Was ist mit dem SINN LOS?: Leidfaden 2020, Heft 4 [1 ed.] 9783666459221, 9783801729660, 9783801729165, 9783801730345, 9783801728939, 9783525459225


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Was ist mit dem SINN LOS?: Leidfaden 2020, Heft 4 [1 ed.]
 9783666459221, 9783801729660, 9783801729165, 9783801730345, 9783801728939, 9783525459225

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9. Jahrgang  4 | 2020 | ISSN 2192-1202 | € 20,–

faden Leid

FA C H M A G A Z I N F Ü R K R I S E N , L E I D , T R A U E R

Was ist mit dem

SINN LOS?

Franzisca Pilgram-Frühauf Sinn suchen – nach Hause finden – Zur Symbol-

sprache bei Demenz  Rainer Simader Der Körper als sinnstiftende Ressource im Prozess des Sterbens  Cornelia Mooslechner-Brüll, Kai Kranner Der Sinn und die Sinne – Über die Erlebnisse beim philosophischen Wandern

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Der Band beschreibt einen kognitiv-verhaltenstherapeutischen Ansatz der Paartherapie, mit dessen Hilfe die Qualität der Paarkommunikation gefördert werden kann. Dazu werden neun Paartherapieeinheiten dargestellt, in denen Paare u.a. lernen können, sowohl angenehme als auch unangenehme Gefühle zu äußeren, eine gemeinsame Gesprächskultur zu entwickeln und Probleme zu lösen.

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Dankbarkeit in der Psychotherapie

Kommunikationstherapie Dankbarkeit in der Psychotherapie

Engl / Thurmaier

Kommunikationstherapie

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Dieser Fächer ist ein praktischer Begleiter für alle, die Achtsamkeit praktizieren und sich selbst und ihre Umgebung neu erkunden wollen. Er enthält mehr als 30 Übungen für den Alltag. Achtsamkeit ist keine Frage der Örtlichkeit, Sie können immer und überall achtsam sein. Mit den Übungen lernen Sie vor allem, Ihre Wahrnehmung zu schärfen und offen zu sein für das, was sich im Hier und Jetzt ereignet.

Das Buch zeigt auf, wie Krebspatienten und ihre Angehörigen mithilfe der ACT bei ihrer Krankheitsbewältigung unterstützt werden können. Ziel ist es, die psychische Flexibilität zu fördern, so dass die Reaktionen auf die Erkrankung nicht zu zusätzlichem Leiden, sondern zu einem wertorientierten Leben führen.

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Ein Fächer mit mehr als 30 alltagstauglichen Übungen

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Ressource und Herausforderung 2020, 217 Seiten, inkl. CD-ROM, € 29,95 / CHF 39.90 ISBN 978-3-8017-2893-9 Auch als eBook erhältlich

Das Thema Dankbarkeit erhält in der Psychologie zunehmend Aufmerksamkeit. Viele Studien belegen die hohe Relevanz von Dankbarkeit für die psychische Gesundheit. Das Buch informiert umfassend über den aktuellen Wissensstand rund um Dankbarkeit und stellt zahlreiche Übungen sowie Arbeitsmaterialien zur Förderung von Dankbarkeit vor.

EDITORIAL

Was ist mit dem SINN LOS? Die Welt begegnet uns nicht schlicht und einfach neutral. Was wir wahrnehmen, hat in der Regel Bedeutung, unser Handeln hat Ziele, unsere Alltagsziele verweisen auf tiefere Lebensziele, diese und unser Leben sind insgesamt hineingenommen in ein größeres Ganzes, das uns trägt und in dem wir uns verstehen. Der Begriff des »Sinns« verweist auf ein bedeutsames Mehr im Unmittelbaren. Sinnlosigkeit, das Absurde, die Verzweiflung, Angst zeigen umgekehrt die schmerzhaft empfundene Abwesenheit eines solchen Mehrauf – Handeln und Leben werden bedeutungs- und ziellos, das Wahrgenommene ist schal, das Ganze trägt nicht, sondern ist ein Abgrund. Die Sinnfrage führt in das Höchste und Tiefste des Lebens. Das Reden vom Sinn läuft jedoch auch Gefahr, Verzweiflung und Leiden allzu rasch mit dicken Farben zu überpinseln, gar die Verzweifelten unter existenzial-sportlichen Leistungsdruck zu setzen, Sinn zu finden oder ihrem Leben einen zu geben. Die Sinn-Rede läuft weiter Gefahr, in dem Sinn totalisierend zu werden, dass Lebensentwürfe übersehen werden, die nicht im Begriffspaar Sinn–Sinnlosigkeit verstanden werden können. Dem Sinn steht nicht nur das Sinnlose gegenüber, sondern vielleicht auch eine gelebte Gleichgültigkeit, die einen höheren Sinn weder fühlt noch braucht – und dennoch ganz glücklich existiert. Wie oft überladen wir im Kleinen wie im Großen das Erlebte und Erfahrene mit Bedeutung, bevor wir einfach nur sehen und staunen, was ist? So empfiehlt beispielsweise der Philosoph Odo Marquard1 eine »Diätetik der Sinnerwartung«: Nicht die Klage über den Verlust oder das Ausbleiben von Sinnerleben bringe uns weiter, sondern vielmehr die Reduktion unmäßig großer

Sinnansprüche. Deshalb sei Sinn eher der »Unsinn, den man lässt« und die »Antwort auf die Lebenssinnfrage hängt mehr an den nächsten Dingen als an den letzten«. Den Sinn in dieser Weise »los« zu werden, mache offen für die Schönheit des Alltags. Die Sinnfrage fragt also nach dem Höchsten oder Tiefsten – aber sie lenkt in die Irre oder wird gar gewaltsam, wenn nicht solche Gegenläufigkeiten mitgedacht werden. Die Sinnfrage wird – so verstanden – zu einer Bewegung und einem Weg, die sich nur über ihre eigenen Gegensätze und Sinn-Brüche erschließen lassen. Tatsächlich verweist uns die Etymologie von »Sinn« auf das Gehen, Reisen, Trachten, Fahren, auf den Sinn als Richtung eines Weges. Eine Richtung wird eingeschlagen, eine Fährte gesucht und versucht. Derart haben wir das Heft und die Beiträge als einen Weg angelegt, der das Brüchige und Verschlungene aufnimmt. Er führt nach ersten Orientierungen über Wege und Stufen, von denen klar ist, dass der Weg des Sinns alles andere als linear und aufsteigend ist, hin zu Einbrüchen, Abbrüchen, und »losen« Enden des Lebens und Hoffens, weiter zu möglichen Aufbrüchen und schließt gewissermaßen mit abendlichen BeSinn-ungen (oder eben nicht?) zur Gegenwart am Ende des Reisetages und der Reisetage.

Sylvia Brathuhn

1 Marquard, O. (1986). Zur Diätetik der Sinnerwartung. Philosophische Bemerkungen. In: Marquard, O., Apologie des Zufälligen (S. 33–53). Stuttgart.

Leidfaden, Heft 4 / 2020, S. 1, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2020, ISSN 2192-1202

Patrick Schuchter

Inhalt Editorial 1

4 Nastasja Stupnicki

»Tanz mal drüber nach« – Tanzend philosophieren über den Tod – Ein Erfahrungsbericht

ZUGÄNGE UND ORIENTIERUNGEN 4 Nastasja Stupnicki | »Tanz mal drüber nach«

7 Sepp Fennes

»Es stirbt sich leichter, wenn man vorher gelebt hat!« – Sinn und Sinnlichkeit als Bausteine der Daseinserfüllung



11 Eduard Zwierlein Trauer-Sinn



16 Franzisca Pilgram-Frühauf

Sinn suchen – nach Hause finden – Zur Symbolsprache bei Demenz



21 Rainer Simader

Der Körper als sinnstiftende Ressource im Prozess des Sterbens

7 Sepp Fennes | »Es stirbt sich leichter, wenn man vorher gelebt hat!«

WEGE UND STUFEN

24 Tina Zickler

Umwege erhöhen die Ortskenntnis



30 Cornelia Mooslechner-Brüll und Kai Kranner

Der Sinn und die Sinne – Über die Erlebnisse beim philosophischen Wandern



33 Sr. M. Basina Kloos

ABSCHIED nehmen von Stufe zu Stufe – Reflexionen einer Ordensfrau zur Lebens-Führung

30 Cornelia MooslechnerBrüll und Kai Kranner | Der Sinn und die Sinne

ABBRÜCHE UND SUCHBEWEGUNGEN

48  Franziska Haydn | Der Young Widow_ers Dinner Club

36 Hans Bartosch

Ach wie sinnlos, ach wie grau, allzu oft’s dem Herzen mau … – Sinn-losigkeit in der Erfahrungswelt von Seelsorge



42 Angelika Feichtner

Existenzielles Leid am Lebensende – Von der therapeutischen Kraft menschlicher Zuwendung

45 Dirk Hannowsky

Erkrankung und Sinnkrise, Selbsthilfe und Sinn­ findung – Das Beispiel der Frauenselbsthilfe Krebs

48 Franziska Haydn

Der Young Widow_ers Dinner Club

51 Petra-Alexandra Buhl

Eine Zukunft planen, die es vielleicht nicht gibt – Für Langzeitüberlebende von Krebs ist AndersSein eine Perspektive

90 Aus der Forschung: Sinnsuche und Trauer – der Versuch einer Erklärung

93 Fortbildung: Menschen mit Leiderfahrung und im Leiden begleiten

HEBUNGEN UND AUSSICHTEN

56

Manuela Straub Wider ein Sinnlosigkeitsgefühl – Logophiloso­ phische Gesprächsrunden im Wiener Tageshospiz

59 Anita Wohlmann

98 Rezensionen 101

Cartoon | Vorschau

102 Impressum

Literatur in Zeiten der Krise – Vom Sinn des Lesens

64 Sylvia Brathuhn und Monika Müller

Sinn-Zeugenschaft als Begleitaufgabe im Prozess der Trauer

BE-SINN-UNG – ODER DOCH NICHT? Gedanken und Fragen in der und zur Corona-Krise



72 Rüdiger H. Jung

Be-SINN-ung in der Krise und darüber hinaus?

76 Heinz-Ulrich Nennen

Krise: Übergang in eine neue Welt

79 Matthias Schnegg

Leerstelle macht Sinn – In Zeiten der Krise

82 Aus der Redaktion: Corona-Gedanken und Corona-Fragen

59  Anita Wohlmann | Literatur in Zeiten der Krise

4

»Tanz mal drüber nach« – Tanzend philosophieren über den Tod Ein Erfahrungsbericht

Nastasja Stupnicki Philosophieren ist Bewegung. Sehe ich Kindern beim Philosophieren zu, kann ich meist beobachten, wie sehr ihr ganzer Körper vom Philosophieren erfasst ist. Nicht nur in ihren Köpfen drehen und wenden sich die Gedanken. Mit ihnen wiegen und winden sie sich auf ihrem Platz, wenn sie ihnen folgen, sie einfangen und artikulieren. Manchmal spricht ein Kind und scheint dabei beinahe zu schweben, weil das, was es sagt, aus seinem Innersten kommt. Dann wieder schießt ein anderes geradezu in die Höhe, wenn ein Gedanke wie ein Blitz in ihm einschlägt. Ein weiteres ganz versunken, blickt aus dem Fenster, träumt von einer anderen Welt. Kinder philosophieren mit allem, was sie sind. Mit ihrem Geist, ihrer Vernunft, ihren Gefühlen, ihren Körpern. Erwachsene hingegen scheinen meist fragmentiert. Philosophieren wir, dann glauben wir zu wissen, dies tut man mit dem Kopf. Der restliche Körper wirkt wie ausgeschaltet. Nur kleine Gesten verraten hie und da eine kleine Unbehaglichkeit; Freude, Nervosität lässt sich vielleicht manchmal an der Modulation der Stimme ablesen. Es scheint, wir haben unsere Körper längst irgendwo abgegeben, zu sehr verraten sie uns. Nun werden manche denken: ich nicht! Und gut so. Der Körper, der das Sichtbarste an uns ist, soll nicht unsichtbar gemacht werden. Darf Ausdruck dessen sein, was in uns vorgeht. Er ist Quelle unserer Sinnlichkeit, die unser Denken in Bewegung hält und bringt.

Eine Berührung, ein sanftes Streichen über meinen Rücken, meine Stirn an seiner Stirn, durch meine Wimpern erahne ich sein Gesicht, bevor ich meine Augen vollends schließe, der Duft eines Parfums – begleitet von dem sanften Reiben des Stoffs seines frisch gebügelten Hemds. All diese Eindrücke schenken mir meine Sinne, noch bevor ich überhaupt zu tanzen beginne und ich bloß in seine Umarmung gleite. Tango argentino ist eine sinnliche Angelegenheit. Ein komplexer Tanz, in dem jede Bewegung wie Worte in einem Satz einer dreiminütigen Geschichte sind. Obwohl man ihn stumm tanzt, schweigt man nicht. Im Gegenteil. Wer sich traut, hier zuzuhören, hört mehr als nur das Pochen des eigenen Herzens, da liegt der Schlüssel zu Antworten, die nur der Körper geben kann. Aber Tango argentino ist nicht einfach nur ein Tanz. Er ist Teil einer Kultur, ohne den eine ganze Nation wohl eine andere wäre. Interessant dabei sind auch seine Texte, die nach dem Sinn des Lebens fragen, nach der Liebe, nach dem Hass. Die von Freundschaft und Feindschaft, Einsamkeit und Alltagsproblemen erzählen. Auch der Tod wird vielfach besungen. Sie haben gerade ihr Handy dabei oder sitzen vor ihrem Laptop? Dann empfehle ich Ihnen, nach folgendem argentinischen Tango von Roberto Goyeneche zu suchen und ihn sich anzuhören: »Chau no va más«. Der Text wurde von Homero Expósito geschrieben, dem Goyeneche nie verzeihen konnte, dass er starb. »Chau no va más« ist ein poetischer Tango, der Leben und Tod gegenüberstellt. An dieser Stelle kann ich nur Ausschnitte auf Deutsch übersetzen:

Leidfaden, Heft 4 / 2020, S. 4–6, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2020, ISSN 2192-1202

»Ta n z m a l d r ü b e r n a c h «    5

Dieser Tango ist vielseitig interpretierbar. Er thematisiert die Dialektik von Leben und Tod und zeigt das Leben in seiner Unerbittlichkeit. Der Tod indes wird als Motor der Veränderung dargestellt. Gemeinsam fordern sie uns auf, unser Leben zu gestalten und immer wieder aufs Neue zu beginnen, wenn wir uns einmal verirrt haben. Der Tod und das Leben stellen uns vor die Aufgabe, uns immer wieder neu zu erfinden. Die Worte »Chau, es geht nicht mehr!« und »Du musst weitermachen!« drücken aus, dass der Tod im Leben immer schon präsent ist.

Paolo Dalprato / shutterstock.com

»Chau, es geht nicht mehr! Es ist das Gesetz des Lebens ›zu werden‹. (…) Ich habe dir beigebracht, wie die Haut zittert, wenn die Liebe geboren wird und ein anderes Mal habe ich es gelernt. Aber niemand lebt ohne zu töten, ohne eine Blume zu schneiden, sich damit zu parfümieren und weiterzugehen. Leben ist verändern. Lass den Fortschritt passieren, er ist fatal! Chau, es geht nicht mehr! Das Leben wird einfach weitergehen. (…) Wenn ich dir ein Baby kaufen könnte, noch ein Leben ansparen könnte und singen (…). Leben ist verändern. In jedem alten Foto wirst du das sehen (…). Ich weiß, es ist hart, die Liebe rücklings zu töten, ohne eine andere Haut zu haben, wohin man gehen kann. Aber komm schon! Das Leben blüht! Du musst weitermachen!«

Wa s i s t m i t d e m S I N N LO S ?

6   N a s t a s j a S t u p n i c k i

Die Musik beginnt mit einer Einleitung, die wie eine Frage klingt, auf die Goyeneche eine resolute Antwort über die Tatsachen des Lebens und des Todes zu geben scheint. Dann aber wechselt seine Stimme zu dieser eindringlichen Zärtlichkeit und dieser humorvollen Leichtigkeit, die so typisch für den Tango sind und so bezeichnend für jene Themen des Lebens, die besonders schmerzvoll, aber nicht zu ändern sind. Doch dies ist nicht das Ende, der drängende Rhythmus des Tangos treibt uns im Finale an, uns mit unbändiger Lust ins Leben zu stürzen, gerade weil wir um unsere Sterblichkeit wissen. Ein Meisterwerk der argentinischen Tangomusik. Aus Neugier initiierte ich in Wien eine Tangokultur- und Philosophierunde, die aus meinen zwei Leidenschaften entstand. Zum einen bin ich als Tango-argentino-Lehrerin tätig, zum anderen arbeite ich als Philosophin in meiner philosophischen Praxis. Tangotanzen und die dazugehörige Mikrowelt der internationalen Tangoszene mit ihren unterschiedlichen Akteuren regten mich von Anfang an zur Selbstreflexion an. Als philosophische Praktikerin interessiert mich aber vor allem, was andere Menschen denken und empfinden. Ich wollte sehen, ob es Gleichgesinnte gäbe, die sich vom Tango auch zum Nachdenken angestoßen fühlten. Als tatsächlich einige Tänzer und Nichttänzerinnen sich zusammenfanden und wir in der Tangokultur- und Philosophierunde gemeinsam über den Tod philosophierten, gab ich denjenigen, die es wünschten, zuerst die Möglichkeit zu »Chau no va más« zu tanzen. Anschließend im Kreis sitzend, stellte ich der Runde den Text von Expósito vor. Ohne eine bestimmte Frage zu stellen, eröffnete ich den Dialogkreis. Angestoßen von Musik, Tanz und Text entspannen sich bald um den Tod die unterschiedlichsten Konzepte. Angefangen bei Erfahrungsberichten mit Sterbenden im persönlichen Umfeld bewegte sich der Dialog in die Richtung, in welcher Beziehung wir uns zum Tod befänden. Dazu meinte eine 93-jähriger Herr, der

immer noch Tango tanzt und im Zweiten Weltkrieg mit dem Flugzeug abgestürzt war und sich anschließend mehrere Jahre in französischer Gefangenschaft befunden hatte, dass ihn der Tod im Grunde nicht interessiere. Ein anderer Herr wiederum fühlte sich dem Tod sehr nah. Für ihn sei er im Leben enthalten und kein plötzliches Ereignis. Eine Dame dachte absichtlich nur selten an den Tod. Sie wolle ihn nicht herauf­beschwören und verhindern, sich mit diesem für sie negativen Thema zu belasten. Ein Argentinier erzählte, wie wichtig der Tod für seinen Tango­tanz sei. Nur durch ihn sei er ein wirklich leidenschaftlicher Tänzer. Der Tod mahne ihn, jede Bewegung mit seiner Partnerin auszukosten und das Leben bis auf den letzten Tropfen auszupressen. Noch viele weitere Konzepte kamen in der Runde über den Tod ans Licht. Ein Tanz um den Tod, der uns zu uns selbst brachte und in dessen Reigen wir unterschiedlichste Facetten unserer selbst erfahren konnten. Beim abschließenden Tango tanzten die Paare abermals und ich hatte den Eindruck, dass sich die Atmosphäre gewandelt hatte. Für mich schien es, als wäre die Gewissheit wiederhergestellt worden, dass jenes, was zuvor getrennt und fragmentiert schien, tatsächlich verbunden und in Beziehung ist. Und da erinnerte ich mich an etwas, das ein Kind einmal beim Philosophieren über den Tod sagte: »Der Tod, der passiert einfach. Da kann niemand was dafür.« Nastasja Stupnicki ist Mag.a der Philosophie und philosophische Praktikerin. In der internationalen Szene des Tango argentino ist sie unter dem Künstlernamen Nastasja Sas bekannt. Ihre beiden Leidenschaften fließen immer wieder in ihrer Arbeit zusammen und befruchten sich wechselseitig. Sie arbeitet sowohl mit Erwachsenen als auch mit Kindern und Jugendlichen. Kontakt: [email protected]

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»Es stirbt sich leichter, wenn man vorher gelebt hat!« Sinn und Sinnlichkeit als Bausteine der Daseinserfüllung

Sepp Fennes

Sinn? – eine zutiefst menschliche Frage »Gib meinem Hängen einen Sinn!«, mit diesem Teaser bitten städtische Abfallkörbe in Wien die Passanten, ihre »Leere« mit Inhalt zu füllen. Und wo wäre diese Metapher passender als hier, in der Heimatstadt von Viktor Frankl, dem Begründer der sinnzentrierten Psychotherapie. Warum aber setzen wir eigentlich voraus, dass ein Leben, außer da zu sein, auch noch etwas haben müsste oder auch nur k­ önnte – eben das, was wir Sinn nennen? (Anders 1980, S. 369). Ist Sinn nicht einfach ein Füllstand in einem Gefäß (Beetz 2012, S. 234) oder bloß »42« (Adams 1981)? Oder gar wie Sigmund Freud 1937 schrieb: »Im Moment, da man nach

dem Sinn und Wert des Lebens fragt, ist man krank, denn beides gibt es ja in objektiver Weise nicht« (Freud 1960, S. 429). Frankl hat eine ganz andere Antwort gefunden: Die Sinnfrage, die Sorge um möglichste Sinnerfüllung menschlichen Daseins, ist für ihn das Allermenschlichste, das es überhaupt geben mag (Frankl 2017). Oder anders ausgedrückt: Sinn ist ein grundlegendes Bedürfnis des Menschen. Dabei kann die große Frage nach dem Sinn des Ganzen gemeint sein (spirituell), die Frage nach der Orientierung für das eigene Leben (existenziell) oder es betrifft kleinere, nichtsdestotrotz situativ wichtige Entscheidungen (praktisch-alltäglicher Sinnhorizont). Was bringt es, Sinn zu finden? Phänomenologisch-empirisch zeigt sich: Gelingt es, das Sinnbedürfnis (immer wieder aufs Neue) zu stillen, dann schöpfen wir daraus Kraft, Ruhe und Orientierung. Unser Lebenswille wird gestärkt, Ausrichtung gelingt. Als Nebeneffekt erhöht sich die psychische Widerstandskraft. Sinn hilft uns, die Welt selbst, gerade in ihrer Unvollkommenheit, anzunehmen. Dies klingt auch im Nietzsche-­Zitat an, das in verschiedenen Texten von Viktor Frankl wiederkehrt: »Wer ein WaSepp Fennes

In Zeiten des Wandels, des Verlusts oder einer terminalen Erkrankung, wenn bewährte Lebensmöglichkeiten enden und gewohnte Ordnungen verloren gehen, tauchen vermehrt Sinnfragen auf – Fragen nach dem Warum, Wozu und Wofür, Fragen nach der Daseinserfüllung. Als kleine Handreichung für solche Zeiten werden im Folgenden der Sinnbegriff beleuchtet, mögliche Inhalte umrissen, die Sinnlichkeit gewürdigt und das Ganze mit »Sinn-Momenten« aus meinem Hospiztagebuch veranschaulicht. Impulse zum Nachspüren bilden den Abschluss dieser Überlegungen.

Leidfaden, Heft 4 / 2020, S. 7–10, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2020, ISSN 2192-1202

August Macke, Das helle Haus, 1914 / akg-images

rum zu leben hat, erträgt fast jedes Wie.« Das passive Ertragen bei Nietzsche wendet Frankl allerdings zur aktiven »Trotzmacht des Geistes« (vgl. Frankl 2017). Die Ingredienzien von Sinn Diese sind kurz gesagt intrinsische Werte (dazu näher unten) und ein »Aufgehobensein« in größeren Zusammenhängen. Oder anders ausgedrückt: Eine gute Mischung aus Selbstverwirklichung und Selbsttranszendenz auf der Basis von: Was ist? Was kann sein? Was will sein?

Frau U. war Artistin und hat mit dem Zirkuswagen die halbe Welt bereist. Diese Freiheit und die Ausübung ihrer Kunstfertigkeit zur Freude des Publikums waren ihr Lebenselixier. »Es stirbt sich leichter, wenn man vorher gelebt hat« hat sie uns als Vermächtnis hinterlassen. Frau Sch. sagte in einem Gespräch auf der Hospizterrasse, dass sie ein gutes Leben gehabt habe. Und erklärte gleich selbst: »Ich habe liebe Eltern gehabt, einen guten Mann, wir haben schöne Urlaube verbracht und mein Sohn kümmert sich bis zuletzt sehr um mich!« (Familie als größerer Zusammenhang).

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» E s s t i r b t s i c h l e i c h t e r, w e n n m a n v o r h e r g e l e b t h a t ! «    9

Frau H. meinte, sie fühle sich in ihrer Beziehung zu Gott gehalten und geborgen, das mache sie trotz schwerer Erkrankung zuversichtlich und gebe ihr Kraft. Was wir zum subjektiven Sinn-Erleben beitragen können, sind in meiner Erfahrung ein offener Geist (Freimachung von mentalen Einengungen), ein offenes Herz (emotionale Beteiligung) und vor allem aktive Sinnlichkeit: offene Sinne und achtsame Empfindsamkeit dem gegenüber, was ist und was uns ausmacht. Sinnlichkeit – conditio sine qua non Ein Sinn-Erlebnis lässt sich schlecht herbeidenken oder logisch deduzieren, so sehr unser Verstand auch manchmal danach sucht. Sinn-Erleben braucht das Erahnen, Erspüren, Erfühlen, Ertasten, die Leiblichkeit der fünf Sinne, den »felt sense« (Gendlin 1993). Erst im sinnlich-achtsam geprägten Umgang mit der Wirklichkeit zeigen sich die unermessliche Reichhaltigkeit des Lebens, seine Ordnungen und Zusammenhänge. Die Sinnlichkeit bewahrt uns davor, das Leben in ein Korsett reiner Vernünftigkeit zu pressen (Balmer 2009). Durch diese sinnliche Zuwendung zur Welt, der mit Offenheit für ihre Möglichkeiten begegnet wird, entsteht der dialogische Charakter der menschlichen Existenz, die Basis für die Sinnfindung. Frau N. strahlte mich an, als ich ins Zimmer trat: »Ich bin gerade gepflegt worden, ich fühle mich wie im Paradies.« Die durch die Pflege erfolgte sinnliche Begegnung verschaffte Frau N. ein tiefes Glücks- und Geborgenheitsgefühl. Was uns wieder zu Frankl bringt, dessen »beide(n) Beine, auf denen üblicherweise Sinn im Leben erfahren wird« (Längle 2005, S. 408), zwei sehr sinnlich geprägte Wertekategorien sind: die Erlebniswerte und die schöpferischen Werte.

Der Weg zum Sinn Wie oben angesprochen liegt großes Potenzial für die Daseinserfüllung in der aktiven Verwirklichung von Werten. Werte, die uns »berühren«, die wir als »eigene« empfinden und die auch »über uns selbst hinausweisen«. 1. Erlebniswerte: Durch Erleben von etwas Gutem, Wahrem, Schönem (mit allen Sinnen!) nimmt der Mensch Wertvolles in sich auf und realisiert dadurch Sinn (zum Beispiel Genießen von Musik, einer Landschaft, einer Speise, eines Duftes, das Erleben eines anderen Menschen, am stärksten in den verschiedenen Ausdrucksformen von Liebe). Frau D., die aufgrund ihrer Erkrankung nur noch Flüssignahrung zu sich nahm und wochenlang ihr Zimmer nicht verlassen hatte, bat mich, sie im Rollstuhl durch den Speisesaal zu führen, um noch einmal die Essensdüfte zu genießen, die Speisen zu sehen und anschließend im Innenhof am Biotop in der Sonne zu verweilen. Als ich sie ins Zimmer zurückbrachte, sagte sie: »Das Sterben dauert mir schon zu lange, aber das war jetzt wirklich schön!« 2. Schöpferische Werte: Durch das Schaffen von etwas subjektiv Wertvollem setzt der Mensch Werte in die Welt und erlebt sich selbst dadurch als sinnvoll (zum Beispiel Arbeit, Kreativität, Kunst, Handwerk, Haushalt). Frau B. hatte vor Jahren eine Kindermesse komponiert. Sie fragte mich, ob ich ihr bei der Verwirklichung ihres letzten Wunsches, der erstmaligen Aufführung der Messe, helfen könne. Wir sichteten das Liedmaterial, holten weitere Sänger*innen dazu und schließlich erfüllte sich ihr Aufführungswunsch im Rahmen eines Gottesdienstes. Frau B. strahlte gerührt und begeistert. Der ORF filmte mit und brachte wenig später ein Porträt von Frau B.

Wa s i s t m i t d e m S I N N LO S ?

1 0   S e p p Fe n n e s

3. Einstellungswerte: Wenn wir mit Determiniertheit, mit Endgültigkeit im Außen konfrontiert sind, bleibt uns noch die Freiheit nach innen. Wenn es zum Beispiel durch schwere Krankheit unmöglich geworden ist, etwas Sinnvolles zu schaffen oder zu erleben, bleibt noch ein letzter Wert, nämlich das Erfahren und Aufrechterhalten des Einverständnisses mit sich und seinen Grundhaltungen zum Dasein. Diese zeigt sich vor allem im Wie des Tragens und Umgehens mit dem Leid und im »Für wen« des Erduldens (Längle 2005). Herr Z. meinte bei unserem letzten Gespräch: »Ich werde in Kürze sterben, mein Körper schmerzt, mit dem Tod ist es aus. Aber ich war mein ganzes Leben Materialist, habe aus dem Vollen gelebt, nichts ausgelassen und das Beste daraus gemacht. Meine Tochter wird traurig sein, aber das geht vorbei.« Wichtig ist festzuhalten: Leid bleibt immer leidvoll, es soll nicht umgedeutet oder schöngeredet werden. Trotzdem besteht die Möglichkeit, individuelle Sinnfreiräume zu erkunden und zu verwirklichen. Jede Sinnfindung bleibt eine subjektive Aufgabe, auf Rezept ist Sinn nicht zu haben. Was aber sehr wohl möglich ist, ist begreiflich zu machen, dass unser Leben der Möglichkeit nach unter allen Bedingungen und Umständen sinnvoll ist und es bis zuletzt bleibt (vgl. Frankl 2017). Impulse zum Nachspüren • Was ist gerade die Frage, der Aufforderungscharakter, der Sinnaufruf des Lebens an mich in meiner Situation? Was vermittelt mir mein Körper, meine Sinnlichkeit in dieser Situation, wenn ich hineinspüre, lausche? • Auf welcher Wertebasis begegne ich dem Leben? In welches größere Ganze bin ich eingebunden, eingewoben? • Wo bin ich auf etwas, auf jemanden ausgerichtet, hingeordnet, das nicht wieder ich

selbst bin? Wo macht mein Sein und Tun Sinn für andere Personen? • Brauche ich mehr Ordnung in meinem Leben? Oder mehr Leben (zum Beispiel Humor, Begegnung, Lust, Genuss, Freude) in meiner Ordnung? Resümee und Geleit Sinnfragen werden uns in Krisenzeiten immer wieder begleiten. Im Leben von Werten, in der Sinnlichkeit, in der Selbstverwirklichung wie in der Selbsttranszendenz, im Geborgensein in einer größeren Ordnung liegt das Potenzial für die Antworten, die es immer wieder aufs Neue selbst zu finden gilt. Mit offenen Sinnen, offenem Herzen und offenem Geist. Möge die Übung gelingen! Sepp Fennes ist Trainer und Coach für Persönlichkeitsentwicklung und Kommunikation, Sterbe-, Trauer- und Demenzbegleiter im Hospiz am Rennweg (Caritas Socialis) in Wien, Supervisor, Liedermacher. Kontakt: [email protected] Website: www.seppfennes.at Literatur Adams, D. (1981). Per Anhalter durch die Galaxie. München. Anders, G. (1980). Die Antiquiertheit des Menschen. Band 2: Über die Zerstörung des Lebens im Zeitalter der dritten industriellen Revolution (5. Aufl.). München. Balmer, H. P. (2009). Philosophische Ästhetik. Eine Einladung. Tübingen. www.tabularasa.de (Zugriff am 27.04.2020). Beetz, J. (2012). Eine phantastische Reise durch Wissenschaft und Philosophie. Don Quijote und Sancho Pansa im Gespräch. Aschaffenburg. Frankl, V. E. (2017). Wer ein Warum zu leben hat – Lebenssinn und Resilienz. Weinheim, Basel. Freud, S. (1960). Briefe 1873–1939. Hrsg. von E. und L. Freud. Frankfurt a. M. Gendlin, E. T. (1993). Über den Körper – Wie ist Focusing theoretisch möglich? Focusing Folio 12/1, 93. ­Karlsruhe. https://focusing.de/medien/downloads (Zugriff am 28.04. 2020). Längle, A. (2005). Das Sinnkonzept Frankls  – ein Beitrag für die gesamte Psychotherapie. In: Petzold, G.; Orth, I. (Hrsg.): Sinn, Sinnerfahrung, Lebenssinn in Psychologie und Psychotherapie. Bielefeld, Locarno.

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Trauer-Sinn Eduard Zwierlein Versuchen wir, dem Zusammenhang von Trauer und Sinn beschreibend und alltagsnah nahezukommen. Ich schlage vor, dass wir dabei folgende Schritte unternehmen: Erstens machen wir uns beispielhaft einige Dimensionen oder Aspekte klar, die Menschen beim Gebrauch der Sinnthematik in Anspruch nehmen. Zweitens übertragen wir diese Aspekte auf das Phänomen der Trauer nach dem Verlust eines geliebten Menschen. Drittens schließlich geben wir ein paar Hinweise, was dies für die Begleitung und Beratung von trauernden Menschen bedeuten könnte. Sinn verstehen Um einige wichtige Dimensionen existenziellen Sinns zu verstehen, wählen wir ein Beispiel. Stellen Sie sich vor, sie haben einen Brief gefunden. Er stammt von einer verstorbenen Person, die Ihnen viel bedeutet hat. Der Brief ist alt, an manchen Stellen beschädigt und unleserlich. Was Sie lesen, berührt Sie stark, erschüttert Sie und macht Sie traurig. Der erste Sinn richtet sich auf das Verständnis des Inhalts. Was steht da genau? Worum geht es? Manches ist nicht mehr zu entziffern. Manches können Sie noch erraten. Einiges jedenfalls wird verständlich. Der sprachliche (philologische) Sinn geht in den verstehenden (hermeneutischen) Sinn über. Sie verstehen, worum es geht, der Sachverhalt wird einigermaßen klar. Nun löst das, was Sie da verstehen, einen Schmerz aus. Warum hat mir die Person das damals nicht gesagt? Warum erfahre ich das erst jetzt und so, auf diese Weise? Das macht doch keinen rechten Sinn. Der existenzielle Sinn geht mit Erschütterung und Bewegtheit einher. Jetzt kann ich die Dinge zwar noch

einmal in einem anderen Licht sehen. Aber rückwirkend verändern kann ich nichts mehr. Wozu also das Ganze? Bedeutet es etwas für mich und meine Zukunft? Die Sinnsituation des Menschen im Alltag ist normalerweise unproblematisch. Menschen unterstellen (sich gegenseitig) in ihrem Sprechen und Handeln Sinn. Sinn ist für sie da wie Brot im Schrank. Man kann jederzeit auf ihn zurückgreifen. Erst eine Sinnstörung ruft die Welt der Fragen auf: Was ist da los? Was ist das? Was bedeutet das? Kann die Sinnstörung nicht eingeordnet oder behoben werden und weitet sie sich zu einem Entzug von Sinn aus, erheben sich die nächsten Fragen: Warum ist das passiert? Warum jetzt? Warum mir? Hier mischen sich Klage und Schmerz in den Versuch des Verstehens. Ist der Sinnentzug massiv, dramatisch und unumkehrbar, werden die Sinnfragen grundsätzlich: Wozu das Ganze? Warum überhaupt noch weitermachen? Wer bin ich denn jetzt noch? Der Schmerz der Trauer erfüllt antwortlos die Existenz des Menschen. Welche Antworten sich nun einstellen mögen, ist offen. Vielleicht beginnt eine konkrete Sinnheilung. Vielleicht bleibt eine konkrete Sinnohnmacht. Vielleicht findet eine bewusste und grundsätzliche Stellungnahme zur Sinnhaftigkeit der Dinge des Lebens überhaupt statt. Jedenfalls berührt Trauer die Sinnfrage zutiefst. Ihre existenzielle Erschütterung löst ein Sinnbeben aus und führt den Menschen auf je eigene Weise ins grundsätzliche Fragen. Alles wird auf den Prüfstand gestellt. Die Karten werden neu gemischt. Oder weggeworfen. Alles ist möglich. Blaise Pascal hat es richtig gesehen: Wir wählen und wetten, wie wir die Welt und uns und alle Ereignisse sehen werden, je nachdem in welches Licht wir sie stellen.

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Trauer und Sinn Wer trauert, trauert um verlorenen Sinn. Trauer antwortet auf radikalen Sinnverlust und ist Ausdruck von Sinnentzug. So paradox es auch klingt, ist Trauer doch die sinnvolle Antwort auf das Widerfahrnis des geraubten Sinns. So ist sie selbst eine Sinngestalt. Trauer bedeutet genau diesen Schmerz und Schrei: Mein Sinn ist weg! Trauer ist keine Sinnleugnung, sondern Zeugnis einer unendlichen Vermissung von Sinn, der doch da war. Als der geliebte Mensch noch da war, war Sinn da wie Brot im Schrank. Man musste ihn nicht groß bedenken, sondern nahm ihn hervor und griff auf ihn zurück. In besonders schönen Momenten wurden wir des Sinngeschenks inne und spürten Dankbarkeit. Wo es kleinere oder größere Sinnstörungen gab, wurde um neuen, weiteren Sinn gerungen. Sinnbedrohungen mobilisieren Widerstand. So leben liebende Menschen im Gefühl einer sinnhaften Einheit. Die Gefahren der Entzweiung und Zwietracht, so glauben und hoffen sie, lassen sich prinzipiell bannen. Ihr Leben besteht aus Sinnfeldern, auf denen sie ihre Sinn-Ernte einholen. Mit Missernten kann man leben, wenn nicht alles an dieser einen einzigen Ernte hängt. Man hat einen Ausgleich, eine andere Chance, einen neuen Weg. So kommen wir zurecht. Trifft dich aber der eine große und endgültige Schlag, taumelt die Seele. Die Gebärde der Trauer ist es, dass wir den Kopf senken, die Augen niederschlagen, der Schmerz zum Schrei und zu den Tränen drängt. Die Kräfte sinken, die Beine wollen niederfallen, die Seele stürzt wie tot dahin. Dem Verlorenen trauert die Seele nach und fühlt sich allein gelassen. Zuvor hatte ich mir über Luft und Atmen keine Gedanken gemacht. Jetzt aber ist es so, als ob mir die Luft zum Atmen genommen wird. In gewisser Weise sterbe ich, da der Tod des Toten auf mich übergreift. Ausgestoßen aus dem Wir, zerreißt meine vormalige Einheit und stürzt mich in die Welt der Ent-Zweiung und Ver-Zweiflung. Alle Trauer ist ontologische Einsamkeit.

