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German Pages 350 [349] Year 2015
Verhandlungen im Zwielicht
| GenderCodes | Herausgegeben von Christina von Braun, Volker Hess und Inge Stephan | Band 1
2006-11-15 17-28-44 --- Projekt: T549.gc.grenz.prostitution / Dokument: FAX ID 00fb131592162986|(S.
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Sabine Grenz/Martin Lücke (Hg.)
Verhandlungen im Zwielicht Momente der Prostitution in Geschichte und Gegenwart
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Inhalt
Sabine Grenz/Martin Lücke Momente der Prostitution. Eine Einführung ...............................................................
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Tauschhandel zwischen Körper und Zeichen Christina von Braun Das Geld und die Prostitution ............................................................................................ 23 Elke Hartmann »Hetären für die Lust?« Zum Hetärenwesen im klassischen Athen ................................................................... 43 Bettina Mathes »… unter strenger Befolgung des Prinzips der Stundenmiete …«. Die (un)heimliche Beziehung der Psychoanalyse zur Prostitution .................... 63
Politische Regime. Ein Ländervergleich Birgit Sauer Zweifelhafte Rationalität. Prostitutionspolitiken in Österreich und Slowenien .......................................................................................................................... 77 Susanne Dodillet Prostitutionspolitik in Deutschland und Schweden. Zum ideologischen Hintergrund von Sexarbeit und Sexkaufverbot .................. 95
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Politische Regime. Ihre »Randbereiche« Alice Sadoghi Die Frau als »Handelsgut«. (Straf)rechtliche Betrachtung des Menschenhandels in Österreich und Deutschland ........................................... 113 Petra de Vries Weiße Sklavinnen in einer Kolonialnation. Die niederländische Kampagne gegen Frauenhandel im frühen 20. Jahrhundert ............................... 133 Kathrin Schrader Die dreifach »Anderen«. Betrachtungen zur Wahrnehmung von Beschaffungsprostitution im Kontext ethnischer Konstruktionen ......................................................................................................................... 159
Umkämpfte Räume und Körper Martina Löw/Renate Ruhne (unter Mitarbeit von Christiane Howe und Regine Henn) »Eine umfangreiche Konzeption, die Dirnen von den Straßen zu holen«. Zur Verhäuslichung der Prostitution in Frankfurt/Main ....................................... 177 Romana Filzmoser Blickwechsel. Zur Bildpolitik der Berliner Prostitutionsdebatte im 1800 .................................... 209 Nicola Behrmann Sucht. Abgründiger Körper. Die Prostituierte als Medium der literarischen Moderne ....................................... 223
Populäre mediale Diskurse . Bozena ChoŁuj »Kann man eine Prostituierte überhaupt vergewaltigen?« Zum Prostitutionsdiskurs in Polen .................................................................................. 237
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Loretta Ihme »Zu Gast bei Freundinnen«. (Re)Konstruktion von Nation, Geschlecht und Sexualität in Narrativen über die Fußball-WM und die Prostitution ......................................................................................................................... 247
Wissenschaftliche Diskurse und ihre Reichweite Dorothea Dornhof Prostitution und die Harmonie der Täuschungen. Einschreibungen, kulturelle Markierungen und Verkehrungen ......................... 267 Stefan Wünsch Die Familie Sander. Prostitution, Zuhälterei und Justiz in der späten Weimarer Republik ................................................................................................................. 281 Martin Lücke Beschmutzte Utopien. Subkulturelle Räume, begehrte Körper und sexuelle Identitäten in belletristischen Texten über männliche Prostitution 1900-1933 ................................................................................... 301 Sabine Grenz Prostitution, eine Verhinderung oder Ermöglichung sexueller Gewalt? Spannungen in kulturellen Konstruktionen von männlicher und weiblicher Sexualität ............................................................................................................... 319
Autorinnen und Autoren ...................................................................................................... 343
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Dies ist ein Ausschnitt aus einer 1872 von einem unbekannten Maler in Dresden angefertigten Kopie von Jan Vermeers Gemälde »Bei der Kupplerin« aus den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden. Es handelt sich bei dieser Kopie vermutlich um eine Auftragsarbeit für ein geheimes Bordell, das sich in einem bayrischen Dorf in der Nähe der österreichischen Grenze befand. Jedenfalls wurde es dort auf dem Dachboden gefunden. Es ist uns zufällig während unserer Arbeit an diesem Band begegnet und so wollten wir es unseren Leser/-inne/-n nicht vorenthalten. Wir danken der Antiquitätenhändlerin Kerstin Gassdorf für ihre freundliche Genehmigung, diesen Ausschnitt hier abbilden zu dürfen.
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Momente der Prostitution. Eine Einführung | 9
Momente der Prostitution. Eine Einführung 1 Sabine Grenz/Martin Lücke
»[…] um den Vernichtungskampf gegen die Prostitution zu einem erfolgreichen Ende zu führen, bedarf es einer wirklichen Erkenntnis des wahren Wesens der Prostitution als eines merkwürdigen Ueberrestes des primitiven Geschlechtslebens, bedarf es ferner einer tief eindringenden Erforschung ihres Kausalzusammenhanges mit der antik-mittelalterlichen Sexualethik, bedarf es endlich einer neuen Ethik im Sinne der Anerkennung der Sexualität als einer natürlichen biologischen Erscheinung und ihrer Anpassung an die moderne Kultur durch die Ausprägung der Begriffe Arbeit, der Verantwortlichkeit und der relativen sexuellen Abstinenz.«2
Fast einhundert Jahre ist es her, dass Iwan Bloch 1912 mit diesen Worten die moderne, durch sexualwissenschaftliche Methoden angeleitete Erforschung der Prostitution eröffnete und den ersten Band seines umfassenden Handbuchs »Die Prostitution« vorlegte. Noch immer erstaunt das Buch durch seinen Materialreichtum und die Vielfalt der Quellen, die Bloch heranzog, doch der Ur-Ahn der Prostitutionsforschung würde sich heute bei einem Blick auf die gegenwärtige Forschungslandschaft erstaunt die Augen reiben: Von einem wissenschaftlich motivierten »Vernichtungskampf gegen die Prostitution« kann – zumindest in Deutschland – keine Rede mehr sein und nach wie vor gehört die »Prostitution zu unserer Gesellschaft und zu unserer Lebensweise […] wie das Amen zur Kirche«.3 Im Jahr 2001 verlor sie in Deutschland sogar den Status der Sitten1 | Diese Anthologie beruht auf der Tagung »Prostitution. Tauschhandel zwischen Körper und Zeichen«, die im März 2006 von dem durch die DFG geförderten Graduiertenkolleg »Geschlecht als Wissenskategorie« an der Humboldt-Universität zu Berlin durchgeführt wurde. Beides, die Tagung wie der Band, wurden durch Mittel des Graduiertenkollegs finanziert. Für die freundliche wie finanzielle Unterstützung möchten wir uns bei den beiden Sprecher/-inne/-n Christina von Braun und Volker Hess sowie Inge Stephan bedanken. 2 | Iwan Bloch: Die Prostitution Band I (Handbuch der gesamten Sexualwissenschaft in Einzeldarstellungen), Berlin 1912, S. XVI. 3 | Volkmar Sigusch: Neosexualitäten. Über den kulturellen Wandel von Liebe und Perversion, Frankfurt am Main/New York 2005, S. 196.
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10 | Sabine Grenz/Martin Lücke widrigkeit. Seitdem können sich Prostituierte in die staatliche Sozialversicherung aufnehmen lassen und ihren Lohn gerichtlich einklagen. Und keine Forscherin und kein Forscher unternimmt heute noch den Versuch, nach Überresten eines angeblich primitiven Geschlechtslebens oder den natürlich-biologischen Wurzeln der Sexualität zu fahnden. Seit Foucaults Werk »Sexualität und Wahrheit«, in dem er sowohl die »Natürlichkeit« als auch die »befreiende Kraft« der Sexualität in Frage stellte,4 geraten diese zunehmend ins Visier der kritischen Wissenschaft:5 Die Gender Studies zeigen auf, dass sexuelle Identitäten lediglich soziale Konstrukte sind und die Queer Studies schrecken nicht davor zurück, diese Identitäten vollends zu dekonstruieren. Und statt zu untersuchen, wie sich ein Wandel der Arbeitsverhältnisse auf die käufliche Sexualität ausgewirkt hat, konnte sich für Prostitution selbst der Begriff der »Sexarbeit« etablieren.6 Heute erstaunt am historischen Forschungsprogramm von Bloch jedoch besonders die leitende Hinsicht seines Projektes, »einer wirklichen Erkenntnis des wahren Wesens der Prostitution« nachzuspüren und auf diese Weise zum wahren Wissenskern über die Prostitution vorzudringen. In diesem Band wird ein ganz anderer Weg beschritten: Nicht um sicheres und endgültig wahres Wissen über die Prostitution soll es hier gehen, vielmehr gerät in den Blick, wie Prostitution ihrerseits als ein spannungsreiches Feld der Wissensproduktion und -reproduktion gewirkt hat. So wird hier betrachtet, wie die Prostitution bestehendes Wissen über Geld, Macht, Sexualität und Geschlecht praktiziert und damit reproduziert. Zum anderen wird dieses Wissen durch und in der Prostitution verändert und es wirkt von dort in andere gesellschaftliche Bereiche zurück. Prostitution wird so zum integralen Bestandteil der gesellschaftlichen Produktion, Aneignung und Reproduktion von geschlechtlich codiertem Wissen über Sexualität und Geschlecht, aber auch über Geld und die gesellschaftliche Konstruktion von Raum und Zeit. Nach wie vor ist die Betrachtung der Prostitution ein eher randständiges wissenschaftliches Thema. Das Bloch’sche Forschungsparadigma konnte lange wirken und so war Prostitutionsforschung zunächst vornehmlich Devianzforschung.7 Sie bezog sich fast einzig auf die Person der weiblichen Prostituier4 | Vgl. Michel Foucault: Der Wille zum Wissen, Sexualität und Wahrheit Bd. 1, Frankfurt am Main 1997 [1983]. 5 | 2003 organisierte die Universität Manchester z.B. eine Tagung, die sich speziell der Frage der ›Sexualities after Foucault‹ zuwandte. 6 | Erst kürzlich widmete das Hamburger Museum der Arbeit der Prostitution eine große Ausstellung, die zur bestbesuchten Wechselausstellung in der Geschichte des Hauses wurde und verwendete dabei ganz selbstverständlich eben jenen Terminus der »Sexarbeit«, um über Geschichte und Gegenwart der Prostitution zu informieren. 7 | Vgl. auch Pierre Dufour: Weltgeschichte der Prostitution. Von den Anfängen bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts, Reprint Frankfurt am Main 1995, hier Bd. 2, darin Bd. 3: Die christliche Zeit II, Teil 1, Kap. IV, S. 60ff. Dufour gibt hier einen Überblick über Kategorisierungen von Prostituierten in verschiedenen Studien des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts.
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ten8 und auf die Frage, warum sie überhaupt dieser Tätigkeit nachgeht. Zu diesem Zweck wurde z.B. ihr Körper vermessen oder ihre Tätowierungen wurden untersucht.9 Es wurde die Frage diskutiert, inwiefern von »geborenen Prostituierten« gesprochen werden konnte, deren Tätigkeit mit der Hysterie zusammenhing.10 Erst später kamen Studien über Freier hinzu, die teilweise ebenfalls deren Devianz in den Vordergrund stellten.11 Diese Tendenz zog sich bis in die 1980er Jahre hinein hin und ist bis heute nicht gänzlich verschwunden.12 Dennoch hat sich in den letzten 30 Jahren einiges verändert. In den 1970er Jahren wurde die These entwickelt und propagiert, dass Frauen, die mit Prostitution ihr Geld verdienen, nicht als »deviant« bezeichnet werden können, sondern Opfer gesellschaftlicher Verhältnisse seien.13 In diesem Zusammenhang wurde auch die Auffassung einflussreich, alle nicht-erwerbstätigen verheirateten Frauen als Prostituierte anzusehen, da auch sie als Folge von patriarchaler Herrschaft in der Ehe, die als eine staatlich legitimierte Form sozialer Ungleichheit interpretiert wurde, der freien Verfügungsgewalt über ihren Körper und ihre Sexualität beraubt waren.14 Der politische Impetus dieses feministischen Paradigmenwechsels war auf eine Verbesserung der sozialen Stellung von Frauen insgesamt gerichtet. Gleichzeitig fand in den 1970er Jahren eine sexuelle Liberalisierung mitsamt den Befreiungsbewegungen sexueller Minderheiten statt. Zu diesen gehören nicht nur die Schwulen-, Lesben-, Bisexuellen- und Transsexuellenbewegungen, sondern auch die Hurenbewegung. Seither setzen sich organisierte Prostituierte (Huren, Sex-Arbeiter/-innen) gegen Vorurteile zur Wehr. Sie wollen nicht viktimisiert werden, sondern ihre Tätigkeit als Sex-Arbeit anerkannt wissen und nicht nur dann unterstützt werden, wenn sie aus ihrem Gewerbe »aussteigen« wollen.
8 | Wir gebrauchen die Ausdrücke »Sex-Arbeiterin«, »Hure« und »Prostituierte« als gleichwertige Begriffe; keiner von ihnen ist abwertend zu verstehen. 9 | Vgl. P. Dufour: Weltgeschichte der Prostitution, S. 60f. 10 | Vgl. ebd. S. 65 und Philipp Sarasin: Reizbare Maschinen. Eine Geschichte des Körpers 1765-1914, Frankfurt am Main 2001, S. 387f. 11 | Vgl. Doris Velten: Aspekte der sexuellen Sozialisation. Eine Analyse qualitativer Daten zu biographischen Entwicklungsmustern von Prostitutionskunden, Inauguraldissertation, Freie Universität Berlin 2004. Es gibt aber auch völlig entgegengesetzte Arbeiten wie etwa die von Dieter Offergold: Erscheinungsformen, Ursachen und Auswirkungen der Prostitution in Bochum, Diss. Bonn 1965, für den sich das männliche Begehren als völlig unproblematisch und naturgegeben darstellte. 12 | Vgl. Julia O’Connell Davidson: Prostitution, Power and Freedom, Cambridge (GB) 1998, S. 138ff. O’Connell Davidson untersucht Freier als »social necrophiliacs«. 13 | Vgl. z.B. Kate Millet: Das verkaufte Geschlecht. Die Frau zwischen Gesellschaft und Prostitution, München 1973. 14 | Vgl. z.B. Rose-Marie Giesen/Gunda Schumann: An der Front des Patriarchats. Bericht vom langen Marsch durch das Prostitutionsmilieu, Bensheim 1980.
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12 | Sabine Grenz/Martin Lücke Noch in den 1980er Jahren empfand der Soziologe Roland Girtler,15 dass eine Studie mit Freiern nur schwerlich durchführbar sei, da »nur die wenigsten Kunden – vor allem die aus höheren sozialen Schichten –« zu einem Interview bereit sein würden. Doch bereits 1991 fertigte die Prostituiertenorganisation Hydra in Berlin eine Studie an,16 an der sich Männer aus unterschiedlichen sozialen Schichten beteiligt hatten. Auch Dieter Kleiber und Doris Velten hatten keine Schwierigkeiten, für ihre Studien Probanden zu finden.17 Seither wurden das Handeln und die Bedürfnisse der Freier aus zwei ganz unterschiedlichen Perspektiven interpretiert: im Rahmen der Psychoanalyse18 und mithilfe von Robert W. Connells Konzept der hegemonialen Männlichkeit.19 Weiterhin wurde die Beziehung von Freiersein und dem Verhalten zu HIV/Aids untersucht.20 Zuletzt wurden Erzählungen von Freiern über ihre sexuellen Erlebnisse mit Sex-Arbeiterinnen unter der Frage analysiert, inwiefern der Prostitutionsbesuch dazu beiträgt, eine sexuelle und soziale Identität als »heterosexueller Mann« herzustellen.21 Um dies herauszufinden, wurden die den Erzählungen inhärenten Bezüge zur (Wissens-)Geschichte der Sexualität, des Geldes und des Konsums herausgestellt. Dadurch wurde es möglich, anhand des empirischen Materials den kulturgeschichtlichen Hintergrund des Freierseins (zumindest in Deutschland) sichtbar werden zu lassen. Doch auch das feministische Forschungsparadigma lässt wichtige Fragen offen, da es in erster Linie das Verhältnis zwischen weiblichen Prostituierten und männlichen Freiern sowie das von Männern dominierte System der Sex-Industrie diskutiert. Männliche Prostituierte werden dabei ebenso vernachlässigt wie Frauen als Zuhälterinnen oder Kundinnen.22 Zudem wird die Diskussion bisher von heterosexuellen Perspektiven dominiert, so dass die homosexuelle Sex-Arbeit weitestgehend ignoriert wird. Dieser Umstand ist freilich auch dem Sprachbewusstsein geschuldet, denn in der deutschen Sprache scheinen die mann-männliche Prostitution und besonders männliche Prostituierte die Sphä15 | Vgl. Roland Girtler: Der Strich: Sexualität als Geschäft, München 1987, S. 183. 16 | Vgl. Hydra (Hg.): Freier. Das heimliche Treiben der Männer, Hamburg 1991. 17 | Vgl. Dieter Kleiber/Doris Velten: Prostitutionskunden. Eine Untersuchung über soziale und psychologische Charakteristika von Besuchern weiblicher Prostituierter in Zeiten von Aids, Bonn 1994 und D. Velten: Aspekte der sexuellen Sozialisation. 18 | Vgl. J. O’Connell Davidson: Prostitution, Power and Freedom. 19 | Vgl. Andrea Rothe: Männer, Prostitution, Tourismus. Wenn Herren reisen …, Münster 1997 und Robert W. Connell: Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeiten, Opladen 2000. 20 | Vgl. D. Kleiber/D. Velten: Prostitutionskunden. 21 | Vgl. Sabine Grenz: (Un)heimliche Lust. Über den Konsum sexueller Dienstleistungen, Wiesbaden 2005. 22 | Vgl. Klaus de Albuquerque: »Sex, Beach Boys and Female Sex Tourists in the Caribbean«, in: B. M. Dank/R. Refinetti (Hg.), Sex Work and Sex Workers, London 1999, S. 87-111 und Jaqueline Sanchez Taylor: »A fine romance? Female Tourists’ Sexual Behaviour in the Carribean«, Conference on Global Sexual Exploitation, London: Institute of Commonwealth Studies 2000.
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re des Verborgenen noch immer nicht verlassen zu haben. Der Duden zum Beispiel weist Prostituierten nur das weibliche Geschlecht zu, und während das Wörterbuch in der Bezeichnung des »Strichmädchens« eine umgangssprachliche, oft abwertende Bezeichnung für eine weibliche Prostituierte erkennt, wird ihr männliches Pendant, der »Stricher« bzw. »Strichjunge«, keiner begrifflichen Definition unterzogen.23 So ist es nicht verwunderlich, dass sich bisher nur einzelne Studien und Einzelbeiträge auch mit der mann-männlichen Prostitution befassen, indem etwa der Zusammenhang mit HIV und Aids betrachtet wird24 oder historische Debatten um dieses Phänomen in den Men’s und Gay Studies verortet werden.25 Dass die strikte Trennung in männliche und weibliche Sex-Arbeit und in Homo- und Heterosexualität, wie sie das Kennzeichen der aktuellen Forschung ist, jedoch kein ahistorisch-universelles Phänomen darstellt, hat zuletzt James N. Davidson in seiner Studie »Kurtisanen und Meeresfrüchte« am Beispiel des klassischen Athens gezeigt.26 Im Laufe dieser hier nur kurz angerissenen Entwicklung hat sich ein Wissensfeld um die Prostitution entwickelt, das nach wie vor zwei grundsätzliche Positionen erkennen lässt: die eine befürwortet sie, und die andere möchte sie am liebsten abgeschafft sehen.27 Während radikale Feministinnen wie Sheila Jeffreys grundsätzlich von Prostitution als einer »harmful cultural practice« sprechen, gehen andere davon aus, dass sie im Regelfall eine Dienstleistung sei. Beide Ansichten sind politisch einflussreich: Sheila Jeffreys hat die schwedische Regierung beraten,28 die 1999 ihr Prostitutionsgesetz veränderte und Freier kriminalisierte, während etwa zur selben Zeit die Prostitutionsgesetze in 23 | Vgl. Dudenredaktion (Hg.): Duden. Band 1: Die deutsche Rechtschreibung. 23., völlig neu bearbeitete Auflage, Mannheim 2004, S. 591, 716. 24 | Vgl. z.B. Michael T. Wright: »Stricher-Leben. Sexuelle Dienstleistung oder Überlebensstrategie?« und Laura Méritt: »Club Rosa« und »Du kannst da spielen gehen, und das Geschlecht ist eigentlich egal«, in: Elisabeth v. Dücker (Hg.), Sexarbeit. Prostitution. Lebenswelten und Mythen, Bremen 2005, S. 124-127 (Merrit) und 133-135 (Wright). 25 | Vgl. Martin Lücke: »Männliche Prostitution in den Debatten um eine Reform des Sexualstrafrechts zu Beginn des 20. Jahrhunderts«, in: Invertito. Jahrbuch für die Geschichte der Homosexualitäten 5 (2003), S. 109-121; ders.: »›Das ekle Geschmeiß‹ – Mann-männliche Prostitution und hegemoniale Männlichkeit im Kaiserreich«, in: Martin Dinges (Hg.), Männer – Macht – Körper. Hegemoniale Männlichkeiten vom Mittelalter bis heute, Frankfurt am Main/New York 2005, S. 157-172. 26 | Vgl. James N. Davidson: Kurtisanen und Meersfrüchte. Die verzehrenden Leidenschaften im klassischen Athen, Berlin 1999. Zum Werk von Davidson siehe auch Elke Hartmanns Beitrag in diesem Band. 27 | Zu dieser Gegenüberstellung der grundsätzlichen Positionen zur Prostitution vgl. Petra Schmackpfeffer: Frauenbewegung und Prostitution, http://www.bis.uni-olden burg.de/bisverlag/schfra89/inhalt.html, 1989, S. 105-140, zuletzt gesehen am 02.11.2006. 28 | So Susanne Dodillet in ihrem Vortrag »Kulturschock Prostitution: Eine Analyse deutscher und schwedischer Prostitutionsdebatten der 1990er Jahre und ihrer Geschichte«, auf der Tagung »Prostitution. Tauschhandel zwischen Körper und Zeichen« am 17.03.2006 in der Humboldt-Universität zu Berlin.
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14 | Sabine Grenz/Martin Lücke Deutschland und den Niederlanden liberalisiert wurden, um den Sex-Arbeiter/-innen mehr Freiraum zu gewähren. In Schweden hat sich der Wunsch nach einer Abschaffung der Prostitution durchgesetzt, indem das Bezahlen für und die Inanspruchnahme von sexuellen Dienstleistungen strafbar gemacht wurde. In Deutschland wird sich hingegen von beiden Seiten aus für eine gesetzliche Regulierung der Prostitution zugunsten der Prostituierten eingesetzt, allerdings mit einem entsprechend unterschiedlichen Tenor. Auf beiden Seiten finden sich unter den Diskutierenden Frauen, die in der Prostitution arbeiten bzw. gearbeitet haben und solche, die diese Tätigkeit nie ausgeübt haben. In Großbritannien, den Niederlanden und Deutschland hat sich insgesamt eine pragmatische Haltung durchgesetzt, das heißt es gibt zwar nach wie vor Positionen, die der Prostitution und der Sex-Industrie insgesamt kritisch gegenüberstehen. Es herrscht aber gleichzeitig eine gewisse Einigkeit darüber, dass Prostituierte einen Anspruch auf gesellschaftliche Solidarität haben.29 In den Niederlanden und in Deutschland zeigt sich der Pragmatismus im Umgang mit der Prostitution an der liberalisierten Rechtsprechung. In Großbritannien, wo die Rechtsprechung ähnlich ist wie in Deutschland vor 2001 (Prostitution ist unter Berücksichtigung bestimmter Regeln gestattet), äußert sich diese pragmatische Einstellung vor allem in der feministischen Forschung. Dass die verschiedenen Positionen zur Prostitution jedoch selten in Reinform auftreten, haben Rickard und Storr deutlich gemacht: »The classic ways by which sex work is often understood either posit that commercialised sexuality indicates victimhood and vulnerability or that it is valid work and meaningful sexual expression for seller and buyer alike. In reality theses positions are rarely absolute either for sex workers or for those who undertake research, provide services or set policies. They are complicated by questions of power, desire, racism, sexism and economic inequity. At the same time different aspects of all these positions are often present in the same person’s life.«30
Zunehmend, so scheint es, entstehen Arbeiten, in denen die Komplexität der Problematik »Prostitution« gesehen wird und in denen die Frauen und Männer, die in diesem Bereich arbeiten, nicht unbesehen als Opfer, aber auch nicht einfach als freiwillige und glückliche Akteur/-innen gelten.
29 | Vgl. hierzu z.B. Cornelia Filters: »Prostitution. Echt geil?«, in: Emma 1993, Heft 2, S. 36-57, in der eindeutig für eine Gesetzgebung zugunsten Prostituierter Stellung bezogen wird. Obwohl sich die Emma durchgängig gegen die Prostitution äußert, solidarisiert sie sich mit denjenigen Prostituierten, die die Verliererinnen des Geschäfts sind. 30 | Wendy Rickard/Merl Storr: »Sex Work Reassessed«, in: Feminist Review 67, 2001, S. 1-4, hier S. 2.
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Die Beiträge dieses Bandes Diese Anthologie widmet sich dem Austausch und der Präsentation aktueller Forschungsarbeiten zur Prostitution, die nicht das Ziel verfolgen, eine klare Position für oder gegen kommerzielle Sexualität einzunehmen, sondern sie als gesellschaftliches Phänomen zu untersuchen. Die Autorinnen arbeiten in unterschiedlichen Ländern und unterschiedlichen Disziplinen. Vertreten sind die Kulturwissenschaften, die Soziologie, die Politologie, die Kunstgeschichte, die Geschichtswissenschaften, die Germanistik und die Gender Studies aus Deutschland, den Niederlanden, Polen, Österreich, Schweden und den USA. Es handelt sich ausschließlich um akademische Arbeiten, weshalb uns der Vorwurf gemacht werden könnte, einmal mehr nur über Prostituierte zu sprechen, anstatt sie selbst zu Wort kommen zu lassen. Diese Kritik klingt vermutlich bei allen hier versammelten Beiträgen nach, denn in keinem Artikel werden direkte Aussagen über die Prostituierte getroffen. Vielmehr werden in einer Reihe von Aufsätzen gerade die Mechanismen aufgezeigt, durch die Prostituierte zum Schweigen gebracht wurden und werden. Die Beiträge des Bandes zeigen, dass Prostitutionsforschung mittlerweile ein facettenreiches Arbeitsgebiet geworden ist. Dem doppelten Wortsinn von »Moment« Rechnung tragend, befassen sich die Beiträge zum einen mit speziellen Gesichtspunkten und zum anderen mit bestimmen historischen Momenten des Prostitutionsgeschäfts. Prostitution stellt keine gleichsam ahistorische Konstante dar, sondern ist als soziale Praktik stets eine zeittypische, also historische Antwort auf die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen31 und die etablierten Vorstellungen von so vielfältigen Aspekten wie denen des Geschlechts, der Sexualität, der race, der sozialen Schicht und anderen, indem sie diese reproduziert, aufbricht oder zu überwinden vorgibt. Konstitutiv für die Prostitution ist ihr Charakter als Tauschhandel zwischen Körperlichkeit und Sexualität auf der einen und materiellen Gegenleistungen auf der anderen Seite. Die Analyse dieses Tauschhandels zwischen Körper und Zeichen als Dreh- und Angelpunkt der Prostitution steht im Mittelpunkt der ersten Sektion des Bandes. Die Kulturwissenschaftlerin Christina von Braun betont in ihrem Artikel »Das Geld und die Prostitution« den engen Zusammenhang zwischen der Geschichte des Geldes und der Geschichte der Prostitution und stellt heraus, dass sowohl Geld als auch Sexualität Ressourcen waren (und sind), die gleichermaßen die Begierden zu entfesseln vermochten. Dass das Geld ständig bestrebt war, seine sexuelle Potenz zu zeigen, offenbart sich an den bemerkenswerten Parallelen zwischen der Geschichte des Geldes und der Geschichte der Prostitution. Letztere ging, wie das Geld, vom Tempel aus und verließ zeitgleich mit ihm den Raum des Heiligen, um sich in »der Welt« anzusiedeln. Je abstrakter das Geld wurde, desto wichtiger wurde die Prostitution, denn der käufliche Sexualkörper sollte als »Beleg« dafür dienen, dass das abstrakte Zeichensystem Geld in der Leiblichkeit selbst verankert ist. So wurde der Körper der Prosti31 | Vgl. Sybille Krafft: Zucht und Unzucht: Prostitution und Sittenpolizei im München der Jahrhundertwende, München 1996, S. 9.
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16 | Sabine Grenz/Martin Lücke tuierten quasi selbst zum Geldschein, zu einer Form der Materialisierung von Geld. Wie die Historikerin Elke Hartmann in ihrem Beitrag »›Hetären für die Lust?‹ Zum Hetärenwesen im klassischen Athen« zeigt, stand nicht immer der Austausch zwischen Sexualität und harter Währung im Vordergrund des Tauschhandels. Im Unterschied etwa zu den Straßen- und Bordellprostituierten, den so genannten pornai, erfüllte die Hetäre innerhalb der männlich dominierten Symposionskultur der klassisch-athenischen Gesellschaft die Funktion einer kostspieligen Begleiterin, deren Verbindung von Schönheit, Anmut, Liebesdienst und Gefälligkeit den männlichen Teilnehmern der Symposien Sozialprestige innerhalb der Symposionsgemeinschaft verlieh. Kennzeichen des Tauschhandels zwischen den Symposiasten und den Hetären war das Wahren des Anscheins einer Freiwilligkeit der Verbindung. Hetären, so betont Hartmann, erhielten auf doppelte Weise eine Sonderstellung unter den Frauen des klassischen Athens: Von den bürgerlichen Ehefrauen unterschieden sie sich durch ihr promiskes Sexualleben, von den gemeinen Bordell- und Straßenprostituierten durch ihren aufwendigen Lebensstil. In ihrem Beitrag »› … unter strenger Befolgung des Prinzips der Stundenmiete … ‹. Die (un)heimliche Beziehung der Psychoanalyse zur Prostitution« geht die Kulturwissenschaftlerin Bettina Mathes der Frage nach, welche Übereinstimmungen und Unterschiede es zwischen dem Tauschhandel in der Prostitution und dem Tauschhandel in der Psychoanalyse gibt. Sie beantwortet diese Frage zum einen anhand der von Sigmund Freud aufgestellten Verhaltensregeln für Psychoanalytiker, die bereits einige Grenzen zur Prostitution aufweisen bzw. etablieren. Dennoch scheinen Psychoanalytiker mit der Analogie zu ringen. So interpretiert Bettina Mathes auch das Verhalten Lacans, der radikal mit Freuds Regeln brach, als einen Versuch, die eigene Käuflichkeit abzuwehren. Indirekt zeigt sie damit, dass es auch beim Handel in der Prostitution nicht nur um Sex, sondern auch um Zeit, Zuwendung und Projektionen von Fantasien geht. Trotz vieler entscheidender Unterschiede wird es Psychoanalytiker/-inne/-n genau durch diese Übereinstimmung erschwert, sich von der Prostitution zu distanzieren. Auf welche Weise gesellschaftliches Wissen über Sexualität und Geschlecht, das in langfristigen Prozessen historisch gewachsen ist und erhebliche kulturspezifische Unterschiede aufweist, gegenwärtige Prostitutionspolitiken bestimmt, zeigt die zweite Sektion des Bandes Politische Regime. Ein Ländervergleich exemplarisch an verschiedenen europäischen Ländern. Die Politikwissenschaftlerin Birgit Sauer stellt in ihrer Analyse »Zweifelhafte Rationalität. Prostitutionspolitiken in Österreich und Slowenien« dar, welche Bilder und Deutungsmuster, so genannte frames, den Prozess der Etablierung unterschiedlicher Prostitutionsregime in diesen beiden Ländern begleitet haben. Sie stellt Idealtypen von Prostitutionsregimen vor (prohibitive, abolitionistische, reglementaristische und Sexwork-Regime) und arbeitet im Rahmen einer critical frame analysis heraus, mithilfe welcher geschlechtlich, sexuell und moralisch codierten Deutungsmuster sich in Österreich ein reglementaristisches Prostitutionsregime etablieren
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und stabilisieren konnte, während sich in Slowenien ein Übergangsregime zwischen Prohibition und Quasi-Sexarbeitssystem herausschälte. Die Kulturwissenschaftlerin Susanne Dodillet geht in ihrem Beitrag »Prostitutionspolitik in Deutschland und Schweden. Zum ideologischen Hintergrund von Sexarbeit und Sexkaufverbot« den historischen Wurzeln der unterschiedlichen Prostitutionsregime in Deutschland und Schweden nach, auf die sich die Gesetzesänderungen in beiden Ländern gründen: in Schweden das Verbot, sexuelle Dienstleistungen zu »kaufen« und in Deutschland die Liberalisierung des Prostitutionsparagrafen. Ausgehend von den Argumenten, die in den deutschen und schwedischen Prostitutionsdebatten vorgetragen wurden, beleuchtet sie umfassende kulturelle und historische Unterschiede zwischen den Ländern, zum Beispiel den Einfluss von Wohlfahrtsstaatstheorien, von feministischen Ideen und die Bedeutung von Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft. Die staatlichen Regulierungen von Prostitution, wie sie von Birgit Sauer und Susanne Dodillet beschrieben wurden, lassen Leerstellen zurück, da sich die Regulierungen in erster Linie auf Sex-Arbeiter/-innen mit einer inländischen Staatsbürgerschaft beziehen. Unter der Überschrift Politische Regime. Ihre ›Randbereiche‹, der dritten Sektion des Bandes, geraten diejenigen Facetten der Prostitution in den Blick, die als ihre Grauzonen fungieren, an denen sich aber gerade deshalb umso deutlicher ablesen lässt, welches Wissen, z.B. über race, class und gender, den Prostitutionsdiskursen immanent ist und wie dieses Wissen praktiziert und reproduziert wird. In ihrem rechtswissenschaftlichen Beitrag »Die Frau als ›Handelsgut‹ – (straf-)rechtliche Betrachtung des Menschenhandels in Österreich und Deutschland« analysiert die Juristin Alice Sadoghi die das Phänomen des »Menschenhandels« berührenden neuen strafrechtlichen Normen in beiden Staaten und arbeitet heraus, was dieses Recht in seiner Anwendung für die Betroffenen bedeutet und welche Nebenrechte dabei eine Rolle spielen. Eines ihrer Ergebnisse ist, dass auch die aktuelle Rechtslage sich nicht an der Idee einer so genannten »primären Generalprävention« orientiert. Denn der Idee des Strafrechts sei immanent, die Täter durch Verhängung von Strafen lediglich davon abzuhalten, ihre Delikte nochmals zu begehen. Stattdessen plädiert sie für eher vorbeugende Maßnahmen, wie etwa eine Reform von fremden-, ausländer- sowie einreiserechtlichen Bestimmungen, durch die die hauptsächliche Einnahmequelle des Menschenhandels, nämlich die Existenz migrationswilliger Menschen, die keinen anderen Weg zur Einreise als den Menschenhandel finden, reduziert werden könnte. Um die Auswirkungen rechtlicher Bestimmungen geht es auch in dem sich anschließenden Beitrag »Weiße Sklavinnen in einer Kolonialnation: Die niederländische Kampagne gegen Frauenhandel im frühen 20. Jahrhundert« der Politikwissenschaftlerin Petra de Vries. Sie widmet sich dem Thema des Menschenhandels in historischer Perspektive, indem sie die zwischen 1900 und dem Ersten Weltkrieg lebhaft geführte Debatte um den »Weißen Sklavenhandel« und die daraufhin initiierte Veränderung der Rechtsmittel am niederländischen Beispiel betrachtet. Obwohl der Frauenhandel selbst keine Fiktion gewesen ist,
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18 | Sabine Grenz/Martin Lücke zeigt sie auf, dass die medial propagierte Figur einer »weißen Sklavin«, die aus der europäischen Heimat verschleppt wird, um in fremden Ländern zur Prostitution gezwungen zu werden, zu einer historischen Diskursfigur wurde, die die zeitgenössischen Vorstellungen von Sexualität, Geschlecht und Ethnizität in sich vereinte und zugleich nachhaltig beeinflusste. Auch die Genderwissenschaftlerin und Diplom-Sozialarbeiterin Kathrin Schrader betrachtet den Konnex zwischen Geschlecht, Sexualität und Ethnizität im Wissensfeld der Prostitution. In ihrem Beitrag »Die dreifach ›Anderen‹ – Betrachtungen zur Wahrnehmung von Beschaffungsprostitution im Kontext ethnischer Konstruktionen«, erweitert sie den Fokus jedoch um den Bereich des Drogenkonsums. Sie stellt anhand einer Analyse der gegenwärtigen juristischen Rahmenbedingungen und der Bedeutung der Rechtslage für die Lebenswelt von migrierten drogenkonsumierenden Frauen dar, dass diese aufgrund ihres Verstoßes gegen gleich mehrere sozialethische Normen Prozessen der gesellschaftlichen Entrechtung und Ausgrenzung ausgeliefert sind. Die spezielle Ausprägung von Prostitution, wie sie hier zum Tragen kommt, wird durch das deutsche Prostitutionsgesetz aus dem Jahr 2001 nicht hinreichend erfasst; es schafft hingegen neue Grauzonen. Die vierte Sektion des Bandes vertieft die Dimension der Umkämpften Räume und Körper. Im Beitrag »›Eine umfangreiche Konzeption, die Dirnen von den Straßen zu holen‹ – Zur Verhäuslichung der Prostitution in Frankfurt/Main« legen die Soziologinnen Martina Löw und Renate Ruhne unter Mitarbeit von Christiane Howe und Regine Henn dar, dass die Prostituierten in Frankfurt am Main zwischen 1960 und 1990 zunehmend von der Straße verdrängt und verhäuslicht wurden. Dies wird anhand der Medienberichterstattung zum Thema, ergänzt durch Sekundärliteratur-Analysen und Interviewaussagen, nachvollzogen. Verknüpft ist eine solche Verhäuslichung der Sex-Arbeiterinnen nicht nur mit Veränderungen der Machtbalancen im Feld der Prostitution selbst, sondern auch mit sich wandelnden Geschlechterverhältnissen und den Abgrenzungen sozialer Schichten voneinander. Mit Mechanismen der Sichtbar- und Unsichtbarmachung von Prostitution befasst sich auch die Kunsthistorikerin Romana Filzmoser. Sie zeigt in ihrem Beitrag »Blickwechsel. Zur Bildpolitik der Berliner Prostitutionsdebatte um 1800« anhand einer Analyse von populärer Druckgrafik, wie Prostitution in Bildmedien im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert durch Blicke und Blickbeziehungen sichtbar gemacht wurde. Anhand einer Bilddarstellung des »Bergerschen Tanzsaals« in Berlin, die um 1799 entstanden war, erläutert sie, wie Prostituierte durch ihre Gestik und einen direkten, auffordernden Blick, in den die »weibliche Verführungssouveränität« eingeschrieben war, von »ehrbaren« Frauen unterschieden werden konnten. Dadurch lässt sich ein Wandel der Konzeption von Prostitution aufzeigen, die im 18. Jahrhundert noch an Orte, im 19. Jahrhundert aber zunehmend an den Körper der Prostituierten gebunden war. Unter der Überschrift »Sucht. Abgründiger Körper. Die Prostituierte als Medium der literarischen Moderne« erschließt die Literaturwissenschaftlerin Nicola Behrmann mit expressionistischen Texten einen gänzlich neuen Textkorpus, der sich an der Produktion und Aneignung von Wissen sowohl über die Prosti-
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tution als auch die Prostituierte beteiligt hat. Sie zeigt auf, dass die Hure der modernen Metropole in der Avantgarde-Literatur zur Allegorie für die Destabilisierung eines eindeutigen weiblichen Körpers geriet, zum Krankheitserreger stilisiert und als Abschaum verworfen wurde. Sie wurde als durch billige Drogen wie Äther, Opium und Absinth beständig betäubt imaginiert. Ähnlich wie in dem Beitrag von Christina von Braun wird die Prostituierte also auch hier zum Zeichen, nicht als Verkörperung des Geldes, sondern als Zeichen eines Ortes: Sie wird zu einer räumlichen Schwelle, die es den Expressionisten erlaubt, aus der bürgerlichen Ordnung auszusteigen. Betrachtet man die Artikel von Martina Löw und Renate Ruhne, Romana Filzmoser und Nicola Behrmann in zeitlich-chronologischer Reihenfolge, so lässt sich anhand dieser drei Artikel auch nachvollziehen, wie sich das Verhältnis von Körper und Raum für die Prostitution im Laufe von zwei Jahrhunderten komplett verändert hat: von der Gefährlichkeit der Orte zu der Gefährlichkeit der Körper, die schließlich von der Straße verdrängt und unsichtbar gemacht werden müssen. Die nun folgende Sektion konzentriert sich gänzlich auf Populäre mediale . Diskurse über die Prostitution. Sie wird von der Germanistin Bozena Chołuj eröffnet, die – ausgehend von der im Dezember 2005 von Andrzej Lepper, VizeMarschall des polnischen Sejms und Vorsitzender der rechtspopulistischen Bauernpartei Samoobrona, in den Raum geworfenen Frage »Kann man eine Prostituierte überhaupt vergewaltigen?« – Merkmale des polnischen Prostitutionsdiskurses analysiert. Schwerpunkt ihres Beitrags ist der Umgang der politischen Elite mit der Prostitution, den sie vor dem Hintergrund von Körper- und Sexualitätsauffassungen in Polen betrachtet. Die Psychologin Loretta Ihme greift in ihrem Artikel »›Zu Gast bei Freundinnen‹. (Re)Konstruktion von Nation, Geschlecht und Sexualität in Narrativen über die Fußball-WM und die Prostitution« einen medialen Diskurs in Deutschland auf. Sie analysiert Diskursmechanismen, in denen ein Zusammenhang zwischen dem Besuch männlicher Fußballfans in Deutschland während der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 und einem Ansteigen der so genannten Zwangsprostitution hergestellt wurde und arbeitet heraus, wie der Begriff der Zwangsprostitution hier zu einer plausiblen Redeweise werden konnte. Die Kategorien Nation, Geschlecht und Sexualität im Allgemeinen sowie Männlichkeit und männliche Sexualität im Besonderen wurden vor dem Hintergrund hegemonialer Männlichkeitskonzepte in diesem Diskurs neu verhandelt. Welche gesellschaftliche, juristische und alltägliche Reichweite sexualwissenschaftliche Diskurse über Prostitution, Sexualität und Geschlecht erreichen konnten, gerät zum Abschluss des Bandes unter der Überschrift Wissenschaftliche Diskurse und ihre Reichweite zum Gegenstand der Analyse. Mit der Genese des modernen sexualwissenschaftlichen Diskurses über Prostitution beschäftigt sich die Kulturwissenschaftlerin Dorothea Dornhof und legt in ihrem Artikel »Prostitution und die Harmonie der Täuschungen. Einschreibungen, kulturelle Markierungen und Verkehrungen« dar, wie die Prostitution um 1900 zu einer wissenschaftlichen Tatsache wurde, mit der die Figur der Prostituierten in ihrer kulturellen Markierung fixiert und in staatliche Kon-
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20 | Sabine Grenz/Martin Lücke trollinstanzen eingeschrieben wurde. Sie entziffert ein solches »Gestaltsehen als ausgesprochene Denkstilangelegenheit« nach Ludwik Fleck in seinen kulturellen Einschreibungen und Wahrnehmungsmustern und zeigt anhand von Filmanalysen, wie das Wissen um die Prostitution im kulturellen Bildarchiv der Moderne verortet wurde. Dass das sexualwissenschaftliche Wissen nur von begrenzter sozialer Reichweite war und in alltäglichen Interaktionen immer wieder neu ausgehandelt werden musste, zeigt der Historiker Stefan Wünsch in seiner mikrohistorischen Analyse »Die Familie Sander. Prostitution, Zuhälterei und Justiz in der späten Weimarer Republik«. Er richtet den Blick darauf, wie juristisches, sexualwissenschaftliches und alltäglich-individuelles Wissen über Prostitution, weibliche Sexualität und vorbildliche Männlichkeit im Rahmen einer konkreten Gerichtssituation in Widerstreit geriet: Der homosexuelle Transvestit Anton Sander war 1931 der Zuhälterei an seiner Ehefrau Lissy angeklagt, berief sich vor Gericht jedoch darauf, dass er aufgrund seiner homosexuellen und transvestitischen Neigungen nicht als Mann im Sinne der Anklage anzusehen sei. Der Historiker Martin Lücke geht in seinem Beitrag »Beschmutzte Utopien. Subkulturelle Räume, begehrte Körper und sexuelle Identitäten in belletristischen Texten über männliche Prostitution 1900-1933« der Frage nach, auf welche Weise populäre Romane, die sich in erster Linie an eine männlich-homosexuelle Leserschaft gerichtet haben, die in der Sexualwissenschaft entworfenen Konzepte von Homosexualität und männlichem Begehren aufgegriffen und umgedeutet haben. Er zeigt anhand der Darstellungen von Körperlichkeit und Sexualität in diesen Texten, dass die Autoren bemüht waren, ein sozialverträgliches Bild von Homosexualität zu zeichnen, indem die triebhaft-gefährlichen Elemente von mann-männlicher Sexualität der Sphäre der männlichen Prostitution zugewiesen wurden, während sich die literarische Formung der »gewöhnlichen« Homosexualität dadurch ausgezeichnet hat, dass sie als ein Raum entworfen wurde, in dem Werte wie sexuelle Treue und Kameradschaftlichkeit praktiziert wurden. Diese letzte Sektion und damit zugleich der Band werden mit einem Aufsatz der Genderwissenschaftlerin Sabine Grenz abgeschlossen. In ihrem Beitrag »Prostitution, eine Verhinderung oder Ermöglichung sexueller Gewalt? Spannungen in kulturellen Konstruktionen von männlicher und weiblicher Sexualität« geht sie den beiden extremen Positionen für bzw. gegen die Prostitution nach. Dabei stellt sie fest, dass diese beiden sich diametral gegenüberstehenden Positionen ähnliche kulturelle Annahmen über Weiblichkeit und Männlichkeit beinhalten, die von den Sexualwissenschaften und benachbarten wissenschaftlichen Gebieten aufgegriffen und/oder in Umlauf gebracht wurden. Obwohl sie teilweise wissenschaftlich längst verworfen wurden, leben sie im Alltagsbewusstsein weiter fort und tragen so ebenso zu extremen Ablehnungen wie Bejahungen der kommerziellen Sexualität bei.
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Das Geld und die Prostitution Christina von Braun
Wir sind es gewohnt, über Prostitution als einer Kategorie von Sexualität zu denken, was sie natürlich auch ist. Aber es ist hier die Absicht, eine ganz andere Perspektive auf die Prostitution zu richten, und ich möchte das exemplarisch an Zusammenhängen zwischen der Geschichte des Geldes und der Geschichte der käuflichen Sexualität tun. Wenn Kritik an der Tatsache geübt wird, dass Geld für sexuelle Dienste gewechselt wird, so geschieht dies zumeist aus einer moralischen Haltung heraus: Weil Sexualität und Liebe so eng zusammenhängen, dürfe der »Liebesdienst« nicht mit Geld entlohnt werden, sondern nur aufgrund von Gegenliebe stattfinden. Eine solche moralische Einstellung, für die es natürlich viele Argumente gibt, ist nicht mein Anliegen. Mich wundert jedoch, warum sich unter denen, die die Prostitution kritisieren, fast alle nur für das Prinzip Sexualität interessieren – und dann auch zumeist für die Dienstleisterinnen und nicht für die Freier –, wenige hingegen für die Art der Entlohnung. Wenn es sich schon um ein Tauschgeschäft handelt, dann wäre es doch eigentlich mehr als zwingend, nach den beiden Währungen dieses Handels zu fragen: der Leiblichkeit/Sexualität einerseits und dem Geld andererseits. Und weil hier soviel Nachholbedarf ist, beginne ich mit einer kurzen Einführung in die Geschichte des Geldes. Sie zeigt, wie ich meine, schon ziemlich deutlich, dass man die Geschichte der Prostitution ohne die Geschichte der Geldwirtschaft nicht verstehen kann.
Geschichte des Geldes Ab dem 19. Jahrhundert beschäftigen sich plötzlich nicht nur Ökonomen, sondern auch Philosophen und Schriftsteller intensiv mit dem Geld. Marx und Engels sprechen von der ungewöhnlichen Fähigkeit des Geldes, Begierden auszulösen: Die »Quantität des Geldes wird immer mehr seine einzige mächtige Eigenschaft«, schreibt Marx 1844, »die Maßlosigkeit und Unmäßigkeit wird sein
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24 | Christina von Braun wahres Maß.«1 1891 veröffentlicht Emile Zola seinen Roman »Das Geld«. Darin erzählt er vom kometenhaften Aufstieg und dem ebenso kometenhaften Konkurs einer neuen Bank: »La Banque Universelle«. Zola macht ganz deutlich, dass die Gefühle der Menschen in ihrem Geldrausch hoch sexuell aufgeladen sind und sich nur mit Begriffen aus dem Geschlechtsleben umschreiben lassen. »Die Familie, die ich mir vorgenommen habe, zu studieren«, so schreibt er, »ist durch ein Überschäumen der Begierden gekennzeichnet«.2 Die Begierden, von denen Zola erzählt, werden vom Geld bestimmt, bezahlt werden sie jedoch in sexueller Währung. Saccard, der Gründer der »Banque Universelle«, ein Spieler und ehemaliger Pleitier, hatte »nie große Leidenschaften kennen gelernt, weil er der Welt des Geldes angehörte, zu sehr beschäftigt war, seine Nerven anderweitig verausgabte und die Liebe monatsweise bezahlte. Wenn er, auf seinen neun Millionen hockend, Verlangen nach einer Frau verspürte, dachte er nur daran, eine sehr teure zu kaufen, um sie vor ganz Paris zu besitzen, so als würde er sich einen sehr großen Brillianten schenken, um ihn sich lediglich aus Eitelkeit an die Krawatte zu stecken. Und war das nicht eine ausgezeichnete Reklame? Wenn ein Mann in der Lage war, viel Geld für eine Frau auszugeben, mußte er dann nicht ein klar erfaßbares Vermögen haben?«3
1900 veröffentlicht Georg Simmel sein Werk »Philosophie des Geldes«, in dem er sich über die Abstraktheit des Geldes und die Materialisierungsmacht dieser Abstraktion Gedanken macht. Im Geld, so Simmel, habe die Fähigkeit, »das Körperhafte zum Gefäß des Geistigen zu machen«, ihre höchsten Triumphe gefeiert.4 Woher dieses plötzliche Interesse der Kultur- und Geisteswissenschaften für das Geld? Im Verlauf des 19. Jahrhunderts hatten Aktie und Papiergeld begonnen, massiv in den Handel einzugreifen. Durch sie nahm das Geld reinen Symbolcharakter an, und dieser Vorgang löste nicht nur Begierden, sondern auch Ängste aus. In »Masse und Macht« hat Elias Canetti den Schrecken beschrieben, den die Inflationen der 1920er Jahre bewirkten. »Nicht nur gerät durch die Inflation alles äußerlich ins Schwanken, nichts ist sicher, nichts bleibt eine Stunde am selben Fleck – durch die Inflation wird er selber, der Mann, geringer. Er selbst oder was er immer war, ist nichts, die Million, die er sich immer ge-
1 | Karl Marx: Ökonomisch-philosophische Manuskripte (1844), in: Marx/Engels: Werke, Erg. Bd. 1, Berlin 1968, S. 547. 2 | Zit. n. Rita Schober: »›Das Geld‹ – geschichtliche Befunde und erfundene Geschichte«, Nachwort zu: Emile Zola: Das Geld, übers. v. Wolfgang Günther, Berlin 1983, S. 306. 3 | Emile Zola: Das Geld, übers. v. Wolfgang Günther, Berlin 1983, S. 195. 4 | Vgl. Georg Simmel: Philosophie des Geldes. 2. vermehrte Auflage, Leipzig 1907, S. 99.
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Das Geld und die Prostitution | 25 wünscht hat, ist nichts. Jeder hat sie. Aber jeder ist nichts. Der Prozeß der Schatzbildung hat sich in sein Gegenteil verkehrt. Alles Verläßliche des Geldes ist wie weggeblasen.«5
Der Zusammenhang von Geld und Selbstwert, den Canetti anspricht, erzählt von der engen Beziehung zwischen dem Menschen und seinen Tauschmitteln. Seit den 1920er Jahren hat sich die Zeichenhaftigkeit des Geldes noch weiter verstärkt, zur Ablösung von der Goldparität, zu frei flottierenden Währungen und schließlich zur Entstehung des elektronischen Geldes geführt. Kurz zusammengefasst: Geld macht geil, aber die Abstraktheit des Geldes löst auch Ängste aus, die zu einem Bedürfnis nach Rematerialisierung der Zeichen führen – im menschlichen Körper, der höchsten und kreditwürdigsten Ware. Warum das Geld nach menschlicher Leiblichkeit – eher als etwa nach Gold – verlangt, versteht man am besten aus seinem Ursprung, den der Altertumswissenschaftler Bernhard Laum in seinem 1925 erschienenen Buch »Heiliges Geld« rekonstruiert hat.6 Das Geld, so Laum, wurde geschaffen als ein Wertmesser, der das klassische Objekt der Wertbemessung ersetzte, in homerischer Zeit das Rind als Opfergabe. Das geopferte Rind wurde allmählich von einem Symbol für dieses Opfer ersetzt. »Man hat längst gesehen«, so schreibt Laum, »daß aus theologischen Spekulationen das begriffliche Denken, die Wissenschaft entstanden ist; hier wird offenbar, wie im Kult auch das wirtschaftliche Denken entsteht.«7 Im Opfervorgang vertraten Tiernachbildungen zunehmend das lebendige Tier. »Diese Substitution ist für uns von großer Bedeutung, weil hier an die Stelle von realen, wertvollen Gütern imaginäre, wertlose Dinge treten, die aber als Tausch- bzw. Zahlungsmittel im Verkehr zwischen Göttern und Menschen die gleiche Geltung wie jene haben. Der Übergang vom Realopfer zum Symbol scheint also für die Entstehung des ›chartalen‹ Geldes von Wichtigkeit zu sein.«8
Das Symbol, das an die Stelle des realen Tieropfers trat, konnte entweder ein Opferkuchen in Tiergestalt oder ein Tierbild aus Ton, Kupfer oder Bronze sein; manchmal war es auch nur ein dünnes, innen hohles Blech. Solche Tierbilder wurden an vielen Altarplätzen gefunden, und unter den dargestellten Tieren überwog das Rind. »Also ist innerhalb des sakralen Tauschaktes an die Stelle des realen Tauschmittels das symbolische getreten, und darin liegt die hohe Bedeutung dieser rohen Figuren.«9 Den Wandel der Opfergaben – vom Realen zum Symbol – begleitete ein Abstraktionsprozess, der mit dem spezifischen Schriftsystem Griechenlands zusammenhängt: das voll vokalisierte Alphabet, das einerseits die völlige Abstrak5 | Elias Canetti: Masse und Macht, München/Regensburg 1960, Bd. 1, S. 205. 6 | Vgl. Bernhard Laum: Heiliges Geld. Eine historische Untersuchung über den sakralen Ursprung des Geldes, Tübingen 1924. 7 | Ebd., S. 23. 8 | Ebd., S. 85. 9 | Ebd., S. 86.
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26 | Christina von Braun tion von der gesprochenen Sprache und damit auch vom Körper implizierte, andererseits aber auch die Rematerialisierung des Abstrakten einforderte. Beide Vorgänge finden sich in der Entwicklungsgeschichte des Geldes wieder: Die ersten Münzprägungen fanden um 650 v. Chr. statt, eineinhalb Jahrhunderte nach der Entstehung des griechischen Alphabets und zu einer Zeit, wo sich für die Gesellschaft des antiken Griechenlands der Übergang von einer oralen zu einer Schriftgesellschaft vollzog. Rund zweieinhalb tausend Jahre später konstatierte Simmel: »Man macht sich im allgemeinen selten klar, mit wie unglaublich wenig Substanz das Geld seine Dienste leistet.«10 Dem Geld war also der Abstraktionscharakter, den es später mit Papiergeld und elektronisch notiertem Geld entwickelte, von Anfang an inhärent. Aber es kommt noch ein Faktor hinzu: seine Beglaubigung durch den sakralen Wert. »Die wichtigste Eigenschaft der Symbole besteht für uns darin, daß sie nur einen Funktionswert, keinen realen Wert repräsentieren. Ihr Wert liegt nicht in ihrem materialen Gehalt, sondern nur in der Funktion, die sie im Verkehr zwischen Gott und Mensch erfüllen«, schreibt Laum.11 Schon bald nach seiner Entstehung trat das Geld ins profane Tauschgeschäft von Mensch zu Mensch ein. Für die Figuren, die man massenweise in den Tempeln fand, gaben die Tempelbesucher den Priestern Naturalgüter. Die Priester behielten von den Naturalien nur soviel, wie sie brauchten, »der Rest wurde für den Erwerb eines Anathems benutzt; so war das vergängliche Gut in ein wertbeständiges verwandelt«.12 Ein Anathem ist ein Weihgeschenk, das durch die Weihe dem menschlichen Gebrauch entzogen, aber zugleich zu einem tauschbaren Wertobjekt wurde. Die Priesterschaft bildete so »das erste Handelskollegium«; oder in den Worten von Ernst Curtius, der schon 1869 zu diesem Thema vor der Preußischen Akademie der Wissenschaften vortrug: »Die Götter waren die ersten Kapitalisten in Griechenland, ihre Tempel die ersten Geldinstitute.«13 Zunächst beruhte die »Kaufkraft der Idole« noch auf materiellen Werten: Naturalien oder Edelmetallen. Doch allmählich entwickelte sich ein Tauschgeschäft, bei dem der Gläubige immer weniger den materiellen und immer mehr den ideellen Gehalt des Objekts bezahlte: Der Wert des Anathems beruhte auf der »Funktion, die das Bild im Verkehr des Menschen mit der Gottheit erfüllte«,14 sein Wert leitete sich also von der ihm zugewiesenen sakralen Rolle ab. Der sakrale Ursprung des Geldes erhielt sich sowohl im Wort (die Bezeichnung für die gängigsten Münzeinheiten leiteten sich bei den Griechen wie bei den Römern von »Bratenfleisch« ab15) als auch in den Symbolen, die den Mün10 | G. Simmel: Philosophie des Geldes, S. 185. 11 | B. Laum: Heiliges Geld, S. 90. 12 | Ebd., S. 102. 13 | Ernst Curtius: »Der religiöse Charakter der griechischen Münzen«, in: Monatsberichte der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin (1869), Berlin 1870, S. 466f. 14 | B. Laum: Heiliges Geld, S. 95. 15 | Vgl. ebd., S. 118.
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Das Geld und die Prostitution | 27
zen aufgeprägt wurden. Die Symbole bestanden oft aus einem Doppelbeil oder einem Stierkopf. In Sparta war es die eiserne Sichel: »das Messer, mit dem das Opfertier geschlachtet wurde«. Allmählich ersetzte so das Prägen der Münze das Schlachten des Opfertiers, aber die Symbolik erhielt sich bis heute – ob im Symbol des Stiers an der Börse oder in den beiden Strichen, die die Dollarnote ($), das Englische Pfund ( ) oder den Euro (€) kennzeichnen. Laut Alfred Kallir sind diese Striche Relikte der Stierhörner, auf die einst das Alpha wie die Münzen verwiesen.16 Schon in Rom war der sakrale Ursprung des Geldes deutlich zurückgedrängt. Dort war die Münze, viel stärker als in Griechenland, eine staatliche Schöpfung. Konnte man die Tempel Griechenlands noch als »die ersten Bankinstitute« bezeichnen,17 so trat in Rom der Staat an diese Stelle. Der sakrale Charakter blieb aber erhalten, denn er war der Garant der Geldwertigkeit. Das Prägebild auf der Münze war nun aber nicht mehr das Opfertier oder sein Symbol, sondern der als Gott verehrte Kaiser. Noch heute garantiert auf vielen Münzen das Portrait des Staatsoberhauptes die Glaubwürdigkeit des Geldwertes. Das Bild auf der Münze – oder dem Schein – ist »ein heiliges Symbol, und darin liegt ursprünglich der Kredit begründet, den die Münze genießt«.18 Auf diesem Zusammenhang basiert die enge, nicht nur sprachliche Verwandtschaft vom »credo« der Kirche und dem Kredit des Bankwesens. »Von hier aus begreift man, daß Fälschen von Münzen ein sakrales Verbrechen ist und in allen griechischen Staaten mit dem Tode bestraft wird.«19
Körper und Zeichen Die Sakralisierung des Geldes an sich erklärt noch nicht zwingend, was das Geld mit der Prostitution zu tun hat. Um den Zusammenhang zu begreifen, muss man noch einen Schritt weiter zurückgehen. Elias Canetti hat beschrieben, wie eng der Glaube an den Wert des Geldes und der Glaube an das Selbst miteinander verknüpft sind: Sobald das Geld seine reine Zeichenhaftigkeit zur Schau stellt, nämlich in der Inflation, wird die Fragilität des Glaubenssystems offenbar: »Der Mensch, der ihr [der Mark] früher vertraut hat, kann nicht umhin, ihre Erniedrigung als seine eigene zu empfinden. Zu lange hat er sich mit ihr gleichgesetzt, das Vertrauen in sie war wie das Vertrauen in sich selbst.«20 Dieser Zusammenhang von Selbst- und Geldwert ist ebenfalls in der Entstehungsgeschichte des Geldes begründet. Einerseits war in der Antike das Edelmetall Wertmesser für den Wert eines Menschenlebens. Kriegsgefangene, 16 | Vgl. Alfred Kallir: Sign and Design. The Psychogenetic Sources of the Alphabet, London 1961, S. 40; Deutsch: Sign and Design. Die psychogenetischen Quellen des Alphabets, Berlin 2002. 17 | B. Laum: Heiliges Geld, S. 139. 18 | Ebd., S. 144. 19 | Ebd., S. 143. 20 | E. Canetti: Masse und Macht, S. 205.
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28 | Christina von Braun denen die Versklavung drohte, konnten sich durch eine ihrem Eigengewicht entsprechende Metallmenge freikaufen.21 Auch der Brautkauf stammt aus diesem Zusammenhang. Hinter dem Heiratsgeld steht an sich der Gedanke der Exogamie: Die Familie soll durch Geld für den Verlust der Tochter entschädigt werden. (Faktisch führt dies freilich heute oft dazu, dass Cousin und Cousine miteinander verheiratet werden, damit das Geld in der Familie bleibt.) Auch am »Wergeld«, das an die Stelle der Blutrache trat, zeigt sich das »Tauschgeschäft« von Geld und menschlichem Körper. Der wichtigste Indikator für den Zusammenhang von Geld und Prostitution ist jedoch die Tatsache, dass das Geld nicht nur ein Substitut für das geopferte Rind ist, sondern dieses auch ein Substitut für das Menschenopfer. »In Ägypten stellte das Siegel, mit welchem die Opfertiere bezeichnet wurden [d.h. zur Opferung freigegeben wurden, weil sie als rein galten], einen knieenden Mann dar, der mit auf den Rücken gebundenen Händen an einen Pfahl befestigt ist, und dem das Messer an der Kehle sitzt. Darin kommt zum Ausdruck, daß das Vieh Stellvertreter des Menschen ist; der Siegel stellt die Verbindung her zwischen dem Original- und dem Ersatzopfer. Die gleiche Idee liegt den ältesten Münzbildern zugrunde.«22
Das Geld substituiert also das Tieropfer, das seinerseits an die Stelle des Menschenopfers getreten war. Bei der Entwicklung des Geldes aus dem Opferkult handelt es sich um einen zweifachen Abstraktionsprozess, der seinerseits eine symbolische Kastration des Männlichen impliziert. Das geht aus dem gerade beschriebenen Siegel für das Opfertier hervor, es lässt sich an der Geschichte des Alphas darstellen, und es zeigt sich auch am Geld selbst. Das Wort Geld leitet sich etymologisch vom Opfer und von der »Kastration« ab. Gary Taylor bringt das lateinische Wort »castrare« in Verbindung mit Worten aus dem Hebräischen und aus dem Sanskrit, die »Eunuch« bzw. »Messer« bedeuten.23 Mackensen verweist auf einen ähnlichen Zusammenhang, indem er die Kastration vom altlateinischen Wort »castrum«, Messer, ableitet.24 Die genaue Bedeutung von »castus« wiederum ist: »rein zum Opfer«.25 Das Oxford English Dictionary wird noch expliziter: Erst ab dem 16. Jahrhundert bürgert sich der Begriff der »castration« im Englischen ein. Vorher, und noch bis 19. Jahrhundert gebräuchlich, wurde die Herstellung sexueller Impotenz mit dem Begriff »to geld« umschrieben: »to deprive (a male)
21 | Vgl. B. Laum: Heiliges Geld, S. 137. 22 | Ebd., S. 146. 23 | Vgl. Gary Taylor: Castration. An Abbreviated History of Western Manhood, New York 2002. 24 | Vgl. Lutz Mackensen: Ursprung der Wörter. Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, Wiesbaden 1985, S. 204. 25 | Zit. n. Iwan Bloch: Handbuch der Gesamten Sexualwissenschaft in Einzeldarstellungen. Bd. 1: Die Prostitution, Berlin 1912, S. 544.
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Das Geld und die Prostitution | 29
of generative power or virility, to castrate or emasculate«.26 Diese Bedeutung war wörtlich gemeint, wurde aber auch figurativ verwandt, um von der »Unfruchtbarkeit« einer Mine, eines Vermögens oder einer Herde zu sprechen. Der Begriff wurde auch angewandt auf die Austilgung von obszönen Passagen aus einem Buch. Da das Englische »geld« – wie die »guild« oder Gilde als »Opfergemeinde« zeigt – zugleich mit dem deutschen Wort »gelt« (Götteropfer) verwandt ist, ist in dieser Wortgeschichte noch bis in den Beginn der Moderne die Erinnerung an das »ursprüngliche« Opfer enthalten. Mit der zunehmenden Abstraktion des Geldes wird sich die Erinnerung an diese ursprüngliche Wunde keineswegs verflüchtigen, sondern immer tiefer dem Wissen über das Geld einschreiben. Kurnitzky sieht in der Aufhebung des »Opferzusammenhangs« die Voraussetzung für die Entstehung einer »befriedigenden Organisation der Gesellschaft«.27 Doch gerade der Abstraktionsprozess, den das Geld seit der Antike durchlaufen hat, impliziert auch eine immer tiefere Einschreibung des Opferzusammenhangs. Die Entleibung fordert ihre Wiederbeleibung: durch eine immer wieder erneuerte Herstellung von Opferzusammenhängen. Sie werden in unterschiedlichen Gestalten ihren Ausdruck finden: erstens der Lohnarbeit, die an das Geld gekoppelt wird. Das ganze Werk von Marx und Engels handelt von dem »Mehrwert«, den das Kapital durch die Bindung an den menschlichen Leib gewinnt. Der zweite Zusammenhang war die Einführung des Söldners, dessen Beruf im 7. Jahrhundert vor Chr. zeitgleich mit dem Geld entstand.28 Er genoss in der Antike eine ähnlich negative Einschätzung wie in späteren Zeitaltern. Das verband ihn wiederum mit der dritten Kategorie einer »Beleibung« des Geldes: der Prostitution. Der Unterschied bestand in der Geschlechtszugehörigkeit. Der Beruf des Söldners ging mit neuen Kampfweisen und einer Armeeaufstellung einher, die den einzelnen männlichen Körper in einer »beweglichen Polis« verschwinden ließen.29 Der weibliche Körper der Prostituierten hingegen verschwand im Geldumlauf. Eines unterschied allerdings die Prostitution vom Söldnerwesen: Erstere hatte, wie das Geld, ihren Ursprung im Tempeldienst.
26 | The Oxford English Dictionary (OED), first edited by H.W. Fowler and F.G. Fowler, 5. Edition, edited by J.A. Simpson, Oxford 1964, S. 95. 27 | Horst Kurnitzky: Triebstruktur des Geldes. Ein Beitrag zur Theorie der Weiblichkeit, Berlin 1974, S. 159f. 28 | Vgl. Oliver Stoll: »Gemeinschaft in der Fremde: Xenophons ›Anabasis‹ als Quelle zum Söldnertum im Klassischen Griechenland«, in: Göttinger Forum für Altertumswissenschaft 5 (2002), S. 123-183, S. 127. 29 | Vgl. ebd., S. 130.
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30 | Christina von Braun
Die heilige Prostitution Die Hierodulie, d.h. die sakrale Prostitution, war laut Laum »ein Ersatz des Menschenopfers; anstatt den Göttern geschlachtet zu werden, verrichtet der Geweihte Tempeldienste«.30 Es gibt also zwei Formen von Substitut: Im einen Fall tritt das Tieropfer, das später durch das Geld ersetzt wird, an die Stelle des Menschenopfers. Im anderen Fall substituiert die sakrale Prostitution – die Überlassung des sexuellen Körpers – das Menschenopfer. Beidem liegt der Gedanke der Stellvertretung zugrunde. »Aus dem Menschenopfer wird das Tieropfer, aus dem Tieropfer entwickelt sich die Zahlung von Tieren als Wergeld. Wergeld ist Lösegeld, mit dem der Mensch sein Leben erkauft. Lösegeld ist also Opferersatz; wer Lösegeld gibt, befreit seinen eigenen Leib vom Geopfertwerden.«31
Das nominalistische Geld impliziert also nicht nur eine symbolische Kastration, sondern auch den potentiellen »Freikauf« vom Opferstatus. In diesem »Freikauf«, der einen Freikauf von der Macht der Götter – oder aus dem Zyklus von Untergang und Neugeburt – impliziert, ist die große zivilisatorische und domestizierende Macht des Geldes enthalten: So wie das Alphabet für die Entstehung der Polis, der Demokratie und der Wissenschaft prägend wurde, wies das Geld auch der Ökonomie und dem Handel den Weg. Doch das Geld selbst kann sich nie von seinem Ursprung aus dem Opfer freikaufen. Mit dem Verlust seines sakralen Ursprungs verliert es seine »Glaubwürdigkeit«, ist also als Mittel des »Freikaufs« nicht mehr geeignet. Deshalb sollte dem weiblichen Körper die Funktion zuteil werden, der Fragilität des Geldes die notwendige »Deckung« zu verleihen: dem körperlosen Zeichen eine Verankerung in der Materie, in der Leiblichkeit zu verschaffen. Für die Geschichte der »Heiligen Prostitution« zeichnet sich deshalb nicht überraschenderweise ein Verlauf ab, der in enger Parallele zur Geschichte des »Heiligen Geldes« steht. Herodot, der ca. 480 v. Chr. geboren wurde, beschreibt einen Ritus aus Babylon, der in fast allen Geschichten der »Heiligen Prostitution« zu finden ist. »Nun aber komme ich zu der häßlichsten Sitte der Babylonier. Jedes Mädchen dort muß sich einmal im Leben am Tempel der Aphrodite hinsetzen und sich jedem beliebigen Fremden preisgeben. Manche, die sich auf ihr Geld etwas einbilden und mit den andern nichts zu tun haben wollen, lassen sich im geschlossenen Wagen nach dem Tempel fahren und von einer zahlreichen Dienerschaft begleiten. Die meisten aber machen es so: Sie sitzen im Haine der Aphrodite mit einem Kranz von Schnüren auf dem Kopfe, eine ganze Menge [Mädchen]; denn es kommen und gehen viele. Auf den geraden Wegen, welche nach allen Richtungen zwischen den Weibern durchführen, gehen die Fremden auf und ab, um sich eine auszusuchen. Ein Mädchen, das da sitzt, darf nicht eher nach Hause gehen, bis ihr irgendeiner ein Stück Geld in den Schoß geworfen und sie außerhalb des 30 | B. Laum: Heiliges Geld, S. 82. 31 | Ebd., S. 81.
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Das Geld und die Prostitution | 31 Heiligtums beschlafen hat. Wenn er ihr das Geld zuwirft, muß er sagen: ›zu Ehren der Göttin Mylitta‹. Aphrodite heißt nämlich bei den Assyrern Mylitta.«32
Dass es in der Antike die kultische Sexualität bzw. die Tempelprostitution gab, wird heute nicht mehr bezweifelt. Doch schon Herodot konnte sich den sakralen Gedanken, der ihr zugrunde lag, kaum mehr vorstellen. Als er lebte, gab es in Griechenland schon längst eine – von Solon eingerichtete – staatlich verwaltete, profane Prostitution. Herodot vertrat die Ansicht, dass die jungen Frauen von Babylon durch die geschlechtliche Hingabe ihre Aussteuer verdienten, so wie später fast alle Theoretiker der Prostitution den Grund für ihre Verbreitung weder im Klienten noch in gesellschaftlich-ökonomischen Notwendigkeiten, sondern in der Veranlagung der Frauen suchten. Die sakrale Tempelprostitution oblag den Priesterinnen, die ein hohes soziales Ansehen genossen, das erst später, mit der allmählichen Profanisierung der Prostitution, sank. Den mythischen Hintergrund bildete die Vorstellung von der »Heiligen Hochzeit«, deren Höhepunkt die Kopulation des Königs mit einer die Göttin vertretenden Priesterin bildete.33 Diese aufwendigen Riten implizierten immer den Hinweis auf Menschenopfer und sakrale Prostitution: »Im Festzug werden junge Männer mitgeführt, die auf ihren Nacken ein hölzernes Joch tragen und solcherart vielleicht Kriegsgefangene darstellen. Es folgen alte und junge Frauen mit dem Haarputz der Prostituierten und schließlich die Bürger der Stadt, begleitet von Musikanten mit Leiern und Trommeln.«34
Zur sakralen Prostitution gehörte auch die Opferung von Töchtern, die der Göttin geweiht wurden. Davon versprachen sich Familien eine Gnade der Gottheit. Die den Tempeln geschenkten Mädchen hatten sakrale sexuelle Tempeldienste zu verrichten und wurden vom Tempel unterhalten. Die Fremden, die mit den Hierodulen Beischlaf hatte, mussten dafür in Form von Naturalien oder Geld zahlen. Das »Einkommen« gehörte dem Tempel.35 1857 schrieb der Theologe J. J. Döllinger: »Da der Grundgedanke des Opfers die Hingebung des Menschen an die Gottheit mittelbar oder durch Substitution ist, so konnte das Weib der Göttin nicht besser dienen, als durch Prostitution. Daher war auch der Gebrauch, daß Jungfrauen vor ihrer Vermählung einmal im Tempel der Göttin sich preisgeben mussten, so verbreitet; es war dies in seiner Art dasselbe, was das Opfer der Erstlinge von den Feldfrüchten war.«36
32 | Volkert Haas: Babylonischer Liebesgarten. Erotik und Sexualität im Alten Orient, München 1999, S. 80. 33 | Vgl. ebd., S. 123. 34 | Ebd., S. 124. 35 | Vgl. ebd., S. 92f. 36 | J.J. Döllinger: Heidentum und Judentum. Vorhalle zur Geschichte des Christentums, Regensburg 1857, S. 398f.
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32 | Christina von Braun Eine Reminiszenz an die Tempelprostitution scheint sich bis in die frühe Neuzeit gehalten zu haben, wo Bordelle als »Abteien«, Dirnen als »Nonnen« und die Bordellwirtin als »Äbtissin« bezeichnet wurden, und auch in der modernen Pornographie spielen Nonnen und Kloster eine wichtige Rolle. Von Babylon breitete sich die religiöse Prostitution nach Westen aus: nach Zypern, Askalon in Syrien, Kythera und Athen. Überall wurde sie von den Phöniziern importiert, die auch das Alphabet in Griechenland eingeführt hatten.37 In Griechenland fand man sie am häufigsten in den Städten mit intensivem Fremden- und Warenverkehr. In Korinth, so schreibt Strabo, war der Tempel der Aphrodite so reich, »daß er mehr als 1000 dem Tempeldienst gewidmete Buhldirnen hatte«.38 Es ist unklar, ob es auch eine homosexuelle Tempelprostitution gab. Es gab Priester, die wechselnde Geschlechtsidentitäten annahmen – den Göttern dienten sie in männlicher, den Göttinnen in weiblicher Kleidung –, und es gab die Galloi, Priester, die sich zu Ehren der Göttin Kybele kastrierten. Bloch vermutet, dass sie ein Kontingent sakraler homosexueller Prostitution bildeten.39 Die ersten regelrechten Bordelle entstanden in Griechenland, wo sich der Übergang von sakraler zu profaner Prostitution vollzog. Fast die gesamte Organisation der Prostitution, wie man sie heute kennt, stammt aus dem griechischen Altertum. Sie wurde 594 von Solon eingeführt, d.h. sie verließ etwa zeitgleich mit dem Geld den Tempelbereich. Es war die erste Form einer staatlich organisierten Prostitution: Solons Bordelle waren Staatsbordelle, die von Staatsbeamten verwaltet und beaufsichtigt wurden und in denen der Staat die Steuer von den einzelnen Prostituierten einzog.40 Die Frauen in den Bordellen wurden aus dem Sklavenstand und dem Stand der Unfreien rekrutiert. Die Bordelle befanden sich in öffentlichen Gebäuden, den so genannten oikema, zu denen auch die Tempel gehörten. Später verlagerten sie sich in private Gebäude, blieben aber unter Staatsaufsicht.41 Die Kosten für den Besuch des Bordells legte Solon auf 1 Obolus fest.42 Zunächst gab es daneben noch die sakrale Prostitution, aber sie verschwand allmählich, so wie auch das Geld jeden Bezug zu seinem sakralen Ursprung verlor. In seiner »Philosophie des Geldes« hat Simmel das Geld mit der Prostitution verglichen: »Nur die Transaktion um Geld trägt jenen Charakter einer ganz momentanen Beziehung, die keine Spuren hinterläßt, wie er der Prostitution eigen ist. […] [I]ndem man mit Geld
37 | Vgl. I. Bloch: Handbuch der Gesamten Sexualwissenschaft in Einzeldarstellungen, S. 80. 38 | Strabo, VIII, 6, 20, zit. n. Bloch, S. 85. 39 | Vgl. I. Bloch: Handbuch der Gesamten Sexualwissenschaft in Einzeldarstellungen, S. 107. 40 | Vgl. ebd., S. 215-17. 41 | Vgl. ebd., S. 321. 42 | Vgl. ebd., S. 357.
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Das Geld und die Prostitution | 33 bezahlt hat, ist man mit jeder Sache am gründlichsten fertig, so gründlich, wie mit der Prostituierten nach erlangter Befriedigung.«43
Für Simmel ist das Verhältnis von Geld und Prostitution geprägt von der Abstraktion und Anonymität, die beiden eignet. Doch das Geld besitzt auch Macht über die Materie. Oder genauer: Es bedarf der Materie, um seine Glaubwürdigkeit zu erhalten. Gerade weil das Geld ein reines Zeichensystem ist, das, wie Canetti schreibt, seinen Besitzer in den Entwertungsprozess einbezieht, verlangt es nach einem beständigen Wertmesser. War einst das Rind dieser »Wertmesser«, so trat – auch im profanen Zusammenhang – eine modernere Form von Fleisch an diese Stelle. Je abstrakter das Geld wurde, desto mehr es also seine Bindung zur Materie verlor, desto wichtiger wurde die käufliche Sexualität. Die Bindung an die käufliche Sexualität ist umso wichtiger als am Ursprung des Geldes die symbolische Kastration stand. Canetti hat dargestellt, wie die Erfahrung der Entwertung durch die Inflation an den Juden weitergegeben wurde. »Keine plötzliche Entwertung der Person wird je vergessen, sie ist zu schmerzlich. Man trägt sie ein Leben lang mit sich herum, es sei denn man kann sie auf einen anderen werfen. […] Was man braucht ist ein dynamischer Vorgang der Erniedrigung: Es muß etwas so behandelt werden, daß es weniger und weniger gilt, wie die Geldeinheit während der Inflation, und dieser Prozeß muß sich fortsetzen, bis das Objekt in einem Zustand kompletter Wertlosigkeit angelangt ist. Dann man kann es wegwerfen wie Papier oder einstampfen lassen.«44
Durch die traditionelle Gleichsetzung von »Jude« und Geld seien die Juden prädestiniert gewesen für dieser Rolle, und in ihrer Behandlung habe der Nationalsozialismus »den Prozeß der Inflation auf das genaueste wiederholt«: Die Juden wurden entwertet und schließlich zu »Ungeziefer« gemacht, »das man ungestraft in Millionen vernichten durfte«.45 Die Parallelen von Geld und weiblichem Körper sind anders und hängen doch eng mit derselben Angst zusammen: der Angst, dass das Zeichensystem Geld seine Loslösung von der Materie offenbaren könnte. Das führt dazu, dass mit der zunehmenden Abstraktion des Geldes die profane Prostitution an Bedeutung zunimmt.
Der Übergang zur profanen Prostitution Der Sexualwissenschaftler Iwan Bloch hat 1912, wenige Jahre nach Simmels »Philosophie des Geldes«, eine Geschichte der Prostitution veröffentlicht, die wegen der Fülle des Materials noch immer als Standardwerk gelten darf. Sie stellt jedoch auch das typische Produkt eines wissenschaftlichen Diskurses über die Sexualität dar, der sich an einer Theorie des »männlichen Triebs« orientiert.
43 | G. Simmel: Philosophie des Geldes, S. 413. 44 | E. Canetti: Masse und Macht, S. 207. 45 | Ebd., S. 207.
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34 | Christina von Braun Bloch zitiert zustimmend den Juristen Franz Krassel, der 1894 die Prostitution folgendermaßen definierte: »Juristisch kann die Prostitution nur definiert werden als die Hingabe des weiblichen Körpers zur Befriedigung des Geschlechtstriebes gegen Entgelt an den Mann, wobei das Entgelt seitens beider Teile als Bedingung dieser Hingabe gegeben und genommen, beziehungsweise vorausgesetzt wird.«46
Damit macht der Jurist das Geld zwar zum Angelpunkt einer Definition der Prostitution, schränkt sie aber zugleich auf die heterosexuelle Beziehung ein. Das ist umso erstaunlicher, als die homosexuelle männliche Prostitution gegen Ende des 19. Jahrhunderts, in Deutschland wie anderswo, sehr verbreitet war. Das römische Recht wie das kanonische und germanische Recht, die sich diesem anschlossen, kannten weder die männliche Prostitution noch die lesbische Prostitution. »Für sie ist Prostitution nur möglich zwischen Personen verschiedenen Geschlechts.«47 Da es aber auch in Rom die männliche Prostitution gab, die homosexuelle wie die heterosexuelle,48 diese im Gesetz aber keine Berücksichtigung fand, impliziert dies, dass mit den Prostitutionsgesetzen nicht nur die sexuelle Dienstleistung selbst, sondern auch die symbolische Geschlechterordnung reguliert wurde: Als »Tauschobjekt« für das Geld kam ausschließlich der weibliche Körper in Frage. Er wurde definiert als das materielle Pendant zur Münze, hinter der sich das ursprüngliche Opfer verflüchtigt hatte und das ohne dies Anbindung an einen »sakralisierten« weiblichen Körper seiner Glaubwürdigkeit verlustig zu gehen drohte. Der Körper der Prostituierten wurde so zu einer »lebenden Münze«.49 Es ging um eine Sakralisierung, die auf der »Potenz« des Geldes basierte: Das Zeichensystem, das zur symbolischen Kastration geführt hatte, schuf so eine andere, zeichenhafte Form der Ermächtigung. Es versteht sich, dass »Männlichkeit« und »Weiblichkeit« dabei als Codes zu verstehen sind: Männlichkeit steht für das abstrakte Zeichen, die Zeichenhaftigkeit des Geldes, Weiblichkeit für die Materialisierung dieses Zeichens, für seine Macht über die »Wirklichkeit«. Weil es sich um symbolische Codes handelte, nicht um den Frauenkörper oder den Körper des Mannes, brauchte die männliche Prostitution vom Recht auch nicht ausdrücklich thematisiert zu werden; sie war als »weiblich« definiert worden, egal ob sie von einem Mann oder einer Frau ausgeübt wurde.
46 | Franz W. Krassel: Privatrecht und Prostitution. Eine sozial-juristische Studie, Leipzig/Wien 1894, S. 15, zit. n. I. Bloch: Handbuch der Gesamten Sexualwissenschaft in Einzeldarstellungen, S. 30. 47 | Ebd., S. 36. 48 | Vgl. ebd., S. 385. 49 | Den Begriff übernehme ich von Pierre Klossowski: Die lebende Münze, a.d. Französischen v. Martin Burckhardt, Berlin 1998.
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Das Geld und die Prostitution | 35
Bloch sieht in der Prostitution einen »Überrest, ein Aeqivalent, des ursprünglich freien Geschlechtslebens der Menschheit«.50 Zugleich will er in ihr aber auch den »Dienst eines zügellosen Naturprinzips« erkennen, dem »die beengende Fessel der Ehe zuwider ist, das nur in jenem ungebundenen, freien Liebesleben seine vollste Erfüllung findet«.51 Die Männer, die als »Kunden« der Tempelprostitution auftauchen, gelten bei Bloch als »Stellvertreter der Gottheit«, die ihre Pflicht vollbringen »als ›Ablösung‹ oder ›Sühne‹ für die Beschränkung der ursprünglichen sexuellen Ungebundenheit«.52 Er sieht in der Prostitution ein Abtragen jener Schuld, die mit der Unterwerfung der Sexualität unter das Gesetz der »Zivilisation« einherging. Dieses »Wollustopfer«, das »als Akt roher Sinnlichkeit und ohne Entgelt vor sich geht«, trage alle Merkmale der modernen Prostitution in sich.53 Diese Aussage ist umso erstaunlicher, als in der sakralen wie in der modernen Prostitution das Geld eine zentrale Rolle spielt.
Das Geld und die Prostitution im Mittelalter Als sich im 12. und 13. Jahrhundert im christlichen Norden Europas das Stadtwesen zu entwickeln begann – und diese Entwicklung ging mit dem Übergang von einer Natural- zur Geldwirtschaft einher –, erfuhr auch die Prostitution ihre Verankerung im Gemeindewesen. Die Organisation dieses Prostitutionswesens ähnelte den Einrichtungen, die Solon in Athen geschaffen hatte: Sie basierte auf Bordellen, die es auch in kleineren Städten – von zweitausend oder weniger Einwohnern – gab. Das geschah mit Einverständnis von Stadtrat und Kirche. Die Kirche begründete ihre Befürwortung dieser Einrichtungen mit Argumenten, die auch schon Augustinus geltend gemacht hatte: Die Prostitution sei als »kleineres Übel« zu tolerieren, um ein größeres Übel, die Unzucht mit ehrbaren Frauen und Mädchen, zu verhindern.54 Ab dem 14. Jahrhundert verzeichneten so gut wie alle Städte Westeuropas »Frauenhäuser«.55 Diese mittelalterlichen Frauenhäuser waren, wie unter Solon, förmliche Staatsgebäude, die sich im Besitz der Stadträte, eines Fürsten oder der Kirche befanden und für deren Rechnung arbeiteten. Alle legislativen und sittenpolizeilichen Maßnahmen und Verordnungen zielten auf die Aufrechterhaltung dieses Prostitutionswesens, das zunftmäßig organisiert war und »auf eine radikale Vertilgung der so genannten freien Prostitution« abzielte.56
50 | I. Bloch: Handbuch der Gesamten Sexualwissenschaft in Einzeldarstellungen, S. 51. 51 | Ebd., S. 70. 52 | Ebd., S. 71. 53 | Vgl. ebd., S. 70. 54 | Vgl. ebd. S. 641ff. 55 | Vgl. ebd., S. 739. 56 | Vgl. ebd., S. 731f.
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36 | Christina von Braun So griff der Staat auch in die Kleiderordnung der Prostituierten ein. In Venedig wird noch heute die so genannte Ponte delle Tette (Titten-Brücke) den Touristen gezeigt. »Zu einem gewissen Zeitpunkt im 16. Jahrhundert gab es in der Stadt nicht weniger als 11.654 behördlich eingetragene Dirnen, die jede eine eigens festgesetzte Steuer zahlten, welche den Einkünften der Republik sehr zustatten kam. Der Senat war jedoch einigermaßen besorgt über die Gleichgültigkeit vieler venezianischer Jünglinge gegenüber diesen drallen Mädchen. Einem Chronisten zufolge erließ er eine hochtrabende summarische Verordnung, die von den Prostituierten verlangte, daß sie mit herabbaumelnden Beinen und aufgeschnürten Miedern auf ihren Fensterbänken zu sitzen hätten.«57
Eine solche von der Obrigkeit organisierte Prostitution – bei der der Souverän dem sexuellen Geschäft seinen Stempel aufsetzt – gleicht der Münze, die sich im Spätmittelalter als Zeichen der Souveränität einer Stadt oder eines Fürstentums entwickelte. Die staatlich oder kirchlich geführten Frauenhäuser schrieben den Prostituierten vor, dass sie sich keinem Mann verweigern durften; es war ihnen auch untersagt, mit einem »lieben Mann« umsonst Geschlechtsverkehr zu haben. Ihr Körper gehörte, wie eine Nürnberger Polizeiordnung ausdrücklich festhielt, der Allgemeinheit.58 Wenn eine der Dirnen das ökonomische Interesse der Stadt »durch uneigennützige und nichts eintragende Liebschaft« schädigte, schritt die Obrigkeit gegen sie ein.59 Wie eine Münze gleichgültig der Ware gegenübersteht, die man durch sie erwirbt, so durfte auch die Prostituierte keinen Unterschied zwischen den einzelnen Kunden machen. Genau diese »Gleichgültigkeit« im Bezug zum »Genuss« beschreibt Simmel als das Wesen des Geldes: »Dadurch, daß wir am Geld die Genußwerte der damit beschaffbaren spezifischen Objekte vorempfinden, daß der Reiz derselben auf das Geld übertragen und von ihm vertreten wird«, erhalten die »einzelnen Genußempfindlichkeiten eine Art von Vergleichbarkeit«.60 Je abstrakter das Geld wurde, desto wichtiger wurde die Prostitution. Im 14. Jahrhundert entwickelte sich ein Bankwesen, für das die Templer – also Christen, nicht Juden – während der Kreuzzüge das Modell geschaffen hatten. Es begann eine systematische Inflationspolitik, bei der Fürsten nicht nur die eigene Währung durch unterwertige Münzen »entmaterialisierten«, sondern gelegentlich auch das Geld ihrer Nachbarn fälschten. Nikolaus von Oresme, der ab 1377 Bischoff von Lisieux war und als Berater des französischen Königs ein Traktat über das Geld schrieb, riet deshalb auch, das Geld den Fürsten zu entziehen und zum Kollektiveigentum zu machen. Der Fürst solle nur noch Hüter der Münze sein. Damit wurde einerseits die Zentralbank vorweggenommen, andererseits aber auch die Entstehung des privaten Bankwesens ermöglicht. Mit die57 | Hugh Honour: Venedig, München 1973, S. 309. 58 | I. Bloch: Handbuch der Gesamten Sexualwissenschaft in Einzeldarstellungen, S. 672. 59 | Vgl. ebd., S. 759. 60 | G. Simmel: Philosophie des Geldes, S. 278f.
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ser Entwicklung wanderte auch die Prostitution aus dem öffentlichen in den privaten Markt ab. Die ersten Vertreter des Bankwesens im abendländischen Mittelalter, die Lombarden, hielten in ihren Geschäftshäusern Bordelle; das zeigen Verordnungen der französischen Könige Karl V. und Karl VI., die lombardischen Bankiers in Paris, Amiens und Meaux entsprechende Privilegien verliehen.61 Die Bankiers übernahmen damit die doppelte Erbschaft des Tempels: das Geld wie die Hierodulie. Ab dem 14. Jahrhundert entwickelte sich zunehmend ein bargeldloser Verkehr mit Wechseln, Schecks und Indossamenten. Schweden und andere Länder führten im 17. Jahrhundert das erste Papiergeld ein, eine Neuerung, die schon bald danach von dem schottischen Bankier und Wirtschaftstheoretiker John Law aufgegriffen wurde. John Law erhielt 1715 in Frankreich die Genehmigung zur Errichtung einer Privatnotenbank und gründete zwei Jahre später die »Companie d’Occident« als Handelsgesellschaft für den französischen Kolonialbesitz in Nordamerika. Die stark spekulative Nachfrage nach den Aktien für diese Gesellschaft führte zur ständigen Neuausgabe von Aktien und Banknoten, und die dadurch bewirkte erste Papiergeldinflation stürzte Frankreich 1720 in eine schwere Wirtschaftskrise. Law wurde zum ersten Theoretiker des Papiergeldes und der produktiven Wirkungen des Kredits.62 Die allmähliche Verlagerung des Geldes zum reinen Zeichen wurde von einer Ausbreitung der Prostitution begleitet, die in den Städten der Industrieländer Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts zu einem Massenphänomen wurde. Der Zuhälter nahm nun die Stelle ein, die zuvor der Stadtrat, Fürst oder Klerus innehatten und wurde zur Wechselstelle, an der das Zeichen gegen den Körper getauscht und das Geld zu Fleisch wurde. Er begann, »die Prostituierten als einträgliche Einnahmequelle zu verwerten und mit ihnen Handel zu treiben, wie mit einer beliebigen anderen Ware«.63
Das Geld und die Prostitution im 20. Jahrhundert Im 20. Jahrhundert, das die Ablösung von der Goldparität, die Aufhebung der Deckung durch die Zentralbanken und zuletzt das elektronische Geld brachte, verfestigte sich die Wechselbeziehung von Geld und Prostitution. Die Industrieländer begannen, Frauen und Kinder aus der Dritten Welt zu importieren; es entstanden die international operierenden Zuhälterringe. Der moderne Menschenhandel ist das Spiegelbild eines neuen Kapitalmarktes, der vom unsichtbaren, elektronischen Geld gesteuert wird, das in der Ware Mensch seine Beglaubigung findet. Nach einem Bericht der EU-Kommission von 2003 und Europol von 2001 werden jedes Jahr etwa 500.000 Frauen und Kinder mit dem Ziel der 61 | M. Rabutaux: De la prostitution en Europe depuis l’antiquité jusqu’à la fin du XVIe siècle, Paris 1865, S. 58-59. 62 | Vgl. John Law: »Money and Trade Considered with a Proposal for Supplying the Nation with Money (1705)«, in: P. v. Harsin (Hg.), Oevures Complès de Law, 3 Bde., Paris 1934-35. 63 | I. Bloch: Handbuch der Gesamten Sexualwissenschaft in Einzeldarstellungen, S. 206.
