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German Pages 257 [260] Year 2021
Iso Kern
Was ist Vernunft?
Iso Kern
Was ist Vernunft?
Schwabe Verlag
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2022 Schwabe Verlag, Schwabe Verlagsgruppe AG, Basel, Schweiz Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Das Werk einschliesslich seiner Teile darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in keiner Form reproduziert oder elektronisch verarbeitet, vervielfältigt, zugänglich gemacht oder verbreitet werden. Korrektorat: Ricarda Berthold, Freiburg i. Br. Gestaltungskonzept: icona basel gmbH, Basel Cover: Kathrin Strohschnieder, STROH Design, Oldenburg Layout: icona basel gmbh, Basel Satz: 3w+p, Rimpar Druck: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN Printausgabe 978-3-7965-4462-0 ISBN eBook (PDF) 978-3-7965-4463-7 DOI 10.24894/978-3-7965-4463-7 Das eBook ist seitenidentisch mit der gedruckten Ausgabe und erlaubt Volltextsuche. Zudem sind Inhaltsverzeichnis und Überschriften verlinkt. [email protected] www.schwabe.ch
Nous sommes comme des nains assis sur les épaules de géants, Pour voir mieux et plus loin qu’eux. Wir sind wie auf den Schultern von Riesen sitzende Zwerge, um besser und weiter zu sehen als sie. Bernard de Chartres (gestorben gegen 1130)
Eduard Marbach in Freundschaft und Dankbarkeit gewidmet
Inhalt
Vorwort
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Teil I. Was ist Vernunft im Gegensatz zur Sinnlichkeit. Der Mensch als vernünftiges sinnliches Wesen («vernünftiges Tier») Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Kapitel. Die erste Stufe der Vernunft: das Verstehen oder der Verstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
25
§1
Der Verstand als Vermögen der Vergegenwärtigung von etwas
....
25
§2
Sich-Vergegenwärtigen von etwas als Bewusstsein von Bewusstsein von etwas. Iterierbarkeit dieses Bewusstseins. Rückbezogenheit alles Sich-Vergegenwärtigens von etwas auf das Wahrnehmen (Gegenwärtigen) von etwas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
28
§3
Das Wiederkennen von etwas Erinnertem im wahrgenommenen Gegenwärtigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
29
§4
Vergegenwärtigen von etwas als Entgegenwärtigen von etwas . . . . . .
30
§5
Sich-Vergegenwärtigen (Verstand) als Abwesenheit des Geistes in der Gegenwart, als Abstand Nehmen von der gegenwärtigen Welt . .
30
§6
Das Sich-Vergegenwärtigen von etwas spielt sich nicht ein einem sinnlich wahrnehmbaren materiellen, sondern in einem nicht sinnlich wahrnehmbaren geistigen Bereich ab . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
31
§7
Sich-Vergegenwärtigen von etwas ist notwendig im sinnlichen Wahrnehmen des mir Gegenwärtigen fundiert . . . . . . . . . . . . . . . . . .
31
§8
Sinnlichkeit als unmittelbares Bewusstsein von etwas, Verstand (Vergegenwärtigung) als mittelbares Bewusstsein von etwas . . . . . . . .
32
§9
Verstand und Anschauung. Das Phänomen der Verdeckung
33
......
8
Inhalt
§ 10 Die Identität als Leistung des Verstandes (der Vergegenwärtigung von etwas) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
34
§ 11 Gerade und reflexive Vergegenwärtigung und die Konstitution des Ichbewusstseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
37
§ 12 Vier irrtümliche Vorstellungen vom Ichbewusstsein . . . . . . . . . . . . . . a) Das Ichbewusstsein ist kein Empfindungsinhalt . . . . . . . . . . . . b) Das Ichbewusstsein ist kein Gefühl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Das Ich ist kein Bestandteil eines intentionalen Aktes, weder eines Verstandesaktes des Vergegenwärtigens von etwas, noch eines im Vergegenwärtigen implizierten (vergegenwärtigten, «gespiegelten») intentionalen Aktes . . . . d) Das Ich tritt nicht in einzelnen intentionalen Akten auf als subjektiver Ausgangspunkt des auf den intentionalen Gegenstand gerichteten «Blickstrahles der Aufmerksamkeit» oder als Ausgangspunkt des Seinssetzens eines intentionalen Gegenstandes (kritische Bemerkung gegen Edmund Husserls Ausführungen über das Ich im ersten Buch Ideen, veröffentlicht 1913) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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40
40
§ 13 Konstitution des anderen Ich im reflexiven Vergegenwärtigen (Einfühlen) des Erlebens eines anderen Menschen . . . . . . . . . . . . . .
41
§ 14 Die modalisierende Vergegenwärtigung
........................
42
§ 15 Das vorsprachliche Wiedererkennen (die vorsprachliche Rekognition) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
43
§ 16 Übergang zur Sinnlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
44
2. Kapitel. Die Sinnlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
47
§ 17 Kritische Auseinandersetzung mit Kants Auffassung der Sinnlichkeit a) Zweck meiner kritischen Auseinandersetzung mit Kants Auffassung der Sinnlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Drei Merkmale der Sinnlichkeit in Kants Kritik der reinen Vernunft: Sie tut nichts, sie ist blosse Mannigfaltigkeit (bildet keine Einheit) und sie ist in sich nichts, geht uns in sich nichts an . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Einbildungskraft als ursprüngliches Vermögen und als Vermittlerin zwischen sinnlicher Anschauung und Verstand in der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft . . . . . . . .
47 47
48 50
Inhalt
d)
Die Einbildungskraft als «Wirkung des Verstandes auf die Sinnlichkeit» in der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
§ 18 Sinnlichkeit als Gegenwärtigen (gegenwärtig Machen) von etwas. Die leibliche Tätigkeit des Gegenwärtigens. Die beständig zeitlich fliessende Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Vorbemerkung über den Unterschied zwischen Vergegenwärtigen von etwas (Verstand) und Gegenwärtigen von etwas (Sinnlichkeit) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Das Gegenwärtigen von etwas ist keine blosse Passivität oder Rezeptivität, sondern eine leiblich-sinnliche Aktivität . . . . . . . . c) Die elementarste notwendige Bedingung einer leiblich-sinnlichen Tätigkeit. Die Ausrichtung auf etwas, was noch nicht ist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Die drei unselbstständigen zeitlichen Momente des Gegenwärtigens nach Edmund Husserl: Urimpression des Aktuellen (Jetzt), Retention des in die Vergangenheit Versinkenden und Protention des Kommenden . . . . . . . . . . . . e) Bemerkung zu Husserls Lehre von der Protention als «voraus geworfener Schatten» der Retention: ein solcher «voraus geworfener Schatten» setzt schon ein Vorauslangen auf ein Kommendes voraus, auf das er geworfen werden kann . . . . . . f) Der momentan-aktuelle Eindruck in der Zeitlichkeit des Gegenwärtigens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . g) Das Behalten des Vergehenden als drittes zeitigendes Moment des Gegenwärtigens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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§ 19 Das Empfinden des leiblich-sinnlichen Subjekts als bloss reaktive (passive) Tätigkeit. Wahrnehmen und Empfinden . . . . . . . . . . . . . . . .
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§ 20 Das Verhältnis zwischen dem Raum des Empfundenen und dem Raum des Wahrgenommenen. Ihre Einheit durch die empfundene Selbstbewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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§ 21 Die Potenzialität und Perspektivität des sinnlich wahrnehmbaren Umfeldes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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§ 22 Die Selbstgegebenheit eines von hier aus durch Perspektiven hindurch sinnlich wahrgenommenen «Dinges» dort . . . . . . . . . . . . . .
65
§ 23 Sinneseinheiten im sinnlich wahrnehmbaren Umfeld
............
65
§ 24 Unterscheidung zwischen dem zentralen Vitalsinn und dem Gesamtsinn eines sinnlichen «Dinges» . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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9
10
Inhalt
§ 25 Sinneseinheit im sinnlichen Umfeld und Assoziation . . . . . . . . . . . . . . a) Assoziationen der räumlichen und zeitlichen Kontiguität im sinnlich Wahrgenommenen sowie Assoziationen der Ähnlichkeit und des Kontrastes im sinnlich Wahrgenommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Assoziation zwischen aktueller sinnlicher Wahrnehmung und früherer Wahrnehmung in der sinnlichen Erfahrung (im sinnlichen Lernen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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§ 26 Sinnliche Assoziation und Assoziation aufgrund von Vergegenwärtigung (Verstand). Kritische Bezugnahmen auf Leibniz und Kant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
69
§ 27 Sinneseinheiten im sinnlich wahrgenommenen Umfeld als Typen . .
70
§ 28 Die anidentische Struktur des sinnlichen Zugangsraumes . . . . . . . . . .
71
§ 29 Die Genese des sinnlichen Zugangsraumes. Der sinnliche Zugangsraum konstituiert sich durch die leiblichen Selbstbewegungen des sinnlichen Subjekts als der Spielraum seiner Selbstbewegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
73
§ 30 Leiblicher Ausdruck von Gefühlen und deren sinnliche Wahrnehmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
74
§ 31 Das sinnliche Wahrnehmen anderer sich selbstbewegender und sich vital betätigender Lebewesen im sinnlichen Zugangsraum und das sinnliche Wahrnehmen von leiblichen Ausdrücken als die Grundlage der vergegenwärtigenden Einfühlung . . . . . . . . . . . .
75
§ 32 Die Einheit des sinnlichen Bewusstseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Sinnesgestalt und Hintergrund (Horizont) . . . . . . . . . . . . . . . . b) Abstufungen und Relief des Hintergrundes . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Einheit des sinnlichen Bewusstseins von etwas Gegenwärtigem als Einheit eines mannigfaltig gegliederten Könnens fortschreitenden Tuns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Der selbstbewegliche Leib als Gefüge des Könnens des sinnlichen Subjekts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Die Zentrierung des leiblichen sinnlichen Gesamtgefüges . . . . f) Brüchigkeit des leiblichen sinnlichen Gesamtgefüges . . . . . . . .
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3. Kapitel. Die Gestaltung der Sinnlichkeit durch den Verstand: die Vernunft im vollen Sinne (die Kultur) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
81
§ 33 Einleitung zum 3. Kapitel. Terminologisches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
81
Inhalt
§ 34 Die Sinnlichkeit innerhalb ihrer Funktion in der Vernunft: die von der Vernunft «aufgehobene» Sinnlichkeit. Vernunft als cultura culturans, Sinnlichkeit als cultura culturata . . . . . . . . . . . . . .
82
§ 35 Vorläufige Unterscheidung zwischen sinnlicher, materieller Kultur und geistiger Kultur: von der Vernunft geschaffene sinnliche Mittel zur Vergrösserung der leiblichen Macht und die Institution der Vernunft in der Sinnlichkeit für die Vernunft selbst . . . . . . . . . . . . . .
85
§ 36 Vertiefte Unterscheidung zwischen sinnlicher, materieller Kultur und geistiger Kultur: von der Vernunft geschaffene sinnliche Mittel zur Vergrösserung der leiblichen Macht und die Institution der Vernunft in der Sinnlichkeit für die Vernunft selbst: Während in der sinnlich-materiellen Kultur die Vernunft ein materielles Mittel für eine von diesem Herstellen verschiedene Tätigkeit herstellt, sei diese nun bloss sinnlich oder vernünftig, verwirklicht im schöpferischen Tun der geistigen Kultur dieses schöpferische Tun sich selbst . . . . . .
87
§ 37 Ein geistiges Kulturwerk ist etwas geistig Ideelles, ein sinnlich-materielles Kulturwerk etwas materiell Reales . . . . . . . . . . . .
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§ 38 Geschichtlicher Fortschritt in der materiellen Kultur, Fraglichkeit von geschichtlichen Fortschritten in der geistigen Kultur . . . . . . . . . .
90
§ 39 Geistige Kulturwerke der bildenden Künste (Plastik und Malerei) . . a) Grundsätzliches: Kulturelles Bildwerk ist alles, was der Mensch mit seiner Vernunft schafft, um ein anderes, Abwesendes durch den Sehsinn oder Tastsinn in der Gegenwart anschaulich anwesend erscheinen zu lassen . . . . . . b) Spiegelbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Unterscheidung zwischen einem praktischen Zweck dienenden Bildwerken und solchen, die den Zweck in sich selbst haben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Sinnbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Genaue Analyse des Verstehens einer Lithografie aus dem 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Genaue Analyse des Verstehens des Bildwerkes eines Bildwerkes: das Verstehen einer bronzenen Kopie aus dem 19. Jahrhundert einer antiken griechischen Bronzestatue aus dem vierten Jahrhundert v. Chr. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . g) Verstehen von Bildern im Bilde. Ein Bild mit zwei Bildern im Bilde: Victor Surbeks Ölgemälde auf Leinwand «Paul Zehnder vor dem Spiegel mit Selbstbildnis», 1910 . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
h)
i)
k) l) m)
Gilt die Unterscheidung zwischen Bildobjekt und Bildsujet auch für die sog. Abstrakten Kunstwerke? Zwei Beispiele: das Gemälde von Wassily Kandinsky (1866–1944) «Rückblick» (1924) und das Gemälde von Paul Klee (1879–1940) «Musik unter Tag» (1940). Die Geburt der abstrakten Malerei aus dem Geiste der Musik . . . . . . . . . . . . . . Ein Musikwerk, das gemalte Bilder vergegenwärtigt: Modest Mussorgsky (1839–1881), «Bilder einer Ausstellung. Erinnerung an [Bilder von] Viktor Hartmann» (komponiert 1874) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Durch blosses phantasierendes Vergegenwärtigen geschaffene Bilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sind alle gemalten oder gezeichneten und plastischen Kunstwerke auch Bildwerke? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gibt es Bilder auch in den nicht bildenden Künsten? . . . . . . . .
§ 40 Die vergegenwärtigende Funktion der Architektur als Kunst (Architektur als Bild) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Das Pantheon (Pantheion) in Rom als Vergegenwärtigung des Vollkommenen, des Göttlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Kathedrale von Chartres als Vergegenwärtigung des Himmlischen Jerusalem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Basilika der Sagrada Familia (der Heiligen Familie) in Barcelona von Antoni Gaudí i Cornet (1852–1926) als Vergegenwärtigung eines hohen, von göttlichem Licht durchfluteten, heiligen Waldes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Das Olympiastadion des Architekturbüros Jacques Herzog und Pierre de Meuron (Basel, Schweiz) in Beijing als Vergegenwärtigung eines Vogelnestes (Jahr 2000) . . . . . . . . § 41 Spiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Vergegenwärtigendes Vernunftspiel (prätendierendes Kinderspiel) und sinnlich-leibliches Spiel (funktionales Spiel) b) Zwei Eigentümlichkeiten des Spiels: Erstens, das Spiel ist ein inhaltlich gegliederter zeitlicher Vorgang; zweitens, das Spiel braucht keine Zuschauer bzw. keine Zuhörer . . . . . . . . . . . . . . c) Erwachsenenspiele: Gesellschaftsspiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Christliche Kultspiele: Palmsonntagspiele, Passionsspiele, Spiele zum Gedächtnis von Heiligen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Erwachsenenspiele: Kartenspiele, Monopoly, Mahjong, Geldspiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
f)
g) h) i) k) l) m) n)
Vergleich zwischen Bildern und den oben in diesem § 40 Abschnitten a) bis e) erörterten Spielen: Bilder müssen angeschaut werden, Spiele müssen nicht angeschaut, sondern gespielt werden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Theaterspiele als mögliche Schauspiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Musikspiele mit Worten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Musikspiele ohne Worte. Die Programmmusik im engen Sinne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Freiheit des Spiels von den Notwendigkeiten des täglichen Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fussballspiel, Tennisspiel und ähnliche Kampfspiele als mögliche Schauspiele, die aber nichts darstellen . . . . . . . . . . . . Bei einigen Kampfspielen kann eventuell zwischen Spielmaterial, Spielobjekt und Spielsujet unterschieden werden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sogenannte Spiele, die keine Spiele sind . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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§ 42 Zeichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 § 43 Die Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Der Satz als das ursprünglichste sprachliche Zeichen als Einheit von Bestimmungsinhalt und Bestimmungshandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Subjektausdrücke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Drei verschiedene Aspekte der sprachlichen Bestimmung (die sprachanalytische Lehre von Austin, Alston und Searle) . . d) Kritische Bemerkung zur sprachanalytischen Lehre der Sprechakte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Was unterscheidet Sprechakte vom Kundgeben (Äussern) seiner eigenen Gefühle, Absichten, geistigen Haltungen? . . . . f) Was differenziert die verschiedenen Arten von Sprechakten, was qualifiziert sie als diese oder als jene Art? Ein Versuch: Sie werden durch die verschiedenen Erfüllungsarten von Sprachhandlungen differenziert. Der Unterschied zwischen verschiedenen Arten von Sprechhandlungen und andererseits ihren Modalisierungen und in ihnen gestellten Fragen . . . . . . g) Die Vergegenwärtigung in den sprachlichen Zeichen: die Bedeutung des Prädikats eines Satzes. Das Prädikat als Zeichen für den Bestimmungsinhalt des Satzes . . . . . . . . . . h) Das Prädikat als Zeichen für die Bestimmungshandlung des Satzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . i) Bemerkungen zur Mitteilungsfunktion der Sprache und zum Problem der «privaten Sprache» . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
§ 44 Ethische Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Wichtige Vorbemerkung: Ethische Kultur ist allein als Vernunft nicht möglich, aber ethische Kultur ist nur als Vernunft möglich. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die einzelne Kulturhandlung der Vernunft als Verkörperung einer Vergegenwärtigung in einem einzelnen, sinnlich wahrnehmbaren Kulturwerk und anderseits Kulturhandlungen der Vernunft in finalen Motivationszusammenhängen . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die habituelle finale (auf ein Ziel gerichtete) Ausrichtung des vernünftigen Tuns als Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Das eigene Gewissen als Vernunftwissen um die ethische Qualität der eigenen Handlungsintentionen . . . . e) Unterscheidung zwischen fremdbestimmter (heteronomer) und selbstbestimmter (autonomer) ethischer Vernunftkultur. . f) Ethische Kultur als feste, durch das eigene Gewissen geleitete Ausrichtung auf die durch Einfühlung vergegenwärtigte Sinnlichkeit von anderen. Der Tyrannenmord . . . . . . . . . . . . . .
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§ 45 Persönlichkeit und Person . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Einleitung über subjektive Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Vernunftinteressen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Bildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Feste Überzeugungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Willentliche Festlegung des eigenen Tuns auf vorgenommene Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Der Mensch als Person . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . g) Person und gesellschaftliche Rolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . h) Das Verhältnis zwischen Rolle und Person entspricht dem Verhältnis zwischen dem Gewissen aufgrund der Internalisierung gesellschaftlicher Regeln und dem ursprünglich eigenen Gewissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Teil II. Was ist Vernunfterkenntnis? 1. Kapitel. Das tierische Erkennen der artspezifischen Umwelt aufgrund verschiedener artspezifischer Sinne und das menschliche Erkennen der Welt aufgrund der Vernunft . . . . . . . . . . 175 § 46 Die artspezifische Beschränktheit des bloss sinnlich wahrnehmenden Erkennens und die Unbeschränktheit des vernünftigen Erkennens . . 175
Inhalt
§ 47 Die Einfältigkeit des bloss sinnlichen Erkennens und die unbeschränkte Mannigfaltigkeit des vernünftigen Erkennens . . . . . . 176 § 48 Das sinnliche Erkennen erkennt nicht, dass es etwas nicht erkennt; das vernünftige Erkennen erkennt, dass es vieles nicht erkennt, noch nicht erkennt und eventuell gar nicht erkennen kann. Auch nur vernünftiges Erkennen erkennt, dass wir vernünftigen Menschen vieles nicht erkennen können. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 § 49 Das sinnliche Erkennen, erkennt nicht, dass es sich getäuscht oder sich geirrt hat. Das vernünftige Erkennen erkennt, dass es sich getäuscht oder sich geirrt hat. Deshalb strebt es nach Wahrheit. Ein Erkennen, das nicht erkennt, dass es sich getäuscht oder geirrt hat, sich also irren kann, strebt nicht nach Wahrheit. . . . . . . . . . . . . . . . . 179 2. Kapitel. Vernunft und Wahrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 § 50 Mehr oder weniger blosses Meinen unserer Vernunft und Bestätigen, Verändern oder Fallenlassen dieses leeren Meinens durch Erkennen. Der unendliche Prozess oder Progress des Erkennens als sich Annähern an Wahres . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 § 51 Die Verschiedenartigkeit der Vernunfterkenntnis. Pascals Unterscheidung zwischen esprit de géométrie und esprit de finesse . . 182 § 52 Erfüllung des blossen Meinens durch Einsicht in den apriorischen Wissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 § 53 Erfüllung des blossen Meinens durch methodisch etablierte Fakten in den mathematischen empirischen Naturwissenschaften. Verifikation und Falsifikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 3. Kapitel. Naturwissenschaftliche Erkenntnis und religiöser Glaube . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 § 54 Naturwissenschaftliche Erkenntnis sowie Technik und religiöser Glaube des Physikers und Röntgenstrahlenforschers Friedrich Dessauer (1881–1963) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Erkennen und Verstehen (S. 1–4) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Mensch als Geschöpf in der Mitte (S. 4–6) . . . . . . . . . . 3. Halt an sich selbst (S. 7–15) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Der erhellte Raum (S. 16–19) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Geheimnis des erhellten Raumes (S. 19–26) . . . . . . . . . . 6. Ort und Haltung des Forschers (S. 26–29) . . . . . . . . . .
185 187 187 188 189 189 190
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Inhalt
7. 8. 9. 10.
Korrespondierende Bestände und ihre Verknüpfung (S. 29–40) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Mensch und das Absolute (S. 40–45) . . . . . . . . . . . . Das Credo ut intelligam (Einsicht aus Glauben) (S. 45– 50) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . An der Dinge Rand (S. 50–56) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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§ 55 Naturwissenschaftliche Erkenntnis und religiöser Glaube des belgischen Astronomen und katholischen Priesters Georges Lemaître (1894–1966), der naturwissenschaftlich die Ausdehnung des Universums und dessen Beginn entdeckte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 a) Jugendzeit und Ausbildung (1894–1925) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 b) Professor für Physik und Mathematik in Louvain / Leuven (1925–1966) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 § 56 Kurzer Vergleich des Verhältnisses von Naturwissenschaft und religiösem Glauben bei Friedrich Dessauer und Georges Lemaître . . 200 § 57 Der nicht-religiöse, unwissenschaftliche Glaube in der Physik und physikalischen Astronomie sowie in der Mathematik . . . . . . . . . . . . . . 201 a) Physik und Astronomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 b) Die unbeweisbaren Grundlagen der Mathematik . . . . . . . . . . . . 202 4. Kapitel. Erfüllung des blossen Meinens in den Humanwissenschaften, z. B. in der Geschichtswissenschaft
203
§ 58 Erfüllung des blossen Meinens durch «Intuition» im ethischen Erkennen von Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 § 59 Durch historische Dokumente (Quellen) begründete Individualgeschichte (Biografie). Erstes Beispiel: Biografie des Kunstmalers Michelangelo Merisi, genannt Caravaggio (28. September 1571 bis 18. Juli 1610). Caravaggio als Maler des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Der Einfluss Caravaggios auf die holländischen Maler des 17. Jahrhunderts bis Rembrandt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Das Leben Caravaggios . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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§ 60 Durch historische Dokumente (Quellen) begründete Individualgeschichte (Biografie). Zweites Beispiel: Biografie des Kunstmalers Cuno Amiet (28. März 1886 bis 6. Juli 1961). Cuno Amiet als der Maler der Erscheinungen aller Dinge oder der Phänomenologe der Malerei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221
Inhalt
a) b) c) d)
Quellenangabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Biografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Arbeitsweise, Farbenlehre, Gestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verhältnis zu Ferdinand Hodler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Anhänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 1.
Anhang zu § 40: Das Projekt des Architekturbüros Jacques Herzog und Pierre de Meuron für das Neue Nationale Kunstmuseum Chinas (中国国家美术 馆新馆 Zhongguo guojia mei shuguan xinguan, New National Art Museum of China: NAMOC) in Beijing als Vergegenwärtigung einer Brücke zwischen traditioneller und moderner Kunst (Jahr 2011) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243
2.
Anhang zu § 41 «Spiele»: «Die Verabschiedung und Zurückbegleitung des ehrwürdigen Götterkönigs» (西港刈香送王 Xigang yixiang songwang). Vier Tage eines alle drei Jahre einmal stattfindenden, fünf Tage dauernden Festes: ein daoistisches Kultspiel im Städtchen Xigang nördlich von Tainan, der alten Hauptstadt Taiwans, im südlichen Taiwan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245
Zitierte Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255
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Vorwort
Im Jahre 1975 publizierte der Verlag Walter de Gruyter (Berlin, New York) mein Buch Idee und Methode der Philosophie, mit dem Untertitel «Leitgedanken für eine Theorie der Vernunft», 442 Seiten. Das Buch ist heute im Buchhandel nicht mehr erhältlich, und ich habe dem Verlag die Publikationsrechte entzogen, da er es gegen alle Absprachen immer teurer werden liess. Das Manuskript war im Juni 1973 von der Philosophisch-historischen Fakultät der Universität Heidelberg als Habilitationsschrift angenommen worden. In diesem Buch hatte ich alles Mögliche geschrieben, so dass mir Freunde nach der Lektüre sagten, ich hätte daraus mehrere Bücher machen sollen. Der für mich damals wichtigste Abschnitt, den ich auch heute noch als den besten betrachte, war der Abschnitt II mit dem Titel «Vernunft und Sinnlichkeit» (S. 56–239). Ich hatte ihn in diesem zu grossen Buch gewissermassen versteckt. Dem ersten Teil der vorliegenden Untersuchung habe ich diesen Abschnitt zugrunde gelegt. Aber ich habe ihn vollständig neu geschrieben, denn heute kann ich nicht mehr genau so schreiben wie vor über fünfzig Jahren. Als Teil II habe ich noch die Frage erörtert: «Was ist Vernunfterkenntnis?» Denn Vernunft hat ja auch mit Erkenntnis und Wahrheit zu tun. Ursprünglich plante ich noch einen dritten Teil mit dem Titel «Was ist Humor? Humor als vernünftige Erhebung über den Ernst des Lebens?» Doch beim Schreiben sah ich, dass dies meine jetzige Untersuchung wieder wie in den 1970er Jahren ins Uferlose bringen würde und habe von ihm abgesehen. Wenn Gott will, werde ich versuchen, darüber ein eigenes Buch zu schreiben, ich hoffe eines, das zum Lachen Anlass geben wird. Mein Freund seit 1963, Prof. em. Eduard Marbach, der wie ich im HusserlArchiv Leuven Manuskripte aus dem Nachlass Husserls herausgab und dessen Kollege ich später an der Universität Bern wurde, hatte schon mein Buch von 1975 mit Interesse gelesen. Nun hat er auch das Manuskript zu diesem Buch kritisch studiert und mit seinen Vorschlägen verbessert. Deshalb und weil ich schon das 1975 bei Walter de Gruyter erschienene Buch ihm gewidmet hatte, widme ich ihm auch dieses in Dankbarkeit.
Teil I. Was ist Vernunft im Gegensatz zur Sinnlichkeit. Der Mensch als vernünftiges sinnliches Wesen («vernünftiges Tier»)
Einleitung
In diesem ersten Teil geht es um die Frage: Was ist der Mensch? Sie wird hier gestellt in der europäischen Tradition, in der die Vernunft als das dem Menschen Spezifische hervorgehoben wurde. In der konfuzianischen Tradition Chinas, hauptsächlich aufgrund der Philosophie von Mengzi (Mencius, ca. 371–289 v. Chr.), wurde vor allem das Mitgefühl für andere Menschen, aber auch für Tiere als das spezifisch Menschliche betrachtet: Wenn man gemäss diesem Gefühl handelt, erreicht man nach dieser Lehre die Tugend der Menschlichkeit (ren 仁). Ich habe in meinem Buch Der gute Weg des Handelns. Versuch einer Ethik für die heutige Zeit1 darüber ausführlich geschrieben. In diesem ersten Teil halte ich mich an die europäische Tradition. Seit der griechischen Antike wurde in dieser Tradition der Mensch meistens als «vernünftiges Tier» definiert. Von Alkmaion, der um 500 v. Chr. lebte und ein Schüler des Pythagoras war, wurde wahrscheinlich der berühmte Satz geprägt, der Mensch sei ein ξώον λόγον έχον, zoon logon echon (ein Vernunft habendes Tier).2 Ungefähr von derselben Zeit an wurde vom Menschen auch als ξώον λογικόν, zoon logikon (vernünftiges Tier) gesprochen. Später wurde dieser griechische Ausdruck im Lateinischen mit animal rationale (vernünftiges Tier) wiedergegeben. Von Alkmaion ist der Satz überliefert: «Der Mensch unterscheidet sich von den übrigen Tieren dadurch, dass er allein (gedanklich) begreift/ versteht (ὅτι μόνον ξυνίησι, hoti monon xuniesi), während die übrigen Tiere zwar [sinnlich] wahrnehmen (αισθάνεται, aisthanetai), aber nicht begreifen/verstehen.»3 Das griechische Wort λόγος, logos hat im Wesentlichen vier, miteinander zusammenhängende Bedeutungen: 1. Rede, Aussage, 2. vernünftiger Grund, 3. Denkvermögen, das Vermögen nach vernünftigen Gründen zu fragen (warum ist es so und nicht anders?), zu forschen und zu verstehen, 4. ein von vernünftigem Denken geleitetes Handeln. Das dem Menschen gegenüber dem Tier SpeziSchwabe Verlag, Basel und Berlin 2020. Siehe Heinrich Kleiner, «Die moderne philosophische Anthropologie als Gesamtwissenschaft vom Menschen», in: Klaus Jürgen Grunder et al. (Hg.), Exzerpt und Prophetie. Gedenkschrift für Michael Landmann (1913–1984), Königshausen und Neumann, Würzburg 2001, S. 147. 3 Hermann Diels, Walther Kranz (Hg.), Die Fragmente der Vorsokratiker, Bd. 1, München 2004 [1903], 24 B (Texte) 1a, S. 135. 1 2
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Teil I. Was ist Vernunft im Gegensatz zur Sinnlichkeit?
fische ist also nach dieser Tradition im Wesentlichen, erstens, dass der Mensch eine vernünftig aufgebaute Sprache hat und nicht nur verschiedene emotionale lautliche und durch Körperbewegungen gegebene Ausdrucksäusserungen, durch die Tiere kommunizieren; zweitens, dass er vernünftig nicht nur wahrnehmen, sondern denken kann, drittens, dass er fragen und forschen und verstehen (begreifen) kann, warum etwas so ist und nicht anders, was voraussetzt, dass er erkennen kann, wie oder was etwas wirklich ist; und viertens, dass er die Fähigkeit hat, sein Handeln durch vernünftiges Denken zu lenken. Die Tiere, die über keine Vernunft verfügen, sind lebendig, bewegen sich selbst, haben Leibesempfindungen, nehmen aufgrund ihrer verschiedenen, bei verschiedenen Tierarten verschieden ausgebildeten Sinne (Tast-, Geschmacks-, Geruchs-, Gehör-, Gesichtssinn), in denen auch Selbstbewegung liegt, ihr gegenwärtiges Umfeld wahr, reagieren auf es, haben dabei Gefühle und lernen aufgrund der dabei gemachten Erfahrungen. Was ist nun Vernunft im Gegensatz zur Sinnlichkeit, zu der wir in dieser Frage alles rechnen, was die Tiere von den lebenden Pflanzen und den leblosen Dingen (wie Steinen) unterscheidet? Diese Frage erörtert Teil I dieser der Frage «Was ist Vernunft?» gewidmeten Studie.
1. Kapitel. Die erste Stufe der Vernunft: das Verstehen oder der Verstand
§ 1 Der Verstand als Vermögen der Vergegenwärtigung von etwas Ich verstehe hier unter dem Wort Verstand das Vermögen, etwas mehr oder weniger anschaulich zu vergegenwärtigen, was mir jetzt nicht durch blosses sinnliches Wahrnehmen mit meinen fünf Sinnen gegenwärtig ist, z. B. etwas, das ich jetzt nicht mit meinen Augen sehe oder/und mit meinen Fingern ertaste, nicht mit meinen Ohren höre, nicht mit meiner Nase rieche und nicht in meinem Mund schmecke. Ich vergegenwärtige etwas, wenn ich z. B. mich mehr oder weniger anschaulich an etwas erinnere, was ich früher einmal gesehen, gehört und sonst wie erlebt oder getan habe, oder wenn ich mir durch Phantasie mehr oder weniger anschaulich vergegenwärtige, was ich auf einer geplanten Ferienreise sehen, erleben und tun werde, oder wenn ich mir anschaulich verschiedene mögliche Reisen vorstelle, die ich in den kommenden Ferien unternehmen könnte und von denen ich dann eine auswähle, wenn ich mich nicht entschliesse, zu Hause zu bleiben. Oder ich vergegenwärtige etwas, wenn ich aufgrund meiner Erfahrung voraussehe, dass es wahrscheinlich hier, wo ich lebe, in einigen Stunden regnen wird, wenn ich weit im Westen eine dunkle Wolkenwand aufziehen sehe; oder ich vergegenwärtige etwas, wenn ich aufgrund meiner Erfahrung voraussehe, dass es hier schon sehr bald regnen wird, wenn ich sehe, dass es jetzt um den südwestlich von hier gelegenen, sich wie eine übergrosse Pyramide hoch erhebenden Berg regnet. Das sind Vergegenwärtigungen in meinen eigenen «Wettervoraussichten». Oder ich vergegenwärtige mir mehr oder weniger anschaulich, was jetzt ein mir gegenübersitzender anderer Mensch von seinem Gesichtspunkt aus mit seinen Augen sieht (z. B. mein Gesicht, meine Glatze, die Zimmerwand hinter meinem Rücken und Kopf), was ich jetzt selbst von meinem Gesichtspunkt aus nicht sehe und mir vergegenwärtige, indem ich mich auf seinen Gesichtspunkt versetze. Während ich aber die hinter mir liegende Zimmerwand in der nahen oder weiteren Zukunft werde unmittelbar sinnlich sehen können, wenn ich meinem Kopf oder meinen ganzen Leib ihr zuwende, werde ich durch diese oder eine andere leibliche Umwendung mein Gesicht nicht sehen können. Ich kann nur
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Teil I. Was ist Vernunft im Gegensatz zur Sinnlichkeit?
ein Bild meines Gesichtes im Spiegel sehen. Oder ich kann mir aufgrund dieses Abbildes mehr oder weniger anschaulich vergegenwärtigen, wie mein Gesicht für andere aussieht, obschon ich andere nicht gleich ansehe, wie ich in den Spiegel sehe. Oder ich vergegenwärtige mir mehr oder weniger anschaulich in der blossen Phantasie einen vor mir sich abspielenden Kampf zwischen einem mit einem langen Spiess bewaffneten Kentauren und einem Feuer speienden Drachen, indem ich mich vergegenwärtigend auf einen Gesichtspunkt versetze, von dem ich diesen Kampf sehe. Oder ich vergegenwärtige mir mehr oder weniger anschaulich etwas, was zwar jetzt existiert, aber nicht im Bereich des jetzt von mir sinnlich Wahrgenommenen und Wahrnehmbaren, sondern etwas, was hinter dem steil und felsig aufsteigenden Berg liegt, den ich jetzt vor mir auf der anderen Seite des unter mir liegenden Tales sehe und das ich sehen würde, wenn ich über diesen Berg stiege, also mir vergegenwärtige, indem ich mich in der Phantasie auf einen auf der anderen Seite dieses Berges liegenden Standpunkt versetze. Wenn ich selbst früher einmal schon auf der Hinterseite dieses jetzt vor mir steil aufsteigenden Berges war, kann ich mir jetzt, mich in der Phantasie auf einen Standpunkt auf der anderen Seite des Berges versetzend, aufgrund meiner Erinnerungen, anschaulich vergegenwärtigen, dass auf seiner von mir aus jetzt hinteren Seite grüne Wiesen liegen, die zu einem langen See abfallen, auf dessen gegenüberliegender Seite wieder steile Berge aufsteigen. Wenn ich aber noch nie auf der Hinterseite dieses jetzt vor mir liegenden Berges war, kann ich mir z. B. einfach nichts vorstellen oder alles Mögliche vorstellen, z. B. dass dieser hinten ebenso steil abfällt, wie er vorne aufsteigt, und dass unter ihm, so weit man sieht, eine grosse Ebene liegt. Aber wissen tue ich dies nicht. Aber aufgrund meiner Erfahrung weiss ich, dass dort unten die Welt nicht zu Ende ist, sondern dass es irgendwie mit Seen oder Meeren, Ebenen oder Bergen weitergeht. Das alles kann ich mir, wenn ich mir Zeit dazu nehme, mehr oder weniger anschaulich in meiner Phantasie vergegenwärtigen, indem ich mich in der Phantasie auf einen Standpunkt auf der anderen Seite dieses Berges versetze. Wenn ich mir vergegenwärtige, was ein mir gegenübersitzender anderer Mensch sieht, kann ich auch sagen, dass ich ihn zu verstehen versuche, indem ich mich auf seinen Standpunkt versetze. Ich versuche diesen Menschen auch, und zwar umfassender, zu verstehen, wenn ich mir vergegenwärtige, was er fühlt und will. Wenn ich mich erinnere, was ich damals in einer gewissen Situation erlebt, gefühlt, gewollt und deshalb getan habe, versuche ich mich in einer Episode meines vergangenen Lebens zu verstehen, indem ich mich auf einen Standpunkt in meiner Vergangenheit versetze. Analoges lässt sich von allen Arten des Sich-Vergegenwärtigens sagen. Darum denke ich, dass Verstand das beste deutsche Wort für das Sich-Vergegenwärtigen von etwas ist, und daher nenne ich die Vergegenwärtigung von etwas den Verstand. Denn, erstens, ist Verstand das Substantiv und Verstehen das Verb desselben Wortes und, zweitens, ist Verstehen eine Art von Versetzen auf einen anderen Standpunkt.
1. Kapitel. Die erste Stufe der Vernunft
Über das Vergegenwärtigen hat auch Immanuel Kant (1724–1804) geschrieben, nicht in seinen bekannten drei Kritiken (der reinen Vernunft, der praktischen Vernunft und der Urteilskraft), sondern erst im ersten Teil («Anthropologische Didaktik») seines letzten im Alter von 76/77 Jahren geschriebenen Werkes, seiner Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798). Sie beruht auf Vorlesungen, die Kant jedes Wintersemester von 1772/73 bis 1795/96 gehalten hat und die wegen ihres populären, mit vielen Beispielen versehenen Stils an den Studentenzahlen gemessen seine erfolgreichsten waren. Aber das daraus entstandene Buch wurde von der Philosophenzunft nicht ernst genommen.4 Er stellt hier das Vergegenwärtigen unter den Titel «Von dem Vermögen der Vergegenwärtigung des Vergangenen und des Künftigen durch die Einbildungskraft». In dem zu diesem Titel gehörigen § 34 schreibt er: Das Vermögen, sich vorsätzlich das Vergangene zu vergegenwärtigen, ist das Erinnerungsvermögen, und das Vermögen, sich etwas als zukünftig vorzustellen ist das Vorhersehungsvermögen. Beide gründen sich, sofern sie sinnlich sind, auf die Assoziation der Vorstellungen des vergangenen und des zukünftigen Zustandes des Subjekts mit dem gegenwärtigen, und obgleich nicht selbst Wahrnehmungen, dienen sie zu Verknüpfung der Wahrnehmungen in der Zeit, das, was nicht mehr ist, mit dem was noch nicht ist, durch das, was gegenwärtig ist, in einer zusammenhängenden Erfahrung zu verknüpfen. Sie heissen Erinnerungs- und Divinationsvermögen der Respizienz und der Prospizienz […], da man sich seiner Vorstellungen als solcher, die im vergangenen oder künftigen Zustande anzutreffen wären, bewusst ist.5
4 Goethe, der nicht zu dieser Zunft gehörte, schrieb am 19. Dezember 1798 an Friedrich Schiller: «Kants Anthropologie ist mir ein sehr wertes Buch und es wird mir künftig noch mehr sein, wenn ich es in geringern Dosen wiederholt geniesse, denn im Ganzen, wie es dasteht, ist es nicht erquicklich. Von diesem Standpunkt sieht sich der Mensch immer im pathologischen Zustande, und da man, wie der alte Herr selbst versichert, vor dem sechzigsten Jahr nicht vernünftig werden kann, so ist es ein schlechter Spass, sich die übrige Zeit seines Lebens für einen Narren zu erklären. Doch wird, wenn man zu guter Stunde ein paar Seiten drin liest, die geistreiche Behandlung immer reizend sein. Übrigens ist mir alles verhasst, was mich bloss belehrt, ohne meine Tätigkeit zu vermehren oder unmittelbar zu beleben.» Schiller antwortet darauf am 21. Dezember 1798: «Ich bin sehr verlangend Kants Anthropologie zu lesen. Die pathologische Seite, die er am Menschen immer herauskehrt und bei einer Anthropologie vielleicht am Platze sein mag, verfolgt einen fast in allem, was er schreibt, und sie ists, was seiner praktischen Philosophie ein so grämliches Ansehen giebt. Dass dieser heitre jovialische Geist seine Flügel nicht ganz von dem Lebensschmutz hat losmachen können, ja selbst gewisse düstere Eindrücke der Jugend und so fort nicht ganz verwunden hat, ist zu verwundern und zu beklagen.» (GoetheSchiller. Vollständige Herausgabe des Briefwechsels, herausgegeben von Karl Schmid, 2. Auflage, Artemis Verlag, Zürich 1964, S. 666/667). 5 Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, Akademie Ausgabe, Walter de Gruyter, Berlin 1968, S. 182.
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Teil I. Was ist Vernunft im Gegensatz zur Sinnlichkeit?
Das ist alles, was Kant über das «Erinnerungs- und das Vorsehungsvermögen» schreibt, und zudem ist es auch teilweise nicht richtig, ich nenne nur einen solchen falschen Punkt: Das «Vermögen, sich vorsätzlich etwas Vergangenes zu vergegenwärtigen» ist nicht immer das Erinnerungsvermögen. Denn nur an das kann ich mich erinnern, was ich selbst erlebt, erfahren oder getan habe. Wenn ich mir das Leben von Sokrates und die Verhältnisse im Athen seiner Zeit aufgrund irgendwelcher historischen Informationen mehr oder weniger anschaulich vergegenwärtige, dann ist dieses Vergegenwärtigen kein mich Erinnern an jenes Leben und an jene Verhältnisse. Ausser vom Erinnerungs- und Vorsehungsvermögen (Divinationsvermögen) schreibt Kant von keinen weiteren Vergegenwärtigungen. Erst Edmund Husserl (1859–1938) hat den weiten Bereich der verschiedenen Arten des sich Vergegenwärtigens zum Gegenstand genauer Analysen gemacht.6
§ 2 Sich-Vergegenwärtigen von etwas als Bewusstsein von Bewusstsein von etwas. Iterierbarkeit dieses Bewusstseins. Rückbezogenheit alles Sich-Vergegenwärtigens von etwas auf das Wahrnehmen (Gegenwärtigen) von etwas Z. B. mich zu erinnern an etwas ist ein Sich-Erinnern an mein vergangenes Wahrnehmen von etwas, z. B. von einem besonders breit ausladenden und Schatten spendenden Baum an einem gewissen Ort in der Provinz Henan Chinas, den ich vor vielen Jahren besuchte. In diesem Beispiel haben wir ein Erinnerungsbewusstsein an ein vergangenes Wahrnehmungsbewusstsein von jenem Baum und in diesem Sinne ein Bewusstsein von einem Bewusstsein von etwas. Man kann auch bildlich sagen, dass sich das vergangene Wahrnehmungsbewusstsein von jenem Baum im aktuellen Erinnerungsbewusstsein an diesen Baum spiegelt. Oder ich erinnere mich, dass ich damals an diesem Ort mich daran erinnerte, dass ich vor der Abreise nach China plante, mir diesen Ort anzusehen (ihn sinnlich wahrzunehmen). In diesem zweiten Beispiel haben wir ein Mich-Erinnern (Erinnerungsbewusstsein von etwas) an mein Planen (Planungsbewusstsein) meines Wahrnehmungsbewusstseins (Ansehens) dieses Ortes, also ein Bewusstsein eines Bewusstseins eines Bewusstseins von etwas. Dies bezeichne ich als ein iteriertes (wiederholtes) Bewusstsein von Bewusstsein. Dieses Iterieren ist theoretisch unbegrenzt fortsetzbar, auch wenn es praktisch nicht unbegrenzt fortgesetzt wird. Z. B. kann ich mich erinnern, dass ich an jenem Ort in der Pro6 Edmund Husserl, Phantasie, Bildbewusstsein, Erinnerung. Zur Phänomenologie der anschaulichen Vergegenwärtigungen, Texte aus dem Nachlass (1898–1925), herausgegeben von Eduard Marbach (Husserliana XXIII), Martinus Nijhoff Verlag, Den Haag 1980.
1. Kapitel. Die erste Stufe der Vernunft
vinz Henan mich daran erinnerte, dass ich vor der Abreise nach China plante, mir diesen Ort anzusehen (ihn sinnlich wahrzunehmen), an dem ich mir anschaulich phantasierte, wie schön es wäre, wenn hinter dem breit ausladenden und dadurch Schatten spendenden Baum noch ein buddhistisches Kloster mit einer hohen, zum Himmel weisenden Pagode stünde, die ein Pendant zum breit ausladenden Baum wäre, in dessen Schatten ich mich auf der Erde ausruhen würde. Oder bildlich gesprochen: In meinem aktuellen Erinnerungsbewusstsein spiegelt sich ein Planungsbewusstsein, in dem sich ein Wahrnehmungsbewusstsein und ein Erinnerungsbewusstsein an ein Phantasiebewusstsein spiegelt. Das wäre ein Bewusstsein eines Bewusstseins eines Bewusstseins eines Bewusstseins, also ein zweimal iteriertes Bewusstsein eines Bewusstseins von etwas oder ein zweifach iteriertes (wiederholtes) Vergegenwärtigen von etwas. Bei diesen Iterierungen, Wiederholungen oder Spiegelungen, bei diesen Verschachtelungen von Bewusstsein von etwas in Bewusstsein von etwas in den Vergegenwärtigungen von etwas ist das primär Vergegenwärtigte notwendig ein sinnlich wahrnehmendes Bewusstsein von etwas, im obigen Bespiel mein Wahrnehmen des besonders breit ausladenden und Schatten spendenden Baumes an einem gewissen Ort in der Provinz Henan Chinas, den ich vor vielen Jahren besuchte. Auf solches Wahrnehmungsbewusstsein ist jede Art des Vergegenwärtigens von etwas zurückbezogen, nicht nur wie im jetzigen Beispiel die Erinnerung.
§ 3 Das Wiederkennen von etwas Erinnertem im wahrgenommenen Gegenwärtigen Es kommt vor, dass beim sinnlichen Wahrnehmen von etwas, z. B. eines Hauses, ich mich auch mehr oder weniger anschaulich daran erinnere, wie dieses jetzt vor mir stehende sinnlich wahrgenommene Haus aussah, als ich es z. B. vor ungefähr zehn Jahren sinnlich wahrnahm. Ich sehe jetzt mit meinen Augen, dass seine Fensterläden nicht mehr grün wie vor zehn Jahren, sondern rot gestrichen sind, und dass unterdessen von meinem jetzigen Gesichtspunkt aus gesehen an seiner rechten Seite eine Garage angebaut wurde. In diesem vergegenwärtigenden Mich-Erinnern und in diesem mit jenem verbundenen sinnlichen Wahrnehmen ist mein Bewusstsein impliziert, dass das von mir jetzt wahrgenommene und das erinnerte damalige Haus dasselbe ist, d. h. es ist in diesem Wiedererkennen ein Identitätsbewusstsein impliziert. Ein analoges Identitätsbewusstsein ist impliziert, wenn ich mir mehr oder weniger anschaulich vergegenwärtige, dass mein Gesprächspartner jetzt von seinem Gesichtspunkt aus mit seinen Augen dieselben Dinge (z. B. die beiden Gläser Wein und die Salzstängel) auf demselben Tischchen zwischen uns sieht, die ich von meinem Gesichtspunkt aus in anderer Perspektive mit meinen Augen sehe. In einem blossen sinnlichen Wahrnehmen, das auch allen Tieren eigen ist, ist ein solches Identitätsbewusstsein nicht vorhanden,
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Teil I. Was ist Vernunft im Gegensatz zur Sinnlichkeit?
da sich die Tiere nicht durch Sich-Erinnern in ihre Vergangenheit versetzen können, sondern nur im Gegenwärtigen leben und überhaupt keiner Vergegenwärtigung fähig sind. Über die Entstehung des Identitätsbewusstseins durch das Vergegenwärtigen werde ich unten im § 8 Genaueres sagen.
§ 4 Vergegenwärtigen von etwas als Entgegenwärtigen von etwas Vergegenwärtigen von etwas ist zugleich Entgegenwärtigen von etwas: Wenn ich mir etwas durch Vergegenwärtigen mehr oder weniger anschaulich gegenwärtig mache, bin ich mir bewusst, dass dieses mehr oder weniger Anschauliche nicht etwas Gegenwärtiges, sondern z. B. etwas Vergangenes oder etwas Künftiges oder etwas bloss Mögliches oder bloss Phantasiertes ist. In diesem Sinne entgegenwärtige ich das vergegenwärtigend mir mehr oder weniger anschaulich Gewordene, d. h., ich mache es für mich zu etwas nicht Gegenwärtigem, ich halte es für etwas, das nicht zu meiner jetzt sinnlich wahrgenommenen, mehr oder weniger anschaulichen Gegenwart gehört, was als Vergegenwärtigtes nicht in sie einfügbar ist, obschon ich es mir jetzt mehr oder weniger anschaulich vergegenwärtige.
§ 5 Sich-Vergegenwärtigen (Verstand) als Abwesenheit des Geistes in der Gegenwart, als Abstand Nehmen von der gegenwärtigen Welt Wenn ich etwas vergegenwärtige, z. B. mich an etwas anschaulich erinnere oder anschaulich verschiedene Möglichkeiten erwäge oder in einer anschaulichen blossen Phantasiewelt lebe, bin ich geistig in meiner gegenwärtigen Welt abwesend. Ich kann also in dieser Geistesabwesenheit nicht praktisch tätig sein, denn praktisch tätig kann ich nur sein, wenn ich mich auf das konzentriere, was ich in meiner wahrgenommenen gegenwärtigen Welt tun muss oder tun will. Einem anderen Menschen sehe ich eine solche Geistesabwesenheit an: Er steht untätig da, und wenn er mich anschaut, dann «schaut er durch mich hindurch», d. h., er sieht nicht mit seinen leiblichen Augen irgendetwas Gegenwärtiges, sondern sieht mit seinen geistigen «Augen» etwas Abwesendes, von ihm jetzt Vergegenwärtigtes. Wenn ich etwas vergegenwärtige, nehme ich Abstand von der gegenwärtigen Welt und «besinne mich».
1. Kapitel. Die erste Stufe der Vernunft
§ 6 Das Sich-Vergegenwärtigen von etwas spielt sich nicht ein einem sinnlich wahrnehmbaren materiellen, sondern in einem nicht sinnlich wahrnehmbaren geistigen Bereich ab Dieser ganze Bereich des mehr oder weniger anschaulichen Vergegenwärtigens von etwas Vergegenwärtigtem spielt sich in meinem blossen Denken, in meinem blossen Vorstellen ab. Mein sich bewegend wahrnehmender subjektiver Leib mit seinen fünf Sinnen funktioniert innerhalb dieses Vergegenwärtigens nicht. Während ein anderer Mensch sinnlich wahrnehmend sieht, dass ich mit meinen Fingern etwas ertaste, dass ich mit meinen Augen ein in den Händen gehaltenes Bild betrachte, dass ich mit meinem Leib und meinen Ohren dem auch von ihm gehörten Gesang einer Amsel lausche, dass ich an einem Glas mit Rotwein mit meiner Nase den Duft des Weines berieche, kann kein anderer irgendwie sinnlich wahrnehmen, dass ich mich an etwas erinnere oder dass ich mir eine Möglichkeit ausdenke oder mir sonst etwas mehr oder weniger anschaulich vergegenwärtige, und ebenso wenig sinnlich wahrnehmen, was ich mir dabei vergegenwärtige. Er kann es auch nicht sehen oder irgendwie mit sinnlich wahrnehmbaren Mitteln feststellen, wenn er mein gegenwärtiges Gehirn oder irgendwelche gegenwärtigen Kephalogramme meines vergangenen Gehirns untersucht. In diesem Sinne kann man sagen, dass sich das Vergegenwärtigen nicht in einem sinnlich wahrnehmbaren materiellen, sondern in einem nicht sinnlich wahrnehmbaren geistigen Bereich abspielt.
§ 7 Sich-Vergegenwärtigen von etwas ist notwendig im sinnlichen Wahrnehmen des mir Gegenwärtigen fundiert Wenn ich mich jetzt z. B. an meinem Pult sitzend an etwas erinnere, z. B. dass ich gestern ungefähr um 17 Uhr in der Kälte spazierend auf einer Wiese, die ich überquerte, Profile für den geplanten Bau von fünf neuen Häusern sah und mir überlegte, ob ich, wenn diese Häuser einmal gebaut sein werden, ich diese Wiese oder den Ort dieser Wiese noch werde überqueren können, um nach Hause zurückkehren, wie ich es auf diesem Spaziergang gewohnt bin, wenn ich mir all das mehr oder weniger anschaulich vergegenwärtige, dann darf ich den Wahrnehmungskontakt mit meiner gegenwärtigen Umgebung nicht verlieren: den Kontakt mit dem wahrnehmbaren Pult an dem ich sitze, dem Computer, mit dem ich schreibe, dem Stuhl, auf dem ich sitze, dem Zimmer, in dem ich sitze und schreibe. Wenn ich diesen sinnlich wahrnehmenden Kontakt mit meiner jetzt gegenwärtigen materiellen Umgebung verlöre, wenn ich also nicht mehr dunkel oder
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verworren wahrnähme, dass ich jetzt in meinem Zimmer an meinem Pult sitzend mit dem Computer schreibe, dann würde ich mich nicht mehr daran erinnern, was ich gestern auf meinem Spaziergang gesehen und gedacht habe, sondern irgendwie davon und dann auch assoziativ von anderem träumen oder in einen traumlosen Schlaf (wenn es einen solchen gibt) versinken. Solange ich träume, würde das soeben noch Erinnerte für mich zu etwas sinnlich Wahrgenommenen, unmittelbar Gegenwärtigen. Doch je anschaulicher ich mich an jene von mir überquerte Wiese mit den Profilen erinnere, umso unanschaulicher oder dunkler, verworrener wird mir das jetzt wahrgenommene Gegenwärtige: Wenn ich mich, so anschaulich ich es vermag, an die je vier hellen langen Holzprofile für die oberen zwei Häuser und die je vier hellen langen Profile für die unteren drei Häuser auf der grünen Wiese und die darunter liegende geteerte Alte Gasse sowie das schöne alte dunkle Holzhaus mit seinen Reben an seiner mir gegenüberliegenden Südfront auf der den profilierten Häusern gegenüberliegenden Seite dieser Gasse erinnere, wenn ich also meine ganze Aufmerksamkeit darauf richte, so wird die Wahrnehmung meiner jetzt gegenwärtigen Umgebung fast völlig dunkel. Aber diese Umgebung muss wahrnehmend als meine jetzige bewusst bleiben, wenn mein Mich-Erinnern nicht zerfallen soll. Und umgekehrt: Je anschaulich differenzierter ich mir meine wahrgenommene Umgebung mache, wenn ich nur noch auf sie sehe, wenn meine Aufmerksamkeit nur noch auf sie, bzw. auf einelne ihrer Aspekte gerichtet ist, dann wird meine Erinnerung umso dunkler, verworrener, und schliesslich erinnere ich mich nicht mehr. Denn jede Erinnerung bedarf notwendig einer gewissen Anschaulichkeit.
§ 8 Sinnlichkeit als unmittelbares Bewusstsein von etwas, Verstand (Vergegenwärtigung) als mittelbares Bewusstsein von etwas Wenn ich mich erinnere, dass ich gestern etwas gesehen habe, dann bin ich mir in diesem Erinnern bewusst, dass ich z. B. gestern etwas gesehen habe. Bewusst bin ich mir meines jetziges Mich-Erinnerns und dadurch auch meines vergangenen gestrigen Sehens von etwas (z. B. jener Profile für fünf geplante Häuser). Oder anders ausgedrückt: Mein erinnertes gestriges Sehen von etwas ist vermittelt durch mein jetziges Erinnern an dieses Sehen von etwas. In diesem Sinne nenne ich das Erinnern von etwas und überhaupt alles Vergegenwärtigen ein mittelbares Bewusstsein. Alles vergegenwärtigte Erleben und Tun von etwas ist durch mein jetziges Vergegenwärtigen dieses Erlebens und Tuns von etwas vermittelt. In diesem Sinne ist der Verstand ein mittelbares Bewusstsein von etwas im Gegensatz zum sinnlichen Wahrnehmen von etwas als ein unmittelbares Bewusstsein von etwas.
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§ 9 Verstand und Anschauung. Das Phänomen der Verdeckung Obschon der Verstand als Vergegenwärtigung eine doppelte Anschaulichkeit impliziert, nämlich die Anschaulichkeit z. B. des Erinnerten und die Anschaulichkeit der gegenwärtigen Situation, in der ich mich erinnere, erweitert sich dadurch der Umfang des Anschaulichen nicht. Im obenstehenden Beispiel meiner Erinnerung an die gestern gesehene Wiese mit den Profilen für fünf zu bauende Häuser ist es so, dass, je anschaulicher ich mir dieses Erinnerte vergegenwärtige, umso unanschaulicher die gegenwärtige Situation wird, in der ich mich erinnere. Je anschaulicher ich mir die Anordnung der je vier hohen hellen Holzprofile für die fünf Häuser auf der grünen, sich leicht abwärts neigenden, auf zwei Seiten durch Häuser und auf zwei Seiten durch Strassen begrenzten Wiese vergegenwärtige, umso unanschaulicher oder dunkler wird der Computer, der Tisch, meine zwei schreibenden Hände usw. in meiner gegenwärtigen Situation. Und umgekehrt: je deutlicher oder differenzierter ich diese anschaue, umso unanschaulicher oder verworrener oder konfuser wird mir jene Wiese mit den langen Holzprofilen. Die beiden Anschauungen befinden sich also in einem gegenseitigen Widerstreit; nur eine kann ganz deutlich oder differenziert sein. Je mehr die andere aufschimmert, umso mehr wird diese durch jene ins Dunkle, Verschwommene, Undifferenzierte gedrängt und schliesslich von ihr völlig verdeckt. Es besteht also zwischen der Anschaulichkeit der Vergegenwärtigung und der Anschaulichkeit der sinnlichen Wahrnehmung eine Konkurrenz oder ein Widerstreit: Die Anschaulichkeit der Vergegenwärtigung verdeckt (verdunkelt) die sinnliche Wahrnehmung und umgekehrt. Obschon der Verstand, gedacht als Vergegenwärtigung von etwas in ihren oben im § 1 genannten verschiedenen Arten den Umfang der aktuellen Anschauung nicht erweitert, sondern durch jede seiner anschaulichen Vergegenwärtigungen sozusagen den anschaulichen «Raum» besetzt, ist der Verstand als solcher, wie Kant dachte, nicht schlechthin leer, so dass alle Anschaulichkeit nur in der Sinnlichkeit läge. Die durch den Verstand «gespiegelte» sinnliche Anschauung ist ganz und gar im Medium dieser «Spiegelung» aufgehobene sinnliche Anschauung. Ein analoger Fall besteht in der Unmöglichkeit, sich gleichzeitig die unendlich vielen verschiedenen Aspekte, Anblicke eines Raumdinges gleichzeitig vorzustellen, z. B. des vierbeinigen rechteckigen Tisches, an dem ich jetzt sitze: wie er von oben, von unten, von hinten, von vorne, von gegenüber seiner vorderen rechten Ecke aus, von gegenüber seiner linken Ecke aus, von gegenüber seiner hinteren rechten Ecke aus usw. usw. aussieht. Je anschaulicher ich mir ihn von einer Seite her vorstelle, umso unanschaulicher, dunkler wird mir seine andere Seite. Diese anderen Seiten sind mir aber nicht unbewusst, sondern nur mehr oder weniger unanschaulich bewusst. Ich weiss dabei immer, dass ich vor dem
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ganzen Tisch sitze, den ich mir durch mein Um-ihn-Herumgehen und durch mich Bücken und mich möglichst Hochstrecken in seinen verschiedenen Seiten oder Aspekten ansehen kann. Zudem kann ich mir noch mehr oder weniger anschaulich vorstellen (vergegenwärtigen), wie er «aussieht», wie er sich anfühlt, wenn ich ihn mit geschlossenen Augen abtaste, oder mir sein Gewicht mehr oder weniger «anschaulich» vorstellen, wenn ich ihn durch meine leibliche Selbstbewegung und Anstrengung in die Höhe zu heben versuche, und wie er akustisch klingt, wenn ich mit meinem rechten Zeigefinger oder mit meinen beiden Fäusten oder mit einem Hammer in meiner Hand auf ihn schlage. Bei all diesen vergegenwärtigenden Vorstellungen und unmittelbaren sinnlichen Wahrnehmungen, bestehen die oben erwähnten Verhältnisse des gegenseitigen Widerstreites und der gegenseitigen Verdeckung, und immer ist mir dabei der ganze hölzerne Tisch mit all seinen visuellen, taktilen, akustischen, und durch mein leibliches in die Höhe Heben erscheinenden Aspekten bewusst. Ich weiss, wenn ich an diesem Tisch in den Computer schreibe, immer, dass ich nicht an einem Tisch sitze, der so leicht ist wie eine Kartonschachtel. Dies beruht auf meiner Erfahrung.
§ 10 Die Identität als Leistung des Verstandes (der Vergegenwärtigung von etwas) Ich knüpfe hier an das in diesem Kapitel, § 3 («Das Wiederkennen von etwas Erinnertem im wahrgenommenen Gegenwärtigen»), über das Identitätsbewusstsein Gesagte an. Nur im Vergegenwärtigen eines anderen Bewusstseins von etwas, das durch jenes Vergegenwärtigen «spiegelnd» vergegenwärtigt wird, kann ein Identitätsbewusstsein von diesem Etwas zustande kommen. Dies ist allgemein leicht einsehbar. Denn nur im Bewusstsein von einem anderen Bewusstsein von etwas Gegenständlichem, nur im Bewusstsein dieser Differenz des Bewusstseins von Gegenständlichem kann ich der Identität dieses Gegenständlichen bewusstwerden. Identität ist immer Einheit in einer Differenz. Voraussetzung für die Identifikationsleistung der Vergegenwärtigung als Bewusstsein von Bewusstsein von etwas ist, dass bereits im sinnlichen Wahrnehmungsbewusstsein von etwas perzeptive Einheiten abgehoben sind, die vom vergegenwärtigenden Bewusstsein identifiziert werden können. Aber innerhalb des nur durch die sinnliche Wahrnehmung sinnlich strukturierten Umfeldes gibt es noch keine gegenständliche Identität.7 Die Identifikation des Gegenständlichen im Bewusstsein der Differenz zwischen dem vergegenwärtigenden und dem vergegenwärtigten Bewusstsein von etwas ist in dieser Vergegenwärtigung selbst vollzogen. Es muss also nicht noch ein besonderer Akt der Reflexion zu dieser Vergegenwärtigung hinzukommen, 7
Vgl. unten in diesem Teil I im 2. Kapitel die §§ 25, 26, 27, 28.
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welcher nachträglich den Gegenstand des vergegenwärtigten sinnlichen Wahrnehmens und die abgehobene Einheit in der gegenständlichen Struktur des vergegenwärtigten sinnlichen Wahrnehmens selbst identifizieren würde. Dies lässt sich leicht an unserem obigen Vergegenwärtigungsbeispiel illustrieren: Wenn ich jetzt an meinem, jetzt für mich sinnlich wahrgenommenen Computer sitzend, mir die Anordnung der je vier hohen hellen Holzprofile für die fünf Häuser auf der grünen, sich leicht abwärts neigenden, auf zwei Seiten durch Häuser und auf zwei Seiten durch Strassen begrenzten Wiese erinnernd vergegenwärtige, so wie ich sie auf meinem Spaziergang vor einigen Tagen sah, als ich diese Wiese zu Fuss überquerte, dann bin ich mir in diesem Vergegenwärtigen eo ipso bewusst, dass diese von mir vor einigen Tagen gesehene und begangene, jetzt von mir nicht sichtbare Wiese dieselbe Wiese ist bzw. jetzt als gleichzeitig vergegenwärtigte, jetzt von mir nicht sichtbare Wiese dieselbe Wiese ist wie diejenige, an die ich mich jetzt erinnere. Oder wenn ich mir diese Wiese mit ihren Profilen für die fünf Häuser vergegenwärtige, wie sie jetzt ausieht, sie also als gleichzeitig mit mir jetzt seiend vergegenwärtige, dann bin ich mir in diesem Vergegenwärtigen eo ipso bewusst, ist diese Wiese dieselbe, die ich wieder mit meinen Augen sähe, wenn ich sie heute Nachmittag wieder überqueren würde. Diese Identifizierung ist nicht notwendig eine sprachliche Leistung, wie alles Vergegenwärtigen nicht notwendig der Sprache bedarf. Wenn ich mir auf einem Spaziergang eine besonders auffällige Blume merke und sie auf dem Rückweg wiedersehe und sie wiedererkennend als dieselbe identifiziere, die ich auf dem Hinweg sah, brauche ich zu dieser individuellen Identifizierung ihren Namen nicht zu kennen. Oder wenn ich auf diesem Spaziergang an anderer Stelle eine Blume als Blume derselben Art wie die zuvor gesehene wiedererkenne, auch dann brauche ich ihren Namen nicht zu kennen. Nur im Bewusstsein eines identischen Gegenstandes konstituiert sich gegenüber diesem subjektiven Bewusstsein eine Art objektiver Transzendenz, nämlich Transzendenz im Sinne von etwas, das die Vielfalt der verschiedenen Wahrnehmungs- und Vergegenwärtigungserlebnisse von ihm transzendiert, d. h. sie überschreitet (transcendere (lateinisch) = überschreiten). Dieses Überschreiten der Erlebnisse durch den Gegenstand geschieht durch dessen Identität: Weil derselbe Gegenstand in verschiedenen Erlebnissen erlebt wird, kann er nicht reeller Teil dieser Erlebnisse sein, sondern ist ihnen gegenüber «an sich». Edmund Husserl schrieb: Gäbe es keine Wiedererinnerung […] so wäre […] nur die jeweilige wahrnehmungsmässig konstituierte Gegenständlichkeit da, in ihrem gegenwärtigen zeitlichen Werden. Aber im vollen Sinn gäbe es keinen Gegenstand […], es fehlte das Bewusstsein von einem in mannigfaltigen möglichen Erfassungen Erfassbaren, von einem Seienden, auf das man immer wieder zurückkommen und das man als dasselbe erkennen […] kann. Somit fehl-
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te völlig die Vorstellung von einem Etwas, das an sich ist gegenüber möglichen bewusstmachenden Betrachtungen: mit einem Wort, es fehlte ein Gegenstand.8
Doch ist gegenüber diesem Husserl-Zitat zu betonen, dass nicht nur die Wiedererinnerung für die Konstitution des identischen, gegenüber den Erlebnissen von ihm «transzendenten» Gegenstandes aufkommt. Nicht nur das Sich-Erinnern, sondern alles Vergegenwärtigen kommt dafür auf; das Erinnern dient hier nur als Beispiel für alles Vergegenwärtigen. Wenn ich mir z. B. mehr oder weniger anschaulich vergegenwärtige, was jetzt ein mir gegenübersitzender anderer Mensch von seinem Gesichtspunkt aus mit seinen Augen sieht (z. B. mein Gesicht, meine Glatze, die Zimmerwand hinter meinem Rücken), was ich jetzt selbst von meinem Gesichtspunkt aus nicht sehe, sondern nur mehr oder weniger anschaulich mir vergegenwärtige (mir vorstelle), so ist in diesem meinem mannigfaltigen, zeitlich fliessenden, von Husserl «Einfühlen» genannten Vergegenwärtigen die Identität jener von meinem Gegenüber durch sein mannigfaltiges, zeitlich fliessenden mit seinen Augen Sehen zum Erscheinen gebrachten und von mir bloss vorgestellten (bloss mehr oder weniger anschaulich vergegenwärtigten) Gegenstände (mein Gesicht, meine Glatze etc.) gegeben. Die durch das Vergegenwärtigen, dieses Bewusstsein von Bewusstsein von etwas, konstituierte gegenständliche Identität bildet einen prinzipiellen Seinsbegriff: Was ist, ist das Identische. Diese Identität ist das, was im allgemeinsten Sinn «an sich» ist: Es ist das eine und beständige Sein gegenüber dem mannigfaltigen, fliessend wechselnden Bewusstsein (gegenüber den mannigfaltig fliessend wechselnden Erlebnissen), das Objektive gegenüber dem Subjektiven. Sein in diesem Sinne besteht nicht erst in der sprachlichen Aussage (die ich der vollen Vernunft zurechne), sondern liegt in jeder Vergegenwärtigung (im Verstand). Nach diesem Seinsbegriff ist auch etwas Vergangenes oder Künftiges, ein Fiktives (bloss Phantasiertes) ein Mögliches, Fragliches oder in seiner Existenz Dahingestelltes. Dieser Seinsbegriff liegt allen anderen Seinsbegriffen zugrunde: Wie die elementare Struktur des Bewusstseins von Bewusstsein von etwas in jedem Verstandes- und Vernunftbewusstsein liegt, so setzt auch jeder andere Seinsbegriff (Sein im Sinne der Kategorien oder der urteilenden Prädikation – also im Sinne der Kopula – Sein nach Möglichkeit und nach Wirklichkeit oder als Existenz, Sein im Sinne der Wahrheit) Sein im Sinne blosser gegenständlicher Identität voraus.
8 Edmund Husserl, Analysen zur passiven Synthesis. Aus Vorlesungs- und Forschungsmanuskripten (1918–26), herausgegeben von Margot Fleischer (Husserliana XI), Martinus Nijhoff Verlag, Den Haag 1966, S. 326–327.
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§ 11 Gerade und reflexive Vergegenwärtigung und die Konstitution des Ichbewusstseins Vergegenwärtigen von etwas, z. B. ein sich Erinnern an etwas, ist notwendig primär auf den Gegenstand dieses Vergegenwärtigens gerichtet. Wenn ich mich z. B. an jene vor einigen Tagen gesehene Wiese mit den Häuserprofilen erinnere, ist in meinem Erinnern meine Aufmerksamkeit auf diese Wiese mit ihren Häuserprofilen gerichtet und nicht auf mein zeitlich vollzogenes Sehen und die anderen subjektiven zeitlichen Wahrnehmungsabläufe, durch die mir jene Wiese mit ihren Häuserprofilen sichtbar geworden sind. Sie ist mir nicht nur durch mein motorisches Herumschauen, indem ich meinen Hals bald nach links und bald nach rechts drehte und meine Augen bald nach oben, bald nach unten wandte, sondern auch durch mein die Wiese Durchschreiten in ihrer Grösse, ihrer etwas holprigen und leicht abfallenden Bodenbeschaffenheit zum Erscheinen gekommen. Wenn ich nun meine Aufmerksamkeit im Erinnern an diese Wiese nicht auf diese Wiese mit ihren Bauprofilen, sondern auf mein motorisches Herumschauen und auf mein die Wiese in ihrer Grösse und Bodenbeschaffenheit zum Erscheinen bringendes Durchschreiten richte, dann werde ich mir explizit bewusst, dass ich, der ich jetzt am Computer sitze, diese Wiese im leiblichen Durchschreiten herumschauend sinnlich wahrnahm. Nur in einer solchen obliquen oder reflexiven Vergegenwärtigung entsteht das Ichbewusstsein, nicht aber schon in der geraden, die für das Bewusstsein des identischen Gegenstandes aufkommt. Während der identische Gegenstand die objektive Einheit des vergegenwärtigenden Bewusstseins von etwas ausmacht, macht dieses Ich davon die subjektive Einheit aus. Doch diese subjektive Einheit oder «Identität» ist grundverschieden von der objektiven, gegenständlichen Identität. Das Ich ist nie Gegenstand. Denn erstens, kann ich beim Ich nicht von den intentionalen Bewusstseinstätigkeiten (z. B. vom mich Erinnern an etwas, Wahrnehmen von etwas) absehen, wie ich dies beim Betrachten der Gegenstände kann; ich kann mich z. B. an die mit Bauprofilen versehene Wiese erinnern, ohne dabei durch Reflexion mein Wahrnehmen dieser Wiese zum Gegenstand meines Denkens zu machen, obschon dieses Wahrnehmen in diesem Erinnern impliziert ist. Demgegenüber ist das Ich immer nur im reflektierenden Bewusstsein enthalten, dass ich etwas wahrnahm, dass ich etwas vorausplante, dass ich bloss phantasierte etc. Zweitens, das Ich kann nicht zum Gegenstand gemacht werden, auch nicht wie ein intentionaler Akt in der Reflexion auf diesen zum Gegenstand gemacht wird. Denn das Ich «umfasst» als subjektives Einheitsbewusstsein immer auch mein auf die aktuellen intentionalen Bewusstseinstätigkeiten Reflektieren, das als aktueller intentionaler Akt nie reflektiert sein und damit vergegenständlicht werden, sondern erst in einem Reflektieren höherer Ordnung zum Gegenstand meines Denkens gemacht werden kann. Dabei kann das Ich dieses höheren Reflektierens nicht Gegenstand sein.
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Mein geistiges vergegenwärtigendes Bewusstsein von einem anderen, abwesenden Bewusstsein von etwas, deren subjektive Einheit mein Ich ausmacht, vollzieht sich auf der Grundlage meines aktuellen leiblichen materiellen Wahrnehmens von etwas Gegenwärtigem, Anwesendem (siehe oben). Es ist ein Heraustreten (Transzendieren) aus der sinnlich-leiblichen Gegenwart. Diese Gegenwart ist in sich selbst zwar ichlos, als beständiges Fundament meines Vergegenwärtigens liegt sie aber meinem Ich zugrunde. Ich als Ich basiere notwendig auf dem Hier und Jetzt des sinnlich leiblichen Wahrnehmens des Gegenwärtigen.
§ 12 Vier irrtümliche Vorstellungen vom Ichbewusstsein Wenn ich in dieser Weise Ich als subjektive Bewusstseinseinheit bin, müssen folgende vier Vorstellungen, die sich im Philosophieren über das Ich leicht einschleichen, vom Ich ferngehalten werden. a) Das Ichbewusstsein ist kein Empfindungsinhalt Das Ich, von dem hier die Rede ist, ist kein phänomenaler Bewusstseinsinhalt wie eine andauernde Empfindung, z. B. ein andauernder Schmerz. Es gibt keine Ichempfindung. Dafür sehe ich folgende drei Gründe: Erstens, eine Empfindung kann unabhängig von intentionalen vergegenwärtigenden Akten von etwas, z. B. des Erinnerns von etwas, empfunden sein, während das Ich des Ichbewusstseins nichts in diesem Sinne Unabhängiges, sondern nur innerhalb der reflexiven Struktur «ich vergegenwärtige mein Sehen von etwas», «ich vergegenwärtige mein Wollen von etwas», «ich vergegenwärtige mein Tun von etwas» möglich ist. Bei einer Empfindung kann auch nicht zwischen Empfindungsinhalt und einem Akt des Empfindens unterschieden werden. Während z. B. zwischen etwas Gesehenem (dem visuellen Gehalt oder Inhalt) und dem Sehen dieses Gesehenen unterschieden werden kann; z. B. zwischen einer gesehenen Statue und dem Sehen dieser Statue kann unterschieden werden, während zwischen einem Empfinden eines Schmerzes und dem empfundenen Schmerz kein Unterschied besteht. Das Empfundene eines Empfindens und das Empfinden dieses Empfundenen ist sachlich dasselbe, es besteht kein sachlicher, sondern nur ein grammatikalisch-sprachlicher Unterschied, es sind zwei façons de parler. Empfinden ist kein intentionaler Akt von etwas wie es z. B. das Sehen oder das Hören von etwas sind. Denn dieselbe sich nicht verändernde Statue kann ich, wenn ich um sie herumgehe und mich bald bücke, bald strecke, von vorne und von hinten, von oben her und von unten her, von ihrer linken oder rechten Seite sehen. Oder eine kleine Statue kann, wenn ich sie mit meinen Händen drehe, in prinzipiell unbeschränkt vielen Perspektiven, kann also als derselbe identische Gegenstand in unbegrenzt vielen verschiedenen intentionalen visuel-
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len Akten als dieselbe Statue in ihren unbegrenzt vielen Aspekten gesehen werden. Bei einer Schmerzempfindung ist dies alles unmöglich. Ein empfundener Schmerz ist schmerzlich, das Empfinden dieses Scherzes ist schmerzlich; die gesehene Blume eines Löwenzahn ist gelb, das Sehen dieser Blume ist nicht gelb; eine gehörte Quint ist ein besonderes Tonintervall, das Hören dieses Intervalls ist kein Intervall. Zweitens, eine Empfindung ist immer in meinem Leib irgendwo lokalisiert, z. B. eine Schmerzempfindung im hintersten linken Zahn meines Oberkiefers oder Kopfschmerzen im Kopf; eine Lustempfindung bei Weingenuss auf der Zunge und am Gaumen; eine sexuelle Lustempfindung bei sexueller leiblicher Betätigung in den sexuell sensiblen Partien meines Leibes. Das Ich meines Ichbewusstseins ist nirgendwo in meinem Leib. Drittens, eine Empfindung hat eine gewisse kontinuierliche Dauer, während der sie beginnt, zunehmen und abnehmen kann, und wahrscheinlich einmal aufhört. Was dann nach einer Zeitpause evtl. beginnt, kann eine der vorangegangenen Empfindung sehr ähnliche oder gar gleiche Empfindung sein, aber sie ist nicht individuell dieselbe. Das Ich aber beginnt nicht, verändert sich nicht und hört nicht auf, und eine Zeitpause des Ichbewusstseins im Schlaf oder in der Ohnmacht tut nichts an der individuellen subjektiven Identität des Ich; die Unterbrechung des Schlafes oder einer Bewusstlosigkeit verändert an meinem Ich nichts. Wenn ich mich eines Ereignisses meiner Kindheit erinnere, besteht die Einheit des Ich, ohne dass ich seine Kontinuität von meiner Kindheit bis jetzt geltend machen müsste. Das Ich dauert überhaupt nicht in der Zeit wie ein realer identischer Gegenstand; es ist kein in zeitlicher Ausdehnung sich veränderndes oder sich nicht veränderndes, dauerndes Substrat. Während ein Dauerndes im Laufe der Zeit nicht mehr ist, was es war, bin ich in den verschiedenen Vergegenwärtigungen meines vergangenen, verschiedenen Erlebens und Tuns von etwas immer das eine Ich. «[…] das Ich ist», wie Kant schrieb, «nicht […] eine stehende und bleibende Anschauung [ein stehendes und bleibendes Angeschautes], worin die Gedanken wechselten.»9 Doch für Kant ist das Ich nicht mein konkretes vergegenwärtigendes, wirkliches Ich, das als verschieden von den konkret existierenden anderen Ichs (alter ego) meiner vergegenwärtigenden Mitmenschen wirklich existiert; für Kant ist es rein das Ich, das als «transzendentale (= Erkenntnis ermöglichende) Apperzeption» , d. h. als abstrakte allgemeine, nicht konkret existierende, formale Bedingung der Möglichkeit, «alle meine Vorstellungen muss begleiten können».
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Kritik der reinen Vernunft, A S. 350.
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b) Das Ichbewusstsein ist kein Gefühl Das Ich ist kein andauerndes Gefühl, z. B. nicht etwas wie ein andauerndes Gefühl der Freude oder der Niedergeschlagenheit (Traurigkeit) oder der Langeweile. Ein Gefühl kann nicht die subjektive Einheit des Bewusstseins ausmachen. Gefühle sind zwar nicht wie Empfindungen in gewissen Partien des Leibes lokalisiert. Sie sind als andauernde Zustände überall in mir als lebendiger seelisch-leiblicher (psychophysischer) Einheit und sie prägen auch meine gegenständliche Lebenswelt; auch diese Welt ist mir, wenn ich freudig bin, freudvoll, wenn ich traurig bin, traurig, wenn es mir langweilig ist, langweilig. Vom genannten Unterschied zwischen den Empfindungen und den Gefühlen abgesehen, gilt auch von den Gefühlen alles andere bei den Empfindungen geltend Gemachte als Argument gegen die Auffassung des Ich als ein Gefühl. c) Das Ich ist kein Bestandteil eines intentionalen Aktes, weder eines Verstandesaktes des Vergegenwärtigens von etwas, noch eines im Vergegenwärtigen implizierten (vergegenwärtigten, «gespiegelten») intentionalen Aktes Intentionale Bewusstseinsakte, welcher Art auch immer, entstehen und vergehen. Das Ich des Ichbewusstseins ist dem zeitlichen Entstehen und Vergehen nicht unterworfen. Das Ich wird vom zeitlichen Wandel nicht betroffen, ist also in diesem Sinne überzeitlich, wenn es auch nur aufgrund der Mannigfaltigkeit der zeitlich entstehenden und vergehenden Akte des Vergegenwärtigens als diese Akte einigende Ichbewusstsein existiert. d) Das Ich tritt nicht in einzelnen intentionalen Akten auf als subjektiver Ausgangspunkt des auf den intentionalen Gegenstand gerichteten «Blickstrahles der Aufmerksamkeit» oder als Ausgangspunkt des Seinssetzens eines intentionalen Gegenstandes (kritische Bemerkung gegen Edmund Husserls Ausführungen über das Ich im ersten Buch Ideen, veröffentlicht 1913) In diesem Werk schreibt Husserl: «Ist ein intentionales Erlebnis aktuell [d. h. aufmerksam], also in der Weise des cogito [ich denke] vollzogen, so ‹richtet› sich in ihm das Subjekt auf das intentionale Objekt. Zum cogito selbst gehört ein ihm immanenter ‹Blick-auf› das Objekt, der andererseits aus dem ‹Ich› hervor-
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quillt, das also nie fehlen kann.»10 Dieses Gerichtetsein auf das Objekt berge notwendig in seinem Wesen dies, dass es ein «vom Ich dahin» oder im umgekehrten Richtungsstrahl «zum Ich hin» sei. Jedes «cogito», jeder [intentionale] Akt im ausgezeichneten Sinne [als ein aufmerkendes (aufmerksames)] intentionales Erlebnis sei charakterisiert als Akt des Ich, der «aus dem Ich hervorgeht». «Es [das Ich] lebt in ihm ‹aktuell›».11 Über die nicht aufmerkenden intentionalen Erlebnisse schreibt Husserl, dass sie «der ausgezeichneten Ichbezogenheit entbehren».12 Schliesslich bezeichnet Husserl im ersten Buch seiner Ideen (1913) auch das Subjekt des etwas als wirklich Setzens als reines Ich: «[…] es [das Ich] lebt in den Thesen [Setzungen] nicht als passives Darinnensein, sondern sie sind Ausstrahlungen aus ihm als Urquelle von Erzeugungen.»13 Als Kritik dieser Auffassung Husserls im ersten Buch seiner Ideen möchte ich hier nur Folgendes sagen. Diese Auffassung hätte zur Konsequenz, dass eine Katze die aufmerksam auf ein Mäuseloch starrt, in das sie soeben eine Maus verschwinden sah, und dieses Loch und die soeben gesehene Maus als wirklich setzt, sich unmittelbar ihres «Ichstrahles» bewusst ist, der von ihrem Ich zum Mäuseloch mit der Maus oder in umgekehrter Richtung vom Mäuseloch mit der Maus zu ihrem Ich geht. Ich denke aber, dass bloss sinnlich wahrnehmende Wesen, die bloss in ihrer gegenwärtigen Umwelt leben und keinerlei Vergegenwärtigung fähig sind, kein Ichbewusstsein haben. Das Ich ist nicht die Einheit des bloss sinnlichen Bewusstseins, nicht die Einheit des unmittelbare Gegenwart hervorbringenden, leiblichen wahrnehmenden Agierens (siehe unten in diesem Teil I im 2. Kapitel den § 32 «Die Einheit des sinnlichen Bewusstseins»).
§ 13 Konstitution des anderen Ich im reflexiven Vergegenwärtigen (Einfühlen) des Erlebens eines anderen Menschen Analog zur Konstitution des eigenen Ich konstituiert sich auch das Ich des anderen Menschen, das andere Ich (alter ego). Ein Anderer ist mir nicht nur in der Weise des vergegenwärtigenden Hineinversetzens (Einfühlens) in sein Erleben von etwas Gegenständlichem gegeben; meine Aufmerksamkeit ist dabei auf seinen erlebten Gegenstand oder seine erlebten Gegenstände gerichtet, so wie er sie Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Erstes Buch, Allgemeine Einführung in reine Phänomenologie, neu herausgegeben von Karl Schuhmann (Husserliana III), Martinus Nijhoff Verlag, Den Haag 1976, § 37, S. 75. 11 A.a.O., § 80, S. 178. 12 A.a.O., § 80, S. 179. 13 A.a.O., § 122, S. 281. Siehe z. B. Aron Gurwitsch, «A Non-Egological Conception of Consciousness», in: ders., Studies in Phenomenology and Psychology, Northwestern Univ. Press, Evanston 1966, S. 287–300. 10
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von seinem «Gesichts-» oder «Standpunkt» aus erlebt. In einem zweiten Schritt kann ich mich in diesem primären Vergegenwärtigen (Einfühlen) reflexiv zurückwenden auf sein Erleben dieser Gegenstände und auf das Ich, das diese Gegenstände erlebt. Dieses Ich ist für mich ein anderes Ich (alter ego).
§ 14 Die modalisierende Vergegenwärtigung Im Vergegenwärtigen kann auch das Modalisieren der positionalen Modalitäten des Vergegenwärtigten geschehen. In einem Erinnern z. B. betrachte ich evtl. das damals Wahrgenommene und Geglaubte (für seiend Gehaltene) jetzt als nichtig, als eine Täuschung. Ich erinnere mich z. B. in der Ferne ein Haus wahrgenommen zu haben und sehe jetzt, nachdem ich ihm nähergekommen bin, dass es ein Felsen ist; oder ich nehme jetzt ein Stück Holz wahr, das ich, wie ich mich erinnere, als ich noch etwas weiter von ihm entfernt war, für ein ruhendes Kaninchen hielt. Auf Asphaltstrassen kann man bei schönstem und trockenstem Wetter in der Ferne Wasserflächen sehen, die sich etwas später im Erinnern an sie als Illusion, also als nichtig erweisen. Oder in der Voraussicht steht mir etwas als bloss möglich vor dem geistigen Auge, das sich dann, wenn ich es wahrnehme, als wirklich erweist und nicht, wie ich mich nun erinnere, als etwas bloss Mögliches. Das Vergegenwärtigen kann also in sich die Position des vergegenwärtigten intentionalen Bewusstseins modifizieren, d. h. es kann dessen Gegenstand in einem gegenüber dem vergegenwärtigten Bewusstsein dieses selben (identischen) Gegenstandes in einem verschiedenen Seinsmodus zur Geltung bringen. («Sein» hat hier also nicht die Bedeutung von gegenständlicher Identität wie oben im § 9, sondern im Sinne der Geltung). Auch in dieser Weise ist also Vergegenwärtigen von etwas nicht einfach ein Wiederholen eines anderen Bewusstseins dieses Etwas, sondern Vergegenwärtigen ist ein Auseinandersetzen in ihm selbst. Es ist ein Sich-Enthalten (Dahingestellt-Lassen) gegenüber dem Sein eines Vergegenwärtigten, ein es Infragestellen, ein es Nichten, aber auch ein es Bestätigen und konstituiert dadurch seinen identischen Gegenstand als ein Dahingestelltes, Fragliches, Nichtiges, in seiner Geltung Bestätigtes. Alle diese Positionsmodalitäten brauchen nicht notwendig sprachlich gebildet zu sein; es gibt das vergegenwärtigende Bewusstsein der Nichtigkeit einer Position ohne den Vollzug einer sprachlichen Negation. Im Gegensatz zum vergegenwärtigenden Verstand mit seinen Nichtigkeiten, Möglichkeiten, Wahrscheinlichkeiten, aber auch bestätigten Geltungen lebt das sinnliche, bloss gegenwärtigende Bewusstsein in einer unmittelbaren schlichten Positivität (Setzung). Auch das sinnliche Bewusstsein lebt nicht in ungetrübter Gewissheit, sein «Seinsglaube» kann in einzelnen Auffassungen geschwächt, enttäuscht, gebrochen, gehemmt werden, es kann zögern, in Unsicherheit und Zwiespalt geraten und strebt danach, diese Unsicherheit und diesen Zwiespalt zu
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überwinden. Aber es hebt in sich nichts Nichtiges, Mögliches, Fragliches auf, es konstituiert kein Gültiges in seinen verschiedenen Modalitäten des Bestätigten, Möglichen, Fraglichen und Wahrscheinlichen. Das sinnlich Erlebte ist positiv (setzend) in verschiedenen Graden der Kraft, und was in ihm seine Geltungskraft einbüsst, verschwindet. Nur in einer vergegenwärtigenden «Revision» kann ein als seiend Gesetztes aufgegeben und als Nichtiges erhalten, bewahrt bleiben; nur im Vergegenwärtigen bestehen Mögliches, Fragliches, überhaupt Positionsmodalitäten als solche. Das menschliche, sinnliche vergegenwärtigende Bewusstsein geht nicht nur in seiner sich durch leibliche Selbstbewegung wandelnden, gegenwärtigen Perspektive nicht auf, sondern kann sich eine andere (vergangene, künftige etc.) Perspektive vorstellen (vergegenwärtigen); es ist auch mit seiner durch Unsicherheiten, Brüche und Zwiespältigkeiten hindurchgehenden, schlichten sinnlichen Position (Setzung) von etwas nicht eins, sondern ist sich des Seienden in verschiedenen Setzungsmodalitäten bewusst.
§ 15 Das vorsprachliche Wiedererkennen (die vorsprachliche Rekognition) Eine weitere Weise und Komplikation des Vergegenwärtigens ist sein Wiedererkennen von etwas. Im elementarsten Falle erkennt diese Weise des Vergegenwärtigens im gegenwärtig Wahrgenommenen das Wahrgenommene eines anderen, vergegenwärtigten Wahrnehmens als ein Identisches wieder. Z. B., ich erkenne einen mir sonst unbekannten älteren Herrn mit grossem Bart, den ich jetzt im Restaurant sehe, als denselben wieder, den ich, wie ich mich erinnere, vor einigen Tagen auf einem Schiff sah. Dieses Wiedererkennen von etwas erinnertem Vergangenen im Gegenwärtigen ist notwendig diskursiver Natur, und zwar im ursprünglichen Wortsinn: Das lateinische discursus bedeutet ein Hin- und Herlaufen. Im jetzigen Bespiel laufe ich gedanklich vom älteren Herrn vor einigen Tagen auf dem Schiff zum älteren Herrn jetzt hier in diesem Restaurant und umgekehrt. Ich habe hier ein Zweifaches, das ich identifizierend in Beziehung setze. Es handelt sich hier um ein diskursives, d. h. von einem zum anderen laufendes, beziehendes Identifizieren, das zwei Gegenständlichkeiten in eins setzt, und nicht bloss um ein einfaches Identifizieren, wie es schon in einem einfachen Vergegenwärtigen vollzogen ist, z. B. wenn ich mich jetzt nur an jenen älteren Herrn auf dem Schiff erinnere. Auch die Rekognition ist in sich nicht notwendig sprachlich-begrifflich. Um jenen Herrn wiederzuerkennen, brauche ich um seinen Eigennamen nicht zu wissen, ich benötige dazu ebenso wenig Allgemeinbegriffe wie «Herr», «Bart», «gross», «Schiff» etc., obschon solche Begriffe in meinem Wiedererkennen faktisch mitspielen. Aber sie tun es nicht notwendig, denn sie sind keineswegs notwendige Bedingungen der Möglichkeit dieser Rekognition. Weiter gibt es nicht
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bloss ein vorsprachliches Wiedererkennen von Individuen, sondern ebenso möglich ist ein vorsprachliches Wiedererkennen von Typen; wie wenn ich z. B. eine Pilz- oder Schmetterlingsart als solche wiedererkenne, ohne um ihre Namen zu wissen. Solches vorsprachliches Wiedererkennen von Typen geschieht nicht bloss in Fällen, in denen ich ihren allgemeinen Namen nicht kenne oder der Typus noch keinen solchen Namen hat, aber noch einen erhalten wird, sondern auch in Fällen, in denen eine solche Namengebung gar nicht üblich ist, wie wenn ich z. B. aus persönlicher Erfahrung verschiedene physiognomische oder charakterliche Menschenschläge, verschiedene Stimmungen («Atmosphären») in Gesellschaften oder verschiedene Leibesempfindungen unterscheide und wiedererkenne, ohne dabei an Namen zu denken. Die These, dass ein Wiedererkennen Begriffswörter voraussetzt, würde in einen unendlichen Regress führen. Denn auch ein lautliches oder schriftliches Wortgebilde ist ein akustischer oder grafischer wiederholbarer Typus, ein akustisches oder lautliches Schema, das nach jener These wiederum zum Wiedererkennen eines Wortbegriffes bedürfte, und so ins Unendliche. Das Wiedererkennen des Verstandes ist nicht zu verwechseln mit der Vertrautheit als Charakter des sinnlichen Umfeldes. Z. B. dem Hund sind sein Meister oder seine Hütte, sein Revier usw. vertraut, er kennt sie. Auch wir Menschen kennen die uns vertrauten Leute und Dinge unseres alltäglichen, gewohnten Umgangs mit ihnen, ohne dass wir dabei ein vergegenwärtigendes Wiedererkennen vollziehen müssen. Nur in der Rekognition wird ein anderes Bewusstsein von etwas vergegenwärtigt, nur in ihr erkenne ich im Gegenwärtigen ein Nichtgegenwärtiges wieder.
