBS-Symptome als auch die Depressivität derjenigen, die am strukturierten Lebensrückblick teilgenommen haben, war stärker und langanhaltender reduziert worden als die der Vergleichsgruppe. Die Anwendung der Lebensrückblicks-Intervention bei Menschen mit anhaltender Trauerproblemen steht noch aus. Prof. Dr. Dr. Andreas Maercker, Fachpsychologe für Psychotherapie FSP, approbierter Psychologischer Psychotherapeut, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Supervisor, ist Lehrstuhlinhaber und Fachrichtungsleiter an der Universität Zürich. Im Psychotherapeutischen Zentrum des Psychologischen Instituts leitet er die Abteilung »Allgemeine Psychotherapie und Schwerpunkte Trauma, Altersprobleme und Online-Behandlung«. Kontakt: [email protected] Literatur Conway, M. A.; Wang, Q.; Hanyu, K.; Haque, S. (2005). A cross-cultural investigation of autobiographical memory: On the universality and cultural variation of the reminiscence bump. In: Journal of Cross-Cultural Psychology, 36, 6, S. 739–749. Erikson, E. H. (1966). Identität und Lebenszyklus. Drei Aufsätze. Frankfurt a. M. Forstmeier, S.; Maercker, A.; van der Hal-van Raalte, E.; Auerbach, M. (2014). Die Methode des therapeutischen Lebensrückblicks bei Holocaust-Überlebenden. In: Psychotherapie im Alter, 11, S. 433–448. Hyland, D. T.; Ackerman, A. M. (1988). Reminiscence and autobiographical memory in the study of the personal past. Journal of Gerontology, 43, 2, P35-P39. Maercker, A.; Forstmeier, S. (2013). Der Lebensrückblick in Therapie und Beratung. Berlin. Merriam, S. B. (1993). The uses of reminiscence in older adulthood. In: Educational Gerontology, 19, 5, S. 441–450. O’Connor, M. F.; Wellisch, D. K.; Stanton, A. L.; Eisenberger, N. I.; Irwin, M. R.; Lieberman, M. D. (2008). Craving love? Enduring grief activates brain’s reward center.  In: Neuroimage, 42, 2, S. 969–972. Pennebaker, J. W. (2019). Heilung durch Schreiben  – Ein Arbeitsbuch zur Selbsthilfe. 2. Auflage. Göttingen. Webster, J. D.; Bohlmeijer, E. T.; Westerhof, G. J. (2010). Mapping the future of reminiscence: A conceptual guide for research and practice. In: Research on Aging, 32, 4, S. 527–564. Znoj, H.; Maercker, A. (2022). Trauerarbeit und Therapie der anhaltenden Trauer. In Linden, M.; Hautzinger, M. (Hrsg.), Verhaltenstherapiemanual. 9. Auflage (S. 549–554). Berlin.

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Ode an die Freude Michael Clausing

Freudige Erinnerungen

Blickrichtung Freude

Freude, Inspiration, Hoffnung! Wenn man in unseren infektionsgebeutelten Zeiten diesen Titel des Buches von Verena Kast liest, wird sofort deutlich, wie aktuell ihre Gedanken für uns heute noch sind. Anfang der 1990er Jahre entwickelte Verena Kast das Konzept der »Freudenbiografie« und beschrieb die Grundgedanken unter anderem in diesem inspirierenden Buch. Damals arbeitete sie als Professorin für Psychologie an der Universität Zürich und betrat beim biografischen Erinnern neue Wege. Oft haben wir bei der Auseinandersetzung mit unserer Lebensgeschichte die Herausforderungen im Blick. Da tauchen die Schwierigkeiten auf, an denen wir uns in der Gegenwart mitunter immer noch abarbeiten müssen. Wir versuchen zu erinnern, wie sie entstanden sind. Wenn wir Glück haben, sind wir an den Herausforderungen gewachsen und wurden stärker. Fühlen uns ein wenig bestäubt vom Held*innen-Glanz der Erinnerung. Die Freudenbiografie sucht nach anderen Geschichten. Sie fragt uns, wie und in welchen Situationen wir im Leben Freude und glückliche Momente erlebt haben. Ist davon noch etwas zu spüren? Darf die Freude noch einmal Raum bekommen? Denn dann kann uns diese Erinnerung stärken und stützen und wir lernen etwas über die Quellen von unserer Freude. Bei der Beschäftigung mit der Freudenbiografie versuchen wir uns mit freudigen Situationen in unserem Leben zu verbünden und so werden sie in der Vorstellung noch einmal erlebt. Das kann eine enorme Kraft entfalten, besonders in Situationen, wo man spontan denkt: Hier hat Freude keinen Platz und Dunkelheit und Schwere führen die Regie. Besonders dort.

Ich arbeite in München für den Christophorus Hospiz Verein. Wir haben ein stationäres Hospiz und einen großen, ambulanten Bereich. Bei uns stellte Verena Kast sehr früh ihre Arbeit mit der Freude vor. Und seitdem hat sie unser Haus nicht mehr verlassen. Gerade wenn Dunkelheit und Angst sich uns nähern, wenn Wut und Ohnmacht die Perspektive verengen, dann kann die freudige Erinnerung uns viel an Inspiration und Verbundenheit geben. Wie habe ich Freude erlebt in meinem Leben? Habe ich sie willkommen geheißen? Was ist aus der Freude im Laufe des Lebens geworden? Zur Rekonstruktion der Freudenbiografie dienen einmal die eigenen Erinnerungen. Oft aber auch die Erinnerungen von anderen, die uns erzählt wurden. Vieles, was wir für die eigene Erinnerung halten, sind Erinnerungen von anderen. Wie bei vielen Emotionen ist der Zugang aber auch hier mit Einsatz verbunden. Es gehört in unserer Kultur dazu, Emotionen nicht einfach ungefiltert rauszulassen, sondern zu kontrollieren. Die Frage ist: Wie wurde die Emotionskontrolle erreicht? Ist sie nicht zu stark? Gegenspieler können Angst und Schuldgefühl sein. Manchmal streiten sogar beide miteinander. Auch Sorgen und Schmerzen können Gegenspieler sein. Und sie können die Freude intensivieren, wenn der Schmerz nachlässt. Aus Berichten von Menschen, die in Kriegszeiten lebten, hören wir, dass sie sich an Situationen erinnern, in denen ihnen eine besondere Fähigkeit zuwuchs, den einzigartigen Moment zu genießen. Freude hat oft etwas mit dem Genießen des Augenblicks zu tun, mit einer Haltung, die nicht

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Katharina Fis

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ständig danach fragt, was morgen ist. Wenn wir uns in bedrohlichen Situationen wieder mit der Freude in unserem Leben verbinden können, kann dies eine starke und kräftigende Wirkung haben. »Es scheint wirklich so zu sein, dass wir bereiter sind zu leben, wenn wir uns wieder freuen können, und das hieße auch, dass wir dem Zerstörerischen wieder mehr Widerstand entgegensetzen«.  Kast 1992, S. 24 Eine wichtige Erkenntnis, wenn wir diesen Weg des Erinnerns betreten wollen ist: Freude braucht unser inneres Ja, unsere Erlaubnis. Es lohnt sich: Wenn wir uns freuen, sind wir einverstanden mit uns selbst und mit der Situation, die uns umgibt. In der Freude vermitteln wir etwas Strahlendes und erfahren Wärme und Licht. Da ist ein Selbstvertrauen in uns spürbar wie ein Geschenk. Und wenn wir uns umschauen, dann ist in unserem Blick eine große Akzeptanz. Vorwurf und Kritik haben so wenig Chancen. Eine besondere Freude ist die Vorfreude. Sie hat etwas zu tun mit unserer Erwartung und Hoffnung. Wobei Hoffnung in diesem Zusammenhang gemeint ist als ein breit angelegtes Gefühl des Getragenseins vom Leben. Die Vorfreude ist in der Regel eine freie Imagination. Meine Mutter sagte immer zu uns Kindern: Vorfreude ist die schönste Freude. Aber sie ist auch mit Vorsicht zu genießen, nämlich dann, wenn sich das Erwartete nicht erfüllt und in Enttäuschung umschlägt.

und erlebe das gemeinsame Freuen wie eine unerschöpfliche Quelle für lebenswichtige Energien. Entgegen vieler Vorstellungen sind Hospize und Palliativstationen Orte, wo viel gelacht wird. Natürlich auch geweint. Aber das Lebenspendel darf schwingen. Gerade in unserer momentanen Krisenzeit lernen wir leider auch die Freudendämpfer kennen. Freude bezieht einen wesentlichen Teil ihrer Kraft aus der Ansteckung. Wir freuen uns, wenn wir anderen Menschen Freude machen können. Insofern tritt eine Hemmung auf, wenn wir sie versuchen Menschen mitzuteilen, die gerade nicht sonderlich begabt für Freude und von Problemen komplett in Anspruch genommen sind. Vielleicht konnte Verena Kast Sie aber dazu inspirieren, sich mit ein paar neugierigen Menschen zusammenzusetzen und sich auf die Suche nach der Freude zu machen. Dann erfahren sie die Freude in der schönsten Form, der Mitfreude. Michael Clausing ist Fachreferent am Institut für Bildung und Begegnung des Christophorus Hospiz Vereins, München. Er ist Systemischer Berater, Supervisor und Mediator, Sterbebegleiter und Betreuer.

Freude teilen All diese Themen und Erkenntnisse hat Verena Kast genutzt, um Freude, Inspiration und Hoffnung besonders in Gruppen zu nutzen. Wenn man die Freude teilen kann, bringt sie uns raus aus der Isolation und in Verbindung. Ich habe seit Jahren in der Hospiz- und Palliativarbeit die besten Erfahrungen mit diesem Thema gemacht

Kontakt: [email protected] Website: https://chv-ibb.org

Literatur Kast, V. (1992). Freude, Inspiration, Hoffnung. Düsseldorf.

Kraft und Last der Erinnerungen

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Vergangenheit anders erzählen Warum Geschichten heilsam sein können

Birgit Schreiber »Am Ende wird alles gut, und wenn es noch nicht gut wird, ist es noch nicht das Ende.« Fernando Sabino, 1991, brasilianischer Schriftsteller

In diesem Artikel geht es um nichts weniger als um Ihre Zukunft. Wir beschäftigen uns daher – vielleicht zu Ihrer Überraschung – mit dem heilsamen Blick in die Vergangenheit: Wenn wir wissen, wie die Geschichten unseres Lebens uns geprägt haben, können wir uns eine tragfähige Basis für Gegenwart und Zukunft schaffen. Vielleicht haben Sie schon einmal mit dem Gedanken gespielt, Erinnerungen an die Kindheit, an prägende Menschen, besondere Erlebnisse oder auch Ihre Erfahrungen mit Verlust und Krankheit aufzuschreiben. Oder werden Sie vielleicht »die Bilder in Ihrem Kopf« nicht los und wollen einen Weg finden, sie auszudrücken, um mit Ihrer Vergangenheit besser und befreiter zu leben? Wenn Sie solche Wünsche hegen, ahnen Sie wahrscheinlich, dass Erinnern und Erzählen Ihnen gut tun oder sich als heilsam erweisen könnten (vgl. Pennebaker und Evans 2014; Schreiber 2017; 2022). Dafür spricht eine Vielzahl von Belegen, etwa aus der narrativen Psychologie und der soziologischen und bildungswissenschaftlichen Biografieforschung. Ihre Vertreter:innen gehen davon aus, dass Menschen ihre Identität entwickeln und anpassen, in dem sie Geschichten über sich selbst erzählen (Bruner 2001; Keupp et al. 2006; Lucius-­Hoene u. Deppermann 2004). Dabei entstehen Gefühle von Kontinuität und Kohärenz, von Bedeutung und Sinnhaftigkeit – gerade auch, wenn Menschen etwas sehr Leidvolles überlebt

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haben. Manche nehmen durch bewusstes Erinnern und Schreiben die eigenen Stärken und Fähigkeiten erstmals bewusst wahr. Sie entwickeln sich zu Autor:innen, zu Gestalter:innen ihres Lebens. »Ich erzähle, also bin ich« – das sagen Psycholog:innen Manchmal werden autobiografische Geschichten erfolgreich publiziert, wie etwa die Romane von Edgar Selge (2021) oder Ulla Hahn (2001), die 2010 mit dem Deutschen Bücherpreis ausgezeichnet wurde. Diese Bücher sind neue Autobiografien, die in den USA »Memoir« heißen und häufig vordere Plätze der Bestsellerlisten erobern. Autorin Tristine Rainer erklärt den Erfolg des neuen Genres damit, dass Menschen in ihm Orientierung und Vorbilder finden: Memoir-­ Schreiber:innen zeigen, wie sie mit den Herausforderungen des Lebens und mit universellen Themen wie zum Beispiel Kriegsfolgen, Abschied, Elternschaft und Krankheit umgegangen sind. Das geht auch jenseits von Verlagen: Das Internet bietet nicht nur Schriftsteller:innn, sondern

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Wir können ­unsere ­Erinnerungen nicht b­ eliebig umschreiben, aber wir ­können unseren Blickwinkel und unsere Möglichkeiten erweitern.

uns allen heute ungeahnte Möglichkeiten Erfahrungen zu teilen; es könnte zum Lagerfeuer der Moderne werden, an dem Menschen ihre individuellen Storys erzählen und sie von anderen hören, glaubt Tristine Rainer (1997).

lung: Die Bibel und der Koran sind Bücher, die Gesellschaften bis heute prägen. Es sind Werke, in denen wir Menschen uns die Welt und unsere Werte erklären. Im besten Fall werden diese Geschichten immer neu interpretiert, angepasst und verstanden. Und das gilt wiederum für Erzählungen, auf denen unsere Nation oder Kultur basiert, wie auch für unsere persönlichen Geschichten.

Mit Geschichten erklären wir uns die Welt

Vergangenheit anders erzählen

Um Autor:innen unseres Lebens zu sein, genügt es bereits, mit Offenheit und Neugier zurückzublicken, um die eigene Entwicklung zu verstehen. Diese Art Erinnerung ist biografische Arbeit, wie Soziolog:innen und Pädagog:innen sagen, und wir formen dabei unsere Identität. Für den Entwicklungspsychologen Daniel Stern (1985) ist die Fähigkeit, Geschichten zu erzählen, eine entscheidende Stufe in der Reifung von Menschen. Schon Kinder lernen, sich durch das Erzählen in der Zeit zu orientieren, Erfahrungen miteinander zu verbinden und die Handlungen anderer Menschen zu verstehen. Da die Kontexte, in denen wir leben, mit zunehmendem Alter komplexer werden, braucht es Zeit bis ins junge Erwachsenenalter, um die eigene, angeborene Erzählfähigkeit ganz zu entfalten. Einmal entwickelt, hilft sie uns, den roten Faden unseres Lebens zu behalten und uns über die Jahre mit allen Veränderungen folgen zu können (Lätsch 2011). Geschichten zu erzählen ist nicht nur ein wesentlicher Teil von individueller, sondern auch von gesellschaftlicher wie kultureller Entwick-

Fachleute sagen, wir »konstruieren« beim Erinnern und Erzählen eine subjektive, eine narrative Wahrheit, die sich noch dazu im Laufe der Zeit wandeln kann. Menschen sind ständig auf der Suche nach Erklärungen und Bedeutungen. Geschichten sind der Weg, sich diese Erklärungen zu verschaffen. Die narrative Wahrheit, die dabei entsteht, müssen wir überprüfen: Ist sie noch gültig? Entspricht sie unserer heutigen Erfahrung? Oder verlängern unsere Geschichten selbstschädigende Muster und verbauen den Weg zu einem glücklicheren und gesunden Leben? Wir können unsere Erinnerungen nicht beliebig umschreiben, aber wir können unseren Blickwinkel und unsere Möglichkeiten erweitern. Mit der eigenen Geschichte ringen Die Sozialwissenschaftlerin Brené Brown, die 2010 mit ihrem Ted-Talk »The Power of Vulne� rability« einem Millionenpublikum bekannt wur�de, schlägt eine Methode vor, mit den eigenen Geschichten zu »ringen«: Wir sollen dazu unse-

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re Gefühle überprüfen und Konfabulationen, Er- Lebensgeschichte erzählten und sich danach befindungen, entlarven, die uns gefangen halten. dankten, weil ihnen endlich mal jemand »richtig Dann könnten wir ein neues Ende schreiben für zugehört« habe (Schreiber 2005). Und das zeigein Leben, das sich lohnt: »Having the courage to ten die Langzeituntersuchungen des Psychiaters reckon with our emotions and to rumble with our und Psychoanalytikers Hans Keilson (1992) in stories is the path to writing our own brave new den Niederlanden. Schwer traumatisierte Verending and the path that leads to wholehearted- folgte des Holocaust, die nach 1945 Anteilnahme ness« (Brown 2015, S. 255). erlebten, litten langfristig deutlich weniger unter Auf das Ende unserer Geschichten sollten wir den Traumatafolgen als Menschen mit geringebesonderes Augenmerk legen, glaubt Martin Se- ren Belastungen, deren Geschichten nicht ernst ligman, ein Vertreter der positiven Psychologie: genug genommen wurden. »Wenn es um die Vergangenheit geht, sollten Sie vor allem an Gefühle von Stolz, Zufriedenheit Es ist Zeit: Kriegsenkel und und Gelassenheit denken. Sorgen Sie dafür, dass Kriegskinder blicken zurück Sie Dinge auf positive Weise abschließen. Was in Erinnerungen fortlebt, ist das Ende einer Ge- Es ist ein Gesetz des Alterns, dass Menschen ge­ schichte, nicht so sehr, wie die Situation wirklich gen Ende des Lebens auf die Anfänge zurückwar« (Seligman o. J.). schauen. Erinnerungen tauchen dann häufig auch Neurowissenschaftlich orientierte Journal- ungewollt auf, als Folge von Umbauprozessen im Therapeutinnen wie Deborah Ross und Kathleen alternden Gehirn (vgl. Thimm 2008). Auch die Adams argumentieren ähnlich. Sie ermuntern Gruppe der Kriegskinder und Enkel erinnert uns, negative Erinnerungen buchstäblich zu über- sich nun verstärkt an ihre kriegsbelasteten Famischreiben, in dem wir uns etwaige positive Ent- lien. Viele entdecken, dass Schreiben ihnen hilft, wicklungen bewusst machen (Ross und Adams leidbringende Erinnerungen zu bearbeiten, so 2016; Schreiber 2022). Wenn Menschen sich spä- dass auch in meine Workshops für autobiografiter an das Erlebnis erinnern, tauchen positive sches Schreiben jedes Jahr mehr Kriegskinder und oder stärkende Lernerfahrungen auf und kön- -­enkel kommen. Kathrin Battke (2013) glaubt, dass nen die leidvollen Erfahrungen überlagern, ohne es für sie um Generativität gehe: die Gabe, etwas sie zu negieren oder zu verändern. So wird eine aus der Vergangenheit entgegenzunehmen und komplexere und zugleich befreitere Erinnerung selbst einen Beitrag für die Zukunft zu leisten. an eigene Leidensgeschichten möglich. Die beste Zeit zum Schreiben Zuhören zählt Damit Erzählen eine heilsame Wirkung entfalten kann, benötigen Menschen also einerseits die Bereitschaft, mit der Geschichte zu ringen. Andererseits brauchen sie eine empathische Umgebung: Sogar die Einsamkeit nach Traumata kann durch die Gegenwart eines wohlwollenden Zuhörers ein Stück weit gemildert und das Vertrauen in die Welt wieder gestärkt werden. Das zeigten Begegnungen mit traumatisierten Menschen, die mir für eine Forschungsarbeit ihre

Wer den Impuls spürt, eigene Erinnerungen aufzuschreiben, darf sich darauf verlassen, dass die richtige Zeit gekommen ist – und das ist für immer mehr Menschen der Fall, oft lange bevor sie das Senior:innenalter erreicht haben. Das Bedürfnis, Bilanz zu ziehen und den roten Faden ihres Lebens festzuzurren, verspüren Menschen auch in Krisen wie der Coronapandemie; sie stärken sich durch autobiografisches Schreiben, allein oder gemeinsam, etwa in Online-Gruppen (vgl. Pachl-Eberhart 2021).

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Für alle, die Lust bekommen haben, eigene Erinnerungen zu notieren, habe ich zum Schluss eine Schreibanregung. Sie kann entlastend wirken, weil sie dazu einlädt, eine neue Perspektive auf Vergangenes zu finden und beim Aufschreiben zu berücksichtigen, welche Wendung das Leben dank dieser Erfahrung genommen hat.

SCHREIBEINLADUNG »Wir alle kommen irgendwo her. Woher kommen Sie? Und wie sind Sie entkommen?« Stellen Sie sich einen Timer auf 15 Minuten und schreiben Sie einfach auf, was Ihnen zu dieser Frage einfällt. Es ist ein Text für Sie allein. Sie können Orte Ihrer Vergangenheit im Geiste aufsuchen und schildern, Sie können die Umstände und Menschen beschreiben, mit denen Sie dort zu tun hatten, und Sie können äußere Orte mit inneren Landschaften in Verbindung bringen. Wer mag, kann die Frage noch umfassender verstehen und sie nutzen, um zu schildern, wie Sie seit Ihrer Kindheit trotz widriger Umstände zu der oder dem geworden sind, der Sie heute sind.

Birgit Schreiber ist promovierte Biografieforscherin, Redakteurin, zertifiziert in Poesietherapie (EAG-FPI), systemischer Beratung (DGSF) und als »Journal to the Self«-Dozentin (TWI, Denver). Sie vermittelt das Schreiben zur Selbsthilfe und das Journal Writing als heilsame Methoden für Therapie, Beratung und reflexive Lebensgestaltung in Weiterbildungen, Lehrveranstaltungen und Workshops und begleitet Menschen, die ihre Lebensgeschichte besser verstehen und aufschreiben möchten, in Coachings und Seminaren. Kontakt: [email protected] Website: schreiben-zur-selbsthilfe.com Literatur Battke, K. (2013). Trümmerkindheit. Erinnerungsarbeit und Schreiben für Kriegskinder und Kriegsenkel. München. Brown, B. (2010). The power of vulnerability. https://www. ted.com/talks/brene_brown_the_power_of_vulnerability (Zugriff am 07.02.2022).

Brown, B. (2015). Rising strong. London. Bruner, J. (2001). Self-making and world-making. In: Brockmeier. J.; Carbaugh, D. (Hrsg.), Narratives and identity. Studies in autobiography, self and culture (S. 25–37). Amsterdam. Calhoun, L. G.; Tedeschi, R. G. (2013). Posttraumatic growth in clinical practice. London. Hahn, U (2001). Das verborgene Wort. Roman. Stuttgart. Keilson, H. (1992). Sequentielle Traumatisierung bei Kindern. In: Hardtmann, G. (Hrsg.), Spuren der Verfolgung. Seelische Auswirkungen des Holocaust auf die Opfer und ihre Kinder. Gerlingen. Keupp, H. et al. (Hrsg.) (2006). I­ dentitätskonstruktionen. Das Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne. 3. Auf­lage. Reinbek. Lätsch, D. (2011). Schreiben als Therapie? Eine psychologische Studie über das Heilsame in der literarischen Fiktion. Gießen. Lucius-Hoene, G.; Deppermann, A. (2004). Rekonstruktion narrativer Identität. Ein Arbeitsbuch zur Analyse narrative Interviews. 2. Auflage. Wiesbaden. Neff, K. (2021). Fierce self-compassion: How women can harness kindness to speak up, claim their power, and thrive. New York. Pachl-Eberhart, B. (2021). https://www.startnext.com/2021zeit-zeugen (Zugriff am 07.02.2022). Pennebaker J. W.; Evans, J. F. (2014). Expressive writing. Words that heal. Enumclaw. Petzold, H. G. (2003). Lebensgeschichten verstehen, Selbstverstehen, Andere verstehen lernen. In: Petzold, H. G. (Hrsg.), Lebensgeschichten erzählen: Biographiearbeit  – Narrative Therapie  – Identität. Sonderausgabe der Zeitschrift Integrative Therapie (S. 148–212). Paderborn. Rainer, T. (1997). Your life as story. Discovering the »New Autobiography« and writing memoir as literature. New York. Ross, D.; Adams, K. (2016). Your brain on ink: A workbook on neuroplasticity and the journal ladder. Lanham u. a. Sabino, F. (1991). https://falschzitate.blogspot.com/2017/10/ am-ende-wird-alles-gut-und-wenn-es.html. Schreiber, B. (2005). Versteckt. Jüdische Kinder im nationalsozialistischen Deutschland und ihr Leben danach. Interpretationen biographischer Interviews. Frankfurt  a. M./ New York. Schreiber, B. (2017). Schreiben zur Selbsthilfe. Worte finden – Glück erleben – gesund sein. Heidelberg. Schreiber, B. (2022). Wohlschreiben. 52 Impulse für ein Leben, das sich echt anfühlt. Wien (im Druck). Selge, E. (2021). Hast du uns endlich gefunden? Hamburg. Seligman, M. Met gelukkig worden ben je nooit klar. https:// www.psychologiemagazine.nl/artikel/martin-seligmanmet-gelukkig-worden-ben-je-nooit-klaar/?utm_source= nieuwsbrief&utm_medium=email&utm_campaign= PM+NB+14+oktober+Agenda+not+opener+Retargeting &utm_content= (Zugriff am 07.022.2022). Stern, D. (1985). The Interpersonal World of the Infant. Basic Books, New York Thimm, K. (2008). Gedächtnisforschung: »Sie sind die beste Kriegsware!« 14 Millionen deutsche Kriegskinder haben das Rentenalter erreicht … In: Der Spiegel, 12, S. 135– 137.