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38 | Christina von Braun Prostitution auf den Markt der Länder der Europäischen Gemeinschaft geworfen. 75 Prozent von ihnen sind 25 Jahre alt oder jünger. Ein hoher Anteil ist minderjährig. Parallel zum »Import« von Prostituierten in die Industrieländer setzte ein weltweit florierender Sextourismus ein: in die Philippinen, nach Thailand, Lateinamerika oder Afrika. Einer Schätzung von 1995 zufolge macht das Prostitutionseinkommen 59 bis 60 Prozent des Staatshaushaltes von Thailand aus. Kein Wunder, dass die Regierung im Jahre 1987 für den Sextourismus mit dem Slogan warb: »The one fruit of Thailand more delicious than durian: its young women.«64 Nicht nur die Zielländer des Sextourismus, auch die Industriestaaten vermischen die »Fruchtbarkeit« des Geldes mit der käuflichen Sexualität: Die Prostitution gehört inzwischen zur »Entwicklungsstrategie« internationaler Organisationen: Viele Länder der Dritten Welt, die Kreditanträge stellen, werden vom Internationalen Währungsfonds oder der Weltbank aufgefordert, ihre Tourismus- und Unterhaltungsindustrie zu entwickeln – und immer führt die Erweiterung dieses Sektors zur Erweiterung der Sexindustrie.65 Laut Sabine Dusch erreicht die Prostitution weltweit einen Umsatz von sechzig Milliarden Euro im Jahr.66 Die Sexindustrien repräsentieren in den Niederlanden 5 Prozent des Bruttosozialproduktes, in Japan 1 bis 3 Prozent. In vielen Ländern der Dritten Welt, aber auch in vielen alten GUS-Staaten sowie in Ost- und Zentraleuropa »sind unter dem Impakt einer Strukturanpassungspolitik und der Liberalisierung der Ökonomie Kinder und Frauen zu den neuen Rohstoffen (new raw resources)« der nationalen und internationalen Handelsbeziehungen geworden.67 Staaten, die liberale Prostitutionsgesetze eingeführt haben, verdanken diesen beträchtliche Einnahmen. Holland hat heute über den Prostitutionssektor eine jährliche Steuereinnahme von einer Milliarde Euro.68 In Deutschland liegt, laut einer Schätzung der Ökonomen Reichelt und Toppert, der Prostitutionsumsatz bei jährlich 14,5 Milliarden Euro.69 In den Worten der Autorin Karla Sponar, die sich mit dem Thema beschäftigt hat: »Für die Menschenhändler sind die gehandelten Frauen so gut wie Gelddruckmaschinen.«70 Es ist bezeichnend, dass alle Untersuchungen zu Menschenhandel und Prostitution zunächst über Zahlen sprechen. Körper und Sexualität werden in Millionen gerechnet, die Einkünfte daraus in Milliarden. Elias Canetti schrieb von der Faszination für die »Million«, die einst für ein »echtes« Vermögen 64 | Richard Poulin: La Mondialisation des industries du sexe. Prostitution, pornographie, traité des femmes et des enfants, Paris 2005, S. 44. 65 | Richard Poulin: La Mondialisation des industries du sexe, S. 69f. 66 | Vgl. Sabine Dusch: Le Trafic d’êtres humains, Paris 2002, S. 109. 67 | Richard Poulin: La Mondialisation des industries du sexe, S. 23. 68 | Richard Poulin: La Mondialisation des industries du sexe, S. 29. 69 | Vgl. Richard Reichel/Karin Topper: »Prostitution. Der verkannte Wirtschaftsfaktor«, in: Aufklärung und Kritik, Zeitschrift für freies Denken und humanistische Philosophie 10/2, S. 1-29, hier S. 10. 70 | Karla Sponar: »Fast ungestört und salonfähig. Menschenhandel – eine neue Form der Sklaverei«, DeutschlandRadio, Hintergrund Politik, 9.12.2004.
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stand, aber in der Inflation plötzlich ihren Wert verlor. Dieses Wort von den Millionen, so schreibt er, übertrug Hitler auf die Bevölkerungs- und Eroberungspolitik. In seinen Reden sei es gegangen um »die Millionen von Deutschen, die außerhalb des Reiches leben und noch zu erlösen sind«.71 Eine ähnliche Wechselbeziehung zwischen den »Millionen« und dem Körper wiederholt sich heute in der Prostitutionsindustrie. Das ist nicht die Schuld derer, die das Phänomen statistisch zu erfassen und sichtbar zu machen versuchen. Es liegt an der Sache selbst: an der Beziehung zwischen dem unsichtbaren Geld und der Ware Sexualität. Der Hinweis auf die »Millionen« verdeutlicht das Verschwinden von Menschen und Körpern hinter der Zahl. Bei der Liberalisierung der Prostitutionsgesetze – etwa in Deutschland – spielten die »Frauenrechte« eine wichtige Rolle. Die Verfügungsmacht über den eigenen Körper, die sich Frauen über Jahrzehnte erkämpften, wurde zu einem Vorwand, die Liberalisierung der Sexualität und mit ihr der käuflichen Sexualität einzufordern. »Alle ›Produkte‹ der Sexindustrien werden als Errungenschaften einer liberalisierten Sexualität dargestellt. Wie jeder Markt, hat auch der der Prostitution kein anderes Ziel als sich zu entwickeln. Um das zu erreichen, muss er neue Bedürfnisse wecken, Angebot und Nachfrage erweitern.«72
Es sei, so Poulin, ein »Neusprech« entstanden, durch das »die Freiheit, sich zu prostituieren«, als ein »Recht« und eine Errungenschaft der Kämpfe der Frauen erscheint. Die Intervention gegen die Prostitutions- oder Pornographieindustrie werde nicht mehr als Zeichen von Puritanismus, sondern als eine Aggression gegen die Freiheit der Frauen verurteilt.73 Die Rolle der »Frauenrechte« an der Ausbreitung der Prostitution ist die eine Seite der Entwicklung; die andere Seite betrifft die Konsumenten der Sexindustrie. »Der ›Kunde‹ ist der große Abwesende der internationalen Konventionen und Untersuchungen über die Prostitution.«74 Er ist genauso abwesend, abstrakt und unsichtbar wie das Geld selbst. Poulin spricht von einer ›Kultur des Spermas‹, das in der Moderne die feudale ›Kultur des Blutes‹ abgelöst habe. Der Sinn der Ejakulation bestehe darin, ›den männlichen Selbstwert zu garantieren‹, schreibt er ironisch.75 Ich denke, es geht weniger um den männlichen Selbstwert als um den »Selbstwert« des Geldes. Das Geld ist ein »knapp gehaltenes Nichts« – deshalb fließt das Sperma in Strömen, und der prostituierte Körper ist zum Klingelbeutel geworden, in den sich das »vergeudete Sperma« ergießt. Wurde das frei flottierende Geld aus jeder Bindung an einen Souverän entlassen, so ist auch das Sperma von jeder Pflicht entbunden und dient nur noch 71 | E. Canetti: Masse und Macht, S. 204. 72 | Richard Poulin: La Mondialisation des industries du sexe, S. 187. 73 | Ebd. 74 | Ebd., S. 18. 75 | Vgl. ebd., S. 185.
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40 | Christina von Braun dem Kreislauf eines ständig zu erneuernden Sex-Konsums. Diese Konsumenten sind nicht »naturgegeben«, allen Phantasien von der »Männlichkeit« des Geschlechtstriebs zum Trotz, sondern sie sind, wie Poulin schreibt, das Produkt eines Konsumbedarfs, der durch das Angebot überhaupt erst hergestellt wird.76 Wie bei Solon und wie im Mittelalter, ist bei der Fabrikation von Angebot und Nachfrage auch der Staat beteiligt. Für die Fußballweltmeisterschaft von 2006 wurde die Infrastruktur für den Prostitutionsmarkt von vorneherein eingeplant und in die Berechnungen einbezogen. Freie Marktwirtschaft? Eher eine Staatswirtschaft, die den Markt der Freier organisiert. Eben dies ist die große Neuerung des 20. Jahrhunderts: die freiwillige und massive Unterwerfung der Prostitutionskonsumenten unter eine symbolische Ordnung, von der sie nicht viel mehr als eine hastige Ejakulation zu erwarten haben. Diese Konsumenten sind zu den Söldnern einer Sexindustrie geworden, die unter dem Gesetz des Geldes steht. Vielleicht wäre es an der Zeit, für diese »Millionen« ohne Stimme im öffentlichen Raum eine Interessenvertretung zu organisieren.
Literatur Bloch, Iwan: Handbuch der Gesamten Sexualwissenschaft in Einzeldarstellungen, Bd. 1: Die Prostitution, Berlin 1912. Canetti, Elias: Masse und Macht, München/Regensburg 1960, Bd. 1. Curtius, Ernst: »Der religiöse Charakter der griechischen Münzen«, in: Monatsberichte der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin (1869), Berlin 1870. Döllinger, J.J.: Heidentum und Judentum. Vorhalle zur Geschichte des Christentums, Regensburg 1857. Dusch, Sabine: Le Trafic d’êtres humains, Paris 2002. Haas, Volkert: Babylonischer Liebesgarten. Erotik und Sexualität im Alten Orient, München 1999. Honour, Hugh: Venedig, München 1973. Kallir, Alfred: Sign and Design. The Psychogenetic Sources of the Alphabet, London 1961; Deutsch: Sign and Design. Die psychogenetischen Quellen des Alphabets. Berlin 2002. Klossowski, Pierre: Die lebende Münze, a.d. Französischen v. Martin Burckhardt, Berlin 1998. Krassel, Franz W.: Privatrecht und Prostitution. Eine sozial-juristische Studie, Leipzig/Wien 1894. Kurnitzky, Horst: Triebstruktur des Geldes. Ein Beitrag zur Theorie der Weiblichkeit, Berlin 1974. Laum, Bernhard: Heiliges Geld. Eine historische Untersuchung über den sakralen Ursprung des Geldes, Tübingen 1924, neu aufgelegt Berlin 1983.
76 | Vgl. ebd., S. 86.
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»Hetären für die Lust?« Zum Hetärenwesen im klassischen Athen Elke Hartmann »Viel freundlicher als eine Ehefrau ist die Hetäre – und mit gutem Grund. Die Gattin pocht auf’s Recht, sitzt stolz im Haus, die andre weiß, sie muss den Mann günstig stimmen durch ihre Künste – oder einen anderen suchen.«1
Der Wandel des Hetärenbildes in der altertumswissenschaftlichen Forschung seit dem 19. Jahrhundert Gegenüberstellungen von Ehefrauen und Hetären in antiken Quellen wie in diesem Komödienfragment des Amphis haben einige Wissenschaftler zu einer stark polarisierenden Darstellung von der Ehe einerseits und dem Milieu der außerehelichen Erotik andererseits geführt. Jüngst arbeitet James Davidson heraus, dass dieses »›Zwei-Typen-Modell‹ in Werken über Frauen der Antike […] eine verheerende Wirkung auf die Karriere der Kurtisane oder Hetäre [hatte]. Sie wurde aus der zentralen Stellung in früheren Abhandlungen über Prostitution in eine beinahe unscheinbare Rolle in jüngeren Darstellungen verdrängt.«2 Ein kurzer Blick auf die Forschungsgeschichte lässt diese Entwicklung deutlich werden. Seitdem sich Altertumsforscher mit dem Hetärenwesen beschäftigen, geschieht dies mit unterschiedlichen Wertungen. Zahlreiche Gelehrte des 19. Jh.s traten dem Hetärentum mit Abscheu entgegen: Sie bezeichnen die Hetären ab1 | Amphis bei Athen. deipn. XIII 559 a-b (= Amphis fr. 1 PCG) (Ü.: Treu – Treu, modifiziert). Die verwendeten Abkürzungen griechischer und lateinischer Autornamen und Werktitel richten sich nach: Der Kleine Pauly, Lexikon der Antike in 5 Bänden, Bd. 1, München 1975, XXI-XXVI. 2 | James N. Davidson: Kurtisanen und Meeresfrüchte. Die verzehrenden Leidenschaften im klassischen Athen (Übers. d. Originalausgabe London 1997), Berlin 1999, S. 96.
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44 | Elke Hartmann wertend als Vertreterinnen des »schändlichsten Gewerbes«3. In den 20er Jahren des letzten Jh.s trat diese Verachtung in den Hintergrund: Studien wie die unter dem Pseudonym Hans Licht veröffentlichte »Sittengeschichte Griechenlands« von Paul Brandt zeugen von uneingeschränkter Bewunderung der Griechen aufgrund ihrer Freizügigkeit im Hinblick auf die Sexualität.4 Die Hetäre – nun als Mätresse oder Kurtisane bezeichnet – avancierte zum Sinnbild für unbeschränkte Erotik und weltoffene Lebensart. Gerade den frühen kulturgeschichtlichen Studien ist gemein, dass sie den Blick ausschließlich auf die als Hetären bezeichneten Frauen konzentrieren. Die Hetäre – ganz gleich, ob sie nach den zeitspezifischen Wertmaßstäben als »Kokotte«, »Kurtisane« oder »Dirne« angesprochen wird – ist überwiegend Gegenstand antiquarischer Forschung. Die Männer, die am Verhältnis zu einer Hetäre gleichermaßen beteiligt waren, sowie das gesamte soziale Umfeld, in dem die Begegnungen stattfanden, wurden lange Zeit außer Acht gelassen. Dies gilt weitgehend auch für die feministischen Forschungen der 70er und 80er Jahre des 20. Jh.s, die den Blick besonders auf die soziale Position der Frauen richten.5 Auch diese Beiträge unterscheiden sich im Detail in ihren Beurteilungen der Hetären: Während etwa Sarah Pomeroy die soziale Ungebundenheit und Selbstbestimmtheit der Hetären bemerkt,6 betont Carola Reinsberg deren ökonomische und psychische Abhängigkeit von den Männern.7 Einhellig werden Hetären nun mit Prostituierten gleichgesetzt8 – und mitunter als »Edelprostituierte« apostrophiert9 –
3 | Vgl. etwa Ernst Guhl/Wilhelm Koner: Leben der Griechen und Römer, Berlin 1861, S. 366. 4 | Vgl. Hans Licht: (Pseudonym von Paul Brandt): Sittengeschichte Griechenlands, 2 Bde. u. ein Ergänzungsband, Dresden/Zürich 1925-1928 passim. Vgl. dazu auch Carloa Reinsberg: Ehe, Hetärentum und Knabenliebe im antiken Griechenland (= Beck’s Archäologische Reihe hg. v. H. v. Steuben), München 1989, S. 80f. 5 | Vgl. z.B. Sarah B. Pomeroy: Frauenleben im klassischen Altertum, (Übers. d. 9. Aufl., New York 1984) Stuttgart 1985 und Eva C. Keuls: »The Hetaera and the Housewife. The Splitting of the Female Psyche in Greek Art«, in: Mededelingen van het Nederlands Instituut te Rome 44-45 (1983), S. 23-40. 6 | Vgl. S.B. Pomeroy: Frauenleben, S. 137f. 7 | Die Hetäre – so formuliert Carola Reinsberg – hatte nur eine Aufgabe, »den jeweiligen Mann zu seinen Vergnügungen zu begleiten und ihm allzeit und überall eine willige Gefährtin zu sein. Sie [war] nichts als die Kumpanin seiner Zechereien und Objekt seiner sexuellen Willkür.« C. Reinsberg: Ehe, Hetärentum und Knabenliebe im antiken Griechenland, S. 90. 8 | Vgl. dazu kritisch J.N. Davidson: Kurtisanen und Meeresfrüchte, S. 96ff., der zu Recht hervorhebt, dass die Gleichsetzung der Hetären mit Prostituierten zu stark verallgemeinere und nicht der antiken Auffassung vom Wesen einer Hetäre gerecht werde. 9 | Vgl. David Halperin: »The Democratic Body: Prostitution and Citizenship in Classical Athens«, in: ders., One Hundred Years of Homosexuality. And other Essays on Greek Love, New York/London 1988, S. 88-112. Appendix 2. C. Reinsberg: Ehe, Hetärentum und Knabenliebe im antiken Griechenland, S. 89.
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wobei darauf verwiesen wird, dass ihre Benennung als hetairai, also »Gefährtinnen« in euphemistischer Absicht erfolgt sei.10 Den Anspruch, die Benennung der »Gefährtinnen« zu deuten, hat allerdings nicht erst die moderne Wissenschaft erhoben. Bereits griechische Autoren der römischen Kaiserzeit bemühten sich darum, diese Benennung zu erklären, die auch ihnen merkwürdig erschien: Plutarch sagt den Athenern die Neigung nach, »dass sie die hässlichen Dinge mit höflicher Umschreibung hinter hübschen und freundlich klingenden Worten verstecken, wenn sie etwa die Huren (pornai) Freundinnen (hetairai), die Tribute Beiträge, die Besatzung der Städte Wachen und das Gefängnis Zelle nennen […]«.11
Auch der Poikilograph Athenaios aus dem frühen 3. Jh. n. Chr. führt im »Gelehrtenmahl« einen Vertreter der Auffassung an, dass die hetairai in euphemistischer Absicht so genannt würden.12 Ein Tischgenosse gibt jedoch zu bedenken, dass die Hetären nicht ohne Grund »als einzige unter allen anderen Frauen mit einem Ausdruck der Freundschaft bezeichnet werden«13, denn allein sie seien als »wahrhaftige Gefährtinnen« zu einer »Freundschaft ohne Hinterlist«14 imstande. Die Tatsache, dass über den Charakter der Beziehung eines Mannes zu einer Hetäre bereits in der Antike Unklarheit herrschte, lässt es sinnvoll erscheinen, das soziale Verhältnis von Hetären und ihren Liebhabern genauer zu analysieren. Was genau zeichnete eine Hetäre aus? Im Folgenden ist zu klären, unter welchen Bedingungen im klassischen Athen eine Frau hetaira genannt wurde. Es ist erneut zu überdenken, inwiefern der Wunsch nach einer beschönigenden Beschreibung tatsächlich als Anlass dafür anzusehen ist, bestimmte Frauen als »Gefährtinnen« anzusprechen und – wenn dies so ist – welchen Zweck dieser Euphemismus erfüllte. Um das Charakteristische des Hetärenwesens zu erfassen, ist immer wieder auch ein Blick auf die Ursprünge des Hetärenwesens in der aristokratischen Symposionskultur der archaischen Zeit zu werfen. Zum anderen gilt es, das Umfeld genauer zu beschreiben, in dem sich Hetären und ihre Liebhaber begegneten. Unabdingbar erscheint es grundsätzlich, jeweils die Blickrichtung der unterschiedlichen Quellen zu berücksichtigen, denen wir Informationen über Hetären entnehmen können. Zu diesen Quellen zählen 10 | So bereits Klaus Schneider: »Hetairai«, Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft. Neue Bearb. V. G. Wissowa – W. Kroll u. K. Mittelhaus, zuletzt hg. v. K. Ziegler, Stuttgart 1893-1980, VIII, 2 (1913), Sp. 1331-1372, hier: Sp. 1331 und auch C. Reinsberg: Ehe, Hetärentum und Knabenliebe im antiken Griechenland, S. 89. 11 | Plut. Sol. 15, 2f. (Ü.: Ziegler). 12 | Vgl. Athen. deipn. XIII 571 d: »[…] die um Lohn dienen, nennen sie [die Griechen] Hetären […] nicht wegen der wahren Bedeutung des Wortes, sondern wegen des Anstandes«. (Ü.: Verf.). 13 | Athen. deipn. XIII 571 c. 14 | Athen. deipn. XIII 571 c (philian adolon).
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46 | Elke Hartmann neben den Vasenbildern als den wichtigsten archäologischen Zeugnissen eine Reihe von literarischen Quellen: vorwiegend Symposionslyrik, Komödien und attische Gerichtsreden. In den Texten urteilen Verehrer, Neider oder Spötter; selbstverständlich ergibt sich daraus kein geschlossenes Bild über das gesellschaftliche Ansehen der Hetären.
Das Hetärenwesen in archaischer Zeit Die Ursprünge des Hetärenwesens sind schwer auszumachen. Der Terminus hetaira, wörtlich übersetzt Gefährtin, wird zur Bezeichnung einer Frau, die sich mit mehreren Männern abgibt, erstmalig im 5. Jh. von Herodot, dem »Vater der Geschichtsschreibung«, verwendet. Herodot (Hdt. II 134, 1ff.) berichtet vom sagenhaften Reichtum, den die Thrakerin Rhodopis als Hetäre erworben hat, deren Lebenszeit um 600 v. Chr. anzusetzen ist. Als in der Mitte des 5. Jh.s der Terminus hetaira zur Bezeichnung von Frauen wie Rhodopis aufkam, konnten diese jedoch bereits auf eine über hundertjährige Tradition zurückblicken. Bereits in der archaischen Symposionslyrik des 6. Jh.s werden Frauen erwähnt, die zu Männern außereheliche Liebesverhältnisse unterhalten. Eine Gruppenbezeichnung für diese Frauen fehlt, dafür tragen sie metaphorische Namen. So verweisen einige Namen auf die Vielzahl ihrer Liebhaber wie »Vielgeliebte« (Pasiphile) oder »Hauptverkehrsstraße« (Leophoros). Andere Namen spielen auf den diesen Frauen attestierten Liebreiz und ihre Schönheit an. Ähnliche und zum Teil dieselben Namen finden sich als Beischriften von Vasenbildern, welche Männer und Frauen beim gemeinschaftlichen Gelage abbilden.15 Diese frühesten Zeugnisse für das Hetärentum gewähren Aufschluss darüber, dass der traditionelle Rahmen für Bekanntschaften dieser Art das Symposion war, eine Form des geselligen Trinkens, die seit der archaischen Zeit gerade Männer der Oberschicht pflegten. Das Symposion erfüllte unterschiedliche Funktionen: Es diente z.B. zur Pflege von Freundschaften, zur Identitätsstiftung einer Gruppe, die sich durch gemeinsame Werte und einen elitären Lebensstil verbunden fühlte. In den geselligen Zusammenkünften huldigte man dem Weingott Dionysos; die Trinkenden gaben sich einem allgemeinen Sinnenrausch hin und gelangten auf diese Weise in eine andere Welt, jenseits des Alltags. Im Grunde waren Symposien Männerrunden, doch zur Unterhaltung der Zecher durften auch Frauen beitragen. Bei diesen handelt es sich nicht um die Ehefrauen oder Töchter der aristokratischen Symposiasten, sondern um Fremde oder Sklavinnen. Der erotische Umgang mit solchen Frauen anlässlich der Symposien ist fester Bestandteil der Symposionslyrik, z.B. der Distichon-Dichtung des Mimnermos oder des Theognis von Megara. Auch in der Einzellieddichtung des Anakreon von Teos werden des Öfteren Frauen erwähnt. Die in der Symposionslyrik besungenen erotischen Beziehungen zwischen Männern 15 | Dazu ausführlich Elke Hartmann: Heirat, Hetärentum und Konkubinat im klassischen Athen (= Campus Historische Studien Bd. 30), Frankfurt am Main/New York 2002, S. 142ff.
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und Frauen wurden während des Symposions eingeleitet; die Werbung um die begehrten Personen ist ein zentrales Anliegen vieler Lieder. Anakreon äußert in einem Lied, dass der Gott Eros selbst ihn dazu antreibe, mit einem Mädchen »Spiele zu spielen«; seine Liebeswerbung lebt vom Auf und Ab der Annäherung und koketten Zurückweisung und – da vieles nur in Anspielungen zum Ausdruck kommt – von subtiler Erotik.16 Nur in wenigen Texten werden hingegen explizit sexuelle Handlungen benannt. In der Regel bedienen sich die Dichter einer verhüllenden Sprache, und es bleibt weitgehend offen, ob der Bankettraum selbst Ort der angeführten sexuellen Handlungen war. Bereits ein Fragment des Dichters Mimnermos von Kolophon, der in der zweiten Hälfte der 7. Jh.s lebte, gibt Aufschluss über den Charakter der erotischen Verbindungen, welche die Symposiasten sowohl mit Männern als auch mit Frauen eingingen.17 Der Dichter preist hier aus der Perspektive eines alternden Liebhabers ein Leben der aphrodisischen Lust und beklagt gleichzeitig den unausweichlichen Verfall erotischer Attraktivität im Alter:18 Zu den schönsten Dingen des Lebens zählt er die »verborgene Liebe (kryptadie philotes), süße Gaben (dora) und das Beieinanderliegen (eune)«, die in der Jugend Männer und Frauen erfreuen. Das Alter bereite diesen Freuden ein jähes Ende: Es mache den alten Mann hässlich, so dass er den Knaben verhasst, den Frauen verachtenswert sei. Für die erotischen Verbindungen, welche Aphrodite gewährt, verwendet er den Ausdruck philotes, einen Terminus, mit dem im Epos allgemein Bindungsverhältnisse bezeichnet werden, die – wie WagnerHasel zeigt – »nicht qua Geburt oder Konvention bestehen, sondern über ein bestimmtes Ritual erst gestiftet werden«. Häufig handelt es sich dabei um Bindungsverhältnisse zwischen Mann und Frau, die durch die geschlechtliche Vereinigung begründet werden.19 Auch Mimnermos bezieht in der oben referierten Elegie diesen Freundschaftsterminus auf erotische Verbindungen zwischen Männern und Frauen, in denen – analog zu den ebenfalls mit philotes bezeichneten Männerfreundschaften – Geschenke (»süße Gaben«) ausgetauscht werden. Mit dargebrachten Geschenken wurde um die Gunst der begehrten Person geworben, ein erotisches
16 | Vgl. Anakr. fr 358 PMG. 17 | Dass die erotische Verbindung eines Mannes zu einer Frau häufig in einem Atemzug mit der Liebe zu einem begehrten Knaben genannt wird, ist ein gemeinsames Charakteristikum der gesamten Symposionslyrik: vgl. Thgn. 723-24 IEG. Dass die Verbindung von Knaben- und Frauenliebe im Kontext des Symposions ein Topos war (Leslie Kurke: »Inventing the Hetaira: Sex, Politics and Discursive Conflict in Archaic Greece«, in: Classical Antiquity 18/1 [1997] S. 106-154, hier: S. 117), bezeugt auch Aristoph. Nub. 1073. Zu päderastischen Liebesverhältnissen bei Anakreon: Anakr. fr. 357 PMG; fr. 359 PMG. 18 | Vgl. Mimn. fr. 1 West. 19 | Vgl. Beate Wagner-Hasel: Der Stoff der Gaben, Kultur und Politik des Schenkens und Tauschens im archaischen Griechenland, Frankfurt am Main/New York/Paris 2000, S. 122f. Zur philotes zwischen Liebenden: ebd., S. 125ff.
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48 | Elke Hartmann Verhältnis angebahnt oder bestärkt. Diese Vorstellung des Austausches von Geschenken sollte auch für das Hetärentum in klassischer Zeit bedeutend bleiben. Auch auf korinthischen und attischen Vasenbildern sind seit dem 6. Jh. v. Chr. die Begleiterinnen der beim Symposion liegenden Männer abgebildet. Diese Bilder stellen vorwiegend die Schönheit der Hetären und ihr anmutiges Erscheinungsbild in den Vordergrund, sie zeigen die Männer teils als Werbende um die Gunst der Frauen, teils als Liebhaber. Obgleich die Hetäre und ihr Gönner als Liebespaar dargestellt werden, wird immer deutlich, dass auch die anderen Gelagegäste an der Begegnung Anteil nehmen, sei es als Zuschauer, sei es als werbende Konkurrenten um die Frauen.20 Woran sind Hetären auf den Bildern zu erkennen? Es finden sich auf den Bildern Attribute, die nach Ausweis späterer literarischer Quellen typisch für Hetären sind. Dazu zählen kleine Amulette an Oberarmen und Oberschenkeln, bei denen es sich um magische, glückbringende und übelabwehrende Talismane (phylakteria) handelt.21 Die magischen Praktiken der Hetären werden von Rednern und Philosophen der klassischen Zeit beschrieben. Demnach versuchten Hetären mithilfe verabreichter Liebestränke (Is. 6, 21. Antiph. 1, 17. Dem. 25, 80) und Hexerei (Xen. mem. III, 11, 16ff.) sowie durch das beliebte »Kottabos«-Spiel, bei dem die Neige des Weines durch die Luft geschleudert wird,22 ihre Liebhaber zu gewinnen und zu binden. Auch Vasenbilder bilden diese Praktiken ab, doch können Amulette und »Zauberrädchen« auf den Bildern auch zur Visualisierung der »bezaubernden Wirkung« der Hetären dargestellt werden. Die Gelagebilder veranschaulichen vor allem den gemeinschaftlich erlebten Sinnengenuss während des Symposions, aber auch den elitären Lebensstil der Symposiasten, der durch aufwendige Kleidung und luxuriöses Inventar veranschaulicht wird. Auf einigen Gelagebildern steht der Austausch von Sinnlichkeit zwischen der Hetäre und ihrem Liebhaber im Mittelpunkt. Es wird gezeigt, wie Männer sich intensiv ihren Partnerinnen zuwenden, indem zum Beispiel der Blickkontakt besonders herausgestellt wird. Bereits in der archaischen Dichtung ist die Auffassung verbreitet, dass gerade aus den Augen eines Menschen charis (Anmut) hervorstrahlt, die im Gegenüber Verlangen erweckt.23 Der Austausch von Sinnlichkeit steht bei dieser Darstellung im Vordergrund, die Frauen erscheinen als Partnerinnen im Liebesspiel. Es gibt andere Gelagebilder, die drastische Szenen gewaltsamer Kopulation zeigen, die manchmal mit Darstellungen subtiler Erotik auf demselben Bildträger kontras-
20 | Zum Bildmaterial: Ingrid Peschel: Die Hetäre bei Symposion und Komos, Frankfurt am Main/Bern/New York 1987. C. Reinsberg: Ehe, Hetärentum und Knabenliebe im antiken Griechenland. 21 | Vgl. I. Peschel: Die Hetäre bei Symposion und Kosmos, S. 70. 22 | Zu diesem Spiel ausführlich und mit Hinweisen auf literarische und weitere archäologische Quellen: Francois Lissarague: Un flot d’image, Pour une esthétique du banquet grec, Paris 1987, S. 78ff. 23 | Dazu E. Hartmann: Heirat, Hetärentum und Konkubinat im klassischen Athen, S. 170.
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tiert werden.24 Es wäre denkbar, dass es sich bei Bildern dieser Art um pornographische Darstellungen handelt, die einen besonderen Kontrast zwischen Anmut und Derbheit, zwischen gemäßigter Erotik und gewaltvoller Sexualität herzustellen suchen. Der kurze Blick auf die Ursprünge des Hetärenwesens in der archaischen Zeit hat gezeigt, dass das Hetärentum seine Wurzeln in der aristokratischen Gelagekultur hat. Anlässlich der Gelage präsentierten sich die Aristokraten mit ihren Gespielinnen, denen auch der Rang von Statussymbolen zukam. Das Verhältnis zu einer Hetäre wurde mit der allgemein üblichen Terminologie für Bindung/Freundschaft beschrieben, die ein wechselseitiges Geben und Nehmen implizierte.
Das Hetärenwesen im klassischen Athen Obwohl die Bankettkultur ursprünglich in der archaischen Zeit mit einem aristokratischen Lebensstil einherging, verlor sie während der Demokratie im 5. Jh. v. Chr. nicht ihre Bedeutung. Dies bestätigen neben literarischen Zeugnissen die attischen Vasenbilder. Nicht alle Frauen, die auf einem Symposion zur Zeit der Demokratie in Erscheinung traten, wären indes von einem antiken Hetärenliebhaber mit der Bezeichnung »Gefährtin« bedacht worden. In klassischer Zeit gab es nachweislich eine große Zahl von »Unterhaltungskünstlerinnen«, die zum professionellen Amüsement der Gelagegäste von den Athenern für Geld für einzelne Abende engagiert wurden. Diese Frauen stießen erst in die Runde, wenn das Essen bereits abgeschlossen war (Plat. symp. 176 e) und der gemeinsame Umtrunk begann, sie spielten Flöte und »Kithara«, tanzten oder jonglierten, führten Pantomimen oder akrobatische Kunststücke vor (Xen. symp. II 11). Ihre Aufgabe war es, die Gäste durch ihre künstlerischen Darbietungen zu animieren und durch Küsse und intime Berührungen erotisch zu stimulieren. Da es üblich war, dass jeder Gast zum Symposion etwas zu Essen oder Wein mitbrachte, ist es vorstellbar, dass auch eine Tänzerin, die der Gemeinschaft der Gäste ihre Talente zur Schau stellte, aus gemeinsamer Kasse bezahlt wurde. Dass auch den weniger Begüterten von Seiten der Polis das Engagement solcher Künstlerinnen garantiert wurde, belegt eine Passage in der pseudo-aristotelischen Abhandlung über die Verfassung Athens, wo die Pflicht der Stadtaufseher (astynomoi) erwähnt wird, darauf zu achten, »[…] dass die Flöten-, Harfen- und Kitharaspielerinnen nicht für mehr als zwei Drachmen gemietet werden, und falls mehrere sich um dieselbe Musikerin bemühen, losen sie und vermieten sie dem Gewinner«.25
24 | Vgl. ebd., S. 155f. 25 | Ath. pol. 50, 2 (Ü.: Dreher). Die »Athenaion politeia« gibt im Anschluss an einen historisch-entwickelnden Teil eine zusammenfassende Darstellung der staatlichen Einrichtungen Athens, in diesem Zusammenhang kommt der Autor auf das Amt der As-
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50 | Elke Hartmann Mit dieser Höchstpreisbestimmung, die Wucherpreise verhindern sollte, sorgte die Polis dafür, dass diese Form der Unterhaltung für breitere Schichten erschwinglich blieb.26 Die Erwähnung des Losverfahrens im Falle konkurrierender Bewerber bekräftigt, wie »demokratisch« die Vermietung der Unterhaltungskünstlerinnen geregelt war. Die Polis hielt die Versorgung der Bevölkerung mit »Musikerinnen« für essentiell; außer dem Preis für Symposionskünstlerinnen war in Athen lediglich der für Korn, Mehl und Brot »staatlicher« Kontrolle unterworfen!27 Die von einer Hetäre erwarteten Dienstleistungen entsprachen zwar etwa denen der Unterhaltungskünstlerinnen, wurden jedoch als exklusiver wahrgenommen, denn eine Hetäre begleitete einen Gast zum Gelage (Ps.-Plut. Mor. 644 cd), nahm manchmal sogar bereits am Mahl teil und lagerte während des Festes neben ihrem Partner auf dem Speisesofa, war ihm also als »seine Hetäre« zugeordnet (Ps.-Dem. 59, 48; 30). In der Regel wird im antiken Schrifttum eine Frau gerade dann hetaira genannt, wenn die Verbindung eines Mannes zu ihr herausgestellt werden soll, die eine andere Dimension aufweist als das bloße Betrachten oder Berühren einer Tänzerin oder der Verkehr mit einer Bordellprostituierten. Hetaira – so zeigt sich jedoch – ist kein eng definierter oder gar juristischer Terminus. Dass bei Herodot um die Mitte des 5. Jh.s der Terminus hetaira zum ersten Mal fassbar ist (Hdt. II 134, 1ff.), hat sicher seine Gründe. Wahrscheinlich wurde es erst notwendig, die Besonderheit der »Hetäre« zu benennen, als sich gerade in Athen im 5. Jh. die Schicht jener Männer verbreiterte, die dem Lebensstil der aristokratischen Symposiasten der archaischen Zeit nacheiferten. Da jeder Beliebige eine Flötenspielerin mieten und eine Bordellprostituierte für ihre Liebesdienste bezahlen konnte, musste die Besonderheit jener Gefährtinnen, welche die ehrwürdigen Konventionen des aristokratischen Umgangs beherrschten, eigens herausgestellt werden. So »erfand« man die Hetäre, um sie von den anderen Frauen abzusetzen,28 die vielfältige und teilweise ähnliche Dienstleistungen wie die elitären Symposionbegleiterinnen anboten. Eine strikte Unterscheidung zwischen Unterhaltungskünstlerinnen, Hetären und Prostituierten anhand soziologischer Kriterien ist jedoch nicht immer möglich; denn die Benennung als »Gefährtin«, »Musikerin« oder »Hure« erfolgt lediglich aus unterschiedlicher Perspektive: Soll die soziale Beziehung eines Mannes zu einer Frau betont werden, nennt man sie »Hetäre«; soll ihr musikalisches Talent austynomen zu sprechen, die für die Aufsicht über die Vermietung von Flötenspielerinnen zuständig sind. 26 | Zum Vergleich: Die Bauarbeiter, die im späten 5. Jh. an einem Tempel auf der Akropolis arbeiteten, verdienten nach Aussage einer Inschrift eine Drachme pro Tag (IG I 2 374, 404-17). Auch Thukydides erwähnt, dass die Matrosen Ende des 5. Jh.s eine Drachme pro Tag verdienten (Thuk. VI 31, 3). Es ist durchaus wahrscheinlich, dass eine Symposionsrunde sich die Kosten für die Anmietung einer Unterhaltungskünstlerin geteilt hat. 27 | Vgl. Ath. pol. 51. 3. 28 | Ein Versuch, die Besonderheit der Hetären herauszustellen, findet sich bei Anaxilas Neottis fr. 21 PCG (= Athen. deipn. XIII 572 b).
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gewiesen werden, wird sie als »Kitharaspielerin« bezeichnet; wird ihr unterstellt, dass sie gegen Geld sexuell verfügbar ist, wird sie porne genannt. Hetären, Musikantinnen und Prostituierte rekrutierten sich grundsätzlich aus demselben Personenkreis. Viele Hetären waren Sklavinnen, die von ihren Besitzerinnen bzw. Besitzern bereits als Mädchen gezwungen wurden, sich mit Männern einzulassen. Die Besitzer der Sklavinnen waren gleichzeitig »Kuppler«29, die die Kontakte zu »Kunden« vermittelten. Andere Hetären waren von Geburt an freie Frauen – in Athen lebten sie in der Regel als Fremde oder Metökinnen (d.h. dauernd in Athen ansässige Fremde) (Andok. 4, 14. Xen. mem. III, 11). Sie lebten allein oder zu mehreren. Mit Kleidern, Schmuck, Wohnungen oder Sklavinnen wurden sie von ihren Liebhabern versorgt (Dem. 59, 35). Allerdings überliefern einige Autoren, dass zahlreiche Hetären im Alter verarmten (z.B. über die berühmte Laïs: Athen. deipn. XIII 570 Bff.).
Anmutiger Umgang Was nun eigentlich den Umgang mit einer Hetäre auszeichnete, soll im Folgenden ausführlich erörtert werden. Dass Hetären sich sexuell mit ihren Liebhabern einließen und sie dies besonders attraktiv machte, gilt in der Forschung als unbestritten.30 Um so erstaunlicher ist es, dass Sex mit Hetären – sieht man von den einschlägigen Vasenbildern einmal ab – in den literarischen Quellen nur selten thematisiert wird. Der Mangel an Quellen über sexuellen Verkehr von Hetären und ihren Liebhabern während des Symposions legt den Schluss nahe, dass Sex tabuisiert war. Dies offenbart sich auch in der Terminologie, die für den Umgang von Hetären und Liebhabern verwandt wird. Obwohl das Griechische über sehr viele Ausdrücke für die sexuelle Vereinigung verfügt – darunter viele metaphorische, umgangssprachliche und auch vulgäre31 – dominiert in den Gerichtsreden eine verschleiernde Terminologie: Wenn davon die Rede ist, dass ein Mann sexuellen Umgang mit einer Hetäre pflegte, wird das Verb plesiadzein verwendet, das ursprünglich »sich nähern, sich nahe kommen« bedeutet und in seiner Grundbedeutung den sexuellen Akt allenfalls andeutet.32 Angesichts der literarischen Überlieferung ist zu bezweifeln, dass es üblicherweise noch während eines Symposions dazu kam, »dass man entweder paarweise der Liebe frönte oder die allgemeine erotische Spannung in einer alles mitreißenden
29 | Der gängige Ausdruck für Kuppler ist »mastropos«, für Frauen wird auch die Bezeichnung »promnestris« verwendet. 30 | Vgl. C. Reinsberg: Ehe, Hetärentum und Knabenliebe im antiken Griechenland, und H. Licht: Sittengeschichte, passim. 31 | Vgl. David M. Bain: »Six Verbs of Sexual Congress«, in: Classical Quarterly 41 (1991), S. 51-77. Jeffrey Henderson: The maculate Muse, New Haven 1975. 32 | Vgl. Ps.-Dem. 59, 67. Dem. 40, 27. Ebenso wird auch das Verb »syneinai« »zusammensein« verwendet. Wenn das Wort »chreiai« für den sexuellen Verkehr benutzt wird, so drückt es den Anspruch des Besitzers gegenüber einer Sklavin aus: Lys. 4, 1.
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52 | Elke Hartmann Massenorgie aufging«33, wie Reinsberg aufgrund expliziter Kopulationsszenen auf Vasenbildern gefolgert hat. Vermutlich suchte derjenige, der mit seiner Hetäre verkehren wollte, andere Örtlichkeiten auf, wahrscheinlich in der Regel die Unterkunft der Hetäre. Neben den bereits erwähnten musikalischen oder tänzerischen Fähigkeiten, die eine Hetäre auszeichneten, gehörte es zu ihrer Aufgabe, die Gäste zu necken oder ihnen zu schmeicheln34 und amüsante Bemerkungen in das Gespräch einzubringen. Einigen Hetären wurde ein gehobenes Bildungsniveau attestiert, das bei den antiken Autoren anerkennendes Erstaunen hervorrief. Der Poikilograph Athenaios zitiert viele Beispiele für die intelligente Schlagfertigkeit und die literarische Bildung von Hetären in seinem »Gelehrtenmahl«, wobei er sich auf unterschiedliche antike Autoren beruft: Was die Frauen auszeichnet, ist vor allem der spontane Wortwitz und ein Repertoire an Zitaten der zeitgenössischen Literatur. Es ist durchaus vorstellbar, dass Hetären gezielt dazu ausgebildet wurden, geistreiche Bemerkungen – unter anderem in Form von Zitaten – in ein Gespräch einfließen zu lassen, um so ihr Gegenüber auf niveauvolle Weise unterhalten und amüsieren zu können. Ein besonders beliebter Zeitvertreib beim Gelage waren seit alter Zeit Rätsel (griphoi), die auf unterschiedlichem Niveau aufgegeben werden konnten und sowohl geistreichen, lustigen oder obszönen Inhaltes sein konnten. Besonders geschickte Erfinder von Rätseln kleideten sie noch in Verse. In der Mittleren Komödie werden wiederholt Beispiele der von den Hetären anlässlich der Symposien aufgegebenen Rätsel zitiert, mit denen sie zur Unterhaltung ihrer Zechgenossen beitrugen. Diese Rätsel sind von sexuellen Anspielungen sowie Zweideutigkeiten geprägt und das Rätselraten gab den Anlass für Trinkspiele und erotische Annäherungen. In der Komödie »Das Küken« des Anaxilas lässt sich ein Gelageteilnehmer über die rätselhafte Sprache der Hetären aus und vergleicht sie vor diesem Hintergrund mit der thebanischen Sphinx. Seine Warnung, sich von den Begehren vorspiegelnden, betörenden Worten der Hetären nicht einlullen zu lassen, zeigt, dass die Rätselkunst zur professionellen Animation der Hetären gegenüber ihren Verehrern gehörte und ihre Wirkung mitunter nicht verfehlte. »Und all diese Huren können als thebanische Sphinx bezeichnet werden; nichts von dem, was sie vor sich hinplappern, ist klar und deutlich, sondern es wird ganz und gar in Rätseln gesprochen, davon wie sie es lieben ›zu lieben‹, ›Freundinnen zu sein‹ und mit ›jemandem zu gehen‹. Und dann heißt es: ›Wenn ich nur etwas mit vier Beinen haben könnte […] einen Stuhl vielleicht.‹ Und dann: ›Wie wäre es mit einem Dreifuß?‹ Und dann ›eine Dienerin, mit zwei Beinen‹. An diesem Punkt macht man sich, gerade wie Ödipus, am besten davon, wenn man kapiert hat, was gespielt wird, und gibt vor, sie nicht 33 | C. Reinsberg: Ehe, Hetärentum und Knabenliebe in antiken Griechenland, S. 99. 34 | Vgl. zu Schmeichelei: Hes. erg. 372-374. Vgl. auch Men. Epitrepontes fr. 7 Sandbach (= fr. 566 Kock): »Schwer ist, o Pamphile, für eine freie Frau der Kampf mit einer Dirne. Hat sie doch mehr List, mehr Wissen, schämt sich nicht und schmeichelt mehr!« (Ü.: Goldschmidt).
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»Hetären für die Lust?« Zum Hetärenwesen im klassischen Athen | 53 einmal gesehen zu haben. Das braucht ein wenig Überwindung, aber zumindest ist man in Sicherheit. Jene aber, die dem Glauben verfallen, die Frauen wären in sie verliebt, verlieren den Boden unter den Füßen; sie werden hinweggefegt und hoch in die Lüfte gewirbelt.«35
Der Komödienschreiber greift hier das bekannte thebanische Rätsel vom Menschen als Vier-, Zwei- und Dreibeiner auf. Gleichzeitig persifliert er die euphemistischen Ausdrucksweisen, in welche die Hetären ihre Dienstleistungen und materiellen Forderungen kleideten, die sich zunächst mit einem Stuhl zufrieden geben, dann einen Dreifuß wünschen und schließlich eine eigene Sklavin fordern. Eine wahre Hetäre pflegte mit ihrem Liebhaber »anmutigen Umgang«, wie es Christian Meier treffend formuliert hat.36 Was ist darunter zu verstehen? Zunächst ist festzuhalten, dass eine Hetäre nicht ganz leicht zu haben war, sondern erobert werden musste. Dieses »Spiel« gehörte zum Umgang mit einer Hetäre und es hatte zum Ziel, ihren Reiz zu erhöhen.37 In einer Komödie des Timokles wird dieser Sachverhalt umrissen, indem ein Liebhaber den Unterschied zwischen einer Hure und einer Hetäre herausstellt, die hier schlicht »Mädchen« genannt wird:38 »Was für ein Unterschied, eine Nacht mit einer Straßengängerin zu verbringen oder mit einem Mädchen (koriske). […] Dass sie nicht gleich zu allem bereit sind, sondern dass man ein wenig kämpfen muss, von lieblichen Händen ein bisschen geschlagen und geknufft wird; ein großes Vergnügen, beim Zeus, das größte!«
Im selben Atemzug preist der Liebhaber den Körper, den schönen Teint dieses Mädchens – kurz: ihre Schönheit.39 Die renommierten Hetären werden in vielen Quellen gerade für ihre Schönheit gerühmt, wobei es sich zweifellos um einen Topos handelt, der jedoch für die Wahrnehmung der Hetären in der Gesellschaft Athens aufschlussreich ist.40 Der Wert einer schönen Frau wurde durch seltene Verfügbarkeit noch gesteigert. Je schwerer ihre Gunst zu erlangen war, desto höher der Aufwand, den man zu betreiben geneigt war, desto größer 35 | Alexis: Neottis, fr. 22 PCG (= Athen. deipn. XIII 558 a-e, hier: d [Ü.: nach J. N. Davidson: Kurtisanen und Meeresfrüchte, S. 237]). Bezeichnenderweise nennt der Sprecher in seiner Entrüstung über den »falschen Zauber« die Frauen »Huren«, obwohl ganz klar ist, dass er eigentlich von den sog. »Gefährtinnen« spricht. Dies ist wiederum bezeichnend für die schwankende Terminologie im Griechischen, die, wie bereits oben ausgeführt, je nach der Haltung des Sprechers gewählt wird. 36 | Vgl. Christian Meier: Politik und Anmut, Berlin 1985, S. 52. 37 | In ähnlicher Weise wurde von einem begehrten Knaben erwartet, dass er sich zierte und erst erobert werden musste: vgl. Plat. Symp. 184 a-b. 38 | Vgl. Timokles bei Athen. deipn. XIII 570 f – 571 a (= Timokles fr. 24 PCG) (Ü.: nach J. N. Davidson: Kurtisanen und Meeresfrüchte, S. 150 modifiziert). 39 | Vgl. Timokles fr. 24 PCG. 40 | Zur herausragenden Schönheit der Hetäre Laïs: Hyp. bei Athen. deipn. XIII 587 c-d.
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54 | Elke Hartmann war auch der Ehrgeiz eines jeden Liebhabers, gerade diese Hetäre für sich zu gewinnen. Ebenso wenig wie ihre Verfügbarkeit ad hoc erwartet werden konnte, wurde auch die Schönheit der Hetären offen zu Markte getragen. Dies betont James Davidson mit Nachdruck: »Was also ihre Sichtbarkeit betrifft, stehen die großen Hetären den Ehefrauen näher als den pornai, die auf den Straßen verkehren und in den Bordellen sitzen. […] Auf Hetären kann, wie auf verheiratete Frauen, bei Feierlichkeiten wie den Mysterien von Eleusis oder den Poseidonien und beim Gang zum Brunnen ein Blick geworfen werden. Wenn sie aus der Türe treten, sind sie verhüllt, doch gerade bei solchen Gelegenheiten wird die Phantasie von dem, was unter den Kleidern verborgen ist, angeregt.«41
Kein Wunder also, dass bei der Verschwörung in Theben, von der Xenophon berichtet, niemand Verdacht schöpfte, als verhüllte Hetären beim Symposion eintrafen: Erst als sie ihre Gesichter entschleierten, wurde offenbar, dass sich männliche Verschwörer hinter den Tüchern verbargen.42 Die im antiken Schrifttum oft gepriesene Schönheit der Hetären wurde vor allem als das Resultat geschickter Verhüllung, aufwendiger Kleider, prächtigen Schmuckes, guter Manieren und eleganter Bewegungen wahrgenommen. Die Hetäre Nannion hatte angeblich den Spitznamen Proskenion (Bühnenbild), »weil sie trotz ihrer vornehmen Erscheinung, ihres Goldschmucks und der teuren Kleidung ohne Kleidung potthässlich war«.43 Aber die Schönheit der Hetären war mehr als ein äußerliches Wesensmerkmal. Dem Ideal nach bestimmte »Charis« – nur unzureichend mit Anmut zu übersetzen – ihre Form des sozialen Umgangs und Miteinander-Handelns als einen steten Wechsel von Geben und Nehmen. Konkret kann auch die von den Hetären gewährte Gunst als charis verstanden werden. Denn charis kann im antiken Sprachgebrauch auch den Liebesdienst meinen, den eine Frau einem Mann gewährt.44 Mit der Verwendung des Terminus ist eine Gegenseitigkeit des Gebens und Nehmen impliziert, die Christian Meier treffend herausstellt: »Das Wort charis gehört mit weiten Bedeutungsstreifen in die Welt des frühen Gabentauschs. Es umfasst in interessanter Weise das Gewähren, die Gunst samt einzelnen Gaben und Gefälligkeiten wie Dankbarkeit, welche man dafür schuldet. Es meint den ganzen Bereich von Großzügigkeit, Zuvorkommen und Gegenseitigkeit sowie den gefälligen, artigen, anmutigen Modus, in dem Gebende und Nehmende sich darin begegnen sollen. Wir haben kein deutsches Pendant dafür, aber es muss mit charis im Kern etwa Gefallen/Gefälligkeit ausgedrückt sein: die man erweist, erregt, erwidert […]; freiwillig und mit Überschüssen über das Notwendige hinaus; allerdings nicht ohne Verbindlichkeit, ja Verpflichtung, im Dienst auch der eigenen Überlegenheit; jedoch auch dann noch in einer 41 | J. N. Davidson: Kurtisanen und Meeresfrüchte, S. 156f. 42 | Xen. Hell. V 4, 4ff. Dazu J. N. Davidson: Kurtisanen, S. 157. 43 | Antiphanes: Über Hetären, bei Athen. deipn. XIII 587 b (= FGrHist 349 F 2a) (Ü.: Friedrich); vgl. auch Harpokr. s.v.: Nannion. 44 | B. Wagner-Hasel: Der Stoff der Gaben, S. 151.
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»Hetären für die Lust?« Zum Hetärenwesen im klassischen Athen | 55 Zwischenzone von Gebundenheit und Freiheit, die durch Anmut freundlicher wird (auch wenn das unter anderen Auspizien als Heuchelei erscheinen mag).«45
Die enge Verbindung von Schönheit, Anmut, Liebesdienst und Gefälligkeit ist Gegenstand einer fiktiven Unterhaltung des Sokrates mit der Hetäre Theodote in Xenophons »Memorabilien«. Ausgangspunkt des Gespräches ist die Überlegung, wer den größeren Gewinn aus der Schönheit zieht: die schöne Person oder ihr Betrachter. Zunächst wirft Sokrates einen kritischen Blick auf die Kostbarkeiten, die sich im Haus der Theodote befinden und befragt sie in vorgespielter Naivität nach ihren Einkünften. Theodote betont, dass sie alles, was sie habe, von Freunden bekommen habe: »Wenn jemand, der mein Freund geworden ist (philos moi genomenos), mir etwas zukommen lassen (eu poiein) will, davon lebe ich.«46
Die Hetäre bedient sich der Freundschaftsterminologie. Von Bezahlung ist hier keine Rede, doch Sokrates versteht sofort, dass die Hetäre selbstverständlich von ihren Freunden für ihre »Gaben« (Xen. mem. III 11, 14) auch eine Gegengabe erwartet. Am Begriff der Freundschaft knüpft Sokrates nun an: Indem er der Hetäre erklärt, mit welchen Mitteln sie ihre Freunde gewinnen kann, lenkt er ab von den körperlichen Reizen der Schönen und legt ihr zudem seelische Schönheit ans Herz, die sich in anmutigen Blicken, erfreulichen Worten, Freundlichkeit, Fürsorge, Mitgefühl und Ergebenheit äußert (Xen. mem. III 11, 6; 10). Somit überführt Sokrates die Hetäre, indem er sie beim Wort nimmt und von ihr, die ihre Kunden euphemistisch ihre Freunde nennt, selbst wahre Freundschaft fordert. Ziel des Sokrates ist es, den am Gewinn glänzender Dinge orientierten Freundschaftsbegriff der Hetäre in einen ideellen umzuformen, der in eine Ethik von Geben und Nehmen eingebettet ist. Theodote muss – von Sokrates rhetorisch umzingelt – letztlich gestehen, dass sie selbst es ist, die den größeren Nutzen (ophelia) daraus zieht, von ihren Verehrern betrachtet zu werden: Denn das Lob, das ihre Bewunderer über ihre Schönheit weiterverbreiten, gereiche ihr zum Nutzen, während ihre Verehrer mit ihrer unerfüllten Sehnsucht (epithymia) zurückgelassen werden (Xen. Mem. III 11, 3). Also sei sie ihren Bewunderern gegenüber zu Dank verpflichtet. Im Anschluss gibt Sokrates der Theodote konkrete Empfehlungen, wie sie ihren geschuldeten Dank (charis) zum Ausdruck bringen, ihren Verehrern eine Gunst erweisen kann (charizomai). Im Gespräch des Philosophen mit Theodote werden nun auffälligerweise »Anspielungen auf Kunden, Preise, Bezahlung und Sex […] sorgfältig vermieden«.47 Die Episode der Begegnung des Sokrates mit der Hetäre focussiert ein heikles Thema im Verhältnis von Hetären und Liebhabern – den schönen
45 | C. Meier: Politik und Anmut, S. 29f. 46 | Xen. mem. III 11, 4. (Ü.: Jaerisch). 47 | J. N. Davidson: Kurtisanen und Meeresfrüchte, S. 144.
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56 | Elke Hartmann Schein der Freundschaft und des Austausches von Gefälligkeiten.48 Exemplarisch sei hier auf zwei Stellen verwiesen, die dies veranschaulichen. 1) In der Komödie »Die Thesmophoriazusen« des Aristophanes flehen die versammelten Athenerinnen die Götter an, Verderben über solche Frauen zu bringen, die sich in ihren Augen schlecht verhalten und erwähnen in diesem Zusammenhang auch die Hetären, die Geschenke annehmen und dennoch »den Freund (philos) im Stich lassen«.49 Offenbar beneiden die Bürgerfrauen die Hetären um die teuren Geschenke, die sie von den Männern bekommen. Die kurze Erwähnung bezeugt, dass die Beziehung zu einer Hetäre als Freundschaft angesehen wird, die materielle »Entlohnung« wird als Geschenk aufgefasst, nicht als Bezahlung. 2) Besonders deutlich wird dies auch in einer Passage bei Anaxilas, in der die Eigenschaften einer Hetäre benannt werden: »Wenn aber eine, die sich hinsichtlich der Güter (chremata) mäßig verhält, denen, die sie darum bitten, aus Gunst (charis) bestimmte Dienste erweist, wird sie aufgrund der Freundschaft (hetairia) als Hetäre bezeichnet.«50
Die Zurückhaltung im Hinblick auf die ihr zugedachten Güter sowie das freiwillige Gewähren von Diensten charakterisieren das Verhältnis zu der Hetäre als Freundschaftsverhältnis, indem der Terminus zur Bezeichnung einer Freundschaft unter Männern (hetairia) auf das Verhältnis zur Hetäre übertragen wird und gleichsam als etymologische Erklärung für ihre Benennung dient. In den angeführten Zeugnissen tritt die Charakterisierung der Hetären als »Freundinnen« deutlich hervor, deren Annahme von materiellen Dingen dem innerhalb von Freundschaftsbeziehungen üblichen Austausch von Gaben entspricht und nicht als Bezahlung sexueller Dienstleistungen von Prostituierten wahrgenommen wird. Über den konkreten Aufwand für ein Verhältnis zu einer freien Hetäre finden sich in den Quellen wenige Hinweise, die allerdings zum Teil den Phantasien römischer Autoren der Kaiserzeit über die »großen Hetären« der klassischen Zeit entstammen und daher nicht immer »für bare Münze« zu nehmen sind.51 In den Quellen werden unterschiedliche Geldsummen genannt, die für die Leistungen der Hetären aufzubringen waren. Sie umfassen ein Spektrum von drei Obolen pro Besuch bei einer Hetäre, deren Stern bereits gesunken war,52 48 | Vgl. die ebd. S. 144ff. angeführten Beispiele. 49 | Aristoph. Thesm. 346. 50 | Anaxilas: Neottis, fr. 21 PCG (= Athen. deipn. XIII 572 b) (Ü.: Verf.). 51 | Verschiedene Preisangaben finden sich auch in den Hetärengesprächen Lukians: Luk. dial. mer. XI 1: fünf Drachmen pro Nacht. VIII 2 f: fünf bis zehn Drachmen. VI 1: eine Mine (= 100 Drachmen) für den ersten Besuch mit Entjungferung; VIII: 6000 Drachmen in acht Monaten. 52 | Xenarchos Pentathlos wird bei Athen. deipn. XIII 570 d (= fr. 4 PCG) mit der Äußerung zitiert, dass die berühmte Hetäre Laïs früher schwer zu bekommen gewesen sei, sich im Alter jedoch Jung und Alt für einen Stater oder drei Obolen zur Verfügung
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bis zu tausend Drachmen für eine Nacht, die die berühmte Hetäre Gnathaina für eine Nacht mit ihrer Tochter von einem fremden Aristokraten angesichts dessen prachtvollen Auftretens in Purpurrobe verlangt. Auf das Entsetzen des Fremden hin, räumt Gnathaina ein:53 »Gib, wie viel du willst, mein Väterchen, ich weiß ganz genau und bin auch überzeugt, dass du zur Nacht da meinem Mädchen ein Doppeltes gewährst.«
Die Anekdote veranschaulicht, wie wenig festgelegt der nötige Aufwand war, mit dem eine Hetäre gewonnen werden konnte und in welchem Maße der Aufwand vom Verhältnis von Liebhaber und Hetäre abhing. Häufig sprechen die Autoren der klassischen Zeit daher auch ganz allgemein von »sehr kostspieligen Hetären« (megalomisthoi hetairai), ohne den Aufwand in Geldwerten anzugeben.54 Bei der Entlohnung der Hetären standen nicht konkrete Summen Geldes im Vordergrund, sondern die Ansprüche der Hetäre, die es zu befriedigen galt. Geld scheint dabei nicht im Vordergrund gestanden zu haben; die »Entlohnung« konnte auch in Form von Kleidern, Schmuck, Luxusgütern, Immobilien oder Sklavinnen55 erfolgen. Die der Hetäre gewährten Güter galten als ihr Eigentum, das niemand von ihr zurückfordern oder ihr wegnehmen durfte.56 Virginia Hunter betont in diesem Zusammenhang den hohen Stellenwert von Schmuck, der für Hetären, die als ehemalige Sklavinnen, Metökinnen oder Fremde keinen Land- oder Hausbesitz haben durften, als Altersversorgung und finanzielle Absicherung in dem kurzlebigen Beruf diente.57 Das Alter bedeutete für viele Hetären, die keinen ihrer Liebhaber fest an sich binden konnten, den
gestellt habe. Die Hetäre Leme wird als »leicht zu haben« charakterisiert, da sie jedermann für zwei Drachmen besuche (Gorgias bei Athen. deipn. XIII 596 f). Die Hetäre bei Men. Epitr. 136 bekommt zwölf Drachmen pro Tag. Zu den Kosten der Hetären Menanders vgl. die Zusammenstellung bei Martha Krieter-Spiro: Sklaven, Köche und Hetären. Das Dienstpersonal bei Menander. Stellung, Rolle, Komik und Sprache (= Beiträge zur Altertumskunde 93), Stuttgart/Leipzig 1997, S. 45f. 53 | Machon bei Athen. deipn. XIII 581 b über die Hetäre Gnathaina (Ü.: Friedrich). Phryne soll laut Athen. deipn. XIII 583 c hundert Drachmen verlangt haben, wofür bleibt offen. Verschiedene Preisangaben finden sich auch in den Hetärengesprächen Lukians: Luk. dial. mer. XI 1: fünf Drachmen pro Nacht. VIII 2 f: fünf bis zehn Drachmen. VI 1: eine Mine (= 100 Drachmen) für den ersten Besuch mit Entjungferung; VIII: 6000 Drachmen in acht Monaten. 54 | Vgl. z.B. Aischin. 1, 75, wo generell »sehr kostspielige Hetären und Flötenmädchen« genannt werden. 55 | Kleider und Schmuck: Ps.-Dem. 59, 35. Kleid: Athen. deipn. XIII 582 d. Sklavinnen: Alexis fr. 22 PCG. 56 | Ps.-Dem. 59, 46. Vgl. auch die bei Dem. 48, 55. und Men. Sam. 377-82 genannten Geschenke für Hetären. 57 | Vgl. Virginia J. Hunter: Policing Athens: Social Control in the Attic lawsuits 420-350 BC, Princeton 1994, S. 28.
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58 | Elke Hartmann Abstieg in die Armut.58 Einige (z.B. Nikarete) verdienten sich ihren Lebensunterhalt als Kupplerin; andere wurden von ihren Töchtern finanziert.59
Wahre Freundschaft? Die vorangegangene Analyse literarischer Quellen und Vasenbilder hat gezeigt, dass die Athener dazu neigten, ein Verhältnis zu einer Hetäre als freundschaftliches zu charakterisieren, das – ganz im Sinne der Freundschaftsethik der archaischen Zeit – durch den Modus gegenseitigen Gebens und Nehmens bestimmt wurde. Die Hetären waren jenen Männern gefällig, die ihnen im Gegenzug Gaben offerierten. In diesem Zusammenhang wurden soziale Statusunterschiede zwischen Hetären und Liebhabern negiert. Vor allem in Quellen seit der zweiten Hälfte des 5. Jh.s fällt auf, dass jeglicher Anschein eines Kaufgeschäftes zwischen Liebhaber und Hetären ausgeblendet wurde. Zum gehobenen Stil einer Hetäre gehörte es, sich nicht zu verkaufen, sondern als Gefährtin zu gerieren, die ihre Dienste freiwillig und aus Gefälligkeit anbietet. Die Quellen legen den Schluss nahe, dass die Benennung der Hetären als »Gefährtinnen« gerade in der Absicht erfolgte, auf den ideellen Wert dieser Beziehungen zu verweisen und diese von den käuflichen Prostituierten (pornai) abzusetzen.60 Die ironischen Bemerkungen, welche Xenophon in den »Memorabilien« dem Sokrates gegenüber den nur schlecht verbrämten materiellen Interessen der Hetäre Theodote in den Mund legt, zeigt, dass die Inszenierung der »wahren Hetärenfreundschaft« für manche antiken Zeitzeugen kaum mehr als eine Farce war. Dass zwischen Hetären und ihren Liebhabern Statusunterschiede bestanden, dass die Hetären dafür, dass sie Männer begleiteten, sie unterhielten und sich ihnen sexuell zur Verfügung stellten, Geld oder Güter bekamen, also entlohnt wurden, war kaum zu übersehen. Die überlieferten Preisangaben für bestimmte Dienstleistungen seitens der Hetären belegen, dass die Käuflichkeit jener Frauen nicht von der Hand zu weisen war, weswegen Personen, die einer Hetärenliaison kritisch gegenüberstehen und dies beispielsweise vor Gericht kundtun, keinen Unterschied zwischen »käuflichen Huren« und »Hetären« machen.61 Und doch wurden die Hetären von ihren Gönnern in der Welt des Gabentausches verortet und mit der Aura der Freundschaft umgeben und trugen selbst dazu bei, dass dieser Schein gewahrt wurde. Zu welchem Zweck? Die euphemistische Beschreibung des Verhältnisses zu ihren Partnern versüßte den Aufenthalt in der »Welt des Symposions« jenseits des Alltags, in der diese Frau58 | Vgl. Xenarchos bei Athen. deipn. XIII 570 d. 59 | Dass die Tochter einer Hetäre auf dieselbe Weise ihren Lebensunterhalt verdient wie ihre Mutter, ist mehrfach überliefert: Laïs war die Tochter der Hetäre Damasandra (Athen. deipn. XIII 574 e), die Hetäre Korone wurde mit Spitznamen »Großmutter« genannt, weil sie bereits in der dritten Generation als Hetäre tätig war. Ihre Mutter war Nannion (Athen. deipn. XIII 587 b.). 60 | Vgl. Anaxilas bei Athen. deipn. XIII 572 b (= fr. 21 PCG). 61 | Vgl. z.B. Dem. 48, 53 einerseits und 56 andererseits.
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en im Sinne eines Gesellschaftsspiels erobert und getauscht wurden. Die Benennung der Hetären entspricht einer konservativen und elitären Geisteshaltung, welche den aristokratischen Lebensstil der archaischen Zeit wertschätzte und gegenüber einer demokratischen »Gleichmacherei« zu verteidigen wünschte. Die Hetären ihrerseits waren wahrscheinlich Stolz darauf, sich von den käuflichen Huren und Flötenspielerinnen abzusetzen, an elitärem Lebensstil und raffinierten Sitten teilzuhaben und als Prestigeobjekte den jeweiligen Partnern Glanz zu verleihen. Für die Hetären selbst dürfte dies oft nur schöner Schein gewesen sein. Wenn Davidson ausführt, »dass eine Hetäre (anders als eine Prostituierte) entscheiden kann, mit wem sie schläft«, dass sie nicht einfach gekauft wird, sondern »überzeugt« und »verführt« werden muss, so beschreibt er den antiken Diskurs korrekt.62 Im Alltag war es mit der Entscheidungsfreiheit der Hetären vermutlich nicht weit her, stattdessen wurde ihre Wahl der Liebhaber oft durch Not, Abhängigkeit und Gewalt geleitet. Quellenpassagen, in denen Liebhaber über ihre Hetären in Wut geraten, zeigen, wie schnell die schillernde Scheinwelt der »guten Freundschaft« zusammenfallen konnte. Bezeichnend dafür ist die Wut eines Atheners gegenüber seiner Geliebten in Menanders Komödie »Samia«: »Die Mädchen deines Schlages sind gewohnt, zehn Drachmen zu erpressen, Chrysis, frech, sie rennen als Hetären hin und her und sind, wo sie ein Gastmahl wittern, gleich zur Stelle und betrinken sich am ungemischten Weine, bis der Tod sie packt! Sie müssen Hunger leiden, wenn sie nicht gefällig sich erweisen […].«63
Auch wenn in der Welt des Symposions die Fluktuation der Liebhaber zum Gesellschaftsspiel gehörte, so schloss die Promiskuität die Hetäre aus dem Kreis der Bürgerinnen definitiv aus; und auch wenn der im Verhältnis zu dem Gönner niedere Status der Hetäre beim Gelage negiert wurde, so war er doch im alltäglichen Leben nicht zu übersehen. Abschließend sei kurz reflektiert, wie sich das kultivierte Hetärentum mit der Demokratie vertrug. In einem Fragment der Mittleren Komödie wird der im 6. Jh. v. Chr. aktive Reformer Solon, der den Athenern als »Vater der Demokratie« galt, als Begründer des Bordellwesens benannt.64 »Du [Solon] warst es, so heißt es, der von allen Menschen zuerst dies – beim Zeus! – demokratische und rettende Werk getan […]: da du die ganze Stadt voll junger Männer sahst, wie sie sich unter dem Zwang der Natur dorthin verirrten, wo sie nicht hin sollten, kauftest du Frauen und brachtest sie an öffentliche Orte, wo sie nun jedem zur Verfügung stehen.«
62 | J. N. Davidson: Kurtisanen und Meeresfrüchte, S. 148. 63 | Men. Sam. 392 (Ü.: Goldschmidt). 64 | Philemon: Phratres, bei Athen. deipn. XIII 569 Df. (Ü.: Verf.).
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60 | Elke Hartmann Mit komödiantischem Spott wird eine demokratische Politik apostrophiert, die mit Billig-Bordellen den ärmeren Bürgern eine preisgünstige Alternative zu den kostenaufwendigen Hetären der Reichen bieten will. Die Komödie wirft damit die Frage auf, ob die demokratische Polis den Bürgern Athens nicht bloß gleiche Rechte auf die Teilhabe an der Politik, sondern auch ein Anrecht auf einen gefälligen Lebensstil gewährleisten solle, den sich vormals nur die Aristokraten leisten konnten. Ein verbrieftes Anrecht auf stilvollen und erotischen Umgang – unabhängig von Stand, Alter und Geschlecht – blieb im athenischen Alltag freilich Fiktion. Eine »Demokratisierung des Eros« fand nicht statt: Die von der Polis festgelegten Preise für Flötenmädchen hielten die Hetären nicht davon ab, hohe Forderungen an ihre Liebhaber zu stellen. Bordellbesuche konnten kaum einen Ersatz für die Begegnungen mit Hetären bieten; in einer Komödie des Eubulos heißt es, dass der Bordellbesuch sich höchstens eigne, hybris (Gewalt) auszuleben, nicht aber die Sehnsucht nach charis (Anmut) zu stillen (Eubulos »Nannion« fr. 67 PCG). Wohlhabende Athener unterhielten selbstverständlich Beziehungen zu Hetären, obwohl es billigere Bordelle gab. Dies macht deutlich, dass eine Hetäre nicht primär dazu diente, sexuelle Bedürfnisse zu befriedigen: Sie war vor allem ein Statussymbol, oft wohl auch eine Geliebte.
Literatur Bain, David M.: »Six Verbs of Sexual Congress«, in: Classical Quarterly 41 (1991) S. 51-77. Davidson, James N.: Kurtisanen und Meeresfrüchte. Die verzehrenden Leidenschaften im klassischen Athen (Übers. d. Originalausgabe London 1997), Berlin 1999. Guhl, Ernst/Koner, Wilhelm: Leben der Griechen und Römer, Berlin 1861. Halperin, David: »The Democratic Body: Prostitution and Citizenship in Classical Athens«, in: ders., One Hundred Years of Homosexuality. And other Essays on Greek Love, New York/London 1988, S. 88-112. Hartmann, Elke: Heirat, Hetärentum und Konkubinat im klassischen Athen (= Campus Historische Studien Bd. 30), Frankfurt am Main/New York 2002. Henderson, Jeffrey: The maculate Muse, New Haven 1975. Hunter, Virginia J.: Policing Athens: Social Control in the Attic lawsuits 420-350 BC, Princeton 1994. Keuls, Eva C.: »The Hetaera and the Housewife. The Splitting of the Female Psyche in Greek Art«, in: Mededelingen van het Nederlands Instituut te Rome 44-45 (1983), S. 23-40. Krieter-Spiro, Martha: Sklaven, Köche und Hetären. Das Dienstpersonal bei Menander. Stellung, Rolle, Komik und Sprache (= Beiträge zur Altertumskunde 93), Stuttgart/Leipzig 1997. Kurke, Leslie: »Inventing the Hetaira: Sex, Politics and Discursive Conflict in Archaic Greece«, in: Classical Antiquity 18/1 (1997), S. 106-154. Licht, Hans (Pseudonym von Paul Brandt): Sittengeschichte Griechenlands, 2 Bde. u. ein Ergänzungsband, Dresden/Zürich 1925-1928.
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Lissarague, Francois: Un flot d’image, Pour une esthétique du banquet grec, Paris 1987. Meier, Christian: Politik und Anmut, Berlin 1985. Peschel, Ingrid: Die Hetäre bei Symposion und Komos, Frankfurt am Main/ Bern/New York 1987. Pomeroy, Sarah B.: Frauenleben im klassischen Altertum (Übers. d. 9. Aufl., New York 1984), Stuttgart 1985. Reinsberg, Carola: Ehe, Hetärentum und Knabenliebe im antiken Griechenland (= Beck’s Archäologische Reihe, hg. v. H. v. Steuben), München 1989. Schneider, Klaus: »Hetairai«, Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft. Neue Bearb. V. G. Wissowa – W. Kroll u. K. Mittelhaus, zuletzt hg. v. K. Ziegler, Stuttgart 1893-1980, VIII, 2 (1913), Sp. 1331-1372. Wagner-Hasel, Beate: Der Stoff der Gaben. Kultur und Politik des Schenkens und Tauschens im archaischen Griechenland, Frankfurt am Main/New York/Paris 2000.
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»… unter strenger Befolgung des Prinzips der Stundenmiete …«. 1 Die (un)heimliche Beziehung der Psychoanalyse zur Prostitution Bettina Mathes
Fragt man nach den Unterschieden zwischen Prostitution und Psychoanalyse, fallen einem zunächst eine Reihe von Gemeinsamkeiten ein.2 In beiden Fällen handelt es sich um eine Begegnung zwischen zwei Personen, die in einem »privaten« Raum stattfindet, in dem eine der beiden Personen eine Dienstleistung anbietet, die die andere gegen Bezahlung in Anspruch nimmt, wobei die sexuellen Bedeutungsdimensionen des Geldes verstärkt zum Tragen kommen. In beiden Begegnungsformen spielen ein Liegemöbel3, sexuelles Begehren und Kastrationsängste4 eine herausgehobene Rolle. Während der Freier seine sexuelle Begierde auf die Prostituierte richtet, wird der Psychoanalytiker zum Objekt der Übertragungsliebe des Patienten. Was innerhalb der vier Wände eines Bordells geschieht, bleibt in der Regel für die Außenwelt ebenso geheim wie die Gespräche im Behandlungszimmer des Analytikers/der Analytikerin. So wie das Privatleben des Psychoanalytikers, ist auch das der Prostituierten tabu. Und schließlich spielt das Geld – vor allem in seiner symbolischen Be-
1 | Sigmund Freud: »Zur Einleitung der Behandlung [1913]«, in: Alexander Mitscherlich/Angela Richards/James Strachey (Hg.), Schriften zur Behandlungstechnik, Frankfurt am Main: Fischer 1975, S. 191. 2 | Der Essay wurde von dem Film »Empathy« (Re.: Amie Siegel, USA 2003) inspiriert, in dem die Filmemacherin Psychoanalytikern die Frage stellt: »How is psychoanalysis different from prostitution?« – und keiner der Befragten in der Lage ist, überzeugende Unterschiede zu benennen. 3 | Zur Bedeutung der Couch vgl. Claudia Guderian: Die Couch in der Psychoanalyse. Geschichte und Gegenwart von Setting und Raum, Stuttgart: Kohlhammer 2004. 4 | Vgl.: Sabine Grenz: (Un)heimliche Lust. Über den Konsum sexueller Dienstleistungen, Wiesbaden: VS Verlag 2005, S. 153-180.
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64 | Bettina Mathes deutung – sowohl in der Prostitution als auch in der psychoanalytischen Therapie eine zentrale Rolle. Die Ähnlichkeiten zwischen Psychoanalyse und Prostitution sollen in diesem Aufsatz zum Anlass genommen werden, einige verborgene Bedeutungen des psychoanalytischen Settings zu erhellen. Wird gemeinhin die Psychoanalyse als theoretischer Rahmen zur Erklärung der Prostitution herangezogen (zwei Beispiele werden weiter unten besprochen), soll in diesem Aufsatz der umgekehrte Weg eingeschlagen werden. Die Prostitution dient als Kontext, innerhalb dessen sich die Psychoanalyse ausbildete und gegen den sie sich abzugrenzen bemühte. Die extremste und subjektivste Form der Abgrenzung stellt Jacques Lacans Technik der »variablen Sitzungsdauer« dar. Lacan scheint die Parallelen zwischen seinem Beruf und dem der Prostituierten deutlicher als seine Vorgänger und Zeitgenossen gesehen zu haben. Die Konsequenz dieser Einsicht war seine radikale – und bis heute höchst umstrittene – Umgestaltung der analytischen Behandlungstechnik, die zwar philosophisch begründet wurde, deren Abwehrcharakter jedoch deutliche Spuren hinterlassen hat.
1. »Die älteste Therapie der Welt« Wie beim Besuch einer Prostituierten wird die Begegnung zwischen Psychoanalytiker und Patient mit der Festlegung des Honorars und der Dauer der »Sitzung« eingeleitet. Im Jahre 1913 schreibt Sigmund Freud: »Der Analytiker stellt nicht in Abrede, daß Geld in erster Linie als Mittel zur Selbsterhaltung und Machtgewinnung zu betrachten ist, aber er behauptet, daß mächtige sexuelle Faktoren an der Schätzung des Geldes mitbeteiligt sind.«5 Allerdings sind Psychoanalytiker nur selten bereit, ihren Beruf mit dem der Prostituierten zu vergleichen. Der einzige mir zugängliche Hinweis darauf, dass im Geld die Verwandtschaft zwischen Psychoanalyse und Prostitution aufscheint, stammt von einer Frau. Die französische Psychoanalytikerin Maryse Choisy berichtet in ihrer Studie »Psychoanalysis of the Prostitute« von folgender Begebenheit, die sich in ihrem Behandlungszimmer zutrug: »In der 147. Sitzung, die zugleich der Zahltag für diesen Monat war, sagte er [der Analysand, BM] zu mir: Wie ich es liebe, die Rechnung für meine Analyse zu bezahlen. Ich fühle mich, als würde ich eine Frau aushalten.«6 Historisch gesehen entsteht und verbreitet sich die Psychoanalyse in einer Zeit, in der die Prostitution große gesellschaftliche Aufmerksamkeit erfährt und auch zum Gegenstand wissenschaftlicher Erörterungen gemacht wird. Zu nennen sind hier etwa die weit ausgreifende »Weltgeschichte der Prostitution« von Pierre Dufour (1848) oder Iwan Blochs nicht minder weit ausholende Abhand-
5 | Sigmund Freud: »Zur Einleitung der Behandlung [1913]«, S. 191. 6 | Maryse Choisy: Psychoanalysis of the Prostitute, New York: Pyramid Books 1962, S. 48.
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lung aus dem Jahre 1912.7 Und schließlich sind sowohl Prostitution als auch Psychoanalyse auf das Engste mit medientechnischen Innovationen verbunden. Ich will hier stellvertretend nur das Kino nennen. Psychoanalytische Begriffe wie »Projektion«, »Übertragung«, »Projektive Identifizierung« sind eindeutig dem Film entliehen.8 Ganz besonders im frühen Film hat die Figur der Prostituierten eine prominente Rolle gespielt.9 Die eher unbewusste als bewusste Nähe zwischen Psychoanalyse und Prostitution, oder genauer zwischen Psychoanalytiker und Prostituierter, kommt auch in Freuds so genannten »Schriften zur Behandlungstechnik« zum Ausdruck, in denen er (in den Jahren zwischen 1905 und 1937) die Regeln und äußeren Bedingungen einer Psychotherapie definiert. Freud, der die Psychoanalyse als »die älteste Therapie, deren sich die Medizin bedient hat,«10 bezeichnete, verlangte vom Analytiker, seine Individualität zu verbergen und sich dem Patienten als neutrales Medium zur Verfügung zu stellen. Der Analytiker »soll dem Unbewußten des Kranken sein eigenes Unbewußtes als empfangendes Organ zuwenden, sich auf den Analysierten einstellen wie der Receiver des Telephons zum Teller eingestellt ist. Wie der Receiver die von Schallwellen angeregten elektrischen Schwankungen der Leitung wieder in Schallwellen verwandelt so ist das Unbewußte des Arztes
7 | Vgl. Pierre Dufour: Weltgeschichte der Prostitution. Von den Anfängen bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts. 2 Bde, Übers. aus dem Französischen von Adolf Stille u. Bruno Schweigger. Frankfurt am Main: Eichborn 1995. Iwan Bloch: Handbuch der Gesamten Sexualwissenschaft in Einzeldarstellungen, Bd. 1: Die Prostitution, Berlin 1912. 8 | Vgl. dazu auch Heike Klippel: Gedächtnis und Kino, Basel/Frankfurt am Main: Stroemfeld 1997. 9 | Um nur die berühmtesten zu nennen: Pandoras Büchse (Re.: G. W. Pabst, Deutschland 1929), Der blaue Engel (Re.: Josef von Sternberg, Deutschland/USA 1930), Mata Hari (Re: George Fitzmaurice, USA 1931). Nicht nur an der psychoanalytischen Fachliteratur lässt sich die Nähe von Prostitution und Psychoanalyse – und der Umgang damit – ablesen. Auch der Film hat dieses Verhältnis wiederholt thematisiert. Die Tatsache, dass man in Filmen viel häufiger auf weibliche Psychoanalytiker trifft als in der Realität mag mit der symbolischen Nähe zur Prostitution und der hohen Bedeutung der Prostituierten in der Filmgeschichte zu tun haben. Ein aktuelles Beispiel ist die Figur der Psychoanalytikerin Dr. Jennifer Melfi aus der zur Kultsendung avancierten HBO Serie The Sopranos, die sich immer wieder gegen die Avancen ihres Patienten Toni Soprano wehren muss. Auch die Art und Weise wie Melfi ins Bild gesetzt wird, rückt sie in die Nähe einer Prostituierten. Aufschlussreich ist auch der Film Klute (Re.: Alan J. Pakula, USA 1971), in dem ein Polizeikommissar (gespielt von Donald Sutherland), sich eines Call Girls bedient (gespielt von Jane Fonda), um die Vergangenheit eines Psychopathen samt seiner sexuellen ›Perversionen‹ aufzuklären. 10 | Sigmund Freud: »Über Psychotherapie [1905]«, in: Alexander Mitscherlich u.a. (Hg.), Schriften zur Behandlungstechnik, Frankfurt am Main: Fischer 1975, S. 110.
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66 | Bettina Mathes befähigt, aus den ihm mitgeteilten Abkömmlingen des Unbewußten dieses Unbewußte, welches die Einfälle des Kranken determiniert hat, wiederherzustellen.«11
Und weiter: »Der Arzt soll undurchsichtig für den Analysierten sein und wie eine Spiegelplatte nichts anderes zeigen, als was ihm gezeigt wird.«12 Sind das nicht genau die Eigenschaften, die man auch von einer Prostituierten erwartet? Hat sie nicht gleichgültig und »sine delectu« zu sein? Wie ein Spiegel, auf dem sich das Begehren des Freiers abzeichnet? Weil der Analytiker als Medium agiert, darf er sich selbst keines Mediums bedienen. »Ich kann nicht empfehlen,« so Freud, »während der Sitzungen mit dem Analysierten Notizen in größerem Umfange zu machen, Protokolle anzulegen u. dgl.«13 Der Funktion als Medium stehe auch das wissenschaftliche Interesse des Analytikers im Wege. So rät Freud davon ab, den Patienten, solange die Therapie noch andauert, in ein Forschungsobjekt zu verwandeln. »Es ist nicht gut, einen Fall wissenschaftlich zu bearbeiten, so lange er sich noch in Therapie befindet, seine Behandlung noch nicht abgeschlossen ist, seinen Aufbau zusammenzusetzen, seinen Fortgang erraten zu wollen, von Zeit zu Zeit Aufnahmen des gegenwärtigen Status zu machen, wie das wissenschaftliche Interesse es fordern würde. Der Erfolg leidet in solchen Fällen, die man von vornherein der wissenschaftlichen Verwertung bestimmt und nach deren Bedürfnissen behandelt; dagegen gelingen jene Fälle am besten, bei denen man wie absichtslos verfährt, sich von jeder Wendung überraschen läßt, und denen man immer wieder unbefangen und voraussetzunglos entgegentritt.«14
Die möglicherweise nahe liegende Vermutung, Psychoanalytiker/-in und Analysand/-in lernten sich besser kennen als Freier und Prostituierte, darf mithin bezweifelt werden. Auch zu der Frage, wie der Analytiker mit dem sexuellen Begehren des Patienten umzugehen habe, hat Freud Stellung genommen. In der Schrift »Bemerkungen über die Übertragungsliebe« formuliert er die so genannte Abstinenzregel: »Die Kur muß in der Abstinenz durchgeführt werden. […] Es wäre ein großer Triumph für die Patientin, wenn ihre Liebeswerbung Erwiderung fände, und eine volle Niederlage für die Kur.«15 Auf den ersten Blick scheint hier eine große Kluft zur Prostitution zu bestehen. Aber ist nicht auch die Prostituierte gehalten, in einem emotionalen Sinne »abstinent« zu bleiben, das Begehren des Freiers nicht zu erwidern? Ist die sprichwörtliche »Frigidität«16 11 | Sigmund Freud: »Ratschläge für den Arzt bei der psychoanalytischen Behandlung [1912]«, in: Alexander Mitscherlich u.a. (Hg.), Schriften zur Behandlungstechnik, Frankfurt am Main: Fischer 1975, S. 175f. 12 | Ebd., S. 178. 13 | Ebd., S. 173. 14 | Ebd., S. 174. 15 | Sigmund Freud: »Bemerkungen über die Übertragungsliebe [1915]«, in: Alexander Mitscherlich u.a. (Hg.), Schriften zur Behandlungstechnik, Frankfurt am Main: Fischer 1975, S. 224f. 16 | Vgl. dazu M. Choisy: Psychoanalysis of the Prostitute.
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der Prostituierten nicht Ausdruck dieser gefühlsmäßigen Abstinenz, die den Freier frustriert?17 So schreibt Karl Abraham: »Frigidität ist praktisch ein sine qua non für die Prostitution.«18 Trotz der zahlreichen Überschneidungen gibt es unbestreitbar auch Unterschiede zwischen Psychoanalyse und Prostitution. Diese zeigen sich am deutlichsten dort, wo Prostitution und Psychoanalyse sich am nächsten sind: beim Prinzip der Stundenmiete und bei der Couch. Zwar hat Freud der Stundenmiete eine zentrale Bedeutung für die Einleitung der Behandlung zugeschrieben: »Wichtige Punkte zu Beginn der analytischen Kur«, so Freud, »sind Zeit und Geld. In Betreff der Zeit befolge ich ausschließlich das Prinzip des Vermietens einer bestimmten Stunde.«19 Aber zugleich dient das Stundenprinzip Freud auch dazu, eine Schranke zwischen Psychoanalyse und Prostitution aufzurichten. Nicht der Kunde, sondern der Analytiker bestimmt das Zeitregime. Anders als der Psychoanalytiker, der stets weiß, welcher Patient wann zu ihm kommt, hat die Prostituierte sich – jedenfalls in der Phantasie der Freier – für ihre potentiellen Kunden jederzeit zur Verfügung zu halten. Mit dem »Prinzip des Vermietens einer bestimmten Stunde« zwingt Freud seine Patienten, sich ihm zu verpflichten. »Jeder Patient«, so fährt Freud fort, »erhält eine gewisse Stunde meines verfügbaren Arbeitstages zugewiesen; sie ist die seine und er bleibt für sie haftbar, auch wenn er sie nicht benützt.«20 Es ist diese »Haftung«, die die Stundenmiete des Analytikers von der der Prostituierten unterscheidet. Auch in Bezug auf das Liegemöbel hat Freud dafür Sorge getragen, den Abstand zur Prostitution zu vergrößern. »Ich halte an dem Rate fest, den Kranken auf einem Ruhebett lagern zu lassen, während man hinter ihm, von ihm ungesehen, Platz nimmt. Diese Veranstaltung hat einen historischen Sinn, sie ist der Rest der hypnotischen Behandlung, aus welcher sich die Psychoanalyse entwickelt hat. Sie verdient aber aus mehrfachen Gründen festgehalten zu werden. Zunächst wegen eines persönlichen Motivs, das aber andere mit mir teilen mögen. Ich vertrage es nicht, acht Stunden täglich (oder länger) von anderen angestarrt zu werden.«21
Im Gegensatz zur Prostituierten, die sich den Blicken des Freiers – und des Wissenschaftlers22 – nicht entziehen kann, sucht der Analytiker es zu vermeiden, zum Objekt des Voyeurismus seines Patienten zu werden. Auch der An17 | Vgl. S. Grenz: (Un)heimliche Lust, S. 162ff. 18 | Zit. in Harold Greenwald: Das Call Girl. Eine psychoanalytische und sozialpsychologische Studie, Übers. aus dem Amerikanischen von Franz Klinger. 2. Aufl. Zürich/ Stuttgart/Wien: Albert Müller 1962, S. 104. 19 | Sigmund Freud: »Zur Einleitung der Behandlung [1913]«, in: Mitscherlich u.a. (Hg.), Schriften zur Behandlungstechnik, Frankfurt am Main: Fischer 1975, S. 186. 20 | Ebd. 21 | Ebd., S. 193. 22 | Vgl. hierzu den Beitrag von Dorothea Dornhof: Prostitution und die Harmonie der Täuschungen in diesem Band.
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68 | Bettina Mathes spruch, niemals zu lügen, stellt eine Abgrenzung gegenüber der Prostitution dar. Für Sigmund Freud war die »psychoanalytische Behandlung auf Wahrhaftigkeit aufgebaut. Darin liegt ein gutes Stück ihrer erziehlichen Wirkung und ihres ethischen Wertes. […] Da man vom Patienten strengste Wahrhaftigkeit fordert, setzt man seine ganze Autorität aufs Spiel, wenn man sich selbst von ihm bei einer Abweichung von der Wahrheit ertappen läßt.«23
Die Prostituierte – immer schon als notorische Lügnerin abgestempelt – mag dem Freier einen Orgasmus vortäuschen, der Psychoanalytiker aber hat dem Patienten mit der größtmöglichen Aufrichtigkeit gegenüberzutreten. All diese Maßnahmen dienen u.a. dazu, die Männlichkeit des Psychoanalytikers sicherzustellen. Sie zeigen aber auch, wie sehr die Psychoanalyse selbst in der Abgrenzung auf die Prostitution bezogen bleibt. In den Techniken, die die Psychoanalyse von der Prostitution unterscheiden, scheint zugleich die Verwandtschaft der beiden Praktiken auf. Die Überschneidungen zwischen Psychoanalyse und Prostitution mögen ein Grund sein, weshalb die Analyse von Prostituierten in der psychoanalytischen Literatur als Sonderfall behandelt wird, der erhebliche Abweichungen von den Behandlungstechniken und den ethischen Grundsätzen erfordert. So gesteht der New Yorker Psychoanalytiker Harold Greenwald, der 1958 eine psychoanalytische Studie über Call Girls verfasste, die 1962 ins Deutsche übersetzt wurde, dass er während der Analyse eines Call Girls – im Buch Sandra genannt – einige Verhaltensregeln verletzt habe: Sie schrieben sich Briefe mit privatem Inhalt, er beriet sie außerhalb der Praxis bei Berufsentscheidungen und in Liebesangelegenheiten, und er benutzte sie, um die Bekanntschaft anderer New Yorker Call Girls zu machen, die ihm für seine Studie dienlich sein würden. »Wer mit der Technik der Psychoanalyse vertraut ist«, so Greenwald, »dem wird es natürlich klar sein, daß die Methoden, die ich bei Sandra anwendete, wesentlich anders sind als die der klassischen Psychoanalyse, bei der sich der Analytiker so neutral wie möglich verhält. Bei Sandra war ich stets parteiisch und immer auf ihrer Seite. Sie war in so hohem Maße um die normale menschliche Wärme gebracht worden, daß sie das in erster Linie brauchte. Glücklicherweise gab es an Sandra so viel, das ich aufrichtig achten konnte, daß meine Aufgabe mir nie zur Last wurde.«24
Und an anderer Stelle schreibt er: »Gewiß, der Lohn der Mühe (einer Psychoanalyse) ist groß, aber die Arbeit ist langsam, zeitraubend und manchmal langweilig. Mit Sandra war jedoch meine Arbeit nie langweilig, sie war immer aufregend – als ginge man auf dünnem Eis.«25 Was bedeutet diese Erregung, die den Psychoanalytiker befällt? Was verbirgt sich hinter der fürsorglichen Verletzung der Behandlungsregeln? Meine These ist, dass die Regelverletzungen Ausdruck 23 | S. Freud: »Bemerkungen über die Übertragungsliebe«, S. 224. 24 | H. Greenwald: Das Call Girl, S. 72. 25 | Ebd.
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einer Identitätskrise des Psychoanalytikers sind. Als Patientin hält die Prostituierte dem Analytiker – ob sie will oder nicht – einen Spiegel vor. In ihr erkennt er die Prostituierte in sich selbst. Tritt er aber aus diesem »Spiegel« heraus und betrachtet er die Prostituierte nicht als Patientin und Privatperson – ignoriert sie also als die, die seine Praxis aufsucht –, sondern nimmt sie als weibliches Wesen wahr, das die Lust des Analytikers befriedigt, dann ist die gewohnte Machtbalance wiederhergestellt. Mit anderen Worten, Greenwald imaginiert sich gegenüber seinen Patientinnen, die als Call Girls arbeiten, in der Position des Freiers. Dies geht aus einigen Bemerkungen hervor, mit denen er die Sonderbehandlung der Call Girls rechtfertigt. Greenwald spricht hier von sich selbst in der dritten Person. »Jede einzelne mußte beginnen, ein Bild von sich selbst aufzubauen, nicht so verschwommen, widerspruchsvoll und zerfahren als das bisherige. Um ihnen das zu erleichtern, war es in erster Linie wichtig, sie ihrer weiblichen Anziehungskraft sicher zu machen. Der Analytiker bemühte sich dies zu tun, indem er den Patientinnen Komplimente über ihre Kleidung und über ihr Aussehen machte, wodurch er durchblicken ließ, daß er sie zwar äußert verführerisch finde, daß es jedoch nachteilig für die Behandlung wäre, wenn er der Verführung nachgäbe.«26
Was in dieser Begründung unausgesprochen bleibt, ist die Tatsache, dass die Männlichkeit des Psychoanalytikers in dem Maße steigt, in dem er seine Patientinnen in »echte« Frauen verwandelt, die ihn verführen. Greenwald glaubt auch, die Call Girls, die er für seine Studie befragte, hätten Freude an der Befragung gehabt. »Alle Mädchen, die von mir befragt wurden, schienen daran Gefallen zu finden; im Gegensatz zu dem allgemein verbreiteten Glauben, daß Call Girls nur auf Geld aus seien, verlangte keine einzige irgendeine Entschädigung, obwohl die Befragungen in einzelnen Fällen sehr viel Zeit in Anspruch nahmen. […] Neun von den zehn Mädchen, die ich befragte, schienen der Ansicht zu sein, daß die Befragung einen therapeutischen Gewinn für sie bedeute.« […] »Ich war natürlich froh, wenn mir die Mädchen möglichst viel von ihrer Zeit widmeten, doch fanden einige so großen Gefallen an der Befragung, daß nicht weniger als acht Sitzungen von mir abgebrochen werden mußten.«27
Es handelt sich hier um eine typische Freierphantasie, auf die Sabine Grenz in ihrer Untersuchung über die Lust der Freier gestoßen ist. Zum Vergleich: Dort gibt ein Freier, der Paul genannt wird, Folgendes zu Protokoll: »Zum Beispiel Chantalle […] die ich regelmäßig beehre und die sich dann schon tierisch freut. […] Und das unterstelle ich ihr, dass das nicht bei jedem so sein kann.«28 Eine andere Möglichkeit, die Ähnlichkeit zwischen Call Girl und Psychoanalytiker in die therapeutische Situation zu integrieren, besteht für Greenwald da26 | Ebd., S. 109. 27 | Ebd., S. 115f. 28 | Sabine Grenz: (Un)heimliche Lust, S. 163.