§ 16 Übergang zur Sinnlichkeit Alle in den voranstehenden Paragrafen angeführten Verstandesformen habe ich als vorbegrifflich vorgestellt. Der Verstand erweist sich als ein mannigfaltiges Vermögen, ohne schon das «Vermögen der Begriffe» oder das «Vermögen des prädikativen Urteilens» zu sein. Die oben dargestellten Verstandesformen müssen also sowohl als prinzipiell vorbegrifflich als auch als übersinnlich (über der Sinnlichkeit liegend) angesprochen werden. Als solche scheinen sie sich manchmal auch Kant wider seinen Willen aufzudrängen, denn sie erinnern ja in gewissen Punkten an seine «Synthesis» der Einbildungskraft in der ersten Auflage seiner Kritik der reinen Vernunft. Doch Kant hat weder in der ersten (A) noch in der zweiten (B) Auflage der Kritik der reinen Vernunft noch sonst wo die Einbildungskraft als vorbegrifflichen Verstand gedacht. Gerade die Schwierigkeiten, die Kant seine Idee der Einbildungskraft bereitete, weisen auf ein prinzipielles Ungenügen in Kants Denken hin: auf seine verfehlte Bestimmung des Verhältnisses
1. Kapitel. Die erste Stufe der Vernunft
von Sinnlichkeit und Verstand. Damit werde ich mich im ersten Paragrafen des nächsten, zweiten Kapitels (§ 16) beschäftigen.
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2. Kapitel. Die Sinnlichkeit
§ 17 Kritische Auseinandersetzung mit Kants Auffassung der Sinnlichkeit a) Zweck meiner kritischen Auseinandersetzung mit Kants Auffassung der Sinnlichkeit In den voranstehenden Ausführungen des ersten Kapitels über den Verstand als Vergegenwärtigen von etwas wurde die Sinnlichkeit in Gegenüberstellung zu ihm als unmittelbares Bewusstsein von Gegenwärtigem oder als Gegenwärtigen von etwas charakterisiert. In diesem zweiten Kapitel soll versucht werden, die Sinnlichkeit in sich selbst zu charakterisieren. Um die Eigenart dieser Charakterisierung deutlich zu machen, möchte ich kritisch an Kant anknüpfen. Mein Versuch, Sinnlichkeit und Verstand (bzw. Vernunft) prinzipiell zu unterscheiden, kann den Eindruck einer Rückkehr zu Kant erwecken.1 Die nachkantische Philosophie zeichnet sich ja durch die Aufhebung eines solchen radikalen Unterschiedes aus, indem im deutschen Idealismus und in der begrifflichen Formulierung noch bis zu Husserls Phänomenologie die Sinnlichkeit vom Verstand absorbiert wird. Die Reaktion auf diesen Intellektualismus, für die Husserls Phänomenologie der subjektiven Leiblichkeit auf ihre Weise beigetragen hat, schenkte die ganze Aufmerksamkeit dem sinnlich-leiblichen Fungieren, versuchte die Verstandesfunktionen weitgehend auf dieses Fungieren zurückzuführen und sah sie nicht als eigenes, ursprüngliches Prinzip. Doch mein «Zurück zu Kant» hat ausschliesslich kritischen Sinn: Durch diese kritische Rückkehr wird das Verschwinden des radikalen Unterschiedes zwischen Sinnlichkeit und Verstand in der modernen Philosophie an seiner Quelle erfasst. Das Ziel dieser Studie über die Vernunft ist zu zeigen, dass Sinnlichkeit und Verstand des Menschen auf verschiedenen Tätigkeitsprinzipien beruhen, dass in diesem Sinne weder die Sinnlichkeit auf den Verstand, noch der Verstand auf die Sinnlichkeit reduziert werden können, dass zwischen bloss sinnlich aktiven TieKritik der reinen Vernunft: «[…] zuerst die Sinnlichkeit isolieren» (A 22/B 36). «In der transzendentalen Logik isolieren wir den Verstand (so wie oben in der transzendentalen Ästhetik die Sinnlichkeit) und heben bloss den Teil des Denkens aus unserem Erkenntnisse heraus, der lediglich seinen Ursprung in dem Verstande hat.» (A 62/B 87).
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Teil I. Was ist Vernunft im Gegensatz zur Sinnlichkeit?
ren und dem vernünftigen Menschen ein prinzipieller Unterschied besteht. Wahrscheinlich eine Folge der Verwischung dieses Unterschiedes ist schliesslich die Reduktion des Menschen auf seinen materiellen Körper, die Reduktion seines Verstandes und seiner Vernunft auf sein Gehirn. b) Drei Merkmale der Sinnlichkeit in Kants Kritik der reinen Vernunft: Sie tut nichts, sie ist blosse Mannigfaltigkeit (bildet keine Einheit) und sie ist in sich nichts, geht uns in sich nichts an Die Sinnlichkeit zeichnet sich in der Kritik der reinen Vernunft durch die folgenden drei Merkmale aus: Erstens, sie tut nichts. Sie ist blosse Rezeptivität (Empfänglichkeit) des Subjekts, blosse Fähigkeit, affiziert oder modifiziert (verändert) zu werden; sie ist keine Funktion. Zweitens, die Sinnlichkeit ist für sich genommen blosse Mannigfaltigkeit, entweder empirische Mannigfaltigkeit der Empfindungen oder reine, d. h. Raum und Zeit bedingende Mannigfaltigkeit. Sie bildet keine Einheit: keinen Zusammenhang, keine Konfiguration, keinen Kontext, keine Gestalt, keine Kontinuität, keine Affinität von Inhalten.2 Die Sinnlichkeit bietet nicht einmal eine Mannigfaltigkeit als solche, denn um sich einer solchen bewusst zu sein, bedürfte es eines einheitlichen Bewusstseins dieser Mannigfaltigkeit.3 Die Sinnlichkeit bringt nicht Raum- und Zeitanschauungen hervor, sondern enthält dazu nur die formalen apriorischen Bedingungen; denn zu solchen Anschauungen bedarf es der Synthesen (Zusammensetzungen) der Apprehension (Hinzunehmens) und der Reproduktion (Wiedererzeugens), die als Handlungen nicht sinnlich sind.4 Für sich A.a.O., A 113. A.a.O., A 99, 103. 4 «Damit nun aus diesem Mannigfaltigen Einheit der Anschauung werde (wie etwa in der Vorstellung des Raumes), so ist erstlich das Durchlaufen der Mannigfaltigkeit und dann die Zusammennehmung desselben notwendig, welche Handlung ich die Synthesis [Zusammensetzung] der Apprehension nenne, weil sie geradezu auf die Anschauung gerichtet ist, die zwar ein Mannigfaltiges darbietet, dieses aber als ein solches, und zwar in einer Vorstellung enthalten, niemals ohne eine dabei vorkommende Synthesis bewirken kann. Diese Synthesis der Apprehension muss nun auch a priori, d. i. in Ansehung der Vorstellungen, die nicht empirisch sind, ausgeübt werden. Denn ohne sie würden wir weder die Vorstellungen des Raumes, noch die der Zeit a priori haben können: da diese nur durch die Synthesis des Mannigfaltigen, welches die Sinnlichkeit in ihrer ursprünglichen Rezeptivität darbietet, erzeugt werden können. Also haben wir eine reine Synthesis der Apprehension.» (a.a.O. A 99/100) Aber nicht nur die Synthesis der Apprehension, sondern auch diejenige der Reproduktion, mit der jene «unzertrennlich verbunden» ist (A 102), ist für die Raum- und Zeitanschauung notwendig. Denn würde ich z. B. die ersten Teile einer Linie oder die vorhergehenden Teile der Zeit immer aus den Gedanken verlie2 3
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genommen sind die vielen Momente des sinnlich Mannigfaltigen einander «ganz fremd, gleichsam isoliert und […] getrennt».5 «Weil aber jede Erscheinung ein Mannigfaltiges enthält, mithin verschiedene [sinnliche] Wahrnehmungen im Gemüte an sich zerstreut und einzeln angetroffen werden, so ist eine Verbindung derselben nötig, welche sie in dem Sinne selbst nicht haben können.»6 Kant schreibt zwar in der ersten Auflage (A) der Kritik der reinen Vernunft von der «Synopsis [Zusammenschau] des Mannigfaltigen a priori durch den Sinn»7, womit er doch den Sinnen die Fähigkeit einer einheitlichen Zusammenschau zuzusprechen scheint. Aber schon zwei Seiten später erklärt er: «Wenn ich also dem Sinn deswegen, weil er in seiner Anschauung Mannigfaltigkeit enthält, Synopsis beilege, so korrespondiert jederzeit eine Synthesis, und die Rezeptivität [Sinnlichkeit] kann nur mit Spontaneität [Verstand] verbunden Erkenntnis möglich machen.»8 M. a. W., die Synopsis beruht auf den Synthesen der Apprehension und Reproduktion und gehört daher nicht zur blossen Sinnlichkeit. Konsequenterweise kommt in der zweiten Auflage (B) der Kritik der reinen Vernunft die «Synopsis durch den Sinn» nicht mehr vor. Die Momente der sinnlichen Anschauung (die Empfindungen) sind nach Kant in sich bloss räumlich und zeitlich punktuell, sie sind «in einem Augenblick enthalten»9 und werden erst aufgrund der formalen Beschaffenheit der Rezeptivität von einem spontanen Vermögen zu Raum- und Zeitgestalten vereinheitlicht. Drittens erklärt Kant von der Sinnlichkeit, dass sie «nichts ist und uns nicht im mindesten etwas anginge», wenn sie nicht in der Verstandeseinheit der «transzendentalen Apperzeption» aufgenommen wäre.10 Soll Sinnliches für uns überhaupt etwas sein, soll es sinnliche Erscheinungen geben, so müssen sie in der transzendentalen Einheit des «Ich» (erste Auflage der Kritik der reinen Vernunft oder, in der zweiten Auflage, des «Ich denke») stehen.11
ren und sie nicht reproduzieren, indem ich zu den folgenden fortgehe, so würde keine Vorstellung von Raum und Zeit entstehen können.» (A 102) «Der Raum als Gegenstand vorgestellt (wie man es wirklich in der Geometrie bedarf) enthält mehr als blosse Form der Anschauung, nämlich Zusammenfassung [Apprehension und Reproduktion] des Mannigfaltigen. […] Diese Einheit hatte ich in der [transzendentalen] Ästhetik bloss zur Sinnlichkeit gezählt, um nur zu bemerken, dass sie vor allem Begriffe vorhergehe, ob sie zwar eine Synthesis, die nicht den Sinnen angehört […], voraussetzt.» (B 160/161 Anm.) 5 A.a.O., A 97. 6 A.a.O., A 120. 7 A.a.O., A 95. 8 A.a.O., A 97. 9 A.a.O., A 99. 10 A.a.O., A 116; vgl. A 111 und 112. 11 A.a.O., A 111/112, 119, 127.
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c) Die Einbildungskraft als ursprüngliches Vermögen und als Vermittlerin zwischen sinnlicher Anschauung und Verstand in der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft Kants Auffassung der Sinnlichkeit kann nur in ihrem Verhältnis zu seiner Idee der Spontaneität (Tätigkeit) voll gewürdigt werden. Schon in der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft wird der Verstand in einem weiten Sinne einfach mit der «Spontaneität des Erkenntnisses» gleichgesetzt.12 Aber nach dieser Auflage fallen unter den Titel der Spontaneität doch «zwei Quellen (Fähigkeiten oder Vermögen) der Seele»13, nämlich die Einbildungskraft und die transzendentale Apperzeption. Die Einbildungskraft wird in dieser ersten Auflage noch klar als ein «Grundvermögen der menschlichen Seele» aufgefasst,14 «das von keinem anderen Vermögen des Gemüts abgeleitet werden kann».15 Die zweite Auflage wird von dieser Position abrücken. Nach der ersten Auflage ist die Einbildungskraft das Vermögen der Synthesis schlechthin.16 Sie ist hier «eine blinde [begriffslose], obschon unentbehrliche Funktion der Seele».17 Ihre Synthesis ist nicht intellektuell, sondern sinnlich: Die reine Apperzeption (das stehende und bleibende Ich) ist es nun, welche zu der reinen Einbildungskraft hinzukommen muss, um sie intellektuell zu machen. Denn an sich selbst ist die Synthesis der Einbildungskraft, obgleich a priori ausgeübt, dennoch jederzeit sinnlich, weil sie das Mannigfaltige [der Empfindungen] nur so verbindet, wie es in der Anschauung erscheint, z. B. die Gestalt eines Triangels. Durch das Verhältnis des Mannigfaltigen aber zur Einheit der Apperzeption werden Begriffe, welche dem Verstand angehören, aber nur vermittelst der Einbildungskraft in Beziehung auf die sinnliche Anschauung zustande kommen können.18
Die «Synthesis der Einbildungskraft» ist nach der ersten Auflage in sich nicht begrifflich, sie birgt auch nicht unbewusst irgendwelche begriffliche Einheit in sich. «Diese Synthesis [der mannigfaltigen Empfindungen durch die Einbildungskraft] auf Begriffe zu bringen, das ist eine Funktion, die dem Verstande [der Einheit der Apperzeption] zukommt, wodurch er uns allererst Erkenntnis in eigentlicher Bedeutung verschafft.»19 Wenn nun aber die Einbildungskraft, dieses «notwendige Ingredienz der Wahrnehmung»20 in sich blind [d. h. für Kant ohne 12 13 14 15 16 17 18 19 20
A.a.O., A 51; B 75. Ebenda. A.a.O., A 124. A.a.O., A 94. A.a.O., A 51; B 75. Ebenda. A.a.O., A 124. A.a.O., A 78; B 103. A.a.O., A 120 Anm.
2. Kapitel. Die Sinnlichkeit
Begriffe] ist, was verbietet dann Kant, die Synthesis der Einbildungskraft einfach zur Sinnlichkeit zu rechnen? Man könnte antworten: Weil nach ihm Sinnlichkeit nur Rezeptivität, Synthesis dagegen Spontaneität ist. Aber damit wäre das Grundproblem nicht gelöst. Denn dieses besteht gerade in der Frage, warum Kant die Sinnlichkeit nicht als Spontaneität auffassen konnte, wenn es nach ihm eine Synthesis gibt, die in sich unbegrifflich, nicht intellektuell, «an sich selbst noch jederzeit sinnlich» ist. Die Antwort auf diese Frage kann nur in Kants Auffassung des Verhältnisses zwischen Sinnlichkeit und Verstand liegen: Kant konnte die an sich nichtintellektuelle Spontaneität deshalb nicht als Sinnlichkeit fassen, weil nach ihm die Einbildungskraft, sofern von der transzendentalen Apperzeption und der in ihr enthaltenen begrifflichen Einheit, also vom Verstand im prägnanten Sinn, abgesehen wird, zwar «durchgeht, aufnimmt und verbindet»,21 aber doch keine Einheit, keinen wirklichen Zusammenhang zustande bringt. Die Sinnlichkeit ist nach Kant überhaupt keiner Einheit fähig, sondern alle Einheit ist nach ihm Einheit aus dem Verstand. So kann die Synthesis der Einbildungskraft (wenn sie nicht schon wie in der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft eine Wirkung des Verstandes selbst auf die Sinnlichkeit ist) nur in ihrer Beziehung zum Verstand, d. h., nur als ein zwischen der Verstandeseinheit und der sinnlichen Vielheit vermittelndes Vermögen bestehen, «durch das die äusseren Enden, nämlich Sinnlichkeit und Verstand […] notwendig zusammenhängen»,22 und nicht als etwas bloss Sinnliches. Genauer bedeutet dies Folgendes: Ohne die begriffliche Verstandeseinheit könnte nach Kant die Einbildungskraft regellose, sozusagen völlig verrückte Verbindungen herstellen: d. h., sie hätte gar keinen Grund, die vielen Empfindungen so und nicht anders zu verbinden. Ohne den Verstand wäre die Synthesis der Einbildungskraft «eine Rhapsodie von Wahrnehmungen, die sich in keinen Kontext nach Regeln […] schicken würde»,23 sie wäre «regellos herumschweifende Einbildungskraft»,24 «kein bestimmter Zusammenhang der Vorstellungen, sondern bloss regellose Haufen».25 Ohne transzendentalen Grund begrifflicher Einheit «würde es möglich sein, dass ein Gewühl von Erscheinungen unsere Seele erfüllete.»26 Ein solches «blindes [begriffsloses] Spiel der Vorstellungen» wäre «weniger als ein Traum»,27 es wäre für uns «so viel als gar nichts»,28 da es nicht 21 22 23 24 25 26 27 28
A.a.O., A 76/77; B 102. A.a.O., A 124. A.a.O., A 156; B 195. Anthropologie vom pragmatischen Standpunkt, Akademieausgabe, S.177. Kritik der reinen Vernunft, A 121. A.a.O., A 111. A.a.O., A 112. A.a.O., A 111.
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in die Einheit des Verstandes, in das ursprüngliche Ichbewusstsein der transzendentalen Apperzeption aufgenommen werden kann: Wollen wir nun den inneren Grund dieser Verknüpfung der Vorstellungen bis auf denjenigen Punkt verfolgen, in welchem sie alle zusammenlaufen müssen, um darin allererst Einheit der Erkenntnis zu einer möglichen Erfahrung zu bekommen, so müssen wir von der reinen [Ich‐]Apperzeption anfangen. Alle [sinnlichen] Anschauungen sind für uns nichts und gehen uns nicht im mindesten etwas an, wenn sie nicht ins [Ich‐]Bewusstsein aufgenommen werden können, sie mögen nun direkt oder indirekt darauf einfliessen […].29
Dass die sinnlichen Erscheinungen, wie Kant sagt, eine Affinität haben, aufgrund derer sie reproduzierbar, d. h. assoziierbar sind, beruht nicht in ihrer Sinnlichkeit, sondern auf dem Grundsatz der Apperzeption, d. h. auf dem Verstand.30 Würde der Zinnober bald rot, bald schwarz, bald schwer, bald leicht sein, ein Mensch bald in diese, bald in jene tierische Gestalt verändert werden, am längsten Tag das Land bald mit Früchten, bald mit Schnee und Eis bedeckt sein, so könnte meine empirische Einbildungskraft nicht einmal die Gelegenheit bekommen, bei der Vorstellung der roten Farbe den schweren Zinnober in die Vorstellung zu bekommen […].31
Ohne regelmässigen Zusammenhang oder ohne Affinität der Erscheinungen würde es auch etwas ganz Zufälliges sein, dass sich die Erscheinungen in einen Zusammenhang der menschlichen Erkenntnisse schickten. Denn ob wir gleich das Vermögen hätten, Wahrnehmungen zu assoziieren, so bliebe es doch an sich ganz unbestimmt und zufällig, ob sie auch assoziabel wären; und in dem Falle, dass sie es nicht wären, so würde eine Menge von Wahrnehmungen und auch wohl eine ganze Sinnlichkeit möglich sein, in welcher viel empirisches Bewusstsein in meinem Gemüt anzutreffen wäre, aber getrennt […].32
Die «durchgängige Affinität der Erscheinungen» ist aber nur durch die Gesetzmässigkeit begreiflich, die a priori im Verstande (in der transzendentalen Apperzeption) liegt.33 Nach dem Grundsatz der transzendentalen Apperzeption «müssen durchaus alle Erscheinungen so ins Gemüt kommen […], dass sie zur Einheit der Apperzeption zusammenstimmen, welche ohne synthetische Form in ihrer Verknüpfung […] unmöglich sein würde».34 Würde man also nach Kant der Sinnlichkeit die Spontaneität (Aktivität) der Synthesis zuschreiben, bzw. würde man die Einbildungskraft als sinnlich betrachten (ohne dass sie durch den 29 30 31 32 33 34
A.a.O., A 116. A.a.O., A 122. A.a.O., A 100/101. A.a.O., A 121/122. A.a.O., A 113/114. A.a.O., A 122.
2. Kapitel. Die Sinnlichkeit
Verstand intellektuell gemacht ist), so wäre die Sinnlichkeit in sich selbst «verrückt»: ohne inneren Zusammenhang, ohne innere Einheit, ohne geordneten Zusammenhang der Erscheinungen, ein «blosses Gewühl» von Vielem. Der in Kants Auffassung des Verhältnisses zwischen Sinnlichkeit und Verstand liegende Gedanke, dass eine Sinnlichkeit ohne die Einheit des Verstandes ein Chaos wäre, hat zwei Stufen: Auf der ersten Stufe erklärt Kant bloss, dass ohne die Einheit der transzendentalen Apperzeption die Affinität der Erscheinungen «zufällig», aber doch möglich wäre.35 Auf einer radikaleren Stufe wird aber selbst einer zufälligen sinnlichen Ordnung der Erscheinungen ohne Verstand jegliche Realität abgesprochen. Selbst wenn zufällig die Erscheinungen ohne Verstand eine Regelmässigkeit der Affinität aufweisen würden, so bilden sie dennoch keinen einheitlichen, umfassenden Zusammenhang, in dem solche Regelmässigkeit überall zur Geltung kommen könnte. Denn Kant schreibt der Sinnlichkeit kein vereinheitlichendes, organisierendes Prinzip zu, aufgrund dessen zusammenhängende, sinnliche Einheiten möglich wären, die für ein bloss sinnlich erfahrendes Subjekt Sinn haben. Ausserhalb der Verstandeseinheit des ursprünglichen Ichbewusstseins ist alles «für uns nichts», «überall nichts».36 Wenn nach der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft die nicht zum Verstand gehörige Einbildungskraft sich überhaupt nur im Hinblick auf den Verstand sinnvoll betätigen kann und daher nicht nur zur Sinnlichkeit zu rechnen ist, so ist ihre Stellung als ein ursprüngliches Grundvermögen der Seele problematisch: Warum muss sich dieses Vermögen nach der begrifflichen Verstandeseinheit richten? Wie kann es überhaupt als ein blindes, d. h. nicht begriffliches Vermögen, diese begriffliche Einheit «zur Absicht haben»?37 Warum muss in der Synthesis der Einbildungskraft eine begriffliche Funktion zur Geltung kommen, die alle Synthesis der empirischen Apprehension einer transzendentalen Einheit unterwirft, die den Zusammenhang dieser Synthesis nach Begriffen a priori möglich macht? Was macht eine solche Teleologie notwendig, ja überhaupt möglich? Die Antwort, die Kant in der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft auf diese Fragen zur Verfügung hat, ist nicht befriedigend: Alle [sinnlichen] Anschauungen sind für uns nichts und gehen uns nicht im mindesten etwas an, wenn sie nicht ins Bewusstsein aufgenommen werden können […]. Wir sind uns a priori der durchgängigen [Ich‐]Identität unserer selbst in Ansehung aller Vorstellungen, die zu unserer Erkenntnis jemals gehören können, bewusst, als einer notwendigen Bedingung der Möglichkeit aller Vorstellungen [auch der sinnlichen Anschauungen]. […] Dieses Prinzip steht a priori fest und kann das transzendentale Prinzip der Einheit
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Vgl. z. B. a.a.O., A 111, 124. A.a.O., A 120. A.a.O., A 123.
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alles Mannigfaltigen unserer Vorstellungen (mithin auch der [sinnlichen] Anschauung) heissen.38
Die Synthesis der Einbildungskraft muss den Verstandeskategorien gehorchen, weil sonst ihre Vorstellungen gar nicht in der durchgängigen Einheit des Selbstbewusstseins bewusstwerden könnten, und «ohne das Verhältnis zu einem wenigstens möglichen [Ich‐]Bewusstsein würde Erscheinung […] für uns nichts sein».39 Aber «für uns nichts» bedeutet nur für uns als Verstandessubjekte nichts und nicht für uns als sinnliche Subjekte nichts. Wenn aber unsere Einbildungskraft wirklich ein ursprüngliches Grundvermögen unserer Seele ist, ist nicht einzusehen, warum sie nicht unabhängig von uns als Verstandessubjekte für uns als auch sinnlich anschauende und auch sonst wie sinnlich lebende Subjekte einen konsistenten sinnvollen Zusammenhang von sinnlichen Erfahrungseinheiten zur Erscheinung bringen könnte. d) Die Einbildungskraft als «Wirkung des Verstandes auf die Sinnlichkeit» in der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft In der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft beseitigt Kant die im voranstehenden Abschnitt b) angeführten Schwierigkeiten. Die Einbildungskraft ist kein «Grundvermögen der Seele» mehr. Die Stellen, an denen Sinn, Einbildungskraft und Apperzeption als drei ursprüngliche Instanzen hingestellt werden,40 sind weggelassen; nur im Schematismuskapitel, das unverändert in die zweite Auflage übernommen ist, obschon es ihrer Grundkonzeption nicht entspricht (und daher auch von den meisten Neukantianern, die sich an die zweite Auflage hielten, beiseite geschoben wurde), wird noch beiläufig zwei Mal auf diese ursprüngliche Dreiheit verwiesen.41 Die neue Konzeption der zweiten Auflage besteht in einem neuen Verhältnis zwischen Verbindung und ursprünglicher Bewusstseinseinheit. War die Synthesis in der ersten Auflage die Wirkung eines blinden (begriffslosen), also nicht-verständigen Grundvermögens und als solche von der Verstandeseinheit der Apperzeption unabhängig, so macht nun nach der zweiten Auflage diese Einheit die Synthesis erst möglich: Aber der Begriff der Verbindung führt ausser dem Begriff des Mannigfaltigen und der Synthesis desselben noch den der Einheit desselben mit sich. Verbindung ist Vorstellung der synthetischen Einheit des Mannigfaltigen. Die Vorstellung der Einheit kann also nicht
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A.a.O., A 116. A.a.O., A 120; vgl. A 117. A.a.O., A 94/95, 115. A.a.O., A 115/B 194 und A 158/B 197.
2. Kapitel. Die Sinnlichkeit
aus der Verbindung entstehen, sie macht vielmehr dadurch, dass sie zur Vorstellung des Mannigfaltigen hinzukommt, den Begriff der Verbindung allererst möglich.42
Die Synthesis wird zwar noch als Voraussetzung der Bewusstseinseinheit bezeichnet,43 aber sie ist eine Voraussetzung, die nicht unabhängig vom sie Voraussetzenden besteht, sondern in diesem enthalten ist: «Nämlich diese durchgängige Identität der Apperzeption enthält eine Synthesis der Vorstellungen und ist nur durch das Bewusstsein dieser Synthesis möglich.»44 Dieses merkwürdige Verhältnis einer Voraussetzung, die das sie Voraussetzende voraussetzt, bedeutet letztlich die Identität der beiden: «Ich bin mir einer notwendigen Synthesis der Vorstellungen a priori bewusst, welche die ursprüngliche synthetische Einheit der Apperzeption heisst, unter der alle mir gegebenen Vorstellungen stehen, aber unter die sie auch durch eine Synthesis gebracht werden müssen.»45 Die ursprüngliche Einheit der Apperzeption wird also selbst zur Synthesis meiner Vorstellungen. In der ersten Auflage war die ursprüngliche Apperzeption als eine statische «unwandelbare»46 Einheitsform gedacht. Zwar ist sie auch da nur im Bewusstsein der «Identität der Funktion möglich, wodurch sie das Mannigfaltige synthetisch in einer Einheit verbindet».47 Aber diese identische Funktion ist Einheit in der Synthesis der Einbildungskraft, auf die sich die «transzendentale Apperzeption» «bezieht».48 Der Verstand wird in der ersten Auflage entsprechend definiert als die Einheit der Apperzeption in Beziehung auf die Synthesis der Einbildungskraft.49 Während die ursprüngliche numerische Einheit oder Identität in der ersten Auflage statisch als «stehendes und bleibendes Ich» bezeichnet wird,50 heisst sie in der zweiten Auflage «Ich denke»,51 wodurch ihr Tatcharakter angezeigt ist. Das «Ich denke» ist ein «Aktus der Spontaneität» oder der Selbsttätigkeit,52 und diese Tätigkeit ist Synthesis.53 Entsprechend wird nun auch die Einbildungskraft, deren Wirkung in der ersten Auflage die Synthesis war, in den Verstand aufgelöst. Zwar gibt es auch noch in der transzendentalen Deduktion der Kategorien A.a.O., B 130/131. A.a.O., B 134/135. 44 A.a.O., B 133. 45 A.a.O., B 135/136. 46 A.a.O., A 107. 47 A.a.O., A 108. 48 A.a.O., A 118. 49 A.a.O., A 119. 50 A.a.O., A 123. 51 A.a.O., B 131. 52 A.a.O., B 132, 157/158. 53 «Verbindung […] ist allein eine Verrichtung des Verstandes, der nichts weiteres ist als das Vermögen, a priori zu verbinden und das Mannigfaltige gegebener Vorstellungen unter Einheit der Apperzeption zu bringen, welcher Grundsatz der oberste im ganzen menschlichen Erkenntnis ist.» (B 134/135) 42
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der zweiten Auflage Einbildungskraft, aber nicht mehr als ein eigenes unableitbares Grundvermögen der Seele, sondern als «Wirkung des Verstandes auf die Sinnlichkeit».54 Entsprechend unterscheidet Kant hier zwischen zwei verschiedenen transzendentalen Synthesen: der reinen Verstandessynthese (synthesis intellectualis) und der figürlichen Synthesis (synthesis speciosa) der Einbildungskraft. Diese figürliche ist aber nicht eine gegenüber der Verstandessynthese eigenständige Tätigkeit, sondern sie ist die Verstandessynthese, sofern diese nicht bloss in sich «in Ansehung des Mannigfaltigen überhaupt», sondern konkret als Bestimmung unserer Sinnlichkeit gedacht wird: Die transzendentale Synthesis der Einbildungskraft ist der Einfluss des Verstandes auf den inneren Sinn.55 Sie ist nur eine «Benennung des Verstandes», sofern er auf die Sinnlichkeit (das passive Subjekt) wirkt, es affiziert. Das sich in der ersten Auflage stellende Problem, warum die blinde (begriffslose) Einbildungskraft sich in ihren Verbindungen des Mannigfaltigen nach der begrifflichen Verstandeseinheit richten muss, ist in der zweiten Auflage «gelöst», genauer, stellt sich gar nicht. In einer Anmerkung gibt Kant noch folgende Erklärung: Auf solche Weise wird bewiesen, dass die Synthesis der Apprehension, welche empirisch ist, der Synthesis der Apperzeption, welche intellektuell und gänzlich a priori in der Kategorie enthalten ist, notwendig gemäss sein müsse. Es ist ein und dieselbe Spontaneität, welche dort unter dem Namen der Einbildungskraft, hier des Verstandes, Verbindung in das Mannigfaltige der Anschauung hinein bringt.56
In dieser Weise reduziert Kant in seiner Kritik der reinen Vernunft alle Spontaneität, alle Aktivität des Menschen ausschliesslich auf seine Verstandesaktivität und stellt seine Sinnlichkeit als blosse Rezeptivität oder Passivität hin. Wie schon gesagt, tut die Sinnlichkeit nach Kant nichts, sie wirkt nicht – und was nicht wirkt, ist auch nichts Wirkliches (Leibniz). In diesem Sinne löst sie sich bei Kant völlig auf.
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A.a.O., B 152. A.a.O., B 154. A.a.O., B 162 Anm.
2. Kapitel. Die Sinnlichkeit
§ 18 Sinnlichkeit als Gegenwärtigen (gegenwärtig Machen) von etwas. Die leibliche Tätigkeit des Gegenwärtigens. Die beständig zeitlich fliessende Gegenwart a) Vorbemerkung über den Unterschied zwischen Vergegenwärtigen von etwas (Verstand) und Gegenwärtigen von etwas (Sinnlichkeit) Während im voranstehenden ersten Kapitel Verstand als Vergegenwärtigen von etwas bestimmt wurde, möchte ich in diesem zweiten Kapitel Sinnlichkeit als blosses Gegenwärtigen (gegenwärtig Machen) von etwas, unter Absehen von allem Vergegenwärtigen von etwas (also unter Absehen vom Verstand), zu fassen versuchen. Gegenwärtigen von etwas, z. B. das leiblich-sinnliche Sehen, Riechen, Essen und Schmecken einer vor mir stehenden Speise, ist ein Bewusstsein von etwas Gegenwärtigem. Während Vergegenwärtigen Bewusstsein eines Bewusstseins von etwas, z. B ein sich Erinnern ein Bewusstsein von etwas von mir erlebtem (bewusst gewesenen) Vergangenen ist, ist Gegenwärtigen nicht Bewusstsein eines Bewusstseins von etwas, sondern bloss Bewusstsein von etwas Gegenwärtigem, z. B. das mit meinen leiblichen Sinnen Wahrnehmen der jetzt vor mir stehenden Speise. Dieses gegenwärtigende Bewusstsein nenne ich ein unmittelbares Bewusstsein, während ich Vergegenwärtigen von etwas ein mittelbares Bewusstsein von etwas nenne, weil z. B. das jetzige Erinnerungsbewusstsein an etwas von mir Wahrgenommenes, das erinnerte vergangene Wahrnehmungsbewusstsein von diesem Wahrgenommenen vermittelt. b) Das Gegenwärtigen von etwas ist keine blosse Passivität oder Rezeptivität, sondern eine leiblich-sinnliche Aktivität Das leiblich-sinnliche Sehen, Riechen, Essen und Schmecken einer vor mir stehenden Speise sind Tätigkeiten. Auch wenn ich in der Küche bei nächtlicher Dunkelheit oder mit verschlossenen Augen herumgehe und etwas vor mir, auf das ich mit meinen ausgestreckten Händen stosse, mit meinen Händen ertaste und dadurch eine Ananas sinnlich wahrnehme, ist dies ein Tun. Auch Hören von etwas Gegenwärtigem ist ein Tun: Ich wende ihm meinen Leib und meinen Kopf mit seinen Ohren zu und lausche aufmerksam.
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c) Die elementarste notwendige Bedingung einer leiblich-sinnlichen Tätigkeit. Die Ausrichtung auf etwas, was noch nicht ist Was ist die elementarste notwendige Bedingung einer solchen leiblich-sinnlichen Tätigkeit? Eine solche Tätigkeit in der Gegenwart ist notwendig ein Öffnen einer unmittelbaren Zukunft, ein sich Vorausspannen, ein Erwarten von einem Nochnicht, ein Vorauslangen in einen zum Gegenwärtigen gehörenden Zukunftsraum. Ein bloss leiblich-sinnliches Subjekt, das nicht mehr vorauslangt, versinkt in Schlaf. Durch dieses Vorauslangen unterscheidet sich das leiblich-sinnliche Tun von einem Geschehen, das durch etwas Vergangenes verursacht ist, z. B. von einem Reflex meines unteren Beines, der durch einen leichten Hammerschlag auf eine Stelle unterhalb des Knies hervorgerufen wird, oder wenn ich durch etwas Unerwartetes erschrecke. Oder dadurch unterscheidet sich mein gegenwärtiges Tun von einem automatischen blossen Reagieren, z. B. vom Kratzen, wenn es mich plötzlich irgendwo an meinem Leib juckt. Dieses sich Vorhalten von Zukunft ist kein blosser Drang wie Hunger, kein blosser Impuls wie die Wut, wenn jemand auf den Erdbeeren in meinem Garten herumläuft. Denn solche Tendenzen sind keine Tätigkeiten, in denen wirksam und damit wirklich ist, was noch nicht ist. Die leiblich-sinnliche Tätigkeit ist immer auf das Kommende gerichtet, es wendet sie nie zurück, seine Reichung geht nie zum Vergangenen. Nicht als ob das Vergangene für es als mögliche Richtung des Hinwendens bestünde, die es nur faktisch, aus irgendwelchen Gründen nicht verwirklichte, sondern das Vorwärts ist die einzig mögliche Richtung der leiblich-sinnlichen Tätigkeit. Eine Zurückwendung zur Vergangenheit ist Vergegenwärtigen von vergangenem Tun von etwas, ist mittelbares Bewusstsein, ist Verstand. Blaise Pascal schrieb: «Wir leben nie, sondern hoffen zu leben» (nous ne vivons jamais, mais nous espérons de vivre. Pensées 47).57 Dies entspricht ziemlich genau dem «Prinzip Hoffnung», dem Hauptwerk von Ernst Bloch (1885–1977), das zum ersten Mal 1954 in der DDR erschien. Obschon Pascal jenen Satz in einem ganz anderen Zusammenhang schrieb, nämlich in Hinblick auf eine nie geschriebene «Apologie der christlichen Religion», und daher dieser Satz eine andere Bedeutung hat als das oben Ausgeführte, so besteht doch auch eine gemeinsame Bedeutung.
57 Blaise Pascal. Œuvres completes, éditées par Louis Lafuma, Editions du Seuil, Paris 1963, S. 506.
2. Kapitel. Die Sinnlichkeit
d) Die drei unselbstständigen zeitlichen Momente des Gegenwärtigens nach Edmund Husserl: Urimpression des Aktuellen (Jetzt), Retention des in die Vergangenheit Versinkenden und Protention des Kommenden Nach Husserl gehören zum sinnlichen Wahrnehmen eines konkret Gegenwärtigen drei unselbstständige Momente: Urimpression des Aktuellen (Jetzt), Retention (Zurückhalten) des ins Vergangene Versinkenden und Protention (Voraushalten) des unmittelbar Kommenden. Die Protention bezeichnete Husserl der Sache nach als eine von der Retention motivierte «vorgestülpte» Retention.58 Das Voraushalten (Protention) wäre also nach Husserl weniger ursprünglich als das Zurückhalten (Retention). Es ist aber darauf zu achten, dass Husserl mit «Protention» nicht das ursprüngliche Vorauslangen oder Vorhalten des sinnlichen Wahrnehmens erfasst, sondern damit eine Vorzeichnung oder Antizipation des Kommenden aufgrund einer Ähnlichkeitsassoziation meint: «Gemäss des als geschehen retentional Bewussten ist ein Neues gleichen Stils als kommend ‹zu erwarten›»;59 das Kommende wird in Analogie zum soeben Vergangenen als so und so erwartet. In einem Text aus dem Jahr 1927 bezeichnet Husserl das, was den Stil des Kommenden durch Analogie bestimmt, nicht nur als das soeben Vergangene der Retention, sondern auch als das Impressionale, das in der Wahrnehmung momentan Jetzige.60 So ist nach Husserl die Protention nur ein «voraus geworfener Schatten»,61 d. h. eine Projektion des soeben Vergangenen in das unmittelbar Kommende, und nur so kann er sagen, dass die Erwartung oder Pro-
Edmund Husserl, Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins (1893–1917), herausgegeben von Rudolf Boehm (Husserliana X), Martinus Nijhoff Verlag, Den Haag 1966, S. 289. 59 A.a.O., S. 186. 60 «Wenn ich so für die unmittelbare Antizipation oder Induktion, die im Aufbau der Wahrnehmung auch Protention heisst, unmittelbare Kraft vindiziert habe, die aus der unmittelbaren Fülle der momentanen Wahrnehmung [Impression] und Retention stammt, so habe ich nur noch beizufügen, dass diese Kraft eine Kraft der unmittelbaren Analogisierung ist, Ähnliches weckt Ähnliches, und die Weckung, die […] aus dem retentionalen Residuum der noch nachkommenden erfüllenden Sinngebung Kraft schöpft,, hat einen […] ursprünglichen Vorzug. Höre ich einen Ton, so sinkt das Gehörte [in das Vergangene] herab, es ist nicht mehr gehört, aber ursprüngliche Kraft bleibt noch in Form des Bewusstseins des unmittelbar soeben Gehörthabens, und nach Analogie wird nun im strömenden Wahrnehmen forterwartet, und die Erwartung erfüllt sich: Das Tönen geht fort.» Edmund Husserl, Natur und Geist. Vorlesungen Sommersemester 1927, herausgegeben von Michael Weiler (Husserliana XXXII), Martinus Nijhoff Verlag, Den Haag 2001, S. 139. 61 Edmund Husserl, Analysen zur passiven Synthesis. Aus Vorlesungs- und Forschungsmanuskripten 1918–1926, herausgegeben von Margot Fleischer (Husserliana XI), Martinus Nijhoff Verlag, Den Haag 1966, S. 287. 58
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tention gegenüber der Reproduktion (Retention) höherstufig, d. h. eine «Abwandlung» sei.62 e) Bemerkung zu Husserls Lehre von der Protention als «voraus geworfener Schatten» der Retention: ein solcher «voraus geworfener Schatten» setzt schon ein Vorauslangen auf ein Kommendes voraus, auf das er geworfen werden kann Bei Husserl ist vom ursprünglichen Vorauslangen des sinnlichen Wahrnehmens nicht die Rede. Bei ihm kommt diese ursprüngliche Tendenz auch zur Sprache, aber nicht unter dem Titel der Protention, sondern in seiner Feststellung, dass die Intentionalität des sinnlich wahrnehmenden Bewusstseins vorwiegend der Zukunft zugerichtet sei,63 d. h., dass im sinnlichen Wahrnehmen das Gerichtetsein primär in der protentionalen Linie auf das Kommende liege,64 während die Retention ursprünglich keine Intention im Sinne des Gerichtetseins auf das Soeben enthalte.65 Doch es müsste hervorgehoben werden, dass Vorausgerichtetsein ursprünglicher ist als alle Protention im Sinn der durch die Retention des Soeben vorgezeichneten Vorzeichnung oder Induktion. Denn eine solche Vorzeichnung, ein solcher «voraus geworfener Schatten» setzt schon die Ausrichtung auf ein «Voraus», d. h. ein Vorauslangen auf ein Kommendes voraus, auf das er geworfen werden kann. Leibliches, sinnliches Leben ist vor aller Vorzeichnung Weiterleben, es hat in sich selbst die Tendenz weiterzuleben, bis es einmal lebensmüde wird und dann bald auch stirbt. Auch das gehört zum leiblichen, sinnlichen Leben. f) Der momentan-aktuelle Eindruck in der Zeitlichkeit des Gegenwärtigens Ich knüpfe hier an das an, was Husserl «Urimpression» nennt (siehe oben in diesem § 18 den Abschnitt d)). Die Vorausspannung der leiblich-sinnlichen Tätigkeit des Gegenwärtigens ist nur der «Schwerpunkt» ihrer zeitlichen Struktur. Jedes Gegenwärtigen enthält Momentan-Aktuelles als seinen «Quellpunkt». Durch diesen aktuellen «Eindruck» enthält das Gegenwärtigen seinen ursprünglichen Inhalt. Dieser inhaltliche Eindruck lässt das Vorausspannen entstehen und gibt ihm zugleich eine gewisse Richtung. Ohne diesen Eindruck würde das Gegenwärtigen zum Stillstand kommen. Sobald er entsteht, «bin ich gespannt, was 62 63 64 65
A.a.O., S. 119/120, 290. A.a.O., S. 156; vgl. Husserliana X, S. 106. A.a.O., S. 74, 77. A.a.O., S. 77.
2. Kapitel. Die Sinnlichkeit
jetzt kommt». Wenn mich etwas aus dem Tiefschlaf weckt, bin ich darauf gespannt, was mich weckt und was auf mich zukommt und ich nun tun muss (z. B. das Haus wegen einer Feuersbrunst verlassen). g) Das Behalten des Vergehenden als drittes zeitigendes Moment des Gegenwärtigens Husserl sprach von der Retention (Zurückhalten) des ins Vergangene Versinkenden (siehe oben in diesem § 18 den Abschnitt d)). Im stetigen Fluss des leiblichsinnlichen Gegenwärtigens ist alles Momentan-Aktuelle im Vergehen; es ist in der unmittelbaren Gegenwart nie Seiendes, sondern Entwerdendes. MomentanAktuelles, zeitlich Punktuelles gibt es nur in Einheit mit einem Schweif von immer weiter ins Vergangene Absinkenden. Das zeitlich Versinkende ist in dem Masse im aktuellen Jetzt lebendig behalten, als es für das leiblich-sinnliche Tun «zukunftsweisend», d. h. für das Kommende relevant ist; das Gegenwärtigen erhält sich das am Leben, wodurch es sich in seiner Vorausspannung orientieren kann. Lässt diese Vorausspannung nach, so schrumpft das lebendig Behaltene, immer weiter Vergehende zusammen, es löst sich umso schneller in ein unterschiedsloses Dunkel auf. Z. B., ich lege mich in einem ruhigen Zimmer auf das Sofa und will einer Siesta frönen. Plötzlich brummt eine grosse Stubenfliege herum und stört mich. Da hält sie endlich still, doch sie beginnt kurz darauf, wieder in meinem Zimmer herumzufliegen. So mehrmals. Wenn es wieder still wird, erwarte ich schon im unmittelbaren Behalten des vergangenen Brummens dessen Neubeginn, was mich wachhält. Erwarte ich dieses Brummen nicht mehr, dann fällt das Behalten des vergangenen Brummens dahin – und ich falle endlich in Schlaf. Aber wie schon gesagt, ist dieses Erhalten des Vergehenden im blossen sinnlich-leiblichen Gegenwärtigen nie ein sich Zuwenden zum Vergehenden. In diesem Sinne enthält es keine Intentionalität zum Vergangenen, sondern das Gegenwärtigen trägt es «auf seinem Rücken» und schaut vorwärts. Ich habe mit dem Obigen auf die notwendige Zeitstruktur des leiblich-sinnlichen Gegenwärtigens von unmittelbar Gegenwärtigem hingewiesen. Dieses Gegenwärtigen besitzt aber nicht nur eine zeitliche, sondern immer auch eine räumliche Struktur. Doch bevor ich mich ihr widme (unten im § 25), möchte ich noch einige andere Aspekte des leiblich-sinnlichen Gegenwärtigens erörtern.
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§ 19 Das Empfinden des leiblich-sinnlichen Subjekts als bloss reaktive (passive) Tätigkeit. Wahrnehmen und Empfinden Wenn ich z. B. gegenwärtigend etwas im Dunkeln vor mir mit meinen Fingern abtaste, um wahrzunehmen, was es ist, so dirigiere ich aktiv meine Finger auskundschaftend über es hin. In diesen erkundenden mir zum Erscheinen Bringen des Dinges liegt die Initiative und Leitung der tastenden Selbstbewegung meiner Hände und Finger bei mir selbst. Übe ich als leiblich sich bewegendes Subjekt nicht diese Initiative aus, so kommt nie ein Ding vor mir zur Erscheinung, d. h., ich nehme kein Ding vor mir wahr. Das ist auch dann nicht der Fall, wenn ein Ding irgendwie über meine Finger und Hände mit mehr oder weniger Kraft hingeführt wird oder wenn sie von einem solchen bewegt werden. In diesem Fall empfinde ich an oder in meinen Fingern und Händen z. B. Wärme oder Kälte, Druck, Reiben, Zerren, evtl. Schmerz, aber ich nehme dadurch kein warmes oder kaltes, schweres oder leichtes Ding vor mir wahr. Im wahrnehmenden Betasten spüre ich in oder an meinen Fingern keine Empfindungen, sondern es erscheint vor mir ein Ding mit verschiedenen Eigenschaften, es ist z. B. kalt oder warm. Wird das betastete warme Ding aber so heiss oder so kalt, dass ich es nicht mehr aktiv zu betasten vermag, so brennt es mich oder friert es mich in oder an den Fingern, ich habe in ihnen Schmerzempfindungen der brennenden bzw. frierenden Art, während das wahrgenommene warme Ding vor mir verschwindet, mir nicht mehr erscheint. Oder halte ich mit meinem wahrnehmenden Betasten inne und lasse meine Finger auf dem Ding ruhen, so erlischt die Dingerscheinung, während ich nun in meinen Fingern leichten Druck empfinde. Auch für den visuellen Bereich gilt dieses Verhältnis zwischen leiblich-sinnlichem Wahrnehmen und leiblich-sinnlichem Empfinden. Ein Augenwesen, das seinen Blick nicht durch Selbstbewegen der Augen, des Kopfes, des ganzen Leibes im Herumgehen erkundend auf etwas richten und anschauend dirigieren könnte, ein Augenwesen, das ohne leibliche Selbstbewegung wäre, sähe gar nichts (nähme visuell nichts wahr), sondern hätte nur gewisse verschieden starke Lichtempfindungen. Auch wenn ich durch grelles Licht geblendet meine Augen nicht mehr auf das, was vor mir ist, richten und über es hin dirigieren kann, nehme ich visuell nicht mehr wahr, sondern habe in meinen Augen eine besondere Art von Schmerzempfindungen. Analog ist es auch im Verhältnis zwischen dem wahrnehmenden Hören von Geräuschen, Lauten um mich herum durch leibliches Hinwenden der Ohren und des Kopfes in Richtung auf die Quelle dieser Geräusche oder Laute einerseits, und Schmerzempfindungen in den Ohren andererseits: Wenn diese Geräusche oder Laute so stark oder so hoch und schrill werden, kann ich um mich herum
2. Kapitel. Die Sinnlichkeit
nichts mehr hörend wahrnehmen, sondern «es tut mir in meinen Ohren so weh», dass ich sie mit meinen Händen zuhalten muss. Entsprechendes gilt auch für den Geruchs- und Geschmackssinn, so dass das oben über das Verhältnis zwischen leiblich-sinnlichem Wahrnehmen von etwas und Leibesempfindungen Gesagte für alle fünf menschlichen Sinne zutrifft. Ein leiblich-sinnliches Subjekt nimmt also wahr, sofern es durch Selbstbewegung spontan seine Umgebung erkundet und Sinneinheiten, z. B. etwas Essbares, zum Erscheinen bringt, und es empfindet, sofern es erleidet. Obschon es sich hier um einen radikalen Unterschied handelt, kann, wie die obigen Beispiele zeigen, das eine in das andere umschlagen: Das taktile Wahrnehmen eines immer heisser werdenden Dinges kann in Schmerz umschlagen etc. In einem Wahrnehmen von etwas als solchem besteht kein Empfinden, aber in ihm ist das Empfinden potenziell angelegt, es kann unter Verfall des Wahrnehmens von etwas aktuell, zur Wirklichkeit werden. Umgekehrt kann auch ein Empfinden in ein Wahrnehmen von etwas übergehen. Als leiblich-sinnliches Subjekt kann ich mich, z. B., wenn ich im Begriffe bin umzufallen, mit meinem linken Arm und dessen Hand auf etwas stützen und dabei in der Hand Druck oder sogar Schmerz empfinden. Von da aus kann ich aber übergehen, mit dieser Hand zu betasten und dadurch zu erkunden, auf was ich mich beim Fall abgestützt habe, und nehme eine Steinplatte wahr. Dadurch wird die Empfindung eine Anzeige für ein wahrgenommenes Ding. Nicht von jeder Empfindung kann eine solche Anzeige ausgehen, und daher gibt es Empfindungen, die kein wahrnehmbares Ding anzeigen. Es sind dies die sogenannten inneren Empfindungen wie Kopfschmerzen- oder Bauchschmerzen, genauer, Schmerzen im Inneren des Kopfes oder im Inneren des Bauches. Dies ist deshalb so, weil das Innere des Kopfes und das Innere des Bauches keine sinnlichen Wahrnehmungsorgane sind wie die Augen oder Ohren. Empfindung kann Anlass zum leiblich-sinnlichen Wahrnehmen von etwas werden. Dabei richtet das leiblich-sinnliche Subjekt seine Aufmerksamkeit durch eine radikale Umwendung nicht mehr auf die Empfindung, sondern über sie hinaus, indem es aktiv seine Umgebung auszukundschaften beginnt. Das Wahrnehmen interpretiert nicht irgendwelche für es vorhandene Empfindungsdaten als Erscheinungen von äusseren Dingen, es verbindet auch keine solchen Daten zu Erscheinungen von einem äusseren Ding. Es verarbeitet überhaupt nicht irgendwie solche Daten. Vielmehr ruft es in seinem fortschreitenden Erkunden, ohne Empfindungen zu haben, die erscheinenden Dinge hervor. Dadurch, dass z. B. das betastende Wahrnehmen von etwas sein Berühren erkundend dirigiert, hat es die Empfindung des Berührtwerdens dadurch selbst in sich aufgehoben, in sein erscheinende Dinge hervorrufendes Tun absorbiert oder transformiert. Das leiblich-sinnliche Wahrnehmen ist also keine reine Spontaneität, aber im wahrnehmenden Betasten von etwas liegt keine Berührungsempfindung, sondern diese ist von vornherein ins Betasten von etwas umgewendet. Die Empfindung als passi-
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ves Erleiden am Leibe besteht in ihm nicht selbst, sondern nur als etwas im aktiven Erkunden potenzielles Passives.
§ 20 Das Verhältnis zwischen dem Raum des Empfundenen und dem Raum des Wahrgenommenen. Ihre Einheit durch die empfundene Selbstbewegung Sowohl die leiblich-sinnlich wahrgenommenen Dinge wie auch die Empfindungen sind räumlich; die Dinge sind im Aussenraum, die Empfindungen am oder im Leib. Die wahrgenommenen Dinge bewegen sich im Aussenraum oder halten sich dort still; Empfindungen durchlaufen meinen Leib. Z. B., ein Nervenschmerz schiesst vom Becken bis ins linke Bein, ein anderer Schmerz bleibt im ersten Molarzahn des linken Oberkiefers. Aber dieser Empfindungsraum ist nicht wie der Wahrnehmungsraum ein äusserer Bereich, nicht wie dieser eine einheitlich nach Nähe und Ferne orientierte Ordnung des durch leibliche Selbstbewegung freien Verfügens; der Empfindungsraum ist kein Zugangsraum, in den das leiblich- sinnliche Subjekt von sich aus durch Selbstbewegung spontan eingreifen könnte. Obschon der Empfindungsraum kein Teil des äusseren Zugangsraumes ist und eine von ihm wesentlich andere Struktur besitzt, z. B. keine festen Distanzen und Abgrenzungen hat, ist er doch nicht ohne innere Beziehung zu ihm, und zwar aufgrund der selbst empfundenen Bewegungen des Leibes. Diese Bewegungen können einerseits passiv sein, z. B., wenn der Arzt, um eine Diagnose zu stellen, einem das rechte Bein bewegt. Sie können aber andererseits aktiv sein, wenn ich, meine Umgebung auskundschaftend im Selbstbewegen, z. B. beim Gehen, die Beine selbst bewege und dabei auch spüre oder empfinde, dass ich aktiv die Beine bewege. In der empfundenen Selbstbewegung haben Empfindungsraum und Zugangsraum ihre Einheit. Das Empfinden der Selbstbewegung wird in der Psychologie Kinästhese genannt.
§ 21 Die Potenzialität und Perspektivität des sinnlich wahrnehmbaren Umfeldes Das Umfeld, so wie es bloss sinnlich wahrgenommen wird, hat durch und durch den Charakter der Potenzialität im Sinne des spontanen subjektiven Könnens; sein Raum bedeutet für das sinnliche Subjekt Zugänglichkeit, aber auch praktisches Zugreifenkönnen. Diese Potenzialität ist zugleich Perspektivität. In seiner Potenzialität und Perspektivität ist das sinnliche Umfeld mit seinen verschiedenartigen «Dingen» dort in mannigfaltiger Weise der leiblichen Selbstbewegung auf
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das Hier hin, d. h. auf den aktuellen Standpunkt oder Gesichtspunkt des selbstbeweglichen Leibes orientiert. Die Perspektivität kann hier im buchstäblichen Sinne als Durch-blicken (per-spicere) verstanden werden: Das sinnlich-leibliche Subjekt blickt durch das, was es vom Hier aus wahrnimmt, auf das, was es von dort aus wahrnehmen und tun kann; es nimmt durch das hindurch, was es von seinem Hier aus dort erblickt, z. B. etwas wahr, was es dort ergreifen und essen kann. Evtl. nimmt es auch durch das hindurch, was es von seinem Hier aus in seinem Umfeld in einem anderen Dort erblickt, noch ein sich selbst im Raum bewegendes anderes Wesen wahr, das sich auf dieses für mich Essbare hin bewegt und es auch zu essen strebt.
§ 22 Die Selbstgegebenheit eines von hier aus durch Perspektiven hindurch sinnlich wahrgenommenen «Dinges» dort Die Wahrnehmung eines «Dinges» dort, verweist aufgrund dessen, was ein sinnliches Subjekt jetzt von seinem Hier aus perspektivisch von ihm dort wahrnimmt, durch sein Sich-bewegen-Können auf eine Selbstgegebenheit dieses «Dinges», die nicht mehr perspektivisch ist. Diese Selbstgegebenheit besteht in der Erfüllung des vitalen Sinnes dieses «Dinges»: Z. B. ein Essbares erfüllt seinen Sinn im Essen, eine Lagerstätte im Liegen, irgendein Unterschlupf im in ihm Unterschlupf Nehmen. Solange ein Ding von hier aus dort durch Perspektiven wahrgenommen wird, kann sich sein vitaler Sinn nicht erfüllen. Der vitale Sinn eines sinnlichen Dinges erfüllt sich oft in seinem Gebrauch oder Verbrauch. Aber bei einem akustischen «Ding», z. B. beim Ruf eines Partners, erfüllt sich der vitale Sinn im sich selbst bewegenden Hingelangen zu ihm und im Zusammensein mit ihm; oder beim Geschrei eines überlegenen Feindes in der Flucht. Die Erfüllung des vitalen Sinnes eines sinnlichen «Dinges», in dem seine Selbstgegebenheit besteht, ist, soweit ich sehe, immer ein Verhalten zu oder mit diesem «Ding», durch das sich der vitale Lebenssinn des sinnlichen Subjekts erfüllt.
§ 23 Sinneseinheiten im sinnlich wahrnehmbaren Umfeld Ich habe im vorigen Paragrafen von sinnlichen «Dingen» und ihrem vitalen Sinn gesprochen. «Ding» habe ich deshalb zwischen Anführungszeichen gesetzt, weil es sich hier in der blossen Sinnlichkeit nicht wie beim gewöhnlichen Gebrauch dieses Wortes um Einheiten der Identität handeln kann. Unter dem Wort «Ding» verstehen wir gewöhnlich irgendeinen identischen Gegenstand, was die Verstandesleistung der Identifizierung in der Vergegenwärtigung voraussetzt (s. oben § 10).
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Im jeweils sinnlich erscheinenden Umfeld sind durch aufmerksames, wahrnehmendes Zuwenden Einheiten abgehoben, z. B. die Speise hier, der gefährliche Feind dort und das Versteck dort drüben. Diese Einheiten können aufeinander hinweisen: z. B. der gefährliche Feind dort auf das Versteck dort drüben, in dem das sinnliche Subjekt sich vor ihm verstecken kann. Oder sie weisen alle drei wechselseitig aufeinander: Z. B. die Speise hier weist auf den Feind dort, den die Speise hier anlocken kann; der Feind dort weist auf die Speise hier, denn er kann diese begehrend von dort kommen und die Speise hier dem sinnlich wahrnehmenden Subjekt wegfressen; der von dort nach hier kommende gefährliche Feind weist auf das Versteck, in welches das ihn wahrnehmende sinnliche Subjekt flüchten und sich vor ihm verstecken und sich dadurch vor ihm schützen kann. Eine in einem sinnlichen Umfeld, oder anders gesprochen, in einer sinnlich wahrgenommenen Situation, abgehobene Einheit ist eine sinnhafte Einheit, sie besteht in der Einheit eines Sinnes: Als den jeweils in seinem gegenwärtigen Umfeld erscheinenden Sinn einer sinnlich erscheinenden Sinneseinheit nimmt das leibliche Subjekt für sich das wahr, was es in seiner Situation mit dieser Einheit tun kann oder zu tun genötigt ist. Eine sinnlich wahrgenommene Sinneseinheit ist ein nicht durch Vergegenwärtigung vermittelter, sondern unmittelbar motivierter «Entwurf» des Tunkönnens oder Tunmüssens. Die Einheit eines im sinnlichen Umfeld abgehoben erscheinenden «Dinges» hat also als sein subjektives Korrelat die unmittelbare Einheit eines leiblich sich bewegenden Tuns.
§ 24 Unterscheidung zwischen dem zentralen Vitalsinn und dem Gesamtsinn eines sinnlichen «Dinges» In dieser Einheit des so oder so im sinnlichen Umfeld dem sinnlichen Subjekt Erscheinenden bzw. in der Einheit des diesem Erscheinenden entsprechenden leiblich-sinnlichen subjektiven Tuns ist zu unterscheiden zwischen einerseits dem vitalen Zentralsinn, der den Kern des Gesamtsinnes der Einheit ausmacht, und andererseits diesem Gesamtsinn selbst, der ausser seinem vitalen Zentralsinn auch noch die jeweilige Erscheinungsweise des vitalen Zentralsinnes umfasst. Der vitale Zentralsinn ist der Sinn, der sich in der Selbstgegebenheit der Sinneseinheit (des «Dinges») realisiert: z. B. die Speise im Verspeisen, der Feind im Bekämpfen, Überwinden oder Fliehen. Wo nun aber dieser vitale Zentralsinn nicht in der Selbstgegebenheit des «Dinges» verwirklicht werden kann, sondern das «Ding» nur durch sinnliche Erscheinungen gegeben ist, machen diese sinnlichen Erscheinungen selbst Sinnesmomente aus. Z. B. ein Apfel im Verspeisen (Abbeissen, Kauen, Geniessen und Hinunterschlucken) und ein Apfel, der weit oben auf dem Baum erscheint, haben nicht denselben Gesamtsinn, während sie sich in ihrem vitalen Zentralsinn decken; eine Taube in der Hand und eine Taube auf dem
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Dach haben für ein leiblich-sinnliches Subjekt nicht denselben Gesamtsinn, auch wenn ihr vitaler Zentralsinn einer ist. Der Gesamtsinn, sofern er Erscheinungen enthält, ist eine Abwandlung des vitalen Zentralsinnes. Zum Sinn des hoch oben erscheinenden Apfels gehört, dass von mir oder von einem anderen diese Distanz irgendwie (durch blosses Klettern oder mit einer Leiter, einer langen Stange etc.) überwunden werden muss, um ihn in die Hand zu bekommen. Also auch der Erscheinungssinn ist Index einheitlichen vermöglichen Tuns. Dieses Tun ist aber ein sich selbstbewegendes Annähern an und zur Gegebenheit Bringen des vitalen Zentralsinnes, während das Tun, in dem sich der vitale Zentralsinn realisiert, die Befriedigung eines sinnlichen Bedürfnisses oder Triebes ausmacht. Die gesamte Sinneseinheit, das so oder so sinnlich Erscheinende, ist in ihrem Vitalsinn zentriert, sie ist tendenziell auf diesen vitalen Zentralsinn ausgerichtet. In der Selbstgegebenheit des «Dinges» fällt der Gesamtsinn mit dem vitalen Zentralsinn zusammen: Im Verspeisen ist die Speise nichts anderes als Speise. In dieser Weise spiegelt sich in der Struktur des sinnlich wahrgenommenen Umfeldes, in dessen Zentrierung durch die Vitalsinne, die Bedürfnis- und Triebstruktur des sinnlichen Subjekts. Eine wahrgenommene Sinneseinheit verweist nicht nur auf das subjektive Wahrnehmen von ihr, auf das blosse leiblich-sinnlich wahrnehmend sie Erkunden, sondern in eins auch auf andere leiblich-sinnliche Funktionen, mit denen zusammen sich das Wahrnehmen als blosses Moment in der Einheit eines Tuns abspielt. Insofern alles sinnliche Wahrnehmen, auch wo es als blosses Erkunden des Umfeldes geschieht, in der Einheit umfassenderen Interesses und Tuns geschieht, nimmt das sinnliche Subjekt überhaupt nie ein blosses Wahrnehmungsgebilde wahr (eine Sinneseinheit, die nur auf das Wahrnehmen von ihr verweist), sondern sieht nur umfassendere Sinneseinheiten wie Speisen, eine Schlafstätte, einen Partner etc. So wie im Wahrnehmen des näheren Umfeldes nicht gesondert bloss visuelle und bloss taktile Wahrnehmungseinheiten auftreten, sondern ein Gesehenes in sich selbst auch ein Tastbares ist, d. h., einem Gesehenen seine Tastbarkeit angesehen wird, und umgekehrt, einem Getasteten, wenn das sinnlich wahrnehmende Subjekt nicht von Geburt her blind ist, auch seine Sichtbarkeit angespürt wird, ebenso ist für das lieblich sich selbstbewegende Subjekt sinnlich Wahrgenommenes in eins Wahrnehmbares und sonstwie zu Betätigendes. So wie die Einheit von Gesehenem und Getastetem nicht auf einem besonderen «gemeinsamen Sinn» (sensus communis), sondern auf der einheitlichen mit verschiedenen Sinnen wahrnehmenden Selbstbeweglichkeit des sinnlichen Subjekts beruht, so beruht die Sinneseinheit auf der Einheit der wahrnehmenden und der sonstwie tätigen Selbstbeweglichkeit des sinnlichen Subjekts.
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§ 25 Sinneseinheit im sinnlichen Umfeld und Assoziation Eine Sinneseinheit im sinnlich wahrgenommenen Umfeld besteht nicht darin, dass nach empiristischer Auffassung sich in der Seele verschiedene Sinnesdaten durch Assoziation verbunden haben, sondern nur in der Einheit eines leiblichen, sich selbst bewegenden Tuns. Allerdings ist es doch sinnvoll, hinsichtlich solcher Sinneseinheit von Assoziation zu sprechen, und zwar in zwei verschiedenen Hinsichten. a) Assoziationen der räumlichen und zeitlichen Kontiguität im sinnlich Wahrgenommenen sowie Assoziationen der Ähnlichkeit und des Kontrastes im sinnlich Wahrgenommen In den jeweiligen passiven Empfindungen oder in den durch die jeweiligen aktiven sinnlichen Wahrnehmungen aufgehobenen Empfindungen finden die von alters her bekannten Assoziationen der räumlichen und zeitlichen Kontiguität, sowie der Ähnlichkeit und des Kontrastes statt. Die sinnliche Einheitsbildung bewegt sich vorzüglich in den Bahnen dieser Faktoren: Zwei räumlich nebeneinander sich befindliche Empfindungen werden durch die Wahrnehmung zu einer Doppeleinheit assoziiert; zwei zeitlich sich folgende Tonempfindungen werden zu einer sinnlich wahrgenommenen Tonfolge assoziiert; zwei ähnliche rote Flecken werden zu einem wahrgenommenen Paar von roten Flecken assoziiert, oder die Druckempfindungen in der geschlossenen Hand werden zur wahrgenommenen Einheit einer Kugel assoziiert; der Kontrast zwischen einer weissen unregelmässigen Fläche und ihrer schwarzen Umgebung wird in der sinnlichen Wahrnehmung zur Einheit von Figur und ihrem Hintergrund assoziiert. Aber nicht diese abstrakten Faktoren der räumlichen und zeitlichen Kontiguität sowie der Ähnlichkeit und des Kontrastes bilden die sinnlichen Einheiten im wahrgenommenen Umfeld, sondern allein die sinnlich wahrnehmende Tätigkeit. Aber die Gliederung und Organisation des wahrgenommenen Umfeldes und die Stukturierung der Empfindungsverläufe findet in diesen Faktoren einen gewissen Anhalt. Es lässt sich hier nur von Assoziation reden, insofern eine motivierte Erwartung vorliegt, d. h. wo im Empfindungsverlauf oder im erkundenden Durchlaufen des Umfeldes, besonders deutlich im Abtasten, aufgrund des soeben Abgelaufenen ein diesem ähnlicher Weiterlauf erwartet wird.
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b) Assoziation zwischen aktueller sinnlicher Wahrnehmung und früherer Wahrnehmung in der sinnlichen Erfahrung (im sinnlichen Lernen) Es kann bei der Bildung von sinnlichen Einheiten auch von Assoziation gesprochen werden, wo im Wahrnehmen oder in der Empfindung aufgrund von Ähnlichkeiten frühere (vergangene) Wahrnehmungen oder Empfindungen assoziativ mitspielen und etwas unmittelbar (d. h. nicht durch vergegenwärtigende Erinnerung) erwarten lassen. Das leiblich-sinnliche Subjekt sieht einem Erscheinenden aufgrund seiner Erfahrung, d. h. früherer Wahrnehmungen und Empfindungen, unmittelbar an, was es von ihm weiter erfahren wird oder kann, evtl. auch, wenn es das oder das tut. Wie schon bemerkt, handelt es sich hier um keine Erinnerungen (Vergegenwärtigungen), sondern um Gewohnheit oder Lernen durch Erfahrung, wofür keinerlei Erinnerung notwendig ist.
§ 26 Sinnliche Assoziation und Assoziation aufgrund von Vergegenwärtigung (Verstand). Kritische Bezugnahmen auf Leibniz und Kant Nach Kant beruht alle Assoziation auf der Einheit des Verstandes als deren Bedingung der Möglichkeit. Dies würde zutreffen, wenn wir es bei der Assoziation mit einem Verstandes- und nicht mit einem sinnlichen Bewusstsein zu tun hätten. Leibniz, der Vorgänger Kants, hielt die Assoziation, die er eine «Art von Folgern» nennt, nicht für eine Vernunftleistung, beschrieb sie aber nicht als eine sinnliche, sondern in der von mir gewählten Terminologie als Leistung des Verstandes, welche die bloss vergegenwärtigende Stufe der Vernunft ist. Er schrieb in seinen Principes de la philosophie von 1714, auch «Monadologie» genannt: Das Gedächtnis (mémoire) liefert eine Art von Folgern (consecution), welches die Vernunft nachahmt, aber davon unterschieden werden muss. So sehen wir, dass die Tiere, wenn sie etwas wahrnehmen (ayant la perception de quelque chose), das sie beeindruckt und wovon sie schon vorher ähnliche Wahrnehmung hatten, durch die Vergegenwärtigung (Vorstellung) ihres Gedächtnisses (par la représentation de leur mémoire) dasjenige erwarten [folgern], was in der früheren Wahrnehmung damit verbunden war (a été joint), und zu ähnlichen Gefühlen veranlasst werden (sont portés à des sentiments sembla-
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bles).66 Zeigt man z. B. den Hunden den Stock, so erinnern sie sich des Schmerzes (ils se souviennent de la douleur), den er ihnen verursacht hat, heulen und ergreifen die Flucht.67
Leibniz missversteht in dieser Beschreibung die Assoziation des tierischen sinnlichen Bewusstseins als eine vergegenwärtigende Erinnerung an eine frühere mit der Wahrnehmung eines Stockes assoziativ durch Lernen verbundenen Schmerzempfindung (siehe oben § 25, Abschnitt b)), er interpretiert sie also falsch als eine Verstandesleistung, obschon er sich bewusst ist, dass es sich nicht um eine Leistung der Vernunft (raison), sondern nur um eine Nachahmung (imitation) einer solchen handelt. Wenn ein sich selbst bewegendes leiblich-sinnliches Subjekt, z. B. eine Katze, auf eine von ihr wahrgenommene Mauer springt, mit der Erwartung, dass die Mauer dabei hält (und nicht einstürzt oder umfällt), erinnert sie sich nicht daran, dass diese oder eine ähnliche Mauer früher gehalten hat, sondern sie «weiss» es durch Lernen, aus Erfahrung, durch Gewohnheit. Man bezeichnet allerdings auch das Phänomen des «Erinnerns an» als Assoziation. Z. B., wenn die wahrgenommene Frau an der Kasse im Warenhaus an eine verstorbene Primarschullehrerin erinnert. Dies ist aber eine andersartige, nicht bloss im sinnlichen Bereich sich abspielende Assoziation, denn sie enthält ein sich Erinnern, d. h. Vergegenwärtigen, Verstand. Wenn man sich zur Erklärung der sinnlichen Assoziation an dieser vergegenwärtigenden Assoziation orientiert, verfälscht man durch eine Metabasis in allo genos («Übertritt in eine andere Gattung») die sinnliche Assoziation. Es soll nicht etwa bestritten werden, dass die sinnlich assoziativ vorzeichnende Erwartung etwas Gewordenes und daher einer genetischen Erklärung zugänglich ist, sondern nur bestritten werden, dass in dieser sinnlichen Erwartung selbst ein Erinnern an eine vergangene Wahrnehmung liegt. Dieses sinnliche Erwarten ist nur geworden für den sich erinnernden Verstand.
§ 27 Sinneseinheiten im sinnlich wahrgenommenen Umfeld als Typen Eine erscheinende Einheit im sinnlichen Umfeld kommt nicht zustande durch eine «Synthesis der Reproduktion [sich zeitlich folgender Vorstellungen] in der Einbildung»68 ; sie ist kein identischer Gegenstand, in dem aufgrund der «Synthesis der Rekognition im Begriff» «die Erscheinungen notwendig zusammen66 Vgl.: «[…] denn die Tiere haben Folgerungen von Wahrnehmungen, welche die vernünftigen Überlegungen nachahmen» (car les bêtes ont des consécutions de perceptions qui imitent le raisonnement). Gottfried Wilhelm Leibniz, Essais de Théodicée, Discours préliminaire de la conformité de la foi avec la raison, § 65. 67 Monadologie, § 26. 68 Kritik der reinen Vernunft, A 100.
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hängen».69 Dennoch ist das sinnliche Umfeld durch Sinneseinheiten geordnet und es besteht kein «blosses Gewühl von Erscheinungen». Eine Sinneseinheit im sinnlich wahrgenommenen Umfeld hat in sich eine Festigkeit, sie ist ein fester Anhalt, d. h. das sinnliche Subjekt fasst sie auf als festen Sinn, an den es sich in seinem Agieren und Dominieren halten kann. Die Einheit des wahrgenommenen Sinnes beruht in der Einheit des sinnlichen Tuns und Tunkönnens. Eine sinnlich wahrgenommene Sinneseinheit ist daher immer eine feste typische oder schematische Einheit, entsprechend der typischen Einheit eines sich selbstbewegenden einheitlichen Tuns. Die «Dinge», die im Umfeld als feste Einheiten aufgefasst werden sind Typen. Als solche haben sie eine gewisse «Allgemeinheit», die aber hier nicht das Bewusstsein bedeutet, dass zu verschiedenen vergegenwärtigten Zeiten derselbe Typus zur Anwendung kam, kommt und kommen wird. Vielmehr bedeutet diese «Allgemeinheit» nur, dass jeweils im sinnlichen Wahrnehmen und Tun verfügbare Typen sich wiederholen. Das sinnliche Subjekt nimmt in seiner Situation etwas typisch wahr, reagiert und agiert selbst diesem Typus entsprechend typisch, und wenn sich in seinem Erleben diese Situation ungefähr wiederholt, nimmt es wahr, reagiert und agiert wieder gemäss diesem Typus. Selbst wo das sinnliche Subjekt vom Verstand her gesehen ein identisches Individuum unterscheidet und wiedererkennt, z. B. wenn der Hund seinen Meister wiedererkennt, nimmt es diesen in der jeweiligen Gegenwart nur als sehr differenzierten typischen Anhalt wahr für sein typisches hündisch treues Verhalten zu ihm. Aufgrund der durch Gewöhnung entstandenen Festigkeit der Typen verfügt das leiblich-sinnliche Subjekt über seine Umwelt als Könnensbereich seines Tuns, beherrscht es seine jeweilige Situation, verhält sich zu ihr angepasst.
§ 28 Die anidentische Struktur des sinnlichen Zugangsraumes Die sinnliche leibliche Selbstbewegung vermag nichts Identisches zu hervorzubringen. Der sinnliche Zugangsraum ist kein System identischer Orte oder Stellen, m. a. W., er ist kein objektiver Raum. Das sinnliche Subjekt vermag an einen für es festen Ort zurückzukehren, aber es identifiziert ihn dabei nicht als einen Ort, an dem er früher schon war, zwischendurch nicht war und jetzt wiederum ist. Denn dazu müsste es der erinnernden Vergegenwärtigung fähig sein. Die Festigkeit der Orte im sinnlichen Zugangsraum bedeutet nur, dass sich das sinnliche Subjekt durch sein sich selbst bewegendes wahrnehmendes und sonstiges Tun auf einen vertrauten Bereich sinnhaft ausgezeichneter Orte in vertrauten Richtungen und Abständen eingespielt hat, sich angeeignet, ihn sich angewöhnt, mit ihm vertraut geworden und nun in ihm «zu Hause» ist. 69
A.a.O., A 103.
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Dazu möchte ich zwei Punkte explizieren: Erstens, das sinnliche Subjekt hat seinen Zugangsraum jeweils immer nur vor sich, neben sich und hinter sich als seinen durch seine leibliche Selbstbewegung jeweils zugänglichen Bereich. Es selbst hat in diesem Zugangsraum direkt, unmittelbar keine Stelle, sondern nur vermittelt dadurch, dass etwas in diesem Zugangsraum mehr oder weniger weit von ihm entfernt ist. Es befindet sich im Nullpunkt dieser Entfernungen. Sein Standpunkt und Gesichtspunkt, von dem aus sich sein Zugangsraum ihm perspektivisch eröffnet, befindet sich nicht selbst in diesem Raum, obschon jener Standpunkt oder Gesichtspunkt und dieser Zugangsraum eine Einheit bilden, d. h., das Eine nicht ohne das Andere sein kann. Das sinnliche selbstbewegliche Subjekt befindet sich nicht im Bereich des für es Zugänglichen. Es ist nicht im Zugangsbereich seines sich leiblich Bewegenkönnens, sondern es ist das sich leiblich bewegend hingehen Könnende. Es stellt sich selbst nicht an seinem Ausgangsort seines Zugangsraumes vor. Denn dazu müsste es seinen jeweiligen Standpunkt oder Gesichtspunkt von einem anderen Standpunkt aus sich vergegenwärtigend vorstellen und damit auch vergegenwärtigen können, dass es sich an irgendeinem Ausgangsort seines Zugangsraumes befindet. Dadurch hätte es die abstrakte Vorstellung eines homogenen objektiven Raumes, der unabhängig von subjektiven Stand- oder Gesichtspunkten existiert. Einen solchen, von aller Subjektivität abstrahierten Raum kann es für uns Menschen, die wir immer auch, aber nicht nur leiblich sich bewegende sinnliche Subjekt sind, in unserer Erfahrung nicht geben, sondern er ist eine blosse abstrakte Konstruktion unserer Vernunft. Zweitens, die anidentische Struktur des sinnlichen Zugangsraumes bedeutet auch, dass es in ihm kein Dort und kein Hier, keine Dieses hier und Jenes dort im Sinne einer gezeigten Stelle gibt. Was sich durch Zeigen als feste Stellen im Raum konstituiert, überschreitet die sinnlichen Fähigkeiten. Gezeigte Stellen und gezeigte Dinge gibt es nur in einem intersubjektiven objektiven, in unserem Gesichtskreis befindlichen Raum, der eine Leistung der Vernunft ist. Tiere zeigen nicht, und sie verstehen es nicht, wenn wir Menschen ihnen etwas, ein Jenes dort oder ein Dieses hier mit dem Zeigefinger zeigen wollen. Hunde können wissen, in welcher Richtung der Weg führt, wohin sie gehen wollen; sie können sich in diese Richtung stellen und ihren Meister dabei anschauen in der Erwartung, dass er diese Richtung einschlägt. Wir Menschen interpretieren manchmal dieses sinnliche Verhalten als ein Zeigen einer Richtung zu einem bestimmten dortigen Ort. Aber wir tun dies fälschlicherweise. Wenn jemand für jemand anderes auf etwas zeigt, meint er damit den Ort oder die Stelle dieses Etwas im intersubjektiven objektiven Raum, z. B. die Stelle hoch über dem Kopf im Himmel, wo sich gerade ein Flugzeug befindet. Er zeigt also nicht nur in der Richtung eines Ortes, wohin er in der Gegenwart durch Selbstbewegung gehen will. Und wenn das Flugzeug weitergeflogen ist, bleibt die jemand anderem gezeigte Stelle, an der es vorher war, identisch dieselbe. Wenn jemand für jemand anderen auf ein Dies im
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Hier zeigt, meint er etwas an einer Stelle im intersubjektiven objektiven Raum, die unmittelbar vor ihm liegt, wo er sich gerade befindet. Jemand kann einem anderen zeigen: «Hier hat vor fünfzig Jahren Konrad Adenauer gestanden», und er kann ihm damit zeigen, wo vor fünfzig Jahren Adenauer gestanden hat. Und wenn er diese hiesige Raumstelle verlassen hat und woanders hingegangen ist, bleibt diese damals gezeigte Stelle identisch dieselbe, er kann nun wieder auf sie dort als identisch dieselbe Stelle zeigen, wenn sie sich noch in seinem und eines anderen Gesichtskreis befindet.70 71
§ 29 Die Genese des sinnlichen Zugangsraumes. Der sinnliche Zugangsraum konstituiert sich durch die leiblichen Selbstbewegungen des sinnlichen Subjekts als der Spielraum seiner Selbstbewegungen Ein Tier, das sich nicht leiblich selbst bewegt, nimmt keinen Zugangsraum wahr; für eine Muschel, die fest an einem Felsen haftet, gibt es keinen Zugangsraum. Ein neugeborenes Kind sieht nicht den Raum seines Zimmers um sich. Erst, indem es herumkriecht und dann herumgeht und auch herumgetragen wird, bringt 70 Es sei hier auf den berühmten Aufsatz von Kurt Goldstein «Über Zeigen und Greifen» hingewiesen (Nervenarzt 4, 1931, S. 453 ff.; neu herausgegeben in Selected Papers/Ausgewählte Schriften, Martinus Nijhoff Verlag, Den Haag 1971, S. 263 ff.). Goldstein schreibt in diesem Aufsatz: «Der Ausdruck dieser Grundstörung [der sog. Seelenblindheit] […] ist das Fehlen eines dem Subjekt gegenüberstehenden objektiven Raumes. Ein solcher Raum ist notwendig, damit überhaupt die Einstellung auf Zeigen aufkommen kann […]. Der Seelenblinde kann nicht zeigen, weil er einen solchen Raum und solche ihm gegenüberstehende Raumstellen nicht hat. Zum Greifen ist ein solcher Raum offenbar nicht notwendig […].» 71 Hegel lässt im ersten Kapitel «Die sinnliche Gewissheit oder das Diese und das Meinen» seiner Phänomenologie des Geistes die sinnliche Gewissheit durch das Zeigen aus der sinnlichen Unmittelbarkeit heraustreten. Das Aufzeigen ist nach ihm das Erfahren, dass das Dies Allgemeines ist; es ist die Bewegung zum Allgemeinen. Hegel kann aber nur dadurch die blosse sinnliche Meinung, das Wissen des Unmittelbaren, zur Vernunft (zur Wahrnehmung in seinem Sinn) werden lassen, dass er mit dem Zeigen die Vernunft bereits in die sinnliche Gewissheit hineinlegt und diese Gewissheit zur dialektischen Geschichte des Aufzeigens macht. Hegel betrachtet also das sinnliche oder unmittelbare Bewusstsein, das selbst nicht aufzeigt, nicht, wie es in sich selbst ist. Aber gerade das zu tun, prätendiert er. Denn er schreibt in diesem selben, ersten Kapitel: «Das Wissen, welches zuerst oder unmittelbar unser Gegenstand [der Betrachtung] ist, kann kein anderes sein als dasjenige, welches selbst Wissen des Unmittelbaren […] ist. Wir haben uns ebenso unmittelbar oder aufnehmend zu verhalten, also nichts an ihm, was sich darbietet, zu verändern und von dem Auffassen das [vernünftige] Begreifen abzuhalten.» Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Phänomenologie des Geistes, herausgegeben von Georg Lasson, Verlag Felix Meiner, Leipzig 1911, S. 65.
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es sich einen Zugangsraum zum Erscheinen als den Raum, in dem es sich nun bewegen kann, als den Spielraum seiner Selbstbewegungen. Dieser Raum ist begrenzt, z. B. durch eine hohe Bergkette. Erst durch das Vergegenwärtigen des Verstandes ergibt sich der unbegrenzte Raum, in dem das Verstandessubjekt, das zugleich immer auch ein sinnliches Subjekt ist, sich z. B. vergegenwärtigt, wie die räumliche Welt von einem Punkt auf jener gegenüberliegenden Bergkette aus in allen Richtungen aussieht oder aussehen könnte, auch in der Richtung, in der sich der vergegenwärtigende Mensch gerade befindet. Bloss sinnliche Wesen, die Tiere, schauen nicht in die weite Ferne, sie geniessen die Aussichten von Bergspitzen aus nicht, sie schauen nur so weit, als sie sich jeweils in ihrer Gegenwart hinbewegen wollen oder als etwas geschieht, wovon sie betroffen sind; z. B., eine Katze schaut jetzt nur bis zum Hund, vor dem sie Angst hat.
§ 30 Leiblicher Ausdruck von Gefühlen und deren sinnliche Wahrnehmung Gefühle der Liebe, der Freude, der Niedergeschlagenheit, der Enttäuschung, der Wut und des Hasses, der Furcht und Furchtlosigkeit, der Angst etc. bei höheren Tieren und Menschen haben ihren unmittelbaren Ausdruck in der Stimme, im Blick, in der Leibeshaltung und Leibesbewegung. Und diese Ausdrücke werden von anderen höheren Tieren und Menschen in Korrespondenz zu den eigenen verschiedenenartigen Gefühlsausdrücken unmittelbar als solche Ausdrücke wahrgenommen. Denn die Gefühle und ihre Ausdrücke, sind nicht zwei Dinge, sondern sie sind eins. Die Wut und der Wutausbruch, die seelische Niedergeschlagenheit und die niedergeschlagene Körperhaltung, die niedergeschlagene Gangart, die niedergeschlagene Stimme etc. sind dasselbe. Nur der Mensch kann als Vernunftwesen sich bis zu einem gewissen Grad beherrschen, er muss seine Gefühle nicht ausdrücken, kann sie verbergen; aber wenn er sich in seinem Wutausbruch beherrscht, beherrscht er sich auch in seiner Wut. Und der Mensch kann als Vernunftwesen auch mit seinen Gefühlsausdrücken Theater spielen; aber dabei sind diese nicht echt, sie sind nur gespielt. Und das Wissen auch die Menschen, die diesem Spiel zusehen.
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§ 31 Das sinnliche Wahrnehmen anderer sich selbstbewegender und sich vital betätigender Lebewesen im sinnlichen Zugangsraum und das sinnliche Wahrnehmen von leiblichen Ausdrücken als die Grundlage der vergegenwärtigenden Einfühlung Das sinnliche Wahrnehmen anderer sich selbstbewegender und sich vital betätigender Lebewesen im sinnlichen Zugangsraum und das sinnliche Wahrnehmen von leiblichen Ausdrücken ist die Grundlage der vergegenwärtigenden Einfühlung, von der oben im § 13 die Rede war. Es besteht keine sinnlich wahrnehmbare Ähnlichkeit zwischen einem fremden Körper im Aussenraum und dem eigenen Leib, die eine Einfühlung von fremdem Seelenleben in einen äusserlich wahrgenommenen Körper motivieren könnte. Die Ähnlichkeit besteht vielmehr in der Korrespondenz zwischen der empfundenen Selbstbeweglichkeit und der empfundenen Stellungen des eigenen Leibes und den im äusseren Raum wahrgenommenen Bewegungen und Stellungen eines Körpers. Oder im akustischen Sinnesfeld besteht die motivierende Ähnlichkeit in der Korrespondenz zwischen den empfundenen und akustisch wahrgenommenen eigenen Lautäusserungen und den akustisch im äusseren Raum wahrgenommenen Lautäusserungen. Doch motiviert sie eine unmittelbare auffassende Übertragung, durch die ein gesehener, sich im Aussenraum bewegender Körper (oder eine gehörte Tonbewegung) in Korrespondenz mit dem unmittelbar bewussten eigenen leiblich sich Selbstbewegenkönnen aufgefasst wird. Diese auffassende Übertragung ist kein Schluss des Denkens, sie enthält kein sich vergegenwärtigend auf einen anderen Gesichtspunkt Versetzen, sondern sie geschieht unmittelbar, ähnlich wie wir ohne vergegenwärtigende Erinnerung und ohne Vergleich etwas als Stuhl oder Tisch oder als festen Boden wahrnehmen, auf dem wir gehen können, wenn wir in unserer Lebensgeschichte wahrnehmend gelernt haben, auf Stühlen zu sitzen, an Tischen zu essen oder zu schreiben, auf dem Boden herumzugehen, ohne dabei in die Tiefe zu sinken, wie es geschähe, wenn wir auf einer Wasserfläche herumwandeln wollten. Man kann sich diese Verhältnisse auch durch folgende faktische Beispiele deutlich machen. Wenn jemand als Zuschauer aufmerksam einen Hürdenlauf verfolgt und sein intensives Interesse dabei meistens auf seinen Favoriten oder den vordersten Läufer gerichtet ist, hebt er eines seiner Beine leicht hoch, wenn dieser Läufer sein rechtes oder linkes Bein hochhebt, um eine Hürde zu überspringen. Man spricht bei diesem Phänomen von «sympathetischer Resonanz» im Sinne, dass der eigene Leib unwillkürlich mit den Selbstbewegungen des wahrgenommenen Hürdenläufers «mitschwingt». Die Korrespondenz zwischen empfundener Selbstbewegung und der Selbstbewegung eines im äusseren Raum
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gesehenen Läufers ist unmittelbar erfasst, ohne jegliche Überlegung. Dasselbe Phänomen ist feststellbar im Falle, wenn jemand einem Tänzer oder einer Tänzerin mit Interesse aufmerksam zuschaut, er dann auch, wenn er einen Sinn für das Tanzen hat, in seiner eigenen, selbst erlebten subjektiven leiblichen Beweglichkeit mitschwingt. Oder, wenn wir einem Bauarbeiter zuschauen, spüren wir in unserem eigenen Leib sein hartes, mühevolles Arbeiten, wenn es aufgrund früherer ähnlicher Erfahrungen in unserem eigenen subjektiven Leib unmittelbar geweckt wird. Wir erleben auch selbst ziemlich oft, dass, wenn sich unser Gesprächspartner plötzlich zurücklehnt und hinter seinem Nacken seine beiden Hände verschränkt, wir dann unwillkürlich dasselbe tun; oder, wenn er sich vor einem schwierigen Problem an den Schläfen kratzt, wir es ihm gleichtun. Ich glaube, dies sind alles ähnliche Phänomene. Etwas anderes scheint mir die blosse Ansteckung zu sein, z. B. beim Gähnen. Da ist der Zwang viel stärker, wir müssen gähnen, ob wir wollen oder nicht. Das scheint mir etwas Angeborenes zu sein, während die sympathetische Resonanz durch die Konstitution des subjektiven Raumes erklärbar ist, wie auch die unmittelbare sinnliche Wahrnehmung eines anderen, sich lebendig selbstbewegenden Wesens. Die sinnliche Wahrnehmung des leiblichen Ausdrucks von Gefühlen (siehe oben § 30), das sinnliche Wahrnehmen anderer sich selbstbewegender und sich vital betätigender Lebewesen im sinnlichen Zugangsraum und die «sympathetische Resonanz» sind die drei sinnlichen Grundlagen der vergegenwärtigenden Einfühlung des Verstandes.
§ 32 Die Einheit des sinnlichen Bewusstseins a) Sinnesgestalt und Hintergrund (Horizont) Wenn das sinnliche Subjekt einer typischen Sinneseinheit oder, wie man auch sagen kann, einer typischen Sinnesgestalt aufmerksam zugewendet ist, hat es sein potenzielles Tun, das deren Sinn ausmacht, sozusagen vor sich; es hat mit dieser typischen Sinnesgestalt etwas vor. Diese Sinneseinheit steht jedoch in seiner Gegenwart nicht isoliert da, sondern befindet sich in einer Umgebung als Hintergrund oder «Hof» oder «Aussenhorizont» dieser vorgenommenen Sinneseinheit. Auch der Hintergrund ist als zugänglicher, d. h. als Potenzialität, dem sinnlichen Subjekt unmittelbar gegenwärtig oder anwesend, doch ohne dass es jetzt auf etwas in ihm einginge, d. h. sich etwas in ihm zuwenden würde. Die Potenzialität, die das gegenwärtige sinnliche Umfeld ausmacht, ist also strukturiert in vorgenommene, abgehobene Potenzialität einerseits und Hintergrund- oder Aussenhorizontpotenzialität andererseits.