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Wird uns etwas wirklich Wert- und Bedeutungsvolles definitiv genommen, antwortet die Seele mit einem Schmerz, der die Ouvertüre der Trauer ist. Es ist Sinnschmerz, Schmerz, der Sinnentzug oder Sinnruin ausdrückt.

Flügelwesen / photocase.de

Im Schmerz der Trauer führen alle Sinnwege geradewegs ins Weglose. Auswege gibt es keine mehr. Sinn verwandelt sich in Trübsinn. Alle Sinnfäden hängen lose, ohne Halt herab und führen ins Leere. Ohnmächtig ringt der Trauernde mit Sinnresten, Sinnzweifel breitet sich aus. Jetzt, wo alles auf dem Spiel steht und kein Stein mehr auf dem anderen ruht, wo ich aus dem alten und bekannten Sinnhaus in ein neues umziehen soll und muss, da kann es auch sein, dass ich an kein neues Sinnhaus und überhaupt an kein Sinnhaus mehr glauben kann und will. Ich weiß nur, dass mein Sinn untergegangen ist. Überall ist Entschwinden und Entzug. Ob mir ein neuer Sinn aufgehen wird, wer weiß das schon. Wer so vom Tod berührt ist, wird aus seiner Sinnreise gerissen. Die Trauernden äußern es so: Nichts macht mehr Sinn. Ich fühle mich wie erstarrt. Alles ist wie eingefroren. Ich fühle mich wie gelähmt. Wozu soll ich noch aufstehen? – Solche Formulierungen sind Zeugen der Todesberührung. Als Todesäquivalente zeigen sie, dass »nichts mehr geht«. Stillstand. Wir sind in der Aporie, in der Weglosigkeit angekommen. Es geht nicht mehr weiter. Die Sinnreise ist unterbrochen. Ist Auf-Bruch noch möglich? Wie sollte das »gehen«? Kommen wir wieder auf den Weg zurück? Als Weg-Wesen, die dem Sinn weiter nachspüren werden? Trauer ist also die sinnhafte Antwort auf Sinnverlust. Es wurde uns etwas genommen, was uns lieb und teuer war. Wird uns etwas wirklich Wertund Bedeutungsvolles definitiv genommen, antwortet die Seele mit einem Schmerz, der die Ouvertüre der Trauer ist. Es ist Sinnschmerz, Schmerz, der Sinnentzug oder Sinnruin ausdrückt. Trauer ist ein Ringen mit der Sinnwunde. Sinnaufgaben der Trauerbegleitung Wer Sinn sieht, spürt einen Ausweg, fühlt, dass neues Leben möglich sein könnte. Die Wege der Trauer, ihre Krisen und Pfade sind immer wieder mit der Frage nach Sinn verbunden, die in unter-

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Edvard Munch, Virginia Creeper, 1898 / Bridgeman Images

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schiedlichsten Gestalten auftreten kann. Traueraufgaben sind Sinnaufgaben. Wer als Begleiterin und Berater Zeuge dieses Ringens um Sinn ist, kann dem Trauernden keinen Sinn geben, als ob er ihm seine Aufgabe abnehmen könnte. Er kann aber an seiner Seite bleiben, dabei bleiben und vielleicht den ein oder anderen Wink und Zuspruch geben, aus dem der trauernde Mensch Kraft für seine eigene Arbeit gewinnen kann. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit oder chronologische Reihenfolge gebe ich hierzu einige Anregungen:

1. Es scheint mir, dass wir Trauerschrei und Trauerschmerz am besten verstehen als eine Ehrung des verlorenen Sinns. Es ist so, als ob der vom Verlust getroffene Mensch auf die Straße stürzt, die Hände zum Sprechrohr um den Mund formt und aller Welt zuschreit, wie groß und schön und wertvoll das war, was nun verschwunden und weggenommen ist. Es ist ein Zeugnis der Liebe, die dem »entspricht«, was abwesend ist. Trauer ist die »richtige« Antwort auf Sinnentzug.

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2. Trauer ist Beklemmung über etwaige Sinnschulden. Wir sehen das, wenn die Menschen in den Modus des Irrealis wechseln: Hätte ich doch damals nur darauf geachtet, dass … Hätte ich mir doch mehr Zeit genommen. Hätte ich mich doch mehr geöffnet. Hätte ich … – Ob nun das Sinndefizit hier nur eingebildet ist oder tatsächlich vorliegt, wichtig ist die zugrundeliegende Botschaft zu sehen: Das Gefühl mangelnder Sinnverantwortung ist eine indirekte Weise, sozusagen ein Kunstgriff der Seele, die Schönheit der entflohenen Sinngemeinschaft zu bezeugen. Diesen verborgenen Gedanken der Selbstanklage sollte der Trauerbegleiter sichtbar machen. 3. Die Trauer würdigt einen Verlust und verweist auf einen Schatz. Sie kommt dann zu ihrem Recht und dadurch auch ein wenig zur Ruhe, wenn der Blick der Dankbarkeit zurück und bis ins Gegenwärtige Raum gewinnt. Es ist ein Blick auf eine Tatsache, nämlich, dass es diese Liebe, die nun zu beweinen ist, überhaupt in meinem Leben gegeben hat. Die Trauernde ist beschenkt mit etwas, das ihr keiner nehmen kann. Und dieses Geschenk ist seinerseits zugleich gefüllt mit einem Schatz von Erinnerungen, die beschützt und gepflegt werden wollen. Die Sinnaufgabe ist es hier, diesem Schatz einen Platz im jetzigen Leben zu geben. 4. Es ist wichtig zu verstehen, dass die Trauer nicht nur zurückschaut, sondern eine noch ausstehende Sinnaufgabe anzeigt. Die Trauer muss gegen alle Einreden ihren uneingelösten Zukunftssinn erst noch entdecken, heben und klären. Dies ist die wohl tiefste Sinnverantwortung der Trauer. Es gibt nämlich eine verborgene Aufgabe des Wachstums für die zurückgebliebene Seele. Sie ist verknüpft mit der Hinterlassenschaft des Toten an den Zurückbleibenden. Es ehrt der Trauernde den Betrauerten, wenn er sich von ihm etwas geben lässt, den Auftrag und die Gabe, dass es

im Zusammenbruch einen neuen Aufbruch gibt. Wir betrauern das Leben, das der Verstorbene beenden musste. Der Betrauerte aber erinnert uns an das Leben, das wir neu beginnen müssen. Dies ist die Gabe der Toten an die Lebenden. Das wahre Andenken an den geliebten Toten hebt diesen Schatz ans Licht. Der Sinn der Trauer ist die Dankbarkeit für die Gabe, mit der uns der Verstorbene beschenkt. Sie würdigt den Toten, wenn sie ihm dankt. Dank ist ein gutes Gedenken. Ein dankbares Andenken bereitet der Trauernde dem Toten, wenn er diesen Sinnkeim entdecken kann, der sein zukünftiges Leben verwandeln wird. Was aber hinterlässt der Tote dem Lebenden? Leben! Es ist irgendeine konkrete Variation der ewigen Grundfragen, an die uns die Toten erinnern, wenn wir uns ihrer recht erinnern: Steh auf und lebe! Werde du selbst! Sei lebendiger! Wachse in der Liebe! Die Trauer muss dem Flüstern der Toten Gehör schenken. Dann verwandelt sie sich in die Geburtswehe eines neuen Lebens. Die Imperative des Lebens sind die Lehren der Toten. 5. Einem Gedanken Robert Spaemanns folgend, können wir sagen, dass dies die Weise ist, wie wir Sinn wahrnehmen: Wir müssen ihm beistehen. Wenn im Bruch Licht aufscheint, wenn der trauernde Mensch nach Sinnheilung sucht oder nach Sinnverstehen, das heißt, wenn er dem Sinn beizustehen versucht, gerät die Krise selbst in eine Krise und die Trauer wird sichtbar als das, was sie eigentlich ist: eine Verteidigung des Sinns, der Liebe und des Lebens. Dr. phil. habil. Eduard Zwierlein, M.A., Studium der Philosophie, ­Psychologie und Theologie, ist apl. Professor für Philosophie an der Universität KoblenzLan­dau sowie als Unternehmensberater tätig. Kontakt: [email protected]

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Sinn suchen – nach Hause finden Zur Symbolsprache bei Demenz

Franzisca Pilgram-Frühauf Wer kennt nicht den Wunsch, den Menschen mit Demenz wiederholt äußern: den Wunsch, nach Hause zu gehen? Was er bei Angehörigen und Begleitenden auslösen kann, zeigt sich leitmotivisch im Buch »Der alte König in seinem Exil« des österreichischen Schriftstellers Arno Geiger. Dieser beschreibt die letzten Lebensjahre seines Vaters, beobachtet das ruhelose Umhergehen, das von der Sehnsucht nach einem Zuhause begleitet wird. So sehr dieses Phänomen im fortgeschrittenen Stadium von Demenz verbreitet ist, so irritierend kann es wirken – umso mehr, als sich der Vater in den eigenen vier Wänden befindet, in denen er den größten Teil seines Lebens verbracht hat: »Aber, Papa! (…) Erklär mir lieber, wie du nach Hause gehen willst, wenn du schon zu Hause bist« (Geiger 2011, S. 47). Es kommt zu einer zweifachen Sinnkrise, die einerseits in der Unruhe des Vaters zum Ausdruck kommt, andererseits den Sohn vor die hermeneutische Herausforderung stellt, einem scheinbar sinnlosen Wunsch Sinn zu abzugewinnen. Zwischen Sinnverlust und Inspirationsquelle Die Erklärung des Vaters bleibt aus. – Entsprechend fasste man symbolisch-metaphorische Mitteilungsformen lange Zeit als Signale für abnehmende Realitätsorientierung auf. Erst mit validierenden Methoden im Gefolge Naomi Feils rückten sie in ein anderes Licht: Auch wenn sich

Symbolsprache zuweilen dem Verstehen widersetzt, wird sie in der Validation ernst genommen, vom Gegenüber wörtlich gespiegelt oder paraphrasiert. Denn inzwischen ist auch durch die neurologische Forschung vielfach belegt, dass bildhaft-sinnliche Ausdrucksweise zumeist weniger schnell von demenziellen Verlusten betroffen ist als begriffliche Sprache (Sachweh 2019). Im Gegenteil: Zunehmende Probleme mit der Wort- und Namensfindung bewirken, dass vermehrt metaphorische Ausdrucksweisen verwen-

Gerade im Spannungsfeld von Verstehen­­wollen, Nicht­verstehen und ­vielleicht ­Verstehen können ­tragende ­Symbole entstehen, die den Sinn auf einer sinnlich-­ konkreten Ebene a­ nsiedeln.

det werden. Die Kehrseite von Verlusten im Bereich der Begrifflichkeit ist eine kreativ-poetische Belebung der Sprache, die auch Arno Geiger an seinem Vater auffällt. Er hört aus dem Mund des einst eher wortkargen alten Mannes »Sätze, so unwahrscheinlich und schwebend, wie sie einem manchmal in Träumen kommen« (Geiger 2011, S. 11). Die Sprache des demenzkranken Vaters

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Paul Klee, Villa R, 1919 / akg-images / De Agostini Picture Library

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wird für ihn zu einer Quelle schriftstellerischer Inspiration. Noch nicht beantwortet ist damit freilich die hermeneutische Ausgangsfrage, wie es in der Kommunikation gelingt, Symbole zu verstehen und vor allem: die dahinter verborgenen Ressourcen oder Leiden zu entdecken. Was ist, wenn sich Symbole sinnhafter Klärungen entziehen, wenn

man vielleicht merkt: Das ist eine symbolische Äußerung, da steckt mehr dahinter – aber man kann sie nicht einordnen? Bildhafte Sprache macht kommunikatives Handeln bedeutungsvoll, aber auch interpretationsbedürftig. Es geht um die Frage nach dem Sinn der Sprache angesichts ihrer Grenzen – eine Frage, die sowohl von Angehörigen und Begleitpersonen als auch von

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Betroffenen in einer frühen Phase von Demenz intensiv reflektiert wird. Vom Heimweg zum Heimweh Arno Geigers Buch zeigt eindrücklich, wie der Sohn die unruhigen Suchbewegungen seines Vaters nicht als Verhaltensstörung abschiebt, sondern darum ringt, sie zu deuten. Einmal ordnet er den Wunsch, nach Hause zu gehen, vor dem biografischen Hintergrund der traumatischen Kriegserlebnisse ein: »Er muss sich im Lazarett geschworen haben, ein Leben lang zu Hause zu bleiben, sollte er jemals wieder dorthin gelangen« (Geiger 2011, S. 45). Dann erklärt er sich das Gefühl des Vaters, nicht zu Hause zu sein, vor dem Hintergrund der Krankheitssymptomatik: Ein an Demenz erkrankter Mensch sehne sich aufgrund seiner inneren Zerrüttung an einen Platz, wo er sich wieder auskenne und Geborgenheit erfahren könne. Und schließlich versteht er die Sehnsucht nach dem Zuhause noch grundsätzlicher als Ausdruck eines spirituellen Bedürfnisses, das mit der Widersprüchlichkeit des Lebens schlechthin zu tun hat: »Als Heilmittel gegen ein erschreckendes, nicht zu enträtselndes Leben hatte er (der Vater) einen Ort bezeichnet, an dem Geborgenheit möglich sein würde, wenn er ihn erreichte. Diesen Ort des Trostes nannte der Vater Zuhause, der Gläubige nennt ihn Himmelreich« (Geiger 2011, S. 56). Auch die lebensgeschichtlichen ­Erzählungen von Menschen mit Demenz, die im Rahmen eines an der Universität Zürich angesiedelten Forschungsprojekts1 entstehen, enthalten Bilder für die existenzielle Sinnsuche. Diese tauchen insbesondere dann auf, wenn der Sinn – im Sinne des Verstehens und der rationalen Erklärungen – an Grenzen stößt. Jemand sagt zum Beispiel: »Ich habe Angst, mich zu verlieren und eine Last zu werden. (schweigt) Es ist schwierig, darüber zu reden, aber der Persönlichkeitsverlust ist das, was vor allem bedroht. Gibt es dann noch irgendetwas, was beheimatet?« Wo Gedan-

ken abreißen und Menschen in ihren Erzählungen verstummen, scheint oftmals eine spirituelle Dimension auf. Die Frage nach einer Beheimatung, einem Zuhause nimmt ein uraltes Bild auf, das sich bereits in den alttestamentlichen Psalmen findet (etwa am Schluss von Psalm 23: »und ich werde bleiben im Hause des HERRN immerdar«) und zeigt, was symbolische Sprache zu leisten vermag: Das sprechende Ich verschließt sich auch in Angst und Unsicherheit nicht in sich selbst, sondern wird kreativ, öffnet sich einem – menschlichen oder göttlichen – Gegenüber und wird von der Hoffnung getragen, gehört, erhört zu werden. Vielschichtiger Symbolbegriff Spätestens hier drängt sich ein hermeneutischer Symbolbegriff auf, wie ihn der französische Philosoph Paul Ricœur vorgestellt hat. Für ihn ist ein Symbol nicht nur ein bildhaftes Zeichen mit einer bestimmten Bedeutung, sondern »jene Sinnstruktur, in der ein unmittelbarer, erster, wörtlicher Sinn überdies einen mittelbaren, zweiten, übertragenen Sinn anzielt, der nur durch den ersten erfasst werden kann« (Ricœur 1973, S. 22). So bleibe für den Verstand immer eine gewisse Undurchsichtigkeit, gleichzeitig eine Tiefe des Symbols, die schier unerschöpflich sei. Es handelt sich um einen hermeneutischen Zugang, der sich nicht mit dem bloßen Bild und einer bisher bekannten Bedeutung zufriedengibt, sondern sich dynamisch auf immer wieder neue Interpretationen einlässt. Die existenzielle Sinnsuche geht letztlich auch nicht im Sinn komplexer Denkgebäude auf. Gerade im Spannungsfeld von Verstehenwollen, Nichtverstehen und vielleicht Verstehen können tragende Symbole entstehen, die den Sinn auf einer sinnlich-konkreten Ebene ansiedeln. Sie entfalten ihre sinnstiftende Wirkung in ihrem emotionalen Gehalt und in zwischenmenschlichen Beziehungen (Hydén 2011) und verweisen so zurück auf die ursprüngliche Verwendung

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des Symbolbegriffs: In der Antike waren Symbole Gegenstände, die als Erkennungsmerkmale dienten. Wenn sich zwei Freunde oder befreundete Personengruppen für längere Zeit oder für immer voneinander trennten, zerbrachen sie ein Ton­ täfelchen oder einen Knochen und gingen mit je einem Bruchstück auseinander. Die Symbol-­Teile, die irgendwann wieder zusammengesetzt werden konnten (griechisch symbállein: zusammenwerfen, zusammenfügen), galten als Zeichen der unverbrüchlichen Freundschaft – auch bei späteren Generationen. Das Symbol vermochte örtliche Trennung und zeitliche Distanz zu überbrücken und war somit eine Absicherung gegen die ungewisse Zukunft und möglichen Erinnerungsverlust: eine Art Vertrauensvorschuss. Brüchigkeit und Sinn Der Hinweis auf die etymologische Herkunft des Symbolbegriffs gibt zum Schluss Denkanstöße mit auf den Weg: • Wie schon in den Bruchstücken des antiken Symbols können sich in der Symbolsprache von Menschen mit Demenz destruktive und kreative Perspektiven durchdringen. Zwar werden im Krankheitsverlauf Wörter aus dem lexikalischen Gedächtnis gelöscht und innerhalb eines Sprachsystems verbindliche semantische Sinnbezüge gekappt. Viele Äußerungen deuten jedoch auf eine Kreativität, die verblüfft und davon zeugt, dass sich der existenzielle Sinnhorizont bei aller Verletzlichkeit und Brüchigkeit auch weitet. • Aufgrund ihrer Bildhaftigkeit vollziehen sprachliche Symbole den Übergang zu ­nonverbalen Ausdrucksweisen und können Zugänge zum leiblichen Gedächtnis erschließen. • Symbole werden seit jeher miteinander geteilt, um auch Zeiten der Isolation und Ori­ entierungslosigkeit zu überbrücken. Eben-

so deuten sie im Kontext fortschreitender Demenz auf die Tragweite von Beziehungen und spiritueller Hoffnung. Vorstellungen von Heimat und Zuhause bieten Anhaltspunkte für ein vertrauensvolles Mit­ ein­ander. • Nicht nur der drängende Wunsch, nach Hause zu gehen, auch die Bemühungen, solche Ausdrücke zu verstehen, erfordern große Beweglichkeit, Ausdauer und oftmals mehr als einen Anlauf. Manchmal bleiben Erklärungen aus, manchmal ergeben sich verschiedene Interpretationen, die sich gegenseitig ergänzen, relativieren oder sogar widersprechen. Symbole machen bewusst, dass die Welt, die uns begegnet, immer wieder auch befremdet – helfen aber auch dabei, neugierig zu bleiben und gemeinsam in Richtung »Zuhause« unterwegs zu sein. Dr. phil. Franzisca Pilgram-Frühauf, Germanistin und Theologin, ist Fachverantwortliche für Spiritualität & Lebenssinn am Institut Neumünster sowie wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Spiritual Care der Universität Zürich. Sie ist beteiligt am Projekt »Selbstsorge bei Demenz«, das in einer Kooperation zwischen der Professur für Spiritual Care und dem Institut für Sozialanthropologie und Empirische Kulturwissenschaft (UZH) durchgeführt wird (https://www.theologie.uzh.ch/de/faecher/ spiritual-care/forschung.html). Kontakt: [email protected] Literatur Geiger, A. (2011). Der alte König in seinem Exil. München. Hydén, L.-C. (2011). Narrative collaboration and scaffolding in dementia. In: Journal of Aging Studies, 25, S. 339–347. Pilgram-Frühauf, F. (2017). Symbolsprache von Menschen mit Demenz. Hermeneutische Denkanstöße. In: PengKeller, S. (Hrsg.): Bilder als Vertrauensbrücken. Die Symbolsprache Sterbender verstehen (S. 45–63). Berlin.  Ricœur, P. (1973). Der Konflikt der Interpretationen, Bd. 1: Hermeneutik und Strukturalismus. München. Sachweh, S. (2019). Spurenlesen im Sprachdschungel. Kommunikation und Verständigung mit demenzkranken Menschen. 2. Auflage. Bern. Anmerkung 1 https://www.theologie.uzh.ch/de/faecher/spiritual-care/ forschung.html.

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FRAU W., 84 JAHRE wissen Sie wie Sie heißen und wissen Sie wer Sie sind wissen Sie warum Sie hier sind und wissen Sie wo das ist das fragen sie Frau W. jeden Tag und auf manche Fragen hat sie einfach keine Antwort aber ganz ehrlich wer hat die schon Frau W. weiß wie sie heißt zumindest an den klaren Tagen ist das einfach aber wer sie ist das ist schon schwieriger wenn man gelernt hat sich über seine Krankheit zu definieren seit Frau W. krank ist fühlt sie sich wie eine Aktie die auf absteigendem Kurs ist auf die es sich nicht mehr zu setzen lohnt die nicht Gewinn sondern Verlust bedeutet was bin ich schon noch wert fragt Frau W. was bin ich in Zahlen Münzen Tagen Tränen Einmalhandschuhen ich sage Ihnen ich bin zu wenig Tage und zu viele Tränen und viel zu viele Einmalhandschuhe warum sie hier ist weiß sie auch nicht sie erinnert sich an ein Spiel in der Schule bei dem man in Fünfergruppen eingeteilt wurde jedes Kind sagte eine Zahl und damals war sie oft die vier jeder vierte stirbt an Krebs vielleicht war das ja kein Zufall an Zufälle glaubt Frau W. sowieso nicht mehr natürlich weiß ich wo ich bin sagt Frau W. und lächelt plötzlich ich bin da wo es Menschen gibt die blaue Einmalhandschuhe tragen und ich bin gleichzeitig auch da wo es Menschen gibt die ihre Einmalhandschuhe aus­ ziehen um anderen besser zuhören zu können und dafür bin ich dankbar wissen Sie wie Sie heißen und wissen Sie wer Sie sind wissen Sie warum Sie hier sind und wissen Sie wo das ist das fragen sie Frau W. jeden Tag und auf manche Fragen hat sie einfach keine Antwort aber ganz ehrlich wer hat die schon

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aus: Julia Weber, T-Shirt-Tage, 2019

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Der Körper als sinnstiftende Ressource im Prozess des Sterbens Rainer Simader Sehr gern möchte ich Ihnen, liebe Lesende, Herrn Paul vorstellen (Name geändert). Herr Paul war 72 Jahre alt, seit Jahren verwitwet und Landwirt seit seinem 17. Lebensjahr. Für ihn bedeutete dies tagaus, tagein Arbeit, nie Urlaub und Wellnesshotels kannte er nur aus der Werbung. Sinn und Erfüllung bedeutete für ihn, körperlich aktiv zu sein, Aufgaben zu verrichten, Dinge »zu erledigen« und mit seiner Hände oder Maschinen Kraft etwas zu erschaffen. Entspannung war für ihn der Ausblick von der Fahrerkabine des Traktors, wenn er nach einem Tag Arbeit über das frisch bestellte Feld blickte. Die Müdigkeit und den Husten, die er seit drei Wochen hatte, führte er auf sein Alter, das schlechte Wetter und die recht intensive Arbeit nach der Winterpause zurück. Als der Arzt ihm schließlich sagte, dass für die Symptome ein schon weit fortgeschrittener Tumor in der Lunge verantwortlich war, war dies für ihn so, als werfe jemand einen schweren, schwarzen Felsblock in das stille, klare Wasser des Lebens (Easton 2016). Krankheit und Sterben sind Prozesse, die auch und mitunter sehr stark auf einer körperlichen Ebene erlebt werden. Es sind die tatsächlichen körperlichen Symptome (Schmerzen, Atemnot, Inkontinenz etc.), die zu Einschränkungen der körperlichen Aktivität (kürzere Gehstrecke, Verlust der Selbstständigkeit bei Aktivitäten des täglichen Lebens etc.) und auch zu einer veränderten, oft reduzierten Teilhabe am sozialen Leben führen (zum Beispiel ist ein Kaffeehausbesuch mit Freunden

nicht mehr möglich, rollenspezifischen Aufgaben kann nicht mehr nachgegangen werden etc.). Diese Wechsel- und Auswirkungen von beziehungsweise auf Symptom-, Aktivitäts- und Partizipationsebene werden in der internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) der WHO beschrieben. Die ICF ist eine bedeutsame Betrachtungsweise in der Arbeit mit schwerkranken und sterbenden Menschen. Denn für den Erkrankten bedeutet Sinn am Lebensende meist mehr als die Abwesenheit von Symptomen. Menschen, die wir am Lebensende begleiten dürfen, vertrauen uns ihren Körper mit seiner individuellen »Körpergeschichte« an. Die Körper, die viel erlebt, getan, geleistet oder ausgehalten haben. Auch daraus entstand ein Teil der Identität dieser Menschen. Für Herrn Paul spielten seit jeher die körperliche Leistungsfähigkeit und das Funktionieren eine zentrale Rolle und waren Teil seines Selbst. Die nunmehrige körperliche Erfahrung und das Wissen um die Begrenztheit seiner Fähigkeiten und seines Wertes stürzten Herrn Paul in eine existenzielle Verzweiflung. Gerade bei Patientinnen und Patienten, die in der Erkrankung sehr rasche körperliche Veränderungen erleben, kommt die Seele ob dieser Veränderungen manchmal schwer hinterher. In unserer Gesellschaft, in der Leistung und Arbeit zentrale, sinnstiftende und strukturgebende Aspekte sind, brauchen Menschen, die, aus welchen Gründen auch immer, in ihrer Leistungsfähigkeit eingeschränkt sind, unsere hohe Aufmerksamkeit. Es muss uns nicht überraschen, wenn »gut gemeinte« Angebote von schwerkranken Menschen abgelehnt werden. Herr Paul bekam den

Leidfaden, Heft 4 / 2020, S. 21–23, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2020, ISSN 2192-1202

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Menschen schämen sich aufgrund der körperlichen Veränderungen und ziehen sich zurück. Auch Freunde und Familien distanzieren sich aus unterschiedlichen Gründen fürs Erste oder für immer. Bislang sinnstiftende und üblicherweise aktive Anteile des Lebens finden kontinuierlich, aber nicht selten, auch abrupt ein Ende. Betrachtet man die häufigsten Ängste, Sorgen und Bedürfnisse von schwerkranken Menschen, so gehören dazu auch die Ängste, jemand anderem zur Last zu fallen, (körperlich) von jemandem abhängig zu sein, dass Symptome nicht ausreichend kontrolliert werden, und auch das Bedürfnis, produktiv sein zu können (Oldervoll et al. 2007). Körperliche Fähigkeiten und ein gewisses Ausmaß an körperlicher Kontrolle sind hierbei wichtig. Eine entscheidende Frage in der Begleitung von schwerkranken und sterbenden Menschen ist: Was trauen wir ihnen zu und wen sehen wir, wenn wir diese Menschen gegenüber (liegen) haben?

Vincent van Gogh, Shoes, 1888 / INTERFOTO /  LISZT COLLECTION

Rat, sich zu schonen (was im Übrigen selbst bei fortgeschrittenen Erkrankungen kein guter Rat ist, da Symptome dadurch häufig verstärkt und die Auswirkung von Erkrankung in allen drei oben beschriebenen ICF-Kategorien verstärkt erlebt wird; Nieland et al. 2013). Auch das Angebot und die ersten Versuche der Hauskrankenpflege, ihn zu begleiten, schmetterte Herr Paul ab. Das alles passte (noch) nicht in seine Welt, in der er vor wenigen Wochen mit Hilfe von 300 PS den Acker gepflügt hatte. Oft erleben Menschen unmittelbar bei Dia­ gno­se­stellung den Absturz in die Passivität. Menschen werden krankgeschrieben und werden zu Patienten und Patientinnen, sie erhalten Medikamente und Behandlungen, die in und mit diesen Patienten etwas machen, und andere Menschen entscheiden, was nun gut und richtig sei – manchmal mit, manchmal ohne Absprache mit dem oder der Erkrankten. Soziale Rollen verändern sich und Aufgaben fallen weg. Viele

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D e r K ö r p e r a l s s i n n s t i f t e n d e R e s s o u r c e i m P r o z e s s d e s S t e r b e n s    2 3

Sehen wir den armen, dahinsiechenden, leidenden, symptomgeplagten Menschen? Oder sehen wir einen Helden, der tapfer seinen letzten Weg in diesem Leben geht? Vermutlich würden Sie einem Helden viel mehr zutrauen und Sie würden mit ihm auch anders kommunizieren, als wenn dieses dahinsiechende Wesen Ihr Gegenüber ist. Dame Cicely Saunders, die Begründerin des modernen Hospizwesens und des St. Chris­ topher’s Hospice London war der festen Überzeugung, dass Sterbende kein Mitleid brauchen, sondern dass wir ihnen mit Respekt begegnen sollten und auch von ihnen Mut erwarten können (Saunders 2006). Was unsere eigene Rolle betrifft, so müssen wir reflektieren, ob wir auch genau dorthin blicken, was die Erkrankte körperlich und in ihrer Körperlichkeit in ihren sozialen Rollen noch kann und will. Ressourcenarbeit bedeutet also, einen Wechsel von der Minensuchermentalität hin zu einer Schatzsuchereinstellung zu schaffen (Lippka 2013). Dazu ein paar ausgewählte Fakten aus körperlicher Sicht: Bei Bettruhe verliert ein alter, gegebenenfalls multimorbider und schwerkranker Mensch ca. zwei bis fünf Prozent Muskelkraft am Tag. Sie können sich vorstellen: Es braucht nicht viel Zeit, bis dies erhebliche Auswirkungen auf das Leben dieses Menschen hat. Im Gegensatz dazu: Muskulatur ist bis zum letzten Augenblick des Lebens trainierbar. Gut trainierte Muskeln führen zu weniger Stürzen, Schmerzen, Fatigue (Müdigkeit/Erschöpfung), Belastung durch Depression und Atemnot, dafür zu besserer HerzKreislauf-Situation, mehr sozialer Teilhabe, zu mehr Selbstständigkeit und Autonomie etc. (Nieland et al. 2013). Wenn Sie in England Hospize besuchen, so sollten Sie nicht verwundert sein, wenn Sie dort Fitnessstudios für Patienten finden. Dort trainieren Gäste des Tageshospizes gemeinsam mit stationären oder ambulanten Patientinnen und Patienten. Sie trainieren auch in Gruppen (Zirkeltraining oder Pilates) und Sie würden überrascht sein, wie lebendig es sich anfühlt, wenn

eine 90-jährige Dame versucht, mehr Punkte beim Geschicklichkeitsspiel auf dem Nintendo Wii-Board zu erreichen als der 20-Jährige mit der Tumorerkrankung. Besser als Frau Schmidt (Name geändert), eine 80-jährige Dame mit weit fortgeschrittener Lungenerkrankung etwa fünf Wochen bevor sie starb, könnte man es auch nicht ausdrücken: »Es ist das erste Mal seit vier Monaten, dass ich alleine draußen war. Und das ohne Sauerstoff. Dieses Fitnessstudio ist für mich ein Ort der Hoffnung.« Angesichts der vielen Probleme, mit denen wir am Lebensende konfrontiert sind, ist es vor allem im Hinblick auf den Körper leicht, in die »Defizitfalle« zu stolpern. Herr Paul trainierte bis kurz vor seinem Tod sehr intensiv und konnte so seine Selbstständigkeit bis zum Eintritt der Sterbephase erhalten. In seiner letzten Therapieeinheit sagte er: »Es ist harte Arbeit, noch zu leben.« Rainer Simader ist Physiotherapeut, Tanz- und Ausdruckstherapeut (körper­ orientierte Methode der Psychothera­ pie), ehem. Senior Physiotherapist im St. Christopher’s Hospice London, Leiter des Bildungswesens bei Hospiz © Christian KaufÖsterreich, dem Dachverband aller mann, München österreichischen Hospiz- und Palliativeinrichtungen, Mitglied des Leitungsteams des Universitätslehrgangs Palliative Care; Dozent und Autor. Kontakt: [email protected] Website: www.rainer-simader.com

Literatur Easton, G. (2016) The appointment. In: Greenhalgh, S.; Selfe, J.: Red flags and blue lights. Managing serious spinal pathology. Edinburgh u. a. Lippka, M. (2013). Von traurigen Löwen, die brüllen. In: Nieland, P.; Simader, R.; Taylor, J. (Hrsg.): Was wir noch tun können. Rehabilitation am Lebensende. Physiotherapie in der Palliative Care. München. Nieland, P.; Simader, R.; Taylor, J. (Hrsg.) (2013). Was wir noch tun können. Rehabilitation am Lebensende. Physiotherapie in der Palliative Care. München. Oldervoll, L. M.; Loge, J. H.; Paltiel, H.; Asp, M. B.; Vidvei, U.; Wiken, A. N.; Hjermstad, M. J.; Kaasa, S. (2006). The effect of a physical exercise program in palliative care. A phase II study. In: Journal of Pain and Symptom Management, 31, 5, S. 421–430. Saunders, C. (2006). Selected writings 1958–2004. New York.

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Umwege erhöhen die Ortskenntnis Tina Zickler zuwerfen, dass es keine Irrwege im Leben gebe, sondern nur »Umwege«, die dazu dienten, die Ortskenntnis zu erhöhen. Aber ein solcher Einwurf wäre völlig unpassend gewesen. Denn jede und jeder erhielt den Raum, ihre/seine Geschichte unkommentiert zu erzählen. Labyrinth statt Irrweg Zu wissen, dass es weder im Labyrinth noch im Leben Irrwege gibt, ist eine tröstliche Erkenntnis. Dieses Wissen gibt mir Kraft und Zuversicht, wenn bestimmte Lebenssituationen unübersichtlich erscheinen, mich verzagen lassen oder ich das Gefühl habe, an Punkte zurückzukehren, die ich längst hinter mir gelassen habe. Bereits seit 2004

© Lisa Rastl

Von September 2019 bis Januar 2020 nahm ich mit großem Interesse an einem Trauer- und Sterbebegleitungskurs im Kardinal-König-Haus in Wien teil. Das Programm war vielfältig und inspirierend. Besonders gut gefiel mir, welche Dynamik sich zwischen den Kursteilnehmer*innen entwickelte. Gleich am ersten Wochenende war es unsere Aufgabe, je ein Objekt mitzubringen, das man persönlich mit Trauer verband. Es wurde ein sehr intensiver Samstag. Es war sehr berührend, was die anderen Teilnehmer*innen erzählten. Es wurde viel geweint und am Ende fühlte ich mich allen sehr verbunden. Eine Bemerkung, die in einigen dieser persönlichen Schilderungen zum Ausdruck kam, lautete, dass man viele Irrwege gegangen sei. Es reizte mich damals ein-

Outdoor-Ausstellung »Sharing Heritage: Labyrinths in Europe«, 14. April – 9. Juni 2018 auf dem Schwarzenbergplatz in Wien

Leidfaden, Heft 4 / 2020, S. 24–29, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2020, ISSN 2192-1202

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beschäftige ich mich mit dem Labyrinth-Symbol. Ich stieß damals zufällig auf ein Buch des Berliner Fotografen Jürgen Hohmuth. Zu dieser Zeit gab es noch keine Drohnen und Jürgen Hohmuth bereiste mit seinem Minizeppelin, der mit einer Kamera ausgestattet war, halb Europa. Von oben fotografierte er 55 Labyrinthe und 50 Irrgärten und erzielte phantastische Bilder. Auf diesen Luftaufnahmen lässt sich der fundamentale Unterschied zwischen Labyrinthen und Irrgärten leicht erkennen: Im Labyrinth gibt es nur einen Weg, der über scheinbare Umwege zur Mitte führt. Es gibt darin weder Sackgassen noch Wegkreuzungen. Das Labyrinth ist ein über fünftausend Jahre altes Symbol für den menschlichen Lebensweg und hat seinen Ausgangspunkt im Mittelmeerraum. Die in der Spätrenaissance entstandenen Irrgärten stehen für Zerstreuung und äußerliche Abenteuer. Das Labyrinth hingegen steht für Konzentration und Kontemplation. Wo und wann genau das Labyrinth entstand, ist bis heute ungeklärt. Hermann Kern, der 1981 für das Kulturreferat der Stadt Mailand eine Ausstellung zum Labyrinth kuratierte, schuf einen Katalog, der bis heute das profundeste Werk zu diesem Thema darstellt. Kern stellte darin unter anderem die These in den Raum, dass das Labyrinth aus dem Tanz heraus entstanden sein könnte. Da man die Urform des Labyrinths aus einem Quadrat heraus konstruiert, könnte ich mir auch vorstellen, dass es beim verspielten Zeichnen im Sand am Meer erfunden wurde.