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70 | Bettina Mathes rin, das Call Girl als ihm ebenbürtige Analytikerin anzuerkennen. So zieht er etwa – unter bewusster Missachtung der ärztlichen Schweigepflicht – Sandra bei besonders schwierigen Fällen zu Rate: »So nahm ich z.B. mit Sandra, deren Talent, Träume zu analysieren, ich bald nach Beginn der Behandlung erkannt hatte, häufig die Träume anderer Patienten durch, erstens, weil ihr dies half, ihre Persönlichkeit aufzubauen; zweitens weil es sie lehrte; daß auch andere Menschen mit Problemen zu ringen hatten; und drittens weil ihre Deutungen mir oft weiterhalfen.«29
2. Psychoanalysis Interruptus Die hier aufgezählten »verschwiegenen« Parallelen zwischen Prostitution und Psychoanalyse wären nichts weiter als freie Assoziationen, würden sie nicht eine Erklärung für die von Jacques Lacan eingeführte, umstrittene Technik der »variablen Sitzungsdauer« bereit stellen, die neben – mit viel Aufwand betriebenen, aber wenig überzeugenden – sprachphilosophischen Rechtfertigungsversuchen30, auch die Geschlechterordnung, wie sie in der Nähe zwischen Prostitution und Psychoanalyse eine Rolle spielt, ernst nimmt. Im Laufe der 40er Jahre hatte Lacan begonnen, von der üblichen, auf 45 bis 50 Minuten festgelegten, Sitzungsdauer abzuweichen und die Sitzungen spontan, nach eigenem Gutdünken, stark zu verkürzen. In der Regel variierten die Sitzungen zwischen 20 Minuten und einer Minute. Vor allem nach seinem Ausschluss aus der »International Psychoanalytical Association« (IPA)31, die diese Abweichung von der Regel nach jahrzehntelangem Streit ab 1963 nicht mehr tolerierte, verkürzten sich die Sitzungen immer stärker. In den 70er Jahren – so seine Biographin Elisabeth Roudinesco – waren Lacans Sitzungen zunehmend »Null-Sitzungen«, in denen weder der Patient noch der »Meister« selbst Zeit hatten, irgendetwas zu
29 | H. Greenwald: Das Call Girl, S. 109. 30 | Nicolas Langlitz: Die Zeit der Psychoanalyse. Lacan und das Problem der Sitzungsdauer, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2005. 31 | Die IPA stellt bis heute die Dachorganisation aller nationalen psychoanalytischen Vereinigungen dar. Zu ihren Aufgaben gehört, neben der Vernetzung der einzelnen Ländergruppen, verbindliche Behandlungsstandards und Ausbildungsrichtlinien zu formulieren und durchzusetzen. Die IPA – oder IPV wie sie in Deutschland heißt –, wurde 1910 in Nürnberg gegründet und hat heute ihren Sitz in London. Zwischen 1925 und 1927 hatte die IPA es sich zur Aufgabe gestellt, die Psychoanalyse als Therapieform stärker zu standardisieren und insbesondere die Ausbildung von Psychoanalytikern nicht mehr den einzelnen Analytikern zu überlassen. Verbindliche Standards sollten geschaffen werden, die die Psychoanalyse für die Patienten berechenbarer machte. Zu diesen Maßnahmen gehörte die Einhaltung einer festgelegten Sitzungsdauer von 45-50 Minuten sowie das Verbot, mehr als eine Sitzung täglich abzuhalten. Mit seiner Flexibilisierung der Sitzungsdauer verstößt Jacques Lacan ganz bewusst gegen diese Regeln.
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sagen.32 Roudinesco berichtet auch, dass den meisten seiner Patienten nicht bewusst war, dass die Kurzsitzungen in Wahrheit keine Sitzungen waren: »als ob die dabei vorgenommene Zerstörung der Zeit von denen, die sie ausführten und erlebten nicht wahrgenommen werden konnte«.33 Mit den Kurzsitzungen hatte Lacan sich nicht nur vom »Prinzip der Stundenmiete« verabschiedet, er hatte seinen Analysanden auch jegliche Möglichkeit genommen, den Verlauf der Sitzung sowie das, was sie zur Sprache bringen wollten, zu beeinflussen. Niemand konnte im Voraus wissen, wann Lacan die Sitzung beenden würde. Niemand konnte wissen, ob er oder sie Gelegenheit haben würde, auch nur einen Satz zu sagen. Die IPA begründete ihre ablehnende Haltung gegenüber der variablen Sitzungsdauer, die ja vor allem eine Verkürzung der Sitzungsdauer war, damit, dass die »Kurzsitzungen« den Patienten der Willkür des Analytikers auslieferten und sich negativ auf die Übertragungsbeziehung auswirken würden.34 Zudem spielte bei der negativen Bewertung wohl auch die Tatsache eine Rolle, dass es Lacan aufgrund der kurzen Sitzungsdauer möglich war, erheblich mehr Analysanden aufzunehmen und dadurch nicht nur mehr Geld zu verdienen35, sondern auch seinen Einfluss beträchtlich auszuweiten. Zu Beginn der 60er Jahre fanden in Frankreich ein Drittel aller Lehranalysen auf Lacans Couch statt.36 Mit der »variablen Sitzungsdauer« ging es dem französischen Psychoanalytiker jedoch um mehr als nur um Macht und Geld. Betrachtet man die Dynamik zwischen Analytiker und Analysand und hört man die Berichte derjenigen, die solchen Sitzungen unterworfen waren, dann lassen sich die Kurzsitzungen als Abwehr der Nähe zwischen Prostitution und Psychoanalyse deuten. Dass Lacan um die Nähe seines Berufs zur Prostitution gewusst hat, ist anzunehmen; denn er hat sie in seinen Behandlungstechniken ganz offen zitiert: Etwa wenn er Patienten im Schlafrock empfing und während der Sitzungen seinen Friseur oder Schneider konsultierte.37 Dadurch musste sich dem Analysanden die Kluft zwischen dem, was er sah – »ich besuche ein Bordell« – und dem tatsächlichen Verlauf der Sitzung – »meine Bedürfnisse werden nicht befriedigt, Lacan ist in Wirklichkeit keine Prostituierte« – aufdrängen. Die Technik der »variablen Sitzungsdauer« erscheint als Versuch, die Identifikation des Psychoanalytikers mit der Position der Prostituierten zu unterbinden, sie stellt eine Maßnahme dar, 32 | Elisabeth Roudinesco: Jacques Lacan. Bericht über ein Leben, Geschichte eines Denksystems, Übers. Hans-Dieter Gondek, Köln: Kiepenheuer & Witsch 1996, S. 397. 33 | Ebd., meine Übersetzung. 34 | Zur Kritik an der variablen Sitzungsdauer vgl. u.a. Serge Viderman: Die Psychoanalyse und das Geld, Frankfurt am Main: Fischer 1996; Cornélius Castoriadis: »Le Psychoanalyse, projet et élucidation: ›Destin‹ de l’analyse et responsabilité des analystes«, in: Topique 19 (1977); François Roustang: Un destin si funeste, Paris 1976. 35 | Roudinesco gibt an, dass Lacan zwischen 1979 und 1980 durchschnittlich 10 Patienten pro Stunde empfangen habe und um die 4 Millionen Francs verdiente; vgl. E. Roudinesco: Jacques Lacan, S. 397. 36 | Vgl. N. Langlitz: Die Zeit der Psychoanalyse, S. 107f. 37 | Vgl. E. Roudinesco: Jacques Lacan, S. 391.
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72 | Bettina Mathes die (nach dem Prinzip der Stundenmiete) unvermeidlichen Ähnlichkeiten zwischen Psychoanalytiker und Prostituierter zu zerstören. Zum einen erschwerte die variable Sitzungsdauer die Berechenbarkeit und Konsumierbarkeit der Psychoanalyse, wie sie sich in der Formel Zeit gegen Geld manifestiert. Und zum anderen verhinderte das willkürliche Zeitregime des Analytikers, der die Sitzung nach eigenem Gutdünken beenden konnte, dass ein Gefühl der Erfüllung oder Zufriedenheit bei den Analysanden entstehen konnte. Anstatt den Gedanken und Assoziationen der Analysanden Raum zu geben – sie sprachlich »kommen« zu lassen – erzeugten die »Quickies« auf der Couch des Meisters Frustrationen, die einem »Coitus interruptus« glichen. So beschreibt es Stuart Schneiderman, der sich bei Lacan in Analyse befand: »Man kommt zu seiner Sitzung, sagen wir in recht guter Stimmung, voller Dinge, die man über seine Vergangenheit, seine Gegenwart, seine Fantasien, seine Träume oder was auch immer zu sagen hat. Der Analysand hat viel zu erzählen […] alle möglichen Sachen sind an die Oberfläche gesprudelt, und nichts gibt größere Befriedigung, als sie dem freundlichen Analytiker zu berichten. Also fängt man die Sitzung mit einigen einführenden Bemerkungen an und geht dann zu dem Thema über, das man weiter ausführen, analysieren, durchdenken, verstehen möchte. Man wünscht sich, dass der Analytiker dies hört, weil es wirklich wichtig ist. Aber kaum hat man das Thema angeschnitten, kaum sind einem die Worte, die es einleiten, über die Lippen gegangen, da erhebt sich Lacan plötzlich von seinem Stuhl und erklärt die Sitzung für aus und vorbei, zu Ende. […] Was auch immer zu sagen blieb, würde warten müssen. Die Beendigung der Sitzung, unerwartet und ungewollt, war wie ein unsanftes Erwachen, wie wenn man durch einen lauten Wecker aus einem Traum gerissen wird. (Jemand verglich es mit einem Coitus interruptus.)«38
Die sexuellen Subtexte dieser Beschreibung sind deutlich (und gewollt). Sie zeigen, dass der unvorhersehbare Abbruch einer Sitzung durch den Analytiker der Weigerung gleichkommt, dem Patienten zu einer verbalen Ejakulation zu verhelfen, sich ihm als Medium zur Verfügung zu stellen. Auch in der Beziehung zwischen Freier und Prostituierter ist der vorzeitige Abbruch der »Sitzung« – bzw. die Angst davor – eine »Behandlungsmethode«, die von den Kunden allerdings durchweg negativ gesehen wird, da sie sich übervorteilt fühlen. Sabine Grenz zitiert einen Freier, der sich gegen die Praxis der »Kurzsitzung« zur Wehr zu setzen versucht: »Die Frauen, die kalkulieren ja knallhart. […] Das läuft denn immer so, ja: ›Heute bin ich ganz zärtlich und ganz lieb zu dir und überhaupt.‹ Also die kühnsten Versprechungen werden dann gemacht. Und im Kopf läuft dann aber die Rechnung […]: ›Der Durchschnittsmann kommt nach zwei bis drei Minuten.‹ So also: ›Ich hab den erst mal auf einen Hunderter hochgehandelt, auf eine halbe Stunde, und dann nach drei Minuten ist das Ding auch abgehakt.‹ So, und in dem Moment, wo ihnen mal jemand zeigt, wie lang eine halbe Stunde sein kann, dann fangen die an rumzukotzen[…] nach 10 Minuten spä38 | Schneiderman, zit. in N. Langlitz: Die Zeit der Psychoanalyse, S. 98.
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Die (un)heimliche Beziehung der Psychoanalyse zur Prostitution | 73 testens fangen die an: ›Willst du nicht mal fertig werden?‹ Oder: ›mach hin und komm jetzt endlich mal.‹ Sind total zickig. Und wenn ich dann sage: ›He, ich hab aber für eine halbe Stunde bezahlt.‹ ›Ja: Du musst doch aber nicht ne halbe Stunde.‹«39
Anders als dieser Freier protestierten nur wenige Patienten in Lacans Praxis gegen die Kurzsitzungen. Der fehlende Protest hat sicherlich zum einen mit der Aufgabe des »Prinzips der Stundenmiete« zu tun. Die Analysanden hatten schlicht keinen Anspruch auf eine bestimmte Dauer der Sitzung. Das reicht aber nicht aus, um zu erklären, weshalb Lacans Patienten die Willkür des Analytikers im Großen und Ganzen widerspruchslos hinnahmen. Ein weiterer Grund scheint mir darin zu bestehen, dass Lacan seine eigene Person als Mittelpunkt des Begehrens seiner Patienten inszenierte, indem er die Rollenverteilung zwischen Analytiker und Analysand umkehrte (und damit zugleich die Position der Prostituierten zurückwies). Hierzu muss kurz auf die Gründe eingegangen werden, mit denen Lacan die Flexibilisierung der Sitzunsdauer rechtfertigte. Wie Nicolas Langlitz in seiner Studie »Die Zeit der Psychoanalyse« darlegt, in der er sich ausführlich mit den philosophischen Begründungszusammenhängen der variablen Sitzungsdauer beschäftigt, rechtfertigte Jacques Lacan die Praxis der variablen Sitzungsdauer im Kontext seiner strukturalistischen und sprachphilosophischen Re-Lektüre Freuds.40 Nach Lacan drehe sich in der Analyse alles um das Sprechen, denn nur im Sprechen realisiere sich das Subjekt als Subjekt. Aufgabe der Psychoanalyse sei es, das Subjekt zur Einsicht zu bewegen, dass es schlecht spreche. »Lacan unterschied also zwischen zwei Formen des Sprechens: ein ›wahrhaftes‹, ›authentisches‹ oder ›volles Sprechen‹ auf der einen Seite und ein ›leeres Sprechen‹ auf der anderen. Während das volle Sprechen die verdrängte Vergangenheit zur Sprache bringt und so die ›Wahrheit des Subjekts‹ realisiert, ist das leere Sprechen ein Produkt des Widerstands, der verhindert, dass die verfemten Partien der symbolischen Ordnung artikuliert werden. Das Subjekt bezieht sich in seiner Rede dann ausschließlich auf das, was es ›hic et nunc mit seinem Analytiker zu tun gibt‹, es verirrt sich im ›Labyrinth der Referenzsysteme‹ […] es kommt vom Hölzchen aufs Stöckchen, ohne seinen ›unbewußten Grund‹ zu enthüllen.«41
Langlitz muss allerdings auch zugeben, dass die mit hohem theoretischen Aufwand betriebene Rechtfertigung der Kurzsitzungen »eher vage« und allgemein bleibt.42 »Mit dem Abbruch der Sitzung blieb vieles offen. Was hatte Lacan ge39 | S. Grenz: (Un)heimliche Lust, S. 160. 40 | Vgl. vor allem den Aufsatz Jacques Lacan: »Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psychoanalyse«, in: Schriften I, hg. v. Norbert Haas/Klaus Laermann/Peter Stehlin, Berlin: Quadriga 1996. Lacan hat seine Argumente auch in mehreren Vorträgen ausgeführt, die allerdings bis heute unveröffentlicht geblieben sind. 41 | N. Langlitz: Die Zeit der Psychoanalyse, S. 139f. Die Zitate stammen aus Lacans Aufsatz »Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psychoanalyse«. 42 | Vgl. ebd., S. 152.
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74 | Bettina Mathes meint, als er schloss? Was wollte er? Wie bedeutsam war die Intervention überhaupt?«43 All diese Fragen hatte der Analysand nach der abrupt abgebrochenen Sitzung für sich allein zu beantworten. »Das Subjekt sollte begreifen, dass sich an dieser Stelle die Möglichkeit aufgetan hatte, anders fortzufahren als bisher. Aber welchen ›richtungsweisenden Sinn‹ es seinen letzten Sätzen bzw. der Intervention Lacans abgewann, musste es in der Zeit bis zur nächsten Sitzung selbst entscheiden.«44
Was Langlitz in seiner Untersuchung vollkommen ausspart, ist die Tatsache, dass in den theoretischen Begründungen sowie der aktiven Technik der Kurzsitzungen auch Männlichkeitsvorstellungen verhandelt werden. Lacan beschreibt die Unterbrechung der Sitzung als eine notwendige Zäsur, die den Analysanden zum Nachdenken zwinge, und ihm das so genannte »leere Sprechen«, das Sprechen, das dazu dient, das Verdrängte zu verdecken, und sich in einer Routine einzurichten, erschweren sollte. Aufschlussreich ist nun, dass Lacan die Wirkung seines Eingreifens als »Interpunktion« beschreibt. Der Analytiker sei »Herr der Wahrheit«, der den Diskurs des sprechenden Subjekts »interpunktiere«, just zu dem Moment, wo sich dieses dem Sprechen hingegeben habe. »Die Unterbrechung der Sitzung kann vom Subjekt nicht als keine Interpunktion in seinem Fortschritt empfunden werden«, schreibt Lacan in »Form und Funktion des Sprechens«.45 Der Interpunktion komme dabei eine grundlegende psychische Bedeutung zu, die auch außerhalb der Analyse als zentrale »Strategie« der symbolischen Ordnung wirksam sei, und deshalb in der Sitzung gezielt eingesetzt werden könne: »Beim Studium symbolischer Schriften, ob es sich um die Bibel handelt oder um chinesische kanonische Texte, läßt sich in der Tat feststellen, daß das Fehlen der Interpunktion eine Quelle von Zweideutigkeiten ist. Eine vorgegebene Interpunktion fixiert den Sinn; ihre Änderung erneuert ihn oder stößt ihn um, und ist sie falsch, kommt sie einer Entstellung des Sinns gleich.«46
Man kann es auch anders formulieren: Indem der Analytiker – indem Lacan – die Interpunktion setzt, will er penetrieren, anstatt penetriert zu werden. Der Analytiker agiert hier als Agent des Phallus, dessen Wirkung Lacan als »Gipfel des Symbolischen«47 beschrieben und mit dem Ausrufezeichen gleichgesetzt hatte. Mit Hilfe der Interpunktion schreibt sich der Diskurs des Analytikers in die Psyche des Analysanden ein. Für die Patienten ist die Penetration durch den 43 | Ebd., S. 145. 44 | Ebd. 45 | Vgl. J. Lacan: Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psychoanalyse, S. 159. 46 | Ebd. 47 | Jacques Lacan: »Die Bedeutung des Phallus«, in: Schriften II, hg. v. Norbert Haas, Weinheim 1991, S. 128.
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Analytiker eine verführerische Möglichkeit, an der Macht des Phallus teilzuhaben – zumal wenn dieser sich im Schlafrock präsentiert. Indem der Patient gleichsam zum Spiegel der Definitionsmacht des Analytikers wird, hat Lacan das von Freud beschriebene und in den Regeln der IPA festgelegte psychoanalytische Setting in sein Gegenteil verkehrt. Dazu passt auch die Tatsache, dass Lacan aufgrund der unberechenbaren Sitzungsdauer nicht von seinen Patienten aufgesucht wurde, sondern dass – umgekehrt – er sie aufsuchte, indem er sie zuweilen stundenlang in seinen beiden Wartezimmern auf ihre Sitzung warten ließ, bevor er sie in sein Behandlungszimmer rief. So berichtet Elisabeth Roudinesco: »Dort saßen seine Analysanden in Gruppen, immer in Erwartung hereingerufen zu werden. Lacan öffnete gelegentlich die Tür, wählte jemanden aus, der als nächstes drankam (ohne sich an die Reihenfolge zu halten, in der die Patienten eingetroffen waren) und bat auch den ein oder anderen, wieder zu gehen oder später zurückzukommen.«48 Auch die Bezahlung – um ein letztes Beispiel zu geben – hat Lacan seinem neuen System angepasst. In der Regel bat er um die Begleichung seines Honorars mit einem Scheck, auf dem der Name des Empfängers – Jacques Lacan – offen gelassen wurde. Lacan »bestritt« auf diese Weise, von seinen Klienten Geld empfangen zu haben. Vielmehr benutzte er seine Patienten als »Zahlungsmittel«, wenn er ihre Schecks zur Begleichung eigener Rechnungen einsetzte. Er trug dann einfach den Namen des Empfängers in das vom Patienten freigelassene Feld ein. Der Psychoanalytiker und ehemalige Präsident der IPA, Daniel Widlöcher, der sich zwischen 1953 und 1962 bei Lacan in Analyse befand, sieht als zentrales Motiv hinter Lacans Technik der variablen Sitzungsdauer die Weigerung, sich auf den Analysanden einzulassen. »Ich glaube, dass er ein Mann war«, – so Widlöcher in einem Interview – »der es nicht ertrug, länger als ein paar Minuten von der Psyche eines anderen Menschen in Beschlag genommen zu werden. […] Ich würde sagen, er ertrug die Passivität des Abwartens nicht, die für mich etwas ziemlich zentrales in der pschychoanalytischen Askese ist.«49 Nicht nur verweigert Lacan also die Rolle der Prostituierten, die sich gegen Geld penetrieren lässt. Indem er die Rede seiner Analysanden »punktiert«, zwingt er sie, sich von ihm gegen ein Entgelt penetrieren zu lassen. Zwar hatte Lacan – Roudinesco zufolge – immerhin darauf geachtet, sexuelle Kontakte zu seinen Patienten nur außerhalb des Sitzungsraums zu pflegen – eine Praxis, die gleichwohl gegen die Abstinenzregel verstößt –, in einem symbolischen Sinn war die Technik der variablen Sitzungsdauer jedoch nichts anderes als eine Form des Geschlechtsverkehrs, in der der »Meister« immer oben lag.
48 | N. Langlitz: Die Zeit der Psychoanalyse, S. 100, Bezug auf Roudinesco, Lacan &
Co. 49 | »Entretien avec Daniel Widlöcher«, zit. in: N. Langlitz: Die Zeit der Psychoanalyse, S. 103.
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Zweifelhafte Rationalität. Prostitutionspolitiken in Österreich und Slowenien Birgit Sauer
1. Prostitution als patriarchal-kapitalistisches Herrschaftsverhältnis. Vorbemerkung Moderne Gesellschaften zeichnen sich durch geschlechtsspezifische Herrschaftsverhältnisse in ökonomischen, politischen, aber auch privat-intimen Arrangements aus. Geschlechtsspezifische Arbeitsteilung und die Trennung von öffentlich und privat produzieren eine hierarchische Zweigeschlechtlichkeit und mithin ökonomische, soziale und politische Benachteiligung, Unterdrückung und Marginalisierung von Frauen. Diese geschlechtsspezifischen Herrschaftsund Benachteiligungsstrukturen sind funktional für kapitalistische Gesellschaften, für moderne Staaten und Demokratien – für das »brüderliche Patriarchat«, wie Carole Pateman1 diese nennt. Staatliche Politiken legitimieren und sichern diese Ungleichheitsstrukturen ab, indem sie entweder die Geschlechterdifferenz negieren oder aber implizit zur Grundlage von Politik machen – mit dem Effekt, dass die Hegemonie männlicher Deutung sowie die Umverteilung zuungunsten von Reproduktionsarbeiter/-inne/-n legitimiert, institutionalisiert und verstetigt wird. Sexualität steht im Zentrum moderner staatlicher Geschlechterpolitik, ist Sexualität doch mit der Reproduktion der Bevölkerung und der Arbeitskraft verknüpft, mit Biopolitik im Foucault’schen Sinne.2 Heterosexuelle Prostitution – und darum geht es in meiner Untersuchung – ist der kapitalistische Tausch einer sexuellen Dienstleistung zwischen Mann und Frau im Kontext von ungleichen Geschlechterverhältnissen. Prostitution ist somit eine Form kapitalistischer ungleicher Tauschverhältnisse3 und eine
1 | Carole Pateman: The Sexual Contract, Cambridge 1994. 2 | Vgl. Michel Foucault: Sexualität und Wahrheit, Frankfurt am Main 1984. 3 | Vgl. Joyce Outshoorn: »Introduction: prostitution, women’s movements and democratic politics«, in: dies. (Hg.), The Politics of Prostitution. Women’s Movements,
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78 | Birgit Sauer Dienstleistung im Kontext der hierarchischen geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung, also eine Form patriarchaler Ausbeutung von Frauenarbeit. Wie alle Reproduktionsarbeit ist auch Prostitution – auch die damit verbundenen Ausbeutungs- und Unterdrückungsstrukturen – staatlich organisiert. Diese Kontextualisierung von Prostitution in kapitalistischen und staatlichpatriarchalen Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnissen heißt freilich nicht, dass Prostitution nicht Ausgangspunkt für divergente und widerständige Lebens- und Arbeitsentwürfe sein kann: Sie kann einerseits zur Aufrechterhaltung von Abhängigkeit, beispielsweise von Drogen, Zuhältern, Bar- oder Bordellbesitzer/-inne/-n und Frauenhändlern, beitragen, sie kann andererseits aber auch Ausgangspunkt für Freiheitsentwürfe sein – so wie jede andere in Wert gesetzte Arbeit auch. In jedem Fall ist Prostitution eine »komplexe und variantenreiche Struktur und Erfahrung«,4 die nicht auf einfache Dichotomien zurückführbar ist. Die politisch-staatliche Regulierung und Steuerung von Prostitution zeitigt vielmehr ambivalente, intendierte, aber immer auch nicht-intendierte Folgen für Prostituierte und für gesellschaftliche Reproduktionsverhältnisse. Aber – und dies ist ein Merkmal vieler mit Sexualität und Moral verknüpfter frauenpolitischer Themen – Prostitution ist ein in der staatlichen Praxis wie auch in der feministischen Diskussion hoch umstrittenes Erfahrungs- und Praxisfeld.5 Eines lässt sich aufgrund dieser Komplexität und Umstrittenheit freilich sagen: Die Gegenüberstellung Zwang versus Freiwilligkeit oder Fremdbestimmung/Abhängigkeit/Heteronomie versus Autonomie sind in ihrer Dichotomisierung viel zu schlicht und grob, als dass sie das Problem Prostitution begreifen helfen. Wichtig ist es, die widersprüchlichen Geschlechtertexte und die vergeschlechtlichten Praxen bei der Debatte um die Regulierung von Prostitution kritisch zu hinterfragen.
2. Die politisch-staatliche Regulierung von Prostitution. Typologien und Probleme Prostitution wurde in zahlreichen europäischen Ländern seit den 80er Jahren als Problem erkannt, deshalb auf die politische Tagesordnung gesetzt und teilweise neu geregelt. Mehrere Faktoren und Akteure spielten für diesen AgendaSetting-Prozess eine Rolle: so beispielsweise Frauen- und Prostituierten-Bewegungen, die sich auf nationalstaatlicher Ebene, aber mittlerweile auch auf EU-
Democratic States and the Globalisation of Sex Commerce, Cambridge 2004, S. 1-20, hier S. 3. 4 | Ronald Weitzer: »The growing moral panic over prostitution and sex trafficking«, in: The Criminologist, 30/5 2005, S. 1-5, hier S. 4. 5 | Vgl. Leonore Kuo: Prostitution Policy. Revolutionizing Practice through a Gendered Perspective, New York/London 2005.
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Ebene für die Anerkennung von Rechten für Prostituierte einsetzen.6 Darüber hinaus trug auch die Transformation der Angebotsseite durch verstärkte Migration seit Beginn der 90er Jahre zum Faktorenbündel für eine erneute politischstaatliche Auseinandersetzung mit Prostitution bei. In einer vergleichenden Studie konnten unterschiedliche Ländermuster der Regulierung von Prostitution – vier so genannte Prostitutionsregime, also vier Arten und Weisen staatlicher Regulierung von bzw. staatlichen Umgangs mit Prostitution – herausgearbeitet werden7: »Prohibitive Regime« verbieten Prostitution und kriminalisieren Prostituierte wie auch Kunden und Zuhälter. Die USA, aber auch alle staatssozialistischen Staaten haben bzw. hatten prohibitive Regime. »Abolitionistische Regime« verfolgen das Ziel, Prostitution aus der Welt zu schaffen, vor allem aber die staatliche Organisation von Prostitutionsmärkten zu unterbinden. Sie kriminalisieren in der Regel Kunden und Zuhälter, wie beispielsweise in Schweden. »Reglementaristische Regime« entkriminalisieren Prostitution, treffen aber keine weiteren Absicherungen für Anbieter/-innen von Sexarbeit. Kennzeichen reglementaristischer Systeme ist, dass der Staat unmittelbar die Formen der Ausübung von Prostitution und die Prostituierten kontrolliert – in der Regel durch sittenpolizeiliche Maßnahmen wie Registrierung und staatliche Gesundheitsuntersuchungen. Österreich folgt diesem Modell. In »Sexwork-Regimen«8 ist der Kauf und Verkauf von sexuellen Dienstleistungen als Form von Arbeit anerkannt und rechtlich geregelt, beispielsweise in den Niederlanden. Gemeinsam ist westeuropäischen Ländern seit dem Zweiten Weltkrieg, dass die Prostitutionsgesetzgebung widersprüchlich und ambivalent war bzw. ist, dass sie schwankt erstens zwischen Verbot bzw. staatlicher Disziplinierung bzw. Kontrolle der die Dienstleistung anbietenden Frauen und halbherzigen Entkriminalisierungsbemühungen sowie zweitens zwischen Angebotsorientierung – also der Zur-Verfügungstellung eines Angebots an sexueller Dienstleistung – und der Vernachlässigung der Nachfrageseite, also der Freier. Moralische Verdikte und eine damit verbundene Doppelmoral dominieren noch immer das politische Diskursfeld. Die Verkodung mit Kriminalität und Amoral verhindert die Perspektive, dass Prostitution eine Arbeit unter miserablen Bedingungen ist, dass es eine Arbeit ist, die in der Regel in Abhängigkeitsstrukturen erbracht wird, die gesundheitsgefährdend und gewaltförmig-verletzend, weil prekär organisiert, ist – kurz: dass Prostitution viele Merkmale typischer Frauenarbeit besitzt. Darüber hinaus – und dies ist ein Schwerpunkt der folgenden Analyse von Prostitutionspolitiken in Österreich und Slowenien – ist das politische Expert/-inn/-enwissen in Bezug auf das Politikfeld »Prostitutionspolitik« im Vergleich 6 | Vgl. Sex Workers in Europe: Manifesto, Brüssel 2005, http://www.sexworkeuro pe.org, gesehen am 16. Juni 2006. 7 | Vgl. im Folgenden: J. Outshoorn: »Introduction: prostitution, women’s movements and democratic politics«, S. 8. 8 | Vgl. Frederique Delacoste/Priscilla Alexander (Hg.): Sex-Arbeit. Frauen in der Sexindustrie, München 1987.
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80 | Birgit Sauer zu anderen Politikfeldern dünn, und der Wille zum Policy-Learning ist insgesamt sehr schwach ausgeprägt: Wissenschaftliche Expertise als Grundlage von politischen Entscheidungsprozessen ist kaum vorhanden. So existiert – obgleich in der vergangenen Dekade die feministisch-wissenschaftliche Beschäftigung mit Prostitution angewachsen ist – kaum Wissen über die Nachfrageseite von Prostitution, also über die Kunden.9 Aber auch die Analysen der Folgen politischer Regulierungen sind noch unterentwickelt, politikwissenschaftliche Begleitforschung wie Policy-Analysen zur Implementierung von politischen Regulierungen oder die Evaluation von gesetzlichen Maßnahmen fehlen. Kurzum: Rationalität im Sinne von Orientierung an Expert/-inn/-enwissen bzw. praktischer Expertise lässt sich kaum einem der untersuchten EU-Staaten zusprechen. Die Ambivalenzen auf der politischen Entscheidungsebene bzw. bei der Durchsetzung von Prostitutionsregelungen durch die Exekutive werden durch die tiefe Kluft, die durch die Frauenbewegungen geht, verstärkt: In westlichen Frauenbewegungen existieren zwei kontroverse Positionen gegenüber Prostitution: Die Erste sieht in der Prostitution eine Form sexueller Herrschaft von Männern über Frauen und die schärfste Form patriarchaler Ausbeutung; sie argumentiert deshalb prohibitiv, zumindest abolitionistisch. Die andere Position betrachtet Prostitution als Arbeit, als Überlebensstrategie von Frauen und fordert deshalb arbeitsrechtliche Anerkennung und Regulierungen sowie das empowerment von Sexarbeiterinnen (Sexarbeits-Ansatz).
3. Gegenstand, Fragestellung und Methode der Untersuchung Gegenstand meiner Untersuchung ist die staatliche Regulierung und Steuerung von Prostitution in Österreich und Slowenien.10 Die Studie will einen Beitrag zum Vergleich von Prostitutionsregimen in einem westeuropäischen Staat an der Schengengrenze, nämlich Österreich, und einem neuen EU-Mitglied, das in den letzten fünfzehn Jahren den Weg zu staatlicher Souveränität, den Übergang zu liberaldemokratischen und rechtsstaatlichen Institutionen sowie zu marktwirtschaftlich-kapitalistischen Strukturen beschritten hat, leisten. In beiden Ländern ist Prostitution vor allem seit der Grenzöffnung nach 1989 ein heißes und kontrovers diskutiertes Thema. Die beiden Länder weisen unterschiedliche Herangehensweisen an das Phänomen Prostitution auf, doch sie haben nicht völlig unterschiedliche Regulationsregime etabliert. Während Österreich seit den 70er Jahren ein reglementaristisches Regime besitzt, ist Slowenien seit den 90er Jahren durch ein Übergangsregime von der Prohibition zu einem Quasi-
9 | Eine erste Studie ist die von Sabine Grenz: (Un)heimliche Lust. Über den Konsum sexueller Dienstleistungen, Wiesbaden 2005. 10 | Mein Dank geht an Majda Hrzeniak und Karin Tertinegg, die ebenfalls an der Studie mitarbeiteten.
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Sexarbeitssystem gekennzeichnet. Dieses Übergangsregime wird derzeit wieder in Frage gestellt.11 Mein Beitrag möchte Erklärungen für die jeweiligen politisch gewählten Regulationsformen sowie für Unterschiede und Gemeinsamkeiten in den Prostitutionsregimen beider Länder bereitstellen. Gemeinsam ist den beiden Ländern ihre Geschichte im Habsburger Reich des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts sowie der Katholizismus als eine politisch-kulturelle Deutungsstruktur. Unterschiede in beiden Ländern lassen sich ohne Zweifel durch Unterschiede im politischen, kulturellen und ideologischen System sowie in unterschiedlichen Geschlechterregimen und Geschlechterleitbildern seit dem Zweiten Weltkrieg erklären. Aber auch aktuelle unterschiedliche politisch-institutionelle Settings und Zuständigkeiten für die Regulierung von Prostitution spielen eine Rolle für unterschiedliche Prostitutionspolitiken beider Länder. Schließlich sind die Umarbeitungen der Geschlechterverhältnisse seit der slowenischen Unabhängigkeit bedeutsam für die Wahrnehmung und die Regulierung von Prostitution. Mein Beitrag möchte den Schwerpunkt zur Erklärung von Unterschieden wie auch von Gemeinsamkeiten in der Regulierung von Prostitution auf unterschiedliche framing-Strategien legen. Unter framing verstehe ich jenen strategischen Prozess, in dem mittels Vorstellungen, Bildern und Ideen ein politischer Sachverhalt öffentlich präsentiert und diskutiert wird. Dieser Prozess führt schließlich zu einer politischen bzw. gesetzlichen Maßnahme. Von framing-Strategien hängt es ab, wie ein Sachverhalt in der Öffentlichkeit repräsentiert und diskutiert wird, was also als ein gesellschaftliches Problem gesehen wird, das nach einer politischen Lösung verlangt, aber auch, was nicht Teil der politischen Problemdefinition wird, weil es in den Vorstellungen der politischen Akteure – vor allem der dominanten – nicht »denkbar« und mithin auch nicht regulierenswert und regulierbar ist. Die Problemrepräsentation wiederum stellt Weichen für die einzuschlagenden bzw. eingeschlagenen politischen Lösungen. Framing durch politische Akteure – des politisch-administrativen Systems und von NGOs – ist wichtig beim Agenda-Setting, bei der Gesetzgebung wie auch bei der Implementierung von gesetzlichen Maßnahmen. Gerade bei einem Thema wie Prostitution, das ein »Tabu«-Thema und zudem gesellschaftlich hoch umstritten, kontrovers und konfliktreich ist, ist es wichtig, mit welchen frames das Problem öffentlich präsentiert wird, welche Deutungsmuster sich durchsetzen, also hegemonial werden, indem sie als gesetzliche Maßnahmen in das Problemfeld regulierend eingreifen. Welche politischen Maßnahmen werden vorgeschlagen und ergriffen, um das Problem zu lösen, oder anders formuliert: Welche frames prägen politische Lösungen und 11 | Vgl. dazu Birgit Sauer: »Taxes, rights and regimentation: discourses on prostitution in Austria«, in: Joyce Outshoorn (Hg.), The Politics of Prostitution. Women’s Movements, Democratic States and the Globalisation of Sex Commerce, Cambridge 2004, S. 41-61 und Majda Hrzeniak/Vlasta Jalusic/Birgit Sauer/Karin Tertinegg: »Framing prostitution policy. A comparison of Slovenia and Austria,« in: EKKE. The Greek Review of Social Research (117) 2005, S. 93-118.
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82 | Birgit Sauer Maßnahmen? Interessant ist freilich auch, welche Sichtweisen (und damit auch Stimmen und Bevölkerungsgruppen) marginalisiert und zum Verstummen gebracht werden. Unterschiedliche frames und Strategien der Rahmung erklären mithin auch Ähnlichkeiten und Unterschiede in der gesetzlichen Regelung. Dies soll im Folgenden am Beispiel von Österreich und Slowenien deutlich gemacht werden.12 Die Methode der critical frame analysis13 fragt zunächst, wer welche Deutungsmuster in den Definitionsprozess einbringt. Sie analysiert dabei gegenhegemoniale Stimmen und Akteure, sie fragt aber auch nach dominanten Akteuren und frames in der Problemdefinition und in den politischen Lösungsvorschlägen in beiden Ländern. Sind die Problemdefinitionen und die eingeschlagenen gesetzlichen Lösungswege konsistent oder inkonsistent? Damit ist auch die Frage nach politischer Rationalität gestellt: Basieren politische Entscheidungen und Regulierungen auf einer sorgfältigen Problemdefinition, und sind die gewählten Regulierungen den Problemdefinitionen adäquat? – Bevor ich die Ergebnisse der frame-Analyse präsentiere, möchte ich kurz die rechtlichen Regelungen von Prostitution in beiden Ländern skizzieren.
4. Die rechtliche Situation in Österreich und Slowenien In Österreich begann ein langsamer politischer Veränderungsprozess in Bezug auf Prostitution in den 70er Jahren mit der großen Reform des Strafgesetzbuches: Prostitution wurde entkriminalisiert, bis heute stehen anstößige Werbung für Prostitution und ausbeuterische Zuhälterei unter Strafe. Die Ausübung der Prostitution wird durch staatliche Behörden reguliert, d.h. verboten, gestattet und überwacht. Die Rechtslage wie auch die Ausübungsverordnungen sind vergleichsweise zersplittert, da für die Ausgestaltung der staatlichen Kontrollen die Bundesländer und teilweise die Kommunen zuständig sind. Die meisten österreichischen Bundesländer erließen nach der Entkriminalisierung 1974 eigene »Prostitutionsgesetze«, die insgesamt ein widersprüchliches reglementaristisches Regime entstehen ließen: So sind Prostituierte verpflichtet, sich bei der Polizei registrieren zu lassen sowie sich regelmäßigen wöchentlichen Gesundheitskontrollen zu unterziehen – in Wien beispielsweise nicht bei einem/r Arzt/Ärztin der eigenen Wahl, sondern beim städtischen Gesundheitsamt. Seit 1983 sind registrierte Prostituierte wie auch Zuhälter zur Entrichtung von Steuerzahlungen verpflichtet. Das Verwaltungsgericht klassifizierte damals Prostitution als »Gewerbe«. Dies führte in den 80er Jahren zu einer kurzzeitigen Selbstorganisation von Prostituierten, die erfolglos versuchten, ein Sexarbeitsre12 | Das Material der Studie waren Policy-Dokumente wie Parlamentsdebatten, Gesetzestexte, Parteidokumente, Medienartikel, Dokumente von NGOs im Feld seit etwa Mitte der 90er Jahre bis ins Jahr 2004. Es wurden 17 slowenische und 25 österreichische Dokumente analysiert. 13 | Vgl. Mieke Verloo: »Mainstreaming gender equality in Europe. A critical frame analysis approach«, in: EKKE. The Greek Review of Social Research (117) 2005, S. 11-34.
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gime durchzusetzen: Weder eine Gewerbeeintragung bei Handelskammern und Gewerkschaften gelang, noch eine befriedigende Lösung in Bezug auf Sozialversicherungen. Dies lag nicht zuletzt daran, dass das Anbieten von sexuellen Dienstleistungen nach einem Verwaltungsgerichtsurteil von 1982 noch immer als »sittenwidrig« gilt. Seit dem Beginn der 90er Jahre unterstützten die Frauenministerinnen Johanna Dohnal und Helga Konrad die von NGOs im Feld initiierte Initiative für soziale Rechte von Prostituierten. Seit 1997 haben Prostituierte die Möglichkeit, sich sozialversichern zu lassen, d.h. die gesetzliche Kranken- und Rentenversicherung in Anspruch zu nehmen.14 Dennoch: Die Anerkennung als Sexarbeit und die Regulierung von Arbeitsverhältnissen wurde in Österreich nicht erreicht. So genannte »illegale«, d.h. nicht registrierte Prostituierte profitieren von den Sozialversicherungsmaßnahmen nicht. Dies sind meist migrierte Frauen, die keinen legalen Aufenthalt in Österreich haben und sich deshalb bei der Polizei nicht registrieren lassen können und auch keinen Zugang zur staatlichen Gesundheitsuntersuchung haben. Das österreichische Innenministerium war in den letzten Jahren bemüht, diese illegalisierten Formen der Prostitution zu regulieren und zu kontrollieren. Deshalb gab es von Juli 2001 bis Ende 2005 für Migrantinnen in der Sexarbeit die Möglichkeit, eine temporäre Arbeitserlaubnis als »Tänzerin« zu bekommen (entsprechend der Saisonarbeiter/-innen/-regelung). Seit Mai 2004 erhalten darüber hinaus Asylbewerberinnen ebenfalls Arbeitserlaubnisse, die ihnen ermöglichen sollen, sich als Prostituierte registrieren zu lassen. In Wien war am Beginn des neuen Jahrhunderts eine prohibitiv-abolitionistische Lösung nach dem schwedischen Modell in der Debatte. Im schließlich 2004 in Kraft getretenen Wiener Prostitutionsgesetz wurde dies nicht realisiert. Das Gesetz nimmt dennoch erstmals Bezug auf Klienten, indem es die Belästigung Dritter, i.e. von Anwohner/-inne/-n, bei der Anbahnung der Prostitution durch Freier unter Strafe stellt. In Slowenien wurde in post-sozialistischer Zeit von einem prohibitiven Prostitutionsregime abgerückt. Bis Mitte der 70er Jahre war Prostitution im damaligen Jugoslawien verboten, sie wurde als abweichendes Verhalten gesehen und als Ordnungswidrigkeit geahndet. Seit Mitte der 70er Jahre wurde Prostitution – aufgrund der Öffnung Jugoslawiens nach Westen und wegen des gestiegenen Tourismus nach Jugoslawien – geduldet. Die partei-offizielle jugoslawische Frauenbewegung zeigte kein Interesse am Problem Prostitution, schon gar nicht an Problemen der Prostituierten. Sie betrachteten Prostitution als dem Sozialismus und dem sozialistischen Menschenbild inadäquat. Doch bereits Mitte der 80er Jahre gab es Forderungen – vor allem von Wissenschaftler/-inne/-n –, Prostitution zu entkriminalisieren, dies aber ohne Erfolg.15 Im Jahr 2003, also mehr als zehn Jahre nach dem Zerfall Jugoslawiens und der slowenischen Unabhängigkeit, beschloss das slowenische Parlament ein Ge14 | Vgl. B. Sauer: »Taxes, rights and regimentation: discourses on prostitution in Austria«. 15 | Vgl. M. Hrzeniak u.a.: »Framing prostitution policy«.
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84 | Birgit Sauer setz zur Entkriminalisierung der Prostitution, das weiterhin wie in Österreich Zuhälterei und die Anbahnung von Prostitution (z.B. durch Bordellbesitzer) als Ordnungswidrigkeit bestraft (in schweren Fällen mit bis zu 10 Jahren Haft). In der Debatte über das Gesetz wurden das niederländische und das deutsche Modell diskutiert. Diese Sexarbeits-Modelle konnten sich aber nicht durchsetzen. So blieb es bei der Reform des Strafgesetzbuches, doch weitere Regelungen der Registrierung existieren nicht, freilich auch keine Anerkennung von Prostitution als Gewerbe. Straßenprostitution gibt es in den großen Städten Ljubljana und Maribor nicht, Prostitution findet meist in den Wohnungen der Frauen statt, angebahnt über Annoncen und das Internet.16 Mit dem Wechsel zu einer rechtskonservativen Regierung im Jahr 2005 ist der liberale Prostitutionsparagraph wieder in der Debatte – das »schwache Sexarbeitsregime« soll in ein prohibitives verändert und Prostitution wieder als Ordnungswidrigkeit belangt werden.
5. Framing und Policy-making: Österreich und Slowenien Ich werde im Folgenden die dominanten Wahrnehmungsformen von Prostitution in Österreich und Slowenien darstellen und im Ländervergleich herausarbeiten, wie Prostitution gesehen wird, wie stark nach wie vor die Polarisierungen und Ambivalenzen und vor allem wie ausgeprägt Geschlechterungleichheit in diesem Gesellschaftsbereich sind.17
5.1 Was ist das Problem mit der Prostitution? – Frames in der Problemdefinition Prostitution als anti-emanzipatorisches Phänomen Dieser frame, der Prostitution als backlash gegen das Projekt der Frauengleichstellung sieht, existiert sowohl in Österreich wie in Slowenien. In Slowenien ist diese Vorstellung tief verwurzelt in der sozialistischen Tradition, die Prostitution als weibliches Sklaventum bezeichnet. Sie wird auch heute vornehmlich von Sozialdemokratinnen vertreten, wurde aber in der slowenischen Transformationsphase als hegemonialer frame verdrängt (SI7). Auch in Österreich wird diese Wahrnehmung sowohl von Frauen aus der sozialdemokratischen Partei SPÖ, aber auch von frauenbewegten Frauen der ersten Stunde vertreten, die heute oft in der staatlichen Verwaltung arbeiten (AT13, AT19).
16 | Vgl. Simona Zimic Zavratnik: »Sex trafficking: The state, security, criminality, morality – and the victim«, in: dies. (Hg.), Women and Trafficking, Ljubljana 2004, S. 919. 17 | Die Ergebnisse stützen sich, wie bereits angemerkt, auf »policy«-Dokumente aus diesen beiden Ländern. Eine Übersicht über die hier verwendeten Dokumente ergibt sich aus der Sigl-Nummern-Liste der benutzten Dokumente am Ende dieses Beitrags.
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Prostitution als Zwang In Österreich gehen Vertreter/-innen von Parteien, aber auch Mitarbeiter/-innen in der Verwaltung – insbesondere die Frauenpolitikerinnen der Sozialdemokratischen Partei SPÖ und der christlich-konservativen ÖVP (Österreichische Volkspartei) – davon aus, dass Frauen der Prostitution nie freiwillig nachgehen, sondern dass Prostitution stets mit unfreiwilligen Entscheidungen bzw. Zwängen zu tun hat. Prostituierte werden als Opfer patriarchaler Ausbeutung (durch Klienten und Zuhälter) oder als Opfer von schlechten Erfahrungen in ihrer Kindheit gesehen, die zu vielfältigen Abhängigkeitsstrukturen – z.B. Drogenabhängigkeit – und in das Gewaltmilieu Prostitution führten. Seit Mitte der 90er Jahre wird in Österreich dieses Bild der Prostituierten als Opfer von Zwang und Ausbeutung verstärkt durch die Verknüpfung von Frauenhandel und Prostitution. Das Problem und das Wahrnehmungsmuster Frauenhandel schoben sich gleichsam vor die Debatte um Prostitution und machten so potenziell alle Prostituierten zu »Opfern« von Zwang (AT1, AT7, AT9, AT21). In der politischen Debatte wird somit kaum noch unterschieden zwischen den Gewaltopfern des Frauenhandels und jenen Prostituierten, die durch unsichere Arbeitsverhältnisse in der Sexarbeit Opfer ausbeuterischer Verhältnisse sind. Sowohl die Möglichkeit der Wahl der Sexarbeit wird durch diese Viktimisierung ausgeschlossen wie auch die Möglichkeit der Verbesserung der Arbeitsbedingungen in der Sexarbeit. Die Verknüpfung von Frauenhandel und Prostitution ist in Slowenien nicht dominant, dort werden die beiden Phänomene getrennt diskutiert und nur ganz bestimmte Prostituiertengruppen werden als »Opfer« wahrgenommen, nämlich die aus Südosteuropa gehandelten Frauen. Slowenische Prostituierte gelten hingegen in der öffentlichen Debatte nicht als »Opfer« – weder von aktuellen noch von früheren Zwangssituationen. No problem-frame: neoliberale Deutungsmuster Insbesondere Vertreter/-innen der slowenischen liberalen Partei machten im Gesetzgebungsprozess seit 2001 die Sichtweise stark, dass slowenische Frauen freiwillig der Prostitution nachgehen, um ihr Einkommen zu verbessern und ihren Lebensstandard zu erhöhen. Dies sei unter kapitalistischen und Marktbedingungen eine rationale Entscheidung, und diese »neuen« Formen der Prostitution – genannt werden »Wochenendprostitution«, Prostitution von Hausfrauen und Studentinnen – basiere auf der freien Wahl der Betroffenen und sei mithin ihr Recht, und Prostitution sei kein Problem (SI1, SI4, SI8). In einem neoliberalen ökonomischen Argument wird also Prostitution als freiwillige Wahl auf dem neu sich etablierenden kapitalistischen Arbeitsmarkt gesehen. Sloweninnen in der Sexarbeit gelten als freiwillige »neue« Unternehmerinnen, die ökonomisch orientiert sind und sich den Bedingungen der Marktwirtschaft gut angepasst haben (SI1). Ich bezeichne dies als »neoliberalen« Prostitutionsframe.
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86 | Birgit Sauer Sexwork-frame und fehlende soziale Rechte als Problem Dieser slowenische neoliberale frame besitzt nur oberflächlich Ähnlichkeit mit dem Sexarbeitsframe, der in der Prostitution selbst kein Problem sieht, sondern die restriktiven Maßnahmen gegen Prostituierte und fehlende arbeits- und sozialrechtliche Regelungen problematisiert. Dieses Denkmuster ist weder in der slowenischen noch in der österreichischen Debatte dominant: In Österreich argumentieren nur Beratungsorganisationen für Prostituierte – LEFÖ und SILA in Wien, MAIZ18 in Linz – und einige Abgeordnete der Grünen damit, dass Prostitution auch freiwillig gewählte Arbeit sein kann (AT16, AT23). Diese Organisationen weisen auch immer wieder darauf hin, dass fehlende soziale Absicherung und Rechte von Sexarbeiterinnen das eigentliche Problem der Prostitution sei. Gute versus schlechte Prostituierte Die Polarisierung zwischen guten und schlechten bzw. »gefährlichen« Prostituierten ist in Österreich wie auch in den slowenischen Debatten präsent. In Österreich geht es vornehmlich um die Unterscheidung zwischen so genannten »Geheimprostituierten« und legalen, d.h. registrierten Prostituierten. Die nicht registrierten, meist migrantischen Frauen gelten als gesellschaftliches Gefährdungspotential (AT17), während die legalen Prostituierten als die »guten« Prostituierten gesehen werden. Insbesondere in Wien nutzt die rechtspopulistische FPÖ (Freiheitliche Partei Österreichs) diese populistische Polarisierung: Österreichische Prostituierte, die registriert sind und regelmäßig zu Gesundheitsuntersuchungen gehen, werden als Personen betrachtet, die eine für die Gesellschaft (i.e. Männer) wichtige Arbeit erbringen, nämlich die Möglichkeit der »Sexualitäts- und Gewaltabfuhr«. Durch diese Sicht werden aber illegalisierte Prostituierte – und dies sind in der Sicht der FPÖ ausschließlich Migrantinnen und Asylwerberinnen – umso negativer gezeichnet. Diese Gegenüberstellung benutzt die FPÖ zu einem rassistischen framing von Prostituierten.19 Auch in der slowenischen Debatte werden solche polarisierenden Konstruktionen benutzt: »Die Anderen« sind hier die nicht-slowenischen, migrierten Prostituierten, die also nicht »Neu-Unternehmerinnen« in der slowenischen Marktwirtschaft, sondern die Opfer von Frauenhandel oder von schlechten ökonomischen Bedingungen in südlichen Balkanländern sind. Auch slowenische Akteure nutzen mithin eine rassistische Polarisierung in der Prostitutionsdebatte.
18 | LEFÖ ist die Abkürzung für »Lateinamerikanische emigrierte Frauen in Österreich«, MAIZ steht für »Migrantisches Autonomes Integrationszentrum«, SILA ist kein Akronym. 19 | Vgl. Benedikt Krenn: Das »Problem« Prostitution. Deutungsrahmen in der Debatte des Wiener Prostitutionsgesetzes 2004, Diplomarbeit, Universität Wien, 2005.
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Moralischer Gefährdungsdiskurs Die Vorstellung, dass Prostitution die öffentliche Moral der Gesellschaft zersetze, existiert nur in der österreichischen Debatte, nicht in Slowenien. Das »Sittenwidrigkeitsgebot« der Prostitution macht eindeutig die Prostituierte zur Moralgefahr. Insbesondere die christlich-konservative ÖVP und die rechtskonservative FPÖ vertreten diese Position seit den 70er Jahren der Entkriminalisierung (AT17). Spezifische Bevölkerungsgruppen, nämlich Jugendliche, und spezifische Orte, beispielsweise Schulen, Kirchen und Bushaltestellen, gelten als besonders moralgefährdet (AT17). Seit dem Ende der 90er Jahre können wir ein doppelmoralisches Revival feststellen: Es hat sich bei vielen Politikern die Vorstellung der gleichsam »natürlich-unabänderlichen Nachfrage« nach Prostitution eingebürgert. In Wien wird dies insbesondere von der FPÖ vertreten. Diese Entlastung der Freier führt zu einer doppelmoralischen Belastung bzw. zu einer moralischen Doppelbelastung von Prostituierten: Sie werden für die Nachfrage nach sexuellen Dienstleistungen und den Sittenverfall verantwortlich gemacht. Diese einseitige Sicht schlägt sich nach wie vor in vorenthaltenen Rechten, aber auch in der Sicherheitsgefährdung von Prostituierten nieder. Gesundheitsgefahr Nach wie vor gibt es in Österreich – weniger in Slowenien – die Debatte um die Gefährdung der öffentlichen Gesundheit, die vornehmlich von illegalen Prostituierten ausgehe. Dies ist ein konstanter frame in der österreichischen Debatte seit der Entkriminalisierung in den 70er Jahren, der in Zeiten von HIV/Aids in den 80er Jahren hegemonial war, und aus den Debatten sowohl der Konservativen wie auch der Sozialdemokraten nicht verschwunden ist (AT5, AT22, AT24). Heute gelten vor allem so genannte nicht-registrierte Frauen, die sich nicht regelmäßig Gesundheitskontrollen unterziehen, als ein Gefahrenpotenzial für die öffentliche Gesundheit. Auch in diesem frame wird die Freier-Frage dethematisiert, d.h. das Gefährdungspotential von Freiern für Prostituierte – sei es durch Gewalt, sei es durch ungeschützten Sexualverkehr – wird als politisches Problem nicht debattiert. Im Gesundheitsdiskurs geht es vornehmlich um die Bereitstellung eines gesunden und sicheren Angebots an sexuellen Dienstleistungen. Störung der öffentlichen Ordnung und Gefahr für die öffentliche Sicherheit Da es in Slowenien (bislang) kaum Straßenprostitution gibt – Prostitution findet in Privatwohnungen statt –, existiert hier die Problemdefinition »Störung der öffentlichen Ordnung« (noch) nicht in der politischen, wohl aber in der medialen Debatte (SI2). In Österreich wird sichtbare Prostitution, d.h. Straßenprostitution, als Störung der öffentlichen Ordnung und des »Straßenbildes« heftig diskutiert. In Wien beispielsweise gibt es seit Anfang der 90er Jahre einen öffentlichen Streit über Straßenprostitution in mehreren Stadtbezirken. Ein dominan-
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88 | Birgit Sauer ter frame in diesen Debatten ist die Gefährdung der öffentlichen Sicherheit – nicht nur, aber vor allem – für die Anwohner/-innen in diesen Bezirken (AT24). Ging die Gefährdung bis weit in die 90er Jahre hinein in den Debatten ausschließlich von Prostituierten aus, änderte sich im Wien des neuen Jahrhunderts der Diskurs – vornehmlich durch die Arbeit von sozialdemokratischen und Grünen Politikerinnen sowie von NGOs: Das neue Wiener Prostitutionsgesetz sieht auch Freier, die mit Autos durch die Straßen fahren, als eine Herausforderung für die öffentliche Ordnung und Sicherheit (AT24). Organisierte Kriminalität und Rekriminalisierung von Prostitution Ein weiterer Sicherheitsdiskurs trägt das Label »organisierte Kriminalität«, das mit der Verknüpfung von Prostitution und Frauenhandel zunehmend zum dominanten frame für Prostitution in Österreich wird (AT15, AT20). Prostitution wird in diesem Diskurskontext als kriminelle »Zwangsarbeit« diskutiert. Dadurch aber wird Prostitution selbst diskursiv rekriminalisiert. Und diesem frame ist ein starker interagierender sexistischer und rassistischer Text unterlegt: Der kriminelle Frauenhändler oder Zuhälter wird als Mann vom Balkan imaginiert und präsentiert (AT19). Der Organisierte-Kriminalitäts-Diskurs ist in Österreich aufgrund seiner Anschlussfähigkeit an den Unfreiwilligkeits- und Zwangsframe sehr prominent und hat sich seit Mitte der 90er Jahre – medial unterstützt – rasch über alle politischen Lager durchgesetzt. – Nur für die Beratungsstellen LEFÖ, SILA und MAIZ, die stets für Opferschutz, aber auch für eine Trennung der automatischen Verkodung von Frauenhandel in die Prostitution plädierten (AT23), ist die organisierte Kriminalität kein zentraler frame.
5.2 Welche politischen Lösungsvorschläge werden in beiden Ländern diskutiert? Entkriminalisierung und laissez-faire In der slowenischen Debatte der frühen 2000er Jahre führte das Argument, dass alle Marktbürger/-innen die Freiheit zur Wahl ihrer Erwerbsquelle haben sollten, also auch Frauen zur Sexarbeit, zur Forderung und zur gesetzlichen Maßnahme der Entkriminalisierung von Prostitution. Ein weiteres Argument in diesem Diskurskontext war, dass sich daraus eine Möglichkeit für staatliche Besteuerung ergebe (SI1, SI2, SI10). Weitere Regulationen der Prostitution als Arbeit wurden aber – ganz im Sinne des neoliberalen frames – nicht gefordert und auch nicht gesetzlich verankert; die Arbeitsbedingungen bleiben unreguliert und deshalb prekär – entsprechend der neoliberalen laissez-faire-Ideologie. Verhinderung von und Ausstieg aus der Prostitution Der dominante frame in Österreich seit Mitte der 90er Jahre ist jener der Verhinderung bzw. Beseitigung von Prostitution. Als probates Mittel hierfür gilt die
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Beratung zum Ausstieg von Frauen aus der Prostitution (AT6, AT12, AT17). Hauptzielgruppe zur Beseitigung des Problems Prostitution sind also Frauen, die Angebotsseite sexueller Dienstleistung. Dieser Lösungsframe »Abschaffung durch bzw. und Ausstieg« basiert stark auf der Vorstellung von Frauen als Opfer – des patriarchalen Systems, von organisierter Kriminalität, Freiern, Zuhältern und Menschenhändlern. Doch die Nachfrageseite wird in den Policy-Dokumenten so gut wie nicht angesprochen, und Beratungsstellen werden kaum finanziert. Diese Lösungsvorschläge fehlen in der slowenischen Debatte – nicht verwunderlich, da das framing von Prostitution als »Zwangsarbeit« kaum existiert. Lediglich Mädchen aus sozialen Randgruppen geraten mitunter in den Blick – der Fokus liegt dann auf migrantischen Prostituierten, die aber weniger beraten, sondern vielmehr abgeschoben werden sollen (SI7, SI12, SI13). Nur die Organisation Kljuc, eine Beratungsstelle für Opfer des Menschenhandels, stellt den Opferschutz ins Zentrum. Kontrolle und Bestrafung von illegalen Prostituierten Der frame illegale Prostitution ist in der österreichischen und slowenischen Debatte unmittelbar mit Migration verknüpft. Politische Lösungsvorschläge zielen deshalb auf restriktive Grenzkontrollen und strengere Migrationsregime und Bestrafung von nicht-registrierter Prostitution. Eine Ausnahme bildet der Opferschutz bei der Aufdeckung von Menschenhandel. Unsichtbarmachen von Prostitution In Wien führte der Diskurs um die Gefährdung öffentlicher Sicherheit und das Bedürfnis nach »Unsichtbarmachung« von Straßenprostitution zu ständigen Verdrängungsprozessen der Frauen von der Straße bzw. zu restriktiven Einschränkungen der Straßenprostitution. Bordelle und Wohnungsprostitution in der Wohnung der Frauen sind verboten, deshalb sollen Zonierungen dazu führen, Sexarbeiterinnen aus dem innerstädtischen Blickfeld verschwinden zu lassen (AT24). Im neuen Wiener Prostitutionsgesetz von 2004 bewirkte dieser frame mit Blick auf Freier einen Paradigmenwandel: Nicht mehr nur Prostituierte gelten als Gefahr für die öffentliche Ordnung und das Straßenbild, sondern auch Freier. Diese können nun mit einer Ordnungsstrafe belangt werden, wenn sie zu laut und offensichtlich einen Sexhandel anbahnen wollen. Dieses Geld fließt an Beratungseinrichtungen für Prostituierte (AT2, AT24). In Slowenien, wo Prostitution in Wohnungen stattfindet, fehlt diese Sichtweise. Soziale Rechte für Prostituierte In der österreichischen Diskussion war der Lösungsframe »soziale Rechte« vor allem in den 90er Jahren sehr präsent – im Zuge der Debatte um Zugang von Prostituierten zur Sozialversicherung. Mit der Gesetzesänderung für registrierte Prostituierte ist dieser frame schwächer geworden – er wird von Beratungsorga-
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90 | Birgit Sauer nisationen in einen Sexarbeitsframe transformiert. In der slowenischen Debatte fehlen solche Überlegungen völlig: Ein liberalisierter Markt braucht keine sozialen Schutzrechte. Anerkennung von Prostitution als Arbeit Der Sexarbeitsframe ist in Österreich fast völlig abwesend. Außer in der Debatte um die Besteuerung von Prostituierten in den 80er Jahren wird er heute nur von in der Arbeit mit Prostituierten tätigen NGOs und von einigen Grünen-Politiker/-inne/-n vertreten. Die Argumentation der NGOs geht weit über die bloße Entkriminalisierung von Prostitution hinaus und zielt auf arbeitsrechtliche und neue fremdenrechtliche Regelungen. Doch Österreich ist weit entfernt von einer arbeitsrechtlichen Anerkennung von Prostitution als Sexarbeit und entsprechenden Regulierungen. In Slowenien hingegen ist der Sexarbeitsframe zwar vorhanden, er führte aber zu einer Etablierung eines unregulierten, neoliberalen Marktes von Nachfrage und Angebot, der den »freigesetzten« Sexarbeiterinnen keinerlei Schutzrechte garantiert.
6. Politik und Rationalität? Inkonsistenzen in den Politikdebatten Nach wie vor ist in den öffentlichen Diskussionen der beiden Länder die Komplexität des »Problems« Prostitution nicht auf der Agenda der politischen Akteure und der Gesetzgebung: Simple und dichotome frames prägen sowohl die Problemdefinition wie auch die Lösungen. Das slowenische Modell sieht eine neoliberale Marktregelung vor, die Prostitution als unregulierte Arbeit toleriert. In Österreich amalgamieren sich demgegenüber konservativ-moralische frames mit bestimmten frauenpolitischen, die sich unterstützen und verstärken und in eine prohibitive Richtung weisen. In keinem der beiden Länder gehen die politisch Verantwortlichen auf die schlechten Arbeitsbedingungen für Sexarbeiterinnen ein. Der Kontext eines zusammenbrechenden, sich prekarisierenden Frauenarbeitsmarktes oder niedrige Frauenlöhne wird beispielsweise nicht als ein Bedingungsfaktor für Prostitution diskutiert. Prostitution wird tendenziell entkontextualisiert, und die Frage von Rechten für Frauen in der Sexarbeit gerät aus dem Blick. Darüber hinaus wird in beiden Ländern die Nachfrageseite der Prostitution dethematisiert. Prostitution wird somit in den politischen Debatten beider Länder nur ganz marginal als Problem der Gleichstellung von Frauen und Männern debattiert. Lediglich im Opferdiskurs geraten frauendiskriminierende Strukturen und Akteure in den Blick – allerdings um den Preis der Viktimisierung aller Frauen im Sexbusiness. Auch der slowenische laissez-faire-Diskurs ist von Geschlechtergleichheit oder gar -sensibilität weit entfernt; hier scheint es, dass nicht einmal mehr paternalis-
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tische Fürsorge wie im Opferdiskurs existiert, sondern dass Gleichstellung von Mann und Frau vollends dem Markt überlassen worden ist.20 Das Politikfeld Prostitution funktioniert nach polarisierenden Regeln und wird dementsprechend reguliert. Die Dichotomien führen dazu, dass spezifische Gruppen von Prostituierten – wenn auch prekär – integriert werden (die Guten), dass dadurch aber stets andere Gruppen von Prostituierten marginalisiert bleiben (die Illegalen). Diese Polarisierungen, das »Othering«, ist in beiden Ländern präsent in der politischen Debatte – in Österreich wird die registrierte der nicht-registrierten Prostituierten gegenübergestellt, in Slowenien weit offen nationalistischer die gute slowenische der schlechten migrierten Prostituierten vom südlichen Balkan. Die Debatten beider Länder bieten lediglich restriktive Lösungen für das Problem von illegalen, weil durch fremdenrechtliche Lösungen illegalisierte, Frauen an. Sie framen das Thema als Problem illegaler Migration und illegaler Prostitution und belasten damit Frauen in der Sexarbeit. Die Stimmen der Betroffenen finden in beiden Ländern keinen Eingang in die politischen Debatten, sie werden im politischen Entscheidungsprozess marginalisiert. Lediglich NGOs haben es geschafft, für die Gruppen zu sprechen. Das Governing von Prostitution schließt also nach wie vor die hauptsächlich Betroffenen von einer Beteiligung aus – man stelle sich vor, dass Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände bei der Regelung von Arbeitsbedingungen, Arbeitszeiten und Löhnen nichts zu sagen hätten.
Literatur Delacoste, Frederique/Alexander, Priscilla (Hg.): Sex-Arbeit. Frauen in der Sexindustrie, München 1987. Foucault, Michel: Sexualität und Wahrheit, Frankfurt am Main 1984. Grenz, Sabine: (Un)heimliche Lust. Über den Konsum sexueller Dienstleistungen, Wiesbaden 2005. Hrzeniak, Majda/Jalusic, Vlasta/Sauer, Birgit/Tertinegg, Karin: »Framing prostitution policy. A comparison of Slovenia and Austria«, in: EKKE. The Greek Review of Social Research (117) 2005, S. 93-118. Krenn, Benedikt: Das »Problem« Prostitution. Deutungsrahmen in der Debatte des Wiener Prostitutionsgesetzes 2004, Diplomarbeit, Universität Wien 2005. Outshoorn, Joyce: »Introduction: prostitution, women’s movements and democratic politics«, in: dies. (Hg.), The Politics of Prostitution. Women’s Movements, Democratic States and the Globalisation of Sex Commerce, Cambridge 2004, S. 1-20. Pateman, Carole: The Sexual Contract, Cambridge 1994. Sauer, Birgit: »Taxes, rights and regimentation: discourses on prostitution in Austria«, in: Joyce Outshoorn (Hg.), The Politics of Prostitution. Women’s Movements, Democratic States and the Globalisation of Sex Commerce, Cambridge 2004, S. 41-61. 20 | Diesen Hinweis verdanke ich Axeli Knapp.
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92 | Birgit Sauer Kuo, Leonore: Prostitution Policy. Revolutionizing Practice through a Gendered Perspective, New York/London 2005. Verloo, Mieke: »Mainstreaming gender equality in Europe. A critical frame analysis approach«, in: EKKE. The Greek Review of Social Research (117) 2005, S. 11-34. Weitzer, Ronald: »The growing moral panic over prostitution and sex trafficking«, in: The Criminologist (5) 2005, S. 1-5. Sex Workers in Europe: Manifesto, Brüssel 2005, http://www.sexworkeurope. org, gesehen am 16. Juni 2006. Zimic, Simona Zavratnik: »Sex trafficking: The state, security, criminality, morality – and the victim«, in: dies. (Hg.), Women and Trafficking, Ljubljana 2004, S. 9-19.
Sigl-Nummern der benutzten Dokumente Österreich AT1 AT2 AT3 AT4 AT5 AT6 AT7 AT8 AT9 AT10 AT11 AT12 AT13 AT14
Green party programme 1990, valid until July 2001. Article of the daily Die Presse of July 27, 1995: »Peace in Stuwer-district?« Article of the daily Die Presse of February 13, 1996: »Bulgarian trafficker of women arrested in Vienna«. Parliamentary debate minutes, National Council, July 26, 1996. Article of the daily Die Presse of January 27, 1997: »Prostitution in spite of AIDS«. Article of the daily Der Standard of April 22, 1997: »Search for money for new help for prostitutes«. Written inquiry to Federal Minister for Work of July 1997, on pension rights for prostitutes. Answer to inquiry on pension rights for prostitutes by Federal Minister for Work of July 1997. Article of the daily Die Presse of August 11, 1997: »Furious citizens chasing ›traffic offenders‹«. Parliamentary debate minutes, National Council, November 11, 1997: statement on prostitution by FPÖ party deputy. Parliamentary debate minutes, National Council, December 10, 1997: statement on prostitution by Green Party deputy. Article of the daily Der Standard of January 16, 1998: »Treat prostitutes as human beings«. Article of the daily Die Presse of April 4, 1998: »Red-light scene blownup: Punter bought 16-year old girl«. Article of the daily Der Standard of October 21, 1998: »Trafficking as huge business – 200.000 women from Eastern Europe ending up as prostitutes in the West«.
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AT15 Parliamentary debate minutes, Federal Council, November 19, 1998: Statement by Women’s Minister on trafficking and prostitution. AT16 Article of the daily Der Standard of December 11, 1998: »Only tax authorities are tolerant«. AT17 Article of the daily Die Presse of February 12, 2000: »Chance of surviving: seven years«. AT18 Article of the daily Der Standard of July 17, 2001: »Rights for women in the ›taboo-area‹ of prostitution.« AT19 Article in the daily Die Presse of October 23, 2001: »Girls forced to prostitution«. AT20 Parliamentary debate minutes, Federal Council, July 25/26, 2002: Statement on prostitution of minors by SPÖ deputy. AT21 Green party’s statement, November 2002. AT22 SPÖ women’s organisation’s programme, November 2002. AT23 Speech by the spokeswomen of NGO »LEFÖ«, July 2003. AT24 Bill for the amendment of the Viennese prostitution Act, July 2003. AT25 Article of the daily Der Standard of January 30, 2004: »Viennese prostitution law adopted«. AT26 Article of the daily Der Standard, August 25, 2005: »Politics is dealing with public prosecutors as punters«. AT27 Parliamentary inquiry on trafficking to the Minister of the Interior, September 20, 2005. AT28 Answer by Minister of the Interior to parliamentary inquiry on trafficking, November 18, 2005.
Slowenien SI1
Bill amending the Law on Offences Against Public Order and Peace. Ljubljana 2001. SI2 Voters Initiative for an Application for a Subsequent Referendum to Confirm the Bill Proposing Changes in the Law on Offences Against Public Order and Peace. Ljubljana: Civil Society, 2003. SI3 Committee of Parliament of the Republic Of Slovenia for Internal Affairs, 35th regular session, May 7, 2003. SI4 26th Regular Session of the National Assembly of the Republic of Slovenia; Item 5 of the Agenda – the Second and Third Discussion on the Bill Proposing Changes in the Law on Offences Against Public Order and Peace. Ljubljana, 2003. SI5 Second and Third Report of the Republic of Slovenia on the Implementation of the Provisions of the Convention on the Elimination of all Forms of Discrimination against Women (CEDAW), Ljubljana: Office for Equal Opportunities of women and men, 1999 and 2002. SI6 Kanduc, Z., 1998, »Prostitution« in: Kanduc Z., Korozec, D., Boznjak, M., Sexuality, Violence and Law, Ljubljana, Institute for Criminology, office for Women’s Policy, p. 52-72.
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94 | Birgit Sauer SI7
Cotic, M., 2003, »Native Land, Pale Mother« in: Primorska srezanja, Magazine for Sociology and Culture, XXVII, no. 264/5, Nova Gorica, Cultural Society Primorska Srezanja, p. 12-15. SI8 Popov, J., 2001, »Differencies in the Field of Prostitution«, in: daily newspaper Delo, December 20, 2001. SI9 Bratina, M., 2003, »A Young Albanian Escaped to the Italian South to Start a Better Life« in: Druzina, July 6, 2003. SI10 »Delight of the Morning Love«, Jana, June 10, 2003. SI11 Modic, M., 2003, »Ugly Sex and Nice Words«, A sincere conversation with a professional prostitute who knows well why Slovenian men attend prostitutes and what they want the most, in: Mladina, June 9, 2003. SI12 Working Materials for a Draft on National Program for Equal Opportunities for Men and Women Concerning Trafficking in Human Beings, Prostitution and Pornography. Ljubljana: Office for Equal Opportunities, 2003. SI13 A Presentation of Society Kljuc and its Activities (in: Witness Project, Ljubljana: Kljuc, 2003, p. 6-15). SI14 A Presentation of the Outcomes of the Inter-ministerial Working Group acting in the Field of Trafficking in Human Beings, Ljubljana 2003. SI15 Speech of the Ambassador of the European Commission, Ljubljana 2003. SI16 The Agreement between Society Kljuc and The Supreme Public Prosecutor’s Office of Republic Slovenia on the Cooperation in the area of the Assurance Assistance to the Victims of Trafficking in Human Beings in Republic Slovenia, Ljubljana 2003. SI17 The Agreement between Society Kljuc and Ministry of Republic Slovenia for Internal Affairs on the Cooperation in the area of the Assurance the Help to the Victims of Trafficking in Human Beings in Republic Slovenia, Ljubljana 2003.
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Prostitutionspolitik in Deutschland und Schweden | 95
Prostitutionspolitik in Deutschland und Schweden. Zum ideologischen Hintergrund von Sexarbeit und Sexkaufverbot Susanne Dodillet
Sowohl im Bundestag als auch im schwedischen Parlament, dem Riksdagen, wurde Ende der 90er Jahre intensiv über neue Prostitutionsgesetze diskutiert. Dabei gelangte man zu Ergebnissen, die sich grundlegend voneinander unterscheiden: Während das deutsche Parlament im Oktober 2001 ein Gesetz verabschiedete, das die Rechte von Prostituierten an die anderer Berufsgruppen angleichen sollte, hat Schweden 1999 den Kauf, nicht jedoch den Verkauf, sexueller Dienstleistungen verboten und bestraft seither Sexkäufer mit bis zu sechs Monaten Gefängnis. Der schwedischen Gesetzgebung liegt eine feministische Gesellschaftsanalyse zugrunde, nach der Frauen in einer patriarchalen Gesellschaft nicht den gleichen Zugang zu Arbeit, Geld und Macht haben wie Männer. Nach der schwedischen Lesart haben Männer als die sozial Mächtigeren die Möglichkeit, Frauen als Sexualobjekte zu kaufen.1 Die Befürworter des Sexkaufverbots sind davon
1 | Die schwedischen Gesetzgeber gehen in ihren Diskussionen von heterosexueller Prostitution mit männlichen Kunden und weiblichen Prostituierten aus. In den seltenen Fällen, in denen auch auf homosexuelle Prostitution eingegangen wird, wird diese meist als Teil männlicher, homosexueller Kultur beschrieben. Anonyme sexuelle Kontakte werden hier als normal und somit weniger problematisch geschildert. Auf lesbische Prostitution und heterosexuelle Prostitution mit Kundinnen hingegen wird so gut wie nie eingegangen, was mit der vermeintlichen Seltenheit dieser Form von Sexhandel begründet wird. Ein Beispiel für diese Haltung ist die letzte Evaluierung des schwedischen Sexkaufverbots durch das schwedische Sozialamt: Socialstyrelsen: Kännedom om prostitution 2003, Stockholm 2004. Auf der Seite http://www.socialstyrelsen.se/NR/rdonlyres/A688D62 4-4505-431F-A9CF-DCD7C12D0539/2719/200413128.pdf, gesehen am 19. Juni 2006, kann dieser Bericht auch auf Englisch abgerufen werden. Für eine ausführlichere Diskussion
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96 | Susanne Dodillet überzeugt, dass Prostitution keine persönliche oder freiwillige Entscheidung sein kann, sondern Teil der allgemeinen Unterdrückung von Frauen und ein deutliches Zeichen für die mangelhafte Gleichstellung von Frauen und Männern in der Gesellschaft ist. Die Sozialdemokraten drückten dies im Riksdagen wie folgt aus: »Indem Prostitution von der Gesellschaft ›gutgeheißen‹ wird, wird auch ein erniedrigendes Frauenbild akzeptiert. Die Auffassung, dass Frauen gekauft werden können, ist Ausdruck für eine Verachtung der Frau als Mensch. Sie ist unterlegen und kann folglich wie eine Ware behandelt werden, für die man bezahlt, um sie nach eigenen Wünschen auszunutzen.«2
In den Vorarbeiten für das Gesetzpaket Kvinnofrid (Frauenfrieden), wo Prostitution neben Vergewaltigung, Geschlechtsverstümmelung und sexueller Belästigung behandelt wird, erklärte die sozialdemokratische Regierung von Göran Persson, dass es in einer gleichberechtigten Gesellschaft »unwürdig und unakzeptabel ist, wenn Männer sich gegen Bezahlung kurzzeitige sexuelle Verbindungen mit Frauen verschaffen«.3 Die Sozialdemokratin Inger Segelström, betonte am 28. Mai 1998 in einer Rede im Riksdagen: »Wir sozialdemokratischen Frauen im gleichgestelltesten Parlament der Welt können nicht zulassen, dass Männer Frauen für Geld kaufen.«4 Die Befürworter des deutschen Prostitutionsgesetzes hingegen stehen der Auffassung, Prostitution sei per Definition Ausdruck patriarchaler Strukturen, kritisch gegenüber. Ihrer Meinung nach stellt die ungleiche Behandlung von Sexarbeiterinnen gegenüber anderen Berufsgruppen eine Form von Diskriminierung dar und kann als Beispiel für die Unterdrückung von Frauen in der Gesellschaft betrachtet werden. Die Erniedrigungen, unter welchen Prostituierte im Patriarchat häufig leiden, sollen durch eine Verbesserung der sozialen Stellung von Sexarbeiterinnen bekämpft werden. Diese Strategie wurde unter anderem in dem Gesetzesvorschlag formuliert, mit dem die Grünen die Debatte um Prostitution 1990 im Bundestag eingeleitet haben. Der Einsatz für das Recht auf
dieser Evaluierung siehe auch Susanne Dodillet: »Gimme a man after midnight«, in: Gigi – Zeitschrift für sexuelle Emanzipation 33 (2004), S. 10-13. 2 | »Genom att prostitutionen ›godtas‹ av samhället accepteras också en förnedrande kvinnosyn. Uppfattningen att kvinnor kan köpas uttrycker ett förakt för kvinnan som människa. Hon är underlägsen och kan följaktligen behandlas som en vara som man betalar för att utnyttja efter eget önskemål.« Ulla Pettersson u.a.: »Prostitution«, in: Motion 1990/91:Ju625 vom 23. Januar 1991. 3 | »[o]värdigt och oacceptabelt att män skaffar sig tillfälliga sexuella förbindelser med kvinnor mot ersättning« Regeringen: Göran Persson u.a.: »Kvinnofrid«, in: Prop. 1997/98:55 vom 5. Februar 1998, S. 22. 4 | »Vi s-kvinnor kan inte i världens mest jämställda parlament tillåta att män köper kvinnor för pengar.« Inger Segelstöm: »Kvinnofrid«, in: Riksdagsprotokoll 1997/98:114 vom 28. Mai 1998.
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Prostitutionspolitik in Deutschland und Schweden | 97
Selbstbestimmung für Prostituierte und gegen ihre Diskriminierung liege demnach im Interesse aller Frauen. »Ziel feministischer Politik der GRÜNEN ist die Erweiterung der Selbstbestimmungsmöglichkeiten für Frauen. Prostituierte werden als Frauen diskriminiert und als Prostituierte, das heißt aufgrund der Art ihrer Erwerbstätigkeit. Ihre Diskriminierung ist auch ein Mittel zur (sexuellen) Unterdrückung aller Frauen […]. Für das Recht auf Selbstbestimmung für Prostituierte einzutreten und sich gegen ihre Diskriminierung und Ausbeutung zu wenden ist somit ein Schritt im Interesse aller Frauen.«5
Es ist interessant, dass diese feministische Rhetorik sowohl in allen folgenden Gesetzesvorschlägen der Grünen als auch in den Beiträgen von SPD und PDS, die ebenfalls zu den Befürwortern eines Antidiskriminierungsgesetzes gehörten, nach 1990 stark abgeschwächt wurde. Stattdessen betonte man nun, auch prostituierte Männer seien von der rechtlichen Diskriminierung betroffen. Sowohl das schwedische als auch das deutsche Prostitutionsgesetz wurde auf Initiative der Sozialdemokraten, Umwelt- und Linksparteien beider Länder diskutiert und verabschiedet. In Schweden hat auch die Mittepartei (Centerpartiet) für das Sexkaufverbot gestimmt. Die schwedischen Christdemokraten (Kristdemokraterna) legten ihre Stimme nieder, während Konservative (Moderaterna) und Liberale (Folkpartiet) gegen das Gesetz stimmten. In Deutschland bekam die rot-grüne Regierung außer von der PDS auch von der FDP Unterstützung. Die CDU/CSU stimmte gegen das Prostitutionsgesetz.6 Weder das deutsche noch das schwedische Prostitutionsgesetz sind spontan entstanden, sondern haben sich innerhalb konkreter Debatten und Traditionen entwickelt, die in diesem Beitrag behandelt werden. Der Vergleich der schwedischen mit der deutschen Gesetzgebung und ihren Traditionen hat das Ziel, die sich unterscheidenden Hauptlinien der beiden Debatten zu verdeutlichen. Die Vielfalt in und die Ähnlichkeiten zwischen beiden Ländern treten dabei in den Hintergrund.
1. Die schwedische Sexualpolitik Der Anthropologe und Queertheoretiker Don Kulick beschreibt das schwedische Prostitutionsgesetz als Ausdruck einer feministischen Sexualpolitik, die außerhalb Schwedens mit Namen wie Catherine MacKinnon und Andrea Dworkin 5 | Die Grünen: »Gesetzentwurf der Fraktion DIE GRÜNEN«, in: Bundestagsdrucksache 11/7140 vom 16. Mai 1990, S. 12. Alle Bundestagsdrucksachen und Plenarprotokolle sind im Internet auf http://www.parlamentsspiegel.de, gesehen am 19. Juni 2006, zugänglich. 6 | Für einen ausführlicheren Vergleich der Argumente der schwedischen und der deutschen Gesetzgeber siehe Susanne Dodillet: »Cultural Clash on Prostitution: Debates on Prostitution in Germany and Sweden in the 1990s«, in: Margaret Sönser Breen/Fiona Peters (Hg.), Genealogies of Identity, Amsterdam/New York 2005, S. 39-56.
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98 | Susanne Dodillet verbunden wird.7 Feministinnen wie Janice Raymond und Sheila Jeffreys werden von der schwedischen Regierung regelmäßig als Sprecherinnen zu Seminaren über Sexualität eingeladen. Nach Kulick hat sich ihre Form von Feminismus seit der Entstehung der neuen Frauenbewegung in den 70er Jahren zu einer »hegemonic form of state feminism« entwickelt. Der Feminismus, auf den sich das schwedische Sexkaufverbot gründet, kann jedoch weiter zurückverfolgt und im Rahmen der schwedischen Wohlfahrtsstaatsideologie verstanden werden, die von Sozialdemokraten wie Alva und Gunnar Myrdal bereits in den 30er Jahren vorgeschlagen wurde.8 Die Wohlfahrtsideologie der schwedischen Sozialdemokraten bildete auch den Rahmen für den schwedischen Sexualliberalismus der 60er Jahre, der das Land in der Welt bekannt gemacht hat, auch wenn er nicht immer so weit ging, wie man sich dies im Nachhinein vorstellen mag. Prostitution zum Beispiel wurde in Schweden selbst in den 60er und 70er Jahren mit Argwohn betrachtet. Ideen, die vom Gesellschaftsideal der Myrdals abweichen, können auch heute noch am ehesten als Ausnahmeerscheinungen der schwedischen (sexual-)politischen Debatte beschrieben werden.
Der schwedische Sexualliberalismus Die schwedische Sexualpolitik nach dem Zweiten Weltkrieg kann in zwei Perioden unterteilt werden: eine kürzere Periode des Sexualliberalismus während der 50er und 60er Jahre und seit Mitte der 70er Jahre eine feministische Sexualpolitik mit einer immer deutlicher werdenden Tendenz, Gesellschaftsphänomene als Ausdruck struktureller Machtgefälle zwischen den Geschlechtern zu deuten. Den Sexualliberalismus der 50er und 60er Jahre verbindet man in Schweden vor allem mit zwei Phänomenen: der Sexualaufklärung, die 1955 als obligatorisches Schulfach eingeführt wurde, und den liberalen Zensurregeln, die die Verbreitung von pornografischen Bildern und Texten erlaubten und Nacktszenen in Spielfilmen wie Arne Mattsons »Sie tanzte nur einen Sommer« (Hon dansade en sommar) von 1951 und Ingemar Bergmans »Die Zeit mit Monika« (Sommaren med Monika) von 1953 möglich machten. Während der 60er Jahre wurde außerdem über legale Abtreibungen diskutiert und mehr Toleranz gegenüber Homosexuellen und anderen sexuellen Minderheiten gefordert. Nach Kulick war dieser Liberalismus aus heutiger Sicht jedoch nicht besonders radikal und »the ›Swedish sin‹ was never decadent or perverse« sondern umfasste ausschließlich »healthy, natural, good sex«.9 Keiner der (seltenen) Versuche, Prostitution innerhalb des Sexualliberalismus zu diskutieren, war in Schweden erfolgreich.10 Im Riksdagen wurde die 7 | Vgl. Don Kulick: »Four Hundred Thousand Swedish Perverts« in: GLQ. A Journal for Lesbian and Gay Studies 11/2 (2005), S. 205-235, hier S. 211f. 8 | Z.B. in dem gesellschaftstheoretischen Bestseller Kris i befolkningsfrågan (Krise in der Bevölkerungsfrage) von 1934 (Alva und Gunnar Myrdal 1934). 9 | D. Kulick: »Four Hundred Thousand Swedish Perverts«, S. 210. 10 | Zwei Beispiele hierfür sind Jörgen Eriksson und Lars Ullerstam die Mitte der 60er Jahre die Einrichtung öffentlicher Bordelle vorschlugen. (Lars Ullerstam: De erotiska
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Legalisierung von Bordellen nur einmal debattiert: In den Jahren 1972/73, nachdem Sten Sjöholm von der liberalen Folkpartiet staatliche Bordelle vorgeschlagen hatte. Sjöholm argumentierte, die sexualliberale Welle der 60er Jahre hätte zu einer größeren Akzeptanz von Sexklubs geführt, die soziale Situation der Prostituierten jedoch kaum verbessert. Also forderte er den Staat auf, seine Verantwortung wahrzunehmen, und den in der Sexbranche arbeitenden Menschen durch die Errichtung staatlich kontrollierter Bordellbetriebe zu einer sichereren Zukunft zu verhelfen.11 Sjöholms Vorschlag fand jedoch kein Gehör. Im Riksdagen nahmen Sjöholms Parteigenossen Abstand von der Initiative des Kollegen. »Wir betrachten Prostitution als eine aus sozialmedizinischen und humanitären Gesichtspunkten für das Individuum schädliche Tätigkeit und nicht als einen von der Gesellschaft sanktionierten Beruf«, betonten sie in einem Schreiben gegen Sjöholms Vorschlag.12 Die Kollegen des Liberalen waren sich einig: »Eine Gesellschaft, die von einem aktiven Interesse für die Wohlfahrt jedes einzelnen Mitbürgers geprägt ist, kann es nicht unterlassen, dem menschlich Erniedrigendem im schwedischen Bordellgeschehen der letzten Zeit entgegenzuwirken.«13
Der Sozialausschuss des Riksdagen führte in seiner Stellungsnahme an, dass »die Einrichtung von Bordellen, die von der Gesellschaft betrieben oder gutgeheißen werden, bedeuten würde, dass die Gesellschaft aktiv dazu beiträgt, dass Menschen für eine Tätigkeit ausgenützt werden, die erfahrungsgemäß häufig zu ernsthaften psychischen Schäden und lebenslanger sozialer Missanpassung führt.«14 minoriteterna, Göteborg 1964. Und Jörgen Eriksson: Svenska botten, Uppsala/Stockholm 1965). Lena Lennerhed hat in ihrem Buch über die schwedische Sexualdebatte der 60er Jahre die Reaktionen auf die Diskussionsbeiträge der Männer zusammengestellt. (Lena Lennerhed: Frihet att njuta. Sexualdebatten i Sverige på 1960-talet, Stockholm 1994, S. 157f.). 11 | Sten Sjöholm: »Om statlig bordellverksamhet«, in: Motion 1972: 59 vom 11. Januar 1972. Und Sten Sjöholm: »Om samhällelig kontroll av prostitutionen«, in: Motion 1973:27 vom 10. Januar 1973. 12 | »Vi betraktar prostitutionen som en från socialmedicinsk och humanitär synpunkt skadlig verksamhet för individen och icke som ett av samhället sanktionerat yrke.« Thorvald Källstad u.a.: »Om vidgad gärningsbeskrivning för brottsbalkens stadgande om koppleri«, in: Motion 1972:310 vom 21. Januar 1972. 13 | »Ett samhälle som präglas av aktivt intresse för varje enskild medborgares välfärd kan inte underlåta att motarbeta det mänskligt förnedrande i den senaste tidens svenska bordellverksamhet.« Ebd. 14 | »[u]pprättandet av bordeller, som drivs eller godkänts av samhället, skulle innebära att samhället aktivt medverkade till att ett antal människor utnyttjades för en verksamhet som erfarenhetsmässigt ofta leder till både allvarliga psykiska skador och till livsvarig social missanpassning för dem.« Socialutskottet: »Betänkande i anledning av motioner om bordellverksamhet m.m.«, in: SoU 1972:36 vom 7. November 1972, S. 6.
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100 | Susanne Dodillet Die Sozialdemokratin Nancy Eriksson ergänzte: Frauen, die sich prostituieren, »entfernen sich immer weiter von der Möglichkeit, wieder gewöhnliche Menschen zu werden«.15 Die Debatte um Sten Sjöholms Bordellvorschlag zeigt deutlich, wo die Grenzen für den schwedischen Sexualliberalismus verliefen. Sjöholms Kritiker hatten ein deutliches Bild davon, wie ein menschenwürdiges Leben aussehen sollte. Prostitution schien nicht mit der »Wohlfahrt jedes einzelnen Mitbürgers« vereinbar, konnte zu »sozialer Missanpassung« führen, widersprach einem »gewöhnlichen Menschenleben« und sollte darum bekämpft werden. Lebensweisen, die von dem abwichen, was als Wohlfahrt, Gleichheit und Gerechtigkeit betrachtet wurde, schienen irrational und menschenunwürdig. Dieser Standpunkt ist – nach meiner Lesart – Ausdruck einer spezifisch schwedischen Tradition.
Prostitution in der Myrdal’schen Gesellschaftsvision Im 20. Jahrhundert hat sich Schweden von einem der ärmsten Länder Europas zu einem der reichsten der Erde entwickelt. Vor allem die Jahre 1930-1970 waren von starkem Wirtschaftswachstum und einer Strukturentwicklung von Landwirtschaft zu Industrie und Service, von Urbanisierung und von erhöhtem materiellem Standard gekennzeichnet. Parallel zu der technischen und wirtschaftlichen Entwicklung dieser Jahre verbreitete sich die Idee, die Methoden für diesen Fortschritt ließen sich auf andere Gebiete übertragen und alle Probleme ließen sich im Prinzip mit Wissenschaft und Technik lösen. Zu den Denker/-inne/-n, deren Arbeit von dieser Vorstellung geprägt war, gehören auch Alva und Gunnar Myrdal. Als »soziale Ingenieure« wollten sie die Politik rationalisieren und an die »wahren« Interessen der Gesellschaft anpassen. Zwar hat der Politologe Bo Rothstein überzeugend dargelegt, dass die Bedeutung der Myrdals für die faktische schwedische Sozialpolitik überschätzt worden ist, aber auch wenn ihre konkreten Reformvorschläge nicht immer verwirklicht wurden, gehören die Visionen und Ideen der Myrdals zum kulturellen Kapital Schwedens, wofür ich im Folgenden argumentieren werde.16 Worin also bestanden die Interessen, die die Myrdals der schwedischen Gesellschaft zuschrieben? Für Alva und Gunnar Myrdal bildeten Wohlfahrt, Gleichheit und Gerechtigkeit die zentralen Bestandteile einer modernen, rationalen Gesellschaft. Diese Ideale schienen die Vorstellung der Bevölkerung von einem glücklichen Leben und einer guten Gesellschaft zu prägen, und sollten darum der Ausgangspunkt für alles politische Handeln sein. Es ist wichtig hervorzuheben, dass das, was die 15 | »[k]ommer allt längre bort från möjligheten att bli vanliga människor igen.« Nancy Eriksson: »Bordellverksamhet, m.m.«, in: Riksdagsprotokoll 1972: 117 vom 15. November 1972. 16 | Vgl. Ola Sigurdson: Den lyckliga filosofin. Etik och politik hos Hägerström, Tingsten, makarna Myrdal och Hedenius, Stockholm/Stehag 2000, S. 195f. Und Bo Rothstein: Vad bör staten göra? Om välfärdsstatens moraliska och politiska logik, Stockholm 1996, S. 206-216.