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b) Abstufungen und Relief des Hintergrundes Diese Struktur ist nicht die einzige, welche die Gegenwart für das sinnliche Subjekt differenziert. Sowohl die vorgenommene als auch die Hintergrundpotenzialiät stufen sich nach räumlicher Nähe, Schwierigkeit des Zugangs und Anziehungskraft verschieden ab. Der Hintergrund ist also nicht homogen, sondern hat ein Relief der räumlichen Nähe, der Schwierigkeit des Zugangs und der Anziehungskraft. Die einzelnen Glieder der strukturierten Potenzialität des sinnlichen Tuns beziehen sich gegenseitig aufeinander und machen eine strukturierte Einheit aus. c) Die Einheit des sinnlichen Bewusstseins von etwas Gegenwärtigem als Einheit eines mannigfaltig gegliederten Könnens fortschreitenden Tuns Die Einheit des sinnlichen Bewusstseins von etwas Gegenwärtigem ist die Einheit eines mannigfaltig gegliederten Könnens fortschreitenden Tuns. Das sinnliche Subjekt ist nichts anderes als das in diesem Tun Könnende. Ein Tun, das nicht innerhalb eines Könnens vollzogen wird, ist ein subjektloses Tun, also überhaupt kein Tun, sondern ein blosser Reflex, ein blosses Geschehen. Die «Substanz» des sinnlichen Subjekts ist sein Können. Können ist kein Tun, aber die Subjektivität des Tuns. d) Der selbstbewegliche Leib als Gefüge des Könnens des sinnlichen Subjekts Das Können, das die sinnliche Subjektivität ausmacht, ist Können in einem veränderlichen Gefüge. Dieses Gefüge ist der selbstbewegliche Leib. Er ist das jeweilige, mannigfaltig gegliederte Gesamtschema oder Gesamtsystem des Könnens. Der Leib als Gesamtsystem des Könnens entspricht als subjektives Gegenstück vollständig dem sinnlichen Umfeld; und das jeweilige Umfeld, die jeweilige Situation, ist das Gegenstück des jeweiligen Zustandes des selbstbewegend könnenden Leibes. Das Eine kann für das Andere stehen: Die Frage der Einheit des sinnlichen Subjekts ist die Frage der Einheit des sinnlichen Umfeldes, und umgekehrt. Das Gesamtsystem moduliert sich beständig im jeweiligen sinnlichen Wahrnehmen und Tun.
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e) Die Zentrierung des leiblichen sinnlichen Gesamtgefüges Wie das jeweilige Tunkönnen verschieden moduliert ist, ist auch das leibliche sinnliche Gesamtgefüge verschieden zentriert oder in Verschiedenem konzentriert. Im Erhorchen eines verdächtigen Geräusches ist das sinnliche Subjekt «ganz Ohr», im Erspähen eines Artgenossen ist es «ganz Auge», im Beriechen und Gustieren von Wein im Glase «ganz Nase» und «ganz Zunge und Gaumen». Das sinnliche Subjekt tut in diesem letzten Beispiel nichts anderes als riechen und gustieren, aber es ist nicht nur mit seiner Nase, Zunge und Gaumen tätig, sondern es ist mit seinem ganzen Leib, mit seinem ganzen verfügbaren System seiner Selbstbewegung im Riechen und Gustieren konzentriert. Es hält dabei mit der Hand das mit seinem Arm soeben vom Tisch an seine Nase gehobene, mit Wein gefüllte Glas, den es beriecht und dann gustiert, es sieht dabei mit seinen Augen auch die auf dem Tisch stehende Flasche, aus welcher der berochene Wein herkommt, es hört mit seinen Ohren im Hintergrund Geräusche und Stimmen seiner Tafelgenossen. Im Beriechen und Gustieren des Weines ist das ganze leibliche Subjekt mit all seinen Sinnen, und nicht nur in seinem aktuellen Empfinden und sich selbstbewegenden leiblichen Wahrnehmen und Geniessen, sondern in seinem ganzen Können «angesprochen» oder «impliziert» und im Beriechen und Gustieren des Weines konzentriert. f) Brüchigkeit des leiblichen sinnlichen Gesamtgefüges Das sinnliche Können ist in seinem festen Gefüge eine wie immer gewordene Ausrüstung von Fähigkeiten. Es ist aber in dieser Ausrüstung nicht etwas Notwendiges, sondern es kann verkümmern, indem gewisse Fähigkeiten, z. B. das Sehen, ausfallen, sich aufspalten und verfallen, d. h. sterben. Auch das Sterben gehört zu diesem Gefüge, denn was entsteht, vergeht. Es ist als ganzes Gefüge faktisch und kontingent, kein aus einem Prinzip ableitbares apriorisches System in Analogie zu Kants Deduktion der Kategorien aus dem «Ich denke, das alle meine Vorstellungen muss begleiten können». Nach Nicolaas Tinbergen (1907–1988), einem hervorragenden Zoologen und Verhaltensforscher, können sog. angeborene «Instinkthandlungen» sich in einem besonderen, durch eine «Stimmung» bestimmten «Funktionskreis» abspielen, in dem jeweils alles gleichgültig oder sinnlos wird, was nicht zu ihm gehört. Dieses aber kann dem Tier in einem anderen Funktionskreis wieder etwas bedeuten, so dass es als Subjekt im Übergang von einem Funktionskreis zum anderen in seinem Typus sich verändert.72 Der Mensch, der aufgrund seiner VerNicolaas Tinbergen, Instinktlehre. Vergleichende Erforschung angeborenen Verhaltens (deutsche Übersetzung von O. Koehler), 4. Auflage, Verlag Paul Parey, Berlin und Hamburg 1966, S. 9, 26 ff. (engl. Original: The Study of Instinct, Oxford University Press, Oxford 1951). 72
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nunft ein «instinktarmes» Tier ist, aber doch auch von sinnlichen Trieben geleitet und manchmal von einem solchen völlig beherrscht wird, kann sich auch «im Übergang von einem Funktionskreis zum anderen in seinem Typus verändern». Er tut dies zum Beispiel, wenn er ganz in dem von seinem Sexualtrieb oder von seiner sexuellen Stimmung bestimmten «Funktionskreis» handelt und ihm dann «alles gleichgültig oder sinnlos [wird], was nicht zu ihm gehört». Doch danach kann er in einen anderen «Funktionskreis» übergehen, wo ihm, was ihm vorher gleichgültig oder sinnlos war, wichtig und sinnvoll wird, so dass auch er als sinnliches Subjekt im Übergang von einem Funktionskreis zum anderen in seinem Typus sich verändert.
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3. Kapitel. Die Gestaltung der Sinnlichkeit durch den Verstand: die Vernunft im vollen Sinne (die Kultur)
§ 33 Einleitung zum 3. Kapitel. Terminologisches Die hauptsächliche Absicht der beiden vorangehenden Kapitel war es, Sinnlichkeit und Verstand möglichst klar zu unterscheiden. In diesem Sinne habe ich zu zeigen versucht, dass Sinnlichkeit selbstständig ist und durch den Verstand als etwas Neuartigem durchbrochen und überstiegen wird. Das Verhältnis der beiden, das dabei zur Geltung kam, ist auf die einfachste Formel gebracht dies, dass der Verstand ohne Sinnlichkeit nicht sein kann, d. h. in der Sinnlichkeit fundiert ist, während die Sinnlichkeit sehr wohl ohne Verstand sein kann (siehe oben den § 7 «Vergegenwärtigen von etwas ist in der sinnlichen Wahrnehmung von etwas fundiert»), und dass Vergegenwärtigen (Verstand) und sinnliches Wahrnehmen einander hinsichtlich ihrer Anschaulichkeit gegenseitig verdecken: je anschaulicher ein Vergegenwärtigen von etwas ist, umso unanschaulicher ist das fundierende sinnliche Wahrnehmen von etwas, und umgekehrt (siehe oben den § 9 «Anschauung und das Phänomen der Verdeckung»). Sinnlichkeit ist aber nicht nur Wahrnehmen, sondern auch Fühlen, Begehren und Sich-Verhalten. Dies ist aber nicht das einzige Verhältnis, das der Verstand zur Sinnlichkeit einnimmt. Der Verstand kann als Vernunft sein Fundament, die Sinnlichkeit, auch gestalten, er kann die sinnliche Gegenwart prägen, er kann das Vergegenwärtigen in der sinnlichen Gegenwart verwirklichen, er kann es in ihr instituieren, m. a. W., der Verstand kann das sinnliche Wahrnehmen, Fühlen und SichVerhalten kultivieren. Insofern der Verstand in diesem Sinn die Sinnlichkeit kultiviert, spreche ich von Vernunft im prägnanten Sinne und gebrauche das Wort Verstand im engeren Sinne für das Vergegenwärtigen, das im sinnlichen Wahrnehmen von Gegenwärtigem nur fundiert ist, es transzendiert und im Anschaulichen verdeckt. Anstatt zu sagen, dass der Mensch ein vernünftiges sinnliches Tier ist, kann man sagen, dass das Tier ein Naturwesen und der Mensch ein Kulturwesen ist, ein Wesen, das seine tierische Natur aufgrund seines Verstandes kultiviert und zu kultivieren versucht. Die Vernunft im angegebenen Sinne ist gegenüber dem Verstand als blossem Vergegenwärtigen kein neues Prinzip. Ihr gemeinsames Wesen ist Vergegen-
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wärtigen von etwas im Gegensatz zur Sinnlichkeit als Gegenwärtigen. Ihr Unterschied besteht nur in ihrem Verhältnis zum sinnlich Gegenwärtigen: Während der Verstand als Vergegenwärtigen im sinnlich Gegenwärtigen bloss fundiert ist, es transzendiert (überschreitet), es im Anschaulichen verdeckt, aber sonst nicht tangiert, prägt oder kultiviert die Vernunft das sinnliche Gegenwärtigen in seinem Wahrnehmen, Fühlen, Begehren und Sich-Verhalten aufgrund des Vergegenwärtigens. Dies versuche ich durch die folgenden Paragrafen dieses Kapitels mit Beispielen deutlich zu machen.
§ 34 Die Sinnlichkeit innerhalb ihrer Funktion in der Vernunft: die von der Vernunft «aufgehobene» Sinnlichkeit. Vernunft als cultura culturans, Sinnlichkeit als cultura culturata Die die Sinnlichkeit kultivierende Vernunft kann von ihren zwei Seiten aus betrachtet werden: von der kultivierenden Vernunft oder von der kultivierten Sinnlichkeit aus, anders ausgedrückt, von der cultura culturans oder von der cultura culturata aus. Ich betrachte in diesem Paragrafen die kultivierende Vernunft nur von der Seite der von ihr kultivierten Sinnlichkeit aus, und im folgenden Beispiel nur vom Verstehen der vergegenwärtigten Bedeutung, die im sinnlich gehörten Satz instituiert ist. M. a. W., ich betrachte in diesem Paragrafen das Verstehen eines vom Verstand geschaffenen sprachlichen Kulturgegenstandes. Wenn ich z. B. einer gesprochenen Rede irgendeines vor mir stehenden Menschen in einer mir vertrauten Sprache zuhöre, bin ich dem Wortlaut zugewendet: Ich versuche, den Wortlaut seiner Sätze möglichst deutlich mit meinen Ohren zu hören und die diesen Wortlaut formenden Mund- und Lippenbewegungen möglichst deutlich zu sehen. Aber ich bin normalerweise nicht an diesem Wortlaut und an diesen Mund- und Lippenbewegungen selbst interessiert. Wenn ich an ihnen interessiert bin und besonders auf sie achte, z. B. auf die zwischen der schwingenden Zungenspitze und den oberen Schneidezähnen hindurchrollenden rr, die manieriert durch besondere Mundöffnungen und Grimassen gedehnten Vokale, oder auf die norddeutsche, genau der Schreibweise bzw. dem Plattdeutschen folgende Aussprache «über Stock und Stein», wie sie der Philosoph Karl Jaspers aus Oldenburg auch in seinen Vorlesungen in Basel zu gebrauchen pflegte, anstatt der üblichen «über Schtock und Schtein», wenn also meine Aufmerksamkeit von solchem absorbiert ist, so verstehe ich die Bedeutung der Rede nur noch mangelhaft und evtl. überhaupt nicht mehr. Ich bleibe beim sinnlich Wahrnehmbaren stecken; die Wörter hören auf, als Sätze mir einen Bedeutungszusammenhang zu vermitteln. Wenn ich einen solchen Zusammenhang verstehen will, gehe ich
3. Kapitel. Die Gestaltung der Sinnlichkeit durch den Verstand
nicht in der Aufmerksamkeit auf das sinnlich Wahrnehmbare auf, sondern gehe durch dieses zum Verstehen des Bedeutungszusammenhanges der Sätze hindurch. Dieser Bedeutungszusammenhang ist nichts Sinnliches. Doch ohne sinnlich Gehörtes (Wahrgenommenes) verstehe ich keinen vernünftigen Bedeutungszusammenhang. Die beiden sind aber nicht zwei Stufen im Sinne, dass ich zuerst nur den Wortlaut höre und dann, in einem zweiten Schritt, den Bedeutungszusammenhang verstehe, sondern das Sinnliche ist transparent auf den Bedeutungszusammenhang hin; der Bedeutungszusammenhang ist im Sinnlichen instituiert, das Sinnliche ist durch ihn kultiviert. Um den Bedeutungszusammenhang weiter zu verfolgen, muss ich kontinierlich sinnlich wahrnehmen. Ich muss beständig durch das sinnlich wahrgenommene (Gehörte und Gesehene) hindurchgehen auf den im Fluss der ausgesagten Sätze mitgeteilten kontinuierlich weitergehenden Bedeutungszusammenhang. Das sinnlich-leiblich wahrnehmende Subjekt fungiert hier nicht für sich selbst; das sinnlich Hör- und Sichtbare ist keine sinnlich-vitale Sinneseinheit und auch keine zeitliche Folge von solchen Einheiten, sondern hat nur Sinn (Bedeutung) für das Vernunftsubjekt. Das Sinnliche ist sich hier selbst entfremdet und fungiert nur für die Vernunft. Dabei sind die sinnlich wahrgenommenen Laute durch den vom Vernunftsubjekt verstandenen Bedeutungszusammenhang der ausgesagten Sätze immer auch in ihrer «Anschaulichkeit» verdeckt. Sie dürfen aber nicht vollständig verdeckt sein, wie dies bei der anschaulichen Vergegenwärtigung (Verstand) der Fall sein kann. Denn das Vernunftsubjekt muss immer auch deutlich, d. h. mehr oder weniger «anschaulich» den Wortlaut der Rede durch seinen Gehörsinn sinnlich wahrnehmen. Und der Redende sagt immer auch etwas über etwas. Und dieses, über welches der Redende spricht, und das, was er von ihm sagt, muss wenigstens teilweise in seiner Bedeutung mehr oder weniger anschaulich sein. Ich wähle dafür ein Beispiel, das sich wirklich so zugetragen hat: Vor etwa zwanzig Jahren sah ich an einem Vormittag in den Bergen der italienischen Schweiz von meiner Hütte aus unten im Ortsflecken Muleign zwei Schafe, die sich nicht in einer grasenden Schafherde aufhielten, sondern zusammen mit Ziegen waren. Am Abend dieses Tages ging ich ins Wohnhaus des Bergbauern, des Besitzers dieser Schafe und Ziegen, um ihn zu fragen, warum dies so sei. Er antwortete mir, dass diese beiden Schafe meinten, sie seien Ziegen. Ich fragte ihn weiter, wie sie denn zu dieser Meinung gekommen seien. Er antwortete mir darauf, dass die Mutter dieser beiden Schafe kurz nach der Geburt ihrer beiden Lämmer wegen einer Krankheit geschlachtet werden musste und dass er im Stall je eines der beiden kleinen Lämmchen zu zwei verschiedenen Mutterziegen gelegt habe, die sie dann zusammen mit ihrem eigenen Zicklein säugten. Die beiden Schäfchen seien dann immer diesen beiden Ziegen gefolgt und später, als sie kei-
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ne Milch mehr tranken, sondern nur noch Gras frassen, der ganzen Ziegenherde.86 Ich analysiere im Folgenden nur mein Verstehen des ersten Satzes dieser Geschichte: Der Bergbauer antwortete mir: «Diese beiden Schafe meinen, sie seien Ziegen.» Zum Verstehen der Bedeutung dieses Satzes muss ich: Erstens, ausreichend deutlich («anschaulich») den Wortlaut dieses Satzes sinnlich wahrnehmen, damit ich seine Bedeutung verstehen kann. Wenn ich ihn nicht deutlich genug höre, sage ich dem Redenden ungefähr: «Bitte, wiederholen Sie diesen Satz nochmals etwas lauter, ich bin im Alter etwas schwerhörig geworden.» Ich höre den Wortlaut dieses Satzes dann deutlich («anschaulich») genug, wenn ich die Bedeutung, die er für den Redenden hat, zu verstehen glaube, d. h., wenn in ihm für mich diese Bedeutung transparent wird. Zweitens muss ich mir mehr oder weniger anschaulich die beiden Schafe vergegenwärtigen, über die der Bergbauer spricht. Drittens muss ich mir mehr oder weniger anschaulich vergegenwärtigen, was der Bergbauer von diesen beiden Schafen sagt, nämlich, dass sie meinen Ziegen zu sein. Dazu muss ich mir mehr oder weniger anschaulich Ziegen vergegenwärtigen. Das «meinen» kann ich mir nicht anschaulich vergegenwärtigen, weil man es nicht sinnlich wahrnehmen kann. Ich verstehe aber was «meinen» bedeutet, weil ich das Verb (Tätigkeitswort) in meiner Kindheit durch meine Eltern, älteren Geschwister und Spielkameraden im Alter zwischen drei und vier Jahren zu lernen, d. h. richtig zu gebrauchen vermochte, und dies vermochte ich, weil mein Verstand in seiner Entwicklung dazu gelangte, auf meinen intentionalen Akt des Meinens von etwas zu reflektieren, und auch gleichzeitig dazu gelangte, in meinem vergegenwärtigenden Einfühlen des Meinens von etwas anderer Menschen auf ihr Meinen von etwas zu reflektieren.87 86 Aufgrund meiner Lektüre schon während meiner Assistentenzeit in Leuven der leicht verständlich und mit Humor geschriebenen Bücher des österreichischen Zoologen und Ethologen Konrad Lorenz (1903–1989), verstand ich nun auch den tieferen Grund des Verhaltens dieser beiden Schafe: Sie folgten den Ziegen aufgrund ihrer «Prägung» auf sie. «Prägung» meint eine von Geburt her (genetisch) festgelegte, während eines bestimmten Zeitabschnittes (der sog. sensiblen Phase) der Kindheit ausgelöste Fixierung auf gewisse sich bewegende Gegenstände. Dies demonstrierte Lorenz am Wildgansküken Martina, das nach dem Schlüpfen aus dem Ei, das er durch eine Hausgans, eine Truthenne und schliesslich zwei Tage durch seinen Brutapparat ausbrüten liess, auf ihn geprägt wurde und nun diesem Menschen überall hin folgte, so wie jene beiden Schafe den Ziegen. Siehe: Konrad Lorenz, «Das Gänsekind Martina», in: ders., Er redete mit dem Vieh, den Vögeln und den Fischen, Deutscher Taschenbuch Verlag, München, 1964, S. 84–95; vgl. Konrad Lorenz, «Der Kumpan in der Umwelt des Vogels (1935)», in: ders., Über tierisches und menschliches Verhalten. Über den Werdegang der Verhaltenslehre, Piper Verlag, München 1965, S. 115–282. 87 Der Gebrauch dieses Wortes ist viel schwieriger als derjenige von «Hund» in den Sätzen «das ist ein Hund» oder «dieser Hund ist ein lieber Hund, er beisst nicht». Denn auf all dies
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Alles was unter diesen drei Punkten über das, was mehr oder weniger anschaulich ist, gesagt wurde, verdeckt sich. Doch das hörende Verstehen des Satzes «diese beiden Schafe meinen, sie seien Ziegen» dauert eine gewisse Zeit, so dass das «anschauliche» Hören der gesprochenen Worte, das mehr oder weniger anschauliche Vergegenwärtigen der beiden Schafe und das anschauliche Vergegenwärtigen der Ziegen nicht gleichzeitig anschaulich sein müssen. Nur so ist eine genügende Anschaulichkeit gewährleistet. Zusammenfassend kann im Hinblick auf dieses Beispiel über die Sinnlichkeit innerhalb ihrer Funktion in der Vernunft gesagt werden: Das sinnlich Gegenwärtige und die Vernunftinhalte befinden sich nicht bloss im Verhältnis der Fundierung und des Widerstreites der gegenseitigen Verdeckung in der Anschauung, wie es im ersten Kapitel über den vergegenwärtigenden Verstand zur Geltung kam, sondern das sinnlich Gegenwärtige kann durch die Vernunft, zur cultura culturata geworden, eine vergegenwärtigende Funktion ausüben.
§ 35 Vorläufige Unterscheidung zwischen sinnlicher, materieller Kultur und geistiger Kultur: von der Vernunft geschaffene sinnliche Mittel zur Vergrösserung der leiblichen Macht und die Institution der Vernunft in der Sinnlichkeit für die Vernunft selbst Bevor ich an eine Differenzierung und Analyse verschiedener Formen der geistigen Kultur gehe, möchte ich vorerst einen allgemeinen Unterschied in der kultivierenden Vernunft hervorheben: Die Vernunft kann die Sinnlichkeit entweder für die Sinnlichkeit oder aber für sich selbst kultivieren. Auch wenn die Vernunft die Sinnlichkeit für diese kultiviert, ist es die vergegenwärtigende Vernunft, die kultiviert, aber sie tut es nicht für sich selbst, sondern für die künftige Steigerung des Komforts, des Angenehmen des Leibes und der Steigerung seiner Macht. In der geistigen Kultur geht es nicht um eine solche leibliche Steigerung, sondern um die Steigerung und Bereicherung des menschlichen Geistes. Manchmal wird nur die geistige Kultur «Kultur» genannt und die materielle Kultur «Zivilisation». Die materielle Kultur kann man auch Technik nennen. Doch auch in der geistigen Kultur gibt es Techniken, ein Kunstmaler von Ölbildern muss auch die Techniken dieses Malens erlernen, z. B. das Vorbereiten der Leinwand, das Mikann man zeigen und man kann es sich anschaulich vergegenwärtigen, was beim Wort «meinen» im Satz «die beiden Schafe meinen (fälschlicherweise) Ziegen zu sein», nicht möglich ist. Siehe: Iso Kern und Eduard Marbach, «Understanding the Representational Mind. A Prerequisite for Intersubjectivity Proper», in: Journal of Consciousness Studies, 8 No. 5–7 (2001), S. 69– 82.
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schen der Farben, das Grundieren; aber das sind blosse materielle Mittel seiner Kunst für sein Schaffen von geistiger Kultur durch Kultivierung des Sinnlich-Materiellen; ein Astronom muss auch das Handhaben seiner wissenschaftlichen materiellen, sinnlich wahrnehmbaren Instrumente beherrschen, die sich ergebenden sichtbaren Zahlen und Tabellen lesen können. Die Beherrschung der materiellen Mittel ist nur die Voraussetzung ihrer geistigen Kulturleistung; wenn sie nur die materiellen Mittel beherrschen, sind sie noch kein Künstler oder Wissenschaftler. In der materiellen Kultur, in der die Vernunft die Sinnlichkeit für diese kultiviert, z. B. im Bauen einer Behausung, vergegenwärtigt die Vernunft das künftige Wohnen in diesem Haus, im Zubereiten einer Speise vergegenwärtigt sie das Essen, im Herstellen eines Bettes vergegenwärtigt sie das Liegen und Schlafen. Doch können alle diese Vernunfterzeugnisse sinngemäss ohne Vergegenwärtigung gebraucht werden. Der Sinn dieser Vernunfterzeugnisse besteht in ihrem sinnlich-leiblichen Gebrauch: im Wohnen, Essen, Liegen und Schlafen, obschon sie nicht in diesem sinnlich-leiblichen Gebrauch hergestellt wurden. Wenn ich das Bett brauche, indem ich in ihm mit dem Begehren zu schlafen liege, brauche ich mir das Schlafen nicht zu vergegenwärtigen. Im Dienste des sinnlich leiblichen Gebrauchs steht auch das vernünftige Herstellen von Instrumenten, Werkzeugen, Verkehrsmitteln, Waffen. Diese sind Erweiterungen, Vergrösserungen des Könnens und der Macht des menschlichen Leibes. Mit einem Hammer in der Hand kann jemand viel besser einen Nagel einschlagen als mit seiner Hand; mit einer Schaufel in den Händen kann er viel besser Erde oder Sand zusammenschaufeln als mit seinen blossen Händen; mit einer Waffe in den Händen kann jemand viel besser seine Feinde umbringen als mit seinen Fäusten; mit einem Auto, wenn es läuft, kann sich einer viel schneller bewegen als mit seinen zwei Beinen, und diese Steigerung oder Erweiterung seiner leiblichen Fortbewegungsfähigkeit kann ihm eine grosse sinnliche Lust bedeuten. Wahrscheinlich kaufen sich viele Menschen nur deshalb ein Auto. In ihrem Auto fahrend ist ihr Leib viel mächtiger geworden, und in einem grossen Auto noch mächtiger. Und Macht gibt Prestige. Viele Menschen kaufen sich ein zu grosses Auto, viel grösser, als sie es wirklich für vernünftige Zwecke bräuchten. Im Gegensatz zur materiellen Kultur, deren Werke mit Vergegenwärtigung erzeugt werden müssen, aber deren Gebrauch ohne Vergegenwärtigung stattfinden kann, kann bei den Schöpfungen geistiger Kultur wie der Sprache, der Kunstwerke, der wissenschaftlichen Ergebnisse der Gebrauch dieser Kulturwerke, im Sprechen, im ästhetischen Betrachten von Bildern, im Verstehen der wissenschaftlichen Ergebnisse nur mit Vergegenwärtigungen vonstatten gehen.
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§ 36 Vertiefte Unterscheidung zwischen sinnlicher, materieller Kultur und geistiger Kultur: von der Vernunft geschaffene sinnliche Mittel zur Vergrösserung der leiblichen Macht und die Institution der Vernunft in der Sinnlichkeit für die Vernunft selbst: Während in der sinnlich-materiellen Kultur die Vernunft ein materielles Mittel für eine von diesem Herstellen verschiedene Tätigkeit herstellt, sei diese nun bloss sinnlich oder vernünftig, verwirklicht im schöpferischen Tun der geistigen Kultur dieses schöpferische Tun sich selbst Die im vorangehenden § 35 getroffene Unterscheidung zwischen sinnlicher, materieller Kultur und der geistigen Kultur ist unzulänglich. Denn aufgrund dieser Unterscheidung bleibt es in vielen Fällen unbestimmbar, ob eine Kulturschöpfung für die Vernunft selbst oder aber eine für die sinnliche Leiblichkeit vorliegt. Der wichtigste Unterschied zwischen diesen beiden Arten von Kulturschöpfungen ist der folgende: In der sinnlich-materiellen Kultur stellt die Vernunft ein materielles Mittel für eine von diesem Herstellen verschiedene Tätigkeit her, sei diese nun bloss sinnlich oder vernünftig. Ein Bett zum Schlafen wird nicht durch Schlafen hergestellt, eine Schaufel nicht im Schaufeln, eine Füllfeder nicht im Schreiben, ein Radio nicht im Radio Hören. Wenn die Vernunft ein sinnliches Mittel für eine andere Vernunfttätigkeit herstellt, verwirklicht sie dabei nicht diese andere Vernunfttätigkeit, sondern nur deren sinnliches Mittel. Wenn jemand einen Bleistift zum Schreiben herstellt, schreibt er dabei nicht. In der geistigen Kultur dagegen gestaltet (kultiviert) die Vernunft die Sinnlichkeit nicht als blosses Mittel für eine von dieser Gestaltung verschiedene Tätigkeit. Im Schaffen eines Kunstwerkes zum Beispiel wird kein sinnliches Mittel für eine andere Tätigkeit bereitgestellt, sondern in diesem schöpferischen Tun verwirklicht sich dieses Tun selbst. Das Anschauen oder Geniessen eines fertiggestellten Kunstwerkes ist keine vom Schaffen verschiedene Tätigkeit, wie das Herstellen einer Säge und der Gebrauch dieser Säge (das Sägen) verschiedenartige Tätigkeiten sind. Das Anschauen oder Geniessen des vollendeten Kunstwerkes ist nichts anderes als der Nachvollzug der Vollendung des schöpferischen Tuns des Künstlers und ist selbst ein schöpferisches Tun. Am deutlichsten ist dies im Spielen (Interpretieren) eines von einem anderen komponierten Musikstückes. Auch das Anschauen eines Bildes ist ein schöpferisches Interpretieren. Das ästhetische Anschauen oder das Aufführen eines von einem anderen geschaffenen Kunstwerkes bedeutet nicht ein Wiederholen, ein sich vergegenwärtigend Hineinversetzen in den ganzen ursprünglichen schöpferischen Prozess
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mit all seinen tastenden Versuchen, Leiden und Nöten des Kunstmalers oder des Musikkomponisten. Es hat auch meistens nicht deren Genialität, nimmt aber, wenn es ein gutes Anschauen oder Aufführen ist, an deren Genialität teil. Dieses Anschauen oder Aufführen ist ein Nachvollziehen des vollendeten ursprünglichen schöpferischen Tuns, in das dieses einmündete. In diesem künstlerischen Tun wird kein Mittel für ein anderes Tun hergestellt. Ein Mittel wird hergestellt als Mittel für ein anderes Tun, und ein Mittel muss vorhanden sein, bevor es gebraucht werden kann. Es ist insofern der herstellenden wie auch der gebrauchenden Tätigkeit äusserlich, als es, nachdem es hergestellt und vordem es gebraucht wird, vorhanden sein muss. Im Gegensatz zu einem Herstellen eines Mittels, schafft ein künstlerisches Schaffen sein Werk für sich selbst, wobei dieses Schaffen nicht als ein individuelles Erlebnis, sondern als ein Schaffen einer bestimmten Art zu verstehen ist. Und im Gegensatz zum Gebrauch eines Mittels hat dieses Schaffen sein Kunstwerk nicht als etwas, was zeitlich vor ihm vorhanden sein muss, sondern schafft es selbst; und das Kunstwerk ist auch nicht nach ihm vorhanden, sondern es ist nur in diesem Schaffen oder seinem Aufführen oder Anschauen. Ein künstlerisches Tun verwirklicht sein Kunstwerk durch sich selbst und verwirklicht sich selbst in seinem Kunstwerk. Ebenso steht es mit einer Sprache als einem geistigen Kulturwerk, nicht als das Werk eines menschlichen Individuums, sondern vieler einzelner Individuen, die einer Volksgemeinschaft angehören. Die Sprache wird im Sprechen oder Schreiben und Verstehen geschaffen und für nichts anderes als für das Sprechen oder Schreiben und Verstehen selbst. Und vor dem Sprechen oder Schreiben und Verstehen gibt es keine Sprache als das Erzeugnis einer anderen Tätigkeit. Das Entscheidende ist dies: Während in der sinnlich-materiellen Kultur ein sinnlich-materielles Mittel für eine andersartige Tätigkeit hergestellt wird, mag diese bloss vernünftig oder bloss sinnlich sein, verwirklicht sich die Vernunft in der geistigen Kultur durch die Gestaltung des Sinnlichen selbst. Während in der sinnlich-materiellen Kultur die Vernunft nur Sinnlich-Materielles herstellt, schafft die Vernunft durch die Gestaltung des Sinnlich-Materiellen Vernunft (Geist). Bei der geistigen Kultur können wir von Institution der Vernunft in der Sinnlichkeit sprechen.
§ 37 Ein geistiges Kulturwerk ist etwas geistig Ideelles, ein sinnlich-materielles Kulturwerk etwas materiell Reales Die geistige Kultur bewirkt Geist und wirkt deshalb auch nicht als etwas bloss Sinnliches, obzwar sie wie alle Kultur auch sinnlich ist, sondern sie wirkt als in der Sinnlichkeit verwirklichtes Geistiges und zwar als Ideelles. Dies zeigt sich dar-
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in, dass es dasselbe geistige Kulturwerk ist, das in verschiedenen sinnlichen Ausführungen und Aufführungen wirkt und ist, während ein sinnlich-materielles Kulturwerk nur in seiner einzelnen Ausführung oder Herstellung wirkt und ist. Z. B., ein Hammer dient, wirkt und ist vorhanden als dieses sinnliche Werkeug; es gibt in der sinnlich-materiellen Kultur nicht den Hammer, sondern nur diesen oder jenen quantitativ und qualitativ so bestimmten, grossen oder kleinen, schlechten oder guten Hammer. Demgegenüber wird der eine und selbe Roman Don Quijote de la Mancha von Miguel de Cervantes (1547–1616) in verschiedenen materiellen Büchern gelesen. Dieser Roman bleibt auch ungefähr derselbe, wenn er nicht in seiner spanischen Originalsprache des Anfangs des 17. Jahrhunderts, sondern in der heutigen spanischen Sprache oder in deutscher, französischer oder in einer anderen Übersetzung gelesen wird. Doch es besteht bei diesem Roman nicht die strenge, exakte Identität des geistigen Kulturwerkes der Euklidischen Geometrie, die trotz ihrer verschiedenen sinnlich sichtbaren gedruckten Darstellungen (Institutionen) in verschiedenen Büchern, verschiedenen sichtbaren Kreidezeichnungen an der schwarzen Wandtafel in der Schule usw. immer exakt dieselbe bleibt. Die Euklidische Geometrie ist nicht sichtbar, aber sie ist insofern in der Sinnlichkeit instituiert, als sie, um verstanden zu werden, dieser sinnlichen Darstellungen bedarf, sei es auch nur in der anschaulich vergegenwärtigenden, auf das unmittelbare sinnliche Sehen zurückgehenden Phantasie. Analoges wie vom Roman Don Quijote de la Mancha gilt von dem einen und selben Drama Iphigenie auf Tauris (1787) Goethes in verschiedenen Theatern von verschiedenen Regisseuren, verschiedenen Schauspielern mit verschiedenen Theaterkulissen vor verschiedenem Publikum gespielt, von der einen und selben Neunten Symphonie Anton Bruckners in verschiedenen Partituren und verschiedenen Aufführungen und von der Fillette au chapeau bleu (1881) vom französischen Impressionisten Auguste Renoir in all den verschiedenen Reproduktion dieses einen Ölbildes, das sich in einer Privatsammlung befindet. Man spricht von dem Roman Don Quijote de la Mancha von Cervantes und nicht von den Romanen Don Quijote de la Mancha von Cervantes, dem Drama Iphigenie auf Tauris und nicht von drei bis tausend Dramen Iphigenie auf Tauris, wie man von den Hämmern, von drei bis tausend Hämmern usw. spricht. Es gibt zwar in der materiellen Kultur auch die Dampfmaschine, den Computer Lenovo, den Eisenbahnzug Cisalpino. Aber so spricht man nicht von einer wirklichen materiellen Dampfmaschine, von einem wirklichen materiellen Computer oder einem wirklichen materiellen Eisenbahnzug, sondern von der Idee, der Konzeption oder dem Typus dieser Maschinen. Diese Ideen, Konzeptionen haben ihre Wirklichkeit bereits in den Plänen und Modellen, mit denen man nicht z. B. eine wirkliche Lokomotive antreiben, mit denen man nicht einen Text schreiben oder reisen kann. Bis zu einem gewissen Grade und in gewissen Entwicklungsstufen haben diese Ideen oder Konzeptionen bereits ihre Wirklichkeit in dem sie durch Phantasie entwerfenden Denken der Erfinder. Diese Wirklich-
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keit ist eine geistig-ideelle aber noch nicht die Wirklichkeit eines materiellen Kulturwerkes. In diesem Sinne kann man sagen, dass bereits Leonardo da Vinci die Dampfmaschine erfunden hat, obschon er nie eine brauchbare materielle verwirklicht hat. Die ideelle Wirklichkeit der geistigen Kulturwerke erweist sich auch darin, dass sie nicht nur in der sinnlich wahrnehmbaren Gegenwart, sondern auch in der vom Verstand vergegenwärtigten phantasierten sinnlichen Gegenwart als in der Sinnlichkeit instituierte Kulturwerke wirksam sein können, während man mit einem phantasierten materiellen Kulturgegenstand, z. B. mit einem phantasierten Werkzeug, einer phantasierten Säge, gar nichts anfangen kann. Man kann die Prinzipien einer mathematisch-wissenschaftlichen Theorie, ein Gedicht oder eine Melodie in der Phantasie anschaulich vergegenwärtigen und sich daran erfreuen oder in der Phantasie Schach spielen. Auch in dieser phantasierten sinnlichen «Welt» können geistige Kulturwerke wirksam sein, d. h. die entsprechenden geistigen kulturellen Tätigkeiten können sich in ihr verwirklichen.
§ 38 Geschichtlicher Fortschritt in der materiellen Kultur, Fraglichkeit von geschichtlichen Fortschritten in der geistigen Kultur In der materiellen Kultur, in der Technik, gibt es in der Geschichte der Menschheit eindeutig Fortschritte. Die heutige materielle Kultur, die heutige Technik ist ins Enorme gewachsen; mit den modernen Techniken vermögen die Menschen heute enorm viel mehr als in früheren Zeiten, sogar fast die ganze Menschheit zu zerstören. Die Ambitionen einiger Techniker sind nahezu grenzenlos. Es gibt digitale Techniker, die denken, ein menschliches Gehirn und damit menschliches Denken künstlich herstellen zu können, und Biogenetiker, die denken, den Menschen unsterblich machen zu können. Ob die geistige Kultur Fortschritte macht, ist in der Kunst sehr fraglich. Sie macht sicher Fortschritte beim einzelnen Künstler. Z. B. die Werke des reifen Alters oder Alterswerke eines Musikers, Kunstmalers, Plastikers, Malers, Architekten stehen meistens höher als seine Jugendwerke, obschon meistens schon in diesen sein künstlerisches Genie sich offenbart. Aber steht die Kunst des Mittelalters höher als die antike griechische? Steht die Kunst der Renaissance höher als diejenige des Mittelalters, z. B. steht die Kirche Santo Spirito in Florenz oder die Kuppel des Florentiner Domes von Filippo Brunelleschi (1377–1446), dem besten und berühmtesten Architekten der frühen florentinischen Renaissance, künstlerisch höher als die Kathedrale von Chartres (12./13. Jahrhundert) oder diejenige in Reims (13. Jahrhundert)? Steht die Kunst des Barock höher als diejenige der Renaissance? Steht die Musik Mozarts höher als diejenige Bachs? Steht die heuti-
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ge Architektur, Malerei, Plastik, Musik höher als alle ihr vorangegangene? Das lässt sich nicht sagen. Macht die Philosophie als geistige Kultur Fortschritte? Die phänomenologische Bewusstseinsanalyse von Edmund Husserl ist sicher viel genauer, umfassender als diejenige von Aristoteles in seiner Schrift über Über die Seele (Περί ψυχής, Peri psyches) und seine Schrift Über das Gedächtnis und die Erinnerung (Περί μνήμης και αναμνήσεως, Peri mnemes kai anamneseos), aber es gibt viele Schriften des Aristoteles, wie seine Nikomachische Ethik, seine Politik seine Metaphysik über deren Inhalte Husserl nicht viel zu sagen hatte. Die Mathematik als geistige Kultur machte sicher Fortschritte. Die mathematischen Naturwissenschaften als Grundlagenwissenschaften, die, abgesehen von ihren technischen Anwendungen, zur geistigen Kultur gehören, machten sicher Fortschritte. Doch was die uniforme Technisierung der heutigen Welt betrifft, hauptsächlich in der Form der Digitalisierung, kann man sogar den Eindruck gewinnen, dass sie die Entfaltung der geistigen Kultur hemmt, indem sie alles Interesse auf sich zieht und so von der geistigen Kultur, vor allem von der Kunst ablenkt. Alle materielle Technik sollte nur ein Mittel sein, entweder zum Zweck, die Lebensbedürfnisse des Menschen besser zu befriedigen, oder zum Zweck der geistigen Kultur der Menschen; stattdessen macht sie sich selbst zum Zweck. Und die geistigen Kulturwerke verschiedenster Epochen, vor allem der bildenden Künste (Plastik, Malerei), werden zu Geldanlagen, verschwinden in den Tresoren der Reichen und dienen dabei nur als Mittel zur Förderung eines Mittels der materiellen Kultur, der Vermehrung von Geld. Das ist eine Perversion von wahren geistigen Zwecken und blossen materiellen Mitteln. Zum Glück ist diese Perversion nicht vollständig, aber sie ist weit gediehen. In den folgenden Paragrafen möchte ich die Vernunft in einigen Formen der geistigen Kultur analysieren: im Bildwerk (§ 39), im menschlichen Spiel (§ 40), im Zeichen (§ 41), in der Sittlichkeit im Sinne der Tugend (§ 42) und in der menschlichen Person als das, was Tugenden hat (§ 43). Es handelt sich hier überall um verschiedene Selbstverwirklichungen oder Institutionen der Vernunft im Sinnlichen. Diese Analysen werden allerdings nicht sehr ausführlich und genau sein, nur genau genug, um die Fruchtbarkeit des hier entworfenen Vernunftbegriffs darlegen zu können.
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§ 39 Geistige Kulturwerke der bildenden Künste (Plastik und Malerei) a) Grundsätzliches: Kulturelles Bildwerk ist alles, was der Mensch mit seiner Vernunft schafft, um ein anderes, Abwesendes durch den Sehsinn oder Tastsinn in der Gegenwart anschaulich anwesend erscheinen zu lassen Bei den Werken der bildenden Künste erscheint im einen ein anderes; es wird im sinnlich Gegenwärtigen (im Bildwerk) ein Nichtgegenwärtiges, Abwesendes angeschaut. Voraussetzung dafür, dass etwas Bild eines anderen sei, ist eine gewisse Ähnlichkeit. Aber die Ähnlichkeit macht nicht die Bildlichkeit aus: Zwei Menschen, zwei Äpfel erscheinen als ähnlich, aber dadurch wird nicht der eine als Bild des anderen aufgefasst, dadurch erscheint nicht das eine im anderen. In einem Bildwerk kann sich nur dadurch etwas anderes verbildlichen, in ihm als gegenwärtig erscheinen, dass das jetzt Anschauliche und bei einem plastischen Bildwerk die jetzt tastbare Figur zu einer blossen Erscheinung von etwas anderem und insofern zu einem Schein wird. Es ist kein selbst Erscheinendes, wie z. B. ein Apfel, den ich in meiner Hand drehe, bald so, bald anders erscheint, von seiner einen Seite frisch, so dass es mich gelüstet ihn anzubeissen, von der anderen Seite wurmstichig, so dass ich davon absehe und ihn erst mit einem Messer aufschneide, um zu sehen, was drin ist. Kulturelles Bildwerk ist alles, was der Mensch mit seiner Vernunft schafft, um ein anderes, Abwesendes durch den Sehsinn oder Tastsinn in der Gegenwart anschaulich anwesend erscheinen zu lassen. Wenn das andere nicht anschaulich erscheint, sondern sich bloss anzeigt, ist es kein Bildwerk, sondern ein Zeichen (siehe unten § 41). b) Spiegelbilder Was uns selbstverständlich im jetzigen Zusammenhang nicht interessieren kann, sind «natürliche» Bilder, die Spiegelbilder, z. B. mein Spiegelbild im ruhigen Wasser vor mir. Diese Bilder sind zwar Bilder oder blosse Scheine für den vergegenwärtigenden Verstand, aber keine geistigen Kulturwerke der Vernunft (denn ich selbst bin ja nicht auf dem oder im Wasser, wenn ich mein Spiegelbild im ruhigen Wasser sehe). Auch Spiegelbilder in einem von Menschen gefertigten Spiegel interessieren uns in diesem Zusammenhang nicht, denn ein Spiegel gehört nicht zur geistigen, sondern zur materiellen Kultur.
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c) Unterscheidung zwischen einem praktischen Zweck dienenden Bildwerken und solchen, die den Zweck in sich selbst haben Bei den Bildwerken als Werken der geistigen Kultur können wir solche unterscheiden, die einem praktischen Zweck dienen, und solche, die nur dazu geschaffen werden, etwas Abwesendes in der sinnlichen Gegenwart zum Erscheinen zu bringen, also Selbstzwecke sind, d. h. den Zweck in sich selbst haben. Zur ersten Art gehören zweidimensionale Pläne, plastische Modelle, Schemata, die z. B. als geografische Karten zur Orientierung im Gelände oder zum Bau eines Hauses dienen. Solche praktischen Zwecken dienende Bilder können auch transponieren in dem Sinn, dass die unmittelbar sinnliche Erscheinung in eine andere transponiert wird. Dies ist z. B. der Fall, wenn eine sichtbare auf- oder absteigende Linie auf einem Musiknotenblatt eine hörbare auf oder absteigende Melodie verbildlicht. Unsere europäische Notenschrift hat ein solches transponierendes Moment, obschon sie im Wesentlichen auf konventionellen Zeichen beruht. Solchen praktischen Zwecken dienenden Bildwerken stehen die Bildwerke der Kunst gegenüber, die nur dazu dienen, einem Abwesenden in der anwesenden Gegenwart eine künstlerische Erscheinung zu verschaffen. In einem guten künstlerischen Porträt zum Beispiel erlangt die porträtierte Person eine Konzentration und Intensität der Erscheinung, die sie in keiner unmittelbaren sinnlichen visuellen Erscheinung hat, durch die sie einem für einen Moment unbewegt gegenübersteht. Züge ihrer Persönlichkeit, die sich im Umgang und Dialog mit ihr nur allmählich und in verschiedenen Situationen manifestieren, sind in einem künstlerischen Porträt eingefangen und verdichtet. Aber nicht nur individuelle Personen, sondern auch Typen werden in guten Bildern konzentriert und intensiv zur Erscheinung gebracht. Ich denke dabei an das im Kunstmuseum von Brüssel befindliche Ölgemälde «Die drei Kinder mit dem Ziegenbock und Wagen» von dem zwischen 1580 und 1584 in Mechelen (Malignes, heute Belgien) geborenen und 1666 in Harlem (Holland) gestorbenen Frans Hals. Ich habe dieses Bild während meines über ein Jahrzehnt dauernden Aufenthaltes (zwischen 1956 und 1972) im nicht weit von Brüssel gelegenen Leuven immer wieder besucht, und es steht mir noch heute lebendig vor Augen: Ein etwa zehnjähriger fröhlich lachender und munter blickender Knabe führt zu Fuss einen gutmütigen Ziegenbock, der einen offenen Holzwagen mit zwei in ihm sitzenden Mädchen zieht. Ein ungefähr dreijähriges Mädchen blickt den Bildbetrachter etwas ängstlich an, während ein etwa siebenjähriges Mädchen das kleine Mädchen ermunternd anblickt. Alle sind festlich angezogen; vielleicht befinden sie sich auf einer herbstlichen Sonntagsausfahrt. Ich dachte immer, dass es Geschwister seien. Auch ich habe als einziger Sohn zwei Schwestern. Vielleicht hat mich auch deshalb dieses Bild immer besonders angesprochen. In diesem Bild leuchtet das ganze kindliche Verhältnis der Kinder zur Welt auf. Das erinnert mich an ein Gedicht von Cuno Amiet (1868–1961), des neben
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Ferdinand Hodler (1853–1918) bedeutendsten Malers und Lithografen der deutschsprachigen Schweiz des 19. und 20. Jahrhunderts: Schon wieder will ein neues Jahr sich nah’n. Mit Kinderaugen und mit Kinderglauben, Kein Zweifel soll uns diese beiden rauben Beschreiten mit Gelassenheit wir seine Bahn.
Dieses Gedicht steht auf einer zweifarbigen Lithografie dieses Malers, einem sog. Jahresblatt aus dem Jahre 1926, das er seinen Freunden zum Jahreswechsel schenkte. Oberhalb des Gedichtes ist ein etwa zweijähriger Knabe mit grossen Augen abgebildet.88 d) Sinnbilder Einige bildliche Kunstwerke bringen sogar zur sinnlichen Anschauung, was selbst gar nicht sinnlich anschaulich erscheinen kann. Es sind dies die Sinnbilder oder Allegorien, z. B. das farbig bemalte Renaissancestandbild der Gerechtigkeit auf der Säule inmitten des Gerechtigkeitsbrunnens in der Gerechtigkeitsgasse der Altstadt von Bern: Eine Frau als Symbol der Gerechtigkeit steht erhoben über den vier Büsten von Kaiser, Papst, Sultan und Bürgermeister als den institutionellen Mächten der europäischen Welt des 16. Jahrhunderts, gesehen aus der Perspektive der damaligen Stadtrepublik Bern. Sie hat die Augen verbunden, d. h. sie urteilt ohne Ansehen der Person, und hält, die Gründe der verteilenden und der strafenden Gerechtigkeit abwägend, eine Waage in ihrer linken Hand und führt ein Schwert in der rechten als Sinnbild ihres Urteils. In diesem Standbild der geistigen Kultur wird sinnlich anschaulich, was an sich gar nicht sinnlich anschaulich ist. e) Genaue Analyse des Verstehens einer Lithografie aus dem 20. Jahrhundert Diese Lithografie ist einfarbig mit den verschiedensten Schwarz- und Grautönen, wiederum von Cuno Amiet. Auch sie ist ein Neujahrsblatt für seine Freunde und Bekannten, geschaffen im Jahre 1928, also zwei Jahre nach jenen «Kinderaugen, Kinderglauben». Wiederum steht ein Gedicht unter dem Bild: Was dich vom Alltag kann erheben, Was dich zu Gott bringt, such im Leben.
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Ausführliches zu Cuno Amiet und Ferdinand Hodler unten im § 60.
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Noch bleibt des Niedrigen führwahr Genug wohl auch im neuen Jahr.
Auf dem Bild ist eine Cellospielerin dargestellt, die nach rechts blickt, keine Noten vor sich hat, also auswendig spielt, mit der rechten Hand den Bogen weit ausholend zu einem langen Aufstrich anhebt, während der erste, zweite, dritte und vierte Finger ihrer linken die C-, G-, D- und A-Saite wohl zu einem Akkord drücken. Sie ist sicher eine geübte Cellospielerin, ihren sonoren Klang kann man aus dem Bild heraushören. Sie trägt einen langen weiten Rock mit Ärmeln bis zu den Ellbogen, schwarze Schuhe mit etwas erhöhten Absätzen und eine kurz geschnittene, die Ohren verdeckende dunkle Frisur, wie sie zu jener Zeit um 1928 Mode war und wie ich auch auf alten Fotos jener Zeit gesehen habe. Wenn ich mich richtig erinnere, nannte man diese Frisur Bubikopf. Auf der Lithografie ist die Cellospielerin sitzend 21 Zentimeter gross. Was ist nun alles auf diesem Bild zu sehen: Erstens ein etwas bräunliches, wohl im Laufe der 92 Jahre des Vorhandenseins noch mehr gebräuntes, hochstehendes, rechteckige 28 × 44 Zentimeter grosses spezielles Papier mit vielen lavierten mehr oder weniger schwarzen Tuscheflecken. Das ist nicht das Bild, sondern das Bildmaterial. Zweitens die oben beschriebene, sitzend 21 Zentimeter grosse Cellospielerin. Ich sehe diese aufgrund jenes Bildmaterials mit anschaulicher Phantasie. Edmund Husserl nannte dies das «Bildobjekt».89 Drittens, aufgrund meiner Phantasie erscheint mir nicht nur diese anwesende, sitzend 21 Zentimeter grosse Cellospielerin, sondern durch sie als abwesend eine wahrscheinlich sehr gute Cellospielerin normaler menschlicher Grösse, die mit ihrem rechten Arm und Oberkörper den Bogen zu einem weiten Aufstrich anhebt. Wahrscheinlich trug sie nicht einen schwarzen Rock, sondern vielleicht einen weinroten oder dunkelblauen. Ihrer Musik hat Cuno Amiet wahrscheinlich im Jahre 1928 zugehört und wurde durch sie «über den Alltag erhoben» und «zu Gott gebracht». Diese in der Betrachtung der Cellospielerin auf dem gegenwärtigen Bild (Bildobjekt) erscheinende, aber nicht anwesende, sondern abwesende lebendige Cellospielerin und das von ihr gespielte akustisch erklingende, aber in der Bildbetrachtung nicht aktuell gehörte Cellostück ist das, was Edmund Husserl das «Bildsujet» nennt.90 Das abwesende «Bildsujet» erscheint in diesem anwesenden «Bildobjekt» aufgrund einer gewissen Ähnlichkeit des Bildobjekts mit dem Bildsujet. Die Kleinheit (21 cm) des durch die vergegenwärtigende Phantasie jetzt gesehenen anwesenden Bildobjekts ist gegenüber der abwesenden wirkli89 Edmund Husserl, Phantasie, Bildbewusstsein, Erinnerung. Zur Phänomenologie der anschaulichen Vergegenwärtigungen, Texte aus dem Nachlass (1898–1925), herausgegeben von Eduard Marbach (Husserliana XXIII), Martinus Nijhoff Verlag, Den Haag 1980. 90 Ebenda.
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chen Cellospielerin, die Amiet 1928 wahrscheinlich gesehen und der er zugehört hat, ein blosser Schein, durch den diese als abwesende, vergangene visuell und akustisch als gegenwärtig erscheint. f) Genaue Analyse des Verstehens des Bildwerkes eines Bildwerkes: das Verstehen einer bronzenen Kopie aus dem 19. Jahrhundert einer antiken griechischen Bronzestatue aus dem vierten Jahrhundert v. Chr. Dies Bildwerk ist eine 21 Zentimeter hohe Bronzefigur des nackt auf einem Felsen sitzend sich ausruhenden griechischen Gottes Hermes (lateinisch: Mercurius), Sohn des Zeus und der Maia, der geflügelte Götterbote, Seelengeleiter, Schutzgott der Gymnastik, des Handels und der Beredsamkeit, Erfinder der Leier (Musikinstrument). Er ist der Götter άγγελος, angelos (lat.: angelus; italienisch: angelo; französisch: ange; deutsch: Engel; englisch: angel), was aus dem Griechischen ins Deutsche übersetzt bedeutet: Bote, Botin, Botschafter, Gesandter, Verkündiger. Doch trägt er nicht wie die christlichen Engel grosse Flügel auf dem Rücken, sondern kleine Flügel oberhalb der Fersen. Die Bronze der Hermesfigur ist heller als diejenige des Felsen, auf dem Hermes sitzt, was ihn optisch gut vom Felsen abhebt. Hinter Hermes’ Rücken ist auf den Felsen eingraviert: Fonderia Sommer, Napoli. Die Figur wurde also in Neapel von der Bronzegiesserei Sommer hergestellt, und zwar in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Im Frühherbst des Jahres 1966 hatte ich Gelegenheit, zusammen mit einem früheren Mitschüler im Gymnasium von Cortona aus, wo er damals wohnte, in seinem kleinen Auto nach Neapel zu fahren. Von dort fuhr er wieder nach Cortona zurück, während ich mehrere Tage in Neapel blieb. Danach reiste ich weiter mit dem Zug oder Bus zu der vom Vulkan Vesuv in der zweiten Hälfte des Jahres 79 mit heisser Lava verschütteten und seit der Moderne wieder ausgegrabenen altrömischen Stadt Pompei. In Neapel sah ich mir die ziemlich steil zum Meer abfallende sehr schöne Stadt an und das Museo Nazionale di Napoli mit seinen ungeheuren Schätzen, vor allem solchen aus den vom Ausbruch des VulkansVesuv in der zweiten Hälfte des Jahres 79 verschütteten Städten Pompei und Herculaneum (Ercolano). Am allermeisten beeindruckten mich zwei Werke: das 5,82 × 3,13 Meter grosse, gut erhaltene Mosaik der Schlacht von Issos vom November 333, in der Alexander der Grosse zu Pferde mit seinen Reitern und Fusstruppen den Grosskönig von Persien, Dareios III., auf seinem Streitwagen entscheidend schlägt. Es wurde im Haus des Faun (Casa di Fauno) in Pompei 1831 entdeckt. Es ist die Kopie eines hellenistischen Werkes. Von diesem Mosaik kaufte ich mir zwei Postkarten: die eine mit dem angreifenden Alexander dem Grossen auf seinem Pferd, die andere
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mit dem voller Furcht auf Alexander blickenden, auf seinem Streitwagen fliehenden Dareios III. Das zweite Werk, das mich ausserordentlich beeindruckte, war das Original der oben in meiner kleinformatigen Kopie beschriebenen Bronzefigur des nackt auf einem Felsen sitzenden, sich ausruhenden griechischen Gottes Hermes (Inventarnummer des Museums: 5625). Dieser Hermes ist menschengross, hat das Alter eines Epheben, d. h. eines ungefähr 18-jährigen Jünglings. Sein Gesicht hat völlig individuelle Züge, so dass dieser lebendige Jüngling zur Herstellung des Lehmmodells dem Künstler wahrscheinlich Modell gesessen hat. Diese Bronzeplastik wird Lysippos (um 390–310 v. Chr.) zugeschrieben, dem bedeutendsten Plastiker des Peloponnes, der in der Hafenstadt Sikyon, Σικυων an der Nordküste dieser Halbinsel am Golf von Korinth, arbeitete, etwa 100 Kilometer westlich von Athen. Er war ein Zeitgenosse des Atheners Praxiteles (395–330 v. Chr.). Nach meinem Laienwissen könnte diese Bronzefigur auch von Praxiteles stammen, dessen Plastiken auch individuelle Züge tragen und der als ein Schüler von Platon (427–347 v. Chr.) gilt. Ich fragte mich 1966, als ich vor diesem Bildwerk aus Griechenland stand, wie diese damals etwa 300 Jahre alte Statue von Sikyon nach Herculaneum bei Neapel gekommen ist. Es könnte sein, dass sie von einer reichen Familie von Herculeanum irgendwo in Griechenland gekauft wurde, das damals zum römischen Reich gehörte. Aber die Plastiken von Lysippos und Praxiteles wurden zu deren Zeit nach weit entfernten Orten verkauft, auch in die Magna Graecia (Grossgriechenland), d. h. in die griechischen Kolonien Agrigent oder Syrakus auf Sizilien oder nach Tarent im südlichen Italien. Auch Neapel (ital.: Napoli; griech.: Νεάπολις, Neapolis, was «Neue Stadt» bedeutet) wurde als griechische Kolonie gegründet. Diese Stadt schloss sich 326 v. Chr. Rom an, bewahrte aber seinen griechischen Charakter bis in die späte Zeit des Römischen Reiches. Vielleicht wurde diese Statue also irgendwo nicht allzu weit von Herculaneum erworben. Sie wurde 1758, also 1689 Jahre nach ihrer Verschüttung, in der Villa dei Papiri in Herculaneum ausgegraben. Diese schöne Bronzestatue war also bei ihrer Ausgrabung und ist auch heute immer noch eine viel längere Zeit verschüttet, als sie Menschen sichtbar war. Die Bevölkerung von Herculaneum war reicher als diejenige des benachbarten Pompei. Auch von dieser Hermes-Statue habe ich mir 1966 eine fotografische Postkarte gekauft, und zwar eine sehr gute und genaue schwarzweisse, die ich noch heute besitze. Der Fotograf hat auf ihr seinen Namen angegeben: Lorenzo Carcavallo, Napoli. Meine kleine 21 Zentimeter hohe Kopie dieser Statue habe ich 2012 erworben, nachdem ich sie in einer Auktionsausstellung in Bern entdeckte. Als ich sie erblickte, dachte ich sofort an das Original im Museo Nazionale von Neapel. Diese kleine Bronzestatue aus der Fonderia Sommer, Napoli, wurde höchst wahrscheinlich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, also vor etwa zweihundert Jahren in Neapel gekauft, vielleicht von einem Schweizer oder einer Schweizerin
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als Erinnerung an diese grossartige Hermesstatue, wie ich 1966 jene sehr schöne Fotografie von Lorenzo Carcavallo zur Erinnerung kaufte. Denn in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren in den gebildeten Kreisen des deutschsprachigen Teils Europas, wohl auch unter Einfluss von Goethes Werk Italienische Reise,91 Italienreisen sehr beliebt. Diese in Kutschen nach Italien Reisenden kauften sich unter anderem in Neapel kleinere (billigere) oder grössere (teurere) Kopien von antiken Bildwerken, so auch vom bronzenen ruhenden Hermes von Lysippos oder Praxiteles. Und nun zur Analyse meines Verstehens dieses plastischen Bildwerkes: Ich gehe aus von meiner 21 Zentimeter kleinen Bronzefigur des auf einem Felsen sitzend sich ausruhenden griechischen Gottes Hermes. Das materielle Bild (Bildmaterie) ist die à cire perdue in zwei verschiedenenfarbigen Bronzestücken gegossene Bronze. Ich interpretiere diese 21 Zentimeter kleine zweifarbige Bronze, die ich von allen Seiten von näher und ferner ansehen oder in meinen Händen drehen und wenden und betasten kann, aufgrund meines erworbenen Wissens um das Kriterium der beflügelten Fersen als einen auf einem Felsen ruhenden Gott Hermes, wobei ich das dunkle Bronzestück als Felsen und das helle als Hermes anschaulich sehe. Dieser 21 Zentimeter kleine Hermes ist das «Bildobjekt». Mit diesem jetzt sinnlich wahrnehmbaren Bildobjekt vergegenwärtige ich mir anschaulich die menschengrosse ebenso zweifarbige bronzene Hermesstatue des Lysippos oder Praxiteles, die sich im Museo Nazionale di Napoli (mit der Inventarnummer 5625) befindet und die ich dort im September 1966 mit meinen eigenen Augen betrachtet habe und die dort auch von vielen anderen Museumsbesuchern betrachtet wurde. Dies ist das «Bildsujet» meines Verstehens meiner kleinen gegossenen Bronze. Da ich aber mich nur noch sehr vage und nicht genau anschaulich an diese von mir gesehene Statue in Neapel erinnern kann, nehme ich jetzt zur Veranschaulichung das kleine zweidimensionale und nicht plastische Fotobildwerk dieser Statue auf jenem 10,5 × 14,5 Zentimeter grossen Postkartenkarton von Lorenzo Carcavallo zuhilfe. Dieser Karton mit der positiven Abzugsmaterie des Fotonegativs ist das materielle Bild dieser Fotografie. Der auf einem Felsen ruhende Hermes, also das Bildobjekt dieser Fotografie, ist nur 13 Zentimeter klein, es ist aber aufgrund von Ähnlichkeit nur mehr oder weniger dasselbe wie das Bildobjekt meiner 21 Zentimeter grossen plastischen Bronze. Denn es besteht nicht nur der Unterschied der Grösse, sondern vor allem das Gesicht des jugendlichen Hermes ist individueller, schöner, sympathischer und ausdrucksvoller als das Gesicht meiner kleinen Hermesstatue. Der Künstler dieJohann Wolfgang Goethe, Italienische Reise. Erster und zweiter Teil (Gesamtausgabe von Goethes Werken, Bd. 25), Deutscher Taschenbuchverlag (dtv), München 1962. Seine Italienreise hatte Goethe in einer Kutsche vom 3. September 1786 von Karlsbad aus über den Brenner, Verona, Venedig, Rom, Neapel, Sizilien und dann wieder über Neapel (bis 3. Juni 1787) zurück nach Hause unternommen, um nur die wichtigsten Stationen zu nennen. 91
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ser kleinen Statue war kein Lysippos oder Praxiteles. Doch das «Bildsujet» dieser Fotografie und meiner kleinen Bronze ist genau dasselbe, nämlich die menschengrosse zweifarbige bronzene Hermesstatue des Lysippos oder Praxiteles, die sich im Museo Nazionale di Napoli befindet. Diese menschengrosse zweifarbige bronzene Hermesstatue des Lysippos oder Praxiteles ist ein Abbild eines etwa 18-jährigen Jünglings aus Fleisch und Blut, der wahrscheinlich einem der beiden dieser grossen Plastikkünstler Modell gesessen hat. Auch hier könnte die ganze Analyse nach Bildmaterie, Bildobjekt und Bildsujet wiederholt werden, was ich aber im Detail unterlassen und nur bemerken will, dass hier Bildsujet der etwa 18-jährige Jüngling aus Fleisch und Blut ist, der wahrscheinlich einem der beiden dieser grossen Plastikkünstler Modell gesessen hat. Zudem ist nun dieser lebendige, aber sterbliche Jüngling eine Allegorie oder ein Sinnbild des unsichtbaren unsterblichen Zeussohnes und Gottes Hermes, den die Götter auf dem Olymp, wann es ihnen beliebt, als Boten zu den sterblichen Menschen hinunter senden. Dazu wäre Ähnliches zu sagen, wie ich oben in diesem § 39 im Abschnitt d) über die Sinnbilder oder Allegorien geschrieben und am Renaissancestandbild der Gerechtigkeit auf der Brunnensäule in der Gerechtigkeitsgasse der Altstadt von Bern geschrieben habe. g) Verstehen von Bildern im Bilde. Ein Bild mit zwei Bildern im Bilde: Victor Surbeks Ölgemälde auf Leinwand «Paul Zehnder vor dem Spiegel mit Selbstbildnis», 191092 Das Bild, dessen Verstehen als Bild ich hier erörtern möchte, ist ein hochformatiges Ölgemälde auf Leinwand von 59,7 × 54 Zentimeter, das sich im Besitz des Kunstmuseums Bern befindet.93 Es ist ein frühes Ölbild Surbeks, das früheste hat er vier Jahre vor diesem, 1906, gemalt.94 Vor mir habe ich nicht dieses Ölgemälde, sondern zwei seiner Reproduktionen in den beiden in der unten stehenden Fussnote angegebenen Publikationen.95 Victor Surbek (1885–1975) wohnte seit
92 Datierung nach dem in Fussnote 95 angemerkten Werk von Therese Bhattacharya-Stettler und Steffan Biffiger. 93 Es ist eine Schenkung aus dem Nachlass von Victor Surbek und seiner Gattin, der Malerin Marguerite Frey-Surbek. 94 Siehe unten Fussnote 95. 95 Abgebildet in Markus Schneider, Die Surbeks. Victor und Marguerite, ein Berner Künstlerpaar, Verlag Scheidegger und Spiess, Zürich 2014, S. 112; ebenso in Therese Bhattacharya-Stettler und Steffan Biffiger, Marguerite Frey-Surbek und Victor Surbek. «als Künstler sind wir nicht verheiratet», Scheidegger und Spiess, Zürich 2018, S. 110.
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seiner Kindheit als Sohn eines Arztes bis an sein Lebensende in Bern.96 Er war also ganz Stadtberner und ist der bekannteste Maler dieser Stadt des mittleren 20. Jahrhunderts. Weit bekannter allerdings ist der eine Generation ältere Berner Maler Ferdinand Hodler (1853–1918), der Sohn eines Schreiners im Berner Mattenquartier an der Aare, der wahrscheinlich in der damals dort auf einer Aareinsel bestehenden Möbelfabrik Jörns arbeitete. Das Mattenquartier war in jener Zeit das Armenquartier Berns und in früheren Zeiten, als es auf der Aare noch Schifffahrt gab, sein früher mehr als jetzt Überschwemmungen ausgesetztes Hafenquartier. Doch nachdem Hodler eine Lehre beim Vedutenmaler97 Ferdinand Sommer in Thun gemacht hatte, wanderte er noch nicht 20-jährig 1872 nach Genf aus und fand dort Aufnahme in der Kunstschule von Barthélemy Mann. Als Sohn eines armen Fabrikarbeiters «setzte er seinen ganzen Ehrgeiz darein, obenauf zu kommen, zu dominieren».98 Zu Geld gekommen, wohnte er in einem prachtvollen Haus am Quai du Mont Blanc in Genf. Er starb in dieser Stadt nach 46 Jahren 65-jährig. Er kam immer wieder nach Bern, Thun und das Berner Oberland, alles Gebiete, die er sehr liebte, vor allem, um dort Bergbilder zu malen. Hodler war und ist ein weit über die Landesgrenzen hinaus bekannter Schweizer Maler, Surbek ein Berner Maler, aber kein Berner Lokalmaler, denn er wirkte über Bern hinaus; er hatte auch einen grossen öffentlichen Auftrag an der Schweizerischen Landesausstellung 1939 in Zürich. Aber im Ausland kennt man ihn kaum. Surbek und Hodler kannten sich persönlich, und Surbeks früheste Bilder sind von Hodler inspiriert. Als Surbek nach dem Gymnasium seinem Vater eröffnete, dass er Kunstmaler werden möchte, führte dieser ihn mit einigen seiner Zeichnungen zu Hodler nach Genf, um dessen Urteil einzuholen. «Dieser blickte sich die mitgebrachten Zeichnungen des Jünglings kurz an, drehte sich
96 Er bemalte auch öffentliche Gebäude dieser Stadt, z. B. die Westseite des ZytgloggeTurms mit dem Bild «Beginn der Zeit, Vertreibung aus dem Paradies»; mit vier Bildern mit dem Thema «Die Irrfahrten des Odysseus» die grosse Aula des damals einzigen Städtischen Gymnasiums in Bern (im Quartier Kirchenfeld), das er in seiner Jugendzeit besuchte und in dem er 1904 in der Literarabteilung Typus A (mit Altgriechisch) die Maturaprüfung (Abitur) bestand; mit dem Fresco «Knaben am Fluss» von 7 m Länge und 1,5 m Höhe den Singsaal des Oberstufenschulhauses Fischermätteli in Bern. 97 Eine Vedute (vom italienischen Wort veduta = Ansicht) ist ein kleines dekoratives Landschaftsbild mit der Ansicht einer Stadt oder einer berühmten Gegend. Es diente zur Erinnerung oder sonstigen Vergegenwärtigung von berühmten Orten wie heute Fotografien. 98 Siehe im Teil II im § 60: Biografie des Kunstmalers Cuno Amiet (28. März 1886 bis 6. Juli 1961). Cuno Amiet als der Maler der Erscheinungen aller Dinge oder der Phänomenologe der Malerei, den Abschnitt d), der auch Cuno Amiets Aufsatz «Ferdinand Hodler, wie ich ihn erlebte» enthält.
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zum Vater und meinte: ‹Doch, doch, den dürfen Sie ruhig malen lassen.›»99 Surbek ist vor allem als Landschaftsmaler bekannt, malte aber auch sehr gute Porträts und Selbstporträts. Ich schätze seine Bilder sehr. Das Ölgemälde «Paul Zehnder vor dem Spiegel mit Selbstporträt» ist im Jahre 1910 entstanden, als Surbek 25 Jahre alt war. Auf ihm ist Folgendes dargestellt: Im Bildvordergrund links erscheint der Kunstmaler Paul Zehnder (1884– 1973), der lebenslang von ihm Pablo genannte ein Jahr ältere Freund Surbeks, in Rückansicht von Kopf, Schulter und rechter Hand wahrscheinlich sitzend vor seiner zu seiner Rechten befindlichen, im Bild etwas weiter nach hinten gerückten Staffelei. Auf dieser Staffelei erscheinen das noch unfertige Selbstporträt mit Kopf, Gesicht und Brust von Pablo und im Hintergrund dieses Selbstporträts nur vage, weil auch unfertig der Kopf mit dem Gesicht und die Brust eines Mannes. In der oberen Mitte des Bildes hängt an der zum Teil sichtbaren Zimmerwand ein auch nur zum Teil sichtbarer Spiegel, in dem sich der Kopf, das Gesicht und die Brust von Pablo spiegeln. Dies macht das Mittelfeld des Bildes aus. Die Staffelei mit dem Selbstporträt Pablos im Vordergrund des Bildes verdeckt die rechte Schulter und die Hand mit Pinsel des im Vordergrund des Bildes malenden Pablo. Die Pointe dieses Ölbildes besteht nun darin, dass im Spiegel hinter Pablo ganz im Hintergrund sowie auch zuoberst im Ölbild das Spiegelbild des Kopfs und des Gesichts und des oberen Teils der Brust des vor seiner Staffelei stehenden, das ganze Ölgemälde malenden Victor Surbek erscheint. Dadurch wird deutlich, wer der in diesem Ölbild Surbeks gemalte, das noch unfertige Selbstporträt von Pablo, der hinter diesem rechts stehende, dem Betrachter des Bildes zugewandte Mann ist: Es ist der zuhinderst und zuoberst im Spiegel des Ölbildes deutlich erscheinende Maler des Bildes, Viktor Surbek. In dessen Ölbild «Paul Zehnder vor dem Spiegel» erscheint also Pablo dreimal: im Vordergrund als malend, in seinem werdenden Selbstporträt und im Spiegel; sein Freund Victor erscheint zweimal: im Selbstporträt von Pablo und im Spiegel als das ganze Ölbild malend. Indem man sich bewusst ist, dass dieses Bild von Victor Surbek gemalt wurde und er sich als Mensch und Künstler in ihm ausdrückte, kommt er in diesem Bild auch drei Mal zum Ausdruck, aber er erscheint in ihm nur zwei Mal. Ich erinnere mich nicht, ein anderes solches Selbstporträt gesehen zu haben. Surbek war sich wohl dessen Originalität bewusst und verkaufte es nie, sondern hat es bis zu seinem Tod selbst behalten, so dass es danach in ein öffentliches Museum gelangen konnte. Ich habe, soweit ich mich erinnere, noch nie ein solches Selbstporträt gesehen, weder bei Rembrandt, Goya, van Gogh, Ferdinand Hodler, Cuno Amiet oder Surbek selbst, die alle viele Selbstporträts malten oder zeichneten, auch nicht bei Künstlern, die Spiegel enthaltende Bilder malten, wie Jan Vermeer van Delft. Markus Schneider, Die Surbeks. Victor und Marguerite, ein Berner Künstlerpaar, Verlag Scheidegger und Spiess, Zürich 2014, S. 15. 99
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In meinem Versuch, das Verstehen dieses Ölbildes zu verstehen, sehe ich, um meine analytische Beschreibung nicht noch mehr zu komplizieren, davon ab, dass ich zwei in zwei verschiedenen Büchern gedruckte farbige Bilder von diesem Ölbild vor mir habe, sondern tue so, als ob ich vor mir das Original sehe, wohl wissend, dass zwischen Original und gedruckten Reproduktionen ein enormer Unterschied besteht. Aber es kommt mir hier ja nicht auf die malerischen und farblichen Qualitäten dieses Ölbildes an, sondern nur auf seinen ungewohnt verschachtelten Inhalt. Aus demselben Grund schaue ich jetzt nur auf die eine dieser zwei Kopien, nämlich diejenige im Buch von Markus Schneider. Sie ist 16,3 × 14,6 Zentimeter gross, steht also zum 59,7 × 54 Zentimeter grossen Original im Kunstmuseum von Bern im ungefähren, etwas aufgerundeten Massstab von 1: 4. Nun zur Analyse des sinnlich anschauenden Verstehens dieses Ölgemäldes: Ich beginne mit dem an einer nur teilweise sichtbaren Zimmerwand hängenden und nur in seiner Breite, nicht aber in seiner Höhe ganz sichtbaren Spiegel und dem, was in ihm zu sehen ist. In Bezug auf diesen gemalten Spiegel selbst, ohne das in ihm gespiegelte, ist das materielle Bild das Stück Leinwand und die verschiedenen Ölfarben (helleres und dunkleres Braun, leichtes Rot, Weiss, Schwarz), die auf ihr von Surbek aufgetragen wurden. Dieser Spiegel ohne seinen Rahmen ist auf dem Ölbild im Kunstmuseum Bern ungefähr 30 Zentimeter breit. Bildobjekt dieses Spiegels ist der ungefähr 30 Zentimeter breite und schätzungsweise 60 Zentimeter hohe Spiegel. Bildsujet dieses Spiegels ist das materielle Kulturwerk Spiegel, der ungefähr ein Meter breite und schätzungsweise ein Meter und 40 Zentimeter hohe Spiegel, der an einer Wand eines Zimmers hing, in dem sich Viktor Surbek und sein Freund Pablo 1910 zum Malen ihrer Ölgemälde aufhielten. Dabei setze ich voraus, dass dieses Treffen der beiden Künstlerfreunde zum gemeinsamen Malen wirklich 1910 stattfand und dass dieses Ölbild als geistiges Kulturwerk der Vernunft von Surbek nicht nur auf dessen vergegenwärtigendem blossen Phantasieren eines mit Pablo gemeinsamen Malens von Selbstporträts beruht. Surbek malte, soviel ich weiss, immer nach der Wirklichkeit. Er trug seine Staffelei mit in die Berge, und von vielen seiner Landschaften kann man sagen, von welchem Gesichtspunkt aus sie gemalt wurden. Was nun im gemalten Spiegel als gemalte Spiegelung zu sehen ist, wird in dessen linkem unteren Teil teilweise von dem im Vordergrund gemalten Hinterkopf des sein Porträt aufgrund seines Spiegelbildes malenden Paul Zehnder verdeckt, und im rechten unteren Teil des Spiegels von dem sich im Werden befindlichen Selbstporträt und von der rechten malenden Hand Pablos. Man sieht im Spiegel den grössten Teil von Pablos Gesicht und seiner Brust. Erhöht darüber rechts erscheinen im Spiegel das hohe Gesicht mit dunkelbraunen Haaren und die Brust von Victor Surbek. Alles gegen hinten in perspektivischer Verkleinerung: Am grössten sind der im Vordergrund vor dem Spiegel gemalte Hinterkopf, Rücken und die rechte malende Hand von Pablo, schon kleiner sein Ge-
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sicht im Spiegel, dem gemäss er sein Porträt auf die Bildleinwand malt, und relativ am kleinsten das Spiegelbild des Kopfes und der Brust des vor seiner Staffelei stehenden und das ganze Ölbild malenden Victor Surbek. Dieser ist auf diesem Ölbild im Gegensatz zu Pablo nur in diesem Spiegel gespiegelt und im Hintergrund des Selbstporträts von Pablos in groben Zügen gemalt, aber sonst nicht sinnlich sichtbar. Wie wird nun der soeben geschilderte Bildinhalt verstanden? Ich gehe vom ein Selbstporträt malenden Paul Zehnder aus, dessen Hinterkopf, Rücken, malende Hand, Staffelei mit dem darauf stehenden werdenden Selbstporträt auf dem Ölbild zu sehen ist, also ohne das, was sich im Spiegel spiegelt. Bildmaterie ist etwas mehr die Hälfte der Leinwand des Ölbildes und die sich darauf befindlichen verschiedenen Ölfarben. Sichtbarer Hinterkopf, Rücken, malende rechte Hand des vor seiner Staffelei sitzenden und sein Selbstporträt mit Ölfarbe malenden Paul Zehnder sowie ein kleiner Teil der Zimmerwand und vielleicht der beiden Rahmenseiten des Spiegels machen das Bildobjekt dieses Bildteiles aus. Hinterkopf und Rücken haben auf dem im Kunstmuseum von Bern befindlichen Ölbild Surbeks eine Höhe von 46 Zentimeter; malende Hand, Staffelei mit dem darauf stehenden werdenden Selbstporträt entsprechende Höhen. Stünde der von Surbek gemalte Paul Zehnder auf, was aber nicht zum Bildobjekt gehört, hätte er schätzungsweise eine Grösse von 110 Zentimeter. Bildsujet ist der 1884 geborene Paul Zehnder mit Fleisch und Blut und normaler menschlicher Grösse, wie er 1910 in Gegenwart seines das ganze Bild malenden Freundes Victor Surbek in einem Zimmer wohl in Bern vor seiner Staffelei und vor einem Spiegel sitzend sein Selbstporträt malte. Innerhalb des Spiegels sind, wie oben schon geschrieben, der Kopf mit Gesicht, die mit weissem Hemd und schwarzem Gilet bekleidete Brust und ein Teil der zum Malen des ganzen Ölbildes erhobene Hand von Victor Surbek zu sehen. Bildmaterie ist wieder ein Stück Leinwand und die darauf gemalten Ölfarben. Bildobjekt sind der dem Zuschauer des Bildes zugewandte Kopf und die obere gerade beschriebene bekleidete Körperhälfte des das ganze Bild malenden Victor Surbek. Ist das Bildsujet dasselbe wie dasjenige des ausserhalb des Spiegels sich befindlichen Bildinhalts? Dieses Bildsujet habe ich oben wie folgt beschrieben: «Paul Zehnder mit Fleisch und Blut und normaler menschlicher Grösse, wie er 1910 in Gegenwart seines das ganze Bild malenden, aber auf diesem Bildteil nicht sichtbaren Freundes Victor Surbek an einem der oben genannten Orte vor seiner Staffelei und vor einem Spiegel sitzend sein Selbstporträt malte.» Dem ist nicht so. Das Bildsujet des gemalten Spiegelinhalts ist vielmehr das folgende: Der damals 25-jährige Victor Surbek, wie er 1910 an einem der oben genannten Orte das ganze 59,7 × 54 Zentimeter grosse Ölbild «Paul Zehnder vor dem Spiegel mit Selbstporträt» malte. Diese Beschreibung kann auch als Beschreibung des Bildsujets des ganzen Bildes betrachtet werden.
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h) Gilt die Unterscheidung zwischen Bildobjekt und Bildsujet auch für die sog. Abstrakten Kunstwerke? Zwei Beispiele: das Gemälde von Wassily Kandinsky (1866–1944) «Rückblick» (1924) und das Gemälde von Paul Klee (1879–1940) «Musik unter Tag» (1940). Die Geburt der abstrakten Malerei aus dem Geiste der Musik Wie Victor Surbek besuchte Paul Klee die Literarabteilung (mit Altgriechisch) des Städtischen Gymnasiums im Kirchenfeldquartier in Bern und schloss es 1898 mit der Matura (Abitur) ab, sechs Jahre früher als Surbek (1885–1975), da er sechs Jahre älter als dieser war. Doch sie wurden zwei Maler ganz verschiedener Art. Eine Schülerin von Paul Klee in Bern war Marguerite Frey (1886–1981). Klee schickte sie zum Weiterstudium nach Paris, wo sie 1911 Victor Surbek kennen lernte, der dort auch Malerei studierte. Später heirateten sie. Marguerite Surbek-Frey malte verschieden von Victor Surbek, aber noch verschiedener als Klee. Ich vermute, dass Victor Surbek und Paul Klee sich kannten. Paul Klee war der Sohn des deutschen Staatsbürgers Hans Klee (1849– 1940), Musiklehrer am Bernischen Lehrerseminar in Hofwil bei Bern, und der Schweizer Sängerin Ida Marie Klee, geborene Frick (1855–1921). Der Vater stammte aus Tann (Rhön) im zu Bayern gehörenden Unterfranken. 1880, als ihr Sohn Paul einjährig war, zog die Familie von Hofwil Bern in die Stadt Bern und kaufte sich 1897 ein eigenes Haus im Kirchenfeldquartier, wo sich auch das Städtische Gymnasium Kirchenfeld befindet. Paul Klee war also wie Hodler und Surbek ein Berner, obschon er wie sein Vater Deutscher war. Nach Bern, in seine Vaterstadt, wo sein Vater immer noch lebte, kehrte er 1933 zurück, wohnte in einer Wohnung am Kistlerweg im Elfenauquartier, wurde Bürger der Stadtgemeinde Bern und damit auch Schweizer Bürger. Er sprach Berner Dialekt, aber natürlich auch Hochdeutsch mit fränkischem Akzent. Paul Klee spielte, in einem Haus von Musikern aufgewachsen, schon seit dem Alter von sieben Jahren Violine, wurde ein hervorragender Geiger und spielte sie bis zu seinem Lebensende. Seine Eltern wollten ihn zum Musiker ausbilden lassen. Doch schon vor der Matura (1898) begann Paul Klee zu zeichnen. Die Klee-Stiftung in Bern bewahrt eine Reihe kleiner, länglicher Hefte, in festes Leinen gebunden, die das Wesentlichste von Paul Klees Zeichnungen der Jahre 1896 bis 1998 enthalten. Es sind meist Zeichnungen aus Bern und Umgebung.100 Nach der Matura zog Paul Klee sofort nach München, um Malerei zu studieren. Seit dem 11. Oktober 1900 studierte er an der Kunstakademie von Franz von Stuck, an der gleichzeitig Wassily Kandinsky studierte. So lernten sich Kandinksy und Klee kennen, als jener 34 und dieser 21 Jahre alt waren. Seit 1921 wirkte Klee 100 Paul Klee, Bern und Umgebung. Aquarelle und Zeichnungen. Bern and Surroundings. Watercolors and Drawings. 1897–1915, Verlag Stämpfli & Cie, Bern 1962.
3. Kapitel. Die Gestaltung der Sinnlichkeit durch den Verstand
am Weimarer Bauhaus, seit 1922 wirkte dort Kandinsky. So wurden die beiden durch die Jahre Freunde. Kandinsky wurde 1866 in Moskau geboren. Seit 1886 studierte er zuerst dort Recht und Volkswirtschaft. 1896 sah er dort das Bild des französischen Impressionisten Claude Monet (1840–1926) «Heuhaufen» und zog darauf noch im selben Jahr mit dreissig Jahren nach München, um Malerei zu studieren. Dort lernte er 1900 Paul Klee kennen. 1906 stellt er mit der Malergesellschaft «Die Brücke» in Dresden aus. 1911 veröffentlichte er sein für die abstrakte Kunst grundlegendes, 1910 fertig geschriebenes Werk Über das Geistige in der Kunst, in dem er, wie ich es nennen möchte, «die Neugeburt der Malerei aus dem Geiste der Musik» forderte. Sein erstes abstraktes Bild malte Kandinsky 1910, wohl das erste abstrakte Bild überhaupt. 1911 lernte er auch den in Wien geborenen Komponisten Arnold Schönberg (1874–1951), der mit seiner auf die Zwölftontechnik gestützten Atonalität («Abstraktheit») eine neue expressive Musik begründete und der 1911 im Jahre der ersten Auflage von Kandinskys Über das Geistige in der Kunst seine Harmonielehre veröffentlichte.101 Im Vorwort der zweiten Auflage seines Werkes Über das Geistige in der Kunst aus dem Jahre 1912 bezeichnete Kandinsky dieses in Anspielung auf Schönbergs Harmonielehre «eine Art ‹Harmonielehre› in der Malerei».102 Zwischen 1906 und 1913 beschäftigte sich Schönberg intensiv mit Malerei und hinterliess ein Werk von 361 Bildern; am Schluss stiess er fast bis zur abstrakten Malerei vor. 1933 mussten Kandinsky, Klee und Schönberg aufgrund der Machtübernahme der Nationalsozialisten Deutschland verlassen. Ihre Kunst galt als entartet. Kandinsky wurde seine Stelle am Bauhaus gekündigt und er emigrierte nach Neuilly-sur-Seine bei Paris, wo er bis zu seinem Tod (1944) lebte. Klee wurde seine Professur an der Kunstakademie in Düsseldorf gekündigt und er kehrte nach Bern zurück, wo er 1940 starb. Schönberg wurde seine Stelle am Bauhaus in Weimar gekündigt; er zog darauf nach Paris und einen Monat später in die USA, wo er 1951 in Los Angeles verstarb. Deutschland war vor der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten das Zentrum der Erneuerung der europäischen Kunst in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Auch die kontinentaleuropäische Philosophie hatte sich damals in Deutschland radikal erneuert, vor allem durch den 1859 in Prossnitz/Prostejov (Mähren) geborenen und 1938 in Freiburg verstorbenen Edmund Husserl, der an den Universitäten Halle, Göttingen und Freiburg gelehrt hatte. Er durfte als deutscher Staatsbürger und lutherischer Christ jüdischer Herkunft seit 1933 in Deutschland nicht mehr publizieren, der Nationalsozialist Heidegger als damaliger Rektor der Universität Freiburg verbot ihm 1933 den Zugang zur Universität, und sein grosser Nachlass von philosophiArnold Schönberg, Harmonielehre, Universalverlag, Wien 1911. Wassily Kandinsky, Das Geistige in der Kunst. Vorwort zur zweiten Auflage, in: Das Geistige in der Kunst, 4. Auflage, Benteli-Verlag, Bern-Bümpliz 1952, S. 18. 101
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schen Manuskripten musste 1938 vor der Zerstörung nach Belgien gerettet werden. Ich kann das Buch Kandinskys Über das Geistige in der Kunst nicht zusammenfassen. Vorerst zitiere ich daraus einige, meine Aussage rechtfertigende Stellen, dass Kandinsky in diesem Werk «die Neugeburt der Malerei aus dem Geiste der Musik» forderte. Ich beginne mit einer Anmerkung Kandinskys in diesem Buch, die sich auf den Maler Ferdinand Hodler bezieht (über ihn siehe im voranstehenden Abschnitt g)): «Melodische Kompositionen mit symphonischen Anklängen sind viele Bilder Hodlers.»103 Dann möchte ich ein Zitat aus dem Werk des Dramatikers Shakespeare wiedergeben, das Kandinsky in diesem Buch anführt: Der Mann, der nicht Musik hat in ihm selbst, Den nicht die Eintracht süsser Töne rührt, Taugt zu Verrat, zu Räuberei, zu Tücken, Die Regung seines Sinns ist dumpf wie Nacht, Sein Trachten düster wie der Erebus: Trau keinem solchen! – Horch auf die Musik!104
Wie die Musik hat auch die Malerei die Aufgabe, tiefe, erhabene Gefühle zu erwecken: Der Künstler [Maler] wird suchen, feine Gefühle, die jetzt namenlos sind, zu erwecken. Er lebt selbst ein kompliziertes, verhältnismässig feines Leben, und das aus ihm entsprungene Werk wird unbedingt dem Zuschauer [Betrachter des Bildes], welcher dazu fähig ist, feinere Emotionen verursachen, die mit unseren Worten nicht zu fassen sind.105 Hier kommt die psychische Kraft der Farbe zutage, welche eine seelische Vibration hervorruft. Und die erste, elementare psychische Kraft wird nun zur Bahn, auf welcher die Farbe die Seele erreicht.106
Also so wie die verschiedenen Töne der Musik die Seele zum Vibrieren bringen, so lassen auch die verschiedenen Farben der Malerei die Seele mitschwingen. Die geistige Malerei bildet nicht äussere konkrete materielle Gegenstände wie Bäume oder Tiere ab, sondern abstrahiert von solchen und wirkt allein durch Farben und ihre Formen. Diesen Gedanken formuliert Kandinsky im längsten Kapitel seines Buches Über das Geistige in der Kunst aus, im sechsten Kapitel mit dem Titel «Formen und Farbensprache».107 Dieses beginnt mit den Sätzen:
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A.a.O., S. 141, Anm. 3. Zitiert a.a.O., S. 65. A.a.O., S. 23. A.a.O., S. 61. A.a.O., S. 66–112.
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«Der musikalische Ton hat einen direkten Zugang zur Seele. Er findet da sofort einen Widerklang, da der Mensch ‹die Musik in sich selbst hat›» und «Jedermann weiss, dass Gelb, Orange, Rot Ideen der Freude, des Reichtums einflössen und darstellen. ([Eugène] Delacroix [1798–1863]).»