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Online trauern und erinnern Die Onlineberatungsstelle www.youngwings.de für Jugendliche und junge Erwachsene

Stefanie Schulz »Hallo, ich bin neu hier. Ich habe vor fast einem Jahr meine Mama verloren. Sie hatte Brustkrebs. Ich weiß nicht, wie mein Leben ohne sie werden soll. Ich vermisse sie so sehr und es tut einfach nur weh. Jetzt gibt es nur noch meinen Papa und mich und es ist immer so still im Haus. Mein Problem ist, dass ich nicht weiß, wie ich richtig trauern soll, weil es eigentlich mein Herz zerreißt, ich es aber nicht zeigen kann und es mir sogar schwerfällt, mit meinem Papa darüber zu reden. Mit meinen Freunden kann ich auch nicht sprechen. Ich habe es auch nicht allen erzählt. Wenn mich überhaupt mal jemand fragt, wie es mir geht, kann ich ihm keine Antwort geben, weil ich nicht weiß, wie ich mich fühle. Einfach schlecht … Da ist nur so eine Leere in mir. Und Schmerz … Ich weiß, dass ich mich auf die schönen Erinnerungen konzentrieren und dankbar sein sollte für die Zeit, die wir miteinander hatten. Doch das ist viel leichter gesagt als getan. Könnt ihr mir helfen?« Diese Zeilen stammen von der damals 15-jährigen Lena. Lena heißt eigentlich anders und verwendet wie alle User*innen bei www.youngwings.de einen selbstgewählten Nickname, der keine Rückschlüsse auf ihre wahre Identität erlaubt. Als Lena 14 Jahre alt ist, erkrankt ihre Mutter und verstirbt kurze Zeit später. Etwa ein Jahr nach dem Verlust meldet sie sich bei YoungWings an, weil sie das Gefühl hat, mit der Trauer »einfach nicht zurechtzukommen, nicht mehr zu können und dringend jemanden zum Reden zu brauchen«. Gefunden hat sie das Angebot, wie die meisten Jugendlichen, selbstständig über Google. Aber auch Weiterver-

mittlungen durch andere (Online-)Beratungsstellen oder Empfehlungen durch Bekannte sind häufige Wege, wie die Jugendlichen zu YoungWings finden. Verschiedene Angebotsformate für individuelle Bedürfnisse Die Onlineberatungsstelle www.youngwings.de für trauernde Kinder, Jugendliche und inzwischen auch junge Erwachsene wurde im Jahr 2004 gegründet und richtet sich an junge Menschen zwischen 12 und 27 Jahren, die sich Hilfe und Unterstützung in ihrer Trauer wünschen und sich mit anderen jungen Trauernden austauschen möchten. So wie Lena registrieren sich jedes Jahr mehrere Hundert neue User*innen, die um Vater, Mutter oder andere nahe Bezugspersonen trauern und die in den unterschiedlichen Angebotsformaten niedrigschwellige, anonyme und kostenlose Beratung und Begleitung in Anspruch nehmen können. Wählen können sie dabei zwischen der Möglichkeit, sich im geschützten Rahmen der Einzelberatung mit einer Fachkraft aus dem Team auszutauschen oder in Forum und Chat Erfahrungen und Anliegen mit anderen User*innen zu teilen und so zu erfahren, mit dem Erlebten nicht allein zu sein und von anderen unterstützt zu werden. Häufig werden die unterschiedlichen Formate auch parallel genutzt. Dabei wird darauf geachtet, dass die User*innen feste Ansprechpartner*innen haben. Wie oft, worüber genau und wie viel sie je�weils schreiben mögen, bleibt ihnen dabei stets selbst überlassen.

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Ein geschützter, immer verfügbarer Raum

Im Schutz der Anonymität gelingt es vielen J­ ugendlichen, das erste Mal wirklich von ihrer Trauer zu erzählen und Worte für das oft Unaus­ sprechliche zu finden.

Danny / Shutterstock.com

Bei YoungWings machen die jungen Menschen die Erfahrung, in ihrer Trauer angenommen und akzeptiert zu werden. Dabei spielt es keine Rolle, wie lange der Verlust schon her ist oder was die Todesursache war. Im Schutz der Anonymität gelingt es vielen Jugendlichen, das erste Mal wirklich von ihrer Trauer zu erzählen und Worte für das oft Unaussprechliche zu finden. Die sozialen Umstände, aus denen sie stammen, sind dabei so vielseitig wie ihre Trauer selbst. Sicherlich machen einen großen Anteil der User*in-

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nen die Jugendlichen aus, die in ihrem Umfeld wenig Unterstützungsmöglichkeiten finden und in deren Familien es vielleicht keine Sprache oder keinen Raum für das Erlebte und die damit zusammenhängenden Gefühle gibt. Gerade in Kombination mit einer eher abgelegenen Wohnlage würden diese jungen Menschen ansonsten wohl häufig allein mit ihrer Trauer bleiben. Aber auch Jugendliche aus einem stabilen und unterstützenden sozialen Umfeld, in dem es eigentlich Personen gäbe, mit denen sie reden könnten, haben oft das Gefühl, das Thema nicht ansprechen zu können. So erging es auch Lena, die ihren Vater »nicht noch zusätzlich belasten« wolle, da er ja »auch selbst traurig« sei. Allen gemeinsam ist, dass sie die Vorteile der Onlineberatung schätzen und sie auch deshalb nutzen, weil sie am besten zu ihrer aktuellen Lebenssituation passt. So können Gedanken und Gefühle immer dann zum Ausdruck gebracht werden, wenn sie gerade akut sind, da YoungWings rund um die Uhr verfügbar ist. Das Schreiben über den Verlust und die Trauer fällt vielen

dabei wesentlich leichter, als diese Dinge tatsächlich an- oder auszusprechen. Der wohl eindeutigste Grund dafür, dass Jugendliche online nach einer Anlaufstelle suchen, liegt aber darin, dass dies das Medium ist, das sich für sie am natürlichsten anfühlt und das sie tagtäglich nutzen. Sie werden also über ein Medium erreicht, das ihnen vertraut ist, dessen Funktionsweise sie kennen und das für sie, etwa mittels ihrer Smartphones, bei Bedarf immer zugänglich ist. Die Kommunikation in Textform ist ihnen zudem durch Messenger-Dienste und soziale Netzwerke bestens bekannt. Die besondere Bedeutung der Onlineberatung in Pandemiezeiten Im Rahmen der Coronakrise und den damit verbundenen Einschränkungen sind die Vorzüge der Onlineberatung noch deutlicher sichtbar geworden. Viele Angebote vor Ort sind weggefallen, gleichzeitig ist die psychische Not vieler junger Menschen rapide gestiegen und es kamen und

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kommen viele junge Hinterbliebene dazu, deren Angehörige unter teils dramatischen Umständen an Covid-19 verstorben sind. Hier konnte YoungWings vielen Hilfesuchenden einen sicheren Ort bieten, an dem sie unabhängig von geltenden Beschränkungen ankommen und zuverlässige Ansprechpartner*innen finden konnten. Im Zuge des ersten Lockdowns gingen auch verstärkt Anfragen von jungen Erwachsenen ein, für die es im Bereich Trauer kaum Weitervermittlungsmöglichkeiten gibt. Um diesem offensichtlich vorhandenen Bedarf gerecht zu werden, wurde die Altersgrenze von zunächst 21 Jahren auf dauerhaft 27 Jahre erhöht.

Der Wert von Erinnerungen Zu den Themen, die die jungen Trauernden immer wieder beschäftigen und zu denen daher ein großer Bedarf an Austausch sowohl untereinander als auch in der Einzelberatung besteht, gehören die Erinnerungen. Dazu gehören Aspekte wie das Bewahren von schönen, gemeinsamen Erinnerungen genauso wie der Umgang mit belastende Erinnerungen; zum Beispiel aus der Endphase einer Erkrankung. Viele User*innen plagt die große Angst, die geliebte Person mit der Zeit

Den eigenen Umgang mit der Trauer finden So wie Lena suchen die meisten YoungWings User*innen nach einem Ort, an dem ihre Trauer einen Platz hat und an dem sie im Austausch mit anderen trauernden Jugendlichen oder in Begleitung durch Fachkräfte herausfinden können, wie ihr eigener Trauerweg aussehen und was ihnen individuell helfen und guttun kann. Das Angebot von YoungWings versteht sich deshalb als langfristige Hilfe zur Selbsthilfe, in dessen Rahmen die Berater*innen als aktiv Zuhörende und anhand klientenzentrierter, lösungsorientierter und systemischer Beratungsmethoden mit den Jugendlichen individuelle Strategien zum Umgang mit der Trauer und zur Gestaltung eines Lebens ohne die verstorbene Person erarbeiten. Häufig ist der Wunsch an die Berater*innen aber auch einfach das Dasein, Zuhören und Begleiten durch den neuen Lebensabschnitt. Das gemeinsame Entdecken und Nutzen von vorhandenen Ressourcen ist dabei stets von zentraler Bedeutung und eine akzeptierende, empathische und pragmatische Grundhaltung sowie die Orientierung an der Lebenswelt der jungen Menschen unerlässlich.

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zu vergessen und sich nicht mehr an gemeinsame Momente erinnern zu können. So auch Lena: »Ich habe Angst, dass ich mir nicht alles merken kann, was wir zusammen erlebt haben. Ich will nichts vergessen. Ich brauche diese Erinnerungen. Durch sie fühle ich mich Mama nah. Irgendwann werde ich länger ohne sie als mit ihr gelebt haben. Es wäre der Horror für mich, wenn ich dann nicht mehr weiß, wie sie mich trösten konnte, wenn ich traurig war, wie sich ihre Umarmung angefühlt hat oder wie sie mir immer zugewinkt hat, wenn sie mich von der Schule abgeholt hat.« Ein Wunsch von Lena war deshalb, die Einzelberatung zum Sammeln ihrer Erinnerungen an ihre Mutter zu nutzen. Immer dann, wenn ihr etwas einfiel, das mit ihrer Mutter zu tun hatte, schrieb sie es direkt in ihrer Beratung auf. Mit der Zeit entstand so ein beachtlicher Schatz an aufgeschriebenen Erinnerungen und Lena hatte das Gefühl, nicht mehr dauernd alle Erinnerungen im Kopf durchgehen zu müssen, um sie nicht zu vergessen. So wurden mit der Zeit auch wieder Kapazitäten für andere Dinge frei. »Es tut mir so gut, meine Erinnerungen an Mama hier aufzuschreiben. Ich weiß, dass sie hier sicher sind und dass ich sie am Ende, wenn ich hier irgendwann nicht mehr schreibe, ausdrucken und in meine Erinnerungskiste packen kann.« Als hilfreich für Lena hat es sich außerdem erwiesen, ihr Fragen über ihre Mutter zu stellen, zum Beispiel nach deren Lieblingsessen, nach Dingen, die sie immer wieder gesagt hat, nach Orten, an denen sie gerne war, oder nach den Besonderheiten in ihrer Beziehung zueinander. Für Lena und viele andere Jugendliche auch stellen diese Erinnerungen eine Verbindung zu den Personen her, um die sie trauern. Sie bieten eine Möglichkeit, die tiefe Zuneigung zu diesen Menschen zu

spüren, sich ihnen nah zu fühlen und etwas aus der Vergangenheit auch im Hier und Jetzt einen Platz zu geben. Im Lauf der Beratung hat Lena für sich ent�deckt, dass es im Alltag manchmal zu Situationen kommt, in denen unerwartet starke Erin�nerungen an ihre Mutter hochkommen. Lösten diese Momente zu Beginn noch Unbehagen aus, da sie mit heftigen Emotionen einhergingen, die sie besonders in der Öffentlichkeit als unangenehm empfand, gelang es ihr mit der Zeit, diese Momente als etwas Wertvolles einzuordnen. Sie bezeichnete diese Momente als »Winken« ihrer Mutter und interpretierte sie als Zeichen dafür, dass sie sie auf ihrem Weg begleitet und ihre Beziehung weiterbesteht. »Heute habe ich wieder ein ›Winken‹ entdeckt. Auf dem Rückweg von der Schule musste ich länger an einer Ampel warten. Dort sah ich ein Auto, das genauso aussah, wie unser altes. Darin saß ich mit meiner Mama mal stundenlang im Stau fest und wir haben einfach nur geredet. Daran musste ich denken und es war irgendwie ein schönes Gefühl.« Die Erinnerungsarbeit in der Onlineberatung unterscheidet sich methodisch kaum von der in persönlichen Anlaufstellen. Als vorteilhaft erweist sich, dass die Inhalte automatisch dokumentiert werden und dass das Schreiben über die Erinnerungen den Weg in einen Zustand des freien Assoziierens ebnen kann. Ähnlich wie beim kreativen Schreiben dienen die Fragen der Berater*innen dabei als Impulse, die erste Erinnerungen und Bilder auslösen können und von denen aus sich die User*innen dann weiter durch ihren Erinnerungsschatz bewegen können. Auf diese Weise können häufig deutlich mehr Erinnerungen von ihnen abgerufen werden, als sie sich zunächst haben vorstellen können. Aber auch klassische Methoden der Erinnerungsarbeit wie das Gestalten von Erinnerungskisten oder Erinnerungsalben lassen sich im schriftlichen Austausch an-

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leiten und von den Jugendlichen bei ihnen zu Hause ausprobieren. Zahlreiche Ideen stammen dabei auch immer wieder von anderen User*innen. Zudem können Beratungsinhalte bei YoungWings auch noch lange nach Ende der Beratung im persönlichen Beratungsarchiv und somit in den eigenen Worten nachgelesen werden. Die individuelle Begleitungsdauer Wie lange die User*innen die Angebote nutzen mögen, entscheiden sie – mit Ausnahme des Erreichens der Altersgrenze – selbst oder gemeinsam mit ihrer festen Ansprechperson. Manchmal sind es ein paar Wochen, manchmal mehrere Jahre. Lena hat die Angebote von YoungWings in wechselnder Intensität über knapp sieben Jahre hinweg genutzt. Dabei hat sie die Erfahrung gemacht, dass sie nicht nur selbst Hilfe benötigt und erhalten hat, sondern dass auch sie in der Lage war, andere junge Trauernde durch ihre Beiträge im Forum und Chat zu unterstützen. Anders als häufig in ihrem Umfeld machen User*innen wie sie bei YoungWings die wohltuende Erfahrung, dass ihre Trauer nicht nach einer bestimmten Zeit einfach vorbei sein oder die verlorene Person endlich »losgelassen« werden muss. Viele melden sich zu Beginn der Beratung häufiger und mit der Zeit in größer werdenden Abständen oder immer dann, wenn sich ihre Lebenssituation verändert und das Fehlen des verstorbenen Menschen besonders spürbar wird. Diese Flexibilität im Rhythmus und die Orientierung an den Bedürfnissen der jungen Menschen zeichnet YoungWings sicherlich aus. Wenn es dann soweit ist und User*innen sich von der Website verabschieden möchten, spielt die Möglichkeit, den Abschied gut zu gestalten, bei der Arbeit im Themenfeld Tod und Trauer eine besondere Rolle. Was ein »guter« Abschied ist, wird dabei immer individuell mit ihnen erarbeitet und umgesetzt. Für Lena war es im Rah�men ihres Abschieds wichtig, ein paar Worte »dazulassen«.

»Liebes Youngwings-Team, liebe User! Für ca. 7 Jahre Unterstützung möchte ich Danke sagen! In wenigen Tagen bin ich 21 Jahre alt. Ich habe mich damals nicht getraut, irgend­ wo anders nach Hilfe zu fragen. Eure S­ eite war ein Angebot, bei dem man seine Anonymität bewahren konnte. Hier habe ich das gefunden, was mir bis heute geholfen hat: Liebe Berater, die mir zugesprochen haben, wenn es mir nicht gut ging, die mich aber auch zum Nachdenken gebracht haben, wie es nun weitergeht. Ich weiß nun, dass ich die wirklich wichtigen Erinnerungen an meine Mama gar nicht vergessen kann, weil sie ein Teil von mir sind. Und dann die Gespräche mit anderen Jugendlichen über ähnliche Erfahrungen. Ich habe mich selten mit meiner Trauer allein gefühlt. Gegenseitiges Verständnis und der Austausch über Gefühle, die man nur fühlt, wenn man mit dem Tod im eigenen Leben zu tun hatte. Einzelberatung, Forum, Chat. Ich hatte immer die Möglichkeit, mich aktiv zu beteiligen oder auch einfach nur mitzulesen, wenn ich selbst mal wieder keine Worte gefunden habe. Danke für die vielen Gespräche! Danke, dass ihr all das möglich macht!« Stefanie Schulz, ursprünglich Schulpsychologin, ist seit 2012 für die Nicolaidis YoungWings Stiftung im Bereich der Angebote nach dem Tod eines Elternteils tätig. Sie leitet die Onlineberatungsstelle www.youngwings.de sowie Einzel- und Gruppenangebote für Jugendliche und junge Erwachsene. Derzeit befindet sie sich zusätzlich in Weiterbildung zur systemischen Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin. Kontakt: [email protected]

Telefon: 089-24883780 Nicolaidis YoungWings Stiftung Ridlerstraße 31 80339 München

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Das Lied der Erde – das Netz des Lebens erinnern Jenny von Borstel Hörst Du die Erde singen? Hörst Du den Herzschlag der Erde? Wann hast Du Dich das letzte Mal auf die Erde gelegt und ihr gelauscht? Hörst Du die Erde flüstern? Hörst Du die Stille der Erde? Wann hast Du Dich das letzte Mal mit ­Deinem ganzen Bewusstsein in die Stille der Natur begeben? Hörst Du die Liebe der Erde? Wann hast Du das letzte Mal die nährende Energie der Erde gespürt? Wann bist Du das letzte Mal durch die ­Natur gegangen und hast Dich mit den Bergen, ­Wäldern und Flüssen verbunden gefühlt und Dich auf Deiner Ebene der Bewusstheit erinnert, dass wir unzertrennlich sind, dass alle Wesen eins sind? Hörst Du die Erde rufen? Hörst Du die Erde weinen? Hörst Du das Leid der Erde? Hörst Du die Erde grollen und wüten? Ökologische Trauer Papst Franziskus forderte die Weltgemeinschaft bei der Weltklimakonferenz der Vereinten Nationen, die Ende Oktober/Anfang November 2021 in Glasgow tagte, den »Schrei der Erde« endlich zu hören. Zudem veröffentlichte er 2015 ein Buch mit gleichnamigem Titel. Weitere spirituelle Führer:innen weisen die Menschheit auf den bedrohlichen Zustand der Erde und mögliche Wege daraus hin. »Wir Menschen sind die ein-

zige Spezies, welche die Kraft hat, unseren Planeten und sein Klima zu zerstören – oder noch zu retten«, schreibt der Dalai Lama 2020. Thich Nhat Hanh (2022) weist einen Weg auf, wie wir Heilung für uns selbst, unsere Mitmenschen und unseren Planeten finden. Klimawandel, Naturkatastrophen wie Überschwemmungen, Hitzewellen, Waldbrände, von Menschen herbeigeführte Katastrophen, Kriege mit ihren Zerstörungen, Gifte in unserer Umwelt und unserer Nahrung, Artensterben … verändern nicht nur das Antlitz der Erde, sondern haben auch Auswirkungen auf unsere Psyche und Gesundheit. Heute behandeln Psychiater:innen immer häufiger Menschen, die um den Verlust der gesunden Natur und Erde trauern. Diese wird als ökologoscher Trauer bezeichnet. Im Gesundheitssektor wird dieser Seelenschmerz als S­ olastalgie benannt. »Dieser Ausdruck beschreibt den Stress der existenziellen Trostlosigkeit und des Verlustes, meist verstärkt durch ein Gefühl der Hilflosigkeit. Solastalgie kann durch Umweltveränderungen wie zum Beispiel das Artensterben, Verlust des Zuhauses durch Naturkatastrophen oder Zerstörung der eigenen unmittelbaren Umwelt oder Lebensgrundlage ausgelöst werden« (www.klimawandel-gesundheit.de). Eckart von Hirschhausen schreibt in seiner Serie »gesunde Erde – gesunde Menschen« des dm-Magazins »alverde« im Zusammenhang mit Solastalgie: »Zum Seelenschmerz kommt noch das Bewusstsein, dass es diese heile Welt in Zukunft nicht mehr geben wird« (dm-Magazin November 2021). Auch die Apothekenrundschau nimmt sich des Themas an und hat in der Ausgabe vom 15. November 2021 den Schwerpunkt: »gesunder Planet, gesunder Mensch – Wie uns

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ist das Zeichen unserer Unfähigkeit, mit diesem Gefühl angemessen umzugehen und es auszudrücken. Niemand hat den Mut, unseren toten Wald öffentlich zu betrauern, niemand vergießt eine Träne für unsere kaputten Flüsse und sterbenden Landschaften. Ich bin davon überzeugt, dass sich an dieser systemischen Umweltzerstörung und übermäßigen Ausbeutung unserer natürlichen Ressourcen nichts ändern wird, solange wir diese Trauer nicht zulassen und zum Ausdruck bringen« (­Canacakis 2007, S. 53). Tiefenökologie Doch was hilft uns dabei, um die Wunden der Erde zu trauern? Wie können wir das machen? Neben meiner Trauerausbildung habe ich viele Anregungen aus der Tiefenökologie bekommen. Sie betrachtet die Erde als lebendiges Wesen und geht von der Verbundenheit aller Lebe­wesen im Netz des Lebens aus. Wir Menschen sind in den Naturkreisläufen sowie in den Rhythmus des

m.schröer

der Klimawandel krank macht«. So lassen sich noch viele Beispiele in Medien, auf Social Media und auch in Romanen finden, wo das Thema aufgegriffen wird. Von den Wunden der Erde, die betrauert werden wollen, spricht Trauerbegleiterin Irmgard Häussermann in ihrem Buch »Ökotrauer« (2017). Erstmals habe ich 1995 in meiner Ausbildung zur Trauerbegleiterin bei dem Psychologen und Trauerexperten Jorgos Canacakis von Ökotrauer gehört. Er beschreibt diesen Trauerbereich nach einer Aufzählung unterschiedlicher Ursachen für Trauerreaktionen in seinem Kapitel »Abschied von gesunder Natur« so: »Zum Schluss möchte ich die tiefe, aber unausgesprochene Trauer erwähnen, die viele Menschen in unserer heutigen Zeit überkommt, wenn ihnen der Verlust der Wälder, der profitorientierte Mord an unseren Gewässern und andere Vernichtungsstrategien gegen unser natürliche Umwelt bewusst werden. Die Tatenlosigkeit, die wir überall dort beobachten können, wo wir ohne viel Protest die kontinuierliche Zerstörung unserer Umwelt hinnehmen,

Kraft und Last der Erinnerungen

Piet Mondrian, Trees on the Gein: Moonrise, 1908 / akg-images

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Werdens und Vergehens eingebettet wie alles um uns herum. In indigenen Völkern werden die Menschen als Kinder von Mutter Erde betrachtet und gleichzeitig auch als Hüter:innen der Erde. Sie dienen der Erde und der ganzen Schöpfung zum höchsten Wohle der Natur. Aus meiner Sicht geht es zunächst darum, die Verbindung zu unserer Erde und allen Lebewesen zu erinnern und wieder zu spüren, uns als Kinder und auch als Hüter:innen wahrzunehmen. Das Liebeslied Die Natur lädt uns ein, mit allen Sinnen einzutauchen in die Atmosphäre ursprünglicher Landschaften, die Kraft der Elemente zu erleben, uns mit dem Reichtum zu verbinden und offen für ihre symbolträchtigen Hinweise für unser Leben zu sein. Dabei begegnen wir unseren Wurzeln

und Quellen und so all der Lebendigkeit in uns, erleben Gelassenheit und Glücksmomente. Unsere Herzen öffnen sich und spüren die Verbundenheit mit allem Sein. Dankbarkeit und Liebe durchströmen uns. Wir können wieder im Einklang mit der Natur und ihrem Rhythmus schwingen. Lebendig und bei Sinnen ahnen wir auf diesen Wegen die spirituelle Dimension unseres Daseins. Die lange Reise durch die Evolution, die Erinnerung, wo alles Leben herkommt, sowie die Erfahrung der Verschmelzung mit anderen Lebensformen sind dabei Schritte auf dem Weg. Ein weiterer wichtiger Schritt ist, uns mit den Generationen der Vergangenheit – unseren Ahnen – und der Zukunft – unseren Kindern und Kindeskindern – zu verbinden; die Kraft und Unterstützung durch unsere Ahnen zu empfangen, um mit diesen Geschenken die Erde für unsere Kinder zu erhalten.