Man findet das Labyrinth in Europa in den unterschiedlichsten Erscheinungsformen: vom Graffito in Pompeji über römische Mosaiken, gotische Labyrinthe in Frankreich, die »Trojaburgen« in Skandinavien und die Rasenlabyrinthe in Großbritannien. Ausgehend von Europa hat sich das Labyrinthsymbol bis nach Russland, Syrien, Af­ gha­nis­tan, Indien, Sri Lanka, Indonesien, Mexiko und den USA verbreitet. Das interkulturelle Zeichen steht häufig für den verschlungenen menschlichen Lebensweg, aber es lässt auch andere Interpretationen zu. In Indien und bei den ­Hopi-Indianern steht es beispielsweise für Schwangerschaft und Geburt. Ich denke, man kann es auch als Symbol für die menschliche Gemeinschaft deuten. Labyrinth-Ausstellung Das Europäische Kulturerbejahr 2018 war für mich der Anlass, eine Ausstellung zum Labyrinth zu initiieren. Als überzeugte Europäerin war es mir ein Anliegen, einen Beitrag zu leisten und anhand der vielfältigen künstlerischen Interpretationen des Labyrinths zu illustrieren, dass sich die Kunst nie um Grenzen scherte. Wichtig war mir auch, dass diese Ausstellung möglichst viele Menschen erreichen würde. Deshalb konzipierte ich das Projekt als Ausstellung im öffentlichen Raum, das kostenlos zu besichtigen war. Es gelang mir, den zentral gelegenen Schwarzenbergplatz in Wien als Ort für die Realisation zu bekommen und das Projekt partiell über eine Crowdfunding-Kampagne zu finanzieren. Am 14. April 2018 eröffneten der Wiener Bürgermeister Dr. Michael Ludwig und Landtagspräsident Ernst Woller gemeinsam die Ausstellung »Sharing Heritage: Labyrinths in Europe« (http://www. labyrinths-­europe.wien/). Die Outdoor-Ausstel� lung bestand aus einem runden Labyrinth mit fünf Umgängen, das aus vierhundert heimischen Sträuchern gestellt wurde: Flieder, Schneeball, Haselnuss, Kornelkirsche, Palmkätzchen, Pfaffenhütchen, Liguster, Baumhasel und einige

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Apfel­bäumchen. Die begehbare Raumskulptur ob man das Labyrinth auf dem Platz nicht dauerhatte einen Durchmesser von 33 Metern. Der haft anpflanzen könnte. Eine spontane, langfris310 Meter lange Weg zur Mitte lud zum Wan- tige Umgestaltung des Schwarzenbergplatzes war deln ein und gab den Besucher*innen die Mög- in der Kürze der Zeit nicht möglich, aber die Stadt lichkeit, das Labyrinth in Ruhe abzugehen und Wien stellte mir ein Grundstück im Stadtentwickseine Schwingungen und Perspektivwechsel kör- lungsgebiet Aspern zu Verfügung. Dort wurden perlich-sinnlich zu erfahren. In der Mitte befand die Sträucher zu einem dauerhaften Labyrinthsich die keramische Skulptur »Nutshell« (Aus- Garten angepflanzt, der im Mai 2019 eröffnet führung: ­Marie Janssen). Das Musikstück »La- wurde und nun die Bewohner*innen der Seebyrinth«, das die Pianistin und Komponistin Flo- stadt Aspern erfreut. ra St. Loup im Rahmen einer Performance im Vorfeld der Ausstellung schuf, erklang leise. Im Außenraum des Pflanzenlabyrinths zeigten Plakate vierzig verschiedene Labyrinthe der europäischen Kulturgeschichte bis hin zur Gegenwartskunst – von der fünftausend Jahre alten spanischen Felszeichnung bis zur Installation »Labyrinth« von Sam Durant, die 2015 vor dem Rathaus in Philadelphia präsentiert wurde. Die Ausstellung war ein großer Erfolg und hatte viele Fans. Etliche Kinder kamen immer wieder, um das Labyrinth mit ihren Freunden abzugehen. Die konLABYRINTH-GARTEN Aspern (© labprojects kulturverein) templative Musik von Flora St. Loup schuf eine spezielle Atmosphäre und viele Besucher*innen nutzten das Labyrinth für abendliche Die Mitte des Labyrinths Spaziergänge mit dem Partner oder der Partnerin. Alle waren fasziniert davon, wie lange sich der Aber zurück zur Gegenwart und zum Leben. Ich Weg zu Mitte gestaltete – das Labyrinth schafft denke, jeder Mensch wird von bestimmten Theeinen maximalen Weg auf minimalem Raum. men und Motiven geleitet, um die er wie in einem Waren zu Anfang die meisten Sträucher noch Labyrinth »kreist«. Auch Beziehungen und ihre recht kahl und nur die Apfelbäume blühten, so Dynamik kann man im Labyrinth erblicken, sie wandelte sich das Labyrinth im Lauf der neun spiegeln sich in seiner Form. Man nähert sich an, Wochen zur grünen Oase inmitten der Stadt. Vie- entfernt sich voneinander, um sich anschließend le Besucher*innen waren begeistert und fragten, wieder zu begegnen.

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Der Weg zur Mitte wird oft Ariadnefaden genannt, was auf das mythische Labyrinth in Kreta zurückgeht. Bei diesem Bauwerk, das von Daedalus geschaffen wurde, muss es sich um einen Irrgarten gehandelt haben. Wäre es ein Labyrinth gewesen, hätte Theseus nicht Ariadnes Faden gebraucht, um wieder hinauszufinden. Denn es gibt nur diesen einen Weg hinein und wieder hinaus. Die Mitte des Labyrinths steht auch für den Tod. Diese Interpretation liegt den Kirchenlabyrinthen wie zum Beispiel in Chartres und Amiens zugrunde. Das Labyrinth soll den Gläubigen die Gewissheit vermitteln, dass sie in Gottes Hand sind – trotz der verwirrenden Gänge des Lebens. Auch nichtreligiösen Menschen kann das Labyrinth Gelassenheit vermitteln. Man kann auf die Erkenntnis vertrauen, dass man nie den gesamten Lebensweg überblickt und man sich vom Leben überraschen lassen darf. Je älter man wird, desto öfter erlebt man, wie schnell und fundamental sich Wahrnehmungen und Perspektiven ändern können. Mich hat das Labyrinth bereits zum Tod geführt. Ein guter Freund, der maßgeblich dazu beigetragen hat, die Ausstellung »Sharing Heritage: Labyrinths in Europe« zu realisieren, starb

überraschend und ohne den Garten je betreten zu haben. Sein Weggang hat mich dazu bewegt, mich mit dem Tod auseinanderzusetzen. Er bestimmt mein nächstes Projekt: das Kulturfestival Memento Mori, das ich für Oktober 2021 plane. Memento Mori ist ein vierwöchiges, gattungsübergreifendes Festival, das sich ernsthaft und nachdenklich, aber auch spielerisch-künstlerisch mit dem Tod beschäftigt. Das Festival umfasst insgesamt 55 Veranstaltungen: Lectures, Lesungen, Workshops, Konzerte, Filmvorführungen, Gesprächsrunden etc. Ziel des Festivals ist es, den Tod zu enttabuisieren, das heißt, die Auseinandersetzung mit dem eigenen und fremden Sterben zu fördern. Neben Anregungen für die Trauerarbeit fördert das Festival den interkulturellen Dialog und zielt auf ein bewussteres Leben ab.

© Lisa Rastl

Tina Zickler, Diplom-Kommunikationswirtin, Studium der Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation an der Universität der Künste Berlin, war Kulturmanagerin in Berlin und ist freie Kuratorin in Wien. Kontakt: [email protected] Websites: www.projekt-schwadron.at, www.mak.at/programm/ausstellungen/ handwerk

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Der Sinn und die Sinne Über die Erlebnisse beim philosophischen Wandern

Cornelia Mooslechner-Brüll und Kai Kranner Der Sinn und die Sinne Viele Jahrhunderte lang beschäftigen wir Menschen uns nun schon mit dem Verhältnis von Körper, Seele und Geist. Leider hat die philosophische Tradition einiges dazu beigetragen den Körper, die Wahrnehmung und die Sinne vom Denken zu trennen und diese wichtigen Dimensionen des Menschseins isoliert zu betrachten. Beim philosophischen Wandern gehen wir davon aus, dass alles, was wir mit den Sinnen erfassen, auch mit unserem Denken in einem engen Zusammenhang steht. Das Gehen in der Natur kann zum Beispiel ein Gedankenspiel in Bewegung bringen, das in isolierten Räumen undenkbar wäre. Der Geist lässt sich hier durch den Körper bewegen. Die Bewegung hat einerseits etwas Meditatives: Durch den gleichbleibenden Rhythmus können wir unseren Geist besser arbeiten lassen. Andererseits regt uns der Wandel der Landschaft, das Wandern des Blicks zu Gedankensprüngen an und wir können uns leichter von Denkstarren lösen. Manchmal kommen wir so auf neue Kombinationen und der Sinn, den wir zuvor verzweifelt gesucht haben, lässt sich leichter finden. Wenn ich zum Beispiel von einem Berggipfel über Täler bis zum Horizont sehe, dann weitet sich auch mein Denken – Neues wird möglich. Seit der Antike wird der Blick von oben, ob real oder metaphorisch gesprochen, in der Philosophie als eine Übung geschätzt. Durch ihn können neue Verbindungen hergestellt werden, Zusammenhänge können leichter erkannt werden. Für die einen ist dabei die Natur ein Ort der Inspiration, für die anderen werden die Großstädte

zum Buch des Lebens. Wanderer, Naturliebhaberinnen, Flaneure sind Beobachterinnen, sie alle denken gehend über die wichtigen Fragen nach. Gerade heute brauchen wir solche Zeitfenster mehr denn je. Im Alltag und Berufsleben werden wir oft mit Sinneseindrücken bombardiert, nicht zuletzt durch die fortschreitende Digitalisierung. Wir verwenden einen Großteil unserer Aufmerksamkeit darauf, diese Reize zu verarbeiten, anstatt uns fokussiert und konstruktiv mit unserer Umgebung und uns selbst zu beschäftigen. Digital wird uns die Welt aber aus zweiter Hand gereicht. Dabei ist es für ein erfülltes Leben enorm wichtig, sich Dinge aus eigener Kraft und selbstständig anzuverwandeln. Das Gehen Wenn wir gehen und vor allem je länger wir gehen, umso mehr lassen wir hinter uns. Wir lassen, je länger wir gehen, nicht nur unser gewohntes Umfeld, sondern auch unsere sozialen Rollen und Masken zurück. Mit jedem Schritt nähern wir uns also auch uns selbst. Das philosophische Wandern ermöglicht, das Unbedeutende vom Wichtigen zu trennen. Wir können zurücklassen, was uns im All-

Leidfaden, Heft 4 / 2020, S. 30–32, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2020, ISSN 2192-1202

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in Athen auch die Schule der »Peripatetiker« genannt ( »Peripatos« = Wandelhalle). Epikur richtete seinen Garten ein, um dort mit Gleichgesinnten ins Gespräch zu kommen. Der Dialog Eng verbunden mit dem Gehen war und ist also der Dialog. Bei der konkreten Wanderung führen jeweils zwei Menschen ein Gespräch, das aufgrund des zuvor gegebenen philosophischen Inputs und der damit verbundenen Fragestellung meist relativ rasch in die Tiefe geht. Der Blick ist hier nicht auf das Gegenüber gerichtet, sondern wir schauen gemeinsam in dieselbe Richtung. Allein durch diese Ausrichtung auf ein gemeinsa-

composita / Pixabay

tag oft zurückhält, und uns in die Zukunft hinein neu entwerfen. Gehen ist eine körperliche Tätigkeit, die Meditation und Philosophieren besonders befördert. Schon Michel de Montaigne meinte: »Mein Geist rührt sich nicht, wenn meine Beine ihn nicht bewegen« (Montaigne 1572–92/2011, S. 73) Jean-Jacques Rousseau (1783) verglich das Stehenbleiben mit dem Stillstand seiner Gedanken. Sprichwörtlich folgen wir ja auch einem Gedanken oder nähern uns Schritt für Schritt einer Sache an. Dementsprechend war das Gehen immer schon eine wichtige Komponente für viele Philosophinnen der Vergangenheit. Aristoteles war zum Beispiel dafür bekannt, dass er im Gehen dachte und lehrte – daher wurde seine Schule

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mes Ziel hin entsteht auch im Gespräch ein sich Einschwingen auf einen geteilten Inhalt. Wir teilen dann die Bewegung und das Gedachte. Der Dialog und der intensive Austausch werden aber auch durch das gemeinsam Erlebte befördert. In den Bergen kann schnell das Wetter umschlagen, die Teilnehmer müssen auf alles vorbereitet sein. Auch der Weg kann manchmal steinig werden. Eine solche Gruppe wächst in der gemeinsam erlebten Zeit zusammen, sie unterstützt sich gegenseitig – auch körperlich. Auch in Hinblick auf diese Verbundenheit ergänzen sich also Inhalt und körperliche Fürsorge. Das gemeinsame Essen auf Hütten und die abendlichen persönlichen Gespräche in gemütlicher Atmosphäre gehören zu dieser einzigartigen Erfahrung dazu. In die Natur geworfen zu sein, meint Henry David Thoreau (1854), ist eine dauernde Herausforderung. Alles spricht zu uns, grüßt uns, verlangt unsere Aufmerksamkeit. Wir sind nicht allein, denn beim Wandern fassen wir Zuneigung zu allem Lebendigen um uns herum. Für Thoreau stehen wir beim Wandern immer im Dialog, im Dialog zwischen unserem Körper und unserer Seele. Wir können nicht Gehen, ohne dass sich diese Zweiteilung einstellt, die bewirkt, dass wir spüren, wie wir vorwärtskommen. Wert und Sinn Was kann nun entstehen durch eine solche Wanderung? Was kann sich verändern? Beim Anblick der Natur und gemeinsamen Dialog können vermeintlich wichtige Kategorien und Werte relativiert und verschoben werden. Schon Immanuel Kant (1790) hat den engen Zusammenhang zwischen dem Anblick des Erhabenen in der Natur und einer sich daraus entwickelnden Ethik herausgearbeitet. Wenn wir vor einem Bergmassiv stehen, dann fühlen wir uns in diesem Moment klein. Wir empfinden stark, dass wir nur Teil der Welt oder eines größeren Ganzen sind, es relativiert sich unsere Position in Hinblick darauf, ob wir der Mittelpunkt der Welt

sind. Dies kann einiges geraderücken. Im Alltag verstricken wir uns oft in Werte, die hinterfragt werden könnten, wie zum Beispiel einem überzogenen Leistungsprinzip oder dem Funktionierenmüssen. Der ethische Moment entsteht nun, weil wir uns in dieser Situation zwar klein fühlen, uns aber bewusst werden, dass wir, gerade weil wir dieser Erkenntnis fähig sind, auch die Verantwortung dafür übernehmen müssen. Wir erkennen uns in der Welt und tragen für sie und alle darin Lebenden Verantwortung – besonders in der Art und Weise, wie wir handeln. Gerade in solchen Momenten kann es passieren, dass wir unsere Lebensweise hinterfragen und uns die Sinnfrage, zum Beispiel jene, warum wir morgens aufstehen, anders beantworten wollen. Das philosophische Wandern eröffnet uns eine Reihe solcher möglichen neuen Perspektiven: bezogen auf uns selbst, unser Handeln, unsere Beziehungen, unseren Alltag und unser Weltverstehen. Dr.in Cornelia Mooslechner-Brüll bietet in der Philosophischen Praxis ­PHILOSKOP ein vielseitiges Programm an: philosophische Wanderungen, Salons, Lesekreise, Seminare, Briefwechsel, Einzelgespräche, Philosophieren mit Kindern etc. Sie lehrt zudem an verschiedenen Universitäten. Kontakt: [email protected]  Website: www.philoskop.org Kai Kranner ist Philosoph und bietet in seiner Praxis DENKSPUREN Einzelgespräche, Vorträge, Philosophische Seminare, Wanderungen, Philocafés, Lehrgänge und vieles mehr an. Er unterrichtet an unterschiedlichen Schulen und Instituten. Kontakt: [email protected] Website: www.denkspuren.com Literatur Kant, I. (1790/1974). Kritik der Urteilskraft. Hrsg. von W. Weischedel. Frankfurt a. M. Montaigne, M. de (1572–92/2011). Essais. Buch 2. München. Rousseau, J.-J. (1783/2003). Träumereien eines einsamen Spaziergängers. Stuttgart. Thoreau, H. D. (1854/2016): Walden: Ein Leben in den Wäldern. Jena.

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ABSCHIED nehmen von Stufe zu Stufe Reflexionen einer Ordensfrau zur Lebens-Führung

Sr. M. Basina Kloos Es gibt im Leben Stufen, die wir hinauf- und hinuntersteigen müssen. Zum Glück gibt es Stufen, die das Atemholen ermöglichen und wenn notwendig auch ein Stehenbleiben gestatten, um sich zu orientieren. Als junge Ordensfrau habe ich nicht gern über Abschied, Tod und Trauer nachgedacht. Erst in der Weiterbildung zur Lehrschwester erkannte ich, wie wichtig es ist, sich selbst mit dem Thema in den verschiedenen Phasen auseinanderzusetzen, um kranke und sterbende Menschen auf ihrem Weg begleiten zu können. In den Seminaren mit den Krankenpflegeschülerinnen gab es oft Tränen, die in Erinnerung geblieben sind und mir Wegweiser waren, mich in die Betroffenen und ihr Erlebtes einzufühlen. Es geht im Leben beim Abschiednehmen jedoch nicht immer um Krankheit und Tod. Abschiednehmen und Loslassen kann viele Lebenssituationen betreffen. Immer wird dabei auch die Sinnfrage angerührt. Eine Stufe, auf der wir Menschen Abschiednahme reflektieren und einüben können, ist das Abschiednehmen von Rollen, Ämtern und von (Führungs-)Positionen. Wer mit großem Engagement und Leidenschaft sich jahrelang für einen Dienst oder eine Aufgabe eingesetzt hat, für den ist das Aufgeben einer Führungsrolle nicht leicht. In den Orden betrifft es zum Beispiel Oberinnen, deren Amtszeiten begrenzt sind. Ich durfte diesen Abschiedsstufenprozess zweimal durchlaufen, da ich nach einer Unterbrechung von sechs Jahren erneut zur Generaloberin gewählt wurde. Ich habe diese Aufgabe stets als Dienst für die Schwestern und für die Gemeinschaft verstanden. Natürlich wusste ich, dass ich

aus dieser Position heraus Macht und Einfluss hatte; ich konnte vieles initiieren und mitgestalten und ich konnte genauso gut ablehnen und verhindern. In unserer Gemeinschaft war vieles möglich, wofür ich heute noch dankbar bin. Es gab schon früh Schulungen in Theologie, Spiritualität und Kommunikation. Diese Schulungen haben meine Reflexionsfähigkeit gestärkt und es mir ermöglicht, immer wieder auch meine eigenen Handlungen zu hinterfragen, um, und dort, wo nötig, auch einen Perspektivwechsel vornehmen zu können. Insgesamt habe ich 18 Jahre diesen Dienst als Generaloberin wahrgenommen. Ich habe mich nach beiden Amtszeiten auf den Abschied vorbereitet und geistlich begleiten lassen. Beide Abschiede empfand ich auf je eigene Weise wie eine weiche Landung. Das lag nicht zuletzt auch an der Sabbatzeit, die ich jeweils eingelegt habe, und an neuen, herausfordernden und spannenden Leitungsaufgaben, die mir im Gesundheitswesen und Sozialbereich sowie in der Deutschen Ordensobernkonferenz anvertraut wurden. Als Generalsekretärin der Deutschen Ordensobernkonferenz habe ich erlebt, wie schwierig und schmerzlich ein Abschied von Leitungsämtern sein kann, der ohne Vorbereitung und Begleitung vollzogen werden muss. Hier kann gelebte Spiritualität zwar helfen, was jedoch bleibt, ist der Mensch mit seinen Gefühlen. Der Mensch, der sich je nach Selbstwertgefühl und Alter neu definieren und gleichzeitig (s)einen neuen Sinnfindungsprozess durchlaufen muss. Ein durchaus schwieriger Weg, denn auch in Orden menschelt es. Wichtig für mich war das Bewusstsein, dass ich sein darf, die ich bin – auch ohne Amt und Rolle und der damit einhergehenden Macht.

Leidfaden, Heft 4 / 2020, S. 33–35, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2020, ISSN 2192-1202

m.schröer

3 4   S r. M . B a s i n a K l o o s

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A B S C H I E D n e h m e n v o n S t u f e z u S t u f e    3 5

Das ist ein zunächst unübersichtlicher Weg, und der Weg wird immer sichtbarer, er wird Weg im Gehen. Wer sich »nur« über eine Position definiert, dem fällt der Abschied schwer. Diese Erfahrung konnte ich mit Menschen, selbst in einfachen Führungsrollen, in der Politik, Industrie, Kirche und Kultur reflektieren und bestätigt finden. Der Abschied wurde dann häufig als ein Abstieg auf eine Stufe der Bedeutungslosigkeit erlebt und erlitten, die aufquellenden Sinnfragen blieben unbeantwortet. Für mich wurde der Prozess des Abschiednehmens von Aufgaben und von Werken, die ich mit Mitarbeitenden mit viel Zeit, Kraft und Leidenschaft aufgebaut hatte, immer schwieriger. Ich musste mitansehen, wie sich vieles zum Negativen veränderte und wie für mich wichtige Werte nicht mehr erkennbar waren und unwichtig wurden. Das tut weh und es ist schwer zu ertragen, im Nachhinein Fehlentscheidungen in der Besetzung von wichtigen Führungspositionen erkennen zu müssen und wahrzunehmen, wie das Vertrauen in Führung schwindet. Dass sich bei jedem Wechsel etwas ändern wird, ändern darf und ändern soll, war mir klar, denn jeder soll in seinen Schuhen laufen. Jeder hat seine Stärken, die er einbringen soll, und seine Ziele, die er verwirklichen will. Und doch habe ich hier zum ersten Mal erlebt, dass ich Abschied nehmen muss von meinen ganz persönlichen Wunschvorstellungen und dass ich mich innerlich und äußerlich in das Loslassen einüben muss. Die Grenzen des Älterwerdens haben dabei mein Bewusstsein geweitet und vertieft. Das ist ein schmerzlicher Prozess, der mich traurig stimmt und gleichzeitig die Erkenntnis beflügelt, dass es wichtig ist, diese Herausforderungen des Lebens anzunehmen. Jeder Tag ist ein Schritt zu mir selbst und eine weitere Stufe hinauf in eine andere Dimension von SEIN, die mir einen tieferen Sinn und Hoffnungshorizont ermöglicht. Es gibt ja die »guten Mächte«, von denen ich »treu und still umgeben bin«, wie es Dietrich Bonhoeffer in dem tröstlichen Gedicht

zum Ausdruck bringt, nur wenige Monate vor seinem Tod. Das große Thema »Abschiednehmen« hat mich auch mit meinem Lebensende konfrontiert. Ich bin sterblich und ich werde sterben. Diese Auseinandersetzung wird mich wohl bis zu dem Tag begleiten, an dem ich die letzte Stufe erreiche, verbunden mit der Hoffnung, dass sie mich zur Auferstehung führt.

AUFERSTEHUNG

Manchmal stehen wir auf stehen zur Auferstehung auf Mitten am Tage Mit unserem lebendigen Haar Mit unserer atmenden Haut Nur das Gewohnte ist um uns Keine Fata Morgana von Palmen Mit weidenden Löwen und sanften Wölfen Die Weckuhren hören nicht auf zu ticken ihre Leuchtzeiger löschen nicht aus Und dennoch leicht Und dennoch unverwundbar Geordnet in geheimnisvolle Ordnung Vorweggenommen in ein Haus aus Licht. Marie-Luise Kaschnitz

Sr. M. Basina Kloos, Franziskanerin von Waldbreitbach BMVA, war lange Jahre in zahlreichen Führungspositionen tätig. Seit 2011 ist sie im Vorstand der EdithStein-Trägerstiftung und der Franziskus Stiftung für Pflege, Mainz. Kontakt: [email protected] Literatur Fuchs, G.; Werbick, J. (1991). Scheitern und Glauben. vom christlichen Umgang mit Niederlagen. Freiburg i. Br. u. a. Gosebrink, H. (2010). Jeder Tag  – ein Schritt zu mir. Vier Wochen mit Frauen der Bibel. Ostfildern.

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Ach wie sinnlos, ach wie grau, allzu oft’s dem Herzen mau … Sinn-losigkeit in der Erfahrungswelt von Seelsorge

Hans Bartosch

m.schröer

Darf ich mal ehrlich sein? Nach dreißig Jahren Seelsorge fällt mir auf: Das Problem mit der Sinnlosigkeit, das hat der Pfarrer mindestens genauso wie seine Patientinnen und Hospizgäste. Daher setze ich jenen altbarocken Ohrwurm als Überschrift, den ich vor vielen Jahrzehnten aufgeschnappt und in Stunden eigenen Trübsinns so zurechtgebogen habe, dass ich die ursprüngliche und zitierfähige Quelle dieses Satzes nicht mehr auffinden kann.

Frau L. Eine kurz vor Corona erlebte, natürlich in ihrer Beschreibung komplex verfremdete Situation: Frau L. liegt ausgestreckt auf dem Hospizbett, die Füße auf einer sonnengelben Rolle, den Kopf in einer großsonnigen Kissenlandschaft. Neben dem Bett stehen, bereits vorbereitet, die sogenannten künstlichen Nahrungsmittel: kakaobraune Säckchen, Strippen, leicht verdreht und eine knallviolette Abklemme. Ich stelle mich Frau L. vor, begrüße sie per Handschlag. Die üblichen Initialfragen nach dem aktuellen Ergehen, nach dem Herkunftsort, nach der Familie, dem Beruf. Mir fällt auf, dass ich sie wegen ihres Zungenbodenkrebses schlecht verstehe. Und zwei Mal ihr ins Wort falle. Und: Es steht in Sachsen-Anhalt wohl zu erwarten, dass eine mittelalte Patientin wohl eher »mit Kirche nüschts am Hut hat«. Dafür aber schaut sie mich erstaunlich offenherzig an. Sie nimmt das Foto vom Nachttisch: Ihr Mann, ihre älteste Enkelin und sie. »Jugendweihe, im vergangenen Mai«, verstehe ich. Sie erzählt von ihrem Bördedorf, von Vereinen und Halbschwestern. Etwa ein Drittel und etwa den Hauptduktus verstehe ich. Mir fällt schon wieder auf, dass ich ihr ins Wort falle. Also jenes »schon anfahren meiner Antwort«, während die andere noch sich aus-­ äußert, aus-spricht. Wir gehen ausnehmend freundlich auseinander, wofür ich nicht so viel kann wie Frau L. Sie nickt ausdrücklich auf mein Angebot, an einem der kommenden Tage, wenn ich wie-

Leidfaden, Heft 4 / 2020, S. 36–39, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2020, ISSN 2192-1202

A c h w i e s i n n l o s , a c h w i e g r a u , a l l z u o f t ’s d e m H e r z e n m a u   …    3 7

der »auf Runde durchs Haus« bin, bei ihr anzuklopfen. Mit der Klinke bereits in der Hand, winke ich ihr noch einmal zu. Sie zeigt nach oben, zuckt mit den Achseln. Ich nicke, winke noch einmal, ziehe die Tür von außen zu. Nun sollte ich möglicherweise in einer Supervision wieder einmal an meiner Gesprächsführung arbeiten oder in die Übertragungs-Analyse gehen. Alles sinnvoll, alles öfter schon praktiziert. Heute muss ich aber etwas zur »Sinnlosigkeit« schreiben. Mir wird klar: Noch während ich im Zimmer bei Frau L. war, packte mich mehrfach das Gefühl der Sinnlosigkeit. Warum muss diese Frau von Anfang fünfzig, warum – verd… noch mal – muss sie jetzt sterben? Aus dem Alter, diese Frau trösten zu müssen, bin ich schon länger heraus. Nach biblischem Verständnis gibt es nur den einen und einzigen Tröster. Und Ansinnen um Trostspendung beantworte ich in der Regel mit der Geste des Seifenspenders und angehängtem Fragezeichenmalen in die Luft. Ja, ich erlebe viel Sinnloses. Wobei übrigens Frau L. in jenem Gespräch erzählt hat, wie gut ihr Leben verlaufen sei, wie dankbar sie sei für ihre Familie. Sie war in einem eindrücklichen Sinne voll des Sinns. Und der Wink nach oben, den sie in der Mitte des Gesprächs und dann noch einmal beim Klinkenabschied äußerte, war eine offene Geste, die ich ganz bewusst weder deuten noch bestärken noch taufen wollte. Nach oben, ja: nach oben … Schon klar – und trotzdem: die Sinnlosigkeit. Meine (!) Sinnlosigkeit. … sie ist mein tägliches Brot. Frau G. Die alte Frau G. schluchzt immer wieder auf. Sie sitzt auf der anderen Bettseite, ihr Ehemann mümmelt in unserer Mitte mitten im Bett seit gefühlten zwanzig Minuten an einem kleinen Stück Weißbrot. »Was war der Egon doch ein schmucker Mann! Egon, hörst du! Schluck doch mal ordentlich, Mensch; was soll denn das?« Aus dem Ärger fällt sie sofort wie-

der in Liebe, herzt und streichelt und – fällt auch in … Selbstmitleid? Nein, das wäre eine nahezu unverschämte Beschreibung ihrer Ausrufe: »Was habt ihr nur aus meinem Egon gemacht, ihr Ärzte! Und keiner bedenkt, wie es mir jetzt geht! Wie ich jetzt klarkommen soll!« Sagen wir doch, dass Frau G. in Sinnlosigkeit fällt. Was soll denn werden? Mit dem sabbernden Egon, der wohl sein Sabbern – nach allen Prognosen – nicht mehr loswerden wird? Egon war Ingenieur, war entwerfend und handanlegend an der »Trasse«, dem legendären Erdgasprojekt, auf dass unsere Wohnungen und Kliniken allezeit schön geheizt werden können. Dafür hat Egon vor 45 Jahren sich den Allerwertesten abgefroren, mit russischen Kollegen, die zunächst gerne »Hitler kaputt« krähten bei Egons Ankommen, letztlich wodka­ glas­weise Freundschaft besiegelt und Egon zu sich in ihre Wohnungen eingeladen haben. Und Irmgard, Botanikerin in der Forschung, hat ebenfalls die Welt gesehen. Irmgard und Egon haben sich ein Leben gemacht, in ihrer Datsche, mit dem Shiguli vor der Tür. Jeglichen westlichen Vorurteilen eines Jammerossis hätten sie, das wird sofort deutlich, mit der Spitze gleich den Eisberg weggehauen. Ganz kurz erwische ich mich bei dem Gedanken: »Gute Frau G., das Altwerden, Schwachwerden, ja sogar das Sabbern und Einkoten gehören doch auch zum Leben. Und wir bleiben Menschen dabei.« Schon klar. Stimmt ja sogar. Aber so viel kann ich versichern, dass ich für solche Sätze schon seit längerem weder zur Supervisorin noch zur Apotheke muss. Die klug-richtigen Sätze tauchen mir kurz auf, gehen aber stracks wieder weg. Nur, was bleibt stattdessen, Herr Pfarrer? Die Sinnlosigkeit! Ein sabberndes Leben, in der eigenen Sch… sitzend, ist sinnlos. Punkt, aus. Das ist der Nullpunkt. Natürlich ahne ich vor dem Schöpfer aller Dinge, gepriesen sei SEIN Name, natürlich ahne ich, dass Egons Leben bis zum letzten seiner Atem­

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züge sinnvoll bleibt, dass Irmgards Liebe, Schmerz, Abscheu, die ganze Fülle ihrer Gefühle heftig sinnreich sind. Aber erst kommt der Nullpunkt. Und nicht mal nur für einen kleinen Moment. Mein professionell-klinisches Handwerk entpuppt sich häufiger, als mir lieb ist, als Flächenbrand und als Flechtwerk von Sinn-losigkeiten. Wovon bin ich abends so müde?! Doch nicht vom Trösten! Angelehnt an Bill Clinton möchte ich sagen: Es ist die Sinnlosigkeit, stupid … C. Beim Besuch einer Wohngruppe mit sogenannten schwerstbehinderten Menschen fühle ich auf einmal von hinten eine Hand am Arm. Mit Nägeln, die schon länger nicht geschnitten sind und sich zielsicher meines Oberarms bemächtigen. Auf dem Tisch vor uns, wo wir gerade ein Teamgespräch führen, liegt eine offene Schachtel mit Merci-Schokolade-Riegeln. Und C. liebt Schokolade, ist süchtig danach wie der Pfarrer. Darf aber gerade nicht, wie das Team liebevoll, eindeutig signalisiert. Die Folge? Schreiender Abgang von C., der sich mit dem Knöchel auf den Kopf schlägt, wieder und wieder, um sich in sein Zimmer zu trollen. In den Zufluchtsort seines riesigen Gitterbetts. Das Einkrallen seiner Nägel in meinen Arm darf ich als hohen Vertrauensbeweis deuten. Das geht normalerweise entweder direkter mit dem Schokoladenrollgriff oder nur über die Schreie. Was ist da alles sinnlos! Die Nicht-sofort-Verfügbarkeit von Schokolade kann ich selber als Zuckerjunkie noch am ehesten nachvollziehen als nicht ganz unbeträchtlicher Schmerz. Und sonst? Warum schreit C. so oft? Ganz offensichtlich gebricht es ihm nicht an aufmerksamer Betreuung, an differenzierter medizinischer Behandlung, an einem ganz besonders für ihn eingerichteten Raum, in welchem er getrost (ge-trost?) seine Wimmelbücher blättern und aufessen darf. Und doch schreit er, immer wieder, auch nachts … Ein durchaus

hübscher junger Mann, mit sehr eigenwilliger Fortbewegungsart, die vielleicht am ehesten als Hock-Sprint in die noch auszulotenden olympischen Disziplinen aufgenommen werden sollte. Zugleich zu hocken und wieselschnell zu sein – C. kann das. Und schreien kann er. Mit welchem Zweck – und mit welchem Sinn? »So will ich nicht leben«, mag mancher sagen, der den hübschen C. sieht und schreien hört. Und: »Da könnt ich ja nie arbeiten«, im Blick auf die wirklich seelenstarken Heilerziehungspflegenden. Ja, welchen Sinn hat das Leben von C.? Ich weiß, dass diese Frage aus Gründen der Geschichte und der aktuellen Sterbehilfedebatte sich nicht gehört. Nun bin ich, je älter ich werde, geradezu radikal überzeugt davon, dass alle Geschöpfe Gottes Geschöpfe sind. Alle!! Ich bin selber Bruder eines Menschen mit sehr schwerer Behinderung, und schon manche professionellen Gynäkologen und Pränataler haben sich an mir hartem Hund heftig zu reiben gehabt. An meinem »Alle sind sie sinnvolle Geschöpfe!!«. Umgekehrt aber wird mir die Rede von der glatten Sinnhaftigkeit aller Dinge je länger je weniger plausibel. Ich rudere, stochere, falle anderen in die Sätze, bröckele selber Weißbrot und weiß nicht weiter. Braucht diese Welt Seelsorge? Ein kurzes Wort noch, nach über einem halben Jahr der aktuellen Corona-Krise: In unseren Stiftungen hatten wir – Gott sei es gepriesen – bislang nur drei bekannte Fälle, die nicht einmal in den Fokus der Seelsorge zu kommen brauchten. Da ging es manchen Kolleginnen und Kollegen anderer Krankenhäuser definitiv anders. Wieder andere Kolleginnen und Kollegen machten aber auch die verstörende Erfahrung, von ihren Seelsorgefeldern ausgesperrt zu werden und auch kaum durchdringen zu können mit ihren von außen kommenden Angeboten. Als angestellter Seelsorger in der Diakonie blieb mir dies wunderbarerweise erspart.

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Aber auch ich bin als Seelsorger und Pfarrer – und dies spüre ich massiv bis ins Physische – ergriffen von einer verstörenden Irritation in meiner Kolleg*innenschaft: Braucht diese Welt noch Seelsorge? Und: Will und kann diese Kirche noch Seelsorge? Und kann diese Kirche sie gezielt genug »vor Ort« bringen? Es sind in den vergangenen Wochen und Monaten Fundamente ins Wanken geraten: Ist die Seelsorge selbst noch sinn-voll? Eines immerhin scheint mir gewiss: Spiritual Care oder Pastoralpsychologie können im Kern nicht dasjenige ersetzen, was Seelsorge ist und kann: Das Ding mit der Seele und wohl auch mit der Sinn-losigkeit, gelehrt und genährt durch das Buch der Psalmen. Nicht als Trost, der Abbinder jetzt, und nicht als Antwort: mein Gestammel »dialektischer Theologie«: die göttliche freudige Rede in der Schöpfungsgeschichte mit ihren Ausrufen: »Ja, es ist gut« zu Sonne, Sterne, Tier und Mensch, das ist des Gottes. Und nicht des Menschen. Die Grausamkeit des Karfreitages – auch das ist des Gottes. Und nicht des Menschen. »ER hat alle schön gemacht zu seiner Zeit, auch hat ER die Ewigkeit in des Menschen Herz gelegt, nur – dass der Mensch nicht ergründen kann das Werk, das Gott tut. So gibt es nichts Besseres, als fröhlich zu sein und sich gütlich tun, ein jeder Mensch, der da isset und trinket …« (Kohelet 3, 11.12) Ja, und tief im Herzen trage ich eine unverstörbare Seelensicherheit: Die Seelsorge lebt und kündet genau von jenem Schwingen zwischen Sinnlosigkeit und fassungsloser Schönheit.

m.schröer

© Andreas_Lander

Hans Bartosch hat Evangelische Theologie und Diakoniewissenschaften studiert und arbeitet seit 1989 im Pfarrdienst. Er ist als Seelsorger und im Bildungsbereich in drei diakonischen Komplexeinrichtungen und Krankenhäusern in Düsseldorf und Magdeburg tätig gewesen. Kontakt: H  [email protected]

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FRAU R., 72 JAHRE an ihrem Bett sitze ich sie schläft noch nicht es ist so krankenhausflurindernachtstill nur schlurfende Schritte in die Küche zum Wasserautomaten über den Boden schleifende Bademäntel Sauerstoffblubbern und tropfende Infusionen im Krankenhaus steht manchmal die Zeit still deshalb muss es viele Uhren geben Uhren sind ja da um einem zu sagen dass die Zeit vergangen ist seit man das letzte Mal geguckt hat das hat sie mir erzählt am Abend vergeht die Zeit am langsamsten und für sie ist schon fast seit zwei Wochen Abend das heißt immer Zeit schlafen zu gehen immer Zeit Gutenachtküsse zu verteilen Zeit bis morgen zu sagen jedes Mal hofft sie dass es keine Lüge ist sie hat nie gelogen im Leben sie will jetzt auch nicht mehr damit anfangen sie ist so müde sie ist auch so eine die die Nacht fürchtet deshalb ist sie froh dass es Nachtschwestern gibt und 24 Stundenrezeptionen in Hotels und Tankstellen es ist ganz richtig Leute dafür zu bezahlen mit ihr auf professionelle Weise wach zu sein das tröstet sie so sehr dass nie alle gleichzeitig schlafen

Leidfaden, Heft 4 / 2020, S. 40–41, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2020, ISSN 2192-1202

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und sie alleinlassen mit der Nacht wenn es hell wird bin ich wieder da sage ich denn ich bin keine Nachtschwester nur eine die sagt dass es Zeit ist schlafen zu gehen die bis morgen sagt ich bin so müde es ist ja auch kein Zufall dass es Gutenachtlieder gibt hat sie auch mal gesagt und deshalb bleibe ich noch deshalb summe ich durch die metallischen Bettgitter jetzt wo sie noch wach ist aber schon weit weg zu sein scheint der Mond ist aufgegangen die goldnen Sternlein prangen am Himmel hell und klar sie hört auf zu wimmern sie guckt mich an mit großen Augen sie hält sich fest an meinen Tönen sie fällt nicht aus dem Gitter sie ist wie zwischen den Zeilen sie muss nichts sagen wir summen damit wir nicht aus den Zeilen fallen wir halten uns fest am Gitter wir müssen nichts sagen wir sind wie zwischen den Tönen heute Nacht sagt sie nicht bis morgen sie hat nie gelogen im Leben sie will jetzt auch nicht mehr damit anfangen

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Rimma Bondarenko / Shutterstock.com

aus: Julia Weber, T-Shirt-Tage, 2019

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Existenzielles Leid am Lebensende Von der therapeutischen Kraft menschlicher Zuwendung

Angelika Feichtner existenziellem Leid versagen jedoch meist alle sonst bewährten Strategien der Symptomkontrolle. Dieses Leiden kann nicht kontrolliert oder gemanagt werden und damit kann sich das betreuende Team ebenso hilflos und machtlos fühlen wie der Patient oder die Patientin. Fundamentale Einsamkeit Existenziell verzweifelte, leidende Menschen empfinden oft eine ausgeprägte Isolation und Entfremdung. Kissane (2012) beschreibt es als »fundamentale Einsamkeit«, eine Einsamkeit, die dem sterbenden Menschen niemand abnehmen kann. Existenzielles Leid kann die betroffenen Menschen tatsächlich völlig isolieren. Es kann ihre Fähigkeit zur Kommunikation zerstören, denn in der Erfahrung von tiefem Leid wird

In der Begegnung mit leidenden Menschen geht es weniger um ein Tun, sondern vielmehr um das stille Da-Sein ohne Worte.