Diese zwei Zitate zeigen die tiefe Verwandtschaft der Künste überhaupt und der Musik und der Malerei insbesondere. Auf dieser auffallenden Verwandtschaft hat sich sicher der Gedanke Goethes konstruiert, dass die Malerei ihren Generalbass erhalten muss. Diese prophetische Äusserung Goethes ist ein Vorgefühl der Lage, in der sich heute die Malerei befindet. Diese Lage ist der Ausgangspunkt des Weges, auf welchem die Malerei durch die Mittel ihrer Kunst im abstrakten Sinn heranwachsen wird und wo sie schliesslich die rein malerische Komposition erreichen wird. Zu dieser Komposition stehen ihr zwei Mittel zur Verfügung: Erstens Farbe, zweitens Form.108 Den Hinweis Kandinskys auf Goethe finde ich sehr glücklich. Kandinsky kannte damals noch nicht Goethes Wohnhaus in Weimar, in dem die Wände jedes Zimmers ihre eigene Farbe haben. Diese entsprechen der Stimmung, der Gemütslage, deren Goethe für seine in diesen Zimmern ausgeführten Tätigkeiten bedurfte. Z. B., im kleinen Esszimmer ist es gedämpftes Grün; im Wohnzimmer helles Blau; im Arbeitszimmer wieder gedämpftes Grün; in seinem Schlafzimmer Blau. Es sind alles ruhige, zur inneren Stille stimmende Farben, nicht «Gelb. Orange, Rot, welche Ideen der Freude, des Reichtums einflössen und darstellen» (Delacroix). Denn Goethe sagte: «Werde stille, dann kann Dir geholfen werden», und er wusste, dass alle schöpferische Tätigkeit aus der inneren Sammlung in der Stille und Ruhe erwächst. Und auch zum tieferen Betrachten eines guten Gemäldes und zum konzentrierten Hören von hochstehender Musik braucht es innere Stille. Was Kandinsky dann in seinem Buch Genaueres über die «Formen- und Farbensprache» der abstrakten Malerei sagt, kann ich hier nicht zusammenfassen. Ich möchte nun das Verstehen der folgenden zwei abstrakten Gemälde analysieren: Erstens, Wassily Kandinsky, «Rückblick», 1924, Ölgemälde, Hochformat, 98 × 94 cm, Kunstmuseum Bern, Schenkung von Frau Nina Kandinsky. Dieses Bild schenkte Wassily Kandinsky 1924 seiner Frau Nina. In seiner damaligen konstruktivistischen Bauhauszeit wollte Kandinsky seiner zweiten, jungen Frau Nina von dem ihm nicht verfügbaren Bild «Kleine Freuden» (1913) einen Eindruck geben, ebenso von seinen Bildern «Der blaue Bogen» (1917) und «Improvisation 21a» (1911). Obschon dieses Bild nach seinem Titel ein «Rückblick» ist, 108
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ist es keine Kopie. Dieses Gemälde aus dem Jahre 1924 war im März und April 1993 im Foyer des Kunstmuseums Bern ausgestellt, wo ich es gesehen habe. Bei meiner Beschreibung dieses 98 × 94 Zentimeter grossen Ölgemäldes stütze ich mich auf eine farbige fotografische Reproduktion in der Grösse von 18 × 15 Zentimeter, also grob berechnet im Massstab von 1 : 6 zum Original. Zweitens, Paul Klee, «Musik unter Tag», 1940. Pastose Kleisterfarben auf Karton, 35 × 52,5 cm, Grafische Sammlung Staatsgalerie Stuttgart (Katalog 227). Ausgestellt in der Ausstellung «Paul Klee. Das Schaffen im Todesjahr», Kunstmuseum Bern, 17. August–4. November 1990. Ich habe das Bild in dieser Ausstellung gesehen. Bei meiner Beschreibung stütze ich mich auf die 12 × 17,8 Zentimeter grosse fotografische farbige Abbildung dieses Bildes im Ausstellungskatalog, S. 214.109 Diese Abbildung steht zum Original im ungefähren Massstab 1 : 3. Das Ölgemälde «Rückblick» Kandinskys von 1924, das auf die Gemälde «Kleine Freuden» (1913), «Der blaue Bogen» (1917) und «Improvisation 21a» (1911) «zurückblickt», erweckt keine friedlichen, ruhigen oder glücklichen Gefühle. Dies ist nicht verwunderlich, da es auf Bilder zurückblickt, die 1911, 1913 und 1917, also in der unruhigen und angstvollen Zeit unmittelbar vor und während des Ersten Weltkrieges geschaffen wurden, und selbst knapp am Ende der grossen wirtschaftlichen Inflation Deutschlands von 1914 bis 1923 entstand. Man sagte während dieser Inflationszeit in Deutschland, dass die Geldscheine ihr Papier nicht wert wären, und meine Mutter sagte mir, dass man in jener Zeit mit einem Geldschein mit dem Wert von einer Million Mark Brot einkaufen ging. Da nach Kandinky der Künstler in seinen Werken die Gefühle der Zeit wiedergibt, in der er sie schafft, ist es nicht verwunderlich, dass sein Gemälde «Rückblick» keine Gefühle der Freude weckt. Im Ölgemälde «Rückblick» befindet sich in der Mitte ein mehr oder weniger runder Fleck mit einem Durchmesser von ungefähr sieben Zentimetern, der aussen blutrot und innen eiterweiss ist. Darum sind etwas ineinander verschwommene grüne, gelbe und rote Flecken, die von einer mehr oder weniger breiten schwarzen und in einem kleinen Teil blauen schwarzen Linie umrahmt sind. Das ist das Zentrum des Bildes und man kann es als das fühlende Ich interpretieren. Dieses Zentrum wird von einem schwarzen, an zwei Stellen gebrochenen Tor umgeben, dessen linke 72 Zentimeter lange Seite wie das gezackte Blatt einer Sense aussieht. Darunter befindet sich ein kleines sechs Zentimeter langes schwarzes Gebilde vor einer roten Fläche, bei dessen Betrachtung mir ein kleines gehörntes Teufelchen vor einer Blutlache einfällt. Diese Teilkomposition innerhalb der ganzen Bildkomposition bewirkt, dass dieses schwarze Torgebilde als die Sense des Todes gesehen werden kann, aber natürlich nicht gesehen werden 109 Ausstellungskatalog, herausgegeben von Josef Helfenstein und Stefan Frey, Verlag Gerd Hatje, Stuttgart 1990.
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muss. Auf dem Sensenblatt kriecht von links so etwas wie ein 30 Zentimeter langes rotes geschwänztes Tier mit schwarzer Schnauze empor. Vor ihm stehen viele kleinere Gegenstände, die wie Verkehrsverbotstafeln auf Stangen und ein menschenartiges Wesen aussehen. Über diesen kleineren Gegenständen hat Kandinsky wiederum ein sensenförmiges schwarzes Gebilde gemalt. Rundherum liegen wie Speere schwarze lange Striche, zwei schlangenartige Linien, grössere zackige Linien. Der Hintergrund des ganzen Gemäldes ist in Brauntönen gehalten, was an die kahle Erde denken lässt. Das ganze Bild ist ein Meisterwerk, aber ich würde es bei mir zu Hause nicht aufhängen, denn ich möchte mich den von ihm in mir geweckten Gefühlen nicht beständig aussetzen. Doch das Merkwürdige dieses Bildes besteht für mich darin, dass sein Gesamteindruck, ohne Betrachtung seiner Details, in seiner grossen Vielheit verschiedenster Formen und Farben mich eher fröhlich stimmt; ich darf es mir nur nicht im Einzelnen genau ansehen. Vielleicht ist dies von Kandinsky auch so gewollt. Denn im «Rückblick» sind schmerzvolle eigene vergangene Erlebnisse nicht mehr schmerzvoll, sondern man ist froh, dass sie vergangen sind und man sie überlebt hat. Auch bei diesem abstrakten Bild kann wieder die Dreiteilung in materielles Bild, Bildobjekt und Bildsujet vorgenommen werden, obschon sie bei diesem abstrakten Gemälde in besonderer Weise erfolgen muss. Das materielle Bild ist wie üblich bei Ölgemälden die Leinwand und die sich drauf befindlichen, aus Farbtuben stammenden verschiedenen Ölfarben. Das Bildobjekt ist die reichhaltige, von der Vernunft sehr durchdachte Komposition von Farben und Formen. Das Bildsujet sind die Gefühle, die beim Betrachter des Bildes geweckt werden. Doch ist es schwierig, hier von Ähnlichkeit zwischen Bildobjekt und Bildsujet zu sprechen. Denn das Bildobjekt ist dem geistigen Auge sichtbar, aber Gefühle werden nicht visuell gesehen, sie werden gefühlt. Gefühle sind nur in ihren leiblichen Ausdrücken, z. B. in den Ausdrücken der Angst, der Verzweiflung, der Freude sichtbar. Das sind sie aber nur, wenn wir sie bei anderen Menschen sehen. Die eigenen Gefühlsausdrücke kann man nicht sehen, sie werden nur gefühlt, z. B. wenn man vor Angst zittert. * Das 35 × 52,5 Zentimeter grosse abstrakte Bild Paul Klees, «Musik unter Tag», das dieser 1940 mit pastosen Kleisterfarben auf Karton malte und das heute zur Graphischen Sammlung der Staatsgalerie Stuttgart (Katalog 227) gehört und in der Ausstellung «Paul Klee. Das Schaffen im Todesjahr» im Kunstmuseum Bern vom 17. August bis 4. November 1990 ausgestellt war, lässt sich folgendermassen beschreiben: Auf den ersten Blick sieht es aus wie ein farbiges Glasfenster, dessen einzelne verschieden gefärbte und geformte Glasstücke von schwarzen «Bleiriemen» zusammengehalten werden. Doch bei genauerem Betrachten sieht man, dass einzelne Bleiriemen im Leeren enden oder vom Rand her ohne Fortsetzung
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ins Bild hineinstossen. Die vom Rahmen oder von den schwarzen Bleiriemen umschlossenen Farbflächen sind sehr gedämpft: helleres und dunkleres Weinrot, helleres und dunkleres Braun. Die Bleiriemen umgeben runde, halbrunde, dreieckige und sehr komplizierte Formen. Eine runde mit hellem Weinrot gefüllte Form mit einem Durchmesser von ungefähr 4,5 Zentimetern auf der linken oberen Seite des Bildes enthält im oberen Teil einen schwarzen Punkt. Zwei verschieden grosse schwarze Punkte sind auf dem Bild weiter auch noch in der Nähe des ersten Punktes in der oberen linken Ecke des Bildes zu sehen, aber ohne darum gezogenen Kreis. Rechts im Bilde gibt es eine Reihe von drei horizontal nebeneinander gemalten gleichgrossen Kreisen mit einem Durchmesser von drei Zentimetern, deren mittlerer mit einem dunkleren Weinrot, der rechte mit einer eher gelblichen, der linke mit einer gelblich-weinroten Farbe gefüllt ist. Unter diesen drei kleinen Kreisen befinden sich ein schwarzer Bleiriemen und darunter eine mit schwarzen Bleiriemen eingefasste augenförmige Form mit leicht gelblicher Bindehaut und roter Pupille. Dominierend in der Mitte des Bildes steht auf drei schwarzen Beinen eine menschliche Gestalt mit nach links oben gedrehtem Kopf, die ihre Arme aus Bleiriemen hoch erhoben hat. Sie scheint zu tanzen, nach einer Musik zu tanzen. Dadurch wird der Titel des Bildes «Musik unter Tag» verständlich. Das gleichmässige, gedämpfte Licht der Farben lässt nicht daran denken, dass dieser Mensch «unter Nacht» tanzt. Aber er tanzt alleine. Vielleicht stellte sich Paul Klee in diesem tanzenden Menschen in abstrakter Weise selbst dar, wie er ruhig Violine spielend tanzt. Denn die Musiker spielen ihre Instrumente mit ihrem ganzen, sich selbst bewegenden Körper und in diesem Sinne musizieren sie tanzend. Paul Klee spielt in diesem Bild ganz ruhig und leise, kein Allegro oder gar Presto, sondern ein Adagio. Und so weckt auch dieses Bild das Gefühl der Ruhe. Oder vielleicht ist die tanzende menschliche Form auch der Tod in Anspielung auf den in Bern berühmten Totentanz im ehemaligen Kreuzgang der Dominikanerkirche (heute Französische Kirche), gemalt zwischen 1516 und 1519 vom Berner Renaissancemaler Niklaus Manuel (geboren um 1484, gestorben 1530). Dieser Totentanz wurde zwar 1660 zerstört, aber davor (1649) wurden Kopien in kleinerem Format hergestellt.110 In diesen zahlreichen Totentanzbildern hat Niklaus Manuel den Tod tanzend mit verschiedenen Musikinstrumenten Menschen aller Stände zum Tanz aufspielend dargestellt, vom Papst und Kaiser bis zu den einfachsten Leuten. Am Ende hat er auch noch sich selbst als den Totentanz malend und vom sich auf den Knien leise hinter seinem Rücken heranpirschenden Tod bedroht gemalt. Ich zweifle nicht, dass Klee um diesen Totentanz wusste
Siehe Paul Zinsli, Der Berner Totentanz des Niklaus Manuel (etwa 1480–1530) in den Nachbildungen von Albrecht Kauw (1649), Berner Heimatbücher, Bd. 44/45, Hallwag, Bern 1979.
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und dessen Kopien in irgendeiner Weise gesehen hatte. Jeder an Kultur interessierte Berner weiss um sie. Paul Klee malte das beschriebene Bild in seinem Todesjahr, als er von einer schweren Hautkrankheit gezeichnet war; er wusste, dass er nicht mehr lange leben werde. Dieses Bild erinnert mich an Goethes, von Franz Schubert als Lied mit Klavierbegleitung vertontes (D 768) Gedicht: Über allen Gipfeln Ist Ruh. In allen Wipfeln Spürest du Kaum einen Hauch; Die Vöglein schweigen im Walde, warte nur, balde Ruhest du auch.
Das Bildobjekt dieses Bildwerkes ist seine ganze, sinnlich wahrnehmbare abstrakte Komposition, in die man durch vergegenwärtigende Phantasie Verschiedenes hineinsehen kann. Das Bildsujet sind die Gefühle der Ruhe und des Friedens, die auch durch ruhige, langsame, innige Musik, wie z. B. die erwähnte Vertonung Schuberts, hervorgerufen werden. Paul Klee hat viele abstrakte Bilder gemalt, denen er musikalische Titel gab und die daher musikalisch zu verstehen sind, zum Beispiel: «Fuge in Rot», 1921, Depositum im Zentrum Paul Klee, Bern111 ; «Polyphon gefasstes Weiss», 1930, Depositum im Zentrum Paul Klee, Bern112 ; «Exotischer Klang», 1930, in der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf113 ; «Die Zwitscher Maschine», 1922, im Museum of Modern Art New York114 ; «Konzert auf dem Zweig», 1921, im Zentrum Paul Klee, Bern115 ; «Apparat für maschinelle Musik», 1921 im Zentrum Paul Klee, Bern.116
Siehe eine Abbildung dieses Werkes in Von der «Fuge in Rot» bis zur «Zwitschermaschine». Paul Klee und die Musik, hrsg. von Thomas Gartmann, Schwabe Verlag, Basel 2020, Abbildung Nr. 9. 112 Siehe eine Abbildung dieses Werkes a.a.O., Abbildung Nr. 7. 113 Siehe eine Abbildung dieses Werkes a.a.O., Abbildung Nr. 9. 114 Siehe eine Abbildung dieses Werkes a.a.O., S. 125. 115 Siehe eine Abbilung dieses Werkes a.a.O., S. 126. 116 Siehe eine Abbilung dieses Werkes a.a.O., S. 129.
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i) Ein Musikwerk, das gemalte Bilder vergegenwärtigt: Modest Mussorgsky (1839–1881), «Bilder einer Ausstellung. Erinnerung an [Bilder von] Viktor Hartmann» (komponiert 1874) Das Musikwerk für Klavier «Bilder einer Ausstellung. Erinnerung an Viktor Hartmann» des russischen Komponisten und Pianisten Modest Mussorgsky (1839–1881) aus dem Jahre 1874 scheint mir das Gegenstück des abstrakten Bildes «Rückblick» aus dem Jahre 1924 des Russen Wassily Kandinsky zu sein. Wie Kandinsky Revolutionär in der Malerei war, so war Mussorgsky Revolutionär in der Musik. Im Gegensatz zu den akademisch eingestellten, zeitgenössischen Komponisten Anton Grigorjewitsch Rubinstein (1829–1894) und Pjotr Tschaikowsky (1840–1893) durchbrach er die damaligen Konventionen, um auf dem Wege der Musik die sozialen Zusammenhänge der Wirklichkeit zu deuten. Lange vor Claude Debussy und Maurice Ravel sprengte Mussorgsky die Harmonik des 19. Jahrhunderts und wurde zu einem der bedeutendsten Vorläufer der modernen Musik. Kandinsky wollte durch sein abstraktes Bild «Rückblick» von 1924 und andere abstrakte Bilder (seit 1911) durch die Malerei Gefühle wecken, die von der Musik geweckt werden; Mussorgsky wollte in seinem 1874 vollendeten Musikwerk «Bilder einer Ausstellung. Erinnerung an Viktor Hartmann» mit den durch diese Musik hervorgerufenen Gefühlen zehn Bilder erinnernd vergegenwärtigen, die sein 1873 verstorbener Freund, der 1834 in St. Petersburg geborene russische Maler deutscher Abstammung Viktor Alexandrowitsch Hartmann gemalt und die er 1873 in der Gedächtnisausstellung für diesen Maler gesehen hatte. Diese zehn Bilder tragen, in die deutsche Sprache übersetzt, die folgenden Titel: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10.
Der Gnom Das alte Schloss Die Tuillerien (Spielende Kinder im Streit) Der Ochsenkarren Ballett der unausgeschlüpften Küken «Samuel Goldberg» und «Schmuyle» [der reiche und der arme Jude] Limoges. Der Marktplatz (Die grosse Neuigkeit) Die Katakomben (Römische Gruft) Mit den Toten in toter Sprache (Baba-Jaga) Das Heldentor (in der alten Hauptstadt Kiew)
Vor dem ersten, dem zweiten, dem dritten, dem fünften und dem siebenten Bild, befinden sich Musikstücke, die alle Promenade, also Spaziergang heissen. Mussorgsky soll gesagt haben, dass diese fünf Spaziergänge ihn selbst darstellen, wie er zwischen den verschiedenen ausgestellten Bildern hin und her spaziert. Alle sind Variationen eines sehr eingängigen, sofort wiedererkennbaren Themas.
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Wenn man die Liste der zehn Bildertitel vor sich hat, ist jedes Bild beim Anhören der Musik sofort identifizierbar, denn sie drückt den Inhalt des jeweiligen Bildtitels sehr expressiv aus. Mussorgsky war Expressionist, bevor Maler es waren. Mussorgsky komponierte «Bilder einer Ausstellung. Erinnerung an Viktor Hartmann» für Klavier. Schon bald nach der Veröffentlichung wurde das Klavierwerk für Orchesteraufführungen transkribiert. Die bekannteste davon stammt von Maurice Ravel (1875–1937), der sie 1922 schrieb. Die einzige Aufführung dieses Werkes in einem Konzertsaal, die ich vor mindestens 65 Jahren vom Berner Symphonieorchester hörte, war diese Orchesterfassung. Kürzlich hörte und sah ich im Internet eine Orchestration dieses Werkes durch den Russen Sergei Petrovitch Gortchakov (1905–1976), aufgeführt vom Leizpiger Gewandhausorchester unter Leitung von Kurt Masur (1927–2015), die wahrscheinlich kurz nach dem Jahre 2000 gespielt wurde. Ich war von dieser Aufführung begeistert. Besonders vom zehnten Bild: Das Heldentor (in der alten Hauptstadt Kiew) schien mir die majestätische, grosse Orchestermusik bestens zu passen. Doch für das fünfte Bild: «Ballett der unausgeschlüpften Küken», war sie mir für ein solch kleines Ballett doch etwas gross, obschon das Orchester unter Leitung Masurs es sehr geistreich und mitreissend interpretierte. Doch halte ich es für authentischer, das Werk in der originalen Klavierfassung aufzuführen. Denn Mussorgsky war ja selbst ein hervorragender Pianist und er spielte es selbst und allein in «Erinnerung an Viktor Hartmann», seinen verstorbenen Freund. Wie soll ein ganzes Orchester so etwas tun? Ich sehe hier davon ab, dieses Klavierwerk in den einzelnen ausgestellten Bildern und den Spaziergängen zwischen ihnen zu beschreiben; ich höre es aufmerksam als ein einmaliges musikalisches Werk der vergegenwärtigenden Erinnerung an die Bilder eines verstorbenen Freundes. Ich höre es am liebsten in den Interpretationen des russischen Pianisten Vladimir Ashkenazy (geboren 1937), der die isländische Staatsbürgerschaft besitzt und jetzt in der Schweiz wohnt. k) Durch blosses phantasierendes Vergegenwärtigen geschaffene Bilder Wenn ich abends müde auf der Toilette sitze und manchmal in irgendwelche Gedanken versunken auf den Boden blicke, sehe ich dort ohne zu wollen die Karikatur eines menschlichen oder tierischen Gesichts, z. B. einer Kuh mit Hörnern, jeden Abend wieder eines anderen, sehr genau, sogar mit Zähnen, immer mit Augen Mund und Nase, das eine Gesicht lachend, das andere grinsend, das dritte eher böse blickend; beim Schauen können sie sich auch leicht verändern. Wenn ich aber aufmerksam auf den Linoleumboden schaue, sehe ich nichts dergleichen, sondern nur ein hell- und dunkelbraun gesprenkeltes Muster. Ähnliches geschieht, wenn man die Wolken oder «den Mann im Monde» betrachtet,
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auf Felswände oder zackige oder sonst wie bizarr geformte Felsspitzen schaut. Allerdings sieht man nicht immer Gesichter. Im Tessin (italienische Schweiz) heisst eine Reihe solcher Felsspitzen «Denti della Vecchia» (Zähne der alten Frau), und in den Gelben Bergen (Huangshan) Chinas heissen Felsformationen beim «Beihai» (Nordmeer), wobei das Nebelmeer gegen Norden gemeint ist, und an anderen Orten «der Affe betrachtet das Meer», «achtzehn Luohan [Archat]», «die [daoistischen acht] Weisen (賢人 xian ren) spielen Schach», «der Schwan brütet Eier aus», «die Pagode», «das Pinselgestell» usw. Auch mir sind im Mai 1981 diese Felsformationen so erschienen, nachdem mir dortige Chinesen ihre Namen genannt hatten. Hier schafft das Auge aufgrund sinnlich wahrnehmbarer Naturformen solche plastischen Kulturgebilde, und auch bei ihnen können Bildmaterie, Bildobjekt und Bildsujet unterschieden werden. l) Sind alle gemalten oder gezeichneten und plastischen Kunstwerke auch Bildwerke? Sind alle gemalten oder gezeichneten und plastischen Kunstwerke Bildwerke in dem oben in diesem § 39 besprochenen Sinn? Kommt in ihnen durch ein gegenwärtiges Bildobjekt ein abwesendes Bildsujet zur Erscheinung? Ein Bildwerk, das nichts Abwesendes zur Erscheinung bringt, hat keine Tiefe, es «sagt nichts aus», es «steckt nichts dahinter», es ist nur das, was man auf ihm als Gegenwärtiges sieht. Das scheint bei dekorativen und rein ornamentalen Bildwerken der Fall zu sein. Das schliesst nicht aus, dass auch sie echte Kunstwerke sind. Man denke an die rein ornamentale Kunst an den Innenwänden der Moscheen oder an andere Kunstwerke in einem Teil der islamischen Welt, in der Bilder von Gott und von ihm geschaffenen Kreaturen verboten sind, in der aber ungeheuer komplizierte sichtbare Gebilde von verschlungenen, z. T. zackigen ornamentalen Gebilden geschaffen wurden, die nichts vergegenwärtigen. Von den Kaligrafien mit Sprüchen aus dem Koran sehe ich hier ab, weil sie offensichtlich nicht bloss Bilder, sondern primär Schriftzeichen sind. Vor mir habe ich als Beispiel einen glasierten Keramikteller, der in einem Keramikatelier in der westtürkischen Stadt Kütahya geschaffen wurde, die etwa in der Mitte zwischen den Städten Ankara und Smyrna (Izmir) liegt. Seine Grundfarbe ist Smaragdblau. Ich habe ihn vor bald fünfzig Jahren erworben. Von seiner Mitte strahlen wie von einem Stern 24 türkisfarbige zickzackförmig gebrochene Bänder aus, die sich kreuzen und an 24 Kreuzpunkten insgesamt 24 kleine fünfzackige Sterne von einer gedämpften roten Farbe bilden. An sechs inneren und sechs äusseren, insgesamt zwölf Kreuzpunkten sind gelbe, an Blumen erinnernde Formen zu sehen. Der Rand des kreisrunden Tellers ist durch zwei Kreise mit geometrischen Mustern begrenzt, unter denen hindurch die 24 türkisfarbe-
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nen zickzackförmig gebrochenen Bänder und mit ihnen das ganze geometrische Muster in alle Richtungen ins Unendliche weiterzulaufen scheinen. Der Teller enthält also eine sehr raffinierte geometrisch mathematische Konstruktion, in der die Zahlenreihe sechs, zwölf, 24, die Sternform und die genannten beiden Blaufarben dominieren. Ich hatte diesen bemalten und lackierten Keramikteller während fast fünfzig Jahren in der Küche meiner steinernen Berghütte aufgehängt und sie dadurch verschönert. Er konnte dort durch die grossen Temperatur- und Feuchtigkeitsschwankungen keinen Schaden nehmen. Aber nun habe ich diesen Teller nach Hause genommen und in einem Schrank versorgt. Denn zu Hause habe ich Bilder, die mir mehr sagen. Dieser Teller hat ein Bildobjekt, nämlich die sternförmige mathematische Konstruktion. Hat er ein Bildsujet? Wegen der Dominanz der Sternformen könnte man dabei an den gestirnten Himmel über uns denken und an die Gefühle, die dieser in uns Menschen weckt. Aber wenn ich ihn anschaue, vergegenwärtige ich mir nicht spontan den gestirnten Himmel. Dadurch an diesen zu denken, schiene mir forciert; diese Vergegenwärtigung ist nicht auf dem sinnlich wahrnehmbaren Teller instituiert. Wenn ich überlege, dass die ganze Ornamentik unter den sie am Rand begrenzenden zwei runden geometrischen Kreisbändern ins Unendliche weiterläuft, denke ich dann an die Unendlichkeit? An die Unendlichkeit Gottes? Vergegenwärtige ich mir dann die Unendlichkeit, die Unendlichkeit Gottes? Von mir kann ich das nicht sagen. Aber vielleicht würde ein Muslim sagen, dass man den runden Teller so sehen muss. Er und nicht ich wäre dabei die Autorität, denn der Teller wurde in der muslimischen Welt geschaffen. Somit wäre das Bildsujet dieses Tellers die Unendlichkeit Gottes. Aber andere Menschen könnten dies nicht so sehen, sondern vielleicht auch anders. m) Gibt es Bilder auch in den nicht bildenden Künsten? Wenn ich hier die Frage stelle, ob es Bilder auch in den nicht bildenden Künsten gibt, denke ich vor allem an Musikwerke. In diesen widerspiegeln durch Wiederholungen, Variationen, Durchführung der gegensätzlichen Themen, thematische und motivische Verarbeitung verschiedener Art die verschiedenen Teile einander auf den verschiedenen Ebenen innerhalb der einzelnen Sätze und zwischen den verschiedenen Sätzen eines Musikwerkes. Es ist sinnvoll zu sagen, dass sie einander akustisch abbilden, und in diesem Sinn das Wort Bild von einem visuellen auf einen akustischen Bereich zu übertragen. Und dabei ist im Wesentlichen Analoges zu sagen, was ich oben in Abschnitt g) über die abstrakten Bildwerke schrieb: Die musikalische Komposition ist das Bildobjekt, und die durch die verschiedenen, gegensätzlichen Themen und ihre Variationen, Abwandlungen, Gegensätze geweckten Gefühle sind die musikalischen Bildsujets.
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§ 40 Die vergegenwärtigende Funktion der Architektur als Kunst (Architektur als Bild) a) Das Pantheon ( Pantheion ) in Rom als Vergegenwärtigung des Vollkommenen, des Göttlichen Der Name Pantheon (Πανθείον, Pantheion: «Alles Göttliche») ist griechisch, da in der Zeit, in der der Tempel gebaut wurde, im ersten/zweiten Jahrhundert n. Chr., in gebildeten Kreisen Roms, auch im Kaiserhaus, griechisch gesprochen und geschrieben wurde. Der Tempel besteht aus einer hohlen Steinkugel, die den Boden tangiert. Der innere Durchmesser beträgt 43,3 Meter, der äussere 46 (4 × 9). Die untere Kugelhälfte ist durch einen Zylinder desselben Durchmessers ersetzt. Die Innenwände sind durch Pilaster gegliedert. Die einzige Quelle des Lichtes, das vom Himmel in diesen vollkommenen Raum strömt, besteht aus einem kreisrunden Auge an seiner höchsten Stelle mit einem Durchmesser von neun Metern. Die Zahl Neun ist die Zahl der Vollkommenheit (erste Potenz der Zahl Drei); doch ist daran zu denken, dass die Römer oder Griechen nicht in Metern massen, was aber die Verhältnisse nicht verändert. Durch dieses kreisrunde Auge sieht man von unten im Tempel nichts anderes als den Himmel. Durch es kann sich vom Himmel auch der Regen in die Kugel ergiessen, der durch viele kleine Öffnungen im Marmorboden in die Erde versinkt. In kenne auf der ganzen Welt keinen zugleich so einfachen und vollkommenen Bau. Dieser sinnlich wahrnehmbare Bau scheint mir das ganze runde Universum, den runden Himmel, die Vollkommenheit «alles Göttlichen» zu vergegenwärtigen. Er verkörpert also «alles Göttliche». b) Die Kathedrale von Chartres als Vergegenwärtigung des Himmlischen Jerusalem In der «Offenbarung des Johannes», in der Apokalypse, steht im 21. Kapitel, Vers 10–11 über das in der Endzeit auf die Erde gekommene «himmlische Jerusalem»: «Ihr [der himmlischen Stadt Jerusalem] Glanz glich einem überaus herrlichen Stein, ‹kristallenem Jaspis›.» Der Jaspis ist ein undurchsichtiger oft rot, gelb, braun, dunkelgrün oder blau gefärbter Stein. Dass dieser vielfarbige Stein beim «himmlischen Jerusalem» als «kristallen» bezeichnet wird, bedeutet seine Durchsichtigkeit. Die Aussenwände der vom Ende des zwölften bis in die zweite Hälfte des 13. Jahrhunderts gebauten Kathedrale bestehen fast nur aus sehr gut erhaltenen leuchtenden Glasfenstern aus «kristallenem Jaspis», mit figürlichen Darstellungen in den verschiedensten Farben. Diese Glasfenster sind zwischen 1194 und 1260 entstanden. Durch die das Kirchendach tragende Pfeilerbündel und äussere
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schmale Strebestützen hatten in der Kathedralkunst Nordfrankreichs die Aussenmauern ihre tragende Funktion verloren, so dass sie fast ganz durch Fenster ersetzt werden konnten. So scheint mir, dass die Kathedrale von Chartres von innen in ihrer sinnlich wahrnehmbaren Gegenwart das in der Endzeit auf die Erde kommende himmlische Jerusalem vergegenwärtigt. Doch andere Menschen sehen dies anders. Es gibt hier keine eindeutige Interpretation. c) Die Basilika der Sagrada Familia (der Heiligen Familie) in Barcelona von Antoni Gaudí i Cornet (1852–1926) als Vergegenwärtigung eines hohen, von göttlichem Licht durchfluteten, heiligen Waldes Antoni Gaudí nahm sich für seine Kunst die lebendige Natur zur Lehrmeisterin. Nach dem Abschluss seines Studiums im Jahre 1878 an der Architekturschule von Barcelona sagte der Direktor der Schule, Elies Rogent: « Ich weiss nicht, ob wir ihm den Titel eines Verrückten oder eines Genies gegeben haben. Die Zeit wird es zeigen.» 1883, mit 31 Jahren wurde Antoni Gaudí offizieller Architekt der Basilika der Heiligen Familie. Sie sollte nach ihm eine Bibel in Stein werden. Am 8. Juni1926 wurde er auf seinem Weg zur Sagrada Familia von einer Strassenbahn der Linie 30 auf der Gran Via («Grossen Strasse»)117 auf der Höhe der Carrer Bailén angefahren. Heute ist dort die Metrostation Tetuan (genannt nach der dortigen Placa Tetuan). Diese Metrostation befindet sich ungefähr ein Kilometer südwestlich der Sagrada Familia. Niemand erkannte den bewusstlosen und vernachlässigt gekleideten Mann, der keine Papiere bei sich trug. Er wurde ins Armenspital des Heiligen Kreuzes gebracht. Dort kam er wieder zu Bewusstsein und verstarb zwei Tage später, am 10. Juni 1926. Seine letzten Worte waren: «Amen (so sei es!), mein Gott, mein Gott.» Die Bestattung fand zwei Tage später mit einem Trauergottesdienst in der Kirche der Heiligen Familie statt, wo er in ihrer Krypta begraben wurde (sein Grab befindet sich heute immer noch dort). Ein grosser Teil der Bevölkerung von Barcelona säumte die Strassen, als sein Sarg vom Spital des Heiligen Kreuzes zur Basilika der Sagrada Familia getragen wurde. Er war während 43 Jahren ihr Architekt gewesen. Sie ist das Werk eines Einzelgängers: Seine Kunst ist unverkennbar, unverwechselbar. 1930 wurden die vier Glockentürme der Fassade der Basilika vollendet. 1936, im spanischen Bürgerkrieg wurde die Basilika teilweise zerstört. Nach dem Bürgerkrieg plante die Regierung von Barcelona aus Kostengründen, auf den Bau zu verzichten und die Ruine abzubrechen. Doch die katalanische Bevölkerung von Barcelona widersetzte sich diesem Plan. Durch Spenden des Volkes wurde der Bau nach den Plänen von Gaudí wieder aufgenommen. Und es wurde so viel 117
Der offizielle Name der Gran Via lautet: Gran Via de les Corts Catalanes.
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gebaut, als jeweils Geld vorhanden war. Am 7. November 2010 wurde die Kirche durch den polnischen Papst Johannes Paul II. geweiht. Aber es wurde immer noch weitergebaut und verschönert, z. B. durch farbige Glasfenster. Gaudí hatte über seine Kirche gesagt: «Die göttliche Vorsehung wird wachen, weil bei der Sagrada Familia alles der Vorsehung anheim gestellt ist.» Er sagte auch: «Sie ist ein Werk, das in den Händen Gottes liegt und vom Willen des Volkes abhängt.» Der Grundriss der Kirche könnte fasst derjenige einer gotischen Kathedrale sein. Es ist eine fünfschiffige Kreuzbasilika mit umgehbarer Apsis mit einem Kranz von sieben Chorkapellen. Auch ihre aufstrebende Höhe hat etwas Gotisches. Das 15 Meter breite Mittelschiff erreicht eine Höhe von 45 Metern, hat also das Verhältnis von eins zu drei. Die Apsis, in welcher der Kirchenaltar, ihr Zentrum, steht, ist 75 Meter hoch, der darüber gebaute spitze Hauptturm misst, ohne das darauf stehende hohe Kreuz, 150 Meter, ist also doppelt so hoch wie der Chor (die Apsis). Zum Vergleich: Die Kuppel des Petersdomes in Rom erreicht mit seiner Laterne eine äussere Höhe von 133 Metern. Im Innern erreicht diese Kirche in die Kuppel und ihre Laterne hinein fast dieselbe Höhe, ist also wesentlich höher als der Chor der Sagrada Familia (75 m). Das Mittelschiff der Sankt Peterskirche und dasjenige der Sagrada Familia sind gleich hoch (45 m), aber das der Sankt Peterskirche ist fast zehn Mal breiter (138 m, das der Sagrada Familia 15 m). Sankt Peter hat keinen Hauch von Gotik, die den Italienern nie lag. Wenn man in der Sagrada Familia steht und in ihr vom Haupteingang, immer wieder stehenbleibend, langsam Richtung Chor geht, hat man doch nicht den Eindruck sich in einer gotischen Kathedrale zu befinden. Am Sonntag, 29. Dezember 2013 weilten meine Frau und ich den ganzen Vormittag in dieser Kirche, die damals immer noch nicht ganz fertig war. Man hatte uns gesagt, dass sich jeweils, und besonders noch in der Ferienzeit zwischen Weihnachten und Neujahr, lange Schlangen von Menschen um die Kirche herum bildeten und man Stunden warten müsste, um sie betreten zu können. Ein Taxichauffeur, mit dem ich über dieses Problem sprach, sagte mir, dass wir am besten an einem frühen Sonntagmorgen in die Krypta, wo Gaudí begraben ist, zur Messe gingen, da müsse man nicht warten, und dann nach der Messe von der Krypta direkt die Kirche aufsuchen; so könne man das Schlangestehen vermeiden. Wir folgten diesem guten Rat. Als wir in die Kirche kamen, hatte ich den Eindruck in einem heiligen, von göttlichem Licht durchfluteten Wald zu sein: Die Säulen erheben sich wie Baumstämme und verzweigen sich wie deren Äste zu den Gewölben als einem grossen Blätterdach. Und die Seele erhebt sich schauend mit ihnen. Gaudí hat auch bei diesem, seinem grössten Bau, die Natur zur Lehrmeisterin genommen. In ihm gibt es keine Mauern, wie auch die Natur keine trennenden Mauern kennt; die Wände sind alle durch Fenster durchbrochen. In ihm gibt es keine leeren Flächen, wie auch die Natur keine leeren Flächen kennt; die Gewölbe sind durch Augen geöffnet. Auch das Äussere der Basilika vergegenwärtigt die Schönheit und Üppigkeit der Vegetation. In Gaudís Architektur lebt noch der sog. Ju-
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gendstil. Während dieser aber vor allem Gebrauchsgegenstände wie Lampen, Schalen, Vasen, Möbel, aber auch einzelne Häuser in ganz Westeuropa prägte, hat er sich in der Sagrada Familia zum Sakralen in erhabenster Form erhoben. Für mich vergegenwärtigt die Sagrada Familia, wenn ich in ihr weile und sie in ihrer gegenwärtigen aufstrebenden lichtvollen Höhe bestaune, einen heiligen hohen Wald, ja überhaupt die grosse lebendige Natur, denn nirgends ist die Natur so reich wie im Wald. Doch andere können es anders sehen. Die Natur kann Ausdruck des Göttlichen sein, sie kann Göttliches fühlen lassen, wenn man sich in ihr still und achtsam auf ihren unerschöpflichen Reichtum und auf ihre vom Menschen unnachahmliche Schönheit bewegt. Vielleicht fühlte auch so Antoni Gaudí. d) Das Olympiastadion des Architekturbüros Jacques Herzog und Pierre de Meuron (Basel, Schweiz) in Beijing als Vergegenwärtigung eines Vogelnestes (Jahr 2000) Der Name Vogelnest (鳥巢niao chao) wurde dem Olympiastadion in Beijing nicht vom genannten Architekturbüro gegeben, sondern ist in China selbst aufgetaucht und hat sich dafür eingebürgert, aber alle seine Mitglieder freuten sich über diese Namensgebung und die entsprechende Vergegenwärtigung, besonders da in China ein solcher Name eine positive Konnotation enthält. Ein Mitarbeiter dieses Büros sagte mir, dass ihre architektonischen Bauten keine eindeutige Vergegenwärtigung von etwas, sondern offen für verschiedene diesbezügliche Interpretation sein sollten. In Beijing wollten sie also als Olympiastadion nicht einfach etwas bauen, was jedermann an ein Vogelnest erinnert (ein Vogelnest vergegenwärtigt), doch hätten sie selbst bei der Hülle des Stadiums von Zweigen gesprochen, was der Anlass zur Vergegenwärtigung eines Vogelnestes war. Für ein weiteres Beispiel der vergegenwärtigenden Funktion der Architektur siehe Anhang I: «Das Projekt des Architekturbüros Jacques Herzog und Pierre de Meuron für das Neue Nationale Kunstmuseum Chinas (中国国家美术 馆新 馆Zhongguo guojia mei shuguan xinguan, New National Art Museum of China: NAMOC) in Beijing als Vergegenwärtigung einer Brücke zwischen traditioneller und moderner Kunst (2011)»
§ 41 Spiele a) Vergegenwärtigendes Vernunftspiel (prätendierendes Kinderspiel) und sinnlich-leibliches Spiel (funktionales Spiel) In der englischsprachigen Psychologie wird zwischen functional play und pretend play («etwas vorgebendes Spiel») unterschieden. Diese Unterscheidung ent-
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spricht meiner Unterscheidung zwischen sinnlich-leiblichem Spiel und vergegenwärtigendem Vernunftspiel. Spiele zur Ausübung gewisser leiblicher Bewegungsimpulse oder Betätigung von artspezifischen leiblichen Verhaltensweisen finden bei Tieren und menschlichen Kindern statt: Z. B. raufen sich sowohl Hunde wie Knaben, aber ohne sich gegenseitig zu verletzen. Sie toben sich dabei aus, ertüchtigen dabei ihre Leibeskräfte und erlernen den gegenseitigen Kampf. Hunde wie Kinder rennen gerne Bällen nach und versuchen sie zu packen und ertüchtigen dabei ihre Fähigkeit des Rennens und etwas mit dem Maul bzw. mit den Händen zu erwischen. Dies sind Beispiele für funktionale Spiele, d. h. Beispiele für Spiele zur ertüchtigenden Ausübung der Leibesfunktionen. Die Spiele, um die es im jetzigen Zusammenhang der Vernunft geht, sind nicht diese Spiele, sondern z. B. das Puppenspiel der Mädchen, das Spielen mit der Eisenbahn oder mit Autos eher bei Knaben als bei Mädchen. Bei diesen Spielen «gibt» ein Mädchen «vor», es «prätendiert» Mutter zu sein und für ihre kleinen lebenden Kinder zu sorgen, zu denen die Puppen durch die vergegenwärtigende Phantasie geworden sind: Es gibt ihnen zu essen, wäscht sie, legt sie in ein kleines Bettchen zum Schlafen. Auch das Formen von Kuchen, von Bergen und Tälern und Herablassen von Wasser in diesen Tälern im Sandkasten sind solche Vernunftspiele. Solche Spiele spielen Kinder von einem gewissen Alter an spontan. Dafür wollen sie Spielsachen (wie kleine Autos) und, wenn sie keine erhalten, nehmen sie z. B. kleine Holzstücke und halten sie aufgrund ihrer vergegenwärtigenden Phantasie für Autos. Bei diesen Kinderspielen kann man in Analogie zum Bild zwischen Spielmaterial, Spielobjekt und Spielsujet unterscheiden. Z. B. beim Mädchen, das mit seiner Puppe Mutter spielt, sind das «Spielmaterial» das blosse lebendige psychophysische Mädchen, die leblosen Puppen aus irgendeinem Material (Plastik, Wolle), ein kleines Bett, eine kleine Trinkflasche, Kleidchen für die Puppe und anderes. Das Spielobjekt sind das Mädchen als Mutter, seine Puppe als deren lebendiges Kind, das Bettchen als Bettchen für dieses lebendige Kind usw. Das Spielsujet ist die wirkliche Mutter des Kindes und evtl. deren andere Kinder. Ich werde aber unten im Abschnitt k) zu zeigen versuchen, dass diese Analyse zwischen Spielmaterial, Spielobjekt und Spielsujet nicht für alle Spiele gilt. b) Zwei Eigentümlichkeiten des Spiels: Erstens, das Spiel ist ein inhaltlich gegliederter zeitlicher Vorgang; zweitens, das Spiel braucht keine Zuschauer bzw. keine Zuhörer Im Gegensatz zu den bildenden Künsten (Malerei und Plastik) und zur Architektur sind Spiele durch vergegenwärtigende Inhalte gegliederte zeitliche Vorgänge. Z. B. das Mutter spielende Mädchen, von dem oben im Abschnitt a) die Rede war, wäscht zuerst seine Puppe, die sein Kind vergegenwärtigt, gibt ihr dann zu
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trinken, zieht ihr danach ein Nachthemdchen an und legt sie schliesslich zum Schlafen in ihr Bettchen. Oder ein Musikspiel, z. B. ein Streichquartett, spielt einen nach dem anderen die vier im Tempo und im inhaltlichen Charakter verschiedenen Sätze eines klassischen Quartetts, zuerst das Allegro in Sonatenform (Exposition der zwei oder drei Themen – Wiederholung – Durchführung – Reprise – Coda), dann das dreiteilige Largo, dann das Scherzo in der Folge von Scherzo – Trio – Scherzo und schliesslich das fulminante Presto in der Rondofolge: Haupthema A – B – A – C – A – D – A. Ein Spiel braucht im Gegensatz zu den bildenden Künsten keine Anschauer oder Zuschauer oder Zuhörer. Darüber werde ich in diesem Paragrafen noch in mehreren Abschnitten schreiben. Das Mutter spielende Mädchen braucht sie nicht; wenn Familienmitglieder oder Freunde zusammen Musik spielen, brauchen sie sie nicht; wenn Knaben Fussball spielen, brauchen sie sie nicht. Zuschauer brauchen nur Musikspieler, Fussballspieler, Tennisspieler wenn sie von Beruf solche Spieler sind, wenn sie mit ihrem Spiel ihr Leben, d. h. Geld verdienen. Aber dann ist das Spiel eigentlich kein Spiel mehr, sondern es ist zum notwendigen, harten Brotberuf geworden und hat die Freiheit des Spiels verloren. c) Erwachsenenspiele: Gesellschaftsspiele Es gibt analoge Spiele auch bei Erwachsenen, z. B. Gesellschaftsspiele: Die eine Person spielt die gesellschaftliche Rolle einer anderen und umgekehrt. Solche Spiele werden auch gruppendynamisch zu Therapien eingesetzt und dienen dazu, sich vergegenwärtigend in die Rolle des anderen zu versetzen und zu lernen, wie eine Situation von der gesellschaftlichen (sozialen) Rolle eines anderen aus aussieht. Auch hier kann eine Analyse von Spielmaterial, Spielobjekt und Spielsujet durchgeführt werden. d) Christliche Kultspiele: Palmsonntagspiele, Passionsspiele, Spiele zum Gedächtnis von Heiligen Im Mittelalter und nach der Reformation spielte in katholisch gebliebenen Gebieten am Palmsonntag (Sonntag vor Ostern) ein Gemeindemitglied Jesus auf einem Esel oder es wurde ein hölzerner Jesus auf einem hölzernen Esel (von denen in Museen noch einige erhalten sind) durch die Gassen gezogen, und das Volk feierte dabei Jesu Einzug in Jerusalem, jubelte ihm mit Palmzweigen in den Händen zu, so wie es in den Evangelien geschildert ist. Oder am darauffolgenden Karfreitag wurde die Passion Jesu in Passionsspielen gespielt mit den 14 Stationen auf seinem Leidensweg in Jerusalem vom Palast des Pontius Pilatus bis zum Berge Golgatha, wo Jesus gekreuzigt wurde.
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Noch heute findet dieses Spiel in Jerusalem statt. In katholischen Kirchen sind plastische oder zweidimensionale Bilder dieser 14 Strationen an den Wänden von Kirchen aufgehängt, und am Karfreitag wurde oder wird immer noch vor diesen Stationen des dargestellten Ereigenisses durch Lesungen und Gebete vergegenwärtigend gedacht. In anderer Form aber werden z. B. die Passionsspiele in der Stadt Trapani, ganz im Westen Siziliens, aufgeführt. Sie haben mich sehr beeindruckt, als ich am Karfreitag des Jahres 1974 daran teilnahm. Grosse schwere holzgeschnitzte Szenen dieser Leidensstationen wurden von vielen Männern auf langen Stangen durch die Strassen in Trapani und dann aus der Stadt hinausgetragen, wie Jesus von Nazareth sein Kreuz durch Jerusalem und den damals ausserhalb von Jerusalem gelegenen Golgathahügel trug. Zwischen diesen von Männern getragenen Passionsszenen schritten im Takt ihrer überaus traurigen Musik mehrere Musikcorps von Männern und Frauen, Knaben und Mädchen langsam dahin. Aus solchen Passionsspielen haben sich die rein musikalischen Passionen entwickelt, z. B. die Matthäus-, Johannes- und Lukaspassion von Johann Sebastian Bach. Oder in der Stadt Fribourg/Freiburg wird jedes Jahr am 6. Dezember, am Fest des heiligen Bischofs Nikolaus von Myra (4. Jahrhundert), des gütigen und hilfsbereiten Stadtpatrons dieser Stadt, der heilige Nikolaus gespielt. Vom Collège Saint-Michel aus zieht ein Gymnasiast dieses Kollegiums als Sankt Nikolaus mit Bischofsmitra auf dem Kopf und als Bischof verkleidet auf einem prächtigen grossen Esel aus dem eidgenössischen Pferde- und Eselgestüt in Estavayer die Hauptgassen der Stadt hinunter bis zu der dem heiligen Nikolaus von Myra geweihten Kathedrale. Hinter ihm werfen zwei Gehilfen den die Gassen säumenden Kindern und Erwachsenen feine Lebkuchen zu. Auf dem grossen Platz vor der Kathedrale herrscht das grösste Gedränge. Denn Sankt Nikolaus steigt auf eine Empore an der Fassade der Kathedrale. Als ich und meine Frau am 6. Dezember 2013 an diesem Kultspiel teilnahmen, wurde er auf der Empore vom wirklichen Bischof von Freiburg begrüsst, indem sie sich als Amtsbrüder umarmten. Der Bischof von Freiburg spielte also das Spiel mit. Danach hielt Sankt Nikolaus von Myra der versammelten Stadtbevölkerung in französischer und deutscher Sprache eine zugleich belehrende, sie manchmal politisch und sozial kritisierende, aber gleichzeitig auch humoristische Rede, die niemand verpassen mochte. Dieses Kultpiel ist das grösste Fest der Fribourgeois/Freiburger, und es wird auch von vielen Freiburgern und Freiburgerinnen besucht, die in andere Wohnorte umgezogen sind. Als meine Frau und ich an jenem 6. Dezember von einem solchen Fest mit öffentlichen Verkehrsmitteln von Freiburg nach Bern zurückreisten, war der Zug von Freiburg nach Bern voller Freiburger, von denen die meisten zu ihrem jetzigen Wohnort, Zürich, zurückfuhren. Sie sagten mir, dass sie in keinem Jahr dieses Fest verpassen wollten. Für ein weiteres Kultspiel siehe Anhang II: «Die Verabschiedung und Zurückbegleitung des ehrwürdigen Götterkönigs» (西港刈香送王 Xigang yixiang
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songwang). Vier Tage eines alle drei Jahre einmal stattfindenden, fünf Tage dauernden Festes: ein daoistisches Kultspiel im Städtchen Xigang nördlich von Tainan, der alten Hauptstadt Taiwans, im südlichen Taiwan . e) Erwachsenenspiele: Kartenspiele, Monopoly, Mahjong, Geldspiel Aber Erwachsene spielen auch mit viel, die oft mühsame alltägliche Realität vergessen lassender Passion Schach, das eine Schlacht zwischen zwei Heeren, angeführt vom König und seiner Dame, geschützt von Verteidigungstürmen, vergegenwärtigt; sie spielen Kartenspiele, die auch vergegenwärtigende Funktionen haben; Monopoly, bei dem es um scheinbaren Geldgewinn mit Scheingeld geht; das chinesische Mahjong, bei dem auch Erwerb von vergegenwärtigten Scheingütern im Spiele ist. Hier ist alles blosses Spiel, und wenn man verliert, sollte man sich bewusst sein, dass es bloss imaginäres Spiel ist, das im wirklichen Leben keine Folgen hat. Wenn man im Spiel verliert, ist man in Wirklichkeit nicht ärmer geworden, und wenn man gewinnt, ist man in Wirklichkeit nicht reicher geworden. Dennoch ist es manchmal schwierig, in solchen Spielen, die Spielphantasie in ihrer Distanz zum ernsten Leben zu bewahren. Ernst kann es im Geldspiel der Casinos werden, z. B. in demjenigen von Macao. Insofern ist dieses Spiel gar kein Spiel mehr, die vergegenwärtigende blosse Phantasie ist nicht mehr da, sondern an ihre Stelle treten das Streben nach wirklichem Geldgewinn. Doch es kann auch wirklicher Geldverlust resultieren, der bis zum vollständigen Ruin führen kann. Doch man kann dort auch um Geld spielen, indem man nur mit sehr geringen Geldeinsätzen spielt, deren Verlust oder der dadurch bewirkte Gewinn das ernste alltägliche Leben nicht verändern. f) Vergleich zwischen Bildern und den oben in diesem § 40 Abschnitten a) bis e) erörterten Spielen: Bilder müssen angeschaut werden, Spiele müssen nicht angeschaut, sondern gespielt werden Diese Spiele haben wie die Bilder eine Abwesendes vergegenwärtigende Funktion, aber in anderer Weise als die Bilder. Der Spielende gehört mit ins Spiel, sein eigenes Tun von etwas, sein Handeln selbst übt vergegenwärtigend eine darstellende Funktion aus, während der Bildschöpfer oder der Bildbetrachter nicht ins Bild gehört. Dadurch aber ist das Spiel nicht wie das Bild – genauer, nicht wie das Bildobjekt – blosse Erscheinung, da das spielende Tun von etwas, das spielende Handeln für den Spielenden nicht eine äussere Erscheinung, obschon in ihm Abwesendes gegenwärtig wird, sondern von ihm selbst getan. Ein Mädchen
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spielt nicht einfach nur mit ihm erscheinenden leblosen Puppen, die lebenden Kindern ähnlich sind, sondern es spielt die Mutter, handelt als Mutter, und nur dadurch werden für es die Puppen zu seinen lebendigen Kindern, die Durst haben, im Bettchen schlafen müssen usw. Oder im Kultspiel wird nicht einfach mit Kultgegenständen hantiert, die etwas Religiöses vergegenwärtigen, sondern die das Kultspiel Mitspielenden selbst vergegenwärtigen in ihrem Tun von etwas, in ihren Handlungen den Kult. Für einen am Spiel unbeteiligten Zuschauer kann das Spiel bloss erscheinendes Bildobjekt eines ihm ähnlichen Bildsujets sein, aber das Spiel bedarf nicht des blossen Zuschauers. Dessen blosses Zuschauen stört vielmehr das Spiel, da es dieses zu einem blossen Bild macht. Bei Kultspielen werden manchmal Personen, die nicht mitspielen, nicht zugelassen. In der alten christlichen Kirche durften die noch Ungetauften, die für das Kultspiel unterwiesen wurden, die Katechumenen, nur der Vormesse, dem belehrenden Teil der Messe, beiwohnen, nicht aber dem Teil, in dem das letzte Abendmahl von Jesus mit seinen Jüngern gespielt wird; sie mussten zuvor den Kirchenraum verlassen. Auch das Anschauen eines Bildes, ohne das ein Bild kein Bild mit Bildobjekt und Bildsujet ist, ist ein Tun: ein es Sehen und Verstehen. Dies nimmt aber nicht die ganze Leiblichkeit, das ganze leibliche Tun von etwas in Anspruch wie das Spiel. Im Spiel wird das gegenwärtig Anwesende viel eindringlicher und umfassender vom vergegenwärtigten Abwesenden verdeckt als in der Bildanschauung, da der Spielende mit seinem ganzen leiblichen Tun etwas spielt. Dieses, das gegenwärtig Anwesende verdeckende, vergegenwärtigte Abwesende darf im Spiel nicht als gegenwärtig Anwesendes erlebt werden, sonst ist das Spiel nicht mehr Spiel, sondern Rausch, Ekstase, Entrückung. Zum Spielen gehört mein Bewusstsein, dass ich etwas vergegenwärtigtes Abwesendes spiele, das in meinem jetzigen Spielen als Schein zum Erscheinen gebracht wird. Zu diesem Bewusstsein gehört auch, dass z. B. im Theaterspielen, verdeckt hinter der «Maske» der gespielten (dargestellten) Person, z. B. der Griechin Iphigenie (das lateinische Wort persona bedeutet ursprünglich Maske, durch die hindurch die Stimme des Spielenden erklingt), Frau Anna-Maria Staudinger aus Bayern ertönt (personare: hindurch klingen). Zu diesem Bewusstsein gehört auch das Bewusstsein, dass ich mich z. B. jetzt zusammen mit anderen Zuschauern im Stadttheater von Bern auf dem Kornhausplatz befinde. Und dasselbe gilt analog für Maria Staudinger, die diese Rolle spielt. Doch die Zuschauer gehören nicht notwendig zum Spiel, auch nicht zum Theaterspiel, wie ich gleich noch zu zeigen versuchen werde. Auch ein mit seinen Puppen Mutter spielendes Mädchen ist sich bewusst, dass es ein Mädchen und nicht eine Mutter ist und dass seine Puppen nur Puppen und nicht lebendige Kinder sind. Und auch in Kultspielen, z. B. in Passionsspielen, wissen die Spielenden, dass sie nicht Pontius Pilatus, nicht Jesus von Nazareth, nicht die Kreuzigung von Jesus fordernden Juden sind etc. Das antike griechische Theater, seine Tragödien und Komödien, gehen auf die Dionysien zurück, und dieser Ursprung blieb in ihm lebendig. Die Dionysien
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waren im antiken Griechenland städtische Kultspiele zu Ehren des Gottes Dionysos, des Gottes der Ekstase, des Rausches, der Verwandlung, des Weines. Zuerst waren diese Kultspiele Umzüge mit Opferriten, Gesang, Musik und Tanz, Wein und Rausch. Daraus entwickelten sich die Tragödien und Komödien, zu denen notwendig auch Chöre gehörten, also auch Gesang. Die «Zuschauer» dieser Tragödien und Komödien waren in Wirklichkeit nicht Zuschauer, sondern Mitspieler: Sie waren Teilnehmer dieser fünf Tage dauernden Kultspiele zu Ehren des Gottes Dionysos, so wie die Teilnehmer der fünf Tage dauernden Kultspiele zur Verabschiedung des Götterkönigs in der Stadt Xigang im Süden Taiwans.118 g) Theaterspiele als mögliche Schauspiele Theaterspielen ist an sich nicht auf Zuschauer angewiesen, wie ich oben im Abschnitt f) zu zeigen versuchte. Auch Kinder können zusammen eine Geschichte, also Theater, spielen, ohne Zuschauer zu haben. Wenn aber die Theaterspieler von Beruf Theaterspieler, d. h. Schauspieler sind, sind sie auf Zuschauer angewiesen, die für das Zuschauen Geld bezahlen. Insofern scheint das Theaterspiel für die Spielenden seinen Spielcharakter zu verlieren, es scheint für sie einfach zum Gelderwerb, zum Brotberuf zu werden, zum Ernst des gewöhnlichen Lebens zu gehören und nicht mehr ein von diesem Ernst des Lebens abgehobenes, von ihm befreites Spiel zu sein. Doch gilt dies nur für das mühsame Auswendiglernen der Rollen, für das Einüben des Theaterstücks unter der Leitung des Regisseurs. Spielen die Berufschauspieler einmal wirklich auf der Bühne, dann spielen sie wirklich ihre Rollen und vergessen dabei alle ihre Mühseligkeiten der Einübung und spielen ein sie beglückendes Spiel, das sie über Mühseligkeiten ihres Alltags erhebt. Der Schauspieler muss nicht nur vergegenwärtigen, wen er in seiner Rolle darstellt und wen seine Mitspieler in ihren Rollen darstellen. Sondern er muss sich immer auch «mit den Augen» der Zuschauer sehen, sich vergegenwärtigend auf ihren Gesichtspunkt versetzen und sich fragen, wie sein Spiel für sie aussieht, ob sie ihn verstehen, wie er auf sie wirkt.
118 Dass beide Kultspiele fünf Tage dauern, kann kein Zufall sein, wenn «Zufall» bedeutet, dass etwas ohne Grund etwas anderem zufällt. Denn alles hat seinen ausreichenden Grund; «Zufall» nennt man nur das, wovon man den Grund nicht kennt. Die Gründe, dass beide Kultspiele fünf Tage dauerten bzw. dauern, können sein, dass der Mensch nach fünf Tagen solcher Spiele müde ist; oder/und dass die menschliche Hand fünf Finger hat; oder/und dass fünf Dinge irgendwelcher Art, also auch fünf Tage die höchste Zahl ist, die man sehen, überschauen kann, ohne sie zu zählen. Wenn jemand fünf Äpfel vor sich hat, sieht er das sofort, mit einem Blick (intuitiv); wenn er sechs oder mehr davon vor sich hat, muss er sie von einem zum anderen fortschreitend zählen (diskursiv). Wahrscheinlich gibt es noch andere Gründe, die ich nicht kenne.
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Theaterspiele sind immer etwas darstellende Spiele, d. h. etwas Abwesendes im gegenwärtigen sinnlich Wahrnehmbaren vergegenwärtigende Spiele. Jeder Spieler stellt in seiner dramatischen Rolle irgendeine historische oder fiktive Person in ihrem Handeln dar; und alle Spieler stellen zusammen in der Folge der verschiedenen Akte (Handlungsphasen), z. B. vom ersten bis zum fünften Akt, die Geschichte der gelebten und durch ihr Handeln bewirkten Beziehungen zwischen diesen Personen in einer Folge von Situationen dar. So kann bei diesen Spielen auch zwischen Spielobjekt und Spielsujet unterschieden werden. Die Schauspieler als reale Menschen, z. B. Will Quadflieg in der Rolle des Oidipous (Ödipus), König von Theben, und Elisabeth Flickenschildt in der Rolle seiner Mutter und Gattin Iokaste in einer Aufführung im Jahre 1960 auf der Bühne des Burgtheaters in Wien, waren für die dortigen Zuschauer und die Schauspieler als Gegenwärtige wahrnehmbar. Spiel«materie» waren Will Quadflieg und Elisabeth Flickenschildt; Spielobjekt waren die gespielten sinnlich wahrnehmbaren Oidipous und Iokaste auf der Bühne in Wien; und diese beziehen sich als ihr Spielsujet auf den vom Tragödiendichter Sophokles (497/6–406 v. Chr.) ausgedachten fiktiven oder auf einer alten Sage beruhenden (und somit wahrscheinlich mit einem Kern historischer Wahrheit versehenen) König Oidipous der Stadt Theben und auf seine Mutter und Gattin Iokaste, die einmal in einer unbestimmbaren sagenhaften alten Zeit gelebt haben.119 h) Musikspiele mit Worten Musikspiele mit Worten sind Opern als musikalische Schauspiele. Auch sie sind gegenwärtig sinnlich Wahrnehmbares darstellende, Abwesendes vergegenwärtigende Spiele, und für sie gilt, was für die musiklosen Schauspiele gilt. Doch es kommt der Gesang der Spielenden und, wenn es nicht reine Singspiele sind, die Musik des Orchesters dazu. Durch die Melodien und den Takt der Musik haben die musikalischen Schauspiele eine weitaus grössere emotionale Kraft als die bloss gesprochenen Schauspiele. Die Worte drücken sich emotional im Gesang und in der Orchestermusik aus. Obschon man es nicht tut, kann man Opern als Programmmusik bezeichnen, denn durch die vertonten Worte weiss man, um was es inhaltlich in ihnen geht, was in ihnen dargestellt wird. Die Welt der Gefühle gehört nicht zur Welt der Vernunft, sondern, wie man auch sagen kann, zur Welt des Herzens. Aber insofern die musikalischen Spiele etwas vergegen119 Soweit ich verstehe, stelle ich mich in dieser Analyse von Spielmaterie, Spielobjekt und Spielsujet in Gegensatz zu Edmund Husserl. Dieser negiert in einem Manuskript aus dem Jahre 1918 die Möglichkeit, bei Schauspielen von Bildobjekt und Bildsujet zu sprechen. Er schreibt zwar nicht von Spielobjekt und Spielsujet, aber implizit ist auch diese Unterscheidung durch diesen Text negiert. Siehe Husserl, Phantasie, Bildbewusstsein, Erinnerung, Text Nr. 18, S. 514– 524.
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wärtigend darstellen, sind sie doch Vernunft als Institution oder als Verkörperung des vergegenwärtigenden Verstandes im sinnlich Gegenwärtigen, also Vernunft in dem von mir definierten Sinne. Ebenso steht es mit den musikalischen katholischen Messen als Ritualspielen, in denen wichtige Teile meistens in lateinischer Sprache vertont sind, z. B. die H-moll Messe Johann Sebastian Bachs oder die Missa Solemnis (Feierliche Messe) Ludwig van Beethovens: das dreiteilige griechischsprachige Kyrie eleison (Herr erbarme dich) Christe eleison (Christus erbarme dich), das vielteilige Gloria in excelsis Deo (Ehre sei Gott in der Höhe), das vielteilige Credo (Glaubensbekenntnis), das Sanctus, Sanctus, Sanctus Dominus Deus Sabaoth (Heilig, heilig, heilig, Gott der Heerscharen) und das mit ihm verbundene Benedictus qui venit in Nomine Domini (Gesegnet sei, der kommt im Namen des Herrn) und schliesslich das dreiteilige Agnus Dei (Lamm Gottes [= Jesus Christus]). Auch hier ist der sprachliche Text, der etwas vergegenwärtigt, mit Gesang, Orchestermusik, Orgel ausgedrückt. Franz Schubert hat auch eine deutsche katholische Messe komponiert, die zum Teil aus anderen Textstücken besteht als die vertonten lateinischen Messen. Diese Stücke sind nicht einfach Übersetzungen des lateinischen Textes und können von dem an der Messe teilnehmenden Volk mitgesungen werden. Begleitet werden diese Gesänge von der Orgel und Blasinstrumenten. Auch vertonte Messen sind eine Art Programmmusik. Beethoven hat im Agnus Dei, d. h. im letzten Teil seiner Missa Solemnis, also in einer Art Programmmusik, diese noch potenziert, indem er im dritten Unterteil des Agnus Dei die Worte, mit denen die ganze vertonte Messe endet, Agnus Dei, dona nobis pacem (Lamm Gottes, gib uns den Frieden) die Militärmusik eines herannahenden Heeres ertönen lässt. Dadurch wird die Bitte um Frieden noch viel intensiver zu einem Flehen, und erst nachdem das Heer mit seiner Militärmusik sich langsam entfernt hat (leiser geworden ist), wird die Musik wieder ruhiger und drückt das innige Vertrauen aus, dass uns der Frieden gegeben wird. Musikspiele mit Worten sind auch die Lieder. Franz Schubert liebte Gedichte, und diejenigen, die er las und besonders liebte, z. B. solche seines älteren Zeitgenossen Johann Wolfgang Goethe, setzte er in Musik mit Klavierbegleitung um. Er las sie umhergehend, sagte plötzlich «ich hab’s» und schrieb sie als Lieder am Klavier sitzend in einem Zuge nieder. Seine Musik musste genau zum Text passen. Er schrieb sie mit Klavierbegleitung, weil er seine Lieder von befreundeten guten Sängern singen liess und sie selbst am Klavier begleitete. i) Musikspiele ohne Worte. Die Programmmusik im engen Sinne Ludwig van Beethoven liebte die Programmmusik. Seine dritte Symphonie, Eroica (Heroische, Heldenhafte) genannt, die am 7. April 1805 in Wien uraufgeführt wurde, bezieht sich in ihrem ersten Satz mit der Bezeichnung allegro con brio
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(froh mit Feuer) auf Napoleon Bonaparte (1769–1821), den Beethoven eine Zeitlang verehrte. In der Musik dieses Satzes ist die Tatkraft dieses Heroen (Helden) zum Sieg gelangt, sein rastloser Wille hat die Erfüllung seines Strebens gefunden. Der zweite Satz ist mit Marcia funebre (Trauermarsch) betitelt. Einige Interpreten schrieben, dass dieser Satz Beethovens Enttäuschung über Napoleon zum Ausdruck bringe. Doch in Beethovens Freundeskreis galt der Tod des englischen Generals Ralph Abercrombie (1734–1801) als Anlass zum Entwurf des Trauermarsches. Skizzen dieses zweiten Satzes aus dem Frühjahr 1801 bestätigen diese Auffassung. General Abercrombie siegte mit seinen Truppen am 21. März 1801 über die Franzosen unter General Jacques-François Menou (1750–1810), wurde aber tödlich verwundet und starb am 28. März dieses Jahres. Doch dieser Bezug des Trauermarsches zu General Ralph Abercrombie ist bei den Musikhistorikern umstritten. In diesem Trauermarsch drückt Beethoven die Empfindungen eines Zuschauenden aus, der den aus der Ferne kommenden Trauerzug vorbeiziehen lässt, bis er in der Ferne wieder entschwindet. Der dritte Satz, das Scherzo, hat viele thematische Anklänge an den ersten Satz und ist fast gleichzeitig mit diesem entstanden. Auch er bezieht sich auf die siegende Willenskraft Napoleons. Ebenso das Finale, der vierte Satz. Die Eroica hat auch einen autobiografischen Bezug. Im Jahre 1801 litt Beethoven immer mehr an seiner zunehmenden Taubheit. Er schrieb am 16. November 1801 seinem Freund und Arzt Gerhard Wegeler: «[…] ich will dem Schicksal in den Rachen greifen, ganz niederbeugen soll es mich gewiss nicht […].» Er will also in seiner Heldenmusik für Napoleon Bonaparte selbst Mut fassen «um dem Schicksal [der Taubheit] in den Rachen zu greifen», und zugleich ist der Trauermarsch wahrscheinlich für den im heldenhaften Kampf tödlich verwundeten Helden General Abercrombie auch Ausdruck seiner eigenen Trauer über sein Schicksal der zunehmenden Taubheit. Musik ist immer auch Ausdruck der eigenen Gefühle ihres Komponisten. Die fünf Sätze seiner sechsten Sinfonie, der sog. Pastorale (Hirtenmusik), betitelte er, in folgender Weise: 1. Erwachen heiterer Gefühle auf dem Land, 2. Szene am Bach, 3. Lustiges Zusammensein der Landleute, 4. Gewitter, Sturm, 5. Hirtengesang. Frohe dankbare Gefühle nach dem Sturm. Auch hier ist mit grösster Wahrscheinlichkeit Autobiografisches enthalten: Man kann sich die sechste Sinfonie hörend vorstellen, wie Beethoven aus der Stadt Wien aufs Land spaziert, sein Herz sich aus dunklen Gedanken erheitert, sich am hellen, klaren sprudelnden Bach erfreut, wie er sich über das lustige Zusammensein der Landleute amüsiert, wie er das herannahende Gewitter in Blitzen, Donnerschlägen und Sturm erlebt und wie in ihm dann nach diesem Furcht einflössenden Ereignis dankbare Gefühle erwachsen, denen der Hirtengesang Ausdruck gibt. Auch der letzte Satz seiner letzten Sinfonie, der neunten, der mit Schillers Gedicht Ode an die Freude endet, ist Programmmusik. Dieses Ende beginnt mit der Basstimme, die singt: «O Freunde, nicht diese Töne! Sondern lasst uns angenehmere anstimmen und freudenvollere!», worauf der Chor Schillers Ode an die
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Freude anstimmt. Dieses Ende der neunten Symphonie ist Programmmusik mit Worten. Davor aber erklingen erschreckende, Gefühle der Angst auslösende Töne, und diese Töne sind wortlose Programmmusik, die etwas vergegenwärtigt. Es gibt auch wortlose Programmmusik: wie wir oben im Abschnitt i) des § 39 sahen, komponierte 1874 Modest Mussorgsky (1839–1881) Bilder einer Ausstellung. Erinnerung an Viktor Hartmann. Wie steht es nun aber mit blossen Musikspielen ohne Sprache, z. B. mit einem Klavierstück oder einem Cellokonzert? Stellen sie nichts dar, vergegenwärtigen sie nichts, sind sie keine Verkörperungen des vergegenwärtigenden Verstandes im sinnlich Gegenwärtigen? Je mehr man sich in solche Musik hineinhört, umso mehr Anklänge an schon früher Gehörtes, also umso mehr vergegenwärtigende Erinnerungen findet man in ihr. Schon nur die klassische Sonatenform eines einzelnen Satzes drückt das aus: Die «Wiederholung» erinnert an den vorausgegangenen Anfang des Satzes mit der Exposition der Themen. Auf die «Wiederholung» folgt die Durchführung dieser Themen, in der diese variiert werden, wobei eine Variation an die andere und auch an die Exposition der Themen am Anfang des Satzes erinnert. Und in der Reprise, der das Finale folgt, wird die Wiederholung wieder aufgenommen und damit an sie erinnert. Die Anspielungen und Erinnerungen sind meistens auch satzübergreifend und geben damit dem ganzen Musikstück eine innere Einheit. Um nur ein Beispiel zu nennen: Ganz am Ende des letzten Satzes des Cellokonzertes von Antonin Dvorak (1841– 1904) erkling wieder das erste Thema des ersten Satzes dieses Konzertes, erinnert damit vergegenwärtigend an den Anfang und gibt so dem ganzen Konzert eine Einheit. k) Die Freiheit des Spiels von den Notwendigkeiten des täglichen Lebens In der Distanz zum im Spiel gespielten, vergegenwärtigend dargestellten Abwesenden besteht die Freiheit des Spiels, die dem gewöhnlichen täglichen ernsten Leben im Gegenwärtigen nicht zukommt. Die Leichtigkeit des Spiels kann daher zur zeitlich beschränkten Befreiung vom kleineren oder grösseren Leid einer aktuellen schweren Lebenssituation führen. Man kann auch zu dieser Situation ein freies Verhältnis gewinnen, indem man sie zusammen mit anderen daran Beteiligten spielt und dabei die «Rollen» auswechselt – eine Einsicht, die sich die moderne Psychotherapie aber auch die moderne Aktionskunst zu eigen gemacht haben.
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l) Fussballspiel, Tennisspiel und ähnliche Kampfspiele als mögliche Schauspiele, die aber nichts darstellen Mit diesen Spielen ist es dasselbe wie mit den Theaterspielen. Buben, die miteinander und gegeneinander Fussball spielen, brauchen keine Zuschauer. Nur professionelle Fussballspieler, die mit ihrem Spiel ihr Brot verdienen und heutzutage, wenn sie gut spielen, immer mehr Geld verdienen und für Millionen von einem Fussballclub an einen anderen «verkauft» werden, brauchen und haben bezahlende Zuschauer und Fans in den Stadien und am Fernsehen. Sie spielen unter normalen Umständen nicht vor leeren Stadien; und wenn sie es tun, wird ihr Spiel vom Fernsehen übertragen. Tennisspieler, die nicht professionelle Tennisspieler sind, sondern nur Tennis spielen, weil sie nicht immer arbeiten, sondern sich der Freiheit des Spiels ergeben wollen, brauchen keine Zuschauer; sie spielen dem Spiel und sich selbst zuliebe. Nur professionelle Tennisspieler haben und brauchen Zuschauer auf den Zuschauertribünen ihrer Tennisplätze und am Fernsehen, verdienen dabei ihr Brot und dabei, wenn sie Stars sind, auch Millionen. Diese professionellen Spieler spielen in Wirklichkeit nicht, sondern für sie ist das Spiel zum harten, täglichen Training und damit zur Arbeit geworden. Doch diese Spiele stellen nichts dar, in ihnen wird nichts Abwesendes vergegenwärtigt. Das heisst auch, bei ihnen kann nicht von Spielobjekt und Spielsujet gesprochen werden wie bei darstellenden Spielen. Analog ist es im Eishockey, Volleyball und anderen modernen Wettkampfspielen. Analog ist es auch bei den spanischen Stierkämpfen, in denen Menschen, der Torero und drei Matadoren (Stiertöter), mit dem kräftigsten Tier, das es in Europa gibt, kämpfen und es töten. Diese Stierkämpfe gehen auf mittelalterliche Ritterspiele zurück und erreichten ihre heutige Form im 18. Jahrhundert. Sie wurden in ihrer Geschichte bald durch kirchliche Kreise oder den spanischen König verboten, bald wieder gestattet. Sie waren also immer wieder umstritten, wie auch heute. Dieses streng geregelte Ritual endet meistens mit dem Tod des Stiers, der durch einen Stich in den Nacken so herbeigeführt werden soll, dass der Stier sofort tot zusammenbricht, also nicht leiden muss. Allerdings gelingt dies dem Matador nicht immer. Dann wird dieser ausgepfiffen. Die besten Matadores sind diejenigen, die lange mit dem Stier kämpfen, ihn dadurch ermüden und schliesslich mit leichter Hand dem fast von selbst zusammenbrechenden Stier den schmerzlosen Todesstich versetzen. Dieses Spiel kann sehr selten auch zum Tod des berittenen Torero oder eines schnellfüssigen Matador führen, was aber ein schwerer Unfall ist, und mit allen möglichen Mitteln vermieden wird, vor allem durch Ablenkung des Stieres durch die zwei anderen Matadoren, durch den Torero und manchmal sogar durch Zuschauer. Ich wüsste nicht, dass heute im Namen der Menschenrechte Einspruch gegen diese Spiele erhoben wird, wohl aber im Namen des Tierschutzes. Also auch heute sind sie umstritten. Ich habe vor mehr als vierzig Jahren gelegentlich einer Spanienreise in der Stierkampfare-
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na von Valencia einem solchen Stierkampf zugeschaut. Ich empfand ihn nicht als grausam. Der erste Stier, der aus den Ställen auf die Arena gelassen wurde, lief herum und, kümmerte sich nicht um den Torero und die Matadoren, die ihm zum Kampf erwarteten. Darauf wurden drei Kühe in die Arena gelassen und wieder zurück in die Ställe gelockt. Der kampfunlustige Stier folgte ihnen und verschwand. Er war also mehr an seinen Kühen interessiert als am Torero. Nach einiger Zeit wurde ein anderer Stier herausgelassen. Kaum hatte er den Torero und die anderen in der Arena erblickte, raste er wütend schnaubend auf sie los, und der Kampf konnte beginnen und er endete mit einem vollendeten Stich des Matadors, durch den der Stier sofort tot zusammenbrach. Ich weiss von Bauern, dass Stiere nicht immer angriffslustig, sondern unberechenbar sind. Sie haben schon unerwartet ihre eigenen Besitzer umgebracht. 2013 wurde ich selbst auf einem offiziellen Wanderweg von hinten von einem laut schnaubenden und brüllenden Stier, dem zuvor ich nie etwas getan hatte, angegriffen und entging dabei nur um Haaresbreite durch eine Kombination von Glück und geschicktem Verhalten dem Tod. m) Bei einigen Kampfspielen kann eventuell zwischen Spielmaterial, Spielobjekt und Spielsujet unterschieden werden Diese Unterscheidung ist, wie ich oben im Abschnitt l) bemerkte, nicht möglich bei Fussballspielen, Tennisspielen, Eishockeyspielen, in denen z. B. die Fussballspieler einfach dieses geregelte Kampfspiel vor ihren Zuschauern und Fans spielen und nichts Abwesendes vergegenwärtigend darstellen, d. h. kein Spielobjekt und kein Spielsubjekt haben. Doch bei Buben, die untereinander Fussball spielen, kann diese Unterscheidung eventuell getroffen werden. Denn sie spielen wahrscheinlich deshalb Fussball, weil sie als Zuschauer Jünglinge oder Erwachsene auf einem Fussballfeld mit Zuschauern Fussball spielen oder dasselbe im Fernseher gesehen haben. Und wenn sie nun mit ihren Kameraden Fussball spielen, scheint mir jeder so zu spielen, als ob er derjenige ältere Fussballspieler wäre, der nach seiner Meinung am besten gespielt hat. Sie spielen so Fussball, wie das kleine Mädchen Mutter spielt (siehe oben Abschnitt a). n) Sogenannte Spiele, die keine Spiele sind Keine Spiele sind die Schaukämpfe, die im antiken Römischen Reich durchgeführt wurden, z. B. im zwischen 72 und 80 n. Chr. erbauten Kolosseum mit seinen ungefähr 50’000 Sitzplätzen für Zuschauer in der Hauptstadt Rom: die
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Fechtkämpfe zwischen Gladiatoren, die mit dem Tod des einen oder beider endeten, bei den Kämpfen zwischen unbewaffneten Menschen und Raubkatzen, besonders Löwen, die meistens mit dem Tod der Menschen endeten, und andere Schaukämpfe. Sie wurden ludi circenses, also Circuspiele, genannt. Sie waren aber keine Spiele wie die Stierkämpfe in Spanien, denn sie unterstanden keinen Regeln, was in ihnen erlaubt und nicht erlaubt war, z. B. dass der menschliche Gegner nicht absichtlich verletzt oder gar getötet werden darf. Sie gehören nicht zur Vernunft als Institution des vergegenwärtigenden Verstandes in der Sinnlichkeit; denn was erlaubt (möglich) und was nicht nicht erlaubt (nicht möglich) ist, muss vergegenwärtigt und im sinnlich anschaulichen Gegenwärtigen instituiert werden. Es fehlt ihnen auch die Freiheit des Spieles vom Ernst des Lebens; denn bei ihnen geht es um Leben und Tod, um das Ernsteste im Leben. Kaiser Konstantin der Grosse, der erste christliche Kaiser des römischen Reiches, verbot diese ludi circenses.
§ 42 Zeichen Es geht mir hier nur um eigentliche, künstliche Zeichen, d. h. um Zeichen, die von Menschen als Zeichen geschaffen oder bestimmt wurden, um etwas anzuzeigen. Rauch kann aufgefasst werden als Zeichen für Feuer, schneller Pulsschlag als Zeichen (Symptom) für Fieber; aber der natürliche Rauch als solcher bezeichnet nicht das Feuer, er ist nicht dazu geschaffen, Feuer anzuzeigen, der Zweck des schnellen Pulsschlages besteht nicht darin, Fieber anzuzeigen. Hier kann man von natürlichen im Gegensatz zu künstlichen Zeichen sprechen. Doch Rauch kann auch ein eigentliches, künstliches Zeichen sein: Wenn bei einem Konklave der Kardinäle in der Sixtinischen Kapelle im Vatikan weisser Rauch aus dem Schornstein aufsteigt, erkennen diejenigen, die auf dem Petersplatz stehen und auf die Wahl des Papstes warten, dass die Wahl zustande gekommen ist. Wenn zuvor schwarzer Rauch aufgestiegen war, wussten sie, dass die notwendige Mehrheit (Zweidrittelmehrheit) für diese Wahl noch nicht erreicht wurde. Rauch ist hier nur Zeichen für etwas, weil dies so von Menschen festgelegt wurde, weil er von Menschen hergestellt wird, um etwas anzuzeigen. Auch Feuer kann ein Zeichen sein. Vor der Erfindung der Elektrizität waren in hügeligen oder gebirgigen Gebieten Höhenfeuer von einem Hügel zum anderen oder einer Bergspitze zur anderen in einer bestimmten Richtung die schnellste Art der Überbringung von Mitteilungen, viel schneller als diejenige durch Läufer. Aber auch da musste zuerst von den dieses Nachrichtensystem organisierenden Menschen festgelegt (abgesprochen) worden sein, was diese von einem Punkt zum anderen übernommenen Feuer anzeigen, z. B. das Anrücken der feindlichen Truppen. Und die Feuer mussten dann, wenn die Situation eintraf, in
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der die Nachricht zu übermitteln war, z. B. wenn der Feind sich näherte, künstlich, d. h. von Menschen angezündet werden. Es gibt eigentliche, künstliche oder Kulturzeichen verschiedenster Art: Kultzeichen, wie das sich Segnen mit Weihwasser durch ein Kreuzzeichen; Kennzeichen, wie Wegmarkierungen, Eigentümerzeichen; Anweisungszeichen, wie Verkehrssignale; Wahrzeichen, wie die Flaggen einer Nation, das Siegel einer Universität; Erinnerungszeichen wie Grabsteine; Merkzeichen, wie der Knopf im Taschentuch; Wertzeichen (Geld), Warnungszeichen, Schriftzeichen usw., und schliesslich auch die Sprache. Es ist zu unterscheiden zwischen Bildzeichen und blossen (bildlosen) Zeichen, wobei Bildzeichen in ihrer historischen Entwicklung in blosse Zeichen übergehen können. Die chinesische Schrift bestand ursprünglich aus schematischen Bildzeichen, die mit dem, was sie bezeichneten, eine gewisse Ähnlichkeit aufwiesen, analog wie das Bild mit dem, was es abbildet, eine Ähnlichkeit hat. Doch der allergrössten Zahl der heutigen chinesischen Schriftzeichen kann man nicht ansehen, was sie bezeichnen, denn sie sind nicht einfache Zeichen, sondern aus mehreren einfachen Zeichen zusammengesetzte Zeichen und drücken und bezeichnen auch in ihrer Zusammensetzung Sachverhalte, die man nicht visuell anschauen kann, wie Bilder und das von ihnen Abgebildete angeschaut werden können. Doch einfachen Schriftzeichen, die sichtbare Dinge bezeichnen, wie z. B. den Schriftzeichen für Berg: 山 oder für Pferd: 馬, kann man noch ansehen, was sie bezeichnen, aber auch nur, wenn man vom jemandem gesagt bekommt, was sie bezeichnen. Auch die altägyptische Schrift, die sog. Hieroglyphen, haben sich aus Bildern entwickelt. Aber es brauchte den berühmten Stein von Rosette mit demselben Text in Hieroglyphen und in den lesbaren altgriechischen und demotischen Schriftzeichen, bis man beginnen konnte, die Hieroglyphen zu entziffern. Oder das sich Segnen mit Weihwasser durch ein Kreuzzeichen kann zu einer blossen, von Mensch zu Mensch übertragenen Gewohnheit werden, und dabei das, was diese zeichenhafte kultische Handlung vergegenwärtigt, nämlich die Reinigung von den Sünden durch den Tod Christi am Kreuz, vergessen werden. In der modernen, internationalen Welt wurden wieder viele Bildzeichen geschaffen, denen man leicht ansehen kann, was sie bezeichnen: z. B. ein sehr schematisches Menschlein mit Hosen bedeutet eine Toilette für männliche Menschen; ein solches mit einem Rock eine Toilette für weibliche. Oder auf den Flugplätzen bezeichnet das Bildzeichen eines nach oben gerichteten Flugzeuges den Weg zu den mit ihren Passagieren abfliegenden Flugzeugen; ein solches eines nach unten gerichteten Flugzeuges den Weg zu den mit ihren Passagieren landenden Flugzeugen. Das schematische Bild eines Pfeils, das eine einzuschlagende Richtung bezeichnet, ist wohl eines der am meisten verbreiteten Bildzeichen. Doch kann selbstverständlich mit solchen einfachen, sofort verständlichen Bildzeichen keine internationale Bilderschrift geschaffen werden, mit deren Hilfe man alles schreiben (zeichnen oder malen) könnte, was man schreiben oder le-
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sen will. Denn diese Bildzeichen sind an ganz bestimmte örtliche und Bedürfnissituationen gebunden, in denen man sich gerade befindet, z. B. in einem Flughafen. Ein blosses Zeichen ist ein gegenwärtig sinnlich Wahrnehmbares, das dazu geschaffen wurde, etwas zu vergegenwärtigen, ohne es im Schein (Bild) erscheinen zu lassen. Was es vergegenwärtigend bezeichnet oder bedeutet, muss man vielmehr wissen. Die positive Kehrseite jener Negation besteht darin, dass das Zeichen nur aufgrund einer Festsetzung, was es bedeuten soll, eine vergegenwärtigende Funktion ausübt. Ich spreche hier von Festsetzung und nicht von Konvention. Denn obschon die Zeichen konstituierende Festsetzung im Allgemeinen den intersubjektiven Charakter einer Konvention (Vereinbarung) oder sozialen Tradition besitzt, braucht sie nicht notwendigerweise Konvention zu sein. Man kann für seinen privaten Gebrauch Zeichen festlegen, die kein anderer Mensch zu verstehen braucht. Ich weiss um ein Kind, das eine Sprache erfand, die nur es selbst verstand. Im Gymnasium sass ich neben einem Klassenkameraden, der Schriftzeichen hatte, die nur er lesen konnte. Ich sah sie, aber verstand sie nicht. Festgesetzte Zeichen sind sie dennoch; der sie Gebrauchende muss nur «ein für alle Mal» für sich festsetzen, was sie bedeuten, damit er sie, solange er sie gebrauchen will, immer wieder verstehen kann. Die Absicht andauernder Verständlichkeit ist der Zeichenbildung wesentlich. Wenn vergessen wird, wofür ein Zeichen festgesetzt wurde, ist diese Festsetzung misslungen oder aufgehoben und die Zeichen sind keine Zeichen mehr. Die Festsetzung des durch ein Zeichen Bezeichneten hat den Charakter der Errichtung der praktischen Regel, dass ich das Zeichen zur Vergegenwärtigung einer bestimmten Sache gebrauchen soll und in diesem Sinn verstehen soll. Das allgemeine Wesen des Zeichens bzw. der Zeichenbedeutung lässt sich aber nicht bloss im Sinne Ludwig Wittgensteins durch den Begriff «Regel des Gebrauchs» fassen, denn es gibt manche Regeln des Gebrauchs, die keinerlei Zeichenbedeutung konstituieren. Jeder Bestimmung, was Zeichen bzw. Zeichenbedeutung ist, muss der nur in Bewusstseinsreflexion erfassbare Begriff der Vergegenwärtigung zugrunde gelegt werden. Die Gebrauchsregel spezifiziert die Bedeutung eines Zeichens, sie bestimmt seine besondere Bedeutung. Doch dass Zeichen überhaupt bedeuten können, d. h., dass sie überhaupt Zeichen sind, liegt in der Fähigkeit des Verstandes zu vergegenwärtigen und in der Fähigkeit der Vernunft, das Vergegenwärtigte in einem sinnlich wahrnehmbaren Gebilde zu instituieren (verkörpern) und dadurch zum Kulturobjekt, geistig zu einem Zeichen für etwas zu bilden. Das Zeichen ist nicht zu verwechseln mit dem Gerät oder Mittel, das als Zeichen für etwas dienen kann. Nicht die Verkehrsampel als solche ist das Zeichen, sondern die mit ihr erzeugten wechselnden Form- und Farbzeichen (grün – orange – rot – orange – grün usw.); nicht die Blinkanlage am Fahrwagen ist
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das Zeichen für das künftige Abbiegen nach links oder nach rechts, sondern das Blinken; nicht die Arme des Polizisten, sondern sein verschiedenes Gestikulieren. Das Zeichen für etwas kann also nicht in der Linie des Werkzeuges als «Zeigzeug» interpretiert werden (Heidegger120 ). Der Stock, mit dem ich zeige, ist kein Zeichen für etwas. Das Zeichen, das etwas vergegenwärtigt, ist auch kein Zeigen oder standardisierter Typus des Zeigens. Denn zeigen kann man nur etwas Gegenwärtiges, während das Zeichen etwas Abwesendes anzeigt. Darum ist Kamlahs und Lorenzens Wort «Zeigehandlungsschema» für Zeichen sehr unglücklich.121 Die Vergegenwärtigungsfunktion ist dem Zeichen wesentlich. Doch was als Zeichen geschaffen wurde, kann diese Funktion einbüssen; z. B. das Wertzeichen kann selbst zum Wert werden. In dieser Art von magischem Fetischismus geht der Zeichencharakter des Wertzeichens verloren. Analoges geschieht, wenn ein Zeichen, das ein künftiges Verhalten anweist, nicht mehr durch Vergegenwärtigen verstanden, sondern in blosser Gewohnheit als etwas bloss sinnlich Wahrnehmbares erfahren wird: Das rote Licht einer Verkehrsampel kann ganz unmittelbar als sinnlich Wahrgenommenes wirken, es stoppt selbst den Autofahrer und ist kein Zeichen für das künftige Stoppen mehr, ähnlich wie ein bestimmter Pfiff des Meisters durch Dressur (Gewöhnung) unmittelbar auf das Verhalten seines Hund wirkt. Im bloss sinnlich erfahrenen Umfeld gibt es keine Zeichen, es gibt nichts, was etwas Abwesendes bezeichnet, wohl aber gibt es Sinneseinheiten, die durch Gewohnheit etwas erwarten oder erstreben lassen und so das Verhalten unmittelbar lenken.
§ 43 Die Sprache Auch bei der Sprache haben wir es mit Zeichen zu tun; sie entspricht der oben gegebenen allgemeinen Bestimmung des Zeichens als etwas sinnlich wahrnehmbares Gegenwärtiges, das vergegenwärtigt, und zwar nicht dadurch, dass es wie das Bild etwas Abwesendes als blossen Schein im Gegenwärtigen erscheinen lässt. Die Sprache besteht aber aus ganz besonderen Zeichen, d. h. ihre Zeichen üben eine ganz besondere Vergegenwärtigungsfunktion aus, die sie vor allen anderen, nicht sprachlichen Zeichen auszeichnet. Was kann nur durch sie im Gegenwärtigen vergegenwärtigt werden?