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Wenn ich verbunden bin, fühle ich mich umsorgt und beschützt. Innere Stressreaktionen können losgelassen und eine offene Haltung entwickelt werden. Das Einssein mit allem zu erfahren, bietet uns die Grundlage für eine intensive Beziehung zu unserer Erde und allen Lebe­wesen. Hierin liegt die Chance, auch die Gefühle des Schmerzes und der Trauer, die mit der Zerstörung und Verlust unserer Umwelt einhergehen, zu spüren. Aus der Trauerarbeit wissen wir, wie wichtig es ist, die mit der Trauer einhergehenden Gefühle zuzulassen. Das Klagelied Die Erde ist im Wandlungsprozess: Altes will losgelassen werden, Zeit des Übergangs, Neues will willkommen geheißen werden. In der Zeit des Übergangs brechen unsere Emotionen auf. In dieser Schwellenphase singen wir unser Klagelied. Trauer erfasst den Menschen ganz – Körper, Geist und Seele. Für viele Menschen sind die Trauerreaktionen und die häufig damit einhergehenden Ohnmachtsgefühle überwältigend. Oft werden die Gefühle unterdrückt und verdrängt. Dabei sind die Hinwendung zu unserer Trauer und ein Durchleben dieser heilsam und bringen uns auf den Weg der Neuausrichtung. Klagerituale stehen uns dabei hilfreich zur Seite. Hier haben alle Gefühle und Reaktionen ihren Platz und bekommen im Kreativen ihre Ausdrucksmöglichkeiten. In diesem Prozess machen wir uns bewusst, wo wir konkret die Zerstörung und Bedrohung der Erde erleben. In der von Joanna Macy und John Seed (2003) entwickelten Übung »Konferenz des Lebens« haben wir die wunderbare Möglichkeit, ausgestorbene und bedrohte Lebensarten zu würdigen sowie unserer Verzweiflung darüber Ausdruck zu verleihen. In dem Ritual »Konferenz des Lebens« lassen wir uns von einer anderen Lebensform auswählen, verkörpern diese und sprechen als diese in der Konferenz. Zunächst stehen das Leid, die

Bedrohungen und die Anklage im Mittelpunkt. In einem weiteren Schritt werden die Geschenke der Wesenheiten für unser eigenes Menschenleben gegeben. Diese stärken uns auf dem Weg, unsere Aufgabe als Hüter:innen der Erde wahrzunehmen. Kreatives Engagement In dem wir unsere Zugehörigkeit zum Lebensnetz erinnern, spüren und uns dessen bewusst sind, findet ein Wandel in unserem Herzen statt. Wir lernen unsere Erde zu achten und für sie zu sorgen. Denn das, womit ich verbunden bin, behüte ich. Auf dem weiteren Weg geht es darum, eine Vision als Hüter:innen, konkrete Schritte und Aktivitäten, die zu uns passen, zu entwickeln. Es gibt eine unendliche Fülle an Möglichkeiten, was jede und jeder Einzelne tun kann für ein achtsames, respektvolles und die Erde wertschätzendes Dasein im Leben. Neben einer die Erde liebenden inneren Haltung kann ich mich ökologischer verhalten, etwa mehr Radfahren, Ökostrom beziehen, mein Gemüse selber anbauen oder bei einer Solidarischen Landwirtschaft einkaufen. Des Weiteren kann ich für den Klimaschutz demonstrieren, mich vernetzen und bei diversen Organisationen mitarbeiten, mich politisch engagieren oder spenden. Gerade die jungen Menschen zeigen uns, dass auch Kämpferenergie gebraucht wird. Es lohnt sich, für die Erde zu kämpfen, sich für ihren und unseren Fortbestand zusammenzutun. Neben der Greta-Bewegung Fridays for Future haben sich vielfältige weitere Bündnisse for Future organisiert. Eine Übersicht bietet die Internetplattform www.for-future-buendnis.de. Beispielsweise kümmert sich die Vereinigung Psychologists for Future um Menschen mit Klimaangst und -kummer. In den verschiedenen Bündnissen werden auch Mitstreiter:innen und Helfer:innen gesucht. Eine Vielzahl an lokalen bis weltweit tätigen Initiativen sind in den letzten Jahren entstanden. Wer aktiv werden und sich vernetzen möchte, wird die passende Gruppierung für sich finden.

Kraft und Last der Erinnerungen

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Ebenso wird sich in der Kunst der Natur und den Wunden der Erde gewidmet. Die vielfältigen Kunstprojekte bieten eine weitere Möglichkeit, sich zu vernetzen, mitzuwirken und eine Ausdrucksform zu finden. Zwei Beispiele aus meiner Heimat, der Stadt Melle: Willem Schulz und weitere Künstler:innen stellen in ihrem Waldprojekt Musik, Performance, Tanz und Text in den Dialog mit der fantastischen Welt unserer Nachbarschaft, der weltweit gefährdeten Lunge dieses Planeten. Dabei spüren die Künsterler:innen »wunderlichen« Fragen nach, angeregt durch den chilenischen Dichter ­Pablo Neruda: Wie klingt der Wald? Was fragen die Bäume? Wie stehen sie zueinander? Finden sie sich schön? Scheint der Mond für alle? Liebt der Wald den Menschen? Hat er Zeit? Wovon träumt er? Wie tanzt er? Was erzählt er? Wo zeigt er seine Tränen? (www.willemschulz.de) Die Künstlerin Barbara Daiber befriedete mit »Friedsamen« die Stelle, an der die alte Kirchenlinde in der Stadt Melle 2017 abgeholzt wurde, und schrieb eine Geschichte für das Buch »Meller Geschichten – 850 Jahre Melle«, in der sie ihr Erleben und ihre Gefühle zum Ausdruck brachte.

Objekt ansehen, das man beliebig nutzen und benutzen kann. Doch die Erde ist unsere Mutter, beseeltes, fühlendes Sein (www.singenfuerdieerde.de). Wir haben nur diese eine Erde – ohne sie können wir nicht leben. Das, was wir ihr antun, tun wir letztlich uns selbst an. Doch wir sind der Zerstörung der Erde nicht hilflos ausgeliefert. Wenn wir uns mit ihr verbinden und mit ihr in Beziehung gehen, können wir im gegenwärtigen Moment immer segensreiche Gedanken, Gefühle und Taten für die Erde, unsere Um- und Mitwelt und uns selbst geben.

Das Wiegenlied

Kontakt: [email protected] Website: www.Tanz-Ritual-Trauer.de

Ein weiteres Beispiel möchte ich noch anführen: Die Messe für die Erde – eine ergreifende Chorinszenierung von der Musikerin Gila Antara, an der ich beteiligt bin. Sechzig Menschen aus ganz Deutschland singen für ein neues Erwachen unserer Liebe zu Mutter Erde. Lob- und Kraftgesänge, Gebete und Klagen öffnen den Raum für ein heilsames Fühlen. Die Messe für die Erde ist ein besonderes kulturelles Ereignis mit zutiefst das Herz öffnendem Gesang. Darin ist sie auch ein existenzielles Engagement für Frieden auf dieser Welt und für einen bewussten, nachhaltigen und respektvollen Umgang mit der Natur.  Die Künstler:innen glauben, dass die Ausbeutung und Zerstörung der Erde nur möglich ist, weil wir uns innerlich von ihr getrennt fühlen und sie als ein

Canacakis, J. (2007). Ich begleite dich durch deine Trauer. Lebensfördernde Wege aus dem Trauerlabyrinth. Stuttgart. Dalai Lama (2020). Der Klima-Appell des Dalai Lama an die Welt: Schützt unsere Umwelt. Hrsg. von F. Alt. Wals. Franziskus, Papst (2015). Der Schrei der Erde. 100 klare Worte. München u. a. Häussermann, I. (2017). Ökotrauer. Ermutigung zur Spuren­ suche. Borchen. Macy, J.; Young Brown, M. (2003). Die Reise ins lebendige Leben. Strategien zum Aufbau einer zukunftsfähigen Welt. Ein Handbuch. Paderborn. Meller Geschichten – 850 Jahre Melle (2020). Ein Buch von Meller Bürgerinnen und Bürgern. Melle. Thich Nhat Hanh (2022). Zen und die Kunst, die Welt zu retten. Heilung und Harmonie für uns selbst und die Erde. München.

Lasst uns das Lied der Erde hören und einen gemeinsamen Gesang anstimmen! Jenny von Borstel ist Trauerbegleiterin, Sozialarbeiterin, Heilpraktikerin für Psychotherapie, fortgebildet in Musiktherapie, Klangmassage, Klientenzentrierter Gesprächstherapie und verschiedenen Kreistanzstilen. Sie ist Anleiterin von meditativen und Tänzen des universellen Friedens, »Heilsames Singen« und Mantrensingen sowie unterschiedlicher Meditationsformen. Als Referentin in der Erwachsenen- und Familienbildung sowie im Hospizbereich bietet sie Vorträge, Seminare und Workshops zu unterschiedlichen Themenschwerpunkten an.

Literatur

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Die Macht und die Last von Erinnerung Eva Eusterhus Ich erinnere mich noch an den elastischen Gurt, den die Arzthelferin über meinen Achten-Monats-­ Babybauch spannt. Ich höre noch das Rotzen der fast leeren Kontaktgel-Tube, als sie einen Klecks des klaren Gels auf die Sonde aufträgt. Ich erinnere mich an den Schauer, der über meinen Bauch wandert, als sie die Sonde mit der kühlen Schmiere auf meinem Bauch platziert. Und ich erinnere mich an die Stille, die folgt. An das laute Kratzen, als die Arzthelferin erneut Kontaktgel aufträgt und die Sonde schließlich an einer anderen Stelle platziert. Und wieder an einer anderen Stelle und wieder an einer anderen. Und wo sie sie auch auflegt, immer ist da diese Stille. Schließlich sagt die Arzthelferin, dass sie den Doktor bittet, einen Ultra­schall zu machen. Ich solle mir keine Sorgen machen, sicher liegt das Kind nur anders als sonst. Diese und die folgenden Minuten sind in meiner Erinnerung die schmerzhaftesten. Ich weiß, etwas stimmt nicht. Kurze Zeit später liege ich im abgedunkelten Ultraschallraum und starre auf den Monitor, auf dem immer dieser puckernde Punkt zu sehen war. Aber jetzt ist da kein puckernder Punkt mehr. »Es tut mir leid, aber ich sehe keinen Herzschlag mehr«, sagt mein Frauenarzt. Ich erinnere mich, wie ich nach seiner Hand greife, wie er meine mit beiden Händen umschließt. Diese Bilder werde ich nie vergessen. Heute, gut ein Jahr nachdem ich erfahren habe, dass das Herz unserer Tochter in der 32. Schwangerschaftswoche aufgehört hat zu schlagen, haben die Bilder weder ihre Konturen verloren, noch sind die Farben verblasst. Ihr Tod ist die erste schwere Verlusterfahrung, die ich bisher in meinem Leben gemacht habe. Als Kind und junges Mädchen erlebte ich, wie meine Großeltern starben. Das war traurig, hatte aber auch etwas Er-

lösendes, ja, etwas Natürliches an sich. Ein Baby, das im Bauch und so zum Ende der Schwangerschaft hin verstirbt, ist das Gegenteil. Als die niederschmetternde Nachricht meinen Verstand erreichte, war mein erster Gedanke: Da ist er jetzt, dein erster großer Verlust, da hast du ihn. Denn das Verrückte ist: Die Themen Abschied, Tod und Trauer beschäftigen mich bereits über zehn Jahre. Als ich mich für eine Ausbildung als ehrenamtliche Sterbebegleiterin anmeldete, fragten mich viele, warum diese Hinwendung zum Tod? Ich wusste darauf selbst keine Antwort. Ich dachte, es sei die Journalistin in mir, die auf diese Weise einem Tabu nachzuspüren versucht. Und so begann ich, mich im Rahmen einer beruflichen Auszeit mit den Themen Abschied, Trauer und Tod zu befassen. Auch weil die Möglichkeiten, darüber in der Zeitung zu schreiben, begrenzt waren. Lediglich an Totensonntag schien das Thema gesetzt zu sein und somit eine Berechtigung zu haben. Das erklärt vielleicht ein bisschen, warum ich den Verlust meiner Tochter sehr bewusst erlebt habe. Plötzlich fand ich mich selbst wieder in dem, was Sterbende und deren Angehörige mir zuvor von ihren Verlusten berichtet hatten. So hatte ich einerseits ein gewisses Rüstzeug, aus dem ich schöpfen konnte. Andererseits spürte ich, was ich ebenso bereits bei anderen beobachten konnte: Jeder trauert anders. Jeder wird auf sich selbst zurückgeworfen, deshalb ist es so schwer auszuhalten. Für einen selbst, aber auch für jene, die einem beistehen möchten. Während andere Sternenmütter sich in der frischen Phase des Verlustes mit der Suche nach einem Grabplatz und der Gestaltung des Begräbnisses befassen und darin Trost finden, war für

Dot.ti / photocase.de

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mich nur eines klar: Ich brauche keinen Ort, den ich aufsuche, um Mimi zu gedenken, um ihr nah zu sein. Was wird dieser Platz mit mir machen, wenn er eines Tages verlassen, vergessen aussehen wird, weil der Friedhofsbesuch von anderen Dingen, die es zu erledigen gibt, immer wieder verschoben wird? Das fragte ich mich. Stattdessen wollte ich all die Bilder festhalten, die in meinem Kopf aufblitzten und die mich nicht zur Ruhe kommen ließen. Mimis Geburt, die Stunden, die ich mit ihr im Arm verbrachte. Das Abschiednehmen von ihrem Körper. Die Trauer, die sich über mich und unsere kleine Familie legte, und all das, was ich tat, um in den ersten Stunden, Tagen und Wochen nach ihrem Tod irgendwie weiterzumachen. So begann ich, Tagebuch zu schreiben.

Auf diese Weise konnte, ja musste ich mich erinnern, musste alles noch einmal durchleben. Es tat weh, aber es war ein Schmerz, der etwas Befreiendes hatte, auf diese Weise konnte ich all die Bilder festhalten und zugleich auch ablegen. Es gab Stellen, die schrieben sich von allein, auf anderen habe ich lange herumgedacht, habe sie umgeschrieben, gelöscht, neu angesetzt. Ich weiß noch, wie Ruhe in mir einkehrte, wenn ich für ein Bild, eine Situation endlich die passenden Wörter gefunden hatte. Um etwas so exakt wie möglich zu formulieren, muss man sich zum Kern dessen vorarbeiten, was man sagen will. Man muss den eigenen Gedanken durchdringen. Durch das Schreiben zwang ich mich selbst dazu, meine Gedanken und Gefühle zu klären, ja ihre Essenz herauszuarbeiten.

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D i e M a c h t u n d d i e L a s t v o n E r i n n e r u n g    5 1

Als ich ein halbes Jahr nach Mimis Tod das erste Mal erneut die Aufzeichnungen durchlas, fiel mir auf: Den ersten Eintrag habe ich in der dritten Person geschrieben. Ich näherte mich mir selbst aus der Beobachterrolle an, ich tat es instinktiv. Erst nach diesem ersten Absatz löse ich auf, dass die Frau, die ich beschreibe, ich bin. Das Schreiben hatte also noch eine andere Wirkung, eine, die vielleicht noch entscheidender war als der therapeutische Effekt, den das Schreiben an sich hat: Ich schrieb etwas auf, um mich im selben Augenblick von dem, was mir widerfahren war, zu lösen. Und wenn es auch nur ein winziger Spalt war, der sich da beim Schreiben der ersten Seiten auftat, ich schaffte Distanz. Als ob ich sagen wollte: Diese Geschichte hier ist ein Teil von mir, aber ich bin nicht nur diese Geschichte. Heute, ein gutes Jahr nach Mimis Geburt, ertappe ich mich dabei, wie ich hier und da Passagen umschreiben möchte. Ich stelle fest: Meine Erinnerung ist lebendig, sie verändert, sie erneuert sich ständig selbst. Ich habe mir mit dem Tagebuchschreiben ein Stück Erinnerung geschaffen, um mich daran festzuhalten, als ich in nichts anderem Halt fand. Solange, bis mir wieder anderes Halt gibt. Das führt mich zu der Überzeugung, dass die tröstende Erinnerung an meine Tochter mir nur dann eine Hilfe ist, wenn ich sie auch aufgeben oder abwandeln, ja ständig anpassen darf. Ich beobachte das auch bei anderen Trauernden: Jeder gelangt früher oder später an einen Punkt, an dem das Leben selbst ihn oder sie dazu auffordert, Erinnerungen vielleicht nicht loszulassen, aber ihnen einen anderen Rahmen zu geben. Mir wurde das auf eine – ich möchte schon fast sagen: radikale – Weise vor Augen geführt: Vier Monate nach Mimis Tod machte neues Leben in mir fest. Ich konnte es kaum fassen, schließlich hatte ich die tiefste Kluft erst gerade hinter mir gelassen. Und sofort war da diese Frage, die in meinem Kopf hämmerte: Wie nur soll ich die nächsten neun Monate überstehen? Wechsle ich

den Frauenarzt, meide ich all die Orte, die so stark und noch so frisch mit Mimis Tod besetzt sind? Bin ich eine Mutter, die ihre Schwangerschaft in erster Linie mit Bangen und Sorgen verbringt? Oder lasse ich zu, dass meine Geschichte umgeschrieben wird und damit auch ein Stück weit meine Erinnerung? Besonders deutlich wurde mir das ausgerechnet in dem Raum, der lange meine persönliche Hölle war – dem eingangs beschriebenen Raum in der Praxis meines Frauenarztes, der mit der Liege und dem CTG-­Gerät. Zehn Monate nach Mimis Tod liege ich dort wieder. Mir ist heiß und kalt, mein Herz rast, alles in mir will weg. Wieder wandert ein Schauer über meinen Bauch, als die Arzthelferin die mit dem kühlen Kontaktgeld beschmierte Sonde platziert. Und dann ist es da, dieses schnelle pochende Wummern, der Herzschlag des »neuen« Babys. Angesichts dessen konnte ich gar nicht anders, als pures Glück zu empfinden, möge das davor Erlebte auch noch so furchtbar sein. Und so musste ich zulassen, dass der Ort meiner persönlichen Hölle mit einer so schönen Erinnerung verbunden ist wie mit dem Herzschlag unseres Regenbogenbabys. Es hat mir vor Augen geführt, dass man immer das annehmen muss, das gerade passiert – auch wenn man meint, dazu noch gar nicht in der Lage zu sein. Heute weiß ich: Ich kann meine Gefühle nicht verändern, aber ich kann verändern, welche Position, welche Haltung ich zu ihnen einnehme. Ich kann meine Gedanken verändern, indem ich entscheide, welchen Gedanken ich Raum geben will und welchen nicht. Eva Eusterhus ist seit 2006 Redakteurin bei der »Welt« und »Welt am Sonntag«. Sie hat sich immer schon für die Themen Tod, Trauer und Abschied interessiert und darüber berichtet. Im November 2021 verlor die Mutter einer Tochter ihr zweites Kind, Mimi, die sie still zur Welt brachte. Im November 2022, ein Jahr nachdem sie ihre Tochter verloren hatte, kam ihr Sohn zur Welt. Über die ersten Tage, Wochen und Monate nach dem Verlust von Mimi schrieb sie Tagebuch. Auszüge daraus veröffentlichte sie in der »Welt am Sonntag«.  Kontakt: [email protected]

Kraft und Last der Erinnerungen

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In der Erinnerung werden wir zu denen, die wir sind Ist die persönliche Erinnerungskultur eine moralische Aufgabe?

Ina Schmidt »Es braucht nicht immer ein Wohin, manchmal genügt auch ein Woher.« Ernst Barlach

In unseren Erinnerungen werden wir zu denen, die wir sind. Immer wieder aufs Neue. Wir erinnern uns an unseren ersten Schultag, an den Duft von frisch gemähtem Gras im Ferienhaus an der Ostsee oder an den Geschmack von Haselnuss­ joghurt, an das Lächeln eines Jugendfreundes oder die gemeinsame Reise nach Südamerika, bevor die Kinder geboren wurden. Erinnerungen lassen vergangene Zeiten wieder aufleben, wir können jetzt und in diesem Moment in ihnen schwelgen und doch weisen sie gleichzeitig schmerzlich darauf hin, dass diese Zeiten vergangen sind und nicht mehr Teil gegenwärtigen Erlebens sein können. Als Zeugnis dieser Vergangenheit aber bleiben Erinnerungen auch in der Gegenwart kostbar. Manche sind Teil unserer Geschichte, die ohne diese Vergangenheit eine andere gewesen wäre, und wieder andere versuchen wir aus unserem Leben fernzuhalten, sie wirklich der Vergangenheit angehören zu lassen, auch wenn es nicht immer gelingt. Wie aber gehen wir mit diesem eigenartigen Gewebe vergangener Erlebnisse und Erfahrungen um? Haben wir die Möglichkeit, unsere Erinnerungen zu beeinflussen, für sie zu sorgen und damit für das, was oder wer wir sein wollen? Gibt es vielleicht sogar so etwas wie eine moralische Verpflichtung, die eigenen Erinnerungen zum Ausdruck zu bringen, sie weiterzugeben oder sich ihnen zu stellen, damit wir überhaupt zu denen

werden können, die wir eigentlich sind – einfach, weil wir um die wissen, die wir waren? Es werden kaum eindeutige und wahrscheinlich auch keine einfachen Antworten sein, die wir auf solche Fragen geben können, und doch eröffnet die Suche nach ihnen neue Perspektiven und Möglichkeiten für das, was eine ganz persönliche Erinnerungskultur sein kann. Drei dieser fragwürdigen Überlegungen wollen wir uns im Folgenden näher widmen: Was genau bedeutet es, sich zu erinnern? Kann ich mich dazu entschließen oder gar verpflichten lassen? Und was hat das Ganze mit Moral zu tun? Diese Überlegungen wirken möglicherweise abstrakt, fast befremdend sachlich, wenn wir uns an unseren Erinnerungen freuen oder von ihnen heimgesucht werden, wenn sie uns Glücks­ momente bescheren und in unbeschwerte Zeiten zurückreisen lassen, vielleicht aber auch schmerzhaft auf eine Lücke hinweisen, die nie wieder zu schließen sein wird. Worauf diese Fragen in egal welcher Situation aber hindeuten, ist, dass wir unseren Erinnerungen nicht ausgeliefert, sondern in der Lage sind, sie zu überprüfen, herauszufinden, ob das, was wir unsere Erinnerungen nennen, auch anders zu betrachten sein könnte, zumindest ein Stück weit. Ob wir die Aufgabe annehmen wollen, für eine Erinnerung zu sorgen und den Mut aufzubringen, genauer hinzusehen, nicht nur um unserer selbst willen, sondern auch, um etwas zu hinterlassen oder weiterzugeben. Daher können diese Fragen helfen, sich den eigenen Erinnerungswelten zu widmen, die wir nicht immer freiwillig betreten, die Mut er-

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fordern und uns dennoch zu denen machen, die wir sind – in jeder Gegenwart, die bald Vergangenheit und doch Teil einer möglichen Zukunft sein wird.

Widmen wir uns also der ersten Frage: Was bedeutet es, sich an vergangene Zeiten, an Menschen oder Orte zu erinnern, die wir nie wieder werden sehen oder besuchen können? Welche Erinnerung ist uns kostbar und welche verstecken wir vielleicht vor der Welt oder sogar vor uns selbst? Und was genau tun wir, wenn wir mit unseren Erinnerungen umgehen? Der britische Philosoph John Locke war schon im 17. Jahrhundert davon überzeugt, dass der Mensch nur durch seine Erinnerungen zu dem wird, was er oder sie ist. Das Bewusstsein, mit dem wir uns zu uns selbst ins Verhältnis setzen können, entwickelt sich über das, was wir auch zeitlich dem eigenen Erleben zuordnen können. Die Fähigkeit, sich auf diese Weise zu erinnern, unterscheidet uns vom Tier, auch wenn damit noch lange nicht klar ist, wer da eigentlich wem etwas voraus hat. Friedrich Nietzsche sah im unhistorischen Wesen der Tiere durchaus einen Vorteil, lebten sie doch viel weniger in einem denkenden Verhältnis zu dem, was war, und dem, was daraus werden könnte. Aber eben dieses gegenwärtige Leben im Jetzt steht nicht zur Wahl – wir sind erinnernde Wesen und gehen tagtäglich mit dieser Begabung um, mehr oder weniger bewusst. Es sind unsere Erinnerungen und unser Denken, die aus unseren Erlebnissen, aus Momenten und Augenblicken wie einem Umzug oder der Rückkehr aus dem Urlaub, aus Schicksalsschlägen und Verlusten eine Geschichte machen, die wir als unser Leben beschreiben. In dieser Beschreibung stimmen wir uns mit anderen ab, aber erstaunt werden wir feststellen, wie unterschiedlich die Erinnerungen an denselben Urlaub oder den

Uwe Hoffmann

Eine Reise zu mir selbst: Was bedeutet es, sich zu erinnern?