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Myrdals als Gesellschaftsinteressen beschrieben (Wohlfahrt, Gleichheit und Gerechtigkeit zum Beispiel), nicht unbedingt mit dem übereinstimmen musste, was die Menschen faktisch wollten, sondern mit »den Ansichten, die die unterschiedlichen Sozialgruppen unter der ganz hypothetischen Annahme vertreten würden, dass ihre wirtschaftlichen Einsichten vollständiger und richtiger wären«.17 Bei den Myrdals scheint eine aufgeklärte Minorität, nicht die Bevölkerung selbst, die Ziele für die Gesellschaft zu formulieren. Experten, Vertreter der zivilisierten und aufgeklärten Minorität oder »soziale Ingenieure«, die nach genauen Studien sowohl technische als auch soziale Probleme lösen können, und zu denen sich auch die Myrdals zählten, sollten als Vermittler zwischen dem Volk und seinen wahren Interessen wirken. Ähnlich wie das Ehepaar Myrdal meinten auch die Gegner von Sten Sjöholms Bordellidee, dass die Ideale des Wohlfahrtsstaats für jeden Einzelnen und jede Einzelne von Vorteil seien und es daher rationell wäre, wenn sich jeder und jede Einzelne diesem Gesellschaftsideal anpassen und nach seinen Prämissen leben würde. Die Gesellschaft sollte weiterentwickelt werden, bis Wohlfahrt, Gleichheit und Gerechtigkeit für alle Teile der Bevölkerung realisiert sind. Prostitution schien mit den Prämissen dieser modernen Gesellschaft nicht in Einklang zu bringen. Wie sich die schwedische Gesellschaft entwickeln und wie Prostitution in dieser Gesellschaft betrachtet werden sollte, wurde auch von der so genannten Bevölkerungskommission (befolkningskommissionen) beschrieben, die während der 30er Jahre damit betraut war, Vorschläge auszuarbeiten, um das damalige Sinken der Geburtenrate in Schweden aufzuhalten.18 In Betänkande i Sexualfrågan (Gutachten zur Sexualfrage), dem Schlussbericht der Kommission von 1936, wird Prostitution als Ausdruck für die Doppelmoral der bürgerlichen Gesellschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts beschrieben, in der unterschiedliche Bedingungen an die Lebensführung von Männern und Frauen gestellt wurden. »In Übereinstimmung mit dieser sehr allgemein tolerierten Doppelmoral gingen dem Eingehen der Ehe auf Seiten des Mannes oft, vielleicht sogar gewöhnlich, eine große Anzahl loser sexueller Verbindungen voraus, während man von der Frau erwartete, als Jungfrau in die Ehe einzutreten.«19 17 | »[d]e åsikter, som de olika socialgrupperna skulle äga under den helt hypotetiska förutsättningen, att deras ekonomiska insikter voro fullstandigare och riktigare.« Gunnar Myrdal: Vetenskap och politik i nationalekonomien, Stockholm 1930. Zitiert nach O. Sigurdson: Den lyckliga filosofin, S. 120. 18 | Gutachten wie dieses werden in Schweden von der Regierung in Auftrag gegeben, wenn neue Gesetze erlassen oder alte reformiert werden sollen. Jährlich werden so ungefähr 200 Themen bearbeitet und in häufig mehrere hundert Seiten langen Berichten der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, die aufgerufen ist, zu den Vorschlägen des Gutachtens Stellung zu nehmen. Zusammen mit diesen Stellungnahmen dient das Gutachten dann als Grundlage für kommende Gesetzesvorschläge. 19 | »I överensstämmelse med denna mycket al.lmänt tolererade dubbelmoral föregicks ofta och kanske vanligen äktenskapets ingående av ett stort antal lösa könsförbindel-
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102 | Susanne Dodillet Diese Praxis bedeutete, so die Kommission weiter, eine »Aufteilung der Frauen in eine größere, für das Familienleben bestimmte und als achtungswert betrachtete Kategorie […] und eine kleinere, notwendige aber verachtete Kategorie, die einem Leben ausgesetzt war, das Körper und Seele ruinierte«.20 Prostitution wird hier als Ausdruck für die wirtschaftlichen und sozialen Ungleichheiten zwischen Männern und Frauen in der bürgerlichen Gesellschaft beschrieben. Die Gewohnheiten der Arbeiterklasse bei Sexualität und Ehe hingegen schienen vom Ursprung der Arbeiterklasse in der Landbevölkerung herzustammen und werden in Betänkande i Sexualfrågan als Alternative zur bürgerlichen Sexualmoral geschildert. »In der Bauernklasse ist es eine alte Sitte, dass die Jugend in relativer Unschuld und Beständigkeit zusammenkommt und heiratet, wenn Kinder als Folge ihrer Verbindung erwartet werden. In manchen Gebieten ähnelt dieses System eher einer allgemeinen Promiskuität der Jugend; […]. Auf jeden Fall hat sich bei der Landbevölkerung die für die Doppelmoral typischen Unterschiede bei den Erwartungen gegenüber Mann und Frau nicht im gleichen Maße entwickelt.«21
Aus diesem Zitat geht deutlich hervor, dass voreheliche sexuelle Verbindungen von der Bevölkerungskommission nicht als etwas Negatives betrachtet wurden, solange sie zwischen gleichgestellten Partnern eingegangen wurden. Die Zunahme vorehelichen Geschlechtsverkehrs wurde sogar als Zeichen dafür willkommengeheißen, dass die Doppelmoral der Bürgerklasse begann, den Werten der Arbeiterklasse zu weichen. »Wenn sich junge Menschen heute verlieben […] lassen sie sich immer seltener daran hindern, sexuelle Verbindungen miteinander einzugehen. Diese vorehelichen Verbindungen, die aus Zuneigung zwischen sozial gleichgestellten Menschen geknüpft werden, […] scheinen nicht zuletzt aus ethischen und ganz bestimmt aus hygienischen und sozialen Gesichtspunkten eine bessere Lösung darzustellen, als die alte Doppelmoral.«22 ser å mannens sida, medan hustrun förväntades ingå i äktenskapet såsom jungfru.« Befolkningskommissionen: Betänkande i sexualfrågan, Stockholm 1936, S. 67. 20 | »[e]n uppdelning av kvinnorna i en större, för familjelivet ägnad och som aktningsvärd ansedd kategori […] och en mindre, nödvändig men föraktad och till en kropp och själ ruinerande levnad utlämnad kategori.« Ebd., S. 68. 21 | »I bondeklassen är det en gammal sedvänja, att de unga kommer samman i relativ oskuld och trohet, och att de gifta sig, då barn väntas bliva följden av deras förbindelse. I vissa trakter har därvid detta system kommit närmare en mera allmän promiskuitet i ungdomen; […]. I alla händelser har bland lantbefolkningen den för dubbelmoralen typiska olikheten i krav på man och kvinna ej i samma grad utvecklats.« Ebd., S. 68f. 22 | »Då två unga människor nu för tiden bliva förälskade i varandra, […] låta de detta i allt flera fall icke förhindra sig från att träda i könsförbindelse med varandra. Dessa föräktenskapliga förbindelser, knutna mellan socialt likställda människor på känslogrund, […] torde […] icke minst ur etiska och alldeles bestämt ur hygieniska och sociala synpunkter […] utgöra] en bättre lösning än den gamla dubbelmoralens.« Ebd., S. 69.
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Die Kommission ging von der Norm aus, »dass es zum Glück sowohl der Individuen als auch der Gesellschaft beiträgt, wenn junge Menschen eine auf Liebe gegründete monogame Verbindungen eingehen.«23 Die Beschreibung der Sexualmoral von Landbevölkerung und Arbeiterklasse in Betänkande i Sexualfrågan kann als Beispiel für die »idea of ›good sex‹« gedeutet werden, die Don Kulick für Schweden beschreibt. Der wichtigste Grund der Bevölkerungskommission, Prostitution zu verurteilen, war, dass sie »dauerhafte sexuelle Verbindungen auf Gefühlsbasis und zwischen sozial gleichberechtigten Personen« zu verhindern schien.24 Sexuelles Verhalten, das von diesem Ideal abwich, wurde als dekadent oder pervers betrachtet und schien nicht mit einem modernen Wohlfahrtsstaat in Einklang zu bringen. Bereits die Bevölkerungskommission der 30er Jahre ging also davon aus, dass Prostitution in einer Gesellschaft, in der Frauen und Männer den gleichen Zugang zu Arbeit, Geld und Macht haben, verschwinden würde. Prostitution wurde als Ergebnis wirtschaftlicher Abhängigkeit und ungleicher Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern betrachtet, und man träumte von einem modernen Wohlfahrtsstaat ohne diese Ungleichheiten. Das Leben von Prostituierten sollte nicht innerhalb der bestehenden Gesellschaftsstrukturen verbessert werden, sondern man wollte die Gesellschaft reformieren und der Prostitution dadurch ihre Voraussetzungen nehmen. Die Vision einer gleichberechtigten Gesellschaft hat die schwedische Politik – und ihre Sicht auf Sexualität – also bereits geprägt, bevor die Frauenbewegung der 60er und 70er Jahre anfing, gegen das Patriarchat zu kämpfen. Sogar die sexualliberale Welle der 60er Jahre hielt sich in Schweden im Rahmen dieser Gleichstellungsideale. Jede Bedrohung der »Wohlfahrt jedes einzelnen Mitbürgers«25 und der Gleichstellung zwischen den Menschen führte zu Protesten. Heute sind die Vision einer gleichberechtigten Gesellschaft und die Überzeugung, dass diese Vision nur durch ein Aufbrechen der bestehenden Machtstrukturen zwischen den Geschlechtern erreicht werden kann, in Schweden sowohl in der politischen Kultur als auch in der Gesellschaft im Ganzen vergleichsweise stark verankert. So streben in den Diskussionen um Prostitution nicht nur Sozialdemokraten, sondern auch die Vertreter der anderen Riksdagsparteien nach der Verwirklichung dieser Gesellschaftsvision. Das Sexkaufverbot wird damit begründet, durch Prostitution und Pornografie werde ein Frauenbild vermittelt, das zur Aufrechterhaltung patriarchaler Strukturen beiträgt.
23 | »[n]ormen, att det är till lycka för både individerna och samhället, att unga människor komma att knyta på kärlek grundade monogama könsförbindelser.« Ebd., S. 75. 24 | »[v]araktiga könsförbindelser på känslogrund och knutna mellan socialt jämställda personer« Ebd. 25 | Thorvald Källstad u.a.: »Om vidgad gärningsbeskrivning för brottsbalkens stadgande om koppleri«, in: Motion 1972:310 vom 21. Januar 1972.
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Die normierende Funktion des Gesetzes Das Verständnis von Prostitution als Ausdruck für ungleiche Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern ist nicht der einzige Aspekt der schwedischen Debatte, der in der Tradition der Wohlfahrtsstaatsideologie gedeutet werden kann. Das Sexkaufverbot hat auch eine normierende Funktion, die in dieser Tradition gesehen werden kann. Die Abgeordneten des Riksdagen diskutieren und beurteilen mit Hilfe von ausgewählten Experten, wie sich die Gesellschaft weiterentwickeln sollte. Ähnlich wie die »soziale Ingenieurskunst« der Myrdals, sollten die Ergebnisse dieser Diskussionen an die Bevölkerung weitervermittelt werden, in deren Sinne man zu handeln strebte. In den Debatten um das Sexkaufverbot wurde wiederholt die Auffassung geäußert, die Regierung trüge die Verantwortung für die Normen und Werte der Gesellschaft. Der Kommentar der schwedischen Linkspartei zum Gutachten Frauenfrieden (Kvinnofrid) von 1998, in dem Prostitution wie bereits erwähnt neben Vergewaltigung und anderen sexuellen Übergriffen behandelt wurde, ist ein repräsentatives Beispiel für diese Haltung: »Die Kunden der Prostituierten und nicht die Prostituierten zu kriminalisieren, ist ein deutliches Signal der Gesellschaft, wie man zum Sexkauf steht. Die Linkspartei glaubt nicht […], dass wir Prostitution dadurch abschaffen oder eindämmen. […] Gesetze haben nicht nur das Ziel Straftäter zu belangen und die Effektivität eines Gesetzes kann nicht nur dadurch gemessen werden, wie viele Gesetzesbrecher verurteilt werden. Die Gesetzgebung handelt auch von den Normen und Werten der Gesellschaft. Als das Schlagen von Kindern in Schweden verboten wurde, behaupteten viele, dieses Gesetz sei sinnlos, weil sein Einhalten nur schwer zu kontrollieren ist. Doch dieses Gesetz hat stark normierend gewirkt und auf die gleiche Art markiert ein Gesetz, das den Sexkauf kriminalisiert, wie die Gesellschaft die ungleichen Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern sehen soll.«26
Das schwedische Prostitutionsgesetz sollte deutlich machen, dass man in einer gleichgestellten Gesellschaft nicht akzeptieren kann, »dass Männer Frauen für Geld kaufen.«27 Das Sexkaufverbot wurde mit dem Argument begründet, es gebe für die gesamte Gesellschaft gemeinsame Normen und Werte, die den Ausgangspunkt 26 | »Att kriminalisera de prostituerades kunder och inte den prostituerade är en klar markering från samhället, hur man ser på könsköpet. Vänsterpartiet tror inte […] att vi därmed avskaffar eller ens minskar prostitutionen. […] Lagstiftning syftar inte bara till att komma åt brottslingar och en lags effektivitet kan inte bara bedömmas utifrån hur många lagbrytare som döms. Lagstiftning handlar också om samhällets normer och värderingar. När barnaga förbjöds var det många som hävdade att det var en meningslös lagstiftning eftersom det var svårt att kontrollera om den efterföljdes. Men den lagen har verkat starkt normerande och på samma sätt markerar en lag som kriminaliserar könsköp hur samhället skall se på ojämlika maktförhållanden mellan könen.« Gudrun Schyman u.a.: »Med anledning av prop. 1997/98:55 Kvinnofrid«, in: Motion 1997/98:Ju28 vom 5. März 1998. 27 | »[a]tt män köper kvinnor för pengar.« I. Segelstöm: »Kvinnofrid«.
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für alles politische Handeln bilden müssen. Menschen, oder ganze Subkulturen, die nicht in Übereinstimmung mit diesen Werten leben, müssen von der Richtigkeit dieser Normen überzeugt und auf diese Weise in die Gesellschaft integriert werden. Die allgemeingültigen Werte sollten (eine bestimmte Art von) Gleichstellung und sozialer Wohlfahrt für alle Gesellschaftsmitglieder garantieren. Wie spezifisch dieses Modell für die schwedische Debatte ist, sieht man, wenn man die schwedische Sicht auf Prostitution mit der Debatte in Deutschland vergleicht.
2. Politische Voraussetzungen in Deutschland In Deutschland konnte sich keine feministische Perspektive ähnlich kontinuierlich entwickeln wie in Schweden, was unter anderem mit der deutschen Entwicklung ab den 30er Jahren erklärt werden kann: Als man in Schweden damit begann, die Reformvorschläge der Myrdals zu verwirklichen, indem man Kindergärten und andere soziale Einrichtungen eröffnete, die es Männern und Frauen ermöglichten Erwerbsarbeit und Kindererziehung zu kombinieren, betrieben Hitler und die Nationalsozialisten eine Fruchtbarkeitspolitik mit Medaillen für gebärfreudige Hausfrauen. Erst während der 60er Jahre fing die Frauenbewegung in West-Deutschland an, sich von der Politik des Nationalsozialismus zu erholen, hatte jedoch zunächst eine vergleichsweise schwache Verankerung in der politischen Kultur.28 Nach Solveig Bergman zweifelte die autonome Frauenbewegung in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg an den Fähigkeiten und dem Willen des Staates, die Situation von Frauen zu verbessern, und versuchte, außerhalb der etablierten politischen Strukturen zu wirken.29 Thomas Etzemüller ergänzt, dass Staat und politische Eliten in Deutschland auf der anderen Seite mit Zurückhaltung auf die radikalen Gruppierungen der 60er Jahre reagierten, während schwedische Politiker versuchten, mit Feministinnen und anderen Aktivisten zusammenzuarbeiten.30 Nach Etzemüller war es in Schweden auch der Staat, der den radikalen Gruppen der 60er Jahre materielle Ressourcen und Plattformen gab, um revolutionäre Botschaften zu verbreiten. Die schwedischen Aktivisten wiederum richteten viele ihrer Forderungen an den Staat, dessen Einfluss unproblematisch schien, solange er den Wohlfahrtstaat ausbaute, Sozialreformen durchführte und seine Gleichstellungspolitik weiterführte.31 28 | Die folgende Darstellung beschränkt sich aus Platzgründen auf Westdeutschland. 29 | Vgl. Solveig Bergman: The Politics of Feminism, Åbo 2002, S. 105f., 126, 194, 236, 239, 241f., 252. 30 | Vgl. Thomas Etzemüller: 1968 – Ein Riss in der Geschichte? Gesellschaftlicher Umbruch und 68er-Bewegungen in Westdeutschland und Schweden, Konstanz 2005, S. 219f. 31 | Ebd.
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106 | Susanne Dodillet Während die autonome Frauenbewegung in Deutschland ihre Unabhängigkeit betonte, stellte die deutsche Bevölkerung die Teilnahme von Frauen in den etablierten politischen Organisationen in Frage. Am Ende der 80er Jahre zeigte das Eurobarometer, dass die Einwände gegenüber Frauen in der Politik in Deutschland größer waren, als in jedem anderen EG-Land. Der Bundestag hatte Mitte der 70er Jahre sechs Prozent weibliche Abgeordnete, was mit einem Frauenanteil von 21 Prozent im Riksdagen von 1974 verglichen werden kann.32 Während der 70er Jahre war im Bundestag ein Skeptizismus sowohl gegenüber der Frauenbewegung als auch gegenüber feministischen Ideen verbreitet. Dies änderte sich nur langsam, als sich Teile der Frauenbewegung zusammen mit Friedens- und Umweltaktivisten sowie Atomkraftgegnern organisierten und die Partei Die Grünen gründeten, die 1983 erstmals in den Bundestag gewählt wurde. Die Partei, die viele ihrer Mitglieder aus den autonomen Bewegungen der 60er und 70er Jahre rekrutierte und deren Skepsis gegenüber dem Staat als Normbildner sowie ihre Kritik an den konservativen Gruppierungen im Bundestag geerbt hat, ist auch die Partei mit dem deutlichsten feministischen Programm im Bundestag. Ein Beispiel für das feministische Streben der Partei ist die Bildung des »Feminats« 1984, als Die Grünen einen rein weiblichen Fraktionsvorstand wählten. Auch der Gesetzesvorschlag der Grünen für ein liberales Prostitutionsgesetz kann als Ausdruck für die feministische Politik der Partei gelesen werden. Offensichtlich erwiesen sich die feministischen Argumente im Gesetzesentwurf von 1990 jedoch als hinderlich, als es galt, diese Initiative durchzusetzen. Die Auslassung feministischer Argumente in allen folgenden Vorschlägen und Diskussionsbeiträgen zu einem neuen Prostitutionsgesetz kann als Anpassung an eine latente Skepsis gegenüber feministischen Idealen im Bundestag auch in den 90er Jahren gelesen werden. Die politischen Antagonismen sowie die starke Position der Christdemokraten im Bundestag – Bedingungen, die sich von der sozialdemokratischen Dominanz im Riksdagen unterscheiden – bilden eine weitere Erklärungsalternative dafür, dass Die Grünen und ihre Kooperationspartner ihre feministische Rhetorik aufgaben und sich als Gegenpol zu den konservativen Normen der Christdemokraten formierten.
Sittenwidrigkeit Ein Beispiel für die Gegensätze zwischen CDU und CSU auf der einen, und SPD, PDS und Grünen auf der anderen Seite, ist die Debatte um Sittenwidrigkeit im Bundestag, die dem deutschen Prostitutionsgesetz vorausgegangen ist. Eine wichtige Ursache dafür, dass Prostitution nicht als legitime Beschäftigung anerkannt war, bevor das Antidiskriminierungsgesetz in Kraft getreten ist, ist das Faktum, dass der Verkauf sexueller Dienstleistungen als sittenwidrig galt. Nach dem 1901 geschaffenen § 138 des Bürgerlichen Gesetzbuchs galt eine Rechtshandlung als sittenwidrig, wenn sie durch ihren Inhalt, ihr Motiv und ihren Zweck gegen die Vernunft und das Rechtsgefühl vernünftig und recht 32 | S. Bergman: The Politics of Feminism, S. 207. Und SCB: Riksdagens sammansättning 1929 – 2002 efter parti och kön, http://www.scb.se, gesehen am 20. Juni 2006.
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denkender Menschen stritt. Die Definition von Prostitution als sittenwidrig hatte unter anderem zur Folge, dass Prostituierte weder ausbleibende Bezahlungen einklagen, noch reguläre Arbeitsverträge (zum Beispiel mit Bordellbetreibern) abschließen konnten. Prostituierte waren von Arbeitslosenhilfe, Gesundheitssystem und Rentenkasse ausgeschlossen, mussten jedoch ihre Einkünfte versteuern. In ihren Gesetzesvorschlägen von 1990 und 1996 kritisierten Die Grünen eine Gesellschaft, in der altmodische Sitten und eine veraltete Sexualmoral so bindend sind, dass Menschen, die diesen Werten nicht entsprechen, diskriminiert werden. Die Partei argumentierte, dass jeder Mensch das Recht haben sollte, so zu leben, wie er oder sie es will, solange dies die Freiheiten anderer Menschen nicht einschränkt. Dieses Recht sollte auch für Prostituierte gelten, denn »niemand wird wohl behaupten wollen, die Dienstleistungen von Prostituierten stellten eine solche Beeinträchtigung [der Grundrechte anderer Menschen] dar«,33 argumentierten Die Grünen und forderten eine Gleichstellung von Prostituierten mit anderen Berufsgruppen. Während Die Grünen mit einem Zitat der Prostituierten Rosemarie Nitribitt – »Wie liberal eine Gesellschaft ist, zeigt sich an ihrem Umgang mit ihren Huren«34 – für eine liberalere Gesellschaft plädierten, wollten die Christdemokraten an traditionellen Werten festhalten. Nach Auffassung von CDU/CSU kränkt der Handel mit sexuellen Diensten nicht nur die Werte der Bevölkerung, sondern auch die Prostituierten selbst: »Die Vermarktung des menschlichen Körpers verletzt nicht nur das Anstandsgefühl der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung, sondern verletzt die Würde der Prostituierten selbst. Die Abschaffung der Sittenwidrigkeit ist ein falsches Signal. Die Gesellschaft wandelt sich; unwandelbar bleibt aber die Menschenwürde. Der Gesetzgeber darf grundlegende Wertvorstellungen nicht leichtfertig preisgeben. Die gegenseitige Achtung und Respektierung der Menschenwürde darf nicht aufs Spiel gesetzt werden. Es ist moralisch fragwürdig, wenn der Körper zur Ware wird.«35
Die christdemokratische Definition der Menschenwürde als die »von Gott gegebene […] Würde und Freiheit« des Menschen wird von den Befürwortern des Prostitutionsgesetzes zurückgewiesen.36 Die grüne Politikerin Irmingard Schewe-Gerigk erklärte in diesem Zusammenhang: 33 | Die Grünen: »Gesetzentwurf der Fraktion DIE GRÜNEN«, in: Bundestagsdrucksache 11/7140 vom 16. Mai 1990, S. 12. Und Bündnis 90/Die Grünen: »Entwurf eines Gesetzes zur Beseitigung der rechtlichen Diskriminierung von Prostituierten«, in: Bundestagsdrucksache 13/6372 vom 26. November 1996, S. 11. 34 | Ebd. 35 | Maria Eichhorn: »Rede zum Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der rechtlichen und sozialen Situation der Prostituierten der Fraktion des Bündnis 90/Die Grünen«, in: Plenarprotokoll 14/196 vom 19. Oktober 2001, S. 19195. 36 | Vgl. http://www.cduhessen.de/downl/pdf/grundsatzprogramm.pdf, gesehen am 20. Juni 2006, S. 9.
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108 | Susanne Dodillet »Wer die Menschenwürde von Prostituierten gegen ihren Willen schützen zu müssen meint, vergreift sich in Wahrheit an ihrer von der Menschenwürde geschützten Freiheit der Selbstbestimmung.«37
SPD, Grüne und PDS vertraten die Ansicht, die Auffassung der Bevölkerung von Moral und Recht habe sich gewandelt, und argumentierten, Prostitution könne daher nicht länger als sittenwidrig angesehen werden. Am Tag, an dem das deutsche Prostitutionsgesetz verabschiedet wurde, erklärte die Sozialdemokratin Anni Brandt-Elsweier im Bundestag: »Diese Wertvorstellungen sind auch keine starre Größe, sondern einem immerwährenden Wandel unterworfen. Prostitution wird heute von großen Teilen der Gesellschaft eben nicht mehr als sittenwidrig angesehen. Auch die Gerichte schließen sich zunehmend dieser Auffassung an. […] Wir haben also mit diesem Gesetzentwurf nichts anderes getan, als die Gesetzeslage dem Wandel im Bewusstsein der Gesellschaft anzupassen.«38
Die Christdemokraten gründen ihre ablehnende Haltung gegenüber liberalen Prostitutionsgesetzen also auf christliche Normen und Werte und nicht auf feministische Überzeugungen, was bei einem Blick auf die Debatte um Menschenhandel deutlich wird, die im Bundestag anders als im Riksdagen getrennt von der Debatte um Berufsprostitution geführt wird.39
37 | Irmingard Schewe-Gerigk: »Rede zum Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der rechtlichen und sozialen Situation der Prostituierten der Fraktion des Bündnis 90/Die Grünen«, in: Plenarprotokoll 14/168 vom 11. Mai 2001, S. 16490. 38 | Anni Brandt-Elsweier: »Rede zum Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der rechtlichen und sozialen Situation der Prostituierten der Fraktion des Bündnis 90/Die Grünen«, in: Plenarprotokoll 14/196 vom 19. Oktober 2001, S. 19194. 39 | Im Riksdagen wird meist davon ausgegangen, dass Prostitution und internationaler Frauenhandel (trafficking) zusammen gehören. »Trafficking kann niemals von Prostitution getrennt werden. Wenn wir keine Prostitution haben, oder keinen Markt dafür, haben wir auch keinen Frauenhandel«, erklärte zum Beispiel Ulla-Britt Hagström von den schwedischen Christdemokraten im Riksdagen. (Ulla-Britt Hagström: »Svar på interpellation 2000/01:229 om legalisering av prostitution«, in: Riksdagsprotokoll 2000/01:67 vom 15. Februar 2001.) Im Bundestag hingegen wird Prostitution nicht als einheitliches Phänomen beschrieben, sondern in Formen mit unterschiedlichen Freiwilligkeitsgraden unterteilt. Neben der Berufsprostitution, die in der deutschen Debatte durch einen hohen Freiwilligkeitsgrad gekennzeichnet scheint, werden Zwangsprostitution und Beschaffungsprostitution als durch Zwang, Gewalt und Missbrauch gekennzeichnete Kategorien genannt. Diese Aufteilung von Prostitution in unterschiedliche Kategorien ist ein Grund dafür, dass viele Probleme, die in Schweden mit Prostitution verbunden werden, in der deutschen (Berufs-)Prostitutionsdebatte nicht diskutiert werden. Vgl. S. Dodillet: Cultural Clash on Prostitution, S. 40f.
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Die Diskussion um Menschenhandel Seit Anfang der 80er Jahre haben SPD und Die Grünen die Themen Menschenhandel und Prostitutionstourismus im Bundestag thematisiert, während die Christdemokraten gegenüber diesen Fragen lange eine passive Haltung einnahmen. Als die Sozialdemokraten 1985 während einer Debatte über den Sextourismus die konservative Regierung dazu befragte, was sie dagegen tun wolle, dass deutsche Männer Frauen und Kinder in armen Ländern ausnutzten, meinten die Christdemokraten, es sei nicht die Aufgabe des Staates sich in die Angelegenheiten seiner mündigen Bürger einzumischen. Jetzt waren nicht die Prostituierten im Blickpunkt, sondern mehr oder weniger wohlsituierte Männer und da schien die Normenbildung nicht länger Aufgabe des Staates, sondern Verantwortung der Zivilgesellschaft. »Eine Aufklärung unter moralischen und humanitären Gesichtspunkten über das Phänomen der Prostitution – im eigenen Land oder in fremden Ländern – ist in erster Linie Aufgabe der dazu berufenen, zu eindeutigen ethischen Wertungen legitimierten gesellschaftlichen Institutionen, wie insbesondere Kirchen, soziale Gruppen, aber auch Schule und Elternhaus. Die Bundesregierung geht weiterhin davon aus, daß der mündige Bürger für sein Verhalten auch im Urlaub die volle Verantwortung selbst trägt.«40
Drei Jahre später betonte die christdemokratische Regierung, sie hieße die Anstrengungen sämtlicher Institutionen und Personen, die sich dazu berufen fühlten, Touristen »moralische Orientierung« für ihr Verhalten gegenüber ihren Mitmenschen zu bieten, willkommen, unterstrich jedoch erneut, sie selbst maße sich nicht an, »einen Verhaltenskodex mit moralischen Maßstäben aufzustellen oder gar dessen Einhaltung zu überwachen.«41
Ein liberales Gesellschaftsmodell Der deutschen Debatte lag also ein liberales Modell zu Grunde, nach dem es nicht Aufgabe des Staates ist zu bestimmen, welche Normen und Werte für die Bevölkerung gelten sollen. Sowohl Christdemokraten als auch die Linksparteien argumentierten – wenn auch in unterschiedlichen Zusammenhängen – für ein solches Gesellschaftsmodell. SPD, Grüne und die PDS vertraten die Auffassung, jedes Individuum und jede Subkultur der Gesellschaft müssten selbst bestimmen dürfen, nach welchen Normen und Werten sie leben wollten. Dieses Recht sollte auch für Prostituierte und andere Sexarbeiter/-innen gelten. Im Prinzip teilten auch CDU und CSU diese Auffassung. Auf Grund ihrer christlichen Werte war es den Konservativen jedoch nicht möglich, Prostitution als einen von der Gesellschaft akzeptierten Beruf zu beschreiben. Prostitution wurde mehrere 40 | Bundesregierung: »Antwort der Bundesregierung auf Anfrage der SPD«, in: Bundestagsdrucksache 10/3753 vom 26. August 1985, S. 2. 41 | Bundesregierung: »Antwort der Bundesregierung auf Anfrage der SPD«, in: Bundestagsdrucksache 11/3580 vom 30. November 1988, S. 7.
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110 | Susanne Dodillet Jahrzehnte lang auch von christdemokratischen Regierungen toleriert, CDU und CSU wollten sich jedoch nicht offen für die Sexarbeit aussprechen. Es ist diese Doppelmoral, gegen die sich SPD, Grüne und PDS mit ihrem Prostitutionsgesetz wenden. Im Unterschied zu ihren schwedischen Kollegen knüpften die deutschen Linksparteien also nicht an eine Tradition feministischer Machtanalysen an, sondern formten ihre Politik eher als Gegenpol zu den in Deutschland starken Christdemokraten und betonten das Recht jedes einzelnen Menschen, frei über seine oder ihre eigene Sexualität zu bestimmen, was auch die Möglichkeit einschließt, sich zu prostituieren. In der Diskussion um Trafficking hingegen arbeiteten die Frauen im Bundestag seit 1989 über Parteigrenzen hinweg für die Bekämpfung von dem, was in einem gemeinsamen Aufruf als extreme Form von Frauendiskriminierung bezeichnet wurde. Die Christdemokratin und spätere Ministerin für Familie und Senioren, Hannelore Rönsch, führte zum Beispiel im März 1989 im Bundestag aus: »Eine oft verniedlichte, aber besonders erniedrigende Verletzung weiblicher Menschenrechte besteht in der Prostitution von Frauen aus Entwicklungsländern und dem Handel mit ihnen. Das zugrunde liegende Frauenbild ist Ausdruck einer tiefen Verachtung, Sinnbild für Frauendiskriminierung sowohl in den Entwicklungsländern selber, aber auch, wenn sie hier zu uns verschickt werden, in die Bundesrepublik Deutschland, bei uns.«42
Obwohl sie ihre feministische Rhetorik im Laufe der Debatte um Berufsprostitution fallen ließen, betrachten die deutschen Linksparteien auch ihr Prostitutionsgesetz als Teil ihrer Gleichstellungspolitik. Indem viele der Befürworter des deutschen Antidiskriminierungsgesetzes einheitliche Sexualitätsnormen generell in Frage stellten, griffen sie auf ähnliche Ansätze, wie die Queerbewegung, die sexradikale oder prosexfeministische Strömungen zurück. Weiter kann das Prostitutionsgesetz zu den Erfolgen der außerparlamentarischen Frauenbewegung gezählt werden, da Prostituiertenprojekte wie Hydra in Berlin als Lobbygruppen am Gesetzgebungsverfahren beteiligt waren.
Ende Der Vergleich zwischen der deutschen und der schwedischen Prostitutionsdebatte zeigt, dass es schwierig ist, eine gemeinsame europäische Linie für die Prostitutionspolitik zu finden. Schwedische Politiker, die für eine Kriminalisierung der Kunden kämpfen, können kaum mit der deutschen Linken zusammenarbeiten. Auch eine Zusammenarbeit mit den konservativen deutschen Parteien, die Prostitutionsgesetze befürworten, die den schwedischen ähneln, ist 42 | Hannelore Rönsch: »Rede über Menschenhandel mit ausländischen Mädchen und Frauen, so genannte Heiratsvermittlung und Prostitutionstourismus«, in: Plenarprotokoll 11/131 vom 9. März 1989, S. 9707.
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problematisch: Die strukturalistische Perspektive auf das Machtverhältnis zwischen den Geschlechtern, das wichtigste Fundament des schwedischen Sexkaufverbots, wird nicht von den deutschen Christdemokraten geteilt. Da Akteure mit ähnlichen Gesetzesideen ihre Vorschläge auf sehr unterschiedliche Werte basieren können, ist es wichtig, dass Politiker und Aktivisten die Ideetraditionen ihrer Strategien kennen, um geeignete Kooperationspartner zu finden.
Literatur Befolkningskommissionen: Betänkande i sexualfrågan, Stockholm 1936. Bergman, Solveig: The Politics of Feminism, Åbo 2002. Brandt-Elsweier, Anni: »Rede zum Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der rechtlichen und sozialen Situation der Prostituierten der Fraktion des Bündnis 90/Die Grünen«, in: Plenarprotokoll 14/196 vom 19. Oktober 2001. Bundesregierung: »Antwort der Bundesregierung auf Anfrage der SPD«, in: Bundestagsdrucksache 10/3753 vom 26. August 1985. Bundesregierung: »Antwort der Bundesregierung auf Anfrage der SPD«, in: Bundestagsdrucksache 11/3580 vom 30. November 1988. Bündnis 90/Die Grünen: »Entwurf eines Gesetzes zur Beseitigung der rechtlichen Diskriminierung von Prostituierten«, in: Bundestagsdrucksache 13/6372 vom 26. November 1996. Die Grünen: »Gesetzentwurf der Fraktion DIE GRÜNEN«, in: Bundestagsdrucksache 11/7140 vom 16. Mai 1990. Dodillet, Susanne: »Gimme a man after midnight«, in: Gigi – Zeitschrift für sexuelle Emanzipation 33 (2004), S. 10-13. Dodillet, Susanne: »Cultural Clash on Prostitution: Debates on Prostitution in Germany and Sweden in the 1990s«, in: Margaret Sönser Breen/Fiona Peters (Hg.), Genealogies of Identity, Amsterdam/New York 2005, S. 39-56. Eichhorn, Maria: »Rede zum Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der rechtlichen und sozialen Situation der Prostituierten der Fraktion des Bündnis 90/Die Grünen«, in: Plenarprotokoll 14/196 vom 19. Oktober 2001. Eriksson, Jörgen: Svenska botten, Uppsala/Stockholm 1965. Eriksson, Nancy: »Bordellverksamhet, m.m.«, in: Riksdagsprotokoll 1972: 117 vom 15. November 1972. Etzemüller, Thomas: 1968 – Ein Riss in der Geschichte? Gesellschaftlicher Umbruch und 68er-Bewegungen in Westdeutschland und Schweden, Konstanz 2005. Källstad, Thorvald u.a.: »Om vidgad gärningsbeskrivning för brottsbalkens stadgande om koppleri«, in: Motion 1972:310 vom 21. Januar 1972. Kulick, Don: »Four Hundred Thousand Swedish Perverts« in: GLQ. A Journal for Lesbian and Gay Studies 11/2 (2005), S. 205-235. Lennerhed, Lena: Frihet att njuta. Sexualdebatten i Sverige på 1960-talet, Stockholm 1994. Persson, Göran u.a.: »Kvinnofrid«, in: Prop. 1997/98:55 vom 5. Februar 1998. Pettersson, Ulla u.a.: »Prostitution«, in: Motion 1990/91:Ju625 vom 23. Januar 1991.
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112 | Susanne Dodillet Rönsch, Hannelore: »Rede über Menschenhandel mit ausländischen Mädchen und Frauen, so genannte Heiratsvermittlung und Prostitutionstourismus«, in: Plenarprotokoll 11/131 vom 9. März 1989. Rothstein, Bo: Vad bör staten göra? Om välfärdsstatens moraliska och politiska logik, Stockholm 1996. Schewe-Gerigk, Irmingard: »Rede zum Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der rechtlichen und sozialen Situation der Prostituierten der Fraktion des Bündnis 90/Die Grünen«, in: Plenarprotokoll 14/168 vom 11. Mai 2001. Schyman, Gudrun u.a.: »Med anledning av prop. 1997/98:55 Kvinnofrid«, in: Motion 1997/98:Ju28 vom 5. März 1998. Segelstöm, Inger: »Kvinnofrid«, in: Riksdagsprotokoll 1997/98:114 vom 28. Mai 1998. Sigurdson, Ola: Den lyckliga filosofin. Etik och politik hos Hägerström, Tingsten, makarna Myrdal och Hedenius, Stockholm/Stehag 2000. Sjöholm, Sten: »Om statlig bordellverksamhet«, in: Motion 1972:59 vom 11. Januar 1972. Sjöholm, Sten: »Om samhällelig kontroll av prostitutionen«, in: Motion 1973:27 vom 10. Januar 1973. Socialstyrelsen: Kännedom om prostitution 2003, Stockholm 2004. Socialutskottet: »Betänkande i anledning av motioner om bordellverksamhet m.m.« in: SoU 1972:36 vom 7. November 1972. Ullerstam, Lars: De erotiska minoriteterna, Göteborg 1964. www.cduhessen.de/downl/pdf/grundsatzprogramm.pdf, gesehen am 20. Juni 2006. www.scb.se, gesehen am 20. Juni 2006. www.socialstyrelsen.se, gesehen am 19. Juni 2006.
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Die Frau als »Handelsgut«. (Straf)rechtliche Betrachtung des Menschenhandels in Österreich und Deutschland Alice Sadoghi »Unkäufliches gegen Käufliches eintauschen bedroht den Kern unseres Lebens.« Kyrilla Spiecker
1. Menschenhandel als gesellschaftliches Phänomen. Vorbemerkungen Seit Jahrzehnten sind weltweit Migrationsbewegungen zu beobachten, die Bürger/-innen der ärmsten Regionen der Erde in reiche Länder führen. Hohe Arbeitslosenraten, patriachale Strukturen verbunden mit der gesellschaftlichen Schlechterstellung der Frau, Diskriminierungen am Arbeitsmarkt, kriegerische Auseinandersetzungen, Verfolgung und Naturkatastrophen führen zu Abwanderungsbewegungen, die illegale Auswirkungen wie die Schlepperei und den Menschenhandel begünstigen.1 Der Handel mit der »Ware Mensch« hat in den letzten zehn Jahren daher enorm zugenommen. Auf Grund der Feminisierung der Armut trifft diese Form der Ausbeutung zumeist Frauen.2 Weltweit werden nach Angaben der Vereinten Nationen ca. 2,4 Millionen Menschen gehandelt. Diese Zahlen sind jedoch nicht unreflektiert zu betrachten, vielmehr ist darauf Bedacht zu nehmen, dass ein Großteil der »Opfer« auf der Suche nach Arbeit und Wohlstand freiwillig geschmuggelt wird und eine strenge Differenzierung zwischen illegalen Migrantinnen, »internationalen« Ehefrauen, ausländischen Prostituierten und Opfern von Menschenhandel vorzunehmen ist. Die Erfahrung lehrt, dass die Statistiken meist undifferenziert all diese Personen als 1 | Vgl. Lenke Fehér: Frauenhandel, Wien 1996, S. 5ff; Bettina Solero: Frauenmigration aus Drittweltländern, Linz 2002, S. 11f. 2 | Vgl. B. Solero: Frauenmigration aus Drittweltländern, S. 7; Helga Konrad: Frauenhandel, Wien 1996, S. 11; Simone Rhomberg: Die Bekämpfung des Menschenhandels, insbesondere des Frauenhandels, Innsbruck 2004, S. 9.
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114 | Alice Sadoghi »Opfer des Menschenhandels« angeben. Menschenhandel hat viele Facetten. Neben dem Frauenhandel zur Ausbeutung als Hausangestellte und dem kommerziellen Heiratshandel (sog. mail-order-brides-business) stellt der Handel zum Zweck der Prostitution die quantitativ am häufigsten auftretende Erscheinungsform dar. Dies ergibt sich aus statistischen Erhebungen gerichtlicher Untersuchungen und Verurteilungen. Menschenhändler sind sich dabei des Wertes der Frau als »Handelsgut« durchaus bewusst: Während man Waffen oder Drogen nur einmal verkaufen kann, lässt sich aus dem Handel mit Menschen immer wieder neuer Profit erzielen.3 Belegt ist, dass Menschenhandel gemeinsam mit Drogen- und Waffenhandel zu den drei ertragreichsten Geschäften des organisierten Verbrechens gehört.4
2. Gegenstand und Fragestellung der Untersuchung Gegenstand meiner Untersuchung ist der Menschenhandel in der deutschen und österreichischen Rechtsordnung respektive eine Analyse der geltenden strafrechtlichen Normen. Dabei liegt der Fokus meiner Betrachtung auf der Frage, was das geschriebene Recht tatsächlich bedeutet, welche Auswirkungen die Normierungen in praxi haben, welche strafrechtlichen Nebengebiete Täter und Opfer des Menschenhandels berühren, wie mit Betroffenen im Strafverfahren umgegangen wird und in welcher Hinsicht fremden- und ausländerrechtliche Regelungen tangiert werden. Diese Fragestellungen werden durch die Darstellung der österreichischen Rechtslage anhand eines Falles erörtert. Die deutsche Rechtslage entspricht im Wesentlichen der österreichischen. Daher werden diesbezüglich lediglich die abweichenden Normen erörtert, die in concreto weitgehend ähnliche Auswirkungen zeigen. Mein Beitrag bietet dabei eine nach meiner Recherche erstmalige Erörterung, der – zumindest in Österreich – bisher noch nicht erläuterten neuen Rechtslage im Strafrecht und zeigt die Korrelationen mit anderen Rechtsbereichen auf. Den Schluss der Untersuchung stellt eine Kritik am status quo dar.
3. Der juristische Begriff »Menschenhandel« Eine einheitliche Bestimmung des Begriffs »Menschenhandel« existiert trotz der Vielzahl internationaler, nationaler und regionaler Akte nicht. Auf EU-Ebene bestehen jedoch Definitionen, an die die nationalen Regelungen angepasst wurden. Die österreichische und deutsche Strafbestimmung basiert auf dem »EURahmenbeschluss vom 19. Juli 2002 zur Bekämpfung des Menschenhan-
3 | Vgl. Pino Arlacchi: Ware Mensch. Skandal des modernen Sklavenhandels, München 2000, S. 85. 4 | Vgl. http://www.profrau.at/de/frauenhandel/index.htm, gesehen am 23. Mai 2006.
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dels«5. Dieser verpflichtet in Art. 1 jeden Mitgliedstaat, notwendige Maßnahmen zu treffen, um sicherzustellen, dass bestimmte Handlungen, die die EU als Menschenhandel betrachtet, unter Strafe gestellt werden. Dies sind die Anwerbung, Beförderung, Weitergabe, Beherbergung und spätere Aufnahme einer Person, einschließlich Tausch der Kontrolle oder Weitergabe der Kontrolle über sie. Zusätzlich müssen bei der Handlung bestimmte Modalitäten, d.h. die Anwendung oder Androhung von Gewalt oder anderen Formen der Nötigung, einschließlich Entführung, oder eine arglistige Täuschung bzw. Betrug, der Missbrauch einer Machtstellung, die Gewährung oder Entgegennahme von Zahlungen oder Vergünstigungen vorliegen. Die Tat erfolgt zum Zweck der Ausbeutung des Opfers durch Arbeiten oder Dienstleistungen, oder zum Zweck der Ausbeutung mittels Prostitution oder anderer Formen der sexuellen Ausbeutung einschließlich Pornografie. Das »UNO-Zusatzprotokoll zur Verhütung, Bekämpfung und Bestrafung des Menschenhandels, insbesondere des Frauen- und Kinderhandels«6, das der österreichischen Norm zum Menschenhandel als Vorbild dient, beinhaltet als weiteren Zweck des Menschenhandels die Entnahme von Körperorganen. Generell wird deutlich, dass die Definition von Menschenhandel eher weit gefasst ist, um möglichst alle kriminellen Handlungen vom Tatbestand zu erfassen. Kritisch angemerkt wird jedoch, dass der Begriff »Frauenhandel« den Opferstatus impliziert und die Frauen als handlungs- und entscheidungsunfähig erscheinen lässt. Somit drohen die Opfer als Subjekte ihrer schwierigen Lebensverhältnisse aus dem Blickpunkt zu geraten, denn der »Frauenhandel« impliziert das passive Opfer Frau, den Händler, der mit dieser »Ware« nach Belieben verfährt und den neutralen Konsumenten, der von jeglicher Verantwortung frei gesprochen wird. Dadurch herrscht eine rassistische und eurozentrische Sichtweise des Phänomens vor. Als Alternative wird von Betreuungseinrichtungen vorgeschlagen, von »Frauenmigration« oder dem »Geschäft mit der Migration von Frauen« zu sprechen. Diese Anregungen nehmen darauf Bezug, dass die Ursache des Phänomens Menschenhandel primär an restriktiven fremdenund ausländerrechtlichen Bestimmungen liegt, die eine legale Einreise verunmöglichen.7 In Anbetracht der Notsituation der Opfer und des Ausbeutungscharakters des Delikts ist aus meiner Sicht jedenfalls der Begriff »Menschenraub« zweckentsprechend.
4. Abgrenzung zur Schlepperei Schlepperei liegt vor, wenn sich eine Person freiwillig von einem Schlepper illegal über eine nationale Grenze transportieren lässt und der Schlepper für Organisation und/oder Transport Geld bekommt. Dabei besteht für den Geschleppten das Risiko, während des Transports ausgesetzt zu werden oder auf Grund 5 | Amtsblatt Nr. L 203 vom 01/08/2002, S. 0001-0004. 6 | A/RES/55/25 (Annex II). 7 | Vgl. H. Konrad: Frauenhandel, S. 18.
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116 | Alice Sadoghi der gefährlichen Bedingungen der Reise zu sterben. Während der Täter hier die Tatsache ausnützt, dass die Person nicht legal über die Grenze gelangen kann, bezweckt der Menschenhändler hauptsächlich mit Hilfe von List, Zwang und/ oder Schuldknechtschaft aus der Arbeit der Betroffenen finanziellen Nutzen zu ziehen. Die Tätigkeit des Schleppers ist getan, wenn der Geschleppte sich im Zielland befindet, während der Täter des Menschenhandels nun noch daran mitwirkt, die Arbeitskraft der betroffenen Person auszubeuten und daraus ökonomische Vorteile erlangt.8 Während daher die Schlepperei- bzw. Schleusungstatbestände Handlungen zur illegalen Einreise kriminalisieren, ist die Absicht der Menschenhändlerringe auf die Ausbeutung im Zielland und die damit einhergehende Ausnutzung von Abhängigkeitsverhältnissen gerichtet.9
5. Situation in Österreich Menschenhandel betrifft auch in Österreich primär Frauen und Mädchen, darunter etliche Minderjährige.10 Die meisten öffentlich in Erscheinung tretenden Opfer sind im Sexgewerbe tätig. Obgleich Prostitution in Österreich auf Grund der Landesgesetze grundsätzlich erlaubt ist und die Frauen eine Reihe von Pflichten wie periodische Gesundheitsüberwachungen treffen, unterliegen registrierte Prostituierte zahlreichen Einschränkungen und Diskriminierungen. So besteht für sie keine zivilrechtliche Möglichkeit, den Lohn für ihre Leistung einzuklagen, sie sind außerdem steuer-, arbeits- und sozialversicherungsrechtlichen Diskriminierungen ausgesetzt und entbehren jeglichen Grundrechtsschutz, sodass ihr Status als Rechtlosstellung bezeichnet werden muss.11 Die Mehrzahl der in Österreich gehandelten Frauen stammt aus dem ehemaligen Ostblock, d.h. aus Rumänien, Moldawien, der Slowakei, Tschechien und Ungarn. Ebenso wurden Fälle von Österreicherinnen aufgedeckt, die nach Frankreich, Deutschland und Monaco »verkauft« wurden.12 Im Jahr 2004 erhob die Staatsanwaltschaft gegen 106 Beschuldigte Klage wegen Menschenhandels. Die Kriminalstatistik weißt 44 Verurteilungen auf, wobei 34 Männer und zehn Frauen bestraft wurden.13 8 | Vgl. Angelika Kartusch/Katharina Knaus/Gabriele Reiter: Bekämpfung des Frauenhandels, Wien 2000, S. 25f. 9 | Vgl. Anette Louise Herz: Menschenhandel, Freiburg 2005, S. 5f; S. Rhomberg: Die Bekämpfung des Menschenhandels, insbesondere des Frauenhandels, S. 50. 10 | So waren im Jahr 1999 elf Prozent der betreuten Frauen jünger als 19 Jahre. Vgl. A. Kartusch/K. Knaus/G. Reiter: Bekämpfung des Frauenhandels, S. 98. 11 | Ausführlich dazu Alice Sadoghi: Offene Rechtsfragen zur Prostitution in entwicklungsgeschichtlicher Perspektive, Linz 2005, S. 53ff. 12 | Vgl. A. Kartusch/K. Knaus/G. Reiter: Bekämpfung des Frauenhandels, S. 99f; »Menschenhandel – Getäuscht und ausgebeutet«, in: Öffentliche Sicherheit 9 (2000), S. 4; S. Rhomberg: Die Bekämpfung des Menschenhandels, insbesondere des Frauenhandels, S. 39. 13 | Vgl. Statistik Austria: Gerichtliche Kriminalstatistik 2004, Wien 2005, S. 56.
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5.1 Illustration der geltenden Rechtslage anhand eines Falles Der folgende Fall soll Anlass zur Erläuterung der Rechtslage in Österreich geben. Nach dem theoretischen Input zu den jeweiligen Sachgebieten wird daher darauf Bezug genommen, inwiefern das Dargestellte im Anlassfall zur Anwendung gelangt. Der Angeklagte Claudiu C. hatte im Zeitraum von 2000 bis 2002 die volljährigen rumänischen Staatsbürgerinnen Adella Florina M., Raluca Elena T. und Magdalena Gabriela L. in ihrer Heimat unter Vorspiegelung falscher Tatsachen angeworben, indem er vorgab die Frauen in Österreich als Tänzerinnen zu beschäftigen. Tatsächlich wurden sie in einen Bordellbetrieb nach Markt Allhau verbracht, wo sie gezwungen wurden, als Prostituierte tätig zu sein. Außerdem veranlasste Claudiu C. die Opfer zur Zahlung von überhöhten Beträgen (in Höhe von 1.308 €), die er angeblich für die Erlangung der Visa vorgestreckt hatte.14
Materielles Recht – Menschenhandel gem. § 104a StGB Das Strafrechtsänderungsgesetz 200415 stellt die Umsetzung des »UN-Protokolls zur Verhütung, Bekämpfung und Bestrafung des Menschenhandels«16, des »Fakultativprotokolls zum UN-Übereinkommen über die Rechte des Kindes betreffend Kinderhandel, Kinderprostitution und Kinderpornographie« sowie des »EU-Rahmenbeschlusses zur Bekämpfung des Menschenhandels«17, der die Mitgliedstaaten verpflichtet, neben der sexuellen Ausbeutung auch die der Arbeitskraft strafrechtlich unter Menschenhandel zu stellen, dar und brachte eine Neuregelung des Menschenhandels zum Zweck der sexuellen Ausbeutung, der Ausbeutung durch Organentnahme und der Ausbeutung der Arbeitskraft.18 Da der Menschenhandel nach internationalen Vorgaben nicht nur die Prostitution umfasst, war die Neuschöpfung aus nationaler Sicht unbedingt notwendig, denn die alte Rechtslage beinhaltete unter dem Delikt Menschenhandel in § 217 StGB lediglich den grenzüberschreitenden Prostitutionshandel.19 14 | OGH 10.08.2004, 14Os82/04, ergangen zur alten Rechtslage. Zur neuen Rechtslage existiert zurzeit noch keine höchstgerichtliche Judikatur. 15 | BGBl. 2004/15. 16 | A/RES/55/25 (Annex II). 17 | Amtsblatt EG Nr. L 203 vom 1.8.2002, 1ff. 18 | Vgl. Klaus Schweighofer, in: Frank Höpfel/Eckart Ratz (Hg.), Wiener Kommentar zum Strafgesetzbuch2, Wien 2005, § 104a Rz. 2. 19 | Danach diente die Norm dem Schutz der Willens- und Bewegungsfreiheit der Person, und zwar unabhängig davon, ob sie bereits in ihrem Heimatstaat der Prostitution nachging. § 217 StGB umfasste Tathandlungen, die das Opfer veranlassten, sich in einen anderen als den Heimatstaat zu begeben, um dort die gewerbsmäßige Prostitution aufzunehmen. Nicht erforderlich war daher, dass der Täter mit Menschen kommerziellen Handel trieb, erfasst waren vielmehr Tathandlungen, die auf die Veranlassung zur Ausübung gewerbsmäßiger Unzucht in einem für das Opfer fremden Staat gerichtet waren. Vgl.
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118 | Alice Sadoghi § 104a StGB pönalisiert nun im Bereich der Freiheitsdelikte den Menschenhandel und ersetzt den alten § 104a, der ausbeuterische Schlepperei bestraft hatte.20 Die Schleppereibestimmungen finden sich nun in § 114 Fremdenpolizeigesetz.21 Die Bezeichnung des neuen § 104a mit »Menschenhandel« erforderte gleichzeitig eine Umbenennung des früher mit »Menschenhandel« überschriebenen § 217 StGB in »grenzüberschreitenden Prostitutionshandel«.22 Menschenhandel stellt gem. § 64 Abs. 1 Z. 4 StGB ein Delikt dar, das auch dann nach österreichischem Recht bestraft wird, wenn es im Ausland begangen wurde und durch die Tat österreichische Interessen verletzt worden sind23 bzw. der Täter nicht ausgeliefert werden kann. Somit weicht das Territorialitätsprinzip24 dem Universalitätsprinzip.25 Des Menschenhandels macht sich danach jeder strafbar, der eine minderjährige Person oder einen Erwachsenen unter Einsatz unerlaubter Mittel anwirbt, beherbergt, sonst aufnimmt, befördert, einem anderen anbietet oder weitergibt. Diese an sich sozial adäquaten Handlungen sind jedoch erst strafbar, wenn der Täter sie mit dem Vorsatz begeht, das Opfer dadurch sexuell, durch Organentnahme oder in dessen Arbeitskraft auszubeuten.26 Die bei erwachsenen Opfern zusätzlich erforderlichen unerlaubten Mittel sind Täuschung, die Ausnützung eines Autoritätsverhältnisses, einer Zwangslage, Geisteskrankheit oder der Wehrlosigkeit des Opfers sowie Einschüchterung und Vorteilsgewährung für die Übergabe. Die Sanktion für das Verbrechen des Menschenhandels stellt eine Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren dar. Im dargestellten Fall wurde Claudiu C. wegen des Verbrechens des Menschenhandels für schuldig erkannt. Er hatte drei volljährige Personen angeworben. Dies tat er nicht etwa mit der Absicht, ihnen in Österreich eine Arbeitsstelle als Tänzerinnen zu beschaffen, sondern mit dem Vorsatz sie in einem Bordell in Allhau sexuell auszubeuten d.h. durch deren Einkünfte als Prostituierte selbst finanzielle Vorteile zu erlangen. Als unlauteres Mittel wandte der Täter dabei die Täuschung über Tatsachen, nämlich die Tätigkeit als
Herbert Wegscheider: Strafrecht. Besonderer Teil, Linz 2003, S. 368; Diethelm Kienapfel/Hans Valentin Schroll: Strafrecht. Besonderer Teil III, Wien 1999, S. 257ff. 20 | Vgl. K. Schweighofer, in: F. Höpfel/E. Ratz (Hg.), Wiener Kommentar zum Strafgesetzbuch, § 104a Rz. 1. 21 | BGBl. 2005/100. 22 | Vgl. K. Schweighofer, in: F. Höpfel/E. Ratz (Hg.), Wiener Kommentar zum Strafgesetzbuch, § 104a Rz. 1. 23 | Dies ist der Fall, wenn die geschützte Person die österreichische Staatsbürgerschaft besitzt. EvBl. 1994/30. 24 | Nach dem Territorialitätsprinzip gilt für eine Straftat stets das Recht, das am Ort der Begehung in Kraft ist. 25 | Das Universalitätsprinzip hingegen sieht Sanktionen einer Rechtsordnung unabhängig vom Ort der Begehung vor. 26 | Vgl. K. Schweighofer, in: F. Höpfel/E. Ratz (Hg.), Wiener Kommentar zum Strafgesetzbuch, § 104a Rz. 5.
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Die Frau als »Handelsgut«. (Straf)rechtliche Betrachtung | 119 Tänzerinnen im Ausland, an. Somit hat Claudiu C. alle Elemente des Menschenhandels gem. § 104a StGB erfüllt.
Strafprozessuale Aspekte Ein weiteres Problem, das bei Fällen von Menschenhandel häufig auftritt, spielt sich im strafprozessualen Verfahren ab. In praxi können sich Richter/-innen in Verfahren wegen Menschenhandels meist nur auf die Aussagen von Opfern stützen, wodurch eine enorme Verantwortung für die Frauen entsteht. Um die Hauptakteure der Händlerringe strafrechtlich zu verfolgen, bedarf es auf Grund der oft mangelnden Sachbeweise der Einvernahme betroffener Personen als Zeuginnen. Werden diese nicht ohnehin vorzeitig von den Tätern außer Landes gebracht oder in Schubhaft genommen, bestehen erhebliche Schwierigkeiten in der Zusammenarbeit mit den Strafverfolgungsbehörden, da Opfer aus Angst vor Repressalien nicht aussagen wollen. Die österreichische Strafprozessordnung regelt in §§ 150ff die Vernehmung von Zeuginnen. Grundsätzlich sind diese verpflichtet vor Gericht auszusagen. Lediglich wenn Verweigerungsrechte zum Tragen kommen, besteht eine Ausnahme. So ist gem. § 152 Abs. 1 Z. 2a StPO eine Person, die durch die dem Beschuldigten zur Last gelegte strafbare Handlung in ihrer Geschlechtssphäre verletzt worden sein könnte, berechtigt, sich der Aussage in der Hauptverhandlung zu entschlagen, d.h. nicht auszusagen, sofern die Parteien Gelegenheit hatten, sich an einer vorausgegangenen gerichtlichen Vernehmung zu beteiligen.27 Gem.§ 153 Abs. 2 StPO hat eine solche Person auch das Recht, die Beantwortung von Fragen nach Umständen aus ihrem höchstpersönlichen Lebensbereich sowie nach Einzelheiten der strafbaren Handlung, deren Schilderung sie für unzumutbar hält, gänzlich zu verweigern. Wenn die Aussage wegen der besonderen Bedeutung unerlässlich ist, kann das Gericht jedoch darauf bestehen.28 Daher existiert grundsätzlich eine einmalige Aussagepflicht bzw. obliegt es dem Gericht zu entscheiden, ob die Aussage unerlässlich ist und daher getätigt werden muss. Um der Angst der Zeuginnen entgegenzuwirken und die Einvernahme möglichst einfach zu gestalten, sieht die StPO gem. § 162a Abs. 3 für Personen, die in ihrer Geschlechtssphäre verletzt wurden, eine schonende parteiöffentliche Einvernahme im Vorverfahren vor, wobei die Parteien unter Verwendung von technischen Hilfsmitteln zur Wort- und Bildübertragung die Vernehmung der Zeuginnen verfolgen und dabei ihr Fragerecht ausüben können, ohne bei der Befragung anwesend sein zu müssen. In Ausnahmefällen kann das Gericht den Angeklagten in der Hauptverhandlung auch auffordern, den Gerichtssaal zu verlassen, während eine Zeugin ihre Aussage macht. Dies dient dazu, dem Opfer die Angst zu nehmen, in Anwesenheit ihres Peinigers für ihn belastende Anga-
27 | In diesem Fall liegt eine absolute Zeugnisbefreiung vor. 28 | Deshalb stellt diese Form der Entschlagung lediglich eine relative Zeugnisbefreiung dar.
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120 | Alice Sadoghi ben zu tätigen. Der Angeklagte muss im Nachhinein von allem in Kenntnis gesetzt werden, was in seiner Abwesenheit vorgenommen wurde.29 Trotz der Möglichkeit der schonenden Einvernahme stehen viele Frauen unter erhöhtem Druck und fürchten die Rache der Menschenhändler. Außerdem hängt es zumeist vom Willen der Richter/-innen ab, ob diese »justiziellen Zeuginnenschutzmaßnahmen« getroffen werden.30 Polizeiliche Zeuginnenschutzprogramme für Opfer von Menschenhandel, die den Betroffenen eine Aussage vor Gericht erleichtern würden, existieren zurzeit in Österreich nicht. Die Frauen haben daher weder die Möglichkeit, eine neue Identität anzunehmen, noch wird ihnen Polizeischutz gewährt.31 Dies führt nicht selten zur Entschlagung und damit zum Verlust wertvollen Beweismaterials für eine Verurteilung. Weiters befinden sich die Opfer auf Grund gefälschter Ausweisdokumente im überwiegenden Maße illegal in Österreich und fürchten eine Abschiebung, falls sie bei den Behörden in Erscheinung treten.32 Im Beispielfall haben die drei Opfer Adella Florina M., Raluca Elena T. und Magdalena Gabriela L. als Zeuginnen, die in ihrer Geschlechtssphäre verletzt wurden daher die Möglichkeit, in der Verhandlung zu schweigen. Dafür muss jedoch vorab eine Vernehmung in Anwesenheit aller Parteien stattgefunden haben. Um den drei Frauen dort die Situation so angenehm wie möglich zu machen, sitzt der Täter nicht im selben Raum, sondern verfolgt die Vernehmung über Video im Nebenraum. Sagen die Opfer in der Hauptverhandlung aus, ist es ihnen möglich, persönliche Fragen bspw. über die Frequenz der Freier oder die Praktiken unbeantwortet zu lassen, wenn das Gericht nicht wegen Unerlässlichkeit auf die Beantwortung besteht. In diesem Fall kann der Angeklagte jedoch aufgefordert werden, den Verhandlungssaal zu verlassen, um dem Opfer die Situation zu erleichtern. Polizeilichen Schutz können die drei Frauen weder vor noch nach der Verhandlung in Anspruch nehmen.
Schadenersatz und Privatbeteiligung Betroffenen des Frauenhandel steht es jedenfalls frei, sich als Privatbeteiligte gem. §§ 47f StPO dem Verfahren anzuschließen. Somit können sie ihre zivilrechtlichen Ansprüche (etwa Schadenersatzansprüche) im Strafverfahren geltend machen und haben dadurch das Recht auf Akteneinsicht sowie das Frageund Antragsrecht und die Möglichkeit einer eigenen Stellungnahme. Bei einem Schuldspruch kann der Schaden oder ein Teil davon zugesprochen werden, der Beschuldigte wird zur Entschädigung verurteilt. Bei einem Freispruch verweist das Gericht den Privatbeteiligten auf den Zivilrechtsweg.33 29 | § 250 StPO. 30 | Vgl. Elvira Niesner/Christina Jones-Pauly: Strafverfolgung und Opferschutz im europäischen Vergleich, Bielefeld 2001, S. 192. 31 | Vgl. A. Kartusch/K. Knaus/G. Reiter: Bekämpfung des Frauenhandels, S. 195f; E. Niesner/C. Jones-Pauly, Christina: Strafverfolgung, S. 193. 32 | Vgl. B. Solero: Frauenmigration aus Drittweltländern, S. 92. 33 | Vgl. Christian Bertel/Andreas Venier: Strafprozessrecht8, Wien 2004, S. 57ff.
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Die Frau als »Handelsgut«. (Straf)rechtliche Betrachtung | 121 Im Fall des Menschenhändlers Claudiu C. können die drei Opfer ihre Schadenersatzansprüche, die ihnen auf Grund der Verletzung ihrer körperliche Integrität und des Eingriffs in ihr Vermögen entstanden sind, direkt in der Strafverhandlung gegen ihren Peiniger geltend machen und müssen keine Zivilklage einreichen. Sie sitzen dabei neben dem Staatsanwalt und müssen auf die Frage des Richters lediglich angeben, in welcher Höhe sie geschädigt wurden. Dies ist nicht nur prozessökonomisch, sondern erspart den Geschädigten auch die Kosten für einen Anwalt und die Mühen der nochmaligen Erörterung des Falles vor einem weiteren Gericht.
Abschöpfung der Bereicherung und Verfall Wird ein Täter gem. § 104a StGB wegen Menschenhandels verurteilt, hat dies auch finanzielle Auswirkungen. Nicht selten haben kriminelle Organisationen mit den Opfern jahrelang Millionenbeträge verdient, diese können bei einer Verurteilung vom Gericht eingezogen werden. Das österreichische Strafgesetzbuch sieht vor, dass die aus einer strafrechtlichen Handlung erlangten Erträge zurückzugeben bzw. zu beschlagnahmen sind.34 Der Täter des Beispielfalles hat demgemäß nicht nur seine Freiheitsstrafe anzutreten, sowie den Opfern ihren Schaden in Geld zu vergüten. Darüber hinaus kann das Gericht sämtliche Einnahmen, wie bspw. die 1.308 €, die zur angeblichen Erlangung der Visa kassiert wurden, einziehen.
Weitere rechtliche Folgen Nicht selten wirtschaften Menschenhändler auch am Finanzamt vorbei. Die Finanzstrafbehörde hat mit Bescheid die Beschlagnahme von verfallsbedrohten Gegenständen und von Sachen, die als Beweismittel in Betracht kommen, anzuordnen, wenn dies zur Sicherung des Verfalls oder zur Beweissicherung geboten ist.35 So können neben der Beschlagnahme im Strafverfahren auch noch Strafmaßnahmen der Verwaltungsbehörden zum Tragen kommen. Ein Schuldspruch durch ein Strafgericht führt häufig auch zu Konsequenzen, die über die konkret verhängte Sanktion hinausgehen. Die strengsten Folgen sind jene, die ex lege mit der Verurteilung eintreten, ohne dass es einer zusätzlichen Entscheidung durch ein Gericht oder eine Verwaltungsbehörde bedarf. Diese sog. Nebenfolgen einer Verurteilung kommen auch beim Menschenhandel in Betracht. Über diese Rechtsfolgen hinaus gibt es in zahlreichen außerstrafrechtlichen Gesetzen Vorschriften, die an eine strafgerichtliche Verurteilung anknüpfen und zu weiteren Konsequenzen für den Verurteilten führen können. Solche Folgen eines Richterspruches gibt es sowohl im Verwaltungs34 | § 20, § 20a StGB. D.h. wer durch eine Straftat Vermögensvorteile bezogen oder Vermögensvorteile für die Begehung einer strafbaren Handlung erhalten hat, ist zur Zahlung eines Geldbetrages in Höhe der dadurch erlangten unrechtmäßigen Bereicherung zu verurteilen. 35 | § 98 Abs. 1 Finanzstrafgesetz.
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122 | Alice Sadoghi als auch im Zivilrecht.36 Das Strafrecht kennt als Rechtsfolge den Amtsverlust eines Beamten, falls dieser wegen eines Vorsatzdeliktes zu einer Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr oder einer unbedingten Freiheitsstrafe bzw. einem unbedingten Strafteil von mehr als sechs Monaten verurteilt wird.37 Als Konsequenzen im Nebenstrafrecht existieren in Bezug auf die Bereiche, die Menschenhändler typischerweise betreffen, der Ausschluss vom Recht zur Ausübung eines Gewerbes38, der Entzug des Führerscheins39 oder der Entzug der Lizenz zum Waffenbesitz.40 In Oberösterreich entfällt bei einer Verurteilung wegen Menschenhandels auch die Befugnis einen Hund zu halten.41 Weiters können weit reichende zivilrechtliche Folgen, wie der Verlust des Erbrechts oder des Unterhalts eintreten.42 In concreto muss Claudiu C. daher auch damit rechnen, seine Lenkberechtigung, falls er Gewerbetreibender ist, seine Gewerbeberechtigung zu verlieren. Diese weiteren Nebenfolgen bedeuten für den Verurteilten auch nach der Haftentlassung enorm negative Auswirkungen. Unter Umständen muss er sein bisheriges Tätigkeitsfeld verlassen und sich andere Erwerbsmöglichkeiten suchen d.h. eine völlige Umstrukturierung seines Lebens vornehmen.
Fremdenrecht Ausländer/-innen, die nach Österreich einreisen wollen, um hier eine Arbeit aufzunehmen, benötigen eine Aufenthaltsberechtigung und eine Arbeitsgenehmigung. Denn wer bei einer illegalen Beschäftigung angetroffen wird, muss mit der sofortigen Ausweisung und mit einem Aufenthaltsverbot bis zu zehn Jahren rechnen. Das Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz43, das im Rahmen des Fremdenrechtspaketes 2005 geltendes Recht wurde, regelt die Erteilung von Aufenthaltstiteln für Fremde44, die sich länger als sechs Monate im Bundesgebiet aufhalten (wollen). Es existieren verschiedene Aufenthaltstitel, bspw. für Familienangehörige oder EWR-Bürgerinnen, die zu unterschiedlich langer Anwesenheit berechtigen.45 Die Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung sind sehr restriktiv, so darf die Anwesenheit nicht den öffent36 | Vgl. Udo Jesionek/Alois Birklbauer: »Nebenfolgen einer gerichtlichen Verurteilung«, in: Richterzeitung (2005), S. 50. 37 | § 27 StGB. 38 | § 13 Abs. 1 GewO. 39 | § 7 Abs. 2 Z 3 FSG. So auch der UVS Kärnten GZ KUVS-358/3/2004 vom 29.06.2004. 40 | § 8 Abs. 3 Z. 1 iVm 20ff WaffenG. 41 | § 5 Oö. Hundehaltegesetz 2002. 42 | Zu den vielfältigen strafrechtlichen Nebenfolgen einer Verurteilung vgl. U. Jesionek/A. Birklbauer: »Nebenfolgen einer gerichtlichen Verurteilung«, S. 50. 43 | BGBl. I 2005/100. 44 | Fremd iSd. Gesetzes ist, wer nicht die österreichische Staatsbürgerschaft besitzt. 45 | § 8 Abs. 1 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz.
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lichen Interessen widerstreiten, der Fremde muss eine Unterkunftsmöglichkeit sowie eine Krankenversicherung nachweisen, darf durch seinen Aufenthalt keiner Gebietskörperschaft Kosten verursachen oder die Beziehungen Österreichs zu einem anderen Staat durch seine Anwesenheit stören.46 Neben dem Recht sich im Bundesgebiet aufzuhalten, bedarf es weiters einer Arbeitsgenehmigung. Gemäß dem Ausländerbeschäftigungsgesetz47 darf eine Ausländerin eine Beschäftigung unter anderem nur antreten und ausüben, wenn für sie eine Beschäftigungsbewilligung (befristet mit einem Jahr), die nach der Lage am Arbeitsmarkt eruiert wird, oder eine Zulassung als Schlüsselkraft ausgestellt wurde.48 Nach Ablauf der Beschäftigungsbewilligung ist von der Behörde über eine Arbeitserlaubnis zu entscheiden.49 Im Sinne eines abgestuften Vorgehens wird der Ausländerin demnach gestattet, am Arbeitsmarkt tätig zu sein. Insgesamt erfordern die Niederlassungs- und Arbeitserlaubnisse sehr strenge Voraussetzungen und sind an langwierige Verfahren geknüpft.50 Sie werden daher in praxi eher restriktiv gehandhabt.51 Gem. § 72 Abs. 2 des Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetzes kann zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen Handlungen Drittstaatsangehörigen, insbesondere Zeuginnen oder Opfern von Menschenhandel eine Aufenthaltsbewilligung aus humanitären Gründen für die erforderliche Dauer, mindestens jedoch für sechs Monate, erteilt werden.52 Diese Bewilligung kann entweder mit oder ohne Arbeitserlaubnis ausgestellt werden.53 Die Erteilung eines solchen Aufenthaltstitels bedarf allerdings der Zustimmung des Bundesministers für Inneres. Adella Florina M., Raluca Elena T. und Magdalena Gabriela L. haben daher die theoretische Möglichkeit, sechs Monate in Österreich zu bleiben und hier legal zu arbeiten um so bei der Überführung des Täters als Zeuginnen mitzuwirken. Diese an sich begrüßenswerte Regelung, wird in praxi jedoch kaum angewendet. Bleibt daher abzuwarten, wie sich der Verwaltungsbrauch diesbezüglich in Zukunft entwickeln wird. Eine darüber hinaus-
46 | § 11 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz. 47 | BGBl 1975/218. 48 | §§ 3ff Ausländerbeschäftigungsgesetz. 49 | § 14a Ausländerbeschäftigungsgesetz. 50 | Asylrechtliche Bestimmungen bewirken höchsten die Duldung des Aufenthalts, sind jedoch mit keiner Arbeitsbewilligung gekoppelt und bringen daher für Opfer des Menschenhandels keine Verbesserung der Situation. §§ 12ff Asylgesetz 2005. 51 | Vgl. http://www.auslaender.at/gesetze/Auslaenderbeschaeftigungsgesetz.html, gesehen am 21. Juni 2006. 52 | So auch ein Erlass des BMJ zur Vorgangsweise der Gerichte bei der Einvernahme von Zeugen, deren fremdenpolizeiliche Abschiebung bevorsteht, JABl. Nr. 30/1998. 53 | § 8 Abs. 2 Z. 2 und 4 iZm § 73 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz. Vgl. René Bruckner/Hans-Peter Doskozil/Thomas Marth/Wolfgang Taucher/Mathias Vogl: Fremdenrechtspaket, Wien/Graz 2005, S. 412.
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124 | Alice Sadoghi gehende Niederlassungs- und Arbeitserlaubnis zu erhalten, gestaltet sich als langwieriger und schwieriger Prozess.
5.2 Resümee – Was die Normen in praxi tatsächlich bedeuten Wird eine Person in Österreich wegen Menschenhandels verurteilt und das gesamte rechtliche Spektrum ausgeschöpft, bietet sich folgende Situation: Der Täter hat eine Freiheitsstrafe von bis zu 3 Jahren abzusitzen, ist er unbescholten, wird sich die konkrete Strafe in etwa zwischen einem und zwei Jahren bewegen. Der zivilrechtliche Schaden, der für die Opfer entstanden ist, ist vom Täter zu begleichen und die aus dem Menschenhandel erzielten Einnahmen sind dem Staat abzutreten. Nach der Haftentlassung hat er mit weiteren Einschränkungen zu kämpfen, wenn er als Gewerbetreibender nicht mehr tätig sein kann, nicht Auto fahren darf bzw. andere Nebenfolgen der Tat erleidet. Die Opfer von Menschenhandel auf der anderen Seite können für maximal sechs Monate in Österreich bleiben und haben die geringe Chance auch legal arbeiten zu dürfen. Es gibt die Möglichkeit als Zeuginnen zur Verurteilung beizutragen. Dabei werden die Opfer von der Rechtsordnung in der Form geschützt, dass eine direkte Konfrontation mit dem Täter vermieden wird. Außerdem werden ihre zivilrechtlichen Ansprüche ersetzt und damit ihr finanzieller Schaden gemindert.
6. Situation in Deutschland Deutschland gilt innerhalb Europas als primäres Zielland für den Handel mit Frauen zu Prostitutionszwecken. Die Zahl der so verbrachten Personen wird auf mehrere zehntausend im Jahr geschätzt.54 2004 wurden bundesweit 370 Ermittlungsverfahren wegen Menschenhandels durchgeführt, wobei 972 Opfer und 777 Tatverdächtige registriert wurden.55 Im Gegensatz zu Österreich ist in Deutschland die Rechtslage der legalen Prostituierten56 gemäß dem Entkriminalisierungsprinzip um einiges besser ausgestaltet. Seit dem Prostitutionsgesetz 200157 ist die Tätigkeit von Prostituierten als eine Art Beruf normiert. Entgeltleistungen sind einklagbar, die Prostitution kann Gegenstand eines sozialversicherungsrechtlichen Beschäftigungsverhältnisses sein und die Umgestaltung der Strafbestimmungen im StGB hat zu besseren Arbeitsbedingungen geführt.58
54 | Vgl. A. L. Herz: Menschenhandel, S. 2. 55 | Vgl. http://www.bka.de/lageberichte/mh/2004/mh2004.pdf, gesehen am 2. Juni 2006. 56 | Für Migrantinnen besteht weiterhin eine unbefriedigende Situation, da sie zumeist ohne Aufenthaltsbewilligung und somit völlig rechtlos tätig sind. 57 | BGBl I 2004/74. 58 | Ausführlich dazu A. Sadoghi: Offene Rechtsfragen zur Prostitution in entwicklungsgeschichtlicher Perspektive, S. 133ff. Offen ist jedoch weiterhin die Bestrafung der
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6.1 Das materielle Recht – Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung gem. § 232 dStGB und zum Zweck der Ausbeutung der Arbeitskraft gem. § 233 dStGB In Umsetzung des »EU-Rahmenbeschlusses zur Bekämpfung des Menschenhandels« von 200259 wurde in Deutschland im Februar 2005 das 37. Strafrechtsänderungsgesetz60 erlassen. Der Menschenhandel wird auch hier unter den Delikten gegen die persönliche Freiheit geführt. Neben der Neufassung der Strafvorschriften gegen Menschenhandel61 wird nun zwischen dem Handel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung62 und zur Ausbeutung der Arbeitskraft63 unterschieden. Der Menschenhandel zum Zweck der Organentnahme ist jedoch nicht pönalisiert. § 233a dStGB normiert die Förderung des Menschenhandels. Die Verschleppung ist ebenfalls im Strafgesetzbuch geregelt.64 In Deutschland macht sich daher des Menschenhandels zum Zweck der sexuellen Ausbeutung strafbar, wer eine andere Person unter Ausnutzung einer herkunftsbedingten Zwangslage oder Hilflosigkeit zur Aufnahme oder Fortsetzung der Prostitution oder anderer sexuellen Handlungen, durch die sie ausgebeutet wird, bringt.65 Die Sanktion hierfür liegt bei Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren. Ist das Opfer ein Kind oder wird es durch die Tat verletzt, gelten strengere Sanktionen. Bestraft wird auch, wer eine andere Person mit Gewalt, Drohung oder List zur Aufnahme oder Fortsetzung der Prostitution oder einer anderen sexuellen Handlung bringt. Im Gegensatz zum österreichischen StGB, das in § 104a StGB eine einheitliche Regelung für jegliche Typen von Menschenhandel beinhaltet, teilt das deutsche Gesetz die Verantwortlichkeit somit auf verschiedene Delikte auf und gestaltet die Strafbarkeit wegen Menschenhandels zum Zweck der sexuellen Ausbeutung detaillierter, wobei auf die gewerbsmäßige Begehung und die her-
Freier, vgl. Joachim Renzikowski: »An den Grenzen des Strafrechts – Die Bekämpfung der Zwangsprostitution«, in: Zeitschrift für Rechtspolitik 7 (2005), S. 213. 59 | Amtsblatt EG Nr. L 203 vom 1.8.2002, 1ff. 60 | dBGBl. I 2005, 239. 61 | Zuvor war in § 180b, § 181 StGB der Menschenhändler ähnlich der österreichischen Rechtslage als jemand definiert, der einen anderen mit Gewalt, durch Drohung mit einem empfindlichen Übel oder durch List dazu brachte der Prostitution nachzugehen, oder anwarb oder wider seinen Willen durch List, Drohung oder Gewalt entführte, um das Opfer unter Ausnutzung der Hilflosigkeit, die mit seinem Aufenthalt in einem fremden Land verbunden war, zu sexuellen Handlungen zu bringen. Vgl. auch Monika Frommel: »Anmerkungen zum Entwurf eines Strafrechtsänderungsgesetzes des Bundesrates zum Menschenhandel«, in: STREIT 2 (1992), S. 68. 62 | § 232 dStGB. 63 | § 233 dStGB. 64 | § 234a dStGB. 65 | Vgl. Jörg Eisele, in: Adolf Schönke/Horst Schröder (Hg.), Strafgesetzbuch27, München 2006, § 232 Rz. 8f.
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126 | Alice Sadoghi kunftsbedingte Zwangslage ebenso Bezug genommen wird. Außerdem ist das Verhalten auch ohne Hinzutreten der unlauteren Mittel grundsätzlich strafbar.
6.2 Strafprozessuale Aspekte Bei der Strafverfolgung nimmt in Deutschland das Delikt des Frauenhandels insgesamt eine untergeordnete Rolle ein. Da die Opfer z.T. stigmatisiert werden, fehlt es auch hier an einem effektiven Schutz.66 Außerdem besteht wie in Österreich das Problem der frühzeitigen Ausweisung von Zeuginnen und der dadurch erschwerten Beweisführung gegen die Täter. Einvernahme der Opfer als Zeuginnen Ein Zeugnisverweigerungsrecht besteht für jede Person in Bezug auf Fragen, deren Beantwortung ihr selbst oder einem Angehörigen die Gefahr zuziehen würde, wegen einer Straftat oder einer Ordnungswidrigkeit verfolgt zu werden.67 Die Vernehmung von Zeuginnen vor der Hauptverhandlung erfolgt grundsätzlich in Anwesenheit der Staatsanwaltschaft, der Verteidigung und des Beschuldigten. Der/Die Richter/-in kann den Beschuldigten von der Verhandlung ausschließen, wenn dessen Anwesenheit den Untersuchungszweck gefährden würde. Dies gilt dann, wenn zu befürchten ist, dass eine Zeugin in Gegenwart des Beschuldigten nicht die Wahrheit sagt.68 Besteht die dringende Gefahr eines schwerwiegenden Nachteils für das Wohl der Zeugin, wenn sie in Gegenwart der Anwesenheitsberechtigten vernommen wird oder ist das Opfer jünger als 16 Jahre alt, kann der/die Richter/-in die Vernehmung von den Anwesenheitsberechtigten getrennt durchführen und diese in Bild und Ton übertragen.69 Außerdem ist es zulässig, eine frühere richterliche Vernehmung in der Hauptverhandlung zu verlesen, wenn das Erscheinen der Zeugin wegen Krankheit nicht möglich ist.70 Während der Hauptverhandlung kann eine Zeugin auch an einem anderen Ort als im Hauptverhandlungssaal vernommen werden, wenn die Gefahr eines schwer wiegenden Nachteils für ihr Wohl besteht. Die Verfahrensbeteiligten können auf einem Bildschirm im Gerichtssaal die Befragung live verfolgen.71 Die Mittel der schonenden Einvernahme erleichtern den Zeuginnen ihre Aussage und verhindern eine sekundäre Viktimisierung, die durch die Konfrontation mit den Tätern, das nochmalige Durchleben der Situation, die Scham vor der Aussage sowie die Belastung langer Wartezeiten entsteht. Deutschland verfügt über ein gut entwickeltes polizeiliches Zeuginnenschutzprogramm für Personen, die von der Polizei als stark gefährdet eingestuft 66 | Vgl. Agisra: Frauenhandel und Prostitutionstourismus, München 1990, S. 285. 67 | § 55 dStPO. 68 | § 168c dStPO. 69 | § 168e, § 58a dStPO. 70 | § 251 Abs. 2 dStPO. 71 | § 247a dStPO.
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werden. Diese können eine neue Identität erhalten. Im Jahr 1998 wurden jedoch lediglich ca. zwei Prozent der Opfer von Menschenhandel in dieses Programm aufgenommen, da die Kriterien für einen umfassenden Schutz sehr hoch angelegt werden.72 Parteistellung, Schadenersatz und Opferentschädigung Frauen, die Opfer von Menschenhändlern i.S.d. §§ 232ff StGB geworden sind, haben die Möglichkeit, sich der von der Staatsanwaltschaft erhobenen Anklage als Nebenklägerinnen anschließen73, um so notwendige Verfahrensrechte zu erhalten. Die Nebenklägerin ist zur Anwesenheit während der gesamten Hauptverhandlung berechtigt. Die Befugnis zur Ablehnung von Richter/-inne/-n74 oder Sachverständigen, das Fragerecht75, das Recht zur Beanstandung von Anordnungen des Vorsitzenden76 und von Fragen77, das Beweisantragsrecht78 sowie das Recht zur Abgabe von Erklärungen79 stehen auch der Nebenklägerin zu. Der Verletzten sind außerdem auf Antrag die Einstellung sowie der Ausgang des gerichtlichen Verfahrens mitzuteilen.80 Aus der Straftat erwachsene Vermögensnachteile kann die Verletzte somit ebenso im Strafverfahren gegen den Angeklagten geltend machen. Ein derartiger Antrag hat dieselbe Wirkung wie eine zivilrechtliche Klage auf Schadenersatz. Beschlagnahme Gegenstände, die als Beweismittel für eine Untersuchung gegen einen Menschenhändler von Bedeutung sind, können gemäß der Strafprozessordnung auf Anordnung der Richter/-innen bzw. des Staatsanwaltes und seiner Ermittlungspersonen in Verwahrung genommen bzw. beschlagnahmt werden.81
72 | Darunter fallen die wesentlichen Kenntnisse über die Tat, der hohe Gefährdungsgrad sowie die Bereitschaft und Fähigkeit im Schutzprogramm mitzuarbeiten. Vgl. E. Niesner/C. Jones-Pauly: Strafverfolgung und Opferschutz im europäischen Vergleich, S. 228f. 73 | § 395 Abs. 1 1d dStPO. 74 | §§ 24, 31 dStPO. 75 | § 240 Abs. 2 dStPO. 76 | § 238 Abs. 2 dStPO. 77 | § 242 dStPO. 78 | § 244 Abs. 3 bis 6 dStPO. 79 | § 257f dStPO. 80 | § 406 dStPO. 81 | § 94, § 98 dStPO. Die derart eingezogenen Güter umfassen sowohl das Vermögen als auch bewegliche körperliche Sachen. § 111c dStPO.
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128 | Alice Sadoghi Verfall und Einziehung Auch die Möglichkeit des Verfalles ist im deutschen Strafverfahren existent. Das Gericht ordnet den Verfall der Gegenstände des Straftäters oder eines Teilnehmers an der Tat an, wenn auf Grund der Umstände davon auszugehen ist, dass die Objekte für die rechtswidrige Tat oder aus ihr erlangt wurden. Auch das für die erlangten Gegenstände bereits bezogene Entgelt ist dabei vom Verfall bedroht.82 Weitere rechtliche Folgen In Verbindung mit dem Urteil können weitere direkt im Strafgesetzbuch geregelte Verbote ausgesprochen werden. Beispielsweise ist es möglich, die Fahrerlaubnis bis zu drei Monate zu entziehen, wenn das Führen eines Kraftfahrzeuges oder die Verletzung der Pflichten eines Kraftfahrzeugführers im Zusammenhang mit dem Verbrechen steht.83 Diese Nebenfolge tritt bei der Verurteilung wegen Menschenhandels häufig ein.84 Eine Strafe von mindestens einem Jahr bewirkt den Amtsverlust sowie den Verlust des aktiven und passiven Wahlrechts.85
6.3 Fremdenrecht Das seit 1.1.2005 geltende Aufenthaltsgesetz86 regelt die Steuerung und Begrenzung des Zuzuges von Ausländerinnen87 in die Bundesrepublik Deutschland. Die stets befristete Aufenthaltserlaubnis kann zu bestimmten Zwecken wie Arbeit oder Studium erteilt werden und legt fest, in welchem Umfang einer Erwerbstätigkeit nachgegangen werden darf.88 Die Zulassung zur Beschäftigung orientiert sich am Arbeitsmarkt. Eine Beschäftigung darf außerdem nur ausgeübt werden, wenn die Bundesagentur für Arbeit ihre Zustimmung erteilt oder eine Rechtsverordnung89 dies vorsieht.90 Die Niederlassungserlaubnis wird unbefristet erteilt. Sie stellt ein eigenständiges Aufenthaltsrecht dar, das unabhängig vom ursprünglichen Einreisezweck besteht. Sie wird in der Regel 82 | § 73 dStGB. Weiters können Gegenstände, die durch eine vorsätzliche Straftat hervorgebracht oder zu ihrer Begehung oder Vorbereitung gebraucht wurden oder bestimmt gewesen sind, eingezogen werden. § 74 dStGB. 83 | § 44 dStGB. 84 | Vgl. E. Niesner/C. Jones-Pauly: Strafverfolgung und Opferschutz im europäischen Vergleich, S. 208. 85 | § 45 dStGB. 86 | BGBl. I 2004, 1950 idF. BGBl. I 2005, S. 1818. 87 | Ausländerin ist danach jede, die nicht die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt. § 2 Abs. 1 AufenthaltsG. 88 | §§ 16ff AufenthaltsG. 89 | Beschäftigungsverordnung BGBL I 2004, S. 2937. 90 | § 18, §§ 39ff AufenthaltsG.
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nach fünf Jahren des Besitzes einer Aufenthaltserlaubnis erteilt. Gem. § 9 müssen dafür u.a. der Lebensunterhalt des Fremden gesichert sein, bestimmte Pflichtbeiträge zur Rentenversicherung bezahlt worden sein und ausreichende Kenntnisse der deutschen Sprache sowie der Rechts- und Gesellschaftsordnung Deutschlands nachgewiesen werden. Das Aufenthaltsgesetz dient zugleich der Erfüllung humanitärer Verpflichtungen. Gem. § 22f kann aus völkerrechtlichen oder dringenden humanitären Gründen eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn das Innenministerium oder die oberste Landesbehörde die Aufnahme erklärt. Außerdem besteht die Möglichkeit einer Aufenthaltsbewilligung in Härtefällen, die allerdings ausgeschlossen ist, wenn die betreffende Person Straftaten von erheblichem Gewicht begangen hat.91 § 25 regelt den Aufenthalt aus humanitären Gründen. Gem. Abs. 4 kann eine vorübergehende Aufenthaltsbewilligung erteilt werden, solange dringende humanitäre bzw. persönliche Gründe oder erhebliche öffentliche Interessen, wie die Durchführung eines Strafverfahrens, in dem die Auszuweisende als Zeugin fungiert, die vorübergehende weitere Anwesenheit im Bundesgebiet erfordern. Die Aufenthaltsdauer beträgt dabei höchstens sechs Monate.92 Diese Form der Duldung von Ausländerinnen geschieht allerdings höchst selten.93
7. Recht als Barometer des moralischen Standpunkts – kritische Bewertung der Rechtslage Meine primäre Kritik an der geltenden Rechtslage sowohl in Österreich als auch in Deutschland basiert auf der Idee der so genannten primären Generalprävention. Danach ist es zielführend, Verbrechen nicht erst dadurch zu verhindern, dass der Täter oder andere potentielle Täter durch Verhängung der Strafe davon abgehalten werden das Delikt (nochmals) zu begehen94, sondern vielmehr an den Wurzeln anzusetzen. Es sollen die Ursachen von strafbaren Handlungen in Sozial- und Ausländerpolitik erkannt werden. Nicht der charakterschwache Täter ist der Grund dafür, dass die Zahl der Opfer von Menschenhandel enorm angestiegen ist, nicht das leichtsinnige Opfer ist der Anlass für die zahlreichen Verurteilungen, vielmehr sind die derzeitigen Regelungen des Aufenthaltsrecht sowie die Erteilung einer Arbeitserlaubnis Hauptmotivation für viele Personen, sich nach Österreich schleusen zu lassen bzw. illegalen Tätigkeiten nachzugehen, in denen sie ausgebeutet werden. Hier läge es an einer verantwortungsvollen Politik, die Grundlage zu schaffen, die den Handel mit Menschen eindämmen. Da der österreichische sowie deutsche Gesetzgeber an der aussichtslosen 91 | § 23a AufenthaltsG. 92 | § 26 AufenthaltsG. 93 | Vgl. Barbara Becker-Rojczyk: »Ein Fall von Frauenhandel und dirigistischer Zuhälterei – Erfolge und Mißerfolge«, in: STREIT 4 (1993), S. 165. 94 | Diese Wirkung der Strafe wird in der Wissenschaft ohnehin stark angezweifelt respektive negiert.
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130 | Alice Sadoghi Situation in den Herkunftsländern der Frauen nur schwerlich Veränderungen bewirken kann, die internationalen Abkommen zwar begrüßenswerte Ansätze zeigen, jedoch zumeist nicht durchsetzbar sind, ist es geboten, die nationale Rechtslage derart umzugestalten, dass Migrantinnen unter Berücksichtung des heimischen Arbeitsmarktes eine faire Chance auf legale Beschäftigung erhalten. Klar ist dabei aber auch, dass dies nur unter Bedachtnahme auf die weltpolitischen Zusammenhänge der Migration erfolgen kann. Anstatt aber an dieser primären Prävention gegen das Verbrechen des Menschenhandels zu arbeiten, laboriert der österreichische und deutsche Gesetzgeber an der Status-quo-Situation herum, formuliert immer breiter werdende Tatbestände, die die Täter möglichst umfassend kriminalisieren, allerdings im Vergleich zu anderen schwerwiegenden Delikten eher geringe Strafdrohungen enthalten und versucht bereits als Opfer des Menschenhandels dramatisierte Frauen mittels Zeuginnenschutzmaßnahmen zu Aussagen zu bewegen bzw. die erlittenen Schäden wieder gutzumachen. Diese Maßnahmen jedoch werden erst gesetzt, nachdem »das Kind in den Brunnen gefallen ist«. Verantwortliche möglichst umfassend zu bestrafen und Betroffene zu schonen, ist sehr begrüßenswert, eine gewissenhafte Reform des Delikts Menschenhandel kann jedoch nicht allein im Strafgesetzbuch stattfinden, sondern hat fremden-, ausländer- sowie einreiserechtliche Bestimmungen miteinzuschließen.
Literatur Agisra: Frauenhandel und Prostitutionstourismus, München 1990. Arlacchi, Pino: Ware Mensch. Skandal des modernen Sklavenhandels, München 2000. Becker-Rojczyk, Barbara: »Ein Fall von Frauenhandel und dirigistischer Zuhälterei Erfolge und Mißerfolge«, in: STREIT 4 (1993), S. 165. Bertel, Christian/Venier, Andreas: Strafprozessrecht8, Wien 2004. Bruckner, René/Doskozil, Hans-Peter/Marth, Thomas/Taucher, Wolfgang/Vogl, Mathias: Fremdenrechtspaket, Wien/Graz 2005. Eisele, Jörg, in: Adolf Schönke/Horst Schröder (Hg.), Strafgesetzbuch27, München 2006. Fehér, Lenke: Frauenhandel, Wien 1996. Foregger, Egmont/Bachner-Foregger, Helene: StGB18,Wien 2004. Frommel, Monika: »Anmerkungen zum Entwurf eines Strafrechtsänderungsgesetzes des Bundesrates zum Menschenhandel«, in: STREIT 2 (1992), S. 68. Herz, Anette Louise: Menschenhandel, Freiburg 2005. Hofmann, Johannes: Menschenhandel, Frankfurt am Main, Wien 2002. Jesionek, Udo/Birklbauer, Alois: »Nebenfolgen einer gerichtlichen Verurteilung«, in: Richterzeitung (2005), S. 50. Kartusch, Angelika/Knaus, Katharina/Reiter, Gabriele: Bekämpfung des Frauenhandels, Wien 2000. Keidel, Leo: »Menschenhandel als Phänomen organisierter Kriminalität«, in: Kriminalistik (1998), S. 321.
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Kienapfel, Diethelm/Schroll, Hans Valentin: Strafrecht. Besonderer Teil III, Wien 1999. Konrad, Helga: Frauenhandel, Wien 1996. Krause, Günter: »Alles bereits fest im Griff«, in: Kriminalistik (1995), S. 107. Maier, Christian: § 217 StGB, Innsbruck 1998. »Menschenhandel – Getäuscht und ausgebeutet«, in: Öffentliche Sicherheit 9 (2000), S. 4. Niesner, Elvira/Jones-Pauly, Christina: Frauenhandel in Europa, Bielefeld 2001. Niesner, Elvira/Jones-Pauly, Christina: Strafverfolgung und Opferschutz im europäischen Vergleich, Bielefeld 2001. Rautenberg, Erardo Cristoforo: »Prostitution: Das Ende der Heuchelei ist gekommen!«, in: Neue Juristische Wochenschrift 9 (2002), S. 650. Renzikowski, Joachim: »An den Grenzen des Strafrechts – Die Bekämpfung der Zwangsprostitution«, in: Zeitschrift für Rechtspolitik 7 (2005), S. 213. Rhomberg, Simone: Die Bekämpfung des Menschenhandels, insbesondere des Frauenhandels, Innsbruck 2004. Sadoghi, Alice: Offene Rechtsfragen zur Prostitution in entwicklungsgeschichtlicher Perspektive, Linz 2005. Schweighofer, Klaus, in: Höpfel, Frank/Ratz, Eckart (Hg.), Wiener Kommentar zum Strafgesetzbuch2, Wien 2005. Sieber, Ulrich: »Logistik der Organisierten Kriminalität in der Bundesrepublik Deutschland«, in: Juristische Zeitung (1995), S. 758. Solero, Bettina: Frauenmigration aus Drittweltländern, Linz 2002. Statistik Austria, Gerichtliche Kriminalstatistik 2004, Wien 2005. Steinke, Wolfgang: »Menschenhandel«, in: Kriminalistik (1992), S. 650. Wegscheider, Herbert: Strafrecht. Besonderer Teil, Linz 2003. Weldy, Olivia Maria: Frauenhandel – Moderner Sklavenhandel, Linz 2005.