Martin Heidegger, Sein und Zeit, Max Niemeyer Verlag, Tübingen 1927, § 17. Wilhelm Kamlah und Paul Lorenzen, Logische Propädeutik. Vorschule des vernünftigen Redens, Bibliographisches Institut Mannheim, 1967, S. 57, 98, 17; Neuausgabe im Verlag Springer, Heidelberg. 120
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a) Der Satz als das ursprünglichste sprachliche Zeichen als Einheit von Bestimmungsinhalt und Bestimmungshandlung Vorerst einmal kann gesagt werden, dass es in der Sprache um Bestimmungen von etwas geht. Dabei soll das Wort «bestimmen» eine weite Bedeutung haben, nach der sowohl Behauptungen (assertorische Aussagen) als auch Befehle, Versprechen usw. Bestimmungen sind. Zur Bestimmung gehört ein Bestimmungszeichen, mit dem etwas hinsichtlich seines «Inhalts» bestimmt wird, z. B. mit dem in assertorischen Aussagen (Behauptungen) bestimmt wird, was etwas ist, wo etwas ist, wann (zu welcher Zeit) etwas ist usw.122 Dieses Bestimmungszeichen muss allgemein sein, d. h., in mehreren «Fällen» angewendet werden können: z. B. «Pferd», muss auf viele «etwas» anwendbar sein. Zugleich muss das Bestimmungszeichen unterscheiden, also in seinem Gebrauch auf Fälle besonderen «Inhalts» beschränkt sein, im obigen Beispiel auf die «etwas», auf die «Pferd» anwendbar ist, und nicht auf diejenigen «etwas», auf die «Kuh» oder «Apfelbaum» oder «Granitstein» angewendet werden kann. Solche sprachlichen Bestimmungszeichen sind die Prädikattermini (die Prädikatoren). Aber damit ist das Eigentümliche der sprachlichen Vernunftinstitution im Sinnlichen noch nicht gefasst. Denn es können auch andere Zeichen diese Funktion als allgemeine Bestimmungsmittel ausüben, ohne dass sie dadurch sprachliche Zeichen im eigentlichen Sinn wären. Verschiedene Verkaufswaren werden z. B. mit unterschiedlichen Qualitätszeichen, mit verschiedenen Labels bestimmt, z. B. mit einer Bioknospe, mit einem Label für nachhaltigen Fischfang usw. In der Zoologie gibt es die international gebräuchlichen Zeichen zur Angabe des männIn seiner Kategorienschrift analysiert Aristoteles nur die Behauptungen (assertorischen Aussagen), dies aber in vorzüglicher und geschichtlich sehr wirksamer Weise. Er schreibt in dieser Schrift, dass «etwas über etwas» (τί κατà τινός, ti kata tinos) ausgesagt wird, und zwar in zehn verschiedenen Hinsichten, nämlich: 1. In Hinsicht darauf, «was etwas ist (τί εστι, ti esti; lateinisch: quid est) oder was sein Wesen (ουσία, ousia, lateinisch: essentia oder substantia) ist». Das ist die wesenhafte, essenzielle Aussage über etwas, die Aussage über das Wesen von etwas. Die folgenden neun Hinsichten, unter denen etwas über etwas ausgesagt werden kann, nennt Aristoteles Aussagen, die etwas über etwas aussagen, «was ihm zukommt» (κατα συμβεβηκός, kata symbebekos), also akzidentelle Aussagen über etwas. 2. In Hinsicht darauf «wie viel etwas ist» (πόσον εστι, poson esti; lat.: quantum est), also eine Aussage über etwas in quantitativer Hinsicht. 3. In Hinsicht darauf, «wie etwas ist» (ποίον εστι, poion esti; (lat.: quale est), also eine Aussage über etwas in qualitativer Hinsicht. 4. In Hinsicht darauf,«„was [oder wie etc.] etwas [in irgendeiner akzidentellen Beziehung] auf etwas ist» (πρός τι εστι, pros ti esti; lat.: in relatione est), also relativ zu etwas ist. 5. In Hinsicht darauf «wo etwas ist» (πού εστι, pu esti; lat.: ubi est). 6. In Hinsicht darauf «wann etwas ist» (πότε εστι, pote esti; lat.: quocumque tempore est). 7. In Hinsicht darauf, «in welcher Situation (in welcher Lage) etwas ist» (κείσθαι, keisthai; lat.: in quo situ est). 8. In Hinsicht darauf, «in welchem Zustand etwas ist» (έχει (échei); lat.: in quo statu est). 9. In Hinsicht darauf, «was etwas tut» (ποιεί, poiei; lat.: facit). 10.»In Hinsicht darauf, «was etwas erleidet» (πάσχει, paschei; lat.: patet). 122
3. Kapitel. Die Gestaltung der Sinnlichkeit durch den Verstand
lichen und weiblichen Geschlechts, für das männliche einen Kreis mit oben rechts einem Pfeil, für das weibliche einen Kreis mit unten einem Kreuz. Dennoch bezeichnen wir solche Bestimmungszeichen nicht als sprachliche Schriftzeichen im eigentlichen Sinn. Der Unterschied solcher Systeme von Bestimmungszeichen zur Sprache könnte darin gesehen werden, dass sie zu beschränkt sind. Die Sprache wäre ein universales Bestimmungssystem für alle Dinge und Ereignisse, für alles in der Welt und jenseits der Welt (wie für die Seelen der Verstorbenen), während jene beschränkten Bestimmungszeichen ihre Anwendung nur in sehr beschränkten Interessenbereichen finden. Aber gibt es nicht z. B. wissenschaftliche Fachsprachen, die ein ihnen eigenes terminologisches System besitzen (ihr «Jägerlatein»), das nur in ihrem beschränkten Forschungsgebiet bzw. von ihrem beschränkten Gesichtspunkt aus, innerhalb ihrer besonderen, auf ihre Forschung beschränkten wissenschaftlichen Methode gebraucht werden kann? Und doch werden diese Fachsprachen, mit Recht, als Sprachen betrachtet. Den Unterschied der menschlichen Sprache zu unseren anderen vernünftigen Bestimmungszeichen möchte ich vorläufig so formulieren: Im Unterschied zur Bestimmung mit anderen, nicht sprachlichen Bestimmungszeichen, ist in der sprachlichen Bestimmung nicht nur der Bestimmungsinhalt, sondern auch die Bestimmungshandlung in den sinnlich wahrnehmbaren Zeichen instituiert (verkörpert). Dass auch die Bestimmungshandlung in den sprachlichen Zeichen zum Ausdruck gebracht wird, hat für diese ein Doppeltes zur Folge: Erstens: In ihren Zeichen kann die Bestimmung, die immer eine Bestätigung oder Bewahrheitung beansprucht, modalisiert, d. h. negiert, infrage gestellt, mit den Adverbien wie «vielleicht», «wahrscheinlich», «möglicherweise» abgeschwächt werden. Nur innnerhalb sprachlicher Zeichen und mit sprachlichen Zeichen kann die Bestimmung modalisiert werden. Bei Bestimmungen mit nichtsprachlichen Zeichen wird die Bestimmung dadurch aufgehoben, indem das Bestimmungszeichen entfernt oder zerstört (ausradiert, weggekratzt, durchstrichen) wird. Die Negation der Bestimmung kann nicht in diesen Zeichen verkörpert werden; ein durchstrichenes Zeichen ist keine Negation der Bestimmung, sondern etwas Ungültiges, also kein Zeichen mehr. Ebenso wenig kann in den nicht-sprachlichen Zeichen eine Bestimmung modalisiert, z. B. infage gestellt, nur als möglich hingestellt werden. Zweitens: Mit den Sprachzeichen kann nach dem Bestimmungsinhalt gefragt werden: z. B. «was ist das?», «wo ist das?», «was soll ich tun?», «wann wirst du kommen?» etc., während mit nicht-sprachlichen Mitteln keine Fragen gestellt werden können. Fragen Stellen ist eine der wichtigsten Tätigkeiten der Vernunft, und gute Fragen Stellen ist eine der besten Tätigkeiten der Vernunft. Die Sprache zeichnet sich also vor anderen Bestimmungszeichen dadurch aus, dass mit ihr nicht nur bestimmt wird, sondern dass mit ihr eine Bestimmung auch gefragt, hinterfragt, erwogen, negiert werden kann, und dies deshalb, weil
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sprachliche Zeichen nicht bloss den Bestimmungsinhalt, sondern auch den Akt des Bestimmens selbst zum Ausdruck bringen. Darauf beruht es, dass ein selbstständig funktionierendes Zeichengebilde, nicht ein blosser Name, ein Terminus, sondern ein Satz ist. Was einen Satz zum Satz macht, besteht darin, dass in ihm als in sinnlich wahrnehmbaren Zeichen nicht nur Bestimmungsinhalt, sondern auch der Akt des Bestimmens instituiert ist. Zum Satz gehört also notwendig ein Doppeltes: einerseits ein Ausdruck für den Bestimmungsinhalt (Inhaltszeichen) und andererseits ein Ausdruck für den Akt des Bestimmens (Aktzeichen). Das Inhaltszeichen ist ein Prädikat, während das Aktzeichen im verbalen Modus des Satzes («würde», «könnte», «muss», «ist» etc.), aber auch in seiner syntaktischen Struktur («er ist», «ist er …?» etc.), in seinem Adverb oder in seinem Betonen liegen kann. Diese notwendige Doppelheit von Inhalt und Akt des Bestimmens, die in jedem vollständigen sprachlichen Zeichen vergegenwärtigt wird, bedingt zwei verschiedene Gesichtspunkte, unter denen die Sprache betrachtet werden kann: Einerseits ist sie ein Dispositiv von festgesetzten einzelnen Sprachzeichen, in dem jene zwei verschiedenen Sprachmomente zwar als kombinierbare vorliegen, aber nicht als Momente einer aktuellen ursprünglichen Satzeinheit auftreten. In diesem Sinne spricht man von den deutschen, französischen, italienischen, chinesischen Wörtern und geschriebenen Wortzeichen. Die Sprache in diesem Sinn sagt aber nichts. Sie findet ihre Funktion erst in den gesprochenen, geschriebenen, gedachten Sätzen. Nur in Sätzen kann man denken, reden und schreiben. Die primären Einheiten der verschiedenen Sprachen im ersten Sinn sind die Wörter, während die primären Einheiten der Sprache in ihrer Funktion des Redens, Denkens und Schreibens die Sätze sind. Für die Frage «was ist Vernunft?» ist der Gesichtspunkt des Redens, Denkens und evtl. auch des Schreibens der entscheidende. b) Die Subjektausdrücke In meinem Versuch, den grundlegenden Unterschied der sprachlichen Zeichen gegenüber den nicht-sprachlichen Zeichen zu erfassen, bin ich, grammatikalisch gesprochen, von der Einheit von Prädikat und Modalität des Prädikats ausgegangen, die ich als Einheit von Inhalts- und Aktausdruck betrachtete. Wie steht es nun aber mit dem Satzsubjekt? Man sagt oder denkt ja immer etwas über etwas. Und das, worüber man spricht oder denkt, wird durch das Subjekt des Satzes ausgedrückt. Muss daher nicht die Charakterisierung der einfachsten sprachlichen Einheit, nämlich des Satzes, das Satzsubjekt mit einbeziehen? Obschon jede Rede über etwas spricht, braucht sie dieses nicht notwendig auszudrücken. Alle elementaren Sätze haben ein Subjekt, aber nicht in allen Sätzen kommt ein Subjekt vor, während sowohl verbales oder adjektivisches bzw.
3. Kapitel. Die Gestaltung der Sinnlichkeit durch den Verstand
substantivisches Prädikat als auch die Modalität des verbalen Prädikats oder die Modalität der Kopula des adjektivischen oder substantivischen Prädikats darin immer auftreten müssen. In diesem Sinn ist also die primitivste Rede subjektlos, obschon sie eine vollständige Rede sein kann. Beispiele für solche Sätze sind: «Es ist ein Löwe», «nein, es ist kein Löwe, sondern ein Tiger», «es brennt lichterloh», «es schneit», «ist es kalt?», «mehr Licht!», «vorwärts marschieren!» Es sind dies Sätze, in denen das Subjekt schon vor dem Sprechen vorgegeben ist und nicht erst durch ein sprachliches Zeichen festgestellt werden muss. Vor allem sind es Sätze, die sich auf die jeweilige wahrgenommene Situation beziehen und das darin Dominierende betreffen. Doch könnte man solche subjektlosen Sätze nicht einfach als Grenzfälle der Subjekt-Prädikat-Sätze betrachten, als elliptische oder «degenerierte» Sätze, in denen der Subjektausdruck ausgefallen ist? Für einzelne solcher Sätze mag dies zutreffen, aber nicht, wenn die Satzstruktur nach ihrem Aufbau nach Bedingtem und Bedingendem, nach Voraussetzendem und Vorausgesetztem betrachtet wird. Denn ein blosser Prädikatsatz (als Einheit von Inhalts- und Handlungszeichen) setzt nicht notwendig einen Subjektausdruck voraus, während ein sprachlicher Subjektausdruck bereits einen einfachen Prädikatsatz voraussetzt. Subjektlose Prädikatsätze sind also nicht das Degenerierte, sondern das generativ Primäre. Sie sind die Protosätze. Z. B. der Subjektausdruck «dieser Hut …» setzt die Prädikation voraus «es ist ein Hut» oder «Hut». Sollte also allgemein gelten, dass eine sprachliche Subjektbezeichnung bereits auf eine Prädikation zurückweist, tun wir gut daran, das die sprachlichen Zeichen von allen anderen eigentlichen Zeichen primär Unterscheidende im Prädikat (verstanden als Satz) zu suchen. Eine weitere Aufgabe bestünde dann darin zu überlegen, ob die sprachlichen Subjektausdrücke über den in ihnen abgelagerten (sedimentierten) Sinn hinaus eine Zeichenfunktion ausüben, die ihnen genuin eigen ist, so dass an ihnen ein weiteres Charakteristikum der sprachlichen Zeichen fassbar werden könnte. Es geht aber aus dem oben Geschriebenen noch nicht hervor, dass alle Subjektausdrücke prädikative Ablagerungen enthalten müssen, so dass einige von ihnen eine ebenso ursprüngliche Leistung sprachlicher Zeichen ausmachen könnten, wie dies bei den Prädikatausdrücken der Fall ist. Bei gewissen singulären Termini, nämlich bei Eigennamen und gewissen Pronomen, scheint es so zu sein. In «dieser» steckt zwar «dieser Mann», «dieser Gegenstand» etc.; in «jenes» kann «jenes Mädchen» oder «jenes Ding» stecken, wobei «Mann» und «Gegenstand», «Mädchen» und «Ding» auf eine Prädikation zurückweisen. Aber in diesen Demonstrativpronomen liegt auch ein deiktisches, zeigendes Moment, das nicht aus einer Prädikation stammt und das für sich selbst als Subjektausdruck aufkommen kann, etwa in den Sätzen «dies ist Silber, jenes ist Gold», in denen «dies» und «jenes» rein deiktisch, also als das sichtbare Zeigen auf etwas stimmlich hörbar begleitend oder betonend, gebraucht und verstanden werden kann. Doch in diesem Gebrauch und Verständnis sind diese Demonstrativa nichts an-
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deres als Zeigegesten mit vokalen Unterstreichungen. Ein Zeigen ist aber kein sprachliches Zeichen, da das Zeigen und die in ihm liegende Objektivierung und Identifikation von sinnlich abgehobenen Einheiten an einer gewissen Raumstelle auch unabhängig vom Sprechen vollzogen werden kann. Man kann durch Zeigen jemandes Aufmerksamkeit auf etwas lenken, ohne über dieses etwas auszusagen.123 Durch diese Betrachtung der Demonstrativpronomen wird bestätigt, dass der primäre Unterschied der sprachlichen gegenüber anderen Zeichen in der Prädikation anzusetzen ist, da die demonstrative Subjektbezeichnung bereits ein prädikatives Moment enthält oder gar kein spezifisch sprachlicher Ausdruck ist. Dagegen scheinen gewisse Personalpronomen zu sprechen, nämlich die Subjektausdrücke «ich» und «du». Die Rückführung auf das Zeigen ist hier nicht befriedigend. Obschon von diesen Ausdrücken nicht im bisherigen Sinn gesagt werden kann, dass sie prädikative Momente enthalten, so beruhen sie doch als Bezeichnung des Redenden bzw. des Angeredeten bereits auf prädizierendem Reden. Nur innerhalb von Prädikationen vermögen diese Subjektausdrücke etwas zu bezeichnen. Bei den Eigennamen scheint mir die Sachlage komplexer zu sein. Einerseits kann gesagt werden, dass ein Eigenname eine Person oder ein Individuum nennt oder bezeichnet, ohne dabei irgendeine prädikative Bestimmung zu unterstellen, also ohne etwas darüber sagen zu müssen. Aber dennoch ist auch dieser Fall kein überzeugendes Argument für einen sprachlichen Subjektausdruck ohne Implikation von prädikativen Momenten. Denn Namen oder Bezeichnungen, die für Einzelnes stehen, kommen auch ausserhalb des Sprechens vor, wie etwa Nummern für Banknoten, die in finanziellen Transaktionen verwendet, oder Spielkartenbezeichnungen, wie «König» oder «Dame», womit im Spiel «angegeben» wird, ohne dass sie dabei als Subjekte für Prädikationen gebraucht würden. Doch ein tieferes Verständnis der Eigennamen erweist diese als sprachliche Ausdrücke, gerade dadurch, dass es sie auf Prädikationen zurückführt. Allerdings nicht so, dass es den Gebrauch von Eigennamen an die Fähigkeiten und Bereitschaft knüpft, Beschreibungen des Genannten vorzulegen,124 denn das gilt nur für Namen, die nicht in Wahrnehmungssituationen gelernt werden. Jenes tiefere Verständnis geht vielmehr auf eine urtümliche Sprache zurück, in der es noch keinen Unterschied zwischen allgemeinen Namen und Eigennamen, deren Prädikate aber als Fundamente für beide angesehen werden können. In der primitiven Sprache kleiner Kinder scheinen Eigennamen und allgemeine Namen diesel-
Vgl. oben in diesem Teil § 28. Dies ist die Interpretation des Sinnes von Eigennamen, wie sie von J. R. Searle («Proper Names», Mind 67 (1958), S. 166–173) und von P. F. Strawson (Individuals. An Essay in Descriptive Metaphysics, Methuen, London 1959, S. 181, 192 ff.) vertreten wird. 123
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be Funktion zu erfüllen und insofern noch ungeschieden zu sein.125 «Mama», «Papa», «Onkel» usw. dienen zur Charakterisierung verschiedener Typen von einheitlichen, mit Gefühlen verbundenen Wahrnehmungsgegebenheiten und -situationen, genau so wie «Löwe» oder «Ball», und nicht zur Bezeichnung eines Individuums als eines solchen. Wenn z. B. der Hund im Hause des Kleinkindes Waldi heisst (was für Erwachsene ein Eigenname ist), und es beim Spaziergehen einen Hund sieht, zeigt es auf ihn und sagt «Waldi». Dies bedeutet für es: «Es ist ein Waldi». Es handelt sich dabei um eine Prädikation, mit der eine typische Wahrnehmungsgegebenheit bestimmt wird. Wenn dem kleinen Kind auf einem Spaziergang seine Mutter und sein älterer Bruder Doti vorangegangen sind und es ihnen nicht mehr zu folgen vermag, ruft es laut «Mami!», was für es bedeutet: «Warte!» oder «Komm mich holen!», also ungefähr dasselbe wie «Hilfe!», und wenn dann nicht Mami, sondern Doti kommt, es an der Hand und zur wartenden Mutter führt, ist ihm geholfen und es ist zufrieden. Diese archaischen Prädikatoren werden funktional transformiert und diversifiziert, wenn nicht mehr bloss Wahrnehmungssituationen oder in der Wahrnehmung abgehobene typische Einheiten, sondern durch verschiedene solche Gegebenheiten hindurchgehende und als das durch sich Vergegenwärtigen wiedererkannte individuelle Einheiten zu Subjekten der sprachlichen Bestimmung gemacht werden. Dann kann sich ein Teil der alten Prädikatoren genau mit diesen Verstandeseinheiten als den neuen Subjekten der sprachlichen Bestimmung decken. Sie können dann nicht mehr wie in der kindlichen Ursprache dazu gebraucht werden. als neue Prädikatoren diese Verstandeseinheiten zu bestimmen, wohl aber dazu, als Eigennamen dies im Hinblick auf weitere sprachliche Bestimmungen zu nennen oder zu bezeichnen. Andererseits werden auf dieser neuen Subjektgrundlage solche Prädikatoren, die sich auf kein einzelnes Individuum beschränken lassen, sondern sich auf verschiedene Individuen aufteilen (Quine spricht von devided reference), zu allgemeinen Prädikatoren von Individuen. Dadurch können sie, unter der Voraussetzung, dass sie durch eine individualisierende Angabe, durch ein Demonstrativpronomen oder durch eine Orts- und evtl. Zeitangabe, auf ein Individuum beschränkt werden und es bezeichnen, z. B. «dieser Ball», «der Ball hier». In dieser Sichtweise entstehen also Eigennamen aus Prädikaten, und zwar in der Umwandlung einer blossen Situationssprache (Sprache über Wahrnehmungsgegebenheiten) zu einer Welt- oder Substanzensprache («Substanz» im Sinne von Aristoteles’ Kategorienlehre126 ), einer Sprache über Individuen, die durch verschiedene Gegebenheiten hindurch identisch sein können und zusammen eine objektive Welt ausmachen. Doch nicht alle archaischen 125 Auf dieses archaische Sprachniveau kleiner Kinder beziehen sich auch Williard Quine, Word and Object, M.I.T. Press, Cambridge, Massachusetts 1960, §§ 19 ff, und P. F. Strawson in Individuals, 1959, Part. II, Ch. 6. 126 Zu Aristoteles’ Kategorienlehre siehe oben in diesem § 42, Abschnitt a) Anm.
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Prädikatoren müssen diese Differenzierung in Eigennamen einerseits und allgemeine Namen von Individuen andererseits mitmachen, vor allem solche nicht, die sich nach der Konstitution von identischen Individuen nicht auf Individuen als solche beziehen lassen.127 Wenn nun Eigennamen aufgrund ihres Ursprungs aus der die einzelne Wahrnehmungssituation überschreitenden Prädikation auch besonders geeignet sind, Individuen zu bezeichnen und in der Mitteilung zu identifizieren, wird die Wichtigkeit der Sprache doch durch die Meinung übertrieben, dass erst Eigennamen oder andere singuläre Termini die Vorstellung von Individuen ermöglichen. Das scheint sowohl die Auffassung Strawsons als auch diejenige von Quine zu sein.128 Dass das Kind individualisierende sprachliche Ausdrücke gebraucht, mag der Grund dafür sein, dass ein empirischer Beobachter behaupten darf, dass es Individuen erfasst. Aber was Grund jener äusseren Beobachtung ist, ist nicht notwendig auch Grund dieser Erfassung selbst. In der Reflexion auf die Individuen hervorbringenden Bewusstseinsvorgänge dürfte sich vielmehr erweisen, dass die Vorstellung von durch die Zeit und verschiedene Wahrnehmungssituationen hindurch dauernden Individuen die Vergegenwärtigung ihrer Wahrnehmbarkeit auch während ihrer Abwesenheit gehört. Ein Ding oder eine Person verharrt für mich dadurch kontinuierlich durch verschiedene Wahrnehmungssituationen hindurch, dass ich sie als abwesende kontinuierlich vergegenwärtige. Dadurch bleiben sie für mich als wahrnehmbare bestehen. Ich weiss, dass sie zurückkehren oder ich zu ihnen gehen kann. c) Drei verschiedene Aspekte der sprachlichen Bestimmung (die sprachanalytische Lehre von Austin, Alston und Searle) Ich habe die Sprache als die Bestimmungshandlung definiert, die in ihr instituiert (verkörpert) ist, und zwar nicht nur nach ihrem Inhalt (das Was der Bestimmung), sondern als Handlung selbst. Dadurch ist auch die Möglichkeit der Modalisierung (Negation, Infragestellung etc.) dieser Bestimmungshandlung gegeben. Ich habe oben schon angedeutet, dass die Bestimmung, die in den Sätzen geschieht, ganz verschiedener Art sein kann: Behauptung, Befehl, Wunsch, Bitte usw. Es ist das grosse Verdienst von J. L. Austin und den von dessen Gedanken inspirierten Sprachphilosophen William P. Alston und John R. Searle, unter dem Titel der illocutionary force auf diese Mannigfaltigkeit dessen hingewiesen zu ha127 Darauf machte Quine aufmerksam: «[…] the category of mass terms remains, a survival perhaps of the undifferentiated occasion sentence, ill fitting the dichotomy of the general and the individual.» (Word and Object, S. 95; vgl. S. 92). 128 Siehe P. F. Strawson, Individuals 1959, Part II, ch. 7; W. Quine, Word and Object, 1960, § 19.
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ben, was in den Sprechakten geschieht.129 Diese Sprachanalytiker unterscheiden an den Sprechakten drei verschiedene Momente: erstens, den locutionary act oder, in Searle’s Revision,130 den propositional act, der aus reference und sense besteht (und Austin’s rhetic act entspricht); zweitens, die illocutionary force oder den illocutionary act (z. B. Behaupten, Warnen, Drohen); drittens, den perlocutionary act, der den Sprechakt in Hinblick auf seine Wirkung auf den Hörer dieses Aktes bezeichnet. Derselbe locutionary act (Searle: propositional act) kann in verschiedenen illocutionary acts auftreten. Z. B., «ich werde fortgehen» kann als derselbe locutionary act (propositional act) mit demselben Subjekt als Referenten und demselben Prädikat als Behauptung, Versprechen, Warnung, Drohung, also mit verschiedenen illocutionary forces (als verschiedenen illocutionary acts) auftreten. Andererseits kann derselbe illocutionary act, im Hinblick auf seine Wirkung auf den Hörer, in verschiedenen perlocutionary acts vorkommen, z. B., indem ich etwas assertorisch Aussage, kann ich den Zuhörer aufklären, ihn erschrecken, ihn inspirieren, verblüffen, erzürnen usw. Das Hauptinteresse der drei genannten Sprachphilosophen geht auf den illocutionary act (die illocutionary force). Als Beispiel solcher Akte werden gegeben: beschreiben, halten für, befehlen, bitten, warnen, versprechen, vorhaben, sich verpflichten, danken, grüssen usw. Es sind dies verschiedene Arten sprachlichen Tuns. Nach Austin hat die Zahl der englischen Verben, die illocutionary acts (forces) bezeichnen, die Grössenordnung der dritten Potenz von 10. d) Kritische Bemerkung zur sprachanalytischen Lehre der Sprechakte Da es im jetzigen Zusammenhang um verschiedene Arten sprachlichen Bestimmens von etwas geht, muss die sprachanalytische Theorie der illocutionary acts, bzw. der illocutionnary force besonders interessieren, denn sie scheint genau vom jetzigen Problem zu handeln. Doch diese Theorie scheint zwei Mängel zu haben. Einmal ist es den Sprachanalytikern nicht gelungen, eine befriedigende Systematik der illocutionary acts zu geben. Das halte ich aber für unwichtig. Was aber wichtig ist, weil es diese Theorie infrage stellt, ist dies, dass der illocutionary act, der nach Austin die Qualität und den eigentlichen Schwerpunkt des Sprechaktes und nach Alston und Searle sogar den vollständigen Sprechakt ausmacht, auch Die wichtigsten Werke sind: J. L. Austin, How to do Things with Words. The William James Lectures Delivered in Harvard University in 1955, edited by J. O. Urmson, Clarendon Press, Oxford 1962; Alston, William P., Philosophy of Language, Englewood Cliffs, PrenticeHall 1964; John R. Searle, Speech Acts. An Essay in the Philosophy of Language, Cambridge University Press, Cambridge 1969. 130 Siehe Searles Kritik an Austin in «Austin on Locutionary and Illocutionary Acts», Philosophical Review 77, 1968, S. 405–424. 129
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ausserhalb des Sprechens vorkommen soll. Also das Spezifische des Sprechaktes soll für ihn nicht spezifisch sein! Austin schreibt: «[…] wir können z. B. durch nichtsprachliche Mittel warnen oder befehlen, ernennen oder geben, protestieren oder uns entschuldigen, und dies sind illocutionary acts. […] Aber die Tatsache bleibt, dass viele illocutionnary acts nicht ohne etwas zu sagen vollzogen werden können.»131 Und Searle, der Austins Speech Acts-Theorie auszubauen und in gewissen Punkten zu korrigieren versucht, kann schreiben: «Mein Hund vermag gewisse einfache illocutionary acts zu vollziehen. Er kann Freude ausdrücken und bitten, herausgelassen zu werden. Aber sein Umfang [an solchen Akten] ist sehr begrenzt, und sogar für die Typen, die er zu vollziehen fähig ist, empfindet man seine Beschreibung als illocutionary acts zum Teil als metaphorisch.»132 Auch Alston ist der Auffassung, dass illocutionary acts ausserhalb der Sprache vorkommen, will aber ihre Ausübung im Gegensatz zu Searle an den Gebrauch konventioneller Mittel binden, z. B. an das Schwenken einer Flagge.133 Wenn ich ihn richtig verstehe, sind also nach ihm blosse sinnliche, des Vergegenwärtigens von etwas und der vergegenwärtigenden Kultur unfähige Wesen wie Hunde der illocutionary acts nicht fähig – im Gegensatz zu Searle. Es ist befremdend, dass der illocutionary act, der die Sprechhandlung definieren soll, auch nicht Sprechhandlung sein soll. Diesem Widerspruch liegt meines Erachtens folgende Vermengung zugrunde: Zwar unterscheiden Austin und seine Nachfolger völlig einleuchtend den eigentlichen Sprechakt von seinen bei seinen Hörern hervorgerufenen Folgen, die in den sog. perlocutionary verbs, wie «überzeugen», «erschüttern», «begreiflich machen», mitbezeichnet sind. Aber in das, was sie nach dieser Unterscheidung als illocutionary act festhalten, lassen sie Verschiedenartiges sich einmischen, das kein Sprechakt oder etwas zum Sprechakt Gehöriges ist. Als illocutionary act wird zum Beispiel das Grüssen hingestellt. Grüssen kann ohne Rede geschehen, z. B. durch das Lüften des Hutes, freundliches Nicken, sich leicht Verbeugen, die Hand Geben oder auf die Schulter Klopfen zusammen mit Lauten wie Ciao, Tschüss und anderes mehr, aber auch durch Sprechen geschehen. Aber selbst wenn das Grüssen sprachlich geschieht, ist es als solches kein Sprechakt, sondern benützt nur Sprechakte. Sprachliches Grüssen geschieht meistens durch Äusserung eines Wunsches: «(ich wünsche Ihnen einen) guten Tag», «Schalom (Friede) (sei mit Ihnen)!» oder mit einer assertorischen Aussage: «(du bist) willkommen». Jene Wünsche und diese Aussage sind Sprechakte, aber nicht der Gruss, mögen jene Wünsche oder Aussage manchmal auch blosse Gewohnheitsäusserungen und nicht mehr als Sprechakte mit ihrer Bedeutung vollzogen sein. Eine Handlung, die mithilfe eines Sprechaktes geschieht, ist nicht selbst ein Sprechakt. 131 132 133
Austin, How to do things with words, 1962, S. 118/119. Searle, Speech Acts, 1969 S. 39. Alston, Philosophy of Language, 1964, S. 36.
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Ich führe im Folgenden noch einige weitere Beispiele von sog. illocutionary acts an, die selbst nicht Sprechakte sind, sondern nur solche benützen. Im Danken, wenn es sprachlich und nicht in blossen Gesten geschieht, z. B. durch sich Verbeugen oder durch Zusenden eines Blumenstrausses, gibt man mithilfe von assertorischen Aussagen, Versprechen, Wünschen usw. seine Gefühle der Dankbarkeit kund. Diese Kundgabe von Gefühlen ist als solche kein Sprechakt, ebenso wenig die sprachlichen Ausdrücke der Gefühle Freude und des Beileids. Man kann sein Beileid auch sprachlos mit einem Händedruck und einem teilnehmenden Blick in die Augen des durch den Tod eines Angehörigen Leidenden ausdrücken. Doch die sprachlichen Ausdrücke der Freude und des Beileids werden von Austin und Searle zu den illocutionary acts gezählt. Auch Protestieren ist kein Sprechakt. Man kann auch mit Buh-Rufen protestieren. Protestierende machen auf mitgetragenen Transparenten oder in Sprechchören evtl. auch gewisse assertorische Aussagen, wie «50 % der Neuverheirateten finden keine bezahlbare Wohnung», und Forderungen, wie «die Regierung muss weg!» usw. Aber das Protestieren als Manifestieren der Unzufriedenheit, des Zorns, des Unwillens, der Abneigung gegen eine als ungerecht oder korrupt empfundene obere, mächtigere Gesellschaftsschicht und als Ausdruck der Solidarität und Macht der eigenen Gesellschaftsschicht ist kein Sprechakt. Der Grossteil der von den oben genannten Sprachanalytikern aufgereihten illocutionary verbs bezeichnen nicht Sprechakte, sondern sind Kundgaben oder Äusserungen von Gefühlen, Willensabsichten, geistigen Haltungen verschiedener Art, die selbst, wenn sie nur mithilfe oder im Verein mit sprachlichen Mitteln geschehen können, keine Sprechakte sind. Um den eigentlichen Sprechakt zu erfassen, genügt es nicht, den sog. perlocutionary act, d. h. seine Wirkung auf den Hörer, abzutrennen. Ein und derselbe Sprechakt kann in ganz verschiedener Absicht, als Kundgabe oder Äusserung ganz verschiedener Gefühle und Strebungen, als Mittel innerhalb ganz verschiedener Handlungen dienen, ohne dass er dadurch zu verschiedenen Sprechakten würde. Z. B., die assertorische Aussage «ich habe heute Morgen schlecht gearbeitet» kann blosse Feststellung sein, als Klage, als Ausdruck der Resignation, der Wut über mich selbst, als Vorwurf an meinen lauten Zimmernachbarn, als Warnung an ihn usw. dienen. Dabei können aber nicht Klagen, Resignieren, Wütendsein über mich selbst, Vorwerfen, Warnen als verschiedene Sprechakte (illocutionary acts) betrachtet werden, wie dies Austin und seine Schüler tun, sondern nur das assertorische Aussagen «ich habe heute Morgen schlecht gearbeitet». Die Frage, welche verschiedenen Arten oder Qualitäten von Sprechakten es gibt, und die Frage, was man alles mit Sprechakten, auch abgesehen von den perlocutionary effects, tun kann, sind zwei verschiedene Fragen.
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e) Was unterscheidet Sprechakte vom Kundgeben (Äussern) seiner eigenen Gefühle, Absichten, geistigen Haltungen? Aber was sind Sprechakte? Wie soll man sie vom Kundgeben von Gefühlen, Stimmungen, das zusammen mit Sprechakten geschieht, aber nicht etwas über etwas sagt, unterscheiden? Oder wie soll man Sprechakte von anderen Akten unterscheiden, innerhalb deren sie vorkommen können, z. B. im Grüssen? Eine Antwort auf diese Frage scheint mir sich aus der oben bereits vorgelegten Charakterisierung dessen zu ergeben, was ein sprachliches Zeichen ist. Im einfachsten vollständigen sprachlichen Zeichen, d. h. in einem Satz, ist ein Bestimmen von etwas nach Bestimmungsinhalt und Bestimmungshandlung instituiert. In einem Satz als einem wiederholbaren Zeichen liegt demnach als seine objektive Bedeutung ein Bestimmen nach diesen beiden Momenten vor, z. B. ein assertorisches Aussagen von etwas, ein Befehlen von etwas, ein Wünschen von etwas, ein Geben eines Versprechens von etwas. Dieses Bestimmen hat als Identisches durch die verschiedenen Wiederholungen dieses Zeichens hindurch einen ideellen Bestand. Als eine von der Vernunft hervorgebrachte objektive sprachliche Bestimmung enthält sie eo ipso die Möglichkeit ihrer Modalisierung, d. h., eine sprachliche Bestimmung, welcher Art auch immer, kann negiert, infrage gestellt, erörtert, bestätigt werden. Nach ihrem Inhalt kann gefragt werden. Der Sprechakt hat notwendig die nur ihm eigene Eigenschaft, und durch diese als ihr Kriterium ist folglich auch zu erkennen, dass er sich als eine modalisierbare und nach ihrem Inhalt erfragbare Bestimmungshandlung, als objektive, ideelle Bedeutung eines Satzes instituiert und als solche Institution der Vernunft wiederholbar und verstehbar ist. Weder Grüssen noch Danken noch Kundgeben (Ausdrücken) von Beileid noch Geben, die nach Austin alle zu den illocutionary acts gehören, sind objektive modalisierbare sprachliche, nach ihren Gehalt befragbare, sprachliche Bestimmungshandlungen. Einen Gruss als solchen kann man nicht nach seinem Inhalt negieren, als nur wahrscheinlich oder fraglich hinstellen oder fragen, was er grüsst. Demgegenüber kann das etwas Befehlen, was eine in Sprachzeichen instituierte objektive Bestimmungshandlung eines gewissen Inhalts ist, negiert, als nur wahrscheinlich hingestellt, diskutiert oder auch nach ihrem Inhalt befragt werden. Der Befehl, z. B. «Die Studenten haben den Saal zu verlasen!» kann negiert («Die Studenten haben den Saal nicht zu verlassen!») oder infrage gestellt («Haben die Studenten den Saal zu verlassen?») oder nach seinem Inhalt befragt werden («Was haben die Studenten zu tun?»). Selbstverständlich bedeutet die Negation (negative Modalisierung) die Negation der im Sprachzeichen instituierten objektiven Bestimmungshandlung und nicht die Negation des betreffenden einzelnen subjektiven Sprechaktes. Die Negation des Befehls «gehe hinaus!» ist «gehe nicht hinaus!» und nicht «ich habe nicht befohlen, dass du hinausgehen sollst». Oder die Infragestellung der asserto-
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rischen Aussage «das ist rot» ist «ist das rot?» und nicht «habe ich gesagt, dass das rot sei?» Oder die Negation des Versprechens «ich werde dir in dieser Sache behilflich sein» ist «ich werde dir in dieser Sache nicht behilflich sein» und nicht «ich habe nicht gesagt, dass ich dir in dieser Sache behilflich sein werde». Das Vorhandensein aller Akte lässt sich negieren, auch das Klagen, Resignieren, Wütendsein über mich selbst, Vorwerfen, Warnen, Grüssen, also auch Akte, die nach meinem Verständnis keine Sprechakte sind (wohl aber nach demjenigen Austins und seiner Schüler). Aber nicht durch alle Akte werden objektive sprachliche Bestimmungen instituiert, die sich negieren lassen. Zum Unterschied zwischen eigentlichen Sprechakten und Akten, die nur Sprechakte benützen oder sonst wie in Verbindung mit ihnen auftreten, aber selbst keine Sprechakte sind, lässt sich noch Folgendes sagen: Ein Sprechakt einer bestimmten Art kann nicht in Form seiner Bedeutung als objektive Bestimmungshandlung einen Sprechakt einer anderen Art in sich schliessen, verwenden oder sonst wie mitvollziehen, während z. B. das Vorwerfen, Warnen, Grüssen, Protestieren, die nicht Sprechakte sind, assertorische Aussagen, Fragen, Forderungen verwenden können. Man kann nicht in einer Behauptung (assertorischen Aussage) befehlen; man kann nur behaupten, dass jemand etwas befiehlt, was aber etwas anderes ist. Dass ich im Grüssen zugleich Wünschen kann, zeigt, dass Grüssen kein Sprechakt ist. f) Was differenziert die verschiedenen Arten von Sprechakten, was qualifiziert sie als diese oder als jene Art? Ein Versuch: Sie werden durch die verschiedenen Erfüllungsarten von Sprachhandlungen differenziert. Der Unterschied zwischen verschiedenen Arten von Sprechhandlungen und andererseits ihren Modalisierungen und in ihnen gestellten Fragen Verschiedene Arten von Sprechakten sind nur die verschiedenen «Qualitäten» objektiv ausgedrückter Bestimmungshandlungen (assertorische Aussagen und deren Modalisierungen, Befehle, Fragen nach Bestimmungen u. a.). Aber was differenziert die verschiedenen Arten von Sprechakten, was qualifiziert sie als diese oder als jene Art? Die beste Antwort, die ich zu geben weiss, ist diese: Dass eine sprachliche Bestimmung aufrechterhalten werden kann oder modalisiert werden muss, impliziert, dass sie auf Erfüllung oder Entsprechung angewiesen ist, was ihr aber auch versagt sein kann. Eine assertorische empirische Aussage findet ihre Erfüllung durch Tatsachen; eine alltägliche, von den gewöhnlichen Menschen eines Dorfes geäusserte empirische Aussage, z. B. «Frau Meier vom Dorfladen ist immer sehr freundlich», durch alltägliche Tatsachen; sie wird modalisiert, wenn ein Dorfbewohner die Erfahrung macht, dass «Frau Meier nicht freundlich ist». Dann heisst es im Dorf: «Frau Meier ist nicht immer freundlich.» Aufgrund
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verschiedener Methoden, z. B. aufgrund mathematischer, messender oder statistisch zählender oder auf historische Dokumente sich stützende Methoden, etablierte wissenschaftliche Erfahrungstatsachen (Fakten) erfüllen die allgemeinen Aussagen der empirischen mathematischen Naturwissenschaften bzw. der statistischen Soziologie bzw. die singulären empirischen Aussagen der historischen Wissenschaften. Wenn die assertorische Aussage eine apriorische ist, z. B. in der Geometrie, erfüllt sich eine Aussage in der Einsicht, dass das Gegenteil des Behaupteten (Assertierten) unmöglich ist, z. B. dass es unmöglich ist, dass die Summe der Winkel eines gleichschenkligen Dreiecks auf einer geraden Fläche ausser180 Grad irgendeine andere Gradsumme zwischen 1 und 360 beträgt. Ein Befehl findet seine Erfüllung in der Befolgung des Befehls durch diejenigen Personen, an die der Befehl gerichtet ist. Wenn der Befehl allgemein nicht befolgt wird, dann ist er zu einem nutzlosen, nichtigen Befehl modalisiert. Wenn er nur teilweise befolgt wird, findet er seine Erfüllung nur teilweise und ist zu einem nur teilweise erfolgreichen Befehl modalisiert. Eine Wunschaussage wird durch das gewünschte Geschehen erfüllt. Die Bedingungen dieser Erfüllungen oder Nichterfüllungen sind verschiedener Art: Einem Befehl wird in einer ganz anderen Art entsprochen, bzw. nicht entsprochen, als in einer assertorischen Aussage. Im Befehl muss der im Befehl Angesprochene, bzw. müssen die im Befehl Angesprochenen die Erfüllung willentlich schaffen, während in einer assertorischen Aussage die Erfüllung erkannt werden muss. Jede Art sprachlicher Bestimmung gibt in sich selbst die Art der Erfüllung an, und diese in der Bestimmung selbst liegende Verschiedenheit der Erfüllungen, macht die Verschiedenheit der Sprechhandlungen aus, qualifiziert sie als verschiedene Sprechhandlungen. Als Leitgedanke für eine Unterscheidung der verschiedenen Arten von Sprechhandlungen kann vielleicht Folgendes dienen: Es gibt vier verschiedene Grundarten von durch die sprachlichen Bestimmungshandlungen vorgezeichneten Erfüllungen: Erstens: Die Erfüllungsbedingungen werden als an sich bestehend oder garantiert hingestellt, unabhängig vom Willen des Redenden oder des Angeredeten. Das sind die assertorischen Aussagen. Zweitens: Die Verwirklichung der Erfüllungsbedingungen wird vom Angeredeten und in der sprachlichen Bestimmungshandlung Bestimmten verlangt. Das sind die Befehle, Bitten, an jemanden gerichtete Wünsche, Appelle. Drittens: Für die Realisierung der Erfüllungsbedingungen engagiert sich der Redende und in der sprachlichen Bestimmungshandlung Bestimmte. Das sind die an andere gerichtete Versprechen. Viertens: Die Erfüllungsbedingungen werden weder als an sich bestehend erklärt noch einem bestimmten Willen zugeordnet, aber nichtsdestoweniger intendiert. Das sind die blossen, an niemanden gerichteten Wünsche, z. B. «Es möge doch morgen schönes Wetter werden!»
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Wenn wir den Sprechakt im angegebenen Sinn als Institution einer Bestimmungshandlung in einem sinnlich wahrnehmbaren Ausdruck charakterisieren, die in dieser objektiven Institution modalisierbar ist, und in ihr gefragt werden kann, so ergibt sich (wiederum in Differenz zur diskutierten Theorie der illocutionary acts) die für die Systematik der verschiedenen Arten von Sprechakten wichtige Einsicht: Die Modalisierungen: Negieren, Infragestellen, Erwägen etc. und das nach dem Bestimmungsinhalt Fragen («Was ist das?», «Was wünsche ich eigentlich?» etc.) sind nicht selbst verschiedene Arten von Sprechhandlungen neben Behauptungen, Befehlen etc., Versprechen, blossen Wünschen, sondern sie betreffen alle diese vier verschiedenen Arten von Sprechhandlungen; es sind Modalisierungen und Fragen innerhalb jeder dieser Arten. Es ist also zu unterscheiden zwischen verschiedenen Arten von Sprechhandlungen und andererseits ihren Modalisierungen und in ihnen gestellten Fragen. g) Die Vergegenwärtigung in den sprachlichen Zeichen: die Bedeutung des Prädikats eines Satzes. Das Prädikat als Zeichen für den Bestimmungsinhalt des Satzes Nachdem oben in diesem Paragrafen die elementarsten Funktionen sprachlicher Zeichen zu bestimmen versucht wurde, möchte ich in diesem Abschnitt g) noch einige dabei im Dunklen gelassenen Aspekte dieser Zeichen zu erhellen versuchen. Zuerst kläre ich noch etwas die besondere Art der Vergegenwärtigung, die in diesen sinnlich wahrnehmbaren Zeichen verkörpert ist. Dabei halte ich mich immer im Rahmen der einfachsten Sätze, der Protosätze. Diese bestehen nur aus einem Prädikat als einem Doppelzeichen für Bestimmungsinhalt und Bestimmungshandlung, während ihr Subjekt vorsprachlich durch Wahrnehmung gegeben ist. Um zu verdeutlichen, was für ein Vergegenwärtigen im Sagen eines Satzes liegt, erörtere ich dessen beide untrennbare Momente: Bestimmungsinhalt und Bestimmungshandlung in abstrakter Weise gesondert. Zuerst, welcher Art ist die Vergegenwärtigung im Prädikator, im Inhaltsausdruck des Satzes? Wenn ich etwa assertorisch aussage «das ist Gold», so brauche ich mich in der Verwendung des Prädikators «Gold» nicht an ein solches Metall zu erinnern, das ich früher einmal gesehen hatte. Und ich brauche mir dabei auch nicht irgendeine andere Situation phantasierend anschaulich zu vergegenwärtigen, in der Gold vorkommt oder vorkam. An anschaulicher Vorstellung genügt die gegenwärtige Wahrnehmung eines perzeptiven Typus, von dem ich sage «das ist Gold». Dieser perzeptive Typus gehört, wenn das «Gold» von ihm ausgesagt wird, zu einer «Familie» («Struktur») solcher Typen, von denen der «Gold» genannte in dieser Aussage hervorgehoben wird. Zu dieser strukturierten Familie, deren Mitgliederzahl ungenau ist, gehören neben Gold ungefähr die perzeptiven Typen: unechtes Gold
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(«Trompetengold»), Silber, Kupfer, Messing, Aluminium, Bronze, also verschiedene Metalle oder wahrnehmbare Metalllegierungen. Der Sinn des Wortes Gold in jener assertorischen Aussage ist auf seinen Gebrauch für etwas jetzt Wahrgenommenes beschränkt, sonst hätte es keine Bedeutung, es wäre somit kein Wort, sondern nur mögliches Wortmaterial: ein blosser sinnlich wahrgenommener Laut. Das Wort Gold ist nur ein Wort, wenn ich mir in seinem aktuellen anschaulichen Gebrauch wenigstens leer bewusst bin, dass es auch in anderen Wahrnehmungssituationen richtig gebraucht werden kann oder gebraucht wurde, z. B. in einer Wahrnehmungssituation, die sich als wahrnehmbare kontinuierlich an meine jetzige anschliessen wird und in der ich zeitlich nicht lange nach dem vorigen Satz eventuell sagen werde: «auch das ist Gold». Kurzum, dieses Wort ist nur ein Wort, wenn ich mir in seinem aktuellen Gebrauch bewusst bin, dass es auch in anderen, jetzt nicht gegenwärtigen Wahrnehmungssituationen Anwendung finden kann und evtl. schon gefunden hat, und zwar Anwendung auf einen perzeptiven Typus innerhalb einer «Familie» perzeptiver Typen. Obschon keine solche andere Situation, in der das Wort richtig gebraucht wird, anschaulich vorgestellt sein muss, muss doch das Bewusstsein der Möglichkeit bestehen, sich solche anderen Situationen durch Erinnern an sie, sie Phantasieren oder durch irgendein anderes anschauliches Vergegenwärtigen vorzustellen. Aber alle diese anschaulich vergegenwärtigten Einzelsituationen schöpfen die Anwendungsmöglichkeit (Gebrauch) des Wortes nicht aus. Im unanschaulichen (leeren) Bewusstsein dieser allgemeinen Anwendungsmöglichkeit, die in unbegrenzt vielen Wahrnehmungssituationen auf einen gewissen in einem «Familienverband» stehenden perzeptiven Typus festgelegt ist, besteht das Vergegenwärtigen des aktuellen Gebrauchs eines Prädikators. Dieses Bewusstsein der allgemeinen Anwendungsmöglichkeit (Gebrauches) eines Wortes beruht auf der schon vor der Sprache durch den blossen Verstand vollzogenen Identifizierung eines allgemeinen Typus innerhalb einer Typenfamilie, auf den dann das Sprechen das Wort festlegt.134 Dazu reicht die bloss sinnliche Tätigkeit nicht aus. Diese nimmt zwar gleichartig oder typisch wahr, aber sie nimmt etwas nicht als Gleichartiges oder Typisches wahr, nicht als Einzelfall eines Allgemeinen.135 Das Bewusstsein von einer allgemeinen Art oder eines allgemeinen Typus, auf dem das Bewusstsein der allgemeinen Anwendungsmöglichkeit eines Wortes beruht, ist kein sinnliches Wahrnehmen, sondern eine Verstandesleistung, die das Allgemeine als Identisches verschiedener Wahrnehmungsmöglichkeiten erfasst. Das Wort als Prädikator ist kein einzelner momentaner Laut, sondern ein lautliches Schema, das als dasselbe in verschiedenen einzelnen sprachlichen Verlautbarungen unbegrenzt wiederholbar ist. Nur so kann es in verschiedenen Fäl134 135
Vgl. oben in diesem Teil I den § 10 über das vorsprachliche Wiedererkennen. Vgl. oben in diesem Teil I die §§ 23 und 29.
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len angewandt werden. Aber das Verhältnis dieses Aktionsschemas zu seinen verschiedenen Ausführungen ist im Bewusstsein nicht dasselbe wie das Verhältnis des oben besprochenen allgemeinen identischen Typus zu seinen individuellen Einzelfällen. Das Wort als Prädikator ist vielmehr ein ideales Individuum, das in seinen verschiedenen Ausführungen (Verlautbarungen) als dasselbe wiederholt wird und nicht als das Gemeinsame verschiedener zu subsumierender Fälle bewusst. Es ist analog wie etwa die siebente Symphonie Bruckners in verschiedenen individuellen Aufführungen als dieselbe wiederholt wird, obschon in verschiedenen Interpretationen, und nicht als das gemeinsame Allgemeine verschiedener Aufführungen gesetzt ist. Im subjektiven Bewusstsein seiner allgemeinen Anwendungsmöglichkeit vergegenwärtigt der Prädikator also den allgemeinen Typus des bestimmten Gegenstandes. Der Prädikator als ideales lautliches Schema dient zur Bestimmung von etwas hinsichtlich seines allgemeinen Typus innerhalb einer Typenfamilie, auf den seine Anwendungsmöglichkeit festgelegt ist. Aber dieses Wort ist kein nur vorläufig nötiges blosses Mittel zum Erlangen oder Vertreten des Erkennens des allgemeinen Typus, welches das Vernunftsubjekt ohne Verlust fallen lassen könnte, wenn es den allgemeinen Typus erfasst hat; dieses Wort ist kein blosses vorläufiges Vehikel oder ein blosser Ersatz für etwas anderes. Die primäre Leistung des Sprechens dieses Wortes besteht nicht darin, zur Erkenntnis des allgemeinen Typus hinzuführen, die ja, wie ich oben zu zeigen versuchte, auch ohne dieses Wort möglich ist, sondern sie besteht, noch abgesehen von ihrer kommunikativen Funktion, darin, die bloss vergegenwärtigende Erfassung des Allgemeinen durch den Verstand dem geistig-leiblichsinnlichen Vernunftsubjekt einzuverleiben; sie besteht darin, jenes bloss vorstellende Erfassen in das sinnlich-leibliche Tun, in das tätig erkennende Verfügenkönnen über die Wirklichkeit zu überführen. Jene Worte als Aktionsschemata dienen primär der Verwirklichung des Verstandes in der Sinnlichkeit, d. h. der Verwirklichung der Vernunft, in welcher der Verstand sinnliche Wirksamkeit und damit Macht über die Wirklichkeit gewinnt. In ihrem sprachlichen Tun verfügt die Vernunft habituell über das Allgemeine, sie hat es «in ihren Händen», während es vom blossen Verstand nur flüchtig in einzelnen vergegenwärtigenden Akten erspäht wird. Die den Worten primäre Bewegung ist also nicht das Hinführen zum Allgemeinen, sondern die Verkörperung des Allgemeinen in der Einheit der Vernunft mit der Sinnlichkeit. Diese Verkörperung besteht im Bewusstsein der festgelegten allgemeinen Anwendungsmöglichkeit des Wortes, die seine Bedeutung ausmacht, und in diesem Vernunftbewusstsein der Möglichkeit dieses Anwendens besteht die Vergegenwärtigung dieses Wortes.
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h) Das Prädikat als Zeichen für die Bestimmungshandlung des Satzes Wie steht es hinsichtlich der Vergegenwärtigungsfunktion mit dem anderen Moment innerhalb des elementarsten selbstständig fungierenden Sprachzeichens (des Satzes), mit dem Zeichenmoment, in dem die Bestimmungshandlung instituiert ist? Dieser Faktor innerhalb des Satzes kann verschiedene Gestalten haben: Er kann im Modus des Verbs liegen oder syntaktisch ausgedrückt sein. Dieses Moment im Satz bedeutet die Bestimmungshandlung, aber nicht als einen subjektiven, zeitlich momentanen einzelnen Akt, der im Sagen oder hörenden Verstehen des Satzes vollzogen wird. Was in diesem Satzmoment instituiert ist und seine Bedeutung mit ausmacht, ist vielmehr eine als identische wiederholbare und in diesem Sinn objektive Bestimmungshandlung, die in den einzelnen subjektiven Bestimmungsakten als dieselbe vollziehbar und auch modalisierbar ist. Also die in einem besonderen Moment des Satzes vergegenwärtigte Bestimmungshandlung ist kein zeitlich momentanes Aussagen, sondern die in unbegrenzt vielen solchen zeitlichen Einzelaussagen identisch bleibende Aussage; sie ist kein einzelnes zeitlich momentanes Befehlen, sondern der identisch bleibende Befehl; sie ist kein einzelner momentaner Akt des Wüschen, sondern ein Wunsch etc. Diese objektive Bestimmung ist ein in verschiedenen Zeitmomenten identisch vollziehbares Ideales. Aber obschon die im Satz instituierte objektive Bestimmung sich von den momentanen Einzelakten ihres wiederholbaren Vollziehens unterscheidet, ist sie doch nicht von ihnen ablösbar, sondern sie besteht überhaupt nur als identische Bestimmung in der wirklichen und möglichen Vielheit von einzelnen subjektiven momentanen Akten des Bestimmens. Umgekehrt bestehen diese subjektiven Bestimmungsakte auch nur, indem sie sich in einem Sprachzeichen als objektive Handlung instituieren. Der Handlungsausdruck des Satzes vermag eine objektive Handlung zu vergegenwärtigen, weil er selbst als ein Zeichen in seinem sinnlich wahrnehmbaren Aspekt nichts bloss Momentanes, sondern ein ideales identisch wiederholbares Tätigkeitsschema ist, z. B. ein in einzelnen verlautbarenden Tätigkeiten wiederholbares Lautschema. Dieses Schema ist eine typische sinnliche Tätigkeitsfigur, eine «geprägte Gestalt eines Handlungsablaufes».136 Aber dieses sinnliche Schema ist nicht etwa selbst die im Satz instituierte objektive Bestimmungshandlung. Denn ein Lautschema (eine Lautgestalt) kann ja als identisches in manchen einzelnen Verlautbarungsakten ohne Verständnis der Bedeutung des Satzes ausgesprochen werden. Die objektive Bestimmungshandlung geht also nicht in einem solchen Schema auf, sie ist nicht an ihm als gegenwärtig sinnlich wahrgenommen. Aber sie besteht überhaupt nur in einem solchen Schema als in ihrem notwendigen sinnlichen Medium, in dem sie zum Ausdruck kommen kann, wie 136
Kamlah und Lorenzen, Logische Propädeutik, 1967, S. 99.
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auch das einzelne subjektive Bestimmen von etwas als eine objektive sprachliche Bestimmung verwirklichender Vernunftakt sich nur im Medium des sinnlich wahrnehmbaren Verlautbarens verwirklichen kann. Der sprachliche Bestimmungsakt ist nur, indem er sich in einem vergegenwärtigenden sinnlich wahrnehmbaren Schema als objektive Handlung verkörpert. Vielleicht ist noch hervorzuheben, dass die objektive Bestimmungshandlung, die im Handlungsausdruck des Satzes vergegenwärtigt ist und seine Bedeutung ausmacht, nicht in dem Sinn objektiv ist, dass sie als Gegenstand, worüber gesprochen wird, vergegenwärtigt würde, sondern sie ist vergegenwärtigt als identischer Handlungsvollzug. Im Vollzug selbst kann eine Handlung nicht gegenständlich sein. Aber selbstverständlich kann eine Aussage, ein Befehl etc. in neuen Sprachhandlungen zum Gegenstand gemacht werden, es können z. B. über einen Befehl Aussagen gemacht werden etc. i) Bemerkungen zur Mitteilungsfunktion der Sprache und zum Problem der «privaten Sprache» In der bisherigen Diskussion der sprachlichen Zeichen sind bislang zwei Gesichtspunkte nicht zur Geltung gekommen, die im Allgemeinen als die für Sprache entscheidenden betrachtet werden: die Sprache als Mittel der Kommunikation und die Sprache als intersubjektive, soziale Institution. Diese zwei Gesichtspunkte kann man getrennt erörtern, da zwar die Sprache als Mittel der Kommunikation nicht von der Sprache als intersubjektive, soziale Institution abtrennbar ist, wohl aber die Sprache als intersubjektive, soziale Institution von der Sprache als Mittel der Kommunikation: Man kann die Sprache als eine notwendig soziale Institution betrachten und ihr dennoch auch eine Funktion ausserhalb der Kommunikation zusprechen, nämlich für das sprechende Individuum selbst. Man spricht und denkt (sprachlich) für sich selbst. Ich möchte hier diese beiden Gesichtspunkte diskutieren und dabei letztlich für meine These argumentieren, dass das die Sprache gegenüber allen anderen Arten von Zeichen primär Charakterisierende unabhängig von Kommunikation und sozialer Institution bestimmt werden kann. Die Sprache wird oft als Kommunikationsmittel definiert. Dies ist der Gesichtspunkt der Linguisten und überhaupt der empirischen Sprachforscher.137 Für diese ist dieser Gesichtspunkt weder zufällig noch unberechtigt. Denn der Gegenstand ihres Interesses sind ja die faktischen, historischen Sprachen, die alle 137 F. de Saussure, Cours de linguistique générale, Payot, Lausanne-Paris 1916, Introduction, ch. III; A. Martinet, Éléments de linguistique générale, Armand Colin, Paris 1960, S. 1–14; J. J. Katz, The Philosophy of Language, Joanna Cotler Books, New York 1966, ch. 4, und viele andere.
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Kommunikationsmittel sind. Und diese Funktion der Sprachen ist im menschlichen Leben die auffallendste. Sie ist ihre öffentliche Funktion, und die Schwierigkeiten und Probleme in dieser Funktion sind in der gesellschaftlichen Praxis die empfindlichsten. Aber es ist damit nicht gesagt, dass dieser Gesichtspunkt der primäre auch für das Philosophieren sein muss, in dem es um die notwendigen Bedingungen der Möglichkeit der Sprache, d. h. des Sprechaktes als einer Tätigkeit der menschlichen Vernunft geht. Einmal ist zu bemerken, was auch die Linguisten wissen, dass auch nicht sprachliche Zeichen, z. B. Winken, mit den Augen Zwinkern, die Faust Ballen, eine kommunikative Funktion haben, dass also nicht die kommunikative Funktion allein die Sprache zu definieren vermag. Die Sprache müsste schon als ein besonderes Mittel des Kommunizierens gekennzeichnet werden. Bemüht man sich aber philosophierend um diese Besonderheit als um die Besonderheit eines Vernunftaktes, erkennt man, dass diese Besonderheit nicht an die kommunikative Funktion der Sprache gebunden ist. Zwar besitzen gewisse Arten von Sätzen als einfachste vollständige sprachliche Zeichen gewisse Qualitäten sprachlicher Bestimmungen überhaupt nur Sinn innerhalb der Kommunikation, z. B. Befehle. Aber das gilt bei Weitem nicht für alle sprachlichen Bestimmungen, so nicht für die assertorische Bestimmung. Das Vernunftsubjekt braucht sprachliche Zeichen nicht bloss, um Mitteilungen zu geben oder zu empfangen, sondern benötigt sie zur selbstständigen Verwirklichung seiner selbst als vernünftiges: zur Institution des Vergegenwärtigten in die sinnliche Gegenwart. Das Vernunftsubjekt instituiert für sich selbst Bestimmungen der Wirklichkeit, es überlegt, erwägt, bejaht, negiert sie für sich selbst: Es spricht mit sich selbst. Dieses «lautlose Gespräch der Seele mit sich selbst», wie Platon das Denken charakterisiert,138 ist nicht einfach als Derivat oder Vorbereitung der intersubjektiven Kommunikation zu klassifizieren, sondern hat einen selbstständigen Sinn. Das auf sinnlichem Boden tätige Verstandessubjekt erstrebt schon als einzelnes die sprachliche Beherrschung seiner Welt durch feste objektive Bestimmungen und muss zu diesem Zweck als vernünftiges mit sich selbst reden und sich selbst entgegenreden; das ist eine Bedingung der Möglichkeit der Kommunikation. Die psychologische Frage, ob wir, wenn wir für uns denken, nicht immer auch an die Kommunikation mit anderen denken, ist hier ohne Belang, denn es geht hier nicht um faktische, sondern um notwenige Zusammenhänge. Man kann sehr wohl die Bedeutung des Selbstgesprächs anerkennen, aber die Auffassung vertreten, dass dieses nur mit gemeinsamen Mitteln, mit einer intersubjektiv instituierten Sprache möglich ist. Dies scheint mir die Position Ludwig Wittgensteins zu sein. Jedenfalls argumentiert er nicht gegen die Möglichkeit des Selbstgesprächs im obigen Sinn, sondern versucht darzutun, dass der Einzel138
Plat. Sophist. 263e: ὁ μὲν ἐντὸς τῆς ψυχῆς πρὸς αὑτὴν διάλογος ἄνευ φωνῆς γιγνόμενος.
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ne nicht für die Konstitution von Sprache aufzukommen vermag. Der Ansatzpunkt der wittgensteinschen Kritik an der Idee einer privaten Sprache, die in der philosophischen Literatur ein grosses Echo fand, ist allerdings ein ganz besonderer. Er betrifft die Sprache über Privates: «Die Wörter dieser Sprache sollen sich nur auf das beziehen, wovon nur der Sprechende wissen kann; auf seine unmittelbaren, privaten Empfindungen.»139 Die Argumente, die Wittgenstein gegen diese Idee anführte, haben aber eine grössere Tragweite: Sie stellen die Idee privaten Sprechens überhaupt infrage, auch eines solchen, das nicht über private Empfindungen, sondern über die öffentliche Welt spricht. Was es nach Wittgenstein verunmöglicht, dass ein einzelnes Subjekt für Sprache aufkommen kann, ist die prinzipielle Unfähigkeit eines Einzelnen, die Regeln zu gewährleisten, die den Wortgebrauch bestimmen: «[…] der Regel zu folgen glauben ist nicht: der Regel folgen. Und darum kann man nicht der Regel ‹privatim› folgen, weil sonst der Regel zu folgen glauben, dasselbe wäre, wie der Regel folgen.»140 «Auf den privaten Übergang von dem Geschehenen zum Wort könnte ich keine Regel anwenden. Hier hängen die Regeln wirklich in der Luft, da die Institution ihrer Anwendung fehlt.»141 Nach Wittgenstein kann eine Regel ihren Halt nur in der «Praxis», «Institution», «Gepflogenheit», in den «Gebräuchen» finden, die er mit Selbstverständlichkeit ausschliesslich als soziale Realität betrachtet.142 Dass eine Regel nur an dieser sozialen Realität ihren Anhalt finden kann, bedeutet, dass sie nur in ihr ein Kriterium für die Richtigkeit ihrer Anwendung zu finden vermag. «Rechtfertigung besteht darin, dass man an eine unabhängige Instanz appelliert.»143 Aus sich selbst kann das sprechende Subjekt nicht dafür aufkommen: ‹Ich präge sie [die Verbindung des Zeichens mit der Empfindung] mir ein› kann doch nur heissen: dieser Vorgang bewirkt, dass ich mich in Zukunft richtig an diese Verbindung erinnere. Aber in unserem Falle habe ich ja gar kein Kriterium für die Richtigkeit. Man möchte hier sagen, richtig ist, was immer mir als richtig erscheinen wird. Und dies heisst nur, dass hier von ‹richtig› nicht geredet werden kann.144
Der Einzelne kommt nicht über den subjektiven Schein der Richtigkeit, nicht über den subjektiven Eindruck oder Glauben hinaus, er gelangt aus sich selbst zu keiner Objektivität, die zum Sinn von «Regel» bzw. von «Richtigkeit» gehört. Er gelangt deshalb aus sich selbst zu keiner Objektivität, weil er sich nach WittgenL. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen [1953]. Kritisch-genetische Edition. Herausgegeben von Joachim Schulte, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Frankfurt 2001, § 243. 140 A.a.O., § 202. 141 A.a.O., § 380. 142 A.a.O., §§ 198, 199, 202. 143 A.a.O., § 265. 144 A.a.O., § 258. 139
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stein nicht selbst zu kontrollieren vermag. Es wäre «als kaufe einer mehrere Exemplare der Morgenzeitung, um sich zu vergewissern, dass sie die Wahrheit sagt».145 Ebenso vermag der Einzelne nicht sich selbst etwas aufzuerlegen, festzulegen, was einen objektiven Sinn abgeben könnte: Warum kann meine rechte Hand nicht meiner linken Geld schenken? – Meine rechte Hand kann es in meine linke geben. Meine rechte Hand kann eine Schenkungsurkunde schreiben und meine linke eine Quittung. – Aber die weiteren praktischen Folgen wären nicht eine Schenkung. Wenn die linke Hand von der rechten genommen hat etc., wird man fragen ‹Nun, und was weiter?› Und das Gleiche könnte man fragen, wenn einer sich eine private Worterklärung gegeben hat; ich meine, wenn er sich ein Wort vorsagt und dabei seine Aufmerksamkeit auf eine Empfindung gerichtet hat.146
An diesen Beispielen und Gleichnissen Wittgensteins kommt die Wurzel seines Gedankens zur Geltung, an der eine Gegenkritik einsetzen muss. Wittgenstein denkt das sprechende Subjekt als unmittelbare Einheit wie den subjektiven Leib, wie das sinnliche Bewusstsein, das nicht über sich selbst hinauszugehen vermag, sondern immer nur es selbst ist. Das bloss leiblich-sinnliche Subjekt bleibt immer nur in seinen subjektiven Erscheinungen, Eindrücken, Empfindungen, ohne sich selbst dieser Subjektivität bewusst zu sein. Dies würde bereits ihr Überschreitenkönnen, die Entgegenwärtigung und Vergegenwärtigung voraussetzen. Das Verstandessubjekt ist aber keine solche unmittelbare Einheit, sondern Einheit einer sich selbst entgegengesetzten Vielheit und Verschiedenheit. So kann es zum Beispiel eine Erinnerung durch andere eigene Erinnerungen als unrichtig, aber auch als richtig erweisen. Es kann erkennen, dass seine Erinnerungen zusammenstimmen und sich dadurch gegenseitig bestätigen oder dass sie nicht zusammenstimmen und sich dadurch gegenseitig infrage stellen. In dieser Unstimmigkeit seiner Erinnerungen kann das Verstandessubjekt sie als mindestens teilweisen Irrtum, als Verwechslung, Vermischung usw. durchschauen. Für den Unterschied zwischen subjektivem Schein oder subjektivem Eindruck und Objektivität kommt bereits das Verstandessubjekt auf, das in sich selbst eine Vielheit verschiedener subjektiver Erscheinungen («Perspektiven») beschliesst und in ihnen eine identische objektive Einheit denkt (siehe oben § 10). Diese Identität ist noch nicht intersubjektive Objektivität, sie ist aber echte Objektivität im Gegensatz zur Subjektivität der Erscheinungen. Aufgrund dessen vermag das einzelne Verstandessubjekt eine auf Regeln beruhende Institution oder Gepflogenheit zu gewährleisten. Nicht nur bewährt sich seine Regelgerechtigkeit im einstimmigen Gebrauch dieser Institutionen. Das Verstandessubjekt vermag aus sich selbst auch, wo es in diesen Institutionen in Unstimmigkeit und Verwirrung gerät, durch seine Erinnerungen an die sich selbst gegebenen Festlegungen und durch Vergleich mit sei145 146
A.a.O., § 265. A.a.O., § 268.
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nem anderweitigen Gebrauch dieser Institutionen eine kontrollierende Funktion auszuüben, der Fehler habhaft zu werden und sie zu korrigieren. Selbstverständlich könnte sich diese dadurch erlangte Objektivität im weiteren Verlauf der Vernunftkonstitution der Sprache wiederum als Schein erweisen, aber dies ist auch bei intersubjektiver Kontrolle immer möglich. Auch die Intersubjektivität gewährleistet in keinem einzelnen Stadium ihrer Erkenntnisprozesse absolute Objektivität und Richtigkeit. Wichtig ist in unserem Zusammenhang nur, dass bereits im einzelnen Verstandessubjekt in seiner sprachlichen Vernunftinstitution der Unterschied zwischen subjektivem Schein und Objektivität, blossem Glauben und Richtigkeit aufbricht. Nach dieser «Apologie» nicht für eine private Sprache, sondern für die Möglichkeit einer privaten Sprache, möchte ich noch meinem Bewusstsein Ausdruck geben, dass alle unsere Sprachen von ihrem gesellschaftlichen Gebrauch geprägt sind. Eine nur privat instituierte Sprache wäre faktisch ein armseliges Gebilde. Es wäre interessant zu untersuchen, welche Aspekte und Strukturen unserer faktischen Sprachen ihren Sinn ausschliesslich von der Sozialität der Sprache her beziehen, vor allem natürlich in ihren kommunikativen Aspekten. Aber interessant wäre es ebenso die Sprachen zu untersuchen, die gewisse Kinder schaffen, in denen sie laut sprechen, wenn sie spielen und in denen sie von ihren Eltern nur schwer verstanden werden können. Ich weiss von einem Kind, dessen Eltern verstanden, wenn es «Avö» rief. Für dieses privat erfundene Wort wird in den meisten Sprachen ein sehr ähnlich lautendes, für Kinder sehr leicht auszusprechendes Wort: Ma (chinesich), Mama (deutsch), maman (französisch), Mamma (italienisch) gebraucht. Dieses Wort ist in seiner Grundform wahrscheinlich, wenigstens zum Teil eine private Erfindung der Kleinkinder, d. h. man muss es ihnen nicht beibringen, sondern sie sagen es von selbst. Trotz ihrer Beschränktheit sind private Sprachen doch Institutionen objektiver Bestimmungen von etwas, sind also nichts weniger als Sprachen.
§ 44 Ethische Kultur a) Wichtige Vorbemerkung: Ethische Kultur ist allein als Vernunft nicht möglich, aber ethische Kultur ist nur als Vernunft möglich. Ethische Kultur ist nicht bloss eine Verkörperung von Vergegenwärtigungen in einer auf Gewohnheit beruhenden festen Vernunfthaltung des Handelns. Denn ohne Mitgefühl, ohne Fühlen für andere, ist ethische Kultur nicht möglich. Aber Mitfühlen für andere allein vermag noch keine ethische Kultur hervorzubringen, denn dazu ist die Vergegenwärtigung der Situation von anderen Menschen (und auch Tieren) notwendig; m. a. W., dazu ist das Verstehen der anderen in ihrer
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Situation notwendig. Ethische Kultur nur aufgrund von Mitfühlen für andere ist blind; ethische Kultur als Verkörperung von Vergegenwärtigungen im sinnlichleiblichen Handeln der Vernunft ist ohne bewegende Kraft. b) Die einzelne Kulturhandlung der Vernunft als Verkörperung einer Vergegenwärtigung in einem einzelnen, sinnlich wahrnehmbaren Kulturwerk und anderseits Kulturhandlungen der Vernunft in finalen Motivationszusammenhängen Oben in § 35 habe ich zwischen sinnlicher (materieller) und geistiger Kultur unterschieden: Während in der sinnlichen Kultur die Vernunft ein sinnliches Mittel für eine Tätigkeit hervorbringt, die von dieser hervorbringenden Tätigkeit verschiedenen ist, verwirklicht sich die Vernunfttätigkeit in ihrem geistigen Werk selbst, das aber auch einen sinnlichen Aspekt hat, d. h. als etwas Gegenwärtiges sinnlich wahrnehmbar ist. Diese durchaus gültige Unterscheidung beruht aber auf einer isolierenden Betrachtungsweise. Sie ergibt sich aus dem beschränkten Gesichtspunkt, von dem aus eine Vernunfthandlung nur von einem einzelnen, abgrenzbaren, wenn auch in sich genommen selbstständigen Werk oder Gebilde der Vernunft her in den Blick genommen wird: in der materiellen Kultur als Herstellung eines Werkzeuges, als Zubereitung einer Speise usw., in der geistigen Kultur als Schöpfung eines Bildwerkes, als Aussage eines Satzes oder Satzzusammenhanges usw. Aber solche einzelnen Handlungen stehen immer in finalen oder Motivationszusammenhängen: Sprachliche Aussagen (geistige Kultur) können gemacht werden, um sein nacktes physisches Leben zu retten oder um Geld zu verdienen oder um eine Arbeitsstelle zu erhalten oder um für einen anderen Menschen einzustehen oder um ihm etwas mitzuteilen. Ein Werkzeug (materielle Kultur) kann hergestellt werden, um damit ein Kunstwerk zu schaffen oder in Form einer Waffe feindliches Leben zu vernichten. Oder eine Speise kann als vitale Stärkung für eine geistige wissenschaftliche Tätigkeit oder für einen kriminellen Raubzug zubereitet werden. Die wissenschaftliche Tätigkeit kann wiederum im Dienste der Lebensmittelerzeugung oder eines Raubzuges im Dienste der Aneignung von Geld stehen. Die Betrachtung der sinnlichen (materiellen) und geistigen Kulturwerke schaffenden Vernunfttätigkeit in solchen finalen oder Motivationszusammenhängen eröffnet gegenüber der Einzelbetrachtung ganz andere «Perspektiven»: In der Einzelbetrachtung eines geistigen Kulturwerkes verwirklicht die Vernunft nur sich selbst; in der Betrachtung des finalen oder Motivationszusammenhanges, in dem es in faktischen Umständen steht, kann es im Dienste des sinnlich-leiblichen Lebens stehen, während eine in sich bloss sinnlich-leibliche Tätigkeit, z. B. Essen, letztlich um der Selbstverwirklichung der Vernunft willen geschehen kann.
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Dieser gegenüber § 35 neue Gesichtspunkt ist nicht nur der umfassendere, indem in ihm nicht nur einzelne, durch ein einzelnes Kulturwerk bestimmte Handlungseinheiten, sondern zielgerichtete Handlungsketten zur Geltung kommen, sondern auch der allein konkrete. Denn die finale Absicht oder Motivation liegt ja meistens schon in der einzelnen konkreten Kulturhandlung, obschon sie durch diese Handlung als solche nicht bestimmt ist, da sie in verschiedenen Endabsichten ausgeführt werden kann. c) Die habituelle finale (auf ein Ziel gerichtete) Ausrichtung des vernünftigen Tuns als Kultur Die Begriffe der in der Vernunfthandlung liegenden willentlichen Absicht oder des subjektiven willentlichen Wofür oder des bewussten Motivs oder des beabsichtigten Zwecks oder des vorgenommenen Ziels der Handlung, Begriffe, die im jetzigen Zusammenhang alle ungefähr dasselbe bedeuten sollen, gilt es jetzt im Hinblick auf die ethische Kultur der Vernunft zu verdeutlichen. Mit der in der Vernunfthandlung liegenden Absicht ist zunächst bloss eine vergegenwärtigende Vorstellung von etwas, evtl. noch ein damit verbundener Wunsch von etwas vollzogen. Zur wirklichen Absicht wird diese Vorstellung durch eine Willensentscheidung und den dauernden Handlungswillen, diese Entscheidung im Verlauf des Handelns nach Möglichkeit durchzusetzen. Dabei verliert meistens die vergegenwärtigende Zielvorstellung dieser Handlung an Anschaulichkeit, indem sie durch das in der jeweiligen anschaulichen Handlungssituation gerade zu Tuende verdeckt wird. Aber dieses Ziel ist im Handeln in dem auf es ausgerichteten beständigen Handlungswillen doch vergegenwärtigt. Diese Ausrichtung des Handlungswillens ist kein einzelner Bewusstseinsakt, auch keine Serie solcher Akte, sondern ein bleibender Habitus. Dieser Habitus ist die bleibende Haltung oder bleibende Gesinnung, in der ich jeweils handle. Diese feste Haltung oder habituelle Gesinnung als Festlegung des Willens auf ein Ziel oder bewusstes Motiv hin ist Kultur, d. h., Institution (Verkörperung) des vergegenwärtigenden Verstandes als wollende Vernunft in der jeweils gegenwärtigen leiblichen Sinnlichkeit. Wie das Tunwollen und das vernünftige Tun nicht bloss vergegenwärtigende Verstandesakte, sondern sinnlich-leibliches vernünftiges Tunwollen und Tun sind, die ihren Sinn aus dem vergegenwärtigenden Verstand schöpfen, so ist auch die dieses Tun und Tunwollen tragende habituelle Haltung eine vergegenwärtigende Verstandesfunktion ausübende Haltung des sinnlich-leiblichen Vernunftsubjekts. Als durch die jeweiligen verschiedenen sinnlich wahrnehmbaren gegenwärtigen Situationen hindurch bleibende Ausrichtung des Handelns verwirklicht sie in dem aus ihr hervorgehenden Handeln im jeweils sinnlich Gegenwärtigen ein vom Verstand vergegenwärtigtes Ziel. Diese Haltung ist eine Institution (Verkörperung) einer Vergegenwärtigung im sinn-
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lich-leiblich tätigen Vernunftsubjekt, wodurch diese Vergegenwärtigung eine bleibende Wirksamkeit in der jeweiligen sinnlichen Gegenwart besitzt. Diese Haltung oder Gesinnung ist Gewohnheit, aber nicht blosse, nur auf der Vergangenheit des tätigen Subjekts beruhende Gewohnheit ohne Vergegenwärtigung, sondern eine von einem vergegenwärtigend vorausgenommenen Ziel oder Handlungsmotiv geleitete Gewohnheit, eine, wie Aristoteles sagte, «auf Wählen von etwas, auf Vorziehen von etwas» beruhende Gewohnheit (ἕξις προαιρετική, hexis proairetike).147 Diese relativ bleibende Ausrichtung des wollenden Vernunftsubjekts darf wohl ethische Kultur genannt werden. d) Das eigene Gewissen als Vernunftwissen um die ethische Qualität der eigenen Handlungsintentionen Die relativ bleibende Ausrichtung des wollenden Vernunftsubjekts als ethische Kultur hängt in erster Linie vom eigenen Gewissen als ursprünglichem Vernunftwissen um die ethische Qualität der eigenen Handlungsintentionen ab. Ein Mensch, der gemäss seinem Gewissen handelt, d. h. die Handlungsintentionen, von denen er sich bewusst ist, dass sie ethisch schlecht sind, in seinem Handeln nicht verwirklicht, und von denen er sich bewusst ist, dass sie ethisch gut sind, in seinem Handeln verwirklicht, wird durch Wiederholen solchen Handelns allmählich durch Gewohnheit eine feste Haltung ethisch guten Handelns, d. h. Tugend, gewinnen und sich dem wichtigsten Ziel menschlichen Lebens nähern, das darin besteht, ein ethisch gut handelnder Mensch zu werden.148 Diese feste Haltung ethisch guten Handelns macht die ethische Seite der Person oder ihre ethische Persönlichkeit aus (zum Begriff der Person siehe unten § 45 («Persönlichkeit und Person»). e) Unterscheidung zwischen fremdbestimmter (heteronomer) und selbstbestimmter (autonomer) ethischer Vernunftkultur Nicht jedes vernünftige Handeln entspringt einer vernünftigen Haltung als einer festen Verkörperung des vergegenwärtigenden Verstandes in der leiblichen Sinn147 Nikomachische Ethik, Buch II, 1106b 36–1107a 2, wobei die «Wahl» (Bevorzugung: προαίρεσις, proairesis) dasselbe wie «strebende Vernunft» (ορεκτικός νους, orektikos nus) oder «überlegendes Streben» (ὄρεξις διανοετκή, orexis dianoetike) ist (Buch VI, 1139b); die «Ursache» (αρχή, arche) der προαίρεσις ist «Streben und die Finalursache» (ὄρεξις καὶ λόγος ὁ ἕνεκά τινος, orexis kai logos ho heneka tinos) (Buch VI, 1139a). 148 Für genaue Ausführungen zum Begriff des Gewissens siehe Iso Kern, Der gute Weg des Handelns. Versuch einer Ethik für die heutige Zeit, Schwabe Verlag, Basel und Berlin, 2020, S. 191–216.
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lichkeit. Es gibt vernünftiges Tun, z. B. ein ungerechtes zorniges Reden (ein Hinwerfen von Worten als Erzeugnissen der Vernunft in ungerechtem Zorn), das sozusagen «von hinten» von blossen Leidenschaften, Erregungen, blossen Affekten getrieben wird. Solches Handeln ist haltlos, nicht getragen von einer vom Gewissen geleiteten, habituellen vernünftigen Ausrichtung auf ein vorgenommenes, vergegenwärtigtes geliebtes Ziel hin. An diesem Gegensatz wird deutlicher, was mit ethischer Kultur gemeint ist. Aufgrund des soeben Angetönten ist hinsichtlich der ethischen Kultur eine grundsätzliche Unterscheidung zu treffen, die eine gewisse Analogie zu der oben in § 35 vollzogenen Unterscheidung zwischen sinnlicher und geistiger Kultur aufweist. Durch die nun zu treffende Unterscheidung wird sich zugleich der Begriff des Ziels, des Wofür des Handelns klären, den ich den Ausführungen im obigen Abschnitt c) des jetzigen § 44 gebraucht habe. Die relativ feste ethische Haltung, Ausrichtung oder Kultur des Handelnden ist eine Leistung der Vernunft. Diese vernünftige ethische Ausrichtung kann nun aber vernünftige Ausrichtung auf die Sinnlichkeit und in diesem Sinn fremdbestimmt (heteronom) oder aber vernünftige Ausrichtung auf sich selbst, auf die Vernunft und in diesem Sinn selbstbestimmt (autonom) sein. Eine vernünftige ethische Haltung kann ausgerichtet sein auf ein Handeln, das «von hinten» oder «von unten» von blossen Leidenschaften, Erregungen, blossen Affekten, sinnlichen Bedürfnissen, Machtstreben, sinnlicher Lust getrieben wird, auf deren Grundlage sie auch vernünftig entstand. Die Handlungen, die einer solchen Haltung entspringen, geschehen nicht unmittelbar aus Leidenschaften oder aus sinnlichen Trieben, sonst wären sie ohne feste ethische Haltung, sondern sie entstehen auch durch die aufgrund des vergegenwärtigenden Verstandes kultivierende Vernunft, aber durch einen Verstand und eine Vernunft, die sich jenen Leidenschaften und Trieben unterworfen haben und ihnen nun dienen. Sie entstammen in diesem Sinn einer festen Ausrichtung des Verstandes und der Vernunft auf die eigene Sinnlichkeit. Sie sind von der Vernunft beherrschte Handlungen die letztlich nur im Dienste der eigenen sinnlichen Leidenschaften und Triebe stehen. Z. B., ein Diktator, dem es nur um die Erhaltung und Vermehrung der eigenen Macht geht, handelt oft sehr vernünftig, klug auf sein vergegenwärtigtes Ziel hin, zu dem er aber letztlich «von hinten» oder «von unten» durch seine Machtgelüste getrieben wird. Die ethische Haltung, in der die vergegenwärtigende Ausrichtung auf die eigenen sinnlichen Leidenschaften und Triebe verkörpert ist, ist egoistisch, sie ist bloss auf die eigene Macht, das eigene Wohlergehen, die eigene Lust gerichtet, trotz aller vernünftigen Berechnung. Allerdings kann dieses Eigene nicht nur das bloss individuell Eigene, sondern auch das Eigene der eigenen Familie oder einer sonstigen eigenen, aufeinander eingeschworenen Gruppe sein, z. B. einer Räuberbande.
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f) Ethische Kultur als feste, durch das eigene Gewissen geleitete Ausrichtung auf die durch Einfühlung vergegenwärtigte Sinnlichkeit von anderen. Der Tyrannenmord Ethische Kultur kann allerdings auch auf das sinnlich-leibliche Wohlergehen, d. h. die Erfüllung der notwendigen Lebensbedürfnisse von anderen Menschen und auch von Tieren ausgerichtet sein. Dabei ist sie aber nicht von hinten oder unten durch die eigenen Triebe und Gelüste getrieben, sondern durch das nur dem Menschen eigene Gewissen, das nur dem Menschen eigene Mitgefühl und auch durch das nur dem Menschen eigene Verstehen der sinnlich-leiblichen Situation eines oder mehrerer anderer Menschen oder auch von Tieren. Wenn ein Mensch in seinem Verstehen sich vergegenwärtigend z. B. in die Situation von hungernden Kindern oder von verletzten Erwachsenen oder von Familien auf der gefährlichen und angsterfüllten Flucht im Krieg versetzt, für sie fühlt und ihnen nach seiner Möglichkeit und von seinem Gewissen geleitet, so gut er kann hilft und immer wieder in dieser Weise handelt, wird er zu einem hilfsbereiten gütigen und nicht egoistisch handelnden Menschen; d. h. er wird zu einem Menschen ethisch hilfsbereiter Kultur. Aber er wird nicht einem Diktatoren oder Tyrannen hilfsbereit sein, der nur von seinen Machttrieben getrieben ist und seine Mitmenschen bloss als Mittel zur Erfüllung dieser Triebe benützt. Er wird sich vielmehr ernstlich in seinem Gewissen fragen, ob er nicht das Wohlergehen von vielen seiner Mitmenschen schützt, wenn er diesen Diktator oder Tyrannen umbringt (Tyrannenmord), und es eventuell auch zu tun versuchen. Dies hat ein katholischer Priesterkandidat versucht. Er war der älteste Sohn von fünf Geschwistern aus einer Familie, die ursprünglich aus dem von vielen Katholiken bewohnten Dorf Bottens stammte, ungefähr zwanzig Kilometer südlich des Neuenburger Sees im Bezirk Echallens im protestantischen Kanton Vaud (Waadt), nun aber im protestantischen Kanton Neuchâtel (Neuenburg) wohnte. Er versuchte es am 9. November 1938 gegen den auf Macht versessenen Adolf Hitler und hiess Maurice Bavaud (1916–1941). Dies geschah anderthalb Monate nach der Münchner Konferenz vom 29./30. September 1938. In dieser Konferenz stimmten der französische Aussenminister Edouard Daladier und der englische Premierminister Arthur Neville Chamberlain der Eingliederung des zur Tschechoslowakei gehörigen Sudetenlandes in Hitler-Deutschland zu. Eine solche Politik wird Beschwichtigungs-(appeasement)-Politik genannt. Chamberlain glaubte mit dem Münchner Abkommen, wie er sagte, «den Frieden für unsere Zeit» gesichert zu haben. Bavaud konnte nicht auf Hitler schiessen, weil die vor ihm stehenden Leute ihre Arme zum Hitlerguss gestreckt hochhoben, als Hitler vorbeimarschierte, und ihm dadurch die Sicht versperrten. Doch wurde er von der Gestapo festgenommen. Maurice Bavaud büsste seine durch Vergegenwärtigung des Kommenden hellsichtige und mutige Vernunfthandlung mit seinem Leben.
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Er wurde nach mehr als einjähriger grausamer Gefangenschaft enthauptet. Im Geheimprozess vor dem deutschen Volksgerichtshof am 18. Dezember 1939 gab er als Motiv seines Mordversuchs an, Hitler sei eine Gefahr für die Menschheit, für die Unabhängigkeit der Schweiz und für den deutschen Katholizismus. Er war einer der Ersten, die einen solchen Anschlag auf Hitler versuchten. Die damalige Schweizer Regierung wagte nicht, sich für ihn als Schweizerbürger einzusetzen und seine Auslieferung in die Schweiz zur Anklage wegen Mordversuches vor einem Schweizer Gericht zu verlangen. Sie erklärte diesen Versuch als Versuch eines Irren. Alle Attentate auf Hitler misslangen. Er hat sich schliesslich in einem Bunker in Berlin zusammen mit seiner Geliebten feige selbst umgebracht. Denn so konnte er sich einem Gerichtsprozess wegen Völkermordes an den Juden, wegen Mordes an politischen Gegnern, wegen Misshandlung und Mordes von Homosexuellen, Angriffskriegen usw. entziehen. Wäre zuvor einer der Anschläge gelungen, hätte dies mit grösster Wahrscheinlichkeit unendlich viel Leid und den Tod von Millionen von Menschen verhindert. Doch ein einzelner Tyrannenmord ist noch nicht ethische Kultur, aber er kann geschehen aufgrund ethischer Vernunftkultur zusammen mit der Kraft aus dem Mitfühlen für Mitmenschen.
§ 45 Persönlichkeit und Person a) Einleitung über subjektive Kultur Im jetzigen 3. Kapitel «Die Gestaltung der Sinnlichkeit durch den Verstand: die Vernunft im vollen Sinne (die Kultur)» von Teil I, das der Vernunft oder der sinnlichen Wirklichkeit (Wirksamkeit) des Verstandes gewidmet ist, habe ich bislang einerseits die verschiedenen Arten von Kulturobjekten in ihrer Beziehung auf die sie hervorbringenden und gebrauchenden Vernunfttätigkeiten, andererseits aber auch, von einem anderen Gesichtspunkt aus, die sinnliche Wirklichkeit der Vernunft im sinnlich tätigen Vernunftsubjekt selbst als dessen finale Haltung oder Gesinnung zu erörtern versucht. Die ethische Kultur betrifft nicht bloss das Verhältnis zwischen der Vernunfttätigkeit und ihrem gegenständlichen Gebilde als «objektivem Geist». Sondern sie ist auch Kultivierung des Subjekts selbst, sie ist subjektive Kultur. Sie ist Vergeistigung oder «Prägung» des sinnlichen Subjekts durch das Verstandes-Ich durch dessen eigene Institution oder Verkörperung in der Sinnlichkeit. Sie ist auch «subjektiver Geist». Die in § 44 erörterte ethische Kultur ist nicht die einzige Art der subjektiven Kultur. Zu dieser ist vielmehr das ganze habituelle Verhältnis des Vernunftsubjekts zur Wirklichkeit zu rechnen, zu seiner gegenständlichen Wirklichkeit und im Selbstverhältnis zur eigenen Wirklichkeit, insofern es sich um durch Vernunft eröffnete und in verschiedene Modalitäten gesetzte Wirklichkeit handelt.
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Schon das sinnlich-leibliche Subjekt hat seine Wirklichkeit, d. h. seine feste Umwelt, sozusagen als sein notwendiges «Gegenstück», auf das es in seinem Tun aufgrund seiner instinktiven Ausrichtung und aufgrund seiner Erfahrung habituell eingespielt ist. Dieser durch die durch die Instinktstruktur geprägte und durch die sinnlich wahrnehmende Erfahrung des sinnlichen Subjekts erworbene Spielraum mit seinen in ihm befindlichen abgehobenen Sinneseinheiten ist in seiner attraktiven Gliederung und seinem attraktiven Relief (einiges ist in einer bestimmten Zeitphase attraktiver als anderes) relativ zu der in verschiedenem Verhalten zur Auswirkung gekommenen subjektiven Struktur der sinnlichen Begierden und Triebe. Der habituelle Spielraum des Verhaltens des sinnlichen Subjekts ist in seiner ganzen Genesis immer nur sinnliche Gegenwart. Er ist nicht eine durch Vernunft gewordene, kulturelle und geschichtliche Welt mit ihrer Vergangenheit von ehemaligen Gegenwarten, mit einer offenen Zukunft von noch nicht gegenwärtig gewordenen Gegenwarten und einem Mitvorhandensein der fremden, vergegenwärtigten Gegenwarten von Mitsubjekten. Zur Konstitution einer solchen Welt bedarf es der Verstandes- und der Vernunftakte. Ihre Wirklichkeit wird aber erst zu einem habituellen Besitz, wenn diese Akte sich in einem Habitus niedergeschlagen haben, wenn sie zu «Fleisch und Blut» geworden sind, d. h. wenn die Vernunft die sie fundierende, sinnlichleibliche Disposition habituell auf ihre verschiedenen vergegenwärtigten abwesenden Wirklichkeiten eingestellt hat. Diese habituelle Einstellung der Vernunft auf ihre Wirklichkeiten ist keine einzelne Vernunfttätigkeit mehr, sondern subjektiver Boden einzelner Verstandes- oder Vernunfttätigkeiten. Das habituelle Wirklichkeitsverhältnis der Vernunft als subjektive Kultur ist sehr komplexer Art. Weder meine Fähigkeit noch das Ziel dieser Studie über die Frage nach der Vernunft erlauben es, hier eine vollständige systematische Analyse dieses Wirklichkeitsverhältnisses durchzuführen. Ich möchte nur neben der ethischen Vernunfthaltung noch weitere Beispiele dieses Wirklichkeitsverhältnisses vorlegen, um die hier vertretene Idee der subjektiven Kultur zu verdeutlichen. Letztlich geht es mir hier darum, mich der Fruchtbarkeit des hier entworfenen Vernunftbegriffs zu vergewissern. b) Die Vernunftinteressen Zur habituellen Wirklichkeitseinstellung gehören die Interessen der Vernunft, z. B. das Interesse für Mathematik, das Interesse für die bildenden Künste, für Musik, das Interesse für Technik, das Interesse für die lebendige Natur, für Astronomie, Interesse für diesen oder jenen Sport usw., Interessen, die von selbst zu Erkenntnissen und Fähigkeiten in diesen Gebieten führen, die das Interesse dafür wiederum wachsen lassen. Das menschliche Vernunftsubjekt kann sich für viele Gebiete interessieren, aber es kann sich nicht für alles interessieren; die Zahl sei-
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ner Interessen ist notwendig beschränkt. Wie das jeweils gegenwärtige sinnliche Umfeld ein Relief des «Gewichts» in Relation zu den artspezifischen Trieben und Bedürfnissen aufweist, so hat auch die Welt der Vernunft ihr Relevanzrelief. Doch während das Gewichtsrelief des sinnlichen jeweils gegenwärtigen Umfeldes mit dem Altern des sinnlichen Subjektes langsam verflacht, wächst das Relevanzrelief der Welt des Vernunftsubjekts durch das gegenseitige sich Fördern von Interesse und Erkenntnis in einem oder in mehreren Gebieten beständig an und findet seine Grenzen erst durch Krankheit, Altersschwäche, Altersmüdigkeit und Tod. Der Verstand identifiziert im sich Erinnern, Wiedererkennen, Voraussehen Interessengegenstände verschiedener Gebiete, die aber nur flüchtig Vorgestelltes sind, wenn er sich nicht als Vernunft habituell, in beständig wachsenden tätigen Interessen an den Gegenständen der betreffenden Gebiete kontinuierlich im sinnlich-leiblichen Handeln verkörpert oder instituiert. Den Begriff des Interesses verwende ich hier in einem prägnanten Sinn für das menschliche Vernunftsubjekt, also nicht für ein bloss sinnliches Subjekt. Bei ihm möchte ich nur von Tendenzen und aus Bedürfnissen erwachsenden Begierden sprechen. Zu diesem gehört auch die Neugierde, die aber bei Tieren nur in der Jugendzeit vorhanden ist und aufhört, wenn sie einmal mit ihrer spezifischen Umwelt vertraut sind.149 Die Interessen eines vernünftigen Menschen sind für das geistige Niveau seines Handelns entscheidender als seine sog. Intelligenz. Mein engster Freund in den zwei oberen Jahren im Progymnasium, in denen wir Zwölf- bis Vierzehnjährigen als neue Sprache Latein lernten, war der Intelligenteste der Klasse und er war auch sehr liebenswürdig, keineswegs eingebildet. Er interessierte sich aber nur für Fussball. Als wir uns nach dem Progymnasium entscheiden mussten, als weitere zu lernende Sprache entweder Englisch oder Altgriechisch zu wählen, wählte er Englisch. Ich versuchte ihn erfolglos zu überzeugen, so wie ich Altgriechisch zu wählen. Er antwortete mir, dass schon das Latein für ihn zu viel gewesen sei, er habe es nur gewählt, weil sein Vater ihn dazu gedrängt habe. Daraufhin sagte ich meinem Vater, dass mein bester Freund nicht Altgriechisch, sondern Englisch lernen wolle und ich daher auch diese Sprache wählen möchte, um mit Diese Bestimmung des Terminus «Interesse» ist enger als im gewöhnlichen Wortgebrauch, in dem man auch bei Tieren von Interessen spricht. Aber sie ist in der Philosophie nicht aussergewöhnlich. Nach Kant hat weder ein bloss sinnliches Wesen noch ein unsinnliches Vernunftwesen «Interessen»: «Die Abhängigkeit des Begehrungsvermögens von Empfindungen heisst Neigung, und diese beweist also jederzeit ein Bedürfnis. Die Abhängigkeit eines zufällig bestimmbaren Willens aber von Prinzipien der Vernunft heisst ein Interesse. Dieses findet also nur bei einem abhängigen Willen statt, der nicht von selbst jederzeit der Vernunft gemäss ist; beim göttlichen Willen kann man sich kein Interesse gedenken.» (Grundlegung der Metaphysik der Sitten (1785), Akad. Ausgabe Bd. IV, S. 413 Anm.). «Interesse ist das, wodurch Vernunft praktisch, d. h. eine den Willen bestimmende Ursache wird. Daher sagt man nur von einem vernünftigen Wesen, dass es, woran ein Interesse nehme, vernunftlose Geschöpfe fühlen nur sinnliche Antriebe.» A.a.O., S. 459, Anm.).