Haben wir die Möglichkeit, unsere Erinnerungen zu beeinflussen, für sie zu sorgen und damit für das, was oder wer wir sein wollen? Abend bei Freunden sein kann, obwohl wir gemeinsam am selben Tisch gesessen haben. Darin wird eine wichtige Unterscheidung notwendig, und zwar die, zwischen dem, was wir als Gedächtnis beschreiben, und dem, was eine Erinnerung ausmacht. Worin liegt der Unterschied? Erinnern wir uns nicht an das, was im Gedächtnis bleibt? Ja und nein. Das Gedächtnis beschreibt so etwas wie ein »Archiv des Gedachten«, eine Art lebendiges Speichermedium, in dem wir versuchen, Daten, Fakten, Erfahrungen und Erlebnisse abzulegen, die wir vor unser geistiges Auge holen können, wenn wir sie brauchen. Diese wertvolle Eigenschaft ist aber nur ein Bruchteil dessen, wozu unsere Erinnerung offenbar in der Lage ist, und die Überlegungen dazu reichen bis in die griechische Antike. Schon Platon kritisierte in seinem Dialog »Sophistes« die »Freunde der Materie«, die die Erinnerung als einen Prozess objektiven Abspeicherns verstanden wissen wollten, und

Kraft und Last der Erinnerungen

Zoonar GmbH

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warb für ein anderes Bild, in dem das Erinnern nicht weniger als den Akt des Bewusstwerdens im Verhältnis zum eigenen Erleben meint (anam­ nesis). Es bedeutet den Prozess, in dem Menschen mit ihren Erlebnissen umgehen – und die sind eben auch dann gänzlich andere, wenn wir am selben Tisch sitzen –, sie transformieren und sich zu eigen machen. Diese Verknüpfung finde – so Platon – in der »lebendigen Rede« statt, die der griechische Denker als unerlässliches Instru­ment menschlicher Lebendigkeit ansah. Wir müssen uns von unseren Eindrücken, Erlebnissen und Erfahrungen erzählen und so letztlich ein immer wieder neu entstehendes Bild der Erinnerung entwerfen, aus dem sich eine gemeinsame Zukunft entwerfen lässt. Nur so können wir lernen, uns unserer Selbst und der Gemeinschaft, in

der wir uns zum Ausdruck bringen, so zu vergewissern, dass wir wirklich von Identitätsbildung sprechen und dies nicht mit dem Abrufen archivierter und abgespeicherter Momente verwechseln. Momente, die wir in Bild und Schrift bis hin zu den Speicherkapazitäten unserer Smartphones festhalten und zu konservieren versuchen. Schließen wir uns dieser platonischen Kritik an, dann geht es aber in der Erinnerung darum, eben dieses Archiv zu verlassen und das darin Gespeicherte zu transformieren, sich sinnlich darin wiederzufinden und eine lebendige Verbindung zu den eigenen Erlebnissen zu ermöglichen – wenn wir denn anstreben, eine eigene Identität, ein Bewusstsein unserer Selbst zu entwickeln, das sich in einem gelebten Narrativ widerspiegelt und als solches weiterleben kann. Wir haben nicht immer die Wahl: Wem fühlen wir uns in unseren Erinnerungen verpflichtet? Egal, ob wir es nun mit John Locke, Friedrich Nietzsche oder Platon halten wollen – die Tatsache, dass unser Leben aus archivierten Ereignissen und lebendigen Erinnerungen besteht und wir darüber berichten können, lässt sich offenbar nicht von der Hand weisen. Und damit sind wir bereits bei der zweiten Frage angelangt: Gibt es so etwas wie eine Verpflichtung, sich erinnernd dem eigenen Leben zu widmen? Es scheint keine Institution vorstellbar, die uns diese Aufgabe stellt, und dennoch übt das Leben selbst einen Zwang auf uns aus: Wir können gar nicht anders, als uns zu erinnern. Und darin haben wir die Wahl, wie wir und ob wir den Umgang mit der eigenen Vergangenheit pflegen oder eher vernachlässigen wollen. Und dann erscheint die Frage, ob wir es uns nicht selbst schulden, so gut es eben geht, mit

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der Fähigkeit der eigenen Identitätsbildung umzugehen, auf eine neue Weise. Bis heute ist das Phänomen der Erinnerung für die Wissenschaften von der Anthropologie und Kulturwissenschaft, über die Psychologie bis zur Neurowissenschaft ebenso zentral wie rätselhaft, wenn es um die Erforschung menschlicher Identitätsfindung geht. Wer sind wir, wo kommen wir her und wie können wir uns sicher sein? Der Wissenschaftsjournalist Christian Schüle (2011) fasst es zusammen: »Die psychische Mechanik des Erinnerns ist derart komplex, dass darin so gut wie alles spezifisch Menschliche involviert und aneinandergekoppelt ist: Emotion, Bewusstsein, Geist, Verstand, Poesie. (…) Man könnte sagen: Das ganze Leben besteht aus Erinnern. Ohne Erinnerung ist eine persönliche Identität nicht möglich.« So kann also die Verpflichtung durchaus aus der Überlegung entstehen, dass wir uns selbst und der sozialen Gemeinschaft, in der wir leben, verpflichtet sein wollen – und damit auch die eigenen Erinnerungswelten gestalten und bewusst zum Ausdruck bringen sollten. Wie aber haben wir diese Identitätsbildung zu verstehen: Geht unsere kulturelle Begabung so weit, dass wir Erinnerungen sammeln können wie kleine Schätze in bunten Schachteln und Schmuckkästchen – um am Ende mit der bestmöglichen Version unserer selbst aufzuwarten? Können wir dafür sorgen, uns nur noch an das zu erinnern, was wir behalten wollen, und alles andere ins Reich des Vergessens zu schicken? Auch wenn wir den Eindruck haben, dass in Zeiten größtmöglicher »Repräsentationsflächen« insbesondere digitaler Art genau das geschieht, zeigt sich doch, dass hier eher glänzende Fassaden errichtet werden, die wenig mit wahrhaftiger Suche nach Identität zu tun haben. Hier geht es nicht um Erinnerungen, sondern um eine selektive Darstellung archivierter Gegenwart. Die Art und Weise aber, wie wir uns woran erinnern, lässt sich nicht bewusst steuern und schönen. Wir alle wissen, wie lückenhaft und wandelbar Erinnerungen sein

können, und gerade jene Bilder, die wir gern in die hinterste Ecke all dieser Schachteln verbannen würden, sind die, die wir ein Leben lang nicht loswerden. Dennoch gehört es zum Geschäft der Erinnerungen zu romantisieren und das Abwesende zu verklären: Nicht nur das Schöne schmücken wir gern aus, auch Schmerz und das Gefühl, etwas verpasst zu haben, lassen sich in der Erinnerung unbewusst zu einem Protagonisten unserer Geschichte machen oder in die Nebenrolle verbannen. Auch dies ist ein Wissen, das wir nicht außer Acht lassen sollten: Wir können unsere Erinnerungen nicht steuern, aber wir können entscheiden, wie genau wir hinschauen und nachfragen wollen. Aus dem Geflecht unserer Erinnerungen entstehen keine faktisch einwandfreien Rückblicke auf die eigene Vergangenheit, so sehr wir uns auch anstrengen, aber auch keine frei erfundenen Geschichten, sondern erzählerische Variationen oder Versionen eines Themas: in individuellen wie in kollektivem Zusammenhängen kreieren wir Bilder, Rituale, Überzeugungen und Kausalitäten, die sich in Gruppen, in Organisationen, in Familien, Gesellschaften und Nationen wiederfinden: Nichts anderes ist das, was Kultur bedeutet, und auf ein kulturelles Gewebe sind wir Menschen als biologische »Mängelwesen« (Arnold Gehlen) angewiesen. Ebendiese Zusammenhänge werden Teil einer Person und ihrer Geschichte, aber auch Grundlage einer gemeinsamen historischen Identität, auf die wir uns berufen – oft, ohne diese Zusammenhänge genau zu benennen oder sich dieser Identität sicher zu sein. In dieser relationalen Unbestimmbarkeit liegt weniger ein Makel als vielmehr ein Anspruch: Eben weil jede Identität nichts Sicheres, nicht Gegebenes ist, müssen wir sie in ihrer beständigen Entwicklung im Auge behalten – egal ob unser Blick in die Vergangenheit, auf die Gegenwart oder in die Zukunft gerichtet ist. Streben wir also nicht nur die Entwicklung einer eigenen Identität an, die das, was wir als persönliches Potenzial

Kraft und Last der Erinnerungen

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Die einzelnen Fäden ­haben wir in eine leben­ dige Textur gewoben, die am Ende nicht ­weniger darstellt als unsere ganz persönliche Lebensgeschichte – immer in ein zugrunde liegendes »­Woher« eingebettet, das größer ist als wir.

zu entwickeln haben, bestmöglich zum Ausdruck bringt und in die soziale Gemeinschaft einbringt, in der sie eine Rolle spielt, dann entsteht genau hier die Frage nach einer moralischen Verpflichtung, so gut es geht, für seine Erinnerungen zu sorgen. In dieser Verpflichtung liegt weniger ein normativer Appell, sondern die Erinnerung an eine Kraft, die uns als erinnernde Wesen zur Verfügung steht – und die wir für gut halten. Und damit sind wir bei der Frage nach der Moral.

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Vom Wohin zum Woher: Gibt es eine Moral des Erinnerns? Wenn wir uns beim Kaffee an Tante Hilde erinnern, in Fotoalben blättern oder Familienfeste feiern, dann sammeln wir gemeinsame Lebensmomente und halten sie in neuen lebendigen Formen fest. Das tun wir an bestimmten Orten, zu bestimmten Zeiten und auf eine bestimmte Weise – und halten auf diese Weise Vergangenheit lebendig. Darin geht es weitaus weniger darum, herauszufinden, wo wir hinwollen, um die eigene Identität auszuprägen, sondern sich selbst als Teil eines sozialen, geschichtlichen und kulturellen Kontextes zu verorten, der mir zugrunde liegt und doch veränderbar bleibt. Nicht das Auf-

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rechterhalten statischer konservierter Ereignisse ist hier gemeint, sondern das gemeinsame Gestalten von Wirklichkeit, die sich beständig von einer Vergangenheit zu einer Gegenwart in eine Zukunft hinein entwickelt – in Abhängigkeit dessen, wie wir darin als Einzelne und als Gemeinschaften denken, sprechen, handeln und entscheiden. Diese Form einer persönlichen und gesellschaftlichen Erinnerungskultur hat durchaus einen moralischen Anspruch, indem sie den Blick auf das Gute, das zu Erhaltende oder zu Bedenkende richtet, ohne es auf einen Sockel heben zu müssen, vor dem wir andächtig ausharren. Wir gehen in einer solchen Form des gemeinsamen Erinnerns davon aus, dass wir auf so etwas wie ein kollektives Gedächtnis zurückgreifen können, das allerdings nicht darauf angewiesen ist, dass jeder und jede sich in objektiven Daten und Fakten bewegen kann. Wieder hilft das Bild des Gewebes, an dem wir gemeinsam weben, das Lücken und gerissene Fäden aufweist, ausgebessert und geflickt sein mag und uns dennoch tragen kann – in einer Familie, in einer Dorfgemeinschaft, einem Verein oder auch einer politischen Gemeinschaft. Die Annahme, dass es über das individuelle hinaus auch so etwas wie ein kollektives Gedächtnis gibt, eine Art geistiger Rahmen, in den wir hineingeboren werden und der uns davor bewahrt, dass jeder Mensch bei »null« anfangen muss, sondern auf ein kulturelles Wissen, ein »Erbe« zurückgreifen kann, erscheint uns nicht revolutionär, ist historisch aber relativ neu. Der Begriff des »kollektiven Gedächtnisses« stammt von dem französischen Philosophen und Soziologen Maurice Halbwachs (1939), der in den 1920er Jahren über das Gedächtnis von kleineren Gruppen wie Familien, Schulklassen oder Sportmannschaften forschte und zeigte, dass es vielfach gemeinsame Erinnerungen sind, die die soziale Verbindung dieser Gruppe bilden und erhalten. Und diese Zugehörigkeit ist es, aus der sich eine Art Auftrag ergibt, der von moralischen Vorstellungen geprägt ist: Gerade in den Momen-

ten, in denen die eigenen Erinnerungen nicht leicht fallen, es um Verlust und Trauer geht, die schmerzhaft deutlich machen, dass das Gewesene nicht mehr als eine Erinnerung sein kann, geht es nicht allein um eine Spurensuche in der Vergangenheit, sondern darum, Beziehungen von Vergangenheit und Gegenwart herzustellen, in denen unsere Erinnerungen einen Platz bekommen und über uns hinaus wirksam bleiben können: im gelebten Narrativ eines kulturellen Miteinanders, das schon in der eigenen Lebenswelt beginnt, in der Familie, unter Freunden, aber auch in größeren Zusammenhängen und Gemeinschaften das Empfinden von Zugehörigkeit stärken kann, vielleicht auch gerade durch gemeinsam empfundene Trauer. Wenn wir uns in diesem Sinne vornehmen, gut für unsere Erinnerungen zu »sorgen«, dann gilt es nicht, die Vergangenheit zu konservieren, sondern dem nachzuspüren, was dem gemeinsam gelebten Leben zugrunde liegt: die einzelnen Fäden, die wir in eine lebendige Textur gewoben haben, die am Ende nicht weniger darstellt als unsere ganz persönliche Lebensgeschichte – immer in ein zugrunde liegendes »Woher« eingebettet, das größer ist als wir. Ina Schmidt ist Kulturwissenschaftle­ rin mit Schwerpunkt ­Kulturphilosophie und Autorin philosophischer Sach- und Kinderbücher. 2005 gründete sie die denk­raeume, eine Initiative, um philosophische Themen in die gesellschaftliche Lebenswelt zu übersetzen. Schmidt arbeitet für Unternehmen und Organisationen, ist Mitglied der internationalen Gesellschaft für philosophische Praxis und des Expertennetzwerks der Liechtenstein Academy und engagiert sich in Bildungsprojekten mit Kindern und Jugendlichen, um das Philosophieren als kulturelle Praxis zur politischen Bildung bereits in der Grundschule einzuführen. Kontakt: [email protected] Website: http://www.denkraeume.net

Literatur Gehlen, A. (1940). Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt. Berlin. Halbwachs, M. (1939/1967). Das kollektive Gedächtnis. Stutt­ gart. Schüle, C. (2011). Im Bann der Erinnerung. In: Die Zeit Wissen, Nr. 2.

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Wenn Erinnerungen nicht weitergegeben werden Über die seelischen Folgen des Schweigens für die Kriegsenkelgeneration

Bettina Alberti Menschen haben eine Geschichte, Familien haben eine Geschichte, ebenso wie eine Generation, ein Volk, eine Nation, eine Geschichte haben. Im Laufe des Lebens gemachte Erfahrungen werden verinnerlicht, sie prägen unser Denken, Fühlen und Handeln. Träume, Ängste und Hoffnungen werden davon mitbestimmt. Um die eigene Geschichte zu wissen, gibt Identität und dafür braucht es Erinnerung: »Ich weiß um mich, ich weiß, wer ich bin, ich weiß um meine Wurzeln. Ich weiß um dich, ich weiß um euch.« Erinnerungen sind Teil des Selbsterlebens, sie initiieren und tragen Kontakt und Beziehung zu anderen, sie sind Teil von Kommunikation. Sie mitteilen zu können schafft einen seelischen Raum, sie können ergänzt, überprüft und neu bewertet werden. Ein lebendiges, aktives Gedächtnis entsteht. Gefrorene Traumaerinnerungen Anders verhält es sich bei Erinnerungen an traumatische Erfahrungen. Sie bleiben oft unzugänglich und statisch. Der französische Neuropsychia­

ter und Psychoanalytiker Boris Cyrulnik (2015) spricht von der gefrorenen Erinnerung als gehirnphysiologisch errichtetem Schutz vor traumatischen Gedächtnisinhalten und ihrer Reaktivierung. Traumatische Erfahrungen haben eine besondere Wirkkraft. Es entstehen eine Hypersensibilität für bestimmte sensorische Informationen, die mit der traumatischen Situation verknüpft sind, und ein stets vorhandener latenter innerer Alarmzustand. Die Folgen können an die Nachkommen weitergegeben werden – und bei Kriegserfahrungen als kollektive Prägung eine ganze Generation, ein Volk oder eine Volksgruppe betreffen. Sie führen zum Verlust von Vitalität, was den Boden für Depression bereitet, wie sie im Nachkriegsdeutschland oft anzutreffen war, und in vielen Familien zu emotionaler Erstarrung und Schweigen führte. Menschen mit unverarbeiteten traumatischen Erfahrungen können für andere schwer erreichbar sein. Werden sie zu Eltern, erleben die Kinder eine seelische Verschlossenheit, die sich in innerer Abwesenheit, scheinbarem Desinteresse, man-

Für die wertschätzende Annäherung an die teils noch verborgenen Erinnerungen braucht es sichere Beziehungen, das Finden von Sprache, Verstehen und Verstandenwerden.

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gelnder Resonanz oder plötzlichen ­aggressiven Impulsdurchbrüchen äußern kann. Die Kinder geraten dadurch in Unverbundenheit und Einsamkeit. Der traumatisierte Elternteil trägt eine Gefühlserbschaft in sich und gibt sie weiter. Manche Kinder werden auch überbordet mit Erinnerungserzählungen eines Elternteils, was genauso wie das Schweigen aus einer Traumaabwehr resultieren kann. Durch die seelische Offenheit und Liebesfähigkeit eines Kindes und seine Loyalität zu den Eltern versucht es, die erahnten und zu fühlenden Verletzungen der Eltern zu heilen, was zum Aufgeben eigener Bedürfnisse führt. Parentifizierung, eine Rollenumkehr zwischen Eltern und Kindern, ist ein Beziehungsmuster, dem die Kriegsenkelgeneration oft ausgesetzt war. »Beim Schlafengehen saß meine Mutter oft an meinem Bett und erzählte mir unentwegt von ihren Fluchterlebnissen aus Ostpreußen, es war ein Monolog, vor dem ich mich nicht schützen konnte«, erzählt der 1955 geborene Hans. »Wollte ich nachts selbst Zuflucht vor Ängsten im elterlichen Bett suchen, galt ich als verweichlicht und sollte abgehärtet werden.« Familien und ihre Geschichten Der familiäre Austausch zwischen den Generationen ist geprägt von Geschichten und Anekdoten aus der Vergangenheit. Gemeinsames Stöbern in Fotoalben lässt Erinnerungen aufleben und hilft, sie zu bewahren, die Kinder können teilhaben am Familiengedächtnis. Es vermittelt ihnen Zugehörigkeit zu ihrem Familienstamm und ihrer Kultur. Die traumatisch belasteten Familienerfahrungen der Kriegsenkelgeneration erschwerten diesen Prozess: »Erst mit 16 Jahren erfuhr ich: Mein früh gestorbener Vater war Jude gewesen, er war Ingenieur und seine Firma schickte ihn in eine Niederlassung nach Sumatra. Er überlebte dort in einem Internierungslager. Meine bei Kriegsbeginn neun Jahre alte jüdische Tante wurde in einem katholischen Nonnen-Internat unter falschem Na-

men versteckt. Meine Großeltern überlebten irgendwie, ich lernte sie aber nicht mehr kennen. Zur jüdischen Kultur der väterlichen Linie habe ich nie Kontakt bekommen und habe noch heute eine stille Sehnsucht danach«, berichtet die 1958 geborene Anna. Die Mutter der 59-jährigen Monika stand als Zwölfjährige an der Hand ihres Vaters, der als Kommunist vor ein Erschießungskommando treten sollte, im letzten Moment begnadigt wurde und in Lagerhaft kam. Monika ist mit starken Ängsten ihrer Mutter aufgewachsen, die sie selbst seelisch verstörten. Die Erinnerungsgeschichte dazu erfuhr sie erst vor kurzem von einer alten Tante. Es hilft ihr, ihre Mutter und sich selbst viel besser zu verstehen. Und der 42-jährige Markus glaubt, sein Großvater war Aufseher in Auschwitz. »Es gibt da nur Andeutungen. Allein der Gedanke daran bringt mich in ein Gefühl von innerem Zerfall, weiter nachfragen kann ich da gar nicht. Es kostet mich viel Kraft, mich von meinen familiären Wurzeln fernzuhalten.« Der Zweite Weltkrieg und die nationalsozialistische Diktatur mit dem darauffolgenden Kalten Krieg und der Teilung Deutschlands ist ein das seelisch-geistige Leben prägender Teil der deutschen Geschichte. Viele Kriegskinder erlitten Traumatisierungen durch das Kriegsgeschehen, durch Verlust von Angehörigen, durch Verfolgung und durch Flucht aus den Ostgebieten. Und sie erlebten als bindungsbelastenden Faktor die seelenfeindliche Erziehungshaltung des Nationalsozialismus in Familien und staatlichen Erziehungsinstitutionen. Verletzlichkeit, Ängste, das Äußern von Gefühlen und Bedürfnissen wurden als Schwäche angesehen und sanktioniert, ein selbstfeindliches Menschenbild. Es führte ebenfalls zu Schweigen. Die NS-Paradigmen wurden transgenerational an die nächste Generation, die der Kriegsenkel, bis in die 1970er Jahre hinein weitergegeben, die in einem enormen gesellschaftlichen Prozess mit dafür sorgte, dass wir nicht mehr den Schutz des Schwei-

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gens brauchen, der in Verbindung mit kollektiver Schuld und Scham lange in Deutschland das geistige Klima prägte. Erinnerung kann heute Räume der Zuwendung, des Austauschs, des Verstehens erfahren. Zeugnis ablegen und Versöhnung Unter den Diktaturerfahrungen des DDR-­Regimes setzte sich das Schweigen auf eine andere Weise fort. Eine Erinnerungskultur dazu, wie sie zur Aufarbeitung der NS-Zeit in Deutschland selbstverständlich geworden ist und inzwischen auch die seelischen Erfahrungen einbezieht, scheint nur sehr vorsichtig Raum zu bekommen. Das betrifft vor allem den Erinnerungsaustausch zwischen Ost- und Westdeutschen. Die psychischen Folgen der politischen Systemtraumatisierung werden relativ wenig thematisiert. Die Nicht-Weitergabe von Erinnerungen an die Kriegsenkelgeneration kann also verschiedene Hintergründe haben: • Traumadynamisch dient sie dem Schutz vor einer Reaktivierung der Geist und Seele überfordernden Gedächtnisinhalte. • Sie kann eine Reaktion sein auf Skepsis, Unverständnis und Erschrecken der Zuhörenden. Das Umfeld – auch das gesellschaftliche – trägt dann dazu bei, dass Erinnerungen nicht weiter mitgeteilt werden, ein wechselseitiger Prozess. • Sie kann ein Versuch sein, die Nachkommen vor Schrecken und Kummer bezüglich der eigenen Familiengeschichte zu schützen. • Sie kann ein Versuch sein, die Nachkommen vor Schuld und Scham bezüglich der eigenen Familiengeschichte zu schützen oder sich selbst vor einer Anklage der Nachkommen. • Sie kann ein erworbener Überlebensmecha­ nismus sein, der manchmal nur eine bestimmte Erinnerungszeit oder Thematik betrifft. Sie kann Befremden bei den Nach-

kommen auslösen und den Drang, »es wissen zu wollen«, heimlich zu recherchieren und sich dafür schuldig zu fühlen, Familientabus nicht respektiert zu haben. In diesem Sinne prägen auch nicht weitergegebene Erinnerungen die Gegenwart und damit die Zukunft, weil sie die Erlebens- und Gestaltungsmöglichkeiten von Menschen beeinflussen. Die Schriftstellerin Christa Wolf sagt in ihrem Roman »Kindheitsmuster«: »Das Vergangene ist nicht tot, es ist nicht einmal vergangen, wir trennen es nur von uns ab und stellen uns fremd« (Wolf 1976/2007, S. 11). Zur Heilung kann Versöh­nung gehören, auch dafür braucht es Erinnerung. Für die wertschätzende Annäherung an die teils noch verborgenen Erinnerungen braucht es sichere Beziehungen, das Finden von Sprache, Verstehen und Verstandenwerden. Und weiter Zeugnis ablegen und bezeugen, um im persönlichen und im gesellschaftlichen Prozess sich von den Schatten der Vergangenheit immer weiter zu befreien und die Humanität für essenzielle Aufgaben im Hier und Jetzt weiterzuentwickeln. Bettina Alberti arbeitet seit 1986 als Psychologische Psychotherapeutin mit tiefenpsychologischer Ausrichtung. Ihr fachlicher Schwerpunkt ist die Auswirkung von psychischer Traumatisierung auf die Bindungs- und Beziehungsentwicklung. Kontakt: [email protected] Website: www.koerpertherapie-luebeck.de

Literatur Alberti, B. (2005). Die Seele fühlt von Anfang an. Wie pränatale Erfahrungen unsere Beziehungsfähigkeit prägen. München. Alberti, B. (2010/2019). Seelische Trümmer. Geboren in den 50er- und 60er-Jahren: Die Nachkriegsgeneration im Schat­ ten des Kriegstraumas. Überarb. Ausgabe. München. Bode, S. (2004). Die vergessene Generation. Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen. Stuttgart. Cyrulnik, B. (2015). Rette dich, das Leben ruft! Berlin. Gruen, A. (2015). Dem Leben entfremdet. Warum wir wieder lernen müssen zu empfinden. München. Hansen, D. (2015). Altes Land. München. Wolf, C. (1976/2007). Kindheitsmuster. Frankfurt a. M.