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Weiße Sklavinnen im frühen 20. Jahrhundert | 133
Weiße Sklavinnen in einer Kolonialnation. Die niederländische Kampagne gegen Frauenhandel im frühen 20. Jahrhundert 1 Petra de Vries
Marie M. kam aus einer angesehenen Familie in Budapest und hatte eine hervorragende Erziehung genossen. Allerdings gab es einige Spannungen zwischen ihr und ihrer Familie, da man sie als ein etwas »lockeres« Mädchen wahrnahm. Eines Tages, um 1902, verschwand sie spurlos. Ihre Geschichte wurde anschließend von einem deutschen Journalisten publik gemacht und in den Periodika zweier niederländischer Organisationen veröffentlicht. Es schien, dass ein gewisser Herr Rohiger sie über eine Arbeitsvermittlung angestellt hatte, damit sie eine Gouvernante in Konstantinopel (dem heutigen Istanbul) würde. Als Nachforschungen unternommen wurden, stellte sich heraus, dass Herr Rohiger und Marie acht Tage zuvor gemeinsam mit drei anderen Mädchen abgereist waren, die »Bedienstete«, »Haushälterin« und »Zimmermädchen« werden sollten. Ein Detektiv, der den Auftrag erhielt, sie ausfindig zu machen, reiste nach Konstantinopel und entdeckte dort einige Telegramme zwischen einem Herrn, der sich Salomonowski nannte, und einem Herrn mit dem Namen Scharfmann, beide »Frauenhändler«. Scharfmann besaß ein Haus, in dem gewöhnlich 40 bis 50 Mädchen »gelagert« und auf das Leben in der Prostitution vorbereitet wurden. Sie wurden streng überwacht. Falls sie sich nicht bereitwillig unterwarfen, wurden sie geschlagen und ihnen wurde das Essen verwehrt, sie wurden also einer Behandlung unterzogen, die sie schnell apathisch werden ließ. Dann wurden die Frauen fotografiert, wonach der tatsächliche Verkauf beginnen konnte.
1 | Eine etwas längere Fassung dieses Artikels erschien als »›White Slaves‹ in a Colonial Nation: the Dutch Campaign Against the Traffic in Women in the Early Twentieth Century«, in: Social and Legal Studies (2005), Bd. 14/1, S. 39-60. Ich danke Sage Publications dafür, ihn jetzt auf Deutsch veröffentlichen zu dürfen und Patrick Stärke für die Übersetzung.
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134 | Petra de Vries Indem sich der Detektiv als Bordellbesitzer aus Alexandria ausgab, konnte er Marie und die anderen drei Mädchen schließlich finden. Alle drei befanden sich in einem erbärmlichen Zustand. Scharfmann wurde zwar von der türkischen Polizei verhaftet, jedoch am nächsten Tag wieder draußen gesehen.2 Für ihre Zeitgenossen waren Marie und ihre unglückseligen Begleiterinnen »Weiße Sklavinnen«. Im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert wurden viele Fälle ähnlicher Art veröffentlicht, was schließlich zu einer internationalen Aktion zur Verdrängung des Handels mit Weißen Sklavinnen führte. Von ungefähr 1900 bis zum Ersten Weltkrieg erklomm die Kampagne ihren Höhepunkt, ihr Einfluss reichte aber weit über diese Zeit hinaus. Die Aktivist/-inn/-en waren recht erfolgreich darin, bedeutende juristische Bestimmungen gegen bestimmte Aspekte von Sexarbeit zu erwirken. Dies bildete die Basis für die zukünftige nationale und internationale Gesetzgebung zur Prostitution und leitete auch ein neues Zeitalter für die Sexualpolitik außerhalb der legislativen Arena ein. Wichtiger noch: Die Idee von den als Weiße Sklavinnen gehandelten jungen Frauen beeinflusste das Vorstellungsvermögen vieler Menschen für die kommenden Jahrzehnte. Noch 30 Jahre nach den ursprünglichen rechtlichen Veränderungen, 1940, beobachtete eine niederländische Tageszeitung, dass billige Romane und Filme eine tiefe Angst vor dem »Mädchenhändler« in jedermanns Bewusstsein gepflanzt hatte.3 Noch in den 50er Jahren wurde die Erzählung von der Weißen Sklavin mit Zeitungsüberschriften wie »Herzlose Schurken jagen nach Ihrer Tochter« weiter geschrieben4 und in den 60er Jahren bezog sich immer noch ein Autor auf einen fast 80 Jahre alten Fall von Frauenhandel, der so sensationell war, dass er der Auslöser für den andauernden Kampf gegen den »Handel Unschuldiger« gewesen sein soll.5 Da ist es nicht überraschend, dass in den 70er Jahren einige Mütter, meine eingeschlossen, immer noch tendenziell beängstigt waren, ihre Töchter würden irgendwo als Weiße Sklavin enden, wenn sie an exotische Orte reisten. Die Weiße Sklavin, die einen gefährlichen Raum für Frauen abzeichnete, wurde so zum Symbol sexueller Gefahr par excellence. Verglichen mit dem bemerkenswerten historischen Einfluss nationaler und internationaler Kampagnen zur »Weißen Sklaverei« in Europa fällt ihre Historiographie eher mager aus. Historiker der Sittlichkeitsbewegung schenkten zwar dem Tumult über die Weiße Sklaverei in den 1880er Jahren viel Aufmerksamkeit, die Aktionen, die als Folge davon entstanden, wurden aber sehr viel weniger beachtet.6 Edward Bristows bahnbrechende Studie über den jüdischen 2 | Vgl. Het Maanblad: Getuigen en Redden (1902), S. 32-34. 3 | Vgl. Archiv NBV, Nr. 502-3: Verdwenen mensen, Vooruit 8: 1-40 (Zeitungsausschnitt). Siehe Quellen des Archivs für eine Volldarstellung. 4 | Vgl. Archiv NCHVK, Nr. 1: Zeitungsausschnitt. 5 | Vgl. Charles Terrot: Traffic in innocents: the shocking story of white slavery in England, New York 1961. 6 | Vgl. zum Beispiel Judith R. Walkowitz: City of Dreadful Delight: Narratives of Sexual Danger in Late Victorian London, London 1992 und Jane Jordan: Josephine Butler, London 2001.
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Weiße Sklavinnen im frühen 20. Jahrhundert | 135
Kampf gegen Weiße Sklaverei zu Beginn des 20. Jahrhunderts stellt eine bemerkenswerte Ausnahme dar. Seine akribische Untersuchung krimineller Netzwerke von Menschenhändlern und seine Analyse der politischen Reaktionen auf die Weiße Sklaverei haben außerordentlich zu unserem Verständnis beigetragen.7 Betrachtet man jedoch die heutigen Debatten über die Rechte von Prostituierten und die Politik gegen Menschenhandel, so zeigt sich, dass noch viele Aspekte unerforscht sind, die die Interpretation von Sexarbeit in ihren historischen Dimensionen erhellen würden. Mein Fokus in diesem Artikel liegt auf der niederländischen Bewegung gegen den Handel Weißer Sklavinnen, die ein Zweig einer international vernetzten Kampagne war.8 Zu jener Zeit hatten die Niederlande eine Führungsposition im internationalen Amt der Sittlichkeitsbewegung inne, so dass nationale niederländische und internationale Belange zusammenliefen. In der Erforschung des Handels mit Weißen Sklavinnen tritt ein fundamentales Problem auf: Wie können wir mit den Erzählungen von der Weißen Sklaverei umgehen? Wie können wir ihre Wurzeln ergründen und wie sollten wir ihre Behauptungen interpretieren? Historiker und andere Wissenschaftler haben diese Fragen beantwortet, indem sie auf die Hysterie, die moralische Panik und den Sensationsjournalismus hinwiesen, der die Aufwiegelung gegen Weiße Sklaverei mit sich brachte.9 Viele von ihnen tendierten dazu, das Vorkommen tatsächlicher Fälle von Frauenhandel herunterzuspielen, während andere sahen, dass die Frage nach dem tatsächlichen Frauenhandel den Punkt nicht trifft, wenn es um den Versuch geht, die historische Bedeutung Weißer Sklaverei zu verstehen. Dieses letztere Argument, dass die Historikerin Phillippa Levine vorbrachte, enthält einige Wahrheit.10 Eine Analyse der Kampagne zur Weißen Sklaverei muss jedoch auch anstreben, ein besseres Verständnis von dem zu vermitteln, was damals und heute unter »Frauenhandel« verstanden wurde. Natürlich bedeutet dies, dass die Quellen mit Vorsicht behandelt werden 7 | Vgl. Edward J. Bristow: Prostitution and prejudice: the Jewish fight against white slavery, 1870-1939, Oxford 1982. 8 | Für eine internationale und US-amerikanische Perspektive siehe Jo Doezema: »Loose or lost women? The Re-emergence of the Myth of White Slavery in Contemporary Discourses of Trafficking in Women«, in: Gender Issues 18/1 (2000), S. 38-64. 9 | Vgl. David J. Langum: Crossing over the line: legislating morality and the Mann Act, Chicago 1994; Margit Stange: Personal property: wives, white slaves, and the market in women, Baltimore 1998; Wendy Chapkis: Live sex acts: women performing erotic labour, London 1997; Edward J. Bristow: Vice and Vigilance: Purity Movements in Britain since 1700, Dublin 1977; Judith R. Walkowitz: »Male Vice and Feminist Virtue: Feminism and the Politics of Prostitution in Nineteenth Century Britain«, in: History Workshop Journal Bd. 13 (1982), S. 79-93; J. Doezema: »Loose or lost women?«; Donna J. Guy: White Slavery and Mothers Alive and Dead: The Troubled Meeting of Sex, Gender, Public Health, and Progress in Latin America, Lincoln 2000. 10 | Vgl. Philippa Levine: »The White Slave Trade and the British Empire«, in: Louisa A. Knafle (Hg.), Crime, gender, and sexuality in criminal prosecutions. Criminal Justice History, Bd. 17 (2002), S. 133-146.
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136 | Petra de Vries müssen. Hallt in der Geschichte von Marie Wahrheit wider oder wurde sie erschaffen, um sie als armes gefangenes Mägdelein darzustellen? Hat sie vielleicht selber entschieden, in Konstantinopel Prostituierte zu werden? Wie kann diese große Anzahl hereingelegter Mädchen interpretiert werden? Es gibt mehr Fragen als Antworten, aber es ist wahrscheinlich, dass einige Aspekte anderer Geschichten, die der von Marie ähneln, nicht so weit hergeholt waren, wie uns ein erstes Lesen glauben machen könnte. Denn die moralische Panik über Frauenhandel bedeutet nicht, dass Frauen nicht auch zu Prostitution gezwungen wurden. Alles was wir wissen, ist, dass Frauen im 19. Jahrhundert in ähnlicher Weise über ihre bevorstehende Arbeit im Sex-Geschäft getäuscht werden konnten wie heute. Menschenhandel war fast immer mit Migration verknüpft. Aufgrund von Armut und mangelnder sozialer Unterstützung, versuchten Frauen aus ländlichen Gebieten regelmäßig Arbeit in größeren Städten im eigenen Land oder Nachbarländern zu finden. Auch während der großen Migrationswellen von Europa auf den amerikanischen Kontinent im 19. und frühen 20. Jahrhundert flohen viele Menschen vor Armut, Krankheit, sozialer Unruhen und Pogrome – unter ihnen junge Frauen. Diese Frauen waren nicht alle potenzielle oder passive Opfer von böswilligen Unbekannten. Dennoch muss es einfach gewesen sein, ihnen Arbeit anzubieten, sie mit falschen Ausweispapieren auszustatten, sie an ein ausländisches Bordell zu liefern und damit Profit zu machen. Dies ist genau das, was uns die glaubhafteren Quellen11 über die Fälle berichten, die ihnen im Hinblick auf den »Frauenhandel« begegnet sind. Bordellbesitzer bezahlten beachtliche Summen an Mittelsmänner, um neue Prostituierte zu beschaffen, und die Zuhälter waren nicht immer ehrlich in Bezug auf die Art der angebotenen Beschäftigung.12 Junge Französinnen wurden unter falschen Vorwänden über kleine Netzwerke von placeurs nach Amsterdam gebracht.13 Diese Frauen erhielten falsche Papiere, wenn sie nicht volljährig waren. Auch andere Methoden wurden angewandt, wie z.B. Töchtern armer Pächter einen unechten Heiratsantrag zu machen und sie nach Amerika zu bringen.14 Diese Quellen geben uns zwar wenig Aufschluss über den Um11 | Allgemein gesprochen habe ich solche Quellen als zuverlässig betrachtet, in denen Namen oder Initialien, das Datum und besondere Umstände eines Falles gegeben waren, vorausgesetzt die Quelle selbst war nicht bedenklich. Dies umschließt Fälle von Aktivisten, Befreiungsorganisationen, Polizisten und Berichte von Staatsbehörden und einiger Tageszeitungen. Natürlich sind diese Informationen unausgewogen und müssen mit anderen Informationen ausbalanciert werden, um ein klares Bild zu erhalten. Wenn nicht anders angegeben, basiert meine Argumentation auf Petra de Vries: Kuisheid voor mannen, vrijheid voor vrouwen. De reglementering en bestrijding van prostitutie in Nederland 1850-1911, Hilversum 1997. 12 | Archiv Cie van Onderzoek naar Prostitutie, Nr. 1: Brief aan den Gemeenteraad, 20. Januar 1897. 13 | Archiv NCHVK (1901), Nr. 20 und 21 (Balkenstein Dossier): Rapport van het onderzoek naar den aard en den handel in vrouwen en meisjes. 14 | Edward J. Bristow: Prostitution and Prejudice: the Jewish fight against white slavery, 1870-1939, Oxford 1982.
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fang an Frauenhandel, sie weisen aber wiederholt auf das gleiche Muster an Täuschung und Nötigung hin. Waren die Frauen einmal am Zielort angekommen, war eine Rückkehr nach Hause schwierig. Abgesehen davon, dass sie sich in einem fremden Umfeld befanden, wurde oft das Mittel der Einschüchterung eingesetzt, um sie zum Bleiben zu bewegen. Eine Frau konnte zur Rückzahlung des Geldes gezwungen werden, das »für die Reise gezahlt wurde«, es konnte sein, dass man ihr die Ausweispapiere fortgenommen hatte oder ihr damit drohte, sie der Polizei zu übergeben – was eine wirksame Drohung war, wenn sie »illegale Immigrantin« war. Die historischen Quellen schweigen sich auch über andere wichtige Aspekte, die in zeitgenössischen Studien zum Menschenhandel mit einbezogen werden, so gut wie aus.15 Selbstverständlich gab es Frauen, die in der Absicht auswanderten, im Ausland Prostituierte zu werden, die dann aber nichtsdestoweniger in Zwangssituationen oder in ausbeuterische Arbeitsumstände gerieten – was Prostitutierten auch zu Hause geschehen konnte. Aus diesem Grund muss beim Lesen der Quellen der Frage nachgegangen werden, warum Fälle, wie die der Marie, einem angesehenen Mädchen aus der Mittelschicht, herausgehoben und veröffentlicht wurden und warum es, wenn überhaupt, nur wenige Berichte über einwilligende Prostituierte gibt. Obwohl es wichtig ist, zu erkennen, dass Zwangsprostitution keine Erfindung der Aktivist/-inn/-en gegen Weiße Sklaverei war, ist es gleichsam von Bedeutung, die »Weiße Sklavin« als historisches Konstrukt anzuerkennen, das einer bestimmten historisch und sozial situierten Interpretation sexueller Gewalt entsprang. In diesem Artikel möchte ich die Politik des niederländischen Feldzugs gegen die Weiße Sklaverei – ihre Wurzeln, ihre Aktivitäten und ihre rechtlichen Ergebnisse – als einen Bereich untersuchen, in dem das machtvolle Bild der Weißen Sklavin in Erscheinung tritt und zu einem bedeutsamen politischen Konzept wird. Obwohl die Niederländer den Begriff Weiße Sklavin nicht mochten, benutzten sie ihn, da er einen »bezeichnenden« Charakter errungen hatte.16 Genau diese »bezeichnende« Eigenschaft ist von Interesse für die Historiker/-in. Was genau sagt die Vorstellung von der Weißen Sklavin über Frauen, Geschlecht und die soziale Ordnung aus? Wie spiegelte sich dies in politischen und juristischen Handlungen wider? Meine Untersuchung beginnt damit, die historische Verlagerung von einer Vorstellung von Prostitution als »Sünde« und »Sklaverei« hin zum Bild »weißer« Frauen als Sklavinnen in der Sittlichkeitskampagne des 19. Jahrhunderts zu analysieren. Dem folgt eine Reflektion über das »Weißsein« der Weißen 15 | Vgl. Marjan Wijers/Lin Lap-Chew: Trafficking in women, forced labour and slavery-like practices in marriage, domestic labour and prostitution, Utrecht 1997; Jan Nijboer/Ruth Hopkins: Dutch section of »Rapport vrouwenhandel 7 mei 2003« (Commission of the European Communities, D.G Justice & Home Affair), http://www.rodedraad. nl/documenten/Hippokrates.pdf, zuletzt gesehen am 2.11.2006. 16 | Vgl. A.F. de Savornin Lohman/H. Pierson/A.J. Rethaan Macaré: »Verslag omtrent de handelingen en besluiten der Internationale Conferentie« (etc.), in: Het Maandblad: Getuigen en Redden 26 (1904), S. 40.
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138 | Petra de Vries Sklavin vor dem Hintergrund der Niederlande als einer weißen »zivilisierten« Kolonialnation. Ein zweiter Teil meiner Argumentation konzentriert sich auf eine bestimmte Kampagne gegen den Handel von Frauen, einschließlich der Mobilisierung von Massenprotesten gegen die Betreibung von Bordellen. Ich schließe mit einer Bewertung der rechtlichen Ergebnisse der Politik gegen den Handel von Frauen, wie dem Verbot der Betreibung von Bordellen und dem »Frauenhandel« – damals ein neues juristisches Konzept. Allgemein gesprochen interpretiere ich das Aufkommen der Weißen Sklavin als ein Symbol und eine kulturelle Vorstellung innerhalb der Diskurse über Prostitution, Sklaverei und »Anderssein« im 19. Jahrhundert. Diese Diskurse waren voll von Annahmen über Geschlecht, Klasse, Ethnizität und Sexualität als auch anderen Vorstellungen über weniger auffällige Unterteilungen wie »das Alte« versus »das Neue« und »das Lokale« versus »das Globale«. In diesem Sinn spiegelt ein solcher theoretischer Ansatz eine gängige Forschungstradition wider, die Sexualität als eine Stätte von Macht und gleichzeitig als ein »methodologisches Werkzeug« versteht, das es wie eine Linse ermöglicht, die Erschaffung und Neu-Schaffung von hierarchischen sozialen Grenzlinien wahrzunehmen und zu verstehen.
Prostitution als Sklaverei In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verbreitete sich ein Diskurs über die Prostitution, der aus sozialen, rechtlichen, medizinischen und politischen Texten über den Körper der Prostituierten und ihren wahren Geisteszustand bestand und um 1900 quasi explodierte. Durch dieses Wissen wurde die kommerzielle Sexualität zu etwas Beunruhigendem und zu einer zerstörerischen Kraft, ja beinahe zum Symbol sozialer Desintegration in einer ansonsten »zivilisierten« Gesellschaft. Eine zentrale Frage war, ob der Staat Prostitution regulieren solle oder nicht, um so Geschlechtskrankheiten zu bekämpfen.17 Es gab mindestens zwei Bedingungen, die diesen Sorgenfluss stimulierten. Zum einen wurde ein komplexes Netzwerk an professionellen und wohltätigen Einrichtungen – Asyle und Übergangsheime – etabliert, die arme Prostituierte und andere »gefallene Frauen« zu retten anstrebten. Zum anderen wuchs die soziale Bewegung, die sich gegen die Kontrolle von Prostituierten durch den Staat aussprach. Beide Entwicklungen stellten eine ideologische Plattform für die Herstellung von Prostitution als eine Form von Sklaverei dar und stellte den Rahmen für die Entstehung des Konzeptes der Weißen Sklavin. 17 | Vgl. Petra de Vries: »The Shadow of Contagion: Gender, syphilis and the regulation of prostitution in the Netherlands 1870-1911«, in: R. Davidson/L. Hall (Hg.), Sex, Sin and Suffering: Venereal disease and European society since 1870, London 2001, S. 44-60; Petra de Vries: »Daughters of Proletarians: the Prostitute’s Body in Dutch Libertarian Socialist Discourse in the late XIXth century«, in: Jesse Battan/Thomas Bouchet/Tania Régin (Hg.), Meetings & Alcôves: The Left and Sexuality in Europe and the United States since 1850, Dijon 2004, S. 47-64; Roger Davidson/Lesley Hall (Hg.): Sex, Sin and Suffering: Venereal disease and European society since 1870, London 2001.
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In den Niederlanden begann dies mit den Bemühungen des evangelikal-protestantischen Philanthropen Otto Gerhard Heldring, der 1848 das erste protestantische Heim für »gefallene Mädchen«, für entlassene weibliche Gefängnisinsassen und reuige Prostituierte eröffnete. Der vorwiegende Ansatz des evangelikalen Protestantismus Prostitution gegenüber basierte auf Konzepten von »Sünde« und »Unzucht«. Die Sünderin war vom rechten Weg in den Himmel abgekommen, konnte aber vom Herrn gerettet werden. Da »Sünde« eng mit sozialen Bedürfnissen und sozialen Problemen verbunden war, nahm Heldring einige soziale Ursachen von Sünden wahr und wies darauf hin. Er attackierte das scheinbar universelle System der Ausbeutung durch die Bordelle als eine Form von »Sklaverei«.18 Denn in dieser Zeit lebte eine Prostituierte in einem Bordell als eine Art Kostgänger. Sie wurde für immer unter »Schulden« festgehalten und war nicht frei zu gehen, weil sie erst das Geld zurückzahlen musste, das für ihre »Anschaffung« – den Preis an einen Zuhälter – und ihre neue Ausstaffierung ausgegeben wurde (oftmals Kleidung, in der sie nicht außerhalb des Bordells erscheinen konnte). Zusätzlich sorgten die Bordellmütter zu inflationären Preisen für tägliche Bedürfnisse – wie Speisen und Getränke. Da Prostituierte regelmäßig von einem Ort zu einem anderen gebracht wurden, existierte, wie Heldring anmerkte, ein menschenunwürdiges System: Sie wurden mitsamt ihren »Schulden« an ein anderes Bordell verkauft. Um auf den »Verkauf« von festgehaltenen Frauen aufmerksam zu machen, benutzte Heldring die Versklavung von Schwarzen als Modell, was eine weitere wichtige Angelegenheit für den evangelikalen Protestantismus war. Einige seiner Vorstellungen wirkten sich auf die Sprache und die Interpretationen der Anti-Prostitutionsbewegung der 1870er Jahre und darüber hinaus aus; allerdings wurden auch neue Nebenbedeutungen zugefügt. Die Sittlichkeitsbewegung weitete sich auf dem europäischen Kontinent als »Abolitionismus« aus, wiederum ein Konzept, das sich auf die ältere Terminologie des Kampfes gegen die schwarze Sklaverei gründete. Das primäre Ziel des Abolitionismus war die Abschaffung des Systems medizinischer Zwangsinspektionen und Behandlungen von Prostituierten – eine weit verbreitete staatliche Praktik, die auf Prostituierte als ansteckende Körper abzielte, während sie gleichzeitig die Kunden zu schützen suchte. Für die Seele der Sittlichkeitsbewegung,19 die berühmte britische Fürsprecherin der Frauenrechte Josephine Butler, war die staatliche Regulierung inklusive der Zwangsuntersuchungen Teil eines »Systems der Sklaverei, des Kaufens und Verkaufens menschlicher Wesen, der Unterdrückung, der Gefangenschaft und des langsamen Mordens«, welches nicht für die »Baumwollfelder des reichen Mannes«, sondern für die »Sicherung der Befriedigung der Lust des Man-
18 | Vgl. Ottho G. Heldring: »Is er nog slavernij in Nederland?«, in: De Vereeniging: Christelijke Stemmen XIV (1860) [1985], S. 388-395; J. Harsin: Policing Prostitution in Nineteenth-Century Paris, Princeton 1985. 19 | In angelsächsischen Ländern spricht man vom social purity movement.
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140 | Petra de Vries nes« bestimmt war.20 Sie machte auf den geschlechtsspezifizierten und sexuellen Charakter dessen, was diese Sklaverei bedeutete, aufmerksam und wurde so zu einer neuen Analyse inspiriert, bei der diese »Sünde« als ein Ergebnis der sexuellen und sozialen Ungleichheit zwischen den Geschlechtern verstanden wurde. Butlers »Kreuzzug« in den 1870er Jahren gegen die staatliche Regulierung von Prostitution, wie es in den berühmt-berüchtigten britischen Gesetzen gegen übertragbare Krankheiten (Contagious Diseases Acts) niedergelegt war, führte 1875 zu der Gründung der internationalen Organisation »Fédération Abolitionniste Internationale« (F.A.I.). Im Jahre 1879 wurde von dem evangelikalprotestantischen Pfarrer Hendrik Pierson ein niederländischer Zweig gegründet. Pierson wurde später Präsident der F.A.I. und Heldrings Nachfolger als Direktor der Heime für »gefallene Mädchen«. Sozialist/-inn/-en und Feminist/ -inn/-en wurden bald zu seinen Verbündeten. Wie viele Historiker dargestellt haben, war die Prostitution, besonders für die weiblichen Abolitionisten, die Quintessenz sexueller Gefahr. Sie sahen darin eine Schandtat gegen die Weiblichkeit, einen Archetyp sexuellen Missbrauchs. Viele (Einzelpersonen wie Gruppen) beteiligten sich an der Verteidigung der Schwachen gegen grausame Missachtung als »böse« Frauen und soziale Ausgrenzung der gefallenen Frauen. Sie begehrten gegen die soziale Ungerechtigkeit, die ihren »Schwestern« angetan wurde, auf. Die junge niederländische Feministin Welmoet Wijnaendts Francken-Dyserinck, eine der herausragenden Sprecherinnen der Kampagne gegen Weiße Sklaverei um 1900, teilte ihrer Zuhörerschaft wiederholt mit, dass Prostitution Auswirkungen für das gesamte weibliche Geschlecht habe. Vehement vertrat sie die Position, dass wenn Prostitution gewollt sei, um die Straße für andere Frauen sicherer zu machen, »wir diese Sicherheit nicht wollen, wenn sie die Sklaverei unserer Schwestern beinhaltet«.21 Zweifellos war dies ein gut gemeinter Akt der Solidarität. Nichtsdestotrotz war die junge und erfolgreiche Feministin, wie viele andere Abolitionist/-inn/ -en, in ihrer sozialen Position vom Gegenstand ihres Mitgefühls weit entfernt. In den Augen der Abolitionist/-inn/-en waren Prostituierte Opfer ohne eigene Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit. Sie besaßen keine Stimme – und kein Gesicht – in der Bewegung, die in ihrem Namen kämpfte. Das problematische an diesem Diskurs der »Sklaverei« war, dass er zum einen ein kraftvolles Bild von einer Frau in Ketten generierte, und zum anderen die machtvolle politische Fantasie hervorbrachte, diese Ketten zu sprengen. Darin war kein Platz für die Subjektivität einer Frau, die sich freiwillig entschieden hatte, in der Prostitution zu arbeiten.
20 | Vgl. Josephine B. Butler: A Letter to the Members of the Ladies’ National Association, Liverpool 1875, S. 19. 21 | Archiv WWFD (1903), Nr. 39: Rotterdams Weekblad, 4-8 (Zeitungsausschnitt).
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Die Weiße Sklavin Die niederländische Abolitionismus-Bewegung konzentrierte sich seit ihrer Gründung 1879 primär auf den Kampf gegen die staatliche Regulierung von Prostitution. Aber auch der »Frauenhandel« wurde, bedingt durch den kontinuierlichen Informationsfluss über junge Frauen, die in die Hände von Frauenhändlern gefallen waren, zunehmend relevanter. Zu der Zeit als um 1900 das kraftvolle Bild der Weißen Sklavin in Erscheinung trat, nahm der Handel von Weißen Sklavinnen verschiedene Bedeutungen an. Zum Beispiel konnte er Prostitution selbst bedeuten, sich aber auch auf kriminelle Praktiken des Handels mit Frauen über Grenzen hinweg beziehen. In einigen englischen Texten wurde er sogar zur Ausbeutung von Arbeiterinnen in den »mörderischen Gruben des Kapitalismus« gemacht.22 Diese Verschmelzung von Begrifflichkeiten zeigt, dass der Übergang zwischen »bloßem« (also offenem) Anwerben von Frauen zur Prostitution und der gewaltsamen Tätigkeit der Irreführung und Einschüchterung in der Tat fließend war. Dennoch nahm die Weiße Sklavin, als ein Beschäftigungsgegenstand der Abolitionisten, schrittweise eine eigene Identität an, die sich von der Identität der Prostituierten deutlich abhob. Diese neue Identität spiegelt sich auch in der 1902 von Oncko van Swinderen – einem Rechtsanwalt und wichtigem Mitglied der Kampagne gegen Weiße Sklaverei in den Niederlanden – gegebenen Beschreibung des Frauenhandels wider.23 Seiner Sichtweise nach war »weiße Sklaverei in vielerlei Hinsicht besser als echte Sklaverei«. Er erklärte ihr Ansteigen als ein Resultat der allgemeinen »Zunahme von internationalem Menschenhandel« und der »schnelleren Transportmittel« sowie der »Einführung von Telegraph und Telephon«.24 Er beschwor das Bild eines ständigen und organisierten weltweiten Frauenhandels herauf. Er sprach von »Märkten« und »Handelszentren« in Städten wie New York und Paris, aber auch exotischeren Lokalitäten wie Algier und Buenos Aires. Es gab einen »Import« ausländischer Frauen nach Europa und einen »Export« europäischer Frauen nach Südamerika und Afrika. Es wurde von »Büros«, »Handelsvertretern«, »Unternehmen«, »Depots«, »Zweigstellen« und »Bestellungen« gesprochen.25 In den Jahren zwischen Heldring und van Swinderen hat sich die Debatte verändert. Während die Prostituierte lokal von Leuten (zumeist Frauen) vermittelt wurden, die die Abolitionist/-inn/-en zutiefst verabscheuten, fand der Verkauf der Weißen Sklavin über Grenzen hinweg durch international operierende Kriminelle statt – viele von ihnen Männer. Während die Prostituierte Teil einer vom Satan geführten sündigen Gesellschaft war, stellte die Weiße Sklavin das Produkt einer »modernen Kommunikationsgesellschaft« mit rapide wachsen22 | Vgl. Robert Sherhard: Blanke Slaven en Slavinnen in Engeland. Naamloze Vennootschap ›Het Volksdagblad‹ 1890 (Übersetzung), S. 43. 23 | Oncko van Swinderen: Van de zoogenaamde hedendaagsche slavernij, o.O. 1902 (Reprint Themis no. 4), S. 1. 24 | Ebd. 25 | Vgl. P. de Vries: »The Shadow of Contagion«, S. 250.
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142 | Petra de Vries den Verbindungen dar. Wichtiger noch war der Unterschied im moralischen Verhalten: Die Prostituierte wurde zwar als Opfer angesehen, dennoch evozierte sie zwiegespaltene Gefühle über ihr sexuelles Verhalten. Während sie im Wesentlichen eine unmoralische Frau war, galt die Weiße Sklavin als »unschuldiges« Mädchen. Dies war der Grund, warum van Swinderen schrieb, dass diese Art der Sklaverei einem »moralischen Mord«26 entsprach – ein Ausdruck, der nur Sinn macht, wenn die Frau nicht bereits zuvor »moralisch getötet« worden war, wie im Falle einer Prostituierten. Die Weiße Sklavin war potenziell jemand, der sympathischer war als eine Prostituierte. Sie war »eine von uns« – sie hatte ein Gesicht. Weiterhin war die weiße Sklavin »weiß«. Anstatt auf einen bloßen Unterschied im Vergleich zur »schwarzen« Sklaverei hinzuweisen, die in van Swinderens Text subtil heruntergespielt wurde, indem die weiße Beteiligung an der »schwarzen« Sklaverei nicht thematisiert wurde, spiegelten sich im Weißsein der Sklavin die eurozentrischen Annahmen wider, die die meisten abolitionistischen Perspektiven auf den Frauenhandel bestimmten. In der Tat konnte eine Weiße Sklavin viele Farben haben, wie in abolitionistischen Schreiben selbst ersichtlich war. Im »Monatsblatt: Zeuge und Rettung« (Het Maandblad: Getuigen en Redden) der »Niederländischen Vereinigung gegen Prostitution« (Nederlandsche Vereenigung tegen de Prositutie) wurden Fälle veröffentlicht, die den Handel von jungen ost-indischen Frauen27 sowie von Mädchen, die für ein Leben in Prostitution groß gezogen wurden, betrafen.28 Es gab »gelbe« Sklavinnen in Japan29 und in einem Bordell in der niederländischen Stadt Den Haag wurden »Negro Frauen« entdeckt.30 Diese Verschiebung von der Prostituierten hin zur Weißen Sklavin markierte eindeutig neue sexuelle und ethnische Grenzlinien in einer Gesellschaft, die von den Unterschieden zwischen den Geschlechtern, sexueller Sittlichkeit und kolonialer Vorherrschaft besessen war. Autoren wie Anna Davin, Ann Stoler, Frances Gouda, Ann McClintock und Philippa Levine haben, jede auf ihre eigene Weise, das oftmals faszinierende Wechselspiel zwischen Ethnizität, Gender und Sexualität als Vehikel kolonialer Macht analysiert.31 Die Viktimisierung 26 | O. v. Swinderen: Van de zoogenaamde hedendaagsche slavernij, S. 1. 27 | Vgl. Het Maandblad: Getuigen en Redden (1902), S. 87. 28 | Vgl. Het Maandblad: Getuigen en Redden (1896), S. 93. 29 | Vgl. Orgaan van den Nederlandschen Vrouwenbond tot verhooging van het Zedelijk Bewustzijn (Periodika of the Dutch Women’s Union for Raising Moral Consciousness), S. 69-70. 30 | Vgl. Andrew de Graaf: De strijd tegen den handel in vrouwen, Haarlem 1906. 31 | Vgl. Anna Davin: »Imperialism and Motherhood«, in: History Workshop Journal 5 (1978), S. 9; Ann L. Stoler: Race and the education of desire: Foucault’s History of sexuality and the colonial order of things, Durham 1995 und dies.: Carnal knowledge and imperial power: race and the intimate in colonial rule, Berkeley 2002; Frances Gouda: Dutch culture overseas: colonial practice in the Netherlands Indies, 1900-1942, Amsterdam 1995; Ann McClintock: Imperial leather: race, gender and sexuality in the colonial contest, London 1995 und Philippa Levine »The White Slave Trade and the British Empire«, S. 133-146.
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weißer Frauen zu Hause und im kolonialen Kontext, in dem ethnische Unterteilungen zwischen weißen und indigenen Prostituierten vorgenommen wurden, wie Philippa Levine in ihrer Studie über den Handel Weißer Sklavinnen und dem britischen Imperium argumentiert, als gegensätzlich wahrgenommen werden: Wer zu Hause ein Opfer war, war es im kolonialen Kontext noch lange nicht. Die Politik zur Weißen Sklavin in den Niederlanden war ebenfalls durchtränkt von ethnischen und kolonialen Problematiken, aber auf eine etwas andere Art. Als eine Kolonialnation verstanden sich die Niederländer als Teil einer natürlichen Rangordnung, für die Weiß- und Europäischsein der Gipfel der Zivilisation war. So genannte »Primitivere« Gesellschaften, wie diejenige in niederländisch Ost-Indien, wurden auf einer niedrigeren Stufe im evolutionären Prozess gesehen.32 Prostitution stellte eine Bedrohung für diese »zivilisierte« niederländische Nation dar. Der Körper der Prostituierten war für viele Jahrzente das Symbol für Krankheit, Sünde und moralischen Verfall gewesen; es war ein Krebsgeschwür am sozialen Körper, eine giftige Frucht am verfaulten Baum des Kapitalismus. Typischerweise bezieht sich eine Broschüre über weiße Sklaverei in folgender Weise auf »normale« Prostitution: »Da wir beobachten, dass Prostitution in zivilisierten Staaten floriert, wird uns zwangsweise unterbreitet, daß die Grundlagen dieser höheren Zivilisation, auf die wir im Westen so stolz sind, tatsächlich falsch sein müssen, anderenfalls würde die Frau, Juwel der Schöpfung, die Mutter der menschlichen Rasse, der Meilenstein der Gesellschaft, nicht zu der höchst entarteten Sklaverei als die Priesterin käuflicher Liebe verdammt sein.«33
Diese Sorgen über den moralischen Niedergang wurden von Myriaden neuer wissenschaftlicher und populärer Diskurse einer evolutionären und sozialdarwinistischen Natur verstärkt. Innerhalb dieser Diskurse wurden die sexuelle und soziale Ordnung eng miteinander verbunden, wodurch Prostitution mit Krankheit, Desintegration und der Degeneration der Gesellschaft verknüpf wurde. Dies war oft verwoben mit indirekt rassistischen oder kolonialistischen Annahmen über Sexualität, die für die meisten Theoretiker fast natürlich waren. Es wurde angenommen, dass Gesellschaften von »Primitiven« und »Wilden« und die Ursprünge der weißen »zivilisierten« Gesellschaft im höheren Maß sexuell promisk seien, obwohl einige dieser Sichtweisen auch angefochten wurden und Gegenstand von Debatten waren.34 Durch das Prisma von Ethnizität und Kolonialismus betrachtet, nahm die Weiße Sklavin eine bestimmte Bedeutung an: Die bereits existierenden Ängste unter vielen Abolitionistinnen über die sexuellen Gefahren, die jungen Frauen drohten, wenn sie sich erstmal außerhalb der elterlichen Kontrolle befanden, bekamen eine zusätzliche Tönung. Dasselbe 32 | Vgl. F. Gouda: Dutch culture overseas. 33 | Jonathan [Pseudonym]: De handel in vrouwen en meisjes, en het middel ter bestrijding, Amsterdam 1902, S. 54. 34 | Vgl. Selma L. Sevenhuijsen: De orde van het vaderschap. Politieke debatten over ongehuwd moederschap, afstamming en huwelijk in Nederland 1870-1900, Amsterdam 1987; Anne McClintock: Imperial Leather, London 1995.
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144 | Petra de Vries wiederkehrende Skript wurde in zahlreichen Schriften ausgedrückt: Ein unschuldiges oder eher dümmliches Mädchen lief Gefahr zu »fallen«, wenn sie sich viel auf der Straße aufhielt, in die große Stadt fuhr, auf Reisen ins Ausland ging oder »schlechte« Freunde hatte. Anders gesagt, Gefahren sexueller Art schienen nicht im »Hier und Jetzt« zu existieren, sondern wurden außerhalb des in Ehren gehaltenen sicheren Hafen der Ehe und Familie projiziert. »Fremde« Männer sollten immer verdächtig behandelt werden. Ironischerweise lief dieses Skript dem Wissen vieler Helfer entgegen, denen sehr bewusst war, dass Bedrohungen sexueller Natur auch von Familienmitgliedern, Liebhabern und Bekannten ausgehen konnten. Abolitionist/-inn/-en unterschieden nicht notwendigerweise zwischen den verschiedenen potenziellen Kriminellen, die Mädchen »verführten« und entführten, die öffentliche Reaktion auf Frauenhandel tat dies aber sicherlich. Als die Idee von der Weißen Sklavin ein Gegenstand öffentlicher Aufmerksamkeit wurde, gewann das »Anderssein« des Frauenhändlers an Bedeutung. Was einer Frau in den Händen der Zuhälter geschehen konnte, wurde in Büchern und auf Bildern lebhaft dargestellt. Ein gutes Beispiel dafür ist der Roman der skandinavischen Schriftstellerin Elisabeth Schöyen35, der in mindestens drei Sprachen übersetzt wurde: Eine junge dänische Frau, die sich darum bemüht, eine Anstellung im Ausland zu bekommen, fällt in die Hände skrupelloser Schurken. Sie wird in einem Londoner Bordell gefangen gehalten und schließlich in die Türkei transportiert, wo sie im Harem des Sultans »gehalten« wird. Nach diesem Abenteuer stirbt sie traurig irgendwo in Österreich, da ihre Erretter nicht rechtzeitig zur Stelle sind. Das Melodrama war eine akzeptierte Art und Weise, soziale Probleme auszudrücken, und Abolitionist/-inn/-en empfahlen das Buch von Schöyen eifrig, weil es ein Beispiel darstellte. Es ist eindeutig, dass die Erzählung eher einem orientalistischen sozialen Skript folgte, als dass es ein erzieherisches fiktionales Werk war. Die europäische Gesellschaft war lange auf solch eine Interpretation vorbereitet worden – (männliche) Europäer waren vom Harem fasziniert. Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurden die Darstellungen – in Sprache und Bildern – eines exotischen Orients, einschließlich hellhäutiger weiblicher Körper in sexuell unterwürfigen und bereitstehenden Posen, Teil des europäischen kulturellen Nachsinnens. Daher stellte das Sexuelle das Mittel für die Wiederbehauptung des Weißseins und des Unterschieds zum orientalischen Anderen, das in geschlechtsspezifizierten Weisen ausgedrückt wurde, zur Verfügung. Dies passt gut zu den Bildnissen von gefangenen weißen Frauen. Anders gesagt: Man könnte argumentieren, dass die Erzählung von der Weißen Sklavin, mit ihrem durch Ethnizität vermittelten Bild von Sexualität, unterschwellig eine potenzielle Bedrohung für die weiße europäische Gesellschaft darstellte. Diese gefahrenvolle Atmosphäre war durch andere langanhaltende Ängste im Hinblick auf Ethnizität bestimmt. Dies wird in den Briefen der scharfsinnigen deutschen Frauen-
35 | Elisabeth Schöyen: Verkocht. Tendenzroman ter bestrijding van den handel in vrouwen, o.O. 1908.
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rechtlerin Bertha Pappenheim klar dargelegt.36 Im Zuge ihrer Arbeit, junge Frauen in Ost- und Zentraleuropa vor Menschenhandel zu schützen, schrieb sie nach dem Treffen mit einer einflussreichen russischen Prinzessin nach Hause: »Die Selbstverständlichkeit, mit der die Händler, Kuppler usw. als Juden bezeichnet wurden, ist furchtbar.«37 In den Niederlanden wird dieser virulente Antisemitismus nicht sofort aus den erforschten Quellen über den Handel mit weißen Sklavinnen ersichtlich. Nichtsdestotrotz wurde die Herkunft einiger Frauenhändler zumindest um die Jahrhundertwende immer hervorgehoben. Im Fall von Marie zum Beispiel wurde einer der beiden berühmt-berüchtigten Frauenhändler, Scharfmann, als »jüdisch«38 identifiziert. Wie der Historiker Bristow überzeugend argumentiert, waren zwar auch kriminelle Juden in den Frauenhandel involviert, jedoch handelten sie vornehmlich jüdische Mädchen und nicht »unsere« christlichen Kinder, wie von den Antisemit/-inn/-en als zweifellos vorausgesetzt wurde.39 Frauenhandel innerhalb der eigenen Reihen entfesselte eine starke Reaktion in der besorgten jüdischen Gemeinschaft, die diese Praktiken bekämpfte. Während des Höhepunkts der niederländischen Kampagne waren auch führende »Israeliten« beteiligt.40 Zusammenfassend kann gesagt werden, dass das Zusammenspiel von Ethnizität, Gender und Sexualität, das sich in den Diskursen über weiße Sklaverei widerspiegelt, nahe legt, dass die weiße »unschuldige« Frau eine Idealfigur war. Durch sie wurden neue Manifestationen sexueller Misshandlung und Viktimisierung gekennzeichnet, die gemeinsam mit der neuen »internationalen« Gesellschaft entstanden. In dieser Hinsicht repräsentierte die Kampagne gegen Frauenhandel nicht nur den Wunsch nach (weißer) weiblicher Integrität in Bezug auf Körper und Sexualität, sondern auch das Verlangen nach einer nationalen »weißen« Integrität.
Verdrängung des »Handels mit weißen Sklavinnen«: Von Sittlichkeit zum Pariser Protokoll Wie konnte dem Handeln mit weißen Sklavinnen begegnet werden? Die erste niederländische Reaktion auf den Frauenhandel über Landesgrenzen hinweg entstand 1885 als Folge des berüchtigten Sex-Skandals, bekannt als »Der jungfräuliche Tribut des modernen Babylon« (The Maiden Tribute of Modern Babylon). Er bezog den angeblichen Handel junger Frauen zwischen England und 36 | Vgl. Bertha Pappenheim: Sisyphus-Arbeit: Reisebriefe aus den Jahren 1911 und 1912, Leipzig 1924. 37 | Ebd., S. 181. 38 | Het Maanblad: Getuigen en Redden (1902), S. 32-34. 39 | Vgl. E. J. Bristow: Prostitution and Prejudice: The Jewish Fight against White Slavery, 1870-1939, Oxford 1982. 40 | Rabbi A. S. Onderwijzer von der niederländisch-israelischen Hauptsynagoge war während der Kampagne gegen Bordell-Betreibung anwesend (Het Maandblad, 1903: 4; Archiv WWFD, NR. 39).
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146 | Petra de Vries dem Kontinent ein.41 Der Skandal schockierte nicht nur England, sondern auch die Niederlande (und vermutlich auch andere europäische Länder). Die neu gegründete Zweigstelle für Frauen des niederländischen Abolitionismus, die evangelikal-protestantische »Niederländische Frauenunion zur Erhöhung moralischen Bewusstseins« (Nederlandsche Vrouwenbond tot Verhooging van het Zedelijk Bewustzijn), sandte eine Petition mit 15.000 Unterschriften an die Regierung, um diese zum Handeln zu bewegen. Dies führte 1887 in direkter oder indirekter Weise zu einem Abkommen über die Zusammenarbeit in Fällen von Frauenhandel zwischen Belgien und den Niederlanden – wahrscheinlich das erste seiner Art. Diesem folgten zusätzliche Verträge zwischen den Niederlanden und Österreich-Ungarn (1888) und Verträge mit Deutschland (1889).42 Ein Grund, warum der Frauenhandel erneut thematisiert wurde, war eine internationale Kampagne, die sich eher auf den Handel mit weißen Sklavinnen bezog als auf die älteren Themen des Abolitionismus. Ihr Initiator war William Alexander Coote, ein sehr bekannter britischer Sittlichkeitsverfechter, der 1899 eine internationale Konferenz in London organisierte, die die Verdrängung des »Handels mit weißen Sklavinnen« behandelte.43 Auf der Konferenz wurde entschieden, eine separate Organisation zur Bekämpfung dieser Art des Frauenhandels aufzubauen, die »Association pour la Repression de la Traite des Blanches«. Die internationale Organisation wurde von dem »International Bureau for the Suppression of the International White Slave Traffic« (später dann »Traffic in Women and Children«) in London geführt. In anderen Ländern kam es zur Gründung nationaler Komitees. In den Niederlanden wurde 1900 das »Nationale Komitee für die Unterdrückung von Frauenhandel« (Nationaal Comité tot bestrijding van den handel in vrouwen) ins Leben gerufen, gefolgt 1905 von einem »Nationalen Informationsbüro«, das als exekutiver Flügel fungierte. Diese Beschreibung von Organisationen deckt nicht unmittelbar ihren interessantesten Aspekt auf, nämlich die dahinterliegende neue politische Perspektive und die daraus resultierende Verlagerung von geschlechtsspezifizierter Macht. Im Gegensatz zu dem breiteren politischen Ausblick vorangegangener Jahrzehnte, wurde nun zunehmend versucht, dem Frauenhandel mit juristischen Mitteln entgegenzutreten. »Le Bulletin Continentale«, das Magazin der Internationalen Abolitionismus-Föderation, war über diese Entwicklung besorgt. In einem kritischen Kommentar wurde betont, dass man eher an die Erziehung »des moralischen Bewusstseins der Menschen« glauben und in den Fortschritt einer »philantrophie éclairée« investieren müsse, als die »bloß feierlichen Formeln der Diplomatie« anzuwenden.44
41 | Vgl. E. J. Bristow: Vice and Vigilance; J. R. Walkowitz: City of Dreadful Delight; J. Jordan: Josephine Butler. 42 | Abkommen mit Belgien: Staatsblad, 1887, Nr. 2; mit Österreich-Ungarn im Jahre 1888: Staatsblad, 1888, Nr. 228; mit Deutschland 1889: Staatsblad, 1891, Nr. 101. 43 | Vgl. The White Slave Trade, 1899. 44 | Le Bulletin Continentale, 1901, S. 83.
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Diese Sorgen spiegelten eine Verschiebung auf einer tieferen Ebene der Bewegung wider, die mit ihren geänderten Wurzeln zusammenhängt. Frauen konstituierten den Großteil der Bewegung, obwohl es klare Unterschiede zwischen männlichen und weiblichen Wurzeln und Aktivitäten gab. Weibliche Abolitionisten waren als die ideologischen Träger einer »aufgeklärten Philanthrophie« mehr in die verschiedenen Formen von Wohltätigkeit, Befreiung und Prävention eingebunden als Männer. Sie brachten einer Mutter, die ihre Tochter ansonsten in ein Bordell geschickt hätte, z.B. einen Teller mit Essensresten.45 Während auf der anderen Seite die Männer, die eine Minorität darstellten, die »politische« Arbeit ausführten. Aus diesem Grund hat es – zumindest in der niederländischen Bewegung – immer ein Ungleichgewicht zwischen Männern und Frauen gegeben. Gewissermaßen wurde dies durch machtvolle weibliche Figuren ausgeglichen, wie etwa Josephine Butler oder die niederländischen Anführerinnen des weiblichen Abolitionismus, Marianne Klerk-van Hogendorp (1834-1909) und ihrer Schwester Anna van Hogendorp (1841-1915). Allerdings war in der neuen Organisation die Führung stark männlich dominiert, und der politische Kampf wurde auf eine gänzlich männliche Plattform aus Regierungsund parlamentarischer Politik verlagert, zu der Frauen keinen Zugang hatten. Ganz im Gegenteil, der Kampf um das Wahlrecht für Frauen befand sich in seiner Hochblüte. Zuvor argumentierte eine beachtliche Zahl von Abolitionist/ -inn/-en, Feminist/-inn/-en und Sozialist/-inn/-en für soziale, wirtschaftliche und politische Veränderungen, damit das Leben von Frauen verbessert und sie vor dem »Fallen« bewahrt werden könnten. Die neue Organisation zielte jedoch auf eingeschränktere juristische Interventionen ab. Im Verlauf der Zeit zog sie Konferenzzimmer den Befreiungshäusern, Diplomaten visionären Sprechern und die Unterstützung des Königs von Spanien dem Sammeln von Unterschriften an einem regnerischen Tag vor. Die Bewegung suchte Unterstützung bei machtvollen Politikern, Staatsbeamten, Regierungsbeamten und anderen einflussreichen Personen in Verwaltungspositionen. Die höchsten Adelskreise entwickelten Interesse für ihre Ziele. Kurzum, sie wurde eher zu einer machtvollen Lobby-Organisation als einer sozialen Bewegung, die versuchte, das moralische Bewusstsein der Menschen von der angemessen sexuellen Ordnung zu heben. Nach und nach wurden die Frauen ausgegrenzt. Dies muss einer der Gründe gewesen sein, warum die Kampagne für die weiße Sklavin langsam ihre Verbindung zu feministischen Anliegen verlor.
Das Pariser Protokoll Als zwischen Josephine Butler und den Führsprechern von Cootes neuer Politik ein Konflikt aufkam, entschieden sich die niederländischen Abolitionist/ inn/-en aus strategischen Gründen, Coote zu folgen. Diese Entscheidung entpuppte sich als lohnenswert. Auf einer Konferenz 1902 in Paris stimmten Regierungsdelegierte aus 16 Ländern innerhalb erstaunlich kurzer Zeit mit dem 45 | Vgl. Ons werk, 1908.
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148 | Petra de Vries Vorschlag des »Pariser Protokolls« überein. In diesem Abkommen46, das 1904 unterzeichnet wurde, verpflichteten sich die teilnehmenden Regierungen, Nachforschungen zum Frauenhandel anzustellen und Schutzmaßnahmen wie die Überwachung von Häfen und Bahnhöfen zu treffen.47 1910 folgte diesem Abkommen eine neue Konvention. Diese »Internationale Konvention zur Unterdrückung des Handels mit Weißen Sklavinnen« (International Convention for the Suppression of the White SlaveTraffic) verpflichtete Staaten, »jede Person, die um die Leidenschaften anderer zu befriedigen, durch List oder den Einsatz von Gewalt, Drohungen, Mißbrauch von Autorität oder irgendwelchen Mitteln der Einschränkung, eine Frau oder ein volljähriges Mädchen angestellt, entführt oder verlockt hat zu unmoralischen Zwecken«48 zu bestrafen. Insofern als dies erwachsene Frauen betraf, war die Konvention auf Situationen beschränkt, in denen Zwang und Täuschung zum Einsatz kamen. Im Falle Minderjähriger jedoch gab es keinerlei Einschränkung, um ein Verbrechen festzusetzen: Jedwede Vermittlung war strafbar, auch wenn dies im Einvernehmen der Mädchen geschah. Wie die niederländischen Forscherinnen Marjan Wijers und Lin LapChew49 bemerkt haben, wendeten sich die Abkommen zum Frauenhandel nur an die Seite der »Rekrutierung«. Es war demnach nicht auf Situationen anwendbar, in denen eine Frau z.B. gegen ihren Willen in einem Bordell festgehalten wurde, da dies als eine Angelegenheit interner nationaler Gesetzgebung angesehen wurde. Allerdings hatten die niederländischen Aktivist/-inn/-en auch für die Zustände in Bordellen eine Lösung im Sinn.
Der Kampf gegen das Bordell Abolition enthielt ursprünglich »liberale« Elemente in dem Sinne, dass sie die verwundbarsten Bürger gegen den machtvollen Staat zu beschützen suchte, da, so das Argument, der Staat die persönliche Freiheit von armen Frauen der Unterklasse angreife. Im niederländischen Kontext jedoch war dieser Ansatz zur »Verteidigung ziviler Freiheiten« zwiespältiger Natur. Er ist immer vor dem Hintergrund des größeren Zieles des Abolitionismus zu sehen, falls möglich, die gesamte Prostitution auszulöschen. Mit dieser Geisteshaltung setzten die niederländischen Abolitionist/-inn/-en einen landesweiten Feldzug mit dem Ziel in Gang, die Bordelle durch ein nationales Gesetz zu verbieten.50 Dies ge-
46 | Arrangement international en vue d’assurer aux femmes une protection efficace contre le trafic criminel connu sous le traite des blanches (Paris, 18. Mai 1904). 47 | Vgl. Clive Parry (Hg.): Consolidated Treaty Series Vol. 195 (1904), New York 1980. 48 | International Convention for the Suppression of the White Slave Traffic. 49 | M. Wijers/L. Lap-Chew: Trafficking in women, forced labour and slavery-like practices in marriage, domestic labour and prostitution. 50 | Legal war der Betrieb eines Bordells seit 1811, wenn es lizenziert war und sich an die Regelungen im Hinblick auf Minderjährige hielt.
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schah in etwa zeitgleich zu ihrer Teilnahme an den Sitzungen des Pariser Protokolls im Jahre 1902. Die Kampagne, in deren Zentrum eine Petition an die neue junge Königin Wilhelmina stand, erhielt enorme Beachtung seitens der Bevölkerung. Im Winter der Jahre 1902/1903 wurden während einer kurzen Zeitspanne Protestversammlungen in 50 Städten und Gemeindebezirken organisiert. Daran nahmen Massen an Menschen teil. Hunderte von Anträgen wurden aufgesetzt. Mehr als 1.100 Vereine und Gesellschaften schickten Beipflichtungsbekundungen. Bei dem größten Zusammenkommen im »Paleis voor de Volksvlijt«, einem riesigen Gebäude in Amsterdam, waren 3.000 Menschen zugegen.51 Es wird wahrscheinlich niemals möglich sein, die Motive und Gefühle derjenigen, die teilnahmen, zu verstehen. Die meisten von ihnen hatten niemals eine Prostiuierte gesehen oder hätten es zumindest niemals zugegeben, eine gesehen zu haben. Es gab also im Allgemeinen viele Argumente gegen das Bordell und sogar bei denjenigen, die die Regulierung von Prostitution durch den Staat befürworteten, herrschte Konsens darüber, dass es eine unmoralische Unternehmung sei. Zumindest für einige Evangelikale war ein Bordell nichts Geringeres als ein Ort, an dem Satans Thron errichtet wurde und wo sich die Mächte der Finsternis vor dem Licht derer, die an das Wort Gottes glaubten, versteckt hielten. Weltlichere Beschwerden betrafen das Jahrhunderte alte Problem der Störung, der Verbreitung von Krankheiten und der Entdeckung »unnatürlicher« Sexualpraktiken im Bordell.52 Das Bordell wurde gleichsam als Hauptschauplatz sexueller Ausbeutung von Frauen und den »Töchtern der Armen« verabscheut.53 Ein wichtiger Grund, warum die Verdrängung von Bordellen für diejenigen, die keine rein religiösen Begründungen hatten, kommerzieller Sexualität entgegen zu stehen, legitim zu sein schien, muss die Verbindung zwischen BordellBetrieb und dem Verkauf von Weißen Sklavinnen sein. Wie zuvor erklärt, hatten die Bilder von der Sklaverei der Prostituierten die Tendenz, mit denen vom »Handel mit weißen Sklavinnen« zu verschmelzen. Während das eine Bild lokal war, entfaltete das andere sich global: allerdings enthielten beide dasselbe Material von Misshandlung und Gier: Auf diese Weise wurde eine Verbindung zwischen Frauenhandel und lokaler Betreibung von Bordellen etabliert. Das abolitionistische Argument war – von einem strategischem Standpunkt aus betrachtet – großartig. Die Verkäufer Weißer Sklavinnen und die Bordellbesitzer brauchten einander. Falls die Betreibung von Bordellen illegal geworden wäre, hätte der Verkäufer weißer Sklavinnen seinen Markt verloren und der Menschenhandel wäre verdrängt worden. Kurz gesagt konnten lokale Sex-Betriebe jedweder Art – waren sie nun ausbeuterisch oder nicht – von dieser Perspektive aus als Orte internationaler krimineller Machenschaften verurteilt werden. Der Fairness halber muss gesagt werden, dass etwas Wahrheit in dem Argument 51 | Vgl. Het Maandblad: Getuigen en Redden (1903), S. 4; J. N. van Munster: »Bestrijding van Zedeloodheid«, in: De Ploeger, September 1910. 52 | Vgl. P. de Vries: Kuisheid voor mannen, vrijheid voor vrouwen, S. 224. Archiv Cie van Onderzoek naar Prositutie, Nr. 1: Brief aan den Gemeenteraad, 20. Januar 1897. 53 | Vgl. P. de Vries: »Daughters of Proletarians«.
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150 | Petra de Vries lag, Bordelle und Menschenhandel hätten »ein System konstituiert«.54 Bristow weist ebenfalls darauf hin, dass Menschenhandel mit dem lokalen Geschäft mit Sex verankert war.55 Es ist wahrscheinlich, dass dieses Argument auf der Beobachtung vieler Zeitgenossen basierte, dass Bordelle hauptsächlich von ausländischen Frauen bewohnt wurden. Nichtsdestotrotz gab die Verbindung zum Verkauf Weißer Sklavinnen der Prostitution mehr denn je den Anschein der Sklaverei. Denn dies implizierte, dass alle diese ausländischen Frauen gegen ihren Willen festgehalten worden wären. Ohne die Stimme der Prostituierten war es einfach, die mögliche Existenz weniger ausbeuterischer Bordelle zu umgehen. Es ist bekannt, dass es zum Beispiel sehr kleine Bordelle gab, in denen zwei Frauen zusammenarbeiteten.56 Prostitution an sich sollte nicht verboten werden. Viele (männliche) Abolitionisten behielten eine strikt liberal-demokratische Sichtweise des Sexuellen bei, in der Prostitution als solche nicht zu verbieten wäre: Was immer zwei erwachsene Personen in gegenseitigem Einvernehmen hinter geschlossenen Vorhängen taten, war nicht die Angelegenheit des Staates.
Weiße Sklaverei, das Gesetz und der Schutz von Frauen: einige Schlussfolgerungen Kurz nach den Massenprotesten gegen die Betreibung von Bordellen leitete die niederländische Regierung Schritte ein, die den abolitionistischen Forderungen gerecht werden sollten. Im Jahre 1911 wurde eine ganze Sammlung berühmt-berüchtigter »Sittlichkeitsgesetze« vom durch christliche Parteien dominierten Parlament erlassen. Das Bordell-Verbot konnte ohne Mühe verabschiedet werden. Sektion 250 des neuen Moralgesetzes setzte fest, dass jeder, der »absichtlich jemanden zur Unzucht mit einer dritten Partei bewegt oder diese Unzucht fördert und dies beruflich oder aus Gewohnheit macht«,57 bestraft wird. Auch Frauenhandel wurde, in einem simplen Satz in Abschnitt 250, verboten: »Frauenhandel ist verboten«.58 Eine deutsche Untersuchung, die im Jahre 1913 durchgeführt wurde und die die jeweilige nationale Gesetzgebung der an der Konvention von 1910 gegen Weiße Sklaverei teilgenommenen Länder untersucht, verdeutlicht, dass die nationalen Gesetze in einigen Ländern angepasst wurden.59 Es scheint, dass die Niederlande bei dem Versuch die Ächtung von Bordellen mit dem Kampf gegen die Weiße Sklaverei zu begründen, eine Vor54 | Het Maandblad: Getuigen en Redden (1904), S. 101. 55 | Vgl. E. J. Bristow: Prostitution and prejudice. 56 | Vgl. B. J. Kam: Meretrix en Medicus. Een onderzoek naar de invloed van de geneeskundige visitatie op de handel an wandel van Zwolse publieke vrouwen tussen 1876 en 1900, Zwolle 1983. 57 | Staatsblad, 1911: Nr. 130, Nr. 135. 58 | Ebd. 59 | Vgl. Albert Hachfeld: Der Mädchenhandel und seine Bekämpfung im Völkerrecht, Potsdam 1913. Der Verkauf oder seine Aspekte waren bereits zuvor in einigen Ländern geächtet geworden, wie die Untersuchung erklärt.
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reiterstellung einnahmen. In internationalen Kreisen wurde das Verbot allerdings auch zunehmend als Lösungsweg für den Handel mit Weißen Sklavinnen angesehen.60 Es mag ersichtlich sein, dass der niederländische Abschnitt 250 über Frauenhandel, von einem juristischen Blickwinkel betrachtet, nicht gut konzipiert war. »Frauenhandel« war ein undeutliches Konzept. Während die internationale Konvention einen Unterschied zwischen Minderjährigen und Erwachsenen machte, wurde diese Unterscheidung für das niederländische Gesetz nicht in Betracht gezogen. Dies hatte beispielsweise zur Folge, dass unklar war, ob einvernehmende erwachsene Frauen als gehandelt gelten konnten. Meiner Ansicht nach war dies keine technische Auslassung, sondern Teil eines aufkommenden Musters repressiver Maßnahmen, die Prostituierte und Nicht-Prostituierte betrafen. Mittlerweile möge klar sein, dass die juristische Fiktion hinter der Gesetzgebung zur Weißen Sklaverei – die Vorstellungen, von einem idealtypischen Opfer, das eines Gesetzschutzes bedurfte – auf dem Bild des unschuldigen europäischen Mädchens beruhte, das über Landesgrenzen hinweg für sexuelle Zwecke – um von fremden Männern missbraucht zu werden – fortgelockt wurde. In ihrer reinsten Form war die abolitionistische Botschaft, die diese Gesetze beeinflusste, sehr einfach: Prostitution war Sklaverei und respektable Frauen mussten davor geschützt werden, Sklavinnen zu werden. Es würde den Rahmen dieses Artikels sprengen, eine Tiefenanalyse der Gesetzesanwendung zu geben. Allerdings muss angemerkt werden, dass diese neuen rechtlichen Maßnahmen, zusammen mit weiteren Taktiken gegen den Frauenhandel, es zunehmend ermöglichten, über bestimmte Lebensbereiche von Frauen Kontrolle auszuüben, während sie anderen Aspekten gegenüber Gleichgültigkeit erzeugten. Zum einen wurde die Ausbeutung »unmoralischer« Frauen geradezu ignoriert und war niemals zentraler Bezugspunkt. Es stimmt, dass Aktivisten gegen weiße Sklaverei und viele ihrer Zeitgenossen soziale Probleme unter dem Gesichtspunkt des Sexuellen wahrnahmen. Dies erlaubte ihnen, ein neues Verständnis von sexuellen Verbrechen gegen Frauen zu gewinnen, die – in einer Welt, die zum großen Teil den sexuellen Tragödien im Leben von Frauen gleichgültig gegenüberstand – ansonsten unbeachtet geblieben wären. Anhand von Sexualität lassen sich die geschlechtsspezifischen Machtverhältnisse sehr eindeutig rekonstruieren. Dennoch wurden ausschließlich Argumente benutzt, die herausstellten, dass lediglich christlich ausgerichtete Moral- und Sozialreformen der Nation eine endgültige Lösung böten. Natürlich waren diese Reformen sexuell restriktiv: es gab nur Gefahren, keine Freuden. Weiterhin war das Bordell-Verbot ein rein symbolischer Sieg über das Böse. So gab es in den ersten sechs Monaten des Verbots zwar 18 Verurteilungen aufgrund von Betreibung eines Bordells und 42 Zuhälter wurden in Arbeitshäuser
60 | The fifth international congress for the suppression of the white slave traffic, 1913.
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152 | Petra de Vries gesandt. Es gab jedoch nur einen verurteilten Fall von Frauenhandel.61 Aber es war schon damals klar, dass dies den Sexhandel nicht verdrängte. Nach dem lokalen Verbot in Amsterdam von 1897 war bereits deutlich geworden, dass die »Häuser mit üblen Ruf« einfach unter einem anderen Deckmantel, wie »Hotel«, weiter existierten. Prostituierte waren offiziell als »Zimmermädchen« oder »Wäschemädchen« angestellt. Einige »Zigarrenläden« begannen ebenfalls, etwas anderes zu verkaufen als Zigarren. Anders ausgedrückt: Da auf dem rechtlichen Weg nichts getan wurde oder hätte getan werden können, um die Arbeitsund Lebensbedingungen Prostituierter zu verbessern, konnte sich ihre Situation als Tätige in einem illegalen Geschäft nur verschlechtern. Auch wenn es stimmte, dass Bordelle für den Verkäufer Weißer Sklavinnen eine Voraussetzung waren, waren die Umstände nun sogar günstiger für das Aufblühen illegaler Tätigkeiten. Wenn Prostituierte zudem Ausländerinnen waren, konnten sie zusätzlich durch eine neue Politik, durch die das Fremdengesetz bei ihnen Anwendung fand, belästigt werden. Der tragende Gedanke dabei war, dass Prostitution nicht als ein »angemessenes Mittel für die Unterhaltserbringung« angesehen werden konnte. Dies konstiutierte einen juristischen Grund dafür, Ausländerinnen zu deportieren, was als Entmutigung für Frauenhändler betrachtet wurde.62 So gab es z.B. den Fall einer deutschen Frau, die wieder und wieder abgeschoben wurde, weil sie immer wieder in die Niederlande zurückkehrte.63 Was war nun mit dem »unschuldigen« Mädchen? Ein problematischer Aspekt der Konvention zur weißen Sklaverei von 1910 war, dass die Beschränkungen auf Minderjährige keine Anwendung fanden. Sie konnten nicht einwilligen, »gehandelt« zu werden. Selbstverständlich war dies als eine Schutzmaßnahme gedacht, aber es ist zweifelhaft, ob sich diese in der Praxis als solche bewährte. Diskurse über Sexualität und Jugendliche im Allgemeinen beinhalteten die beinahe totale Kontrolle jugendlicher Sexualität durch Elternfiguren. Daher identifizierten sich Abolitionist/-inn/-en absolut und unangefochten mit den Interessen, der Verantwortung und den Problemen von »Eltern«. Wenn z.B. junge Frauen, vor ihrem 23. Lebensjahr, aus welchem Grunde auch immer, aus ihrem Elternhaus fortliefen, konnten sie einfach und ohne sie zu fragen, zurückgebracht werden. Die tatsächliche Überwachung des Phänomens der Weißen Sklavinnen schien auch auf diese Gruppe abzuzielen. Dies zeigt die Arbeit des »Nationalen Büros zur Informationssammlung über so genannten Handel von Frauen und Mädchen« (Rijksbureau tot het verzamelen van gegevens omtrent den zoogenaamden handel in vrouwen en meisjes), einer Regierungsstelle, die 1908 in 61 | Vgl. The fifth international congress for the suppression of the white slave traffic. Die Einführung des Mann Act in den USA führte gleichermaßen zu einer repressiven Politik, in diesem Fall auf beide Geschlechter abzielend (siehe D. J. Langum: Crossing over the line). Im Vereinigten Königreich nahm die Sittlichkeitskampagne ebenfalls eine repressive Wendung nach 1900 (siehe Lucy Bland: Banishing the Beast: English Feminism & Sexual Morality 1885-1914, London 1995.). 62 | Vgl. Het Maandblad: Getuigen en Redden (1897) S. 81-82; O. v. Swinderen: De zoogenaamde hedendaagsche slavernij. 63 | Vgl. A. de Graaf: De strijd tegen den handel in vrouwen.
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Übereinkunft mit dem »Pariser Protokoll« entstanden war. Das Büro beschäftigte sich nur oberflächlich mit einigen wenigen »echten« Fällen von Frauenhandel. Das überwiegende Fallpensum bestand hingegen in der Unterstützung der Polizei, die von ihren Eltern und Familienmitgliedern vermissten Frauen und Mädchen aufzufinden. Eine nicht zu unterschätzende Anzahl waren Ausreißerinnen oder von Liebhabern »gekidnappt« worden. Einige hatten sich auch für das Leben als Prostituierte entschieden. Zusätzlich wurden ausländische Frauen ohne »angemessene Mittel zur Unterhaltserbringung« generell abgeschoben.64 Das bemerkenswerte an dieser Angelegenheit ist, dass zu dem Kampf um die Rechte für Frauen kein Bezug hergestellt wurde. Die Wahrnehmung einer neuen Generation von Abolitionist/-inn/-en war eindimensional, so dass die sexuellen Gefahren der Welt einfach unvermeidbar waren: Die Welt war voller Ganoven und das weibliche Geschlecht musste einfach beschützt werden. Dies war ganz eindeutig eine Forderung nach »Schutz«, die keinen Anspruch auf Autonomie beinhaltete. Andrew de Graaf, Vorsitzender des (niederländischen) »Nationalkomitees für die Bekämpfung des Handels mit weißen Sklavinnen« (Nationaal Comité tot bestrijding van den handel in vrouwen) und neuer Abolitionist/-inn/-enanführer, forderte »Schutz« für Frauen, die alleine auf Auswanderungsschiffen reisten, ganz »ohne einen natürlichen Wächter«: »[…] Schutz vielleicht – warum nicht? – vor sich selbst«.65 Frauen brauchten einen »natürlichen Beschützer«. Es war also diese Vision einer neuen sexuellen Ordnung, die die neue Generation von Abolitionsaktivist/-inn/-en antrieb. Wie ich im Laufe dieses Artikels gezeigt habe, hat die Errichtung eines rechtlichen »Regimes« zur Bekämpfung der Ausbeutung von Frauen für »unmoralische Zwecke« eine lange und komplexe Geschichte, die eng mit einem politischen Prozess verknüpft war, eine neue sexuelle Ordnung zu erstellen. Mit dieser Ordnung wurden Sexualität, Gender und »Europäisch-Sein« neu definiert. Ein zentrales Merkmal dieses Prozesses war die Enstehung des machtvollen sozialen Bildes der Weißen Sklavin, das in Ansätzen eine ältere Vorstellung von Prostitution als »Sklaverei« ersetzte. Während die Prostituierte im Wesentlichen eine unmoralische Frau in einer »sündhaften« Gesellschaft darstellte, wurde die weiße Sklavin im Zusammenhang einer modernen Gesellschaft mit schnell anwachsenden internationalen Verknüpfungen als ein »unschuldiges« Opfer betrachtet. Die Integrität des Körpers einer (weißen) Frau markierte die westliche Zivilisation und Prostitution ihre Unzulänglichkeiten. Wird die Ethnizität mit einbezogen, drückt sich im Weißsein der Sklavin daher eine sexuelle Bedrohung für »unsere Frauen« und für die Nation selbst aus. Erzählungen über Weiße 64 | Vgl. Jaarverslag van den Directeur van het Rijksbureau tot het verzamelen van gegevens omtrent den zoogenaamden handel in vrouwen en meisjes te Amsterdam 1909 (Bijvoegsel tot de Nederlandsche Staatscourant, 4 juni 1909, no. 128); Verslag van het Rijksbureau tot het verzamelen van gegevens omtrent den zoogenaamden handel in vrouwen en meisjes, ingesteld bij Koninklijk Besluit van 13 maart 1908 (Staatsblad no. 85), jaar 1912/1913 Bijvoegsel tot de Nederlandsche Staatscourant, 9 mei 1913, no. 107 (29); jaar 1913/1914 Bijvoegsel tot de Nederlandsche Staatscourant 25 mei 1914, no. 120 (34). 65 | Surveillance des Ports et des Paquebots, 1913.
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154 | Petra de Vries Sklavinnen, besonders in ihrer popularisierten Form, sahen die »weiße Frau« als ein potentielles Opfer von fremden oder exotischen Männern an. Die politische Kampagne, die gegen den Verkauf Weißer Sklavinnen in Gang gesetzt wurde, sah Frauen außerhalb des sicheren Hafens der Ehe und Familie als sexuell gefährdet an und konzentrierte sich konsequent auf den Schutz »unschuldiger« Frauen, die sich heraus wagten. Die Ausbeutung »unmoralischer« Frauen, die in Bordellen arbeiteten oder Opfer von Menschenhandel wurden, wurde häufig ignoriert. Sie wurde nur bedeutsam, wenn es zum Verbot eines Bordells kam. Wie ich deutlich gemacht habe, war ein wesentliches Argument gegen die Bordelle, dass sie mit dem Frauenhandel in Verbindung standen. Somit war jede Form lokaler Bordelle verdächtig, ein Ort internationaler krimineller Machenschaften zu sein. Obwohl dies eine erfolgreiche Strategie hätte sein können, um rechtliche Bestimmungen gegen den Handel von Frauen bereitzustellen, reflektiert das Gesamtbild eher den Wunsch, Sünde zu verbannen als die Autonomie einer bestimmten Gruppe von Frauen zu unterstützen. Die Kampagne, die eine soziale und feministisch-orientierte Bewegung übertrumpft hatte, spiegelte ihre eigene geschlechtsspezifizierte Strategie wider. Ihren juristischen Siegen muss daher mehr symbolische als tatsächliche Bedeutung zugemessen werden. Zudem war sie eher repressiv als beschützend. Eine ebenfalls repressive Wendung der Beschützung oder »Rettung« von Frauen stellte die Anwendung von Maßnahmen gegen Frauenhandel dar, die die elterliche Kontrolle über die sexuellen oder anderen Entscheidungen junger Frauen unterstützten. Dies bedeutet nicht, dass Weiße Sklaverei insgesamt nur eine historische Konstruktion war, die einer puritanischen Sexualpolitik diente. Sexuelle Ausbeutung und Zwangsprostitution stellten im Leben vieler junger Frauen, die oftmals in schwierigen Umständen zu überleben versuchten, auch eine Wirklichkeit dar. Viele Aktivist/-inn/-en der alten wie der neuen Generation wünschten ernsthaft, die sexuelle Ausbeutung von Prostituierten zu beenden. Sie waren über die schrecklichen Geschichten der brutalen Behandlung von Frauen entsetzt. Es ist umso ironischer, dass die Prostituierte in der Kampagne gegen den Handel von Sklavinnen selbst niemals eine Stimme erhielt.
Archivquellen Cie onderzoek van de prostitutie: Commissie van Onderzoek naar de Prostitutie en de hiertegen te nemen maatregelen, 1896-1897 (nr. 5136). (Gemeentearchief Amsterdam, Gemeindearchiv Amsterdam) NCHVK: Nationaal Comité tot bestrijding van den handel in vrouwen en kinderen (IISG: Internationaal Instituut voor Sociale Geschiedenis, Amsterdam, Internationale Instituut für Sozialgeschichte, Amsterdam) NBV: Nationaal Bureau voor Vrouwenarbeid (IIAV: Internationaal Informatiecentrum en Archief voor de Vrouwenbeweging, Amsterdam, International Informationzentrum und Archiv für die Fraunebewegung) WWFD: Welmoet Wijnaendts Francken-Dyserinck (Ebd. IIAV).
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Die dreifach »Anderen«. Betrachtungen zur Wahrnehmung von Beschaffungsprostitution im Kontext ethnischer Konstruktionen Kathrin Schrader
1. Einführung Drogenkonsumierende und sich prostituierende Frauen sind auf Grund der doppelten Verletzung sozial-moralischer Normen in ihrem alltäglichen Leben extremen Stigmatisierungen ausgesetzt. Die Beschaffungsprostitution wird sowohl im Prostitutionsmilieu als auch in der Drogenszene auf der untersten Hierarchieebene angesiedelt und im wissenschaftlichen Diskurs als Randproblem bzw. Sonderfall weitestgehend ausgeklammert. Ist die Frau Migrantin, gar noch mit rechtlich ungeklärten Aufenthaltsstatus, so wird sie zusätzlich mit rassistischen Vorurteilen konfrontiert. Ausgehend von den beiden Thesen der US-amerikanischen Philosophin Judith Butler: »Das feministische ›Wir‹ ist stets nur eine phantasmatische Konstruktion […]«1 und »Die Geschlechtsidentität ist eine Imitation, zu der es kein Original gibt […]«2, werden in diesem Beitrag verschiedene subjektive Deutungsvarianten der Beschaffungsprostitution und ihre Folgen diskutiert. Butler thematisiert die Fragen der individuellen Identität als Frau und die politische Identität der Frauenbewegung. Als Philosophin formuliert sie so diejenigen Ausschlussverfahren, die ein feministisches »Wir« implizieren und sie ermöglicht eine theoretische Mobilisierung der Ausschlusserfahrungen. Am Beispiel der Auswirkungen des 2002 eingeführten Prostitutionsgesetzes (zukünftig mit ProstG bezeichnet)3 auf die Beschaffungsprostitution mit all seinen Facetten 1 | Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt am Main 1991, S. 209. 2 | Judith Butler: »Imitation und die Aufsässigkeit der Geschlechtsidentität«, in: Sabine Hark (Hg.), Grenzen lesbischer Identitäten, Berlin 1996, S. 26. 3 | Das Gesetz zur Regelung der Rechtsverhältnisse der Prostituierten ist seit dem 1. Januar 2002 gültig. Es hat erstmals Rechte für Prostituierte, Callboys, Inhaber und In-
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160 | Kathrin Schrader lässt sich dieser theoretische Ansatz auch praktisch belegen. Gleichzeitig kann differenziert nachgewiesen werden, dass eine repressive Politik eine verheerende Wirkung auf die Situation der Betroffenen hat. Sanktionen und Verfolgungen scheinen für die Gesellschaft die einzige Möglichkeit zu sein, dem Phänomen Herr zu werden. Die Stimme der Betroffenen verstummt im Geschrei der herrschenden Diskurse, die sich in den aufgeregten Diskussionen um »Zwangsprostitution« und Menschenhandel oder der Forderung nach Zurücknahme des ProstG widerspiegeln. Menschen, die exzessiv Drogen konsumieren, sowie illegalisierte Migrant/-innen, sind gezwungen, sich kompromisslos den Bedingungen des Marktes, d.h. den Forderungen von Freiern, Schlepper/-innen, Bordell-, Kneipen-, Hotelbetreiber/-innen usw. zu unterwerfen. Dagegen steht neuerdings die Prostitution als anerkannte Dienstleistung mit verbindlichen und einklagbaren Rechten für alle Beteiligten. Wir haben es also mit Prostituierten verschiedener »Klassen« zu tun. Ausgehend vom ProstG stellt sich die Frage, wie sich die Legalisierung auf die nicht legalen Bereiche wie z.B. die Beschaffungsprostitution auswirkt. Eine These wäre, dass durch den Gesetzgeber nur ein Teil der Prostitution legalisiert und dann als so genannte »saubere« und »sichere« Prostitution definiert wird und die nicht konformen Bereiche der Prostitution noch weiter in der Illegalität verortet werden. Die Frauen in solchen illegalisierten Gruppen verstoßen auf Grund ihrer Alltagsrealität (Drogenkonsum, illegalisierte Migration) gegen geltende Gesetze, die formal nichts mit Prostitution zu tun haben. Daraus resultiert, dass die derzeitige Gesetzeslage Ein- und Ausschlüsse reproduziert. Der Beitrag soll zeigen, wie diese Interdependenzen, als verschiedene Dimensionen von Prostitution zusammenwirken. Dazu soll das Stereotyp der Beschaffungsprostituierten unter besonderer Berücksichtigung von Migrantinnen in der Beschaffungsprostitution dekonstruiert werden. Durch die Einbeziehung der Strukturkategorie Ethnizität – im Wissen um ihre gesellschaftliche Konstruktion – soll gezeigt werden, dass Geschlecht als Kategorie nie allein wirkt, sondern Allianzen mit anderen Dimensionen eingeht. Die Kategorien Geschlecht und Ethnizität wirken reifizierend auf gesellschaftliche Diskurse und haben konstituierende Effekte bei der Herstellung des gesellschaftlichen Körpers. Im nachfolgenden Text wird ausschließlich auf die heterosexuelle weibliche Beschaffungsprostitution Bezug genommen und davon ausgegangen, dass Beschaffungsprostituierte keine homogene Gruppe darstellen, sondern dass es immer individuelle Biografien und verschiedene Wege in das Milieu gibt. Wohl wissend, dass die Bezeichnung »Beschaffungsprostitution« mit dem Stigma der Abwertung behaftet ist, wähle ich sie, um das Spezifische der Situation zu verdeutlichen. Die Begriffe »Prostitution« und »Sexarbeit« werden kontextabhängig und rekurrierend auf die zitierte Autor/-in für die Bezeichnung des gleichen Diskussionsgegenstandes verwendet. Problematisch ist die Benennung von haberinnen von bordellartigen Betrieben in Deutschland festgeschrieben, die gerichtlich einklagbar sind.
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»Sucht« und/oder »Abhängigkeit« und/oder »Krankheit« und/oder dem »Konsum« und/oder dem »Gebrauch von Drogen«. Die Diskussion um diese Begriffe tangiert die Einstellung und den Umgang einer Gesellschaft mit dieser Thematik und ist mit juristischen, kriminalistischen, wirtschaftlichen, medizinischen, soziologischen und psychologischen Diskursen verknüpft. Die eigentlich notwendige, tiefergehende Analyse dieser Begriffe kann im Rahmen des Artikels nicht durchgeführt werden. Ich habe mich für die Verwendung der Begriffe »drogengebrauchend« und »drogenkonsumierend« entschieden. Der Anwalt Udo Zimmermann unterscheidet zwischen professionellen Prostituierten, Beschaffungsprostituierten und Gelegenheitsprostituierten.4 Er differenziert in Abhängigkeit von Art und Umfang der Tätigkeit sowie der Motivation. Zimmermann tritt für eine Verbesserung der rechtlichen Situation von Prostituierten ein und sieht in der Anerkennung der Prostitution als Beruf den entscheidenden Schritt in diese Richtung. Ihm ist allerdings auch klar, dass es Formen der Prostitution gibt, die sich einer solchen Betrachtung entziehen. Statt festzulegen, wann eine Prostituierte professionell arbeitet und damit einen Beruf ausübt, definiert er die »Anderen«, die »Unprofessionellen«, für die der Ansatz nicht gilt. Damit findet auch innerhalb der emanzipatorischen Absicht Zimmermanns ein Othering statt. Für Zimmermann sind Beschaffungsprostituierte Frauen, »[…] die zur Finanzierung ihrer Sucht, insbesondere der Betäubungsmittelsucht, der Prostitution nachgehen«.5 Weiter führt er aus, dass die Differenzierung überwiegend über das Berufsethos, die Regelmäßigkeit und die Professionalität der Berufsausübung, den Drogenkonsum und durch die Erfassung der Gesundheitsämter erfolgt.6 Dieses Beispiel zeigt, wie innerhalb des juristischen Diskurses zur Prostitution die Zielgruppe der Prostituierten, die es zu schützen gilt und die somit im Zentrum der Betrachtung steht, durch die Konstruktion und den Ausschluss der »Anderen« – nämlich der Beschaffungsprostituierten – definiert wird. Es wird also von außen eine Normativität7 innerhalb der Prostitution erschaffen – und nur wer diese Norm erfüllt, ist berechtigt, an den rechtlichen Verbesserungen zu partizipieren.
2. Das aktuelle Prostitutionsgesetz und seine Wirkung Das Gesetz zur Regelung der Rechtsverhältnisse der Prostituierten (ProstG) gibt es seit dem 1. Januar 2002. Sexarbeiter/-innen haben jetzt einen Anspruch auf Pflichtversicherung in der gesetzlichen Kranken-, Arbeitslosen- und Rentenversicherung. Im Zivilrecht wird die Prostitution nicht mehr als sittenwidrig ange4 | Vgl. Udo Zimmermann: Die öffentlich rechtliche Behandlung der Prostitution. Inaugural-Dissertation, Tübingen 2002, S. 16. 5 | Ebd., S. 16, Fn. 4. 6 | Vgl. ebd., S. 16. 7 | Vgl. Janet R. Jakobsen: »Queer is? Queer does? Normativity and the Problem of Resistance«, in: GLQ. A Journal of Lesbian and Gay Studies, 4. Jg. H. 4 (1998), S. 511-536.
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162 | Kathrin Schrader sehen. Das bedeutet, dass Sexarbeiter/-innen in Deutschland ihr Entgelt künftig gerichtlich einklagen können. Im Strafrecht macht sich ein Bordellbesitzer, der angemessene Arbeitsbedingungen schafft, nicht mehr strafbar. Damit wird Sexarbeiter/-inne/-n die Möglichkeit eingeräumt, rechtlich abgesichert zu arbeiten. Gleichzeitig sind jetzt auch Umschulungsmaßnahmen für ausstiegswillige Sexarbeiter/-innen nach dem Arbeitsförderungsgesetz möglich.8 Das Gesetz bedeutet für Sexarbeiter/-innen mit einem legalen Status sowie für Menschen aus Ländern der EU sicherlich einen Schritt in eine positive Richtung.9 Für die Gruppe der Migrant/-inn/-en ohne Aufenthaltsstatus und für die Gruppe der Beschaffungsprostituierten ist keine Verbesserung durch die Gesetzesänderung eingetreten.
3. Sexarbeit in der Subkultur der Drogenszene Heike Zurhold, wissenschaftliche Mitarbeiterin des ZIS (Zentrum für Interdisziplinäre Suchtforschung) in Hamburg, bietet eine erweiterte Definition von Prostitution an, die eine Einbeziehung der Beschaffungsprostitution ermöglicht: »Prostitution ist als eine Dienstleistung zu verstehen, die in der Ausübung, Erduldung und Stimulation von sexuellen Handlungen gegen Entgelt oder andere materielle Güter wie z.B. Obdach oder Drogen besteht.«10 Die Erziehungswissenschaftlerin Antje Langer schließt sich dieser Definition an und betrachtet Prostitution als eine soziale Institution, die gesellschaftlich und historisch fest verankert ist. Sie weist darauf hin, dass die »[…] Prostitution nicht unabhängig gesellschaftlicher Normen- und Wertesysteme bezüglich der Regelungen von Geschlechterbeziehungen und vorherrschenden Sexualmoral betrachtet werden […]« könne.11 Prostitution sei gegenwärtig »allseits gefragt« und gesellschaftlich institutionalisiert, jedoch illegalisiert und abgewertet.12 Zur Beschaffungsprostitution muss gesagt werden, dass sie meist nur im Randbereich der Suchtforschung verortet wird. Es gibt zwar zahlreiche Publikationen zur Drogenpolitik oder Suchtforschung sowie Milieustudien und Forschungen zur Prostitution, aber nur selten werden beide Bereiche als Einheit untersucht. Erst seit dem Auftreten von HIV und AIDS ist die Beschaffungsprostitution etwas stärker in den Fokus des wissenschaftlichen und öffentlichen 8 | Vgl. http://dip.bundestag.de/btd/14/059/1405958.pdf, gesehen am 03.05.05. 9 | Allerdings gibt es auch seitens der Sexarbeiter/-innen Kritik an der Umsetzung und an fehlenden Durchführungsbestimmungen. Eine differenzierte Stellungnahme findet sich dazu auf der Internetseite von HYDRA unter dem Link »Recht«. http://www. hydra-ev.org/, gesehen am 10.04.05. 10 | Heike Zurhold: »Interaktionen in der Sexarbeit – Gesundheitsförderung und Empowerment für Beschaffungsprostituierte«, in: Heino Stöver (Hg.), Risiko mindern beim Drogengebrauch, Frankfurt am Main 2002, S. 105. 11 | Antje Langer: Klandestine Welten. Mit Goffman auf dem Drogenstrich, Königstein/Taunus 2003, S. 9. 12 | Vgl. ebd., S. 10.
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Interesses gerückt. Der gesellschaftliche und wissenschaftliche Diskurs wird jedoch vor allem durch den Gedanken der Prävention vorangetrieben. In der Bundesrepublik muss von ca. 40.000 weiblichen Drogenabhängigen ausgegangen werden.13 Untersuchungen zum Drogengebrauch gehen je nach Erhebung und Szene davon aus, dass zwischen 25 und 80 Prozent der weiblichen Drogenkonsumierenden ihren Drogenbedarf über die Prostitution finanzieren.14 Nichtsdestotrotz gibt es im deutschen wie auch im europäischen Raum sehr wenige Studien zur Beschaffungsprostitution. Zurhold kommt nach einer Recherche zum Stand der internationalen Forschung bezüglich weiblicher Drogenprostitution zu dem Ergebnis, dass die Literatur von US-amerikanischen Studien dominiert wird und in Europa seit Mitte der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts nur sechs Studien zur Beschaffungsprostitution erschienen.15 Sie selbst führte eine explorative Studie zu Entwicklungsverläufen von jungen Mädchen und jungen Frauen in der Drogenprostitution durch. Diese Studie ist die aktuellste Veröffentlichung zur Lebenslage und Problemkonstellation junger Drogenkonsumentinnen.16 Migrantinnen in der Beschaffungsprostitution kommen in der Forschung hingegen nicht vor. Selbst die aktuelle Studie von Zurhold17 zur Beschaffungsprostitution ignoriert dieses Thema. Gleichzeitig werden in der praktizierenden Sozialarbeit jedoch Tendenzen zum verstärkten Drogengebrauch unter Migrant/-inn/-en in der Prostitution verzeichnet.18
3.1 Die geschlechtsspezifische Dimension Trotz der Dekonstruktion der bipolaren Zuweisung von Geschlecht in den nicht differenztheoretischen feministischen Wissenschaften halten sich die binären Zuschreibungen hartnäckig. Der Drogenkonsum von Frauen wird als besonders verwerflich, unmoralisch, nicht feministisch und fast immer als süchtig betrachtet.19 Streben Frauen nach Lust, Vergnügen, Rausch und Ekstase, so wird dieses 13 | Vgl. Beate Leopold: »Minderjährige in der Prostitution«, in: Michael T. Wright (Hg.), Prostitution, Prävention und Gesundheitsförderung. Teil 2: Frauen, Deutsche AIDS-Hilfe e.V., Berlin 2005, S. 101. 14 | Vgl. ebd.; vgl. auch Andrea Viktoria Kerschl: »Beschaffungsprostitution und ihre Risiken«, in: M.T. Wright (Hg.), Prostitution, Prävention und Gesundheitsförderung, Berlin 2005, S. 117. 15 | Vgl. Heike Zurhold: Entwicklungsverläufe von Mädchen und jungen Frauen in der Drogenprostitution. Eine explorative Studie, Berlin 2005, S. 20 und 34. 16 | Vgl. ebd. 17 | Vgl. ebd. 18 | Diese Tendenz wird von den Mitarbeiter/-inne/-n der Hilfeprojekte registriert. Allerdings muss erwähnt werden, dass die Untersuchungen häufig von NGOs durchgeführt werden und dass diese mit immer geringer werdenden Budgets arbeiten und dadurch kaum über Kapazitäten verfügen, sich der Forschung zu widmen. 19 | Vgl. Margaret Sargent: Women, Drugs and Policy in Sydney, London and Amsterdam. A feminist interpretation, Avebury/Aldershot/Brookfield (USA)/Hong Kong/ Singapore 1992, S. 17 und 118.
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164 | Kathrin Schrader Verlangen nicht wie bei Männern als »natürliche« Triebhaftigkeit bewertet, sondern sanktioniert oder pathologisiert. Lust und Vergnügen unterliegen moralischen Werturteilen, die polar zugewiesen sind. Frauen, die Lustbedürfnisse ausleben, werden dabei als »unweiblich« stigmatisiert. Die Subkultur der Drogenszene wird von Männern dominiert. Sie sind nicht nur zahlreicher vertreten, sondern nehmen, ebenso wie außerhalb der Drogenszene, den höheren Status ein.20 In der Fachliteratur wird darauf hingewiesen, dass für Frauen der Zugang zur Szene meist über männliche Konsumenten erfolge und dass Frauen an unterster Stelle stünden.21 Zurhold schreibt dazu in einer qualitativen Vergleichsstudie: »Das Überleben in der von traditionellen Rollenstereotypen geprägten Drogenszene hat Auswirkungen auf die Selbstwahrnehmung von Frauen, ihre Überlebenstechniken und Strategien der Drogenbeschaffung und -finanzierung.«22 Die Strukturen in der Szene sind durch gewalttätige körperliche Auseinandersetzungen geprägt. Dadurch werden Frauen in die traditionellen Geschlechterrollen gedrängt und ihnen wird im Regelfall der Zugang zum Drogenhandel als Finanzierungsmöglichkeit für den Drogenbedarf verwehrt. Von den Drogengebraucherinnen werden daher geschlechtsspezifische Alltagsbewältigungsstrategien zur Drogenfinanzierung ausgebildet. Die Suchtforscherin Irmgard Vogt konstatierte zudem bei Frauen, die exzessiv konsumieren, eine Dominanz episodisch verlaufender, polytoxikomaner Konsummuster, die in wechselseitiger Verstärkung von psychischen Störungen wie Depression, Ängsten oder Essstörungen begleitet seien. Einfluss auf die Konsumentwicklung habe dabei u.a. die unterschiedliche soziale Bewertung von drogengebrauchenden Frauen und Männern. Frauen erfahren in diesem Kontext viel häufiger gesellschaftliche Abwertung, moralische Verurteilung und Pathologisierung, in deren Folge sich Gebrauchsmuster in der Abhängigkeit beschleunigt etablieren könnten.23 Die Sozialforscherin Christine Spreyermann interviewte in einer Schweizer Studie 21 Drogengebraucherinnen zu ihrem Lebensalltag und ihrer Werteorientierung. Die Auswertung ergab, dass die Frauen ihren Bezug zur Szene als ausbeuterisch, funktional und geprägt von Misstrauen wahrnehmen. Sie beschrieben sich in ihrer Alltagsbewältigung häufig als Einzelgängerinnen. Den Misstrauenserfahrungen und den Überlebensanforderungen des Alltags in der Drogenszene begegneten die Befragten mit einer Strategie der »Treue zu den eigenen Prinzipien« (wie z.B. niemals die eigene Mutter bestehlen). Diese Verhaltensnorm sei wesentlich für das eigene Selbstbild. Einen Verstoß dagegen erlebten sie als Demütigung und Verlust an Selbstachtung.24 Daneben hat die Einhaltung eigener ethischer Werte auch die Funk-
20 | Vgl. Heike Zurhold: Kriminalität und Kriminalisierung drogengebrauchender Frauen, Berlin 1998, S. 67. 21 | Vgl. ebd. 22 | Ebd. 23 | Vgl. Irmgard Vogt: »Bella Donna«. Die Frauendrogenberatungsstelle im Ruhrgebiet. Ergebnisse der wissenschaftlichen Begleitforschung, Berlin 1997, S. 102f. 24 | Vgl. Christine Spreyermann: Man könnte meinen, wir säßen alle im gleichen
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tion, sich Respekt zu verschaffen und in kritischen Situationen die Selbstkontrolle und Übersicht zu bewahren.