Leidfaden, Heft 4 / 2020, S. 42–44, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2020, ISSN 2192-1202

Christiane Knoop

Eine schwere unheilbare Erkrankung ist mit zahlreichen Verlusten und Belastungen verbunden. Die Konfrontation mit der unmittelbaren eigenen Endlichkeit kann alle bisher tragenden Strukturen zusammenbrechen lassen und zu einer Erfahrung von tiefem Leid und existenzieller Verzweiflung führen. Diese Verzweiflung kann sich in kaum kontrollierbaren und sehr belastenden Symptomen zeigen. Daher gilt das Bemühen des betreuenden Teams zunächst der Symptomlinderung und die existenzielle Verzweiflung, als zugrundeliegende Ursache, wird oft nicht erkannt. Existenzielles Leid am Lebensende ist eine den Menschen in allen Facetten seines Seins bedrohende Erfahrung der Hilflosigkeit und des Ausgeliefertseins. Dieses Leid verstärkt bestehende Symptome und es erzeugt damit auch einen hohen Handlungsdruck bei den Betreuenden. Bei

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das Sprachzentrum im Gehirn, das Broca-­Areal, nicht mehr aktiviert (Uvnas-Moberg 2003). Die Menschen sind dann oft gar nicht mehr fähig, ihrem Leiden Ausdruck zu verleihen. Meist wirken sie ganz in sich zurückgezogen und sie scheinen kommunikativ kaum mehr erreichbar zu sein. Und trotzdem ist das Leiden, wie in Resonanz, deutlich wahrnehmbar, oft sehr appellhaft und für Betreuende nur schwer aushaltbar. Ansteckendes Leid Ergebnisse aus der Gehirnforschung belegen, dass starke Emotionen bei Beobachtenden dieselben Zentren im Gehirn aktivieren, wie das bei eigenem Erleben der Fall wäre (Rizzolatti und Sinigaglia 2008). Deshalb erzeugt die Nähe zu existenziell verzweifelten Patienten und Patientinnen einen hohen Handlungsdruck. Aufgrund der intensiven Nähe betrifft das Pflegepersonen in besonderer Weise und mangels anderer Strategien wird dann oft eine Erhöhung der Schmerzmedikation oder die Verordnung von Psychopharmaka eingefordert. Erweisen sich aber alle lindernden Maßnahmen als wirkungslos, kann bei den Betreuenden der Wunsch nach Distanzierung von diesem Leiden, vielleicht auch nach Distanz zum Leidenden, entstehen. Weil diese Distanzierung in der Pflege aber kaum möglich ist, erscheint eine Sedierung des Patienten oder der Patientin oft als nächstliegende Option. Indem das Leid nicht mehr sichtbar, gleichsam zugedeckt ist, werden auch die Betreuenden entlastet, es reduziert ihre Gefühle von Hilflosigkeit und Ohnmacht. Gemeinsame Hilflosigkeit als verbindendes Element Wenn die Betreuenden sich ähnlich ohnmächtig fühlen wie der Patient oder die Patientin, könnte die gemeinsam geteilte Hilflosigkeit gerade das Verbindende, das Tragende sein. Nur sind wir nicht sehr geübt darin, Machtlosigkeit auszuhalten.

Als Leitmotiv gilt1: Heilen manchmal, lindern oft, trösten immer. Aber was tröstet in existenziell verzweifelten Situationen? Existenzielle Verzweiflung ist keine Pathologie, auch keine medizinische Diagnose, und es sind daher auch weniger medizinisch-pharmakologische Maßnahmen hilfreich, sondern vor allem mitfühlende Zuwendung. Im Mittelalter wurde Medizin als »ars ­iatrike«, als ärztliche Kunst, und auch als »ars agapatike«, das heißt als Kunst der liebenden Zuwendung verstanden (Fischer 2007). Heute ist diese liebende Zuwendung ein wesentliches Element in der Palliativpflege und letztlich kann es auch von der Qualität der Beziehung zwischen Patient/Patientin und Pflege abhängen, ob ein Mensch sein Leiden ertragen, deuten oder vielleicht sogar am Leiden reifen kann. Denn einsames und stummes Leiden lässt keine Sinngebung oder Reifung zu (Reed 2013, S. 30). Leidende, existenziell verzweifelte Menschen brauchen vor allem Betreuende, die sich angesichts des Leidens nicht zurückziehen, sondern der Konfrontation mit dem Leid standhalten und ihre Kraft zur Verfügung stellen können. Damit sind Präsenz und mitmenschlicher Beistand ganz wesentliche Faktoren zur Leidenslinderung. Die stille Präsenz, ohne den Anspruch, das Leiden abzuschaffen oder zu trösten, das Mit-Aushalten des schier Unaushaltbaren schafft eine innere Verbundenheit. Durch diese Verbundenheit kann das Gefühl der Isolation des Leidenden verringert werden. Die therapeutische Kraft menschlicher Zuwendung Leidende Menschen erleben ein erhöhtes Bedürfnis nach Zuwendung und Resonanz und nicht nur die pflegerische Praxis, sondern auch neurobiologische Forschungen bestätigen die therapeutische 1

Französisches Sprichwort aus dem 16. Jahrhundert: Guérir – quelquefois, soulager – souvent, consoler – toujours (Quelle unbekannt).

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Kraft menschlicher Zuwendung. Das Erleben von Zuwendung, mitfühlender und emotionaler Resonanz löst im Organismus eine physiologische Beruhigungsreaktion aus: Oxytocin wird freigesetzt. Es wirkt hemmend auf die erregten emotionsbezogenen Gehirngebiete, vor allem auf die Amygdala, das Stresshormon Cortisol wird deaktiviert und die Stress- und Angstreaktionen klingen ab (Unvas-Moberg 2003). Mitgefühl Mitgefühl entsteht aus Verbundenheit und der Einsicht, ebenso verletzlich wie die Patienten und Patientinnen zu sein. Mit diesem Bewusstsein ist es dann nicht mehr die Begegnung eines Gesunden, Starken mit einem bedürftigen Kranken, sondern eine Begegnung von gleichermaßen sterblichen Menschen. »Die Qualität der Beziehung besteht ja immer darin, dass sich die Helfenden riskieren, dass sie sich aussetzen, dass sie wahrnehmbar werden in ihrer eigenen Gebrochenheit und Begrenzung« (Heller 2007, S. 196). Einen existenziell leidenden Menschen zu betreuen erfordert, sich auf ihn einzulassen, sich in seine Leidenssituation hineinzubegeben und sich dabei auch der Gefahr auszusetzen, selbst mit dem Leid in Berührung zu kommen (Reed 2013). Es geht darum, echtes Mitgefühl zu entwickeln, aber nicht mit den Patienten und Patientinnen mitzuleiden. Die Aufgabe ist mitzutragen, nicht aber das fremde Leid auf sich zu nehmen. Das Leid mitzutragen setzt die Bereitschaft voraus, sich auf das Leiden des anderen einzulassen und damit auch die eigene Konfrontation mit existenziellen Fragen nicht zu scheuen, denn das Leiden des anderen spiegelt einem unmittelbar auch die eigene Verletzlichkeit und Endlichkeit wider (Bozzaro 2013, S. 33).

Vom Tun zum Sein Existenzielles Leid entzieht sich nahezu allen Interventionen, es macht uns ohnmächtig, hilflos und sprachlos. In der Begegnung mit leidenden Menschen geht es weniger um ein Tun, sondern vielmehr um das stille Da-Sein ohne Worte. Angesichts des Leids versagen die Worte und vielleicht ist diese Wort- und Sprachlosigkeit dann nicht Ausdruck von Inkompetenz, sondern vielmehr ein Zeichen von Respekt und Demut angesichts im wahrsten Sinn des Wortes unaussprechlichen Leids, wie Jenner (2015) schreibt. Wenn Betreuende die Kraft haben, präsent zu bleiben und Beistand zu bieten, dann kann sich ein spiritueller Raum eröffnen, ein Raum in dem sich das Leid wandeln kann. Angelika Feichtner MSc (Palliative Care) war Pflegefachfrau, Dozentin und Referentin Bereich von Palliative Care und Hospizarbeit. Sie ist Autorin und Mitglied der Ethik-Gruppe der Österreichischen Palliativgesellschaft. Kontakt: [email protected] Literatur Bozzaro, C. (2013). Schmerz und Leiden als anthropologische Grundkonstanten und als normative Konzepte in der Medizin. In: Maio, G.; Bozzaro, C.; Eichinger, T. (Hrsg.): Leid und Schmerz. Konzeptionelle Annäherungen und medizinische Implikation. Freiburg, München. Fischer, J. (2007). Zur Relevanz güterethischer Ansätze in der Medizinethik. In: Reuter, H. R.; Meireis, T. (Hrsg.): Das Gute und die Güter. Studien zur Güterethik (S. 113– 128). Berlin, Münster. Heller, A. (2007). Palliative Versorgung und ihre Prinzipien. In: Heller, A.; Heimerl, K.; Husebo, S. (Hrsg.): Wenn nichts mehr zu machen ist, ist noch viel zu tun. Wie alte Menschen würdig sterben können. 3. aktual. und erw. Auflage Freiburg i. Br. Jenner, N. (2015). Das Nicht-Aushaltbare aushalten. In: Pflegen: palliativ, 25, S. 38–40. Kissane, D. W. (2012). The relief of existential suffering. Archives of Internal Medicine, 172, S. 1501–1505. Reed, F. C. (2013). Pflegekonzept Leiden: Leiden erkennen, lindern und verhindern. Bern. Rizzolatti, G.; Sinigaglia, C. (2008). Empathie und Spiegelneurone. Die biologische Basis des Mitgefühls. Frankfurt a. M. Uvnas-Moberg (2003). The oxytocin factor. Tapping the hormone of calm, love and healing. Cambridge, MA.

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Erkrankung und Sinnkrise, Selbsthilfe und Sinnfindung Das Beispiel der Frauenselbsthilfe Krebs Dirk Hannowsky Leben, Arbeit, Sinn Auf den ersten Blick, der hier ein evolutionsbiologischer sein soll, besteht der Sinn des Lebens primär darin, Nachkommen zu zeugen und damit zum Überleben der Art beizutragen. Das eigene Leben erfüllt so einen Zweck, der über das eigene Sein hinausreicht. Es hat einen (höheren) Sinn. Es fiele uns aber wohl auch schwer, uns mit der Profanität unseres Daseins abzufinden, die eigene Endlichkeit und relative Bedeutungslosigkeit zu akzeptieren. Da muss doch mehr sein als dieses armselige, begrenzte Leben! Und wenn es lediglich ein »Leben nach dem Tode« ist. So streben wir danach, unserem Leben einen (höheren) Sinn zuzuweisen, der die irdischen Grenzen unserer Existenz überwindet und auf diese Weise dem Tod ein Schnippchen schlägt. Unsere Nachkommen statten wir dafür mit einer soliden finanziellen Grundlage, mit Wissen und Werten, Kompetenzen und anderen Ressourcen aus. Das soll ihnen einen Vorteil gegenüber ihren Mitmenschen verschaffen und uns in ihnen fortleben lassen. Zugleich sichert es uns die Wertschätzung unserer Kinder sowie die Anerkennung durch die Gesellschaft. Darüber hinaus bemühen wir uns, über den eigenen Tod hinaus fortzuleben, etwas zu hinterlassen, das über das eigene Sein in seiner zeitlichen Begrenztheit hinausreicht: Wir schreiben Bücher, komponieren Musik, lassen unseren Namen in Park- und Kirchenbänke gravieren, gründen Stiftungen und Betriebe oder machen uns auf andere – rühmliche oder unrühmliche – Weise »einen Namen«. Je größer die Tat und je »selbstloser« das

Werk, desto größer die Wertschätzung, die wir dafür erwarten können. Uns treibt die Sehnsucht, einen Beitrag zu etwas »Höherem«, »Wichtigerem« zu leisten, als wir selbst es sind. Selbst dann, wenn uns die Anerkennung dafür nicht mehr in diesem Leben zuteilwerden sollte, verleiht dieses Tun unserem Leben dennoch einen Sinn. Nur wenigen Menschen gelingt es, den Sinn ihres Lebens allein aus sich selbst heraus zu schöpfen, das eigene Glück zum Maßstab ihres Denkens, Fühlens und Handelns zu machen, ohne damit zugleich gegen gesellschaftliche Normen zu verstoßen, egoistisch und narzisstisch zu agieren – und auf diese Weise die Erreichung ihres Ziels sogleich wieder zu konterkarieren. Die meisten Menschen benötigen Anerkennung von außen: sei es durch andere Gesellschaftsmitglieder, die ihre Wertschätzung für das gezeigte Verhalten zum Ausdruck bringen, oder durch eine metaphysische Instanz, die ihr Leben als »sinnvoll« bewertet und sie möglicherweise nach ihrem Tod für ihre Lebensweise belohnt. Gegebenenfalls kann dies schon zu Lebzeiten durch ihre Mitmenschen zum Ausdruck gebracht werden, Mitmenschen, die ihnen ein »gottgefälliges Leben« bescheinigen und ihnen so bereits im irdischen Sein die gebührende Anerkennung für ihr Handeln zuteilwerden lassen. Der Maßstab für ein wertorientiertes Leben beruht somit immer auf einem gesellschaftlichen Konsens, sei es, dass die externe Bewertung durch andere Gesellschaftsmitglieder vorgenommen wird oder durch eine metaphysische Instanz wie etwa einen – zum Beispiel christlichen – Gott. Soziale Anerkennung, also die Bewertung eines Lebens als »sinn-volles Leben«, kann je-

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doch auch indirekt erfolgen: Arbeit verschafft Einkommen, soziale Einbindung und Akzeptanz sowie materiellen Wohlstand und bringt auf diese Weise die gesellschaftliche Anerkennung für das gezeigte Verhalten zum Ausdruck. Der Wert einer Arbeitsleistung, wie er im Lohn, im Einkommen und schließlich im Vermögen zum Ausdruck kommt, wird dann zum Substitut der gesellschaftlichen Wertschätzung einer Tätigkeit, wenn nicht gar des Lebens insgesamt. Lebenskrise, Lebenssinn Existenzielle Krisen, wie sie zum Beispiel durch eine Krebserkrankung ausgelöst werden können, stellen die Erreichung individueller Ziele und damit das Lebensziel »sinnvolles Leben« grundsätzlich in Frage. Je stärker sich ein Mensch zuvor über seine Leistungsfähigkeit definiert und sein Selbstwertgefühl darauf gegründet hat, desto mehr gerät dieses durch die Erkrankung ins Wanken. Wenn der Körper nicht mehr wie gewohnt funktioniert, kann zumeist auch die Rolle in der Arbeitswelt nicht mehr in gewohnter Form ausgefüllt werden. Arbeit, die in unserer Gesellschaft zumeist Erwerbsarbeit ist, ist dann häufig nicht mehr oder nur noch in eingeschränktem Maße möglich. Damit entfällt dieser Bereich sinnstiftenden Lebens oder er wird zumindest stark eingeschränkt. Das verursacht Unsicherheiten bei den Betroffenen und es entsteht der Wunsch, das entstandene Vakuum auf andere Weise zu füllen. Auch die Rolle in der Partnerschaft als Versorgerin, als Bewältigerin des Lebensalltags und als

Sexualpartnerin kann oftmals nicht mehr wie bisher ausgefüllt werden. Viele zuvor implizit oder explizit formulierte Ziele lassen sich nun nicht mehr erreichen. Der (gedanklich) näherkommende Tod erhöht den Druck und lässt vage oder manchmal auch sehr vehement das Gefühl spürbar werden, versagt zu haben. Das Gefühl von Ohnmacht, Hilflosigkeit und Ausgeliefertsein wird durch die Mechanismen des Gesundheitssystems noch verstärkt: Hier gerät die Erkrankte in ein eingespieltes Räderwerk von Fürsorge und Versorgung, Betreuung und Bevormundung. Ihr Schicksal liegt in den Händen von Ärztinnen, Krankenschwestern und Pflegerinnen, Sachbearbeiterinnen und pflegenden Angehörigen. Die Erkrankte empfindet sich als fremdgesteuert und abhängig. Hilflosigkeit, Abhängigkeit und Minderwertigkeitsgefühle gehören zu den stärksten psychischen Stressfaktoren. In einer ohnehin angespannten Situation belasten sie die betroffenen Menschen noch zusätzlich, reduzieren ihre Lebenskraft und die Genesungschancen. Die Erkrankte kann dadurch in eine immer tiefere Sinnkrise hineingeraten. Das schmerzt! Gleichzeitig erhält sie den Impuls, ihre bisherigen Prioritäten und Wertvorstellungen zu hinterfragen und sich auf das zu besinnen, was ihr angesichts des begrenzten Rest-Lebens als wirklich sinnvoll erscheint. Als Ergebnis dieses Reflexionsprozesses kann nun die Möglichkeit in den Blick geraten, anderen Gutes zu tun. Sinnstiftung Selbsthilfe Was kann ein Mensch in dieser Situation tun? Wie kann er erfahren, dass er noch oder trotzdem oder gerade deshalb »zu etwas nütze ist«, dass er etwas bewirken kann? Dass sein Tun Selbstwirksam-

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keit wie auch Fremdwirksamkeit entfaltet? Wie erreicht er, dass sein Leben – noch oder wieder – einen Sinn hat? Hierfür gilt es zunächst einmal, sich erreichbare Ziele zu setzen, um erneute Frustrationserlebnisse zu vermeiden. Und zwar solche (Zwischen-) Ziele, die zur Erreichung eines größeren, sinnvollen Ziels beitragen und so die erhoffte Selbst- und Fremdanerkennung verschaffen. Hilfe für andere führt zu einem positiven Feedback durch die Unterstützten und lässt die Helfenden zudem gesellschaftliche Wertschätzung für die von ihnen ausgeübte Tätigkeit erfahren. Das Engagement in einer Selbsthilfegruppe kann damit genau die gewünschten Funktionen erfüllen. Das zeigen die Erfahrungen, die wir in der Frauenselbsthilfe Krebs machen, immer wieder auf beeindruckende und oftmals berührende Weise. In bundesweit fast 300 regionalen Selbsthilfegruppen kommen dort Frauen zusammen, die gerade die Diagnose »Krebs« erhalten haben oder auch schon seit Jahren mit dieser Diagnose leben. Manche dieser Frauen leben mit Metastasen und haben den eigenen Tod näherkommend vor Augen. Viele Betroffene leiden unter den ästhetischen Auswirkungen von Brustamputationen und den Folgen gynäkologischer Krebserkrankungen für Sexualität und Partnerschaft. Nicht selten geht in diesem Zusammenhang auch die biologische Sinnstiftung, Kinder zu zeugen und großzuziehen, verloren. Die betroffenen Frauen fühlen sich dadurch in ihrem Frausein beeinträchtigt, was ihre bisherigen Rollenmuster und Sinnzuweisungen radikal in Frage stellt. Nichtsdestotrotz oder vielleicht gerade deshalb engagieren sich diese Frauen in der Frauenselbsthilfe Krebs. Selbsthilfe ist zunächst die Unterstützung anderer Menschen, die von einer ähnlichen

Marjan Apostolovic / photocase.de

Viele ehrenamtlich aktive Frauen wachsen regelrecht über sich hinaus. Die Erfahrung von Selbstwirksamkeit wirkt sich positiv auf den eigenen Genesungsprozess aus und verleiht dem Leben neuen Sinn.

Problemlage betroffen sind und vor ähnlichen Herausforderungen stehen. Die Frauen stützen sich gegenseitig, erfahren Zuspruch und Anteilnahme, erhalten Rat und Hilfe und ehrliche Rückmeldungen. Zugleich erfahren sie, dass sie allen gesundheitlichen Einschränkungen zum Trotz noch etwas bewegen und bewirken können. Oft entdecken sie in der Selbsthilfearbeit sogar neue, bislang verborgene Talente und bringen diese zur Entfaltung. Viele unserer ehrenamtlich aktiven Frauen wachsen auf diese Weise regelrecht über sich hinaus. Die Erfahrung von Selbstwirksamkeit wirkt sich positiv auf den eigenen Genesungsprozess aus und verleiht dem Leben neuen Sinn. Selbsthilfe kann somit dazu beitragen, Selbstwirksamkeit zurückzuerlangen, in der Hilfe für andere einen Sinn zu finden und Wertschätzung für das eigene Tun zu erfahren. Zugleich dient sie der Auseinandersetzung mit der eigenen Endlichkeit und der Erkenntnis, auch mit diesem schweren Schicksal nicht allein zu sein. Das erhöht die Lebensqualität der Erkrankten und stärkt ihre Resilienz. Die gegenseitige Unterstützung der Betroffenen innerhalb der Selbsthilfegruppe entlastet zudem die Angehörigen wie auch die sozialen Sicherungssysteme. Vor allen Dingen aber tut sie ungemein gut. Selbsthilfe ergibt so viel Sinn. Dr. rer. pol. Dirk Hannowsky ist Bundesgeschäftsführer der Frauenselbsthilfe Krebs (FSH) in Bonn. Als Coach, Mediator und Trainer begleitet er Menschen in ein sinnerfülltes Arbeiten und Leben. Kontakt: [email protected] Website: www.lebenswertarbeiten.de

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Der Young Widow_ers Dinner Club Franziska Haydn Ein Club, der seine jungen Mitglieder nach dem Verlust ihrer Partner*innen begleitet – nicht hinter verschlossenen Türen, sondern mitten im Leben. Den eigenen Trauerweg finden Dein Partner, deine Partnerin stirbt und du wirst hineingeworfen in ein Trauerland, sei es lange vorhersehbar oder von einer Minute auf die andere. Und langsam sickert zu dir, dass dies von nun an dein neues Zuhause ist. Es braucht eine gewisse Zeit, sich zu orientieren. Als ob sich die Augen erst gewöhnen müssen, ins Finstere zu schauen. Dort gibt es kein Navi, das den eigenen Trauerweg weist und dir den schnellsten oder besten Weg durch diese Terra Incognita bahnt, die nun das neue Leben heißt. Um hier Heimat zu finden, das Leben neu aufzubauen und ein Trotzdem zu gestalten, braucht es Zeit, Mut und Vertrauen in sich Selbst. Die Treffen des Young Widow_ers Dinner Club (YWDC) sind dabei wie eine kleine Rast am Wegesrand. An den Kreuzungen, Untiefen und Lichtungen des Trauerweges halten wir inne und erleben, dass es ein Uns gibt. Dieses Uns bedeutet, eine Gemeinschaft zu finden. Als Alien unter Aliens sich ein Stück weit geborgen zu fühlen in dieser neuen Welt. In der jungen Trauer gibt es wenig Vorbilder. Den YWDC zu besuchen, bedeutet, Menschen kennenzulernen, die dir ein paar Schritte vorangegangen sind. Es unterstützt dich durch eine Vielzahl

an Gesprächen, ein eigenes Bild zu entwickeln, wie Trauern überhaupt gehen kann und wie du deine eigene Trauer leben willst. Zu lernen, dass es kein Falsch gibt. Und zuletzt auch dir selbst zu vertrauen, es richtig zu machen. Dieses Uns bedeutet, Wegbegleiterinnen und Wegbegleiter zu finden, die sich stärken und den Rücken freihalten, um selbstbewusst und selbstbestimmt den eigenen, ganz individuellen Trauerweg zu gehen. Vor meinem inneren Auge entsteht mitunter das Bild von Kriegerinnen und Kriegern, die gerüstet durch Solidarität und Austausch sich in einer Gesellschaft in ihrer Trauer behaupten. Denn diese gibt dem Ungemütlichen und Schmerzhaftem wenig Raum. Selbst Freundinnen wie Familie fällt es mitunter schwer, Brücken zu bauen, um ein Stück des Weges gemeinsam zu gehen. Der Young Widow_ers Dinner Club – die Idee zur Initiative Der Young Widow_ers Dinner Club ist eine Initiative für Menschen, die in jungen Jahren ihre Lebenspartnerin, ihren Lebenspartner verloren haben, und wurde von uns im März 2017 in Wien ins Leben gerufen. Zu Beginn standen wir selbst noch an den Anfängen unseres Trauerweges und fanden Halt in der Gemeinschaft. Unser eigenes Bedürfnis nach Teilhabe in Verbindung mit der Kritik an einer Gesellschaft, die Tod und Trauer hinter verschlossene Türen rückt,

Leidfaden, Heft 4 / 2020, S. 48–50, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2020, ISSN 2192-1202

Hilma af Klint, Group IX / SUW, No. 1, The Swan, No. 1, 1914–15 / Heritage Images / Fine Art Images / akg-images

D e r Yo u n g W i d o w _ e r s D i n n e r C l u b    4 9

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ermutigte uns, den YWDC zu schaffen. Mittlerweile treffen sich unsere Mitglieder ebenfalls in sechs weiteren deutschen Städten und in der Schweiz, organisiert von engagierten Menschen, die unsere Idee weitertragen. Weitere Standorte und Gruppen sind geplant. Die Treffen richten sich an Menschen zwischen 20 und 50 Jahren, unabhängig davon, wie lange sie bereits auf dem Trauerweg unterwegs sind. Der YWDC macht eine Schutzzone auf, frei von Bewertungen, Trauerzeitvorgaben, Plattitüden oder gutgemeinten Ratschlägen. Sie ermöglicht, über Trauer zu reden, ohne zur Belastung zu werden und dadurch Normalität zu erleben im Nichtnormalen. Wir sind keine geleitete Trauergruppe, sondern bieten Raum zum Dasein, Reden und ungezwungenen Beisammensein. Durch Geduld, ein offenes Ohr und wohlwollende Empathie kann die Trauer dabei genau so groß oder klein bleiben, wie sie gerade ist. Der YWDC kommt in verschiedenen Lokalen zusammen, um gemeinsam zu essen und zu trinken. Dabei nehmen wir bewusst im öffentlichen Raum Platz und setzen damit Trauer in die Mitte der Gesellschaft. Die Trauer in all ihrer Durchdringlichkeit kann den Tisch füllen, aber Platz hat auch Alltägliches, in dem die Trauer leise mittönt. Dadurch entsteht Raum für Lachen, für die Stille zwischendurch, für Tränen; egal was sich der Nachbartisch über unsere Art der Gesellschaft denkt. Selbstbild – Fremdbild Je länger ich Teil dieses Clubs bin, umso mehr tritt die Frage in den Hintergrund, wie wir von außen gesehen werden. Ich habe eine gewisse Idee über die allgemein geteilte Vorstellung von Trauerund Selbsthilfegruppen. Tränen, Bedürftigkeit, getragene Gespräche. In das Bild der Trauer als etwas zu Überwindendes wird gern die Gefahr hineinprojiziert steckenzubleiben. Das betrifft gerade uns, die sich langfristig in der Organisation und Leitung der Initiative engagieren.

Was nach außen jedoch schwer zu vermitteln ist, ist diese fast magische, jedenfalls immer wieder berührende Energie und schnell aufkommende Vertrautheit zwischen unseren Teilnehmenden. Durch die geteilte Trauererfahrung entsteht das Gefühl einer starken Verbundenheit, die auch Grenzen überwindet. Vielleicht weil diese Treffen nicht von der geteilten Trauer getragen werden, sondern durch die Liebe, der wir in unserer Trauer Tribut leisten. Wir sitzen alle an diesem Tisch, weil wir geliebt haben. Wir sitzen alle an diesem Tisch, weil wir traurig schöne Liebesgeschichten zu erzählen haben. Diese Liebe braucht einen Ort, an dem sie sich aus dem Inneren nach außen kehren kann und von anderen Menschen angenommen wird. Es gibt eine gewisse Seite an mir, die will in der Welt um Verständnis werben. Eine andere Seite in mir sieht ein, dass es Erfahrungen gibt, zu denen es keinen Zugang gibt, ohne Ähnliches gelebt zu haben. Die Worte fehlen nicht nur dem Gegenüber, sondern auch uns. Es bleibt schwierig, sich zu erklären. Mit dieser Erkenntnis geht eine gewisse Bereitschaft einher, anderen zuzugestehen, nicht zu verstehen. Dies gelingt mir aber auch deswegen, weil ich gesehen und verstanden worden bin. Ein Teil meines persönlichen Trotzdems, also dem Gestalten des Lebens danach, ist es geworden, diesen Ort für andere zu halten und weiterwachsen zu lassen. »To know the dark, go dark. Go without sight, and find that the dark, too, blooms and sings, and is traveled by dark feet and dark wings.« (Wendell Berry)

Mag.a Franziska Haydn lebt und arbeitet in Wien. Das Studium der Soziologie legte den Grundstein zur Entwicklung eines gesellschaftskritischen Blicks auf Trauer. Sie ist Initiatorin und Leiterin des Young Widow_ers Dinner Club und derzeit in Ausbildung zur Psychotherapeutin. Kontakt: youngwidowersdinnerclub@ gmail.com

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Eine Zukunft planen, die es vielleicht nicht gibt Für Langzeitüberlebende von Krebs ist Anders-Sein eine Perspektive

Petra-Alexandra Buhl »Ich komme mir vor wie ein ehrwürdiges a­ ltes Gebäude, das in allen Etagen bröckelt, hier einen Balkon und dort eine Säule verliert und am Ende länger steht als der Betonbau von nebenan«, schrieb die Schriftstellerin Brigitte Reimann über ihre Krankheitserfahrungen mit Krebs. Damit traf sie die Lebenssituation von Menschen, die an Krebs erkranken, auf den Punkt. Über vier Millionen Betroffene gibt es allein in Deutschland. Die Hälfte davon hat die Krebsdiagnose bereits zehn Jahre und mehr überlebt. Sie gelten als Langzeitüberlebende. Doch geheilt ist nicht gesund. Obwohl behandelnde Ärzte und Angehörige glauben, es sei nun alles wieder wie davor, leiden viele Überlebende unter den Folgen der belastenden Therapien und unter deren Spätschäden wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Stoffwechselstörungen oder Erschöpfung und kognitive Schwierigkeiten. Die Spätfolgen sind je nach Krebs und Behandlungsart unterschiedlich. Gemeinsam ist allen Cancer Survivors, dass sie in der Regel früher sterben als ihre Altersgenossen und ein erhöhtes Risiko für weitere Krebserkrankungen haben. Die einzelnen Krankheitsbilder sind sehr komplex und vielschichtig. Im Wartezimmer des Lebens Deshalb leben sie oft in einem merkwürdigen Zwischenreich, im Wartezimmer des Lebens. Die Krebsdiagnose hat ihr Leben in ein Davor und in ein Danach zerschnitten. Cancer Survivors verfügen nicht mehr beliebig über ihr Schicksal. Sie müssen anerkennen, dass ihr Leben nicht frei von Leid sein wird. Krebs überlebt zu haben bedeutet, eine Zukunft planen zu müssen, die es viel-

leicht nicht mehr gibt. Perspektiven für ein enger begrenztes Leben zu entwickeln und nicht zu verzweifeln. Auch wenn das eigene Ende noch nicht konkret ist, haben sie den Tod mit einem klar bezeichneten Namen im Körper: Krebs. Dies bewusst zu leben bedeutet, im Angesicht der eigenen Endlichkeit zu akzeptieren, dass sich manches nicht mehr erfüllt, wie etwa der Wunsch nach eigenen Kindern, und erlittene Verluste von Geschlechtsmerkmalen oder Gliedmaßen nicht rückgängig zu machen sind. Es bedeutet auch, sich mit berechtigten realen Ängsten einzurichten, wie etwa der Angst vor der Wiederkehr der Krankheit und sich einer schnell verschlechternden Gesundheit bis hin zum Sterben. Dabei kommt das Bewusstsein, dass die Krankheit neben den körperlichen auch ihre psychischen Spuren hinterlassen hat, oft erst Jahre danach – auch die Trauer um das Verlorene: die Gesundheit, das Gefühl der Unversehrtheit, der unbegrenzten Möglichkeiten und vieles mehr. Vorbei ist nicht vorbei. Viele Cancer Survivors begreifen erst lange nach der akuten Therapie, dass sie ein völlig anderes Leben haben und AndersSein nun ihre neue Perspektive ist. Die Krebs­diagnose ist deshalb ein Übergang zu etwas Neuem, nicht Plan­baren. Sie öffnet den Raum für Selbstentwicklung mit zahlreichen Möglichkeiten. Es sind fraktale Lebensentwürfe mit Phasen des Ausprobierens, der Selbstfindung und der Ausprägung neuer individueller Vorlieben. Das Leben »danach« wird mehrfach neu justiert. Die Zeit der Krankheit wird zu einer Art Durchgang und

Leidfaden, Heft 4 / 2020, S. 51–54, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2020, ISSN 2192-1202

Ulrike Rastin

Viele Krebsüberlebende berichten von posttraumatischem Wachstum, davon, dass sie das Leben viel mehr wertschätzen und intensivere persönliche Beziehungen pflegen.

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öffnet sich zu einer verbleibenden Lebenszeit mit höherer Qualität als davor. Im Unterschied zu früheren Jahrhunderten sind Menschen heute bei der Lebens- und Krankheitsbewältigung vor allem auf sich selbst und ihre engen Bezugspersonen angewiesen. Religion, Tradition und Konvention haben an Bedeutung verloren. Doch Lebens- und Überlebenskunst werden an keiner Schule gelehrt. Jeder Überlebende von Krebs reflektiert deshalb seine Lebenskunst selbst und rahmt sie angesichts der Grenze des Lebens neu. Perspektiven sind höchst individuell und werden immer wieder neu errungen. Krebsüberlebende können deshalb davon erzählen, wie man Krisen meistert und Belastungen aushält, wie Menschen Sinn und Würde finden angesichts schwerer Krankheit und wie das Leben nach dem Schrecken weitergeht. Mitunter setzt sich der Schrecken auch fort: Viele Menschen in Deutschland, Österreich und der Schweiz leben zusehends länger mit bereits metastasiertem Krebs. Krebsüberlebende bleiben im Ungewissen. Es ist ein Leben unter Vorbehalt und die Betroffenen müssen sich damit abfinden, dass ihr Körper verletzlich und fragil ist. Todesangst ist der beängstigendste aller Orte und sie müssen einen Umgang damit finden. Dabei ist gerade Angst kein guter Motivator für Veränderungen oder Sinnfindung. Wird die Angst vor dem Fortschreiten der Krankheit aber konstruktiv genutzt, findet sich Sinn im eingeschränkten Leben. Viele Krebsüberlebende berichten von posttraumatischem Wachstum, davon, dass sie das Leben viel mehr wertschätzen und intensivere persönliche Beziehungen pflegen. Sie sind sich ihrer eigenen Stärken in der Regel bewusst und entdecken neue Möglichkeiten für sich. Viele berichten außerdem, sie spürten ein höheres spirituelles Bewusstsein. Krebsüberlebende gestalten in aller Regel ihre Lebensumstände aktiv und werden wesentlich in ihren Beziehungen. Gerade der Tod als Grenze fordert uns auf zu leben und erfüllt zu leben, zu gestalten, weil wir eben nur eine begrenzte Zeit zur Verfügung haben. Krebsüberlebende haben

die Vergänglichkeit aller Dinge sehr direkt erfahren. Der Tod als Grenze zeigt die Bedeutung von Freude, Sinn, Beziehungen und Begegnungen mit anderen Menschen deutlich auf und führt die Betroffenen zu ihren Werten. Lebenslang stellen sie sich die Fragen: • Was gibt meinem Leben wirklich Wert? • Welche Hoffnung habe ich für mich? • Wie möchte ich leben? Das gibt ihrem Leben Tiefe, vor allem dann, wenn sie – und das ist wichtig – trotz ihrer Erkrankung Ansprüche ans Leben haben: Das Außerordentliche ist, Glück in glücksfernen Zeiten zu finden und sich trotz des Gefühls, krank, belastet und eingeschränkt zu sein, ein gutes Leben aufzubauen – ein Leben, das passend und stimmig ist, ein Gefühl von Sinn und Würde gibt. Krankheitsverarbeitung heißt auch, die Ansprüche an Glück und ein gutes Leben zu modifizieren. Selbstverwirklichung nach dem großen Umbruch geschieht in aller Regel durch Selbstreflexion und Selbsterkenntnis, in der Begegnung mit anderen Menschen und im Handeln. Wenn Menschen die Zerbrechlichkeit ihres Lebens drastisch vorgeführt wird, ändern sich Ziele und Motivation. Nach der schweren seelischen Erschütterung durch den Krebs verändern sich bei vielen Menschen, die eine Krebserkrankung überlebt haben, ihre Einstellung zum Leben und ihr Blick auf das, was ihnen wirklich wichtig ist. Sie haben sich mutig über eine schmerzvolle Gegenwart gerettet und sich in einem völlig offenen Raum neu eingerichtet. Dabei haben sie die Schrecken der Krankheit in der Regel sehr genau angeschaut. Einige von den Interviewpartnern, die ich für mein Buch gesprochen habe, haben Rezidive und Zweittumore überlebt. Es gibt eine steigende Zahl von Menschen mit einer Krebserkrankung, die sogar drei oder vier verschiedene Krebsdiagnosen überlebt haben.