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Katastrophen und was wir von ihnen erinnern Reflexionen nach einer Naturkatastrophe

Axel Enke In der Nacht vom 14. zum 15. Juli 2021 brach nach einem zweitägigen schweren Starkregen über das gesamte Ahrtal eine Flutkatastrophe mit einem Höchstpegelstand von über 7 Metern herein. Die Folge waren erhebliche Sachschäden, die weitgehende Zerstörung der Infrastruktur: Brücken, Straßen, Radwege und Versorgungsleitungen wurden fast gänzlich zerstört oder stark beschädigt. 134 Menschen starben und über 700 wurden verletzt. Zudem wurden Tausende obdachlos

und hunderte Gebäude weggerissen. Insgesamt wurden 42.000 Menschen betroffen, von denen 17.000 unmittelbar Hab und Gut verloren. Auf viele Jahre hin wird die überwiegend vom Tourismus lebende Region beeinträchtigt sein. Soweit die Fakten, die inzwischen hinreichend medial verbreitet wurden. Wir leben in einer Kleinstadt (Sinzig), in der es solch ein Hochwasser seit Generationen nicht annähernd gab. Sinzig liegt sogar vor dem eigentlichen Ahrtal, 2 Kilo-

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meter vor der Ahrmündung in den Rhein. Es gibt hier entsprechend keine Berghänge, die den Fluss stark einengen. So wurden wir in der Nacht gegen 2 Uhr von der Flut überrascht und nur durch eine Verkettung glücklicher Umstände entkamen wir der Situation, dass wir von den Wassermassen im Haus überrascht wurden. Diese Erlebnisse werden wahrscheinlich nicht vergessen werden und ein Teil der Erinnerung bleiben. Zu dramatisch waren die Erlebnisse in diesen Stunden. Die ganze Tragweite der Zerstörung wurde uns jedoch erst am Nachmittag des nächsten Tages bewusst, als wir das Haus erstmals besichtigten. Zu diesem Zeitpunkt stand das Wasser im Gebäude noch kniehoch. Im Innern des Gebäudes war alles voller Schlamm und Unrat. Alles war braun und die Möbel lagen kreuz und quer übereinander. Das Glas der Fenster war eingedrückt oder zersplittert, teilweise mit dem Rahmen herausgerissen. Insgesamt also ein Bild der Zerstörung. Auch um das Haus herum war alles anders. Tausende Flaschen eines ortsansässigen Getränkeherstellers füllten das gesamte Gelände. Diese Eindrücke der Zerstörung bleiben sicher auch. Zu stark sind sie in so kurzer Zeit. Nahezu von jetzt auf gleich eine totale Daseinsveränderung.

Perspektivwechsel – Vom Guten im Schlechten Was wir danach erlebten, war eine unglaubliche Welle der Hilfsbereitschaft. In kürzester Zeit kamen Zugehörige, Freunde, Freundinnen und Bekannte unserer Kinder sowie Fremde, um zu helfen. In unermüdlichem Einsatz wurde der Schutt um unser Haus herum entfernt und das Haus komplett entkernt, was einen immens schweren körperlichen Arbeitseinsatz der freiwilligen Helfer*innen erforderte. Bereits eine Woche nach der Flut waren das gesamte Inventar, die Böden, der Estrich sowie der Putz von zwei Etagen entfernt und auf die Straße gebracht worden. Dort fuhren freiwillige Helfer mit Lastwagen und Baggern den verschlammten Schutt weg. Im gesamten Ahrtal entstand in kürzester Zeit die enorme Menge von 180.000 Tonnen Schutt und Sperrmüll. Die Hilfe von vielen Fremden sowie den ehrenamtlichen Helfern der freiwilligen Feuerwehren, des Technischen Hilfswerks (THW), des Roten Kreuzes und der Bundeswehr sowie weiterer Organisationen brachte in relativ kurzer Zeit deutlich sichtbare Erfolge. So entstand die Hoffnung, dass es wirklich ein »Danach« geben kann. Von den vielen Ereignissen rund um die Helfer*innen möchte ich ein paar Begebenheiten erzählen:

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So kam beispielsweise eine Gruppe junger syrischer Männer vorbei und fragte nach, ob Hilfe benötigt würde. Sie räumten daraufhin in kürzester Zeit unser Carport von Steinen, Schutt und Schlamm frei. Als unser Sohn sie fragte, warum sie das täten, sagte einer von ihnen: »Deutschland hat uns geholfen, und jetzt helfen wir den Deutschen.« An einem anderen Tag machten wir gerade vor dem Haus Pause, als zwei ältere Damen (82 und 74 Jahre alt) mit einem Bollerwagen vorbeikamen, der mit Kaffee, Brötchen, Wasser und Gebäck gefüllt war. Sie waren aus Zwickau angereist und sagten, dass sie von dem Unglück gehört hätten. Da sie keinen Schlamm mehr schippen könnten, wollten sie den Menschen durch Kaffee und Brötchen helfen. Sie waren in einem Helferhotel untergebracht und haben dort Kaffee gekocht. Die Nahrungsmittel hatten sie bei einem Discounter besorgt. Es war einer der leckersten Kaffees, die ich je trank.

Fremde Frauen und Männer kamen mit schweren Bohrhämmern und halfen beim Entkernen des Hauses sowie beim Entfernen von Putz und Schutt. Und immer wieder wurde von Fremden für Nachschub bei der Verpflegung gesorgt. Auch Firmen halfen an vielen Stellen. Die Baumärkte gaben für von der Flut Betroffene 20 Prozent Rabatt auf jeden Einkauf. Der örtliche Aldi öffnete an den Tagen nach der Flut seine Türen und versorgte Helfer*innen unentgeltlich mit Lebensmitteln. Die Firma Kärcher spendete Hochdruckreiniger und die Firma Dewald (ein Hersteller von hochwertigen Handwerksmaschinen) spendete einen Bohrhammer. Der für die Trocknungsgeräte benö­tigte Strom wurde kostenfrei über Wochen zur Verfügung gestellt. Die freiwillige Feuerwehr versorgte die Helfer*innen und arbeitenden Eigentümer*innen mit großen Wasserbehältern, die sehr oft zügig nachgefüllt wurden. Diese große Bereitschaft aller Altersgruppen zu helfen ist eine wohltuende und eindrucksvolle Unterschiedserfahrung zur allgemeinen Berichterstattung in vielen Medien, nach der man den Eindruck bekommt, dass man in einer egoistischen Welt lebt. Diese Erfahrung zeigt: In der Not ist man nicht allein.

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Gut gemeint ist nicht gut Natürlich gab es in diesen Zeiten auch negative Erfahrungen. So wurde beispielsweise unmittelbar nach der Flut die Falschmeldung verbreitet, dass die Rurtalsperre gebrochen sei. Alle Anwesenden wurden von der Feuerwehr panikartig auf höheres Gelände getrieben. Auch wurde nachts in einzelnen Häusern eingebrochen. Diebe stahlen das Werkzeug von Flutbetroffenen. Aus diesem Grund verstärkte auch die Polizei für einige Tage ihre nächtliche Präsenz. Unter dem Strich blieb aber der Eindruck solcher Meldungen hinter dem der großen und immer noch anhaltenden Hilfe weit zurück. Eine weiterer Aspekt ist der Umgang mit den sozialen Medien. In diesen Tagen erreichten mich als Textnachrichten zahlreiche Nachfragen und gute Wünsche. Sie waren alle nett gemeint und die darüber kommunizierten Hilfsangebote (»Sollen wir helfen kommen?«) ehrlich. Phasenweise hatten wir jedoch so viele Helfer*innen vor Ort, dass wir Menschen absagten, die uns tatkräftig helfen wollten. Schwieriger und weniger hilfreich waren Textnachrichten im Stil von »Ihr Armen. Das ist ja total schlimm, was euch passiert ist. Wie geht es euch?« Zwar geht man davon aus, dass die Absender dieser Nachrichten eine Antwort erwarten. Zeit jedoch ist in solchen Situationen ein wertvolles Gut. Zudem verstärken solche Nachrichten eine gewisse Problemtrance, die ja durch die Umstände ohnehin vorhanden ist. Die solcher Art geäußerte Empathie hat auch ihre bedenklichen Seiten. Die Philosophin Heidemarie Bennent-Vahle schreibt dazu: »Auch überschäumende (vermeintliche) Anteilnahme kann sich äußerst destruktiv auswirken, vor allem dann, wenn sie als Massenphänomen auftritt. Hierfür fand Renald Luzier, ein französischer Zeichner, der dem Attentat auf die Redaktion von Charlie Hebdo entging, erschütternde Worte: ›Die Gutherzigkeit der Leute, die wirklich große Unterstützung, die wir bekommen haben und die mich tief berührt hat, hatte eben auch perverse Fol-

gen. Dieses gewaltige Mitgefühl hatte etwas Überwältigendes bis Vernichtendes, es war genauso schlimm wie die Trauer selbst.‹ In diesen Sätzen kommen zwei Problemaspekte des Mitfühlens zum Tragen: Zum einen geht es auch hier um die besonderen Herausforderungen, vor die echtes Mitgefühl uns stellt, sofern es dem Adressaten annähernd gerecht werden soll. Zum anderen wird hier das Problem menschlichen Schwarmverhaltens durch emotionale Ansteckung angesprochen, ein Problem, das sich in vielen Bereichen zeigt und teilweise sehr schädliche Folgen nach sich zieht« (Bennent-Vahle 2020, S. 214). Ein weiteres für mich interessantes Phänomen war die Tatsache, dass mir nie der Gedanke kam, warum es »nur« uns traf. Immerhin hatten ja die meisten Bürger in Sinzig solche Schäden nicht erlitten. Nimmt man die Bundesrepublik als Bezugsgröße, wurden noch weniger betroffen. Dieser Gedanke entsteht aber nicht, da man eben nicht allein betroffen wurde. Um uns herum waren alle betroffen, einige ertranken sogar in den Fluten. Die Tatsache, dass ich einer unter vielen bin, den die Flut traf, lässt solche Gedanken nicht aufkommen. Der Spruch, dass geteiltes Leid halbes Leid ist, ist hier zutreffend. All diese guten Erfahrungen werden nach der Flut bleiben. Wohl wissend, dass uns das Schlimmste – nämlich der Verlust eines Zugehörigen – nicht getroffen hat, bleibt die Erfahrung: Du bist nicht allein. So kann ich Rutger Bregmans Buchtitel »Im Grunde gut« nur zustimmen. Axel Enke ist Systemischer Berater, Philosophischer Praktiker, Kinaesthetics Trainer in Sinzig. Kontakt: [email protected]

Literatur Bennent-Vahle, H. (2020). Besonnenheit  – eine politische Tugend. Zur ethischen Relevanz des Fühlens. Freiburg. Bregman, R. (2020). Im Grunde gut. Eine neue Geschichte der Menschheit. Hamburg.

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»Die Bilder deines Sterbens quälen mich immer wieder« Traumatische Verlusterinnerungen und  Verlustbilder bearbeiten und lösen

Roland Kachler Immer wieder überfallen die Mutter die Gedanken an den Tod ihres Sohnes. Sie sieht das vorgestellte Bild, wie er auf dem Bahngleis steht, wie der Zug auf ihn zufährt und dann … Weiter will sie nicht denken und doch kann sie nicht anders. Immer wieder drängt sich dem Vater das Bild auf, wie er gut gelaunt das Zimmer seiner Tochter betreten will und dann vor Schreck erstarrt, weil er seine Tochter erhängt sieht. Immer wieder sieht die Mutter das Bild, wie die Polizei vor der Haustür steht. Sie hört immer noch die ersten Sätze der Polizisten kreischend im Ohr. Sie sieht sich zusammenbrechen, schreiend und schluchzend. An den Kriseninterventionsdienst erinnert sie sich nicht mehr, nur dass jemand versucht, sie zu beruhigen. Viele Trauernde erleben solche traumatischen Verlusterinnerungen. Oft haben sie den Tod des nahen Menschen miterlebt, oft erinnern sie sich an das Auffinden des Verstorbenen, an die Überbringung der Todesnachricht oder an die Situation, in der der Verstorbene identifiziert werden musste. Aber auch die vorgestellten Bilder vom traumatischen Sterben und Tod des nahen Menschen können ähnlich wie Verlusterinnerungen traumatisierende Wirkung für die Betroffenen haben. Diese massiven Verlusterinnerungen oder vorgestellten Bilder sind fast immer mit

traumatisierenden Verlusten (Kachler 2021) verbunden, wie zum Beispiel mit einem entstellenden Unfall des Verstorbenen, mit einem Suizid oder bei der Ermordung des nahen Menschen. Je plötzlicher, unerwarteter und je gewaltartiger der Verlust des nahen Menschen eintritt, desto massiver ist seine traumatisierende Wirkung auf die Hinterbliebenen, die dann nicht nur Trau-

» D i e B i l d e r d e i n e s S t e r b e n s q u ä l e n m i c h i m m e r w i e d e r «    6 7

Wie wirken traumatisierende Verlusterinnerungen und Verlustbilder? Wie in den Beispielen deutlich wird, drängen sich die traumatisierenden Verlustbilder immer wieder auf, oft kommen sie überfallsartig als sogenannte Flashbacks. Sie werden häufig durch Verlusttrigger wie zum Beispiel durch ein Fernsehbild völlig unerwartet für die Betroffenen ausgelöst. Oft kommen sie auch in Momenten der Ruhe oder in der Nacht und können dann nicht kontrolliert werden. Die Gedanken kreisen dann um dieses Bild und die damit verbundenen Fragen, wie beispielsweise die Warum-Frage. Sehr häufig tauchen die traumatischen Verlusterinnerungen als Albträume auf, die als sehr beängstigend erlebt werden.

Die auftauchenden Verlusterinnerungen aktualisieren dann das Verlusttrauma und die verbundenen Reaktionen wie Schock, Erstarrung, Betäubung und dissoziative Erfahrungen wie das Gefühl der Irrealität. Es kommt dann zu einer Retraumatisierung und damit zur Verlängerung, manchmal auch zu einer Intensivierung der Verlusttraumareaktionen. Die massiven Verlustbilder triggern aber häufig auch den akuten Verlustschmerz, so dass es zu massiven Verlustschmerzattacken kommt. Sie überfallen die Trauernden so plötzlich und unerwartet, dass sie sich vom Verlustschmerz überflutet fühlen. Mit diesen retraumatisierenden Erfahrungen entsteht im Weiteren eine Angst vor den traumatisierenden Verlustbildern und den nachfolgenden Trauma- und Verlustreaktionen. Trauernde sind dann oft innerlich angespannt, nervös und ängstlich. Sie versuchen nun mit hohem psychi-

jarts / photocase.de

ernde, sondern meist auch traumatisierte Betroffene sind.

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schen Aufwand, Gedanken oder Hinweise auf den Tod des nahen Menschen zu vermeiden. Dies gelingt meist nur vorübergehend, bis dann ein unerwarteter Verlusttrigger die Verlustbilder wieder aktiviert. Langfristig wird damit der Trauerprozess, aber auch die innere Beziehung zum Verstorbenen blockiert (Kachler 2019). Die Trauernden vermeiden das Zulassen ihres Schmerzes und ihrer Trauer, weil nun umgekehrt auch diese Gefühle die Verlustbilder aktivieren. Aber auch die Liebe und die innere Beziehung zum verstorbenen nahen Menschen werden durch traumatisierende Verlusterinnerungen blockiert. So werden angenehme Erinnerungen an die gemeinsame Lebenszeit mit dem Verstorbenen gestört, weil auch wichtige schöne Erinnerungen an den nahen Menschen mit den traumatischen Erinnerungen an sein Sterben verknüpft sind. So kann eine komplizierte Trauma-Trauerstörung (Kachler 2021) entstehen, die sich aus einer posttraumatischen Belastungsstörung, einer vermiedenen und deshalb oft prolongierten Trauer und einer blockierten inneren Beziehung zum Verstorbenen zusammensetzt (Kachler 2021). Daraus entwickeln sich über eine Chronifizierung depressive oder psychosomatische Symptome. Damit solche Symptomatiken nicht entstehen, sollte in der Trauerbegleitung mit den traumatischen Verlusterinnerungen und Verlustbildern gearbeitet und langfristig das Verlusttrauma bearbeitet werden. Wie versorgen wir traumatisierende Verlusterinnerungen und Verlustbilder? In der Trauerbegleitung etwa bei einer Beratungsstelle geht es zunächst darum, die traumatisierenden Verlustbilder so zu versorgen, dass sie nicht mehr oder nicht mehr so häufig und massiv als Flashbacks auftauchen und die Trauernden einen Umgang mit ihnen finden können. Dabei sind folgende Schritte zu empfehlen: Zunächst fragen wir von uns aus aktiv nach, wie es den Trauernden

mit den Erinnerungen an das Sterben und den Tod des nahen Menschen geht und ob sie diese als eindringend, überfallsartig und belastend erleben. Wir erläutern den Trauernden, dass das Auftreten solcher Bilder zunächst ganz normal ist und sie später meist in den Hintergrund treten und nicht mehr so belastend sein werden. Wir würdigen die Bilder aber auch als Zeichen dafür, wie schwer und prägend der Tod des nahen Menschen ist. Die Liebe zu ihm will darüber hinaus wissen, was mit dem nahen Menschen in seiner schwersten Stunde des Sterbens passiert ist. Deshalb stellen sich Trauernde dies oft bildhaft vor, auch wenn dies dann belastend ist. Wir schlagen den Trauernden vor, diesen Bildern in der Vorstellung einen Rahmen zu geben und diese gerahmten Bilder an einen ebenfalls vorgestellten aufbewahrenden Ort zu geben und damit vorerst wegzustellen. Dies sollte nicht, wie in der Traumatherapie häufig angewandt, ein Tresor sein, sondern ein abgegrenzter, bewahrender Ort, an dem diese Bilder gut aufgehoben sind und schon ein Stück von ihrer Heftigkeit verlieren. Wir betonen, dass nicht der Verstorbene, sondern »nur« die Traumabilder an diesem Ort sind. Der Verstorbene ist vielmehr im Herzen oder Gedenken der Trauernden gut bewahrt und aufgehoben. Eine Mutter, deren Tochter bei einem Brand ums Leben kam, bringt die vorgestellten Bilder in ein Waldstück. Ich bitte sie, in der Vorstellung um dieses Waldstück eine hohe Buschhecke wachsen zu lassen, damit die Verlustbilder sie in der nächsten Zeit nicht mehr überfallen können. Meist genügt dieses Vorgehen, die traumatisierenden Bilder an einem abgegrenzten Aufbewahrungsort wegzustellen. Die traumatisierenden Verlustbilder verlieren an Intensität, Schärfe und Dringlichkeit, so dass sie in den Hintergrund treten können. Später können die Hinterbliebenen sich die Bilder noch einmal vergegenwärtigen, sie aus sicherer Distanz auf einem imaginierten Bildschirm anschauen und dann als Teil der Geschichte des Verstorbenen und der eigenen Biografie einreihen und integrieren.

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» D i e B i l d e r d e i n e s S t e r b e n s q u ä l e n m i c h i m m e r w i e d e r «    6 9

Wie lösen wir traumatisierende Verlusterinnerungen und -bilder? Doch nicht immer reicht bei schweren traumatischen Verlusten dieses Versorgen der traumatisierten Bilder aus. Oft behalten die Verlusterinnerungen und -bilder ihre retraumatisierende Qualität, so dass die Trauernden über lange Zeit emotional destabilisiert werden. Die Trauernden können sich nicht auf einen zwar schmerzlichen, aber heilsamen Trauer- und Beziehungsweg einlassen. Dann müssen wir diese weiterhin traumatisierenden und destabilisierenden Bilder über die Versorgung an einem bewahrenden Ort hinaus weiter bearbeiten. Dies sollte dann in aller Regel in einer Psychotherapie geschehen. Die Arbeit mit traumatisierenden Verlustbildern gehört in den Kontext der Trauerarbeit mit traumatischen Verlusten. Dies kann hier nicht im Einzelnen ausgeführt werden (vgl. Kachler 2021), aber ich will darauf hinweisen, dass für die Hinterbliebenen der Verstorbene selbst der unmittelbar traumatisierte Betroffene ist. Die eigene Traumatisierung durch den schweren Verlust tritt im Selbstverständnis der Trauernden demgegenüber zunächst in den Hintergrund. Vielmehr leiden die Trauernden zuallererst mit dem Verstorbenen und wünschen sich, dass es dem Verstorbenen gutgeht und er von seinem Trauma bei seinem Sterben und Tod geheilt wird. Wir brauchen also immer auch eine imagina­ tive Verlusttraumatherapie für die Verstorbenen! Der erste Schritt liegt nun darin, dass wir die weggestellten traumatischen ­Verlusterinnerungen und -bilder noch einmal aus der Distanz anschauen lassen. Dann bitten wir die Trauernden, zusammen mit einer imaginierten Helfergestalt den Verstorbenen aus der erinnerten oder vorgestellten traumatischen Verlustsituation zu bergen. Wenn dies für die Trauernden emotional zu massiv wird, kann dies auch allein durch eine Helfergestalt wie einen Engel oder eine Lichtgestalt erfolgen. Der verletzte oder verwundete verstorbene nahe Mensch wird dann an einen heilsamen Ort

gebracht, an dem seine Verletzungen und Traumawunden heilen können. Wir überlegen auch, was die Trauernden selbst in dieser auch sie traumatisierenden Situation wie beim Miterleben des Todes des nahen Menschen an heilsamer Zuwendung brauchen. Eine Frau, die ihren Mann aus der Unfallsituation birgt und ihn zu einer Wiese mit einem Bach bringt, wünscht sich, dass ihre Tochter dabei ist und dass diese sie mit einer Decke umhüllt und hält. Nachdem der Verstorbene und die Trauernde an diesem heilsamen Ort ein Stück heilende Linderung erfahren haben, können die Trauernden den Verstorbenen an seinen dauerhaft sicheren Ort (vgl. dazu Kachler 2017) gehen lassen. Bei traumatischen Verlusten ist es wichtig, dass dieser dauerhaft sichere Ort für den Verstorbenen heilende Qualitäten hat. Eine Mutter, deren Sohn sich erschossen hat, sieht ihren Sohn in einem transparenten, heilenden Licht aufgehoben. Dort findet er das, was er in seinem Leben vor seinem Suizid nicht finden konnte. Diese Vorstellung von einem dauerhaft sicheren und zugleich heilsamen Lichtort für ihren Sohn ist für die hinterbliebene Mutter und ihre Suizidtrauer sehr tröstlich. Hier wird deutlich, dass die Therapie für den Verstorbenen immer auch eine heilsame und tröstliche Erfahrung für die traumatisierten Trauernden ist. Roland Kachler, Diplom-­Psychologe und Psychologischer Psychotherapeut, Klinischer Transaktionsanalytiker (DGTA), Systemischer Paartherapeut, Supervisor, Klinische Hypnose (MEG), Traumatherapie (PITT), war langjähriger Leiter einer Psychologischen Beratungsstelle und ist jetzt tätig in eigener psychotherapeutischer Praxis. Er hält Vorträge und bietet Workshops zu Trauer an. Kontakt: [email protected] Website: www.Kachler-Roland.de Literatur Kachler, R. (2017). Meine Trauer wird dich finden. Ein neuer Ansatz in der Trauerarbeit. Freiburg i. B. Kachler, R. (2019). Hypnosystemische Trauerbegleitung. Ein Leitfaden für die Praxis. 5. Auflage. Heidelberg. Kachler, R. (2021). Traumatische Verluste. Hypnosystemische Beratung und Therapie von traumatisierten Trauernden. Ein Leitfaden für die Praxis. Heidelberg.

Kraft und Last der Erinnerungen

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Gute Erinnerungen für die Hoffnung auf einen guten Morgen Bianca Melle Die Krise »Wenn sie mich jetzt mit den Kindern verlässt, dann weiß ich nicht mehr weiter.« Dieser Satz stammt von Herrn Kaufmann1, 45 Jahre, berufstätig. Im Rahmen eines Krisengespräches kam es zu dieser verzweifelten Äußerung. Eine Kollegin hatte mich als ihre Urlaubsvertretung gebeten, kurzfristig diesem Mann eine Krisenintervention anzubieten. Herr Kaufmann war ein gestandener, erfolgreicher und im Leben stehender Mann. Seine Ehefrau wollte sich für ihn völlig unerwartet von ihm trennen. Das zog ihm den Boden unter den Füßen weg, er hatte Suizidgedanken und sah sich auf der Bahnbrücke stehen, bereit zu springen. Es gab insgesamt zwei Sitzungen, eine vor dem Wochenende und eine am Montag danach. Auftrag war es, die Suizidalität abzuklären und die kommenden Tage gut zu strukturieren, um möglichst viele haltgebende Elemente einzusetzen. Nach diesen zwei Sitzungen übernahm meine Kollegin wieder den Fall. »Ich halte es nicht mehr aus, wenn mein Kollege mich weiter denunziert«, sprach Frau Müller, 52 Jahre, aus dem öffentlichen Dienst. Sie saß mir in der dritten Sitzung gegenüber, weinte und wusste nicht mehr weiter. Seit Jahren wurde sie in ihrer Abteilung systematisch vom restlichen Team gemobbt, federführend von einem Kollegen. Lange Zeit fühlte sie sich dafür selbst verantwortlich, schuldig und dachte, sie müsse sich doch »einfach nur zusammenreißen«. Als ihr Hausarzt sie

wegen eines Burnouts krankschrieb, nahm Frau Müller ihren Mut zusammen und kam für ein Gesundheitscoaching zu mir. Insgesamt begleitete ich Frau Müller sechs Sitzungen, in denen sie sich stabilisierte und sich in der Behörde in einen anderen Bereich versetzen ließ. »Ich konnte mich von meinem sterbenden Freund nicht verabschieden, weil er es nicht wollte. Nun ist die Essstörung wieder da und ich kann wieder mal nicht mehr essen.« Die junge Studentin Lea, 28 Jahre alt, begleitete ich schon lange in bestimmten Phasen ihrer Essstörung. Diesmal waren der Tod eines Freundes und der verhinderte Abschied Auslöser ihrer Krise. Der Freund wollte, dass sie ihn gesund und fit in Erinnerung behielt und das letzte Bild nicht das Endstadium seiner Krebserkrankung darstellen sollte. Lea war nach seinem Tod voller Schuldgefühle und innerer Abwehr, was sich durch erneutes Hungern ausdrückte. All dies sind Schilderungen aus meinen Beratungen und Coachings von Menschen unterschied­ lichen Alters, Geschlecht, Berufen und Betroffenheit. Was sie verband, war, dass sie sich alle in einer akuten Krise befanden. Jeder und jede hatte zwar unterschiedliche Auslöser dafür – akute oder langwährende Situationen. Und doch gab es bei den psychischen und körperlichen Signalen Überschneidungen. Auch das mentale Empfinden einer absoluten Ausweglosigkeit und einer damit verbundenen Ohnmacht zeigte sich bei allen.