3.2 Kriminalisierung Zimmermann merkt an, dass Sperrgebietsverordnungen25 wesentlich das Erscheinungsbild und die Arbeitsbedingungen der Prostitution prägen.26 Prostituierte machen sich strafbar, wenn sie dem durch die Sperrgebietsverordnung begründeten Verbot, der Prostitution im Sperrgebiet nachzugehen, beharrlich zuwider handeln (§ 184 a StGB). Zudem ist es in einer Großstadt möglich, den Bereich, in dem Prostitution aufgrund der Sperrgebietsverordnung erlaubt ist, auf wenige Straßen zu beschränken. Aus der daraus resultierenden starken Konzentration der Prostituierten erwächst ein unnötiger wirtschaftlicher und sozialer Druck.27 Toleranzzonen, also Gebiete, in denen selten und unregelmäßig kontrolliert wird, führten dazu, dass auch in den Sperrbezirken der Prostitution nachgegangen würde. Und folgerichtig wird den Sperrgebieten vorgehalten, sie seien nur Mittel der Aussperrung und des Unsichtbarmachens und bewirkten durch eine Ghettoisierung die Stigmatisierung, Kriminalisierung und Ausbeutung der Prostituierten.28 Die Sozialwissenschaftlerinnen Beate Leopold, Elfrie-
Boot. Lebensalltag und Alltagsbewältigung von Drogenkonsumentinnen, Institut universitaire de mèdicine sociale et prèventive, Lausanne 1990, S. 33. 25 | »Sperrgebiete sind Gebiete (Stadteile, Plätze und Straßen), in denen die Ausübung der Prostitution verboten ist. Die genauen Orte bestimmen die Regierungen der Bundesländer. Sie können ›zum Schutze der Jugend und des öffentlichen Anstandes‹ in Gemeinden bis zu 50.000 Einwohnern für das gesamte Gemeindegebiet oder ab 20.000 Einwohnern für einen Teil des Gemeindegebietes durch Rechtsverordnungen die Ausübung der Prostitution verbieten. In der Regel geschieht dies auf Antrag der Kommunen. Unabhängig von der Zahl der Einwohner/-innen darf an öffentlichen Straßen, Plätzen und sonstigen Orten, die von dort einsehbar sind, die Ausübung der Prostitution verboten werden (Art. 297 Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch [EGStGB]). Ein Zwang zum Erlass einer Sperrgebietsverordnung besteht nicht. Ein einmaliger Verstoß gegen eine Sperrgebietsverordnung kann nach § 120 Ordnungswidrigkeitengesetz mit einer Geldbuße geahndet werden. § 184 d StGB stellt die wiederholte Ausübung der Prostitution an einem verbotenen Ort unter Strafe.« B. Leopold: »Minderjährige in der Prostitution«, S. 100, Fn. 3. 26 | Vgl. U. Zimmermann: Die öffentlich rechtliche Behandlung der Prostitution, S. 225f.; vgl. auch Beate Leopold/Elfriede Steffan/Nikola Paul: Dokumentation zur rechtlichen und sozialen Situation von Prostituierten in der Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart 1997, S. 97 und S. 306-309. 27 | Vgl. U. Zimmermann: Die öffentlich rechtliche Behandlung der Prostitution, S. 225f. 28 | Außer Berlin haben alle alten Bundesländer von der Ermächtigungsnorm des Art. 297 EGStGB Gebrauch gemacht. Vgl. U. Zimmermann: Die öffentlich rechtliche Behandlung der Prostitution, S. 225f.; vgl. auch B. Leopold/E. Steffan/N. Paul: Dokumenta-
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166 | Kathrin Schrader de Stefan und Nikola Paul beschreiben außerdem die entstehende Rechtsunsicherheit bei Prostituierten durch die wechselnde Intensität der Verfolgung in Sperrbezirken, welche den Eindruck von Willkür vermittelt.29 Die meisten drogengebrauchenden Frauen gehen der Straßenprostitution im Sperrbezirk nach, sie arbeiten illegal und handeln ordnungswidrig. Die eigentliche sexuelle Dienstleistung findet in Autos, Stundenhotels, Videokabinen oder abgelegenen Plätzen statt. Die Sperrgebietsverordnung kriminalisiere, so Zurhold, nur die Beschaffungsprostituierten, da die legalen Plätze von den »Profi«-Frauen belegt und durch Zuhälter kontrolliert würden.30 Zurhold explorierte die Arbeitsbedingungen der Beschaffungsprostitution und definierte den Straßenstrich wie folgt: »So ist die Beschaffungsprostitution eng mit der Drogenszene verknüpft und wird mit dem Straßenstrich assoziiert. Der Straßenstrich hat wiederum spezifische und mit anderen Prostitutionsbranchen nicht vergleichbare Rahmenbedingungen; dazu zählen die räumliche Nähe zur Drogenszene sowie zu Drogenhilfeeinrichtungen, die Möglichkeit des schnellen Einstiegs, flexible Arbeitszeiten und dass die Einnahmen zu 100 % bei den Frauen verbleiben.«31
Ein weiterer Gesetzesbruch liegt vor, weil Beschaffungsprostitutierte durch den mehr oder weniger exzessiven Konsum illegaler Drogen zwangsläufig auch gegen das BtMG32 verstoßen. Hier wird ein Dilemma offensichtlich. Eine Frau, die zweifach kriminalisiert ist, kann ihre Rechte als Dienstleisterin nicht in Anspruch nehmen und eine Verletzung ihrer persönlichen Integrität nicht zur Anzeige bringen, da sie sich dazu freiwillig den Ordnungsbehörden ausliefern müsste. In einer Analyse zur staatlichen Sanktionspraxis gegen drogengebrauchende Frauen bezweifelt Zurhold die strafrechtliche Zweckmäßigkeit des BtMG. »Ohne die Risiken und Schäden der staatlichen Eingriffe realistisch zu prüfen, wird auf Vermutungen, Alltagstheorien und Mythen zurückgegriffen und die Kriminalisierung mit der auf diese Weise konstruierten ›Drogengefahr‹ begründet. Die Logik der strafrechtli-
tion zur rechtlichen und sozialen Situation von Prostituierten in der Bundesrepublik Deutschland, S. 97 und S. 306-309. 29 | Vgl. ebd., S. 307. 30 | Zurhold führt weiter aus, dass Beschaffungsprostituierte für Zuhälter aufgrund ihres hohen Finanzierungsbedarfes und der ihnen unterstellten Unzuverlässigkeit uninteressant seien. Vgl. H. Zurhold: »Interaktionen in der Sexarbeit«, S. 111. 31 | Ebd. 32 | Der unmittelbare Konsum von illegalen Drogen und der Besitz geringer Mengen zum Eigenverbrauch sind nicht strafbar, jedoch der Handel und Verkauf illegaler Drogen. Die »geringe Menge« soll den Eigenkonsum vom Drogenhandel abgrenzen. BtMG § 29 vom 10.03.05. http://www.gesetze.2me.net/btmg/, gesehen am 25.05.05; vgl. H. Zurhold: Kriminalität und Kriminalisierung drogengebrauchender Frauen, S. 46.
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Beschaffungsprostitution im Kontext ethnischer Konstruktionen | 167 chen Prävention unterliegt dabei moralischen Implikationen, die das Recht eigentlich nicht erfassen darf.«33
Das BtMG unterliegt somit keiner sachlichen, sondern einer ideologischen Legitimation.34 Die Prohibition und Repression des deutschen Drogenstrafrechts und der Drogenpolitik begünstigen eine Integration in die Drogenszene sowie gesundheitlich riskante Verhaltensweisen. Dadurch wird die Gesundheitsprävention besonders bezüglich HIV und Hepatitis erheblich erschwert und die Motivation verringert, sich behandeln zu lassen. Die punitive und prohibitive Drogenpolitik ist ein wichtiger Auslöser für die gesundheitliche Verelendung, die soziale Ausgrenzung und die Stigmatisierung von Beschaffungsprostituierten.
4. Migrantinnen in der Beschaffungsprostitution Die Kategorie Ethnie spielt in den ohnehin spärlichen Untersuchungen zur Beschaffungsprostitution keine Rolle und im herrschenden Diskurs über illegalisierte Prostitution überlagern sich die Themen von Migration und Menschenhandel.35 Die Beschreibung der Situation von migrierten Sexarbeiter/-inne/-n ist eine notwendige Voraussetzung für das Verständnis des Spezifischen an der Situation migrierter Beschaffungsprostituierter. Gleichzeitig kann mit ihrer Hilfe gezeigt werden, dass die Wirkungen von Repressionen und Ausgrenzungen immer dem gleichen Muster folgen. Staatliche Reglementierungen der Prostitution werden mittlerweile mit der Sorge um die Prostituierten begründet. Ein Blick in die Realität zeigt jedoch, wie fragwürdig diese Motivation ist. In vielen europäischen Ländern konnte bereits festgestellt werden, dass die Unterdrückung der Prostitution fast immer negative Folgen für die Sicherheit, das Wohlergehen und die Arbeitsbedingungen der Sexarbeiter/-innen hat.36 Dies gilt insbesondere für »Zwangsprostituierte«, die in imposanten Medienspektakeln als sklavische Ware »ausländischer Mafiosos« gezeigt werden. Ihr Schicksal wird politisch benutzt, um eine Verschärfung des Ausländer- oder Zuwanderungsrechts zu rechtfertigen, deren erstes Opfer oft die Frauen selbst sind. Dieser Diskurs verweist auf die Schnittstelle von Sexismus und Rassismus.37 In ihm ist die Ware Frau nie Subjekt ihrer Handlung,
33 | Ebd., S. 63. 34 | Vgl. Kathrin Schrader: Beschaffungsprostitution als Untersuchungskategorie – Die Konstruktion des Stereotyps der Beschaffungsprostituierten, unveröffentl. Masterarbeit, Universität Hamburg 2005, S. 39-42. 35 | Vgl. Mike Kaye: The Migration-Trafficking Nexus – Combating Trafficking Through the Protection of Migrants Human Rights, London 2003, S. 3. 36 | Vgl. http://www.europap.net/dl/archive/reports/1996/GERMAN.pdf, gesehen am 08.06.05. 37 | Vgl. Christiane Howe: »Milliardengeschäft illegale Prostitution«, in: Bundeszen-
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168 | Kathrin Schrader sondern meist nur willenloses Opfer und eine Handelsware, deren Preis sich aus Angebot und Nachfrage ergibt. Dass diese Frauen genügend Gründe besäßen, sich eigenverantwortlich auf den Handel einzulassen, bleibt in den Diskussionen meist unberücksichtigt.38 Wichtige Ursachen für Migration werden ausgeblendet, wie der Umgang mit billigen Arbeitskräften im informellen Sektor oder der eklatante Widerspruch zwischen der Reduzierung der Einwanderung und der Nachfrage nach Arbeitskräften im informellen reproduktiven Bereich.39 Die konkrete Situation und die daraus entstehende Motivationsstruktur, aus der heraus sich Frauen zur Migration entschließen, sind jedoch weitaus komplexer als häufig angenommen wird.40
4.1 Sexarbeit als Arbeitsmigration Dass Frauen fern ihrer Heimat nach Arbeit suchen, steht ursächlich im Zusammenhang mit dem Umstand, dass die weltweite Armut weiblich ist.41 So genannte push-and-pull-Faktoren bedingen die Migrationprozesse, so Veronica Munk.42 Die Armut zwinge die Menschen zur Migration (push-Faktor), die industriellen Länder hätten einen Bedarf an Arbeitskräften (pull-Faktor).43 Auch der Prostitutionssektor funktioniert nach diesem Prinzip. Munk konstatiert, dass sich im Zuge der Globalisierung die gesamte westeuropäische Prostitutionsszene verändert hat. Die von der Sozialwissenschaftlerin Alexandra Geisler interviewten osteuropäische Frauen, die als Prostituierte gehandelt wurden, gaben als zentrales Motiv für das Verlassen des Heimatlandes an, dass dies ein Teil ihrer Überlebensstrategie war. Die absolute Armut bedrohte ihre physische Existenz und deshalb gingen sie auf die »Scheinangebote« der Händler/-innen ein.44 Den Frauen war es nicht bewusst, dass sie zur Prostitution angeworben und später durch massiven Druck von den Händler/-inne/-n dazu gezwungen trale für politische Bildung (Hg.), Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, Berlin B 52-53 (2004), S. 33. 38 | Vgl. ebd. 39 | Das umfasst den gesamten Dienstleistungssektor der Kindererziehung, Haushaltsführung, Pflegearbeiten etc. 40 | Vgl. C. Howe: »Milliardengeschäft illegale Prostitution«, S. 34. 41 | Vgl. Veronika Munk: »Migration und Sexarbeit«, in: M.T. Wright (Hg.), Prostitution, Prävention und Gesundheitsförderung, 2005, S. 77; Vgl. auch Alexandra Geisler: »Hintergründe des Menschenhandels in die Prostitution mit Frauen aus Osteuropa«, in: Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.), Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, Berlin B 52-53 (2004), S. 29. 42 | Veronica Munk ist die Deutschland-Koordinatorin der EU-Projekte TAMPEP (European Network for Transnational AIDS/STD Prevention among Migrant Prostitutes) and FENARETE (Training of Sex Workers as Peer Educators) sowie Vorstandsvorsitzende von Amnesty for Women e.V. Vgl. V. Munk: »Migration und Sexarbeit«, S. 77f. 43 | Vgl. ebd., S. 78. 44 | Vgl. Alexandra Geisler: Gehandelte Frauen – Menschenhandel zum Zweck der Prostitution mit Frauen aus Osteuropa, Berlin 2004, S. 84f.
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wurden.45 Geisler kritisiert die Tendenz einiger Prostituiertenvereinigungen und Frauenorganisationen, das Schicksal gehandelter Frauen für die Forderung nach Legalisierung von Prostitution als »normale« Dienstleistung und deren Anerkennung als Beruf zu instrumentalisieren.46 Das Postulat, dass die meisten Frauen sich selbstbestimmt für eine Arbeit in der Prostitution anwerben ließen, stimmt nicht mit Geislers Interviewergebnissen überein.47 Auch die Soziologin Christiane Howe sieht das Kernproblem der Arbeitsmigration von Frauen aus Osteuropa in der schwierigen Situation in deren Heimatländern in Verbindung mit den ausländerrechtlichen Regelungen und der Nachfrage in den westlichen Zielländern.48 Sie geht allerdings davon aus, dass gerade junge Frauen glaubten, ohnehin vorrangig als erotische Objekte gesehen zu werden, weshalb sie aus dieser Not eine Tugend machten und gleich als gut verdienende Prostituierte arbeiten könnten. Sexarbeit erscheint ihnen als attraktiver Job, der es ihnen ermöglicht, ein besseres Leben für sich und ihre Kinder zu planen.49 Für alle Migrant/-inn/-en, egal auf welchem Wege und mit welcher Motivation sie ihr Land verlassen haben, gilt, dass sie auf ein Konglomerat von Schwierigkeiten treffen. Ihre Bildungsabschlüsse werden nicht anerkannt, sie haben geringe Chancen auf dem Arbeitsmarkt und einen ungesicherten Aufenthaltsstatus. In dieser Situation entscheiden sich Frauen mangels Alternativen für Sexarbeit.50 Es wird deutlich, wie unterschiedlich die Interpretationen sind, die versuchen zu erklären, warum Frauen sich für Sexarbeit entscheiden. Die einen wählen diesen Weg bewusst und »freiwillig«, die anderen mangels einer Alternative. Die Indikatoren der Arbeitsmigration, wie die Armut im Herkunftsland, die Nachfrage und die ausländerrechtlichen Regelungen in den Zielländern und die daraus resultierenden Abhängigkeiten betreffen jedoch alle Frauen.
4.2 Sexarbeit und Menschenhandel Geisler sieht es als ein Dilemma an, dass eine Vielzahl von Konventionen die Nationalstaaten dazu verpflichten, gegen Menschenhandel vorzugehen. Die Umsetzung dieser Vorgaben führt dazu, dass die Frauen in der Realität entweder als Kriminelle gelten, die strafrechtlich verfolgt werden müssen, oder als wehrlose Opfer, denen mit einer Rückführung geholfen werden soll.51 In beiden Fällen entsteht, verbunden mit den restriktiven Ausländergesetzen in der Europäischen Union, eine Situation, in der die Migrant/-inn/-en auf Zwischen45 | Vgl. A. Geisler: »Hintergründe des Menschenhandels in die Prostitution mit Frauen aus Osteuropa«, S. 31. 46 | Vgl. ebd. 47 | Vgl. A. Geisler: Gehandelte Frauen, S. 103-109. 48 | Vgl. C. Howe: »Milliardengeschäft illegale Prostitution«, S. 34. 49 | Vgl. ebd. 50 | Vgl. V. Munk: »Migration und Sexarbeit«, S. 77. 51 | Vgl. A. Geisler: »Hintergründe des Menschenhandels in die Prostitution mit Frauen aus Osteuropa«, S. 31.
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170 | Kathrin Schrader händler/-innen angewiesen sind und durch ihren rechtlosen Status in massive Abhängigkeitsverhältnisse geraten. Die Arbeits- und Lebensbedingungen dieser Menschen sind häufig von sexueller Ausbeutung und Menschenrechtsverletzungen geprägt. Sie müssen illegal leben und arbeiten und können daher ihr Recht nicht einklagen. Da sie obendrein keinen Zugang zu Informationen haben, wissen sie auch nichts von existierenden Hilfeangeboten (z.B. über Gesundheitsprävention). Munk bemerkt, dass diese Frauen besonders vulnerabel gegenüber gesundheitlichen Risiken aller Art und gegenüber gewalttätigen Übergriffen seien, da staatliche bzw. öffentliche Schutzmaßnahmen aus Angst vor Abschiebung nicht in Anspruch genommen würden.52 Auch Howe sieht in der fortwährenden Verschärfung der Einreise- und Aufenthaltsbestimmungen einen begünstigenden Faktor für die Tätigkeiten von Vermittler/-inne/-n und Menschenhändler/-inne/-n. Je komplizierter die Einreiseprozedur ist, desto mehr seien die Migrant/-inn/-en auf kriminelle Hilfe bei der Beschaffung von Informationen, Visa und Tickets angewiesen, die teuer bezahlt werden müssen und sie somit spezifischen Macht- und Gewaltverhältnissen aussetzen.53 Es ist eben nicht so, wie oft durch die Medien kolportiert wird, dass einfache Einreisebestimmungen den Menschenhandel begünstigen, sondern der Menschenhandel benötigt für seinen Erfolg, wie jedes organisierte Verbrechen, eine staatliche Zwangsmaßnahme, die ein real existierendes Bedürfnis durch Sanktion unterbinden soll. Beispielhaft kann hier Foucaults These angeführt werden, dass das Disziplinarsystem die Delinquenz, die es vorgibt zu beseitigen, zugleich mit erzeuge.54 Es dient der Erzeugung eines kriminellen Milieus, welches den Einsatz immer perfekterer Überwachungs- und Repressionsapparate legitimiert.55 Die europäische Politik benutzt den Kampf gegen das organisierte Verbrechen, um auch gegen Migration und Prostitution vorzugehen.56 Menschen- und Frauenhandel wird in der Brüsseler Erklärung als »Bedrohung von Freiheit, Sicherheit und Ordnung« der EU-Mitgliedsstaaten empfunden. Dementsprechend dienen sämtliche Maßnahmen gegen den Frauenhandel der Bekämpfung des organisierten Verbrechens und der illegalen Migration.57 Entsprechend hat sich die rechtliche Lage der Sexarbeiter/-innen in der EU in den letzten Jahren verschlechtert. Die Gleichsetzung von Verbrechen und Migration sowie die repressive, kontrollierende Politik führen zu einer Objektivierung von Sexarbeiter/-inne/-n, die sie als handelnde Subjekte ausschließt. Deshalb plä-
52 | Vgl. V. Munk: »Migration und Sexarbeit«, S. 78. 53 | Vgl. C. Howe: »Milliardengeschäft illegale Prostitution«, S. 34. 54 | Vgl. Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt am Main 1994, S. 327 und 388. 55 | Vgl. Hinrich Fink-Eitel: Michel Foucault zur Einführung, Hamburg 1997, S. 77. 56 | Vgl. Council of the European Union: Brussels Declaration on Preventing and Combating Trafficking in Human Beings, November 2002. http://www.belgium.iom.int/ STOPConference/Conference%20Papers/brudeclaration.pdf, gesehen am 29.06.06. 57 | Vgl. V. Munk: »Migration und Sexarbeit«, S. 79.
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diert Munk für eine Debatte über Arbeitsmigration und Menschenrechte statt über Menschen- und Frauenhandel.58
4.3 Lebensrealität Nur wenn Menschen einen sicheren Rechts- und Sozialstatus haben, können sie selbstbestimmt arbeiten und für ihre Gesundheit sorgen. Seit dem Inkrafttreten des neuen Infektionsschutzgesetzes (IfSG)59 sind alle AIDS- und STD60-Beratungsstellen der Gesundheitsämter verpflichtet, ihre Angebote anonym bereitzuhalten. Da migrierte Sexarbeiter/-innen häufig nicht krankenversichert seien, so Munk, würden sie in der Regel nur durch die Gesundheitsämter ärztlich versorgt. Diese seien aber weder hinreichend ausgestattet, noch verfügten ihre Mitarbeiter/-innen über ausreichende Erfahrungen, um der erhöhten Nachfrage und den speziellen Bedürfnissen der Migrant/-inn/-en gerecht zu werden. »Außen vor bleibt weiterhin die allgemeinmedizinische Versorgung, aber auch die psychologische Betreuung, die für Migrantinnen aufgrund ihrer Schwierigkeiten im Migrationsprozess besonders wichtig wäre, um ihr Selbstwertgefühl und ihre Selbstbestimmtheit zu stärken. […] Die meisten Aids- und STD-Beratungsstellen der Gesundheitsämter bieten anonyme, freiwillige und kostenlose HIV-Antikörpertests sowie Informationen und Beratung zur Primärprävention an. Unterstützungsangebote für nicht krankenversicherte HIV-positive oder aidskranke Menschen gibt es dort jedoch nach wie vor nicht.«61
Der Anteil migrierter Sexarbeiter/-innen ist in Deutschland kontinuierlich angestiegen. Er betrug 1999 50 Prozent62, 2001 55 Prozent63 und 2003 60 Prozent64 der geschätzten 400.00065 Personen, die in der Prostitution haupt- oder teilzeitbeschäftigt sind. Die Herkunft der Frauen variiere aufgrund von Kriegen, neuen Visumbestimmungen und/oder der Veränderung von wirtschaftlichen 58 | Vgl. ebd., S. 80. 59 | Das IfSG bietet durch die kostenlose Beratung und die Aufklärung mildere Maßnahmen als die des Zwangs und stärkt gleichzeitig die Würde und Eigenverantwortung der Sexarbeiter/-innen. Illegal arbeitende Frauen können einer Registrierung und Reglementierung nur ablehnend gegenüber stehen, §19 IfSG 01.01.2001. http://www.ge setze-xxl.de/gesetze/ifsg/ifsg.htm, gesehen 27.05.05. 60 | STD = sexually transmitted disease. 61 | V. Munk: »Migration und Sexarbeit«, S. 83. 62 | Vgl. Transnational AIDS/STI Prevention Among Migrant Prostitutes in Europe: TAMPEP IV – Endbericht Deutschland, Mai 1998-Oktober 1999, Hamburg 1999. 63 | Vgl. Transnational AIDS/STI Prevention Among Migrant Prostitutes in Europe: TAMPEP V – Endbericht Deutschland, September 2000-Februar 2002, Hamburg 2002. 64 | Vgl. Transnational AIDS/STI Prevention Among Migrant Prostitutes in Europe: TAMPEP VI – Endbericht Deutschland, Juni 2002-Juni 2004, Hamburg 2004. 65 | Vgl. Elfriede Steffan: »Der Freier, das unbekannte Wesen«, in: M.T. Wright (Hg.), Prostitution, Prävention und Gesundheitsförderung, Berlin 2005, S. 34.
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172 | Kathrin Schrader Bedingungen ständig, so Munk. Gegenwärtig stammten die Frauen zu ca. 50 Prozent aus Ost- und Mitteleuropa, zu ca. 20 Prozent aus Asien, Latein- und Südamerika sowie zu 10 Prozent aus Afrika.66 Die rechtliche Situation von Migrant/-inn/-en in Deutschland hat sich durch das neue ProstG nur für die Menschen verbessert, die einen deutschen Pass oder eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis besitzen. Ist dies nicht der Fall, so werden sie nach dem Aufenthaltsrecht behandelt, wonach die Ausübung der Prostitution einen Ausweisungsgrund darstellt.67 Migrant/-inn/-en, die mit einem befristeten Aufenthaltsstatus oder einer beschränkten Aufenthaltserlaubnis der Sexarbeit nachgehen und dabei polizeilich erfasst werden, verlieren diese, sobald sie keinen Arbeitsvertrag vorweisen können, da sie ohne Sondererlaubnis nicht als Selbständige arbeiten dürfen.68 Oft kommt es auch nur deshalb zur Abschiebung, weil ihnen die Mittel fehlen, nach Verlust oder Ablauf ihres Passes einen neuen zu beantragen, und weil sie sich keinen Rechtsbeistand leisten können, sobald die Behörde ein Abschiebeverfahren gegen sie eröffnet hat. Drogenkonsumierende, sich prostituierende Migrant/-inn/-en, unabhängig über welchen Aufenthaltsstatus sie verfügen, sind immer noch zusätzlich von der Ausweisung bedroht, weil sie sich durch den Verstoß gegen die Sperrgebietsverordnung und gegen das BtMG strafbar machen.
4.4 Drogenkonsum Migrierte Sexarbeiter/-innen ohne Aufenthaltstitel haben durch ihren rechtlosen Status meistens keine andere Wahl, als in der Sexarbeit zu verbleiben, sie können sich nicht beraten und auch nicht gesundheitlich versorgen lassen. Die Illegalisierung fördert die Erpressbarkeit und damit die Ausbeutung und die Gewalt. Frauen, so resümiert Howe, sind zusätzlich noch von sexualisierter Gewalt bedroht und der Willkür von Arbeitgebern, Hausherren, Bordellbetreibern, staatlichen Organen und von Ehemännern, die sie hier geheiratet haben, ausgesetzt. Zur Situation illegalisierter Sexarbeiterinnen formuliert Howe: »Die illegal in der Prostitution arbeitenden Frauen stehen unter enormen Druck, leben in ständiger Angst vor einer Polizeikontrolle bzw. Razzia. Razzien werden von verschiedenen Behörden angeordnet und unterschiedlich begründet – von der Finanzbehörde zwecks Steuerfahndung, der Ausländerbehörde zwecks Suche nach illegal Eingereisten und der Kriminalpolizei aufgrund des Verdachts des Menschenhandels oder anderer Straftaten 66 | Vgl. V. Munk: »Migration und Sexarbeit«, S. 81. 67 | Für Sexarbeiter/-innen aus Ländern, die am 01.05.04 in die EU aufgenommen wurden (Tschechische Republik, Estland, Zypern, Lettland, Litauen, Ungarn, Malta, Polen, Slowenien, Slowakei) hat sich die Situation deutlich verbessert, sie können nun zumindest als Selbständige arbeiten. Vgl. ebd., S. 80, Fn. 3. 68 | Wollen Migrant/-inn/-en mit einem befristeten Aufenthaltsstatus als Selbständige arbeiten, so müssen sie diese bei der Ausländerbehörde beantragen und beweisen, dass sie über einen Arbeitsplatz verfügen. Nach Erteilung der Sondererlaubnis müssen sie sich beim Finanzamt anmelden und selbst Steuern zahlen. Vgl. ebd., S. 81.
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Beschaffungsprostitution im Kontext ethnischer Konstruktionen | 173 wie illegaler Waffen- oder Drogenhandel. Auch Anzeigen von Dritten, z.B. von unzufriedenen Kunden oder Kolleginnen, führen zu Kontrollen.«69
Menschen, die permanenten Repressionen ausgesetzt sind, entwickeln Strategien, um ihre Situation erträglich zu machen. Eine kann der Gebrauch von Drogen sein. Auf Grund der zentralen Themenstellung dieses Beitrags wird nur auf diese Strategie eingegangen. Eine Wertung und Wichtung ist damit nicht verbunden. Dass der Drogenkonsum, egal ob von legalen oder illegalisierten Drogen, eine Rolle im Milieu der Prostitution spielt, ist Stereotyp und Tatsache zugleich. Solange die Frau den Drogenkonsum einsetzt, um ihr Heimweh zu verdrängen und/oder sich ein angenehmes Lebensgefühl zu verschaffen, wird der Konsum von der Arbeitgeberin bzw. dem Arbeitgeber toleriert, da er die Arbeitsbedingungen erträglich macht. Außerdem fördert der Umstand, dass sich die Frauen zur Finanzierung des Drogenkonsums hoch verschulden müssen, ihre Abhängigkeit. Was passiert jedoch mit ihnen, wenn sie den Drogenkonsum nicht mehr finanzieren können? Eine Frau, die exzessiv Drogen konsumiert, wird den »Schutz« ihrer Arbeitgeberin bzw. ihres Arbeitgebers verlieren, weil diese dann kein ökonomisches Interesse mehr an ihr hat. Da sie als drogenkonsumierende, illegalisierte Sexarbeiterin nicht nur gegen das hiesige Aufenthaltsrecht, sondern auch gegen die Sperrgebietsverordnung und gegen das BtMG verstößt und der harten Konkurrenz ihrer Kolleg/-inn/-en ausgesetzt ist, muss sie zwangsläufig auf alle Forderungen der Freier eingehen. Gleichzeitig gibt es für sie kaum Möglichkeiten, Hilfemaßnahmen in Anspruch zu nehmen. Diese Frauen geraten immer weiter in den Sog von Abhängigkeit, Sucht und Selbstverachtung. Auch Frauen, die sich selbst für Migration und Sexarbeit entschieden haben, werden durch die äußeren Umstände in Situationen gebracht, in denen der Drogenkonsum eine akzeptable Handlungsoption darstellt. Sie verlassen ihren Kulturkreis, in dem sie wissen, wie sie ihr Geschäft als Sexarbeiterin gestalten müssen. Der vertraute kulturelle Hintergrund ist für eine Tätigkeit, die in vielen Gesellschaften immer noch als Tabubruch verstanden wird, von großer Bedeutung. Die Erfahrung zeigt, dass multiple Problemlagen (Diskriminierung und/ oder Abhängigkeiten und/oder psychische und/oder physische Gewalterfahrungen und/oder Illegalisierung und/oder die Unkenntnis über das Land und die Gesellschaft sowie die Einsamkeit) einen exzessiven Gebrauch von Drogen begünstigen.70
69 | Vgl. C. Howe: »Milliardengeschäft illegale Prostitution«, S. 36. 70 | Nach Aussage einer Mitarbeiterin von Amnesty for Women in Hamburg ist seit ca. zwei Jahren eine steigende Tendenz des Drogenkonsums unter den migrierten Sexarbeiter/-inne/-n zu verzeichnen.
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174 | Kathrin Schrader
5. Zusammenfassung Im vorliegenden Beitrag wurde die Entrechtung und Ausschließung der Migrantinnen in der Prostitution thematisiert und mit der Beschaffungsprostitution verwoben. Dabei sollte die komplexe Problemlage migrierter Sexarbeiterinnen, aber auch die fließenden Übergänge zwischen der freiwilligen Entscheidung zur Sexarbeit und der sexuellen Gewalt gegen Frauen aufgezeigt werden. Der Schwerpunkt lag auf der Beschreibung der Migrationsbedingungen und in der Darstellung, wie sich das Milieu (Prostitution) und die Subkultur (Drogenszene) überschneiden. Im Ergebnis kann gesagt werden, dass im Bereich der Prostitution von Migrantinnen die scheinbar eindeutigen Zuweisungen, die festlegen, mit welchen Kategorien (freiwillig, professionell, Opfer von Menschenhandel, Beschaffungsprostituierte oder »nur« drogenkonsumierend) eine Sexarbeiterin einzuordnen ist, keinen praxisrelevanten Bezug mehr haben. Sie sind somit unzulässig, da sie nur der Vereinfachung der komplexen Realität dienen. Trotzdem werden sie herangezogen, um die rechtspolitische Ungleichbehandlung von Prostituierten im ProstG zu rechtfertigen. Offensichtlich ist für den Gesetzgeber nur dann ein liberaler Umgang mit Prostitution vorstellbar, wenn von einem legalen Berufsbild ausgegangen werden kann. Damit werden jedoch migrierte Sexarbeiterinnen ohne Aufenthaltsstatus und Beschaffungsprostituierte noch stärker in die Illegalität gedrängt, da sie nun nicht mehr im Schutz der großen Gruppe der Sexarbeiter/-innen, die bisher in ihrer Gesamtheit toleriert wurde, arbeiten können. Entgegen jeder europäischen Rechtstradition, die Strafen immer ins Verhältnis zur Straftat stellt und ihr auch eine »erzieherische« Aufgabe zuweist, entsteht für Migrantinnen in der Prostitution im Allgemeinen und in der Beschaffungsprostitution im Besonderen durch das Ineinandergreifen verschiedener Gesetze und Verordnungen die Situation, dass sie durch Abschiebung als de facto strafrechtliche Reaktion auf den Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz oder gegen das Aufenthaltsrecht von Konsequenzen betroffen sind, die in keinem Verhältnis mehr zur eigentlichen Straftat und zum angerichteten gesellschaftlichen Schaden stehen. In diesen Bereichen der Prostitution schränkt jede staatliche Sanktion automatisch die Unabhängigkeit der Menschen ein und erzeugt größere Asymmetrien in den Geschäftsbeziehungen. Daraus resultieren oft Arbeitsbedingungen, die mit der Menschenwürde kollidieren. Je weniger der Staat und die Gesellschaft mit Hilfe juristischer und sozialer Grenzen und Normen die Situationen der Menschen verschärft und somit eine unübersichtliche Grauzone generiert, desto wahrscheinlicher wird es, dass man es in der Prostitution nur noch mit Menschen zu tun hat, die entweder eine bewusste und damit zu akzeptierende »Berufswahl« getroffen haben oder die Opfer krimineller Aktivitäten und/oder sexueller Gewalt sind. Ohne die Grauzone lassen sich diese Fälle leichter voneinander unterscheiden und den Kriminalitätsopfern kann geholfen werden, ohne die selbstbewusste Entscheidung der Freiwilligen deklassieren zu müssen. Das »Andere« so lange wie möglich zuzulassen, statt es so früh wie möglich zu
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bekämpfen, verhindert eben auch, dass »Kollateralschäden des vermeintlich Guten« entstehen. Wenn diese Denkansätze Eingang in den gesellschaftlichen Diskurs zur Beschaffungsprostitution und zur Migration von Sexarbeiter/-inne/-n finden würden, dann müsste ein ProstG den vielfältigen Facetten der Prostitution gerecht werden und dürfte nicht mehr ausgrenzen. Der Gesetzgeber als Vertreter der Gesellschaft müsste die Betroffenen in ihrem spezifischen sequentiellen Lebenskontext ernst nehmen und akzeptieren. Damit entstünde die Möglichkeit einer individuellen Handlungskompetenz. Durch gezielte Veränderungen im Ausländerrecht, im BtMG und in den Sperrgebietsverordnungen könnten die betroffenen Menschen in die Lage versetzt werden, sich bewusst für verschiedene Lebensoptionen zu entscheiden, und sie würden mit Rechten ausgestattet, die es ihnen ermöglichen, ihre Abhängigkeiten in erheblichem Maße zu verringern.
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Zur Verhäuslichung der Prostitution in Frankfurt/Main | 177
»Eine umfangreiche Konzeption, die Dirnen von den Straßen zu holen«. Zur Verhäuslichung der Prostitution in Frankfurt/Main Martina Löw/Renate Ruhne (unter Mitarbeit von Christiane Howe und Regine Henn)
Prostitution und »das dazugehörige Milieu ist als Subkultur in Frankfurt/Main traditionell gewachsen und wird – solange sie sich im Rahmen der Legalität bewegt – akzeptiert«1, wie eine Studie zum Thema für die jüngere Vergangenheit feststellt. Gleichzeitig ist das Frankfurter Prostitutionsgeschehen aber auch seit Jahrzehnten heftig umstritten und deutlichen Wandlungsprozessen unterworfen2, die das »traditionelle Wachstum« bis in die heutige Situation stark bestimmen. Im vorliegenden Aufsatz wird diese ambivalente Konfiguration aus Akzeptanz und Abwertung in ihren räumlichen Dimensionen analysiert. Richtet man den Blick auf die sich wandelnden räumlichen Arrangements des Prostitutionsmilieus, so zeigt sich für Frankfurt am Main eine bislang kaum beachtete Verlagerung der Handlungskontexte der Sexarbeit. Im Zeitraum von 1960 bis 1990 lässt sich eine sukzessive Verhäuslichung der Szene beobachten, d.h. ein »Verschwinden« der Sexarbeiterinnen aus dem Straßenbild, das mit einer zunehmenden Organisation des Gewerbes in geschlossenen Häusern einhergeht3 1 | Beate Leopold/Elfriede Stefan/Nikola Paul: Dokumentation zur rechtlichen und sozialen Situation von Prostituierten in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin/Köln 1997, S. 154f. 2 | Vgl. ebd. und Hubert Beste: Morphologie der Macht. Urbane »Sicherheit« und die Profitorientierung sozialer Kontrolle, Opladen 2000. 3 | Nicht berücksichtigt wird hier die so genannte ›Beschaffungsprostitution‹ intravenös Drogenabhängiger, da diese sich als eine »spezifische […] Problematik […] von der ›normalen‹ Prostitution erheblich unterscheidet« (Ruth Silke Laskowski: Die Ausübung der Prostitution. Ein verfassungsrechtlich geschützter Beruf im Sinne von Art. 12 Abs. 1 GG, Frankfurt am Main 1997, S. 91.): Intravenös drogenabhängige Prostituierte sind nach
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178 | Martina Löw/Renate Ruhne und nicht nur das Feld der Prostitution, sondern auch den öffentlichen Raum der Stadt Frankfurt deutlich verändert hat. Eine ähnliche Entwicklung – nämlich eine Zunahme der »indoor prostitution« – wird heute nicht nur in Deutschland insgesamt,4 sondern auch in ganz Europa festgestellt.5 Die damit einhergehenden Veränderungen sind bisher jedoch kaum untersucht. Der Begriff der »Verhäuslichung« wird von uns in diesem Zusammenhang nicht als eine langfristige zivilisatorische Bindung an dauerhafte Befestigungen mit der Abschirmung gegen den natürlichen Untergrund, den Himmel und die Nachbarn6 gefasst, sondern – eine solche Argumentation erweiternd – als Strategie der Vertreibung aus dem öffentlichen Raum bei gleichzeitiger »Domestizierung«. Wie Jürgen Zinnecker7 für das Verschwinden der Straßenkindheit zeigt, lässt sich Verhäuslichung als eine »Sozialtechnologie« beschreiben, bei der es darum geht, »gesellschaftliches Handeln langfristig zielgerichtet, plan- und präzise wiederholbar, somit über Zeiten und beteiligte Personen berechenbar zu gestalten. Durch Verhäuslichung lassen sich Handlungs-Sequenzen […] wirkungsvoll hierarchisieren, sozial kontrollieren und mit unterschiedlichen Ressourcen ausstatten.«8
Wie wir im Folgenden noch zeigen werden, ist diese Strategie viel umfassender als Zinnecker u.a. erwarten. In Frankfurt am Main zeigt sich im Umgang mit der Sexarbeit deutlich der Versuch, das als »ordinär« gesetzte Andere aus dem öffentlichen Raum zu vertreiben: Zwar wird die Prostitution aus den Straßen verbannt, gleichzeitig zeigen die Redeformen, dass keineswegs nur die Sexarbeit anstößig ist, sondern vor allem auch die in sie eingebettete Inszenierung einer »Straßenkultur« (und damit einer »proletarischen Kultur«). den Erkenntnissen einschlägiger Arbeiten »primär als Drogenabhängige und erst sekundär als Prostituierte einzuordnen« (ebd., S. 81.). 4 | Laut einer Befragung von TAMPEP findet in Deutschland heute ca. 80% der Sexarbeit ›indoor‹ statt (vgl. Veronica Munk: Ein rückschrittliches Europa im XXI. Jahrhundert. Vortrag im Rahmen der 37. Fachtagung Prostitution. Oer-Erkenschwick, unveröffentl. Ms. 2006). 5 | Vgl. ebd. 6 | Vgl. Norbert Elias: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische psychogenetische Untersuchungen, Frankfurt am Main 1976 [1939] und Peter R. Gleichmann: »Wandel der Wohnverhältnisse. Verhäuslichung der Vitalfunktionen«, in: Zeitschrift für Soziologie 5 (2002), S. 319-329. 7 | Z.B. Jürgen Zinnecker: »Vom Straßenkind zum verhäuslichten Kind. Kindheitsgeschichte im Prozeß der Zivilisation«, in: Imbke Behnken (Hg.), Stadtgesellschaft und Kindheit im Prozeß der Zivilisation. Konfigurationen städtischer Lebensweise zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Opladen 1990, S. 142-162. Siehe auch bereits Imbke Behnken/Jürgen Zinnecker: »Vom Straßenkind zum verhäuslichten Kind. Zur Modernisierung städtischer Kindheit 1900-1980«, in: Sozialwissenschaftliche Information 4 (1987), S. 87-96. 8 | J. Zinnecker: »Vom Straßenkind zum verhäuslichten Kind«.
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Rekonstruiert werden die im Folgenden aufgegriffenen Wandlungsprozesse vermittels einer inhaltsanalytischen Auswertung von im Stadtarchiv Frankfurt archivierten Medienberichten und Dokumenten zur lokalen Situation ab Ende der 1950er Jahre.9 Die Relektüre von mehr als 45 Jahren Berichterstattung über die Frankfurter Prostitutionsszene bietet Einblicke in die Diskurse und Wahrnehmungsmuster der Frankfurter Medien sowie in die in den Zeitungen markierten und damit auch im Wissenskorpus der Bewohner/-innen herausgehobenen Ereignisabfolgen. Da Medienberichte allein noch keineswegs ein zu verallgemeinerndes Feld der lokalen Wissensproduktion darstellen, wird die Presse- und Dokumentenanalyse durch eine Sekundärliteratur-Analyse relevanter Veröffentlichungen zur Thematik sowie durch eine Auswertung von »Erzählungen« über die jüngere Geschichte der Sexarbeit in Frankfurt am Main, die durch Expert/-inn/-enbefragungen10 gewonnen werden konnten, erweitert. Über die in dieser Form kritisch erweiterten Wahrnehmungsweisen und Relevanzsetzungen von Journalist/-inn/-en können so kollektiv geteilte Deutungsmuster der Entwicklung nachgezeichnet werden. Die Auseinandersetzung mit den immer wieder heftig umstrittenen Ereignisabfolgen um die Frankfurter Prostitutionsszene fokussiert nicht nur auf die auch in anderen Studien zum Thema immer wieder nahezu »selbstverständlich« aufgegriffene Kategorie »Geschlecht«, sondern auch auf die Kategorie des Raumes als eine sozialwissenschaftliche11 und für das Thema Prostitution hochrelevante Kategorie. In der prozesssoziologischen Rekonstruktion der Ereignisse und ihren »historischen Sedimentbildungen« werden räumlich und geschlechtlich konnotierte Strukturen und Prozesse zudem als ein von gesellschaftlichen Machtverhältnissen bestimmtes »Wirkungsgefüge« gefasst.12 Ein solches Wirkungsgefüge zwischen Raum und Geschlecht als methodologisches 9 | Die Analyse ist Teil eines DFG-finanzierten Forschungsprojektes zum Themenfeld »Das Wirkungsgefüge von Raum und Geschlecht am Beispiel Prostitution in Frankfurt am Main«. Im Folgenden werden folgende Abkürzungen für Frankfurter Zeitungen verwendet: FR für Frankfurter Rundschau, FAZ für die Frankfurter Allgemeine Zeitung, FNP für die Frankfurter Neue Presse. Alle anderen Zeitungen werden mit vollem Namen zitiert. 10 | Als Expert/-inn/-en wurden u.a. Vertreter/-innen der Polizei, des Gesundheitsund des Ordnungsamtes, der Ausländerbehörde, der Frankfurter Stadtregierung sowie von Prostituierten-Beratungseinrichtungen, ein Sozialwissenschaftler mit Forschungserfahrung im lokalen Feld und eine der Moderator/-inn/-en des Frankfurter ›Runden Tischs‹ zur Prostitution befragt, d.h. Personen, die sich durch ›Insider-Erfahrungen‹ bzw. einen ›Wissensvorsprung‹ auszeichnen, oder auch – anders ausgedrückt – durch eine ›institutionalisierte Kompetenz zur Konstruktion von Wirklichkeit‹ (vgl. Ronald Hitzler/ Anne Honer/Christoph Maeder (Hg.): Expertenwissen. Die institutionalisierte Kompetenz zur Konstruktion von Wirklichkeit, Opladen 1994). 11 | Vgl. Martina Löw: Raumsoziologie, Frankfurt am Main 2001. 12 | Vgl. Renate Ruhne: Raum Macht Geschlecht. Zur Soziologie eines Wirkungsgefüges am Beispiel von (Un)Sicherheiten im öffentlichen Raum, Forschung Soziologie, Bd. 193, Opladen 2003.
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180 | Martina Löw/Renate Ruhne Instrumentarium zugrunde legend, wollen wir im Folgenden einer sich durch die Medienberichte ziehenden, schleichenden und in einschlägigen Forschungsarbeiten bisher kaum beachteten Veränderung näher nachgehen: In Frankfurt verliert zwischen 1960 und 1990 der Straßenstrich völlig an Bedeutung.13
Verhäuslichung als räumlich-sozialer Wandel der Prostitution in Frankfurt/Main Wie Medienberichte, städtische Dokumente und auch die Fachliteratur verdeutlichen, wird das Prostitutionsgeschehen in Frankfurt schon in den 50er/60er Jahren als ein »Problem« registriert, allerdings vor allem als ein Problem des öffentlichen Straßenraumes. Die als verbreitet und weiter zunehmend wahrgenommene Straßenprostitution insbesondere im zentralen »Bahnhofsviertel«14 veranlasst die Stadt schon früh, Maßnahmen zu treffen. In einer ersten »Sperrgebietsverordnung«, die durch Erlass der hessischen Landesregierung Anfang der 60er Jahre Gültigkeit erlangt,15 sollen dem Geschehen stadträumliche »Grenzen gesetzt« werden: Das »gesamte Innenstadtgebiet in den Grenzen des Anlagenrings, das Bahnhofsviertel, der Stadtwald und die Ausfallstraßen«16 werden nun zu Sperrgebieten für Prostitution erklärt. Auch wenn der Kampf um das »Dirnenunwesen« in Frankfurt so eine neue ordnungspolitische Grundlage erhält, bleibt die räumliche Verteilung des Geschehens in der Bevölkerung aber umstritten und die Platzierung der Sexarbeiterinnen verändert sich zunächst nur tendenziell. Vor allem in Bezug auf das Bahnhofsviertel zeigt die Verordnung wenig Wirkung. Dieses bleibt ein wesentlicher Ort der (Straßen-) Prostitution und so »kurvten die Prostituierten«17 vor allem im »zum Sperrgebiet für Dirnen erklärten Bahnhofsviertel«18 auch weiterhin und deutlich sichtbar zum Beispiel »in offenen Sport-Coupés ums Karree«.19 Erklärt wird dies in der medialen Aufbereitung vor allem damit, dass
13 | Abgesehen vom Beschaffungsstraßenstrich im Bahnhofsviertel, der aber eher durch die Drogenproblematik bestimmt ist als durch das Prostitutionsgeschehen. 14 | Für die 60er Jahre kann »von etwa 1000 registrierten Prostituierten und ebensoviel so genannten ›Wilden‹ ausgegangen« (H. Beste: Morphologie der Macht, S. 253) werden. 15 | Veröffentlicht wurde die Sperrgebietsverordnung am 28.12.1960 im hessischen Staatsanzeiger (vgl. FR vom 5.2.1970). 16 | Cora Molloy: Hurenalltag. Sperrgebiet – Stigma – Selbsthilfe. Materialien zur Sozialarbeit und Sozialpolitik, Frankfurt am Main 1992, S. 46. 17 | FR vom 15.5.1982: Rückblick. 18 | Ebd. 19 | Ebd.
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Zur Verhäuslichung der Prostitution in Frankfurt/Main | 181 »die Gegend einerseits relativ fest in den Händen der Ex-Unterwelt war, andererseits ihre Lage in der Nähe des durch den Hauptbahnhof repräsentierten Verkehrsknotenpunktes gute Umsätze versprach«.20
Trotz verstärkter strafrechtlicher Verfolgung der Prostitution in den Sperrzonen zeigt sich so vor allem im Bahnhofsviertel ein erstaunliches »Beharrungsvermögen«. Gleichzeitig forciert die Sperrgebietsverordnung in Bezug auf das gesamte Stadtgebiet aber auch eine räumliche Verschiebung des Geschehens: Schon die Sperrbezirkspläne hätten eine abschreckende Wirkung gehabt und den grundsätzlichen »Zustrom von Prostituierten« von außerhalb der Stadt verringert, wie die FAZ beispielsweise am 22.10.1960 berichtet. Im Stadtwald erziele der zunehmende Druck der Polizei auf Prostituierte und Zuhälter »einen durchschlagenden Erfolg bei der Bekämpfung des Dirnenunwesens«,21 und auch von den Ausfallstraßen der Stadt habe man die Prostituierten bereits erfolgreich »fortgebracht«.22 Eine solche, zumindest in Teilen erreichte Veränderung der räumlichen Verteilung der Prostitution in der Stadt hat jedoch gleichzeitig unintendierte Folgen: »Hunderte von Frauen«23 suchen sich nun einen neuen Standort, um ihrem Gewerbe weiter nachgehen zu können. So habe man die Prostituierten zwar an einigen Orten vertreiben können, diese bewegten sich jetzt aber unübersehbar in anderen Stadtteilen24, eine Beruhigung der konflikthaften Auseinandersetzungen um das Thema Prostitution scheint so keineswegs erreicht worden zu sein. Die durch repressive Maßnahmen bewirkte Verlagerung der Prostitution in Außen- und Wohnbezirke trifft in der Bevölkerung ganz im Gegenteil auf deutliche Widerstände. In verschiedenen Wohnvierteln »verschont« man nun »die Polizei nicht mit Beschwerden«25, wobei gegen Ende der 60er Jahre vor allem das Westend und der Stadtteil Sachsenhausen eine besondere öffentliche Aufmerksamkeit erhalten.26 Vor dem Hintergrund zunehmender Proteste verstärken »Sonderkommandos der Frankfurter Schutz- und Kriminalpolizei«27 bereits Mitte der 60er Jahre auch in diesen Gebieten ihren »Kampf gegen das Dirnenunwesen«.28 Als ein Problem wird aber vor allem die im Straßenbild des Bahnhofsviertels weiterhin sichtbare Prostitution wahrgenommen.
20 | Ebd. 21 | FR vom 14.10.1961. 22 | FNP vom 17.10.1961. 23 | C. Molloy: Hurenalltag, S. 46. 24 | FNP vom 17.10.1961; ausführlich auch C. Molloy: Hurenalltag. 25 | FNP vom 17.10.1961. 26 | Vgl. z.B. FNP vom 12.7.1968; FR vom 19.7.1968; FR vom 8.8.1968. 27 | FNP vom 7.11.1963. 28 | Ebd.
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182 | Martina Löw/Renate Ruhne
Auffällig werden Ein zentraler Topos der 60er Jahre-Berichterstattung in Frankfurt kreist immer wieder um die Wahrnehmung, dass sich »die Vergnügungsbetriebe gerade in einem Durchgangsgebiet wie dem Bahnhofsviertel […] massieren«29, wobei vor allem »die große Zahl der Prostituierten […] unangenehm«30 auffiel. Insbesondere das Bahnhofsviertel wird nahezu durchgehend als ein Ort beschrieben, an dem »die Damen […] immer zahlreicher wurden und immer unangenehmer auffielen«.31 Bei der Klassifizierung »unangenehmer Auffälligkeiten« des prostitutiven Geschehens werden dabei allerdings durchaus Differenzierungen eingezogen. Ein Frankfurter Richter stellt zum Beispiel fest: »Für den Begriff ›auffällig‹ sind weniger moralische als ästhetische Gesichtspunkte ›entscheidend. […] Es sei eben ein Unterschied, ob sich eine ordinäre, dreckige Straßendirne irgendwo rauchend unter einer Laterne herumlümmele oder eine junge und gepflegte ›Dame‹ ruhig an der Ecke stehe. Das Stichwort laute: ›Qualitätsauslese‹. Hübsche Dirnen mit solidem Äußeren hätten damit größere Chancen, rechtlich über die Runden zu kommen.«32
Auch ein »Hotelier« im Bahnhofsviertel meint, »es sei […] hinzunehmen, wenn einige ›Edeldamen‹ mit ihren Luxusautos nachts um den Kaiserbrunnen kreisten oder sich in einigen Lokalen der Kaiserstraße zum Kundenfang aufhielten. Die Plage stelle das ›Fußvolk‹ dar«33, welches durchaus auch männlich sein kann: »In späten Abendstunden« lungerten so zum Beispiel »um die Parkometer Zuhälter, Dirnen, Amigos, östliche Kultursendlinge herum« und machten »dem Autobesitzer, der dort parken möchte, nicht einmal Platz, um den Groschen einzuwerfen«.34 Und in der Frankfurter Rundschau ist exemplarisch zu lesen: »Wir haben ja grundsätzlich nichts gegen die Dirnen – es gibt viele saubere unter ihnen. Aber die Folgen, all die Betrunkenen, die sich vor unseren Türen aufführen, daß es morgens aussieht wie in einem Schweinestall – das ist das eigentliche Übel.«35
In ähnlicher Weise berichtet die FR auch am 19.7.1968 aus Sachsenhausen und dem Frankfurter Westend: »In den letzten Monaten hat der nächtliche Betrieb für die Nachbarn unzumutbare Formen angenommen. Stundenlang umrunden die Straßenkreuzer der Mädchen und die 29 | FAZ vom 11.9.1964. 30 | Ebd. 31 | FAZ vom 2.8.1968. 32 | FR vom 11.11.1968. 33 | FNP vom 17.2.1966. 34 | Frankfurter Latern vom 3. 10.1958. 35 | Nach FR vom 8.2.1966.
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Zur Verhäuslichung der Prostitution in Frankfurt/Main | 183 ihrer ›Beschützer‹, manchmal mit aufheulenden Motoren, quietschenden Bremsen und lärmenden Radios, den Wohnblock. Aber auch die motorisierten Kunden selbst tragen nicht gerade zu nächtlicher Stille bei.«36
Viele kritische Stimmen in Bezug auf die Straßenprostitution bedienen sich einer Differenzkonstruktion. Die der Prostitution nachgehenden Frauen werden in zwei Gruppen aufgeteilt: Die eine Gruppe wird als dreckig, ordinär, rauchend, herumlümmelnd beschrieben, die andere als jung, gepflegt, hübsch mit solidem Aussehen, sauber, ruhig stehend. Alle Eigenschaften auf sich vereinend, die eine gut erzogene junge Frau mit sich bringen soll (kein unkontrollierter Bewegungsdrang, gepflegt und sauber), ermöglicht die Konstruktion einer »guten Prostituierten« den Berichterstatter/-inne/-n, Sexarbeit zwar einerseits kritisieren zu können, diese aber andererseits keineswegs völlig ablehnen zu müssen. Die gehobene Prostituierte – zuweilen auch beschrieben als »Edeldame mit Luxusauto« – hätte man auf den Straßen geduldet, die hässlichen, ordinären Huren aber fallen unangenehm auf. Mit ihnen stören auch die von redlichen »Autobesitzern« unterschiedenen »Zuhälter, Amigos, östliche Kultursendlinge«37 ebenso wie das Fußvolk, das sich nicht mehr an Tag-Nacht-Rhythmen hält, herumlungert und den »sauberen«, »soliden« Bürgern den öffentlichen Raum der Stadt streitig macht. Begründet wird eine Ablehnung dabei nicht nur über an die Person von Prostituierten und/oder Freiern gerichtete Zuschreibungen, sondern explizit auch über die »Folgen« des Handelns für den Stadtraum, der »morgens« z.B. »aussieht wie ein Schweinestall«, was als das »eigentliche Übel« wahrgenommen wird. Zum Ausdruck kommt hier ein – gerade in einer vom (Klein-)Bürgertum geprägten Stadt wie Frankfurt am Main38 besonders deutlicher – Kampf um den öffentlichen Raum, der mit abwertenden symbolisch-bildhaften Aufladungen wie derjenigen vom »Schweinestall« geführt wird, aber auch als eng verknüpft mit Kapitalinteressen wahrgenommen wird. Das Bahnhofsviertel ist ein Zentrum der Stadt. Frankfurt hatte sich 1956 mit dem »Gesetz zur Aufhebung der Beschränkung des Niederlassungsbereichs von Kreditinstituten« zur Bankenstadt gewandelt.39 Die Phase der Konsolidierung nach dem Zweiten Weltkrieg ist beendet. 1960 datiert Marianne Rodenstein für Frankfurt den Beginn der »radikalen Modernisierung« mit »Hochhäusern als Symbole rücksichtslosen Kapitalismus«.40 Zeitgleich artikuliert sich nun der Wunsch, das »unangenehme Auffallen« der Prostitution vor allem im Bahnhofsviertel der Stadt zu been-
36 | FR vom 19.7.1968. 37 | Frankfurter Latern vom 3.10.1958. 38 | Vgl. Gisela Engel/Ursula Kern/Heike Wunder (Hg.): Frauen in der Stadt – Frankfurt im 18. Jahrhundert, Königstein i. T. 2002. 39 | Ausführlich Marianne Rodenstein (Hg.): Hochhäuser in Deutschland. Zukunft oder Ruin der Städte, Stuttgart 2000, S. 33. 40 | Ebd.
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184 | Martina Löw/Renate Ruhne den – allerdings möglichst ohne andere Stadtteile zu »belasten«.41 Der »Kampf gegen die Prostitution« konzentriert sich in diesem Zusammenhang verstärkt auf eine gezielte Verhinderung der Straßenprostitution.42 Ende der 60er Jahre fällt so u.a. die Entscheidung, dass »nicht nur das Sittenkommissariat der Kripo, die Schutzpolizei und das 4. Revier ›Dirnenstreifen‹ in das gefürchtete Bahnhofsviertel entsenden, sondern auch von der Polizeiinspektion West ein zehnköpfiges ›Sonderkommando‹ gegründet wurde, dessen Beamte in Zivil […] vor allem […] zur Bekämpfung der Straßenprostitution eingesetzt werden«.43
Von der Straße holen Vor dem Hintergrund der Wahrnehmung, dass der »aussichtslose Kampf der Polizei gegen die Dirnen«44 mit den bisherigen Mitteln nicht zu gewinnen sei, beschließt die Stadt Frankfurt im Jahr 1969, dem Bauunternehmer Willi Schütz die Genehmigung für ein erstes Großbordell in der Elbestraße 49-53 zu geben.45 Unterstützt wird ein solches Vorhaben auch vom damaligen Polizeipräsidenten Littmann: Konfrontiert mit einer Vielzahl von Forderungen »auf Einrichtung von Dirnen-Sperrbezirken«46 in unterschiedlichen Stadtgebieten, sieht dieser »in der Schaffung eines ›Eros-Centers in City-Nähe‹ zur Zeit den einzig brauchbaren Weg, der Flut von Beschwerden über das Dirnenwesen in Wohngebieten Herr zu werden«.47 Wesentlicher Hintergrund der Etablierung eines ersten Großbordells im Bahnhofsviertel ist vor allem die als »unkontrollierbar« wahrgenommene Situation der Straßenprostitution, auf die nicht nur die Polizei mit klaren »Präferenzen für die geschlossene Unterbringung von Sexarbeiterin-
41 | Besondere Befürchtungen bezogen sich insbesondere auf eine Abwanderung von Prostituierten in Wohngegenden, »die man früher als ›gut bürgerlich‹ bezeichnete« (FAZ vom 2.8.1968), und insbesondere auf die »Sorge um das gut situierte Westend« (H. Beste: Morphologie der Macht, S. 254) und den Stadtteil Sachsenhausen (vgl. z.B. FR vom 19.7.1968). 42 | Angeregt wird eine solche Strategie auch z.B. durch einen lobenden Bericht des Frankfurter Polizeichefs zur Situation in Essen, wo die Straße, in der die Prostituierten konzentriert seien, »so unauffällig« (FR vom 15.3.1967) sei, dass sie mit »einer harmlosen Wohnstraße« (ebd.) verwechselt werden könne. Als ein Hintergrund wird hier genannt, dass es in Essen keine Straßenprostitution gäbe, da »das Herumstehen auf den Straßen […] dort als unschön« (ebd.) gelte. 43 | FR vom 8.11.1968. 44 | FAZ vom 2.8.1968. 45 | FNP vom 30.4.1986: Rückblick; vgl. auch H. Beste: Morphologie der Macht, S. 254. Die Elbestraße liegt zu dieser Zeit noch innerhalb des eigentlich bestehenden Sperrgebietes. 46 | FNP vom 30.7.1968. 47 | Ebd.
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nen«48 reagiert. Allgemein wird in den zeitnahen Berichten der Journalist/-inn /-en relativ offen die Erwartung einer weit gehenden »Verhäuslichung« der Prostitution formuliert: »Das […] vorgeschlagene Eros-Center könnte Teil einer umfangreichen Konzeption sein, die Dirnen von den Straßen und aus den Wohnbezirken zu holen.«49 »Von der Straße holen« ist eine eingeführte Formulierung, die stets etwas zu Rettendes und einen Rettenden voraussetzt. Im deutschen Wörterbuch50 wird »auf die Straße gehen« nicht nur mit »demonstrieren«, sondern auch mit »Prostituierte werden« erläutert. »Ein Mädchen von der Straße« ist eine Prostituierte, »ein Mann von der Straße« ist laut Wörterbuch jedoch ein »Durchschnittsbürger«. Nun sollen also die Prostituierten von der Straße geholt werden, um sie in ein zentrales Großbordell zu bringen. Die Straßenprostitution wird damit nicht mehr nur als eine besonders unangenehm auffallende und zu verhindernde Form der Prostitution stigmatisiert, sondern zunehmend illegalisiert. Die Formulierung »von der Straße holen« ist zugleich trügerisch. So edel das Anliegen klingt, es geht doch in der Folge nie um das Wohlbefinden der Sexarbeiterinnen. Vielmehr ist stets die Unsichtbarkeit des prostitutiven Geschehens das angestrebte Ziel. In diesem Sinne liest man z.B. 1969 in der Frankfurter Rundschau, dass beim »Eros-Center Elbestraße« »der ›Kontakthof‹ noch überdacht werden« müsse, »damit sich die Anwohner nicht gestört fühlen« und außerdem »Inhaber Schütz gehalten worden [sei], über dem Eingang zum Kontakthof die Leuchtschrift ›Eros-Center‹ zu demontieren«.51 Die von der Stadt unterstützte Eröffnung von Frankfurts erstem »Eros Center« im Bahnhofsviertel stellt so einerseits einen Schritt zur Lösung für die Nutzungskonflikte des öffentlichen Straßenraums dar. Gleichzeitig und andererseits kann und muss diese »Lösung« aber auch als ein »Startschuss für eine neue Entwicklung«52 angesehen werden, die weit gehende Strukturveränderungen vor allem des Bahnhofsviertels zur Folge hat, und die nicht zuletzt »zum wenige Jahre später so bezeichneten ›Sündenbabel Frankfurt‹«53 und das heißt vor allem: zu einer Konzentration des Prostitutionsgeschehens (nun allerdings in geschlossenen Häusern) führen sollte. Die Straßenprostitution wird dabei keineswegs grundsätzlich verboten, sondern – mit dem Argument der »Tradition« – in einigen wenigen Straßenzügen, insbesondere auch des Bahnhofsviertels, zunächst sogar explizit geduldet. Mit diesem Rückgriff auf die Konstruktion traditioneller bzw. etablierter Toleranzzonen beruhigen sich die (grundlegend weiterhin strittigen) Verhandlungen über die stadträumliche Verteilung der Prostitution zumindest vorübergehend:
48 | H. Beste: Morphologie der Macht, S. 255. 49 | FAZ vom 2.8.1968. 50 | Vgl. Wahrig: Deutsches Wörterbuch, Köln 1997. 51 | FR vom 7.8.1969. 52 | Beste: Morphologie der Macht, S. 254. 53 | FR vom 7.8.1969.
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186 | Martina Löw/Renate Ruhne »Die Dirnen halten sich weit gehend an die Toleranzzonen. Es gibt nur wenige Unbelehrbare. Frankfurts Polizei ist mit der Reaktion der Prostituierten auf die am 27. Februar rechtskräftig gewordene neue Sperrverordnung rundherum zufrieden. Zumindest der Straßenstrich vollzieht sich in den von Amts wegen verordneten Bezirken.«54
Vor dem Hintergrund der Entscheidung der Stadt für eine Toleranzzone für Prostitution im Bahnhofsviertel und der gleichzeitig bereits umgesetzten »Materialisierung« dieser Entscheidung in Form eines ersten Großbordells sehen nun aber auch weitere Investoren ihre Chance zur Expansion im Milieu. So steigt in dieser Zeit im Bahnhofsviertel der »Wert baufälliger Häuser […] in astronomische Höhen und die Sozialstruktur des Viertels beginnt sich zu ändern. Wo vorher Kleinkriminelle, Zuhälter, Straßendirnen etc. das Bild prägten, während die ›Großen‹ sich eher im Hintergrund hielten, beginnt die Spekulation in bedeutendem Maßstab«.55
Die Prostitution »ballt« sich nun zunehmend »in den Bordellen der Toleranzzonen zusammen, die einigen wenigen Milieugrößen gehören«.56 Die in der Prostitution arbeitenden Frauen »verschwinden« im Zuge solcher Prozesse langsam, aber sicher von der Straße in die Häuser einiger weniger Bordellbetreiber – erkennbar nicht zuletzt auch an ihrem »Verschwinden« aus der Medienberichterstattung. Ein solcher Prozess des »Verschwindens« verstetigt sich im Laufe der 80er Jahre. Das städtische Bestreben geht weiterhin dahin, »durch eine Zentralisierung des Gewerbes seine ›unangenehmen Begleiteigenschaften‹ wie Straßenprostitution«57 zu unterbinden – auch wenn die anvisierten Standorte dabei lange umstritten und unklar sind. Angestrebt wird dabei nun grundsätzlich vor allem die Form der Bordellprostitution. Auch eine neue Sperrgebietsverordnung, die 1987 in Kraft tritt, und ursprünglich – CDU-intendiert – vor allem das Bahnhofsviertel in Gänze prostitutionsfrei halten sollte, weist letztlich Teile desselben nun als explizite und auch exklusive Toleranzzonen für die Bordellprostitution aus. Flächen für die Straßenprostitution werden kaum noch ausgewiesen und auch kaum genutzt. Geduldet wird außerhalb der Toleranzzonen bis in die heutige Zeit »nur noch die so genannte Wohnungsprostitution«.58 Resümierend kann hier festgestellt werden, dass der Prozess der »Verhäuslichung« der Prostitution, der in Frankfurt in den 1960er Jahren eingeleitet wird, sich über Prozesse einer Konzentration des Gewerbes in kleinen ausgewiesenen Toleranzzonen für Bordelle festigt. Seit ca. 1985 ist die Verdrängung der Prostituierten von den Straßen weit gehend abgeschlossen. Polizeioberrat Philippi wird zitiert mit den Worten: 54 | FR vom 29.5.1973. 55 | H. Beste: Morphologie der Macht, S. 255. 56 | C. Molloy: Hurenalltag, S. 47; Herv. d. V. 57 | H. Beste: Morphologie der Macht, S. 257. 58 | FR vom 10.1.1987.
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Zur Verhäuslichung der Prostitution in Frankfurt/Main | 187 »Nachdem sich die Prostitution von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen in Häusern anbietet, sei das Bild auf der Straße durch sie nicht beeinträchtigt. Es gebe auch keine ›Platzkämpfe‹ mehr wie Anfang der siebziger Jahre. Ferner unterbleiben dadurch auch Körperverletzungs- und Nötigungsdelikte sowohl unter den Dirnen und ihren Zuhältern als auch gegenüber Kunden und Passanten.«59
Die über eine Fokussierung räumlicher Strukturen deutlich werdenden Prozesse der Verhäuslichung haben dabei – neben einer von den Ordnungsbehörden geschätzten »Beruhigung« – weitergehende Wirkungen, die im Folgenden aufgegriffen werden. Aus heutiger Sicht ist die Verhäuslichung, die hier in den Prozessen ihrer Herstellung nachgezeichnet wurde, oftmals scheinbar unerklärlich, wie z.B. der Leiter des zuständigen Kommissariats im Interview verdeutlicht: »Also warum beispielsweise in Frankfurt seit Jahrzehnten die Prostitution sich von der Straße weg in die Häuser verlagert hat, weiß ich nicht.« Ohne auf das gezielte städtische Vorgehen und das heute bestehende, weit gehende Verbot der Straßenprostitution in Frankfurt einzugehen, mutmaßt er weiter: »weil hier die Kunden lieber in einem festen Raum als in einem wankenden Auto zur Sache kommen, ja? Ich weiß es nicht.«
Geschlechterarrangements Die Geschlechtsspezifik des Verdrängens der Frauen von der Straße zeigt sich nicht nur darin, dass es weibliche Prostituierte sind, die hier verdrängt werden, sondern auch darin, dass das, was von der Straße verschwunden ist bzw. dem Licht der Öffentlichkeit entzogen werden soll – und das zuweilen als das »jugendgefährdende Potential« der Sexarbeit bezeichnet wird –, der anwesende, und auch der sexualisiert abgebildete weibliche Körper ist. Der Frankfurter Stadtkämmerer a.D. berichtet aus seiner Zeit als Dezernent des Gewerbe- und Ordnungsamtes: »[D]as war ein Zusammenschluss der Kirchen und der Schulen, unterstützt von der Staatsanwaltschaft und die wollten […] das eindämmen und zurückdämmen, weil das immer mehr Überhand genommen hat. Es haben damals noch viele Familien dort [im Bahnhofsviertel, d. V.] gewohnt, Kinder sind hier in die Schule gegangen, sind also vor den Schaukästen vorbei und haben […] da die Nacktfotos gesehen, also da gab es eine Initiative […] und es ist dann ein bisschen regulierend eingegriffen worden.«
Resümierend stellt er weiterhin fest: »[…] [d]as hat man schon als eine Verbesserung angesehen, wenn man dann erreichen konnte, dass diese Aushänge tagsüber verdeckt waren und sie sind abends erst […]. Heute würde da kein Mensch auf die Idee kommen, heute ist ja auch Rundumbetrieb.«
59 | FNP vom 17.1.1985.
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188 | Martina Löw/Renate Ruhne Zur damaligen Zeit aber werden in den Zeitungen »Eltern […] aufgerufen, ihre Verantwortung für ihre Töchter mehr wahrzunehmen, als es mitunter geschieht. Diese Dammbrüche im Bahnhofsviertel müssen abgestellt werden«60 und Mütter schildern, dass »13jährige Mädchen frühmorgens auf ihrem Weg zur Schule von ›Anreißern‹ in Bars gezogen werden«.61 Jugendschutz wird in der Praxis interpretiert als Schutz vor der unterstellten Anziehungskraft und Gewalt des Milieus vor allem für Mädchen. Anlässlich eines Besuchs von Jugendschutzbeamten aus mehreren Großstädten betont die FAZ 1964, es sei »deutlich, wie sehr das Zwielicht gerade junge Menschen lockt und wie schnell dann der Weg bergab geht. ›Von der Bardame oder der Serviererin bis zum Animiermädchen sind es oft nur ein paar Tage‹. […] Damit sind dann meist die Würfel schon gefallen.«62
Die Frankfurter Rundschau veröffentlicht 1968 Äußerungen des Pflegeamtes über »junge […] Mädchen«, die den »Verlockungen der Großstadt – und oft der Prostitution«63 erlegen seien und »offen« erklärten: »Ich will auf den Strich gehen.«64 Die Attraktivität, »›nebenbei‹ rasch einen Hunderter [zu] verdienen«, erscheine gerade jungen Mädchen groß65, »das Risiko eines solchen Lebens« könne gleichzeitig noch kaum eingeschätzt werden.66 Die Gefährdung der Jugend wird gerade in den 50er und 60er Jahren oft angesprochen. Konkretisiert werden die »Gefahren« dabei allerdings kaum, und wenn, dann wird allgemein das »Ziehen und Gezogenwerden« junger Mädchen in das Prostitutionsmilieu als Gefahrenszenario aufgegriffen. Die einzige Information, die Leser/-innen erhalten, ist die, dass der Weg abwärts geht: Der in der Rede über die Prostitution mitschwingende soziale Abstieg ist das artikulierte Problem. Jugendschutz ist bis heute das durchgängige und zugkräftigste Argument zur Regelung der Sexarbeit im städtischen Raum. Jede Sperrgebietsverordnung wird darüber begründet, ohne dass die Gefährdung der Jugendlichen wissenschaftlich nachvollzogen und belegt wäre. Eine Gefährdung und damit einen sozialen Abstieg der Jugend vor dem inneren Auge der Leserschaft aufzurufen, scheint ohne weitere Begründung ausreichend, um die Notwendigkeit des Verbergens der Sexarbeit einsichtig werden zu lassen. Begleitet werden die Verweise auf die Mädchen- bzw. Jugendgefährdung von Äußerungen der Sorge um die Verdrängung »anständiger« Töchter und Ehefrauen aus dem öffentlichen Stadtraum. Bei einer Aussprache mit Kriminaldirektor Albert Kalk über die Auswirkungen der Sperrbezirke, die »gegen ›gewisse‹ Damen verhängt worden sind«67, wird im Kreise von Pressevertretern so bei60 | FNP vom 1.9.1959. 61 | FNP vom 2.7.1970. 62 | FAZ vom 11.9.1964. 63 | Nach FR vom 13.11.1968. 64 | Ebd. 65 | Ebd. 66 | Ebd. 67 | FNP vom 17.10.1961.
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spielsweise angemerkt, dass das »Ausmaß der Belästigungen, dem allein gehende Frauen und Mädchen in Frankfurts Straßen abends ausgesetzt sind, […] haarsträubend« sei.68 Ein Leser der FR kommentiert: »Wenn man bordellartige Betriebe in der Breiten Gasse stillschweigend duldet, so doch nur zu dem Zweck, anständige Mädchen vor Zudringlichkeiten oder Belästigungen zu schützen«,69 und frage man Geschäftsleute, Anwohnende oder auch »Hausfrauen dieser Straße70, so höre man ähnliche Klagelieder. Selbst alte Frauen würden belästigt. Am Vormittag gehe es noch – aber schon am Nachmittag gäben sich die Freier die Türklinken in die Hand.«71
Zur Verknüpfung von Prostitution und (bürgerlichem) Geschlechterverhältnis schreibt der Soziologe Helmut Schelsky, »dass sie [die Prostitution, d. V.] immer eine sozial verachtete, aber zugleich erlaubte Geschlechtsbeziehung darstellt. Gesellschaftliche Diffamierung und Konventionalisierung des außerehelichen Geschlechtsverkehrs verbinden sich in der Einrichtung der Prostitution: diese Einheit stellt die eigentliche Strukturfrage der soziologischen Deutung dieser Institution dar. […] Diesen Charakter gewinnt die Prostitution nun primär als Widerspiel einer Eheform, die den Anspruch macht, alle Sexualbeziehungen in der Ehe zu monopolisieren.«72
Was Schelsky hier zeitnah in soziologische Worte fasst, durchzieht den Zeitgeist der 50er und 60er Jahre besonders deutlich. Einerseits ist Prostitution konventionalisiert, d.h. im Regelwerk des Tradierten verankert, gleichzeitig und andererseits wird sie aber dennoch diffamiert. Die Abwehr gegen die Prostitution erklärt Schelsky aus der bürgerlichen Eheform, welche die Sexualität auf die Monogamie zentralisiert. Die Sichtbarkeit einer konventionalisierten, außerehelichen Sexualität ist in diesem Zusammenhang eine permanente Bedrohung der »Glaubwürdigkeit« der Institution Ehe. In einem solchen »Setting« erscheinen Frauen und Mädchen als einerseits davon bedroht, in die Prostitution abzudriften, andererseits aber auch davon, mit Prostituierten »verwechselt« und von Freiern angesprochen zu werden. Stellungnahmen zum Problem des Ansprechens von Frauen im öffentlichen Raum sind dabei meist aus der Perspektive von Männern formuliert, die die Grenze zwischen »ihren« Frauen und den Huren klar gezogen wissen wollen. In keinem Artikel sorgt sich ein Mann darum, mit »Kunden« bzw. »Freiern« verwechselt zu werden.73 68 | Ebd. 69 | FR vom 9.5.1959, Leserbrief. 70 | Gemeint ist die Taunusstraße im Bahnhofsviertel. 71 | FR vom 9.2.1966. 72 | Helmut Schelsky: Soziologie der Sexualität, Hamburg 1955, S. 41. 73 | Auch sorgt sich keine Frau darum, dass ihr Mann möglicherweise als »Freier« angesprochen werden könnte.
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190 | Martina Löw/Renate Ruhne Eine Gesellschaft, in der eine soziale Institution wie die der monogamen Ehe neben einer ebenfalls institutionalisierten außerehelichen, bezahlten Sexualität etabliert ist, braucht eine klare Unterscheidung der Frauengruppen. Erst die klare Differenzierung zwischen »Huren« und »anständigen Frauen« ermöglicht die Aufrechterhaltung sich eigentlich gegenseitig ausschließender sozialer Konventionen. Nun wäre es einfach, würde es sich bei dem Kampf um den öffentlichen Raum des Bahnhofsviertels nur um die Organisation vergeschlechtlichter Konventionen handeln. Tatsächlich teilt sich in den Zeitungsberichten darüber hinaus der Wunsch mit, den öffentlichen Raum der Straße von den Inszenierungen jener gesellschaftlichen Gruppen freizukämpfen, die als ordinär, dreckig, herumlümmelnd stigmatisiert werden. Die sozialen Konstruktionen »Raum« und »Geschlecht« verschränken sich hier mit Deutungsmustern von »Klasse« bzw. »Schicht«. Die Art und Weise, wie auf die Prostituierten und ihr soziales Umfeld Bezug genommen wird, zeigt, dass nicht nur Sexualitätsformen unterschieden werden sollen, sondern dass auch als Unterschicht wahrgenommene Personengruppen die Idee vom eigenen öffentlichen Raum stören. Die sich prostituierenden Frauen und ihr Männerumfeld (Zuhälter, Wirtschafter, Aufpasser, Kunden) sollen wegen »unangenehmen Auffallens« von der Straße verschwinden. Wenn als »unangenehmes Auffallen« dabei das Assoziationsfeld von Dreck, Vulgarität, Lasterhaftigkeit (z.B. durch öffentliches Rauchen und arbeitsloses Herumlümmeln) aufgerufen wird, dann wird die legitime Anwesenheit im öffentlichen Raum an (klein-)bürgerliche Tugenden gebunden. Das »anständige«, »saubere« (Klein-)Bürgertum grenzt sich von unteren sozialen Schichten ab, denen die als »unangenehm auffallend« ausgewiesenen Eigenschaften zugeschrieben werden. Dabei werden Frauen und Männer aber durchaus unterschiedlich angesprochen. Frauen werden meist über ihren Körper klassifiziert: Hier wird beschrieben, ob sie sauber und/oder hübsch sind, welche Haltung sie einnehmen, ob sie rauchen. Männer fallen dagegen z.B. durch ihre ziellose Anwesenheit und ihr »Platz wegnehmen« unangenehm auf. Gemeinsam ist den Beschreibungen beider Geschlechter dabei eine Beurteilung über das Autofahren: nicht zu fahren, gilt hier als ebenso problematisch wie zu schnell (an-)zufahren. Offensichtlich gibt es auch eine Standardisierung des »anständigen Autofahrens«. In einer Phase, in der in Deutschland (und so auch in Frankfurt)74 die autogerechte Stadt realisiert werden soll, bedienen sich einige wenige (gleichwohl häufig erwähnte) Prostituierte gerade jenes Symbols, das mehr als alle anderen Aufmerksamkeit garantiert: Sie fahren teure Autos. Und die Kritiker wissen zu bemerken: Sie und ihre Freunde fahren zu laut und zu schnell.75 Prostituierte, die 74 | M. Rodenstein (Hg.): Hochhäuser in Deutschland, S. 35. 75 | Die Bedeutung der Straßenkultur gerade im Arbeitermilieu ist in der soziologischen Literatur nicht unbekannt. William Foote Whyte z.B. (Die Street Corner Society, Berlin 1996 [1943]) beschreibt sie als »street corner society«. Tilmann Allert (»Kumulativer Anerkennungszerfall. Perspektiven für die Analyse von Jugenddelinquenz im Großstadtmilieu«, in: Stefan Hradil (Hg.), Differenz und Integration. Die Zukunft moderner Gesellschaften. Verhandlungen des 28. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Sozio-
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demonstrativ mit »Straßenkreuzern« öffentliche Aufmerksamkeit erregen, sind heute aus dem Frankfurter Stadtbild ebenso verschwunden wie eine demonstrative Zurschaustellung durch ein Stehen und/oder Gehen im öffentlichen Straßenraum. Verhäuslichung ist, wie Jürgen Zinnecker76 ausführt, ein Prozess, bei dem der Hör-, Seh- und Geruchskontakt zwischen innen und außen unterbrochen wird. Ziel ist die Verlagerung von Tätigkeiten in geschlossene Räume, um sie besser kontrollieren zu können. »Verhäuslichte Handlungsorte sind dauerhafter, aber auch starrer festgelegt als vergleichbare nicht-verhäuslichte.«77 Für Kinder ist dieser Prozess gut erforscht. Für bürgerliche Kinder wird es ab 1800 unziemlich, auf der Straße zu spielen. Das Stadtbürgertum institutionalisiert das Modell der verhäuslichten Kindheit als erstes. Die kleinbürgerliche Familie folgt langsam dem Vorbild, so dass um 1900 auch das städtische Kleinbürgertum Kinder den Aufenthalt im öffentlichen Raum nur noch selten erlaubt. In den 60er Jahren endet in Deutschland die Straßenkindheit. Es kommt zu einer durchgreifenden Verhäuslichung der Kindheit: »Für die Mehrheit urbanisierter Kindheit wird das Modell eines pädagogisch betreuten und individualisierten Familienkindes leitend.«78 Zurückgeführt wird diese Entwicklung in der Regel auf soziale Veränderungen wie Stadtsanierungen, Wohnungserneuerung und Massenmotorisierung. Abgeschlossene gebaute Einheiten, so weiß man aus der Domestizierung der Tiere, der Verhäuslichung der Kinder und aus dem Prozess der Zivilisation allgemein, ermöglichen vor allem Kontrollgewinn. Soziale Ressourcen können in einzelnen Einheiten gleich verteilt oder gezielt hierarchisiert werden. Handlungsabfolgen werden durch das Ausschließen äußerer Einflüsse planbarer. Insofern ist auch die Erwartung an eine verhäuslichte Sexarbeit berechtigterweise eine größere Kontrolle des Geschehens bei gleichzeitiger Verantwortungsverlagerung an die Bordellbetreiber/-innen. Auf die Entwicklung der veröffentlichten Meinung hat die Verhäuslichung insofern Einfluss, als die Journalist/-inn/-en keine Beobachtungen und »Anekdoten« aus dem vormals für alle beobachtbaren »Dirnenleben« mehr schildern (können). Für die Öffentlichkeit ist der Zugang nun erschwert bzw. nur über den Freierblick möglich – und der ist tabuisiert.79 Die räumliche Strategie einer Zonierung in ein Innen und ein Außen etabliert damit zugleich – ohne je wirklich Gegenstand öffentlicher Auseinandersetzung geworden zu sein bzw. vielleicht auch gerade, weil sie nie Objekt des Streits geworden ist – auf effektive Art und Weise ein neues soziales Ordnungsmuster, auf das im Folgenden näher eingegangen wird. logie in Dresden 1996, Frankfurt am Main/New York 1997, S. 952-970) rekonstruiert das schnelle Autofahren proletarischer Jungen als Mutbeweis, Abenteuersuche und Männlichkeitskonstruktion. 76 | J. Zinnecker: »Vom Straßenkind zum verhäuslichten Kind«, S. 144. 77 | Ebd. 78 | Ebd. S. 155. 79 | Vgl. Sabine Grenz: (Un)heimliche Lust. Über den Konsum sexueller Dienstleistungen, Wiesbaden 2005.
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Von der »Verhäuslichung« zur (Notwendigkeit der) »Frauen-Befreiung«, oder: Wandlungen räumlicher Strukturen als Wandlungen vergeschlechtlichter Machtbalancen Verdeutlicht wurde ein räumlich-sozialer Prozess des »Verschwindens« der in der Sexarbeit tätigen Frauen aus dem öffentlichen Straßenbild, der – in enger Verbindung mit allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklungen – zahlreiche Rückwirkungen auf das prostitutive Geschehen hat. Gezeigt werden kann dabei des Weiteren, dass räumlich-soziale Wandlungen im Feld der Prostitution eng verknüpft sind mit sich wandelnden Machtverhältnissen innerhalb der Geschlechterbeziehungen.
Von der Hure zur (Frauen-)Politikerin Insgesamt lässt sich zunächst einmal feststellen, dass die Medien über Prostituierte als eine eher homogene, allerdings kaum näher beschriebene Gruppe von »Dirnen«, »Damen« oder eben »Prostituierten« berichten, die in den 60er und 70er Jahren aber durchaus noch eigenwillig, selbstbewusst und »machtvoll« in Erscheinung treten. »Immer Ärger mit den Dirnen«80 titelt die FR so beispielsweise im Jahr 1966 und beschreibt die nicht nur von Oberbürgermeister Willi Brundert geteilte Wahrnehmung, dass sich nicht nur Lokalbesitzer und Vermieter, sondern vor allem auch »die Damen« mit allen »ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln gegen Zwangsmaßnahmen wehren«81 würden. Vor allem auch »die nicht registrierten Prostituierten ließen sich nicht zum Wegzug bewegen«82 und auch die »Mädchen in der Westendstraße geben sich selbstbewußt. Werden sie nachts von den Anwohnern gebeten, sich ruhiger zu verhalten, antworten sie oft: ›Wenn es euch nicht passt, zieht doch aus!‹ Oftmals wurden sie auch auf Nachbargrundstücken angetroffen. Ihre ›Beschützer‹ nehmen ebenfalls kein Blatt vor den Mund. Sie fühlen sich offensichtlich als die neuen ›Herren‹ jenes Viertels und sparen auch nicht mit massiven Drohungen.«83
Wahrgenommen wird in den 60er Jahren auch z.B. noch, dass die Prostituierten »in dem ihnen so lasch angesagten Kampf neue Taktiken«84 entwickeln. Eine »Gruppe der Prostituierten verteidigt ihre Positionen auf dem bewährten Gelände in einem zähen, raffiniert geführten Stellungskrieg […]. Eine andere Gruppe der Gunstgewerblerinnen wanderte einfach aus – in Wohngebiete, zum Entsetzen der Anwohner.«85 80 | FR vom 8.2.1966. 81 | Ebd. 82 | Ebd. 83 | FR vom 19.7.1968. 84 | FAZ vom 2.8.1968. 85 | Ebd.
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Hingewiesen wird auch z.B. auf ein »›Katz-und-Maus-Spiel‹ zwischen Schutzleuten und Prostituieren«86, das dem Stadtverordneten Diakon Schöppner zufolge aufhören müsse. In den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts werden Prostituierte so und in ähnlicher Form noch überwiegend als sichtbare und handelnde Gruppe beschrieben, wenn sie auch selten als Einzelpersonen von den Medien aufgegriffen werden. Vereinzelt werden Opferkarrieren von meist jungen, zum Teil drogenabhängigen (deutschen) Prostituierten vorgestellt. Häufig wird auch diskreditierend und moralisch wertend über die Frauen geschrieben, aber vor den Augen der Leserschaft existieren handelnde Personen. Zwar scheinen Journalist/-inn/-en kaum mit Prostituierten selbst zu sprechen, für ordnungspolitische Kräfte scheinen sie aber zentrale Ansprechpartnerinnen zu sein. Im Kontext der Umsetzung der Sperrgebietsverordnung von 1973 beispielsweise plant die »Schutzpolizei […] in den Sperrgebieten gezielte und intensive Einsätze; im Rahmen einer Flugblattaktion sollen die betroffenen Damen [geschätzte 1300 bis 1500] über die Verfügung aufgeklärt werden«.87 Vor dem Hintergrund einer zunehmend verhäuslichten Struktur des Gewerbes ändert sich die Perspektive spätestens in den 80er Jahren dann aber deutlich: In Bezug auf den grundsätzlichen Umgang mit dem Gewerbe setzt sich die Stadt nun im Wesentlichen mit den Bordellbesitzern auseinander, während die »Leidtragenden« veränderter Vorgehensweisen »in erster Linie […] die Sexarbeiterinnen«88 sind. Insgesamt gibt es jetzt »keine Schonzeit für Dirnen«89 mehr und auch über die zur verstärkten Kontrolle der Prostitution geplanten ordnungsrechtlichen Maßnahmen werden nun in der Regel lediglich die Bordellbesitzer informiert, während die Prostituierten »unter einem Informationsdefizit litten«.90 Der veränderte Umgang bei gleichzeitig verstärkten Razzien löst unter den Prostituierten in den 80er Jahren eine »Endzeitstimmung«91 aus. Er führt aber gleichzeitig auch zu einer stärker werdenden Solidarisierungs- und Lobbyarbeit. Nach »französischem, italienischem und amerikanischem Vorbild«92 sowie in Anlehnung an die bereits existierende Berliner Prostituierten-Selbsthilfegruppe »Hydra«93 gründet sich 1984 auch in Frankfurt die Gruppe »Huren wehren sich gemeinsam« (HWG), die mit ihrem offiziellen Namen »Verein zur Förderung der Information und Kommunikation zwischen weiblichen Prostituierten« eine ihrer wesentlichen Zielsetzungen – und auch das jetzt bestehende Problem des »Informationsdefizits« – verdeutlicht. Als »leichte Mädchen mit schweren Bedenken«94 wahrgenommen, mischen sich die jetzt organisierten Prostituier86 | FR vom 7.7.1970. 87 | FAZ vom 10.3.1973. 88 | H. Beste: Morphologie der Macht, S. 258. 89 | FAZ vom 12.1.1987. 90 | H. Beste: Morphologie der Macht, S. 266. 91 | C. Molloy: Hurenalltag, S. 12. 92 | FR vom 26.10.1984. 93 | Vgl. FNP vom 30.10.1984; vgl. auch C. Molloy: Hurenalltag, S. 11. 94 | FNP vom 26.8.1985.
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194 | Martina Löw/Renate Ruhne ten aktiv in das politische Geschehen ein. Sie treten dabei nicht nur allgemein z.B. »immer offensiver auf, um die neue Sperrgebietsverordnung zu bekämpfen«95, sondern kritisieren auch konkrete polizeiliche Pläne, »gegen Wohnungsund Straßenprostitution vorzugehen«.96 Eine solche Entwicklung verläuft dabei nicht nur zeitparallel zu grundlegenden gesellschaftlichen Wandlungstendenzen und insbesondere zu vermehrten frauenpolitischen Aktivitäten, die ihren Ausdruck nicht zuletzt in einem Erstarken der Frauenbewegung in den 80er Jahren finden, sondern ist auch eng mit diesen verzahnt. In der medialen Auseinandersetzung mit der Prostitution werden die »handelnden Prostituierten« zu dieser Zeit zum einen durch »handelnde Politikerinnen« und zum anderen – allerdings in kleinerer Zahl – durch politisch organisierte und als solche »handelnde Huren« ersetzt. Das, was nach der Verhäuslichung als »Prostitution« in Text gefasst wird, ist kaum noch das prostitutive Geschehen an sich, sondern thematisiert wird jetzt fast nur noch der politische Entscheidungsprozess zur Durchsetzung neuer Regelungen in Bezug auf die Prostitution.97 Allgemein kommen Frauen in der Berichterstattung über Prostitution (von einer Skandalisierung einzelner Opfer von Menschenhandel abgesehen) zu dieser Zeit als Politikerinnen, als Interessenvertreterinnen der HWG und vereinzelt als Anwohnerinnen oder kritische Bürgerinnen vor. Dies stellt ein Novum nicht zuletzt insofern dar, da nun einige Prostituierte namentlich und öffentlich auftreten und Forderungen stellen. Mit dem Fokuswechsel der Medien vom Geschehen im Quartier zum Geschehen in der Politik bekommt jetzt aber auch das »Geschlecht« einen anderen »Adressaten«. War die Vergeschlechtlichung des Feldes zuvor über die körpernahen Beschreibungen der sich prostituierenden Frauen und der Aktivitätspotentiale der Männer (herumlungernde Luden, stürmende Polizisten) organisiert, so manifestiert sich das »Frausein« nun vor allem in der politischen Parteinahme. Selbst die Bildzeitung berichtet mit fast stolz-patriotischen Unterton über einen europäischen Prostituiertenkongress in einem Amsterdamer Kulturzentrum, an dem auch Frankfurter Sexarbeiterinnen teilnahmen: »Alle sechs Frankfurterinnen profilierten sich durch eifrige Beredsamkeit und lautes Klagen über die brutale Männerwelt. Sie wurden in den Gründungsvorstand gewählt, der sogleich sein Programm verkündete: Nicht die Prostitution ist schlecht, sondern die Ausbeutung. Wir haben keine Rechte. […] Vornedran waren die sechs Sex-Mädchen aus dem Bahnhofsviertel auch beim Formulieren eines Forderungskatalogs: Freie Wahl des Ar95 | H. Beste: Morphologie der Macht, S. 263. 96 | Ebd., S. 266. 97 | Im Kontext der Verhandlungen insbesondere um die Sperrgebietsverordnung von 1989 kommen sich (bürgerliche) Frauenbewegung und Hurenbewegung näher: Als die Stadt Frankfurt im März 1992 beispielsweise die Räumung eines Bordells in der Elbestraße veranlasst, ohne die dort arbeitenden Frauen im Vorfeld darüber informiert zu haben, reagiert nicht nur die HWG, sondern auch das Frauenreferat und das Sozialamt mit »massiven Protesten« (C. Molloy: Hurenalltag, S. 54).