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ihm zusammen in einer Klasse bleiben zu können. Da sagte mein weiser Vater zu mir: «Englisch Lernen kannst du immer noch, aber wenn du jetzt nicht Altgriechisch wählst, wirst du dieses in deinem Leben nicht mehr lernen.» Ich musste ihm Recht geben und wählte Altgriechisch und war ihm für seinen Rat immer dankbar. Ich verlor aber nachher jeden Kontakt mit jenem lieben Freund. Aber ich hörte, dass er Wirtschaftswissenschaften studiert hatte und Direktor der Filiale einer Versicherung in der Stadt Bern geworden war. Er hatte einen Beruf gefunden, der seiner Intelligenz entsprach. Vor acht Jahren, als jener ehemalige Freund und ich sechsundsiebzigjährig geworden waren, fand ich seine Telefonnummer und rief ihn an mit der Frage, ob wir uns einmal treffen könnten. Er fragte mich, warum. Ich sagte, dass wir uns ja einmal gerne gehabt hätten. Er bejahte dies. Wir verabredeten uns für die Mittagszeit in einem kleinen angenehmen Restaurant in Bern. Ich war früher dort als er; als er hereinkam, erkannten wir uns nicht. Da ich aber allein an einem Tisch sass, fragte er mich, ob ich Iso Kern sei. Ich bejahte es und wusste damit auch, dass er jener Freund war. Ich dachte, dass wir miteinander Mittag essen würden, aber er wollte mit mir nur einen Aperitif nehmen. Ich erzählte ihm einiges, was ich in meinem Leben machte, was ihn aber nicht interessierte. Ich wollte ihm einige kleine philosophische Artikel von mir schenken; aber er interessierte sich nicht dafür. Das Einzige, was er von mir annahm, war eine Nummer der Zeitschrift Information Philosophie (Juni 2013), in der mein Freund und Kollege, Eduard Marbach, unter der Rubrik «Porträt» einen achtseitigen Artikel mit dem Titel «Iso Kern – ein Vermittler zwischen den Kulturen» geschrieben hatte. Er interessierte sich also dafür, was ich in meinem Leben getan hatte. Dies zeigte mir, dass er sich doch noch für mich interessierte, was mich sehr freute. Ich versuchte, mit ihm über Kunst und Musik zu sprechen, er interessierte sich nicht dafür. Ich versuchte, ihm von meinen Studien in China zu erzählen, er interessierte sich nicht dafür. Als ich ihn fragte, was er in seinem Leben getan habe, erzählte er mir, dass er bald nach der Matura heiratete und arbeiten musste, aber sah, dass er ohne Diplom an der Wand zu keiner für ihn und seine Familie finanziell ausreichenden Stelle kam, und deshalb Wirtschaft zu studieren begann. Ich fragte ihn, ob er immer noch Fussball spielte. Er verneinte dies, aber sagte, dass er sich im Fernsehen so viel wie möglich davon ansähe. Wir fanden keine gemeinsamen Interessen, und ich wusste bald nicht mehr, worüber ich mit ihm sprechen konnte und vice versa. So war ich froh, dass ich mit ihm nicht Mittagessen musste und wir uns etwa nach einer halben Stunde freundlich voneinander verabschieden konnten. Seither haben wir uns nicht mehr gesehen. Ich wüsste auch nicht warum, denn wir können uns ja nicht einfach anschauen. Ein anderer Klassenkamerad aus dem Progymnasium erzählte mir, dass er einmal bei einer zufälligen Begegnung im ersten Satz von ihm gefragt wurde, ob er immer noch Fan des Berner Fussballclubs YB (Youngboys) sei: Da habe es ihm «ausgehängt». Ich schreibe dies, um zu zeigen, dass das, was das Handeln eines vernünftigen Menschen bestimmt, weit mehr
3. Kapitel. Die Gestaltung der Sinnlichkeit durch den Verstand
seine Interessen als seine Intelligenz sind und dass wir Menschen aufgrund hoher geistiger Interessen intelligenter handeln als aufgrund hoher Intelligenz (eines hohen Intelligenzquotienten). So scheint man sagen zu dürfen, dass ein Mensch als Vernunftperson das ist, wofür er sich mit Beständigkeit interessiert. Aber das ist vor allem so für andere Menschen. Denn mit einem Menschen, mit dem man keine gemeinsamen Interessen teilt, kann man nicht längere Zeit zusammen sein, man kann mit ihm nicht zusammen sprechen, nichts zusammen unternehmen, nirgendwohin zusammen gehen, nicht zusammen handeln. c) Die Bildung Die Welt der Vernunft ist nicht nur die Welt des in bleibenden habituellen Interessen für gewisse Dinge verkörperten, bloss vergegenwärtigenden Verstandes, sondern unter diesen Dingen gibt es auch verschiedenartige, vom Menschen geschaffene Kulturgegenstände. Diese Kulturgegenstände, z. B. Werkzeuge, Sprachen, empirische wissenschaftliche Theorien, Kunstwerke, soziale Institutionen usw. haben für den Menschen nur Sinn aufgrund seiner Vermögen des Werkzeuggebrauchs, des Sprechens, des Verstehens und Überprüfens der Theorien in Experimenten, des Anschauens oder Hörens, Interpretierens und Geniessens der Kunstwerke, und des sich Auskennens und sich Bewegens in sozialen Institutionen. Diese Vernunftvermögen als Institutionen (Verkörperungen) des vergegenwärtigenden Verstandes in sinnlich-leiblichen Vermögen des Menschen möchte ich als seine Bildung bezeichnen. Die Bildung des Menschen als eine weitere Art seiner subjektiven Kultur ist ein anderer Faktor seines Wirklichkeitsverhältnisses, der mit seiner ethischen Haltung oder ethischen Ausrichtung und mit seinen Interessen zusammenwirkt. d) Feste Überzeugungen Eine andere Art der subjektiven Kultur des Menschen machen seine relativ stabilen weltanschaulichen, religiösen, politischen, wirtschaftlichen Überzeugungen aus. Ein Mensch kann diese zwar ändern, aber wenn er sie zu oft ändert, verliert er selbst den Halt in seiner Wirklichkeit und kann von anderen als Wetterfahne oder wie der sich verändernde Mond betrachtet werden (die Italiener sagen: è come la luna). Wenn er sie aber unter keinen Umständen zu ändern vermag, auch dann nicht, wenn offensichtliche Gründe gegen sie sprechen und er um sie weiss, dann ist er starrköpfig und belastet sich selbst mit Vorurteilen. Während die Bildung ein savoir faire ist, das nicht notwendig in assertorischen Urteilen wurzelt, machen die «in Fleisch und Blut» übergegangenen Überzeugungen das Weltbild eines Menschen aus.
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Teil I. Was ist Vernunft im Gegensatz zur Sinnlichkeit?
e) Willentliche Festlegung des eigenen Tuns auf vorgenommene Aufgaben Eine solche Aufgabe kann der eigene Beruf sein, z. B. der Beruf als Landarzt oder eine übernommene karitative Aufgabe oder eine Aufgabe im Naturschutz oder als Sponsor eines Sportvereins. Solche Aufgaben in deren Dienst man sich aufgrund von vergegenwärtigenden Vorstellungen stellt, verlangen eine Treue zu ihnen. Es handelt sich dabei um relativ bleibende praktische Ausrichtungen wie bei der ethischen Kultur, die aber nicht deren innere Notwendigkeit besitzen und so auch nicht notwendig bestimmt sind, sondern mit den eignen individuellen Talenten oder Veranlagungen, aber auch den individuellen Interessen und äusseren Umständen zusammenhängen. Diese relativ bleibenden Bindungen, die in relativ festen sinnlich-leiblichen Strebens- und Handlungsweisen verkörpert sind und von diesen her auch einen affektiven Charakter haben, bilden ein weiteres konstitutives Moment der vernünftigen subjektiven Einstellung des Menschen zu seiner Wirklichkeit. Alle diese aufgezählten Momente sind untereinander eng verflochten. f) Der Mensch als Person Die subjektive Kultur (der subjektive Geist) ist geistige Habitualität, die nur in sinnlich-leiblicher Verwirklichung besteht. Sie macht die Persönlichkeit des Menschen aus. Der bloss sinnlich-leibliche Charakter, das vitale Temperament, z. B. Jähzorn, Ängstlichkeit oder Draufgängertum, ist also noch nicht die Person, sondern nur ihr «Stoff». Er gehört erst durch Vergeistigung zur menschlichen Person. Als Person möchte ich also nicht das bloss vergegenwärtigende Verstandessubjekt, sondern das in seiner Sinnlichkeit verwirklichte Vernunftsubjekt bezeichnen. Wie der eigene subjektive Leib die Position eines Menschen in seinem sinnlich wahrgenommen Umfeld ausmacht, so macht seine Persönlichkeit seine Position in der geistigen Welt aus. Während man nicht von einer Veränderung des bloss vergegenwärtigenden und reflektierenden Verstandessubjekts sprechen kann, verändert sich sehr wohl der Mensch als Person. Als Person ist der Mensch kein Natur- sondern ein Kulturprodukt und in diesem Sinn nichts Natürliches, sondern etwas Künstliches, ein mehr oder weniger schwaches oder starkes subjektives Gebilde, das sein Werden, sein sich Verändern, seine Geschichte, sein Gelingen, aber auch sein Verfallen und sein Misslingen hat. Da das sinnlich-leibliche Subjekt nicht nur die Grundlage, sondern auch der Stoff ist, in dem sich die menschliche Person verwirklicht, und da dieser Stoff, in dem sich die menschliche Person verwirklicht, nicht charakterlos und unbestimmt ist, sondern ihre eigene Kraft und Dynamik hat, so ist die Person immer auch von ihrem Leib her beeinflusst und kann sogar
3. Kapitel. Die Gestaltung der Sinnlichkeit durch den Verstand
durch dessen Kraft zerrüttet und durch dessen Schwächen zu Fall gebracht werden. Umgekehrt aber kann der Leib aufgrund der kulturellen Ausrichtungen der Person nicht bloss vergeistigt, sondern auch verdorben werden, wodurch wiederum die Person im Milieu ihrer Verwirklichung in Leidenschaft gezogen wird. Mag aber auch die menschliche Person in ihren habituellen Ausrichtungen, d. h. in ihrer ethischen Ausrichtung, in ihren Interessen, ihrer Bildung, ihren Festlegungen auf Aufgaben usw., auseinandergerissen werden, so bleibt doch ihr blosses Denken, ihr vergegenwärtigender Verstand so lange davon unbehelligt, als er noch über seine sinnlich-leibliche Grundlage und die darin zu verwirklichende eigene Person zu reflektieren vermag. Interessant ist in dieser Hinsicht eine Bemerkung Sigmund Freuds (1856– 1939) in seinem 1938 begonnenen, aber unvollendet gebliebenen Alterswerk Abriss der Psychoanalyse, das der aufgrund seiner Nikotinsucht schwer Krebskranke sich abrang:150 Selbst von [psychischen] Zuständen, die sich von der Wirklichkeit der Aussenwelt so weit entfernt haben wie der einer halluzinatorischen Verworrenheit (Amentia), erfährt man durch die Mitteilung der Kranken nach ihrer Genesung, dass damals in einem Winkel ihrer Seele, wie sie sich ausdrücken, eine normale Person sich verborgen hielt, die den Krankheitsspuk wie ein unbeteiligter Beobachter an sich vorüberziehen liess. Ich weiss nicht, ob man annehmen darf, es sei allgemein so, aber ich kann über andere, weniger stürmisch verlaufende Psychosen Ähnliches berichten.151
Den «unbeteiligten Beobachter, der den Krankheitsspuk an sich vorüberziehen liess», versuche ich als das blosse vergegenwärtigende und reflektierende Verstandessubjekt des Kranken zu verstehen, aufgrund dessen dieser nach der Genesung aus sich selbst weiss, dass seine Persönlichkeit in «halluzinatorischer Verworrenheit» war. Während das Verstandessubjekt (das Ich) als solches eins ist, ist die Einheit der Persönlichkeit eine von der Vernunftperson selbst zu leistende Aufgabe. Diese Aufgabe betrifft nicht nur die Einheit der ethischen Haltung und Ausrichtung, sondern auch die Vereinbarkeit dieser Haltung und der verschiedenen Interessen, Überzeugungen und vorgenommenen praktischen Aufgaben, sowie die Kompatibilität und Einheit der eigenen Vernunftperson mit ihrem sinnlich-leiblichen Subjekt, in dem sie sich beständig verkörpert. Dieses kann sich der Vergeistigung der Vernunft auch widersetzen und tun, was die Vernunftperson nicht will, oder auch nicht tun kann, was diese will. Der innerste, wenn auch nicht alles bestimmende Kern der synchronen und diachronen personalen Einheit ist die 150 Siehe Max Schur, Sigmund Freud. Leben und Sterben, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1973. 151 Sigmund Freud, Abriss der Psychoanalyse (Gesammelte Werke, Bd. XVII), S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1966, S. 132.
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Teil I. Was ist Vernunft im Gegensatz zur Sinnlichkeit?
Einheit oder Selbstübereinstimmung der ethischen Haltung, Ausrichtung oder des ethischen Weges, da dieser der oberste und wichtigste Leitfaden der Vernunftperson ist. Aristoteles schrieb: «[…] der Treffliche ist mit sich selbst einig und strebt mit seiner ganzen Seele nach dem Selben. Und so will er für sich das Gute […] und tut es […], und zwar um seines eigenen Selbst willen, denn er tut es um der Vernunft willen (διανοητικοῦ χάριν, dianoetikou charin), die jeder zu sein scheint. Und er will leben und sich selbst erhalten, und zwar in erster Linie das, wodurch er vernünftig ist (ᾦ φρονεῖ, ho phronei) […].»152 «Die Minderwertigen sind mit sich selbst uneins, Verschiedenes begehren sie [in ihrer Sinnlichkeit], anderes wollen sie [als Vernünftige].»153 Anders ausgedrückt, nur die selbstbestimmte, autonome, nicht aber die fremdbestimmte, heteronome, von sinnlichen Zielen bestimmte ethische Haltung ist zu dieser Einheit befähigt. Denn die blossen Befriedigungen der eigenen sinnlichen Begierden (Begierden nach Macht, nach nicht von der Vernunft gemässigter sexueller Befriedigung, nach Besitz etc.), sofern sie von der unvernünftigen Vernunft zu obersten Leitzielen erhoben werden, scheinen in Konflikt und auseinander zu geraten. Das Werden der Person kann und will ich hier nur in ihren im Wesen der Vernunft enthaltenen Möglichkeiten und nicht in den empirischen Fakten betrachten. Für das faktische Werden der Person ist nicht nur die Person selbst, sondern sind auch ihre sozialen Beziehungen bestimmend. In diesen werden inspirierende ethische Vorbilder erfahren, neue Interessen geweckt, geistige Veranlagungen (Talente) gefördert oder gehemmt, Überzeugungen übernommen; auch wird in den sozialen Beziehungen bloss durch die Erziehung übernommenen Überzeugungen, in blosser Selbstbehauptung der werdenden Person, besonders in der Zeit der Pubertät, widersprochen oder aber später auch widersprochen durch eigene vernünftige Einsicht und Erkenntnis. g) Person und gesellschaftliche Rolle Die Persönlichkeit als die subjektive Position eines Menschen in der geistigen Welt ist nicht zu verwechseln mit der objektiven Position eines Menschen in seiner Kulturgesellschaft. Die objektive soziale Position ist als solche auch keine Komponente der Persönlichkeit im soeben umrissenen Sinn. Die objektive soziale Position wird hauptsächlich durch die Rollen oder gesellschaftlichen Funktionen bestimmt, die in mehr oder weniger kohärenten und mehr oder weniger beständigen sozialen Systemen gespielt werden. Soziale Rollen und sozial etablierte Wechselspiele zwischen solchen Rollen, in der Familie, in der Wirtschaft, in der Politik, in Vereinen, in Bildungsinstitutionen usw., sind objektiv festgesetzte Ge152 153
Nikomachische Ethik, Buch IX, 1166a. Nikomachische Ethik, Buch IX, 1166b.
3. Kapitel. Die Gestaltung der Sinnlichkeit durch den Verstand
bilde der vergesellschafteten Vernunft und gehören nicht zur subjektiven, sondern zur objektiven Kultur. Eine Rolle ist ein konventionelles normatives Modell öffentlich wahrnehmbaren Verhaltens und dessen Leistungen, die eine Gesellschaft vom Rollenträger erwartet und denen Gegenleistungen anderer Rollenträger in diesem Rollenspiel entsprechen. Nicht rollenkonformes Verhalten wird im betreffenden gesellschaftlichen Zusammenhang als Abweichung aufgefasst und formell oder informell negativ sanktioniert. Es ist falsch, wenn ein Mensch als Vernunftperson sich mit seinen gesellschaftlichen Rollen und seine Mitmenschen mit ihren Rollen identifiziert, z. B. wenn eine Person sich mit ihrer Rolle als Bankdirektor und seine ihm als Bankdirektor unterstellten Bankangestellten mit deren Rolle als Angestellten identifiziert. Denn eine Vernunftperson ist etwas anderes und unendlich viel mehr als ein Rollenträger innerhalb eines Rollensystems. So muss ein älterer Bankdirektor mit einem ihm jüngeren Unterstellten auch eine Beziehung als zu einer Person aufbauen, die z. B. in gewissen Bereichen der Bank besser informiert sein oder bessere Ideen haben kann als er. Er muss sie also z. B. auch nach ihrer Meinung fragen und nicht meinen, nur weil er Bankdirektor ist, wisse er schon alles besser als diese ihm unterstellte Person. Aber oft ist es schwer, über die Schatten seiner Rollen zu springen.154 h) Das Verhältnis zwischen Rolle und Person entspricht dem Verhältnis zwischen dem Gewissen aufgrund der Internalisierung gesellschaftlicher Regeln und dem ursprünglich eigenen Gewissen Sehr nahe dem System gesellschaftlicher Rollen ist die gesellschaftliche Moral, die aus traditionellen öffentlichen Vorschriften und Erwartungen der Gesellschaft an ihre einzelnen Mitglieder besteht und die von diesen mehr oder weniger internalisiert (verinnerlicht), d. h. zu eigen gemacht, worden sind. Dieses gesellschaftliche Gewissen ist nicht zu verwechseln mit dem eigenen ursprünglichen Gewissen, das als ein Wissen der subjektiven Vernunft das Handeln des einzelnen Menschen zu leiten und seine habituelle ethische Ausrichtung zu bestimmen hat. Dieses ursprüngliche Gewissen kann verlangen, sich gewissen Regeln der öffentlichen sozialen Moral entgegenzusetzen, z. B. Regeln, die soziale Minderheiten in der Religion, in der Hautfarbe, in der sexuellen Orientierung diskriminieren. Das Verhältnis zwischen Rolle und Person entspricht dem Verhältnis zwischen dem Gewissen aufgrund der Internalisierung gesellschaftlicher Regeln und dem ursprünglich eigenen Gewissen.
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Siehe mein Buch Der gute Weg des Handelns, 2020, S. 368 ff.
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Teil II. Was ist Vernunfterkenntnis?
1. Kapitel. Das tierische Erkennen der artspezifischen Umwelt aufgrund verschiedener artspezifischer Sinne und das menschliche Erkennen der Welt aufgrund der Vernunft
§ 46 Die artspezifische Beschränktheit des bloss sinnlich wahrnehmenden Erkennens und die Unbeschränktheit des vernünftigen Erkennens Wie viele andere Menschen schreibe ich Tieren keinen vergegenwärtigenden Verstand und verschiedene Arten von Vergegenwärtigungen zu (Erinnerungen, Vergegenwärtigung von verschiedenen Möglichkeiten, Vergegenwärtigung der Zukunft, Vergegenwärtigung der Gesichtspunkte und Interessenstandpunkte anderer sinnlich wahrnehmender und vergegenwärtigender Wesen etc.) und keine Institutionen oder Verkörperungen solcher Vergegenwärtigungen im Sinnlichen, was ich Kultur nannte. Doch besteht kein Zweifel, dass Tiere auch wahrnehmen und fühlen, und aufgrund ihrer Wahrnehmungen, ihrer Instinkte und ihrer Gefühle in ihrer Kinder- und Jugendzeit sich ihre Umwelten bilden und aufgrund des Lernens in dieser Erfahrung sich in ihrer artspezifischen Umwelt auskennen. Jede Tierart hat ihre artspezifische Umwelt. Und jedes einzelne Tier hat eine individuelle Variante seiner artspezifischen Umwelt. Da Tiere zu lernen vermögen, müssen sie ein Gedächtnis haben. Für gewisse Dinge haben gewisse Tierarten ein besseres Gedächtnis als wir Menschen. Hunde, zum Beispiel, haben ein ausgezeichnetes Gedächtnis für Wege. In der Natur können wir Menschen uns manchmal den Hunden anvertrauen, wenn wir den Weg nicht kennen. Das habe ich selbst schon gemacht: Sie kennen die Wege besser als wir, wenn sie sie nur einmal durchlaufen haben. Und wenn sie einmal einen Hinweg durchlaufen haben, kennen sie diesen Weg auch wieder als Rückweg, obschon ein Weg, wenn man auf ihm heimkehrend zurückgeht, ganz anders erscheint, als er aussah, als man auf ihm herkam. Tiere haben also ein Gedächtnis, aber keine Erinnerungen; Hunde vergegenwärtigen sich nicht die eigene Vergangenheit, sie erinnern sich nicht an ihre von ihnen zurückgelegten Wege, so wie wir Menschen, wenn wir uns aufgrund unserer in unserem Gedächtnis «gespeicherten» Erfahrung in einer
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Teil II. Was ist Vernunfterkenntnis?
Ortschaft gut auskennen, uns in dieser bewegen, ohne uns an unser erstes Erkunden dieser Ortschaft erinnern zu müssen. Hinsichtlich artspezifischer Umwelt von Tieren sprechen wir bei einzelnen wilden Tieren gewisser Arten, aber auch bei gewissen Haustieren wie Katzen, auch von Revieren, die sie gegen andere Einzeltiere ihrer Art verteidigen. Bei Säugetieren haben Männchen oft grössere Reviere als Weibchen. Wenn sich ein Tier einmal in seiner artspezifischen und individuellen Umwelt auskennt, z. B. ein Rind sich in seinem Stall und auf seinen Weiden, wenn es sich an sie gewöhnt hat, dann hört sein Erkenntnisdrang auf. Junge Tiere sind sehr neugierig: Wenn Kälber oder junge Rinder z. B. ungewohnte Menschen oder ungewohnte Hunde oder andere Tiere sehen, schauen sie hin, gehen sie auf diese zu, um sie genauer wahrzunehmen, oft auch nicht zu nahe, denn sie wissen ja nicht, ob diese Wesen gefährlich sind. Junge Tiere, die sich in ihrer Umwelt noch nicht auskennen, sind neugierig, alte Tiere, die sich aufgrund ihrer Erfahrung in ihr auskennen, nicht. Doch der Mensch ist aufgrund seiner Vernunft sein ganzes Leben lang neugierig, oder zumindest kann er es sein. Aber nicht nur für das, was in seiner «Umwelt» passiert, in seinem Dorf oder Stadtquartier, wo er sich zu Hause fühlt, sondern für das, was auf der ganzen, ihm bekannten und unbekannten Welt passiert, passiert war, passieren wird, möglicherweise passiert, passieren kann, aber hoffentlich nicht passieren wird, auch für das, was nicht passieren kann. Er überlegt sich, was ein Ereignis für ihn, seine Angehörigen, sein Volk und Land, «befreundete», verbündete, kulturell zusammengehörige und fremde oder gar feindliche Völker und Länder bedeutet. Und er überlegt sich immer wieder neu, was er in seiner Situation in dieser Welt tun kann, nicht tun kann, tun soll und nicht tun soll, für sich und andere, beruflich, für seinen Verein und in vielerlei anderer Hinsicht.
§ 47 Die Einfältigkeit des bloss sinnlichen Erkennens und die unbeschränkte Mannigfaltigkeit des vernünftigen Erkennens So wie die begrenzte Umwelt, das begrenzte Revier eines Tieres gegenüber der Welt des Menschen relativ einfach ist, so ist auch das Erkennen dieser Umwelt oder dieses Reviers eines Tieres relativ einfach. Aber die Welt des Menschen ist aufgrund seiner Vernunft nicht einfach grösser und umfasst damit nicht einfach mehr Dinge und Lebewesen als die Umwelt oder das Revier eines Tieres. Vielmehr gibt es in der Welt des Menschen Mannigfaltigkeiten verschiedenster Art: z. B. vergangene, erinnerte selbst erlebte und nicht selbst erlebte, aber irgendwie durch andere vernommene vergangene Ereignisse in vergangenen Welten, Projekte für vergegenwärtigtes Künftiges. Es gibt die mannigfaltige Welt der materiellen Kultur: Wasserkraftwerke, Atomkraftwerke, Solaranlagen, Windkraftwerke, Ölbohrtürme, Fabriken, Autos, Autobahnen, Eisenbahnen, die Zivilluftfahrt mit
1. Kapitel. Das tierische und das menschliche Erkennen der Welt
ihren verschiedenen privaten, staatlichen und halb staatlichen, halbprivaten Luftfahrtgesellschaften, militärische Luftflotten. enorme Waffenarsenale, Kriegshäfen, militärische Stützpunkte, Schiffsflotten. Es gibt die mannigfaltige Welt der Leibeskultur: Sportmannschaften, Sportstadien, Fussball mit seinen Meisterschaften, Handball mit seinen Meisterschaften, Kunstturnen mit seinen Meisterschaften, Velorennen, Autorennen, die ganze Welt des Sports. Es gibt politische und soziale Organisationen verschiedenster Art. Es gibt die mannigfaltige geistige Kultur: Hunderte von verschiedenen Sprachen und Kulturen, verschiedene Lebensstile, Verschiedenheiten in der wissenschaftlichen Forschung, im Philosophieren. Es gibt mathematische Zahlen, geometrische Figuren, verschiedene Mathematiken, die Logarithmen, die Infinitesimal- (Integral- und Differential‐) Rechnung, die Wahrscheinlichkeitsrechnung, die elementare und höhere Algebra, die Topologie, verschiedene Geometrien, Logik, verschiedene Logiken, verschiedene mathematische Logiken, verschiedene und sich vermehrende wissenschaftliche Hypothesen und auch widerlegte, falsifizierte Hypothesen, verschiedene wissenschaftliche Theorien, noch nicht falsifizierte und bereits falsifizierte, verschiedene Religionen und ihre Gemeinschaften, grosse und kleine, Kunstwerke verschiedenster Art und verschiedener Stile, z. B. die Welten der Literatur, der Romane und der Dichtung, der Musik verschiedenster Art oder die Welt des Theaters und des Films. Alle Welten der Vernunft und ihre zugehörigen Dinge aufzulisten, ist unmöglich. Und insofern und in diesem Sinne ist das Erkennen der Vernunftwelt mit ihren vielen Sonderwelten mannigfaltig, «multidimensional», während das bloss sinnliche Erkennen der homogenen Umwelt eines nur sinnlich erfahrenden Wesens einfältig, «eindimensional» ist.
§ 48 Das sinnliche Erkennen erkennt nicht, dass es etwas nicht erkennt; das vernünftige Erkennen erkennt, dass es vieles nicht erkennt, noch nicht erkennt und eventuell gar nicht erkennen kann. Auch nur vernünftiges Erkennen erkennt, dass wir vernünftigen Menschen vieles nicht erkennen können. Um zu erkennen, dass man etwas nicht erkennt, bedarf es der Reflexion und damit der Vergegenwärtigung. Je mehr ein Mensch durch seine Vernunft erkennt, desto mehr erkennt er, dass er nicht erkennt. Wer nichts erkennt, weiss nicht, dass er nichts erkennt; wer erkennt, dass er nichts erkennt, erkennt wenigstens, dass er nichts erkennt; dies hat uns Sokrates gelehrt. Der grösste Gelehrte des
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Teil II. Was ist Vernunfterkenntnis?
Mittelalters, Doktor Faustus, sagte nach Goethes Tragödie, dass wir nichts erkennen können: Habe nun, ach! Philosophie, Juristerei und Medizin, Und leider auch Theologie Durchaus studiert, mit heissem Bemühn. Da steh’ ich nun, ich armer Tor, und bin so klug als wie zuvor! Heisse Magister, heisse Doktor gar, Und ziehe nun schon an die zehn Jahr Herauf, herab und quer und krumm Meine Schüler an der Nase herum – Und sehe, dass wir nichts wissen können! Das will mir schier das Herz verbrennen. (Verse 354–365)
Die Mathematik hat Erkenntnisse, sie kann erkennen, sie hat Wissen. Aber diese Erkenntnisse geben keine Antworten auf die wichtigen Fragen unseres Lebens. Sie dient den modernen mathematischen empirischen Naturwissenschaften, deren Gesetze letztlich auf methodisch etablierten Fakten beruhen. Sie können aber nicht durch Beweise erkennen, dass durch sie nicht Fakten gefunden werden können, die ihren Gesetzen widersprechen und sie dadurch als falsch erweisen (falsifizieren). Also auch sie können gewisse Dinge nicht erkennen, und zwar viele. Sie können nicht erkennen, was vor dem sogenannten «Urknall» war, mit dem die Entstehung des materiellen Kosmos begann, und sie können auch nicht erkennen, was sein wird, wenn unser Kosmos völlig «erkaltet» sein wird, also alle materielle Energie, aus der er besteht, vernichtet sein wird. Die mathematischen Naturwissenschaften, die letztlich auf verschiedenartigen Messungen beruhen, also rein quantitativ sind, können auch nicht erkennen, was nicht quantitativ ist, was nicht gemessen werden kann, also die ganze geistige Kultur des Menschen, die auf Vergegenwärtigungen und Institutionen (Verkörperungen) von Vergegenwärtigungen in der sinnlich erfahrbaren Welt beruht. Sie können auch nicht erkennen, welches Handeln ethisch gut und welches ethisch schlecht ist. Das Wichtigste in unserem Leben als Menschen können sie also nicht erkennen. Sie können auch nicht erkennen, ob es etwas Unsterbliches im Menschen gibt und was dieses Unsterbliche wäre, wenn es denn existierte. Das zuletzt Bezeichnete können wir Menschen überhaupt nicht erkennen. Ich denke, dass wir philosophisch erkennen können, dass es einen ausreichenden Grund dafür gibt, dass jeder von uns Menschen existiert und nicht vielmehr nicht existiert, oder allgemeiner gesprochen, dass es einen ausreichenden Grund dafür gibt, dass überhaupt etwas existiert und nicht vielmehr nichts existiert. Dass ich existiere und nicht vielmehr nicht existiere, dafür kann ich in mir keinen ausreichenden Grund finden; ich kann, wenn ich durch meinen Verstand auf mein Existieren reflektiere, einsehen, dass ich nur aufgrund meiner selbst
1. Kapitel. Das tierische und das menschliche Erkennen der Welt
auch nicht existieren könnte. Und auch dafür, dass der Kosmos (oder die Welt) existiert und nicht vielmehr nicht existiert, dafür kann ich im Kosmos keinen ausreichenden Grund finden. Da aber jeder von uns jetzt lebenden Menschen existiert, und der Kosmos existiert, muss etwas existieren, das den ausreichenden Grund seiner Existenz in sich selber hat, das also nur aufgrund seiner selbst existiert, und das der ausreichende Grund all dessen ist, was seinen ausreichenden Existenzgrund nicht in sich selber hat. Und dieses Etwas, kann man «Gott» oder mit einem anderen Namen oder überhaupt nicht nennen. Aber was dieses Etwas ist, ausser dass es der ausreichende Grund seiner selbst und für alles ist, was nicht den ausreichenden Grund seiner Existenz in sich selbst hat, können wir nicht erkennen.155
§ 49 Das sinnliche Erkennen, erkennt nicht, dass es sich getäuscht oder sich geirrt hat. Das vernünftige Erkennen erkennt, dass es sich getäuscht oder sich geirrt hat. Deshalb strebt es nach Wahrheit. Ein Erkennen, das nicht erkennt, dass es sich getäuscht oder geirrt hat, sich also irren kann, strebt nicht nach Wahrheit. Ein sinnliches Erkennen kann sich auch täuschen, z. B., wenn ich durch einen Wald spaziere, sehe ich in einer Ferne auf dem Weg einen Hasen sitzen. Wenn ich aber näherkomme, sehe ich, dass es ein Stück Holz ist, erkenne also, dass ich mich getäuscht habe. Oder wenn ich ein Glas Tee vor mir habe und meine, dass ich trinken kann, und trinke, verbrenne ich mir die Zunge und spucke den zu heissen Tee aus. Oder wenn ich Donnern höre und dann länger hinhöre, höre ich, dass es nicht durch einen Blitz erzeugt wurde, sondern nur der Lärm eines Flugzeugs ist. Auch Tiere können sich in ihren Wahrnehmungen täuschen. Aber sie erkennen nicht, dass sie sich getäuscht haben. Dazu müssten sie sich an ihr sich als irrig herausgestelltes Meinen erinnern und darauf reflektieren können. Nur dadurch, dass wir Menschen uns irren und aufgrund unseres erinnernden Verstandes erkennen, dass wir uns geirrt haben und deshalb und aufgrund unseres Vergegenwärtigens von Möglichkeiten erkennen, dass wir uns auch weiterhin irren können, indem wir uns also bewusst sind, dass «irren menschlich ist», können wir nach Wahrheit streben. Ein Existierendes, das sich nie irrt, strebt nicht nach Wahrheit; es ist ein Wesen, das gar nicht zu erkennen vermag, z. B. ein 155 Siehe mein Buch Der gute Weg des Handelns, 2020, Teil I, 2. Kapitel («Warum existiere ich und warum existiere ich nicht vielmehr nicht? Der ausreichende Grund, warum ich existiere und nicht vielmehr nicht existiere»), S. 134–141.
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Teil II. Was ist Vernunfterkenntnis?
Kieselstein, oder es ist ein Existierendes, das immer in der Wahrheit ist, nämlich Gott.
2. Kapitel. Vernunft und Wahrheit
§ 50 Mehr oder weniger blosses Meinen unserer Vernunft und Bestätigen, Verändern oder Fallenlassen dieses leeren Meinens durch Erkennen. Der unendliche Prozess oder Progress des Erkennens als sich Annähern an Wahres Wir meinen und sagen vieles bloss aufgrund von Hörensagen oder weil wir in ähnlichen Fällen durch Assoziation meinen, es sei so, wie es im assoziierten Fall war. Wir sahen und denken mit einem gewissen Recht, dass Elstern (Pica pica) stehlen, weil wir z. B. mehrmals beobachteten, dass Elstern das Futter aus dem Fressnapf für die Hauskatze Lisi vor einem Hauseingang stahlen, oder in mehr oder weniger wissenschaftlichen Büchern lasen, dass Elstern eine Vorliebe für glitzernde Gegenstände zeigen und solche, z. B. Schmuckstücke, wenn sie welche erwischen, in ihre Nester tragen. Oder wir meinen dies, nur weil wir sagen hörten, dass Elstern stehlen, sei es, weil uns dies jemand sagte oder weil wir Gioacchino Rossinis Oper oder Ouvertüre La gazza ladra («Die diebische Elster») hörten, und meinen dann assoziativ fälschlicherweise, dass auch die mit den Elstern eng verwandten schwarzen Krähen (Corvidiae) stehlen, die wie jene zu den Rabenvögeln gehören. Wenn wir uns aber darin erinnern, dass wir noch nie sahen, dass Krähen etwas ganz in der Nähe von Menschen, sei es vor ihrem Hause oder auf ihrem offenen Balkon, stahlen, und auch sonst sahen, dass diese klugen Vögel in ihrem Verhalten viel zu vorsichtig sind, um etwas dieser Art zu tun, und dies eventuell auch von anderen Menschen hörten, die ihr Verhalten beobachteten, dann lassen wir aufgrund dieser Erkenntnis jene blosse Meinung fallen und sind in unserem Erkennen dem Wahren einen Schritt näher gekommen.
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Teil II. Was ist Vernunfterkenntnis?
§ 51 Die Verschiedenartigkeit der Vernunfterkenntnis. Pascals Unterscheidung zwischen esprit de géométrie und esprit de finesse Pascal schreibt in seinem ausführlichen «Gedanken» (Pensée) 512 über den im obigen Titel genannten Unterschied das Folgende. Dabei ist zu vermerken, dass für ihn das Wort esprit gleichbedeutend ist mit dem Wort raison im Sinne von Vernunft. Ich gebe nur das Wichtigste dieses «Gedankens» wieder. Pascal schreibt in ihm, dass im esprit de géometrie die Prinzipien gut erfassbar, völlig sichtbar (on les voit à plein), aber wegen ihrer Abstraktheit fern vom allgemeinen Gebrauch seien. Man müsse einen völlig falschen Geist haben, um aufgrund solch grober Prinzipien (principes si gros) falsch zu schliessen (mal raisonner). Im esprit de finesse dagegen sind die Prinzipien im allgemeinen Gebrauch und vor den Augen aller. Man braucht weder den Kopf [zum Abstrakten] zu drehen (tourner la tête), noch sich Gewalt anzutun. Es geht nur darum, gute Sicht zu haben (d’avoir bonne vue), aber diese braucht es. Denn die Prinzipien sind so subtil (déliés) und von so grosser Zahl, dass es fast unmöglich ist, dass sie ihr [der Sicht] nicht entwischen. […] Man sieht sie kaum, man fühlt sie eher, als dass man sie sieht (on les sent plutôt qu’on ne les voit), man hat unendliche Mühen, sie diejenigen fühlen zu lassen, die sie nicht selbst fühlen. Sie sind so fein (délicats) und zahlreich, dass man einen sehr feinen und reinen Sinn haben muss (un sens bien délicat et bien net), um sie nach diesem Gefühl zu fühlen und sie richtig und treffend zu beurteilen (pour les juger droit et juste), ohne sie meistens der Ordnung nach beweisen zu können wie in der Geometrie, denn […] solches zu unternehmen wäre eine unendliche Sache. Man muss also die Sache in einem Schlag sehen, mit einem einzigen Blick (il faut tout d’un coup voir la chose, d’un seul regard) und nicht durch ein schliessendes Fortschreiten (non pas par un progrès de raisonnement), mindestens bis zu einem gewissen Grad. Und so ist es selten, dass die Geometer feinen Geistes und dass die esprits fins Geometer sind […].
Pascal fährt in diesem langen «Gedanken» 512 fort, dass der esprit de finesse zwar auch schliessend fortschreite, aber er mache es schweigend, implizit (tacitement), natürlich und ohne Kunst. Denn der Ausdruck solchen Schliessens «übersteige alle Menschen» (passe tous les hommes) und das Gefühl (sentiment) dafür hätten nur wenige. Diese an das Urteilen aufgrund einer einzigen Sicht (d’une seule vue) gewohnten esprits fins seien nun, wenn man ihnen nur aufgrund steriler Definitionen und Prinzipien zugängliche und ihnen unverständliche geometrische Sätze (propositions) vorlegt, die in Einzelheiten zu sehen sie völlig ungewohnt sind, so erstaunt, «dass sie sich davon abschrecken lassen und davon angewidert sind» (qu’ils s’en rébutent et s’en dégoûtent). «Die esprits fins, die nicht zudem auch noch esprits de géometrie sind, können nicht die Geduld besitzen, bis zu den ersten Prinzipien der spekulativen und nur imaginären Dinge
2. Kapitel. Vernunft und Wahrheit
(choses d’imagination) hinunterzusteigen, die sie in der Welt nie gesehen haben und die ohne jeglichen Gebrauchswert sind (tout à fait hors d’usage).»156 Diese im 17. Jahrhundert getroffene Unterscheidung Pascals zwischen der «geometrischen Vernunft» und der «feinen Vernunft» scheint mir die im 19. Jahrhundert beginnenden Unterscheidungsversuche zwischen Mathematik und den mathematischen Naturwissenschaften einerseits und den Geistes- oder Humanwissenschaften andererseits vorwegzunehmen. Doch Pascals Unterscheidung geht weiter. Was er über den esprit de finesse schreibt, betrifft nicht nur die Humanwissenschaften, sondern auch die Menschenkenntnis überhaupt, auch die Vernunfterkenntnis, die wir mehr oder weniger von einem individuellen Menschen nach seinem geistigen Charakter und geistigen Fähigkeiten, besonders auch nach seinem ethischen Charakter haben. Wir sprechen in diesem Fall in vager Weise von intuitiver Erkenntnis. Pascal spricht nicht so, aber seine Beschreibung der Erkenntnis des esprit de finesse verdeutlicht diese vage Sprechweise: Es geht bei ihr darum, «gute Sicht zu haben […, da] die Prinzipien so subtil sind und von so grosser Zahl, dass es fast unmöglich ist, dass sie ihr [der Sicht] nicht entwischen. […] Man sieht sie kaum, man fühlt sie eher, als dass man sie sieht […]. Sie sind so fein und zahlreich, dass man einen sehr feinen und reinen Sinn haben muss, um sie nach diesem Gefühl zu fühlen und sie richtig und treffend zu beurteilen.» Es ist nicht nur eine allgemeine Erfahrung – die ich selbst auch gemacht habe – sondern es ist wissenschaftlich erwiesen, dass die meisten (nicht alle) Frauen eine bessere Menschenkenntnis haben als die meisten Männer. Die meisten (nicht alle) Männer sind stärker in der «geometrischen» (mathematisch-logischen, argumentierenden) Vernunfterkenntnis, während die meisten (nicht alle) Frauen mit logischen Argumenten nicht zu überzeugen sind, sondern ihrer intuitiven, fühlenden Vernunft folgen. So macht uns Pascals Unterscheidung zwischen esprit de géométrie und esprit de finesse auch darauf aufmerksam, dass die Vernunfterkenntnis in grundsätzlicher Weise nicht uniform, sondern vielgestaltig, mannigfaltig ist.
§ 52 Erfüllung des blossen Meinens durch Einsicht in den apriorischen Wissenschaften In den apriorischen Wissenschaften, z. B. in der Euklidischen Geometrie oder in der apriorischen phänomenologischen Bewusstseinsanalyse, ist die Einsicht möglich, dass etwas so sein muss und nicht anders sein kann. In der Euklidischen Geometrie kann bewiesen werden, dass die Summe der Winkel eines Dreiecks 180 Grad sein muss und es anders nicht sein kann. In der phänomenologischen Bewusstseinsanalyse kann gezeigt und gesagt oder geschrieben werden, dass ein 156
Pascal. Œuvres complètes, 1963, p. 576a/b; die deutsche Übersetzung ist von mir.
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Teil II. Was ist Vernunfterkenntnis?
Vergegenwärtigen von etwas, z. B. das sich Erinnern von etwas selbst erlebtem Vergangenem, notwendig den Kontakt mit der wahrgenommenen Gegenwart wahren muss. Wenn es diesen Kontakt verliert, kann es kein sich Erinnern an etwas selbst erlebtes Vergangenes mehr sein. Dieser Kontakt ist eine Bedingung der Möglichkeit des sich Erinnerns an etwas selbst erlebtes Vergangenes. Es besteht hier eine Einsicht in die Unmöglichkeit des Gegenteils (siehe oben Teil I, 1. Kapitel, § 7: «Sich Vergegenwärtigen von etwas ist im sinnlichen Wahrnehmen des mir Gegenwärtigen fundiert»).
§ 53 Erfüllung des blossen Meinens durch methodisch etablierte Fakten in den mathematischen empirischen Naturwissenschaften. Verifikation und Falsifikation Die mathematischen empirischen Naturwissenschaften stellen Hypothesen auf und formulieren aufgrund von durch ihre spezifischen Messmethoden etablierten empirischen Fakten ihre induzierten Gesetze. Sie versuchen, solche Gesetze in die Einheit eines mathematisch logischen, systematischen Zusammenhangs einer naturwissenschaftlichen Theorie zu bringen, welche die Gültigkeit der einzelnen Gesetze aufgrund ihrer Konformität mit der Theorie verstärkt. Eine solche Theorie ist das Ziel der mathematischen empirischen Naturwissenschaften, noch abgesehen von ihrer technischen Anwendung. Was in diesen Wissenschaften empirisches Faktum ist und was nicht ein solches Faktum ist, ist durch ihre Messmethoden bestimmt. Ihre Gesetze werden durch solche Fakten verifiziert. Nur solche Gesetze sind empirische Gesetze, die auch falsifiziert werden können. Ein Gesetz dieser Wissenschaften gilt nur so lange, wie es nicht durch ein empirisches Faktum dieser Art falsifiziert worden ist. Eine solche Falsifikation kann auch zum Zusammenbruch der ganzen Theorie führen. Im Prinzip sind alle Theorien der mathematischen empirischen Naturwissenschaften nur bis auf Weiteres, d. h. provisorisch, gültig, während die apriorischen Wissenschaften immer gültig sind.
3. Kapitel. Naturwissenschaftliche Erkenntnis und religiöser Glaube
§ 54 Naturwissenschaftliche Erkenntnis sowie Technik und religiöser Glaube des Physikers und Röntgenstrahlenforschers Friedrich Dessauer (1881–1963) Diesen Paragrafen möchte ich mit einem Gedicht beginnen, das Friedrich Dessauer irgendwo in seinen Schriften zitiert und das von seinem Zeitgenossen, dem Österreicher Friedrich Röck (1879–1953) stammen soll: Das Gültige ist leise, Das Laute Tand und Rausch. Flüstern ist Gottes Weise, Drum Seele schweig und lausch.
Dessauer wurde am 19. Juli 1881 in Aschaffenburg im bayerischen Bezirk Unterfranken etwa dreissig Kilometer südöstlich von Frankfurt am Main geboren. Er studierte seit 1899 Elektrotechnik und Physik an der Universität München und an der Technischen Hochschule Darmstadt. 1903 veröffentlichte er seine erste Publikation: Leitfaden des Röntgenverfahrens.157 Die X-Strahlen waren 1895 von Wilhelm Conrad Röntgen (1845–1923) am Physikalischen Institut der Universität Würzburg entdeckt worden.158 Seit 1905 erarbeitete er systematisch die physikalischen Bedingungen und medizinisch-technischen Anwendungsmöglichkeiten der Röntgentiefenstrahlen, die vielen Menschen das Leben gerettet haben. Er wurde zum Begründer der medizinischen Tiefentherapie mit Röntgen- oder XStrahlen. Seit 1911 war Dessauer als Ingenieur in der Industrie tätig. 1920 wurde er Professor für medizinische Physik an der Universität Frankfurt am Main. 1933 enthob ihn die nationalsozialistische Regierung aller seiner Ämter. Er fand eine Friedrich Dessauer, Leitfaden des Röntgenverfahrens, Verlag Vogel und Kreienbring, Berlin 1903. 158 Für diese Entdeckung erhielt Röntgen, der am Polytechnikum in Zürich studiert hatte (später Eidgenössische Technische Hochschule, ETH, genannt), 1901 den ersten Nobelpreis für Physik.
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Teil II. Was ist Vernunfterkenntnis?
Anstellung als Professor für Radiologie und Biophysik an der Universität Istanbul (Türkei). 1937 wurde er an der Katholischen Universität Fribourg/Freiburg in der Schweiz zum Professor ernannt und wurde dort Direktor des biophysikalisch-radiologischen Instituts. 1950 berief ihn die Universität Frankfurt am Main auf seinen ursprünglichen Lehrstuhl zurück. Am 25. Juni 1952 verlieh ihm die Katholisch-Theologische Fakultät der Universität Würzburg den Ehrendoktor der Theologie. Bei dieser Gelegenheit hielt Dessauer einen Vortrag mit dem Titel «Begegnung zwischen Naturwissenschft und Theologie».159 Am 16. Febraur 1963 starb er einundachtzigjährig in Frankfurt am Main an den Folgen einer zu hohen Röntgenstrahlenkontamination. Zwischen 1946 und 1954 publizierte Friedrich Dessauer vier kleine Bücher, die thematisch eine gewisse Verwandtschaft besitzen: 1946 veröffentlichte er Religion im Lichte der heutigen Naturwissenschaft160 ; 1951 Am Rande der Dinge. Über das Verhältnis von Wissen und [religiösem] Glauben161 ; 1952 Begegnung zwischen Naturwissenschaft und Theologie (Würzburger Vortrag)162 und 1954 Auf den Spuren der Unendlichkeit.163 Da von all diesen vier Büchlein dasjenige aus dem Jahre 1951 mit dem Titel Am Rande der Dinge. Über das Verhältnis von Wissen und Glauben der Frage dieses dritten Kapitels am besten entspricht, will ich mich hier daran halten, um Dessauers Sicht des Verhältnisses zwischen naturwissenschaftlicher Erkenntnis und religiösem Glauben darzustellen. Er hat es mit siebzig Jahren geschrieben. Dieses Büchlein beginnt mit der folgenden «Vorbemerkung»: Unsere Betrachtung über Religion im Lichte der heutigen Naturwissenschaft [1946] zeigte uns den Offenbarungscharakter all unseres Wissens über den Kosmos. Der Forscher empfängt die Antwort, an der er nichts ändern kann, in Hingabe, im Lauschen, im Selbstverzicht. Er will, wenn er forscht, im Akt der Erkenntnis vom Erkenntnisobjekt überwältigt, geprägt, umgeformt werden, will das ‹Stirb und werde› an sich geschehen lassen. Seine Geisteshaltung ist anders, als die meisten meinen […]. Von dieser Geisteshaltung, die auf Offenbarung eingestellt ist, die jedem forscherischen Erkennen vorangeht, es umhüllt und in die jede Erkenntnis mündet, soll nun [in Am Rande der Dinge. Über das Verhältnis von 159 Die Ansprache des Dekans der Theologischen Fakultät der Universität Würzburg, Prof. Fritz Hofmann, und der nachfolgende Vortrag «Begegnung zwischen Naturwissenschaft und Theologie» von Dessauer bilden zusammen das kleine Buch: Friedrich Dessauer, Begegnung zwischen Naturwissenschaft und Theologie, Verlag Josef Knecht, Frankfurt a. M. 1952. 160 Friedrich Dessauer, Religion im Lichte der heutigen Naturwissenschaft, Verlag Josef Knecht, Frankfurt a. M. 1946. 161 Friedrich Dessauer, Am Rande der Dinge. Über das Verhältnis von Wissen und Glauben, Verlag Josef Knecht, Frankfurt a. M. 1951. 162 Friedrich Dessauer, Begegnung zwischen Naturwissenschaft und Theologie, Verlag Josef Knecht, Frankfurt a. M. 1952. 163 Friedrich Dessauer, Auf den Spuren der Unendlichkeit, Verlag Josef Knecht, Frankfurt a. M. 1954.
3. Kapitel. Naturwissenschaftliche Erkenntnis und religiöser Glaube
Wissen und Glauben] die Rede sein. Erschliesst diese Geisteshaltung mehr als die Naturgesetzlichkeit? Und wie sollen wir sie benennen?
Das Büchlein mit seinen 56 Seiten hat zehn Abschnitte. Im Folgenden fasse ich diese zehn Abschnitte einzeln zusammen: 1. Erkennen und Verstehen (S. 1–4)
Der Bereich der unbelebten Natur hat sich durch Verbindung von mathematisch messender Methode und experimentell-induktivem Verfahren seit ungefähr dreihundert Jahren dem menschlichen Zugriff des Messens erschlossen, und die Anwendung in der Technik führte zu einem «fast erschreckend grossen» Machtzuwachs. Anders verhält es sich mit der Aufnahme des belebten Kosmos in den Menschengeist. Nur ein bescheidener Teil des Lebensgeschehens und der Lebensformen lässt sich aus den Wirkursachen erkennen und determinieren [und auch nicht im quantenphysikalischen Sinne als Zufall sehen]. So muss der Biologe das lebendige Geschehen – «das streng innerhalb der physikalischen Gesetze verläuft, aber doch anders ist» – aus der Gestaltung, Erhaltung, Fortpflanzung und Entwicklung der biologischen Ganzheit, also holistisch verstehen. Aber auch im Bereich des Lebens ist das Tatsachenwissen so gross geworden, dass es schwerfällt, es systematisch einzuordnen und «manchmal das Gefühl des Ertrinkens im Wissenstoff aufkommt». Auch die daraus kommende Macht ist gross. Unheimlich wird das Gebiet des Lebendigen, wenn der Forscher in jene Zonen eindringt, wo auf dem Leben das Seelische aufruht [wie bei den Tieren und dem Menschen]. 2. Mensch als Geschöpf in der Mitte (S. 4–6)
Wer immer sich besinnt und fragt, wo er selbst in diesem ungeheuren Kosmos ist, erfährt, dass mit dem Wissen die Sorge wächst. Goethe sagte in Dichtung und Wahrheit (Teil II, 8. Kapitel): «Zuwachs an Erkenntnis ist Zuwachs an Unruhe.» Er ist erkennend oder verstehend «gewissermassen all das geworden, was er in sein Bewusstsein aufnahm» (S. 4). Wo aber ist sein Ort in all diesem jetzt oder bald Bewussten, das zeitlich und räumlich alles menschliche Mass übersteigt? Vielleicht sagt er sich zuerst: Ich bin als Mensch wohl irgendwo in der Mitte, da ich nicht dabei war, als vor etwa dreitausend Millionen Jahren irgendetwas begann, das der jetzige Zustand der Erde ist. Auch sehe ich keine Chance in ferner Zukunft dabei zu sein, da mein Leben an Bedingungen geknüpft ist, die kaum durch lange kosmische Zeiten bestehen bleiben. Und im Raume bin ich unsagbar klein. Und was das Leben anbetrifft, werde ich da nicht mehr gelebt, als dass ich selbst bewusst und willentlich lebe? Dem Menschen genügt nicht all diese Kenntnisnahme, sondern er fragt nach dem Sinn des Erkannten. Er verliert ob all der
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Teil II. Was ist Vernunfterkenntnis?
zeitlichen und räumlichen Unbegrenztheit den Boden unter den Füssen und sucht nach einem Halt. «Gibt es einen solchen Halt?» 3. Halt an sich selbst (S. 7–15)
In seiner Geschichte suchte der Mensch in seinen Nöten und Gefahren seinen Halt zuerst in verschiedenartigen Religionen bei göttlichen Wesen. Doch durch die modernen Naturwissenschaften und die durch sie ermöglichten Techniken sah der Mensch, dass er durch sie mächtig wurde, dass sie ihn vor Gefahren aus der Natur, Hitze, Kälte, Hunger, Infektionen befreien konnten. «Der Blitzableiter schützt besser als die geweihte Kerze der Grossmutter, und die Verbauung des Berges besser als dieWallfahrt vor der Lawine.» (S. 11) Man hat Pest, Diphtherie und viel anderes überwältigt. Der Beginn unseres [des zwanzigsten] Jahrhunderts stand mehr, als man heute weiss, in diesem Zeichen. […] Die Städte wuchsen, die Schienenfäden überspannten die Kontinente, die Fabriken brausten, Prachtschiffe, Stolzzeichen seefahrender Nationen durchfuhren die Ozeane, Licht erhellte die Nächte, der Draht verband die Menschen und ihre Märkte. […] Ich war Student um 1900. Philosophie – ausgenommen etwa Erkenntnistheorie, Psychologie und Nietzsche – wurde nicht ernst genommen. Beten, an Gott sich Wenden, war keine Sache eines gebildeten, modernen Mannes. (S. 12)
Der Mensch war mit so vielem fertig geworden und dachte, dass er mit allem fertig würde. «Aber er irrte: Er wurde mit sich selbst nicht fertig.» (S. 12) Der Erste Weltkrieg kam und damit die Enttäuschung des Zusammenbruchs. Die Hand, die Halt sucht, wurde ausgestreckt. Aber sie griff nach unten, sie griff nach einem Führer [Adolf Hitler], der alle irdischen Mittel heranzog: Naturwissenschaft und Technik, die Rechtsordnung, jede soziale Formierung, alle Leidenschaften und jeden Zwang. Daher erklären sich die Appelle, die uns noch in den Ohren klingen – der Aufruf an den hemmungslosen Fanatismus, der etwas Untermenschliches ist, während das Menschliche die Besinnung und die Wertung ist. Wenn der Mensch sein Menschliches unterdrückt, kehrt er sich gegen seine eigene Natur und wird böse. «Wer das Böse – oder einen Bösen zum Führer hat, muss sich nicht wundern, wenn er in einer Hölle ankommt» (S. 14): Es kam [mit dem Zweiten Weltkrieg] zum grössten Verderben der Weltgeschichte. Jetzt [1951] ist Westeuropa und die amerikanische Welt unter anderem durch die Atomenergie und die darauf beruhende Abschreckung geschützt. Wer aber schützt uns vor uns selbst? Wir weden die Gefahren der Natur mehr und mehr besiegen und ihre Gaben immer besser nutzen. «Aber verschlingt uns nicht der Kosmos, auf dem wir eine Kerzenflamme sind, die auf einer Planke im Ozean treibt?» «Wir schwanken, weil wir erkannten, dass wir uns nicht selbst Halt geben können.» (S. 15)
3. Kapitel. Naturwissenschaftliche Erkenntnis und religiöser Glaube
4. Der erhellte Raum (S. 16–19)
Die Haltlosigkeit der menschlichen Existenz im Grenzenlosen des Kosmos bedeutet einen weltanschaulichen Nihilismus. Es gibt wohl keinen Wahn, keinen Dünkel, keine Suggestion, kein Voruteil, keine Machtgier und kaum eine Schurkerei, denen die allem dienende Vernunft nicht eine Theorie zurechtmacht. Doch nicht solchen Theorien und den entsprechenden Praktiken sich zu ergeben, sondern ruhiges Verständnis der Lage zu erstreben, ist die eigentlich menschliche Verhaltensweise. In Bezug auf unser kosmisches Wissen sind wir, bildlich gesprochen, im Zentrum eines erhellten Raumes. Jeder Forschungsstrahl endet am Halbdunkel der Problematik, und danach kommt die Finsteris des Unbekannten. Aber die Forschung dringt weiter. Die Grenzzone der Problematik nimmt wie bei einer Kugel mit wachsendem Radius rasch zu, wenn die erhellende Erkenntnis weiter vordringt. Je mehr man erkennt, umso mehr erkennt man, was man nicht erkennt. Es wächst die Kugeloberfläche mit dem Quadrat des Radius. Wir können den gewaltig grossen erhellten Raum kaum noch ertragen, weil wir ihn kaum noch übersehen, ordnen können, so dass wir uns darin verloren vorkommen. Und es scheint kein Ende der Probleme zu geben. 5. Geheimnis des erhellten Raumes (S. 19–26)
Das Erhellte ist zunächst das Erkannte, im Wesentlichen das Physikalische und das darin eingeschlossene Chemische. Das ist auch der Raum, in dem sich der Techniker aufhält. Im erhellten Raum befindet sich auch das Lebendige, das wir verstehen, ohne imstande zu sein, es wie beim Physikalischen aus seinen Wirkursachen zu erkennen und experimentell zu wiederholen. Dieses Verstehen enthält einen anthropomorphen Zug. Wenn wir sagen, dass die Zelle atmet, und damit einen physikalischen Prozess andeuten, so individualisieren wir die Zelle wie ein Subjekt, das etwas tut. «Das Bestreben, im Raum der Wissenschaft ‹anthropomorph› zu verstehen ist legitim. Das Lebende zeigt eine Hinordnung zur Ganzheit; die Teile dienen ihr, unterstellen sich ihr, sind Glieder.» (S. 21) Die Gesamtheit der organischen Naturforschung verfährt so. Immer bleibt die Geltung der physikalischen Wirkgesetze unbestritten, aber auch die Tatsache, dass die Physik «allein» keine lebende Einheit hervorbringt. Sie erlaubt es, «aber schon der Bau eines Eiweissmoleküles bei gegebenem Baustoff und Energievorrat ist fast unbegrenzt unwahrscheinlich. […] Es gelingt auch dem Experimentator noch kein Aufbau einer noch so bescheidenen lebendigen Einheit.» (S. 22) Nutzen wir unser biologisches Verstehen technisch aus, etwa bei der Züchtung irgendeiner pflanzlichen Kultur, dann bereiten wir nur die Milieubedingungen, aber die eigentliche Ursache dieser Kultur, das unbekannte Lebende, müssen wir in unsere technische Zurüstung hineinholen. Das biologische Gebiet enthält also ein Geheimnis. Auch der Erkenntnisraum der Physik gründet auf Geheimnissen, die
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Teil II. Was ist Vernunfterkenntnis?
wir als Fakten, als Gesetze, als Naturkonstanten, als letzte Gegebenheiten finden und die «nichts weniger als denknotwendig sind» (S. 23). Denn es ist z. B. keine rationale Denknotwendigkeit, dass die Feldstärke der Gravitation quadratisch mit der Entfernung abnimmt. Die ganze Gesetzlichkeit der Physik ist uns mitgeteilt, geoffenbart. «Und fast jedes Mal, wenn eine solche grundlegende Offenbarung geschah, war sie überraschend.» (S. 24) «Alles Entdecken ist Empfang von Offenbarung.» (S. 25) Die seelische Haltung des Forschers kann als Erwartung gekennzeichnet werden. Er glaubt also an eine Lösung seiner Fragestellung. Ohne diese fundamentale Glaubenshaltung gäbe es die Erwartung nicht. 6. Ort und Haltung des Forschers (S. 26–29)
Der Ort des Forschers ist die Grenze des durch Erkenntnis erhellten Raumes, wo Helle ins Dunkel übergeht. (S. 26) Der Forscher nimmt an dieser Grenze an [glaubt], dass er Weiteres erkennen oder verstehen kann. Er weiss aus eigener und Erfahrung anderer, dass er auf Unerwartetes, auf Überraschungen stossen wird, «wie es [dem Dänen Hans Christian] Oersted [1777–1851] und [dem Franzosen André Marie] Ampère [1775–1836] bei der Entdeckung magnetischer Kräfte des Stromes widerfuhr, später bei [Wilhelm Conrad] Röntgens [1845–1923] Entdeckung der Radioaktivität […]. Er ist an Staunen gewöhnt.» (S. 27) Er schreckt nicht zurück, wenn sogar das bisherige mathematische Netz neue Funde nicht einzufangen vermag, «wie zurzeit die Felder der Nucleonen». «Newton musste eine neue Mathematik auffinden, um die Entdeckungen Keplers und Galileis einheitlich zu begreifen.» (S. 27) Bei dieser Wissenserweiterung erweitert sich unser eigener menschlicher Geist, indem er sich dem Offenbarten anschmiegt, anpasst. 7. Korrespondierende Bestände und ihre Verknüpfung (S. 29–40)
Der Mensch befindet sich in einer physikalischen, biologischen und geistigen Umwelt. Die Besinnung über das eigene Sein in diesem Kosmos ist seine existenzielle Haltung. Durch sie steht der Mensch dem Kosmos gegenüber. Es ist dies die Gegenüberstellung des Menschen zum objektiven Geist des Kosmos. Denn seiner Forschung ist nur zugänglich, was geordnet und damit objektiv geistig ist. «Chaos kann man feststellen, nicht erkennen, nicht verstehen.» (S. 30) Kompliziert wird dieses Subjekt-Objekt-Verhältnis dadurch, dass das Kosmische auch im Menschen und nicht nur der Mensch im Kosmos ist. Die Existenz in der geistig geordneten Welt ruht auf korrespondierenden Beständen. Den Bedürfnissen, Strebungen, Vermögen des Menschen entsprechen im Gesamtgeistigen der Welt Erfüllungsmöglichkeiten. Das Bedürfnis nach Welteinsicht, nach ‹Halt› in der Welt der Dinge findet seine Korrespondenz in der rationalen Zugänglichkeit, in den Offenbarungen der Welt. Die fundamentalen Vermögen und Strebungen des
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Menschen gehen also nicht ins Leere. Tiefer als Erkennen und Verstehen ist die existenzielle Haltung des Glaubens in diese Korrespondenz, die auch ins Nichterkannte und Nichtverstandene hineinreicht und die das Geheimnis ausmacht, das in jedem Akt der Naturforschung als gesichert enthalten ist. In Bezug auf die Ordnungsumwelt des objektiven Geistes wird der forschende Mensch durch die Offenbarung, die ihm zuteil wird, immer überwältigt, erweitert, verwandelt. Umgekehrt formt der Mensch als Techniker unsere Umwelt auch um. «Aber dieses Umgestalten […] geht nur nach Anleitung des geoffenbarten Vorgegebenen». Auch die technischen Lösungsgestalten «stehen im Korrespondenzverhältnis von Mensch und kosmischer Umwelt».(S. 33) Diese Korrespondenz oder Entsprechung zwischen menschlichem Streben und kosmischer Erfüllung ist eine wichtige, vielleicht nicht immer genügend beachtete Tatsache. Z. B., «für Hunderte von Krankheiten fanden sich die Heilmittel, und wir sind zuversichtlich, dass sie für bestehende Krankheiten noch zu finden sind». Aber der naturwissenschaftliche Forscher an seinem Grenzort weiss auch von seiner Beschränkung. «Er wird nicht versuchen, allein mit seinen Mitteln ethische oder ästhetische Probleme zu lösen.» (S. 34) Das Korrespondenzverhältnis ragt weit über das kosmische Gebiet hinaus. Darin besteht ja ein Hauptgrund des heutigen Angstzustandes, dass der Kosmos zwar viele Hilfen bietet, aber nicht Mass und Halt für die Bedrohung durch uns selbst. Wir sehnen uns nach Gerechtigkeit, Freundschaft, Liebe, nach Schönheit, nach Sinn und Sinnerfüllung, nach innerem Gleichgewicht und nach Unvergänglichkeit. «Alles strebt in uns gegen Untergang, d. i. endgültigen Tod, Einmünden ins Nichts.» (S. 35) Wenn der Naturforscher darüber nachdenkt, wird er nicht mehr innerhalb seiner Fächer bleiben, sondern darüber hinausspähen müssen. Das ist sein gutes Recht. Am «Rande der Dinge» weiss er, dass sein eigenes Gebiet von «zuverlässigen Geheimnissen» durchsetzt ist, was bedeutet, dass er auch in seinem Fachgebiet mehr annimmt als nur das Erkennbare. «Von der existenziellen Sorge erfasst, kann der Naturforscher auch die Frage nach ‹letztem Halt›, nach letzten geistigen Entsprechungen [Korrespondenzen] stellen.» (S. 36) Das bedeutet, dass wir im Grunde das «Letzte» suchen, das Absolute, nicht mehr Bedingte, Abhängige und dass wir keine Ruhe haben werden. Aber wir wissen doch nicht, ob es das Absolute gibt. Aber das tiefste Bedürfnis, ein bewusster oder auch unbewusster Glaube geht dahin. «Wir sind unserer ganzen Natur nach auf die Entsprechung [Korrespondenz] eingerichtet.» (S. 40) 8. Der Mensch und das Absolute (S. 40–45)
Der unstillbare Drang nach dem Absoluten im Menschen ist wie ein Kompass, der immer die Richtung zeigt, aber nie Ankunft bringt. Diesen unstillbaren Drang könnte man die Kompasskraft des Menschen nennen. «Dass es Menschen gibt, in denen diese Kraft von Natur schwächer ist, dass der härteste Existenz-
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kampf, dass die Not sie lähmt, ist kein Gegengrund. Wir wissen ja, dass unsere geistigen Funktionen auf physikalisch-biologischen aufruhen.» (S. 41) So vieles der Kosmos hergibt, jenen unstillbaren Drang erfüllt er nicht. Was sperrt uns der Zugang zu dem, was unsere Natur am tiefsten erstrebt? Das Hindernis sind unsere, dem Kosmos angehörigen Gehirnabläufe. Wir müssen uns fragen, welches unserer geistigen Vermögen uns, innerhalb unserer Grenzen, am weitesten trägt. Glaube liegt sowohl dem physikalischen Erkennen als auch dem biologischen Verstehen zugrunde, ergreift Geheimnisse und baut sie ein. Er ist die am weitesten tragende, geistige Anlage und er gibt uns diese Kompasskraft. Er schreitet voran und lässt den Verstand als seinen Gefolgsmann sich mühen. Das ist das «credo ut intelligam» (ich glaube, damit ich einsehe) im Proslogion des heiligen Anselm von Canterbury (1033/44–1109), das auf Gedanken des Augustinus zurückgeht. «Zuerst fasse ich glaubend zu, setze das Geheimnis als Realität; dann versuche ich, was ich davon verstehen kann.» So kann man den Satz übersetzen. 9. Das Credo ut intelligam (Einsicht aus Glauben) (S. 45–50)
Dieser Satz bedeuet, «dass nach der Ordnung der korrespondierenden Bestände dem tiefsten Bedürfnis des menschlichen Geistes die Wirklichkeit des nicht Bedingten, des absoluten Vollkommenen […] entspricht». (S. 45) Wir entschliessen uns, dies zu glauben. Gibt es etwas wie eine Erfahrung, die diesen Glauben bestätigt? Auf dem Weg der Analogien können wir das Absolute als allumfassendes allmächtig waltendes Naturgesetz suchen, das Sterne, Atome, Lebewesen, Kulturen im Kreislauf unpersönlich, blind hervorbringt und verschlingt. Oder tiefer als das Nirvana, das als Erlöschen jedes Individuellen diesem blinden Kreislauf entgeht. Der polare Gegensatz kommt in Goethes Wort zum Ausdruck: «Höchstes Glück der Erdenkinder ist doch die Persönlichkeit.» (S. 46).164 Aus West-östlicher Divan. Buch Suleika. Doch dies war im entsprechenden Gedicht nicht Goethes Meinung. Dieses Gedicht lautet: 164
Volk und Knecht und Überwinder, Sie gestehn zu jeder Zeit: Höchstes Glück der Erdenkinder Sei nur die Persönlichkeit. […] Kann wohl sein, so wird gemeinet, Doch ich bin auf andrer Spur. Alles Erdenglück vereinet Find ich in Suleika nur.
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Die europäischen Völker fliehen den Kosmos nicht, sondern bejahen ihn, denn sie sind angelegt zu dem, was das buddhistische Nirvana verneint: zur Tat. Das entspricht dem Christentum, der verbreitetsten Weltreligion. Der Glaubensakt wird im Christentum begründet in der Existenz eines absoluten, vollkommenen und persönlichen, wissenden Gottes, der höchste Persönlichkeit ist. «Die Wanderschaft gemäss der Kompassweisung ist bejaht, jedoch mit Verzicht auf Ankunft im irdischen Leben belastet. Ankunft ist verheissen, Erfüllung vom Jenseits als Gnade zugesagt.» (S. 48) Aus dieser Konzeption geht die höchste Anforderung hervor, das Gebot der Gottesliebe und der Gleichstellung des Nächsten mit dem Ich. Am Ende dieses neunten Stückes «Einsicht aus Glauben» spricht Dessauer von einer Gleichwertigkeit von Christentum und Buddhismus. Als Physiker geht er dabei von der «komplementären» Bezeichnung desselben Gegenstandes durch einander ausschliessende Begriffe aus, «wenn wir die letzten, zwar realen, aber fremdartigen Bauelemente des Kosmos sowohl ‹Korpuskel› wie ‹Wellen› nennen». (S. 49) «Die Sprache des Christentums und die Buddhas über den allerletzten Gegenstand ist vielleicht komplementär.» (S. 49) «Die Meinung komplementären Verstehenwollens ist, dass die divergenten Wege der bildhaften Approximation in einer noch unzugänglichen Ferne konvergieren.» (S. 50) 10. An der Dinge Rand (S. 50–56)
Da der Mensch nur aufgrund seines endlichen Erfahrungsumkreises sprechen kann, versagt sein Denken und Sprechen und wird zu einem Stammeln, wenn er sich dem Absoluten nähert. Wir projizieren die höchsen Qualitäten unseres Daseins auf eine unendlich ferne und grosse Ebene, um uns so Unerreichbarem anzunähern. Religio heisst Band oder Bindung. Wir meinen damit bei den grossen Weltreligionen das Band zum Unendlichen, Unbedingten, Vollkommenen. Soweit sie im Menschen selbst gründet, ruht die Religion auf dem Postulat des «korrespondierenden Bestandes», dass dem tiefsten Streben der menschlichen Natur eine Erfüllung entspricht. Die monotheistischen Religionen, die jüdische, christliche, muslimische, nehmen diese Bindung an das Unendliche als eine solche an einen personalen Gott, der sich offenbart. Darum kann die Erfüllung, der Zugang zum Vollkommenen nur durch Ihn selbst durch Offenbarung, Erlösung, Gnade gewährt werden. Dass diese Näherung des Unendlichen die Kräfte, die Geistesfähigkeiten des Menschen übersteigt, hat zur Folge, dass das Glauben von Wie sie sich an mich verschwendet, Bin ich mir ein wertes Ich. Hätte sie sich weggewendet, Augenblicks verlör ich mich.
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Geheimnissen in Anspruch genommen wird. Denn das Geheimnis ist das objektive Korrelat des subjektiven Glaubens. Glauben ist eine ebenso berechtigte Geisteshaltung wie das Erkennen aus Wirkursachen und das Verstehen aus anthropomorpher Analogie. «Aber die umfassendere Geisteshaltung des Glaubens, die auch jedem forschenden Erkennen und Verstehen vorangeht, hat als Beginn einen Willensakt, ein Ja.» Der Bescheidenste, Kleinste unter uns Menschen in dieser Geisteshaltung ist ein Stammler sogut wie der Grösste – in gleicher Nähe zum unendlichen Gegenstand. «Dies habe ich eindrucksvoll beim Sterben einfacher gläubiger Menschen erfahren, nicht nur im Abendland – auch im Orient, im Krebsspital. Sie konnten nicht lesen und schreiben, sie trugen ohne Klagen schwere Schmerzen, sie erwarteten ruhig den Tod und ergaben sich ihm ohne Widerspruch, sicher in Allahs Hand zu sein.» (S. 56)
§ 55 Naturwissenschaftliche Erkenntnis und religiöser Glaube des belgischen Astronomen und katholischen Priesters Georges Lemaître (1894–1966), der naturwissenschaftlich die Ausdehnung des Universums und dessen Beginn entdeckte165 a) Jugendzeit und Ausbildung (1894–1925) Georges Lemaître wurde am 17. Juli 1894 in der etwa fünfzig Kilometer südlich von Brüssel gelegenen Stadt Charleroi in der Provinz Hennaut (Hennegau) geboren. Er besuchte dort ein von Jesuiten geleitetes Gymnasium. Schon in dieser Zeit reifte in ihm der Wunsch, Physiker zu werden. Doch sein Vater, der eine Glasfabrik besass und leitete, riet ihm davon ab und veranlasste ihn ein Studium als Bergbauingenieur zu absolvieren. Dieses Studium schloss Georges Lemaitre 1913 mit 19 Jahren ab. Während des Ersten Weltkriegs meldete er sich zum Kriegsdienst. Aufgrund der Kriegserfahrungen entschloss er sich, katholischer Priester zu werden. Nach dem Krieg, im September 1918, verwirklichte er seinen ursprünglichen Berufswunsch und studierte an der Katholischen Universität Leuven/Louvain Mathematik und Physik. Gleichzeitig schrieb er sich im Priesterseminar der Erzdiözese Malignes (Mechelen) ein. Während seiner dortigen Ausbildung wurde ihm erlaubt, sich mit Einsteins allgemeiner Relativitätstheorie zu 165 Ich stütze mich in meinem Ausführungen über Georges Lemaître vor allem auf den Beitrag von Jörg Hüfner und Rudolf Löhken, Fakultät für Physik und Astronomie der Universität Heidelberg, «Die zwei Wege des Georges Lemaître zur Erforschung des Himmels», in: Stabilität und Wandel, herausgegeben von Michael Wink und Joachim Funke, Heidelberger Jahrbücher online, Heidelberg University Publishing, Heidelberg 2016, S. 69–77.
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beschäftigen. Das Studium der Mathematik und Physik schloss er schon zwei Jahre später, 1920, ab mit der Disseration L’approximation des fonctions de plusieures variables réelles. 1923 wurde er zum katholischen Priester geweiht. Er trug von da an, wenn er öffentlich auftrat, immer das lange schwarze Priestergewand mit Stehkragen. Er sagte zu seinem doppelten Beruf als Priester und Physiker: «Es gibt zwei Wege, auf denen man zur Wahrheit kommen kann, ich habe mich entschieden, beide zu gehen.» Um Anschluss an die internationale Forschung zu finden, zog er zum Weiterstudium ins englisch-amerikanische Ausland. Ein zweijähriges Stipendium erlaubte ihm, zuerst während der Jahre 1923/24 im englischen Cambridge in der Forschergruppe von Arthur Stanley Eddington (1882–1944) zu arbeiten. Wenige Jahre zuvor hatte dieser durch die Berechnung der Lichtablenkung im Schwerefeld der allgemeinen Relativitätstheorie Albert Einsteins zum Durchbruch verholfen. Eddington, selbst ein sehr religiöser Mensch (er war Quäker), wurde Lemaîtres Mentor und Freund. 1924/1925 arbeitete Lemaître in den USA im von Harlow Shapley (1885–1992) geleiteten Harvard College Observatory. Gleichzeitig begann er eine Doktorarbeit an dem in Cambridge (Massachusetts) befindlichen Massachusetts Institute for Technology (MIT). Eines der damals am meisten diskutierten Themen war die schon 1912 von Vesto Melvin Slipher (1875–1969) entdeckte Rotverschiebung in den Spektren der nebelartigen Himmelskörper. Die Frage war, wie dies zu vestehen sei. 1925 kehrte Lemaître nach Belgien zurück. Zwei Jahre später, 1927, hatte er diese Frage beantwortet. Er interpretierte sie als Dopplerverschiebung, aus der folgt, dass alle Gestirne sich vom Beobachter mit einer Geschwindigkeit von einigen tausend Kilometern pro Sekunde wegbewegen. Den Grund dieser Wegbewegung sah er in einer Expansion des Universums. Aus dieser Vorstellung leitete Lemaître eine Relation ab zwischen der Fluchtgeschwindigkeit v eines Himmelskörpers und seiner Entfernung r vom Beobachter: v = Ho r. In dieser, heute «Hubblesches Gesetz» genannten Relation ist Ho eine Konstante, die angibt, wie schnell das Universum expandiert. Noch im selben Jahr 1927 veröffentlichte er einen entsprechenden Artikel von sieben Seiten unter dem Titel «Un univers homogène de masse constante et de rayon croissant rendant compte de la vitesse radiale des nébuleuses extragalactiques» in den Annales de la Société Scientifique de Bruxelles.166 Dieser in französischer Sprache in einer international wenig gelesenen Zeitschrift veröffentlichter Artikel wurde zunächst kaum zur Kenntnis genommen, mit einer wichtigen Ausnahme: Albert Einstein (1879–1955). Dieser verstand Französisch, da er seit seinem 18. bis zu seinem 35. Lebensjahr (1895 bis 1914) in der Schweiz gelebt hatte, von der Maturitätsprüfung (mit einer Prüfung in Französisch) an der Kantonsschule des Kantons Aargau in Aarau über seine Anstel166
Annales de la Société Scientifique de Bruxelles, 47 (1927), S. 49–56.
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lung am Eidgenössischen Patentamt in Bern bis zu seiner Professur an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich (ETH). Einsteins Reaktion auf Lemaîtres oben genannten Artikel war vernichtend. Zwar seien die Berechnungen richtig, aber die zugrunde liegenden physikalischen Vorstellungen «widerwärtig». Auch die Tatsache, dass es Lemaître zum ersten Mal gelungen war, das Rätsel der kosmischen Rotverschiebungen zu lösen, konnte Einstein nicht von seiner Abneigung gegen die Idee einer Expansion des Universums abbringen. Nachdem Einstein seine allgemeine Relativitätstheorie fertiggestellt hatte, versuchte er im Jahre 1917 auf ihrer Grundlage den Aufbau des Universums zu verstehen. Nach den von ihm abgeleiteten Gleichungen war ein Universum möglich, dessen Raum gekrümmt ist und ein endliches Volumen hat. Die Gleichungen sagten ihm aber auch, dass das Universum je nach den herrschenden physikalischen Bedingungen schrumpfen oder wachsen müsse. Für eine kontinierliche zeitliche Expansion sah er aber keinen Grund. Deshalb führte er in seine Gleichungen die sogenannte kosmologische Konstante ein, die zeitlich kontinuierliche Veränderungen ausschloss. Erst als Arthur Stanley Eddington 1931, vier Jahre nach der französischen Publikation in den Annales de Société Scientifique de Bruxelles den Artikel Lemaîtres in einer von diesem angefertigten englischen Übersetzung unter dem Titel «Expansion of the Universe. A homogeneous universe of constant mass and increasing radius accounting for the radial velocity of extra-galatic nebulae» in der britischen Zeitschrift Monthly Notice of the Royal Astronomic Society veröffentlichen liess,167 setzte sich Lemaîtres Auffassung allgemein durch, und auch Einstein musste ihr beipflichten. b) Professor für Physik und Mathematik in Louvain / Leuven (1925–1966) 1927 wurde Lemaître zum Professor für Physik und Mathemaik an der Université Catholique de Louvain / Katholieke Universiteit van Leuven ernannt, was er bis zu seinem Lebensende blieb. Er trat auch der Bruderschaft der «Amis de Jésus» bei und legte dabei die drei Gelübde der Armut, der Keuschheit und des Gehorsams gegenüber dem Vorgesetzten ab, in seinem konkreten Fall Gehorsam gegenüber den Bischöfen von Belgien, deren Eigentum die im Jahre 1425 gegründete Universität von Leuven ist, bzw. dem Rektor der Universität Leuven, der damals selbst Bischof war. Zuerst war es Monseigneur Paulin Ladeuze (1909–1940), seit 1940 Monseigneur Honoré van Waeyenbergh. Im März des Jahres 1931 las Lemaître in der Zeitschrift Nature den Beitrag seines Freundes Arthur Stanley Eddington «The End of the World; from the 167
Monthly Notice of the Royal Astronomic Society, Band 91, März 1931, S. 488–490.
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Standpoint of Mathematical Physics».168 Darin lehnte Eddington den Gedanken eines Anfangs der Welt ab, da er mit den gegenwärtig bekannten Naturgesetzen nicht zu verstehen sei. Lemaîtres Antwort, die nur eine Seite lang war, erschien zwei Monate später unter dem Titel «The Beginning of the World from the point of view of Quantum Theory» in derselben Zeitschrift Nature.169 In dieser Antwort anerkannte Lemaître, dass der Anfang des Universums mit den Gestzen der klassischen Physik unverständlich sei. Um ihn zu verstehen, brauche man die Quantentheorie, die 1926, also fünf Jahre zuvor vom österreichischen Physiker Erwin Schrödinger (1887–1961) vollendet wurde. Nach Lemaître war die gesamte Materie des Universums am Anfang in einem einzigen Superkern vereinigt, den er das «Uratom» nannte. Dieses habe sich in einem einzigen Quantenzustand befunden und sei vergleichbar mit dem eines radioaktiven Kerns. In einer Zufallskette sei das Uratom in kleinere Teile, die heutigen Atome und andere Bruchstücke von Materie zerfallen. Damit sei eine Evolution in Gang gesetzt worden, die zum heutigen Zustand des Universums geführt habe. Da nach der Quantentheorie die radioaktiven Zerfälle zufällig sind, habe sich die heutige Ordnung der Natur erst langsam entwickelt. In späteren Publikationen fügte Lemaître seiner Skizze noch einige Details hinzu. Er schätzte unter anderem die Zeit ab, die vom Anfang des Universums bis heute verflossen ist. Dabei stützte er sich auf die Beobachtung, dass es heute noch radioaktive Kerne mit einer Halbwertszeit von einigen Milliarden Jahren gibt. Wenn diese in der Anfangszeit entstanden sind, könne der Anfang des Universums nicht mehr als einige zehn Milliarden Jahre zurückliegen. Lemaître sprach von einem «kosmischen Feuerwerk», wenn er den Anfang des Universums anschaulich beschreiben wollte. Die heutige Bezeichnung «Big Bang» (Urknall) stammt vom britischen Astrophysiker Fred Hoyle (1915– 2001), der sie mit einem spöttischen Unterton zuerst in einer Radioansprache im Jahre 1949 benutzte, als er Lemaîtres Vorstellungen vom Anfang des Kosmos charakterisierte. Für Hoyle gab es keinen Anfang des Universums. Heute wird in der naturwissenschaftlichen Kosmologie nur Lemaîtres Grundgedanke, dass es einen Anfang des Universums gibt, für richtig gehalten, dass aber alle Details, wie z. B. die Vorstellung von einem Uratom falsch sind. Nach heutigen Vorstellungen durchlief das Universum am Anfang eine Phase eines extrem heissen Plasmas, das sich nicht durch einen einzigen Quantenzustand beschreiben lässt. Dennoch war Lemaîtres Ansatz für die physikalische Forschung ein Durchbruch.
168 Arthur Stanley Eddington, «The End of the World; from the Standpoint of Mathematical Physics», in Nature, 127 (1931), S. 447–453. 169 Georges Lemaître, «The Beginning of the World from the Point of View of Quantum Theory», in Nature, 127 (1931), S. 706.