G u t e E r i n n e r u n g e n f ü r d i e H o f f n u n g a u f e i n e n g u t e n M o r g e n    7 1

Bevor wir als Berater:innen dazu übergehen, Menschen aus ihren Krisen hinaus zu begleiten, sollten sowohl unsere Klient:innen als auch wir verstehen, was überhaupt mit ihnen passiert.

Wenn Menschen in akuten Krisen sind, sind sie psychisch und physisch wie darin »verhaftet«. Es gibt kaum Erinnerungen an vergangene bessere Zeiten und daher auch noch kein Zutrauen, dass sich der Zustand, indem sich jemand befindet, verbessern könnte. Nur das bedrückende Jetzt und die Krise sind gegenwärtig.

Pablo Heimplatz, unsplush.com

Wertschätzen: Das kurze Innehalten

Kraft und Last der Erinnerungen

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Wie bei den genannten Beispielen waren bestimmte Geschehnisse oder Situationen Auslöser für das Stressempfinden und das Hineinrutschen in eine existenzielle Krise. Wenn etwas Wichtiges von außen an uns herangetragen wird, für das wir noch keine Lösung oder noch keine Verhaltensweisen entwickelt haben, können wir Stress produzieren. Dabei kann ein und dieselbe Situation beziehungsweise Auslöser ganz unterschiedliche Auswirkungen auf die jeweiligen Personen haben. Wenn ein Vorkommen für jemanden uninteressant oder irrelevant ist, passiert vermutlich gar nichts. Echauffiert uns etwas, haben wir Ideen und Möglichkeiten, dem zu begegnen, und wir entwickeln keinen Stress. Kann jedoch unser inneres System keine Antwort, keine Ressource für einen äußerlichen Stressor finden, antworten Psyche und Körper mit Stressreaktionen (Kaluza 2015, S. 15–17). Alle drei Klient:innen zeigten auf der kognitiven emotionalen Ebene Gefühle der inneren Unruhe, der Angst und der Hilflosigkeit. Sie hatten Selbstvorwürfe, grüblerische Gedanken und den sogenannten Tunnelblick. Ihr Gefühls- und ihr Denkspektrum wurden stark eingeschränkt. Evolutionär bedingt ist dies eine sinnvolle Einrichtung: Wenn wir früher dem Säbelzahntiger gegenüberstanden, war es hilfreich, darauf fokussiert zu sein, ob wir angreifen oder besser weglaufen. Das Mobbing von Frau Müller währte schon lange und das Stresserleben hatte sich chronifiziert. Sie klagte über häufige Kopfschmerzen, schmerzhafte Muskelverspannungen und viele Infekte. Letzteres wies möglicherweise auf eine geschwächte Immunkompetenz hin. Der Körper war schon sehr lange in Alarmbereitschaft versetzt worden und der Stress konnte nicht mehr adäquat abgebaut werden. Das kann sich dann in Reaktionen auf der körperlichen Ebene zeigen. Bei Herrn Kaufmann und Lea war die Situation akut. Herr Kaufmann atmete flach und schwitzte sehr während der Beratung. Das »nicht essen

können« bei Lea und ihre Verdauungsschwierigkeiten hatten natürlich etwas mit ihrer Essstörung zu tun und doch sind es auch erste typische körperliche Stressreaktionen. Alles soll den Körper in die Lage versetzen, möglichst schnell handeln zu können. Wir sollen dann nicht über die Einkaufsliste oder das Mittagessen nachdenken, sondern reagieren können. Dieses frühere Überlebensprogramm ist in unserer Zeit jedoch nicht mehr ausreichend für eine erfolgreiche Bewältigung von bestimmten schwierigen Situationen. Im Gegenteil: Wenn wir unsere Klienti:innen in solchen für sie extremen Situationen nicht darauf hinweisen, neben der Psyche auch ihren Körper und seine Bedürfnisse mit in den Blick zu nehmen, werden körperliche krankmachende Reaktionen wahrscheinlicher. Daher ist es förderlich, neben der Arbeit an einer veränderten Kognition auch dafür zu sorgen, dass sich der Körper durch Bewegung vom Stress­erleben befreit. Edukation: das Wissen über Krisen An erster Stelle erfolgt von mir in der Beratung eine wertschätzende Haltung ganz im Sinne von Gunther Schmidt (Schmidt, Dollinger und Müller-Kalthoff 2019, S. 90). All das schreckliche Erlebte einmal benennen zu können und einen Augenblick gemeinsam »aus – zu – halten«. Empathisch der jeweiligen Geschichte zuzuhören und das Leid der Betroffenen anzuerkennen, ist der erste Schritt für eine vertrauensvolle Zusammenarbeit und ein Baustein für den Weg aus der Krise. Dabei ist es wichtig, den geeigneten Zeitpunkt dafür zu ermitteln, ab wann der Beratungsprozess in die Phase übergeht, in der es gilt, Maßnahmen zu entwickeln. Die Veränderungsneutralität steht der Problemtrance gegenüber. Im Fall von Herrn Kaufmann hatte ich lediglich am Freitagabend vor dem Wochenende eine Stunde Zeit für die Beratung. Mir war es deshalb wichtig, seine suizidalen Äußerungen auf mögliche Umsetzungstendenzen hin zu überprüfen und einen strukturierten unterstützenden Tages-

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Kraft und Last der Erinnerungen

Alvin Kroon, unsplush.com

G u t e E r i n n e r u n g e n f ü r d i e H o f f n u n g a u f e i n e n g u t e n M o r g e n    7 3

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plan mit ihm zu entwickeln. Ich handelte dabei zu schnell, indem ich ihn bat, doch mal zu überlegen, wie er das anstehende Wochenende verbringen könnte. Herr Kaufmann war noch nicht bereit, zu schauen, was jetzt hilfreich sein könnte, sondern sagte fast barsch, er möchte mir erst noch weiter von der Situation erzählen. Ein wichtiger Hinweis, der mich wieder an meine systemische Haltung der Veränderungsneutralität erinnerte. Nach der Würdigung seines tiefen Schmerzes gelang es dann noch, die Suizidalität anzusprechen und ganz konkret die Tagesstruktur für das Wochenende zu konzipieren. Im Anschluss an die Würdigung des Schmerzes habe ich gute Erfahrungen mit einer kurzen Edukation gemacht. Es war in den genannten Fällen für die Klient:innen unterstützend, dass sie nach meinen Erklärungen ihre psychischen und physischen Reaktionen einsortieren konnten und diese dadurch reframt wurden. Frau Müller sagte zum Beispiel, dass sie ohne ihre körperlichen Symptome noch viel länger in dem krankmachenden Arbeitskontext verblieben wäre. Erst ihre körperlichen Stressreaktionen erlaubten es ihr, sich ernst zu nehmen und innezuhalten, um nach einer Veränderung zu suchen. An dieser

Stelle ließ ich den Hinweis einfließen, dass nicht nur die Psyche den Körper, sondern auch der Körper die Psyche (positiv) beeinflussen kann (vgl. Storch et al. et al. 2006). Das heißt, durch bestimmte körperliche Haltungen fördern wir das positive Erleben. Gern ermittle ich an dieser Stelle, welche Arten der körperlichen Bewegungen den Klient:innen guttun und welche davon sie bis zum nächsten Termin umsetzen mögen. Dabei sollen es eher langsame ausdauernde körperliche Übungen sein, da kurze hektische, wie zum Beispiel Squash, eher das Stresserleben stärken als abbauen. Als Hausaufgabe nach der SMART-Formel unter die Lupe genommene Bewegungen ist dies schon der erste kleine Schritt der Stabilisierung. Der Körper bekommt die Möglichkeit, die ausgeschütteten Stresshormone abzubauen, und der/die Klient:in eine Aufgabe, die er oder sie gut bewältigen kann. Es gilt, weg von den Ohnmachtsempfindungen hin zur Handlungsfähigkeit zu kommen. Zusätzlich werden die Klient:innen aufgefordert, auf gute körperlich basierte Erfahrungen zurückzugreifen, die durch den schon erwähnten Tunnelblick oftmals nicht mehr zugänglich waren. Auf körperlicher

LE E II D D FA FA D DE EN N    –– FAC FAC H He e ff tt  2 02 22 2 L HM M AG AG A AZ Z II N N F FÜ ÜR R K KR R II S SE EN N ,, L LE E II D, D, T TR R AU AU E ER R  H 2  //  2 20

G u t e E r i n n e r u n g e n f ü r d i e H o f f n u n g a u f e i n e n g u t e n M o r g e n    7 5

Ebene werden durch die Hausaufgabe diese Erinnerungen wieder aktiviert. Des Weiteren präsentiere ich gern die Veränderungskurve nach Kübler-Ross und erläutere sie kurz. Ich lasse die Klient:innen einschätzen, an welcher Stelle sie sich gerade sehen, und erkläre, dass es ein flexibler Zustand ist. Vielmehr geht es darum, zu schauen, was der Klient an dieser Stelle braucht, um den nächsten Schritt gehen zu können. Zusätzlich zeichne ich eine nach oben steigende Schlangenlinie. Anhand dieser wird erklärt, dass wir bei einer erfolgreichen Bewältigung einer Krise nicht wieder den alten Ausgangszustand herstellen, sondern eine Stufe weiter sind. Hartmut Kraft (2008) prägte den Begriff der PlusHeilung. Es gibt eben nicht nur die Heilung, sondern auch ein Plus dazu. Das Plus steht für die durch das Durchschreiten der Krise neu hinzugewonnenen Erfahrungen, Erkenntnisse und Reifung. Das wir dabei ab und an wieder durch »tiefe Täler« gehen, gehört zu einer gesunden Entwicklung dazu. An dieser Stelle wird den Klient:innen oft das erste Mal deutlich, dass ihre Krise kein fester Zustand ist, sondern sich verändern wird und sich verändern lässt. Es kommen wieder mehr Spiel und Weite ins Bewusstsein und der Blick ist nicht mehr ausschließlich verengt. Die Krise kann fast zeitlich eingegrenzt werden und es kommt auf der mentalen Ebene wieder zu einem Erkennen, dass es vor der Krise durchaus gute Zeiten gab. Bei einer erfolgreichen Bewältigung der Krise einen Mehrgewinn zu erhalten, schafft in der Regel einen ersten Perspektivwechsel. Ressourcensuche: der Blick zurück Wenn den Klient:innen durch den vorherigen Schritt deutlich wurde, dass es ein Vorher gab und es ein Nachher geben wird, können wir mit der Ressourcensuche starten.

Zu Beginn der Ressourcensuche stehen systemische Fragetechniken: Wie lang war die Zeit vor der Krise? Was war da anders? Wann gab es andere Krisen? Wann wurden ähnliche Krisen oder andere wie gemeistert? Wer oder was war unterstützend? Wer oder was könnte heute unterstützend sein? Das sind nur einige Aufzählungen möglicher Fragestellungen. Die Ressourcen können auch mit unterschiedlichen Methoden gesucht und ins Bewusstsein geholt werden, wie zum Beispiel mit der Timeline oder dem Ressourcenfundament. Das besonders Wirksame daran ist, dass die Aufstellungen den Körper involvieren und wie schon beschrieben positiv beeinflussen können. Das heißt, ich lasse mir die Ressourcen beschreiben und dazu gleich auch ganz ausführlich die Empfindungen. Ich knüpfe direkt an die guten Erinnerungen an. Manchmal frage ich, wo genau im Körper sie diese fühlen oder ob es dazu eine bestimmte Geste gibt. Zum Beispiel bat ich Lea, folgende Themen auf einzelne Moderationskarten zu notieren: 1. Ihre Ressourcen: Katze, Studium, zwei Freundinnen, Klavier spielen 2. Der Auslöser ihrer Krise: der Todesfall des Freundes und der fehlende Abschied 3. Ihre (jetzige) Bewältigungsstrategie: die Essstörung Nun forderte ich sie auf, diese Karten gemäß ihrem Empfinden von Nähe und Distanz im Raum zu verteilen. Ich bat Lea, sich zuerst kurz auf die Krisenkarte stellen, und fragte, wen oder was sie aus dieser Position heraus gut oder eher nicht gut sehen konnte. Hier verzichtete ich bewusst auf das Beschreiben ihrer Empfindungen, um sie nicht noch mehr mit negativen Gefühlen in Berührung zu bringen. Danach bat ich sie,

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auf die anderen Karten zu gehen. Ich ließ mir ihre positiven Assoziationen bildhaft beschreiben, nahm ihre gewählten Wörter auf, und verwendete sie wieder, um ihr Erleben zu bekräftigen. Bei der Karte der Essstörung fragte ich gezielt nach der Funktion und dem »guten Grund« des Daseins. Das heißt nicht, dass ich die Essstörung guthieß, jedoch die aktuelle Nützlichkeit ermittelte. Das barg die Chance einer Erleichterung und eines Verstehens auf Seiten der Klientin. Im nächsten Schritt ging es dann darum, was anstelle der Essstörung sie im Moment unterstützen könnte. Welche ihrer Ressourcen Lea auch früher schon unterstützt haben und welche der früheren konstruktiven Aktivitäten wieder aufgenommen werden sollten. Dazu zählt auch das Kreieren neuer schöner Erlebnisse.

durch zu hohe Erwartungen an sich, den anderen und den Umständen scheint vorprogrammiert. Die Aussicht auf einen guten Morgen war bei Herrn Kaufmann ein gemeinsamer Termin mit seiner Frau bei meiner Kollegin. – Lea wollte nicht nur ihre Katze gut versorgen, sondern auch wieder mehr Selbstfürsorge für sich übernehmen. Sie suchte sich eine Ernährungsberaterin, um einen Essensplan aufzustellen, und fuhr mit ihren zwei Freundinnen für ein Wochenende nach Dänemark. – Frau Müller ließ ihre Schuldgefühle und ihre Arbeitsstelle hinter sich. Begeistert erzählte sie mir, dass sie sich den Wechsel auf einen neuen Arbeitsplatz zugetraut hat und sich engagiert einarbeitet. Mit den neuen ihr wohlgesonnenen Kolleg:innen wolle sie morgen zusammen Mittagessen gehen. Alle Klient:innen sind gekommen in der Krise, haben sich ressourcenreich und körpernah erinnert und konnten dadurch positiver in den Morgen gehen.

Wie an diesem Fall beschrieben, ist es aufbauend, den Körper und damit auch die Psyche wieder an alte gute Empfindungen, Ressourcen und Erinnerungen heranzuführen. Dies lässt sich leichter mit Aufstellungsmethoden herstellen als ausschließlich mit verbalen Techniken. Was auch immer zur Klientin passt und als Methode gewählt wird, Ziel ist es, sich mit der Kraft und dem Zutrauen von früher wieder zu verbinden, um die jetzige Krise zu meistern.

Bianca Melle, Diplom-Sozialpädagogin, systemische Coachin, Supervisorin und Organisationsentwicklerin (DGSF), arbeitet in eigener Praxis in Hamburg. Zusätzlich ist sie Lehrende für systemisches Coaching. Das Thema »psychische Gesundheit« im Coaching oder in Organisationen präventiv zu fördern, ist ihr ein großes Anliegen. Kontakt: [email protected] Literatur

Das Morgen: der kleine Hoffnungs­schimmer Wie kann das Morgen gemanagt werden? In kleinen Schritten wird an dem krisenhaften Zustand gearbeitet. Die vorher ermittelten Ressourcen werden für erste kleine Maßnahmen genutzt, die Veränderungen bewirken sollen. Es ist zu diesem Zeitpunkt besonders wichtig, nur Handlungen oder Verhaltensweisen zu konstruieren, die in der Umsetzung auch eine Aussicht auf Erfolg haben. Oftmals ist die »Karriere des Scheiterns« auf dem Höhepunkt und das selbstproduzierte Versagen

Kaluza, G. (2015). Stressbewältigung. Trainingsmanual zur psychologischen Gesundheitsförderung. 3.  Auflage. Berlin, Heidelberg. Kraft, H. (2008). PlusHeilung: Die Chancen der großen Krisen. Stuttgart. Kübler-Ross, E. (1972). Interviews mit Sterbenden. Stuttgart, Berlin. Schmidt, G.; Dollinger, A.; Müller-Kalthoff, B. (2019). Gut beraten in der Krise. Konzepte und Werkzeuge für ganz alltägliche Ausnahmesituationen. 4. Auflage. Bonn. Storch, M.; Cantieni, B.; Hüther, G.; Tschacher, W. (2006). Embodiment. Die Wechselwirkung von Körper und Psyche verstehen und nutzen. Bern. Anmerkung 1 Alle Namen wurden geändert.

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Trost in der Trauer Dank dem Wind, der meine Haut berührt und Geborgenheit verspricht, jetzt, wo Du nicht mehr da bist. Dank den Sonnenstrahlen, die mich wärmen, wo Deine Nähe und Wärme für immer fehlen. Dank dem Regen und den Wolken, die das gleißende Sonnenlicht dämpfen, solidarisch mit mir weinen und lebenspendendes Nass auf ausgedörrtes Trauerland bringen. Für neues Leben. Irgendwann. Dank all den Vögeln und Insekten, die meine Ohren mit dem Klang des Lebens, der Lebendigkeit berühren. Ein Versprechen und Trost, jetzt, wo sie Deine Stimme nie mehr hören werden. Dank den Kranichen, deren Ruf mir zeigt, dass ich mit meiner Sehnsucht nicht allein bin. Dank den Meisen und Spatzen, die mich geschäftig in den Tag rufen. Dank den Staren, die vor mir wunderbare Gebilde in den Himmel zeichnen. Dank dem Raben, der mich mit seinem Salto-Kunststück zum Lachen bringt, ein Gruß von Dir: Lass die Leichtigkeit zu! Dank den Amseln. Ihr seid wieder da und ruft Erinnerungen an meine Kindheit wach. Dank dem Käuzchen in der Nacht, das mit mir wacht. Dank auch an Fuchs, Hase, Igel, die Ihr mich nachts auf Euren Streifzügen besucht, wenn ich wieder einmal keinen Schlaf finden kann. Dank der Linde, an die ich mich anlehnen kann und die nicht vor meiner Verzweiflung zurückweicht. Dank dem Regenbogen über unserem Haus als Zeichen der Hoffnung. Dank der Erde, die mich trägt und beschützt vor dem Fall in den bodenlosen Abgrund. Dank »unserer Scholle«, die Du mich als Hüterin am und im Leben hältst. Die mich so reich beschenkt, auch mit Herausforderungen. Dank, dass ich mich Euren Geschenken, Eurer Schönheit und Zerbrechlichkeit in Liebe öffnen kann. Auch wenn es noch so schmerzt. Danke, dass Ihr mir Gegenwart und Gegenüber seid, wo Du mir das alles nicht mehr sein kannst.

Vera Kalitzkus im Februar 2021

Leidfaden, Heft 2 / 2022, S. 77–78, ISSN 2192-1202, © 2022 Vandenhoeck & Ruprecht

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Pixabay

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Trost in der Trauer durch die Natur Das erste Jahr nach dem Tod meines Mannes Ende März 2020 habe ich gefühlt draußen verbracht. Auf der Bank vor unserem Haus, der Bank hinter unserem Haus, bei der alten Linde neben unserem Haus, unter der großen Eiche am Rande des Grundstücks, »unserer Scholle«. Bei jedem Wetter, zu jeder Tages- und Nachtzeit, im Frühling, im Sommer, im Herbst und auch im Winter. Saß ich draußen, legte ich mich ins Gras, ging ich in Kreisen immer und immer weiter, wenn der Schmerz zu heftig, die innere Unruhe zu groß war, die Erinnerung an die leidvollsten Momente seines Sterbens oder belastende Bilder mich am Schlaf hinderten. Draußen sein, der Totenstille des Hauses entfliehen, der inneren Unruhe und auch der Isolation (Lockdown). Nein, nicht immer konnte ich die Schönheit der Natur genießen oder mich gar erfreuen am Duft der Blüten, dem Gesang der Vögel. Aber ich nahm dies alles zumindest wahr, selbst wenn sich die Trauer in Erstarrung ausdrückte oder der Schmerz mich in die Knie zwang. Ich spürte, das wird mir helfen zu überstehen. Und es half mir nicht nur zu überstehen, sondern auch zu heilen und wieder ins Leben zu finden.

Mein Text wurde inspiriert durch die Große Danksagung an die Schöpfung, wie ich sie von Jörg Urbschat (Evangelische Kirche in Norddeutschland) in seinem Kurs »Natur und Spiritualität« ein Jahr nach dem Tod meines Mannes kennengelernt habe. Die Danksagung hat eine lange Tradition bei den indigenen Völkern Amerikas und wurde in dieser Form überliefert von Chief Jake Swamp (Gründer der Tree of Peace Society). In ihr wird allen Elementen, Pflanzen, Tieren und Menschen gedankt, die uns unser Leben auf dieser Erde ermöglichen. Sie erinnert an die Verwobenheit allen Seins, auch über die irdische Zeit hinaus, in dem wir derer gedenken, die uns aus der Zeit hinaus vorangegangen sind. Meine Danksagung ist der Dank an die mich umgebende Natur, mein Erinnern, wie ich seine Liebe zu Lebzeiten gespürt habe – und natürlich eine Liebeserklärung an meinen Mann. Dr. Vera Kalitzkus ist Ethnologin mit dem Schwerpunkt Medical Anthropology, Mentorin für wertorientierte Persönlichkeitsbildung und ausgebildet zur ehrenamtlichen Begleitung von Sterbenden (ambulante Hospizarbeit). Sie lebt in einem kleinen Dorf bei Lübeck. Kontakt: [email protected] Website: www.kalitzkus.de

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AUS DER FORSCHUNG

Studie zur Wirksamkeit von Familientrauerbegleitungsangeboten Martina Stöver und Jaqueline Bomball Der Artikel stellt auf der Grundlage der Evaluationsstudie im Projekt TOBBI – Trauerland, Orientierung, Beratung und Bildung die zentralen Ergebnisse vor. Abschließend wird die Bedeutsamkeit einer familienorientierten Trauerbegleitung insbesondere hinsichtlich einer Anerkennung als gesundheitsförderliches Präventionsangebot durch die Krankenkassen erörtert. Ziel der Studie war es, mittels der Ergebnisse von Fragebogenerhebungen und Fokus­gruppendiskussionen darzulegen, inwieweit eine professionelle Trauerbegleitung psychische, körperliche und soziale Probleme vor allem bei den von Trauer betroffenen Kindern und Heranwachsenden verhindern kann. Eine Kurzbeschreibung des methodischen Vorgehens sowie der Untersuchungsschwerpunkte der dreijährigen Evaluationsstudie (Projektlaufzeit: 2018–2021) erfolgte bereits im vorangegangenen Leidfaden-Heft 1/2022 (Stöver und Bomball 2022). Auszüge aus dem Abschlussbericht finden sich auf der Homepage des Vereins Trauerland – Zentrum für trauernde Kinder und Jugendliche e. V. (https://www.trauerland.org/forschung/). Der ausführliche Bericht kann dort per Mail direkt angefordert werden. Zentrale Evaluationsergebnisse Die nachfolgende Zusammenfassung der Ergebnisse beruht auf der Auswertung der Daten von 672 Personen, die an den unterschiedlichen Beratungs-, Gruppen- und Bildungsangeboten des Vereins Trauerland e. V. teilnahmen: 486 Anrufende, die eine Telefonberatung in Anspruch nahmen, 13 Teilnehmende aus den Einzelberatungen, 18 Trauernde aus den Trauergruppen für Kinder,

Jugendliche und junge Erwachsene, 15 hinterbliebene Elternteile beziehungsweise Bezugspersonen aus den Angehörigengruppen sowie 140 Teilnehmende der Bildungsseminare. Im Folgenden werden die Ergebnisse entlang der wesentlichen Untersuchungsschwerpunkte aufgeführt (Stöver und Bomball 2021). Hohe Belastungswerte zu Beginn der Trauer­ begleitung – Anzeichen für erschwerte/ komplizierte Trauerverläufe Zur Ermittlung des Belastungsniveaus wurde ein Vorher-Nachher-Vergleich vorgenommen, indem die von den Trauernden wahrgenommenen Belastungen zu Beginn und zum Ende der Trauerbegleitung entlang der von Wissert et al. (2013) festgelegten Wirkbereiche erhoben wurden. Die Ergebnisse belegen eindrucksvoll, dass zu Beginn der Trauerbegleitung hohe durch die Trauer ausgelöste Belastungswerte bei der überwiegenden Mehrheit der Befragten vorlagen, wenngleich das Todesereignis insbesondere bei den Befragten aus den Trauergruppen, Einzelberatungen und Angehörigengruppen deutlich länger als 12 Monate zurücklag. Zudem wurde der Trauer eine hohe Intensität zugeschrieben. Als besonders belastend empfanden die anrufenden Familienangehörigen die »Sorge um ihr verbliebenes Kind«, den »richtigen« »Umgang mit Gefühlen« sowie die »Alltagsbewältigung« in Bezug auf die Anpassung an das veränderte Leben. Des Weiteren nahmen die anrufenden Eltern sehr hohe Belastungen bei ihren Kindern wahr. Dies verdeutlicht ihre enorme Doppelbelastung: Zum einen waren sie

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selbst von intensiver Trauer betroffen und zum anderen befanden sie sich in großer Sorge um ihr verbliebenes Kind. Dass sie selbst Hilfe benötigten, schien ihnen kaum bewusst zu sein. So wünschten sich die Anrufenden hauptsächlich Unterstützung und Beratung für ihr Kind, verbunden mit einer Einschätzung der Situation durch die Traue­rexpert*innen. Darüber hinaus kann davon ausgegangen werden, dass sich insbesondere Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene oder deren Eltern bei Trauerland e. V. melden, bei denen sich Schwierigkeiten im Umgang mit dem Verlust und/oder bereits auffällige Trauerreaktionen oder Verhaltensweisen zeigen. Diese Annahme erscheint aufgrund der wahrgenommenen hohen Belastungswerte sowie der geäußerten Belastungen vor allem in den Wirkbereichen »Trauer-Symptome« (die anhaltend, auch nach mehr als 12 Monaten nach dem Verlust wahrgenommen wurden), »Alltagsbewältigung« sowie »Bedeutung und Sinn«. Jedes zehnte Kind und fast jeder zehnte Angehörige erlebte das Gefühl von Sinnlosigkeit und das dauernde Kreisen um die Fragen nach dem Warum. Das Ringen mit dem Erleben von Sinnlosigkeit wird als ein möglicher Faktor für die Entstehung komplizierter Trauerverläufe gewertet (Müller und Willmann 2020). Ferner finden sich im Wirkbereich »Schuld und Scham« hohe Belastungswerte bei den Befragten in den Einzelberatungen und Trauergruppen. Auch hier wird davon ausgegangen: Je größer die verlustbezogenen Schuldgefühle waren, desto höher auch die Wahrscheinlichkeit, eine komplizierte Trauer zu entwickeln. Zudem belegen Aussagen der hinterbliebenen Elternteile aus den Fokusgruppen, die den Wirkbereichen »Verlustangst«, »Sorge um das verbliebene Kind« sowie »Sicherheitsverlust« zugeordnet werden konnten, die Annahme von erschwerten und/oder komplizierten Trauerverläufen der trauernden Kinder. Denn starke Verlustängste werden explizit zu den Trauer-Symptomen einer komplizierten Trauer gezählt (Paul 2011).