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Zur Verhäuslichung der Prostitution in Frankfurt/Main | 195 beitsplatzes, keine Sperrzonen mehr, Anerkennung als Beruf, Versteuerung und Krankenversicherung wie bei allen Freiberuflern, ein Verein von Juristen, der gegen Zuhälter hilft.«98
Verstärkte Aufmerksamkeit erfährt zu dieser Zeit aber vor allem ein das stadtpolitische Geschehen stark bestimmender Streit zwischen den Parteien um eine von der CDU intendierte Verlagerung des Prostitutionsgeschehens. In diesem Zusammenhang ist nun z.B. zu lesen, dass die grüne Stadträtin Magarete Nimsch in einem Ausschuss im Römer auch einige Vertreterinnen des Vereins HWG habe zu Wort kommen lassen.99 Auch die CDU-Stadtverordnete Walburga Zizka weist auf die bereits vorhandenen Anlaufstellen für Ex-Prostituierte hin. Sylvia Schenk, später Frauendezernentin, ist »froh«, dass das Tabu durchbrochen werde.100 Marita Haibach, die Staatssekretärin bei der Landesfrauenbehörde in Wiesbaden, unterstützt in einer Grußadresse »die Gruppe ›Huren wehren sich gemeinsam‹ (HWG) in ihrer Entscheidung […], sich ›als Bürgerinnen von Frankfurt‹ öffentlich zu Wort zu melden«.101 Über Prostitution wird nun vor allem als ein Aktionsfeld der sich etablierenden Frauenbewegung und der Grünen Partei berichtet. Anlässlich des Starts des neuen Films von Lizzie Borden »Working Girls« findet eine »Podiumsdiskussion zum Thema ›Arbeitsplatz Bordell‹ statt«102, bei der »Cora und Maria […] von der HWG«103 mit auf dem Podium sitzen. Die Leser und Leserinnen erfahren in diesem Zusammenhang von Cora, dass es »im allgemeinen […] schwer [sei], einem Außenstehendem zu vermitteln, was diesen Job ausmacht«.104 Im Übrigen sei das »Bild von der zur Prostitution erniedrigten Frau […] falsch«.105 Zunehmend explizit wird der Kampf um die Prostitution in stadtpolitische Debatten und insbesondere in den »Geschlechterkampf« eingefügt. Negativ konnotierten Bewertungen, wie z.B. einer Erklärung von Planungsdezernent Hans Küppers, dass »dieser Personenkreis [die Prostituierten, d. V.] aufgrund der Art des Gewerbes kein Gesprächspartner«106 für den Frankfurter Magistrat sei, oder auch ein vom CDUFraktionsvorsitzenden Wolfgang Wenderoth eingefordertes »Recht«, »sich gefälligst nicht mit Prostituierten an einen Tisch setzen zu müssen«107, setzt »Brigitte Sellach […] für die Grünen«108 nun – einerseits Frauen unterstützend, andererseits Männer-Macht ankreidend – entgegen, »dass der Magistrat schon seit
98 | Bild-Frankfurt vom 16.2.1985. 99 | FAZ vom 22.8.1986. 100 | Vgl. FNP, FR, FAZ vom 9.9.1986. 101 | FR vom 23.8.1986. 102 | FR vom 10.11.1987. 103 | Ebd. 104 | Ebd. 105 | Ebd. 106 | FR vom 15.8.1987. 107 | Ebd. 108 | Ebd.
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196 | Martina Löw/Renate Ruhne langem mit den Bordell-Besitzern verhandelt, ›die das Geschäft der Prostitution betreiben‹«.109 Die Trennung zwischen »anständigen«, bürgerlichen und »unanständigen« Frauen beginnt sich im Stadtparlament, vor allem in der Kooperation zwischen Frauenbewegung, Grüner Partei und einzelnen Politikerinnen aufzuheben. Prostituierte werden nun als Politikerinnen thematisiert (Hurenbewegung) und ihre Tätigkeit wird mit ihren spezifischen Problemlagen im Stadtparlament angesprochen. In den 80er Jahren – einer Zeit, in der »solide« Frauen verstärkt für ihr Recht auf eigenständige Absicherung und (qualifizierte) Arbeit kämpfen und hierbei auf eine zunehmende Akzeptanz stoßen – fokussiert die Medienberichterstattung auch im Hinblick auf die sich prostituierenden Frauen zunehmend auf den Arbeits- und Berufsaspekt der Tätigkeit. Wird die Prostitution insgesamt in den 50er und 60er Jahren als ein von »Zügellosigkeit«110 geprägter »Vergnügungsdschungel«111 aufgegriffen und die Prostituierten als »arbeitsscheu und ohne Bereitschaft, Pflichten zu übernehmen«112 beschrieben, so ändert sich dies im Laufe der nächsten Jahrzehnte deutlich. Der Blick richtet sich in der öffentlichen Thematisierung von den »berufsmäßig Asozialen weiblichen Geschlechts«113 zunehmend auf die Prostitution als eine (anerkannte) Berufstätigkeit. »Erscheinungen, die noch vor wenigen Jahrzehnten allgemein als unvereinbar mit den ›guten Sitten‹ angesehen wurden, begegne man heute mit ›amüsierter Toleranz‹«114, wie ein Richter schon 1974 feststellt. »Faulheit« als Zuschreibung für Prostituierte verschwindet zunehmend: Zwar will immer noch niemand »die Damen« in »seiner unmittelbaren Nachbarschaft […] sehen«115, aber wahrgenommen wird jetzt, dass »deren käufliche Nächstenliebe mit höchstem körperlichem Einsatz verbunden ist«.116 Insgesamt wird seit den 80er Jahren über die Interessen von Prostituierten immer wieder positiv und anerkennend berichtet. Die HWG habe Kontakte zu Parteien, Fraueninitiativen, Gesundheitsamt und Kirchen aufgenommen, die Resonanz sei positiv. Zielsetzungen der Organisation sei es, die Isolation von Prostituierten zu durchbrechen, »die […] einer Arbeit nachgehen, die gesellschaftlich gebraucht, aber gleichzeitig verachtet wird«.117 In einem »Selbsthilfeprojekt für und von Prostituierten«118 soll jetzt im Alltag Entlastung geboten werden, insbesondere wenn Familie vorhanden sei. Grundsätzlich soll dabei ein Denkprozess angeregt werden, durch den sich »die Selbstverachtung der Prostituierten in Selbstbewußtsein« verwan-
109 | Ebd. 110 | Pfarrer Karl Zeiss in der FNP vom 1.9.1959. 111 | Ebd. 112 | FR vom 7.11.1968. 113 | Kriminaldirektor Kalk in der FR vom 7.11.1968; Herv. d. V. 114 | FAZ vom 11.12.1974. 115 | FNP vom 4.3.1982. 116 | Ebd. 117 | FR vom 26.10.1984. 118 | Ebd.
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deln könne.119 Auch in der Diskussion um die Verlegung von Kontrollkompetenzen vom Gesundheits- zum Ordnungsamt kommen HWG-Frauen als »Stimme der Prostituierten« jetzt häufig zu Wort: »Die Prostituierten fühlen sich durch eine solche Regelung noch weiter in die kriminelle Ecke und die Illegalität gedrängt. […] Aus Angst, von den Polizeibehörden verfolgt zu werden, scheuten die Frauen den Gang zum Gesundheitsamt, erklärten sie.«120
In der Berichterstattung über die Frauen der HWG wird eine Abkopplung der Bewertung von Person und Tätigkeit deutlich: Frauen sind nicht länger Dirnen, sondern arbeiten als Prostituierte. In der medial aufbereiteten Außenwahrnehmung findet dabei u.a. eine Verlagerung von der allgemeinen Bewertung ihres Körpers als (Haut-)Oberfläche (dreckig, vulgäre Haltung) auf die Kleidung – und damit auf die äußere, »abstreifbare« Inszenierung des Körpers statt: »Aufreizende Kleidung, übertriebenes Make-up und eindeutige Angebote an mögliche Freier. Diese Vorstellung verbindet man normalerweise mit den Prostituierten des Frankfurter Bahnhofviertels. Nichts von alledem findet sich bei der wöchentlichen Zusammenkunft des ›Vereins zur Förderung der Information und Kommunikation zwischen weiblichen Prostituierten‹ im Stadteilbüro Gutleut. 20 junge Frauen in Jeans und Pullover sitzen um die weißen Caféhaustische herum, trinken Tee, diskutieren ihre Probleme. Eine Situation, die eher an ein zwangsloses Uni-Seminar erinnert.«121
Wenn Menschen keiner bezahlten Arbeit nachgehen, verweist, so zeigt Chris Brickell, ihre Kleidung auf ihren marginalisierten Status.122 Umgekehrt existieren formale Kleidungsordnungen, die es ermöglichen, Personengruppen zu Berufssparten zuzuordnen.123 Fast hörbar ist im Zitat noch das Erstaunen des Journalisten, dass die Arbeit der Prostituierten eine berufliche Inszenierung mit sich bringt, die keineswegs in den Alltag hineinreicht. Durch die Alltäglichkeit, die sich im Umgang mit Prostituierten jenseits ihres Arbeitslebens vermittelt, entsteht eine Perspektive auf Prostitution als zeitweilig ausgeübte Arbeit: Schon zwei Jahre später ist die »Arbeitskleidung«124 – wenn auch zunächst noch in Anführungsstriche gesetzt – für Prostituierte ein eingeführter Begriff. »Prostituier-
119 | Ebd. 120 | FNP vom 2.8.1985. 121 | FNP vom 30.10.1984. 122 | Vgl. Chris Brickell: »Through the (New) Looking Glass. Gendered Bodies, Fashion and Resistance in Postwar New Zealand«, in: Journal of Consumer Culture 2 (2002), S. 241-269. 123 | Vgl. Robyn Longhurst: Bodies. Exploring Fluid Boundaries, London 2000 und Linda McDowell: Capital Culture. Gender at Work, Oxford 1997. 124 | FNP vom 15.8.1986.
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198 | Martina Löw/Renate Ruhne te[n] in Arbeitskleidung«125 bringt nun zumindest »ein Teil der Bürger Sympathie entgegen«.126
Mit den Prostituierten »verschwinden« auch die Kunden Mit der Verhäuslichung der Prostitution verschwinden nicht nur die Prostituierten aus dem Blickfeld der Medien, sondern auch die eh seltenen Verweise auf Kunden. Schon in den Beschreibungen der Freier der 60er und 70er Jahre steht die Belästigung durch die Ansprache von (soliden) Frauen sowie die Ruhestörung durch Herumfahren oder lautes Benehmen aufgrund von Trunkenheit im Zentrum. Zum Problem der Ruhestörung sagt 1968 z.B. ein Polizeibeamter: »›Oft sind es die Freier, die die öffentliche Ruhe und Ordnung stören, und nicht die Mädchen. Etwa, wenn sie zu Dutzenden ein Dirnenquartier belagern und die Straße versperren. Oder, wie im Westend, hupend mit ihren Autos immer wieder an den Mädchen vorbeifahren‹. Die sich beschwerende Nachbarschaft lehne es laut dem Beamten aber ab, Anzeige zu erstatten: ›Sie wollen sich aus privaten oder geschäftlichen Gründen mit den Leuten nicht anlegen.‹ Ein Wortführer sei sogar selbst als Kunde gesichtet worden.«127
Ab und an wird die Nachfrage der Prostitution auch als Notwendigkeit für alleinstehende [!] Männer thematisiert: So wird das neu entstandene Eros-Center im Bahnhofsviertel aus Polizeisicht z.B. positiv bewertet: Denn wo sollen denn sonst »die Männer hingehen […], die unbeweibt in Frankfurt leben?«128 Später wird, wenn Freier überhaupt erwähnt werden, eher über allgemeine Größenordnungen der Gruppe der Freier spekuliert, und dies zudem meist im Verhältnis zur bzw. im Kontext einer Thematisierung der »Arbeitsmarktlage« der sich prostituierenden Frauen: So erklärt z.B. Helmut Schneider – »Chef des Sittendezernates bei der Frankfurter Kriminalpolizei und intimer Kenner der Prostitution in der Mainmetropole«129 –, dass Besucher der Buchmesse keine lohnenswerte Kundschaft für Prostituierte seien. Diese Messe mache sich »bestenfalls bei den Callgirls der Spitzenklasse bemerkbar, die von den Portiers der Nobelhotels an interessierte Kundschaft empfohlen werden«.130 Lohnenswerter sei es »bei den übrigen Messen«131, vor allem bei der Automobilausstellung.132 Ein »Verschwinden« auch der Kunden von den Straßen »passiert« dabei allerdings nicht einfach, sondern ist explizites Ziel stadtpolitischer Bestrebungen: So legt Magistratsdirektor Deja 1969 in der FAZ z.B. dar, dass »mit dem Lokal im ›Eros-Center‹ […] erreicht [wird], daß die Dirnen ihre Kundschaft nicht auf offe125 | FNP vom 23.8.1986. 126 | Ebd. 127 | FR vom 8.11.1968. 128 | FR vom 7.7.1970. 129 | FN vom 1.10.1976. 130 | Ebd. 131 | Ebd. 132 | Ebd.
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ner Straße suchen. Der Liebesmarkt soll also von der Straße ferngehalten werden.«133 1985 rücken die Kunden zwar noch einmal im Kontext der zu dieser Zeit allgemein und auch in Frankfurt breit thematisierten AIDS-Gefahr in den Fokus der Medien – auch hier aber nur vermittelt bzw. im Kontext der Berichterstattung über die Prostituierten. Grundsätzlich stellen »Kunden« bzw. »Freier« erst wieder in allerjüngster Vergangenheit (z.B. im Kontext der im Zuge der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 durchgeführten »Freier-Aktionen«) ein Medienthema dar.
Vom Zuhälter zum Gewerbetreibenden – Männliche Einkommensmöglichkeiten in der (heterosexuellen) Prostitution Mit dem Prozess der Verhäuslichung der Prostitution ändert sich auch die Wahrnehmung der »Zuhälter« in den Medien: Sie werden nun zunehmend zu Geschäftsleuten und/oder in jüngeren Auseinandersetzungen – und verknüpft mit dem Aspekt der Migration – zu »Menschenhändlern«. In den 1960er und 1970er Jahren werden »Zuhälter« als eine eng mit dem Prostitutionsgeschehen verwobene Gruppe sehr ambivalent beschrieben. Unter dem Titel »Gebt uns unsere Männer wieder«134 heißt es 1968 in einem Bericht über eine Gerichtsverhandlung beispielsweise, es seien drei Zuhälter zu Gefängnisstrafen verurteilt worden, weil sie die Festnahme zweier Prostituierter verhindert hatten, die sich mit einer dritten geprügelt hatten, welche blutend am Boden gelegen habe, als die Polizisten eintrafen. Das Gericht stellte den Tatbestand der Teilnahme an einem Aufruhr fest. Zu den Angeklagten bemerkt der Autor, dass »nicht ersichtlich« sei, wie »sie eigentlich ihren Lebensunterhalt verdienen. Sie säen nicht, sie ernten nicht, aber irgend jemand ernährt sie immer.«135 Trotz einer immer wieder thematisierten Aggressivität und sexuellen Potenz des Zuhälters wird dieser gleichzeitig auch als eine eher passive Figur eingeführt. Wie schon die Prostituierten, werden auch die »Zuhälter« allgemein als Personen beschrieben, die durch Faulheit bzw. den Verzicht auf eine geregelte Arbeit das gesellschaftliche (bürgerliche) Arbeitsethos in Frage stellen. In einer Zeit, in der die Potenz »eine Familie zu ernähren« noch weit deutlicher als heute eine »normale« Verhaltensanforderung für Männer darstellte, werden »Zuhälter« mit negativer Konnotation als Personen beschrieben, die vom Geld der Frauen leben. Der Verdacht eines (großen) »Gewinns« ohne vorherige Arbeit wird klar thematisiert: Zuhälter seien »Männer, die durch den Schlaf anderer im Schlaf so gut verdienen wie Direktoren« und »nicht selten gleich den Gewinn mehrerer Dirnen« einstecken.136 Einer Studie des Kriminologen Mergen zufolge können »Zuhälter« dabei aber auch »Opfer« der Frauen werden. Laut Mergen »rutsche« die Mehrzahl der Zuhälter ins Milieu hinein. Die meis133 | FAZ vom 9.8.1969. 134 | FR vom 31.07.1968. 135 | Ebd. 136 | FR vom 4.1.1972.
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200 | Martina Löw/Renate Ruhne ten seien von Prostituierten »›verführt‹ worden«137, womit auch hier nochmals die in den 60er und 70er Jahren noch deutlich als aktiv handelnd wahrgenommene Prostituierte in den Blick kommt. Sehr direkt wird den auf eine Passivität des Zuhälters verweisenden aktiven Werbungs- und Bindungsbestrebungen der Prostituierten an ihren Zuhälter aber auch umgekehrt eine Passivität und emotionale Abhängigkeit der Prostituierten entgegengestellt, die sich z.B. auch in öffentlich gestellten Fragen wie der Folgenden äußert: »Warum hängen viele dieser Mädchen, die doch fast alle das Ziel haben, zu sparen und nach einer begrenzten Zeit eine solide bürgerliche Existenz zu gründen, ihr Herz an einen gnadenlosen Parasiten und Ausbeuter, der sie quält und schindet und immer weiter in die Gosse stößt?«138
Eine Staatsanwältin spricht in diesem Zusammenhang von einem »notwendigen Schutz der meist labilen Mädchen, die durch die totale Ausbeutung körperlich und physisch völlig ruiniert werden und dadurch jede Chance zum Absprung verlieren«.139 Sowohl das passive Verhalten des »Sich-aushalten-Lassens« als auch das aktive Verhalten in Form von körperlicher Präsenz und »Schlagkraft« führen in den Medien zu dem Urteil: »Einen Beruf nennt man den schmutzigsten: den Job des Zuhälters.«140 Die in den Artikeln beschriebene Lebensweise der Zuhälter in Relation zu ihren Dirnen wird allgemein oft als eine »primitive«, »unzivilisierte« Existenzform beschrieben: So stellt etwa der Strafrechtler Professor Geerds in der Frankfurter Rundschau fest, dass Zuhälter – ebenso wie »Dirnen« – »sozial nicht voll funktionsfähig«141 seien. Vergleichbare Verhältnisse »finde man in primitiven Bevölkerungsschichten«142, wo es Männer gebe, »die nicht arbeiten und das Geld vertrinken, das ihre Ehefrauen als Putzhilfe mühsam verdienen«.143 Ebenso wie im Hinblick auf die Gruppe der Prostituierten findet man so auch in Bezug auf diejenige der »Zuhälter« eine Stigmatisierung des Feldes der Prostitution über Beschreibungen einer »schmutzigen«, »primitiven«, untersten sozialen Schicht. Die ersten »Versuche« einer Gegenlesart finden sich ab 1975 im Kontext der beschriebenen, und nicht zuletzt auch durch die Frauenbewegung angeregten Wandlungstendenzen des Feldes der Prostitution hin zu einem »Arbeitsfeld«. Der gewerbetreibende Bordellbetreiber löst nun nach und nach den Zuhälter in der Berichterstattung um die Prostitution in Frankfurt ab. Im August 1975 veröffentlicht die Gießener Soziologin Dr. Dorothea Ritter-Röhr eine Untersuchung unter Frankfurter Prostituierten. Sie verweist darin 137 | Ebd. 138 | FR vom 6.11.1968. 139 | Ebd. 140 | FR vom 4.1.1972. 141 | FR vom 6.11.1968. 142 | Ebd. 143 | Ebd.
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Zur Verhäuslichung der Prostitution in Frankfurt/Main | 201 »den brutalen Zuhälter, der viele Mädchen gleichzeitig ›betreut‹, bedroht und ausbeutet, ins Reich der Fabel. Das seien Ausnahmen. Die Ausbeuter der Mädchen seien viel eher die Vermieter, die Wucherpreise für die Absteige kassierten. Im übrigen sei der Lebensstil der Frauen aufwendig.«144
Spätestens Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre scheinen die Zeiten der »Faulheit« auch für Zuhälter vorbei zu sein. Die nicht selbst in der Prostitution arbeitenden, aber an der Prostitution verdienenden Männer werden jetzt als entweder in mafiöse Machenschaften verstrickte (oft ausländische) »Menschenhändler« beschrieben oder als »seriös« erscheinende, kaufmännisch agierende Bordellbetreiber aufgegriffen. In journalistischen Portraits wird jetzt auch das Engagement von Bordellbetreibern für das Bahnhofsviertel betont: »›Sie wird sehr schön, unsere neue Fassade‹, versichert uns Willi Schütz. Er hat den ganzen Gebäudekomplex renovieren lassen. Der Kontakthof ist verschwunden, in zwei verschachtelten Komplexen gibt es rund 160 Zimmer für Prostituierte. Die Zimmer sind sehr geräumig. Jedes ist mit einem Farbfernsehgerät ausgestattet. Die Fassade des stattlichen Gebäudekomplexes soll ihren alten wilhelminischen Glanz wieder erhalten. Im Inneren ist die Striptease-Bar verschwunden, ein Sauna-Club wird eingerichtet.«145
Nach den Worten von Kriminalkommissar Kowalski ist 1990 im Frankfurter Rotlichtmilieu »neben dem kleinen Loddel, der froh sei, wenn er eine ›Partie‹ habe, das heißt, eine ›Zweitfrau, die auch für ihn anschafft‹, der ›unternehmerisch arbeitende‹ Zuhälter im Einsatz«.146 Dieser würde meist ein oder mehrere Bordelle betreiben und sei mit »hochwertigen« Fahrzeugen nicht selten mehrere tausend Kilometer in der Woche unterwegs, um durch »persönliche Vorsprache« oder abhörsichere Telefongespräche Einfluss auf die Geschäfte zu nehmen. Die meisten Zuhälter hätten zudem noch ein »zweites Standbein«: sie seien im Glücksspiel- und Drogengeschäft ausgesprochen aktiv.147 Als ein wesentlicher Hintergrund und Impulsgeber für den konstatierten Wandel vom »Zuhälter« zum Bordellbetreiber und Kaufmann ist auch hier die von städtischer Seite unterstützte Etablierung von Großbordellen anzusehen. Während im Hinblick auf die Prostituierten dabei festgestellt werden konnte, dass diese durch ihr »Verschwinden« in den Häusern zunehmend an Einflussmöglichkeiten verlieren, scheinen die sich neu etablierenden Bordellbetreiber schnell an (politischem) Einfluss gewonnen zu haben. Die Stadt Frankfurt plant ihre Vorgehensweisen in den 80er Jahren tobenden »Machtkampf um den Sexmarkt«148 jetzt z.B. zunehmend so, dass diese durchgeführt werden, möglichst »ohne […] die ›Milieuherrscher‹ zu verärgern«149. Es entwickeln sich in 144 | FR vom 8.8.1975. 145 | FNP vom 30.4.1986. 146 | FAZ vom 20.5.1990. 147 | Vgl. ebd. 148 | Abendpost vom 30.11.1982. 149 | H. Beste: Morphologie der Macht, S. 258.
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202 | Martina Löw/Renate Ruhne dieser Zeit gute, wenn auch »indirekte Kontakte«150 zwischen »Milieu« und Stadt. Zumindest »zwischen den Großen der Branche im Bahnhofsviertel und Vertretern der Stadt«151 bestehen nun »Kontakte […], die bei aller gegensätzlicher ›Motivlage‹ […] auf ein einverständliches Handeln hinauslaufen könnten«.152 Während die Frauen in den Auseinandersetzungen um die Prostitution nicht einmal mehr informiert werden153, verweisen die Entwicklungen im Hinblick auf die Bordellbetreibenden auf einen Machtzuwachs im städtischen Gefüge.
Resümee Deutlich kommen in der Medienberichterstattung zur Prostitution in Frankfurt am Main räumliche Strukturen als soziale Strukturen in den Blick. Die Prostituierten bzw. Dirnen, die im öffentlichen Straßenraum der Stadt zunächst »unangenehm« auffallen, verschwinden (zusammen mit den Freiern) in den 60er und 70er Jahren mehr und mehr aus dem öffentlichen Raum und damit auch aus dem Blick der (Medien-)Öffentlichkeit. Dieses Verschwinden, das wir als Verhäuslichung begrifflich zu fassen vorgeschlagen haben, ist Resultat gezielter und folgenreicher raumpolitischer Interventionen. Vor dem Hintergrund »traditioneller Verortungen« auf der einen Seite und eines zunehmenden ordnungspolitischen Drucks auf der anderen Seite konzentriert sich die Prostitution mehr und mehr in wenigen, eng begrenzten Stadtgebieten und insbesondere im Bahnhofsviertel. Forciert durch die Sperrgebietsverordnung hat sich in den Toleranzzonen zudem auf engstem Raum auch eine bestimmte Form der Prostitution nahezu monopolartig etabliert, nämlich die Bordellprostitution. Die veränderte räumliche Situation führt zu Machtverschiebungen zwischen den verschiedenen beteiligten Gruppen: Es stärkt die Bordellprostitution mit Vor- und Nachteilen für die Prostituierten (eigenständige Anmietung der Zimmer versus Etablierung von anonymen Großbetrieben); es trägt zur Professionalisierung des Gewerbes bei und etabliert neue Spaltungen (die politisch engagierte Hure/die unsichtbare Masse der Prostituierten; der professionelle Bordellbetreiber/der Menschenhändler). In den Prozessen der Verhäuslichung wird so nicht nur eine räumliche, sondern auch eine geschlechts- und eine klassenspezifische Komponente sichtbar. Über die räumliche Trennung des prostitutiven vom soliden Frauenkörper wird die käufliche Sexualität von der ehelichen Sexualität (mit ihrem Monogamieanspruch) separiert. Gleichzeitig wird die Straßenkultur der als Unterschicht wahrgenommenen Prostitutionsszene dem Blick entzogen. In der Konsequenz geht es um die »Reinigung« des öffentlichen Raums von Handlungsformen und Symbolen, die mit Dreck, Vulgarität, Lasterhaftigkeit, Unanstand oder Faulheit assoziiert werden.
150 | Ebd., S. 257. 151 | FR vom 3.3.1984. 152 | Ebd. 153 | Vgl. z.B. C. Molloy: Hurenalltag, S. 54; siehe vorigen Absatz.
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Die Verhäuslichung der Prostitution geschieht nicht isoliert, sondern ist eingebettet in allgemeine gesellschaftliche Entwicklungen. Die 60er Jahre werden vielfach als Jahre des Wandels vom Spar- zum Konsumkapitalismus beschrieben154 – und mit dem steigenden Lebensstandard wandeln sich auch die Werthaltungen. Zunehmend gilt es als erstrebenswert, sich etwas gönnen zu können. Errungenschaften der pharmazeutischen Industrie wie die Antibaby-Pille verändern die Einstellung zur Sexualität ebenso gravierend wie die zur damaligen Zeit entstehenden sozialen Bewegungen (Studentenbewegung, Frauenbewegung, Schwulen- und Lesbenbewegung). Während 1949 und auch noch 1963 die Meinung, »die Ehe sei grundsätzlich notwendig«, von annähernd 90% der 14- bis 29-Jährigen vertreten wird, ist dies 1978 bei der entsprechenden Altersgruppe nur noch bei 40% der Männer und bei 42% der Frauen der Fall.155 Heute findet sich: »Heiraten als biographische Selbstverständlichkeit […] ausgeprägt nur noch im ländlichen Milieu und im Arbeitermilieu […]. Die wachsende Gleichgültigkeit gegenüber der Institution Ehe (und erst recht ihre Ablehnung) findet man am häufigsten im großstädtischen Akademikermilieu und dort häufiger bei jungen Frauen als bei jungen Männern.«156
Die emotionale und moralische Qualität einer Beziehung wird schon Ende der 70er Jahre nicht mehr an einen Ehevertrag gebunden157, Konventionen wie Verlobung verlieren an Bedeutung158, Scheidungsraten steigen an. Die Zahl der Alleinwohnenden nimmt zu.159 Zygmunt Baumann beschreibt in diesem Zusammenhang eine Hypersexualisierung des Alltags als Folge des Einstellungswandels: »Einerseits lobpreist die postmoderne Kultur sexuelle Genüsse und ermutigt dazu, jeden Winkel der Lebenswelt mit erotischer Bedeutung zu versehen; sie fordert vom postmodernen Erregungssammler, sein Potential als sexuelles Subjekt voll zu entwickeln. Ande-
154 | Josef Mooser: Arbeitsleben in Deutschland 1900-1970, Frankfurt am Main 1984; Heinz-Hermann Krüger: »Die Elvistolle, die hatte ich mir unauffällig wachsen lassen«. Lebensgeschichte und jugendliche Alltagskultur in den fünfziger Jahren, Opladen 1985; Ulrich Beck: Risikogesellschaft, Frankfurt am Main 1986. 155 | Vgl. Franz-Xaver Kaufmann: Zukunft der Familie. Stabilität, Stabilitätsrisiken und Wandel der familialen Lebensformen sowie ihrer gesellschaftlichen und politischen Bedingungen, Perspektiven und Orientierungen, München 1990, S. 94. 156 | Rüdiger Peuckert: Familienformen im sozialen Wandel, Opladen 2002, S. 49. 157 | Vgl. F.-X. Kaufmann: Zukunft der Familie, S. 95; vgl. Katharina Pohl: »Wende oder Einstellungswandel? Heiratsabsichten und Kinderwunsch 18-28jähriger deutscher Frauen 1978 und 1983«, in: Zeitschrift für Bevölkerungswissenschaft 1 (1985), S. 89-110. 158 | Vgl. Wolfgang Zapf: Lebensbedingungen in der BRD, Frankfurt am Main 1977. 159 | Vgl. ebd.; siehe auch François Höpflinger/Denise Erni-Schneuwly (Hg.): Weichenstellungen. Lebensformen im Wandel und Lebenslage junger Frauen, Bern 1989.
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204 | Martina Löw/Renate Ruhne rerseits verbietet diese Kultur, einen anderen Erregungssammler wie ein sexuelles Objekt zu behandeln.«160
Die Sexualisierung des Alltags paart sich mit dem Anspruch, dass nur das erlaubt ist, was konsensuell vereinbart wird. Dem Sexualwissenschaftler Gunter Schmidt zufolge entwickelt sich Sexualität zur Verhandlungssache, d.h. geduldet ist, was den am sexuellen Akt Beteiligten gefällt.161 Diese Veränderungen unterstützen zwar die Bestrebungen der Prostituiertenverbände, der Frauenbewegung und der linken Parteien, Prostitution als Beruf anzuerkennen, sie führen aber nicht zu einer neuen Sichtbarkeit der Sexarbeiterinnen im öffentlichen Raum. Vielmehr entlastet die Verhäuslichung der Prostitution die modernen Paare. Die Grenze zwischen der sich prostituierenden und der soliden Frau muss nicht ständig über Handlungen, symbolische Markierungen u.ä. hergestellt werden, weil sie durch eine räumliche Trennung manifest ist. Die zwar nicht mehr eindeutig an die Institution der Ehe gebundene, aber dennoch virulente Ambivalenz zwischen der Konvention der Monogamie und der Nachfrage nach käuflicher Sexualität seitens der Männer bleibt über die räumliche Trennung störungsfrei(er). Gleichzeitig nähern sich die verhäuslichten Prostituierten und die aus dem Hausfrauen-Dasein heraus strebenden Frauen (klein-)bürgerlicher Milieus in ihren räumlichen Handlungspraxen an. Heute werben Frankfurter Bordelle in ihren Flyern, die sich an männliche Kunden wenden, mit Sätzen wie: »Unseren Frauen steht ein ausreichendes Sicherheitssystem und eine hauseigene Kantine zur Verfügung, in der täglich für das leibliche Wohl gesorgt wird.«162 Dass in der Sexualität nur geduldet ist, was konsensuell vereinbart wurde, gilt heute explizit als gesellschaftlicher Konsens auch für die Prostitution. Auf dieser Folie wird die öffentliche Wahrnehmung der Sexarbeit – nicht nur in Frankfurt, sondern in Deutschland insgesamt – vor allem von zwei konträren Diskursen bestimmt. In dem einen wird eine weit reichende Normalisierung gefordert und auch teilweise bereits als umgesetzt behauptet. Legalisiert (und kontrolliert) wird Prostitution hier als ein »normaler« Beruf thematisiert, in dem Sex als eine Dienstleistung angeboten wird. Gewerkschaftliche Aktivitäten (ver.di), vor allem aber das im Jahr 2002 in Kraft getretene »Gesetz zur Regelung der Rechtsverhältnisse von Prostituierten« (ProstG)163 weisen in diese Richtung. Daneben existiert in Deutschland aber auch ein über konservative und auch feministische Wertmilieus (Emma) forcierter Diskurs, der Prostitution als ein generelles Problem der öffentlichen Ordnung, der Kriminalität, vor allem aber der Ausbeutung der hier arbeitenden Frauen skandalisiert. In Frankfurt am Main wurde schon in den 90er Jahren beispielsweise berichtet, dass »rund 70
160 | Zygmunt Baumann: Flaneure, Spieler und Touristen. Essays zu postmodernen Lebensformen, Hamburg 1997, S. 34. 161 | Gunter Schmidt: Das neue Der Die Das, Gießen 2005. 162 | Prospekt Eros-Center Frankfurt. 163 | Vgl. Bundesgesetzblatt Jg. 2001, 1: 74.
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Prozent der etwa 2000 hier arbeitenden Prostituierten […] Ausländerinnen«164 seien und: »Viele von ihnen wurden von Menschenhändlern hierhergelockt, wo sie allzuoft in eine Ehe gezwungen werden. Eine jüngst verabschiedete Gesetzesreform sollte den Behörden hier ein effektives Eingreifen ermöglichen.«165
Zielsetzungen auch von Frauenpolitikerinnen gehen dementsprechend oft in die Richtung, »Prostituierte schützen« zu wollen.166 Verwiesen wird dabei immer wieder auf eine in der Prostitution verbreitete, »moderne Form von Sklavenhandel«, die Frauen bedrohe.167 Untersuchungen, die sich gerade auch mit der Frankfurter Situation beschäftigen, legen zwar nahe, dass die meisten »ausländische[n] Huren […] freiwillig hier« seien168, allgemein ist das Bild der in der Regel ausländischen »Zwangsprostituierten« aber aus den Medien nicht nur in Frankfurt kaum mehr wegzudenken.169 Die zahlreich durchgeführten und von der Presse aufgegriffenen Aktionen gegen »Zwangsprostitution«, die z.B. rund um die Fußballweltmeisterschaft 2006 stattgefunden haben, sind hierfür ein beredtes und aktuelles Zeugnis. Erwiesen hat sich allerdings auch hier, dass die in dieser Zeit nicht zuletzt in Frankfurt wieder verstärkt durchgeführten Razzien in den Bordellen mehr oder weniger ergebnislos blieben. Erkennbar wird in diesen jüngeren Diskursen eine neue Trennungslinie, die sich auf die Unterscheidung zwischen Frauen, die in selbst bestimmten Arbeitsverhältnissen in der Prostitution tätig sind, und solchen, die unselbstständigen, ausgebeuteten Zwangsverhältnissen unterworfen sind. Die Verhäuslichung der Prostitution scheint hier auch weiterhin – und vielleicht sogar in verstärktem Maße – eine Wirkung zu entfalten. Zum einen kreist die allgemeine Aufmerksamkeit heute – als hätte sich der Prozess der Verhäuslichung weiter zugespitzt – mit breiter öffentlicher Anteilnahme um »eingeschlossene«, wie Tiere angebundene und behandelte Frauen, die das Haus gar nicht mehr verlassen dürfen und die es zu »befreien« bzw. zu schützen gilt. Zum anderen ist der Prozess der Verhäuslichung aber auch mit einer allgemeinen Unsichtbarkeit der in der Sexarbeit arbeitenden Frauen verbunden, die es für eine interessierte Öffentlichkeit und gerade auch für (politisch aktive) Frauen heute kaum möglich macht, umfassende Einblicke in konkrete Arbeitssituationen zu bekommen, was
164 | FR vom 30.10.1992. 165 | Ebd. 166 | FR vom 11.12.1990. 167 | Ebd. 168 | FR vom 8.8.1996; vgl. dazu auch Juanita Henning: Kolumbianische Prostituierte in Frankfurt. Ein Beitrag zur Kritik gängiger Ansichten über Frauenhandel und Prostitution, Freiburg 1997. 169 | Wir stellen damit nicht infrage, dass es ausbeuterische und von Gewalt geprägte Kontexte in der Sexarbeit überhaupt gibt, sondern hinterfragen lediglich deren (Über-)Bewertung in der Medienöffentlichkeit.
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206 | Martina Löw/Renate Ruhne eine (kritische) Beurteilung medialer Aufarbeitungen zur Arbeitssituation der im Sexgewerbe arbeitenden Frauen deutlich erschwert.
Literatur Allert, Tilmann: »Kumulativer Anerkennungszerfall. Perspektiven für die Analyse von Jugenddelinquenz im Großstadtmilieu«, in: Stefan Hradil (Hg.), Differenz und Integration. Die Zukunft moderner Gesellschaften. Verhandlungen des 28. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Dresden 1996. Frankfurt am Main/New York 1997, S. 952-970. Baumann, Zygmunt: Flaneure, Spieler und Touristen. Essays zu postmodernen Lebensformen, Hamburg 1997. Beck, Ulrich : Risikogesellschaft, Frankfurt am Main 1986. Behnken, Imbke/Zinnecker, Jürgen: »Vom Straßenkind zum verhäuslichten Kind. Zur Modernisierung städtischer Kindheit 1900-1980«, in: Sozialwissenschaftliche Information 4 (1987), S. 87-96. Beste, Hubert: Morphologie der Macht. Urbane »Sicherheit« und die Profitorientierung sozialer Kontrolle, Opladen 2000. Brickell, Chris: »Through the (New) Looking Glass. Gendered Bodies, Fashion and Resistance in Postwar New Zealand«, in: Journal of Consumer Culture 2 (2002), S. 241-269. Elias, Norbert: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, Frankfurt am Main 1976 [1939]. Engel, Gisela/Kern, Ursula/Wunder, Heike (Hg.): Frauen in der Stadt – Frankfurt im 18. Jahrhundert, Königstein i.T. 2002. Gleichmann, Peter R.: »Wandel der Wohnverhältnisse. Verhäuslichung der Vitalfunktionen«, in: Zeitschrift für Soziologie 5 (2002), S. 319-329. Grenz, Sabine: (Un)heimliche Lust. Über den Konsum sexueller Dienstleistungen, Wiesbaden 2005. Henning, Juanita: Kolumbianische Prostituierte in Frankfurt. Ein Beitrag zur Kritik gängiger Ansichten über Frauenhandel und Prostitution, Freiburg 1997. Hitzler, Ronald/Honer, Anne/Maeder, Christoph (Hg.): Expertenwissen. Die institutionalisierte Kompetenz zur Konstruktion von Wirklichkeit, Opladen 1994. Höpflinger, François/Erni-Schneuwly, Denise (Hg.): Weichenstellungen. Lebensformen im Wandel und Lebenslage junger Frauen, Bern 1989. Kaufmann, Franz-Xaver: Zukunft der Familie. Stabilität, Stabilitätsrisiken und Wandel der familialen Lebensformen sowie ihrer gesellschaftlichen und politischen Bedingungen, Perspektiven und Orientierungen, München 1990. Krüger, Heinz-Hermann: »Die Elvistolle, die hatte ich mir unauffällig wachsen lassen.« Lebensgeschichte und jugendliche Alltagskultur in den fünfziger Jahren, Opladen 1985. Laskowski, Ruth Silke: Die Ausübung der Prostitution. Ein verfassungsrechtlich geschützter Beruf im Sinne von Art. 12 Abs. 1 GG. Frankfurt am Main/Berlin/Bern/New York/Paris/Wien 1997.
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Leopold, Beate/Stefan, Elfriede/Paul, Nicola: Dokumentation zur rechtlichen und sozialen Situation von Prostituierten in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin/Köln 1997. Longhurst, Robyn: Bodies. Exploring Fluid Boundaries, London 2000. Löw, Martina: Raumsoziologie, Frankfurt am Main 2001. McDowell, Linda: Capital Culture. Gender at Work, Oxford 1997. Molloy, Cora: Hurenalltag. Sperrgebiet – Stigma – Selbsthilfe. Materialien zur Sozialarbeit und Sozialpolitik, Frankfurt am Main 1992. Mooser, Josef: Arbeitsleben in Deutschland 1900-1970, Frankfurt am Main 1984. Munk, Veronica: Ein rückschrittliches Europa im XXI. Jahrhundert. Vortrag im Rahmen der 37. Fachtagung Prostitution, Oer-Erkenschwick 2006 (unveröffentl. Ms.). Peuckert, Rüdiger: Familienformen im sozialen Wandel, Opladen 2002. Pohl, Katharina: »Wende oder Einstellungswandel? Heiratsabsichten und Kinderwunsch 18-28-jähriger deutscher Frauen 1978 und 1983«, in: Zeitschrift für Bevölkerungswissenschaft 1 (1985), S. 89-110. Rodenstein, Marianne (Hg.): Hochhäuser in Deutschland. Zukunft oder Ruin der Städte, Stuttgart 2000. Ruhne, Renate: Raum Macht Geschlecht. Zur Soziologie eines Wirkungsgefüges am Beispiel von (Un)Sicherheiten im öffentlichen Raum, Forschung Soziologie Bd. 193. Opladen 2003. Schelsky, Helmut: Soziologie der Sexualität, Hamburg 1955. Schmidt, Gunter: Das neue Der Die Das, Gießen 2005. Wahrig: Deutsches Wörterbuch, Köln 1997. Whyte, William F.: Die Street Corner Society, Berlin 1996 (orig. 1946). Zapf, Wolfgang: Lebensbedingungen in der BRD, Frankfurt am Main 1977. Zinnecker, Jürgen: »Vom Straßenkind zum verhäuslichten Kind. Kindheitsgeschichte im Prozeß der Zivilisation«, in: Imbke Behnken (Hg.), Stadtgesellschaft und Kindheit im Prozeß der Zivilisation. Konfigurationen städtischer Lebensweise zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Opladen 1990, S. 142-162.
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) vakat 208.p 131592163338
Blickwechsel in der Berliner Prostitutionsdebatte um 1800 | 209
Blickwechsel. Zur Bildpolitik der Berliner Prostitutionsdebatte um 1800 Romana Filzmoser
Die Wirkung der Verführungskunst von Prostituierten auf einer »Partie nach Berliner Art« beschreibt Friedrich von Coelln 1808 in bester Casanova-Tradition in seiner Reisebeschreibung »Wien und Berlin in Parallele«: »Man hatte […] vier der schönsten Lustdirnen ausgesucht. Vorher wurde gut gegessen, getrunken und dann nach der Musik einer Flötenuhr gewalzt; zuletzt sahen wir bloß dem steyerschen Walzer zu, den die Hetären, vom Wein berauscht, halb entkleidet, durch den Saal wirbelten.«1
Das von Coelln beschriebene Schauen oder Zusehen, das Mustern und Beobachten, ist in der Zeit um 1800 sowohl spezifisch für die nonverbale Interaktion von Prostituierten und Freiern in der Phase der Werbung, aber auch für das Sprechen über Prostitution überhaupt. Dabei changiert der Prostitutionsdiskurs zwischen der Vorstellung der Prostituierten – im Wort, im imaginierten und materiellen Bild – und seiner Wirkung auf die Adressaten: So wie die von den Prostituierten erwünschte Wirkung auf Friedrich von Coelln, der weiter beschreibt, dass »auch der Gefühlloseste dadurch ergriffen werden [mußte]«,2 konnten sich Bürger von den Blicken öffentlicher Frauen im öffentlichen Raum belästigt und bedrängt fühlten.3 Der Prostitutionsdiskurs artikuliert sich um
1 | Friedrich von Coelln: Wien und Berlin in Parallele. Nebst Bemerkungen auf der Reise von Berlin nach Wien durch Schlesien über die Felder des Krieges. Ein Seitenstück zu der Schrift: Vertraute Briefe über die innern Verhältnisse am preussischen Hofe seit dem Tode Friedrichs II von F. v. C-n. Mit zwey Kupfern von Penzel, Amsterdam/Coelln 1808, S. 100. 2 | F. v. Coelln: Wien und Berlin in Paralelle, S. 100. 3 | Vgl. Dietlind Hüchtker: ›Elende Mütter‹ und ›liederliche Weibspersonen‹. Geschlechterverhältnisse und Armenpolitik in Berlin (1770-1850) (Theorie und Geschichte
2006-11-15 17-28-54 --- Projekt: T549.gc.grenz.prostitution / Dokument: FAX ID 00fb131592162986|(S. 209-222) T01_10 kapitel filzmoser.p 131592163346
210 | Romana Filzmoser 1800 zwischen dem Blick der Prostituierten und ihrem Anblick: Ob der Blick der Kurtisane als Professionalistin oder die Bedrohung der männlichen Ehrhaftigkeit durch den weiblichen Blick, beides, die Ambivalenz von Wunsch und Bedrohung, sind in den Blick eingeschrieben. Der Tanz, der bei Friedrich von Coelln eine so zentrale Stellung einnimmt, ist ein Spezifikum der Berliner Prostitutionsdebatte. Selbst wenn eine andere Stadt beschrieben wurde – von Coelln unterzieht Berlin und Wien einem Vergleich – wird für die Beschreibung einer Kombination von Prostituierten und Tanz Berlin herangezogen, eben eine »Partie nach Berliner Art«. Tanzveranstaltungen wurden in der deutschen Literatur um 1800 nicht nur als Schnittstelle in der Freierwerbung und Interaktion von Prostituierten und Freiern beschrieben,4 sondern entfachten – wie Dietlind Hüchtker in ihrer Studie zur Berliner Armenpolitik gezeigt hat – auch eine Debatte über die Definition von ehrbaren und unehrbaren Orten in Berlin.5 Von Bildern wurde nicht nur gesprochen. Materielle Bilder von Prostituierten waren maßgeblicher Teil der Berliner Prostitutionsdebatte, indem sie Prostituierte und die Orte von Prostitution nicht nur visualisierten, sondern selbstständig Argumente vortrugen und propagierten, wie der vorliegende Beitrag am Beispiel der Darstellung eines Berliner Tanzsaals zeigen wird. Im ersten Teil soll anhand des Kupferstichs »Abendbelustigungen auf dem berümten [sic!] Bergerschen Tanzsaale zu Berlin« (Abb. 1) der Frage nachgegangen werden, wie Prostitution im Bild konkret dargestellt wird. In Anschluss wird auf die dargestellte Interaktion von Prostituierten und potentiellen Freiern hinsichtlich ihrer Blickbeziehungen eingegangen, um abschließend Überlegungen zur Darstellbarkeit unehrbarer Orte und ihrer Aussagefähigkeit anzustellen.
der bürgerlichen Gesellschaft 16) (zugl. Univ. Diss. Berlin 1996), Münster 1999, S. 168, S. 185. 4 | Als Beispiele für die 1790er Jahre seien genannt Justus C. Müller: Gemählde von Berlin, Potsdam und Sanssouci. Politisch – moralisch – charakteristisch, London 1792, S. 82-95; Scaramuz: »Reisen zu Wasser und zu Lande. Erste Abtheilung welche die Reisen zu Lande enthält«, in: Johann D. Frank (Hg.), Taschenbuch für Freunde des Scherzes und der Satire, Leipzig 1798, S. 82-88. 5 | Vgl. Hüchtker: Elende Mütter und liederliche Weibspersonen, S. 169-179, S. 193; dies.: »Prostitution und städtische Öffentlichkeit. Die Debatte über die Präsenz von Bordellen in Berlin 1792-1846«, in: Ulrike Weckel/Claudia Opitz u.a. (Hg.), Ordnung, Politik und Geselligkeit der Geschlechter (Das achtzehnte Jahrhundert. Supplementa 6), Göttingen 1998, S. 345-364. Zu Tanzstätten als Orte der Prostitution in den europäischen Großstädten, vgl. Iwan Bloch/Georg Loewenstein: Die Prostitution (Handbuch der gesamten Sexualwissenschaft in Einzeldarstellungen 2/1), Berlin 1925, S. 387-396.
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Blickwechsel in der Berliner Prostitutionsdebatte um 1800 | 211
Abbildung 1: Bergerscher Tanzsaal zu Berlin, 1799
I. Die Werbung Der anonyme, hochformatige Kupferstich entstand um 1799. Auf dem Bild (Abb. 1)6 drängen sich Musiker, Tänzer und Tänzerinnen unter der Kuppel 6 | Anonym: Bergerscher Tanzsaal zu Berlin, 1799. Kupferstich, 265x373 mm (Bl.). Bez. u. m. »Abendbelustigung auf dem berümten Bergerschen Tanzsaale zu Berlin«, Berlin, Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Handschriftenabteilung. Signatur Yb 11590 kl >ba< und Yb 11590 kl >c< außerdem zwei Lithographien, die bis ins 20. Jahrhundert in Zeitungen publiziert wurden. Das Blatt diente bisher als Illustration in sitten- und stadtgeschichtlicher Literatur, (kunst-)wissenschaftliche Beachtung fand es noch nicht. 7 | Hieronimus Löschenkohl: Der Spaziergang des Abends am Graben, 1784. Kolorierter Kupferstich, 645x478 mm. Bez. u.m. »Der Spaziergang des Abends am Graben/ oder /der Schnepfenstrich«. Historisches Museum der Stadt Wien, Inv.-Nr. 62017. Abb. aus Reingard Witzmann: Hieronymus Löschenkohl. Bildreporter zwischen Barock und Biedermeier, Kat. Ausst., Wien 1978, S. 53. 8 | Ludwig H. Röhr: Reisen durch das südliche Teutschland. Bd. 1, Klagenfurt, Leipzig 1789, S. 387.
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Blickwechsel in der Berliner Prostitutionsdebatte um 1800 | 213
Abbildung 2: Hieronimus Löschenkohl: Der Spaziergang des Abends am Graben, 1784
Im Vordergrund der linken Bildhälfte blickt eine durch ihren dunklen Mantel hervorgehobene Prostituierte nach rechts auf die erhobenen Hände ihres Freiers. Mithilfe so genannter Fingerzahlen handeln Prostituierte und Freier bei Löschenkohl die Bezahlung aus. Die Gestik wiederholt sich in der Frau rechts über ihnen, die sich zu einem Freier umdreht und zwei Finger hochhält. Das Mädchen im Berliner Blatt und der Wiener Freier benutzen ihrerseits jeweils zwei Hände, um mit diesem Fingerzahlensystem ihren Preis auszuhandeln.9 Hier wie dort verweist die Gestik auf die Käuflichkeit der Frauen. Im »Bergerschen Tanzsaal« steht rechts des Offiziers ein weiterer Mann mit Pfeife und langem Mantel an einen Tisch gelehnt und wendet sich im Profil zwei Frauen zu. Die beiden Mädchen stehen schräg hintereinander, wobei die Hintere der Vorderen an den Rücken fasst. Beide blicken ihn lächelnd an, das vordere Mädchen unterstreicht dabei ihren Blick mit einem Fingerzeig. Auffällig ist, dass alle Frauen im Vordergrund des »Bergerschen Tanzsaals« in der Form ihres Gesichtes, den mandelförmigen Augen, dem kleinen Mund, in ihrer Figur 9 | Zur Schwierigkeit bei der Deutung der unterschiedlichen Fingerzahlensysteme, insbesondere bezüglich ihrer Anwendung in der populären Druckgraphik, vgl. Karl A. Wirth: »Fingerzahlen«, in: Ludwig H. Heydenreich (Hg.), Reallexikon zur deutschen Kunstgeschichte, Bd. 8: Fensterrose-Firnis, München 1987, S. 1225-1309.
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214 | Romana Filzmoser und Frisur einander gleichen. Alle sind zudem in ihren hoch taillierten Kleidern mit den sehr tiefen Dekolletés ähnlich und ähnlich modisch gekleidet:10 An ihrer Kleidung sind die Prostituierten nicht zu erkennen. Nicht ihr Äußeres bezeichnet sie als Prostituierte und unterscheidet sie von »ehrbaren« Frauen, sondern nur ihre Gestik und ihr direkter, auffordernder Blick in die Augen der Männer. So wie Justus Conrad Müller in seinem Bordellführer für Berlin 1792 die Werbung der Prostituierten im Tanzsaal durch »Blike [sic!] und Gebärden« beschrieben hat,11 ist sie auch im Bild visualisiert. Die hier ganz konkret mit Käuflichkeit bezeichneten Gesten verweisen überdeutlich auf Prostitution: Neben dem direkten auffordernden Blick der Prostituierten kommt die Ikonographie der Gestik als weiterer aktiver Moment der Ikonographie der Werbung hinzu. Doch erst die Reaktionen der adressierten Männer werden Rückschlüsse auf die Aussagefähigkeit des »Bergerschen Tanzsaales« zulassen.
II.
Blickregimes
Im Zuge der Aufwertung des Sehsinns im 18. Jahrhunderts wurde das Auge als Portal von Leidenschaften, Neigungen und Wünschen, und damit als der wesentliche Adressat sinnlicher Verführung für die Interaktion von Freiern und Prostituierten bedeutsam.12 Der weibliche, einladende oder auffordernde Blick, der im Folgenden zentral sein wird, steht dabei für das Verführungspotential der Prostituierten, während sich die Freier wiederum durch die Erwiderung ihrer Blicke als solche zu erkennen geben und so ihre Bereitwilligkeit, sich auf die Verführung einzulassen, signalisieren. Derartige Blickregimes zwischen Männern und Prostituierten begegnen uns in einem satirischen Blatt von Wilhelm Chodowiecki, das um 1790 entstanden
10 | Kleider und Kopfschmuck sind mit Modekupfern für die Mode à la grecque vergleichbar. Vgl. Adelheid Rasche/Gundula Wolter (Hg.), Ridikül! Mode in der Karikatur 1600-1900. Kat. Ausst., Berlin 2003, S. 73, Abb. 5. Zur Mode à la grecque in der Modekarikatur, vgl. Carsten Jöhnk: »›Die Französische, garstige Nudität‹. Karikaturen zur Nacktmode der Zeit um 1800«, in: Adelheid Rasche/Gundula Wolter (Hg.), Ridikül! Mode in der Karikatur 1600-1900, Kat. Ausst., Berlin 2003, S. 69-78. Die für die Zeitgenossen moralische Fragwürdigkeit der Mode à la grecque bot sich an, um Modekarikaturen in Bordellinterieurs zu situieren. Vgl. Abb. ebd., S. 196, Kat. 6.12. Vgl. Aileen Ribeiro: Dress and Morality, Oxford/New York 2003, S. 118. Allgemein zur deutschen Mode um 1800, Martha Bringemeier: »Wandel der Mode im Zeitalter der Aufklärung«, in: Rheinischwestfälische Zeitschrift für Volkskunde 13 (1966), S. 5-60. 11 | Vgl. J. C. Müller: Gemählde von Berlin, Potsdam und Sanssouci, S. 94. 12 | Vgl. Sophie Carter: Purchasing Power. Representing Prostitution in Eighteenth-Century English Popular Print Culture (British Art and Visual Culture since 1750, new readings), Aldershot 2004, S. 67. Vgl. auch Kristina Straub: Sexual Suspects. Eighteenth-Century Players and Sexual Ideology, Princeton (USA) 1992.
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ist und durch die Bildunterschrift »Hotel de Venus« ein Bordellinterieur zeigt (Abb. 3).13 Abbildung 3: Wilhelm L. Chodowiecki: Hotel de Venus, um 1790
In einem geschmückten, mit einem Luster beleuchteten Raum wird in der linken Bildhälfte geraucht und getrunken. Das zweite Paar von rechts wiegt sich im Tanz. Die Männer des Paares rechts und desjenigen unter dem Luster ergreifen jeweils das Kinn ihrer Partnerin; die Frauen strecken ihrem Mann die Hand entgegen bzw. ergreifen sie.14 Die Gesichter der Frauen sind bis auf diejenige rechts im Profil unter ihren Hüten verborgen und lassen sich von den Blicken der Männer taxieren. Die einseitigen Blicke der Männer richten die didaktischen
13 | Wilhelm L. Chodowiecki: Hotel de Venus, um 1790. Kupferstich, 225x177 mm (Pl.). Sign. u.l. »W. Chodowiecki del.«, u.r. »C. C. Glaflbachsen: Sculps’:«, betitelt u.m. »Hotel de Venus./Wo man Kranckheiten theurer als Arzneyen verkauft. Shekespear«, bez. u.m. »im Verlag S. Morino & Coml: Königl: Acad: Kunsthändler in Berlin.« Lipperheidesche Kostümbibliothek, SMPK Berlin, Standortnr. Lipp 52, 240 (9613). Abb. aus Hans Ostwald: Das galante Berlin, Berlin o.J. [1928], S. 619. 14 | Die Liebkosung des Kinns gehört zur Ikonographie der Impudicitia, der Unkeuschheit, die dem blinden Cupito des Kinn liebkost. Vgl. Edward A. Maser (Hg.): Cesare Ripa. Baroque and Rococo pictorial imagery. The 1758-1760 Hertel Edition of Ripa’s ›Iconologia‹ with 200 engraved illustrations, New York 1971, S. 70.
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216 | Romana Filzmoser Absichten des Titels »Wo man Kranckheiten theurer als Arzneyen verkauft« an beide Gruppen, Prostituierte und Freier. Im »Bergerschen Tanzsaal« reagieren die von den Frauen umworbenen Männer ganz im Gegensatz zur vergnüglichen Beobachtung der Frauen bei Friedrich von Coellns eingangs zitierten »Partie nach Berliner Art«. Der Offizier links nimmt die ihn berührende Frau gar nicht wahr, sondern blickt geradeaus, der Mann mit Stock rechts hinter ihm schaut zu Boden. Selbst der Mann, der am rechten Bildrand eine Frau umarmt, hat die Augen weit aufgerissen und blickt zur Seite: Die Männer vermeiden jeden direkten Blickkontakt. Der Bildvordergrund ist durch einseitig einladende, weibliche Blicke und souverän ignorierende männliche Blicke charakterisiert. An diesem Ort der Prostitution erwidert keiner der anwesenden Männer den Blick: keiner gibt sich als Freier zu erkennen. Die unterschiedlichen Blickrichtungen in Tanzsaal und Bordell beschreiben ihre jeweilige Kontextualisierung: Das durch den Bildtitel bezeichnete Bordell wird nur von potentiellen Freiern besucht, weshalb Chodowiecki auf die Prostituiertenikonographie der Werbung, also auf die Gestik und den direkten, auffordernden Blick der Prostituierten, verzichtet. Im »Bergerschen Tanzsaal«, der grundsätzlich von allen Frauen und Männern besucht werden konnte, funktioniert die Werbung dagegen in umgekehrter Weise. In dem weiblichen, einladenden oder auffordernden Blick ist die weibliche Verführungssouveränität eingeschrieben. Dieser Blick kann täuschen, weil er reflexiv ist und dem alten Bild der Augen als »Fenster der Seele« zuwiderläuft.15 Alles, was die Frauen durch ihren Anblick preisgeben, ist ihr Körper im Sinne purer Professionalität. Ihr Blick reflektiert damit vor allem die Begehrlichkeiten der männlichen Betrachter. Indem die Männer die Erwiderung des Blicks bewusst vermeiden, verweigern sie nicht nur die Identifizierung mit Freiern, sondern verbergen auch ihr eigenes Begehren. Der Vordergrund des »Bergerschen Tanzsaales« betont die Rolle der Blickbeziehungen zwischen Prostituierten und Freiern, allerdings nicht wie im eingangs zitierten Fall von Friedrich von Coellns »Partie nach Berliner Art« oder in Chodowieckis Bordell: Die Betonung erfolgt hier durch die Umkehrung der Blickregimes. Die Verweigerung des Blick-Kontaktes steht in unmittelbarem Zusammenhang mit der Berliner Prostitutionspolitik um 1800, ein Kontext, der im folgenden Abschnitt am Hintergrund und an den Logen des »Bergerschen Tanzsaales« zu zeigen ist.
III.
Partie nach Berliner Art
Die Aufdringlichkeit der Frauen im »Bergerschen Tanzsaal« partizipiert direkt an der Berliner Prostitutionspolitik der 1790er Jahre. Musik- und Tanzveranstal15 | Zu den Anfängen der Metapher im Bild, siehe Hans Belting/Christiane Kruse: Die Erfindung des Gemäldes. Das erste Jahrhundert niederländischer Malerei, München 1994, S. 51-53.
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tungen wurden zu dieser Zeit neben den Redouten in Tabagien, in Wein- und Bierschenken, in Tanzlokalen und in Bordellen geboten und galten deshalb als Schnittstelle aller öffentlichen Vergnügungen.16 Ausgehend von der Umsetzung des Bordellreglements von 1792, das die räumliche Trennung von Bordellen und ehrbaren Vergnügungsorten forderte, wurden in diesem Zeitraum die Neubestimmung von Öffentlichkeit, Privatsphäre und Heimlichkeit in der Praxis erprobt und ausgelotet.17 Die Bordelle als kontrollierte, aber unehrbare Orte sollten von ehrbaren, aber schwer zu kontrollierenden Vergnügungsorten getrennt werden.18 Die Berliner Prostitutionsdebatte verhandelte dabei Unehrbarkeit über das soziale Umfeld, über Orte und nicht über die Körper der Prostituierten: Dadurch wurden auch die Freier eingebunden.19 Die Definition von ehrbaren und unehrbaren Orten, die Bestimmung von Öffentlichkeit und Heimlichkeit, erwiesen sich als ein wesentliches Problem.20 Denn sowohl die Prostituierten als auch die Orte der Prostitution wurden als öffentlich definiert, solange sie unter polizeilicher Kontrolle standen, das heißt, wenn es sich um Bordellprostituierte bzw. Bordelle handelte. Sobald nun Prostituierte an Orten außerhalb der Bordelle warben, wurde von heimlicher Prostitution gesprochen. Heimlichkeit meinte dabei das heimliche, unüberschaubare und also unkontrollierbare Angebot von Sexualität, bzw. ihrem Erwerb, das für Prostituierte und Freier gleichermaßen problematisiert wurde.21 Die Auffassung der Behörden suggerierte, dass Tanzveranstaltungen erst durch die Anwesenheit von Prostituierten zu unehrbaren Festen wurden. Ein Zutrittsverbot für Prostituierte, so das Argument, könnte ehrbaren Frauen wieder den Zutritt ermöglichen.22 Im »Bergerschen Tanzsaal« stehen die Blickver16 | Noch Iwan Bloch subsumiert »berühmt gewordene Bordelle und Tanzstätten«. I. Bloch/G. Loewenstein: Die Prostitution, S. 564. 17 | Mit weiterführender Literatur zum Diskurs über Öffentlichkeit um 1800 in Berlin, vgl. D. Hüchtker: Elende Mütter und liederliche Weibspersonen, S. 167-169. Die schwierige Durchsetzbarkeit der Bestimmung zeigt ein neuerliches Verbot von Prostituierten bei Tanzveranstaltungen und Militärparaden im Jahr 1799. Vgl. ebd., S. 169. Zur »Verordnung wider die Verführung junger Mädchens zu Bordels, und zur Verhütung der Ausbreitung venerischer Uebel. De Dato Berlin, den 2. Februar 1792« und ihrem Einfluss auf die Prostitutionsregelung des Allgemeinen Preußischen Landrechts 1794, siehe auch Sabine Gleß: Die Reglementierung von Prostitution in Deutschland (Kriminologische und sanktionenrechtliche Forschungen 10) (zugl. Univ. Diss. Bonn 1997), Berlin 1999, S. 2027. 18 | Vgl. D. Hüchtker: Elende Mütter und liederliche Weibspersonen, S. 167-169. 19 | Zur sukzessiven Verschiebung der Aufmerksamkeit vom sozialen Umfeld zu den Körpern der Prostitutierten bis hin zu ihrer Objektivierung in Berlin, vgl. ebd., S. 194-197. 20 | Vgl. ebd., S. 193. 21 | Vgl. ebd., S. 188. 22 | Dabei wurde Prostitution aber mit Öffentlichkeit konnotiert und »machte aus der Frage, in welcher Öffentlichkeit sich welche Frauen aufhalten konnten, eine Frage der
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218 | Romana Filzmoser hältnisse des Hintergrundes im Kontrast zum Vordergrund. Die tanzenden Männer in der Mitte lächeln nicht nur, sondern nehmen aktiv Blickkontakt mit dem Mädchen links hinter dem Offizier auf. Den sich gegenseitig zuprostenden Trinkern links stehen ganz rechts zufriedene Beobachter gegenüber. Der Hintergrund ist ein Ort des undurchsichtigen Vergnügens. So suggerieren es die Blicke der Protagonisten, so suggeriert es die Orpheusbüste mit der Lyra in der Nische hinter dem Orchester. Der entkörperlichte Orpheus vertritt nicht nur die Musik, sondern soll auch ihren Genuss garantieren.23 Verkörpert wird das Zuhören durch einen Mann, der rechts von der Mittelachse zwischen den Tanzenden und der Kapelle mit verschränkten Armen aus dem Bild zum Betrachter blickt. Ein einzelner Blick stört jedoch den Eindruck von vergnüglichem Tanz und Musikgenuss im Hintergrund. Der Kopf der einzigen Frau, die mit keinem Mann Blickkontakt aufnimmt, erscheint im Dreiviertelprofil nach links hinter dem Zweispitz des Offiziers im Mittelgrund. Ihr Blick schweift kontrollierend über die Tanzenden: Sie registriert die Zahl der Tänze. Allen Tanzveranstaltungen gemeinsam war, dass alle Stände grundsätzlich gegen ein Entgelt Zutritt hatten. Für den Eintritt kamen die Besucher in den Genuss der Musik. Für alle weiteren Vergnügungen musste bezahlt werden: für die Getränke und das Essen, wenn man sich in eine Loge zurückziehen wollte, und für jeden Tanz.24 Durch das Zählen der zu bezahlenden Tänze bezeichnet ihr Blick auch den Bildhintergrund als käuflich. Gleichzeitig verweist sie auf die Rolle der Bordellwirtin, wie sie in Wilhelm Chodowieckis Bordellkarikatur erscheint. Beide verbindet die Aufgabe des Kontrollierens und Registrierens der Transaktionen. Die Tanzfläche des »Bergerschen Tanzsaales« ist durch die soziale Relation des Raumes mit Käuflichkeit bezeichnet:25 Erst die Interaktion der Personen im Tanzsaal lässt das Thema der Käuflichkeit sichtbar werden und konnotiert ihn mit Prostitution. Ehrbarkeit«. Ebd., S. 189. Wie Hüchtker gezeigt hat, ging es nicht um die Erweiterung des Aktionsradius ehrbarer Frauen, sondern um die Wahrung der öffentlichen Ordnung. Vgl. ebd., S. 169-170. 23 | Zur Orpheusrezeption, vgl. Heinz Hofmann: »Orpheus«, in: ders. (Hg.), Antike Mythen in der europäischen Tradition, Tübingen 1999, S. 153-198. Zum schmalen Grad zwischen idealer Musik und Verführung in der Orpheusrezeption, vgl. Andreas Solbach: »Liaisons dangereuses. Gefährdung durch Musik und Musiker in der Frühen Neuzeit«, in: Christine Mundt-Espín (Hg.), Blick auf Orpheus. 2500 Jahre europäischer Rezeptionsgeschichte eines antiken Mythos, Tübingen/Basel 2003 (Mainzer Forschungen zu Drama und Theater 29), S. 193-204. 24 | »Tänzer und Tänzerinnen müssen jeden einzelnen Tanz mit 2 Groschen bezahlen, was jedesmal von einem Musiker durch einen besonderen Zug einer kleinen Glocke in Erinnerung gebracht wird.« Zit. nach der Beschreibung des Bergerschen Tanzsaales bei H. Ostwald: Das galante Berlin, S. 84 (ohne Quellenangabe). 25 | Vgl. den Raumbegriff von Martina Löw, die Raum als »relationale Anordnung sozialer Güter und Menschen an Orten« definiert. Martina Löw: Raumsoziologie, Frankfurt am Main 2001, S. 224.
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Ebenso divergierend ist die Situation in den Logen in der oberen Bildhälfte. In der Loge links außen prostet ein Mädchen einem Mann zu, der mit seiner rechten Hand nach hinten deutet. Rechts außen lehnt sich ein Mädchen auf die Brüstung und beobachtet die Tanzfläche. Ihr Begleiter links blickt lächelnd aus dem Bild zum Betrachter, während der verschattete Mann rechts von ihr unbestimmt aus der Loge schaut. Die Gruppe wird von einem Mädchen aus der rechten inneren Loge beobachtet, die als einzige eine nackte Schulter aufblitzen lässt. Der Vorhang ihrer Loge ist nur leicht auseinander gezogen. Der Vorhang der inneren linken Loge ist geschlossen. Die Logen ermöglichen grundsätzlich die anonyme Beobachtung, den privaten und ungestörten Musikgenuss und sind damit Orte der Heimlichkeit.26 Die architektonische Gliederung der Logen, sie sind durch Pilaster getrennt und von der unteren Zone von einem mit Kerzenhaltern bestückten Zierfries abgegrenzt, betont ihren intimen Charakter. Der Fries ist gegen den rechten und linken Bildrand leicht nach oben gebogen, sodass die durch die Verschattung dargestellte Etagendecke sichtbar und die Trennung zum darunter liegenden Tanzsaal betont wird. Diese Abgrenzung vom Tanzsaal setzt sich in den Blickbeziehungen zwischen Männern und Frauen in den Logen fort: So wie im Hintergrund ist auf eindeutige – auffordernde wie ignorierende – Blicke und Gesten verzichtet worden. Ist der Kontrakt zustande gekommen, die Bezahlung ausgehandelt, fallen Blicke und Gesten weg.
IV. Das Bild als Argument Durch die Blickbeziehungen und die Reaktion der Männer im Vordergrund lässt der »Bergersche Tanzsaal« Prostitution im öffentlichen Raum im Sinne ihrer Unehrbarkeit und Unkontrollierbarkeit bedrohlich erscheinen. Insofern nimmt das Blatt zur Berliner Prostitutionspolitik Stellung. Allerdings nicht, weil die Prostituierten, wie die Behörden argumentierten, ehrbaren Frauen den Zugang verwehrten,27 sondern weil sie die Interaktion zwischen Freiern und Prostituierten und die Freier als solche veröffentlichten. Die Unsicherheit über die Definition von ehrbaren und unehrbaren Räumen in der Prostitutionsdebatte ist durch das Changieren zwischen werbenden Gesten und Blicken, also den semantisierten Körpern und dem als käuflich bezeichneten Ort visualisiert. Aller26 | Vgl. dagegen die Loge als Ort der Selbstdarstellung bzw. Exposition des weiblichen Publikums im 19. Jahrhundert bei Griselda Pollock: »Die Räume der Weiblichkeit in der Moderne«, in: Ines Lindner/Sigrid Schade u.a. (Hg.), Blick-Wechsel. Konstruktionen von Männlichkeit und Weiblichkeit in Kunst und Kunstgeschichte, Berlin 1989, S. 313332. 27 | Zur Kopplung von Raum und Geschlecht und der damit verbundenen Debatte über Frauen im öffentlichen Raum im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert, vgl. Franziska Roller: »Flaneurinnen, Straßenmädchen, Bürgerinnen. Öffentlicher Raum und gesellschaftliche Teilhabe von Frauen«, in: Margarete Hubrath (Hg.), Geschlechter-Räume. Konstruktionen von ›gender‹ in Geschichte, Literatur und Alltag (Literatur – Kultur – Geschlecht. Grosse Reihe 15), Köln/Weimar/Wien 2001, S. 251-265.
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220 | Romana Filzmoser dings ist das Blatt keineswegs als Illustration der Berliner Prostitutionspolitik zu verstehen, die letztlich auf die Kontrolle des öffentlichen Raums zielte.28 Denn in der architektonischen Abgrenzung der Logen ist in Hinblick auf den in der Kuppel durch die Eroten angedeuteten Himmel eine Lösung für den Umgang mit der Beziehung zwischen Prostituierten und Freiern artikuliert: Hier, wo die Freier an einem Ort der Heimlichkeit agieren, kann auf eine Konnotierung der Blicke verzichtet werden. Nicht die Prostituierten, sondern die Freier entziehen sich hier dem Blick der Öffentlichkeit und damit dem Blickfeld der Prostitutionsdebatte. Das Blatt ist deshalb als ein Plädoyer für die Anonymität der Freier zu lesen. In diesem Sinne sind der Zuhörer vor der Kapelle und der Mann in der rechten Loge als Betrachtervertreter zu verstehen: Die ernste Miene des Zuhörers im Tanzsaal betont den Zweck der öffentlichen Veranstaltung, während der lächelnde Mann in der Loge Position für die dortige Intimität bezieht. Am Ende der Beschreibung der »Partie nach Berliner Art« distanziert sich Friedrich von Coelln von den tanzenden Frauen. Der Gedanke an Gewerbsmäßigkeit und Käuflichkeit lässt ihn Abstand nehmen: »[…] wiegt sie aber bloß meinen Geldsack und berechnet den Preis, wofür sie sich mir überlassen will, so habe ich mein Blut abgekühlt.« Denn er »[…] verlang[t], daß das Weib, welches sich mir hingiebt, auch mit genießen soll«.29 In seiner am Anfang des 19. Jahrhunderts entstandenen Schilderung ist die Käuflichkeit nicht mehr an den Ort gebunden, sondern allein mit dem Körper assoziiert. Erst das 19. Jahrhundert wird das Sprechen über Prostitution und seine Darstellbarkeit dann in diesem Sinne umsetzen: Indem es den Körper der Prostituierten isoliert und objektiviert, wird es möglich werden, die Figur des Freiers auszublenden.30
Literatur Belting, Hans/Kruse, Christiane: Die Erfindung des Gemäldes. Das erste Jahrhundert niederländischer Malerei, München 1994. Bloch, Iwan/Loewenstein, Georg: Die Prostitution, Berlin 1925 (Handbuch der gesamten Sexualwissenschaft in Einzeldarstellungen 2/1). Bringemeier, Martha: »Wandel der Mode im Zeitalter der Aufklärung«, in: Rheinisch-westfälische Zeitschrift für Volkskunde 13 (1966), S. 5-60. Carter, Sophie: Purchasing Power. Representing Prostitution in Eighteenth-Century English Popular Print Culture, Aldershot 2004 (British Art and Visual Culture since 1750, new readings). Coelln, Friedrich von: Wien und Berlin in Parallele. Nebst Bemerkungen auf der Reise von Berlin nach Wien durch Schlesien über die Felder des Krieges. Ein Seitenstück zu der Schrift: Vertraute Briefe über die innern Verhältnisse am preussi-
28 | Vgl. D. Hüchtker: Elende Mütter und liederliche Weibspersonen, S. 188-189. 29 | F. v. Coelln: Wien und Berlin in Paralelle, S. 100. 30 | Zur Verdrängung des Freiers im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert, vgl. D. Hüchtker: Elende Mütter und liederliche Weibspersonen, S. 193.
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schen Hofe seit dem Tode Friedrichs II von F. v. C-n. Mit zwey Kupfern von Penzel, Amsterdam/Coelln 1808. Gleß, Sabine: Die Reglementierung von Prostitution in Deutschland, Berlin 1999 (= Kriminologische und sanktionenrechtliche Forschungen 10) (zugl. Univ. Diss. Bonn 1997). Hofmann, Heinz: »Orpheus«, in: ders. (Hg.), Antike Mythen in der europäischen Tradition, Tübingen 1999, S. 153-198. Hüchtker, Dietlind: »Elende Mütter« und »liederliche Weibspersonen«. Geschlechterverhältnisse und Armenpolitik in Berlin (1770-1850), Münster 1999 (= Theorie und Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft 16) (zugl. Univ. Diss. Berlin 1996). Hüchtker, Dietlind: »Prostitution und städtische Öffentlichkeit. Die Debatte über die Präsenz von Bordellen in Berlin 1792-1846«, in: Ulrike Weckel/ Claudia Opitz u.a. (Hg.), Ordnung, Politik und Geselligkeit der Geschlechter, Göttingen 1998 (Das achtzehnte Jahrhundert. Supplementa 6), S. 345-364. Jöhnk, Carsten: »›Die Französische, garstige Nudität‹. Karikaturen zur Nacktmode der Zeit um 1800«, in: Adelheid Rasche/Gundula Wolter (Hg.), Ridikül! Mode in der Karikatur 1600-1900, Kat. Ausst., Berlin 2003, S. 69-78. Löw, Martina: Raumsoziologie, Frankfurt am Main 2001. Maser, Edward A. (Hg.), Cesare Ripa. Baroque and Rococo pictorial imagery. The 1758-1760 Hertel Edition of Ripa’s »Iconologia« with 200 engraved illustrations, New York 1971. Müller, Justus C.: Gemählde von Berlin, Potsdam und Sanssouci. Politisch – moralisch – charakteristisch, London 1792. Ostwald, Hans: Das galante Berlin, Berlin o.J. [1928]. Pollock, Griselda: »Die Räume der Weiblichkeit in der Moderne«, in: Ines Lindner/Sigrid Schade u.a. (Hg.), Blick-Wechsel. Konstruktionen von Männlichkeit und Weiblichkeit in Kunst und Kunstgeschichte, Berlin 1989, S. 313-332. Ribeiro, Aileen: Dress and Morality, Oxford/New York 2003. Röhr, Ludwig H.: Reisen durch das südliche Teutschland, Bd. 1, Klagenfurt/Leipzig 1789, S. 387. Roller, Franziska: »Flaneurinnen, Straßenmädchen, Bürgerinnen. Öffentlicher Raum und gesellschaftliche Teilhabe von Frauen«, in: Margarete Hubrath (Hg.), Geschlechter-Räume. Konstruktionen von »gender« in Geschichte, Literatur und Alltag, Köln/Weimar/Wien 2001 (= Literatur – Kultur – Geschlecht. Grosse Reihe 15), S. 251-265. Sadowsky, Thorsten: Reisen durch den Mikrokosmos. Berlin und Wien in der bürgerlichen Reiseliteratur um 1800, Hamburg 1998 (= Hamburger Veröffentlichungen zur Geschichte Ost- und Mitteleuropas 5) (zugl. Univ. Diss. Hamburg 1997). Scaramuz: »Reisen zu Wasser und zu Lande. Erste Abtheilung welche die Reisen zu Lande enthält«, in: Johann D. Frank (Hg.), Taschenbuch für Freunde des Scherzes und der Satire, Leipzig 1798, S. 55-112. Solbach, Andreas: »Liaisons dangereuses. Gefährdung durch Musik und Musiker in der Frühen Neuzeit«, in: Christine Mundt-Espín (Hg.), Blick auf Orpheus. 2500 Jahre europäischer Rezeptionsgeschichte eines antiken Mythos, Tü-
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222 | Romana Filzmoser bingen/Basel 2003 (= Mainzer Forschungen zu Drama und Theater 29), S. 193-204. Straub, Kristina: Sexual Suspects. Eighteenth-Century Players and Sexual Ideology, Princeton (USA) 1992. Wirth, Karl A.: »Fingerzahlen«, in: Ludwig H. Heydenreich (Hg.), Reallexikon zur deutschen Kunstgeschichte. Bd. 8: Fensterrose-Firnis, München 1987, S. 12251309. Witzmann, Reingard: Hieronymus Löschenkohl. Bildreporter zwischen Barock und Biedermeier, Kat. Ausst., Wien 1978.
Abbildungsnachweis Abb. 1 aus Thorsten Sadowsky: Reisen durch den Mikrokosmos. Berlin und Wien in der bürgerlichen Reiseliteratur um 1800, Hamburg 1998 (Hamburger Veröffentlichungen zur Geschichte Ost- und Mitteleuropas 5) (zugl. Univ. Diss. Hamburg 1997), S. XIII. Abb. 2 aus Reingard Witzmann: Hieronymus Löschenkohl. Bildreporter zwischen Barock und Biedermeier, Kat. Ausst. Wien 1978, S. 53. Abb. 3 aus Hans Ostwald: Das galante Berlin, Berlin o.J. [1928], S. 619.
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Die Prostituierte als Medium der literarischen Moderne | 223
Sucht. Abgründiger Körper. Die Prostituierte als Medium der literarischen Moderne Nicola Behrmann
Die Prostituierte, wie Walter Benjamin es formulieren würde: von der Menge getragen wie ein Segelschiff von den Fluten, tauchte im Laufe des 19. Jahrhunderts in die Menschenmassen der großen Städte ein und in ihnen unter: Une Passante.1 Diese rauschhafte Erfahrung des Ein- und Untergehens in einer Menge und die Begegnung mit einer HURE werden in der literarischen Moderne zu austauschbaren Bestandteilen der gleichen Erfahrung: der des Überschreitens sozialer und topographischer Schwellen, das für die expressionistische Dichtergeneration im Zeichen der Prostituierten stand. Noch in seiner »Berliner Chronik« aus dem Jahr 1932 erinnert sich Benjamin an die »beispiellose Faszination, auf offener Straße eine Hure anzusprechen«, die das Überschreiten solcher Schwellen markierte.2 Im Labyrinth der Städte finden sich Schwellen, Leerstellen, Passagen, an denen die Grenzen zwischen Innen und Außen, zwischen Subjekt und Objekt, Körper/Bild und Text zusammenbrechen und an denen das Subjekt einfach »ausfällt«. Gesucht und fasziniert zur Darstellung
1 | Vgl. Walter Benjamin: »Über einige Motive bei Baudelaire«, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. I.2, Frankfurt am Main 1991, S. 624. Die in Baudelaires Gedicht »A une Passante« dargestellte Begegnung eines männlichen Flaneurs mit »einer, die vorüberging« bezieht sich zwar nicht auf die Begegnung mit einer Prostituierten. Wohl aber wird bei diesem »Motiv der Liebe zu einer Passantin« (ebd.) die gleiche Blickökonomie evoziert wie bei der Kontaktaufnahme mit einer Hure. Baudelaires Flaneur ist Voyeur und Erotiker, die vorübergehende Frau, die ihr Kleid kurz anhebt, gibt ihm ein erotisches Zeichen. Beide verbindet, wie Benjamin schrieb, »eine Liebe nicht sowohl auf den ersten als auf den letzten Blick«. Ebd., S. 547. 2 | Walter Benjamin: »Berliner Chronik«, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. VI, Frankfurt am Main 1985, S. 471. »Unzählig«, fährt Benjamin fort, »sind in den großen Städten die Stellen, wo man auf der Schwelle ins Nichts steht und die Huren sind gleichsam Laren dieses Kultes des Nichts […].« Ebd., S. 472.
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224 | Nicola Behrmann gebracht wurde vor allem in expressionistischen Texten das Eindringen der Objektwelt und der Untergang des (männlich konnotierten) Subjekts in ihr. Nicht nur in Benjamins Erinnerungen an seine Berliner Jugend im ausgehenden Kaiserreich, sondern fast durchgängig in der Literatur des frühen Expressionismus besetzen und beunruhigen die Prostituierten die verwirrende Topographie einer Stadt. Die Schau-Plätze, an denen sie sich als weiteres Warenangebot postieren, sind dunkle Animierkneipen, schmutzige Rinnsteine, rot beleuchtete Hinterzimmer, die Halbwelt der Variétés und Cabarets oder die Passagen. Die HUREN finden sich in Nachtcafés, »in den Haustoren der Mietskasernen und auf dem sanfter schallenden Asphalt des Perrons«, auf Brücken und an Bahnhöfen. »Ganze Straßenzüge«, so Benjamin, »wurden so im Zeichen der Prostitution entdeckt.«3 Die Orte der HURE sind stets Übergangsorte und Umschlagsplätze, an denen Waren getauscht oder Menschen verschoben werden. An ihnen kreuzen und verwirren sich Grenzen zwischen Innen und Außen, öffentlich und privat, Exhibitionismus und Introversion – hier kann man zugleich von allen gesehen und von niemandem beachtet werden, aufgegriffen oder angehalten werden. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts entstand im Zuge der sich etablierenden Vergnügungsindustrie eine bis dahin so nicht gekannte Topographie der Subkultur: Cafés, Passagen, Variétés, Singspielhallen und Animierkneipen, Orte so genannter verdeckter Prostitution oder »Gelegenheitsprostitution« bildeten zugleich die Orte der Bohême. Sie gehören zu jenen, wie Foucault sie definiert, heterotopen Räumen, die den geregelten, offiziellen Ablauf einer Stadt aufreißen und auf diese Weise ihr verdrängtes und in Schach gehaltenes Unbewusstes markieren.4 Als Anarchisten, Expressionisten, Futuristen und Aktivisten formierte sich hier um 1910 eine junge, progressive Literatenszene, deren Mitglieder sich als Apachen im Gewirr der Städte stilisierten. Apachen finden, so Benjamin, ihre Orte in den »Bannmeilen« der Gesellschaft, gegen den Strich und auf dem Strich, sie »finden den Kehricht der Gesellschaft auf ihrer Strasse und ihren heroischen Vorwurf an eben ihm«.5 Die Heterotopien der Großstadt wurden von ihnen als Treffpunkte entdeckt und literarisch verarbeitet als faszinierende Schwellen, als rites des passages auf dem Weg zum nicht darstellbaren Anderen, zum Asozialen und Destruktiven. Sie bilden die schmutzigen Ränder einer bürgerlichen Gesellschaft, der man entkommen möchte. Die Dichter und Künstler des beginnenden Expressionismus finden hier Gleichgesinnte: »Verbrecher, Landstreicher, Huren und Künstler – das ist die Bohême, die einer
3 | Ebd., S. 472. 4 | Vgl. Michel Foucault: Andere Räume [1967], in: Karlheinz Barck u.a. (Hg.), Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig 1990, S. 34-46. 5 | Walter Benjamin: »Das Paris des Second Empire bei Baudelaire«, in: ders., Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus, Gesammelte Schriften, Bd. I.2, S. 582.
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neuen Kultur die Wege weist«, schreibt Erich Mühsam 1906 in der »Fackel«.6 Und Ludwig Rubiner proklamiert 1912 in der »Aktion«: »Wer sind die Kameraden? Prostituierte, Dichter, Zuhälter, Sammler von verlorenen Gegenständen, Gelegenheitsdiebe, Nichtstuer, Liebespaare inmitten der Umarmung, religiös Irrsinnige, Säufer, Kettenraucher, Arbeitslose, Vielfraße, Pennbrüder, Einbrecher, Erpresser, Kritiker, Schlafsüchtige. Gesindel. Und für Momente alle Frauen der Welt. Wir sind Auswurf, der Abhub, die Verachtung.«7
An diesen schmutzigen Übergangsorten einer Stadt, ihren verwahrlosten Leerstellen und unsichtbaren Übergängen, findet in der Ikonographie und Literatur des Expressionismus die Begegnung des Dichters oder Künstlers mit der HURE statt.8 Doch in dem Maße, in dem die Prostituierten sich nicht mehr an markierten Orten wie Bordellhäusern aufhalten, sondern sich in der Menge der Großstadt verlieren und an deren transitorischen Passagen wiederauftauchen, verlieren sie den Status geheimnisvoll-bedrohlicher Sexualität, den sie noch um die Jahrhundertwende innehatten. Eine promiskuitive oder sich prostituierende Frau ist in der sich in den Sektoren der wilhelminischen Vergnügungsindustrie formierenden Subkultur nicht länger große Verführerin und femme fatale, wie sie in den Männerphantasien des 19. Jahrhunderts zum begehrlich-bedrohlichen Phantasma stilisiert wurde. Solche suggestiven Weiblichkeitsimagos werden nun in die einer erbarmungswürdigen Dirne oder einem monströsen Tier transformiert.9 Im neuen Bild der HURE, wie sie durch Prosatexte und Gedichte des »Sturm« und der »Aktion« geistert, formuliert sich die Vorstellung 6 | Erich Mühsam: »Bohême«, in: Die Fackel, Jg. 8, Nr. 202 vom 30.04.1906, S. 4-10, hier: S. 10. 7 | Ludwig Rubiner: »Der Dichter greift in die Politik« [1912], in: ders., Künstler bauen Barrikaden. Texte und Manifeste 1908-1919, hg. von Wolfgang Haug, S. 61-73, hier: S. 62f. 8 | Die Korrelation von Stadt-Raum und allegorischem Frauenkörper in expressionistischen Darstellungen der Großstadt als Hure Babylons ist bereits umfassend rezipiert worden. Zur allegorischen Verschränkung des Motivs der Hure mit dem der Metropole vgl. vor allem Sigrid Weigel: Topographien der Geschlechter. Kulturgeschichtliche Studien zur Literatur, Reinbek bei Hamburg 1990. 9 | Die Diskussionen, die um die freie Liebe aufflammten, nehmen auf diesen Wandel im Bild weiblicher Sexualität indirekt Bezug. Franziska von Reventlows Streitschrift »Viragines und Hetären« (1899), in der Promiskuität eine höhere Sittlichkeit verliehen wird, zeugt von dem Bemühen, die vormalige femme fatale zu einer selbstbestimmten Frau zu erklären. Auch die bürgerliche Frauenbewegung nahm sich vor allem der Prostitutionsfrage als Ausdruck repressiver sexueller Doppelmoral an und trat für ein Verbot der Prostitution ein. In dem Maße, in dem promiskuitiven oder sich prostituierenden Frauen bürgerliche Rechte und Eigenständigkeit zugesprochen werden, verliert auch das Weiblichkeitsimago der femme fatale seine Faszination. Aus seinen Trümmern taucht das der kaputten, verworfenen Hure auf, die im Expressionismus zur destruktiven Ikone stilisiert wird.
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226 | Nicola Behrmann einer korrumpierten und verworfenen Weiblichkeit in einer korrumpierten und verwerflichen Gesellschaft. »Die Ware«, schreibt Benjamin, »sucht sich selbst ins Gesicht zu sehen. Ihre Menschwerdung feiert sie in der Hure.«10 Gleichwohl unterliegt im kulturellen Zeichensystem jede Frau dem gleichen Tauschakt wie eine Prostituierte: Ihr Körper – nach Levi-Strauss eine privilegierte Ware in der Kultur – wird immer auch als Zeichen getauscht. Für die HURE gilt daher in grotesk übersteigerter Form nur, was für die Frau an sich gilt: Die »Requisiten, mit denen die Mode sie ausstaffiert« und »die Verkleidung des individuellen Ausdrucks, wie er das Werk der Schminke ist«11 sind ihre Fetische. Der allegorische, projektive Blick des modernen Dichters enthüllt den »entseelten, doch der Lust noch zu Diensten stehenden Leib« der Hure als Ware.12 Alfred Jarry hat die HURE sogar als »die einzige Frau, die ganz das Wort verkörpert«, bezeichnet.13 In der Figur der HURE verbanden sich um 1910 die widersprüchlichsten Phantasien von einem geldgierigen Tier oder einer Heiligen, die sich für die korrumpierte Gemeinschaft opfert. Wie nie zuvor wird im Expressionismus die »verworfene« Frau zum Medium männlicher Phantasien von extremer Verwerfung und Überhöhung, über das Affekte wie Ekel und Hingabe, Verachtung und unbedingte Solidarität gleichermaßen ausgetragen werden. Als Opfergestalt nach dem Vorbild der Sonja aus Dostojewskys »Schuld und Sühne« verweist sie auf den Zusammenbruch von Souveränität und freiem Willen, während sie als wilde Hure Babylons (Alfred Döblin) in wilder Destruktivität Phantasmen extremer Ich-Entgrenzung und Zerstörung widerspiegelt. Im Bild der femme fatale hatte der weibliche Körper das radikal Andere repräsentiert und auf diese Weise eine Projektionsfläche sadomasochistischer Wünsche und Sehnsüchte, der Unterwerfung wie der Vergeltung, gebildet. Die expressionistische Hure Babylon hingegen erlebt eine teils pathetische, teils parodistische Wendung ins Destruktive. Bereits die heterotopen Orte, an denen sie sich aufhält, gelten als verrucht; sie hat austauschbare Namen, ihr Körper stinkt nach Verwesung und ist in Auflösung begriffen. Und kaum je wieder sind Frauen, die sich prostituieren, so exzessiv mit monströsen Tiermetaphern belegt worden wie im expressionistischen Jahrzehnt. Als Spinne, Fledermaus oder Ratte flattern und schwanken die HUREN in der Literatur des Expressionismus durch die Straßen der Großstadt, die den angemessenen Schauplatz ihres Dramas bietet und selbst besetzt ist mit tierhaften Attributen. Als »wilde Tigerin«, Hündin, Schlange oder »Raubtier« 10 | Walter Benjamin: »Charles Baudelaire«, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. I.2, S. 671. 11 | Walter Benjamin: »Das Passagenwerk«, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. V.1, S. 437. 12 | Ebd., S. 439. 13 | Zit. n. Dietmar Schmidt: Geschlecht unter Kontrolle. Prostitution und moderne Literatur, Freiburg i.B. 1998, S. 25. Damit, so Schmidt, sei »nicht gesagt, daß [die Hure] ein kohärentes Bild ergibt oder einen bestimmten Sinn konstituiert, sondern daß sie ein Zeichen darstellt, daß sie das Zeichen eines Zeichens ist, bloßes Material des Sinns.« Ebd., S. 27.
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verweisen sie auf die verhängnisvolle Sexualität kaputter und preisgegebener Körper, die den rätselhaften Eros der femme fatale ins Groteske steigern, ohne ihn gänzlich aufzulösen. Die Figurationen, in denen die Prostituierte auftreten kann, reflektieren dabei die durchaus einander widersprechenden Vorstellungen von Weiblichkeit um die Jahrhundertwende: femme fatale, Kindfrau, Hysterikerin, Maria Magdalena etc. All diesen Figurationen gemein ist, dass die Frau weiterhin als ihr eigenes Rätsel imaginiert oder theoretisiert wird.14 Zugleich verschränken sich in ihnen die Phantasien einer extrem bedrohlichen Sexualität mit einer fetischistischen Maskerade, die zugleich für die Destabilisierung eines eindeutigen weiblichen Körpers zeugt. Doch in Darstellungen der Prostituierten als Tier, Auswurf oder Geschwür ist das Bild des weiblichen Körpers nicht nur versehrt, sondern in den Status eines Abjekts gebracht. Zugleich sind diese Darstellungen geprägt vom Zusammenbruch eindeutiger Systeme der Repräsentation wie Symbol und Metapher. Das Bild der versehrten, zum Tier geronnenen HURE hyberbolisiert das »Wesen« und enthüllt das »Rätsel der Weiblichkeit« als notdürftig überschminkte Leerstelle. Die wesentliche Wahrheit, die der destruktive, zugerichtete weibliche Körper verkünden soll, ist eine katastrophale. Die Maskerade der flanierenden Prostituierten, ihre äußerliche Aufmachung (geschminktes Gesicht, übergroßer Hut, bunte Kleidung etc.) hält ein Versprechen auf Glück bereit – im Sinne Lacan’scher jouissance – und enthüllt zugleich den Fetischcharakter der Ware. Traditionell mit Lüge und Verstellung gleichgesetzt, wird die HURE im Expressionismus zum »Wa(h)ren Weib« stilisiert: Sie verkündet negative Wahrheit an ihrem eigenen missbrauchten und ausverkauften Körper – einer bloßen fetischistischen Maskerade, hinter der die »degenerierenden« Gefahren der Syphilis lauern. Als Ware verweist der prostitutive Körper nicht länger auf ein Weiteres, sondern bleibt dem Blick des Betrachters ausgeliefert, der ihn dann wieder willkürlich und fetischisierend überhöht. Weil Weiblichkeit per se als eine Maskerade verstanden wird, verkommt entsprechend die übertriebene Maskerade der Nutte zur schmutzigen Parodie auf die Weiblichkeit. Als Ware entqualifiziert denn auch der allegorische Blick des Expressionisten die »wesenlose« Maskerade der HURE: »Mit Euren Locken blond, seid ihr die Musen blöder Dichter«, dichtet Johannes R. Becher, dessen frühe Texte sich in sexuellen Schmutz- und Ekelphantasien geradezu überbieten.15 Auch für Gottfried Benn, der während des Ersten Weltkrieges als Arzt in einem Krankenhaus für Prostituierte arbeitete, ist weibliche Sexualität hinter ihrer Maskerade immer prostitutiv:
14 | Vgl. hierzu Christina von Braun: »Die Erotik des Kunstkörpers«, in: Irmgard Roebling (Hg.), Lulu, Lilith, Mona Lisa … Frauenbilder der Jahrhundertwende, Pfaffenweiler 1989, S. 1-17. 15 | Johannes R. Becher: »Die Huren«, in: Martin Reso u.a. (Hg.), Expressionismus. Lyrik, Berlin/Weimar 1969, S. 329.