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Sich zeigen und aktiv werden Ein Leben in einem solchen Ausnahmezustand braucht Sinnstiftung auf höchstem Niveau. Das kann sich in Hilfehandeln für andere zeigen, denn es fehlt eine gute Survivor-Kultur. Langzeitüberlebende können frisch Erkrankte seelisch häufig besser unterstützen als Ärzte oder Pflegekräfte – immer vorausgesetzt, sie können sich von ihrer persönlichen Krebsgeschichte so weit distanzieren, dass sie für andere überhaupt hilfreich sein können. Andernfalls ist die Gefahr groß, dass sie ihre Haltungen und Ängste anderen überstülpen oder sich sogar als Vorbild empfehlen nach dem Motto: »So wie ich musst du es machen, dann schaffst du es auch.« Hilfehandeln für andere darf weder den eigenen Narzissmus noch das Helfersyndrom von Überlebenden bedienen. Das Trauma der Krebsdiagnose ist für viele so verstörend, dass ihnen über Jahre und manchmal sogar Jahrzehnte eine Sprache fehlt, mit der sie über das Erlebte reden könnten. Deswegen sind die Erzählungen der Überlebenden meist formelhaft. Sie wiederholen tausendfach gehörte Bilder und Floskeln. Ihre Sprachlosigkeit ist auffällig. Der erste Weg, sich zu zeigen, ist deshalb, das scheinbar Unsagbare auszusprechen. Sprache formt Identität. Es ist wichtig, Erfahrungen zu beschreiben – auch, um kein Krebsopfer zu bleiben. Wer seine Geschichte übermittelt, teilt wichtige Informationen, die anderen helfen. Erzählungen von Langzeitüberlebenden sind sinnstiftend für frisch Erkrankte. Sie geben Perspektive. Langzeitüberlebende sind die denkbar größte Hoffnung und Inspiration für jeden frisch an Krebs Erkrankten. Es handelt sich um eine sehr heterogene Patientengruppe mit unterschiedlichsten Bedürfnissen. Daher ist es wichtig, ihnen unvoreingenommen zu begegnen und nicht einfach Vorstellungen und Glaubenssätze über Krebspatienten zu replizieren, sondern ihnen tatsächlich zuzuhören und sie direkt zu fragen, was genau sie brauchen.

Sich zu zeigen bedeutet für Krebsüberlebende nicht nur Stress, sondern auch, aktiv zu werden und selbstbewusst zu handeln, sich von dem moralischen Druck befreien, unter den Cancer Survivors sehr schnell geraten und der sie oft verstummen lässt: »Sei froh, dass du überhaupt überlebt hast.« Überleben allein genügt ebenso wenig wie ein Dach über dem Kopf und genug zu essen haben. Es geht darum, sich die Erlaubnis zu geben, posttraumatisch zu wachsen, zu gedeihen und aufzublühen. Denn die Kernfrage des Überlebens lautet: »Lebst du oder wartest du auf deinen Tod?« Petra-Alexandra Buhl ist Autorin, Supervisorin im Gesundheitswesen und Coach. Sie hält Vorträge zu Cancer Survivorship und bietet verschiedene Seminare dazu an. Kontakt: [email protected] Website: www.petraalexandrabuhl.de

»Heilung auf Widerruf – Überleben mit und nach Krebs« (Klett-Cotta, Stuttgart, 2019) ist das erste Sachbuch im deutschsprachigen Raum, das die Situation der Langzeitüberlebenden beschreibt.

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HERR S., 48 JAHRE niemand verlässt mich so wie er mich vorgefunden hat zum Beispiel Sie Herr S. wie Sie glaubten dass Ananas und Vollkornbrötchen zum Frühstück und Zähne Putzen mit »ja! Wasser« nur das Beste sein könnten um zum Krebs nein zu sagen und wie Sie in den dritten Stock gelaufen sind wo das Krankenhaus Radio ist und wie Sie sich wie ein kleiner Junge aufgeregt ein Lied gewünscht haben für Ihre Frau und danach Tränen in den Augen hatten und wie Sie mit ihr Silvester gefeiert haben Sie hatte ihr Zimmer so schön dekoriert und wie Sie gesagt hat nächstes Jahr lassen wir es richtig krachen ich hab mich anders vorgefunden als Sie uns verlassen haben Herr S. und für Sie möchte ich irgendetwas richtig krachen lassen es muss ja nicht Silvester sein ich will etwas vorfinden das jemand verlassen hat bitte jeder der verlassen wurde muss von jemandem vorgefunden werden Sie würden mich jetzt anders vorfinden Herr S. versprochen darauf ein Schluck »ja! Wasser« um zu nichts mehr nein zu sagen erst recht nicht zum Leben

Leidfaden, Heft 4 / 2020, S. 55–55, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2020, ISSN 2192-1202

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aus: Julia Weber, T-Shirt-Tage, 2019

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Wider ein Sinnlosigkeitsgefühl Logophilosophische Gesprächsrunden im Wiener Tageshospiz

Manuela Straub »Wir müssen zwischen Leiden und Verzweifeln unterscheiden. Ein Leiden mag unheilbar sein, aber der Patient verzweifelt erst dann, wenn er im Leiden keinen Sinn mehr sehen kann« (Frankl 2013, S. 53). Der Mensch steht an einer Weggabelung, wenn er mit Leid konfrontiert wird. Ob seine Antwort auf eine erfahrene Sinnwidrigkeit eine leidoder hoffnungsvermehrende ist, entscheidet der Mensch immer mit. Ich möchte Ihnen Frau M. und ihren Ehemann, Herrn K., vorstellen, die gemeinsam ins Tageshospiz kamen. Frau M. hatte ALS im fortgeschrittenen Stadium und war komplett auf Hilfe und Pflege angewiesen. Ihr äußerer Freiraum war sehr eingeschränkt. Die Lähmungserscheinungen waren bereits sehr fortgeschritten. Sie konnte nur mehr über ihre Augen kommunizieren, eingeschränkt auf zwei Blickrichtungen: Geradeaus: ja. Links: nein. Was lässt das Ehepaar angesichts dieser »aussichtslosen« Situation trotzdem Sinn finden und nicht verzweifeln? (Straub 2019, S. 14 f.). Die Sinnfrage als Ausdruck des Menschseins »Die Sinnfrage in ihrer ganzen Radikalität kann einen Menschen geradezu überwältigen« (Frankl 2014, S. 67). Der Mensch sucht im Grunde seines Herzens nach Sinn, so der österreichische Psychiater, Neurologe und Philosoph Viktor E. Frankl. Die Suche nach Sinn motiviert den Menschen. Nur der Mensch kann die Sinnfrage stellen, den Sinn seines Daseins in Frage stellen. Es ist Ausdruck des Menschseins, des Menschlichs-

ten im Menschen. Es ist ein Akt geistiger Mündigkeit. Sinnerfüllung ist für den Menschen existenziell. Sieht der Mensch keine Möglichkeit der Sinnerfüllung (mehr), ist er frustriert und kann in der Folge verzweifeln. Die existenzielle Frustration des Menschen, das Leiden an einer vermeintlichen Sinnlosigkeit, lässt sich nur verstehen, wenn wir seine innerste Motivation, den Willen zum Sinn verstehen. Es stellt sich die Frage: Wo und wie findet und verwirklicht der Mensch Sinn – trotz Leid? Sinnverwirklichung ist nichts Abstraktes, sondern etwas sehr Konkretes. Die Verwirklichung von Sinn ist auf drei »Hauptstraßen« möglich, die Frankl in seiner Logotheorie begründet hat und die inzwischen verifiziert und validiert sind: durch schöpferische Werte, Erlebniswerte und Einstellungswerte; wobei den Einstellungswerten angesichts eines unabänderlichen Schicksals eine besondere Bedeutung zukommt. Wenn wir die Einstellungswerte miteinbeziehen, die im Kern eine versöhnliche, affirmative Einstellung zu einem unabänderlichen Schicksal leisten, kann menschliche Existenz eigentlich niemals wirklich sinnlos werden (Frankl 2007, S. 12–20). Frau M. und ihr Ehemann sind ein Vorbild dafür, wie man vorhandene Sinnmöglichkeiten ausschöpft, vor allem was den inneren Freiraum ihrer Einstellungswerte betrifft. Frau M. verwirklichte auf ihre Art schöpferische Werte, indem sie größten Wert auf das Arrangement ihrer Bekleidung legte. Sie blieb darüber hinaus aufmerksam und interessiert an ihrer Umgebung. Sie war im besten Sinne empfänglich für die Erlebniswerte, die sich ihr (noch) boten. Dann ihr unvergleichliches Lächeln: Ausdruck inniger Freude an der Begeg-

Leidfaden, Heft 4 / 2020, S. 56–58, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2020, ISSN 2192-1202

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Der Mensch sucht im Grunde seines Herzens nach Sinn. Die Suche nach Sinn motiviert den Menschen.

nung. Während ich bei einem Toilettengang von Frau M. mit ihrem Ehemann vor der Tür wartete, kämpfte ich mit meiner Müdigkeit und fragte ihn: »Woher nehmen Sie eigentlich ihre Kraft?« Er lächelt mich an und sagt: »Von M.! Sie macht es mir leicht. Sie ist da!« Ich bin überzeugt: Hätte ich Frau M. gefragt, woher sie ihre Kraft nimmt, hätte sie in ähnlicher Weise geantwortet. Diesen besonderen verwirklichten Erlebniswert nennt man wohl Liebe. Wenn die Liebe so groß ist, ist es auch der Abschiedsschmerz im Hinblick auf den Tod. Sinnfindungsprozesse in Gang setzen Wie kann es gelingen, Sinnmöglichkeiten trotz Leiden transparent zu machen? Es geht im Wesentlichen um die Ingangsetzung von Sinnfindungsprozessen. Das Unveränderbare ist dabei nicht von Interesse, da es durch »Überbeachtung« auch nicht besser wird. Das lähmende Ohnmachtsgefühl entsteht nicht zuletzt durch das Starren auf das erfahrene Leid. Es geht um einen Perspektivwechsel und somit Qualitätswechsel, bei dem der Mensch erkennt, dass er trotz aller Einengungen des Schicksals Mitgestalter bleibt. Mitgestalter des persönlichen Freiraums: Welcher Mensch möchte ich sein? Was soll von mir ausgehen? Was ist es wert, verwirk-

licht zu werden? Dahin soll alle Aufmerksamkeit gerichtet sein. Der Ansatz Frankls, die Logotherapie, beruht auf einer lebensbejahenden Philosophie und hat hier den sokratischen Dialog als Modell einer geistigen Auseinandersetzung, das klassische Gespräch von Mensch zu Mensch, zum Vorbild. »Es geht nicht darum, dass wir dem Patienten einen Daseinssinn geben, sondern einzig und allein darum, dass wir ihn instand setzen, den Daseinssinn zu finden, dass wir sozusagen sein Gesichtsfeld erweitern, so dass er des vollen Spektrums personaler und konkreter Sinn- und Wertmöglichkeiten gewahr wird« (Frankl 2013, S. 73). Seit drei Jahren bieten wir für die Gäste im Wiener Tageshospiz logophilosophische Gesprächsrunden an. Das philosophische Gedankengut der Logotherapie nach Viktor E. Frankl dient als Basis. Unsere Intention ist, den Menschen Anregungen und Impulse für einen sinnorientierten, das heißt psychohygienisch gesunden Lebensstil anzubieten und sich gemeinsam den schwierigeren Themen wie Leid, Schuld, Tod, Versöhnung und Lebensbilanz philosophierend anzunähern und sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Es geht um eine gesunde »Selbstvergessenheit« und eine heilsame Nachdenklichkeit, die das Wohlbefinden unterstützt und das Wertebewusstsein anregt. Zwei von der Frankl-Schülerin Elisabeth Lukas entwickelte gruppentherapeutische Nachsorge­ angebote, die Dereflexionsgruppe und der logo­ therapeutische Meditationskreis (Lukas 2017, S. 107–114; 115–126), waren Inspiration für die von mir eingeführten logophilosophischen Gesprächsrunden. Elisabeth Lukas hat dankenswerterweise diesen Entwicklungsprozess supervisorisch begleitet. Es geht darum, verfestigte Einstellungen zu überdenken und dadurch neue Sinn- und Wertperspektiven zu entdecken. Geschichten sind dabei bewährte Impulsgeber. Die Dauer variiert zwischen 45 bis 60 Minuten und findet in der Regel zwei Mal im Monat statt. Nach

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Möglichkeit nehmen auch die Hospizmitarbeiterinnen und -mitarbeiter teil, um im weiteren Verlauf darüber mit den Hospizgästen im Gespräch bleiben zu können. Ein großer Trost für Frau M. und Herrn K. war das Scheunengleichnis von Frankl, bei dem nicht die Vergangenheitsbewältigung, sondern die Vergänglichkeitsbewältigung und die Frage »Was bleibt?« im Fokus sind. Das Scheunengleichnis »(…) Das einzig Vergängliche sind die Möglichkeiten. Die Möglichkeiten die wir ergriffen haben, sind verewigt. In der Vergangenheit ist ja nichts, wie man so oft glaubt, unwiederbringlich verloren, sondern unverlierbar geborgen. Der Mensch sieht für gewöhnlich nur die Stoppelfelder der Vergänglichkeit und übersieht die vollen Scheunen der Vergangenheit, in welche sie schon längst die Ernte ihres Lebens eingebracht haben. Die Erlebnisse, die Taten. Nichts und niemand kann sie rauben, ungeschehen machen, rückgängig machen. Noch nicht einmal der scheinbar so mächtige Tod. Denn das Vergangensein ist auch noch eine Form des Seins – vielleicht sogar die Sicherste! (…)« (Frankl 1984). Wir haben dieses Gleichnis über mehrere Wochen gemeinsam in den logophilosophischen Gesprächsrunden betrachtet. Selbst zu Hause, wenn die Situation schwierig und der Schmerz groß war, haben Frau M. und Herr K. sich dazu ausgetauscht. Daran konnten sie sich innerlich wieder aufrichten, wie Herr K. mehrmals berichtet hat. Ein ganz wichtiger Trost für beide war das Erkennen, dass keines ihrer 48 Ehejahre, noch nicht einmal eine Sekunde aus ihrer Lebensscheune herausgenommen werden kann. Das bleibt. An dem Vorbild der beiden konnte sich wiederum die ganze Gruppe auf- und ausrichten. Sie waren ein Vorbild für die Gruppe darin, wie sie ihr Leiden durch ihre wertvolle Einstellung tapfer angenommen und damit ihre sinnverwirklichende Antwort gegeben haben. Jeder war eingeladen, in

seine Scheune, auf die bisherige Ernte seines Lebens zu schauen. Verbunden mit dem fragenden Appell: Was wartet noch darauf, in die Scheune eingebracht zu werden? Hier und jetzt. Herr K. schreibt in unser Abschiedsbuch: »(…) In dauerhafter Erinnerung wird das Schupfen­ seminar (Schupfen = Scheune) bleiben, es hat uns sehr geholfen bei Gesprächen, wenn M. sehr traurig war. Ist auch alles vergänglich auf dieser Welt, die Erinnerung an einen lieben Menschen ist unsterblich und gibt Trost.« Sinn lässt die Hoffnung weiterleben Sinn kann nicht gegeben oder verordnet werden. Doch das Sprechen über Werte hilft dies zu vergegenwärtigen und somit Sinnmöglichkeiten zu entdecken. Wir können den Menschen dabei helfen, den Blick behutsam auf den noch verbleibenden Freiraum zu richten, und zur Mitgestaltung anregen. Das ist kein Oktroi (Aufzwingen), sondern ein Offert (Angebot) und könnte somit ein Impuls für Hoffnung sein. Eine Hoffnung für Menschen, die Hilfe brauchen, und eine Hoffnung für Menschen die Hilfe geben. Manuela Straub, Diplom-Gesundheitsund Krankenpflegerin, Pflegefachkraft Palliative Care, Trainerin Palliative Care (DGP), bietet Sinnzentrierte Beratung nach Viktor Frankl, Supervision und Coaching in eigener Praxis an. Kontakt: [email protected] Literatur Frankl, V. E. (1984). Bewältigung der Vergänglichkeit. Vortrag CD. Müllheim/Baden.Frankl, V. E. (2007). Theorie und Therapie der Neurosen. Einführung in Logotherapie und Existenzanalyse. 9. Auflage. München. Frankl, V. E. (2013). Mensch sein heißt Sinn finden. Hundert Worte. München u. a. Frankl, V. E. (2014). Ärztliche Seelsorge. Grundlagen der Logotherapie und Existenzanalyse. München. Lukas, E. (2017). Persönliches und Besinnliches. Kleines logotherapeutisches Lesebuch. München. Straub, M. (2019). Spiritual Pain. Auseinandersetzung und Umgang mit existenzieller Frustration. In: Die HospizZeitschrift – Palliative Care, 83, S. 14–19.

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Literatur in Zeiten der Krise Vom Sinn des Lesens

Anita Wohlmann Eskapismus? Warum greifen Menschen zu einem Roman, wenn es ihnen nicht gut geht? Wenn die Welt »da draußen« oder das Leid »da drinnen« übermächtig erscheinen und unsere Sinne und unseren Sinn erschüttern? Eine gängige Erklärung ist der Eskapismus. Wir versuchen der Realität zu entfliehen, indem wir in eine fiktionale Welt eintauchen. Wir bauen Distanz auf und verschaffen uns durch das Lesen Ablenkung oder genussvolle Zerstreuung. Das Buch wird zu einem Zufluchtsort und verspricht Leichtigkeit und Unterhaltung. Dass solch eskapistische Sehnsüchte auch kritisch zu betrachten sind, wird gern mit Gustave Flauberts Roman »Madame Bovary« veranschaulicht. Die Heldin Emma Bovary flüchtet sich lesend aus der für sie unerträglichen Banalität ihres Daseins als Landarztgattin in eine romantische Phantasiewelt großer Leidenschaften. Sie tötet sich schließlich selbst, weil sie Phantasie und Realität nicht mehr trennen kann. Auch wenn Flaubert behauptete, »Madame Bovary, das bin ich«, so sind die negativen Konnotationen, mit denen das (oftmals weibliche) Fluchtlesen assoziiert wird, nicht zu übersehen. Gleichzeitig verkennt diese Kritik den großen Wert des genüsslichen Lesens. Im Bovary-Vergleich wird oft unterschlagen, dass es ein Sowohl-als-auch im Prozess des Lesens gibt: Wir können uns vergnüglich einem Roman hingeben und gleichzeitig kritisch und vernünftig bleiben. Eskapistische und (damit oft einhergehende) hedonistische Motive sind wichtige Faktoren für das Lesen von literarischen und fiktionalen Texten in Krisenzeiten. Sie decken allerdings nicht

die ganze Bandbreite an Motiven ab. Warum beispielsweise stiegen die Verkaufszahlen von Albert Camus’ Roman »Die Pest« (1947) in Zeiten der Corona-Pandemie überdurchschnittlich an? Auf den ersten Blick scheint dieses Phänomenon geradezu paradox: In einer von Schreckenszahlen und beängstigenden Nachrichten übersättigten Zeit erscheint es kurios, sich durch einen Roman in eine Stadt führen zu lassen, in der die Menschen reihenweise und qualvoll an der Beulenpest sterben. Für einen »News-Junkie« wird das Lesen von immer neuen Schreckensberichten vielleicht zur Obsession. Aber trifft das auf alle Leser*innen zu, die in Corona-Zeiten zur »Pest« griffen? Lesen in Zeiten von Corona Am Beispiel eines Buchklubs, den ich zu Albert Camus’ »Die Pest« (1947) im April und Mai 2020 organisiert und moderiert habe, möchte ich über weitere Motive für das Lesen in Krisenzeiten nachdenken und diese Überlegungen mit persönlichen Leseerfahrungen verknüpfen. Der Buchklub fand in einem Zeitraum von vier Wochen immer sonntags für eine Stunde in einem virtuellen Raum statt. Inspiriert von einem ähnlichen Buchklub zu diesem Thema, den Nellie Hermann, Creative Director im Program in Narrative Medicine an der Columbia Universität in New York City organisierte, beschloss ich, eine deutsche Version des Buchklubs anzubieten, und machte über das Deutsche Netzwerk für Narrative Medizin auf die Idee aufmerksam. Über 20 Interessierte meldeten sich dazu an, von denen im Durchschnitt etwa 15 Teilnehmende an den wöchentlichen Veranstaltungen teilnahmen.

Leidfaden, Heft 4 / 2020, S. 59–63, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2020, ISSN 2192-1202

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Während der Online-Treffen wurden unter anderem Parallelen gezogen zwischen der gegenwärtigen Situation im Frühjahr 2020 und Camus’ erstaunlich akkuraten Beschreibungen der Geschehnisse im algerischen Oran in den 1940er Jahren. Ohne Zweifel, es gibt eine Reihe wichtiger Unterschiede. Dennoch überrascht, wie aktuell Camus’ Beschreibung der Menschen ist, die plötzlich von ihren Liebsten getrennt sind oder sich in einer zunehmenden emotionalen Abstumpfung ihrem Schicksal hingeben. Auch die Art und Weise, wie die Stadtverwaltung – zuerst zögerlich und abwiegelnd, dann bestimmt und radikal – das Risiko der ersten Pestzeichen abwägt, um dann schließlich die Stadt zu schließen, erinnert an das Ringen der deutschen und internationalen Politik um adäquate Maßnahmen. Die Ähnlichkeiten sind umso erstaunlicher als Camus’ Roman im eigentlichen Sinne nicht von einer infektiösen Krankheit erzählt. »Die Pest« schrieb Camus als Allegorie auf den Zweiten Weltkrieg, den Faschismus und Holocaust, und das Buch wurde vor Corona im Allgemeinen auch so verstanden. Heute lesen wir »Die Pest« paradoxerweise nicht (nur) im übertragenen Sinne, sondern (auch) wortwörtlich. Und der Text funktioniert. Erkennen Ein Entdecken von Ähnlichkeiten in einem fiktionalen Text konzeptualisiert die Literaturwissenschaftlerin Rita Felski in ihrem Buch »Uses of Literature« (2008) unter anderem als eine Form des Sich-selbst-Erkennens im Akt des Lesens: »Plötzlich und ohne Vorwarnung springt ein Verbindungsblitz über die Lücke zwischen Text und Leser; eine Affinität oder eine Gestimmtheit wird ans Licht gebracht. (…) In beiden Fällen fühle ich mich angesprochen, gerufen, zur Rechenschaft gezogen: Ich kann nicht umhin, Spuren von mir selbst auf den Seiten zu sehen, die ich lese. Unstrittig hat sich etwas verändert, meine Perspektive hat sich verschoben. Ich sehe etwas, was ich vorher nicht gesehen habe« (S. 23, eigene Übersetzung).

Wer kennt sie nicht, die Momente, die Felski als »Selbstintensivierung« beschreibt, wenn etwas ins Schwingen kommt zwischen uns und einem fiktionalen Charakter oder einer Beschreibung und wir begreifen, dass unsere individuellen Erfahrungen zwar eigen, aber keinesfalls einmalig sind. Im Buchklub erkannten sich viele zum Beispiel in der Naivität der Bewohner*innen von Oran wieder, die Camus mit scharfem und dennoch verständnisvollem Blick beschreibt. Für sie ist das zeitliche Ausmaß der Seuche anfänglich nicht vorstellbar und so schmieden sie ohne Bedenken weiterhin Pläne für die Zukunft. Die täglich zunehmenden Infektions- und Todeszahlen sprächen einfach »nicht die Phantasie« der Oraner an, schreibt Camus (1947/2020, S. 90); die Zahlen seien »nicht stark genug, dass unsere Mitbürger nicht trotz aller Beunruhigung den Eindruck behielten, es handle sich um einen zweifellos ärgerlichen, aber alles in allem vorübergehenden Zwischenfall« (S. 90). In der Tat, die Zahlen und Fakten der Corona-Pandemie haben uns alle, denke ich, an die Grenze der Vorstellungskraft gebracht. Ich erinnere mich auch an meine unerschütterliche Zuversicht zu Beginn des Lockdowns: ein lang geplanter Ausflug mit zwei Freundinnen über Christi Himmelfahrt würde doch sicherlich machbar sein. Zweifelnde Einwände fegte ich leichtfertig davon. Ein vorübergehender Zwischenfall, das war Corona für mich im März. Ein ärgerlicher Umstand, der die gewohnte, atemlose Abfolge von Terminen verunsicherte, aber sein absehbares Ende bereits in sich trug. Camus kommentiert diese Denkweise mit den folgenden Worten: »Wenn ein Krieg ausbricht, sagen die Leute: ›Das wird nicht lange dauern, das ist doch zu dumm.‹ Und zweifellos ist ein Krieg mit Sicherheit zu dumm, aber er dauert trotzdem lange« (S. 46). Beim Lesen dieser Zeilen hielt ich den Kriegsvergleich für problematisch. Dennoch fühlte ich mich von Camus »gesehen« und erkannte gleichzeitig, dass mein Denken nicht einmalig ist.

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Arnold Böcklin, Die Pest, 1898 / akg-images

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Wissen Als Schriftsteller und Philosoph wurde Albert Camus mit seinen Überlegungen zum Absurden weltbekannt. Der Sisyphos-Mythos, über den er seinen wohl berühmtesten Essay schrieb, wird auch in »Die Pest« verhandelt: Der Arzt Dr. ­ Rieux, der am Rande der Erschöpfung stoisch weiterarbeitet, obwohl seine Bemühungen sinnlos scheinen, veranschaulicht Camus’ philosophische Theorie besonders eindrücklich; Dr. ­Rieux wird vom Heiler zum ausgebrannten Richter seiner Patient*innen (S. 217). Wie verhält man sich im Angesicht einer »Niederlage ohne Ende« (S. 147)? Es sind diese ethischen Fragen, die Camus’ Roman zu einer Ressource machen, die Wissen bereithält und einen moralischen Leitfaden vorschlägt. Meine Nachbarin erzählte mir, dass sie zu Camus’ Roman griff in der Hoffnung, so etwas wie

einen Ratgeber zu finden, der Antworten auf ihre Fragen geben könnte: »Wie verhält man sich in einer Pandemie? Wie kann ich die Zahlen aus den Nachrichten mit ethischen Inhalten füllen? Und was macht die aktuelle Situation mit mir selbst und in meiner Beziehung zu anderen?« Camus’ Charaktere arbeiten sich an genau diesen Themen ab und veranschaulichen, jeder auf seine Art, die Rolle von Solidarität, Gemeinwohl, Mitleid und das, was Dr. Rieux »Anstand« nennt. Dass wir von literarischen Texten lernen und mit und an ihnen wachsen können, erklärt, warum wir uns in Krisenzeiten auch zu traurigen und bedrückenden Geschichten hingezogen fühlen. Eva Maria Koopman (2015) benutzt für dieses Phänomen den Begriff Eudämonie: Es gehe nicht primär darum, sich besser, sondern vollständiger zu fühlen und ein breiteres oder tieferes Verständnis dafür zu erhalten, was es bedeutet, ein Mensch zu sein (S. 21).

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Näher ran Literatur ist natürlich nicht nur eine Wissensressource. Sie ist auch ein ästhetisches Kunstwerk, das wir mit unseren Sinnen erleben. Um die ästhetischen Komponenten, das Wie einer Erzählung, besser zu verstehen, verwendet die Literaturwissenschaft unter anderem textimmanente und hermeneutische Methoden, welche unter anderem die Erzählsituation, Sprache und Atmosphäre in den Blick nehmen und fragen, wie Stil und Inhalt zusammenhängen und unsere Wahrnehmung prägen (Wohlmann 2019). Im Camus-Buchklub wurde diskutiert, warum Camus’ Erzähler sich um eine objektive Erzählform bemüht, die einem Bericht oder einer Chronik ähnelt. Die Erlebnisse der Charaktere werden nicht dramatisch aufgeladen, und die Stadt Oran wird als durchschnittlich und sogar hässlich beschrieben. Mit diesen stilistischen Entscheidungen hält uns der Erzähler emotional auf Distanz und wirft weitere Fragen auf: Warum verschiebt der Erzähler die Enthüllung seiner Identität auf die letzten Seiten? Was bewirkt die Geheimnistuerei? Sollen und können wir diesem Erzähler trauen? Und welche anderen Stimmen gibt es im Text? Die Eindrücke der Lesenden sind unterschiedlich: Die einen spricht der kühle, sachliche Stil an, der vertrauensfördernd auf sie wirkt; die anderen sind misstrauisch oder verunsichert. Im Englischen heißt diese Methode »close reading«: Wir gehen nah ran an den Text und analysieren einzelne Sätze und Details. Im Austausch mit den anderen, deren Eindrücken und Interpretationsangeboten, entstehen immer wieder neue Perspektiven. Auf diese Weise geschieht eine Verdichtung von Eindrücken und Bedeutungszuschreibungen, ein »thickening«, wie es Maura Spiegel und Danielle Spencer beschreiben (Charon et al. 2017). Aber nicht nur Camus’ Geschichte verdichtet sich, sondern auch unsere eigene, persönliche Geschichte und unsere individuelle Wahrnehmung, welche wir unweigerlich in den Leseprozess mit einbringen. Wir kommen

wortwörtlich und im übertragenen Sinn »näher ran« und sehen neue Aspekte, die beim ersten Lesen übersehen wurden oder in einem anderen Licht erschienen. Gleichsam erfahren wir über die Wahrnehmungen und Interpretationen der anderen, in welchen Aspekten wir uns ähneln und wo wir anders empfinden. Die eigene Aufmerksamkeit für den Text und das Selbst intensiviert sich und erscheint dadurch reicher. Und so findet sich im Traurigen und Schrecklichen auch Nährendes und Tröstliches. Ästhetisches Vergnügen und Eudämonie, Flucht und Erkennensprozess, existieren Seite an Seite.

Die Arbeit an diesem Artikel wurde von der Danish National Research Foundation (grant no. DNRF127) unterstützt. Weitere Informationen: Deutsches Netzwerk für Narrative Medizin (https://www. netzwerk-narrativemedizin.de). Forschungsprojekt »Uses of Literature« (https://www.sdu.dk/en/uol)

© Bettina Böhm

Anita Wohlmann ist Associate Professor für zeitgenössische anglophone Literatur an der University of Southern Denmark. Seit 2015 unterrichtet sie Kurse und Workshops in der Narrativen Medizin. Kontakt: [email protected]

Literatur Camus, A. (1947/2020). Die Pest. Reinbek. Charon, R.; DasGupta, S.; Hermann, N.; Irvine, C.; Marcus, E. R.; Rivera Colón, E.; Spencer, D.; Spiegel, M. (2017). What is Narrative Medicine? The principles and practice of Narrative Medicine. Oxford. Felski, R. (2008). Uses of literature. Malden, MA. Koopman, E. M. (2015). Why do we read sad books? Eudaimonic motives and meta-emotions. In: Poetics, 52, S. 18– 31. Wohlmann, A. (2019). Zwischen Selbstsorge und Heilsversprechen: Über den Einsatz von literarischen Texten in der Narrativen Medizin. In: Der Mensch: Zeitschrift für Salutogenese und anthropologische Medizin. Heft: »Sinnstiftende Erzählungen«, 59, S. 7–13.

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Sinn-Zeugenschaft als Begleitaufgabe im Prozess der Trauer Sylvia Brathuhn und Monika Müller »Der Wille zum Sinn ist das primäre und ursprünglichste Streben des Menschen« (Viktor E. Frankl). Sinnstreben und Sinnsuche In der Begegnung mit und in der Begleitung von trauernden Menschen werden wir auf besondere Weise mit der Suche und dem Streben nach Sinn konfrontiert. In diesem existenziellen Praxisfeld müssen wir uns immer wieder mit der Frage nach Sinn auseinandersetzen. Der französische Philosoph Gabriel Marcel kennzeichnet den Menschen als »Homo viator«. Der Mensch ist in seinem Verständnis ein Reisender, ein Unterwegs-Seiender, ein Wanderer, ein Suchender. Getrieben von einer »unstillbaren« Sehnsucht ist er immer unterwegs und auf der Suche. Doch nach was sucht er? Auf der einen Seite sucht er nach Wahrheit, das heißt nach Gewissheiten, nach Sicherheiten, nach Richtigkeit. Also nach einem Fundament, auf dem er sein Leben aufbauen kann. Auf der anderen Seite sucht er nach Glück, nach Heilsein, nach Ganzheit. Also nach etwas, das es ihm ermöglicht, sich weiterzuentwickeln, zu reifen und dabei immer mehr »er selbst zu werden«. Wahrheit und Glück sind die zwei großen Suchrichtungen des Menschen, die ihn ständig aufs Neue in die Suchbewegung bringen, die ihn von Sinnstation zu Sinnstation in seinem Leben führen sollen. Was bedeutet Sinn? An dieser Stelle sei es erlaubt, einen kleinen etymologischen Ausflug zu dem Begriff »Sinn« zu

Leidfaden, Heft 4 / 2020, S. 64–71, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2020, ISSN 2192-1202

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Der Mensch ist ein Reisender, ein Unterwegs-Seiender, ein Wanderer, ein Suchender. Getrieben von einer »unstillbaren« Sehnsucht ist er immer unterwegs und auf der Suche.

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machen. Von der Wortherkunft betrachtet entwickelte sich das Wort »Sinn« aus dem Indogermanischen »sent«, was so viel wie »gehen, reisen, fahren« bedeutet. Im Althochdeutschen wurde es zu »sinnan«, das für »reisen, streben, trachten« steht. Sinn in seiner ursprünglichen Wortbedeutung steht also für »Gang, Reise, Weg« und verweist demnach schon in seiner Wortherkunft auf etwas Dynamisches und nicht auf Starres oder Festgeschriebenes. Schauen wir auf das lateinische »sentire«, das ebenfalls als Wortstamm in Frage kommt, wird die Bedeutung des Reisens ergänzt um das Fühlen der Erfahrungen, um das Suchen nach Zusammenhängen der Erlebnisse. So deutet Sinn implizit auf etwas hin, das schlüssig ist, das zusammenhängt, das ein tragfähiges Netz bildet. Der Mensch verfügt über die Fähigkeit, sich selbst und das Leben als ein zusammenhängendes Ganzes zu verstehen. Mit seinen je eigenen Deutungsversuchen hinsichtlich seiner Sinnfragen knüpft er immer wieder Sinnzusammenhänge. Solange alles gut zusammenhängt, sich nahtlos fügt, schlüssig scheint, geht das Leben gut voran, erklärt es sich von selbst, muss nicht hinterfragt werden. Das, was wir tun, hat wie selbstverständlich seinen Sinn. Das, was getan werden möchte, was gerade dran ist, erscheint ebenfalls unhinterfragt sinnhaft: »Das Wohnzimmer muss gestrichen werden.« »Der nächste Zahnarzttermin ist fällig.« »Die Miete steigt und muss überwiesen werden.« »Das Kind braucht neue Straßenschuhe.« Für alles finden wir sinnhafte Erklärungen beziehungsweise nehmen wir die Gegebenheiten hin, ohne sie in Frage zu stellen: Es hat seinen Sinn, wenn auch den je eigenen. Lebenskrisen und Sinnverlust Was aber geschieht, wenn das, was bisher doch so wunderbar zusammenpasste und sich von allein erklärte, auseinanderfällt, wie dies im Fall eines tiefgreifenden Verlusts durch den Tod eines nahestehenden Menschen oder die Erfahrung

einer schweren Erkrankung der Fall ist? Dann verliert sich mit einem Mal das Schlüssige des Weges. Übrig bleiben Leerstellen, Bruchstücke, die nicht mehr zusammenhängen, die für den nach Bedeutung fragenden und um einen Nutzen ringenden Menschen plötzlich keinen Sinn mehr machen. Dieser so bedrohte Mensch, der sich selbst, ja, dem die ganze Welt buchstäblich »fraglich« geworden ist, kämpft nun zwischen den Polen Verzweiflung und Hoffnung mit der Frage nach Sinn, um dem Wissen seiner eigenen (Lebens-)Bestimmung auf die Spur zu kommen. Der einst erfahrene und erlebte innere Zusammenhang von Welt und Leben ist als solcher nicht mehr gegeben. Solche Situationen lassen Betroffene in eine Sinnkrise geraten, fordern den Menschen auf, was jetzt sinn-los und sinn-leer erscheint, neu zu deuten. Die Sinnfäden müssen ganz neu gesponnen werden. Diese Gedanken sind keine theoretische Philosophie. Selbst wenn Menschen zuvor noch nie oder selten über den Sinn ihres Lebens nachgedacht haben, in großer Not und Verwirrung erleben sie ihre eigene Situation als Lebenskrise, sie erleben sich unausweichlich in eine existenzielle Anfrage des Warum und Wozu gestellt und versuchen Antworten darauf zu finden. Wir können – vielleicht nur zunächst – ausweichen, wegesehen, ignorieren, verdrängen … Oder wir können Sinnfäden spinnen, um unseren (ur-)eigenen – vielleicht neuen – Sinnantworten näher zu kommen. In einer Zeit, in der der Tod ein Auge auf den Menschen wirft, den ich liebe  – und somit auch auf mich –, gerät alles ins Wanken, hält und trägt nichts mehr. Der betroffene Mensch fühlt sich wie ein Fremder in einer bisher vertrauten Welt. Die Heimat ist ihm zur Fremde geworden. Er wird quasi gezwungen, sich auf die Suche zu machen nach etwas, das ihm in dieser haltlosen, manchmal abgründigen Zeit hilft, die mit der existenziellen Notsituation verbundene Last zu tragen. Er sucht dann nach etwas, das ihm Halt gibt, das ihn trägt, das die Schwere leichter macht. Er sucht nach Sinn.