Deutlicher Rückgang der wahrgenommenen Belastungen zum Ende der Trauerbegleitung Zum Ende der Trauerbegleitung lässt sich sowohl eine deutliche Reduzierung der wahrgenommenen Trauerintensität als auch ein starker Rückgang der spürbaren Belastungen feststellen. So verringerten sich in allen 11 untersuchten Wirkbereichen die Belastungen eindeutig und zugleich zeigten sich zum Ende der Trauerbegleitung positive Effekte unter anderem in den Bereichen »Gesundheitsverhalten«, »Soziale Inte­ gration«, »Alltagsbewältigung« und im »Umgang mit Gefühlen«. Ferner konnte eine Reflexion des Verlustes in Bezug auf Sinnfragen erfolgen,

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eigene Werte wurden wieder wichtig genommen (»Weltbild und Werte«) und es fand offensichtlich eine Anpassung an die neue Lebenssituation statt (»Ausblick«). Zudem deuten die Ergebnisse darauf hin, dass eine Reflexion beziehungsweise Auseinandersetzung mit der eigenen Trauer auch in Bezug auf Schuld- und Scham­ gefühle (»Schuld und Scham«) sowie eine »Integration der Trauer in die eigene Biografie« mehrheitlich stattgefunden haben. Ebenfalls konnte ein Vertrauen in die Zukunft, verbunden mit der Hoffnung, das eigene Leben gestalten und bewältigen zu können (»Selbstwirksamkeit/Kohärenzgefühl«), zum Ende der Trauerbegleitung entwickelt werden.

Familienorientierte Trauerbegleitung ermöglicht eine Kompetenzerweiterung der Trauernden Die hinterbliebenen Elternteile stellten sowohl bei sich selbst als auch bei ihren Kindern eine Vielzahl von Veränderungen im Sinne einer Kompetenzerweiterung fest, die sie explizit auf die Trauer­ begleitung zurückführten. So erlebten die Familien nach dem Trauerereignis zunächst eine ausgeprägte Sprachlosigkeit ihrer Kinder im Zusammenhang mit dem Tod und den damit aufkommenden Gefühlen. Durch die Trauerbegleitung nahmen die Eltern vor allem eine Veränderung in Bezug auf mehr Offenheit in den Gesprächen wahr. Durch das Zugehörigkeitsgefühl in den Trauergruppen und den Austausch unter Gleichgesinnten wurde eine Kommunikation über Tod und Trauer ermöglicht. Dies ließ bei den betroffenen Kindern und Heranwachsenden eine Auseinandersetzung mit dem eigenen Verlust und den damit verbundenen Gefühlen zu. Dementsprechend nahmen die Teilnehmenden aus den Trauergruppen insgesamt eine Stärkung und Stabilisierung ihrer Familien wahr, was eine Anpassung an den Verlust und an die neue Lebens- und Familiensituation erleichterte. Darüber hinaus führte die Trauerbegleitung zu einer wahrnehmbaren Entlastung der Eltern in der Sorge um ihr trauerndes Kind, indem die Trauerangebote als präventive Intervention genutzt wurden: Die wahrgenommene hohe Professionalität des Trauerland-Teams, verbunden mit dessen Einschätzung, mögliche gesundheitliche Schäden bei ihren Kindern frühzeitig zu erkennen und zu vermeiden, vermittelte den Eltern ein hohes Maß an Sicherheit.

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Impulse für die Praxis – Weiterentwicklungs­möglichkeiten von Trauerbegleitungs­angeboten Ausnahmslos bekamen alle Trauerinterventionen hohe Zufriedenheitswerte von den Befragten und wurden zudem als überaus hilfreich bei der Ver-

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lustbewältigung bewertet. Es lassen sich aus den Ergebnissen der Studie folgende Schlussfolgerungen für die Praxis ableiten: Schaffung einer homogenen Gruppenzusammensetzung Obwohl eine hohe Zufriedenheit in den Angehörigengruppen vorlag, wünschten sich die Betroffenen separate Unterstützungsangebote nach Art des Verlustes (Verlust des Kindes/Elternteils). Notwendig erscheint dies aufgrund der hohen Bedeutung einer homogenen Gruppenzusammensetzung für die Entstehung eines Gemeinschaftsgefühls. Bildung separater, altersentsprechender Untergruppen Aufgrund der von einigen Eltern wahrgenommenen zu großen Altersabstände in den Kindertrauergruppen bietet sich die Bildung altersentsprechender Untergruppen an: Bestimmte Gruppeninhalte könnten altersgemischt und andere wiederum in bestimmten Alterskohorten (jüngere/ältere Kinder) durchgeführt werden. Qualifizierung der Gruppenleitung in den Angehörigengruppen anheben Um dem hohen Stellenwert einer familienorientierten Trauerbegleitung gerecht zu werden, bedarf es eines erweiterten Kompetenzprofils der Gruppenleitung etwa in den Bereichen Entwicklungspsychologie, systemische Beratung und Gestaltung von Gruppenprozessen. Mit einer gemeinsamen Gruppenleitung (Tandem) in den Angehörigengruppen, die sich aus einer hauptamtlichen Fachkraft und einer ehrenamtlichen Mitarbeiterin zusammensetzt, könnte ein solches Kompetenzprofil erreicht werden. Zudem wäre eine gemeinsame Reflexion des Tandems im Anschluss an die Treffen möglich.

Hervorhebung der Familienorientierung Die Stärkung der Angehörigen muss als zentrale Aufgabe der Trauerbegleitung von allen Beteiligten in höherem Maße als bislang wahrgenommen werden, damit Eltern überhaupt eine Sicherheit im Umgang mit ihren trauernden Kindern entwickeln können. Zentral dabei ist auch die Frage, was die Trauer neben dem tatsächlichen Verlust beeinflusst. Dazu ist ein Abgleich von vorhandenen Ressourcen, wie das Vorhandensein eines sozialen Netzes, und Risikofaktoren, beispielsweise ein plötzlich eintretender Verlust oder Suizid, erforderlich. Falls notwendig, sollten weiterführende Unterstützungsangebote aufgezeigt und ermöglicht werden. Fazit – Familienorientierte Trauerbegleitung weist eine hohe präventive Wirksamkeit auf Bei der Analyse der Effekte der Trauerinterventionen auf eine Reduktion der psychischen, körperlichen und sozialen Belastungen zeigte sich bereits innerhalb einer relativ kurzen Interventionszeit von 12 Monaten eine deutliche Reduzierung der zu Beginn der Trauerbegleitung wahrgenommenen hohen Belastungswerte. Die durch die familienorientierte Trauerbegleitung erlebten Erfahrungen und vermittelten Kompetenzen scheinen bei der Trauerbewältigung und dem damit verbundenen Belastungsabbau überaus hilfreich zu sein. Zudem deuten die in der Studie identifizierten Risikofaktoren (etwa plötzlicher Todesfall, Verlust eines Elternteils, Tod eines Geschwisters), das länger zurückliegende Todesereignis sowie die hohen Belastungswerte in speziellen Wirkbereichen auf das Vorliegen erschwerter oder komplizierter Trauerverläufe hin. Insbesondere diese Trauernden, die zudem von sich aus die Trauerinterventionen in Anspruch nehmen, profitieren von einer Trauerbegleitung. Daraus kann gefolgert werden, dass das Angebot der familienorientierten Trauerbegleitung von Trauerland e. V. eine

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hohe Wirksamkeit aufweist und im Sinne einer präventiven Gesundheitsförderung langfristige psychische, physische und soziale Folgen abwenden kann. Dementsprechend ist das Konzept der familienorientierten Trauerbegleitung als neuer Präventionsansatz überaus geeignet, da gezielt die Trauernden Unterstützung erhalten, die ein hohes Risiko aufweisen, langfristig an unverarbeiteter Trauer zu erkranken. Zusätzlich weisen die Ergebnisse darauf hin, dass es einer kleinen Anzahl an Personen aus den Jugendtrauergruppen und den Trauertreffs für junge Erwachsene auch zum Ende der vorgesehenen einjährigen Trauerbegleitung nicht oder nur sehr schwer gelingt, ihren Verlust zu verarbeiten. Durch die Identifizierung dieser Risikogruppe mit dem gezielten Angebot einer vertiefenden Trauerbegleitung beziehungsweise der Weiterleitung zu psychotherapeutischen Unterstützungsmaßnahmen könnten bereits präventiv psychische und physische Folgeschäden abgewendet oder eingrenzt werden. Insgesamt ist zu konstatieren, dass es mittlerweile hinreichende wissenschaftliche Belege dafür gibt – auch die vorliegenden Evaluationsergebnisse bestätigen dies sehr eindrucksvoll –, dass ein kritisches Ereignis wie der Tod einer nahen Bezugsperson für ein Kind oder Jugendlichen weitreichende, negative Auswirkungen mit sich bringen kann (Wagner 2015; Paul 2011; Müller und Willmann 2020). Eine familienorientierte Trauerbegleitung leistet hier einen wichtigen Beitrag zur Stärkung und Stabilisierung der Familien, um eine Anpassung an den Verlust und an die neue Lebenssituation zu erleichtern. Insofern bedarf es dringend einer Überprüfung, inwieweit familienorientierte Trauerinterventionen und deren Finanzierung im Bereich der Gesundheitsförderung und Prävention der Krankenkassen aufgenommen werden sollten. Dringend anzuregen sind gezielte weiterführende Maßnahmen, die entsprechende Rahmenbedingungen und konkrete Umsetzungsmöglichkeiten hinsichtlich einer nachhaltigen Finanzierung, zum Beispiel im Rahmen einer Machbarkeitsstudie, überprüfen und intensiv weiterverfolgen.

Dr. phil. Martina Stöver, Krankenschwester und Diplom-Berufspädagogin, war langjährige Mitarbeiterin am Institut für Public Health und Pflegeforschung (IPP), Universität Bremen. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Projektentwicklung und -­evaluation, Gesundheitsförderung und -prävention, Modernisierung von Aus-, Fort- und Weiterbildung. Kontakt: [email protected] Dr. Jaqueline Bomball, Soziologin und Erziehungswissenschaftlerin, war als langjährige Mitarbeiterin am Institut für Public Health und Pflegeforschung (IPP), Universität Bremen vor allem im Bereich Bildungsevaluation und Kompetenzerfassung tätig. Derzeit leitet sie ein Bildungsinstitut für Fort- und Weiterbildung in Gesundheitsfachberufen. Kontakt: [email protected] Literatur Müller, H.; Willmann, H. (2020). Trauerforschung. Basis für praktisches Handeln. Göttingen. Paul, C. (2011). Trauerprozesse benennen. In: Paul, C. (Hrsg.): Neue Wege in der Trauer- und Sterbebegleitung. Hintergründe und Erfahrungsberichte für die Praxis (S. 69–84; vollständig überarbeitete und ergänzte Neuauflage). Gütersloh. Stöver, M.; Bomball, J. (2021). Evaluation zur Wirkung der Trauerland-Angebote im Projekt TOBBI  – Trauerland, Orientierung, Beratung und Bildung. Unveröffentlichter Abschlussbericht. Trauerland – Zentrum für trauernde Kinder und Jugendliche e. V., Bremen. Zu beziehen per Mailanfrage unter [email protected]. Stöver, M.; Bomball, J. (2022). Relevanz und Nutzen der Evaluation von Trauerbegleitungsangeboten. Evaluationsstudie im Projekt TOBBI – Trauerland, Orientierung, Beratung und Bildung. In: Leidfaden, 1, S. 96–98. Wagner, B. (2015). Trauernde Geschwister – die vergessenen Trauernden. In: Psychotherapeutenjournal, 4, S. 352–357. https://www.psychotherapeutenjournal.de/blaetterkatalog/ PTJ-4-2015/files/assets/basic-html/page30.html (Zugriff am 29.03.2022). Wissert, M.; Müller, S.; Pfister, D.; Müller, M. (2009). Wirkt Trauerbegleitung überhaupt? Und wenn ja, wie bzw. wodurch? Eine Untersuchung der Wirkfaktoren von Trauerbegleitung. Hochschule Ravensburg-Weingarten, Institut für Angewandte Forschung (IAF) Angewandte Sozialund Gesundheitsforschung. Projektbericht: https://alphanrw.de/wp-content/uploads/2014/05/wirkt-trauerbegleitung-ueberhaupt.pdf (Zugriff am 12.12.21). Wissert, M.; Vogt, A.; Nelles, L.; Pfister, D. (2013). Wirkung von Trauerbegleitung im Rahmen der emotionalen und sozialen Bewältigung von tiefgehenden und komplizierten Trauerprozessen (TrauErLeben). Ergebnisse des Forschungsprojekts aus der Befragung von Trauernden und Trauerbegleiterinnen sowie von Mitarbeitern in der stationären Pflege alter Menschen. Hochschule Ravensburg-Weingarten, Institut für Angewandte Forschung (IAF) Angewandte S­ ozial- und Gesundheitsforschung. Kurzfassung der E ­ rgebnisse: http:// www.projekt-trauerleben.de/Wirkungen_der_Trauerbegleitung.pdf (Zugriff am 12.12.21).

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FORTBILDUNG

Erinnerungsarbeit mit Collagen: »Seelenbilder« Christiane Knoop Ich lade ein, in Weiterbildungskursen, in Fortbildungen, in Seminaren eine besondere Methode anzuwenden: eine Arbeit mit Bildern diversester Art, die intuitiv zu Collagen zusammengefügt werden. Ich bezeichne die daraus entstehenden Kunstwerke als Seelenbilder – komplexe Innen­ ansichten einer inneren Landschaft. Als solche sind sie geeignet, heilsame Prozesse nicht nur zu begleiten, sondern auch einzuleiten und zu unterstützen. Und es sind nicht nur die fertigen Collagen, die diese Kraft haben, sondern der gesamte kreative Prozess, auf den ich im Folgenden näher eingehen werde. Mein persönlicher Zugang zu Collagen Ich war jahrelang als Weiterbildungsleiterin und Fachreferentin für Hebammen und Gesundheits- und Kinderkrankenpflegerinnen tätig und davor selbst als Familienhebamme aktiv mit einem Schwerpunkt auf der Begleitung trauernder Eltern nach dem Tod eines Kindes, des Partners, nach Fehl- oder ­Frühgeburten, nach der Geburt von kranken Kin­-

dern. In meiner eigenen Fortbildung bei Jorgos Canacakis zur Trauerbegleiterin bin ich das erste Mal mit einer selbstgestalteten Bildcollage in Berührung gekommen und sie ist noch heute, dreißig Jahre später, eindrucksvoll für mich und löst Erinnerungen an tiefe Erfahrungen und prägende Erlebnisse aus. Ich habe dann später die Arbeit mit Collagen vertieft und in meinen Gruppen und Kursen eingesetzt. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass die Arbeit mit den Collagen sich sowohl für Gruppenarbeiten als auch in der Einzelbegleitung und Supervision anbietet, ebenso für Angebote in der Trauerbegleitung; für Fortbildungsthemen zu Selbstwirksamkeit und Selbstfürsorge für Menschen in helfenden Berufen, die ein hohes Risiko haben, an einem Burnout zu erkranken; für die Arbeit mit Klient:innen, die offen sind für diesen kreativen Ansatz; für Menschen in Übergangssituationen, für Menschen, die Abschied nehmen müssen von gewohnten Lebensbedingungen, von Arbeit, von Gesundheit.

Freudenbiografie: sich in der ­erlebten Freude wiederfinden

Christiane Knoop

Christiane Knoop

Burnout – wider den Raubbau an sich selbst

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Anleitung für eine Arbeitseinheit mit Collagen Das Arbeitsmaterial besteht aus geeigneten verschiedenen Scheren und Klebestiften. Zu empfehlen für die Arbeit mit Collagen ist eine etwas dickere Pappe, wie etwa Briefkarten oder stärkeres Kartonpapier, die sich gut zuschneiden lassen. Ich persönlich schätze ein kleines Format wie zum Beispiel DIN A5 oder noch etwas kleiner. Das hat den Vorteil, klein genug zu sein, sodass die Bildaussagen intensiv und sehr verdichtet sind. Das zur Verfügung gestellte Bildmaterial stammt aus Zeitschriften, Prospekten, Karten, Fotos, Kunstveröffentlichungen und zeigt Natur, Menschen, Tiere, Landschaften, Abstraktes. Der Kontext, in der sich die Gruppe trifft, bestimmt auch die Themenfokussierung der Collagearbeit. Die Teilnehmer:innen sollen sich kurz auf einen für sie stimmigen Aspekt des Arbeitsthemas besinnen und aus der Materialfülle die Motive auswählen, die sie spontan ansprechen. Dann beginnt die eigentliche Arbeit mit sortieren, ausschneiden oder reißen, anschließend intuitiv auf die Karte kleben – den eigenen Impulsen folgend. In Ruhe, jede und jeder für sich selbst, ohne mit den anderen zu sprechen. Der Zeitrahmen wird auf 30 Minuten gesetzt. Es ist eindrucksvoll, die völlig in sich und ihr kreatives Tun versunkenen Teilnehmer:innen zu beobachten. Da ordnen sich Bildelemente gleichsam wundersam einander zu, sehr individuell

und doch jede mit der sehr eigenen Handschrift ihres Schöpfers. Wenn die Bilder fertig sind, werden die Künstler:innen ermuntert, ihre Collage zu betrachten, von nahem und auch etwas entfernt gehalten. Vielleicht gibt es spontan eine Überschrift, einen Titel, eine Assoziation, ein Erkennen oder ein Gefühl. Der Austausch in Zweier- oder Dreiergruppen hilft, möglicherweise durch ein achtsames Feedback der anderen, die eigene Erkenntnis noch zu erweitern und zu vertiefen. Abschluss der Einheit kann eine Rückmeldung der Einzelnen zu dem Ergebnis der Arbeit und den daraus resultierenden Erfahrungen sein. Christiane Knoop war Familienhebamme in Bremen und Weiterbildungsleiterin für Fachkräfte in den Frühen Hilfen in Hannover. Jetzt arbeitet sie weiterhin bundesweit als Fachreferentin.

Requiem für meinen Bruder

Kraft und Last der Erinnerungen

Christiane Knoop

Christiane Knoop

Getröstet sein. »Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen unendlich sanft in seinen Händen hält« (Rainer Maria Rilke, »Herbst«, in »Buch der Bilder«, 1902)

REZENSIONEN

Wandlungs-Räume

Norbert Mucksch

Ralph Kirscht (2021). Wandlungs-Räume. Praxishandbuch traumasensible Seelsorge. Stuttgart: Kohlhammer, 321 Seiten

Im Kohlhammer-Verlag ist im Herbst 2021 ein Buch erschienen, das nur auf den ersten Blick eine spezifische Zielgruppe in den Blick nimmt. Ralph Kirscht, Theologe und Heilpädagoge, Psychotherapeut und Seelsorger, legt ein Fachbuch vor, das Menschen, die in der Seelsorge tätig sind, sensibilisieren will für die Begleitung traumatisierter Menschen und das zugleich Grundlagenwissen aus diesem Bereich für Seelsorgende vermitteln will. Auch wenn der Autor vorrangig Seelsorger*innen aus dem Bereich der Kirchen in den Blick nimmt, so ist sein Buch doch auch eine empfehlenswerte und aufschlussreiche sowie ebenso hilfreiche Lektüre für Menschen, die in der Sterbe- und Trauerbegleitung tätig sind. Auch wenn die Kirchen lange Zeit den Begriff »Seelsorge« für sich in Anspruch genommen haben, so gilt dieser doch in hohem Maße auch für Begleitende im Bereich Hospiz und Palliativ Care. Kirscht teilt sein Buch auf in acht Kapitel, die ergänzt werden durch ein persönliches Schlusswort, einen Anhang sowie durch ein umfangreiches Literaturverzeichnis. Seine Gliederung ist sehr differenziert und sorgfältig strukturiert. Im einleitenden Kapitel formuliert der Autor erste Vorüberlegungen zum zugrundeliegenden Menschenbild wie auch zum Seelsorgeverständnis. Es folgt eine Phänomenologie psychischer Traumatisierungen, die in das Thema Trauma und

Traumatisierung einführt. Auch ein Bezug zum ICD-10/ICD-11 findet sich, womit Kirscht die aktuelle ICD-Neufassung mit in den Blick nimmt. Darüber hinaus geht der Autor auf neue Erkenntnisse der Neurobiologie ein und unterstreicht auch damit, dass er sein Buch auf Höhe der ganz aktuellen Diskussion verstanden wissen will. Das zweite Kapitel schließt ab mit einem sehr hilfreichen Abschnitt zu Grundhaltungen im Umgang mit traumatisierten Menschen. Kirscht nenn hier zwei wesentliche Grundhaltungen: zum einen die bedingungsfreie Wertschätzung und die »Annahme des guten Grundes«. Zum anderen die Ressourcenfokussierung sowie eine Körper-/Leiborientierung. Diesen beiden Grundhaltungen ordnet Kirscht sieben Grundregeln zu, die er sehr anschaulich beschreibt. Im dritten Kapitel nimmt der Theologe Kirscht den biblischen Blick ein und geht auf Traumasituationen im alten wie auch im neuen Testament ein. Der erste Satz in diesem Kapitel ist markant: Psychische Traumata, so Kirscht, sind allgegenwärtig in der Bibel. Und »die Bibel wäre nicht das Buch des Lebens, wenn sich in ihr nicht diese Grundkategorie und Grunderfahrung des menschlichen Lebens wiederfände«. Im vierten Kapitel erläutert Kirsch in aller Kürze das von ihm entwickelte Emmaus-WegModell einer spirituellen Traumafolgen-Thera-

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pie. Aufbauend darauf stellt der Autor aus seiner Sicht wichtige Impulse und ausgewählte Forschungsarbeiten vor. Sie sollen in der Systematik des Buches den Weg bahnen zu einer Seelsorge, die sensibel ist beziehungsweise sensibel wird für Traumasituationen. Das fünfte Kapitel vermittelt Impulse auf dem Weg hin zu einer traumasensiblen S­ eelsorge. Da­ zu greift Kirscht zurück auf Erkenntnisse ausgewählter Forschungsarbeiten. Der Autor stellt wichtige Aufsätze und B ­ uchveröffentlichungen zum Thema vor und skizziert deren zentralen Inhalte. Damit untermauert er seine eigenen Grundgedanken und stellt den Leitgedanken der Notwendigkeit einer traumasensiblen Grundhaltung in der seelsorglichen Begleitung auf ein breites und sehr schlüssiges Fundament. Dieses Kapitel bietet Lesenden quasi eine Essenz dessen, was im Rahmen einer traumasensiblen Begleitung zu beachten ist. Das Kapitel endet mit einer hilfreichen Zusammenfassung, die die vorhandenen Erkenntnisse aus der Forschung auf den Punkt bringt. Im sechsten Kapitel stellt Kirscht ein Modell vor, das er mit dem zentralen Begriff »Wandlungs-Räume« überschreibt, der auch den Titel seines Buches ausmacht. In diesem Kapitel erfolgt die praktische Umsetzung der zuvor vorstellten theoretischen Inhalte. Kirscht verbindet diese theoretischen Inhalte mit seinem Emmaus-­ Weg-Modell, das er bereits in seiner Dissertation aus dem Jahr 2014 vorgestellt hat. Dieses Kapitel ist ohne Zweifel das zentrale und zugleich auch umfangreichste in diesem Buch. Das überaus sorgfältig in den vorausgegangenen Kapiteln zusammengetragene und sachkundig erläuterte Wissen fließt in dieses Modell ein und erweitert es zugleich. Hier ist das Kernstück dieses Buches dargelegt, und zwar so, dass zugleich kon-

krete Handlungsansätze vermittelt werden wie auch notwendige Grundhaltungen. Das Hauptkapitel ist derart konzentriert und stellt verdichtet die Grundaussagen des Autors dar, dass eine nähere Darstellung dieses Kapitels den Rahmen einer Rezension als sprengen würde. Wichtig zu erwähnen ist mir aber noch ein Aspekt. Dieses sechste Kapitel macht auch deutlich, dass Kirscht mit dieser Veröffentlichung ein explizit spirituelles Buch vorlegt und dass er Spiritualität als Grundhaltung für traumasensible Begleitungen ansieht. Das Hauptkapitel schließt mit einer äußerst hilfreichen Bündelung seiner vorausgegangenen Gedanken. Ich habe diese Zusammenfassung als hilfreiche Verdichtung empfunden. Im siebten Kapitel folgen Methoden- und Übungsanleitungen. Es finden sich dort konkret bezogen auf das zuvor dargelegte Modell der Wandlungs-Räume auf mehr als 80 Seiten zahlreiche passende Übungen und Methoden, die mit viel Sachverstand und Expertise ausgewählt wurden. Es folgen ein persönliches Schlusswort des Autors, ein Anhang mit ergänzenden inhaltlichen Inputs sowie ein sehr ausführliches Literaturverzeichnis. Das Buch von Ralph Kirscht beeindruckt durch viel Sachkenntnis und es nutzt sehr aufschlussreich zahlreiche Quellen aus der einschlägigen Literatur. Dadurch und durch die langjährige Auseinandersetzung des Autors mit dem Thema der traumasensiblen Seelsorge ist ein hervorragendes Fachbuch entstanden, das sich dadurch auszeichnet, sowohl ein Haltungsbuch zu sein wie auch ein systemisches Buch und ein »Methodenkoffer«. Vor allem aber ist es ein Buch, das bei all dem im besten Sinne sensibilisiert für Menschen mit traumatischen Vorerfahrungen.