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Lemaître scheint in seinem Aufsatz von 1931«The Beginning of the World from the Point of View of Quantum Theory» in der Zeitschrift Nature eher eine private Meinung als eine wissenschaftliche Aussage gesehen zu haben. Denn als Adresse gab er nicht wie üblicherweise bei seinen Veröffentlichungen das mathematisch-physikalische Institut der Universität Leuven, sondern seine private Adresse an: 40, rue de Namur (Naamse Straat), eine Hauptachse innerhalb der Altstadt von Leuven, die vom Stadtzentrum mit der dem heiligen Apostel Petrus geweihten Hauptkirche (Sint-Pieterskerk, Eglise Saint-Pierre) und dem Rathaus (Stadhuis, Hôtel de ville) in südlicher Richtung, d. h. in Richtung der Stadt Namur (Naamen), zum Ort des ehemaligen südlichen Stadttors führt. An der rue de Namur liegen auch, etwas näher dem Stadtzentrum die Nr. 40, der älteste architektonische Teil der Universität, die ehemaligen Tuchhallen, Les Halles bzw. de Hallen genannt, mit Teilen aus dem 14. Jahrhundert. Vor dem Jahre 1425, als die Universität Leuven darin eingerichtet wurde, wurden darin Tuche gehandelt. Ich bin an der Nummer 40 der rue de Namur zwischen 1956 und 1966, als Lemaître dort lebte, oft vorbeigekommen, aber ohne zu wissen, dass es in Leuven einen so berühmten Mann gibt. Sein Name war mir damals unbekannt. Lemaîtres Idee des Uratoms stiess bei den an der Astronomie interessierten Laien auf grosses Interesse, von den astronomischen Wissenschaftlern wurde sie aber nur mit Skepsis zur Kenntnis genommen, da sie keine nachprüfbaren Voraussagen machte. Doch Albert Einstein war von dieser Idee begeistert. Nach einem Vortrag Lemaîtres im Jahre 1933 am California Institute of Technology (CATEC) stand Einstein auf und sagte: «This is the most beautiful and the most satisfying explanation of the creation I ever heard.» (Dies ist die schönste und befriedigendste Erklärung der Schöpfung, die ich je gehört habe.) Erst die Entdeckung der kosmischen Hintergrundstrahlung im Jahre 1965 brachte den ersten Beweis für einen Weltbeginn, allerdings nicht für einen kalten, wie Lemaître sich ihn vorgestellt hatte, sondern für einen heissen. Lemaître erfuhr davon ein Jahr vor seinem Tode. Ursprünglich wollte Lemaître seinen Artikel 1931 mit den folgenden Sätzen abschliessen: «Ich denke, dass jeder, der an ein alles erhaltendes höchstes Wesen glaubt, auch glaubt, dass Gott wesentlich verborgen (hidden) ist, und deshalb gerne sieht, wie die heutige Physik ein Schleier ist, hinter dem die Schöpfung verborgen ist.» Vermutlich erschien dieser Satz nicht in Nature, weil deren Redaktion der Meinung war, dass eine Aussage über Gott und die Schöpfung nicht in einen naturwissenschaftlichen Artikel gehört. Nach Lemaître ist der Schöpfergott deshalb verborgen, weil man über ihn mit den Methoden der Physik nichts erfahren kann. Denn nach der Quantenphysik bestimmt der Zufall, wann ein radioaktiver Kern zerfällt, sodass man nach dem Auftreten des Zerfalls auf keine Ursache, also auf keinen Schöpfergott, schliessen kann. In seinem persönlichen Leben hatte Lemaître mit dem Nebeneinander von Naturwissenschaft und katholischem Glauben kein Problem. In einem Interview mit der New York Times im
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Jahre 1933 sagte er: «Ich habe keinen Konflikt, den ich heilen muss. Die Wissenschaft hat meinen Glauben nicht erschüttert, und niemals hat mein Glaube mich an Ergebnissen zweifeln lassen, die ich mit wissenschaftlichen Methoden erhalten hatte.» Lemaître hatte auch einen grossen Einfluss auf die Lehre der katholischen Kirche über das Verhältnis von Glauben und Wissenschaften. Im Jahre 1960, unter Papst Johannes XXIII (Angelo Roncalli, 1881–1963, Papst von 1958–1963) wurde er zum Präsidenten der päpstlichen Akademie der Wissenschaften ernannt. In diesem Amt setzte er sich für eine stärkere wissenschaftliche Öffnung der Akademie ein, indem er eine Reihe von Nobelpreisträgern, darunter den Physiker Paul Dirac (1902–1984) und den Neurowissenschaftler John Eccles (1903–1997), als neue Mitglieder vorschlug. Gleichzeitig sorgte er für die Unabhängigkeit der Akademie von der päpstlichen Kurie. Die Beschlüsse des Zweiten Vatikanischen Konzils, das Papst Johannes XXIII einberufen hatte, entsprechen, was das Verhältnis zwischen Glauben und Naturwissenschaften betrifft, der Auffassung von Lemaître. Im Abschlussdokument des Konzils, in der pastoralen Konstitution «Gaudium et spes, über die Kirche in der heutigen Welt» steht im Abschnitt 36 des 3. Kapitels über das menschliche Schaffen in der Welt: Vorausgesetzt, dass die methodische Forschung in allen Wissensbereichen in einer wirklich wissenschaftlichen Weise und gemäss den Normen der Sittlichkeit vorgeht, wird sie niemals in einen echten Konflikt mit dem Glauben kommen, weil die Dinge des profanen Bereichs und die Dinge des Glaubens in demselben Gott ihren Ursprung haben. Ja, wer bescheiden und ausdauernd die Geheimnisse der Dinge zu erforschen versucht, wird, auch wenn er sich dessen nicht bewusst ist, von Gott geleitet, der alle Dinge trägt und in ihr Eigensein einsetzt. Deshalb sind gewisse Geisteshaltungen zu bedauern, die einst auch unter Christen wegen eines unzulänglichen Verständnisses für die legitime Autonomie der Wissenschaft vorkamen. Durch die dadurch entfachten Streitigkeiten und Auseinandersetzungen [wie zwischen den offiziellen Vertretern der Kirche und dem Christen, Physiker und Astronomen Galileo Galilei (1564–1642) über die Drehung der Erde um die Sonne, d. h. das Kopernikanische Weltsystem] schufen sie in der Mentalität vieler die Überzeugung von einem Widerspruch zwischen Glauben und Wissenschaft.170
Der massgebende lateinische Text des obigen Zitates lautet wie folgt: Ideo inquisitia methodica in omnibus disciplinis, si modo vere scientifico et iuxta normas morales procedit, numquam fidei revera adversabitur, quia res profanes et res fidei ab eodem Deo originem ducunt. Immo, qui humili et constanti animo abscondita rerum perscrutari conatur, etsi inscius manu Dei ducitur qui, res omnes sustinens, facit ut sint id quod sunt. Hinc deplorare liceat quosdam animi habitus, qui aliquando inter christianos ipsos, ob non satis perspectam legitimam scientiae autonomiam, non defuerunt et, contentionibus controversiisque exinde suscitatis, plurium animos eo perduxerunt ut fidem et scientiam inter se opponi censerent. (Lexikon für Theologie und Kirche, Das Zweite Vatikanische Konzil, Teil III, Herder Verlag, Freiburg, Basel, Wien, 1968, S. 386). 170
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§ 56 Kurzer Vergleich des Verhältnisses von Naturwissenschaft und religiösem Glauben bei Friedrich Dessauer und Georges Lemaître Während bei Lemaître naturwissenschaftliche Forschung und religiöser Glaube als getrennte Bereiche des menschlichen Geistes sich gegenseitig weder fördern noch behindern, sieht Dessauer in der wissenschaftlichen Naturforschung gewissermassen eine Präfiguration des relgiösen Glaubens, zwischen ihnen bestehen analoge Vehältnisse, bei vollem Bewusstsein, dass es sich dabei um verschiedene Bereiche handelt. Aber es gibt zwischen ihnen Entsprechungen: Der Forscher empfängt mit Staunen Antworten, die er nicht erwartete, d. h. alles naturwissenschaftliche Entdecken ist das Empfangen von Offenbarungen. Das biologische Gebiet enthält Geheimnisse, die das objektive Korrelat des subjektiven Glaubens sind. Der Forscher glaubt an eine Lösung seiner Fragestellung. Es gibt eine Korrespondenz zwischen dem menschlichen Forschen und dem Kosmos; das Forschen geht nicht ins Leere. Doch der Mensch findet keinen Halt in sich selbst. Angesichts der menschlichen Katastrophen des Ersten Weltkriegs und des deutschen Naziregimes, das den Zweiten Weltkrieg provozierte, fragt Dessauer, der davon Zeitgenosse war: «Wer schützt uns vor uns selbst?» Der Mensch sucht nach einem letzten Halt, den er nur im Absoluten findet. Dem menschlichen Drang und Streben nach dem Absoluten korrespondiert die Wirklichkeit des absolut Vollkommenen, analog wie dem menschlichen Forschen der Kosmos korrespondiert. Das sind alles Lehren. Doch religiöser Glaube ist nicht primär eine Lehre, ein Glaube, dass etwas so oder so ist. Der religiöse Glaube ist nicht primär ein Wahrhalten von etwas, sondern ein Vertrauen in eine höchste gütige Macht. Und so erreicht denn Dessauers Büchlein Am Rande der Dinge. Über das Verhältnis von Wissen und Glauben seinen religiösen Höhepunkt in seinen Schlusssätzen: «Aber die umfassendere Geisteshaltung des Glaubens, die auch jedem forschenden Erkennen und Verstehen vorangeht, hat als Beginn einen Willensakt, ein Ja.» Der Bescheidenste, Kleinste unter uns Menschen in dieser Geisteshaltung ist ein Stammler sogut wie der Grösste – in gleicher Nähe zum unendlichen Gegenstand. «Dies habe ich eindrucksvoll beim Sterben einfacher gläubiger Menschen erfahren, nicht nur im Abendland – auch im Orient, im Krebsspital. Sie konnten nicht lesen und schreiben, sie trugen ohne Klagen schwere Schmerzen, sie erwarteten ruhig den Tod und ergaben sich ihm ohne Widerspruch, sicher in Allahs Hand zu sein.» (56)
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§ 57 Der nicht-religiöse, unwissenschaftliche Glaube in der Physik und physikalischen Astronomie sowie in der Mathematik171 a) Physik und Astronomie Die beiden Schweizer Nobelpreisträger Didier Queloz und Michel Mayor hatten 1995 den Exoplaneten 51 Pegasi b entdeckt und damit die damals gültige Theorie der Planetenentstehung als falsch erwiesen. Sie wurde dem «empirischen Falsifikationsprinzip» von Karl Popper (1902–1994) entsprechend falsifiziert, was nach diesem Prinzip bedeutet, dass sie eine echte naturwissenschaftliche Theorie war. Doch nicht alle Theorien der Physik und physikalischen Astronomie können falsifiziert werden. Die sog. Springtheorie, die alle bisher festgestellten physikalischen Fundamentalkräfte vereinen soll, ist so spekulativ, dass sie nicht als falsch erwiesen werden kann, also nach Popper keine naturwissenschaftliche Theorie ist. Claus Beisbart, Prof. für Wissenschaftsphilosophie am Philosophischen Institut der Universität Bern erklärte, dass die erwähnte Springtheorie zu anderen Theorien, wie etwa der Schleifentheorie, im Widerspruch stehe und dass daher nicht beide richtig sein können. Er sagte: «Wenn jemand heute eine dieser Theorien für wahr hält, dann ist das sicher kein Wissen, sondern ein blosser Glaube.» Viele Forschende würden solchen Theorien eher als ihren Steckenpferden anhängen. «Sie denken aber immerhin, dass ihre Theorie eher weiterverfolgt werden sollte als eine andere, und geben als Grund dafür an, dass sie besonders einfach ist oder grosse Schönheit besitzt.» Um in der Forschung weiterzukommen, brauche es keinen Glauben, sondern es genüge, Hypothesen weiterzuverfolgen. «Aber es ist psychologisch schwierig, eine Hypothese über Jahre als solche zu betrachten. Es besteht die Gefahr, dass sie doch zum Glauben wird. Untersuchungen zeigen, dass wenn jemand über Jahre mit demselben Modell arbeitet, er irgendwann daran zu glauben beginnt. Er nimmt die empirischen Daten nicht mehr neutral wahr, sondern presst sie in sein Modell.» Forschende in der Physik laufen überall Gefahr, zu Gläubigen ihrer eigenen Annahmen (Hypothesen) zu werden. Die Springtheorie ist ein Versuch, eine Theorie von allem zu sein. Hat sie deshalb einen religiösen Charakter? Claus Beisbart verneint dies: «Es ist nur das Wesen der Wissenschaft, dass sie verknüpft, systematisiert und nach Einheit sucht.» Man könne nicht von religiösem Glauben sprechen, wenn Wissenschaft171 In diesem Paragrafen stütze ich mich auf den von Judith Hochstrasser, Florian Fisch und Michael Baumann zusammengestellten Beitrag «Das Fundament ist ungewiss», der in der vom Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (SNF) herausgegebenen wissenschaftlichen Zeitschrift Horizonte – Das Schweizerische Forschungsmagazin, Nr. 124 (März 2020), S. 12–15 erschienen ist.
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lerinnen und Wissenschaftler an eine spekulative Theorie glauben. Denn bei einem religiösen Glauben verlasse man sich auf ein höheres Wesen und richte seine Lebensführung danach aus, was in der Physik nicht der Fall sei. b) Die unbeweisbaren Grundlagen der Mathematik Der englische Mathematiker und Physiker Isaac Newton (1643–1727) dachte, dass der von ihm konzipierte unendliche absolute Raum ein Attribut Gottes sei, da der Raum und Gott überall seien. Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) widersprach ihm, indem er lehrte, dass es keinen absoluten Raum gebe, sondern der Raum nur das relative Bezugssytem der phänomenalen (durch die Wahrnehmung erscheinenden) räumlichen Dinge sei. Ohne solche endlichen Dinge gebe es keinen Raum. Der deutsche Mathematiker Georg Cantor (1845–1918) dachte, dass seine Unendlichkeitstheorie Einsicht in das Göttliche gebe. Heute drehen sich die Diskussionen um anderes, z. B. darum, ob die Axiome der von Georg Cantor formulierten Theorie der unendlichen Mengen widerspruchsfrei sind oder nicht. Eine unendliche Menge ist die Zusammenfassung von unendlich vielen Einzeldingen zu einem Ganzen, z. B. die Menge aller ganzen Zahlen oder die Menge aller Punkte im Inneren eines Kreises. Nach Roy Wagner, Professor für Geschichte und Philosophie der mathematischen Wissenschaften an der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) in Zürich ist die Widerspruchsfreiheit jener Axiome nicht nur unbewiesen, sondern nach mathematischen Massstäben auch unbeweisbar. Trotzdem würden die meisten Mathematiker daran glauben. Weiter sagte Wagner, dass Mathematiker oft dem Urteil von Fachleuten glauben müssen, wenn es um innovative, komplexe und lange Beweise gehe. «Dies können nur wenige Mathematiker verstehen. Manchmal kommt es auch zu Meinungsverschiedenheiten.» «Mathematiker glauben im Allgemeinen, dass jeder korrekte Beweis von einem Computer überprüft werden kann. Man muss daran glauben, dass die entsprechende Software korrekt funktionniert.» Trotz aller dieser Unsicherheiten gibt es nach Roy Wagner in der Mathematik keinen Punkt, wo der Glaube endet und die Wissenschaft beginnt. «Wenn ich ein wissenschaftliches Argument vorbringe, glaube ich, dass ich keinen Fehler gemacht habe, dass das Wissen, auf dem ich aufbaue, fundiert, und das System [die Theorie], die ich verwende, gültig ist. Wer an glaubensfreies Wissen glaubt, hat eine unrealistische Vorstellung von der mathematischenWissenschaft.»
4. Kapitel. Erfüllung des blossen Meinens in den Humanwissenschaften, z. B. in der Geschichtswissenschaft
§ 58 Erfüllung des blossen Meinens durch «Intuition» im ethischen Erkennen von Menschen Ich glaube, dass wir Menschen in einem konkreten Fall nicht erkennen können, ob andere Menschen ethisch gut oder schlecht sind, und wir so auch kein Recht haben, sie als ethisch schlecht oder schuldig oder ethisch gut oder unschuldig zu beurteilen. Aber wir können und die Richter müssen ihre Taten als nach dem gültigen Recht strafbar oder nicht strafbar beurteilen. Vor Gericht werden nicht Menschen, sondern nur Taten in dieser Form beurteilt. Die Täter werden aufgrund ihrer Taten und nach dem Recht bestraft oder freigesprochen, nicht weil sie ethisch gute oder ethisch schlechte Menschen sind, und auch nicht, weil sie ethisch gut oder ethisch schlecht gehandelt haben. Nur wir selbst wissen, und zwar aufgrund unseres Gewissens, ob wir ethisch gut handeln oder nicht, ethisch gut gehandelt haben oder nicht, ethisch schuldig geworden sind oder nicht. Nach dem Evangelium des Matthäus sagte Jesus: «Richtet nicht [über andere Menschen], damit ihr nicht gerichtet werdet. Denn so, wie ihr richtet, werdet auch ihr gerichtet werden.» (7. Kap. Vers 1) Wir müssen über Taten nach dem gültigen Recht urteilen, aber können nicht Menschen ethisch verurteilen. Ich denke also, dass wir nie wirklich wissen, in welchem Masse ein anderer Mensch schuldig oder unschuldig ist, und deshalb nie über ihn richten, ihn nie verurteilen sollen. Doch wir wissen manchmal durch längere alltägliche Erfahrung oder einfach, weil wir es ihm «ansehen», an seinem Blick, seiner Art mit uns und anderen zu sprechen und zu lachen, an seiner grossen Hilfsbereitschaft, an seinem Gang, mit Gewissheit, dass er ein ethisch guter Mensch ist. Wir können daran nicht zweifeln und vertrauen diesem Menschen völlig. Ohne ein solches Vertrauen in einige Menschen, in die eigene Gattin, in Freunde, in Nachbarn, aber auch in politische Persönlichkeiten könnten wir nicht leben, oder das Leben wäre eine Qual. Anderen Menschen misstrauen wir und wir können aufgrund längerer Erfahrungen mit ihnen nicht anders, als ihnen zu misstrauen. Aber sicher sind wir nie, ob sie wirklich ethisch schlecht sind. Woher kommt dieser erstaunliche Unterschied zwischen unserem Nichterkennen der ethischen
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Schlechtigkeit anderer Personen und unserem Erkennen der ethischen Güte anderer Personen? Ich glaube, dieser Unterschied kommt daher, dass ethische Güte etwas Seiendes, Existierendes ist, ethische Schlechtigkeit aber nur ein Mangel an Seiendem, Existierendem. Ein ethisch guter Mensch liebt seinen Nächsten wie sich selbst. Das können wir durch längere Erfahrung erkennen. Ein ethisch schlechter Mensch liebt sich selbst, aber er liebt nur sich selbst, es fehlt (mangelt) ihm die Nächstenliebe. Ein Mangel von etwas ist viel schwieriger zu erkennen als das Vorhandensein von etwas. Überdies tut ein ethisch schlechter Mensch anderen Menschen oft auch Gutes, aber nur insofern und so lange, als dies ihm nützt. D. h., er tut es aus Selbstliebe, nicht aus Nächstenliebe; seine Nächstenliebe ist nur scheinbar Nächstenliebe. Wohl aus diesen Gründen können wir die ethische Schlechtigkeit eines Menschen nicht erkennen, aber aufgrund von vielen Erfahrungen, können wir nicht anders als einem solchen Menschen zu misstrauen. Aber wir sollen ihm dennoch das Gute wünschen und ihm nichts Schlechtes tun, denn dies verlangt die Nächstenliebe.
§ 59 Durch historische Dokumente (Quellen) begründete Individualgeschichte (Biografie). Erstes Beispiel: Biografie des Kunstmalers Michelangelo Merisi, genannt Caravaggio (28. September 1571 bis 18. Juli 1610). Caravaggio als Maler des Menschen a) Einleitung Ausser Vincent van Gogh (30. März 1853 bis 29. Juli 1890) kenne ich keinen hervorragenden Maler, dessen Leben eine solche Tragödie war wie dasjenige Caravaggios. Allerdings waren es Tragödien ganz verschiedener Art. Auch ihre Leben waren fast gleich kurz: Van Gogh wurde 37, Caravaggio knapp 39 Jahre alt. Wahrscheinlich hat kein anderer Künstler wie Caravaggio die Kunst in neue Bahnen gelenkt und damit das Gesicht der europäischen Malerei verändert. Rembrandt und die Niederländer des 17. Jahrhunderts, Rubens und die flämische Malerei seiner Zeit, Velasquez und seine spanischen Zeitgenossen haben entscheidende Anregungen von Caravaggio, seiner neuen Art des Sehens und Erlebens erfahren. Den im akademischen Betrieb des späten 16. Jahrhunderts und dem damaligen Manierismus verflachenden Idealen der Hochrenaissance antwortete die Kunst Caravaggios mit der Rückkehr zum Sehen und Beobachten des Lebens der Menschen, ihrer Leiden und Freuden, ihrer Grausamkeit und Güte, ihrer Schönheit und Hässlichkeit. Caravaggio hat im Laufe der Zeit eine sehr unterschiedliche Bewertung erfahren. Während Rubens seiner Kunst noch grosse Verehrung entgegenbrachte,
4. Kapitel. Erfüllung des blossen Meinens in den Humanwissenschaften
ging bald danach die Kenntnis seines Werkes verloren. Caravaggio wurde dem Begriff des Naturalismus untergeordnet und fiel mit diesem der Verachtung anheim. Erst seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts wandte sich die Forschung allmählich wieder seiner Kunst zu. Der Kunsthistoriker Roberto Longhi (1890– 1970), der grosse italienische Kenner von Caravaggio und von Piero della Francesca, brachte ihn wieder in das Bewusstsein der Kunstinteressierten. Er publizierte 1928 und 1934 die Quesiti caravaggeschi (Fragen zu Caravaggio). Er schrieb darin: Man spricht von Michelangelo [Merisi] aus Caravaggio […]. Man hat vergessen, dass es ohne ihn keinen [Jusepe de] Ribera [1591–1652], [Jan] Vermeer [van Delft, 1632– 1675], Georges de La Tour [um 1600–1652] oder Rembrandt [Hermensz van Rijn, 1606–1669] gegeben hätte. Und Delacroix [1789–1883], [Gustave] Courbet [1819– 1877] und [Edouard] Manet [1832–1882] hätten anders gemalt.172
Caravaggios wahre Grösse liess aber erst die Ausstellung Mostra del Caravaggio e dei Caravaggeschi vom April bis Juni 1951 im Palazzo Reale in Mailand unter Leitung des soeben erwähnten Kunsthistorikers und Curators Roberto Longhi erkennen. Nahezu das vollständige Werk Caravaggios war in ihr vereinigt. 34 Jahre später, 1985, präsentierte das Metropolitan Museum of Art in New York die Ausstellung The Age of Caravaggio mit den Originalen der erst kurz zuvor entdeckten «Musizierenden Knaben» (1595/1596, Metropolitan Museum of Art)173 und «Amor vincit omnia» (1601, Berlin, Staatliche Museen, Gemäldegalerie)174. Vom 11. Oktober 1988 bis zum 2. Januar 1989 veranstaltete der Grand Palais in Paris die Ausstellung Le siècle de Caravage dans les Collections françaises.175 Die neueste Ausstellung über Caravaggio, von der ich weiss, war diejenige vom 12. April bis 14. Juli 2019 im Museo di Capodimonte in Neapel über die Werke Caravaggios seiner napolitanischen Zeit und ihre Auswirkung auf die napolitanische Malerei. Es gibt heute eine Unzahl von reich bebilderten, mehr oder weniger guten Büchern über Caravaggio, von denen ich im folgenden Abschnitt b) diejenigen erwähne, auf die ich mich in dieser Künstlerbiografie als Quellen vor allem stütze.
Zitiert von Gilles Lambert in seinem Caravaggio, 1571–1610. Ein Genie, seiner Zeit voraus, Übersetzung aus dem Französischen von Bettina Blumenberg, Verlag Taschen, Köln 2012, S. 15. 173 Werkverzeichnis Nr. 7 in Caravaggio, con un saggio [Essay] di Mina Gregori, Electa, Mailand, 1994, dritte, revidierte und korrigierte Auflage 1996, S. 145. 174 Werkverzeichnis Nr. 38 in Caravaggio,Mailand 1996, S. 149. 175 Katalog dieser Austellung: Y. Bonnefoy, Seicento. Le siècle de Caravage dans les collections françaises, RMN, Paris 1988/1989. 172
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b) Quellen Ich berufe mich in dieser Biografie vor allem auf die folgenden zehn Werke und die in ihnen angegebenen Quellen:
1. Hugo Wagner, Michelangelo da Caravaggio, Druck und Verlag Eicher & Co., Bern 1958; 2. Maurizio Calvesi, Caravaggio, Artedossier No. 1, Giunti Editore, Florenz und Mailand 1986; 3. Caravaggio, con un saggio [Essay] di Mina Gregori, Electa, Mailand, 1994, dritte, revidierte und korrigierte Auflage 1996; 4. Rodolfo Papa, Caravaggio. Gli ultimi anni, Dossier d’Art 205, Giunti Editore, Florenz und Mailand 2006; 5. Rodolfo Papa, Caravaggio. Gli anni giovanili, Dossier d’Art 217, Giunti Editore, Florenz und Mailand 2007; 6. Rodolfo Papa, Caravaggio. Le origini, i modelli, Dossier d’Art 217, Giunti Editore, Florenz und Mailand 2010; 7. Duncan Bull, Tacco Dibitts, Margriet van Eikema Hommes, Volker Munich, Ernst van de Wetering, Rembrandt – Caravaggio, Katalog zur Ausstellung Rembrand – Caravaggio, die das Rijksmuseum Amsterdam und das Van Gogh Museum vom 24. Febraur bis 18. Juni 2006 im Van Gogh Museum in Amsterdam präsentierten. Niederländische Ausgabe: Waanders Publishers, Zwolle, deutschsprachige Ausgabe: Belser Verlag, Stuttgart 2006; 8. Eberhard König, Michelangelo Merisi da Caravaggio, 1571–1610, Ullmann Verlag, Königswinter 2007; 9. Sybille Ebert-Schifferer, Caravaggio. Sehen – Staunen – Glauben. Der Maler und sein Werk, C.H. Beck Verlag, München 2009; 10. Gilles Lambert, Caravaggio, 1571–1610. Ein Genie, seiner Zeit voraus, Übersetzung aus dem Französischen von Bettina Blumenberg, Verlag Taschen, Köln 2012.
c) Der Einfluss Caravaggios auf die holländischen Maler des 17. Jahrhunderts bis Rembrandt Der Einfluss Caravaggios auf die holländischen Maler des 17. Jahrhunderts, auf Jan Vermeer van Delft (1632–1675), und vor allem auf den in Amsterdam wohnenden Rembrandt Hermensz van Rijn (1606–1669) verlief über die sog. Utrechter Caravaggisten. Die wichtigsten von ihnen waren der vermutlich in Den Haag geborene Hendrick ter Brugghen (um 1588–1629), Gerard van Honthorst (1590–1656) und Dirck van Baburen (um 1594/95–1624). Ter Brugghen, der Bekannteste der Utrechter Caravaggisten, war vermutlich bereits 1604 nach Rom gereist, doch lässt sich diese Vermutung nicht belegen. Man weiss, dass er mehrere Jahre in Italien blieb, bevor er im Herbst 1614 nach Utrecht zurückkehrte und dort bis zu seinem Tod im Jahre 1629 arbeitete. Nach Angaben von Cornelis de Bie, Kunsthistoriker und Biograf aus dem 17. Jahrhundert, war ter Brugghen einer der bekanntesten Künstler seiner Generation in Holland. Alle drei waren in den ersten beiden Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts nach Rom gereist und hatten Bilder von Caravaggio gesehen. Gerard van Honthorst reiste zwischen 1610 und
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1615 nach Italien und Rom. Wie der Künstlerbiograf Giulio Mancini 1621 schrieb, «erreichte er Rom in jenen Tagen, als Caravaggios Still allgemein imitiert wurde». Über van Honthorst weiss man, dass er für wichtige Auftraggeber wie den Kardinal Scipione Borghese, den Neffen von Papst Paul V., arbeitete und im Hause des Bankiers Marchese Vincenzo Giustiniani wohnte, der in seinem Haus nicht weniger als 15 Bilder von Caravaggio besass, darunter die Bilder Amor vincit omnia (1601)176 und Incredulità dell’Apostolo Tommaso (ca. 1601)177. Der dritte, Dirck van Baburen, war Schüler des bekannten Utrechter Malers Paulus Moreelse (1571–1638), der selbst nach Italien gereist war. Van Baburen folgte nach dem Abschluss seiner Lehre dessen Vorbild und hielt sich nachweislich nach 1615 in Rom auf. Wie van Honthorst war auch er in Rom erfolgreich. Auch er malte im Auftrag von Kardinal Borghese und des Bankiers Giustiniani. 1620 oder 1621 kehrte Dirck van Baburen nach Utrecht zurück.178 Alle drei bildeten wie Caravaggio Menschen von Fleisch und Blut ab. Besonders auffällig bei ihnen ist der Einsatz von Licht, mit dem sie das Wesentliche einer Handlung hervorhoben. Eine charakteristische Eigenart Carvaggios, die sie übernahmen, war die Verwendung einer fokussierenden Lichtquelle in einer ansonsten dunkel gehaltenen Umgebung. Diese Hell-Dunkel Malerei (chiaroscuro) bewirkt im Dargestellten starke Kontraste.179 d) Das Leben Caravaggios Caravaggio wurde im September 1571 als Kind von Fermo Merisi und Lucia Aratori in Caravaggio geboren. Er hatte vier Geschwister. Der Tag seiner Geburt ist nicht bekannt; aber sehr wahrscheinlich war es der Tag des Engels Michael, der 29. September, denn er wurde Michelangelo getauft. Sein Vater Fermo Merisi war Oberintendant für die Erhaltung der Bauwerke (sovrintendente alla manutenzione degli edifici) im Dienst des Herzogs von Mailand und Marchese di Caravaggio, Francesco I. Sforza. Kurz nach seiner Geburt zog er mit seiner Mutter nach Mailand, wo sein Bruder und seine Schwester Lucia geboren wurden. Im Jahre 1577 floh die Familie vor der Pest in das Landstädtchen Caravaggio, zwischen Mailand und Bergamo. Doch der Vater und die Grosseltern väterlicherseits starben in diesem Jahr, so dass er seit seinem sechsten Lebensjahr zusammen mit seiner Mutter Lucia Aratori und seinen vier Geschwistern lebte. Die Mutter hatte grosse Schwierigkeiten ihre fünf Kinder gross zu ziehen. 1584, mit 13 Jahren, zog Caravaggio nach Mailand, um dort bis 1588, also bis zu seinem 17. Lebensjahr beim Kunstmaler Simone Peterzano (auch Peterza176 177 178 179
Werkverzeichnis Nr. 38 in Caravaggio, Mailand1996, S. 149. Werkverzeichnis Nr. 35 in Caravaggio, Mailand1996, S. 149. Bull u. a., Rembrandt – Caravaggio, 2006, S. 36. Bull u. a., Rembrandt – Caravaggio, 2006 S. 34.
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ni und Petrazini genannt) zu lernen (geboren um 1540 im damals zur Republik Venedig gehörenden Bergamo, gestorben nach 1596 in Mailand). Dieser war ein Maler des späten lombardischen Manierismus, bezeichnete sich aber auch als Schüler des Venezianers Tizian. Über die Aktivitäten in seinem Atelier weiss man wenig. In Peterzanos Fresken in der Kartause von Garegnano in der Nähe Mailands mischen sich Manierismus und lombardischer Realismus, ebenso in einem seiner Gemälde, Venus, Cupido und zwei Satyrn in der Sammlung Corsini, New York. Der oben erwähnte vortreffliche italienische Kunsthistoriker Roberto Longhi schrieb in seinen 1928 und 1934 publizierten, oben bereits zitierten Quesiti caravaggeschi: In Mailand pflegte eine Gruppe von lombardischen und zugezogenen Malern seit geraumer Zeit eine einfache Kunst […] In ihrem Werk war das menschliche Gefühl verinnerlichter, das Religiöse der Inhalt. […] Die Farben kamen der Natur näher und die Anwendung der Schatten war durchdacht darauf angelegt, Hell-Dunkel Effekte zu unterstützen. Zugleich waren sie bestrebt, die Natur der Dinge und der Menschen zu ergründen.180
Aus dem Ende dieser Lehrzeit oder unmittelbar danach, wohl aus den Jahren zwischen 1588 und 1590, stammt das erste mir bekannte Bild von Caravaggio, das aber nicht mehr erhalten und in keinem der von mir oben im Abschnitt b) genannten zehn, mir als Quellen dienenden Werke angeführt wird. Doch eine schwarzweisse Fotografie dieses Bildes ist abgedruckt im zweiten Band des 1945 erschienenen siebenbändigen Schweizer Lexikon181 unter dem Titel «Caravaggio». Das Bild zeigt einen am Boden liegenden, ungefähr 17-jährigen schönen Jüngling, dessen nackter Körper dem Zuschauer zugewandt ist und der einen kleinen Ast eines Rebstocks voller Trauben zu sich herunterzieht und davon Beeren pflückt. Der helle Leib des Jünglings hebt sich von der dunklen Wiese hinter ihm ab, während die dunklen Trauben und Blätter des Rebstocks den hellen Himmel zum Hintergrund haben. Über den Stamm des Rebstocks ist ein Tuch (eine Toga) gelegt, dessen sich der Jüngling entledigt hat und dessen Farbe, wie solche Tücher auf späteren Bildern Caravaggios, wahrscheinlich dunkelrot ist. Das Bild wird in jenem Lexikon als Der jugendliche Bacchus und als Selbstporträt bezeichnet. Das erste erhaltene Selbstporträt Caravaggios befindet sich auf dem Bild Musizierende Knaben (The Metropolitan Museum of Art) aus der Zeit von 1595/96.182 Caravaggio stellt sich auf diesem Ölbild als Sänger dar. Der Ort, wo sich jenes früheste, heute verlorene Selbstporträt befindet, wird in dem Lexikon aus dem Jahre 1945 als Florenz angegeben. Ich nehme an, dass dieses Bild zur Zeit der deutschen militärischen Besatzung Italiens nach der Verhaftung MussoZitiert durch Gilles Lambert, Caravaggio. Ein Genie, 2012, S. 23. Encyclios-Verlag AG. Vereinigung der Schweizer Verleger: Dr. Gustav Keckels, Herbert Lang, Dr. Eugen Rentsch, H. R. Sauerländer, Dr. Hans Vetter (Huber & Co. AG). 182 Werkverzeichnis Nr. 7 in Caravaggio,Mailand 1996, S. 145. 180
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linis am 24. Juli 1943 durch Pietro Badoglio (1871–1956) und der Bildung der ersten postfaschistischen Regierung von einem deutschen Offizier in Florenz gestohlen wurde und seitdem verschwunden ist. Am 29. November 1590, zwei Jahre nach dem Ende der Lehre bei Simone Peterzano, starb auch Caravaggios Mutter. Mit 19 Jahren hatte er also keine Eltern mehr. Nach der Liquidation seiner Erbschaft am 11. Mai 1592 machte sich Caravaggio auf den Weg nach Rom, das ihn vom Hörensagen künstlerisch angezogen haben muss, schon allein durch die dort vorhandenen Kunstwerke seines weniger als dreissig Jahre zuvor verstorbenen berühmten Namensvetters Michelangelo Buonarotti (1475–1564), den er sich in Rom in manchem zum Vorbild nehmen wird. Wahrscheinlich, doch nicht durch historische Quellen gesichert, reiste er von Caravaggio nicht über Mailand und die Südroute der an vielen Stellen sumpfigen Po-Ebene über die Antike Via Aemilia über Piacenca, Parma und Modena nach Bologna, sondern auf der Nordroute über die Grenze in die Republik Venedig zum östlich von Caravaggio gelegenen Brescia, weiter nach Verona. Von dort machte er sicher einen Abstecher ins südlicher gelegene Mantua, den Sitz des Herzogs (Duca) von Mantua. Denn dort, in dessen Palast in der Camera degli sposi (Zimmer der Vermählten) hat er wohl die berühmten Fresken des Meisters der Perspektive, Andrea Mantegna (1431–1505) gesehen, des Schwagers des Venezianers Giovanni Bellini (1430–1516). In diesem Raum befindet sich ein illusionistisches, kreisrundes, zuoberst den blauen, leicht bewölkten Himmel zeigendes Deckengemälde. Innerhalb einer kreisrunden Balustrade stehen, alle von unten perspektivisch gesehen, drei kleine nackte geflügelte Engelchen (Putten), während hinter der Balustrade vier Damen verschiedenen Alters, von denen nur die Köpfe sichtbar sind, zum Betrachter hinunterschauen. Auf der Balustrade sitzt ein Pfau. So etwas hat vor Mantegna noch kein Mensch gemalt. Das einzige Fresco, das Caravaggio in Rom malen wird, ist eindeutig von diesem Deckenfresko Mantegnas inspiriert. Es ist das illusionistische Deckengemälde Jupiter, Neptun und Pluto (300 × 180 cm)183, das Caravaggio ungefähr 1597 malte. Es befindet sich ausserhalb des alten Rom im Casino dell’Aurora der Villa Boncompagni Ludovisi. Sie wurde im 16. Jahrhundert vom Kardinal Francesco Maria del Monte (1549–1623) erbaut, in dessen Stadtpalast Caravaggio in Rom von 1595 bis 1602 lebte (siehe unten). Man blickt von unten auf drei Figuren, die stark perspektivisch verkürzt erscheinen: auf einer Seite der nackte Neptun (Meeres- oder Wassergott) und Pluto (Erdgott) aufrecht stehend, auf der anderen Seite hebt Zeus als Adler mit Ganymed auf dem Rücken aufwärts strebend ab.
Werkverzeichnis Nr. 19 in Caravaggio,Mailand 1996, S. 147; eine gute und grosse farbige Abbildung in Eberhard König, Michelangelo Merisi da Caravaggio (1571–1610), Ullman Verlag, Königswinter 2007, S. 27. 183
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Caravaggio reiste 1592 wahrscheinlich, nach Norden zurückkehrend, über Vicenza, wo sich weitere Werke von Andrea Mantegna befinden, und Padua, wo er sich wohl die zahlreichen plastischen Werke des Mitschöpfers der Florentinischen Renaissance, Donatello (1386?–1466), ansah, weiter nach Venedig. In dieser Stadt waren Werke Giorgiones (1478–1510), Veroneses (1528–1588), Tintorettos (1518–1594), Tizians (gestorben 1596) und anderer, damals moderner venezianischer Maler zu sehen. Von Venedig reiste er vermutlich zurück nach Padua, betrat in Bologna den päpstlichen Kirchenstaat. In Bologna machte er vielleicht Bekanntschaft mit Werken der drei Carracci (oder Caracci), den beiden Brüdern Agostino (1557–1602) und Annibale (1560–1609) und ihrem Vetter Ludovico (1555–1619), die eine neue, den Manierismus überwindende Malerei pflegten. Von dort reiste er weiter in das Herzogtum der Medici nach Florenz mit seinen Fresken Masaccios (1401–1428, in der Kirche Santa Maria del Carmine) und den vielen plastischen Werken Michelangelo Buonarottis in der Kirche San Lorenzo. Ende 1592 erreichte er völlig mittellos Rom. Um Geld zu verdienen, kopierte Caravaggio im ersten Jahr seines dortigen Aufenthaltes (1592/1593) Devotionalbilder, fertigte Dekorationen für Kirchenfeste und malte Genreszenen für den freien Markt. Solche Werke, die für den Verkauf gedacht waren, könnten folgende fünf relativ kleine Ölbilder sein: das nur als Kopie erhaltene Bild Knabe, der eine Frucht schält (65 × 52 cm, in privater englischer Sammlung)184, Knabe mit Früchten (70 × 67 cm, Galleria Borghese, Rom)185, das nur als Kopie erhaltene Knabe mit einer Vase mit Rosen (67,3 × 81 cm, The High Museum of Art, Atlanta, Georgia)186, das in zwei Ausführungen erhaltene Knabe, der von eine Eidechse gebissen wird (66 × 49,5 cm, National Gallery, London, und 65,8 × 53,3 cm, Florenz, Fondazione di Studi di Storia dell’Arte, Roberto Longhi)187. Nach diesem Jahr unabhängiger Arbeit kam Caravaggio wahrscheinlich im Mai 1593 in die grosse Werkstatt von Giuseppe Cesari, dem Cavalier d’Arpino, einem der Lieblingsmaler des amtierenden Papstes Clemens II. Er musste dort nach Beloris Geschichtswerk (1672) Blumen und Früchte malen. In dieser Zeit wurde er krank, genas im Ospedale della Consolatione und malte als Selbstporträt das 67 × 53 cm grosse Ölbild Der kranke kleine Bacchus (Galleria Borghese, Rom).188 184 185
29.
Werkverzeichnis Nr. 1 in Caravaggio,Mailand 1996, S. 145. Werkverzeichnis Nr. 3 in Caravaggio,Mailand 1996, S. 145. Grosse Farbfotografien S. 27–
Werkverzeichnis Nr. 4 in Caravaggio, Mailand1996, S. 145. Werkverzeichnis, Nr. 10 und 11 in Caravaggio,Mailand 1996, S. 146; Farbfotografie in Rodolfo Papa, Caravaggio. Le origini, i modelli, Dossier d’Art 217, Giunti Editore, Florenz und Mailand 2010, S. 15. 188 Werkverzeichnis, Nr. 2 in Caravaggio,Mailand 1996, S. 145, grosse Farbfotografien S. 30– 32; Papa, Le origini, i modelli, FlorenzMailand2010, S. 11. 186
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Im Jahre 1595 wurde er ins Haus von Kardinal Francesco Maria del Monte (1549–1623) aufgenommen. Del Monte war in Venedig als Sohn einer toskanischen Adelsfamilie, der Bourbon del Monte Santa Maria, geboren worden. Er wurde ambasciatore der Medici, des Herrscherhauses von Florenz, in Rom. Als Kardinal in Rom tat er sich als Mäzen hauptsächlich norditalienischer Künstler hervor, und seine Residenz, der Palazzo Madama, zwischen der Piazza Navona im Westen und dem Pantheon im Osten gelegen, war in seiner Zeit ein zentraler Treffpunkt des avantgardistischen Kulturlebens Roms. Der Kardinal wurde für Caravaggio ein wichtiger Auftraggeber und brachte ihn in Kontakt mit anderen bedeutenden Kunstliebhabern Roms. Als Gehilfe, Lehrling und als Modell seiner damaligen Bilder hatte er spätestens seit diesem Jahr, aber wahrscheinlich schon seit 1593, den schönen Mario Minniti aus Syrakus auf Sizilien (1577–1640), den wir in dieser Biografie Caravaggios noch mehrmals treffen werden. Im Jahr 1600 trat an seine Stelle Francesco Boneri (1588–1630). Durch die Vermittlung Del Montes, der gute Beziehungen zum französischen Kardinal Mathieu (Matthäus) Cointrel hatte, erhielt Caravaggio seinen ersten öffentlichen Auftrag. Er unterschrieb am 23. Juli 1599 den Vertrag, die Seitenwände (laterali) der Contarelli-Kapelle (Kapelle des Kardinals Cointrel) in San Luigi dei Francesi, der Kirche der Franzosen in Rom, mit Ölgemälden zu versehen und verpflichtete sich, diese Gemälde innerhalb eines Jahres zu vollenden. Die letzte Bezahlung für seine Arbeit empfing er am 4. Juli 1600. Zu diesem Zeitpunkt befanden sich die beiden grossen Gemälde Die Berufung des Apostels Matthäus (322 cm × 340 cm)189 und Das Martyrium des Apostels Matthäus (323 cm × 340 cm)190 bereits in dieser Kapelle. Die Kirche San Luigi dei Francesi liegt gegenüber dem Palazzo Madama, in dem Del Monte und auch Caravaggio damals wohnten. Durch diese öffentlichen Gemälde wurde der damals 29-jährige Caravaggio einer der bekanntesten Maler Roms und erhielt in der Folge weitere grosse Aufträge. Am 24. September 1600 beauftragte Monsignore Tiberio Cerasi (1544 bis 3. Mai 1601), Jurist und oberster Schatzmeister von Papst Clemens VIII., Caravaggio für seine neu erworbene Kapelle in der Kirche Santa Maria del Popolo an der Piazza del Popolo am Nordtor Roms zwei Ölbilder zu schaffen, eine Bekehrung des Apostels Paulus auf seinem Weg nach Damaskus und eine Kreuzigung des Apostels Petrus. Nach dem Vertrag mussten die Bilder vor dem 24. Mai 1600 fertig sein. Im lateinischen Vertrag wird Caravaggio «egregius in Urbe pictor» Werkverzeichnis Nr. 31 in Caravaggio,Mailand 1996, S. 148. Fotografien in allen neun von mir zitierten Büchern über Caravaggio. 190 Werkverzeichnis Nr. 30 in Caravaggio, Mailand1996, S. 148, sehr gute FotografienMailand, S. 65 bis 81; Bilder auch in Maurizio Calvesi, Caravaggio, Giunto Editore, Florenz und Mailand 1986, S. 41; König, Michelangelo Merisi di Caravaggio, 2007, S. 98–99; Gilles Lambert, Caravaggio, 2012, S. 48–51. 189
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(hervorragender Maler in der Stadt) genannt. Doch sie wurden erst anderthalb Jahre später, am 10. November 1601 fertig, ein halbes Jahr nach Cerasis Tod. Die Verzögerung war unter anderem dadurch verursacht, dass Caravaggio mit seinem Gemälde Bekehrung des Apostels Paulus auf seinem Weg nach Damaskus nicht zufrieden war und es durch eine neue, viel einfachere, aber weit eindrücklichere Fassung ersetzte, die bis heute in dieser Kapelle hängt.191 Auch die erste Fassung ist noch erhalten (Collezione Odescalchi, Roma).192 In den Jahren 1600 und 1601 malte Caravaggio auch noch die folgenden vier grossen Ölbilder: Die Ungläubigkeit des Apostels Thomas (1600–1601, Potsdam-Sansouci, Bildergalerie)193, Das Abendmahl in Emmaus (1601, London National Gallery)194, Krönung mit der Dornenkrone (1600–1602, Prato, Cassa di Risparmio, Prato)195 und Der siegreiche Amor (1601, Berlin, Staatliche Museen, Gemäldegalerie)196, auf das ich gleich noch zu sprechen kommen werde. Durch die oben erwähnten beiden grossen Aufträge in öffentlichen Kirchenräumen und durch den Verkauf einzelner Bilder, wohl meistens auch aufgrund von Aufträgen, hatte Caravaggio nun genügend finanzielle Mittel, um sich von Kardinal del Monte unabhängig zu machen und seine Unterkunft in dessen Palazzo Madama zu verlassen. Er mietete sich sehr wahrscheinlich im Jahre 1602 ein Haus im Vicolo dei Santi Cecilia e Biagio (heute Chiesa di Santa Maria del Divino Amore) 400 Meter nördlich des Palazzo Madama und 600 Meter vor der Piazza Santa Maria del Populo mit der gleichnamigen Kirche beim Nordtor Roms, in der sich die Kapelle von Monsigore Tiberio Cerasi befindet, für dessen Kapelle Caravaggio 1600/1601 die beiden oben erwähnten Bilder malte. In dieses Haus zog er zusammen mit dem 17 Jahre jüngeren, 14-jährigen schönen Francesco Boneri (auch Buoneri, 1588–1630). Boneri, wie Caravaggio ein Lombarde, war seit dem Jahre 1600 sein Modell, Schüler, Geselle und Diener. Gianni Papi schreibt über diese Zeit des Zusammenwohnens: Dies sind die Jahre der Vereinigung (sodalizio) mit dem jungen Francesco Boneri, besser bekannt unter dem Namen Cecco [Abkürzung von Francesco] del Caravaggio, der noch vor seiner Jünglingszeit seinen Meister während dessen fünf letzten Jahren in Rom begleiten wird, indem er mit ihm als garzone (Bursche, Geselle, Knecht) zusammen lebte. Sein Meister liess viele Personen seiner Gemälde ihm gleichen, angefangen vom ‹Amore vinci-
Werkverzeichnis Nr. 34 in Caravaggio,Mailand 1996, {{{hier fehlt die Seitenangabe}}}. Farbfotografien fast in allen oben erwähnten neuen Werke über Caravaggio. 192 Werkverzeichnis Nr. 32 in Caravaggio,Mailand 1996, {{{auch hier fehlt die Seitenangabe}}}. Farbfotografien in Calvesi, Caravaggio, FlorenzMailand1986, S. 43, und Lambert, Caravaggio, 2012, S. 62 und 64. 193 Werkverzeichnis Nr. 35 in Caravaggio,Mailand 1996, {{{Seite?}}}. 194 Werkverzeichnis Nr. 36 in Caravaggio, Mailand1996, {{{Seite?}}}. 195 Werkverzeichnis Nr. 37 in Caravaggio, Mailand1996, {{{Seite?}}}. 196 Werkverzeichnis Nr. 38 in Caravaggio, Mailand1996, S. 149. 191
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tore› über den ‹Heiligen Johannes den Täufer› [1602] in den Kapitolinischen Museen bis zum ‹David› [1610] in der Galleria Borghese.197
Den Amore vincitore malte Caravaggio, als er noch bei Kardinal Del Monte wohnte. Das Bild, das Mina Gregori als Johannes der Täufer interpretiert (1602),198 malte er, als er mit ihm zusammenwohnte. Von diesem Bild gibt es zwei Fassungen, von denen nur eine von Mina Gregori in ihr Werkverzeichnis aufgenommen wurde. Die andere wird von ihr als Kopie betrachtet. Doch Eberhard König nennt diese zwei auch von ihm als Johannes der Täufer interpretierte Bilder in seinem Carvaggio-Buch «zwei fast deckungsgleiche Versionen einer Hand»199 und zeigt darin Abbildungen beider Versionen (S. 44 und 45). Auch ich bin überzeugt, dass diese «Kopie» von Caravaggio selbst stammt; und bei genauerem Hinschauen ist sie auch nicht einfach eine Kopie. Als Modell dieser beiden Bilder musste Francesco Boneri eine Leibesposition einnehmen, die dem nackten Jüngling gleicht, den Michelangelo Buonarotti links über der Erithräischen Sybille auf seinem Deckenfresko der Sixtinischen Kapelle gemalt hatte (1508–1512). In der einen Fassung, die als Original betrachtet wird, zeigt Francesco Boneri ein sehr glückliches, lächelndes Gesicht. Auf der sog. Kopie scheint sein Gesichtsausdruck zu fragen, ob seine Leibesposition nun so sei, wie sie von Caravaggio gewünscht werde. Bei Caravaggio gibt es mehrere Fälle von zwei mehr oder weniger ähnlichen Versionen desselben Bildes. So gibt es den Knaben, der von einer Eidechse gebissen wird (1595/96) in der Version, die sich heute in der National Gallery in Londen befindet, und in der Version, heute in der Fondazione degli Studi di Storia dell’ Arte Roberto Longhi in Florenz. Ebenso gibt es zwei Versionen des Lautenspielers (ungefähr 1595/1596), die eine in der Ermitage in St. Petersburg, die andere in einer Privatsammlung in New York. Jene drei Bilder Caravaggios mit Francesco Boneri als Modell sind die einzigen, die einen Menschen lebensgross in seiner ganzen natürlichen Nacktheit zeigen. Das erste zeigt Franceso Boneri im Alter von zwölf oder dreizehn Jahren als Siegreicher Amor (191 × 148 cm).200 Die zwei aus dem Jahre 1602 (131 × 98,6 cm) stellen ihn als 14-Jährigen im Alter der Pubertät dar. Doch, Rodolfo Papa folgend201 denke ich nicht, dass diese zwei aus dem Jahre 1602 stammenden Bilder, wie die meisten schreiben, Johannes den Täufer darstellen. Das einzige Indiz dafür ist, dass auf ihnen der nackte Cecco di Caravaggio mit seinem rechten Arm einen gehörnten Widder umarmt, denn Johannes des Täufers Attribut ist ein Lamm, da er nach dem Evangelisten Johannes auf Jesus Caravaggio, Mailand1996, S. 158. Werkverzeichnis Nr. 41 in Caravaggio, Mailand1996, S. 150. 199 König, Michelangelo Merisi di Caravaggio, 2007, S. 44. 200 Werkverzeichnis Nr. 38 in Caravaggio,Mailand 1996, S. 149. 201 Rudolfo Papa, Caravaggio. Gli anni giovanili, Dossier d’Art 217, Giunti Editoe, Florenz und Mailand 2005, S. 32. 197 198
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von Nazareth zeigend sprach: «Seht, das ist das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinweg nimmt.» (Kapitel 1, Vers 29 und Vers 36) Ich vermute vielmehr, dass es sich um Isaak handelt, der den Widder umarmt, den der Engel Gottes Abraham brachte, als er diesen vom Opfer seines Sohnes an Gott abhielt, um dieses Menschenopfer durch ein Tieropfer zu ersetzen (siehe Erstes Buch Moses (Genesis), Kap. 22, Verse 1–18). Schon dass Johannes der Täufer völlig nackt dargestellt wird, scheint mir zu diesem asketischen Vorläufer und Lehrer von Jesus von Nazareth nicht zu passen. Ein gewichtigeres Argument für Rodolfo Papas und meine Interpretation scheint mir ein ungefähr gleichgrosses Bild (135 × 105 cm) ungefähr aus derselben Zeit zu sein, auf dem Abraham seinen etwa 14-jährigen Sohne Isaak mit der linken Hand den Kopf auf eine Altarplatte drückt, um ihm mit seiner rechten die Kehle zu durchschneiden, während ein Engel vom linken Bildrand her mit seiner rechten Hand Abrahams Hand mit dem Messer festhält und mit seiner linken auf einen Widder zeigt, der am rechten Bildrand erscheint. Auch hier ist Isaak nackt dargestellt, aber der untere Teil seines Leibes wird durch die Gestalt Abrahams verdeckt. Die Gesichtszüge des 14-jährigen Isaak sind diejenigen von Francesco Boneri (Florenz, Uffici).202 Dieses Bild scheint mir ein «Kommentar» zu den beiden erwähnten zu sein. Nach vielen anderen vorzüglichen Bildern wie etwa der sehr grossen Grablegung Christi (300 × 203 cm, zwischen 1602 und 1604, Vatikanische Museen, Rom), das von einigen Kunsthistorikern als das Hauptwerk Caravaggios betrachtet wird, malte er zwischen 1604 und 1606 die Madonna dei Pellegrini (Madonna der Pilger), die sich heute noch in der ersten Kapelle des linken Seitenschiffes der Basilika di Sant’Agostino, in der Capella Cavaletti, befindet und mich ganz besonders berührt. Die Kirche befindet sich einige Schritte nördlich des Palazzo Madama und der Kirche San Luigi dei Francesi. Man erreicht sie in einigen Minuten, wenn man von dort den Corso del Rinascimento einschlägt und an dessen Ende nach rechts abbiegt. In die Kirche Sant’Agostino begeben sich gläubige und oft auch weniger gläubige Römerinnen, um vor dem rechts vom Haupteingang befindlichen Gnadenbild Madonna del Parto (Madonna der Geburt) um eine gute Geburt oder kinderlose Ehepaare um die Geburt eines Kindes zu beten. Am dritten Pfeiler hängt der Der Prophet Isaias von Raffaele Santi (1483–1520) aus Urbino, dem Zeitgenossen und Konkurrenten von Michelangelo Buonarotti aus Florenz. Die vier Bilder Berufung des Apostels Matthäus und Martyrium des Apostels Matthäus, beide aus den Jahren 1599–1600, Die Bekehrung des Apostels Paulus auf dem Weg nach Damaskus, 1601, und die Madonna dei pellegrini (Madonna der Pilger), zwischen 1604 und 1606, befinden sich heute noch alle an ihrem ur202 Werkverzeichnis Nr. 44 in Caravaggio,Mailand 1996, S. 150, grosse Abbildung auf S. 102; ebenso in König, Michelangelo Merisi da Caravaggio, 2007, S. 62 und in anderen zitierten Büchern.
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sprünglichen Ort in Rom, nämlich in San Luigi dei Francesi, respektive in Santa Maria del Populo und in Sant’Agostino. Bilder, die sich in ihrem ursprünglichen Raum und in ihrer ursprünglichen Umgebung befinden, für die sie geschaffen wurden, beeindrucken mich im Allgemeinen mehr als solche, die in grosser Zahl, eines neben dem anderen, in Museen hängen. An solche säkularen Kunsttempel haben die Künstler als Ort ihrer Bilder beim Malen nie gedacht. Sie sind eine Erfindung des 19. Jahrhunderts. Am 28. Mai 1606, als Caravaggio 34 Jahre alt war, nahm sein Leben während eines Pallacorda Spieles (ein Ball-Seilspiel) im Campo di Marzo genannten Stadtquartier (zwischen Caravaggios Wohnhaus und der Piazza del Populo) im Rahmen eines Volksfestes zum Jahrestag der Wahl von Camillo Borghese zu Papst Paul V. eine tragische Wendung: Während dieses Pallacorda zwischen zwei Gruppen von je vier Freunden, von denen die eine von Caravaggios Freund, dem Juristen, Dichter und Architekten Onorio Longhi (1568–1619), die andere von Ranuccio Tomassoni da Terni angeführt wurde, töte Caravaggio unabsichtlich diesen mit einem Degenstoss. Dabei wurde auch er selbst von Tomassonis Degen schwer verletzt. Tomassoni war ein Sohn des Kommandanten der als Staatsgefängnis dienenden Engelsburg. Wäre nicht Tomassoni erstochen worden, wäre vielleicht Longhi oder Caravaggio gestorben. Für dieses Delikt wurde er durch eine Verordnung zum Tode verurteilt. Caravaggio flüchtete, nachdem er die nötigten Sachen zusammengepackt hatte, mit Francesco Boneri zuerst in den Stadtpalast der ihn protegierenden Familie Colonna und dann mit ihm ins Landgut des Fürsten Marzio Colonna auf den Colli Albani (albanischen Hügeln) nicht weit von Rom. Caravaggio brauchte Boneri als Gehilfen für seine künstlerische Tätigkeit, und der 18-jährige Lehrling, Hausgenosse und Verbündete eines zum Tod verurteilten Meisters hätte nicht gut allein in Rom leben können oder wollen. Während seiner etwa dreimonatigen Genesungszeit in jenem Landgut malte er eine Madonna, die bis heute noch nicht aufgefunden werden konnte, aber vielleicht in vielen Kopien verschiedener Hände vorliegt, sowie die wunderbare zweite Version von Das Abendmahl in Emmaus (1606, nach dem Evangelium von Lukas, Kap. 24. Kapitel, Verse 30–31), das sich heute in der Pinakothek Brera in Mailand befindet.203 Caravaggio hatte einen sehr sensiblen, aber auch reizbaren Charakter, so dass er wütend werden konnte. Er war sich seiner grossen Fähigkeit als Maler bewusst und sagte offen, was er dachte. Er verhielt sich in Rom mehrmals nicht ordnungsgemäss und bekam dadurch Schwierigkeiten mit der Obrigkeit. Im August 1603 klagte der Maler Giovanni Baglione, ein Gegner Caravaggios, gegen ihn, gegen den Maler FilippoTrisegni sowie gegen den oben erwähnten Freund 203 Werkverzeichnis Nr. 58 in Caravaggio, Mailand1996, S. 152; grosse Abbildungen auf S. 123–125.
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Teil II. Was ist Vernunfterkenntnis?
Caravaggios, Onorio Longhi, wegen Verbreitung diffamierender Gedichte. Caravaggio wurde am 11. September dieses Jahres deswegen auf der Piazza Navona inhaftiert und ins Gefängnis Tor di Nona des Gouverneurs geworfen. Gemäss den Prozessakten (Protokollen) der Befragung durch die Richter am 13. Sepember 1603 zählte Caravaggio die Maler (pittori) auf, die er kenne: Giuseppe Cesari, detto il Cavalier d’Arpino, Annibale Caracci, Federico Zuccari, Cristoforo Roncalli, genannt il Pomarancio, Orazio Gentileschi, Prospero Orsi, genannt Prosperino delle Grottesche, Giovanni Andrea Donducci, genannt il Mastelletta, Giovanni Baglione, Sigismondo Laer, Giorgio Hoefnagel [Georg (Joris) Hoefnagel, geboren 1542 in Antwerpen, gestorben 1600 in Wien], Antonio Tempesta. Er anerkannte unter diesen als ‹fähige Leute› (valent’homini), d. h. als gute Maler, welche ‹gut die natürlichen Dinge nachahmen können› (que sappiano imitare bene le cose naturali) Cesari, Zuccari, Pomerancio, Carracci, Tempesta. Er behauptete, dass [Giovannni] Baglione sich keiner Wertschätzung unter den Malern erfreue. Er kenne von ihm sozusagen alle Werke, auch die Auferstehung Christi in der [Jesuiten] Kirche Il Gesu, die von keinem gelobt werde, ausser von Mao [Salini], bekannt als ‹Schutzengel› des Baglione. Er gab zu, Onorio Longhi, seinen grossen Freund, zu kennen, ebenso Ottavio Leoni, Ludovico Bresciano, Mario Minniti oder Arconio [1577– 1640], der drei Jahre zuvor [als Lehrling und Gehilfe] mit ihm zusammen war, und Bartolomeo, seinen ehemaligen Diener. Er stritt ab, dass er einen Jüngling Namens Giovan Battista kenne und sagte, dass er seit drei Jahren nicht mehr mit [Orazio] Gentileschi spreche. Er verneinte, dass er je [wie Onorio Longhi] Gedichte geschrieben oder dass er je Gedichte oder Prosa gegen den Baglione geschrieben habe.204
Schliesslich wurde er nach 14-tägiger Haft am 25. September aufgrund der Intervention des französischen Botschafters, des Kardinals Mathieu (Matthäus) Cointrel, freigelassen. 1604 wurde Caravaggio wegen Angriffen auf Polizisten inhaftiert, im Mai des Jahres 1605 wegen unerlaubten Tragens eines Degens, das nur Adligen zustand. Im Juli desselben Jahres wurde er wegen einer Verletzung des Notars Mariano Paqualone durch einen Degenhieb ins Gesicht angeklagt. Darauf flüchte Caravaggio nach Genua, kehrte aber drei Monate später im August wieder nach Rom zurück. Kaum hatte Caravaggio sich von seinen Verletzungen im Degenkampf mit Ranuccio Tomassoni am 28. Mai 1606 erholt, verliess er sein Refugium im Landgut des Fürsten Marzio Colonna und zog mit Francesco Boneri in die Stadt Neapel im Königreich Neapel. Dort traf er zwischen dem 23. September und dem 6. Oktober 1606 ein.205 Denn an diesem Tag unterzeichnete er den Vertrag für 204 Mia Cinotti und Gian Alberto dell’Acqua, Il Caravaggio e le sue grandi opere in San Luigi dei Francesi, Rizzoli, Mailand 1973; zitiert bei Calvesi, Caravaggio, 1986, S. 64. 205 Zur Schilderung dieses grossen Unglücks vom 28. Mai 1606 und seiner unmittelbaren Folgen siehe Mina Gregori in CaravaggioMailand, 1996, S. 158/159.
4. Kapitel. Erfüllung des blossen Meinens in den Humanwissenschaften
seinen ersten dortigen Malauftrag. In Neapel blieb er ungefähr acht Monate und malte mindesten vier grosse Ölbilder und auch die beiden oben erwähnten kleineren aus dem Jahre 1607, die David mit dem Haupt Goliaths zeigen. In dieser Metropole der Kunst erhielt er einen Auftrag nach dem anderen: Am 9. Januar 1607 vollendete er das Ölbild auf Leinwand Die sieben Werke der Barmherzigkeit (390 × 260 cm) für den Hauptaltar der Kirche Pio Monte della Misericordia, das sich heute immer noch dort befindet. Auf diesem grossen Bild gleicht der heilige Martin von Tour, der seinen Mantel entzweischneidet, um ihn mit dem nackten Bettler zu teilen, Francesco Boneri.206 Am 11. März 1607 erhielt er eine Anzahlung für das Bild Geisselung Christi (135,5 × 175,5 cm, für die Kapelle De Francis in der Kirche San Domenico Maggiore, heute im Musée des Beaux-Arts in Rouen).207 Aus dieser Zeit in Neapel stammt auch das grosse Ölbild Madonna des Rosenkranzes (364 × 249,5 cm, heute im Kunsthistorischen Museum Wien). Es wurde am 25. September 1607 in Neapel auf dem Kunstmarkt angeboten und vom Herzog von Mantua, Vincenzo I. Gonzaga, für 400 Dukaten gekauft.208 Weder Maria noch das Jesuskind in ihrem linken Arm haben einen Rosenkranz in der Hand, sondern Maria zeigt mit dem Zeigefinger ihrer Rechten auf den Heiligen Dominikus, den Gründer des Dominikanerordens, der in beiden Händen je einen Rosenkranz hält. Vor ihm knien im Vordergrund links eine Mutter mit ihrem Kind, zwei ältere Männer und rechts davon, im hellsten Licht, ein Jüngling mit lockigem Haar und nacktem linken Arm und nackter linker Schuler, die alle fünf den Heiligen Dominikus (um 1170–1221) um einen Rosenkranz bitten. Ich vermute, dass dieser schöne Jüngling den damals 18- oder 19-jährigen Francesco Boneri darstellt. Dieses sehr grosse Bild war wahrscheinlich ursprünglich, wie das viel kleinere Geisselung Christi, für die Dominikanerkirche Kirche San Domenico Maggiore bestimmt, und zwar für ihren Hauptaltar. Vielleicht vermochten die Mönche das Bild nicht zu bezahlen, so dass es auf den Kunstmarkt gelangte. Von Neapel zogen Caravaggio und sein Gehilfe auf die Insel Malta, die seit 1530 aufgrund eines Geschenkes von Kaiser Karl V. dem aus der Zeit der Kreuzzüge stammenden Ritterorden der Johanniter gehörte (seit seiner Niederlassung 1530 auch Malteserorden genannt). Dieser Orden wurde im 12. Jahrhundert mit dem Auftrag gegründet, für die erkrankten Jerusalem-Pilger zu sorgen. In Malta ist Caravaggios Präsenz am 22. Juli 1607 bezeugt, und sie wird länger als ein Jahr, Werkverzeichnis Nr. 61 in Caravaggio,Mailand 1996, S. 152; grosse Abbilungen S. 132– 134; auch in König, Michelangelo Merisi da Caravaggio, 2007, S. 122 und 123; ebenso in Lambert, Caravaggio, 2012. 207 Werkverzeichnis Nr. 63 in Caravaggio, Mailand1996, S. 152; grosse Abbildungen S. 130 und 131. 208 Werkverzeichnis Nr. 60 in Caravaggio, Mailand1996, S. 152; grosses Abbild in König, Michelangelo Merisi da Caravaggio, 2007, S. 120. 206
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Teil II. Was ist Vernunfterkenntnis?
bis Anfang Oktober 1608, dauern. Aus dieser Zeit sind von ihm nur fünf Bilder erhalten. Wohl auf Initiative des 54. Grossmeisters dieses Ordens, Alof de Wignacourt (1547–1622), der seit 1601 bis zu seinem Tode diese Position einnahm und damit Herr über Malta war, wurde Caravaggio «de gratia» dessen Mitglied. Denn Alof de Wignacourt wollte das Oratorium Johannes’ des Täufers, des Patrons seines Ritterordens der Johanniter, in der Co-Cattedrale di San Giovanni in La Valetta durch Bilder von Caravaggio verschönern und ihn daher bei sich behalten. Caravaggio malte für dieses Oratorium das grösste Ölbild, das er je gemalt hat, die Enthauptung Johannes des Täufers (361 × 520 cm), das sich auch heute noch im Oratorium der Kathedrale befindet209 und von dem ich schon oben im Zusammenhang mit Victor Surbeks Besuch von Malta geschrieben habe. Dieses grosse Ölbild ist das einzige, das Caravaggio je signiert hat. Weiter malte er wahrscheinlich für dasselbe Oratorium auch das kleinere Ölbild Der schreibende Hieronymus (117 × 157 cm), das heute im St. John Museum in Valetta zu finden ist.210 Aus seiner Zeit auf Malta sind von Caravaggio auch das kleine Bild Schlafender kleiner Amor (71 × 105 cm, Florenz Galleria Pallatina)211 und zwei Porträts von Alof de Wignacourt (Paris, Louvre212 und Florenz, Galleria Palatina213 ) erhalten. Im Jahre 1607, wohl auch auf Malta, malte Caravaggio das Bild, das David mit den wehmütigen, denkend ins Leere blickenden Gesichtszügen des damals 18-jährigen Francesco Boneri zeigt, der in seiner linken Hand das Haupt Goliaths und in seiner rechten einen Degen trägt. Das Gesicht Goliaths ist ein Selbstporträt Caravaggios (heute im Kunsthistorischen Museum Wien).214 Ein zweites, bekannteres Bild Caravaggios, das auch aus dem Jahr 1607 stammen könnte (heute in der Villa Borghese, Rom), zeigt dasselbe Thema. Wie im ersten Bild diente auch für dieses der etwa 18-jährige Francesco Boneri als Modell für David, und auch hier trägt das Gesicht des toten Goliath die Züge Caravaggios.215 Vielleicht wollte Caravaggio mit diesen zwei Bildern den Mut seines Gehilfen und seine eigene Verurteilung zum Tod ausdrücken. Der Aufenthalt Caravaggios in Malta endete im Gefängnis. Biografen Caravaggios sprechen von einer Konfrontation mit einem Ordensritter des Rechts. Der Grund dafür konnte nicht das Eintreffen einer Nachricht über Caravaggios 209 Werkverzeichnis Nr. 73 in Caravaggio, Mailand1996, S. 154; grosse Abbildung S. 135; auch in König, Michelangelo Merisi da Caravaggio, 2007, S. 126/127; Rodolfo Papa, Caravaggio. Gli ultimi anni, Dossier d’Art 205, Giunti Editore, Florenz und Mailand 2004, S. 30. 210 Werkverzeichnis Nr. 72 in Caravaggio, Mailand1996, S. 153; grosse Abbildung in Papa, Gli ultimi anni, 2004, S. 26. 211 Werkverzeichnis Nr. 74 in Caravaggio, Mailand1996, S. 154. 212 Werkverzeichnis Nr. 71 in Caravaggio, Mailand1996, S. 153. 213 Werkverzeichnis Nr. 75 in Caravaggio, Mailand1996, S. 154. 214 Werkverzeichnis Nr. 68 in Caravaggio, Mailand1996, S. 153. 215 Werkverzeichnis Nr. 85 in Caravaggio, Mailand1996, S. 155. Grosse Abbildungen S. 126– 128. Mina Gregori datiert dieses Bild wie folgt: «1605–1606 (o 1610)» (S. 155).
4. Kapitel. Erfüllung des blossen Meinens in den Humanwissenschaften
Totschlag von Tomassoni in Rom am 28. Mai 1606 gewesen sein. Denn davon wusste der Grossmeister Alof de Wignacourt seit Caravaggios Eintreffen auf Malta. Aufgrund einer Protektion, wahrscheinlich derjenigen des Kommandanten der Galeeren von Malta, Fabrizio Colonna, konnten Caravaggio und Francesco Boneri Anfang Oktober 1608 auf einer Galeere von Malta nach Syrakus auf dem damals zu Spanien gehörenden und von einem spanischen Vizekönig verwalteten Sizilien fliehen. Sie flohen wohl deshalb nach Syrakus, das sie noch im Herbst des Jahres 1608 erreichten, weil Caravaggio dort einen sechs Jahre jüngeren Freund besass, nämlich den Kunstmaler Mario Minniti, der von 1593 bis 1600 bei Caravaggio lernte und ihm als Modell in mehreren frühen Bildern diente, wie seit 1601 Francesco Boneri. Es war wohl Minnitis Einfluss in Syrakus zu verdanken, dass Caravaggio den Auftrag für das grosse Altarbild Die Beerdigung der heiligen Lucia (408 × 300 cm) für die Kirche Santa Lucia erhielt.216 Dieses Werk befindet sich noch heute in dieser Kirche. Von Syrakus zog Cavaraggio mit Francesco Boneri ins nördlich davon gelegene Messina. Am 10. Juni 1609 unterschrieb er dort den Vertrag für das Gemälde Auferweckung des Lazarus (380 × 275 cm) für die Padri Crociferi (Kreuztragende Väter) mit dem Auftraggeber Giovan Battista de’Lazzari aus Genua. Dieses Gemälde befindet sich heute im Regionalmuseum von Messina.217 In dieser Stadt malte er auch die Anbetung der Hirten (314 × 211 cm), das wahrscheinlich vom Senat von Messina für den Hauptaltar der Kirche der Kapuziner dieser Stadt bestellt worden ist und sich heute in demselben Museum befindet.218 Ein weiteres unvorhergesehenes und eiliges Verlassen, dessen Gründe im Dunklen liegen, brachte Caravaggio und seinen Gehilfen nach Palermo. Dort soll er mehrere Bilder gemalt haben. Aber das einzige, von dem man heute sicher weiss und von dem es auch Abbildungen gibt, ist Christi Geburt mit den Heiligen Laurentius und Franziskus (268 × 197 cm) für das Oratorium San Lorenzo. Dieses Bild wurde 1969 gestohlen und seitdem nicht mehr gesehen.219 Spätestens seit dem 24. Oktober 1609 hielten sich Caravaggio und sein Gehilfe Cecco erneut in der Stadt Neapel, und zwar im Hause der Gräfin (Marchesa) von Caravaggio, Constanza Sforza Colonna, auf und blieben dort bis zum 216 Werkverzeichnis Nr. 78 in Caravaggio, Mailand1996, S. 154; grosse Abbildungen in Papa, Gli ultimi anni, 2004, S. 38; ebenso in König, Michelangelo Merisi di Caravaggio, 2007, S. 128. 217 Werkverzeichnis Nr. 79 in Caravaggio, Mailand1996, S. 154; grössere Farbabbildungen in Calvesi, Caravaggio, 1986, S. 60; ebenso in Papa, Gli ultimi anni, 2004, S. 37; und in König, Michelangelo Merisi di Caravaggio, 2007, S. 129. 218 Werkverzeichnis Nr. 80 in Caravaggio, Mailand1996, S. 154; grössere farbige Abbildung in Papa, Gli ultimi anni, 2004, S. 38; ebenso in König, Michelangelo Merisi die Caravaggio, 2007, S. 130. 219 Werkverzeichnis Nr. 84 in Caravaggio, Mailand1996, S. 155; farbige Abbildung in Papa, Gli ultimi anni, 2004, S. 39; ebenso in König, Michelangelo Merisi di Caravaggio, 2007, S. 131.
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Teil II. Was ist Vernunfterkenntnis?
Frühsommer 1610. Aus einer Benachrichtigung aus Rom an den Herzog von Urbino geht hervor, dass sich dort durch Caravaggio eine Tötung oder Verletzung am Ausgang der Osteria (Wirtshaus) del Cerriglio ereignete, was aber keine grösseren Folgen hatte. Am 11. Mai 1610 vollendete er in Neapel das Ölbild Martyrium der heiligen Ursula (154 × 178 cm), das vom Fürsten von Genua, Marcantonio Doria, in Auftrag gegeben und bezahlt wurde und das sich heute in der Banca Commerciale Italiana in Neapel befindet.220 Im Sommer 1610 erreichten die zahlreichen Gönner Caravaggios seine Begnadigung von Papst Paul V., wodurch er nach Rom zurückkehren konnte. Doch die Schwierigkeiten nahmen kein Ende. Caravaggio – und wohl auch Francesco Boneri – reisten auf einer Feluke (Segelboot für die Küstenschifffahrt) in Richtung Rom und wurden in Palo, einige Kilometer nördlich der Tibermündung, in der Nähe von Cerveteri, angehalten. Vermutlich hatte Caravaggio seinen ganzen Besitz, auch an selbst gemalten Bildern, bei sich. Caravaggio wurde inhaftiert. Aufgrund eines Briefes des päpstlichen Nuntius in Neapel, Deodate Gentile, wurde er gegen eine hohe Kaution freigelassen, die vor allem aus seinen Bildern bestand. Nun zog er, vielleicht zu Fuss in der Sommerhitze am Meer entlang bis Porto Ercole) am Monte Argentario, das zum spanischen Stato di Presidi gehörte, um dort von der Feluke die Bilder, die er auf ihr als Kaution zurücklassen musste, zurückzubekommen. Dort starb er am 18. Juli 1610, noch nicht 40-jährig, wahrscheinlich allein. Ich vermute, dass er den damals 22-jährigen Francesco Boneri von Palo aus direkt nach Rom schickte, um dort für sie beide eine geeignete Unterkunft zu suchen. Über die auf seiner Rückreise nach Rom mitgebrachten Bilder erwähnte Caravaggio im ersten seiner fünf Briefe an Scipione Borghese in Rom, den Neffen Papst Pauls V., eine Magdalena und zwei Johannes der Täufer. Einen dieser zwei Johannes verlangte Scipione Borghese nach dem Tod Caravaggios für sich; es befindet sich bis heute in seiner Villa, in der zum Museum gewordenen Villa Borghese in Rom,221 wo ich es am Sonntag, 23. Oktober 2005, gesehen habe. Dieser Johannes (159 × 124 cm) wird ganz unterschiedlich datiert: Rodolfo Papa datiert ihn ungefähr ins Jahr 1602;222 das Buch Caravaggio in die Jahre 1609 bis 1610.223 Er trägt deutlich die Züge des traurigen, ermatteten etwa 18-jährigen Francesco Boneri. Ich vermute, dass er zu diesem Bild Modell sass, nicht lange nachdem Caravaggio und er nach dem 28. Mai 1606 aus Rom fliehen mussten. Er malte es möglicherweise kurz nach seiner ersten Ankunft in Neapel. Werkverzeichnis Nr. 88 in Caravaggio, Mailand1996, S. 155; grosse Abbildungen S. 141– 143; ebenso in Papa, Gli ultimi anni, 2004, S. 42–43. 221 Werkverzeichnis Nr. 87 in Caravaggio, Mailand1996, S. 155; grosse Farbabbildung S. 139; ebenso in Papa, Gli ultimi anni, 2004, S. 45. 222 Papa, Gli ultimi anni, 2004, S. 45. 223 Caravaggio, Mailand1996, S. 139 und S. 155. 220
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Francesco Boneri lebte noch zwanzig Jahre bis zum seinem Tod 1630 in Rom, wo er ganz im Stile seines Meisters malte und ein namhafter Künstler wurde.
§ 60 Durch historische Dokumente (Quellen) begründete Individualgeschichte (Biografie). Zweites Beispiel: Biografie des Kunstmalers Cuno Amiet (28. März 1886 bis 6. Juli 1961). Cuno Amiet als der Maler der Erscheinungen aller Dinge oder der Phänomenologe der Malerei a) Quellenangabe Meine vier wichtigsten Quellen für die Biografie von Cuno Amiet sind die folgenden (aufgelistet in der chronologischen Reihenfole ihrer Herausgabe): 1. Max Huggler, Cuno Amiet, Buchclub ExLibris und Editions Rencontre, Lausanne 1971. Max Huggler (1903–1994) war 1931 bis 1944 Direktor der Kunsthalle Bern, die zeitgenössische Kunst ausstellt. Als solcher kam er in persönlichen Kontakt mit lebenden Künstlern wie Cuno Amiet. 1944 wurde er Direktor des Kunstmuseums Bern. 1946 bis 1973 war er ausserordentlicher Professor für Kunstgeschichte an der Universität Bern. Er sammelte selbst Bilder, auch solche von Cuno Amiet. Er besuchte Cuno Amiet des Öfteren in dessen Wohnhaus auf der Oschwand in der Gemeinde Oberburg, weniger als zwanzig Kilometer nordöstlich der Stadt Bern, südlich des Städtchens Burgdorf. Was er in seinem Buch über Cuno Amiet und seine Malkunst schreibt, stammt zum grössten Teil aus den Gesprächen, die er mit Amiet bei diesen Besuchen führte. Huggler beginnt das Vorwort seines Buches mit folgenden Worten: «Der Verfasser unternahm die vorliegende Arbeit in der Überzeugung, es sei die Aufgabe der Generation, die den Künstler persönlich gekannt und mit seinem Schaffen verbunden war, sein Werk einer wissenschaftlichen Darstellung zu unterziehen. Dies wäre ohne Zustimmung und Bereitschaft zur Mithilfe von Frau Lydia Thalmann-Amiet und ihrem Sohn, dem Maler Peter Thalmann nicht möglich gewesen.» (S. 5) Lydia Amiet ist die Adoptivtochter von Cuno Amiet, die bis an sein Lebensende bei ihm blieb. 2. Horst Jähner, Künstlergruppe Brücke. Geschichte einer Gemeinschaft und das Lebenswerk ihrer Repräsentanten, Henschelverlag Kunst und Gesellschaft, DDR 1984, Lizenzausgabe für den Deutschen Bücherbund GmbH & Co., Stuttgart und
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München, und für den Buchclub ExLibris Zürich (Ausführungen über Cuno Amiet: S. 85/86). 3. Cuno Amiet, Die Freude meines Lebens, Prosa und Poesie, herausgegeben von Paul Rothenhäusler, Rothenhäusler-Verlag, Stäfa-Zürich 1987. Paul Rothenhäusler ist ein Neffe Cuno Amiets. Er hat in diesem Buch eine grosse Anzahl von Texten herausgegeben, die Cuno Amiet selbst schrieb oder als Reden hielt. «Die Freude meines Lebens» im Titel des Buches bezieht sich auf eine Aussage Cuno Amiets aus dem Jahre 1934, die auf S. 4 dieses Buches vermerkt ist: «Ich liebe die Erscheinungen. Solche abzubilden, ist die Freude meines Lebens. Je ähnlicher die Abbildungen den Erscheinungen sind, desto grösser ist meine Freude.»224 Dem neun Jahre älteren Phänomenologen und Philosophen Edmund Husserl (1859–1938) ging es um die sprachliche Beschreibung der Erscheinungen, der Phänomene, genauer, um die Beschreibung, wie im eigenen Bewusstsein etwas zur Erscheinung gebracht wird. Cuno Amiet schrieb: Für mich ist die Malerei die Sichtbarmachung eines Seelenzustandes [Bewusstseinszustandes]. Ist nun meine Seele in zitternder Erregung beim Anblick einer Blume, so stellt sich zugleich auch der Wunsch ein, diesem Eindruck Ausdruck zu geben. Es handelt sich also nicht darum, die Blume darzustellen, wie sie der Verstand sieht [wie sie an sich ist], sondern so, wie die Seele [das Bewusstsein] sie wahrnimmt. (a. a. O., S. 63)
Ist also Cuno Amiet der Phänomenologe der Malerei? 4. Kunstmuseum Bern, Cuno Amiet. Von Pont-Aven zur «Brücke», herausgegeben von Toni Stoos und Therese Bhattacharya-Stettler, Beiträge von George Mauner und Silvia Volkart, Lukas Gloor, Peter Thalmann, Urs Zaugg. Katalog zur Ausstellung vom 3. Dezember 1999 bis 27. Februar 2000, Skira editore, Mailand 1999. b) Biografie Zuerst möchte ich Cuno Amiet selbst, als 75-Jährigen, zu Worte kommen lassen: «Fünfzehn Jahre war ich alt, ein behender Jüngling, tätig, neugierig, offen allem, was zu mir kommen wollte, voll Begeisterung für so viele Schönheiten um mich herum, in der Natur, in den Büchern, im Theater, in der Musik, in den Bildern. 224 Der Sache nach kommt diese Aussage sehr nahe den Versen, die Amiet Ende 1928 unter eine Lithografie geschrieben hat. Diese grosse Lithografie ist eine der Jahresgaben, die Amiet jeweils seinen Freunden und Bekannten zum neuen Jahr schenkte. Sie ist ein Selbstporträt im Profil, in dem er sich mit dem Pinsel malend dargestellt hat. Darunter stehen folgende Verse: «Nun sind die Feste schon verrauscht, /Das Glas mit dem Pinsel ausgetauscht. /Ich bin wieder Ich und voll Dank und Mut, /Glücklich ist nur, wer seine Arbeit tut.»
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Die Bilder in der Sammlung unserer kleinen Stadt [Solothurn], wie waren sie schön. Ein Gesicht war gemalt so frisch und hell, mit seinen gelblichen, rötlichen, bläulichen Tönen hob es sich so lichtvoll vom braunen Hintergrund ab. Eine Wiese, ein Wald, wie standen sie warm in der hellkühlen Luft. Wie schummerig spielten Lichter und Schatten um die Menschen im Zwielicht einer bäuerischen Stube. Heimlich schon hatte ich auch versucht, solche Dinge zu machen, zu zeichnen, mit Wasserfarben zu malen und wohl auch mit Ölfarbenabfällen, die ich da und dort ergattern konnte. Mein ganzes Denken war nur noch Malen. Maler möchte ich werden. So weit war ich schon, dass nicht die gemalte Geschichte am meisten mich fesselte. Alles war ja schon dargestellt, Ernstes, Trauriges, Lustiges, Menschen, Tiere, Früchte, Himmel und Erde. Aber wie das alles gemalt war, das war’s, was nicht genug ich anschauen konnte.225 Das wollte ich lernen, ergründen, können. Ich wurde sechzehn, siebzehn und achtzehn. Die Widerstände waren gebrochen. Jede freie Stunde neben der Schule hatte mit Stift und Pinsel und Fühlen und Denken meiner jungen lieben Kunst gegolten. Und ich hatte gelernt, dass, was ich wollte, ein fernes hohes und kaum zu erreichendes Ziel war. Hart, unerbittlich streng war der Anfang des Lernens. Ganz aus war es jetzt mit dem enthusiastischen Geflatter. Was ich manchmal schon geahnt hatte, wurde Wirklichkeit. Es hiess sich zusammennehmen. Ein Blatt sollte jetzt ein Blatt sein und nicht nur ein phantasievoller Pinselstrich; es musste seine Farbe haben und nicht irgendein hübsches Grün; es musste mit seiner Umgebung eins werden. Ein Baumstamm war nicht irgendein Baumstamm, sondern der Baumstamm; ein Schlüsselbein war nicht irgendein dünner langweiliger Knochen, es war unerhört schwer, seine zierlich gedrehte Eleganz zu fassen und wiederzugeben. Wie vieler Ansätze und übender Wiederholungen bedurfte es, um die Verhältnisse in einem Kopf zu treffen, dass Stirne, Nase, Mund, Kinn und die Ohren richtig stehen. Und versuchte man zum Ausruhen einmal wieder eine Landschaft hinzumalen, da galt es von den Blumen ganz zu vorderst durch alle die Pläne mit den Bäumen bis zum letzten Höhenzug die Farben nicht nur bläuend abzustufen; sie sollten ihren Eigenwert behalten und dennoch meterweise die Entfernung richtig geben. Und wie verzwackt war alles dieses erst im Gewirr der Äste und der Blätter, welche letzteren in ihrem Übermut einmal die Sonnenstrahlen reflektieren, andere durchscheinend glühten und wieder andere den blauen Himmel auf ihrer Oberfläche trugen.
Dieses «Wie» entspricht dem oben zitierten Satz: «Ich liebe die Erscheinungen. Solche abzubilden, ist die Freude meines Lebens. Je ähnlicher die Abbildungen den Erscheinungen sind, desto grösser ist meine Freude.» 225
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Ich wurde zwanzig. Ach, wie waren da so viele Gottbegnadete, die alle diese schweren Schwierigkeiten spielend, wie es schien, beherrschten. Ich schaute links und schaute rechts und nahm, was mir bekömmlich dünkte. Einen sah ich mit beschwingtem Pinsel helle Lichter auf die tonigen Figuren setzen, einen anderen schummernd alles ineinander fliessen lassen, wieder einen kühn mit gelben, blauen, roten Strichen, Punkten eine Form zum Vorschein bringen, andere mit breiten Borsten kraftvoll und gesättigt streichen, und wieder gibt es solche, die mit feiner Pinselspitze zärtlich modellierend färben. Das aber sind nur Mittel, um aus dem Wirrwarr der Erscheinungen ein homogenes Ganzes zu gestalten. Alle Teile sind dem Ganzen unterworfen; jeder hat mit allen anderen nur das eine Ziel: die Bildung eben dieses Ganzen. Das Ganze dann ist ein getreues Abbild seines Schöpfers. Dreissig war ich schon geworden, und ich wurde, vierzig, fünfzig, und ich wurde sechzig. Weiss nicht, wie die Jahre fliehen in dem unablässigen Bestreben und Versuchen, ein wahres Ganzes zu erreichen. Hin und wieder ist es schon gelungen. Doch, wenn es auch oft misslang, so tut es nichts. Das Malen selbst, so wie der Augenblick es eingibt und trotz allen ungeahnten Schwierigkeiten, birgt einen Spender guter Kraft und schönen Glücks in sich. Unversehens bin ich siebzig, ja fünfundsiebzig geworden. Sechzig Jahre habe ich nun jeden Tag, kann ich wohl sagen, von diesem Quell getrunken, schaffend und suchend, das wiederzugeben, was mich so ganz erfüllt auf dieser Welt. Es ist der göttliche Glanz, die zauberhafte Beschwingtheit der Linien und Farben, das leichte Licht, die unerhörte Mannigfaltigkeit der Formen, die selige Festlichkeit, die in und über den Dingen liegt.»226 Im Folgenden zitiere ich die Kurzbiografie, die Peter Thalmann, der Sohn von Amiets Adoptivtochter, Lydia Amiet-Thalmann, für das oben erwähnte Buch: Cuno Amiet, Die Freude meines Lebens, Prosa und Poesie, verfasste.227 Ich benütze sie aber nur als Gerüst, kürze sie etwas, und vor allem ergänze ich sie aus anderen Quellen (meine Ergänzungen und Weglassungen werden mit eckigen Klammern angezeigt): «Cuno Amiet wurde 1868 als Sohn des Solothurner Amtsschreibers Josef Ignaz Amiet [1829–1895] in Solothurn geboren. Er verbrachte dort seine Jugendzeit, begann als 14-Jähriger zu malen und wurde Schüler von Frank Buchser [1828– 1890], dem grossen Solothurner Maler und Freund seines Vaters. Noch vor der schriftlichen Matura [Abitur] verliess er mit Einverständnis seines Vaters die Kantonsschule [Gymnasium], um sich ganz der Malerei zu widmen. Er begleite226 227
Amiet, Die Freude meines Lebens, 1987, S. 7–8. A.a.O., S. 115–116.
4. Kapitel. Erfüllung des blossen Meinens in den Humanwissenschaften
te schon damals seinen Lehrer nach Hellsau [zwischen Herzogenbuchsee und Koppigen, ungefähr zehn Kilometer südöstlich der Stadt Solothurn], der dort zufällig ein Motiv für eine in Auftrag gegebene Landschaft mit der Jurakette im Hintergrund gefunden hatte. Mit 18 Jahren zog Amiet [im Herbst 1886] nach München und studierte an der dortigen Kunstakademie, wo er den gleichaltrigen Bergeller Giovanni Giacometti [1868–1933] kennenlernte. Aus dieser Bekanntschaft wurde eine lebenslange Freundschaft, eine Freundschaft, die für die Entwicklung der beiden jungen Schweizer Maler eine grosse Bedeutung haben sollte. Sie […] fühlten sich an der streng akademischen Schule aber nicht lange wohl. Sie […] übersiedelten [im Oktober 1888] nach Paris und hofften, sich in dieser neuen Atmosphäre besser entfalten zu können. [Sie bezogen zwei Zimmer im Hôtel de Bordeaux, 17, rue Jacob, von denen eines als Schlafzimmer, das andere als Atelier diente. Sie studierten an der Académie Julian zusammen mit Pierre Bonnard, Edouard Vuillard, Maurice Denis und Paul Sérusier, die gerade den Zirkel der Nabis gegründet hatten.228 ] Trotz grosser Entdeckungen und Fortschritte verlief ihr Studium nicht immer planmässig. Ihre schlechten wirtschaftlichen Verhältnisse führten sogar dazu, dass sie sich zu fragen begannen […], ob sie sich nicht besser einem bürgerlichen Beruf zuwenden sollten. [In den Sommerferien 1889 malte Amiet bei Frank Buchser in Fraubrunnen.229 Ende März 1892 kehrte er allein nach Paris zurück.] Da erzählte ihm ein ungarischer Mitschüler [Hugo Poll, 1867–1931] von einer Malerkolonie in Pont-Aven in der Bretagne, wo Künstler versuchten, sich in einer ganz anderen Art auszudrücken, als man es hier in der Akademie von Paris gewohnt sei. In der Verzweiflung, in der sich Amiet befand, kam ihm die Aufforderung, doch einmal dorthin zu fahren, sehr gelegen. […] Tatsächlich veränderte der Aufenthalt in Pont-Aven [von Ende Mai 1892 bis Juni 1893] seine künstlerische Laufbahn entscheidend. In der [Künstler‐]Pension [von Marie-Jeanne] Goanec, […] [nahm er die Mahlzeiten ein]. Er sah dort Werke von Paul Gaugin […]. [Er traf dort auf Emile Bernard, der ihm die ersten Bilder von Van Gogh zeigte und von Cézanne sprach.] Die freie, für die damaligen Verhältnisse ungewohnte Malweise faszinierte […] ihn so, dass er versuchte, seine Motive auch so zu sehen […]. [Doch Cuno Amiet wollte seinem Vater finanzell nicht zu sehr zur Last fallen. Schweren Herzens beschloss er, seinen einjährigen Aufenthalt in der Bretagne abzubrechen und in die Schweiz zurückzukehren.] Als er im Sommer 1893 mit diesen neuen Erkenntnisssen nach Solothurn zurückkehrte, verstand ihn mit Ausnahme von zwei Kunstkritikern und später Oscar Miller, Direktor der Papierfabrik Bieberist [Kanton Solothurn], der wichtigste Mäzen seiner Anfangszeit, überhaupt niemand. Er arbeitete aber unerschrocken und tapfer weiter [in seinem Atelier auf dem Dachboden seines Elternhauses] in Solothurn, aber auch in Hellsau, das ihm seit sei228 229
Siehe Cuno Amiet. Von Pont-Aven zur «Brücke», 1999, S. 323. Hier fehlt der Beleg noch!
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Teil II. Was ist Vernunfterkenntnis?
nem Aufenthalt mit Frank Buchser lieb geworden war. [In diesem Jahr 1893 traf er zum ersten Mal Ferdinand Hodler an der Jahresversammlung der GSMB (Gesellschaft Schweizer Maler und Bildhauer). Später erfolgte ein Besuch Amiets bei Hodler in Bern. 1894 besuchte Amiet den Maler Albert Anker (1831–1910) in seinem Atelier in Ins. Am 22. Mai 1895 starb sein Vater.] Das prächtig gelegene Dörfchen Hellsau zog ihn aber offensichtlich noch aus einem anderen Grund in seinen Bann. [Die jüngste] der vier hübschen Töchter im [Wirthaus] ‹Freienhof› hatte es ihm ganz besonders angetan. Anna Luder [1874–1953] wurde seine Frau [Heirat am 16. Juni 1898, Trauzeugen waren Amiets Schwester Rosa und Giovanni Giacometti. Als im Jahre 1901 Giovanni Giacomettis Sohn Alberto in Stampa (Engadin) geboren wird, wird Amiet sein Pate]. Sein unerhörter Glaube an sich selber liess ihn vergessen, dass er mit seiner Malerei praktisch keinen Erfolg hatte. Frisch-fröhlich ging er auf die Suche nach einem geeigneten Wohnund Arbeitsort, zog umher, bis er schliesslich glaubte, in Lauenen bei Gstaad [im Berner Oberland] einen geeigneten Wohnsitz gefunden zu haben. Er mietete ein Haus für ein Jahr, blieb aber nur zwei Monate dort. Die Bergnebel an trüben Regentagen entsprachen nicht seinem Optimismus und seinem Temperament. Er kehrte wieder nach Hellsau zurück. Zufällig bot sich ihm die Gelegenheit, seinen Schwager, den Tierarzt Morgenthaler aus Herzogenbuchsee mit Pferd und Wagen in die Buchsiberge zu begleiten. Als er die kleine verträumte Oschwand sah, wusste er sofort, dass er hier für immer bleiben wollte. Er mietete in der Wirtschaft Schöni […] die Wohnung [im Obergeschoss] und zog nach der Hochzeitsreise 1898 mit seiner jungen Frau dort ein. [Als Atelier diente ihm ein leerer benachbarter Schuppen. Er begann enge Beziehungen mit den Bauern von Oschwand zu pflegen. Jahrzehntelang, bis zu seiner Erkrankung im Jahre 1957, konnten weder Arbeit noch irgendein Besuch den Maler jemals daran hindern, eine Stunde vor dem Abendessen das Atelier zu verlassen und sich am Tisch der Wirtschaft mit den Bauern zu einem Trunk zu treffen.] [An der Weltausstellung in Paris 1900 waren Amiet und Giacometti mit Bildern vertreten. Amiet erhielt für das Gemälde Richesse du soir, das er 1897 unter dem Titel Bärner Meitschi (Berner Mädchen) begonnen und dessen neuen Titel ihm Ferdinand Hodler vorgeschlagen hatte, die silberne Medaille. Am 30. September 1901 erlitt Amiets Frau Anna die Todgeburt eines Knaben. 1904 nahm das Ehepaar Amiet die Nichte Greti Adam (1900–1979) in Adoption.] [Im September 1906 wurde Cuno Amiet zum Beitritt in die Künstlergruppe ‹Die Brücke› eingeladen und trat ihr bei. Diese Künstlergemeinschaft war am 7. Juni 1905 von Fritz Bleyl, Ernst Ludwig Kirchner, Erich Heckel und Karl Schmidt-Rottluff in Dresden gegründet worden.230 Amiet gehörte ihr bis zu deren Ende an und beteiligte sich mehrfach an deren Ausstellungen. Er konnte sich aber mit ihrer Unbekümmertheit der Ausdrucksweise nur schwer identifizieren. 230
Siehe Jähner, Künstlergruppe Brücke, 1984, S. 17.