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Caravaggio, Martyrdom of Saint Ursula, 1610 / Mondadori Portfolio / Electa / Antonio Quattrone / Bridgeman Images

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Brüche Ein sehr authentisches Beispiel hierfür ist die niederländische Schriftstellerin Connie Palmen. Die Trauer lehrt sie etwas Fundamentales über die Beschaffenheit des eigenen Ich. Mit der Abwesenheit ihres Mannes erleidet sie einen zunehmenden Ich-Verlust. Sie fühlt sich armselig ohne ihn. Dazu zählt die Empfindung, dass das Leben oft seinen Sinn verliert und nur noch als Last erscheint:

»Das kommende Jahr und noch länger leben zu müssen, ohne Lust dazu zu haben, sich vor jedem Tag zu grausen, der vernichtet, zertrümmert, durchgenagt, beseitigt, hinter sich gebracht werden muss, um den nächsten anzugehen, der ganz genauso verwüstet werden muss. Ich frage mich, ob ich das durchhalte.« »Man fällt aus dem heraus, was einen zusammenhielt, der Form dessen, was man ist, und

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damit fällt man auch aus sich selbst heraus, aus der Einheit, die ein ›Selbst‹ ist, die aber nur dank des anderen besteht«. »Für Liebende gilt das harte Gesetz: Sobald das Wir nicht mehr da ist, bricht das Ich zusammen, zerfällt in Bruchstücke« (Palmen 2013).

Was also kann Begleitung denn dann »tun«? Die vornehmste Rolle des Begleitenden ist die des Zeugen. Mit diesem Begriff ist hier nicht an den Zeugen oder die Zeugin im juristischen Sinn gedacht, eine Person, die zu einem aufzuklärenden Sachverhalt eigene Wahrnehmungen aussagen kann. Zeugenschaft bedeutet, dass ein anderer Mensch den Schmerz und das Leid seines Gegenübers bekundet. Das geschieht mit Verständnis, Respekt, Bestätigung und Ermutigung. »Ja, das ist sehr, sehr schlimm!« Es geht um die Bezeugung des Schmerzes, nicht um einen objektiven Tat­ bestand. Zeugenschaft besteht in der Akzeptanz des Gesagten und Gehörten. Es geht um die Mitteilbarkeit schmerzlicher und traumatischer Erfahrungen und die mitmenschlich-ethische Bedeutung des Bezeugens. Begleitung hat die Aufgabe der dreifachen Zeugenschaft. Begleitende folgen den Blickrichtungen der trauernden oder schwerkranken Menschen in drei Schritten, deren Bewegung wir aus dem Dualen Trauermodell von Stroebe und Schut (2010) kennen.

Thomas Kern

Wie gehen nun Begleitende mit einer solchen Brüchigkeit um? Wie oft sind sie versucht, Bruchstücke schnell zusammenzufügen, Sinn zu stiften. Und wie oft müssen sie dann erleben, dass ihr Sinnangebot vom trauernden Menschen abgelehnt, ja verworfen wird. Begleitung hat nicht die Aufgabe, den Sinn eines Geschehens zu vermitteln. Sensemaking beschreibt diesen Prozess des (Ein-)Ordnens eines zunächst ungeordnet auf den Menschen einwirkenden Erlebnisstroms. Abhängig von den individuellen Vorstellungen und Erfahrungen des Einzelnen können sich für Menschen, die mit ähnlichem oder demselben Ereignis und denselben Erlebnissen konfrontiert werden, ein völlig unterschiedlicher Sinn ergeben und daraus resultierend voneinander abweichende Interpretationen der Geschehnisse. So wird verständlich, dass die Sinngenerierung ausschließlich im Kopf und Herz des Protagonisten, des Menschen in oder nach der Krise, liegen kann.

Rolle der Begleitung

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Zer-Bruch-Zeugenschaft In dieser Zeit der vorwiegenden Verlustorientierung ist der Begleitende Zerbruchzeuge. Hier ist es nun wichtig, einen Raum zu schaffen, in dem der Zerbruch und das unwiderruflich Verlorene angeschaut und beklagt werden darf. Der Schmerz ist ein Zeichen von Trauer, er darf, soll und muss sogar durchlebt werden, um sich in seinem eigenen Tempo eigene Sinnantworten zu erschließen. Zerbruchzeuge zu sein heißt auch, sich davor zu hüten, vorschnelle Hoffnung zu entwickeln oder vorschnelle Erklärungsangebote zu machen. Um den Verlustschmerz annähernd nachzuvollziehen, wird der Blick gemeinsam mit dem Klienten auf die Vergangenheit gerichtet. Der Trauernde erzählt dem Begleitenden einerseits vom Leben mit dem Verstorbenen und andererseits von dem Menschen selbst. Als hilfreiche Methode findet ein »Erwärmen« dessen statt, was gewesen ist. Es wird Erinnerungs- und Würdigungsarbeit geleistet. Der Begleiter wird in diesem Abschnitt des Begleitprozesses zum Zeugen dieses Zerbruchs eines Lebens. Dem Trauernden muss es zunächst einmal erlaubt sein, den Blick auf das Verlorengegangene zu richten. Dies ist notwendig, um zu realisieren, dass seine Welt, dass sein Leben nun aus Bruchstücken besteht und somit ein ganz anderes geworden ist. Nur so wird der Verlust ermessen werden können. Es ist Aufgabe der Begleitenden, das Fundament für die Erinnerungsbrücke zu ermöglichen, indem gezielte Fragen gestellt werden. Zur Gestaltung der Erinnerungsbrücke gehört das Anerkennen. Das Leben, das jetzt so jäh zerbrochen ist, darf betrauert werden. Das, was war, muss vom Begleitenden anerkannt werden, um den nächsten Schritt, das Verstehen des Leidens, überhaupt möglich zu machen. Als Begleitende kann ich den Trauernden nur ganzheitlich verstehen, wenn ich ihn auch als Vorherigen, als Ganzheit, als Unio mit dem Verstorbenen wahrnehmen kann. Wenn ich zum Beispiel weiß, dass da

nicht nur die alte Mutter betrauert wird, die krank und gebrechlich war und vielleicht sogar eine Last bedeutete, sondern wenn ich auch verstehe, dass diese Mutter mich einst geboren hat als junge Frau, dass sie mich durch die Kindheit begleitete und vielleicht Schutz und Wärme bedeutete, dass sie meinen Kindern eine wunderbare Oma war, die viel dazu beigetragen hat, dass sie starke Kinder wurden, dann ist die Begleitende eine Zeugin. Sie hat eine Vorstellung davon, was genau betrauert wird, und kann den umfassenden Verlust des trauernden Menschen und das als zerstört gesehene Leben würdigen. Ein-Bruch-Zeugenschaft Auf die Gegenwart gerichtet, bezeugt die Begleitende den völligen Einbruch des bisherigen Lebens. Nichts ist mehr, wie es war, der Sinn des Lebens mit all seinen kleinen Vernetzungen ist plötzlich in Frage gestellt: Warum soll ich morgens noch aufstehen? Warum habe ich seine Beschwerden nicht ernster genommen? Warum lebt mein Nachbar munter vor sich hin, obwohl er ein Griesgram ist und seit Jahren ein Trinker? Die Frage nach dem Warum ist ein Zwischenschritt im Sinnprozess. Sie fragt noch nicht nach Sinn, sondern ist ein Hinweis darauf, dass unser ganzes Dasein von Nichtwissen und Nichtverstehen durchdrungen ist. Der beunruhigte Verstand gerät angesichts des bevorstehenden oder erlebten Todes an seine Grenzen und lässt uns – so scheint es – im Stich. Schauen wir uns zunächst das Beispiel der 42-jährigen Irene Walter an, die fünf Monate nach dem Tod ihres Mannes in die Begleitung kommt: »In mir machen sich tagtäglich Angst und Schrecken und das Gefühl des ›das kann doch nicht wahr sein‹ breit. Alles ist wüst und leer. Mein Verstand schreit immer wieder NEIN, und doch ist es. Ich habe das Gefühl, in einen Abgrund zu stürzen. In einen Abgrund der Angst,

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in dem ich mich gefangen fühle. Ich werde vielleicht nicht mehr herauskommen aus dieser Talsohle der Verzweiflung. Und wieder ist das Warum mein ständiger Begleiter. Warum muss ich das erleiden? Warum kann ich nicht einfach aufhören zu leben?« Leid widerfährt uns grundlos. Es nimmt uns bereits gegebene Antworten, zerschlägt alle Rationalisierungsversuche, versperrt uns die Sicht auf etwaige Sinnerfahrungen, macht uns zu Nichtverstehenden, Nichtwissenden und damit zu Fragenden. Gleichzeitig kommt in diesen Fragen zum Ausdruck, dass wir nicht in der Lage sind, befriedigende Antworten zu finden. Jedes Warum zieht ein weiteres nach sich. Jedes Warum bedeutet eine Chance auf vorübergehende Antwortberuhigung und wirft doch weitere Warums auf. Alle Antworten sind eingeklammert und haben nur provisorischen Charakter. Für den Begleitenden bedeutet dies, dass er Zeuge des LebensEinbruchs wird. Er nimmt in den verzweifelten Fragen des trauernden Menschen wahr, dass dieser nach Antworten sucht. In das bisherige Leben ist der Tod eingebrochen und hat allen Sinn, alle bisher gegebenen Wahrheiten zerbrechen lassen. In der Zeugenschaft ist es Aufgabe des Begleitenden, die Sinn-Losigkeit auszuhalten und sie als Wüstenzeit zu begreifen, aus der irgendwann vielleicht wieder etwas erwachsen kann. Sinnvorschläge zu machen und Antworten auf das Warum geben heißt, Verantwortung für diese Aussagen zu übernehmen. Vielleicht wird der Klient krampfhaft versuchen, die fremde Antwort anzunehmen, an sie zu glauben. Diese fremde Antwort ist wie eine Prothese, die zwar im Moment hilft, aber nie zum eigenen Körperteil wird. Er wird dann spüren: Es ist nicht seine Antwort, es ist nicht sein Bein, sondern ein Ersatz. Und möglicherweise heftige Phantomschmerzen erleiden. Wenn der Nebel sich lichtet und der trauernde Mensch beginnt, sich der existenziellen Anfrage zu stellen, die der Tod mit sich bringt, dann kann die Zeugenschaft sich langsam mit auf die

Zukunft richten. Als Ein-Bruchzeuge wird sie den Schwerpunkt der Begleitung auf die Beziehung zwischen ihr und der Klientin legen und versuchen, durch Unterstützung den Boden zu festigen, um von da den Aufstieg – der aus unzähligen Vor- und Rückschritten besteht – zu wagen. Auf-Bruch-Zeugenschaft Glaubte der Mensch in der Einbruch-Zeit, er käme nie mehr aus der Hölle der Aussichtslosigkeit heraus, beginnen irgendwann tastende Versuche in Richtung Wiederherstellung wie von selbst. Es ist kein beherztes, entschlossenes Losgehen, sondern ein vorsichtiger Versuch, in das Leben zurückzukommen. Im Fragekontext des trauernden Menschen kommt jedoch neben (oder nach) der Frage des Warum auch die Frage des Wozu als Ausdruck seines Verlangens nach Sinn ans Licht. Die Qualität des Wozu wird unseres Erachtens sehr deutlich in den Worten von Margit Weidenhöfer-Klingan, die ihren sterbenden Mann pflegte. Sie sagt in ihrem Buch »Der stumme Schrei« (1998): »Ich denke nach über den Sinn des Lebens, über den Sinn des Sterbens. Lohnt sich das alles? Lohnt sich der ganze Aufwand? Lohnt sich alle Liebe, aller Hass, alle Eifersucht? Lohnt sich alles Leid, aller Schmerz? Wozu, wenn plötzlich alles aus ist?« In den Worten von Margit Weidenhöfer-Klingan wird deutlich, dass das Warum und das Wozu unterschiedliche Qualitäten haben. Das Warum ist ein Aufschrei der verletzten Seele, des ohnmächtigen Verstandes, der Wunsch nach einer Antwort, die das Unfassbare erklären kann. Das Warum verweist darauf, dass es einst einen anderen Zustand gegeben hat, einen Zustand, der in der Erinnerung befriedigende Antworten und ein

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sinntragendes Netz implizierte. Das Wozu hingegen wird dem suchenden Menschen Motor für den Blick in die Zukunft, schickt ihn auf die Suche nach seinen eigenen Antworten und auf die höchst individuelle Sinnsuche. Der zutiefst verunsicherte Mensch will seinen Sinn in diesem Geschehen finden, den Sinn in seinem Leben, nicht den Sinn eines anderen. In einer solchen Lebenskrise, in der die Frage nach Sinn sich im Wozu artikuliert, macht sich der Mensch auf den Weg. Indem ein Mensch den Weg der Sinnsuche geht, lernt er sehen und richtet sich auch wieder nach Zukunft aus. Diese Art des Sehens geht weit über den visuellen Aspekt hinaus und verweist auf eine Art geistiger Tiefensicht: So lässt Rainer Maria Rilke seine Romanfigur Malte Laurids Brigge in den Tagebuchaufzeichnungen sprechen: »Ich lerne sehen. Ich weiß nicht, woran es liegt, es geht alles tiefer in mich ein und bleibt nicht an der Stelle stehen, wo es sonst immer zu Ende war. Ich habe ein Inneres, von dem ich nicht wusste. Alles geht jetzt dorthin. Ich weiß nicht, was dort geschieht. Ich lerne sehen. Ja, ich fange an. Es geht noch schlecht. Aber ich will meine Zeit ausnutzen.« Ähnlich drückt es der christliche Pädagoge Johann Amos Comenius aus, der einst sagte: »Ich danke Gott, dass er mich mein ganzes Leben hindurch einen Mann der Sehnsucht hat sein lassen.« In der Sehnsucht, in der sehnenden Suche schließt der Mensch sich auf für Neues, kann er eine andere – vielleicht tiefere, weitere, liebendere Sicht auf das Leben, auf die Welt, auf den Menschen, auf sich selbst und auf Gott gewinnen, kann er dem Geheimnis, in dem wir Menschen leben, näher kommen, kann er sich (wieder) seine individuelle Sinnfülle erschließen. Trauerbegleitende sind nun Zeugen von Aufbruch. Der Klient ist nun mit dem Verstorbenen, mit dem Verlust im Herzen unterwegs. Sie erleben erste tastende Versuche des Klienten, nach vorne, aus der Tiefe nach oben zu schauen. In dieser Beglei-

tungszeit wird es wesentlich sein, die allerkleinsten Veränderungen in Körperhaltung, Mimik, Stimme und Worten zu bemerken. Hier ist es wichtig, die kleinen Worte und Sätze von Hoffnung wahrzunehmen und zu spiegeln. »Vielleicht hätte er gewollt, dass ich mich wieder bunter anziehe …« »Hat er die bunte Kleidung an Ihnen gemocht?« »Ja, er fand mich dann so frisch und jugendlich …« »Wollen Sie es denn einmal probieren, morgen oder demnächst?« »Meinen Sie? Ja, vielleicht …« Sicher wird es auch Rückfälle geben, dann geht vielleicht das Neugewonnene wieder zu Bruch, doch der Aufstieg ist begonnen, und hier gilt es, die zarten Leitersprossen und Wegabschnitte, die sich der trauernde Mensch selbst baut, mit seinen Fragen zu sichern und zu schützen. Das fordert ein hohes Maß an Geduld. Darin mögen sich Begleitende üben. Dr. Sylvia Brathuhn, Diplom-Pädagogin, ist in der psychoonkologischen Beratung und Betreuung an Krebs erkrankter Menschen und ihrer Angehörigen tätig. Sie ist Landesvorsitzende der Frauenselbsthilfe Krebs Rheinland-Pfalz/Saarland e. V., Mitglied der IWG (International Workgroup of Death, Dying and Bereavement); ResilienzCoach, Trainerin in den Bereichen Sterben, Tod, Spiritualität und Kommunikation, Trauerbegleiterin. Monika Müller, M. A., war Leiterin von ALPHA Rheinland, der Ansprechstelle in NRW zur Palliativversorgung, Hospizarbeit und Angehörigenbegleitung mit Sitz in Bonn. Sie ist Dozentin und Supervisorin im Bereich Trauerbegleitung und Spiritual Care. Literatur Marcel, G. (1949). Homo Viator. Philosophie der Hoffnung. Düsseldorf. Palmen, C. (2013). Logbuch eines unbarmherzigen Jahres. Zürich. Rilke, R. M. (1910). Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge. Leipzig. Stroebe, M., Schut, H. (2010). The Dual Process Model of coping with bereavement: A decade on. In: OMEGA – Journal of Death and Dying, 61, 4, S. 273–289. Weidenhöfer-Klingan, M. (1998). Der stumme Schrei. Leben mit einem Sterbenden. Frankfurt a. M.

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Be-SINN-ung in der Krise und darüber hinaus? Rüdiger H. Jung Krisen können Brücken hin zu etwas Neuem sein, aber zunächst einmal sind sie »Spiegel, in die man hineinschauen muss, wenn man sein eigenes Gesicht ungeschminkt sehen will«, so Bijan Amini (2020), Begründer der so genannten Krisenpädagogik. Was erkennen wir beim Blick in den Spiegel unseres Verhaltens während der Pandemie, ausgelöst durch ein bislang unbekanntes Corona-Virus? Welche Brücke hin zu einer persönlichen Entwicklung haben wir betreten? Vor dem Versuch einer Antwort ist zu klären, was mit diesen Metaphern vom Spiegel und den Brücken gemeint ist. Von schicksalhaften Ereignis­ sen – Einzelschicksalen wie der Verlust eines nahestehenden Menschen oder kollektiven Schicksalen wie eine Epidemie – werden wir Menschen stets als körperlich-psychischgeistige Einheit erfasst. In dieser Einheit ist mit dem Geistigen eine Dimension (Schicht, Sphäre) angesprochen, die nach einem guten, einem wertvollen In-der-Welt-Sein strebt (Selbsttranszendenz) und mit der wir zugleich auf die beiden anderen Dimensionen, unser Psychophysikum, schauen können (Selbstdistanz). Die Selbstdistanz ermöglicht den Blick in den Spiegel. Je nachdem, was wir darin erkennen (bloße Trauer über einen Verlust oder Dankbarkeit für das wertvoll Gelebte, bloße Angst vor einer Gefahr oder achtsame Gelassenheit, Bekanntes und Unbekanntes, Gewolltes und Ungewolltes) oder auch vermissen, kann ein Wille zur Veränderung entstehen. Vielleicht er-

kennen wir ein Verhaltensmuster (beispielsweise eine ungute Abhängigkeit), welches uns gerade in der Krise so bewusst wird, dass wir uns nicht länger davon beherrschen lassen wollen. Es entsteht eine Energie, ein besonderer Wille, den Viktor E. Frankl (1946/2007), Begründer der Logotherapie als sinnorientierter Psychotherapie, »Trotzmacht des Geistes« genannt hat. Vielleicht entdecken wir eine Fähigkeit (beispielsweise eine handwerkliche Kreativität oder ein Mut machendes Auftreten), welche wir so gar nicht von uns kannten, deren Wert uns nun bewusst wird. Die Trotzmacht des Geistigen hat sich im Zuge der Krise vielleicht, ohne dass uns dies so richtig bewusst war, bereits in Haltung und Tat gezeigt, weil wir uns nicht auf unser Psychophysikum reduzie­ren ­lassen. Das Geistige als das ei­ gentlich Freie im Menschen will uns mit Werten in Verbindung bringen, will immer eine Antwort auf das Wozu unserer Existenz, will Sinn. Darin liegt die Kraft für Entwicklung und Veränderung, das Betreten von Brücken für eine Erweiterung unseres Horizonts. Wenn im Zusammenhang mit Krisen einer veränderten Werteorientierung und einem gestärktem Sinnbewusstsein das Wort geredet wird – was regelmäßig geschieht –, dann sind Skepsis und Hoffnung zugleich berechtigt. Skepsis deshalb, weil Krisen zunächst einmal Hochzeiten unserer Psyche sind: Nahezu automatisch meldet sich Angst. Je nach Art der Krise gibt es viel zu verlieren: materielle Sicherheit,

Leidfaden, Heft 4 / 2020, S. 72–75, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2020, ISSN 2192-1202

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selbstverständlich gewordene Gewohnheiten, die Gemeinsamkeit mit geliebten Menschen bis hin zur eigenen Gesundheit und dem eigenen Leben. Wenn wir uns davon komplett vereinnahmen lassen, uns ganz der Angst hingeben, dann leben wir während der Krise in einer Enge, die geradezu körperlich spürbar ist. Es ist eine Enge, die uns den aufrechten Blick in den Spiegel erschwert und den Zugang zur geistigen Freiheit mit ihrer Wertsichtigkeit und Sinnstrebigkeit verstellen kann. Hoffnung kommt aus der Möglichkeit, dass wir uns trotz oder gerade wegen einer Krise als geistige Person ansprechen lassen. Dass wir bereit sind, selbstkritisch in den Spiegel zu schauen, dass wir unsere Einstellungen und täglichen Handlungen auf ihren Wertebezug hin prüfen, dass wir unseren Blick nicht verengen auf den drohenden Verlust, sondern weiten hin zu den Möglichkeiten für eine wertvolle Haltung und ein wertvolles Tätigsein. Der Sinn einer Krise kann gerade darin liegen, wachzurütteln und aufmerksam zu machen auf Möglichkeiten einer sinnvollen Existenz, die wir bislang nicht wahrgenommen oder nicht konsequent gelebt haben. Bevor ich diese Überlegungen auf die sogenannte Corona-Krise beziehe, ist ein persönliches Bekenntnis geboten: Ja, ich wünsche mir Veränderung – eine Besinnung von uns Menschen auf das beglückende Sinnfühlen eines bewussten werteorientierten Alltags, ein Verlassen des Irrwegs zum Immer-mehr-haben-Müssen und eine aktive Hinwendung zum Sein-Wollen, ein vertrauensvolles Sich-Einlassen auf die Weisheit unseres Herzens als Schlüssel oder Brücke zu einer sinnerfüllten Existenz. Dies ist auch angesichts der fundamentalen Krise hinter der Krise, nämlich der Umwelt- und Klimakrise, geboten. So gesehen geht es um eine Anfrage an jede und

jeden von uns, weshalb sich die folgenden Gedanken – ungeachtet der Bedeutung der Corona-­ Krise für zukünftige Politik, Wirtschaft, Bürgergesellschaft und so weiter – weitestgehend auf die individuelle Ebene beziehen. Psychologisch betrachtet, ist die Antwort auf die Frage, was wir mitnehmen in die Zeit nach der Krise, leichter und auch allgemeiner zu beantworten. Wer die Corona-Pandemie gesundheitlich unbeschadet überlebt, wird vielleicht ein Stück gelassener werden im Umgang mit zukünftigen größeren oder kleineren Krisensituationen. Nicht auszuschließen ist überdies die Botschaft der inneren Antreiber des Egos: Ich bin noch mal entkommen. Jetzt aber gilt es nachzuholen, und das möglichst doppelt und dreifach. Wer weiß schon, wann die nächste Krise kommt. In der geistigen Dimension, da, wo wir unser Handeln hinterfragen und unsere Wertsichtigkeit nutzen, wo wir den Zusammenhang zwischen wertebezogenen Haltungen und Taten und dem Fühlen von Sinn spüren, wo das Sein-Können stets mehr ist als das bislang gelebte Sein, wo sich der Entwicklungsraum für unser Sein aufspannt, fällt eine Einschätzung deutlich schwerer. Ich sehe einen großen Spiegel, in den wir gemeinsam hineinschauen und in dem wir uns als jäh ausgebremste Akteure (vielleicht auch als Ignoranten) in einem komplexen Natur-MenschZusammenhang sehen. Es drängen sich Fragen auf nach dem eigenen Anteil an der Krise, nach Verhaltenskonsequenzen, nach dem Wozu der Ökonomisierung aller Lebensbereiche. Der Philosoph Richard David Precht hat in mehreren öffentlichen Auftritten zur Corona-Krise darauf hingewiesen, dass die Fenster, um in Alternativen zu denken, plötzlich weit auf stehen – mit aller Skepsis, ob wir die sich bietende Chance nutzen.

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Ich sehe unzählige kleine, individuelle Spiegel. In sie schauen wir mit unserer je eigenen Lebens- und Handlungssituation in der Krise. Das politisch angeordnete Herunterfahren des öffentlichen Lebens hat nicht alle in eine Situation fortwährenden sozialen Entzugs gebracht. Auch in der Hochphase der Schließungen und Ausgangssperren sind immer noch Millionen von Menschen einer Arbeit nachgegangen, um Alte und Kranke zu versorgen, Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen aufrechtzuerhalten, kirchliche und ärztliche Seelsorge zu ermöglichen, Güterproduktion sowie deren Verteilung und Verkauf zu ermöglichen, Müll zu entsorgen oder vom in den eigenen Haushalt verlagerten Dozentenplatz Bildungsarbeit zu gestalten. Alle mussten mühsame organisatorische Anpassungen, nicht wenige auch die Gefahr eigener Erkrankung in Kauf nehmen – weshalb das Pflegepersonal höhere Entlohnung versprochen bekam und gemeinsam mit Kassiererinnen im Lebensmittelmarkt wie Müllmännern auf der Straße zu Helden in der Krise erklärt wurde. Sich in der Krise mutig, gestaltend und wirkungsvoll zu erleben, so mühsam das sein mag, nährt existenzielles Sinnfühlen: gut, dass ich trotz aller Widrigkeiten für andere da sein konnte. Den virtuellen Aufkleber »systemrelevant für eine menschliche Gesellschaft« verdienen jedoch auch jene, die es gewohnt sind, in karitativen und diakonischen Einrichtungen, in Selbsthilfegruppen, Trauercafés, Besuchsdiensten, Obdachlosenhilfen und vielem anderen mehr zu helfen, aber wegen Kontaktsperre nicht durften – sozusagen die verhinderten Heldinnen und Helden. Viele mussten gemeinsam mit ihrer Klientel schmerzhaft erfahren, dass der wertvollste Kern ihres Engagements, die mitmenschliche Zuwendung, persönliche Begegnung erfordert. Auch in der kreativsten Begegnungsalternative wurde deutlich, dass der berührende (!) Moment im tätigen Realisieren mitmenschlicher Werte eben doch auch körperliche Nähe erfordert. Ob nun beruflich tätig oder als »nicht systemrelevant« aus dem Verkehr genommen – mehr

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oder weniger alle waren doch aufgrund der Beschränkungen zurückgeworfen auf sich selbst und die Frage, wie das alltägliche Leben gestaltet werden soll. Was hat der Blick in den Spiegel neben Angst vor Erkrankung und Dankbarkeit oder Unverständnis für die politischen Entscheidungen uns verdeutlicht? Abhängigkeit oder Freiheit? Hilf-

loses Warten auf Rückkehr der »alten« Zustände und Versinken in den Untiefen der TV- und Video-Unterhaltung oder aktiver gestalterischer Umgang mit einem unerwarteten Geschenk an Zeit: Spaziergänge mit einem achtsamen Blick für Naturoffenbarung, Hinwendung zu einem Menschen, der gerade jetzt Zuwendung und Unterstützung benötigt, (Wieder-)Entdeckung von handwerklichen oder musischen Interessen? Wem ist vor dem Spiegel die Frage begegnet: Brauche ich das, was mir jetzt krisenbedingt nicht möglich ist, wirklich für ein gutes, sinnerfülltes Leben? Haben wir uns angefragt gefühlt in unserer grundsätzlichen Möglichkeit und Fähigkeit, der Stunde, dem Tag, dem Leben durch Haltung und Tat einen Sinn zu geben? Hat das HabenMüssen an Bedeutung verloren, weil wir den wunderbaren Wert von Sein-Können gespürt haben? Für eine Entwicklung entscheidend ist, dass wir in der Krise vom Wert einer Haltung oder eines Tuns wirklich berührt worden sind. Ansonsten spüren wir nicht, was wir verlieren, wenn wir nach der Krise bloß zurückkehren wollen zum vorher gewohnten Leben. Die Brücken der Entwicklung wären dann zwar betreten, aber (noch) nicht überschritten worden.

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Prof. Dr. Rüdiger H. Jung studierte Wirtschaftswissenschaften und Sozialpsychologie und war bis zu seiner Emeritierung Professor für Management/Führung und Organisationsentwicklung an der Hochschule Koblenz. Jung hat eine Ausbildung in Logotherapie und Existenz­analyse und ist seit vielen Jahren auch Berater von Führungskräften. Kontakt: [email protected] Website: www.rhj-institut.de Literatur Amini, B. (2020). Krisen im Leben und Arbeitsleben  – Chancen zum Wachsen. In: Krisennavigator, 23, 4. (www. krisennavigator.de). Frankl, V. E. (1946/2007). Ärztliche Seelsorge. Grundlagen der Logotherapie und Existenzanalyse. 11., überarb. Neuauflage. München. Jung, R. H. (2019). Besinnt euch! Ein Plädoyer für das Menschliche. Stuttgart.

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Krise: Übergang in eine neue Welt1 Heinz-Ulrich Nennen

Belastungsprobe für die Psyche Eines ist gewiss, die Corona-Krise wird ein Datum der Zivilisationsgeschichte. Im kollektiven Gedächtnis sind bereits viele andere Katastrophen gespeichert: Meteoriteneinschläge, Vulkanausbrüche, Erdbeben, Tsunamis, aber auch Dürrezeiten, Heuschrecken, Hungersnöte oder eben Pest und Cholera, die nicht von ungefähr eine unheilige Allianz bilden als geflügeltes Wort. Hinzugekommen sind technische Katastrophen, Weltkriege und Klimaveränderungen im globalen Maßstab. Die Vulnerabilität, also die Anfälligkeit, die Verwundbarkeit, die Verletzlichkeit ist in unserer zivilisierten Gesellschaft immer größer geworden, unabhängig davon, wie viele Vorkehrungsmaßnahmen auf den unterschiedlichsten Ebenen getroffen werden. Das Thema Resilienz, als Widerstandsfähigkeit vor allem auf psychischer Ebene, gewinnt zunehmend an Bedeutung. In der Tat ist die Verfassung unserer Psyche gerade in Krisenzeiten von erheblicher Bedeutung. Im Prinzip hängt sogar fast alles davon ab: Zwar wird man das geschehende Unheil und das kommende Schicksal nicht mehr verhindern können, es ist jedoch entscheidend, in welcher psychischen Verfassung einer Bedrohung »entgegengetreten« wird. Reaktionen wie Apathie, Selbstaufgabe, Wahnvorstellungen, Panikreaktionen, Nervenzusammenbrüche, purer Aktionismus oder Überreaktionen können dann die Folge sein, wenn sich die Psyche nicht mehr sicher wähnt. Wir Menschen haben Angst, und wir machen sie uns auch. Wir haben Sorge und machen sie uns. Das ist die Seite unserer eigenen Verletzbar-

keit. Auf der anderen Seite steht hoffentlich unsere Resilienz mit eindrucksvoller Kraft. Sie kann ebenso vielfältig auftreten wie die Angst und sie verfügt über erforderliche Gegenmittel: Erfahrung, Hoffnung, Zuversicht und eine gewisse Haltung. Der Mensch ist auch in Krisenzeiten nicht allein, nicht mal in sich selbst. Er ist nicht verlassen und verloren, sondern hat eben gute Geister in und um sich. Problematisch werden solche Situationen, wenn der Horror des Ausgesetztseins aufkommt. Wenn Geist und Wille auf der einen, Körper und Seele auf der anderen Seite einfach den Zusammenhalt verlieren, dann ist die Psyche in keiner guten Verfassung. Sie verliert den Halt in sich und alles scheint zu entgleiten. Um dieser Haltlosigkeit entgegentreten zu können, gibt es Vorkehrungen. Zu anderen Zeiten wurde »Disziplin« gefordert, heute würde man eher von Haltung sprechen. Sich im Zweifelsfall ganz bewusst so zu kontrollieren, dass alles, was uns ausmacht, beisammenbleibt, das ist Haltung. Dabei ist es nicht problematisch, sondern vielmehr hilfreich, die aufkommenden Emotionen zuzulassen. Sie sind als Ausdruck der Trauer von erheblicher Bedeutung. Wird sie verweigert, verdrängt oder einfach verschoben, dann bleibt etwas von der vormaligen Welt und wartet nur darauf, die verweigerte Trauerarbeit doch noch zu erlangen. Der Homo faber von Max Frisch (1957) ist ein warnendes Beispiel. Für ihn zählen angeblich nur Zahlen, er gefällt sich darin, Emotionen gar nicht ernst zu nehmen. Dabei trägt er eine tiefe Trauer mit sich herum, die schmerzhafte Trennung von einer Frau, die ihn vor Jahrzehnten verlassen hat. Er verdrängt es. Verdrängung ist selbst bereits

Leidfaden, Heft 4 / 2020, S. 76–78, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2020, ISSN 2192-1202

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Haltung und Selbstbewusstsein Die Haltung zu wahren, bedeutet, die eigene Ganzheitlichkeit immer wieder herstellen zu können. Das ist es, worauf das eigene Selbst sich gründet. Es zeigt sich, wenn wir über uns selbst sprechen, uns selbst kennen und verstehen. Haltung bedeutet, sich gut genug selbst zu kennen, sich selbst beraten, beistehen, sich seiner selbst bewusst sein zu können. Unser Selbstbewusstsein dürfte im Namen unseres Selbstverständnisses und mit der eigenen Selbsterfahrung im Bunde ziemlich genau wissen, wo unsere Stärken und Schwächen liegen. Das alles gehört und ergibt zusammen die nötige Sicherheit, sich selbst eine Haltung zu geben, sie mit ureigenem Sinn zu beseelen, um das Leben zu leben, so wie es zu einem gehört. Wir können eine Krise schließlich nur als ganzheitlicher Mensch meistern, auch wenn sich diese Ganzheit aus allen erdenklichen unterschiedlichen Teilen zusammensetzt. Ihnen allen muss Raum gewährt werden, alles andere wäre Verdrängung. Wobei natürlich auch Verdrängung für eine gewisse Zeit rettend sein kann, wenn das Selbst noch nicht bereit ist, die Konfrontation mit einem Schicksalsschlag zu ertragen. Nach einer gewissen

Zeit jedoch muss auch gesagt werden, dass es an der Zeit ist weiterzuziehen. Dabei darf die Trauer nicht einfach nur zurückgelassen, sondern muss mitgenommen werden, ansonsten wird sie sich sperren gegen jede Entwicklung, die wegführt aus der Welt, die eigentlich längst nicht mehr ist. Eine Krise betrifft immer das Ganze, sie kann daher auch nur in Ganzheit angegangen und aufgelöst werden. Nicht selten wird mit Nachdruck gefordert, man möge sich endlich »zusammenreißen«, auch das ist oft falsch. Es kommt nicht in erster Linie darauf an, wie wir nach außen wirken. Sollen andere ruhig sehen, dass der Fall ist, was sie ohnehin wissen. Entscheidend ist eher, wie wir mit uns selbst umgehen, wenn es in unserem Inneren stürmt und bebt, wenn wir geflutet werden mit Emotionen, die alle ihre Berechtigung haben, mit denen der Kopf aber so, in dieser überwälti-

William Turner, Light and Colour (Goethe’s Theory) The Morning after the Deluge, ca. 1843 / INTERFOTO / Granger, NYC

eine Art der Dissoziation, ein Teil des eigenen Selbst wird nicht ernst genommen. Das ist deswegen nicht ratsam, weil wir nur als ganzheitlicher Mensch auf den Weg gehen können, von der einen Welt in die nächste. Selbstverständlich gehören Emotionen mit dazu, ganz anders, als viele Männer glauben. Selbstverständlich gehören Geist und Rationalität auch mit dazu, ganz anders als manche Frauen glauben.

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genden Macht, einfach nicht umgehen kann. Wir sollten, ja wir müssen den Prozess moderieren, eben verlangsamen, also immer nur einige dieser Emotionen zugleich zulassen, nicht alle auf einmal. Das wäre Haltung. Sich zusammenreißen, das würde bedeuten, durch eine viel zu starre Haltung einfach nur Gewalt anzuwenden – gegen sich selbst. Anstatt zu moderieren, um ein inneres Einvernehmen zu erzielen, würde die Einheit lediglich erzwungen. Sich über die inneren Widersprüche hinwegsetzen, ohne sie miteinander vermittelt zu haben, das kann nicht gut ausgehen. So zeigt sich, wie anspruchsvoll die richtige Haltung eigentlich ist. Wo sie aber vorhanden ist, dort ist sie auch spürbar. Daher wird sie zu Recht als Weisheit beschrieben und auch so aufgefasst. Dabei ist es von ganz besonderer Bedeutung, genauer in Erfahrung zu bringen, ob sich solche Weisheit dann auch zeigt in der Art und Weise, wie in Krisenzeiten agiert wird. In der Krise kommt es auf Wohlberatenheit an und eine Haltung, die auch in turbulenten Zeiten noch eine gewisse Gelassenheit an den Tag legen kann. Es gilt, die notwendigen Diskurse in der eigenen Psyche (ebenso, wie in der Gesellschaft) zuzulassen und so zu moderieren, dass eben genau das dabei entsteht, worauf es in Krisen- und Übergangszeiten ankommt: Wohlberatenheit und Gelassenheit. Die Krise ist, wie das Niemandsland, so etwas wie eine Niemandszeit, so wie wir es gerade mit dem Lockdown in der Corona-Krise erleben beziehungsweise erlebt haben und vielleicht wieder erleben werden. Etwas tiefer betrachtet ließe sich konstatieren, dass die alte Welt sich selbst überdrüssig war. Alles wurde immer radikaler, oberflächlicher und hektischer. Und nun scheint es, als hätte die bisherige Welt ein Burnout, als hätte man notgedrungen die Gelegenheit ergriffen, die Langsamkeit neu zu entdecken. Danach wird vieles anders werden, womit sich zeigt, dass Krisen auch Chancen bieten, vieles neu und besser zu machen. Dazu braucht es

Übergangszeiten, denn es wäre völlig verfehlt zu glauben, man könnte einfach so umschalten und wechseln, von der einen Welt in die nächste, von einer Zeit in die andere. Der Weg ist das Ziel und das Ziel ist dieser Übergang, der eine Zäsur darstellt, in einer Zeit, in der das Alte nicht mehr und das Neue noch nicht gilt. Auf den Weg kommt es an, es gilt, gewisse Stationen der Reihe nach zu absolvieren, die mit unterschiedlichsten Herausforderungen aufwarten. Alle Märchen erzählen diese Geschichte immer wieder neu, und selbst die berühmtesten Mythen, wie etwa der von König Gilgamesch, operieren nach demselben Muster, das einer Initiation. In allen diesen Geschichten geht es um einen schicksalhaften Übergang: Die bisherige Welt war nicht mehr zu halten, sie ist untergegangen. Das war eigentlich schon seit geraumer Zeit spürbar, denn sie war längst nicht mehr die wirkliche, wahre und vertrauenswürdige Welt, die sie einmal gewesen ist. Nun beginnt bald schon ein neues Leben, aber der Weg dorthin muss mit allen Widrigkeiten, Herausforderungen und existenziellen Anfragen erst noch beschritten werden. Der Weg zum Übergang von der bisherigen Welt in die neue, andere, vielleicht ja auch bessere Welt, beginnt mit einem einzigen Schritt. Prof. Dr. Heinz-Ulrich Nennen ist Professor für Philosophie am Karlsruher Institut für Technologie (KIT). Er betreibt einen Philosophischen Salon im Literaturhaus Karlsruhe, eine Philosophische Ambulanz in Karlsruhe und darüber hinaus eine Philosophische Praxis in Münster. Kontakt: heinz-ulrich.nennen@ t-online.de Homepage: www.nennen-online.de Literatur Frisch, M. (1957). Homo faber. Ein Bericht. Frankfurt a. M. Anmerkung 1 Grundgedanken dieses Artikels wurden bereits veröffentlicht in: Heinz-Ulrich Nennen: Philosophie in Echtzeit: Der Corona-Diskurs als Katharsis. Panik, Absturz, Krise und Transformation. Hamburg: tredition, 2020.