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Wer wir waren

Petra Rechenberg-Winter

Roger Willemsen (2016). Wer wir waren. Zukunftsrede. Frankfurt a. M.: S. Fischer, 64 Seiten

»Wir waren jene, die wussten, aber nicht verstanden.« Aus der Zukunft schrieb Roger Willemsen sein Buch in unsere Gegenwart hinein. Es sollte ein größeres Werk werden, doch seine Krankheit unterbrach dieses Projekt. Jetzt, fast sechs Jahre nach seinem Tod, liest es sich als kluge Mahnung und engagierten Aufruf, sich mit der gegenwärtigen gesellschaftlichen Gestaltung nicht einverstanden zu erklären. Dies Buch musste zwar unvollständig geblieben, doch sprach Roger Willemsen 2015 in seinem letzten öffentlichen Auftritt von dessen grundlegenden Gedanken. Daraus ist ein anderes Buch entstanden, das seiner damaligen Zukunftsrede und seinem heutigen Vermächtnis.

Wie werden sich Menschen in der Zukunft an uns erinnern? Woran werden sie uns beurteilen? Willemsens Gedanken sind kritisch, melancholisch, apokalyptisch, hoffnungslos, und doch klingen sie widerständig nach. Es sind tiefe, existenzielle Gedanken um Unwiederbring­liches, Flüchtiges, Endlichkeit, Versäumtes, Zerstörtes und Erlebtes. Dieser schmale Band sei allen empfohlen, die sich individuellen Lebensfragen stellen, sich mit gesellschaftlicher Verantwortung auseinandersetzen und zukünftigem Erinnern, wer wir waren, etwas Konstruktives, Lebensbejahendes hinzufügen möchten.

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VERBANDSNACHRICHTEN

Vergangenheit ist veränderbar Christoph Bevier »Und mit nichts brennt man rascher ab als mit den Ressentiments-Affekten. Der Ärger, die krankhafte Verletzlichkeit, die Ohnmacht zur Rache (…) das Giftmischen in jedem Sinne – das ist für Erschöpfte sicherlich die nachteiligste Art zu reagieren (…) Das Ressentiment ist das Verbotene an sich für den Kranken«. Friedrich ­Nietzsche schrieb diese Sätze in »Ecce Homo – Wie man wird, was man ist« (1889). Mich haben sie an manche Menschen erinnert, mit denen ich arbeite und die unter ihren Gedanken und Erinnerungen leiden und für die Erinnerungen eine große Last, Qual und Bedrohung sind. In meinem beruflichen Feld begegnen mir oft Menschen, die von Verletzungen, die sie erfahren haben, nicht loskommen, Verletzungen in der Kindheit und Jugend, aber auch Stigmatisierungserfahrungen, die sie aufgrund ihrer Erkrankung in der Gesellschaft haben machen müssen. Manche erleben diese Verletzungen durch die Erinnerungen nicht nur permanent neu, sondern wenden sie auch noch als Beweis der eigenen Untauglichkeit zu leben gegen sich selbst und strafen sich, indem sie sich permanent den Erinnerungen aussetzen. Die Erinnerungen wirken als ein andauerndes Gericht über sich selbst. Die Aufgabe in der Seelsorge ist dann, zum einen diesen Vorgang in seiner Bedeutung zu erkennen und zum anderen Möglichkeiten zu finden, mit den Erinnerungen umzugehen. Man

kann zum Beispiel im Sinne der Akzeptanz-Commitment-Therapie sich das Monster auf die Schulter setzen und damit durchs Leben gehen. Nicht mehr gegen die Erinnerungen ankämpfen, sondern sie gelten lassen, ohne ihnen größere Bedeutung zu geben. Man kann kognitiv gegen die Erinnerungen vorgehen, indem man sich zur Aufgabe macht, sich an schöne, positive Erfahrungen im Leben zu erinnern. Zu jeder schlechten Erinnerung wird eine gute Erinnerung dazugestellt. Man kann Erinnerungen aufschreiben und die Blätter dann irgendwo ablegen, wo man sie in regelmäßigen Abständen hervorholen kann, wenn man will, oder man lässt sie überhaupt dort liegen. Wichtig ist die Erfahrung, den Erinnerungen nicht wehrlos und hilflos ausgesetzt zu sein. Als ich den Satz »Es ist nie zu spät, eine glückliche Kindheit gehabt zu haben« zum ersten Mal hörte, dachte ich, ach, das ist wieder eines dieser konstruktivistischen Bonmots, die das Leben scheinbar leicht machen und in Wirklichkeit nichts bedeuten. Mittlerweile, nach vielen Jahren, gefällt mir der Satz außerordentlich gut, gerade in seiner scheinbaren Absurdität und Unmöglichkeit. Es ist ein Irrtum, dass man die Vergangenheit nicht ändern könnte, denn die Vergangenheit zeigt sich uns in Erinnerungen und Erinnerungen sind immer Ausschnitte aus der Vergangenheit, nie die ganze Vergangenheit, nie die gesam-

Leidfaden, Heft 4 / 2021,      S. 89–92, ISSN 2192-1202, © 2021 Vandenhoeck & Ruprecht

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auf Fragen, Widerspruch, Bestätigung, Emotionen, Erweiterungen. Deshalb sind Seelsorge und Trauerbegleitung unersetzlich und für Menschen, die in irgendeiner Weise im Leiden sind, im Wortsinn notwendig. Christoph Bevier war als evangelischer Pfarrer in Gemeinde, Gefängnis und Gymnasium tätig und arbeitet zurzeit als Pfarrer in einer psychiatrischen Klinik. Er ist Supervisor und Bibliodramaleiter und hat eine Weiterbildung in systemischer Familientherapie absolviert.

Norbert Spang

te Perspektive. Erinnerungen sind der Weg zu einer neuen Vergangenheit oder besser gesagt: zu einer neuen Sicht auf die Vergangenheit, und sie beeinflussen damit stark das Befinden in der Gegenwart. Es braucht nur einen Menschen, dem man die Erinnerungen erzählen kann, es braucht jemanden, der oder die sich für sie und für den, der sich erinnert, interessiert. Ohne ein Gegenüber funktioniert es nicht und die Vergangenheit bleibt die, die sie war. Es braucht die Begegnung, in der die Erinnerung auf Resonanz stößt,

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D i e N e u b e s e t z u n g iVe m rO b racnhdessnt aecr hdrei cs hBt V e nT       9 1

Die Neubesetzung im Orchester des BVT Der neue Vorstand stellt sich vor Nach einer intensiven und produktiven Zeit haben sich die Vorsitzende Marianne Bevier, die Schatzmeisterin Nici Friederichsen ­sowie Annette Wagner, Marei Rascher-Held und Christian Fleck verabschiedet. Die Mitgliederversammlung hat am 9.12.2021 einen neuen Vorstand gewählt. Mein Name ist Carmen Birkholz. Ich wurde als 1. Vorsitzende gewählt und freue mich, mit dem neuen Vorstand Bewährtes fortzuführen und Neues entstehen zu lassen. Dabei möchte ich meine Rolle nutzen, dass die Vielstimmigkeit im Orchester der Trauerbegleitung als Wohlklang in unsere Gesellschaft wirkt. Die Stimme, die ich einbringe, vertritt die Trauer im Alter, wenn Menschen zum Beispiel ins Vergessen gehen. Abschiede liegen in der Luft. Trauern ist für mich dabei der lebendig-schmerzhafte Weg, der zu einem neuen Lebensgefühl in der Annahme der Veränderung führt. Bewusst und gemeinsam zu trauern, kann zu einem guten Leben am Ende des Lebens führen. So habe ich ein Curriculum für Trauer im Alter entwickelt, das ich ins Orchester des BVT einbringen möchte. Ich heiße Eva Kersting. Die Gründung der BAG (Bundesarbeitsgemeinschaft Qualifizie­ rung zur Trauerbegleitung) ent­sprang der Idee, sich über Methoden und Konzepte aus-

zutauschen und an gemeinsamen Werten und Grundsätzen zu arbeiten. Dieser Idee folgend hat sich aus der BAG der BVT entwickelt, seit 2014 zusammengesetzt sowohl aus Qualifizierenden als auch Begleitenden. Trauer ist ein diverses Feld. Unsere Mitglieder bereichern und erweitern mit ihren eigenen Schwerpunkten wie zum Beispiel Sternenkinder, Trauer am Arbeitsplatz oder Suizid unser Themengebiet. Ich möchte meine Arbeit im Vorstand daher weiterhin dafür einsetzen, dieser Pluralität Rechnung zu tragen und Trauer als lebbares Gefühl und Chance für uns als Gesellschaft zu begreifen. Gerade weil Trauer immer auch kulturell geprägt ist, kann sie soziale und spirituelle Grenzen überwinden. Ich bin Maria Förster und schon mit dem ersten Praktikum beim Bestatter habe ich meine Berufung gefunden und mich seither in diesem Feld weiterentwickelt. In meiner therapeutischen beziehungsweise begleitenden Tätigkeit darf ich mit Zugehörigen gemeinsam immer wieder neue Gesichter der Trauer kennenlernen. Meine Therapeutinnenstimme ähnelt laut einer Klientin dabei sehr der entspannenden Stimme der ehemaligen Liebesshow »Herzblatt«. Als Dozentin erhöht sich meine Redegeschwindigkeit dann schon mal auf 150 Wörter pro Minute, da ich es liebe, Wissen lebendig weitergeben zu dürfen. Und wenn mir zwischen diesen beiden Herzjobs dann doch mal langweilig wird, veranstalte ich öffentliche Events wie die »Endlichkeitsdialoge« oder Messen zum Memento-Tag.

K r a f t u nAdu fL da setn dHeur nEdr i g n en keor umnm gen

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Ich bin Kirsti Gräf und leite das Trauerinstitut der Pfeifferschen Stiftungen in Magdeburg. Ich bin Diplom-Sozialpädagogin, Trauerbegleiterin, Ethikberaterin und Letzte-Hilfe-Kursdirektorin. Wenn ich gefragt werde, was Trauer ist, antworte ich meistens, dass Trauer ganz individuell unterschiedlich empfunden wird und eine normale Reaktion auf eine Verlusterfahrung ist. Meine Aufgabe ist es, Menschen auf diesem Weg zu begleiten, ihnen zuzuhören, sie zu stabilisieren und zu stärken, damit sie ihren ganz eigenen Weg gehen können. Als Begleitende im Vorstand des BVT ist es mir wichtig, die Interessen der Trauerbegleiter*innen und der Trauernden zu vertreten und zu stärken. Es ist mir ein Anliegen, dass die Themen Krankheit, Sterben und Trauer wieder gesellschaftlich anerkannt sind.

Ich bin Katja Müller und freue mich auf die Aufgaben im Vorstand getreu meinem Motto »Vom Konzert des Lebens erhält man kein Programm, aber © Zimpfer-Photography sich gemeinsam auf den Weg zu begeben, lädt dazu ein, das Fremde im Anderen als Chance zu erleben, um sich gemeinsam weiterzuentwickeln«. Ich habe zwei erwachsene Kinder und lebe mit meinem Mann im schönen Westerwald. Als Dozentin in der Erwachsenenbildung (M.A.) bin ich gern Sprachrohr für das Thema Trauer, als Coach begleite ich trauernde Menschen auf ihren individuellen Trauerwegen. Vernetzung ist für mich ein Herzensthema. Menschen, die Trauernde begleiten, sollen sich auf ein stabiles Netzwerk verlassen können. Dies möchte ich, gemeinsam mit meinen Vorstandskolleginnen, stärken und auszubauen.

Mein Name ist Kerstin Leyendecker, ich bin 1977 in Düsseldorf geboren und lebe mit meinem Mann und unseren drei Kindern in Ostwestfalen. Ich arbeite als Coach, Dozentin und Trauerrednerin und begleite Menschen auf ihrem Weg durch die Trauer. Insbesondere kümmere ich mich um die Trauerarbeit am Arbeitsplatz. Als Betriebspsychologin ist mir der Umgang mit trauernden Kolleg:innen, die professionelle Betreuung des Teams und der Führungskräfte eine besondere Herzensangelegenheit. Ressourcenorientierung und Empathie, offene und direkte Ansprache mit Blick auf die individuellen Bedürfnisse zeichnen meine Herangehensweise aus.

Ich bin Marion Zwilling und lebe in Achim bei Bremen. Durch die Erfahrungen, die ich nach dem Tod unserer Tochter gemacht habe, wurde die Trauerbegleitung für mich zur Herzenssache. Mir ist wichtig, dass Trauerbegleiter*innen gut ausgebildet sind. Menschen, die trauern, sollen die Möglichkeit haben, gut begleitet zu werden. Daher ist es mir wichtig, das Wissen um qualitätvolle Trauerbegleitung in unsere Gesellschaft zu tragen. Als Qualifizierende möchte ich mich im Rahmen meiner Vorstandstätigkeit dafür engagieren.

L E I D FA D E N   – FAC H M AG A Z I N F Ü R K R I S E N , L E I D, T R AU E R   H e f t  2  4  /  2 0 2 21 2

© Jim Avignon

Vorschau Heft 3 | 2022 Thema: Schamgebeugt und schuldbeladen Kann ich mir das jemals verzeihen? Voraussetzungen und Möglichkeiten der ­Selbstvergebung

Ent-Schuldigung – eine Illusion?! Zwei starke Emotionen: Scham und Schuld in der Pflege »Machen Sie sich frei« – Scham bei Menschen mit einer Tumorerkrankung Scham und Sexualität in der letzten Lebensphase Schuld und Scham nach Suizid Scham und Schuld am Lebensende Fehlerkommunikation bei Ärzten u. a. m.

A man followed by his past

Impressum Herausgeber/-innen: Monika Müller M. A., KAB-Ring 22, D-53359 Rheinbach E-Mail: [email protected] Prof. Dr. med. Lukas Radbruch, Zentrum für Palliativmedizin, Von-Hompesch-Str. 1, D-53123 Bonn E-Mail: [email protected] Dr. phil. Sylvia Brathuhn, Frauenselbsthilfe Krebs e. V., Landesverband Rheinland-Pfalz/Saarland e. V. Schweidnitzer Str. 17, D-56566 Neuwied E-Mail: [email protected] Prof. Dr. Arnold Langenmayr (Ratingen), Dipl.-Sozialpäd. Heiner Melching (Berlin), Dipl.-Päd. Petra Rechenberg-Winter M. A. (Hamburg), Dipl.-Pflegefachfrau Erika Schärer-Santschi (Thun, Schweiz), Dipl.-Psych. Margit Schröer (Düsseldorf), Rainer Simader (Wien), Prof. Dr. Reiner Sörries (Erlangen), Peggy Steinhauser (Hamburg) Bitte senden Sie postalische Anfragen und Rezensionsexemplare an Monika Müller, KAB-Ring 22, D-53359 Rheinbach Wissenschaftlicher Beirat: Dr. Colin Murray Parkes (Großbritannien), Dr. Sandra L. Bertman (USA), Dr. Henk Schut (Niederlande), Dr. Margaret Stroebe (Niederlande), Prof. Robert A. Neimeyer (USA) Redaktion: Ulrike Rastin M. A. (V. i. S. d. P.), BRILL Deutschland GmbH Vandenhoeck & Ruprecht Theaterstr. 13, D-37073 Göttingen Tel.: 0551-5084-423, Fax: 0551-5084-454 E-Mail: [email protected] Bezugsbedingungen: Leidfaden erscheint viermal jährlich mit einem Gesamtumfang von ca. 360 Seiten. Es gilt die gesetzliche Kündigungsfrist für Zeitschriften-Abonnements. Die Kündigung ist schriftlich zu richten an: HGV Hanseatische Gesellschaft für Verlagsservice mbH, Leserservice, Holzwiesenstr. 2, D-72127 Kusterdingen Bestellungen und Abonnementverwaltung: HGV Hanseatische Gesellschaft für Verlagsservice mbH, Leserservice, Teichäcker 2, D-72127 Kusterdingen; Tel.: 07071-9353-16, Fax: 07071-9353-93, E-Mail: [email protected] Preise und weitere Informationen unter www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com. Verlag: BRILL Deutschland GmbH, Vandenhoeck & Ruprecht, Theaterstr. 13, D-37073 Göttingen; Tel.: 0551-5084-40, Fax: 0551-5084-454 www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2192-1202 ISBN 978-3-525-40794-3 ISBN 978-3-666-40794-9 (E-Book) Umschlagabbildung: Foto: Christiane Knoop Anzeigenverkauf: Ulrike Vockenberg, Kontakt: [email protected] Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. © 2022 by Vandenhoeck & Ruprecht, Theaterstraße 13, 37073 Göttingen, Germany, an imprint of the Brill-Group (Koninklijke Brill NV, Leiden, The Netherlands; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Germany; Brill Österreich GmbH, Vienna, Austria) Koninklijke Brill NV incorporates the imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, V&R unipress. Gestaltung, Satz und Lithografie: SchwabScantechnik, Göttingen Druck und Bindung: Beltz Grafische Betriebe GmbH, Bad Langensalza Printed in Germany

Einfühlsame und mutige Traumatherapie rund um das Ego-State-Modell

Susanne Leutner / Elfie Cronauer

Traumatherapie-Kompass

Begegnung, Prozess und Selbstentwicklung in der Therapie mit Persönlichkeitsanteilen Mit einem Vorwort von Wolfgang Wöller. 2022. 405 Seiten mit 38 teils farb. Abb. und 2 Tab., gebunden € 45,00 D | € 47,00 A ISBN 978-3-525-45332-2 Auch als e-Book erhältlich.

Die Behandlung von Menschen mit komplexen Traumatisierungen stellt Therapeutinnen und Therapeuten vor große Herausforderungen. Über die etablierten traumatherapeutischen Konzepte hinausgehend stellen die beiden Autorinnen ihren schulenübergreifenden Ansatz zur entwicklungs- und prozessorientierten Arbeit vor. Der besondere Akzent liegt auf der vernetzend-systemischen Arbeit mit Persönlichkeitsanteilen sowie der Kombination mit EMDR. Der therapeutischen Beziehung kommt dabei ein ebenso hoher Stellenwert zu wie dem konsequenten Blick auf die Stärken der Klientinnen und Klienten. Die Therapeutin kann in der Begegnung mit der Klientin herausfinden, was diese braucht, wie viel Belastung sie bewältigen kann und wie viel Stärkung nötig ist für den passenden nächsten Schritt auf ihrem ganz eigenen Weg. Eine Fülle von Anleitungen, Fallbeispielen und Übungen bereichert den Traumatherapie-Kompass.

13. Fachkongress & Messe

Kinder und Jugendliche in der Sterbe- und Trauerbegleitung

365 Tage 365 Aufgaben, um Trauer als DEINE KRAFT zu verstehen

Kerstin Leyendecker, Das Trauer-Tagebuch. Dein Begleiter zur Trauerbewältigung, Berlin 2022, 748 Seiten, 13 x 21 cm, Klappenbroschur, ISBN: 978-3-95894192-2, VKP: 25 Euro (inkl. 7% MwSt.) www.omnino-verlag.de www.kerstinleyendecker.de

Matheus Bertelli by Pexels

Das Trauerbegleitbuch gibt dir ein ganzes Jahr lang Aufgaben, um deine Gedanken zu sortieren und dich in deiner Trauerarbeit zu unterstützen. Es schenkt dir Raum für deine eigene Kreativität. Es ist Tagebuch und Begleiter.

www.leben-und-tod.de WWW. CHARTA-FUERSTERBENDE.DE

Wir unterstützen die Charta

Spirituell auf stürmischer See unterwegs? Ressourcen ausschöpfen und Risiken ausloten

Sarah Pohl Spiritueller Schiffbruch?

Sich selbst und anderen in Sinnnot helfen 2022. 155 Seiten, kartoniert € 20,00 D ISBN 978-3-525-45335-3 Auch als e-Book erhältlich.

Haben Sie schon einmal spirituellen Schiffbruch erlitten und waren auf dem »falschen Dampfer« unterwegs? Sind Sie »baden gegangen« mit Ihren Glaubensund Wertvorstellungen? Womöglich suchen nach gerade nach einem Kompass, um wieder in ruhigere Fahrwasser zu gelangen? Oder jemand, den Sie gern mögen, ist vom Kurs abgekommen und Sie machen sich Sorgen? Sarah Pohl geht mit Ihnen auf Entdeckungsreise durch die heutige Glaubenslandschaft und beschreibt fundiert und unterhaltsam, welche Anbieter um Klient:innen buhlen, welche Besonderheiten und Gefahren die neuen Entwicklungen auf dem weltanschaulichen Markt bergen. Sie gibt Survivaltipps für das Kentern auf hoher See und lässt zahlreiche »Schiffbrüchige« zu Wort kommen, deren Erfahrungen Mut machen – auch zum kritischen Hinterfragen.

Umfassendes Handbuch mit Methoden und Techniken für die Praxis der Trauerbegleitung Monika Müller | Sylvia Brathuhn | Matthias Schnegg ÜbungsRaum Trauerbegleitung

Methodenhandbuch für die Arbeit mit Trauernden 2019. 284 Seiten, mit 19 Abb., 2 Tab. sowie Kopiervorlagen als Download-Material, kartoniert € 30,00 D | € 31,00 A ISBN 978-3-525-40639-7 Auch als E-Book erhältlich.

Das Buch kommt dem Wunsch von Begleitenden nach methodischem Handwerkszeug entgegen, in Trauersituationen mehr Angebote machen können, als einfühlsam zuzuhören. Das Methodenhandbuch stellt eine Fülle von Handhabungen und Fertigkeiten vor, die den Betroffenen einen anregenden Umgang mit ihrer Trauer ermöglichen. Der Kern des Buches besteht aus einer alphabetisch geordneten, anlassbezogenen Sammlung von 77 Schlüsselbegriffen mit jeweils einer kurzen Darstellung des Themas, Impulszitaten sowie der Übung selbst. Arbeitsblätter sind auch als Download abrufbar und ausdruckbar.

ISBN 978-3-525-40794-3

9 783525 407943