4. Kapitel. Erfüllung des blossen Meinens in den Humanwissenschaften
So riet er zum Beispiel seinen Freunden anlässlisch einer Ausstellung der ‹Brücke› in Solothurn, die aufgrund seines Bemühens im Oktober 1907 stattfand, zu mehr Besonnenheit und Disziplin und empfahl ihnen das Studium von Seurat, während Erich Heckel in seiner Erwiderung darauf hinwies, dass bei ihnen alles ‹nach Spontaneität und Leidenschaft dränge› und ihm persönlich Seurat unsympathisch und zu akademisch ruhig sei.231 1913 wurde die Künstlergruppe ‹Die Brücke› wegen Meinungsverschiedenheiten aufgelöst.] Dank Oscar Miller, anderen Bewunderern und Freunden […] ging es dem jungen Paar finanziell immer besser, 1908 so gut, dass es Amiet wagte, ein Haus zu bauen. [Er beauftragte dazu den jungen Architekten Otto Ingold (1883– 1943), Bern, der es als seinen ersten Auftrag im Jugenstil errichtete. Amiet bestimmte die Gestaltung des Hauses mit]. Das im ersten Stock integrierte Atelier befriedigte ihn aber von Anfang an nie richtig. Er kletterte nachts heimlich im Heustock des benachbarten Bauernhauses herum, mass aus und fertigte sich Modelle eines Ateliers an. 1912 gelang es ihm, das Bauernhaus zu kaufen und seinen Atelierraum zu verwirklichen. [1913 nahm das Ehepaar Amiet Mineli (Hermine) von Ballmoos (1905–1990) als zweite Pflegetochter auf. 1914 besuchte Paul Klee erstmals Cuno Amiet auf der Oschwand. 1936 wird er ihn dort ein zweites Mal besuchen. 1915 besuchten der Maler Alexej von Jawlenski und die Malerin Marianne von Werefkin Cuno Amiet auf der Oschwand. In diesem Jahr 1915 stellten Amiet und Alexej von Jawlenski gemeinsam im Kunstsalon Wolfsberg in Zürich aus. Im selben Jahr erhielt Cuno Amiet auf der Oschwand auch Besuch vom Schweizer Dichter und Schriftsteller Carl Spitteler (1845–1924).] [1920 nahm das Ehepaar Amiet Bruno Hesse (1905–1999), den ältesten der drei Söhne des Schriftstellers und Dichters Hermann Hesse (1946 Nobelpreisträger für Literatur) als Pflegesohn auf. Hermann Hesse hatte sich in diesem Jahr von seiner ersten Ehefrau, der Fotografin Maria Bernoulli, getrennt. Diese war aus gesundheitlichen Gründen nicht fähig, für alle ihre drei Söhne zu sorgen, sondern behielt nur den mittleren, Heiner. Den jüngsten Sohn, Martin, gab Hermann Hesse der Familie Ringier. Cuno Amiet bildete den damals 15-jährigen Bruno Hesse auf der Oschwand zum Kunstmaler aus und schickte ihn danach an die École des Beaux-Arts in Genf und dann an die Académie Julian in Paris, an der er selbst noch studiert hatte. Cuno Amiet muss eine enge emotionale Bindung an seinen Pflegesohn Bruno Hesse gehabt haben. Auf der Ende 1928 als Jahresgabe für seine Freunde und Bekannten angefertigten Lithografie, von der ich oben in einer Fussnote sprach und die ein Selbstporträt im Profil mit dem Pinsel in der Hand malend darstellt und deren zweiter der darunter stehenden zweiVerse lautet: ‹Ich bin wieder Ich und voll Dank und Mut, / Glücklich ist nur, wer seine Arbeit tut›, auf dieser Lithografie erscheint über dem Kopf und dem Pinsel Amiets die kleine und schöne Gestalt von Bruno Hesse. Amiet will damit 231
Siehe Jähner, Künstlergruppe Brücke, 1984, S. 86.
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offenbar sagen, dass er beim Malen auch an seinen Pflegesohn Bruno Hesse denkt. Auf einer zwanzig Jahre später, 1948, angefertigten Geschenklithografie Amiets erscheinen sein Kopf frontal und Bruno Hesses Kopf im Halbprofil, Amiet zugewandt, als Ausdruck ihrer Verbundenheit leicht und wie durchsichtig übereinandergeschoben. Darunter steht: Auf dem Lebenswege Für Gefolgschaft dankt, so treue Der Junge und der Alte Immerfort auf’s Neue.
Dabei hat sich Amiet in seinem damaligen Alter von 80 Jahren mit weissen Kopfhaaren, den unterdessen 43-jährigen Bruno Hesse aber im Alter von 15 Jahren mit schwarzen Kopfhaaren und schönem Jünglingsgesicht dargestellt. Am 30. September 1901 hatte Amiets Frau Anna, wie oben erwähnt, die Todgeburt eines Knaben erlitten. Während Amiets vier Pflege- oder Adoptivtöchter hatten, hatten sie nur einen Pflegesohn: Bruno Hesse. Dieser ersetzte Amiet seinen totgeborenen Sohn, und es ist natürlich, dass ein guter Vater wünscht, seinem Sohn das weitergeben zu können, was er selbst geistig errungen hat. Deshalb fühlte sich Cuno Amiet wohl bis zu seinem Tod mit seinem malenden Pfegesohn Bruno eng verbunden. 1924 besuchte der Maler Lovis Corinth (1858–1925), einer der wichtigsten und einflussreichsten Vertreter des deutschen Impressionismus, Amiet auf der Oschwand.] Mit Ausnahme von regelmässigen Winteraufenthalten von 1931 bis zum Kriegsbeginn in Paris [wo er bis 1947 ein eigenes Atelier besass] und einigen Reisen verbrachte Amiet sein ganzes Leben auf Oschwand. Der Anstoss zur ständigen, unermüdlichen künstlerischen Auseinandersetzung kam aus seiner nächsten Umgebung, aus dieser einfachen, aber gehaltvollen bäurischen Landschaft. Ein schwerer Schicksalsschlag traf ihn beim Brand des Glaspalastes in München, wo 1931 […] sämtliche einundfünfzig] seiner wichtigsten Werke einem Brand zum Opfer fielen. Nicht jeder hätte sich im Alter von 63 Jahren nach einem solchen Verlust […] so schnell erholt. Sein grenzenloser Optimismus half ihm auch in dieser unerfreulichen Lage weiter. [1937 wurden die in deutschen Sammlungen befindlichen Werke Amiets als ‹entartet› beschlagnahmt und ins Ausland verkauft. Am 25. Juni 1933 starb Amiets engster und gleichaltriger Freund Giovanni Giacometti. Am 28. Februar 1953 starb Anna Amiet, welche die offene Atmosphäre auf der Oschwand wesentlich mitbestimmt hatte. Amiets verwitwete Adoptivtochter Lydia Thalmann kehrte auf die Oschwand zurück, umsorgte während der nächsten Jahre den Maler und pflegte Haus und Garten.] Bis zu seinem
4. Kapitel. Erfüllung des blossen Meinens in den Humanwissenschaften
Tod […] [am 6. Juli] 1961 blieb Amiet geistig jung und aufgeschlossen. Eine grosse Dankbarkeit seinem Vater gegenüber erfüllte ihn bis zu seinem Lebensende. Denn es war nicht selbstverständlich, schon gar nicht im […] [19. Jahrhundert], dass ein Vater seinem Sohn ermöglichte, einen solch ausgefallenen und unsicheren Beruf zu ergreifen. So pflegte Amiet jeweils zu sagen: ‹Oh, hätte mein Vater nur sehen können, was aus mir doch noch geworden ist!›»232 c) Arbeitsweise, Farbenlehre, Gestaltung233 Im Juni 1903 schrieb Amiet an seinen Mäzen Oscar Miller: «Gerade dem [Zürcher Maler Albert] Welti [1882–1912] würde es nichts schaden, wenn er nicht nur immer mit der Phantasie und dem Herzen malen, sondern manchmal auch die Vernunft zu Rate ziehen würde.» In einem Brief vom Mai des Jahres 1916 schrieb er: «Ein Maler drückt sich nie so präzis aus, als wenn er malt. Und was ein Maler über Malerei schreibt, hat mich noch nie ganz befriedigt. Immer finde ich seine Malerei wahrer.» Zur eigenen Malerei sagte er 1948 in Solothurn: «Vor allem liebe ich die Wahrheit». Als das Wesen des schaffenden Vorganges galt ihm die Entscheidung. Er sagte 1944 zu Max Huggeler: «Auf den ersten Strich, den ich auf die Leinwand setze, kommt es an, das Übrige folgt notwendig, ich bin darin nicht mehr frei.» Die Sorgfalt, mit der er eine Arbeit anfing, spricht aus einer Erzählung von seinem Aufenthalt im Val da Cam (Seitental des Engadins) des Sommers 1895: Während er einen Tag lang mit seinem Skizzenbuch nach einem Bildmotiv suchte, schuf, wie er schrieb, sein Freund Giovanni Giacometti auf einer grossen langen Leinwand sofort den «prächtig hingeworfenen Anfang eines wundervollen Bildes». Was Amiets Farbenlehre betrifft scheint er bereits während seines Aufenthaltes in Pont-Aven in der Bretagne (Ende Mai 1892 bis Juni 1893) seine Vorstellung von der Farbgebung gewonnen zu haben. Gegen Schluss seines bretonischen Aufenhaltes schrieb er nach Hause: Man kann in der Natur anschauen, was man will, so gibt es nur immer eine Farbe, die über alle anderen dominiert, und alle anderen Farben richten sich nach der ersteren. Wenn zum Beispiel Rot die dominierende ist, so werden alle übrigen ins Grünliche stecken […] Bei meinen früher ausgestellten Bildern habe ich, ohne zu wissen, was ich damit sagen wollte, ins Blaue hineingemalt.
Peter Thalmann, «Biographie von Cuno Amiet» in Amiet, Die Freude meines Lebens, 1987, S. 115–116. 233 In diesem Abschnitt c) gebe ich Ausführungen von Max Huggeler in seinem Buch Cuno Amiet aus dem Jahre 1971 wieder. 232
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Diese Farbtheorie geht zusammen mit derjenigen Gauguins, wie er sie in seinem Brief vom September 1902 an den belgischen symbolistischen Dichter und Kunskritiker André Fontainas (1865–1948) formulierte: Van Gogh, der von neoimpressionistischen Untersuchungen beeinflusst war, ging durch grosse tonale Gegensätze gegenüber einer komplementären [Farbe] vor. […] Nach meinen Ratschlägen und meiner Lehre […] lernte er die Orchestrierung eines reinen Tones durch alle Ableitungen dieses Tones […] durch grosse Akkorde solider Farben, welche die totale Harmonie hervorrufen (Van Gogh, influencé par les recherches néoimpressionistes, procédait par grandes oppositions de ton sur une complémentaire […] d’après mes conseils et mon enseignement il […] apprit l’orchestration d’un ton pur par tous les dérivés de ce ton […] par de grands accord de couleurs solides rappelant l’harmonie totale.)
Der Schülerfreund Amiets, Werner Miller (1892–1959), Sohn des Papierfabrikanten, Kunstsammlers und Mäzenen Amiets, Oscar Miller, schrieb im Vorwort des Kataloges zur Ausstellung von Cuno Amiet in Solothurn 1948: «Das Werk wird zu einem Kunstwerk, in welchem jede Einzelheit als eine Selbständigkeit existiert und zugleich hilft, dem Ganzen sein Gepräge zu geben.» Damit zitierte er einen Satz, der von Cuno Amiet selbst stammt. Bei Amiet lautet der Kontext wie folgt: Für mich ist die Malerei die Sichtbarmachung eines Seelenzustandes. Ist nun meine Seele in zitternder Erregung beim Anblick einer Blume, so stellt sich sogleich der Wunsch ein, diesem Eindruck Ausdruck zu geben. Es handelt sich also nicht darum, die Blume darzustellen, wie sie der Verstand sieht, sondern so, wie sie die Seele wahrnimmt. Das Werk wird zu einem Kunstwerk, in welchem jede Einzelheit als eine Selbständigkeit exisitiert und zugleich hilft, dem Ganzen sein Gepräge zu geben.234
Werner Miller fährt fort: Ein Ganzes, das ist doch ein Wesen, das aus Teilen zusammengesetzt ist, die für sich schon immer ein Ganzes sind. Der Kitt, der diese Teile zum Ganzen schweisst, geheimnisvoll und zauberhaft, das ist die Kunst. […] Und noch eines riet er mir immer wieder: ‹Zeichne, zeichne, zeichne! Wenn Dein Bild gut gezeichnet ist, kannst Du mit der Farbe fast machen, was du willst.› – ein Wort, das mit der üblichen Vorstellung von Amiet als dem Maler der Farbe nicht recht zusammengeht. Seine im eigentlichen Sinn malerische Anschauung steht im Hinweis an den Lernenden, zu sehen, wie zauberhaft durchsichtig die Natur vor uns liegt. Ist es nicht, als ob wir sie durch Wasser hindurch sehen würden?
Ein Brief an Oscar, den Vater Werner Millers, vom Januar 1912, der den Unterschied zwischen der Kunstbetrachtung des Adressaten und derjenigen des Malers zu bestimmen sucht, enthält eine Umschreibung der Sichtweise Amiets:
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Amiet, Die Freude meines Lebens, 1987, S. 63.
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Ich als Maler kann nur aus mir heraus keine Linie und keinen Farbwert geben, der mir genügt. Die finde ich in meiner sichtbaren Umgebung oder in der Erinnerung an sie. Und die Linien und Farbwerte, die ich dort finde, sind einem Gesetz unterworfen. Das Gesetz wird gegeben vom Licht, das auf jedem Ding liegt. Die Linien und die Farbwerte kann ich von diesem Gesetz nicht trennen und muss es mit in mein Bild nehmen. Mit den Linien und Farben kann ich nicht frei und nach Gutdünken schalten, sondern das Gesetz legt mir Beschränkung auf. Diese Beschränkung habe ich immer als Quelle eines Reichtums empfunden. Darum unterwerfe ich mich mit Freude dem Gesetz und halte nicht viel von Anarchie.235
Irgendwo schreibt Max Huggeler in seinem erwähnten Buch auch, dass Cuno Amiet jede Symmetrie in der Malerei ablehnte. Dies widerspreche der Natur und daher auch der Kunst. Dies las ich vor vielen Jahren und habe es immer wieder in den Bildern Amiets verifiziert. d) Verhältnis zu Ferdinand Hodler236 Wie ich am Anfang dieses § 60 Cuno Amiet selbst sprechen liess, so möchte ich hier am Ende ihn wieder selbst zu Worte kommen lassen, und zwar durch seinen Text «Ferdinand Hodler, wie ich ihn erlebt habe», der im Buch von Cuno Amiet, Die Freude meines Lebens, auf den Seiten 39 bis 55 abgedruckt ist. Ich wähle ihn deshalb aus, weil Ferdinand Hodler und Cuno Amiet ohne Zweifel die beiden bedeutendsten Maler der deutschsprachigen Schweiz im 19./20. Jahrhundert sind und weil Amiet in ihm die Unterschiede zwischen ihnen als Menschen und Maler kennzeichnet. Dies scheint mir zu rechtfertigen, dass ich diesen langen Text in extenso hier zitiere: «Im Jahre 1888 habe ich den ersten Hodler gesehen. Ich kam von München wieder nach Solothurn. Ich hatte lange Zeit nach meinem lieben Meister Frank Buchser, und er nahm mich auch diesmal wieder in aller Güte auf. Ich durfte wieder unter seiner strengen Führung arbeiten. In München hatte ich viel gesehen, in der Pinakothek fleissig die alten Meister studiert und in der internationalen Ausstellung Deutsche, Franzosen, Italiener, Spanier, Engländer mit gierigen Augen genossen. Aber kein Bild konnte ich anschauen, ohne an meinen Lehrer in Feldbrunnen zu denken. Seine starke, frische, zupackende, helle, sonnige Malerei hatte es mir angetan. Die sagte meinem jungen Herzen voll Lust und Freude so ganz und gar zu.
Dieser Abschnitt über die Farbenlehre Amiets stammt aus Huggeler, Cuno Amiet, 1971, S. 14–19. 236 Auch in diesem Abschnitt d) gebe ich Ausführungen von Max Huggeler in seinem Buch Cuno Amiet aus dem Jahre 1971 wieder.
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Auch in Solothurn gab es eine Ausstellung. Ich half beim Auspacken und Aufhängen der Bilder im schweizerischen Turnus. Mein Entzücken war ja dieser Turnus nicht. Aber zu einem Bilde zog es mich immer wieder hin. Ich fand es nicht schön. Es war weit entfernt vom flüssigen, lebensvollen Schwung meines Meisters. Eckig war es gezeichnet, mit harten, phantasielosen Strichen, die Farben trüb, trocken, kalkig. Ein alter Mann sitzt zusammengesunken auf einem halbleeren Sack, müde zum nichtmehraufstehen. Nein, es gefiel mir gar nicht. Aber wie kam es, dass ich es doch immer wieder ansehen musste? Es war so ganz anders als alle anderen Bilder. So ganz eigen. Die Trauer dieses Armen griff einem ans Herz. Die andere Seite des Lebens. Ich konnte nicht begreifen, dass ich es doch immer wieder ansehen musste. Ich musste Buchser fragen. Wir gingen zusammen in die Ausstellung, und indem wir gemächlich Bild für Bild betrachteten, machte er mich aufmerksam auf Schönheiten und Fehler. Ich merkte schon, er war nicht begeistert. Was würde er wohl sagen zu dem hockenden Mann. Verstohlen schaute ich den Meister an. Sein Gesicht verhiess nichts Gutes. Und da brach er auch wirklich los, schimpfte auf diese neuen jungen Maler und wollte den Namen dieses Verbrechers an der Malerei wissen. Ich kannte ihn aus dem Katalog: Ferdinand Hodler. ‹Kommt weg›, sagte er ‹schaut mir solche Sachen nicht an!› Es gefiel mir ja auch nicht, doch tat mir sein Urteil leid. Im Frühjahr sah ich im Salon du Champ de Mars in Paris wieder einen Hodler: Die Nacht. Trotz Buchsers Verbot sah ich ihn gründlich an. Aber wieder kam das gleiche Gefühl, ich war freudlos, ja betrübt. War die Malerei nicht dazu da, Freude zu bereiten? War die Malerei nicht ein herrliches Handwerk, das einen glücklich macht und das Glück verbreitet? Warum musste man denn solche traurige, einem die Seele trübende Dinge darstellen? Die Figuren waren ja sehr gut in der Bewegung und waren ja auch, auf ihre Art, gut und solid gemalt, das sah ich schon. Auch sah ich, dass die Komposition sehr eigenwillig war. Aber musste denn die Nacht wirklich so grauenhaft sein? Und wieder verging ein Jahr und ich sah wieder einen Hodler: Aufgehen im All. Da konnte ich mit. Ich bewunderte den prachtvoll gezeichneten Akt und die wirklich im All aufgehende Bewegung der Frau. Wo ich aber so recht von dieser Malerei gefangen wurde, war die Ausstellung ‹Rosecroix› des Sar Beladan in Paris. Hodler hatte […] Die Lebensmüden und Die Enttäuschten. Da wusste ich: das ist grosse Malerei. Es litt mich nicht mehr länger in Paris, wo ich mit meinem Studium in eine Sackgasse geraten war. Einem glücklichen Zufall habe ich es zu verdanken, dass ich nach Pont-Aven geraten bin. Was ich bei den Rosenkreuzlern [‹Rosecroix›] gesehen hatte, half mir, das, was ich in der Bretagne sehen und erleben sollte, besser und leichter zu verstehen. Das grosse Erlebnis war Gauguin und einige Bilder von Van Gogh. Und die wiederum halfen mir, in der Zukunft Hodlers Art ganz zu würdigen und zu lieben.
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Nach meiner Rückkehr in die Schweiz lernte ich [1893] durch die Vermittlung meines Freundes, des Bildhauers Max Leu, an einer Generalversammlung der Gesellschaft Schweizerischer Maler und Bildhauer [GSMB] Ferdinand Hodler persönlich kennen. Ich hatte ihn schon beobachtet, wie er war und wie eigenartig er sich gab. Er flösste mir einen gewaltigen Respekt ein, und es war mir bange, ihm vorgestellt zu werden. Er war aber recht freundlich und fragte mich gleich, was ich male. Ich konnte ihm das Photo einer grossen Zeichnung zeigen, die ich als Konkurrenzaufgabe für den Schweizerischen Kunstverein gemacht hatte. Sie stellte eine Pfahlbau-Szene dar: eine Töpferwerkstatt mit einem jungen Maler, der die Töpfe bemalt, und ein junges Mädchen, das zuguckt; auf dem Wasser kommen einige Fischer vom Fang heim. Während die idyllische Szene ihm nicht viel zu sagen schien, lobte er die rythmische Folge der auf den [Pfahl‐] Bau kletternden Fischer. Sein Interesse war geweckt, und ich war für ihn einer, mit dem etwas anzufangen war. Er lud mich ein, ihn in Genf zu besuchen. Der Zufall führte mich bald nachher nach Genf. Ich stieg in der Grand’Rue die steilen Stufen hinauf zum Atelier. Auf dem Vorplatz verschnaufte ich, fasste mir ein Herz und klopfte. Alles blieb still. Ich klopfte zum zweitenmal. Es regte sich nichts. Da wusste ich, er war nicht da. Ich traute mich, durch das Schlüsselloch zu spähen und sah vor mir auf der Staffelei das Bild eines Mannes. Düster sinnend sitzt er auf einem Strohstuhl. Ich war aber froh, dass der Meister nicht da war. Was hätte ich mit ihm reden sollen in Gegenwart des traurigen Mannes. Es ging aber nicht lange, da traf ich bei Max Girardet, dem Kupferstecher, mit Hodler in Bern zusammen. Er übte sich im Velofahren und betrieb das so eigenartig wie alles, was er tat. Im Hof hinter dem Haus stand ein Baum, er hielt sich mit einem Arm an dem Stamm und fuhr nun, mit der anderen Hand die Lenkstange führend, um den Baum herum. Eine komische Methode; aber er brachte es bald so weit, dass er einhändig und die Mundharmonika spielend in den Strassen Berns herumfahren konnte, wobei ihn oft Rodo begleitete. Die beiden waren viel in Bern in jener Zeit. Wenn gar noch Albert Trachsel dazu stiess, gab es ein gar ungebundenes Leben, das ich hin und wieder auch mitmachte. Die drei hatten mich in ihre Freundschaft aufgenommen. Hodler malte in dieser Zeit in einer Scheune vor der Stadt an seinem Marignanobild [Rückzug der Schweizer aus der Schlacht von Marignano]. Ich durfte ihn dort jederzeit besuchen, und er liess mich in freundlichster Weise an dem Erreichten und an seinen Absichten teilnehmen. Wie ganz neu war für mich seine Art zu schaffen! Bei [Frank] Buchser trotz exakter Beobachtung Zeichnung aus freier Hand und ein malerisches Sichgehenlassen. Hier strengstes Zeichnen mit Hilfe eines Schnurgitters, das er vor das Modell stellte und dessen Vierecke auch auf die Leinwand gezeichnet waren. Das gab, statt des mir gewohnten tonigen Zeichnens, beinahe nur Umrisslinien, in die die Farbe in grossen Flächen eingesetzt wurde. Statt dem Buchserschen, auch mir adäquaten Suchen nach malerischer, realer Wiedergabe des Lebens, bei Hodler ein fast geometrisches Konstruieren mit Linien und Farben.
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Hodler kam mir beinahe eher wie ein Architekt vor als wie ein Maler. Seine Art, schien mir, habe etwas Wissenschaftliches. Ich meinte, er suche nicht die Werte der Töne, wie sie gegeneinanderstehen, wiederzugeben, nein, er wusste, wie er einen Ton mit Hilfe eines anderen wirksam machen konnte. Auch in der Zeichnung wusste er genau die Schattenlinie einzusetzten, so dass auf die einfachste Weise die gewollte Rundung sich ergab. Ich erinnere mich, dass schon in PontAven mein älterer Freund O’Conor mir von solcher Art zu zeichnen sprach. Hodler hatte sein Prinzip. Nach seinem Willen formte er die Natur. Er malte und zeichnete sie so, wie er sie für sein Bild brauchte. Nicht das, was er sah, malte er. Er wählte aus und benutzte nur das, was zu seinem Zwecke passte. Was er von der Natur malte, glich eigentlich nicht der Natur. In der Natur sah ich Licht und Schatten, neben hellen Farben sah ich dunkle. Ich sah scharfe Grenzen, neben verschwimmenden Übergängen. Dies alles war bei Hodler nicht. Alle Farben waren hell, und die Gegenstände mit meist dunklen Konturen umrissen. Auch Die Nacht war nicht dunkel, sie war hell und hiess Die Nacht nur, weil sie etwas Nächtliches darstellte, nicht um ihres malerischen Inhaltes willen. Alles aber, was er malte, war immer eine starke und wahre Äusserung seines eigenen Wesens. So fühlte ich auch vor dem Marignanobild. Mir schien, der Rückzug der Schweizer aus der Schlacht war ein Vorwand, um sein Prinzip recht deutlich und gross auf der Leinwand zur Wirklichkeit werden zu lassen. Ein ganz und gar künstlerischer Vorgang, der mir gewaltig imponierte. Umso mehr vielleicht, weil er gerade das Gegenteil war von dem, was ich anstrebte und was mir bis dahin als Malerei wertvoll erschienen war. Um diese Zeit lernte ich Oscar Miller [Direktor der Papierfabrik] in Biberist kennen, mit dem ich in der Folge so viele Jahre hindurch in Freundschaft lebte. Er führte eines Sonntags Hodler und Fritz Widmann in mein Atelier in Solothurn. Hodler war voll lebendiger Freude. Er sah das erste Mal Gemälde von mir, und ich sah ihm deutlich seine Überraschung an. Die Stunde dieses Besuches im Jahre 1897 […] war für mich eine grosse Wohltat. Sie war für mich der Ausgangspunkt meines Lebens, das auf Unabhängigkeit gegründet war. Einmal war die Anerkennung eines ganz grossen, aber ganz anders gearteten Künstlers für mich die Bestätigung meiner Anstrengungen. Meine lieben Basler Freunde hatten vorher ja schon alles getan, um mir gegen die vielen und bösen Ablehnungen zum Durchbruch zu verhelfen. Aber das waren eben frühere Freunde, und ich konnte nicht sicher sein, ob sie meine Bilder aus Freundschaft gut beurteilten oder wegen ihres Wertes. Hodler kannte ich aber schon so, dass ich wusste, sein Wort galt nur dem Wert. Was dann in zweiter Linie meine Zukunft auf sicheren Boden stellte, war die Tatsache, die nur auf künstlerischen Erwägungen beruhte, dass der Kunstfreund [Oscar Miller] drei Bilder von mir erworben hatte. Den Nachmittag verbrachten wir im Millerschen Hause in Biberist. Und da sah ich zum erstenmal den Menschen Hodler. Bisher hatte ich in Hodler nur den Maler gesehen.
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Hodler, eine nicht grosse, gedrungene, kräftige Gestalt, war damals 44-jährig [15 Jahre älter als Amiet]; schwärzliches Haar und dunkelbrauner Bart, hohe, gewölbte Stirne, breit gelagerte helle Augen, die freundlich, lieb, schalkhaft und manchmal zornig blicken konnten, eine beinahe gerade, etwas vorstehende Nase, unten der volle Mund. Alles kräftig und auch edel gebildet. Seine Hände ebenfalls kraftvoll, rund und kurz. Wie er sich in diesem für ihn ungewohnten Kreis der Familie Miller gab, war amüsant. Er war lustig, erzählte pointenreich allerlei Vorkommnisse aus seinem Leben, wobei er die freundliche Hausfrau mit einem unerwarteten Seitenblick plötzlich in Verlegenheit brachte. Oder wenn der Hausherr etwa eine Bemerkung machte, die dem freien Menschen zu bürgerlich erschien, konnte er rücksichtslos explodieren. An diesem denkwürdigen Nachmittag erfuhr ich die ersten Begebenheiten aus Hodlers Jugendzeit, die so ausserordentlichen Entbehrungen und Schwierigkeiten der langen Anfangsjahre seiner Künstlerlaufbahn.237 Noch viel mehr als bisher schätzte und bewunderte ich ihn. Ich konnte jetzt besser die Darstellungen und auch die Art der Darstellungen auf seinen Bildern verstehen. Er war ein leidender Mensch, das Leiden war ihm angeboren. Sein Leben war Verteidigung. Seinen ganzen Ehrgeiz setzte er darauf, obenauf zu kommen. Von Bild zu Bild, von Jahr zu Jahr stärker, intensiver. Nichts liess er auf seinen Parallelismus kommen, er war eins und alles. Und er hatte vollkommen recht. Wenn aber Oscar Miller mir einmal die verbissene Konsequenz Hodlers als nachzuahmendes Beispiel darstellte, da hatte er entschieden nicht recht. Ich war doch ein ganz anders gearteter Mensch. Ich habe mit zwei Zeichnungen Herrn Miller geantwortet. Auf der einen marschiert Hodler mit gezücktem Pinsel zwischen Bretterwänden auf sein Ziel los: ein schön konstruiertes Bäumchen mit wenigen Blüten. Auf der anderen stelle ich mich dar, der in einem Gärtlein die verschiedensten Blumen zu einem Sträusschen bindet. Im Millerschen Haus lernten wir Adolf Frey kennen, der schon lange in Freundschaft mit Millers verbunden war. Er konnte sich in seiner gewandten, ritterlichen Art allerlei kleine, kühne Ausfälle gegen den Hausherrn und auch gegen die Hausfrau erlauben. Hodler, der nicht gerne die zweite Geige spielte, wollte auch mittun. Aber weder hatte er das Recht dazu noch die gesellschaftliche Routine, um es meisterhaft zu können. Ein paar Mal habe ich erlebt, dass er mit Ich wiederhole in dieser Anmerkung, was ich schon oben im § 38 schrieb: Ferdinand Hodler (1853–1918) war der Sohn eines Schreiners im Berner Mattenquartier an der Aare, der wahrscheinlich in der damals dort auf einer Aareinsel bestehenden Möbelfabrik Jörns arbeitete. Das Mattenquartier war in jener Zeit das Armenquartier Berns und in früheren Zeiten, als es auf der Aare noch Schifffahrt gab, sein früher mehr als jetzt Überschwemmungen ausgesetztes Hafenquartier. Doch nachdem Hodler beim Vedutenmaler Ferdinand Sommer in Thun eine Lehre gemacht hatte, wanderte er, noch nicht 20-jährig, 1872 nach Genf aus und fand dort Aufnahme in der Kunstschule von Barthélemy Mann. 237
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dem Wort, obschon er sehr witzig sein konnte, nicht so bewandert war wie mit dem Pinsel. Vielleicht war daran auch schuld, dass er besser und lieber französisch sprach als deutsch. Aber auch in dieser Sprache musste er gegen einen, der schlechter französisch sprach als er, gegen Otto Vautier, den kürzern ziehen. Vautier liebte es, den von den Malgenossen nicht nur geachteten, sondern auch gefürchteten Meister auf seine geistreiche und feine, pointierte Weise ein wenig aufzuziehen. Hodler wurde dabei jedesmal nervös, und es gelang ihm schwer, den ruhigen und überlegenen Ton beizubehalten. Handelte es sich aber um eine lustige, harmlose Plauderei oder um ein ernsthaftes Gespräch oder eine Diskussion über Kunst, so war er in beiden Sprachen Meister wie in seiner Malerei. Seine scharfen, aber gerechten und niemals boshaften Urteile waren gefürchtet und geschätzt. Sie bewirkten auch, dass er in die Jury für die Vorausstellung der Münchner Internationalen gewählt wurde. Sie fand 1897 in Basel statt. Während diesen Jurytagen war ich auch in Basel bei meinen dortigen guten Freunden. Hodler und ich waren an den Abenden immer beisammen. Die drei Bilder, die ich geschickt hatte, waren angenommen worden. Er hatte sein Redliches dazu beigetragen. Eines Abends sagte er zu mir ganz ernsthaft: ‹So jetzt ist der Anfang für dich gemacht, aber damit ist es nicht getan, nun musst du auch das deinige dazutun.› Ich meinte, das seien doch meine Bilder. Er aber meinte, das genüge bei weitem nicht. Ich müsse in die Gesellschaft gehen und dürfe mich nicht scheuen, eine Tasse Tee zu trinken und mit Damen über Malerei zu plaudern. Ich konnte nicht begreifen, dass ein Hodler so zu mir sprach. Aber wie oft erinnerte ich mich später an seinen Rat. Wenn er es tat, konnte ich es ja auch tun. Und wie viel hat es mir zu meinem Fortkommen geholfen. Und wie oft habe ich in der Folge über kluge Bemerkungen von Laien männlichen und weiblichen Geschlechts Freude gehabt, und wie sehr haben mir diese in meinem Leben Nutzen gebracht. Mein offizielles Domizil in dieser Zeit war Solothurn, doch ich war beinahe immer in Hellsau, das ich seit der Zeit, die ich mit Buchser dort verbringen durfte, nie vergessen konnte. Im ganz frühen Frühling kam Giacometti aus dem Bergell dorthin. Von dort gingen wir oft nach Biberist und Bern. An beiden Orten trafen wir den Hodlerkreis, in dem wir uns wohl befanden. Giacometti kam mit der Mission von Segantini: nach des Meisters [Hodlers] Entwürfen und unter seiner Leitung sollten wir zwei das Panorama des Engadins malen, das er für die Pariser Weltausstellung geplant hatte, und Hodler sollte über der Eingangspforte ein grosses Wandbild schaffen. Es kam nicht zur Ausführung. Das Wandbild wäre sicher eine sehr schöne Sache geworden. Ebenso sicher ist aber auch, dass das Panaroma eine verfehlte geworden wäre. An mich trat eine andere Aufgabe heran. Herr Miller gab mir den Auftrag, ein Bildnis Hodlers zu malen. Hodler war einverstanden. Ich durfte in Bern bei der Familie J. V. Widmann wohnen, von unserem Freunde Fritz Widmann eingeladen. Es waren dort sehr schöne, heimelige, manchmal aber auch anstrengen-
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de Tage. Widmanns Begeisterung für Spitteler und meine Abneigung waren Schuld an diesen Anstrengungen. Ich musste Konrad der Leutnant lesen, der sollte mich bekehren. Er tat es nicht. Und wir wendeten unsere Gespräche lieber Brahms zu, für den der Hausherr mich zugänglicher fand. Hodler kam öfters ins Haus, und man fing an, vom Bild zu reden, das er von dem gastfreundlichen Dichter malen sollte. Hodler sagte davon wiederholt, es müsse mit Hilfe des Schnurnetzes so genau werden wie die Natur selbst. Es ist dann geworden wie die Natur selbst, dabei war gewiss Hodlers Geist so sehr beteiligt wie sein Schnurnetz. Hodler malte an seinem Karton für Marignano. Man hatte ihm einen Saal im Zeughaus zur Verfügung gestellt, auch eine Militärbluse, die er als Malkittel trug. Immer anders als andere Maler! Er trug auch keinen grossen Hut, sondern ein Köksli, auch beim Malen. In diesem Saal sah es kunterbunt aus. Die grossen Leinwände mit den ersten Entwürfen standen herum. Davon eindrücklich der erste mit ganz wenigen Figuren, der nicht angenommen worden war. Zeichnungen lagen herum, auf den Tischen, den Fenstern entlang Kostüme, Harnische, Schwerter, Farbtöpfe, eine Flasche mit Blut darin, um es den Modellen über die verwundeten Köpfe zu giessen. Am Boden lag das grosse Bild, das in Arbeit war, darüber auf Blöcken eine Leiter, und auf ihr kauerte der Maler, indem er zwischen den Sprossen durch malte. Er war sehr konzentriert bei der Arbeit, verlor den ganzen Tag über keine Minute; die Modelle feuerte er durch Blicke, Zurufe und Vormachen der verlangten Bewegungen an. Er hantierte mit seinen Töpfen, Farben und Pinseln mit zielbewusster und zielsicherer Behendigkeit. Er war freudig und fröhlich bei all dem Werken, und das Werk gedieh von Tag zu Tag zu grösserer und imposanterer Vollendung. Am Abend gewährte er mir noch eine Stunde zu seinem Bildnis. Wenn es gut ging, war es eine Stunde. Ich hatte ihn vor sein grosses Bild gesetzt, so dass die roten Beine seiner Krieger den Hintergrund bildeten. Gerne hätte ich ihn mit seinem blauen Militärkittel mit den roten Aufschlägen gemalt. Das aber wollte er nicht. Er zog einen schönen Ausgehrock an. In diesen Tagen lernte und übte er das Mundharmonikaspielen. Ich war so unvorsichtig, ihm das glitzernde Instrument in die Hand zu geben, die er auf dem Knie halten sollte. Jeden Augenblick aber hatte er seine geliebte Maulgeige unter seinem Schnauz. Rufst du mein Vaterland probierte er. Ich hatte des Teufels Mühe, ihn ein wenig zum Stillsitzen zu bringen. Wieviel besser hatte er es mit seinen Modellen! Eines Abends, als ich zur Sitzung kam, war er ganz ruhig und beobachtete mich mit seinen listigen Augen unverwandt. ‹Hast du noch nichts gemerkt?›, meinte er. ‹Doch, dass du besser sitzest.› Aber er zeigte auf sein Bild: die ganze Gruppe der Krieger mit Ausnahme der zwei vordersten hatte er um zwei Zentimeter höher gesetzt. Alle diese Figuren waren fertig gewesen, aber er hatte gefühlt, sie müssten höher stehen, um diese, im Verhältnis zum ganzen Bild winzigen zwei Zentimeter, und er hatte die ganze Arbeit nicht gescheut. Das war der ganze, echte Hodler. So will ich es haben, so muss es sein. Nichts dem Zufall
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überlassen, nichts verschwommen, alles wohl abgewogen, präzis, knapp, eindeutig. Mir machte sein Wesen einen gewaltigen Eindruck. Er aber begann, da er seine Wirkung gesehen, wieder mit seinen Rufst-du-mein-Vaterland-Übungen. Der Ernst, das Pflichtgefühl, die Verantwortlichkeit, mit denen er an die kleinste und grösste Arbeit ging, liessen ihn auch voraussetzen, dass die Betrachter seine Werke mit Ernst, Anstand und dem Wissen um den absoluten Wert anschauten. Da verstand er keinen Spass. Das zeigt so recht die Episode, die ich nun erzählen will. Giacometti kam hin und wieder von Hellsau nach Bern hinüber, und wir verkehrten beide in einer vornehmen Bündner Familie, die dort ansässig war. Wir berichteten von dem grossartigen Werk, das in diesen Tagen im Zeughaus entstand und der Vollendung entgegenging, und vermittelten einen Besuch bei Hodler. Beim Abschied wurden wir drei zu einem Trunk im Hause unserer Gastgeber eingeladen. Wir freuten uns auf den Abend und assen mehr als gewöhnlich zu Nacht, damit wir auch etwas vertragen konnten. In guter Stimmung langten wir im Hause an. Eine ganze geladene Gesellschaft wartete mit dem Essen auf uns. Wir hatten die Einladung missverstanden. Der Braten war etwas schwärzlich geworden, die Miene der Hausfrau weniger freundlich als sonst. Hodler aber und wir nahmen die Sache nicht tragisch und griffen fröhlich zu. Beim schwarzen Kaffee legte die Hausfrau dem Meister das Gästebuch vor. Der, in der lustigen Laune, mit der wir den Abend begonnen hatten und die sich im Lauf vermehrte, blickte die Hausfrau mit übermütigen, wie mir schien, schon etwas gefährlichen Augen an und begann oben auf der aufgeschlagenen Seite des Buches in aller Gemütlichkeit kleine waagrechte Striche zu zeichnen. ‹Eh nein, Herr Hodler!› Worauf Hodler. ‹Aha, sie wollen eine Variation!› Und er zeichnete ebenso langsam eine Zeile senkrechter Strichlein. ‹Nun aber, Herr Hodler, machen Sie mir einen Ihrer schönen Krieger in das Buch.› Da bricht der ganze Hodler los: ‹Glauben Sie denn eigentlich die Kunst ist ein Kinderspiel!› und er schmeisst ihr das Buch mit Verachtung vor die Füsse. Die Frau verlässt das Zimmer. Der Hausherr aber, der Situation gewachsen, meint: ‹So, nun können wir in aller Gemütlichkeit unseren Veltliner trinken.› Hodler und ich schlossen uns in diesen Tagen immer näher aneinander an. Eines Abends sagte er: ‹Komm morgen in meine Wohnung, ich will Dir etwas zeigen.› Und was zeigte er mir? Eine schöne, schlanke Frau mit hellen Augen und schwarzen Locken über die Schultern herab. ‹Das ist meine Frau›, sagte er, ‹ich habe geheiratet. Sage es aber niemandem, das geht niemanden etwas an.› Und noch etwas zeigte er mir neben dem angefangenen Bild. Der Tag, die ersten Skizzen zum Bewunderten Jüngling. Am Tisch beim Fenster hatte er das Blatt aufgelegt. Darauf war die Umrandung gezeichnet, darin er die ausgeschnittenen Figuren hin und her schob. Er sprach von der Gegenüberstellung einer Einzelfigur und einer Gruppe, vom Parallelismus, vom Wert einer kleinen Einzelheit in einer grossen Fläche. Es war ein Sonntag und wir drei blieben den ganzen Tag in Vertrautheit zusammen. Ich erzählte auch von meinen Heiratsplänen und dass ich
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mich ganz auf dem Land niederlassen wolle. Er aber rückte mit der Idee heraus, ich solle doch nach Genf kommen, er wolle mir ein Atelier geben, und wir wollten zusammen arbeiten. Es tat mir so leid, ihm mit einem ungern ausgesprochenen, aber ebenso entschiedenen Nein antworten zu müssen. So gut wir uns verstanden, und so sehr ich ihn, den 15 Jahre Älteren, bewunderte und hochschätzte, mein Verlangen nach meiner ganzen Selbständigkeit konnte ich nicht aufgeben. Es war ja verlockend, mit einem so grossen Künstler zusammen arbeiten zu dürfen, mit ihm mich weiter zu bilden, auch der Existenzsorgen mehr oder weniger enthoben zu sein. Wir waren aber im Charakter zu verschieden, und das, was mich zum Malen reizte, war etwas anderes als das, um dessentwillen er malte. Das Stadtleben, der ständige Kontakt mit anderen Künstlern wogen doch meine Liebe zum einfachen Dasein auf dem Land nicht auf. So musste an diesem Tag, der so schön angefangen hatte, auch der Grund gelegt werden, der zu öfteren peinlichen Reibereien zwischen uns führen und unsere Freundschaft trüben sollte. Meine Ablehnung hatte ihn geschmerzt, ja auch gekränkt. Verschiedene Male in der Folge tönte er wieder eine Zusammenarbeit an. Manchesmal überlegte ich, und immer kam ich zu dem gleichen Schluss. Im Frühsommer 1898 konnte ich durch persönliche Bekanntschaft mit dem damaligen Präsidenten der Zürcher Kunstgesellschaft eine Ausstellung zu stande bringen. Hodler, Giacometti und ich füllten gemeinsam das Kunsthaus mit unseren Bildern. Man redete und schrieb entsetzlichen Unsinn. Albert Fleiner, der in der Neuen Zürcher Zeitung eine sachliche Besprechung eingerückt hatte, musste sich die grössten Unflätigkeiten gefallen lassen. Mittlerweile waren meine junge Frau und ich auf die Oschwand gezogen. Ich malte das erste Bernermeitschibild. Millers besuchten uns oft, und manches Bild wanderte nach Biberist. Für lange die einzige Absatzmöglichkeit. Auch Hodler kam. Als das grosse Bild fertig war, besprachen wir dessen Titel. Ich wusste keinen passenden. ‹Was hast du mit dem Bild gewollt?› ‹Wenn am Sonnabend die Mädchen in den grünen Wiesen sich ergehen, dann sieht das alles so satt und reich aus.› ‹Nun also, das ist ja einfach: Richesse du soir.› Und so hiess das Bild von nun an. Das Museum von Solothurn war fertig geworden. Wir waren alle an der Eröffnung gewesen. Hodler hatte grosse Freude an dem Tag gehabt. Wir sprachen oft davon, und es wurde der Plan reif: Hodler wollte im Treppenhaus des neuen Baues auf die eine Wand ein Fresko malen, wenn ich die andere Wand übernähme. Nach den Plackereien seines Marignanofreskos in Zürich freute er sich, in aller Freiheit etwas gestalten zu können. Er wollte die Schlacht bei Dornach malen, und ich den Auszug der Krieger aus Solothurn. Ich ging zum damaligen Stadtammann, legte ihm unsere Pläne vor mit der Bemerkung, dass wir für unsere Arbeit nichts verlangten, nur unsere Ausgaben entschädigt haben wollten. Es sollte also ein Geschenk an das Museum sein. Der Stadtammann machte ein pfiffiges Gesicht, er erinnerte sich wohl an den noch ganz frischen Marignanostreit,
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und dass diesem Hodler gehörig am Zeug geflickt worden sei, er hatte wohl auch die schönen Sachen gelesen, die über mich in Zürich geschrieben worden waren. Er sagte: ‹So, so, ja, ja, da wollen wir aber vorerst doch Skizzen und Entwürfe sehen.› Also abgewiesen! Ich schämte mich, als ich es Hodler mitteilte. Er sagte nur in seiner grossen Einfachheit. ‹Die Solothurner sollen mir in die Schuhe blasen.› So ist Solothurn in einem kurzen Augenblick um einen Hodler gekommen, und ich um die Verwirklichung eines schönen Traumes. Hodler erfreute uns immer wieder mit einem Besuch auf der Oschwand. Eine alte Erinnerung mochte dabei mitwirken. Im Jahre 1876 weilte er in Herzogenbuchsee bei Dr. Krebs, dem Vater von Maria Waser [Schriftstellerin, 1878– 1939]. Der Doktor wurde auf die Oschwand gerufen, um den Tod eines Mannes zu konstatieren, den man da in einer Tenne gefunden hatte. Hodler begleitete ihn und malte den Mann. Die Tenne des Bauernhauses, in dem dies geschah, bildet heute ein Teil meines Ateliers. Unsere Gespräche drehen sich immer wieder um die Zusammenarbeit. Sie hatten den Erfolg, dass ich versuchte, Hodlers Anschauung in meiner Malerei anzuwenden. Und in seiner trat an Stelle des Tonigen reinere Farbe. Trotz unserer Verschiedenheit blieben wir gute Freunde. Wir rauchten zusammen unsere Bastos, wir tranken zusammen unser Bier, wir ‹häggelten› zusammen, wir rangen miteinander, ohne dass der eine stärker war. Einmal gab es einen Zwischenfall. Ich traf ihn in Bern. Er machte ein böses Gesicht. ‹Du hast schlecht über mich gesprochen.› ‹Was fällt dir ein, wieso?› ‹Man hat es mir gesagt.› Und er war furchtbar böse. Da sagte ich: ‹Nie habe ich schlecht über dich gesprochen. Wenn du es mir nicht glaubst, werde ich niemals mehr mit dir reden.› Da schimpfte er über die Schwätzer. Einmal machte er eine Zeichnung von mir in sein Skizzenbuch und schrieb darunter: Figure ingrate. Die Zeit verging, es kam die erste Ausstellung in Wien [1904]. Die Sezession hatte Hodler, Perrier und mich eingeladen. Hodler fuhr persönlich hin. Er kam zurück voller Begeisterung und Zuversicht. Mehr als je war er sicher, auf dem rechten Weg zu sein. Vollständige Abwendung von Tizian und den Venezianern. Bekenntnis zu den Florentinern, vor allem aber zu Dürer. Er drückte seine Entschiedenheit mit starken Worten aus, und ich fühlte heraus, ich solle mich nun auch deutlich entscheiden. Ich aber musste nach wie vor meinen Weg gehen, hatte Freude an einem Venezianer, an einem Florentiner und an einem Dürer. Ich wollte nicht die Fessel eines Prinzips, ich wollte frei sein und malen, was mich gerade freute. Die zweite Wiener Ausstellung [1909] rückte heran. Karl Moll, der Präsident der dortigen Sezession, und Koloman Moser von den Wiener Kunstwerkstätten kamen in die Schweiz, um Bilder auszuwählen. Sie kamen zuerst in die Oschwand, weil das am Wege lag, und nachher gingen wir zusammen nach Bern, wo wir Hodler trafen. Der würdigte mich keines Blicks, sprach kein Wort zu mir
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und war zwei Tage lang übler Laune. Wir trafen uns in Wien wieder. Oscar Miller war auch gekommen. Hodlers zwei grosse Säle waren voll majestätischer Pracht. Eine absolut überragende Manifestation, trotz den Sälen von Marées und Munch. Mir hatte man zwei kleinere Räume gegeben und sie sehr freundlich eingerichtet. Meine Frau und ich wohnten bei Moll, Hodler bei Dr. Spitzer. Alle die Häuser auf der Hohen Warte waren von [Josef Franz Maria] Hoffmann [1870–1956] gebaut und von [Koloman] Moser möbliert. Alles war aufs peinlichste abgewogen und ausgerechnet. Jeder Stuhl, jede Vase hatten ihren unverrückbaren Platz. Hodler war guter Laune. Wie ein Junge stellte er schnell und ungesehen eine Vase auf einen anderen Tisch und freute sich über den Diener, der sie wieder an ihren richtigen Ort brachte. An Einladungen kam es vor, dass er in seiner Lustigkeit die Dame des Hauses, statt ihr den üblichen Handkuss zu geben, mitten auf den Mund küsste. Er wanderte gern mit einer Mappe herum, worin er die vielen Kritiken über seine Bilder bewahrte. Wenn wir zwei einmal zusammen waren, dann war er sehr freundlich und sprach mit viel Achtung von meinen Bildern und meinte, wir sollten doch zusammenarbeiten. Ein Photograph wollte ihn aufnehmen. Ich sollte ihn um eine Sitzung bitten. ‹Ja, wenn du mitkommst.› Wir gingen hin. Im Vorzimmer, wo Kämme und Bürsten bereitlagen, meinte er, ich solle mich so kämmen, wie er die Haare trug, nach hinten, wo ich doch nach vorne bürstete. Ich schlug den Wunsch aus, und er hatte gar keine Freude. Die Aufnahmen bekam ich nie zu sehen. Es tat mir leid, Hodlers Wunsch nicht erfüllen zu können. Wenn ich damals auch probierte etwas altdeutsch zu malen, und so lieb ich auch Hodler hatte, fühlte ich doch zu deutlich, dass ein Zusammenwirken mit ihm für beide am Ende unerspriesslich sein werde. Die Zeit ging. Er machte seine wunderbaren grossartigen Bilder aus einer anderen Welt, und ich überliess mich meiner ungebundenen Liebe zur Pracht der Natur. Wir sahen uns nicht mehr so viel wie in der übermütigen, frohen und überquellenden Berner Zeit. Kamen wir in der Gesellschaft oder mit Kameraden zusammen, war ich einer, mit dem er nicht sonderlich viel zu tun hatte und den er gelegentlich auch mit ein wenig Spott und manchmal auch Grobheit abtun konnte. Waren wir aber allein, so war er voller Freundschaft und wir redeten in aller Offenheit über unsere Malerei. Noch einmal gab es die Gelegenheit, da er den Wunsch ausdrückte, wir möchten zusammenarbeiten. Er erhielt vom Zürcher Kunsthaus den Auftrag, die eine Wand im Treppenhaus zu bemalen. Er wollte, dass ich die andere Seite erhalte. Auch da kam es nicht dazu: es sollte nicht sein, und es war auch recht so. Die Jahre flogen vorbei. Es kam das Jahr 1918. Hodler war krank und musste oft schrecklich leiden. Ich besuchte ihn in seiner schönen Wohnung am Quai du Mont Blanc. Madame Hodler führte mich mit sehr besorgter Miene zu ihm
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hin. Er kam mir entgegen, an der Hand sein kleines, reizendes, rundes Töchterlein. Welch ein Kontrast! Das blühende Kind im hellen Röckchen und der gebeugte zerfallene Vater mit dem Ecossaisschal um den mageren Körper! Sein Gesicht war fahl und faltig. Doch seine Augen leuchteten noch hell und freundlich, indem er mir seine Paulette zeigte. Das Ebenbild seiner jungen Jahre! Es war ein unvergesslicher Vormittag. Er hatte ein paar gute Stunden. Er führte mich zu seinen Seebildern mit dem Montblanc, diesen Prachtstücken von grosser, freier, frischer Malerei. Ich sprach ihm meine Bewunderung aus und meine Freude, dass er noch derart freizügig malen könne. Dabei fuhr ich mit meinem Arm durch die Luft. Er aber hob kaum die Hand ein wenig vom Körper weg: ‹Nur so kann ich noch malen.› Er schilderte mir seine Leiden, seine schrecklichen Asthmaanfälle, die ihm den Tod zum sehnlichsten Wunsch werden liessen. An diesem Vormittag hatte er leidlich Ruhe. Wir plauderten ausgiebig miteinander. Ich fühlte seine gute Freundschaft. Er fragte mich ‹Was machst du jetzt?› – ‹Ich habe angefangen zu bildhauern, indem ich glaube, auf diese Weise die Form besser verstehen zu können.› Er aber leidenschaftlich: ‹Tu das nicht, bleib bei deiner Farbe und male gross, grossformatig, ganz grosse Bilder musst du malen.› Ich erinnerte mich, wie er mir einmal, viele Jahre früher, erklärt hatte, wie schwer es sei, ein kleines Bild zu malen und wie es dazu einer kräftigen Hand bedürfe. Auf einmal sagte er: ‹Du, ich gehe jetzt ein paar Wochen ins Tessin, und nachher musst du nach Genf kommen, und dann malen wir uns gegenseitig.› Wie oft hatten wir schon davon gesprochen! Vier Wochen später kam ich nach Genf. Ich malte ihn im Sarg.»
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1. Anhang zu § 40: Das Projekt des Architekturbüros Jacques Herzog und Pierre de Meuron für das Neue Nationale Kunstmuseum Chinas (中国国家美术 馆新馆 Zhongguo guojia mei shuguan xinguan, New National Art Museum of China: NAMOC) in Beijing als Vergegenwärtigung einer Brücke zwischen traditioneller und moderner Kunst (Jahr 2011) Für das Neue Nationale Kunstmuseum Chinas (中国国家美术 馆新馆Zhongguo guojia mei shuguan xinguan, New National Art Museum of China: NAMOC) reichte das Architektenbüro Herzog & de Meuron im Jahre 2011 im Rahmen eines ausgeschriebenen Wettbewerbes ein Projekt ein. Bisher hatte in China der Künstler Ai Weiwei Einleitungen zu Projekten dieses Architekturbüros geschrieben. Da damals dieser Künstler bei der chinesischen Regierung in Ungnade gefallen war, bat mich ein mit mir befreundetes Mitglied dieses Architekturbüros an Stelle von Ai Weiwei einen Vorschlag für eine solche Einleitung zu schreiben. Ich schrieb im Januar 2011 das Folgende: «Das vom Architekturbüro Herzog & de Meuron geplante New National Museum of Art hat zwei Aspekte: 1. Von der Seite gesehen gleicht es einem weit gespannten B o g e n. 2. Von oben gesehen gleicht es einem geraden S t r i c h. Ad 1) Folgende drei bildlichen und symbolischen Assoziationen zu Bogen scheinen mir sehr sinnvoll: a) Der Gedanke an ein Jade-Huang (玉璜 yühuang). Das Jade-Huang ist ein halbkreisförmiges oder flach bogenförmiges kunstvoll geschnitztes Jadestück, das im Opferritual oder auch als beschützendes Schmuckstück gebraucht wurde und das in abgeflachter Form dem von Herzog & de Meuron projektierten Neuen Nationalen Kunstmuseum Chinas gleicht. Mir scheint dieser Gedanke auch zu einem Kunstmuseum zu passen. Weniger passend wäre aber das kreisrunde (voller Kreis) Jade-Bi ( 玉璧 yübi) oder das achteckige JadeCong, da diese der geplanten Gebäudeform nicht entsprechen. b) Passend wäre auch der Gedanke des Himmelsgewölbes. Das projektierte Museumsgebäude weist auf der Seite viele kleine Fenster auf, die durch die Innenbeleuchtung von Aussen in der Dunkelheit wie die Milchstrasse (yin he銀河) aussehen. Vom berühmten Dichter Li Bai (705–762) aus der Tang-Dynastie gibt
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es folgenden Gedichtsvers: «Es ist wie die aus den neun Himmeln heruntergefallene Milchstrasse» (疑是銀河落九天 yi shi ying he luo jiu tian). c) Schliesslich scheint mir auch der Gedanke einer verbindenden Brücke zwischen der chinesischen und der internationalen globalen, weltweiten Kunst, wie auch einer Verbindung von Vergangenheit zur Gegenwart sinnvoll. Dafür gibt es im Chinesischen z. B. die geflügelten Worte: «Das Vergangene aufnehmen und [damit] die Zukunft erhellen» (承上啟下 cheng shang qi xia) oder «Das Vergangene weiterführen und [damit] die Zukunft öffnen» (継往開來ji wang kai lai). Ad 2) Das von oben gesehene geplante Museum als ein gerader S t r i c h hat chinesische Gesprächspartner, denen ich dessen Pläne zeigte, an die Zahl Eins (一 yi) erinnert. Da dieses Zahlzeichen ein waagrechter, horizontaler Strich ist, erscheint mir diese Assoziation allerdings als fragwürdig. Denn das geplante Gebäude, das die Süd-Nord-Achse Beijings betonen soll, steht in dieser Achse senkrecht. Es gleicht also eher dem römischen Zeichen für Eins: I. Zudem erscheint das Gebäude nur von oben, von einem Flugzeug oder Satelliten aus, als ein Strich. Der natürliche Gesichtspunkt für uns Menschen ist aber vom Boden aus, und aus dieser Perspektive erscheint es als ein Bogen. Natürlich wäre der Gedanke der Eins, der Einheit sehr schön. Dabei wäre nicht nur die Aussage von Konfuzius (552–497 v. Chr.), übernommen vom Maler Shi Tao aus dem 17. Jahrhundert «Meine Lehre (mein Weg) durchdringt mit Einem alles» (吾道一以貫之 yi yi guan zhi) (Lunyü, Gespräche des Konfuzius, 4. Buch, 15. Kap.) heranzuziehen, sondern auch der Gedanke des Einen im daoistischen Gedankengut: etwa die Lehre von der «obersten Einheit» (太一 tai yi), das der Ursprung von allem ist, oder auch der Satz aus dem 12. Kapitel des ungefähr vor 2000 Jahren allmählich entstandenen Dadojing («Der Klassiker des Weges und der Tugendkraft»): «Das Dao bringt das Eine hervor, das Eine bringt die Zwei hervor, die Zwei die Drei und die Drei bringt alle Wesen hervor» (道生一,一生二,二生三,三生萬物 dao sheng yi, yi sheng er, er sheng san, san sheng wan wu). Ich schrieb in diesem Text nicht vom Vergegenwärtigen, weil es mir zu philosophisch schien. Aber anstatt «erinnern an» hätte ich auch «vergegenwärtigen von», anstatt «der Gedanke an» hätte ich auch «die Vergegenwärtigung von» schreiben können. Von meinem Vorschlag wurde vom Architekturbüro Herzog & de Meuron für die Introduction ihres «Project No 352, NAMOC» der Gedanke der Brücke übernommen: As a national cultural institution it bridges the period from classical modernism to the present day, it aims to link its important existing collection of Chinese modernism with an expanding body of contemporary works. As an international venue it connects [bridges] the world of Chinese arts, and in particular the cultural tradition of Beijing, to the art of the
2. Anhang zu § 41 «Spiele»
world. Spanning the local to the global, and the classical to the informal, it enriches the experience of each.
Das Projekt kam in die engste Auswahl. Weil aber der ursprünglich vorgesehene grosse Park, auf den als dessen Umgebung hin das Projekt entworfen wurde, von der Regierung verkleinert wurde, und weil vom Architekturbüro Herzog & de Meuron finanzielle Verbilligungen an ihrem Projekt verlangt wurden, zog es ihr Projekt schliesslich zurück.
2. Anhang zu § 41 «Spiele»: «Die Verabschiedung und Zurückbegleitung des ehrwürdigen Götterkönigs» (西 港刈香送王 Xigang yixiang songwang). Vier Tage eines alle drei Jahre einmal stattfindenden, fünf Tage dauernden Festes: ein daoistisches Kultspiel im Städtchen Xigang nördlich von Tainan, der alten Hauptstadt Taiwans, im südlichen Taiwan Dieses daoistische Kultspiel heisst auch «reines Ritual, reines Opfer» (清醮 qingjiao). Als ich von Februar bis November 1979 zum zweiten Mal in Taiwan war, um dort klassische chinesische Philosophie zu studieren – damals war ich zu diesem Zweck am philosophischen Institut der Taiwan Guoli Daxue (National University of Taiwan) in Taipei –, fragte mich mein Malerfreund Li Yihong (李義 弘) im Frühherbst dieses Jahres, ob ich mit ihm zusammen während vier Tagen in seine Heimatstadt Xigang (西港) fahren wolle, um an einem dortigen fünftägigen daoistischen Fest teilzunehmen, das nur alle drei Jahre einmal stattfinde. Ich könne dort mit ihm zusammen im Hause seiner Eltern übernachten, die Reisbauern gewesen waren. Ich willigte sofort mit Freuden ein.238 Li Yihong (geboren 1941) hatte ich schon 1976 während meines ersten Aufenthaltes in Taiwan kennengelernt, als ich ihn im Stadtmuseum von Taipei bei einer Tuschebilder-Ausstellung einer Vereinigung von sechs jungen Malern traf und als Erster Bilder von ihm (und keinem anderen) kaufte, wofür er mir nachher immer dankbar war. Er war der jüngste der sechs Maler. Ich fand seine Bilder die besten, obschon mir einer der sechs Maler, der bei meinem ersten Ausstellungsbesuch präsent war, empfahl, Bilder eines anderen, schon bekannten Malers zu kaufen. Ich antwortete ihm, dass mir die Bilder von Li Yihong am besten gefallen, ich ihn persönlich kennen zu lernen wünsche, und bat ihn, mit ihm telefonisch Kontakt aufzunehmen. Schon für den nächsten Tag wurde ein Treffen in der Ausstellung zwischen ihm und mir vereinbart. Unsere Freundschaft hat bis heute gehalten. Noch im Sommer 2016 hat er mit seiner Frau, ihrem älteren Sohn und einem Schüler meine Frau und mich in Krattigen während zehn Tagen besucht. Heute ist er der beste und berühmteste Maler Taiwans geworden. Seine Bilder sind für mich nach 1979, als ich noch zwei seiner Bilder in einer eigenen Ausstellung von ihm in einer Galerie kaufte, unerschwinglich geworden, und ich habe nie mehr eines gekauft. Aber 238
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So fuhren wir zusammen im Frühherbst 1979 mit dem Schnellzug von Taipei in südlicher Richtung nach Tainan und dann, ich erinnere mich nicht mehr wie, von Tainan etwa zwanzig Kilometer in nordwestlicher Richtung nach Xigang. Abends nahmen wir Quartier im Elternhaus von Li Yihong. Es war ein klassisches chinesisches Bauernhaus, einstöckig, mit einem nach Süden gerichteten Haupttrakt und zwei Seitenflügeln, so dass sich zwischen ihnen ein grosser Platz bildet, auf dem die geernteten reifen Reispflanzen ausgebreitet, getrocknet und gedroschen werden können. Doch damals war von seiner Familie niemand mehr Bauer, denn der Betrieb war zu klein gewesen. Das Kultspiel Die Verabschiedung und Zurückbegleitung des ehrwürdigen Götterkönigs von Xigang (西港刈香送王 Xigang yixiang songwang) vergegenwärtigt, wie mir Li Yihong berichtete, ungefähr Folgendes, wobei ich durch einiges ergänze, was ich über den religiösen Daoismus gelernt hatte: Der höchste Gott des Volksdaoismus, der Grosse Yade Kaiser (der grosse Yade Gott: 玉皇大 帝 Yuhuang Dadi)239 schickt alle drei Jahre einen anderen göttlichen Beamten, der in Xigang den Titel eines Königs hat (王 wang), um diese Stadt zu verwalten. Diese daoistische Vorstellung ist der administrativen Ordnung der chinesischen Kaiserzeit nachgebildet, in welcher der Kaiser ungefähr für drei Jahre in die administrativen Einheiten seines Reiches, zum Beispiel in die Präfekturen oder in die diesen untergeordneten Kreise, Beamte schickte. Zu deren Tätigkeit gehörten vor allem das gesamte Richteramt, das Eintreiben von Steuern und die Bewahrung der öffentlichen Ordnung. Sie wurden ungefähr alle drei Jahr durch andere ersetzt, damit sich zwischen ihnen und Teilen der von ihnen administrierten Bevölkerung keine Freundschaftsbeziehungen bilden konnten, welche die Unparteilichkeit ihres richterlichen Urteils hätte beeinträchtigen können. Wenn nun die Bevölkerung einer administrativen Einheit nach dem Ablauf der Amtszeit eines Beamten fand, dass dieser seine Tätigkeit zu ihrem Wohle verrichtet hatte, bereite sie ihm ein grosses Abschiedsfest. Ein solches Abschiedsfest ist, auf die religiöse Ebene des Daoismus übertragen, das alle drei Jahre während fünf Tagen stattfindende Kultspiel. Natürlich konnte ein vom Grossen Yade Kaiser gesandter
zu meinem 80. Geburtstag (2017) hat er mir noch ein etwa zwei Meter langes und dreissig Zentimeter hohes zweiseitig bemaltes Bild zum Zusammenklappen geschenkt, auf dem er viele zusammenhängende Ansichten des Gelben Gebirges (Huangshan) malte, das er im Herbst 2016 besucht hatte. 239 Nach anderen Vorstellungen des Daoismus ist die höchste Gottheit nicht der Grosse Yade Kaiser, sondern eine Dreiheit, nämlich die Drei Reinen (三清san qing), von denen der eine Laozi ist. Diese sind aber, schon wegen der Kompliziertheit ihrer Namen, nicht in den daoistischen Volksglauben eingegangen. Sie sind buddhistischen Dreiheiten nachgebildet, z. B. den drei Buddhas der Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft oder den drei Buddhas der Mitte, des Ostens und des Westens.
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Götterkönig seine Amtstätigkeit nur zum Wohle des Volkes, also gut, getan haben. Dieses daoistische Kultspiel ist das weitaus grösste seiner Art in Taiwan. Ich frage mich, warum es ausgerechnet in der kleinen Stadt Xigang und nicht in der grösseren Stadt Tainan stattfindet, in der alten Hauptstadt Taiwans vor 1895, als die Japaner Taiwan besetzten und das Japan näher gelegene Taipei im Norden der Insel zu Hauptstadt machten. 西港 Xigang bedeutet westlicher Hafen. Dieser nordwestlich von Tainan gelegene Hafen ist viel günstiger und natürlicher als der Hafen an der Küste neben Tainan, denn bei ihm fliesst ein grösserer und deshalb auch für die Schifffahrt günstigerer Fluss ins Meer, als es derjenige beim Hafen von Tainan ist. Deshalb stelle ich mir vor, dass auch die staatlichen Beamten der Provinzregierung von Fujian und der Zentralregierung in Peking in diesem günstigeren Hafen landeten und Tainan ungefähr nach drei Jahren wieder durch diesen Hafen verliessen. Erster Tag der Teilnahme am Kultspiel: Nach der Übernachtung im Elternhaus von Li Yihong, das sich etwas ausserhalb des Städtchens Xigang auf dem Lande befindet, gingen wir am nächsten Tag zum grössten Tempel von Xigang, der im Zentrum der Stadt liegt, zum Tempel des Stadtgottes (城皇廟 Chenghuangmiao). Der Tempel des Stadtgottes liegt in den taiwanesischen Städten, die ich kenne, in ihrem Zentrum. In ihnen und um sie herum ist am meisten los: die meisten Geschäfte, die meisten Restaurants. Die populärsten Restaurants, wo vor allem Fischbällchen serviert werden, befinden sich im Vorhof des Tempels. Im Tempel des Stattgottes von Xigang konnte ich nicht frei herumgehen, weil damals in ihm daoistische Zeremonien stattfanden, auf die ich unten noch zurückkommen werde. Ich schildere hier deshalb in den wichtigsten Zügen das Innere des Tempels des Stadtgottes der chinesischen Stadt Hsinchu (新竹 Xinchu), der fünfgrössten Stadt Taiwans, etwa dreissig Kilometer südlich von Taipei, so wie dieser Tempel 1976 aussah.240 Vorerst ist zu betonen, dass der Stadtgott (城皇Chenghuang) einer Stadt nicht etwa derselbe ist wie der Stadtgott einer anderen Stadt, sondern jede Stadt hat ihren eigenen Stadtgott. Dieser wird ungefähr alle hundert Jahre vom oben erwähnten obersten Gott, dem Grossen Yade Kaiser (Grosser Yade Gott: 玉皇大 帝 Yuhuang Dadi) ausgwechselt. Seine sitzende Statue und davor sein Altar befanden sich vorne in der Mitte des Tempels. Zu seiner Linken sass an der Tempelwand sein Sekretär, der Gott Yin-Yang 陰陽, der auf der einen Seite schwarz 240 In Xinchu verbrachte ich die Monate September bis Dezember 1976, meine erste Zeit in Taiwan, um an einer dortigen Sprachschule mein Umgangschinesisch (gesprochenes Chinesisch) zu verbessern, bevor ich dann nach Taipei zum Studium der chinesischen Philosophie umzog. Hier erlebte ich zum ersten Mal die reiche, damals noch sehr von der Tradition geprägte chinesische Kultur der kleineren Städte und Dörfer Taiwans.
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(dunkel: yin陰) und auf der anderen Seite weiss (hell: yang 陽) ist und der die guten (weissen) und die schlechten (schwarzen) Taten der unter der Rechtsprechung des Stadtgottes von Xinchu stehenden Leute aufschreibt. Hinter dem Stadtgott, in der Mitte der inneren Rückwand des Tempels thronte die Frau des Stadtgottes, zu deren rechter Hand die Nebenfrau des Stadtgottes und zu deren linker Hand die Kinder schenkende Göttin. Links des Stadtgottes an der linken Wand des Tempels sass, etwas abgeschirmt durch eine Holzwand, der Tempelwächter, der dort während des Tages auch ass und trank, Zeitung las und manchmal auf seinem Stuhl schlief. Rechts des Eingangs dieses Tempels befinden sich der etwa vier bis fünf Meter hohe General Xie 謝, und links des Eingangs der dicke etwa halb so grosse General Fan 范. Xie und Fan sind chinesische Familiennamen. Warum diese zwei Generäle diese Familiennamen tragen, weiss ich nicht. Ihre Aufgabe besteht darin, die Verstorbenen zum Gericht in die Unterwelt zu bringen. Den Generälen Xie und Fan werden wir bei der Verabschiedung und Zurückbegleitung des ehrwürdigen Götterkönigs von Xigang, wieder begegnen, aber nicht im dortigen Tempel des Stadtgottes, sondern auf den Strassen der Stadt und auf den Wegen im Gebiet rund um sie herum. So viel zum Tempel des Stadtgottes in Xinchu. Die Tempel der Stadtgötter spielten in der Geschichte Taiwans zwischen 1662 und der japanischen Besetzung 1895, also während ungefähr 230 Jahren, eine sehr grosse Rolle, eine viel wichtigere Rolle als auf dem chinesischen Festland. Als 1644 die Truppen des im Norden des damaligen China lebenden nichtchinesischen Volkes der Manchu ganz China erobert hatten und hier die FremdDynastie der Qing (1644–1911) errichteten, flüchteten die chinesischen Loyalisten der Ming-Dynastie (1368–1644) mit dem jungen kaiserlichen Nachkommen schliesslich in den Süden der Insel Formosa. Unter Leitung ihres Generals Zheng Chenggong 鄭成功 (1624–1662) besiegten sie die dortigen holländischen Truppen in Fort Zeelandia und erreichten die Anerkennung ihrer Oberhoheit durch die Spanier im Norden der Insel. Sie begannen die bis damals nur von Malaien bewohnte Insel zu besiedeln und errichteten im Süden, wo vorher die Holländer ihren Hauptsitz hatten, ihre Hauptstadt Tainan. Die politische und gerichtliche Verwaltung der ganzen, damals von den mingloyalistischen Chinesen noch wenig besiedelten Insel war schwach. Nach dem Tod von Zheng Chenggong folgte Kangxi (1662–1722). Sowohl die damalige Regierung in Tainan wie auch Peking erkannte diesen sehr fähigen, gebildeten und bei den Chinesen beliebten Manchu-Kaiser als ihren Kaiser an. Kaiser Kangxi machte die Insel Taiwan nicht zu einer eigenen Provinz, sondern teilte sie der Provinz Fujian auf dem chinesischen Festland zu, die von Taiwan durch die etwa 170 Kilometer breite Meeresstrasse getrennt ist. Weit entfernt von Peking und durch das Meer von der Provinzregierung Fujians in Fuzhou getrennt, blieb die politische und gerichtliche Verwaltung durch die politische Obrigkeit in Taiwan bis zur Eroberung durch die Japaner schwach. Diese Rolle übernahm während jenen 250 Jahren der Stadtgott. Man-
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gels der Anwesenheit der staatlichen Garanten von Gesetz und Ordnung in Form der durch die Zentralregierung in Peking und der Provinzregierung in Fuzhou gesandten Beamten übernahmen der Gott und seine göttlichen Gehilfen diese Aufgabe. In seinem Tempel wurden von der Ortsbevölkerung Verträge geschlossen, und der Gott wachte über ihre Einhaltung. In des gerechten Gottes Gegenwart wurden von durch die Bevölkerung ernannten Richtern Urteile gefällt und Steuern erhoben, und die Richter und Steuererheber wussten, dass sie vom Stadtgott bestraft würden, wenn sie ungerecht entschieden. Nach diesen etwas vereinfachenden Erklärungen der Wichtigkeit der Stadtgotttempel in Taiwan komme ich wieder zurück auf meinen Besuch der Stadt Xigang zusammen mit Li Yihong im Jahre 1979. Vor dem Tempel des Stadtgottes waren ungefähr hundert Holztische (Altäre) mit Opfergaben aufgestellt; und an der Wand der Tempelfront lehnten, ebenfalls als Opfergaben, über zwanzig etwa drei Meter hohe Zuckerrohre mit roten, mit Inschriften beschriebenen Bändern. Unter den Opfergaben auf den Tischen lagen in Schüsseln die verschiedensten Früchte, darunter Ananas, grüne allerbeste Mango, weiter Reiskuchen und Süssigkeiten aller Art; auf zwei Tischen knieten zwei ganze grosse gekochte Schweine voller roter Stempel und Zeichen, die wohl eine von mir nicht erkennbare Bedeutung hatten. Und es gab dort mehrere Haufen von «Geistergeld» (冥币 mingbi). Überall standen Menschen herum und sahen sich die Gaben an. Ebenfalls an der Wand der Tempelfront stand ein etwa zwanzig Meter langes und acht Meter hohes, reich bemaltes Holzschiff mit einer hölzernen, mindestens zwanzigköpfigen Rudermannschaft. Über den Zweck dieses Schiffes werde ich am Ende der Schilderung dieses taiwanesischen Kultspieles noch berichten. Zu den Opfergaben möchte ich hier Folgendes bemerken: Ausser dem erwähnten Geistergeld sind die Gaben keine Brandopfer, sie werden nicht für einen oder mehrere Götter verbrannt, sondern sie werden am Abend des Tages von den Spendern wieder zurückgeholt, nach Hause gebracht und dann dort selbst gegessen. Als ich 1976 zum ersten Mal in Taiwan war und in der Wohnung einer taiwanesischen Familie in Xinchu, die mich zum Essen eingeladen hatte, zwei kleine Götterstatuen mit Speisenopfer davor sah, fragte ich, was mit diesen Speisen schliesslich geschehe. Als sie mir antworteten, dass sie diese Speisen selbst essen würden, drückte ich meiner Verwunderung darüber durch die Antwort aus, dass es mir merkwürdig erscheine, den Göttern Speisen zu geben, sie ihnen dann aber wieder wegzunehmen und selbst zu essen. Darauf antworte mir der Mann dieser Familie, dass die Götter geistige, feine Wesen seien, die sich vom feinen Geruch dieser Speisen ernährten. Vielleicht hatte sich dieser Mann diese Antwort auf meine Frage hin ausgedacht oder sie von jemand anders gehört. Wenn ich einem Intellektuellen diese Frage gestellt hätte, hätte er mir vielleicht geantwortet, dass man mit diesen Gaben den Göttern zeigen wolle, dass man bereit sei, ihnen das Beste zu geben, was man habe. Aber vermutlich fragen sich die meisten Menschen, die den Göttern in dieser Weise Speisen hinstellen und diese
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dann selbst essen, gar nicht, warum sie das so tun, sondern sie tun es so, weil sie es so bei ihren Eltern und Grosseltern gesehen haben, und diese taten es auch so, weil ihre Eltern und Grosseltern es so getan haben. So ist es Sitte, und die Menschen, die innerhalb der entsprechenden Tradition leben, befolgen sie einfach. Es braucht einen besonderen Anlass, damit man diese Sitte hinterfragt. Auf dem Platz vor dem Tempel sah ich an jenem Morgen eine ältere Frau knien, die sich einen Halskragen aus Karton anziehen liess. Schwere eiserne Halskragen (枷 jia), die man nicht selbst öffnen konnte, wurden im kaiserlichen China Missetätern für eine gewisse Zeit umgeschnallt, damit sie als solche gebrandmarkt waren. Diese Frau wollte wohl durch dieses «Kultspiel» für ihre Sünden büssen. Weiter trat eine Gruppe von gelb gekleideten Frauen und Männern auf, die in allen möglichen Körperpositionen, bald niederkniend und die Arme erhebend, bald ihren ganzen Leib windend und die Hände faltend oder Räucherstäbchen in den Händen, sich langsam fortbewegten. In ihrer Mitte schritt eine etwa 50-jährige Frau in bunter Kleidung lallend und mit vielen Räucherstäbchen in den Händen aufrecht dahin; sie war die Anführerin der Gruppe. Ich hatte den Eindruck, dass diese Menschen versuchten, einen Trancezustand zu erlangen, oder vielleicht schon in einem solchen Zustand waren. Am Nachmittag war ich im Tempel des Stadtgottes Zuschauer einer langen daoistischen Zeremonie, die von einem daoistischen Oberpriester und vier Assistenten (oder untergeordneten Priestern) durchgeführt wurde. Ich dachte mir, es sei die Abschiedszeremonie für den Götterkönig. Der Oberpriester trug das reichste Gewand in roter Grundfarbe und reich mit Gold bestickt. Die vier Unterpriester (Assistenten) trugen am Anfang der Zeremeonie blaue, bis zu ihren Knöcheln reichende Gewänder, kleideten sich aber dann auch in Rot, aber diese langen Gewänder waren nur silbern und mit anderen Motiven als dasjenige des Oberpriesters bestickt. Der Oberpriester trug auf der Spitze seines schwarzen Hutes eine kleine goldene Krone, auf der noch so etwas wie ein goldener Stern aufgesteckt war; die Hüte der Unterpriester hatten auch diese goldene Krone, aber keinen Stern. Der Tempel war durch das Licht von Kerzen, zwei Neonröhren und an der Decke mit einem Gehänge von kleinen elektrischen, mit roten Bändern geschmückten Lichtern nur mässig erhellt; das Licht wurde vom vielen Gold reflektiert. Es herrschte eine geheimnisvolle Stimmung. Alles ging auch nur sehr langsam zu. Der Oberpriester sprach langsam, mit geschlossenen Augen und mir völlig unverständlich Formeln, vielleicht im taiwanesischen Dialekt (Minnan hua) oder in einem uralten Chinesisch oder in einer daoistischen Sondersprache, las einen Text, den ihm ein Unterpriester kniend vorhielt, blies seinen Lebensatem in den Tempel. Ich verstand von allem nichts; es ging mir Europäer wahrscheinlich wie einem taiwanesischen Chinesen, der noch nie etwas von einer katholischen lateinischen Messe, auch einem katholischen Kultspiel, gehört hatte und nun plötzlich, ohne Vorbereitung, einer solchen beiwohnt. Im Tempel befanden sich nur diese Priester; sie vollzogen ihre Rituale ohne jegliche Teilnah-
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me der Bevölkerung von Xigang. Li Yihong hatte durch einen dieser Priester erreicht, dass auch ich dieser Zeremonie beiwohnen durfte. Weiter befanden sich im Tempel noch vier Franzosen, die sich fleissig Notizen über dieses Ritual machten und manchmal untereinander leise französisch sprachen. Es waren wohl Studenten und Studentinnen des Holländers Kristofer Schipper (geboren 1934), der seit 1970 als Professor an der École pratique des hautes études in Paris über chinesische Religionen lehrte. Prof. Schipper hatte 1964, also 15 Jahre zuvor, als erster westlicher Forscher die Erlaubnis erhalten, diesem grossen, nur alle drei Jahre einmal stattfindenden Ritual im Tempel teilzunehmen. Ich hatte ihn zwischen 1976 und 1978, als ich noch an der Universität Heidelberg lehrte, in seiner Wohnung besucht, nachdem ich mit ihm zuvor telefoniert hatte. Der französische Jesuitenpater Joseph Dehergne, den ich in Paris kennenlernte und der selbst über den Daoismus publiziert hatte,241 empfahl mir, ihn als bedeutendsten Daoismuskenner in Europa aufzusuchen. Ich erinnere mich nicht mehr, was ich Prof. Schipper fragte und was er mir sagte, sondern nur noch daran, dass er bei sich zu Hause einen daoistischen Altar mit daoistischen Göttern (Geistern) aufgestellt hatte und vor sie auch Opfergaben gelegt hatte. Ich dachte bei mir: «Dieser Forscher erforscht nicht nur den Daoismus, sondern glaubt auch an diese Religion.» Erst später erfuhr ich, dass er 1968 in Taiwan zum daoistischen Meister (Priester) erhoben worden war. Ich kenne bis jetzt keinen anderen westlichen Menschen, der selbst Daoist, ja sogar daoistischer Priester ist. Er kennt also den Daoismus von innen. Zweiter Tag der Teilnahme am Kultspiel: Schon früh am Morgen begann eine Prozession, in welcher der «ehrwürdige Götterkönig von Xigang» auf einer Sänfte durch die Strassen der Stadt Xigang und auf den Wegen durch das zu ihr gehörige, zum grossen Teil landwirtschaftliche Gebiet und zu den dortigen Tempeln getragen wurde. Die Götter dieser Tempel schlossen sich in Sänften getragen dieser Prozession an, um dem Götterkönig das Abschiedsgeleit zu geben. Vor jeder Göttersänfte trug ein Mann einen mächtigen, dreistufigen, pagodenartigen, reich bestickten, vielfarbigen Baldachin. Die Prozession begann beim Tempel des Stadtgottes (城皇廟 Chenghuangmiao). Bei diesem Stadtgott war der Götterkönig drei Jahre lang Gast gewesen. Vom Stadtgott, vom langen General Xie und dem kleinen, dicken General Fan, die dem Stadtgott unterstanden, und von den verschiedensten Vereinigungen der Bevölkerung von Xigang begleitet zog der Götterkönig von Xigang hier aus. Diese Vereinigungen waren vor allem Kampfkunst-Vereinigungen (武術會wushuhui), deren Aufgabe es war – so stellte ich mir vor – den Götterkönig, den Stadtgott und die anderen Götter zu beschützen. An der Spitze einer solchen Vereinigung trug P. Joseph Duhergne, «Les historiens jésuites du taoisme», in: Actes du Colloque International de Sinologie Chantilly, Les Belles Lettres, Cathasia, Paris 1974, S. 59–67. 241
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ein Mitglied ein rundes, bei einer anderen ein anders geformtes, bunt manchmal mit einer Fratze bemaltes Schild, das wahrscheinlich das Wahrzeichen einer solchen Vereinigung war. Dahinter trugen einige Mitglieder rote Wimpel und mit Kuhhörnern bekrönte Stangen, die Kampfkunstwaffen sind. Als die Prozession durch die Gassen der Stadt zog, knallten viele Petarden (炮竹paozhu), die Glück bringen und die bösen Geister vertreiben sollen. Als nun eine solche Kampfkunstvereinigung vorbeizog, fragte Li Yihong jemanden dieser Gruppe, ob ich mit ihnen an der Prozession teilnehmen durfte. Dieser und andere willigten lachend ein, und so nahm ich selbst an dieser grossen Prozession teil; ich wurde, wenigstens während dieses Tages, Mitspieler dieses daoistischen Kultspiels und war nicht bloss dessen Zuschauer. Wir marschierten durch das weite fruchtbare landwirtschaftliche Gebiet rund um Xigang und vor den Tempeln führten «wir», ich natürlich nur passiver Gast dieser Vereinigung, der darin wohnenden Gottheit unsere Kunst vor, bevor ihre Statue auf eine Sänfte gehoben wurde und den Götterkönig beim Abschiedsrundgang durch sein Gebiet begleitete. Dies dauerte den ganzen Tag. Am Mittag assen wir zusammen in einem ähnlichen Bauernhof wie derjenige der Eltern von Li Yihong. Wer es spendete, weiss ich nicht mehr oder habe es nie gewusst. Die Kampfkünstler nutzten es, mich auszufragen, woher ich komme, warum ich nach Taiwan gekommen sei, ob ich verheiratet sei, wie ich meinen Aufenthalt in Taiwan bezahlen könne, wie viel Geld ich in der Schweiz verdient habe usw. usw. Am späteren Nachmittag, vor meinem Abschied von den so liebenswürdigen und fröhlichen Kampfkünstlern, erhielt ich von ihnen ein rotes Band umgebunden und ein Schwert in die Hand, während jemand von ihnen ein riesiges, Schrecken einflössendes Maskenschild vor sich hielt und vor mir einen wilden Löwentanz aufführte. Auf dem Weg über Land zum Tempel des Stadtgottes, wo ich mich mit Li Yihong abgesprochen hatte, sah ich Folgendes: Zuerst vier einander folgende, weiss und rot bekleidete Damen mit hohen roten Schleierhüten auf braunen Pferden; mit ihrer rechten Hand zügelten sie die Pferde und mit ihrer linken hielten sie gelbe leuchtende Sonnenschirme; als fünfter folgte zu Pferd ein Mann mit hohem Hut, weiss bekleidet mit einer gekreuzten roten Schleife auf seiner Brust. Dann sah ich ziemlich in der Ferne die Generäle Fan und Xie vorbeiziehen, hinter ihnen einen hohen Baldachin und dann wahrscheinlich den von vielen Männern auf Stangen in einer Sänfte getragenen Stadtgott und hinter ihm nach einem weiteren hohen Baldachin wahrscheinlich den in einer Sänfte getragenen Götterkönig. Hinter ihnen sah ich aus der Nähe eine Kolonne von mindesten zwanzig Leuten auf etwa sechzig Zentimeter hohen Stelzen. Diese Stelzen hatten keine Griffe, an denen man sich mit den Händen halten kann, sondern sie waren nur an ihre Schuhe geschnallt. Der hinterste, ranghöchste von ihnen war schwarz gekleidet, mit goldenen Fransen am Oberkleid und an den Ärmeln. Auf seinem Rücken trug er in einem goldenen Kreis das goldene chinesische Zeichen
2. Anhang zu § 41 «Spiele»
馬 (ma), das Pferd bedeutet. Vielleicht sollte dies ausdrücken, dass diese Leute auf Pferden reiten, denn ihre Höhe auf ihren Stelzen entsprach ungefähr der Höhe eines Reiters. Als weiteres Bemerkenswertes sah ich einen Kampf zwischen zwei grosshörnigen Wasserbüffeln. Es war aber auch kein ernster, wirklicher. Unter zwei mit Tuch verkleideten Gestellen mit Wasserbüffelköpfen waren je zwei Männer versteckt, so dass die beiden Büffel je vier Menschenbeine hatten; diese vier Männer spielten einen frontalen Kampf von zwei Wasserbüffeln. Sehr eindrückliche Gestalten waren drei Männer mit sehr hohen goldenen Hüten mit roten Pompons, deren eine Brusthälfte wie bei Buddhadarstellungen nackt war und deren Gesichter kunstreich rot, schwarz und weiss bemalt waren. Man sagte mir, wie sie heissen, aber ich habe ihre Namen vergessen. Bei all diesen Kultspielen ging es nicht ruhig, sondern durch Trommeln und Gongs und das Geschrei der Leute sehr laut zu. Nachdem ich Li Yihong getroffen hatte, führte er mich in die Wohnung einer ihm bekannten Familie in der Stadt, wo wir bewirtet wurden. Nach dem Nachtisch schauten wir aus den Fenstern, um die Prozession unten auf der Strasse zu sehen. Sie war dicht gedrängt von Menschen verschiedenster Art. Es zogen von rechts nach links Leute mit dreieckigen Fahnen vorüber und dahinter auch wieder eine vier bis fünf Meter hohe weisse Gestalt mit pagodenartigem hohem Hut, der mir aber nicht General Xie zu sein schien, weiter auch eine an langen Stangen getragene Sänfte mit einem Gott. Was ich zum ersten Mal sah, waren die ihm folgenden Männer, die ihren nackten Rücken mit Geisseln blutig schlugen. Man erklärte mir, dass sie dadurch in Trance versetzt werden wollen und dann fähig wären, Menschen zu heilen und unverständlich lallend die Zukunft vorauszusagen. Dieses Lallen könne durch Verständige gedeutet werden. Dies zeigt, dass auch der Schamanismus in die daoistische Volksreligion eingegangen ist. Dritter Tag der Teilnahme am Kultspiel: An meinem dritten Tag in Xigang mit Li Yihong fand die eigentliche Verabschiedung des Gottkönigs statt. Alle Gestalten, die vorher in einzelnen Gruppen herumzogen, begleiteten ihn in einer langen Prozession ins Hafengebiet von Xigang. Sie zogen ihm mit Trommeln und verschiedenen Gongs voraus, zuvorderst wurde das reichlich bemalte grosse Holzschiff mit hölzerner Besatzung auf Holzrollen gezogen, das ich am ersten Tag vor dem Tempel des Stadtgottes genauer bewundern konnte. Am Ziel angekommen, wurden der Gottkönig und seine göttlichen Gehilfen, d. h. ihre hölzernen und bekleideten Statuen, mit ihren Sänften aufs Schiff getragen. Darauf wurde es mit Geistergeld als Ausdruck der Dankbarkeit der Bevölkerung von Xigang und mit viel Benzin in Flammen gesetzt und vollständig verbrannt, während im aufsteigenden Rauch der Gottkönig und seine Gehilfen nach drei Jahren Amtszeit zum Himmel zurückkehrten.
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Zitierte Literatur
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Zitierte Literatur
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Das Signet des Schwabe Verlags ist die Druckermarke der 1488 in Basel gegründeten Offizin Petri, des Ursprungs des heutigen Verlagshauses. Das Signet verweist auf die Anfänge des Buchdrucks und stammt aus dem Umkreis von Hans Holbein. Es illustriert die Bibelstelle Jeremia 23,29: «Ist mein Wort nicht wie Feuer, spricht der Herr, und wie ein Hammer, der Felsen zerschmeisst?»
Was ist Vernunft? Was ist Vernunft im Gegensatz zur Sinnlichkeit? Diese Frage erörtert der erste Teil dieser Studie, die unterscheidet zwischen Vernunft als Verstehen bzw. Verstand und Vernunft in vollem Sinn: Verstand ist z. B. das Sich-Erinnern an die eigene Vergangenheit, das Vergegenwärtigen der Erlebnisse anderer in der Einfühlung, das Vorausplanen der Zukunft. Vernunft im vollen Sinne dagegen ist Institution des Vergegenwärtigens in der Sinnlichkeit oder Kultur, z. B. die menschliche logische Sprache, die Bilder, vergegenwärtigende Spiele. Vernunft hat auch mit Erkennen und Wahrheit zu tun, worum es in einem zweiten Teil geht. Hier setzt der Autor sich unter anderem mit tierischem Erleben im Gegensatz zum menschlichen Erkennen, mit naturwissenschaftlichem Erkennen und religiösem Glauben sowie mit Erkennen in den Humanwissenschaften auseinander. An Beispielen aus ganz unterschiedlichen Bereichen, mit vielen Bezügen zur europäischen Philosophie und in sehr persönlichem Ton zeigt Iso Kern, was Vernunft ist. Iso Kern promovierte mit einer Untersuchung über das Verhältnis von Husserl zu Kant in Löwen. Er edierte drei Bände über die Phänomenologie der Intersubjektivität aus Edmund Husserls Nachlass, ehe er sich an der Universität Heidelberg zum Thema des vorliegenden Bandes habilitierte. Es folgten Lehrtätigkeiten in Heidelberg, Bern, Zürich und Freiburg i. Ue. Bei Schwabe erschienen von Iso Kern Das Wichtigste im Leben (2010), Der gute Weg des Handelns (2020), Die Religion von Philosophen (2021), Erinnerung – Personale Einheit – Reflexion (2021) sowie Phänomenologie der Intersubjektivität und metaphysische Monadologie (2021).
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