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Leerstelle macht Sinn In Zeiten der Krise

Matthias Schnegg Es kann leicht eine tüchtige Herausforderung sein, wenn wir plötzlich auf uns selbst geworfen sind. Dann kommen Traurigkeit, Wehmut auf, vielleicht ein Gieren danach, dass alles wenigstens einen Sinn hat. Diese Überlegungen schreibe ich mitten in der Corona-Epidemie. Sie hat uns in nicht vorstellbarem Tempo aus der Geschwindigkeit der Lebensbewältigung ausgebremst. Für viele eine Vollbremsung mit gravierenden Folgen: existenziell, gesellschaftlich, ökonomisch – und auch spirituell. Was mit sich anfangen, wenn die Routine keine Gewissheit der Lebendigkeit mehr ist? Manche erleben diese Umstände als eine Öffnung zur Sinnfrage hin. Manche fürchten eine Öffnung, die sich wie ein Abgrund auftut. Corona – eine unbeirrbare, emotionsfreie Naturgewalt, wie Tsunami und Vulkanausbruch. Heißt das, dass es außer dem Ablauf der Gesetzmäßigkeiten der Natur keinen Sinn hat? Das wäre schwer auszuhalten. Wenn wir schon nicht die Frage beantworten können, warum all das ist, dann wollen wir doch wenigstens wissen, wozu es geschieht. Wir forschen nach Gründen. Irgendeinen, möglichst auch verantwortlich zu machenden Sinn muss es doch geben. Ein Suchen, das in der Trauer nicht selten mit der Suche nach Schuldigen verbunden wird. Ist Grund-los auch Sinn-los? Angst vor der Leerstelle Wir haben unsere je eigenen Strategien, mit Bedrohungen umzugehen. Leere, die nun an Stellen der selbstverständlichen Verfügbarkeit entstanden ist, schreit geradezu danach, nicht lange ausgehalten sein zu müssen. Das Naheliegende

ist, diese entstandenen Leerstellen möglichst bald zu füllen, aus Angst, der Leere hilflos ausgesetzt zu sein. So bekommen wir in Zeiten der CoronaKrise sehr viele Nachrichten – nicht nur persönliche, die Anteilnahme und Mitgehen ausdrücken. Es sind Nachrichten von Menschen, die mal mehr, mal weniger kluge Gedanken zur Situation äußern. Tägliche Podcasts entstehen, Videos – gottlob auch solche, die zum Lachen bringen – werden von Account zu Account weitergeleitet. Und dann Livestreams – von vielen Begegnungen, zum Beispiel auch von Gottesdiensten aus den Heimatgemeinden. Viele, die meinen, eine gesellschaftliche Relevanz zu haben, verschicken Trostbotschaften, übermitteln eine Art der Verbundenheit, die sich bei näherem Hinschauen gar als einseitig erweist. Es scheint einem Bedürfnis vieler zu entsprechen, diese Leerstellen wenigstens ersatzweise ausgefüllt zu sehen. So als könne man sich unter den gegebenen Einschränkungen wieder komplett machen. Und komplett bedeutet, sich wenigstens ansatzweise so weiter bewegen zu können, wie es vertraut, wie es bisher auch sinnstiftend gelebt worden ist. Die Kraft der Gegenwehr Aus existenziellen persönlichen Krisen wissen viele zu berichten, dass es einem natürlichen Impuls entspricht, sich so lange wie möglich einer sich anbahnenden fundamentalen Auslöschung des Vertrauten mit noch so banalen Ersatzhandlungen zu widersetzen. Wie ein zu ertrinken Drohender, der reflexartig rudert, um sich dem Abgrund zu entreißen. Ähnlich erleben wir auch Krisen wie die, der wir in Corona-Zeiten ausgesetzt sind.

Leidfaden, Heft 4 / 2020, S. 79–81, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2020, ISSN 2192-1202

Holy Spirit, Miniatur, 15. Jh. / Fototeca Gilardi / Bridgeman Images

Ich begriff diese weltumspannende Krise im Mi­ kro­kosmos meines eigenen Lebens als eine Herausforderung, mich dieser entstandenen Leerstelle – zum Beispiel durch wegfallende Aktivitäten – zu stellen. Das bedeutet, dass ich nicht mit Ersatzprogramm reagiere. Ich produziere keinen Livestream, keinen Podcast, nichts außer den über die Jahre erscheinenden wöchentlichen Gemeindenachrichten. Ich versuche, die Leere auszuhalten und – so es sich ergeben wird – auch zu gestalten. Gestalten bedeutet nicht, sie mit Ersatz zu befüllen. Gestalten heißt, Impulse wahrzunehmen, die mir Hinweis sein werden, was zu tun ist.

Kein vergeistigter Stillstand Die Leerstelle auszuhalten bedeutet nicht, auf einem Meditationshöckerchen die Welt sich selbst überlassen zu sehen. Das Aushalten beinhaltet tatsächlich eine feste Zeit am Tag, in der das Schweigen und Ausharren angesagt sind. Schweigen, in das hinein Erkenntnisse wachsen können – in meiner Sprache heißt das: dem Geist Raum zu überlassen, auf dass er dahinein sprechen kann. Ich bin überzeugt, dass er dahinein spricht – und für mich persönlich auch gesprochen hat. Ein solcher Einspruch des Geistes kann in ein Tun kon-

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kreten diakonischen Handelns münden – wenn es dem Bedarf entspricht und nicht dem eigenen Begehren, doch etwas tun zu müssen. Wozu aber die Leerstelle aushalten wollen? Ist das eine akademische Arroganz? Ist das eine eigene Form des Egoismus, der immer etwas machen will, was die anderen nicht machen? Ist es gar eine Form der Selbstverliebtheit jenseits der Wirklichkeit? Oder ist es eine Weltverweigerung? Oder etwa eine Selbstkasteiung? Leerstellen entstehen da, wo etwas nicht mehr ist wie bisher. Leerstellen können Freiraum werden, damit Neues entstehen kann. Das ist ein evolutiver Prozess, der geradezu einlädt, Neuem Raum zu öffnen und eventuell an einer Stufe der Entwicklung mitwirken zu dürfen. Auch spirituelles Leben steht unter dem Geschehen der Entwicklung, der Reifung, der Evolution. Kapitulation als Weg Für mich verbindet sich der Gedanke der Evolution auch mit dem der Kapitulation. Vor der Möglichkeit des Neuen steht oft der Abschied vom Alten. Liebgewonnen Vertrautes kann seinen wohligen Geschmack verloren und sich in Gift verwandelt haben. Viele kennen ein solches evolutives Aufbrechen: Da sind liebgewordene Gewohnheiten, liebgewordene Bindungen – und irgendwann merken wir, dass es nicht mehr stimmt. Dann sind wir meist nicht am Ziel, sondern werden über Umwege geschickt: Oft leitet uns ein Drang, diese Erkenntnis über das vergehende Alte zu unterdrücken; dann kennen wir auch den Wunsch nach Ersatzbefüllungen dessen, was sich für uns mehr und mehr auflöst. Wie das Wasser, das aus einer oben und unten dichten Flasche dennoch stetig herausläuft. Am Ende die Leere. Die ist tatsächlich schwer auszuhalten. Das hat damit zu tun, dass in der Leere erst einmal spürbar wird, dass nicht alles verfügbar, nicht alles beeinflussbar ist. Nicht einmal ein Sinn ist zu erkennen. Dabei brauchten wir einen Sinn,

um besser durchhalten, die Leere überwinden zu können. Geschenkter Sinn Auch Sinn ist nicht nur verfügbar, ist schon gar nicht beliebig produzierbar. Sinn verweist auf eine Dimension, die sich jenseits unserer Steuerbarkeit bewegen kann. Das Durchleben einer Leerstelle ist dann wie das Hinhorchen auf das, was von woanders kommen kann. Selbst da eine Ungewissheit, die diese Unverfügbarkeit unterstreicht: Gern wollten wir eine Kapitulation selbst steuern, verbunden mit dem heimlichen Wunsch, dass automatisch nach der Kapitulation das Neue sich einstellen wird. Kapitulation aber ist bedingungsloses Aufgeben und bestenfalls ein Sich-Öffnen, Sich-Einlassen auf das, was geschehen kann. Nicht wenige kennen diese Erfahrung der Kapitulation, kennen das zitternde Wagnis, sich dem vermeintlichen Nichts-Mehr überlassen zu müssen. Ebenso nicht wenige können nach dieser Hingabe in das Noch-Nicht des Anderen von Erfahrungen an Weite und gelassener Freiheit erzählen. Diese Art der Freiheit ist dann keine Beliebigkeit, sondern eine Freiheit des Sich-überlassen-Könnens, des Vertrauens, das sich aus anderem als dem selbst Steuerbaren nährt. In meinem Sprachgebrauch ist es das Wagnis, dem Geist, den Heiligen Geist zu trauen, dass die Leere sich als ein Raum erweist, in den diese Lebenskraft sprechen kann. Da wird nicht Sinn gemacht, sondern er geschieht. Dann ist die Welt nicht mehr, wie sie war. Anders, aber keineswegs immer schlechter. Leerstellen machen nicht den Sinn, aber es macht Sinn, sie zuzulassen. Matthias Schnegg, Pfarrer zweier Kölner Altstadtkirchen, Mitgründer des Hospiz in Frechen e. V., Dozent im Kontext Palliativ und Hospiz, Psychodramaleiter. Kontakt: [email protected]

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AUS DER REDAKTION

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Corona-Gedanken und Corona-Fragen

Digitaler Trost für Sterbende Reiner Sörries Mai 2020 Mit dem Schwerpunkt Digitalisierung erschien Heft 1/2020 von Leidfaden, das Dorothee Bürgi und ich als Herausgeber verantwortet haben. Es sollte kein Jubelheft auf die Errungenschaften der digitalen Techniken werden, aber es sollte schon nachdrücklich darauf hinweisen, welche Erleichterungen in der Kommunikation oder im Pflegealltag, welche Möglichkeiten die neuen Medien auch im therapeutischen und seelsorglichen Bereich bereithielten. Während der Entstehungszeit des Heftes und noch bei seinem Erscheinen haben wir allerdings keinen Augenblick daran gedacht, dass wenige Wochen später die digitalen Medien, die sozialen Netzwerke, Podcasts und Mediatheken in vielen Bereichen die letztverbliebene Möglichkeit boten, miteinander in Kontakt zu treten. Webinare statt Seminare, Online-Gottes­dienste statt Zusammenkommen in der Kirche oder die Bestattungsfeier per Livestream, um nur einige Beispiele zu nennen. Selbst Sterbende durften weder von Angehörigen noch von Seelsorgerinnen oder Seelsorgern besucht werden. Die evangelische Nordkirche suchte händeringend nach Tablets, damit Menschen im Hospiz, im Pflegeheim oder im Krankenhaus noch einen letzten Hauch zwischenmenschlicher Begegnung erleben durften. Beim Schreiben dieses kurzen Beitrags ist es Anfang Mai, und die Politik sucht ebenso hän-

deringend wie spekulierend nach Lockerungen der unbedingten Abstandsgebote, wobei sie zunehmend unter ökonomischen Druck gerät. Nachdenklich stimmte mich die Äußerung des Bürgerbeauftragten von Mecklenburg-Vorpommern, Matthias Crone, die am 2. Mai verbreitet wurde: »Es kann nicht immer der körperliche Schutz von Menschen Vorrang haben. Jetzt muss es auch um seelische Gesundheit und seelische Immunität gehen.« Ob aber in absehbarer Zeit und weiterer Zukunft die Verhältnisse wieder so werden wie vor Corona, steht ebenso in den Sternen wie ein Ende der Pandemie. Könnten nicht die auferlegten Beschränkungen zur Blaupause für zukünftiges Verhalten werden? Waren beispielsweise Geistliche wie Bestattende gehalten, ihre Trauergespräche telefonisch oder digital zu führen, und es hat irgendwie auch funktioniert, warum sollte man es in Zukunft wieder anders halten? Erspart es doch Zeit und Wege. Hatten nicht Discount-Bestattungs­institute schon vor ­Corona ihre Dienste auf dem Weg der unpersönlichen Fernkommunikation angeboten? Hatten nicht schon vor Corona die ersten Trauerhallen die technischen Einrichtungen für eine OnlineÜbertragung der Trauerfeier installiert? Ganz zu schweigen von Telefonseelsorge und Fernsehgottesdiensten, die es schon seit Jahrzehnten gibt. Selbst jene, die vormals als Bedenkenträger hinsichtlich einer digitalisierten Welt ­auftraten,

Leidfaden, Heft 4 / 2020, S. 82–89, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2020, ISSN 2192-1202

A u s d e r R e d a k t i o n    8 3

halten Facebook & Co. nun für der Weisheit letzten Schluss. Hat es nicht sogar Charme, zum sonntäglichen Gottesdienst nicht mehr pünktlich am Sonntagmorgen erscheinen zu müssen, sondern ihn zur selbst gewählten Zeit, gegebenenfalls in Pantoffeln und mit einem Getränk neben dem Monitor, abrufen zu können? Warum nicht die Bestattungsfeier im Nachhinein zu verfolgen,

wenn es mir erspart, einen Tag Urlaub nehmen zu müssen? Ja. Bei der Arbeit am Digitalisierungsheft waren Dorothee Bürgi und ich durchaus der Meinung, dass sich die Verhältnisse ändern werden. Dass sich der Wandel ganz entschieden und praktisch von heute auf morgen verändert, das war uns nicht bewusst.

Blog-Einträge Monika Müller 10. Dezember 2019 Ich nehme Kenntnis von einem Virus, das im fernen Asien Menschen befällt und gar tötet. Die Äußerungen eines chinesischen Diplomaten auf Twitter haben die Spannungen zwischen den USA und China weiter verschärft. »Es könnte das USMilitär gewesen sein, das die Epidemie nach Wuhan gebracht hat«, schrieb der Sprecher des chinesischen Außenministeriums Zhao Lijian auf seinem Twitterkanal. »Die USA schulden uns eine Erklärung.« Mit Traurigkeit erinnere ich mich an HIV, das weltweit eine bislang unbekannte, tödliche Bedrohung darstellte. Das war im Jahr 1981, als in Deutschland die Hospizbewegung begann. Als Ordensfrauen mit dem Aufbau der ersten AidsHospize begannen, gab es großen Widerstand in einigen Bevölkerungsteilen und ich hörte Worte von »selbstverschuldeter Seuche«. 27. Januar 2020 Sybille ist in Südindien. Sie schreibt mir kurze Nachrichten und schickt wunderbare Fotos. Eigentlich wäre ich auch da, seit 15 Jahren verbringe ich die Winterferien dort. Ich bekomme Sehnsucht und Reiselust, aber Verpflichtungen wie Seminare und Vorträge halten mich daheim. Sybille schreibt, dass sie nun bald in den Norden

Indiens weiterreisen möchte, weil in Kerala die Hotels schließen. Corona hat nun also auch Indien erreicht. Ich spreche darüber kurz mit einem Freund, der auch schon öfters dort war. Er lässt die Bemerkung fallen: »Eigentlich kein Wunder, dass die es kriegen, bei der mangelnden Hygiene, die dort herrscht. Die baden ja selbst in Flüssen, in die sie Abfälle kippen und nach den Verbrennungen die Leichenasche werfen. Kein Wunder!« 18. Februar 2020 Nun ist es in Europa, dieses seltsame Virus (obschon wir nicht in den Flüssen baden, in welche wir …). Vorgestern wurde aus Frankreich der ers� te Todesfall außerhalb Asiens gemeldet, eine aus China eingereiste Person. Am 23. Februar 2020 wurden aus Italien die ersten beiden Europäer ge� meldet, die an COVID-19 verstarben. Ganz klar, so schreibt die Presse, haben diese Menschen die Infektion von Reisen mitgebracht. Wenn wir uns also von China und Chinesen fernhalten, kann uns nichts passieren. Ist das so? 20. Februar 2020 »Woher kommt das jährliche Hochwasser am Rhein?« Eine immer wieder auftauchende Schlagzeile in der Kölner Rundschau. Und dann folgen

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die Zuweisungen: Zerstörung von natürlichen Rückhalteräumen (Auen), Begradigung von Flüssen, Kanalisierung von Bächen, direkter Abfluss von Niederschlägen in die Flüsse (Flächenversiegelung des Bodens). »Schuld« sind andere Bundesländer weiter südlich. 27. Februar 2020 »Ja, wenn die so exzessiv Karneval feiern, muss man sich nicht wundern«, sagt meine Nachbarin von gegenüber, als wir über die Nachricht zu C ­ OVID-19 aus dem Kreis Heinsberg sprechen. Ich denke über das Phänomen der Erklärung nach. Könnte es bedeuten, dass ich mich vor etwas zu schützen glaube, wenn ich mich anders verhalte als »die«? Nicht nach China fliege, nicht in verunreinigten Flüssen bade, nicht sündige? Denn auch das Letzte führt Robert Jeffress, evangelikaler Pastor aus Texas, als sinnhafte Strafe Gottes für das Virus an. Oft ist in unserer säkularen Welt der einzige Moment, in dem Gott dann doch in Betracht gezogen wird, der, wenn wir ihn für ein schreckliches Unglück verantwortlich machen wollen. Aber in den Medien überschlagen sich auch positive Sinngebungen: Es dient der Umwelt, wir sind wieder füreinander da, nehmen Rücksichten, rücken im Auseinander zusammen … 24. April 2020 Die Sinnspiele gehen weiter. Ich mag da nicht mitspielen. »Das Schicksal wird schon seine Gründe haben«, sagt Voltaire. Ich beginne, den Ver-

lust von vorgegebenen Sinngewissheiten und die Grundlosigkeit eines Geschehnisses anzuerkennen. Ich bemerke: Darauf zu verzichten, einen Sinn in etwas sehen zu wollen, heißt nicht, in Sinnlosigkeit zu verfallen. 3. Mai 2020 Und nun das: Eine Mutter berichtet, dass sie nunmehr – nach fast einem Jahr seit dem Suizid ihres jüngsten Sohnes – glaube, einen Grund für diese Tat gefunden zu haben. Ihre Familie, vormals nahezu zerrüttet, sei wieder zusammengerückt, und der Bub habe das sicher getan, damit dies wieder geschehe. Sie habe das Ereignis wieder und wieder befragt und dann ihre eigene Antwort gefunden. Meine wäre es gewiss nicht gewesen, und noch weniger hätte ich ihr diese angeboten. Aber ich verneige mich vor ihrer Leistung. Wenn überhaupt, so vermag der Einzelne nur selbst einen Sinn angesichts der Sinnfraglichkeit des Ganzen zu setzen. Sein Leben hat nur den Sinn, den er selbst ihm gibt. Und bei Pirandello habe ich einmal gelesen: »Wir alle tragen eine Welt von Dingen in uns; jeder seine eigene Welt! Doch wie sollen wir einander verstehen, wenn ich in die Worte, die ich spreche, den Sinn und die Bedeutung der Dinge lege, die in mir sind, während jener, der sie hört, sie unweigerlich mit dem Sinn und der Bedeutung auffasst, die sie in seiner inneren Welt haben.«

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Die Ruhe vor dem Sturm – Corona in der Hospiz- und Palliativ­versorgung Lukas Radbruch Anfang Mai Ende März kam ich aus dem Auslandsurlaub zurück nach Hause. Für die nächsten Wochen hatte ich eigentlich ein straffes Arbeitsprogramm, mit mehreren Dienstreisen. Aber schon einige Tage vor der Rückkehr leerte sich der Kalender auf wundersame Weise, als eine Veranstaltung nach der anderen abgesagt wurde: Die CoronaPandemie war in Deutschland angekommen. Die Arbeitstage waren mit Krisensitzungen gefüllt und mit einer steigenden Zahl von Videokonferenzen. Wir warteten auf den Tsunami der COVID-19-Patient*innen, die sicherlich nicht nur die Intensivstationen überschwemmen würden wie in Italien, sondern auch die Hospiz- und Palliativeinrichtungen. Schließlich würden viele Patient*innen mit schweren Vorerkrankungen nicht auf die Intensivstation kommen, weil die Indikation fehlt oder weil sie es nicht wollen. Bis jetzt (Anfang Mai) wurde in Deutschland bei 166.000 Menschen eine Corona-Infektion nachgewiesen und mehr als 6.800 Menschen sind an COVID-19 gestorben. Das Gesundheitssystem hat sich komplett auf den Krisenmodus umgestellt. In den Hospiz- und Palliativeinrichtungen scheint es aber eher ruhiger als sonst zuzugehen. In den ambulanten Hospizdiensten haben die Eh-

renamtlichen die Besuche bei den Patient*innen eingestellt, sie versuchen telefonisch den Kontakt zu halten. In der spezialisierten ambulanten Palliativversorgung (SAPV) wurden die Hausbesuche auch soweit wie möglich reduziert und das Team versucht soweit wie möglich telefonisch zu beraten. Manche Pflegeheime haben sich komplett abgeschottet und wollen auch das SAPV-­ Team nicht zu ihren Bewohner*innen lassen. Dennoch zeigen sich an vielen Stellen die Auswirkungen der Pandemie. Auch auf der Palliativstation sind die Besuche der Angehörigen eingeschränkt. Zwei Mitarbeiterinnen sind an COVID-19 erkrankt und viele ihrer Kolleg*innen mussten in deshalb in häusliche Quarantäne. Der Ehemann einer Patientin auf der Palliativstation lebte in einem Pflegeheim mit strengen Vorgaben zur Isolierung und das Personal im Heim sagte ihm sehr deutlich, dass er seine Frau nicht besuchen könne oder sonst nach dem Besuch im Krankenhaus nicht mehr ins Pflegeheim zurückkehren könne. Er hat sich deshalb gegen den Besuch entschlossen. Als ich das erste Mal in der Pandemie einen Totenschein ausgefüllt habe und dem Ehemann sagte, dass ja maximal zehn Personen zur Beerdigung kommen dürften, spürte

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ich deutlich sein Erschrecken, als ihm klar wurde, wen er alles nicht einladen kann. Die meiste Zeit verbringen wir aber weiterhin mit dem Krisenmanagement. Wie kommen wir an die Schutzausrüstung, so dass wir zumindest in jedem Fahrzeug des ambulanten Dienstes eine Ausrüstung haben können? Wird es Engpässe bei den Medikamenten geben, insbesondere bei den Opioiden, die auch in der Intensivmedizin gebraucht werden? Wie können wir sicherstellen, dass die Pflegeheime unser ambulantes Team rufen, wenn die Bewohner*innen erkranken? Und obendrein müssen wir den Unterricht der Medizinstudierenden und die Kurse in der Palliativakademie auf ein digitales Format umstellen. Wir versuchen, unsere Erfahrungen in der Festlegung von realistischen Therapiezielen und in der Symptombehandlung zu teilen, indem wir in den Krisenstäben im Krankenhaus oder an den Leitlinien der Fachgesellschaften mitarbeiten. Die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin hat die Leitlinien zur Symptomkontrolle, zur Entscheidungsfindung und zur ambulanten Versorgung in der Pandemie (mit)entwickelt (https://www.dgpalliativmedizin.de/neuig�keiten/empfehlungen-der-dgp.html). Besonders

wichtig war aus meiner Sicht aber die Entwicklung von Empfehlungen zur psychosozialen Begleitung der Palliativpatient*innen in der Pandemie (https://www.dgpalliativmedizin.de/images/ DGP_Unter­stuet­zung_Belastete_Schwerstkranke_Sterbende_Trauernde.pdf). Wir sollten lieber von physischer statt von sozialer Distanzierung sprechen, weil wir den betroffenen Patient*innen und ihren Angehörigen trotzdem emotionale und soziale Nähe geben sollten. Wie das gehen kann, zeigen die Empfehlungen: mit der Aufhebung des Besuchsverbots bei Sterbenden (das geht auch auf der Intensivstation, wenn genügend Schutzausrüstungen auch für die Angehörigen vorhanden sind), mit geeigneten Apps für Tablets und Smartphones oder mit anderen Mitteln wie Briefen, Bildern oder Musik. An der Uniklinik können die Klinikclowns nicht mehr auf die Station kommen, aber sie geben zur Freude der Patient*innen und der Mitarbeiter*innen einmal die Woche ein kleines Konzert auf der Terrasse. Wir wissen nicht, was uns die nächsten Wochen bringen werden. Im Moment scheint sich die Lage langsam zu normalisieren. Aber die Lage ändert sich laufend, manchmal von einer zur anderen Woche. Dies ist die Ruhe vor dem Sturm.

Blog-Einträge Sylvia Brathuhn 28. März 2020, Krebserkrankung und Corona Die Diagnose Krebs bricht in das Leben herein und stellt es auf den Kopf, alles ist anders. Ausnahmesituation entsteht. Für die meisten Menschen geht das Leben jedoch völlig unberührt weiter. Sie wissen nichts von der Diagnose, ihr Alltag und ihr Leben bleiben unberührt. Wir, die wir mit der Diagnose einen Weg finden müssen, fragen uns jedoch täglich: Wie soll das weitergehen? Werde ich das überstehen? Kann ich danach wieder als gesund gelten? Werde ich meine

Kinder aufwachsen sehen? Werde ich das alles schaffen? Wir wissen aus unserem Vorwissen über Krebs und aus dem erfahrenen Erstwissen: Es wird strapaziös und unsicher. Und doch: Wir finden Informationen, Therapien und Menschen, die uns nah sind und uns begleiten. Wir gehen diesen Weg. Corona schlich sich in unser aller Leben ein. Erst nicht wirklich wahrgenommen – weil gefühlt weit weg –, dann verhalten wahrgenom-

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men, vielleicht erste Schutzmaßnahmen getroffen. Spätestens mit der Ansprache von Kanzlerin Merkel wurde es plötzlich ernst, wir begannen zu verstehen, wie ernst es ist, und dann ging der Shutdown los. Ausnahmesituation für alle Menschen, in allen Ländern, Grenzen werden dichtgemacht, Schulen, Kitas, Wohngruppen, Geschäfte geschlossen, Ausgangsbeschränkungen und scharfe Kontrollen. Eine bisher nicht dagewesene Situation. Plötzlich trifft sie uns alle. Angst, Unsicherheit, Sehnsucht nach Normalität. Wir, die wir an Krebs erkrankt sind, werden durch die Corona-Krise in eine zusätzliche Unsicherheit hineingezwängt. Sind wir eine Risiko­ gruppe, die besonders geschützt werden muss? Sind wir bei fortgeschrittener Erkrankung diejenigen, die nicht mehr mit Hilfe rechnen können, wenn es zum Worst Case kommt? Wie können wir uns schützen? Wie kann unsere Behandlung sichergestellt werden? Fragen über Fragen. Ich möchte alle diejenigen ermutigen, die sich Antworten auf ihre Fragen wünschen, auf die Seite

der Deutschen Krebshilfe zu gehen (https://www. krebshilfe.de/blog/was-krebspatienten-zum-coronavirus-wissen-muessen). Dort findet ihr viele Antworten und vor allem seriöse Informationsquellen. Holt euch die Infos. Gleichzeitig wünsche ich allen auch ein gewisses Maß an Vertrauen und Zuversicht. Das brauchen wir, um dies schwierige Zeit gut durchstehen zu können. Heute Morgen las ich in einem Roman ein Gedicht von Mascha Kaléko: »Die Nacht, in der das Fürchten wohnt, hat auch die Sterne und den Mond.« Krebs und Corona stehen für Dunkelheit, die sich in Angst und Furcht ausdrückt. In der Nacht gibt es jedoch auch die Sterne und den Mond. In meinen Gedanken sehe ich die Frauenselbsthilfe als Mond und alle Menschen, die sich darin um die Belange von an Krebs erkrankten Menschen kümmern, sehe ich als die Sterne. Hier leuchten Hoffnung, Zuversicht und menschliches Miteinander auf. Lasst uns auch in dieser Zeit füreinander da sein.

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28. März 2020, Kontaktsperre und in Verbindung bleiben Es ist schon unglaublich, wie sehr Corona unser Leben verändert. In Verbindung bleiben geschieht plötzlich nicht mehr selbstverständlich. Ich selbst bin beispielsweise leidenschaftliche Oma und gehöre plötzlich aufgrund meines Alters und meiner Vorerkrankung zu den Risikopersonen. Das bedeutet einen wirklich herben Verzicht auf Nähe und Glücksgefühle. Als ich diese Einschränkung das erste Mal hörte, ging ich noch davon aus, nicht gemeint zu sein. Ich und alt und Risikogruppe, das kann doch nicht sein. Doch die Wahrheit sickerte langsam in mein Bewusstsein ein. Im Verständnis der Gefährdungsminimierung bin ich alt und gehöre gleichzeitig zur Vorerkrankungsrisikogruppe. Das habe ich jetzt verstanden und auch angenommen. Ich isoliere mich mehr, bin jedoch nicht allein, sondern suche andere Wege der Verbindung und Nähe, sowohl digital als auch analog: Ich versuche mit meinen zwei wunderbaren kleinen Enkelmädchen regelmäßig zu videochatten, das klappt prima. Ich mache Videokonferenzen mit Freundinnen und Kolleginnen, es geht gut. Ich arbeite zum Teil mit Webinaren, auch das läuft klasse. Analog habe ich ganz »oldschool-mäßig« wieder eine große Freude am Postkartenschreiben entdeckt (ich wusste gar nicht, wie groß mein Fundus ist). Und so spüre ich eine große Dankbarkeit, dass wir Menschen bei allen Einschränkungen, Beschränkungen und Verzichten dennoch verbunden und einander nah bleiben können. 12. April 2020 Vielleicht habt auch ihr euch dieser Tage überlegt: Wie war eigentlich das letzte Osterfest? Wie habe ich es verbracht? Was davon ist mir noch in Erinnerung? Und vor allem, wer war bei mir und mit mir? Mit wem war ich an diesen besonderen Tagen zusammen? Ich weiß es noch ganz genau. Letztes Jahr war Ostern sehr spät und so waren wir ausnahmsweise nicht Skifahren in den Osterferien. Wir haben ein großes Familientref-

fen bei uns zu Hause verbracht und vier Tage lang miteinander die Tage sehr bewusst gestaltet und genossen. Dieses Jahr werdet ihr – genauso wie ich – die Ostertage wahrscheinlich auch im kleinsten Kreis verbringen. Die Bedrohung durch das CoronaVirus hat uns zu einer massiven sozialen Einschränkung aufgerufen. Social distancing ist das Ziel, denn dadurch können wir verhindern, dass wir dazu beitragen, dass die COVID-19-Pandemie die medizinischen Kapazitäten und Ressourcen sprengt. Doch heißt »social distancing« auch, dass wir auf menschliches Mit- und FüreinanderDasein verzichten müssen? Ich sage, nein. Der Begriff suggeriert zwar eine soziale Trennung, doch gemeint ist lediglich eine räumliche Trennung. Und so betrachtet, sind wir aufgerufen zu schauen: Wie können wir in dieser schwierigen Zeit zwar räumlich getrennt und einander gleichzeitig doch nah sein? Wie können wir Freundschaften leben, auch ohne miteinander ins Kino, in den Garten, ins Restaurant oder in den Park zu gehen? Wie können wir Nähe neu gestalten? Wege finden, unsere Herzensverbundenheit zu pflegen? Ich bin sehr dankbar, dass es da so viele Möglichkeiten gibt, sowohl analog als auch digital. Gestern war ich auf meinem wöchentlichen Einkauf, ich habe sehr bewusst den Menschen, die ich nicht kannte, freundlich zugenickt und ich habe herzliche Blicke zurückbekommen. Das war schön, denn es zeigte: In dieser Situation halten wir zusammen, sind wir eine gemeinschaftliche Gesellschaft. Und natürlich bin ich aufrichtig gespannt, wie es sein wird »nach Corona«. • • • •

Was haben wir aus dieser Krise gelernt? Was ist daraus erwachsen? Was ging vielleicht auch verloren? Welche kleinen Freuden möchte ich jeden Tag wahrnehmen? • Wer und was ist mir wichtig? • Und vor allem, wie möchten wir Zukunft gestalten, sowohl individuell als auch gesellschaftlich und ökologisch betrachtet?

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Alles Fragen, die an diesem Ostermorgen in mir aufsteigen und die noch nicht beantwortet werden können, denn wir sind noch »mitten im Dazwischen«. Doch die Fragen selbst zeigen schon eine Suchbewegung auf und werfen schon Fäden in die Zukunft und das ist beruhigend und schön. Was immer ihr tut, ich wünsche euch und euren Lieben gute Ostermomente, viel Nähe und lebendige Buntheit. 15. April 2020, Nebelwanderung und Entscheidungen Ostern ist vorbei, die Ferien neigen sich dem Ende zu, und wir alle fragen uns: Wie geht es weiter? Es ist die Rede von staffelartigen Begegnungslockerungen, von Mund-Nasen-Schutz-Pflicht, von Begegnungsbeschränkungsverlängerung und es sind viele unterschiedliche Zahlen im Umlauf. Bei uns in Deutschland zum Beispiel sind laut offiziellen Aussagen noch über 9000 Intensivbetten mit jeweiliger Beatmungskapazität frei. Das lässt hoffen, dass wir nicht in die furchtbare Entscheidungssituation bei einer Triage kommen. Trotzdem stellt sich auch hier die Frage: Wie gehen wir weiter mit den leerstehenden Betten und dem Aufschub von elektiven, also geplanten medizinischen Eingriffen um? Gestern Abend berichtete mir ein kardiologischer Chefarzt, dass es in den Kliniken aufgrund dieses Aufschubs unzählige freie Betten gibt, dass es signifikant weniger Menschen gibt, die mit ernsten Herzproblemen ins Krankenhaus gehen, und dass Krankenpflegepersonal zum Teil in Kurzarbeit geschickt wird. In diesen Momenten bin ich dankbar, dass ich keine Entscheidungen treffen muss, die von systemisch weitreichender Bedeutung sind. Ich muss Wege suchen, wie wir Menschen gut miteinander im Kontakt bleiben können, obwohl wir uns physisch nicht nah sein dürfen. Ich muss Entscheidungen treffen, wie wir mit nicht durchführbaren Qualifizierungen, Tagungen und Kongressen umgehen. Das ist nicht schön, das ist herausfordernd und doch: Es hängt kein Menschenleben davon ab. Welch ein Segen.

Wir sind im Moment in einer Situation, die es bisher nicht gab. Vieles muss von den Verantwortlichen wie auf einer Nebelwanderung gemacht werden. Es gibt keine Erfahrung, die hilft, und es gibt kein Wissen, das sagt, wie es geht. Auf diesem Weg gibt es die Forschen und es gibt die Vorsichtigen. Beide versuchen Wege zu finden und es richtig zu machen. Meines Erachtens brauchen wir in unserer jetzigen Situation alle eine FREUNDliche Haltung, die dem Gegenüber erst mal Gutes unterstellt. Das heißt nicht, zum Ja-Sager zu mutieren, sondern sich zu einem Ja zu entscheiden, das sich dann und im Verlauf zu konstruktiven und fruchtbaren Anregungen wandeln kann. In diesem Sinne danke ich allen für das, was sie auf ihrer jeweiligen Position tun, und wünsche allen eine gute nachösterliche Woche und ein von Herzen kommendes Ja zu eurem Leben, so wie es JETZT im Moment ist. 24.08.2020 Das Motto der Frauenselbsthilfe Krebs lautet: Auffangen – Informieren – Begleiten. Die Möglichkeiten, dieses Motto für an Krebs erkrankte Menschen zu leben, haben sich unter Corona verändert. Vieles, was bis dato selbstverständlich war und regelmäßig stattfand, ist durch die Covid19-Pandemie gar nicht oder nur eingeschränkt möglich: Präsenzgruppentreffen, Informationsgewinn durch Vorträge, direkter persönlicher Austausch mit Gleichbetroffenen, Teilnahme an Qualifizierungen, Kongressen etc. Wir haben jedoch in dieser Zeit durch das, was unmöglich wurde, auch neue Möglichkeiten entdeckt. Viele regionale Gruppen haben sich in Whatsapp- oder anderen medialen Gruppen zusammengefunden, kleine Videobotschaften werden verschickt, Zoom-Konferenzen werden selbstverständlicher, um sich dennoch zu »treffen« und aneinander teilzuhaben, Vorträge und Qualifizierungen finden jetzt online statt. Vieles, was bisher undenkbar war, gerät jetzt zur Normalität. Es sind eben nur zwei Buchstaben, die den Unterschied machen, ob aus UN-Möglichkeiten, Möglichkeiten werden. Eure Sylvia Wa s i s t m i t d e m S I N N LO S ?

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AUS DER FORSCHUNG

Sinnsuche und Trauer – der Versuch einer Erklärung Vorgestellt von Lukas Radbruch Milman, E.; Neimeyer, R.; Fitzpatrick, M.; MacKinnon, C. J.; Muis, K.; Cohen, S. R. (2019). Prolonged grief and the disruption of meaning: Establishing a mediation model. In: Journal of Counseling Psychology, 66, S. 714–725 Warum trauern wir? Wir sind uns sicher einig, dass Trauer nichts Pathologisches hat. Wenn wir nicht trauern könnten, wären wir weniger menschlich. Wenn wir den Verlust nicht spüren würden, könnten wir auch nicht lieben. Was aber, wenn die Trauer das Maß des Erträglichen übersteigt? In der neuen, 11. Version der International Classification of Diseases (ICD-11), die 2022 in Kraft treten soll, wird die Diagnose der anhaltenden Trauerstörung (Prolonged Grief Disorder, 6B42) eingeführt, in Abgrenzung zu einer Depression oder einer posttraumatischen Belastungsstörung (Bonanno et al. 2007). Die Diagnose einer anhaltenden Trauerstörung oder komplizierten Trauer sollte nur gestellt werden, wenn die Trauer weit über die sozialen, kulturellen und religiösen Normen des Individuums hinausgeht und mit einer massiven Beeinträchtigung im persönlichen, familiären, sozialen, beruflichen Umfeld oder anderen wichtigen Lebensbereichen einhergeht. Diese Störungen müssen länger als sechs Monate nach dem Verlust anhalten. In den ersten Wochen und Monaten ist sozusagen noch alles normal in

der Trauer, so dass die anhaltende Trauerstörung erst nach einem gewissen Zeitraum festgestellt werden kann. Die Zeitgrenze von sechs Monaten ist mehr oder weniger willkürlich gewählt, und Milman et al. (2019) weisen darauf hin, dass zum Beispiel von der American Psychiatric Association ein Zeitraum von zwölf Monaten vorgeschlagen worden ist.

Leidfaden, Heft 4 / 2020, S. 90–92, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2020, ISSN 2192-1202

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www.mathiaslyssy.de

Die Arbeitsgruppe von Robert Neimeyer (2019) berichtet, dass ungefähr 10 Prozent aller Trauernden eine anhaltende Trauerstörung entwickeln. Ohne Behandlung ist dies mit einem erhöhten Risiko auf vielen Ebenen verbunden, so wurde eine Zunahme von Herz-KreislaufErkran­kungen, Tumorerkrankungen, Suizidalität, Substanz­missbrauch, Abhängigkeit und Depressionen berichtet. Wünschenswert wäre eine Prävention der anhaltenden Trauerstörung. Dafür ist mehr Wissen über die Mechanismen bei der Entstehung notwendig. Als Risikofaktoren für die Entwicklung von komplizierter Trauer wurden fehlende soziale Unterstützung, ängstliche oder vermeidende Bindungstypen, gewaltsamer Tod, Tod eines Ehepartners oder Kindes und negative Emotionalität (Neurotizismus) beschrieben (Burke und Neimeyer 2013). Allerdings ist nicht klar, wie diese Risikofaktoren zum Entstehen einer anhaltenden Trauerstörung beitragen. Die Arbeitsgruppe von Robert Neimeyer (2019) hat schon seit längerem die Sinnfindung als einen möglichen Mechanismus in der Trauer untersucht. Er geht davon aus, dass die Sinnfindung (beziehungsweise das Sinnmachen = meaning making) ein Prozess ist, mit dem die Trauernden ihre Weltsicht neu konstruieren, um ihr Orientierungssystem dem Verlust anzupassen. Der Sinn selbst (meaning made) ist das Ergebnis dieses Prozesses und hängt ab davon, wie sehr das Orientierungssystem durch den Verlust erschüttert wurde und wie der trauernde Mensch damit umgegangen ist. Mögliche positive Sinnformen können als persönliches Wachstum, Wertschätzung des Lebens, anhaltende Beziehung oder Empfindung von Frieden beschrieben werden, als Beispiel für eine negative Form kann die soziale Isolierung benannt werden.

In der Studie von Milman et al. (2019) untersucht die Arbeitsgruppe nun den indirekten Einfluss der Sinnfindung auf die Risikofaktoren, genauer gesagt, ob die Risikofaktoren die Sinnfindung in den ersten Monaten nach dem Verlust behindern können. Für die Studie wurden 357 Teilnehmer über Trauerberatungsdienste und über Amazon Mechanical Turk aus den USA und aus Europa rekrutiert. Bei 171 Teilnehmern lagen Daten aus dem ersten Befragungszeitraum (zu Risikofaktoren und Sinnfindung) zwei bis zwölf Monate nach dem Verlust und aus dem zweiten Erhebungszeitraum (zu Symptomen der anhaltenden Trauerstörung) nach weiteren sieben bis zehn Monaten vor. Bei 11 Prozent war der Verlust der nahestehenden Person durch einen gewaltsamen Tod (Unfall oder Suizid) erfolgt. Die Erhebung von Sinnfindung und Sinn erfolgte durch zwei Fragebögen, die in der Arbeitsgruppe entwickelt und validiert worden waren (Bellet, Holland und Neimeyer 2019; Gillies, Neimeyer und Milman 2015). In der Auswertung wurde zum einen der direkte Effekt der Risikofaktoren auf die anhaltende Trauerstörung untersucht, zum anderen der indirekte Effekt der Risikofaktoren auf die Sinnfindung und der dadurch veränderte Effekt der Sinnfindung auf die Entstehung der anhaltenden Trauerstörung. Die Ergebnisse bestätigen zunächst die Risiko­ faktoren. Höhere Werte für einen ängstlichen oder vermeidenden Bindungstyp, ­Neuro­tizis­mus oder Verlust des Ehepartners korrelierten mit mehr Symptomen der anhaltenden Trauerstörung, ebenso wie eine geringere soziale Unterstützung. In gleicher Weise korrelierten die Risikofaktoren mit dem Sinn (meaning made). Geringere Werte in den Fragebögen zur Sinnfindung wiederum korrelierten mit höheren Symptom­werten der anhaltenden Trauerstörung. Gewaltsamer Tod als Risikofaktor war entgegen den Erwartungen jedoch nicht mit mehr anhaltender Trauerstörung oder weniger Sinn verbunden. Allerdings waren auch nur wenige Teilnehmer nach einem gewalt-

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9 2   A u s d e r Fo r s c h u n g

samen Todesfall in der Studie, so dass diese Aussagen eher vorsichtig zu bewerten sind. In der detaillierten Auswertung des direkten und indirekten Effekts wurde deutlich, dass der Einfluss des ängstlichen Bindungstyps, fehlender sozialer Unterstützung und eines gewaltsamen Todes nur durch den indirekten Effekt über Sinnfindung eine Wirkung auf anhaltende Trauerstörung hatten. Im Gegensatz dazu hingen die Risikofaktoren vermeidender Bindungstyp, Neurotizismus und Verlust des Ehepartners neben dem indirekten Effekt auch direkt mit der Entwicklung von anhaltender Trauerstörung zusammen. Die Autoren stellen damit eine überzeugende Argumentation für die zentrale Rolle von Sinn und Sinnfindung in der Trauer dar. Die benannten Risikofaktoren behindern diese Sinnfindung und führen dadurch indirekt zur anhaltenden Trauerstörung. Der Prozess der Sinnfindung stellt sich damit als eine gemeinsame Endstrecke der scheinbar so unterschiedlichen Risikofaktoren dar. Die Autoren diskutieren verschiedene mögliche Mechanismen für diese indirekte Wirkung. Risikofaktoren wie fehlende soziale Unterstützung können die interpersonalen Ressourcen der Trauernden vermindern. Sie können aber auch zu einem erhöhten Aufwand in der Sinnfindung führen, zum Beispiel nach einem gewaltsamen Tod. Oder sie können die individuelle Kapazität zur Sinnfindung verringern, zum Beispiel bei einem ängstlichen Bindungstyp. Weitere Studien zu diesen Mechanismen können die Früherkennung von Personen mit erhöhtem Risiko für anhaltende Trauerstörung verbessern und Hinweise auf effektive Interventionen sowohl zur Prävention wie auch zur Behandlung von anhaltender Trauerstörung liefern. Neimeyer (2019) listet an anderer Stelle die Interventionen zur Sinnfindung auf, die sich in zwei Gruppen aufteilen lassen: die Bearbeitung der Ereignisse um den Todesfall (processing the event story) und die Aufarbeitung der Beziehung

zu der verstorbenen Person (assessing the back story). Zur ersten Gruppe gehören Methoden wie die narrative Nacherzählung der Geschichte des Todes, Einordnung in ein Inhaltsverzeichnis des Lebens (chapters of our life), geleitetes Tagebuchschreiben und analoges Zuhören, zur zweiten Gruppe gehören die imaginäre Unterhaltung oder Korrespondenz mit dem Verstorbenen, Erinnerungskisten (memory boxes), Familienfotoalben oder der Abdruck im Leben durch den Verstorbenen (life imprint). Milman et al. (2019) stellen so die Untersuchung zur Mediation der Sinnfindung in den größeren Zusammenhang eines Forschungsprogramms, das von der Entwicklung geeigneter Messinstrumente bis zu Interventionsstudien zur Prävention und Behandlung der anhaltenden Trauerstörung reicht. In dieser Studie wie in vielen anderen wird damit der zentrale Stellenwert von Sinn und Sinnfindung beim Er- und Durchleben von Trauer deutlich. Erst der gefundene Sinn, der das Ordnungs- und Orientierungssystem wieder in Übereinstimmung mit den Veränderungen durch den Tod bringt, ermöglicht dem oder der Trauernden eine Existenz nach und mit dem Verlust.

Literatur Bellet, B. W.; Holland, J. M.; Neimeyer, R. A. (2019). The Social Meaning in Life Events Scale (SMILES): A preliminary psychometric evaluation in a bereaved sample. In: Death Studies, 43, 2, S. 103–112. Bonanno, G. A.; Neria, Y.; Mancini, A.; Coifman, K. G.; Litz, B.; Insel, B. (2007). Is there more to complicated grief than depression and posttraumatic stress disorder? A test of incremental validity. Journal of Abnormal Psycholology, 116, 2), S. 342–351. Burke, L. A.; Neimeyer, R. A. (2013). Prospective risk factors for complicated grief. In: Stroebe, M.; Schut, H.; van den Bout, J. (Hrsg.): Complicated grief: Scientific foundations for health care professionals (S. 145–162.). New York. Gillies, J. M.; Neimeyer, R. A.; Milman, E. (2015). The Grief and Meaning Reconstruction Inventory (GMRI): Initial validation of a new measure. In: Death Studies, 39, 1–5, S. 61–74. Neimeyer, R. A. (2019). Meaning reconstruction in bereavement: Development of a research program. In: Death Studies, 43, 2, S. 79–91.

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FORTBILDUNG

Menschen mit Leiderfahrung und im Leiden begleiten Unterrichtssequenz: Der eigene Umgang mit Leid

Margit Gratz

Hintergrund

Tom Levold

Leid ist Teil jeden menschlichen Lebens. Dies ist einerseits eine unbestreitbare Tatsache, andererseits sind Bewältigungsstrategien und Begleitungsformen nicht selbstverständlicher Teil unseres Lebens und gesellschaftlichen Miteinanders. Vielmehr sind Überforderung sowie Ausweichund Verdrängungsmechanismen wahrnehmbar. Dies trifft auch auf Mitarbeiter*innen im Gesundheitswesen zu. Wissenschaftliche Arbeiten deuten darauf hin, dass sich nennenswert viele Mitarbeiter*innen in der Betreuung von Menschen in tiefer existenzieller Verzweiflung belastet fühlen. Sie zeigen Reaktionen und empfehlen Maßnahmen, die das Gegenteil dessen bedeuten, was leidende Menschen brauchen: Sie zeigen eine Tendenz zur Vermeidung von Patientenkontakt und

neigen häufiger zu medikamentösen Lösungen anstelle von Gespräch und anderen Formen psychosozialer oder spiritueller beziehungsweise religiöser Begleitung. Aber: »nicht das Leid an sich ist (es), das bestimmte vorhersehbare Konsequenzen hat, sondern unser Verhalten dem Leid gegenüber« (Schnell 2018, S. 250). Damit wird deutlich, dass es bei der Begleitung von Menschen gar nicht darum gehen kann, Leid zu verringern oder gar aufzulösen. Das Leidereignis an sich ist geschehen und damit irreversibel. Es hat sich bereits ereignet, wirkt aber in der Gegenwart. In dieser begegnen Leidende*r und Begleiter*in einander, diese*r trifft den leidenden Menschen an in einer Situation, in der er damit beschäftigt ist, sich zum erfahrenen Leid in Bezug zu setzen. In dieser Auseinandersetzung kann die Band­breite reichen von

Leidfaden, Heft 4 / 2020, S. 93–97, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2020, ISSN 2192-1202

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Verzweiflung bis zu einer aktiven Auseinandersetzung, etwa mit Hilfe von kognitiv-­emotionalen oder verhaltensspezifischen Ansätzen, um das Leben mit diesem Leid erträglich zu gestalten und einen Sinn darin zu erkennen. »Was ist mit dem SINN LOS?« ist eine Frage, die leidende Menschen vielleicht nicht genau so, aber sinngemäß stellen. Dabei brauchen sie Unterstützung. Denn »(w)enn wir zu schwach sind, um aus unserer eigenen Geschichte Sinn zu machen, sind wir angewiesen auf andere, die uns zu unserer eigenen Geschichte wieder verhelfen« (Schuchter 2016, S. 213). Vermeidungsverhalten gegenüber ­leidenden Menschen entspricht nicht der hospizlichen Grundhaltung und ist zu überwinden. Dies ist umso wichtiger, als im Jahr der pandemiebedingten, teils mit existenziellen Veränderungen verbundenen Einschränkungen Leiderfahrungen eine neue reale Dimension bekommen. Erwartbar sind eine Zunahme nicht gelebter Abschiede von Verstorbenen, existenzielle Verlusterlebnisse (Arbeitsplatz, berufliche Visionen, Lebensgrundlage, Sicherheit, zerbrochene Beziehungen etc.), was eine Zunahme an Begleitungsbedarf von Trauernden bedeutet. Es sind Strategien gefragt, persönlich mit Leiderfahrung umzugehen und gleichzeitig die Begleitung von Menschen mit existenzieller Verzweiflung zu leisten. Mit der Begleitung von Menschen, deren Leben aus den Fugen geraten ist und nach Abschied und Neuorientie-

rung verlangt (was bei Menschen mit lebensbegrenzender Diagnose auch die Frage nach der Endlichkeit einschließt), sind vor allem all jene konfrontiert, die in den Einrichtungen des Gesundheitswesens arbeiten. Dies sind beispielsweise Pflegekräfte, Ärzt*innen, Sozialarbeiter*innen und Menschen in vielen anderen nichtseelsorglichen Berufen, aber ebenso auch Ehrenamtliche. In den vergangenen Jahren wurde vielfach erarbeitet, wie sehr all diese helfenden Berufe mit spiritueller Begleitung als transprofessionelle Aufgabe in der mono- oder interprofessionellen Arbeit gefragt sind. Dafür gibt es Schulungsmaßnahmen, die das Konzept von Spiritual Care zugrunde legen und Haupt- und Ehrenamtliche in der spirituellen Begleitung nach diesem Konzept schulen. Die Leiderfahrung vieler Menschen weist darauf hin, dass darüber hinaus weiterführende beziehungsweise vertiefende Bildungsmaßnahmen gefragt sind, die speziell den Umgang mit existenziellem Leid und Verzweiflung in den Fokus nehmen. Die folgende Einheit ist ein Mosaikstein aus einem ein- bis zweitägigen Gesamtkonzept zum Thema »Menschen mit Leiderfahrung und im Leiden begleiten«. Die ausgewählte Teileinheit ist die erste von insgesamt fünf Einheiten eines Gesamtkonzepts und lenkt den Blick auf den eigenen Umgang mit Leid. Sie kann so für sich allein nicht stehen und erfordert eine Anknüpfung durch den/die Referent*in. Das Gesamtkonzept hat diese Inhalte:

1. Selbstreflexion: »Mein Motto« im Umgang mit Leid (mehrere Varianten, hier: Variante 1) 2. Grundlagen: • Unterschied »Leid« und »Leiden« • Wenn Menschen mit Leiderfahrung nicht begleitet werden • Umgangs- und Bewältigungsformen bei Leid (Einführung »Coping«) 3. Wahrnehmung von Bewältigungsformen von Leid bei Betroffenen (mehrere Varianten) mit Reflexion der Begleitungsaufgabe 4. Wichtige Merkmale und Formen der Begleitung mit Differenzierung zwischen eigenem Umgang mit Leid und dem Coping-Verhalten einer anderen Person 5. Kommunikation und Übung in der Begleitung von Menschen mit Leiderfahrung

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Das gesamte Unterrichtskonzept verfolgt das Ziel, Wissen rund um Leid und Leiden zu vertiefen, Wahrnehmungsfähigkeit zu verbessern und Begleitungskompetenz zu stärken. Die Methoden zielen darauf ab, zwischen der eigenen Form, mit Leid umzugehen, und der des anderen zu differenzieren, denn sie können mitunter konträr sein. Es gilt, dies zu erkennen, auszuhalten und unterstützend zu begleiten. Ablauf der Unterrichtssequenz Hinweise: Bei dieser Variante wird dem eigenen Umgang mit Leid in Form von bekannten Redewendungen auf die Spur gegangen. Sie sind Ausdruck verschiedener Coping-Strategien von Leid (vgl. Gratz und Roser 2016, S. 98). Sie werden im

Grundlagenteil des Gesamtkonzepts aufgegriffen, vertieft und in einen größeren Kontext gestellt (Grundlagen Umgangs- bzw. Bewältigungsformen von Leid, Coping). Referent*innen sollten im Blick behalten, dass Unterrichtssequenzen, die Selbstreflexion zum Thema haben, einen entsprechenden Rahmen für ausgelöste Reaktionen erfordern. Detaillierte Unterrichtsabläufe können kein Fach- und Erfahrungswissen wie auch keine Lehrerfahrung und Methodenkompetenz ersetzen (vgl. Gratz und Roser 2019). Grundsätzlich erfordert die Etablierung von zum Beispiel spiritueller Begleitung oder auch konkret die Begleitung von Menschen mit Leiderfahrung nicht nur eine Bildungsmaßnahme, sondern auch eine planvolle Implementierung in die Einrichtung (vgl. Gratz und Reber 2019).

Inhalt/Methode

Sozialform

0. Einführung • Hintergrund: Warum ist das Thema in Hospiz­ arbeit und Palliative Care einschließlich Trauer­ arbeit relevant? • Warum sollte man als Ehren- oder Haupt­amt­ licher dieses Thema bearbeitet und reflektiert haben? • Welche Rolle spielt daher Selbstreflexion in Bezug auf den eigenen Umgang mit leidvollen Erfahrungen?

Plenum

1. Der eigene Umgang mit leidvollen Ereignissen • Selbstreflexion – Arbeit am Arbeitsblatt • Auswertung: – Einstiegsfrage: Wie hat sich Ihr Motto im Umgang mit leidvollen Erfahrungen erschlossen? – Vertiefungsfragen: Hatten Sie sich in der Partnerarbeit ein sich ähnelndes/unterschiedliches Motto vorgestellt? Wie hat das Motto des anderen auf Sie gewirkt, was hat es mit Ihnen gemacht? Wie ist mein Partner mit meinem Motto umgegangen, wie hat er darauf reagiert?

Einzelarbeit Partnerarbeit

Material

Arbeitsblatt

Plenum Flipchart: »Wirkungen eines anderen Mottos auf mich selbst« (Anknüpfung in einer späteren Unterrichtseinheit erforderlich)

Wa s i s t m i t d e m S I N N LO S ?

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Arbeitsblatt: Der eigene Umgang mit leidvollen Erfahrungen 1. Kreuzen Sie spontan an: In welchen dieser Aussagen bzw. Redensarten finden Sie sich wieder, wenn es um den Umgang mit einer leidvollen Erfahrung geht? (mehrere Antworten sind möglich) Dein Wille geschehe, wie im Himmel so auf Erden



Ein Indianer kennt keinen Schmerz



Der Herrgott wird’s schon richten



Was uns nicht umhaut, macht uns noch stärker



Es wird schon wieder



Nur die Harten kommen in den Garten



So Gott will, so wird’s geschehen



Das ist alles Schall und Rauch



Aus seinem Herzen keine Mördergrube machen



Das Handtuch werfen



Es gibt immer einen Weg



Da sind Hopfen und Malz verloren



Der Weg ist das Ziel



Der Teufel scheißt immer auf die gleichen



Von guten Mächten wunderbar geborgen



Unkraut verdirbt nicht



Die Hoffnung stirbt zuletzt



Ein Unglück kommt selten allein



Die Kirche im Dorf lassen



Vom Regen in die Traufe



Die Füße in die Hände nehmen



Die Sache abfrühstücken



Geteiltes Leid ist halbes Leid



Bloß keine Umstände!



Jemandem das Leid klagen



Sich ins Schneckenhaus zurückziehen



Sich ins Zeug legen



Wird schon gut gehen



Einen Zahn zulegen



Mit dem alten Stiefel weitermachen



Nicht lange fackeln



Blind sein wie ein Maulwurf



Das Heft in die Hand nehmen



Sich winden wie ein Aal



Hinfallen, aufstehen, Krönchen richten, weitergehen



Niemanden mehr sehen wollen



Den Dingen auf den Zahn fühlen



Allein auf weiter Flur sein



Einen Gang höher schalten



Auf verlorenem Posten stehen



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2. Erzählen Sie dazu eine Geschichte: Welche leidvolle Erfahrung haben Sie gemacht? Welches Ereignis war das? Wie sind Sie damit umgegangen? Wo stehen Sie heute damit?

3. Formulieren Sie (analog zu 1.) Ihr eigenes Motto im Umgang mit Leiderfahrungen.

4. Erzählen Sie Ihre Geschichte und stellen Sie einander Ihr Motto vor. Reflektieren beziehungsweise vertiefen Sie dies im Dialog.

Dr. Margit Gratz, Diplom-Theologin, Palliativfachkraft, ist Leiterin des Hospizes Sankt Martin, Stuttgart-Degerloch. Kontakt: [email protected]

Literatur Gratz, M.; Reber, J. (2019). Seelsorge und Spiritual Care als Angebot und Beitrag zur Unternehmenskultur. In: Roser, T. (Hrsg.): Handbuch der Krankenhausseelsorge. 5., überarbeitete und erweiterte Auflage (S. 313–333). Göttingen. Gratz, M.; Roser, T. (2016). Curriculum Spiritualität für ehrenamtliche Hospizbegleitung. Göttingen. Gratz, M.; Roser, T. (2019). Spiritual Care in Qualifizierungskursen für nichtseelsorgliche Berufe. Grundsätze der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin. Stuttgart. Schnell, T. (2018). Einlassen, Zulassen, Loslassen: Über ein konstruktives Leidensverständnis, In: Zeitschrift für Palliativmedizin, 19, 5, S. 249–255. Schuchter, P. (2016). Sich einen Begriff vom Leiden Anderer machen. Eine Praktische Philosophie der Sorge. Bielefeld.

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REZENSIONEN

T-Shirt-Tage

Susanne Conrad

Julia Weber (2019). T-Shirt-Tage. Fulda: Deutscher PalliativVerlag, 59 Seiten Die meisten von uns wenden den Blick immer noch ab, wenn es um das Sterben geht, obwohl dies doch der Weg ist, den wir alle irgendwann gehen werden. Diese Ausweglosigkeit macht Angst. In der Begegnung mit dem Tod fehlen die Worte angesichts seiner Endgültigkeit und erbarmungslosen Konsequenz. Julia Weber aber schaut hin. In ihrem Gedichtband »T-Shirt-Tage« setzt sie der Sprachlosigkeit Worte entgegen. Eindringliche, zarte, lebenskluge Worte. Das ist bemerkenswert, denn Julia Weber ist 23 Jahre jung – ein Alter, in dem man den Tod fern glaubt und sich für gewöhnlich eher Themen wie Liebe und Verliebtsein, den Herausforderungen des Erwachsenwerdens, den Versprechungen der Zukunft widmet. Aber diese junge Autorin ist ungewöhnlich, ungewöhnlich klarsichtig und detailgenau in ihren Beobachtungen.

Ihre Texte sind Momentaufnahmen, wie durch ein Brennglas betrachtet. Sie erzählen vom Leben der letzten Augenblicke. Vom Hoffen und Aufgeben, von der Angst und der Kostbarkeit der kleinen Dinge, von Begegnungen und Abschieden, die verändern. Gesammelt hat Julia Weber Erlebnisse und Erfahrungen während ihres Freiwilligen Sozialen Jahres auf einer Palliativstation. Hier gab es, was auf anderen Krankenhausstationen selten zu finden ist: Zeit. Zeit sich ans Bett eines Patienten zu setzen, Zeit für ruhige Gespräche und für gemeinsames Schweigen (»er duldet mich, wenn ich ganz still bin«), Zeit, besondere Wünsche zu erfüllen, etwa einen Vanillepudding zu kochen. Sie ist die Letzte, die Herrn B. einen Vanillepudding kocht. Geschrieben hat sie schon als Jugendliche, aber geradezu drängend, sagt sie, wurde das Bedürf-

Leidfaden, Heft 4 / 2020, S. 98–100, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2020, ISSN 2192-1202

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Besinnt euch!

nis, Gefühle und Gedanken zu Papier zu bringen, während der Arbeit auf der Palliativstation. Das Schreiben half ihr, belastende Situationen und Einblicke in Lebensschicksale zu verarbeiten, die Erinnerung an Menschen zu bewahren, die sie am Ende des Lebens begleiten durfte. Julia Weber nimmt uns behutsam an die Hand, führt uns an »krankenhausflurindernachtstille« Orte, zu Menschen »zwischen den Zeilen« und lässt uns in »verglimmte Augen« blicken, Augen, die schon erloschen sind und doch noch das Leben erahnen lassen, das einmal in ihnen leuchtete. Ihre lyrischen Miniaturen – bewegend, intensiv, manchmal fast zärtlich – legen den Blick frei für Wesentliches und stellen Fragen, auf die es keine, zumindest keine allgemeingültigen Antworten gibt. Sie bringen uns ins Gespräch mit uns selbst, ein Gespräch, das jeder irgendwann führen sollte – besser früh als zu spät.

Norbert Mucksch

Rüdiger Heinrich Jung (2019). Besinnt euch! Ein Plädoyer für das Menschliche. Stuttgart: Radius, 99 Seiten Die Anfrage, dieses Buch zu rezensieren, erreichte mich relativ zu Beginn der Einschränkungen im Rahmen der Corona-Pandemie. Insofern schreibe ich diese Rezension auch unter dem unmittelbaren Eindruck eines globalen Krisenerlebens. Das Buch mit dem Imperativ »Besinnt euch!« als Titel ist ein durch und durch philosophisches Buch, ein lebensweises Buch, welches nicht nur die (vermeintlich) naturwissenschaftlich zugänglichen Ebenen des Menschen in den Blick nimmt, sondern vor allem die geistige Ebene und die geistigen Möglichkeiten, die Menschen zu eigen sind. Und insbesondere an dieser Stelle haben die philosophischen Gedanken des Autors Rüdiger Heinrich Jung eine Schnittmenge zum Handlungsfeld Sterbe- und Trauerbegleitung. Zunächst aber einige Erläuterungen zum Aufbau und zum Inhalt. Jung gliedert sein Plädoyer für das Menschliche in sechs Abschnitte. Im ersten Teil, einer kurzen Einführung in das Thema, beschreibt er das Sinnbedürfnis des Menschen als existenziell

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und dem Menschen wesenseigen. Hier findet sich auch ein Gedanke zu Krisensituationen, die »einen heilsamen Zwang ausüben können, uns der Sinnfrage und den damit verbundenen Herausforderungen aktiv zuzuwenden«. Dies ist ein Gedanke, der gerade in Zeiten von Corona-Pandemie und Klimakrise nachdenklich stimmen muss. Auch das Anliegen, das der Autor mit dieser Veröffentlichung verfolgt, ist in der kurzen Einführung formuliert. Jung möchte dem »Sinnphänomen in seiner wunderbaren Bedeutung« nachspüren und – so habe ich es beim Lesen empfunden – genau dafür sensibilisieren. Der zweite Abschnitt trägt die Überschrift »Werte- und Sinnorientierung als Wesenskern von Menschen« und knüpft damit unmittelbar und sehr konsequent an die einführenden Gedanken an. Es folgte ein kurzer systemkritischer Abschnitt, der den Reduktionismus in den Wissenschaften und die »Ignoranz gegenüber der geistigen Seinsschicht des Menschen« kritisiert. Im 4. Abschnitt, dem insgesamt umfangreichsten Teil des Buches, wendet sich der Autor den beiden Begriffen »Sinnleere« und »Sinnfülle« zu. Hier geht es um Haltungen, Werte, Sinnerfahrungen, Vertrauen und wieder auch um die geistige Dimension und den Geist als Daseinserfüllung. Aus Sicht eines Trauerbegleiters, als der ich diese Rezension ja schreibe, ist dieser 4. Abschnitt zentral, denn er nimmt Aspekte in den Blick, die nach meiner Wahrnehmung für das Begleiten in existenziellen Krisensituationen essenziell und zentral sind. Der 5. Abschnitt ist ähnlich wie der 3. Abschnitt wieder von deutlicher, berechtigter Kritik geprägt. Jung prangert die »Verlockungen der Sinnverkäufer« an und darüber hinaus auch ganz konkret die Illusion von Individualität als Marke-

ting-Bluff. Klare Worte, die einen unmittelbaren Bezug zum Titel des Buches haben: Besinnt euch! Das Buch schließt im 6. Abschnitt mit dem Angebot einer Perspektive und gibt den Leser*innen einen Schlüssel an die Hand. Stichworte hier sind die Sensibilität für den Aufforderungscharakter von Situationen sowie die Wertsichtigkeit und die Weisheit des Herzens. Beim Lesen dieses Buches hat mich sehr angesprochen, dass der Autor mich auf eine gute Weise wieder einmal in Kontakt gebracht hat mit bekannten Autoren, wie Martin Buber, Viktor E. Frankl, Erich Fromm, Søren Kierkegaard, Albert Schweitzer und anderen. Darüber hinaus hat mich auch die Deutlichkeit angesprochen, in der Jung angemessen Kritik formuliert und genau auch damit versucht, auf das Wesentliche des Menschen hinzuweisen. Ich habe das Buch mit Gewinn gelesen und es immer wieder sehr gern zur Hand genommen. Es ist ein Buch, das nachdenklich macht und auch nachdenklich machen will. Die wesentliche Frage, die man aus dem Titel »Besinnt euch!« sicherlich herauslesen darf, lautet nach meiner Lesart und meinem Verständnis: »Worauf kommt es eigentlich an?« Der Untertitel des Buches lautet »Ein Plädoyer für das Menschliche«. Hier sehe ich den Brückenschlag zur Sterbe- und Trauerbegleitung. Auch wenn dieses Buch in erster Linie keines ist mit direktem Bezug zur hospizlichen und palliativen Arbeit, sind die Gedanken von Jung, die diesen Brückenschlag herstellen, von großer Relevanz für Menschen, die in hilfreiche, menschliche Begleitungskontakte zu Sterbenden und Trauernden gehen. In diesem Sinne empfehle ich dieses philosophische Buch Menschen in der Sterbe- und Trauerbegleitung zur wiederholten Lektüre.

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Frei nach »Per Anhalter durch die Galaxis«

Vorschau Heft 1 | 2021 Thema: Alter Möglichkeiten und Grenzen inneren Wachstums im Alter Einsamkeit im Alter

Wie können Begleitende unterstützen und was können die Betroffenen selbst tun?

Wie viel Alter kann und will sich unsere Gesellschaft leisten? Wer alt wird, wird auch arm? Bestattungswünsche älterer Menschen als Thema der Seelsorge Falten auf der Leinwand – Altersbilder im Film Von »Du starbst so jung, du starbst so früh« bis zu »Im gesegneten Alter« Was uns Todesanzeigen über das Altersbild (der Inserent*innen) vermitteln

u. a. m.

Impressum Herausgeber/-innen: Monika Müller M. A., KAB-Ring 22, D-53359 Rheinbach E-Mail: [email protected] Prof. Dr. med. Lukas Radbruch, Zentrum für Palliativmedizin, Von-Hompesch-Str. 1, D-53123 Bonn E-Mail: [email protected] Dr. phil. Sylvia Brathuhn, Frauenselbsthilfe Krebs e. V., Landesverband Rheinland-Pfalz/Saarland e. V. Schweidnitzer Str. 17, D-56566 Neuwied E-Mail: [email protected] Prof. Dr. Arnold Langenmayr (Ratingen), Dipl.-Sozialpäd. Heiner Melching (Berlin), Dr. Christian Metz (Wien), Dipl.-Päd. Petra Rechenberg-Winter M. A. (Hamburg), Dipl.-Pflegefachfrau Erika Schärer-Santschi (Thun, Schweiz), Dipl.-Psych. Margit Schröer (Düsseldorf), Dr. Patrick Schuchter (Wien), Prof. Dr. Reiner Sörries (Erlangen) Bitte senden Sie postalische Anfragen und Rezensionsexemplare an Monika Müller, KAB-Ring 22, D-53359 Rheinbach Wissenschaftlicher Beirat: Dr. Colin Murray Parkes (Großbritannien), Dr. Sandra L. Bertman (USA), Dr. Henk Schut (Niederlande), Dr. Margaret Stroebe (Niederlande), Prof. Robert A. Neimeyer (USA) Redaktion: Ulrike Rastin M. A. (V. i. S. d. P.), Verlag Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Göttingen, Tel.: 0551-5084-423, Fax: 0551-5084-454 E-Mail: [email protected] Bezugsbedingungen: Leidfaden erscheint viermal jährlich mit einem Gesamtumfang von ca. 360 Seiten. Bestellung durch jede Buchhandlung oder beim Verlag. Jahresbezugspreis € 70,00 D / € 72,00 A. Institutionenpreis € 132,00 D / € 135,80 A / SFr 162,00, Einzelheftpreis € 20 D / € 20,60 A (jeweils zzgl. Versandkosten), Online-Abo inklusive für Printabonnenten. Preisänderungen vorbehalten. Die Bezugsdauer verlängert sich jeweils um ein Jahr, wenn nicht eine Abbestellung bis zum 01.10. erfolgt. Verlag: Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstr. 13, D-37073 Göttingen; Tel.: 0551-5084-40, Fax: 0551-5084-454 www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2192-1202 ISBN 978-3-525-45922-5 ISBN 978-3-666-45922-1 (E-Book) Umschlagabbildung: Rudolf Schmalzl, Totentanz, 1908, Friedhofskapelle in Zenching Anzeigenverkauf: Anja Kütemeyer, E-Mail: [email protected] Bestellungen und Abonnementverwaltung: HGV Hanseatische Gesellschaft für Verlagsservice mbH, Servicecenter Fachverlage, Holzwiesenstr. 2, D-72127 Kusterdingen; Tel.: 07071-9353-16, Fax: 07071-9353-93, E-Mail: [email protected] Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. © 2020 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Gestaltung, Satz und Lithografie: SchwabScantechnik, Göttingen Druck und Bindung: Beltz Grafische Betriebe GmbH, Bad Langensalza Printed in Germany

Trauernde begleiten Wie können Betroffene professionell und doch einfühlsam begleitet werden? Themen des Praxisbandes sind u.a.  Traueranamnese  Therapeutische Beziehung mit Trauernden  Behandlungsplanung  Psychoedukation  Selbsterfahrung mit Trauern E-BOOK INSIDE + ARBEITSMATERIAL ONLINE-MATERIAL

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Die Autoren geben eine biblische und theologische Grundlegung in Seelsorge und eine psychologische Grundlegung in Trauer. In Kapiteln zu Bestattung, Weisheit und Resilienz, Ritualen, Schuld in der Trauer und Hoffnungs- und Trostbildern werden Aspekte von Trauerseelsorge nahegebracht. Eines der Hauptanliegen dieses Buches ist, seelsorgliche Kompetenzen für die Trauerseelsorge zu vermitteln und zu ermutigen, den Transzendenz- und Gottesbezug in die Beziehung einzubringen.

Urs Münch Anhaltende Trauer Wenn Verluste auf Dauer zur Belastung werden

Mit einem Vorwort von Heidi Müller. 2020. 125 Seiten, mit 3 Abb. und 1 Tab., kartoniert € 17,00 D | € 18,00 A ISBN 978-3-525-40691-5 E-Book: € 13,99 D | € 14,40 A

Die international kontrovers diskutierte, mit der ICD-11 auf uns zukommende Diagnose der »Anhaltenden Trauerstörung« will für betroffene Menschen eine verbesserte Versorgung schaffen. Eine solche Diagnose bringt aber auch Ängste vor einer Pathologisierung von Trauer mit sich. Umso mehr braucht es Wissen, das hilft, die Betroffenen in ihrer Beeinträchtigung erkennen zu können, ihnen Würde wahrend zu begegnen sowie sie angemessen zu unterstützen.

UMFASSENDES HANDBUCH MIT METHODEN UND TECHNIKEN FÜR DIE PRAXIS DER TRAUERBEGLEITUNG Monika Müller | Sylvia Brathuhn | Matthias Schnegg ÜbungsRaum Trauerbegleitung Methodenhandbuch für die Arbeit mit Trauernden 2019. 284 Seiten, mit 19 Abb., 2 Tab. sowie Kopiervorlagen als Download-Material, kartoniert € 30,00 D | € 32,00 A ISBN 978-3-525-40639-7 E-Book: € 23,99 D | € 24,70 A

Das Buch kommt dem Wunsch von Begleitenden nach methodischem Handwerkszeug entgegen, in Trauersituationen mehr Angebote machen können, als einfühlsam zuzuhören. Das Methodenhandbuch stellt eine Fülle von Handhabungen und Fertigkeiten vor, die den Betroffenen einen anregenden Umgang mit ihrer Trauer ermöglichen. Der Kern des Buches besteht aus einer alphabetisch geordneten, anlassbezogenen Sammlung von 77 Schlüsselbegriffen mit jeweils einer kurzen Darstellung des Themas, Impulszitaten sowie der Übung selbst. Arbeitsblätter sind auch als Download abrufbar und ausdruckbar.

ISBN 978-3-525-45922-5

9 783525 459225