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228 | Nicola Behrmann »Ein Mann tritt mit einem Mädchen in Verhandlung:/Deine Stimme, Augenausdruck, Ohrläppchen/Sind mir ganz piepe./Ich will dir in die Schultern stoßen./Ich will mich über dir ausbreiten./Ich will ein ausgeschlenkertes Meer sein, du Affe!«16
Die Prostituierte, das ist bei Benn und den Expressionisten jede Frau, mit der Mann körperlich verkehrt. Ob arm und verworfen oder verschlagen und gierig: Hinter der Schminke der Prostituierten lauert der Körper eines blicklosen Tieres oder einer angefressenen Leiche und verkündet die negative Wahrheit der Frau. Entsprechend zynisch liest sich Oskar Kanehls Gedicht »Nachtcafé«: »An den Wänden glucken/Wie Giftpilze bunt/Schneppen zur Wahl. Markt./Fette und Fleischige, Schwammige, Wabblige,/wie Masttiere vom Schlachthof;/andere, hautüberzogene Knochen,/hölzern und eckig mager,/angepinselte Leichen./Halbakte, Entblößte Rücken/Und Busen bis an die Warzen./Offen bis zum Geldeinwurf.«17
Zugleich dient der im Schwinden begriffene, süchtige Körper der HURE den Expressionisten als destruktives Medium, an dem sich Phantasien »libidinaler Autonomie« (Avital Ronell) freisetzen. Zwar bleibt ihre Sexualität bedrohlich, doch wird dies nicht mehr in einem Akt masochistischer Unterwerfung lustvoll erlebt. Eine HURE gilt potentiell stets als ein Krankheitserreger18, ihr Körper wird zumeist als syphilitisch versehrt und immer irgendwie erschöpft dargestellt, ihr Bewusstsein wird als durch billige Drogen wie Äther, Opium und Absinth ständig narkotisiert vermutet. Vor allem ist das Schicksal des Sexkäufers eng mit dem ihrem verstrickt, denn nicht nur die Bohêmedirne, auch ihr Apachendichter standen geradezu permanent unter irgendwelchen Narkotika.19 Neben den damals üblichen Rauschgiften wie Opium, Kokain, Äther oder Morphium können auch der Rausch der großen Stadt oder die aufkommende Sucht nach dem Kino getrost unter die »neuen« Drogen gerechnet werden. Die Orientierungssuche der Dichter im Labyrinth der Städte und in einer repressiven Gesellschaft gestaltete sich als Sucht nach den Abgründen des individuellen und des gesellschaftlichen »Körpers«. Die »Erlösung« des zerrissenen Ichs im 16 | Gottfried Benn: »Café des Westens« [1913], in: ders., Sämtliche Werke. Stuttgarter Ausgabe, hg. von Gerhard Schuster, Stuttgart 1986, Bd. II, Gedichte 2, S. 21. 17 | Auszug aus Oskar Kanehl: »Nachtcafé« [1913], in: »Die Aktion«, Jg. 3, Nr. 44 vom 1.11.1913, Sp. 1021-1022. 18 | Die Expressionisten stilisierten den Körper einer Hure nicht nur als eine soziale und moralische Katastrophe, sondern auch als einen konkreten Krankheitserreger. Denn gerade um 1900 wurde mit dem Verkehr mit einer Prostituierten immer auch die Angst vor einer Syphilis-Ansteckung assoziiert. Vgl. hierzu: S. Weigel: Topographien der Geschlechter, S. 209. 19 | Um nur einige zu nennen: Johannes R. Becher war ab 1912 jahrelang schwer morphium- und tablettensüchtig. Georg Trakl und Walter Rheiner starben beide an einer Überdosis Kokain – bei beiden wird Selbstmord vermutet. Jakob van Hoddis atmete Äther ein, Ferdinand Hardekopf nahm Opium, und Gottfried Benn schnupfte zumindest zeitweise Kokain.
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Rausch, um die es hier geht, so Klaus Theweleit, »ist momenthaft, sporadisch: sie geschieht sporadisch, wird erfahren, wird aufgezeichnet – und vergessen«.20 Der Rausch ist wie der Sex mit einer HURE nur ein kurzer Moment, vergleichbar mit dem Eintauchen des Kinogängers in die Dunkelheit der Kinematographentheater, in denen flimmernde Bilder über die Leinwand jagen. Die HURE verkörpert für ihren expressionistischen Dichter-Kunden eindringlich die Möglichkeit zu etwas, das Avital Ronell in Bezug auf den Typus des Drogenkonsumenten eine »destruktive jouissance« und eine »heroische Erniedrigung« genannt hat: »Indem es sich selbst auflöste und wieder sammelte, wurde das Subjekt an die Möglichkeit einer neuen Autonomie gebunden, und Opium erleuchtete in diesem Fall […] ein Individuum, das sich schließlich nicht mit seiner eigensten Autonomie identifizieren konnte, sondern sich selbst statt dessen einer heroischen Erniedrigung in den Regionen des Erhabenen unterworfen fand. […] Das sich immer teilende Selbst wurde auf etwas anderem als dem Heiligen transportiert, wenn auch nicht ohne Beziehung zu den Wirkungen der Offenbarung.«21
In den literarischen Szenarien destruktiver jouissance verkörpert die häufig alkoholisierte, syphilitische, sex- und geldgierige HURE eine Weiblichkeit, welche an sich selber zugrunde geht. Mehr tier- als triebhaft stellt die HURE nicht nur ein einfaches Opfer dar, welches die destruktiven Tendenzen einer technisierten Welt oder die Zwangsneurosen bürgerlicher Doppelmoral erduldet, sondern sie ist an diesen Phänomenen parasitär beteiligt und Symptom eines allgemein konstatierten Verfalls. Der expressionistische Dichter-Kunde, der sich auf sie ähnlich »einlässt« wie auf die Drogen, die er nebenher konsumiert, sieht sich in diese Suchtstruktur mit einbezogen: »Wann endlich/streife ich ihn erlösend ab den schäbigen Filz der Huren?!!«, fragt Johannes R. Becher in seinem Gedicht »Klage und Frage«.22 Bei der vielbeschworenen »Verbrüderung« der Bohême-Dichter mit der Prostituierten geht es denn auch weniger um soziale Gerechtigkeit als vielmehr um quasi-religiöse Evokationen von Opfer, Sünde und Erlösung, in denen die HURE als schauerliches Medium fungiert. Mary Douglas hat in ihrem Buch »Reinheit und Gefährdung« auf die enge Verbindung zwischen dem Konzept der Reinheit zu dem des Opfers und des Heiligen aufmerksam gemacht, über die sich Verfahren der Ausgrenzung und Verwerfung entwickeln.23 Während das Unreine im normativen kulturellen Bedeutungssystem mit dem Unwahren 20 | Klaus Theweleit: Buch der Könige, Bd. 2x. Orpheus am Machtpol, Frankfurt am Main 1994, S. 154. 21 | Avital Ronell: Drogenkriege. Literatur, Abhängigkeit, Manie, Frankfurt am Main 1994, S. 81. 22 | Johannes R. Becher: »Klage und Frage«, in: Kurt Pinthus (Hg.), Menschheitsdämmerung. Ein Dokument des Expressionismus [1920], Hamburg 1986, S. 195. 23 | Mary Douglas: Reinheit und Gefährdung. Eine Studie zu Vorstellungen von Verunreinigung und Tabu, Frankfurt am Main 1987.
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230 | Nicola Behrmann gleichgesetzt wird, setzt die sich formierende subversive Gegenkultur der Bohême jenes Unreine, Unwahre und Abjekte in den Stand einer destruktiven Allegorie. Die verworfene, erledigte Frau wird zum negativen Paradigma der Gesellschaft: als Verfallserscheinung der Kultur, als ihr Symptom und ihre Anklage zugleich. Die Subkultur der Bohême verfährt nach der gleichen Ökonomie – nur wird hier die Verwerfung auf sich selber angewendet mit dem höheren Ziel einer »Selbstreinigung«. Sie findet über den medial gewordenen Körper der HURE statt. Der Geschlechtsverkehr mit der Prostituierten wird in expressionistischen Texten entsprechend fast durchgängig als traumatisch oder ekelerregend erlebt anstatt als Befreiung von sexuellen Repressionen. Erst dadurch kann er die Funktion eines Heilsgeschehen erhalten. Mit der HURE als seiner Heroine und seinem Medium zugleich beschreitet der Apachendichter einen Passionsweg der Selbstaufgabe und Verwerfung. Der HURE kommt dabei der Status eines Abjekts zu: Sie hat einen aufgedunsenen Körper, gezeichnet von Krankheit, wirkt monströs, tierhaft, kaputt oder bereits als in Verwesung begriffen, wie das Straßenmädchen Miramée, das der Erzähler in Walter Rheiners gleichnamigen Text zu sich ins Hotel nimmt: »Ihr armer Leib war eine Grotte von faulenden Massen, mühsam verklebt und verbunden. Das rechte Bein, schwarz von sich abschälender Haut, ragte wie ein verbrannter Pfahl in die Luft. Und all diese Stellen, auf die sich ihre furchtbare Krankheit gestürzt hatte, schillerten von einem gespenstischen Leben. Fast schien die Verwesung schon beginnen zu wollen, und je mehr sie fortschritt, um so mehr schien es mir, als ob ein neues Wesen da entstände, aus ihren Augenhöhlen kicherte und in den Zähnen hinter den toten, hochgezogenen Lippen lebte.«24
Und dennoch, ungeachtet seines eigenen Entsetzens, lässt sich der Erzähler auf ihren kaputten, syphilitischen Körper ein. Für Ernst Stadler gerät der Sex mit einer Prostituierten zur schäbigsten Station auf seinem Passionsweg destruktiver Sexualität, zugleich aber bleibt der Verkehr mit einer HURE durchaus angeschlossen an transzendentale Erfahrungen: »Klangen Frauenschritte hinter Häuserbogen,/Folgtest du durch Gassen hingezogen/Feilen Blicken und geschminkten Wangen nach,/Hörtest in den Lüften Engelschöre musizieren,/Spürtest Glück, dich zu zerstören, zu verlieren,/Branntest dunkel nach Erniedrigung und Schmach.//Bis du dich an Eklem vollgetrunken,/Vor dem ausgebrannten Körper hingesunken,/Dein Gesicht dem eingeschrumpften Schoß verwühlt –/Fühltest, wie aus Schmach dir Glück geschähe,/Und des Gottes tausendfache Nähe/Dich in Himmelreinheit höbe, niegefühlt.«25
24 | Walter Rheiner: »Miramée« [1915], in: Thomas Rietzschel (Hg.), Zwischen Trauer und Ekstase. 21 expressionistische Liebesgeschichten, Berlin 1985, S. 17. 25 | Ernst Stadler: »Tage I. und II.« [1914], in: ders., Dichtungen, Schriften, Briefe. Kritische Ausgabe, hg. von Klaus Hurlebusch und Karl Ludwig Schneider, München 1983, S. 121.
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In seiner Erzählung »Die Hure Salomea« beschreibt Alfred Lemm eine Medizinstudentin, die erst als Krankenschwester verwundete Soldaten zu heilen versucht und sich dann aus Hingabe prostituiert. Sie endet auf einem Güterwagen voller schwerverletzter Gefangener, die in ihrem eigenen Kot und Eiter dahinsiechen. In ihrer bedingungslosen Hingabe und ihrem Willen, sich ganz auszulöschen, ersteht Salomea ganz am Ende in den Augen dieser Gefangenen als »Schutzheilige« und Erlöserin wieder auf: »Salomea saß mit breiten Beinen auf dem Wagenboden, den Kopf an die Wand gelehnt. Ihre Kleider waren noch offen. Sie war hohl und hässlich geworden. […]/Die ganze Nacht beteten die Verwundeten mit heißen Lippen zu der zerfallenen ›jüdischen Hure‹, die im Traum eine schmerzliche Gebärde machte.«26
Selbst wenn sie blasphemisch gemeint sind, werden christliche Konnotationen in expressionistischen Texten immer wieder evoziert. Christina von Braun hat die christliche Bildlogik von Kreuzigung und Auferstehung als Versuch gelesen, »durch die erinnerte und vergegenwärtigte ›Wunde‹ […] zugleich die Wunde, die zwischen dem Körper und dem Zeichen (oder der gesprochenen und der geschriebenen Sprache) klafft«, zu schließen.27 Um eben dieses Öffnen und Schließen der Wunde zwischen Zeichen und Leib geht es auch in der Phantasie von der syphilitischen, sexuell hemmungslosen, »verworfenen« Prostituierten und ihrem männlichen Korrelat, dem Zuhälter oder Lustmörder, als den sich die Apachenmänner gern stilisieren. An das Phantasma einer Wunde, die nicht nur die Integrität des Körpers der sich prostituierenden Frau, sondern auch die des männlichen Autors betrifft, knüpfen sich darüber hinaus Konzepte einer neuen Autorschaft. Die HURE, die »einzige Frau, die ganz das Wort verkörpert«, besitzt einen zeichenhaften, verwundeten Körper. Bei Benn nisten Ratten in ihm, bei Becher und anderen ist er übersäht mit Eitergeschwüren. Sich Einzulassen auf die HURE, bedeutet ein sich Einlassen auf die Wunde, den Riss zwischen der realen Prostituierten und ihrer zeichenhaften Verwerfung. Die Art der Verwerfung, darüber dürfen wir uns nicht täuschen, unterliegt der gleichen Logik wie die der Überhöhung der Frau. Der reale Körper der Frau geht unter und ersteht wieder auf als Bildkörper.28
26 | Alfred Lemm: »Die Hure Salomea« [1917], in: Thomas Rietzschel (Hg.), Zwischen Trauer und Ekstase. 21 expressionistische Liebesgeschichten, Berlin 1985, S. 164190, hier: S. 190. 27 | Christina von Braun: Versuch über den Schwindel. Religion, Schrift, Bild, Geschlecht, Zürich/München 2001, S. 266. 28 | Eine literarisch ebenso interessante wie bedeutsame Ausnahme bildet der Roman »Das Brandmal« [1920] von Emmy Hennings, in dem eine Prostituierte jenen Passionsweg beschreitet, den sonst nur Männer gehen: Die sich prostituierende Ich-Erzählerin muss »alle Sümpfe durchwaten«, geht einen Weg tiefster Erniedrigung und Opferung, der am Ende das rettende Licht verspricht und scheitert am Schluss an dem Widerspruch, Subjekt und Medium zugleich zu sein.
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232 | Nicola Behrmann Wie kein anderer hat Frank Wedekind diese Dynamik zwischen der männlichen Sucht nach Selbstverlust und einem weiblichen Medium, das sich bedingungslos dafür preisgibt, verstanden und umgesetzt in der wohl berühmtesten HURE, der »Urgestalt des Weibes«: Lulu. Im Prolog zum »Erdgeist« wird sie von einem Zirkusdompteur mit den Worten angekündigt: »Hereinspaziert in die Menagerie,/Ihr stolzen Herrn, ihr lebenslust’gen Frauen,/Mit heißer Wollust und mit kaltem Grauen/Die unbeseelte Kreatur zu schauen.«29 Mit Lulu – einer ins Groteske gesteigerten femme fatale – wird eine prostitutive Weiblichkeit in die Ordnung des Textes eingeführt, die diese zugleich aufstört und zersetzt. Jeder Mann, mit dem Lulu verkehrt, projiziert seine sexuelle Phantasie auf sie, der sie bereitwillig nachkommt. Obgleich sie sich erst am Schluss des Stückes »Die Büchse der Pandora« auf der Straße verkauft, ist Lulu durch und durch HURE, die als Ware in den Händen diverser Männer unablässig zirkuliert. Lulu, erfahren wir, hat keinen Vater, und ihre Mutter hat kein Grab. Sie ist immer das, was Männerphantasien jeweils auf sie projizieren, heißt wahlweise Nelly, Eva, Mignon oder Katja, ist Kindfrau, Unschuldsengel, Vamp, Pierrot oder Künstlermuse und wandert als das »ewig Weibliche« von einem Mann zum nächsten. Und doch sagt sie von sich selbst: »Ich habe nie in der Welt etwas anderes scheinen wollen, als wofür man mich genommen hat, und man hat mich nie in der Welt für etwas anderes genommen, als was ich bin.«30
Für sie selbst gibt es nichts »Traurigeres auf dieser Welt als ein Freudenmädchen«,31 sie verstellt sich nicht, »das hatte ich niemals nötig«.32 An der HURE Lulu zerbricht das männliche Konzept von Autorschaft – die sie immer wieder neu erschaffenden Männer unterliegen ihr sämtlich – aber auch die Vorstellung vom weiblichen Körper als Träger von Repräsentation. Lulu ist, wie Wedekinds erster Biograph und Freund Artur Kutscher feststellte, kein Individuum, sondern ein Phänomen; sie verkörpert nicht das »Weib« und auch keinen spezifischen weiblichen Typus, sondern sie verkörpert den »weiblichen Geschlechtstrieb«.33 Doch als Verkörperung des Geschlechtstriebes beweist Lulu, dass die Frau nichts ist als reine Spiegelung männlicher Phantasien. Lulu ist eine Kunstfigur, eine Parodie phantasmatisch besetzter Weiblichkeit. Für Silvia Bovenschen war sie eine »Inszenierung der inszenierten Weiblichkeit«34 und für Or-
29 | Frank Wedekind: Der Erdgeist, in: ders., Werke in zwei Bänden, Bd. 1, hg. von Erhard Weil, München 1990, S. 553. 30 | Ebd., S. 634. 31 | Ebd., S. 702. 32 | Ebd., S. 570. 33 | Artur Kutscher: Frank Wedekind. Sein Leben und seine Werke, München 1922, S. 366f. 34 | Silvia Bovenschen: Die imaginierte Weiblichkeit, Frankfurt am Main 1979, S. 43.
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trud Gutjahr die »Urgestalt eines Projektionsprinzips«.35 In Lulu fallen weibliche Sexualität und fetischistische Maskerade ineinander. Die Inszenierung ihrer Weiblichkeit braucht keinen Referenten mehr, denn Lulu »ist« nichts mehr und nichts weniger als ein »dressiertes Tier« in einem Zirkus. In der tier- und triebhaften Lulu, die bereit ist, jede Gestalt anzunehmen, die männliche Projektionsphantasien von ihr verlangen, und die sich damit der paternalen Struktur so hemmungslos unterwirft, dass sie sie aufhebt, kollidieren Zeichen und Leib. Lulu ist eine weibliche Leerstelle, die beliebig mit Bedeutung gefüllt werden kann. Noch ihr Tod ist zeichenhaft: Sie sehnt sich danach, einem »Lustmörder« zum Opfer zu fallen, der dann als Jack the Ripper am Ende des Stückes auftaucht und als Destruktionsprinzip eine formale Vernichtung der Frau als Projektionsfläche vollzieht. Wedekind hat es sich nicht nehmen lassen, diese Rolle selber zu spielen – Jack the Ripper ist eine neue Konzeption männlicher Autorschaft, die nicht mehr erschafft und produziert, sondern zerstört und parodiert. Jack ist ein pervertierter Lumpensammler, der sein Kabinett zerschnittener Frauenkörper einmal einem Museum überlassen will.36 So wird HURE im Repräsentationssystem der Avantgarden zu einem wandernden Zeichen destruktiver Erotik, das – wie der Virus der Syphilis – von einem zum anderen geht und beliebig mit Bedeutung gefüllt werden kann. Dieses Zeichen ist beliebig und »käuflich« zu erwerben. Es referiert nicht länger auf ein bedeutsames Signifikat. Beliebig ist daher auch die Überhöhung und Verwerfung der HURE. Der Tod, der Trieb und das Tier besetzen im Expressionismus ihren Körper. Die HURE reißt also einen Abgrund des Bedeutens auf, sie ist Wunde und Symptom im Text, auf die der suchende/süchtige Apachendichter sich einlässt. Sind es in der Topographie einer Stadt, im System einer Gemeinschaft oder Gesellschaft die Risse, Wunden, Öffnungen oder Spalten, auf denen sich die neue Autorschaft einer Subkultur ansiedelt, so sind es im System eines Text-Raumes jene Risse, Schock- und Ekelmomente, auf denen ein neues Konzept medialer Autorschaft fußt. All diese Nicht-Orte der Moderne, zu denen auch die imaginären des Kinos und der des Drogenrausches zählen, sind besetzt mit der HURE. Es sind reale oder imaginäre Räume, in denen das bürgerlichmännliche Individuum einfach »ausfällt« oder »untergeht«. Die Passagen der Stadt, der Sog der Bilder des Kinos, die Repetitierbarkeit der Frau (wie sie in den ersten großen Revuen industriell und warenförmig gezeigt wurde), schließlich 35 | Gutjahr, Ortrud: »Lulu als Prinzip. Verführte und Verführerin in der Literatur um 1900«, in: I. Roebling (Hg.), Lulu, Lilith, Mona Lisa, S. 65. 36 | In der Urfassung der »Büchse der Pandora« kommentiert Jack the Ripper den Mord an Lulu mit den Worten: »When I am dead an [sic!] my collection is put up to auction, the London Medical Club will pay a sum of threehundred pounds for that prodigy.« F. Wedekind: Erdgeist, S. 833. Bei Walter Benjamin ist der Lumpensammler eine jener Figurationen, die der Apachendichter der Moderne annimmt und die er bei Baudelaire vorformuliert findet: »Über der Poesie des Apachentums liegt ein Zwielicht«, kommentiert Benjamin, »stellt der Auswurf die Helden der großen Stadt? oder ist Held nicht vielmehr der Dichter, der aus solchem Stoff sein Werk erbaut? – Die Theorie der Moderne räumt beides ein.« W. Benjamin: »Das Paris des Second Empire bei Baudelaire«, S. 583.
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234 | Nicola Behrmann auch die Suche und Sucht nach körperlichen Transgressionen im Rausch: all dies steht im verwerflichen Dienst der HURE und dem Hunger nach Erfahrungen destruktiver jouissance. Die Prostituierte setzt sich als eine literarische Figur durch, die sich über jede gesicherte Identität hinwegsetzt und auf diese Weise unberechenbar und unvorhersagbar die semantische Ordnung des Textes aufstört und zersetzt. Denn die HURE repräsentiert eine Weiblichkeit, in der Zeichen und Leib ineinander stürzen, Inhalt und Form kollidieren. Die HURE, die im Raum der großen Stadt kein fester Ort mehr zugewiesen wird und die in der Ordnung des Textes keinen festen Referenzpunkt mehr darstellt, wird in den Texten der antibürgerlichen Avantgarde zu einem shifter, der feste Orte – sei es den semiotischen Raum der Stadt, seien es integre Körper oder stabile (soziale und geschlechtliche) Identitäten – »verrückt«, infiziert, verunsichert, vernichtet. Gefangen in einem Tauschakt, in dem sie nicht nur als Körper, sondern auch als Zeichen preisgegeben wird, ist die HURE das grandiose, kaputte Medium der Moderne.
Literatur Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften, hg. von Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt am Main 1991. Benn, Gottfried: Sämtliche Werke. Stuttgarter Ausgabe, hg. von Gerhard Schuster, Stuttgart 1986/1987. Bovenschen, Silvia: Die imaginierte Weiblichkeit. Exemplarische Untersuchungen zu kulturgeschichtlichen und literarischen Präsentationsformen des Weiblichen, Frankfurt am Main 1979. Braun, Christina von: Versuch über den Schwindel. Religion, Schrift, Bild, Geschlecht, Zürich/München 2001. Braun, Christina von: »Die Erotik des Kunstkörpers«, in: Irmgard Roebling (Hg.), Lulu, Lilith, Mona Lisa … Frauenbilder der Jahrhundertwende, Pfaffenweiler 1989, S. 1-17. Douglas, Mary: Reinheit und Gefährdung. Eine Studie zu Vorstellungen von Verunreinigung und Tabu, Frankfurt am Main 1987. Foucault, Michel: »Andere Räume« [1967], in: Karlheinz Barck u.a. (Hg.), Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig 1990, S. 34-46. Höger, Alfons: Hetärismus und bürgerliche Gesellschaft im Frühwerk Frank Wedekinds (= Text & Kontext, Sonderreihe Bd. 12), Kopenhagen/München 1981. Kanehl, Oskar: »Nachtcafé« [1913], in: Die Aktion, Jg. 3, Nr. 44 vom 1.11.1913, Sp. 1021-22. Kutscher, Artur: Frank Wedekind. Sein Leben und seine Werke, München 1922. Pinthus, Kurt (Hg.): Menschheitsdämmerung. Ein Dokument des Expressionismus [1920], Reinbek bei Hamburg 1986. Reso, Martin (Hg.): Expressionismus. Lyrik, Berlin/Weimar 1969. Roebling, Irmgard (Hg.): Lulu, Lilith, Mona Lisa … Frauenbilder der Jahrhundertwende, Pfaffenweiler 1989.
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Rietzschel, Thomas (Hg.): Zwischen Trauer und Ekstase. 21 expressionistische Liebesgeschichten, Berlin 1985. Ronell, Avital: Drogenkriege. Literatur, Abhängigkeit, Manie, Frankfurt am Main 1994. Rubiner, Ludwig: »Der Dichter greift in die Politik« [1912], in: ders., Künstler bauen Barrikaden. Texte und Manifeste 1908-1919, hg. von Wolfgang Haug, Darmstadt/Neuwied 1988. Schmidt, Dietmar: Geschlecht unter Kontrolle. Prostitution und moderne Literatur, Freiburg i.B. 1998. Stadler, Ernst: Dichtungen, Schriften, Briefe. Kritische Ausgabe, hg. von Klaus Hurlebusch und Karl Ludwig Schneider, München 1983. Theweleit, Klaus: Buch der Könige, Bd. 2x. Orpheus am Machtpol, Frankfurt am Main 1994. Wedekind, Frank: Werke in zwei Bänden, hg. von Erhard Weil, München 1990. Weigel, Sigrid: Topographien der Geschlechter. Kulturgeschichtliche Studien zur Literatur, Reinbek bei Hamburg 1990.
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) vakat 236.p 131592163370
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»Kann man eine Prostituierte überhaupt vergewaltigen?« Zum Prostitutionsdiskurs in Polen . Bozena ChoŁuj
Mit dieser Frage kommentierte Andrzej Lepper, der derzeitige Vizemarschall des polnischen Parlaments, nach den Wahlen von 2005 öffentlich die Information aus Brüssel, dass dort eine Prostituierte »seinen« polnischen EU-Abgeordneten, d.h. ein Mitglied seiner Partei »Samoobrona« (Selbstverteidigung), Bogdan Golik, wegen Vergewaltigung angezeigt hatte. Leppers rhetorisch gemeinte Frage ist für Polen symptomatisch: Sie zeugt von einer Vorstellung, nach der die Prostitution außerhalb von jeglicher juridischer und moralischer Ordnung platziert ist. Die Prostitution ist in Polen zwar nicht strafbar, aber juristisch auch kaum abgesichert. Unter Strafe steht die Zuhälterei. Die Prostitution wird in Polen auch nicht – wie seit einigen Jahren in Deutschland – als eine Art Beruf definiert. Die Tatsache, dass Personen, die als Prostituierte arbeiten, in Polen nicht kriminalisiert werden, verbindet sich also nicht mit ihrer Anerkennung in der Gesellschaft, sondern eher mit einer Nichtbeachtung dieses sozialen Phänomens im juristischen und im arbeitsgesetzlichen Sinne. Dieser Stand der Dinge ergibt sich einerseits aus der Überzeugung, dass sich gegen die Prostitution sowieso nichts tun lässt – im Sinne des Spruchs vom ältesten Gewerbe der Welt – und andererseits aus der Marginalisierung dieses Phänomens, das als asozial verstanden wird. Den Prostituierten wird somit im Grunde der Status rechtloser Personen zugeschrieben. Nach der durchschnittlichen Moralvorstellung sind die Prostituierten selbst schuld, dass ihnen weder Gerechtigkeit noch Schutz zustehen, denn sie entscheiden sich selbst zu dieser berüchtigten Dienstleistung im Sexbereich. In dieser Einstellung zur Prostitution hat sich seit Anfang des 20. Jahrhunderts wenig geändert. Es seien hier nur die Worte der polnischen Schriftstellerin Zofia Nałkowska (1884-1954) zitiert, die auf einer Frauenversammlung im Jahre 1907 in Warschau ausgesprochen wurden: »Nicht die Not ist die Ursache oder das Hauptmerkmal der Prostitution, denn die Not finden wir in unterschiedlichsten Lebensbereichen; und der Körperhandel ist nicht nur ein Privileg der Prostitution, denn wir, die so genannten ehrlichen Frauen, verkaufen auch in
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238 | Boz ena Chołuj der Ehe sehr häufig sowohl den Körper als auch die Seele. Die Ursache der Prostitution sind wir selbst, wir, die ehrlichen Frauen, wir, deren Tugend, deren ethisches Ideal der Reinheit nur durch die Existenz der Prostitution bedingt wird. Wir wachsen wie künstliche Blumen im Sumpf – und wir können ohne Prostitution nicht auskommen, nicht die Männer. Die brauchen nur Weiber, wir aber eine Prostituierte.«1
Nałkowska konnte über die neue Ethik und über die neue Frau auf dieser Tagung jedoch nur mit Mühe weitersprechen, denn das versammelte Publikum versuchte, sie vom Rednerpodium »herabzuklatschen«. Sie postulierte nämlich die Umwertung aller bisherigen Urteile über Frauen, die der Solidarität untereinander im Wege stehen. Einer der wichtigsten Aspekte der Gleichberechtigung von Männern und Frauen sei die freie, von Männern nicht mehr normierte weibliche Sinnlichkeit. Diese Idee vertrat Nałkowska politisch und literarisch. Sie war eine der ersten Schriftstellerinnen in Polen, die über die Sexualität und über das weibliche Begehren offen sprachen. Jedoch nicht als solche ist sie in den literarischen Kanon aufgenommen worden, sondern als Autorin der »Medaillons«, einem wichtigen Bändchen über Holocaust und Auschwitz, das gleich nach dem Krieg erschien. Vorkämpferinnen eines modernen feministischen Diskurses zur Prostitution bildeten sowohl um 1900 als auch heute eine Minderheit. Nałkowskas Worte waren für die Versammelten viel zu radikal. Sie wurden elf Jahre vor der Wiederherstellung des polnischen Staates, der Zweiten Republik, formuliert; in der Zeit also, in der die patriotische Pflicht im Vordergrund stand, gemeinsam für Polens Freiheit zu kämpfen und nicht auf Differenzen innerhalb der Gesellschaft hinzuweisen. Und auch derzeit wird immer wieder auf so genannte wichtigere Dinge hingewiesen, über die die Regierung sozialpolitisch zu entscheiden habe. Dazu gehören nicht die Probleme der Frauen, geschweige denn die der Prostituierten. Das polnische Parlament hat trotz vieler Bemühungen von Frauen seit 1996 immer noch nicht das Gleichstellungsgesetz für Frauen und Männer verabschiedet, keiner seiner Entwürfe wurde dort zur Debatte zugelassen. In vielen offiziellen Institutionen weiß man mit der Losung »Frauenrechte sind Menschenrechte« wenig anzufangen. Kurz nach der Konstituierung der neuen Regierung nach den Wahlen Ende 2005 wurde das Büro der Gleichstellungsbeauftragten aufgelöst, und stattdessen die Frauenbeauftragte wieder eingeführt, diesmal im Ministerium für Arbeit und Soziales. Diesen Posten hat Jolanta Kluzik-Rostkowska inne. Auch im Büro des Ministerpräsidenten wurde eine neue Stelle geschaffen, und zwar die der Beraterin des Ministerpräsidenten in Frauen- und Familienfragen, die Hanna Wujkowska, die unter anderem für Radio Maryja arbeitet, übernahm. Diese Änderungen zeugen davon, dass die neue Regierung in Frauenfragen ein Machtpotenzial für die eigene Politik sieht, was den 1 | Zofia Nałkowska: »Uwagi o etycznych zadaniach ruchu kobiecego. Przemówienie wygłoszone na Zjez´dzie Kobiet« (Bemerkungen über die ethischen Fragen der Frauenbewegung. Rede auf einer Frauenvollversammlung), in: Aneta Górnicka-Boratyn´ska . (Hg.), Chcemy całego zycia. Antologia polskich tekstów feministycznych z lat 1870-1939, Warszawa 1999, S. 323-329, hier 325.
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rechten Parteien, die in das polnische Parlament eingezogen sind, vor den Wahlen fremd war. Obwohl in dieser Regierung mehr Frauen hohe Positionen einnehmen als in der vorigen, wird die Gleichstellungspolitik nicht fortgesetzt. Die Geschlechterpolitik von PiS (Recht und Gerechtigkeit), der stärksten Partei im Parlament, ähnelt einer Zähmung der Frauen unter Ausschluss der Fürsprecherinnen der Gleichstellung der Geschlechter. Vor diesem Hintergrund nimmt es nicht wunder, dass alle Frauenfragen, die über das traditionelle Problemrepertoire hinausgehen, dem ideologischen Zugang frei zur Verfügung stehen, d.h. dass das Hantieren mit ihnen keine Folgen im rechtlichen Sinne nach sich zieht. Dies lässt sich an der zu Anfang angeführten Geschichte gut erkennen. Die Prostituierten gelten vor diesem Hintergrund als eine Randgruppe, sie stehen in der Wahrnehmung eindeutig außerhalb des Rechtssystems. In diesem Kontext agierte Andrzej Lepper mit seiner Aussage. Da er sich politisch als Führer von »Samoobrona« vor allem auf Grund seiner populistischen Programme etablierte und seine Rolle im Sejm sich nicht aus der Anerkennung seiner bisherigen Verdienste, sondern aus der spezifischen Konstellation der Parteien im neuen Parlament nach den Wahlen von 2005 ergibt, ist seine Position immer noch nicht abgesichert. Sie hing im Winter 2006 von schwankenden Koalitionsverhandlungen zwischen zwei anderen Parteien, der rechten PiS (Recht und Gerechtigkeit) und der neoliberalern PO (Bürgerplattform) ab. Daher versuchte Lepper, möglichst wenig zu riskieren, um die Gunst der Regierungspartei PiS nicht zu verlieren. Im Augenblick gilt er als überraschend ausgewogen, so wie man ihn vor den Wahlen nicht kannte. Als er die eingangs zitierte Frage formulierte, wusste er also genau, dass er mit ihr als Politiker, Abgeordneter und Vizemarschall des polnischen Sejms nichts riskiert, obwohl seine Stellungnahme als Politiker in all diesen nicht unwichtigen Positionen den Eindruck erwecken konnte, dass er bezweifelt, dass ein Mensch, dem Unrecht geschehen ist, einen Anspruch auf rechtliche Hilfe haben kann. Die Tatsache aber, dass davon eine Prostituierte betroffen war, führte zu einer Nichtbeachtung dieses politischen Fehlers in der öffentlichen Wahrnehmung Polens. Erst die kritischen Reaktionen aus dem Ausland bewirkten, dass er sich am nächsten Tag »charmant« entschuldigte. Weiter gehende Sanktionen seiner Partei oder von politischen Partnern waren nicht zu beobachten.2 Zu dem ganzen Vorfall haben sogar die feministisch gesinnten NGO-Frauen geschwiegen, die seit längerer Zeit als familienfeindlich verschrien sind, weil sie die Homosexuellen öffentlich in Schutz nehmen. Obwohl sie mit ihrem Schweigen diesen Ruf nicht von sich abstreifen können, engagieren sie sich seit 2 | Ein ähnlicher Mechanismus lässt sich in Fällen beobachten, bei denen aktive Politiker gegen Homosexuelle und andere Minderheiten auftreten. Davon zeugen mehrere Bemühungen im Bereich der Bürgerinitiativen, die die Zulassung und den friedlichen Verlauf des Gleichheitsmarschs am 10. Juni 2006 in Warschau ermöglicht hatten. Alle Randgruppen scheinen in Polen für politische Instrumentalisierung freigegeben zu werden. Proteste und Kritik im Ausland, wie die Brüsseler Resolution über die Intoleranz in Polen und anderen Ländern, die am 16. Juni 2006 formuliert wurde, bewirken, dass dieses Prozedere sich nicht unbeschränkt entwickelt.
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240 | Boz ena Chołuj Jahren weder in Diskussionen über Prostitution noch in denen über Pornographie. Es sind zwei Bereiche, die in der zweiten Frauenbewegung in Polen seit Jahren gemieden werden, in der Befürchtung, solch eine offene Debatte könnte zu einer Spaltung führen, wie es in der US-Frauenbewegung der Fall war. Mit der Kritik der Prostitution und Pornographie wollte man auch der polnischen Kirche, dem entscheidenden Akteur in den Fragen der Moral in Polen, keine Argumente gegen Frauen liefern. Deswegen erscheinen alle Frauen, die im internationalen Programm La Strada für die Bekämpfung des Menschenhandels und der Zwangsprostitution arbeiten, als echte Heldinnen. Der Direktorin der Warschauer Filiale von La Strada, Stana Buchowska, wurde 2005 eine Medaille des Heiligen Georg für diese Arbeit verliehen, überraschenderweise von der katholischen Wochenzeitung »Tygodnik Powszechny«. Beachtenswert ist dabei auch, dass sie zusammen mit dem britischen Historiker Norman Davies diesen Preis erhielt. Es ist jedoch die einzige öffentliche Anerkennung der aufopferungsvollen Tätigkeit dieser Organisation. Nur auf internationalen Foren zu Fragen der Prostitution treten die polnischen Frauen eindeutig gegen das absolute Verbot der Prostitution und gegen die Kriminalisierung der Prostituierten auf. Diese Position ist in Polen nicht neu, ihre Tradition geht auf das Jahr 1927 zurück, in dem eine Frauenpolizei zum Schutz der Frauen entstand und Strafen für Frauen- und Kinderhandel eingeführt wurden.3 Das Gesetz, dessen Entwurf 1924 entstand – es war gegen Prostituierte und die so genannte Unzucht gerichtet –, wurde dagegen wegen unzähliger Veränderungen und starker Meinungsdifferenzen im polnischen Parlament nicht verabschiedet. In den Jahren 1925-1935 gab es in Warschau 2.600 registrierte Prostituierte, davon waren 60 Prozent Minderjährige, wie wir in der ersten umfassenden Arbeit, »Zlo tolerowane. Prostytucja w Krolestwie Polskim w XIX wieku« (Das tolerierte Böse. Prostitution im Königsreich Polen im 19. Jahrhundert), die zu diesem Thema in Polen 2004 erschienen ist, erfahren. Ihre Autorin ist die Historikerin Jolanta Sikorska-Kulesza. Sie interessiert sich allerdings vor allem für das 19. Jahrhundert. Sie erkundete mehrere Quellen und stellte fest, dass die Prostituierten vor allem im Zusammenhang mit den Hygienemaßnahmen und dem medizinischen Schutz der Freier vor Geschlechtskrankheiten unter Kontrolle gestellt wurden. Bis zur Reformation war die Prostitution in Polen frei von jeglicher Kontrolle. Für die Zeit zwischen der Reformation und dem 19. Jahrhundert verweist Sikorska-Kulesza auf kleinere Artikel von Adam Krawiec und Andrzej Karpin´ski, selbst geht sie auf diese Zeit nicht näher ein. Die ersten rechtlichen Regulierungen auf polnischem Gebiet wurden von der preußischen Regierung in der Zeit der Dreiteilung Polens eingeführt und dann durch die russischen Besatzer übernommen und ergänzt. In den polni-
3 | Stanisław Milewski: »Historia. Ładacznice stołeczne«, in: Polityka, Nr. 47, 20. November 2004, S. 83. Dieser Artikel entstand als Reaktion auf die Pläne des Stadtpräsidenten Lech Kaczyn´ski, alle »Gesellschaftsagenturen« in Warschau zu beseitigen. Kaczyn´ski ist es tatsächlich gelungen, diese Stätten mehr an den Stadtrand zu rücken. Diese Bordelle heißen meistens Massagesalons.
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schen Artikeln über die Prostitution dominiert – wie Sikorska-Kulesza diesen Texten entnehmen konnte – vor allem die Ansicht, dass die schlechte ökonomische Lage der eigentliche Grund der Prostitution von Frauen war, die in dem sich modernisierenden Polen vom Lande in die Städte zogen und dort keine Arbeit finden konnten. Diese Meinung galt auch kurz nach 1945, in der Zeit, in der es erneut eine große Migration von Frauen aus den Dörfern in die Städte gab. Auf diese Armutsthese greift man wieder in der Zeit der Transformation nach 1989 zurück, in der die Migration ins westliche und südliche Ausland leichter wurde.4 Da die Prostitution in Polen eine graue und moralisch berüchtigte Zone ist, ist sie wenig untersucht. Außer der Monographie von Sikorska-Kulesza entstand in den letzten Jahren nur noch eine soziologische Teiluntersuchung über die Prostitution der Minderjährigen im Grenzgebiet unter dem Titel Swinki (Schweinchen) von Jacek Kurzepa (2001). Diese Bezeichnung wird im Milieu von minderjährigen Prostituierten, Mädchen und Jungen verwendet. Sie entwickeln einen Geheimkode, um einerseits ihre Prostitution vor der Öffentlichkeit zu verheimlichen und andererseits diese für die Freier kenntlich zu machen, um sie zu gewinnen, ohne Gefahr zu laufen, dass sie von der Polizei erfasst werden – denn der Geschlechtsverkehr mit den Minderjährigen steht auch in Polen unter Strafe. Ein ähnliches Problem erfasst eine polnische Radioreportage von 2006 über die so genannten »Schläuche«. So werden minderjährige Prostituierte genannt, die in großen Einkaufszentren gegen ein neues Handymodell oder andere Konsumgüter sexuelle Dienste anbieten. Sie selbst halten sich nicht für Prostituierte, was sie damit begründen, dass sie kein Geld, sondern »nur« Geschenke von Männern, die sie auch nicht ihre Kunden nennen, nehmen. Die Geschichte der Prostitution stellt sich in Polen wohl nicht viel anders dar als in Westeuropa, bis auf die Zeit des real existierenden Sozialismus, in dem alle glücklich und unschuldig, d.h. asexuell zu sein hatten – was nicht bedeutet, dass es in der Volksrepublik Polen keine Prostitution gab. Sie war relativ gut organisiert, obwohl sie offiziell verboten war. Die Städte wurden in Reviere eingeteilt, auf die nur bestimmte Gruppen von Prostituierten und Zuhälter ein Recht hatten. Eine organisierte Prostitution gab es vor allem in Hotels und ihrer Umgebung. Sie wurde oft durch den Staatssicherheitsdienst als Informationsquelle über Männer, mit denen die Prostituierten verkehrten, ausgenutzt, und vielleicht deswegen wurde keine Sittenpolizei zu ihrer konsequenten Bekämpfung eingeführt. Sie wurde eher als eine graue nutzbare Zone vom Staatsapparat geduldet. Trotz der offiziell ablehnenden Haltung gegenüber der Prostitution ist sie in der polnischen Kultur erstaunlicherweise omnipräsent: in der Umgangsprache, in Karikaturen, in Witzen und im politischen Milieu, unabhängig von der politischen Ausrichtung. Ein besonderes Zeugnis aus den politischen Kreisen hinterließ Marzena Domaros (Anastazja Potocka) in schriftlicher Form im »Tagebuch
4 | Auf die Zusammenhänge der beiden Diskurse zu Prostitution und Migration siehe die Beiträge von Loretta Ihme und Kathrin Schrader in diesem Band.
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242 | Boz ena Chołuj der Anastazja P.«, das im geheimnisvollen Verlag »REFLEKS« publiziert wurde. Domaros, Jahrgang 1967, verkehrte mit mehreren Abgeordneten des polnischen Parlaments im Jahre 1992. Als Korrespondentin von »Le Figaro« hatte sie eine Akkreditierung im Sejm, dem polnischen Parlament, und damit auch den freien Zugang zu den wichtigsten Politikern. Sie konnte dank der intimen Nähe zu einzelnen Politikern dem französischen Publikum interessante Dinge aus dem aktuellen politischen Leben Polens mitteilen, wie sie behauptet (eine Untersuchung von »Le Figaro« in dieser Hinsicht ist noch nicht durchgeführt worden). Ihre journalistische Arbeit wird in der erwähnten Veröffentlichung nur am Rande erwähnt. Im Zentrum des ganzen Textes stehen sexuelle Erfahrungen der Autorin mit Abgeordneten. Sie verkehrte mit allen, die ihr irgendwie interessant erschienen. Sie pflegte hierbei Kontakte zu Vertretern unterschiedlicher politischer Parteien. Die Männer unterscheidet sie nur grob voneinander: In der polnischen Sozialdemokratie sah sie mehr nette und intelligente Männer als anderswo. Sehr negativ schätzte sie Vertreter der PSL (der Bauernpartei) ein. Unangenehm erwiesen sich in ihrer Erfahrung Vertreter der rechten Parteien. Bei all diesen Unterschieden in der Umgangsweise der Politiker mit Frauen und in ihrem sexuellen Verhalten stellt sie zwei Gemeinsamkeit fest: die Abgeordneten trinken viel Alkohol, auch wenn sie in der Familie als Nicht-Trinker gelten, und fungieren in den unterschiedlichsten sexuellen Konstellationen, die meistens aus eigener Initiative zustande kamen. Diese Beziehungen verheimlichen sie in der Sejm-Öffentlichkeit nicht, sondern im Gegenteil, sie versuchen sich mit ihnen als sexuelle »Trophäen« zu schmücken. Anastazja P. beginnt ihr Buch mit der Beschreibung einer Vergewaltigung durch den betrunkenen damaligen Vizemarschall des Sejms, Andrzej Kern. Sie erklärt, warum sie ihn nicht bei der Polizei angezeigt hat. Zum einen aus Scham, zum anderen, weil sie nicht glaubte, dass ihre Klage gegen einen Mann auf einem solch hohen Posten ernst genommen werde. Weiter berichtet sie über ihre Beziehungen zu Aleksander Kwasniewski, dem späteren Präsidenten Polens, Leszek Miller, dem späteren Ministerpräsidenten, mit Stefan Niesiolowski, dem Abgeordneten, der das umstrittene Abtreibungsgesetz im Sejm durchgesetzt hatte, und mit vielen anderen. Jedes Mal schildert sie Details über das Ambiente, in dem es zu Treffen mit diesen Männern kam, als wollte sie bezeugen, dass alles wahr ist, was sie mitzuteilen hat. Sie beschreibt sogar Bewegungen und Reaktionen dieser Männer im Bett. Einen besonderen Reiz stellt für sie die Tatsache dar, dass sie ungehalten einen Geschlechtsverkehr anstreben und sich danach so verhalten, als wäre nichts passiert. Manche bedeckten nach dem Geschlechtsakt sogar beschämt ihren Körper mit Handtüchern. Anastazja verweist auch auf deren Großzügigkeit oder Geiz, betont, dass die Vertreter der Sozialdemokratie sehr darauf bedacht waren, keine Spuren zu hinterlassen – z.B. in Form von Geschenken –, als wüssten sie, dass die Prostitution vor der Wende politisch ausgenutzt wurde. Alle haben mit ihr ungeschützt verkehrt. Kwasniewski habe sogar ihre Monatsblutung nicht gestört, und als sie ihm zu bedenken gab, jemand wird glauben, er habe ein Mädchen defloriert, fühlte er sich geschmeichelt. Sie waren in einem Zimmer seines Kollegen.
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Die Namen der Politiker werden in dem Buch direkt angegeben, und damit keine Zweifel entstehen, um welche es sich handelt, werden inmitten der Erzählungen deren politische Biogramme eingefügt. Marzena Domaros sammelte ihre Erfahrungen im Laufe von wenigen Monaten des Jahres 1992. Am 2. November 1992 wurde sie festgenommen. Der Grund war, dass sie die Hotelrechnungen seit vielen Monaten nicht beglichen hatte. Vier Tage später wurde sie ohne jede Erklärung entlassen und ging ins Ausland. Ich will hier nicht nach ihren Motiven fragen, die sie zum direkten Niederschreiben ihrer Erfahrungen bewegten. Interessant ist im Kontext des vorliegenden Beitrags, dass keiner der beschriebenen Männer wegen Verletzung des guten Rufes gegen diese Frau vor Gericht ging. Das Buch spielte in der öffentlichen Debatte Mitte der neunziger Jahre kaum eine Rolle, höchstens diente es geselliger Erheiterung. Anastazjas Geschichte erfüllte auch nie eine politische Funktion, weder in darauf folgenden Wahlkampagnen, noch in Parteikämpfen oder anderen politischen Auseinandersetzungen. Es ist charakteristisch, dass man heute noch mit Witzen über Sex und Anspielungen auf Sexualität die Umgebung erheitern kann, unabhängig von den sozialen und politischen Milieus. Diesen besonderen Sinn für Humor konnte man vor einigen Jahren in der polnischen Ausstellung »Der deutsche Michel« im Warschauer Karikatur-Museum den dort gezeigten Zeichnungen entnehmen. Deutsche Besucher wunderten sich darüber, dass die meisten politischen Karikaturen mit ihrer Kritik unter die Gürtellinie zielten. Politische Reden mit solchen Anspielungen sind besonders nach der politischen Wende von 1989 auf der Tagesordnung. Andrzej Lepper nannte Polen 1995 eine Prostituierte der Russen. Es gibt auch politische Karikaturzeichnungen, die Polen als eine Prostituierte Europas darstellen. Der ehemalige Ministerpräsident Leszek Miller prägte die Redewendung: »Es ist nicht wichtig, wie ein Mann anfängt, wichtiger ist, wie er endet«, womit er seine politischen Verdienste meinte. Mit dieser Anspielung auf den Koitus kommentierte er das Ende seiner Amtszeit und seine Erfolge, die seiner Meinung nach zum EU-Beitritt Polens 2005 beigetragen haben. Bei Helmut Kohl finden wir eine Entsprechung in dem Satz »Wichtig ist, was hinten rauskommt«, was bezeichnenderweise aus einem anderen Bedeutungsfeld als der polnische Spruch stammt. Diese legeren Sprüche der Politiker verweisen auf eine kulturelle Differenz zwischen Deutschland und Polen. Während in Polen die Sexualität den symbolischen Bereich der Moral zu beherrschen scheint, spielt der Reinheitsethos in Deutschland die Hauptrolle, worauf ich noch zu sprechen komme. Wie stark diese Symbolik die politische Kultur in Polen durchtränkt, lässt sich u.a. einem Zeitungsartikel vom 3. März 2006 in der kostenlosen Zeitung »Metro« entnehmen. Er berichtet von Erkenntnissen des hoch angesehenen polnischen Sexologen Lew Starowicz, nach denen jeder zweite Sejmabgeordnete Probleme mit der Erektion habe. Der Titel des Beitrags heißt »Sejm viagra˛ stoi« (Der Sejm steht dank Viagra) und sein Untertitel: »Der Sejm braucht Viagra«. Solche Kommentare stammen nicht nur von männlichen Abgeordneten, die dort erwähnt werden. Renata Beger, eine Abgeordnete von Leppers Samoobrona, ist durch ihre beiden Sprüche bekannt geworden: »Ich
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244 | Boz ena Chołuj mag Sex wie Pferde Hafer« und »Ich habe Hurenteufelchen in meinen Augen« (kurwiki).5 Auch im akademischen Bereich ist ein solcher Umgang mit Vulgarismen mit einem starken Sexbezug bekannt. In der Tageszeitung »Rzeczpospolita« wurden am 17.12.2005 fragwürdige Lehrmethoden eines wissenschaftlichen Mitarbeiters der Warschauer Universität, Pawe Timofiejuk, beschrieben: »Lies lauter, als würdest Du vergewaltigt«, mit diesem Spruch soll er eine Studentin des ersten Semesters der Politologie und Journalistik zum lauten Lesen animiert haben. Der Direktor des Institutes ermahnte ihn mündlich, nachdem dieser Vorfall in einer Radiosendung dank einer versteckten Tonbandaufnahme bekannt wurde. Kurz darauf wurde Timofiejuk beurlaubt, um seine Doktorarbeit in Ruhe beenden zu können. Im polnischen Hochschulsystem bedeutet das, dass nach dem Promotionsverfahren seine Arbeitstelle an der Universität für weitere acht Jahre abgesichert ist. Wenn man bedenkt, dass es an polnischen Universitäten immer noch keine Pflicht der studentischen Evaluation der Lehre gibt, kann man sich leicht vorstellen, dass solche Verhaltensweisen wie die von Timofiejuk nicht zu korrigieren sind. Studierende trauen sich außerdem nicht, ihre Lehrer anzuzeigen. Die geheime Tonbandaufnahme war vor diesem Hintergrund eine heroische Tat, die aber auch keine Änderungen bewirkt hat, denn der Lehrende wurde nicht aufgefordert, seine Verhaltensweise vor einer Disziplinarkommission zu verantworten. Obwohl die Worte »kurwa« und »Hure« eine gemeinsame Vorgeschichte haben (Andrzej Ban´kowski: »Polski słownik etymologiczny«), fungieren sie in der polnischen und deutschen Kultur anders. Im XV. Jahrhundert diente das Wort in beiden Kulturen zur gerichtlichen Bezeichnung des Sohnes einer ledigen Mutter, dessen Vater unbekannt blieb. »Hurensohn« wird aber im Polnischen, auch im Russischen, bis heute als eines der schlimmsten Schimpfwörter benutzt. Das Wort »kurwa« dagegen hat außer der verletzenden Beleidigungsfunktion im Sinne von Judith Butler, wie sie es in »Hass spricht« auslegt,6 noch zwei andere Bedeutungen: eine emphatische zur Unterstreichung der Aufregung oder des Ärgers, wie im Deutschen »Scheiße«. Am häufigsten wird das polnische Schimpfwort »kurwa« aber in der Umgangssprache der jugendlichen (auch weiblichen) Kreise und noch häufiger in männlichen oder gemischten Kreisen der niedrigen gesellschaftlichen Schichten benutzt. Seine Anwendung nimmt in letzter Zeit aber auch unter den Studierenden zu. Dort hat es kaum eine inhaltliche Bedeutung, sondern nur die Funktion einer Unterbrechung, wie ein rhetorisches Komma, etwa wie »nicht wahr«, »ne«, »gell« im Deutschen und »oder« in der deutschen Schweiz. Vulgarismen aus dem Sexbereich, die für die Umgangsprache charakteristisch sind, und in politischen Reden auftreten, sind auch in der polnischen Werbung präsent. Jeder Versuch der ehemaligen Gleichstellungsbeauftragten 5 | Interview mit Renata Berger: »Dziekujemy za odwage« (»Wir danken für den Mut«), in: Super Express 16.05.2003. 6 | Siehe: Judith Butler: Hass spricht. Zur Politik des Performativen. Üb. von Kathrina Menke und Markus Krist, Berlin 1998.
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oder der Frauen-NGOs, dagegen aufzutreten, wird nur belächelt und nie ernst genommen. Die Tatsache, dass solche Protestaktionen von keiner öffentlichen Institution unterstützt wurden, mit dem durch und durch patriarchalen Charakter der polnischen Gesellschaft zu erklären, wäre zu einfach. Der breite Gebrauch dieser Vulgarismen zeugt auf jeden Fall von einer tiefen symbolischen Verankerung der Prostitution im polnischen Wortschatz, in den gesellschaftlichen Umgangsformen und im politischen und kulturellen Leben. Das führt übrigens nicht zur Anerkennung der Sinnlichkeit und Erotik wie in Frankreich, wo die meisten sexbezogenen Redewendungen und Sprüche eher mit erotischen Spielen und nicht mit einer abwertenden Bedeutung assoziiert werden. Eher umgekehrt, die Sinnlichkeit wird in Polen tabuisiert: Entweder tritt sie unter dem Deckmantel der Zärtlichkeit auf oder wird direkt als Promiskuitätsverhalten verpönt. Die häufige Anwendung des Schimpfwortes »kurwa« in unterschiedlichen Bereichen verweist direkt auf die Prostitution, als wollte man mit diesem Wort etwas heraufbeschwören, was offiziell nicht erlaubt ist: z.B. einen außerehelichen, ungebundenen Sexualverkehr oder ein nicht normiertes, aktives, weibliches Sexualverhalten. Wenn man polnische Sprachgewohnheiten in Bezug auf Vulgarismen mit den deutschen vergleicht, fällt auf, dass die deutsche »Schimpfwortkultur« im Unterschied zu der polnischen einen analen Charakter hat. Es gibt etliche Beispiele dafür: Scheiße, Arschloch, Scheißdreck und viele andere. Sie alle betreffen körperliche Ausscheidungen, die einen direkten Bezug zum letztmöglichen Dreck enthalten. Man könnte sagen, dass sie zwar eine moralische Bewertung beinhalten, aber eindeutig dem Hygiene- und Sauberkeitsdiskurs entstammen.7 Vielleicht sind sie eine Reaktion auf einen als übertrieben empfundenen Sauberkeitskult. Die polnische Schimpfkultur scheint dagegen eine Gegenreaktion auf den Sitten- und Moraldiskurs zu sein. Dieser bezieht sich vor allem auf die weibliche Sexualität, die entweder in der jungfräulichen Unschuld und Passivität symbolisch eingeschlossen wird, oder durch Benutzung des Wortes »kurwa« in Form von Zügellosigkeit, direkter Anspielung und sogar erzwungener Handlung ausgelebt wird. Diese Polarisierung der symbolischen Vorstellung zwischen Verlockung durch die so genannte Unschuldigkeit einerseits und durch die provozierende Aufforderung einer Prostituierten andererseits, scheint bezeichnend für eine Gesellschaft zu sein, in der vor allem die weibliche Sinnlichkeit einer scharfen Kontrolle unterliegt. Vielleicht ist die Angst vor dem Verlust dieser Kontrolle der eigentliche Grund dafür, dass der freie Zugang zur Sexualaufklärung versperrt bleibt.8 Kein Wunder also, dass dann die Nähe der beiden Bereiche zueinander, der Sexualität und der politischen Macht, so groß ist, wie man sie in Polen beobachten kann. Die polnische Gesellschaft benimmt sich mit anderen Worten zum großen Teil wie trotzköpfi7 | Diese Erkenntnis verdanke ich der Diskussion mit Prof. Karol Sauerland. 8 | Die Föderation für Frauenangelegenheiten und Familienplanung kämpft seit Jahren darum, dass das Bildungsministerium die Sexualaufklärung in die Schulen einführt. Diese Pflicht der Schulen steht bis heute nur als Vorschrift auf dem Papier und wird nicht realisiert.
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246 | Boz ena Chołuj ge Kinder, die zum »Ärger« ihrer Eltern schlimme Wörter benutzen. Diesem Verhaltensmechanismus unterliegen selbst die Machtinhaber, die sich als Aufseher im Foucault’schen Sinne einen freien Raum für ihr sinnliches Erleben selbst erkämpfen müssen, womit der Prostitution ein freier Zugang zum politischen Bereich gewährt wird. Sie fördern mit ihrer Lebensführung und sprachlich das, was sie am liebsten unter Kontrolle hätten.
Literatur Butler, Judith: Hass spricht. Zur Politik des Performativen. Übersetzt von Kathrina Menke und Markus Krist, Berlin 1998. Damaros, Marzena: Pamietnik Anastazji P.: Erotyczne immunitety (Das Tagebuch der Anastasia P.: Erotische Immunitäten), Warszawa 1992. Milewski, Stanisław: »Historia. Lładacznice stołeczne« (Geschichte. Die Hauptstadtprostituierten), in: Polityka, Nr. 47, 20. November 2004, S. 83. Nałkowska, Zofia: »Uwagi o etycznych zadaniach ruchu kobiecego. Przemówienie wygłoszone na Zjez´dzie Kobiet« (Bemerkungen über die ethischen Fragen der Frauenbewegung. Rede auf einer Frauenvollversammlung), in: . Aneta Górnicka-Boratyn´ska (Hg.), Chcemy całego Zycia. Antologia polskich tekstów feministycznych z lat 1870-1939 (Wir wollen das ganze Leben. Anthologie feministischer polnischer Texte aus den Jahren 1870-1939), Warszawa 1999, S. 323-329. Sikorska-Kulesza, Jolanta: Zlo tolerowane. Prostytucja w Krolestwie Polskim w XIX wieku, Warschau 2004. Super Express vom 16.05.2003: Interview mit Renata Berger »Dziekujemy za odwage«.
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Narrative über die Fußball-WM und die Prostitution | 247
»Zu Gast bei Freundinnen«. (Re)Konstruktion von Nation, Geschlecht und Sexualität in Narrativen über die Fußball-WM und die Prostitution Loretta Ihme
Die Fußball-Weltmeisterschaft der Männer (WM) 2006 in Deutschland dominierte die öffentliche Debatte bereits im Vorfeld. Ein Thema, das dabei eine besonders große Rolle spielte, war die befürchtete Zunahme der Prostitution während der WM. Großereignisse führen, so die allgemein vertretene These, zu einer Zunahme der Prostitution. Spätestens nachdem Schätzungen von 40.000 zusätzlichen Prostituierten durch die Medien gingen, bereiteten sich Sicherheitsbehörden, Hilfsorganisationen sowie das Sexgewerbe auf den erhofften oder befürchteten Ansturm vor. Das Kölner Bordell Pascha griff das offizielle Motto der WM »Die Welt zu Gast bei Freunden« auf und wandelte es um: »Die Welt zu Gast bei Freundinnen« hieß es auf einem Riesenplakat an der Hauswand des Bordells. Ein Teil der Welt, so allerdings die Befürchtung, würde im Kontext der WM nicht »zu Gast bei Freunden« sein, sondern zu Opfern von Gewalt, Ausbeutung und Zwangsprostitution werden. Es wurde befürchtet, ein Anstieg der Prostitution würde einen Anstieg des »Frauenhandels« mit sich bringen. Dies führte dazu, dass im Vorfeld Hunderte von Zeitungsartikeln erschienen, es zu internationalen Interventionen kam und eine Reihe von Kampagnen ins Leben gerufen wurden, die den betroffenen Frauen helfen und die Freier sensibilisieren sollten. Weiterhin wurden politische und juristische Lösungen auf internationaler und nationaler Ebene gefordert. An dieser Stelle konzentriere ich mich auf die mediale Debatte sowie die Freier-Kampagnen. Das Reden über (Zwangs-)Prostitution, Fußball und Freier ist in diesen Debatten durchdrungen von Diskursen über Geschlecht, Sexualität und Nation. Es ist die Schnittstelle dieser beiden Ebenen, dem konkreten Reden über die benannten sozialen Phänomene sowie die jeweiligen Metadiskurse, die mich an dieser Stelle interessiert, die kulturellen Narrative über (Zwangs-)Pros-
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248 | Loretta Ihme titution, Fußball und Freier als Teil einer kulturellen Matrix.1 Diskutiert werden soll hier insbesondere die Vieldeutigkeit und Widersprüchlichkeit der Repräsentationen, in denen sich epistemologische Kämpfe um Bedeutungen spiegeln. Inwiefern, so die zu Grunde liegende Frage des vorliegenden Aufsatzes, werden im Reden über (Zwangs-)Prostitution, Fußball und Freier die Kategorien Nation, Geschlecht und Sexualität im Allgemeinen sowie Männlichkeit und männliche Sexualität im Besonderen neu verhandelt?
1. Anpfiff – Zur Genese einer gesellschaftlichen Erregung Ausgangspunkt der Debatte, die hier näher betrachtet wird, war ein eher unscheinbarer Bericht der »Deutschen Presse Agentur« (dpa), den das »Hamburger Abendblatt« in der Wochenendausgabe vom 10. April 2005 abdruckte: »40.000 Prostituierte zur WM«2 titelte das Blatt. »Den Austragungsstädten der Fußball-Weltmeisterschaft 2006«, so heißt es im ersten Satz, »droht nach Erkenntnissen der Sicherheitsbehörden eine Flut von Prostituierten aus Osteuropa.« Die Botschaft ist klar: Es gibt Grund zur Besorgnis. Die dpa zitiert Ulrike Hauffe, Vorsitzende des Ausschusses für Frauen und Gleichstellung des Deutschen Städtetages, mit dem Satz: »Schon jetzt wird organisiert, wie die Prostituierten in die WM-Städte eingeschleust werden können.« Auch wenn man stutzen könnte darüber, wieso Prostituierte »eingeschleust« werden müssen, spürt man die Dringlichkeit zum Handeln, die diesen Äußerungen innewohnt. Die »Anderen« organisieren sich »schon jetzt« – sollten nicht auch »wir« aktiv werden? Folgerichtig habe das Bundeskriminalamt (BKA) Wiesbaden die Kommunen gebeten, sich, wie es im Nachrichtenmagazin »Der Spiegel« heißt, auf den »Ansturm der Sexsklaven«3 vorzubereiten. Hauffe, so zitiert die dpa, habe unter Berufung auf das BKA von 30.000 bis 40.000 Frauen gesprochen, die auf diesem Wege nach Deutschland kommen würden. Der Bericht endet mit einem bezeichnenden Absatz, in dem, so könnte man zynisch anmerken, die eigentliche Befürchtung benannt zu werden scheint: »Hauffe«, so heißt es, »geht davon aus, daß [sic!] viele Prostituierte, die unerkannt bleiben, nach der Weltmeisterschaft in Deutschland in die Illegalität abtauchen werden«4. 1 | Wenn ich von kulturellen Narrativen spreche, so geht es mir nicht darum zu sagen, es gäbe die darin benannten sozialen Phänomene nicht. An dieser Stelle interessiert mich allerdings weniger eine empirische ›Wahrheit‹ hinter den Diskursen als die durch die Diskurse hergestellte Realität insofern, als Diskurse das hervorbringen, was sie scheinbar nur abbilden. Vgl. Judith Butler: »Für ein sorgfältiges Lesen«, in: Seyla Benhabib/Judith Butler/Drucilla Cornell u.a. (Hg.), Der Streit um die Differenz, Frankfurt am Main 1993, S. 129. 2 | Deutsche Presse Agentur: »›40.000 Prostituierte zur WM‹«. 3 | Roman Heflik: »›Sonst werde ich da drinnen sterben‹«, in: Der Spiegel Online vom 8.06.2006, http://www.spiegel.de/panorama/0,1518,419297,00.html, gesehen am 29.06.06. 4 | Deutsche Presse Agentur: »›40.000 Prostituierte zur WM‹«.
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Narrative über die Fußball-WM und die Prostitution | 249
Obwohl später vielfach behauptet wurde, das Thema Zwangsprostitution sei bislang kaum ins öffentliche Bewusstsein gedrungen, gibt es eine Kontinuität in der Berichterstattung um migrantische Prostitution und Zwangsprostitution. Dabei lässt sich insbesondere dort eine Konzentration medialen Interesses beobachten, wo neuralgische Punkte im kollektiven Bewusstsein Deutschlands berührt werden – nicht umsonst kam es insbesondere im Kontext der so genannten »Friedmann-Affäre« und später im Rahmen der »Visa-Affäre« zu Höhepunkten der Berichterstattung über erzwungene Prostitution. In dem einen Falle stand ein prominenter Jude im Mittelpunkt der Debatte – ein signifikanter Anderer, der im Symbol-Mythos-Komplex deutsch-nationaler Projekte (noch immer) innere Bedrohung verkörpern kann. Im anderen Falle ging es um ein tatsächliches oder auch nur befürchtetes Durchbrechen nationaler Grenzen und damit quasi eine Penetration des symbolischen Nationalkörpers, eine Bedrohung von Außen. Jenseits des generellen Zusammenhangs von Fußball und Nation(alismus), wie er bspw. von Gerd Dembowski und Dieter Bott5 beschrieben wird, stellt die Fußball-Weltmeisterschaft einen für die Integrität nationaler Grenzen kritischen Kontext dar. Nicht nur eine Flut von Prostituierten drohen, »unser« Land zu penetrieren, sondern auch »Unmengen enthemmter Kunden« – Freier – und andere Fans. Wenn Julia Schaaf in ihrem Feature »Weltmeister in käuflichem Sex«6 in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung einem englischen Fan die Aussage zuschreibt: »Wir sind hier, um euer Bier zu trinken und eure Frauen zu nageln«, so ist evident, was von beidem für »uns« schlimmer ist: Die Vorstellung von einer Million anreisender Fans, die »unsere« Frauen »nageln« kann in seiner Bedrohlichkeit allerdings nur verstanden werden, wenn man die Rolle von Geschlecht für nationale Projekte reflektiert. Nira Yuval-Davis hat in »Geschlecht und Nation« gezeigt, inwiefern Frauen als »symbolische Grenzposten« der Aufrechterhaltung und Reproduktion mythischer Einheiten nationaler »imaginierter Gemeinschaften« dienen.7 Wenn Frauen »als Verkörperung der Gemeinschaft fungieren«8 bedeutet das »nageln« »unserer« Frauen einen Affront gegen »unsere« Gemeinschaft. Umso bezeichnender ist, dass zwar über drohende terroristische Angriffe, potentiell randalierende Fans, über die Frage des Alkoholkonsums in den Fußballstadien und befürchtete rassistische/nationalistische Ausfälle und Übergriffe geschrieben, diskutiert und verhandelt wurde, aber nicht über sexualisierte Gewalt. Es scheint fast, als läge in einer offenen 5 | Vgl. Gerd Dembowski/Dieter Bott: »Stichworte zu Fußball, Männlichkeit, deutschem Nationalismus und Herrschaft«, in: Eva Kreisky/Georg Spitaler, Arena der Männlichkeit. Über das Verhältnis von Fußball und Geschlecht, Frankfurt am Main/New York 2006, S. 218-234. 6 | Julia Schaaf: »Weltmeister in käuflichem Sex«, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 18.06.2006. 7 | Nira Yuval-Davis: Geschlecht und Nation, Emmendingen 2001, Kapitel 3. Die Idee der ›symbolischen Grenzposten‹ geht auf Armstrong zurück – vgl. hierzu: John Armstrong: Nations before Nationalism, Chapel Hill 1982. 8 | N. Yuval-Davis: Geschlecht und Nation, S. 44.
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250 | Loretta Ihme Benennung potentieller sexueller Viktimisierung »unserer« Frauen durch die Fußballfans eine zu große Bedrohung, als sei es einfacher, über die drohende sexuelle Viktimisierung »anderer«, der »Flut von Prostituierten aus Osteuropa«, zu reden. Diese These wird durch die diskursive Konstitution der »(Zwangs-) Prostituierten«, »Täter« und »Freier« als überwiegend nicht-deutsche Andere unterstützt. Während in den meisten kulturellen Repräsentationen von (Zwangs-)Prostitution die Darstellung von »Zuhältern« und »Mädchenhändlern« entlang »rassifizierter« Stereotype ein zentrales Element darstellt, verschwinden die »Täter« in den Debatten um (Zwangs-)Prostitution im Kontext der Fußball-WM nahezu vollständig.9 Lediglich an zwei Stellen wird die üblicherweise zentrale Konstruktion der »Täter« als signifikante Andere aufgegriffen – im repetitiven Verweis auf »internationale kriminelle Netzwerke« und bei der wiederholten Kennzeichnung des Besitzers des in der nationalen und internationalen Presse viel zitierten Berliner Bordells Artemis als »Deutschtürken«. Dominanter in den aktuellen Diskussionen sind die Beschreibungen der Freier und der (Zwangs-)Prostituierten. In den medialen Repräsentationen der Freier fällt auf, dass vor allem über ausländische Freier gesprochen wird. Da wird ganz nebenbei darauf hingewiesen, dass »ein beträchtlicher Teil der drei Millionen Fans, die sich in Deutschland einfinden [Hervorhebung L.I.] werden, viel Geld für Sex und Alkohol ausgeben wird«10 – man muss sich fragen, ob es einen Unterschied gibt zwischen den Fans, die schon da sind und den Fans, die sich erst einfinden müssen. Zwar werden auch die Fans aus dem Inland erwähnt, aber es sind die ausländischen Fans, die explizite Erwähnung als Freier finden. »In den meisten Ländern ist Prostitution verboten oder allenfalls geduldet« begründet beispielsweise Anke Schwarzer in der »Jungle World« – »Viele Fans aus den USA oder Saudi-Arabien dürften sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen.«11 Vielleicht ist die Idee, die Schwarzer zu dieser Aussage getrieben hat die, dass sich in Deutschland, wo die Prostitution legal ist, auch für diese Fans endlich eine Gelegenheit ergibt, Bordelle aufzusuchen – oder sich, wie ein Sprecher der Stadt Dortmund es pittoresk formulierte, »mit ihrer Eroberung in die Büsche und Wälder [zu] schla-
9 | Zur Konstruktion der ›Täter‹ als signifikante Andere in Diskursen um Frauenhandel und erzwungene Prostitution sowie zum Zusammenhang zwischen Nation und Frauenhandel vgl. Jacqueline Berman: »(Un)Popular Strangers and Crises (Un)Bounded: Discourses of Sex-Trafficking, the European Political Community and the Panicked State of the Modern State«, in: European Journal of International Relations 9/1 (2003), S. 37-86; Loretta Ihme: »Europas Gespenster. Frauenhandel, Nation und Supranation«, in: Marcin Witkowski/Joanna Dlugosz: Perspektiven für Europa – Eine neue Öffnung?, Frankfurt am Main [u.a.] 2006. 10 | Anxela Iglesias: »Saison für Frauenhandel«, in: Junge Welt vom 20.01.2006. 11 | Anke Schwarzer: »Weltmeister im Frauenhandel«, in: Jungle World vom 17.05. 2006. Beinahe wortgleich vgl. auch: Der Stern: »Mit Vorspiel ins Endspiel«, in: Der Stern vom 26.04.2006, http://www.stern.de/sport-motor/fussball/560166.html?nv=cb, gesehen am 17.06.06.
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gen«.12 Dabei hat die Tatsache, dass Prostitution verboten ist, in keinem Land und zu keiner Zeit zu einer tatsächlichen Abschaffung der Prostitution geführt, Prostitution existiert trotz unterschiedlichster Gegenmaßnahmen auch in Schweden, Frankreich, den USA oder in Saudi Arabien. In der medialen Debatte, insbesondere in den Repräsentationen der tatsächlichen oder angenommenen Opfer, zeichnet sich weiterhin eine generelle Schwierigkeit ab, zwischen Prostitution, illegalisierter Prostitution migrantischer Sexarbeiterinnen und erzwungener Prostitution zu unterscheiden. Aus einem erwarteten Zuwachs der Umsätze in der Prostitution wurde in den Darstellungen der Medien eine befürchtete »Flut« von Prostituierten aus Osteuropa, die dann, zumindest von einigen, bruchlos als Zwangsprostituierte verstanden wurden. Deutsche Prostituierte – freiwillig wie unfreiwillig arbeitende – verschwinden aus dem Blick. Wie in anderen Repräsentationen von »Frauenhandel« liegt bei Zwangsprostitution der Fokus der Beschreibung der Viktimisierung auf der Anwerbung und »Schleusung« der Frauen – der imaginäre Ort, an dem die Tat stattfindet, ist ein »anderer« Ort, aber vor allem sind die Frauen »andere«. Bei den in den Reportagen zitierten Fallgeschichten handelt es sich durchgehend um ausländische Frauen, »Joanna« zeichnet sich durch ihren leichten »osteuropäischen Akzent«13 aus, »Laura« ist eine »hübsche Deutschrumänin«14, »Aneta Hovorak« eine Tschechin15 und »Valentina«16 stammt aus Moldawien. Dabei erweist sich die Konstruktion der Prostituierten und der Opfer von Zwangsprostitution als ambivalent. Sie werden in ihren Motiven gezeigt, als Menschen, als handelnde Subjekte und somit »uns« ähnlich. Gleichzeitig sind sie »uns« in ihrer osteuropäischen Herkunft fremd. Dies verstärkt sich dort, wo sie als Opfer von Zwangsprostitution zu gehandelten Objekten werden – denn hier unterscheiden sie sich signifikant von »uns«. Ihre Motive zu migrieren, vielleicht sogar sich zu prostituieren, sind zwar im ersten Moment nachvollziehbar – Armut, kulturelle Zwänge, Interesse an einem besseren Leben für sich, aber viel mehr noch für ihre Kinder –, sie werden allerdings ange12 | Zitiert in Evelyn Lengauer: »Drive-In Sex-Garagen für die Fußball WM 2006«, in: Pressetext Deutschland vom 9.06.2005, http://www.pressetext.de/pte.mc?pte=0506090 46, gesehen am 17.06.2006. 13 | J. Schaaf: »Weltmeister in käuflichem Sex«. 14 | Ebd. 15 | Vgl. R. Heflik: »›Sonst werde ich da drinnen sterben‹«. 16 | Vgl. Rutvica Andrijasevic: Trafficking in women and the politics of mobility in Europe, 2004, http://igitur-archive.library.uu.nl/dissertations/2005-0314-013009/index.htm, gesehen am 08.12.2005, zur Funktion ›authentischer Stimmen‹ in Diskursen zu ›Frauenhandel‹. ›Valentina‹ wird angeführt in Detlef Drewes: »Europaparlament will gegen Zwangsprostitution vorgehen«, in: Braunschweiger Zeitung vom 18.01.2006. Es sollte nicht unerwähnt bleiben, dass ›Valentina‹ Drewes in seinem Artikel nicht nur als Moldawierin beschrieben wird, es wird auch noch erzählt, dass sie nun wieder in ihrer »Heimatstadt Kiew« lebe – nicht nur ein peinlicher Fehler, sondern auch ein Hinweis auf die Verzweiflung mit der Medien um ›authentische Stimmen‹ zur Ausfütterung ihrer Berichte ringen und im Notfall eben – der Verdacht zumindest liegt nahe – erfinden.
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252 | Loretta Ihme sichts der Risiken, die sie dabei eingehen, entwertet. Diese Risiken, so die zentrale Botschaft der öffentlichen Debatten, sind unübersehbar und stehen in keinem Verhältnis zu den Motiven. Trotz der Risiken nach den Motiven zu handeln, ist somit konsequenterweise naiv, dumm oder beides. Damit greifen die kulturellen Narrative über die Opfer der Zwangsprostitution gängige ethnisierte Stereotype vor allem über Frauen aus Mittel- und Osteuropa auf. Diese Narrative durchziehen die politischen und juristischen Debatten, journalistischen und kulturellen Texte und sind maßgeblich beteiligt an der Herstellung von Bedeutung. Dabei erweisen sie sich häufig als ambivalent sowie in sich und zueinander widersprüchlich.17 Ein Aspekt scheint allerdings nahezu durchgängig Teil der Repräsentation zu sein: In ihrer Naivität und Hilflosigkeit sind »uns« die von Zwangsprostitution betroffenen Frauen fremd. Es geht hier, um das noch einmal explizit zu betonen, nicht darum zu bestreiten, dass es sich sowohl bei den Sexarbeiterinnen in Deutschland als bei den mit Gewalt zur Prostitution gezwungenen Frauen überwiegend um Migrantinnen handelt. Vielmehr geht es mir um die diskursive Funktion, die der repetitive Verweis auf sexuelle Viktimisierung »fremder« im Gegensatz zu »unseren eigenen« Frauen hat. Denn die Penetranz, mit der die Medien eine »enorme« Zunahme der Zwangsprostitution während der WM heraufbeschwören, muss hinterfragt werden. Als Quelle der Zahl, die die dpa zu Beginn der Debatte nannte, wurde eine Vertreterin des Deutschen Städtetages, unter Berufung auf das BKA Wiesbaden, genannt. Andere Berichte verweisen auf den Bundesnachrichtendienst (BND).18 Ein Sprecher des Deutschen Städtetages meint dazu, die Zahl 40.000 sei »offenbar im Umfeld einer Veranstaltung des Städtetages genannt worden, basierte aber nicht auf Schätzungen, Prognosen oder gar ›Berechnungen‹ des Städtetages.«19 Das BKA dementiert ebenfalls die Urheberschaft der Zahlen. Das Magazin »Exberliner« zitiert den Sprecher des Innenministeriums, Christian Sachs, der meinte, die Zahl sei entstanden, indem der geschätzte Anstieg der Prostitution im Rahmen des Münchner Oktoberfestes mit zwölf – der Anzahl der Austragungsstädte – multipliziert wurde.20 Die Frauenzeitschrift »Emma« macht aus 40.000 zusätzlichen Prostituierten kurzerhand 40.000 Zwangsprostituierte. Bereits im zitierten Artikel der dpa wurde die Zahlen als »rein spekulativ«21 bezeichnet, im weiteren Verlauf der Debatte wurden dann jedoch die unterschiedlichsten Quellen mit der Aussage zitiert, dass die Zahl von 40.000 zu hoch gegriffen sei. So zitiert bspw. Mareike Aden die Vor17 | Vgl. Stuart Hall: »Das Spektakel des ›Anderen‹«, in: ders., Ideologie. Identität. Repräsentation. Ausgewählte Schriften 4, Hamburg 2004, S. 108-166. 18 | Vgl. Margit Kautenbürger: »Jetzt doch: DFB hilft bei der Kampagne gegen Zwangsprostitution«, in: Hannoversche Allgemeine Zeitung vom 2.02.2006. 19 | In einer Email vom 22.06.2006. 20 | Vgl. Shaughn McArthur: »World Cup or Whore Cup?«, in: Exberliner (38) vom April 2006. Die Berechnung ist schon deswegen fragwürdig, weil zum Oktoberfest Jährlich etwa sechs Millionen Menschen anreisen, zur WM aber nur etwa 3 Millionen für das gesamte Bundesgebiet erwartet wurden. 21 | Deutsche Presse Agentur: »›40.000 Prostituierte zur WM‹«.
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sitzende des Deutschen Frauenrates, Brunhilde Raiser, die Vorsitzende des Bundes Sexueller Dienstleistungen (BuSD), Karoline Leppert und den WMSicherheitsbeauftragten der Stadt Hamburg, Thomas Model.22 An anderer Stelle wird das BKA zitiert – »frei erfunden«23 seien die Zahlen und das Landeskriminalamt Niedersachsen meint, dass ein Zuwachs der Zwangsprostitution zur WM sich nicht nachweisen lasse.24 Es wird zurückgerudert: »Doch keine Prostituierten-Flut«.25 Expert/-inn/-en aus allen Bereichen haben die Schätzungen von 40.000 zusätzlichen Prostituierten von Anfang an in Frage gestellt. Nivedita Prasad von Ban Ying, einer Beratungsstelle für Opfer von »Frauenhandel«, hatte zum Beispiel darauf hingewiesen, dass es sich für die Menschenhändler gar nicht lohnen würde, Frauen extra zur WM nach Deutschland zu holen, da die Frauen in der kurzen Zeit nicht genug Geld erwirtschaften würden. Überdies sei das Risiko für die Täter aufgrund der verstärkten Polizeipräsenz erhöht.26 Tatsächlich gab es im Vorfeld der WM nach Aussagen der Sicherheitsbehörden eine Vielzahl von Razzien im so genannten Rotlichtmilieu sowie eine Verschärfung der Grenzkontrollen – nicht zuletzt aufgrund der öffentlichen Debatte.
2. Vorrunde – Wer ist zuständig für (Zwangs-)Prostitution? Der Zusammenhang zwischen Fußball, Fans und Prostitution scheint, folgt man der Logik der aktuellen Debatten, selbstverständlich. »Die Gleichung ist einfach« heißt es in der »Emma«: »Wo Fußball gespielt wird sind Männer, und wo Männer sind, gibt es Prostituierte.«27 Folgerichtig gerieten die Männer ins Zentrum der Aufmerksamkeit – im Unterschied zu der sonst üblichen Unsichtbarkeit von Freiern in Diskursen um »Frauenhandel«. Am Anfang der Debatte waren es vor allem die Zahlen, die schockierten. Der Abdruck des dpa-Artikels aus dem Hamburger Abendblatt wird an den Deutschen Frauenrat geschickt, einen Verbund der über 50 Frauenverbände vereint. Der Deutsche Frauenring, 22 | Mareike Aden: »Rote Karte für sexuelle Ausbeutung«, in: heute.de vom 8.03. 2006, http://www.heute.de/ZDFheute/inhalt/15/0,3672,3907663,00, gesehen am 9.03. 2006. 23 | R. Heflik: »›Sonst werde ich da drinnen sterben‹«. 24 | Vgl. Monika Wendel/Deutsche Presse Agentur/n24: »›Fair Sex‹ nach dem Fair Play«, in: n24 vom 2.02.2006, http://www.n24.de/sport/fussball/wm-2006/?a200602021334 4801554, gesehen am 17.06.06. 25 | Sabine Siebold/Reuters: »Doch keine Prostituierten-Flut«, in: Der Stern vom 23.05.2006, http://www.stern.de/sport-motor/sportwelt/561710.html?nv=cb, gesehen am 17.06.06. 26 | Vgl. D. Zimmermann/G. Trappaz/I. Platthaus u.a.: »Abpfiff: Campagne gegen Zwangsprostitution«, in: ARTE Info vom 7.03.2006, http://www.arte-tv.com/de/content/ tv/02–Communities/C1-history_20and_20society/02-Magazine/10–ARTE–Info/03_20-_20In terview/2006.03.17-abpfiff/ART–Abpfiff/1154512.html, gesehen am 17.06.2006. 27 | Lara Fritzsche: »Freier im Abseits«, in: Emma vom Mai/Juni 2006.
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254 | Loretta Ihme eine Mitgliedsorganisation des Deutschen Frauenrates, wendet sich an den Deutschen Fußball Bund (DFB). Die Initiatorinnen hatten die Hoffnung, eine Kampagne mit dem Titel »Männer gegen Menschenhandel und Zwangsprostitution« zu initiieren. Als darauf keine Resonanz kommt, wendet sich der Deutsche Frauenrat als übergeordneter Verband an die Spieler der so genannten Nationalelf, die FIFA und den DFB. Ziel war es, Männer zu bewegen, selbst aktiv gegen Zwangsprostitution zu werden. Die Nationalspieler, »die in den Augen vieler ›richtige Männer‹ sind«, wurden aufgefordert, »offen [zu sagen], dass richtige Männer gegen Menschenhandel und Zwangsprostitution sind«.28 Die Reaktion der Fußballmanager und ihrer Spieler fiel dürftig aus. Von den Spielern äußerte sich lediglich Jens Lehmann – er wolle das Thema mit seinen Teamkameraden besprechen. Später zog er sein Engagement zurück, er könne als Einzelner nicht aktiv werden. Hintergrund des Rückzuges war die Absage durch FIFA und DFB – die FIFA verwies auf den DFB-Präsidenten Gerhard MayerVorfelder, der lapidar mitteilte, der DFB könne sich »in dieser leidigen Angelegenheit nicht aktiv einbringen« und dem »gut gemeinten Appell aus grundsätzlichen Erwägungen nicht folgen«.29 Man sei sich seiner »gesellschaftlichen Verantwortung ganz sicher bewusst« betont Georg Behlau, Leiter des Büros der Nationalspieler, bittet aber um Verständnis dafür, »dass dies nicht mit dem Einsatz für offizielle Sonderthemen ausgelegt werden kann«.30 Man(n) fühlt sich nicht zuständig. Der Zusammenhang zwischen Fußball, Männern und Prostitution, der für die Frauenorganisationen so deutlich auf der Hand liegt, leuchtet den Fußballmanagern nicht ein. Der Deutsche Frauenrat beschloss, eine eigene Kampagne ins Leben zu rufen. Erst auf massiven Druck durch Öffentlichkeit31 sowie der Frauen im Deutschen Sportbund hat sich der DFB, so Brunhilde Raiser, »zu der Erkenntnis durchgerungen, dass es ein Fehler war, nicht in die Kampagne eingestiegen zu sein«.32 Der neue DFB-Präsident Theo Zwanziger übernahm (gemeinsam mit dem Regierenden Berliner Bürgermeister Klaus Wowereit) die Schirmherrschaft für die Kampagne »abpfiff – Schluss mit Zwangsprostitution«33 des Deutschen Frauenrates. Die konkrete Beteiligung 28 | Brief des Deutschen Frauenrates an die Spieler der deutschen Nationalmannschaft vom 2.09.2005, http://www.frauenrat.de/files/BrfKahn.pdf, gesehen am 17.06. 2006. 29 | Brief von Gerhard Mayer-Vorfelder an die Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Renate Schmidt vom 31.08.2005, http://www.frauenrat.de/files/ AntwortenBeckenbauer.pdf, gesehen am 17.06.2005. 30 | Brief von Georg Behlau (DFB), Leiter Büro der Nationalspieler, an die Vorsitzende des Deutschen Frauenrats, Brunhilde Raiser vom 8.09.2005, http://www.frauen rat.de/files/AntwortenBeckenbauer.pdf, gesehen am 17.06.2005. 31 | Katalysiert durch einen Bericht der Frankfurter Rundschau zu den Vorgängen (Jörg Schindler: »Das Schweigen der Männer«, in: Frankfurter Rundschau vom 29.09. 2005). 32 | Britta Baas/Publik-Forum: »Gefangen in den Netzen der Menschenhändler«, in: Pressepiegel des Deutschen Frauenrates, stand 18.06.2006. 33 | http://www.abpfiff-zwangsprostitution.net, gesehen am 17.06.2006.
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des DFB belief sich auf die Teilnahme an der Pressekonferenz zum Auftakt der Kampagne am 8. März 2006 sowie einer Spende über 2.000 Euro.34 Die FIFA fühlte sich nach wie vor nicht zuständig und trotz Einlenkens des DFBs blieb der Eindruck bestehen, dass man lieber gar nicht so genau Bescheid wissen wollte – »unter vorgehaltener Hand«, sagt Brunhilde Raiser, soll gesagt worden sein: »Die Frauen machen uns mit der Kampagne unsere schöne WM kaputt.« Auch in den Medien, schien es, als wollte man die »Lust« der Männer getrennt halten von Gewalt und Zwangsprostitution. Vor allem zu Beginn der Debatte kommt es dabei zu Missverständnissen. Der Spiegel titelte »Wahre Orgien« und beschwört einen Kampf zwischen »Gegnern und Profiteuren der Prostitution« – auf der einen Seite stünden diejenigen, für die »Fußball, Bier und Sex zusammengehören«, auf der anderen Seite kämpfe »die Retterfraktion«.35 Dass diese »Retterfraktion« »[a]usgerechnet die Weltmeisterschaft« für ihr Anliegen nutzen wollte, schien den Autoren sauer aufzustoßen. Dabei geht es den Akteuren gar nicht um eine generelle Absage an die Prostitution. Es scheint für die Medienmacher schwer zu verstehen zu sein, dass ein Frauenverband – Feministinnen – eine weitestgehend akzeptierende Haltung gegenüber der Sexarbeit einnimmt.36 So gibt sich das »Svenska Dagbladet«, einer der beiden bedeutendsten Schwedischen Tageszeitungen, erstaunt darüber, dass sogar Deutschlands größter Frauenverband mit der Legalisierung der Prostitution einverstanden ist.37 Dabei spaltete die Frage nach Legalisierung oder Abolitionismus die Feministinnen seit jeher. Während allerdings die Frage der Freiwilligkeit respektive der Abschaffung von Prostitution als Ziel lediglich am Rande diskutiert wurde, fokussierte diese Debatte die Freier. Was dabei von Prostitutionsbefürworter/-inne/-n, Reglementarist/-inn/-en wie Abolitionist/-inn/-en in der aktuellen Debatte unhinterfragt bleibt, ist das angebliche Bedürfnis der Männer, oder vielmehr der Fußballfans, zu einer Prostituierten zu gehen.
3. Das Spiel: Fußball, Männlichkeit und Prostitution Der Zusammenhang zwischen Fußball, Männern und Sex – und damit scheinbar automatisch Prostitution –, der in den medialen Diskursen hergestellt wird, ist überwiegend einfach. Heide Oestreich schreibt in der taz von einem »kollek34 | Interview mit Ulrike Helwerth, Pressesprecherin des Deutschen Frauenrats für die Kampagne »abpfiff – Schluss mit Zwangsprostitution« am 22. Juni 2006. 35 | Udo Ludwig/Andrea Ulrich: »Wahre Orgien«, in: Der Spiegel (48) vom 28.11. 2005. 36 | Brunhilde Raiser betont, dass es zwar innerhalb des Deutschen Frauenrates Differenzen in der Haltung zur Prostitution gäbe. Einig sei man sich allerdings in der Forderung nach rechtlichem Schutz der Prostituierten – »Sie sollen vor Kriminalisierung und Gewalt sicher sein können« (B. Baas/Publik-Forum: »Gefangen in den Netzen der Menschenhändler«). 37 | Vgl. Thomas Ludin: »Det svenska bojkotthotet mot VM höll på att ge mig skrattkramp«, in: Svenska Dagbladet vom 6.05.2006.
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256 | Loretta Ihme tiven Testosteron-Hochstand«38 und der Journalist Walter Serif schreibt im Mannheimer Morgen: »Wenn die eigene Mannschaft das Siegtor [sic!] schießt, steigt bei den Fans nicht nur der Adrenalinspiegel – es ist auch eine ganze Menge Testosteron mit im Spiel. Bei nicht wenigen bestimmt deshalb Sex die dritte Halbzeit.«39
Die Diskurse, in denen der Zusammenhang zwischen Fußball, Männern und Sexualität nicht hinterfragt werden, greifen gängige kulturelle Mythen zu Männlichkeiten und männlicher Sexualität auf – und reproduzieren sie. Gleichzeitig werden Stereotype über Klasse perpetuiert. So schreibt das mexikanische Wochenmagazin »Proceso« nach einer Beschreibung des die WM begleitenden Kulturprogramms: »Es ist schwer zu wissen, ob die Fußballfans, die nach Deutschland reisen werden, sich wirklich für Opern oder intellektuelle Debatten interessieren, aber viele von ihnen werden sich zweifellos für die gewagten Nachtklubs und großen Kabaretts – den Wintergarten, den Friedrichstadtpalast oder das Goya –, die versuchen das verrückte und erotische Nachtleben des Berlins der 20er Jahre wieder zum Leben zu erwecken, begeistern.«40
Fußballfans, so lernen wir, sind nicht an »hoher Kultur«, nicht an Opern oder intellektuellen Debatten, sondern an profaner Kultur interessiert – und an Sex. Folgerichtig schließt »Proceso«, dass die Prostitution eine der größten Attraktionen für die Fußball-WM sei.41 Die Anthropologin Angie Hart hinterfragt die kulturelle Gleichsetzung von Männern und Freiern, in der es »scheint, als gäbe es in allen Männern etwas, das Klienten hervorbringt«42 – insbesondere gelte dies für feministische Diskurse:
38 | Heide Oestreich: »Die dritte Halbzeit«, in: die tageszeitung vom 4.01. 2005. 39 | Walter Serif: »Bei der Fußball-WM ist auch Sex mit im Spiel«, in: Mannheimer Morgen vom 7.03.2006. 40 | »Es difícil saber si los aficionados al fotbol que viajarán a Alemania se interesarán realmente en la ópera o en debates intelectuales, pero muchos de ellos quedarán, sin duda, fascinados por los muy atrevidos clubes nocturnes y los grandes cabaretes – el Wintergarten, el Friedrichstadtpalast o el Goya –, que buscan resucitar las noches locas y eróticas del Berlín de los años veinte« – Anne Marie Mergier: »El mundial del sexo«, in: Proceso vom 14. Mai 2006. Alle Übersetzungen, so nicht anders gekennzeichnet, durch L.I. 41 | »Sin embargo, una de las mayores atracciones para los visitantes será, inevitablemente, la prostitutión.« – A. M. Mergier: »El mundial del sexo«. 42 | Angie Hart: »Missing masculinity? Prostitutes’ clients in Alicante, Spain«, in: Andrea Cornwall/Nancy Lindisfarne (Hg.), Dislocating masculinity. Comparative ethnographies, London/New York 1996, S. 52f.
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Narrative über die Fußball-WM und die Prostitution | 257 »Feminists relying on a theoretical framework based on the notion of patriarchy may well see either all men as prostitutes’ clients or prostitutes’ clients as somehow standing for/ being symbolic of men in general.«43
Dabei ist die dahinter stehende Idee keine originär feministische. Männlichkeit, so hat bereits Richard von Kraft-Ebing 1886 beschrieben, stellt sich nach gängigen Vorstellungen in einem Wechselspiel von sexueller Triebhaftigkeit und seiner Kontrolle her.44 Bereits im Mittelalter galt Prostitution oft als gesellschaftliche Notwendigkeit zum Schutz »ehrbarer Frauen«.45 Der angeblich unbändige sexuelle Trieb der Männer droht permanent außer Kontrolle zu geraten – Männer sind in diesem Sinne immer potentielle Vergewaltiger und die Prostitution dient in diesem auch aktuell weit verbreiteten Argumentationsmodell der Triebabfuhr anderweitig unbefriedigter Männer. Gleichzeitig werden Männer, die die Dienste von Prostituierten in Anspruch nehmen, als psychisch oder physisch abnorm oder aber als Hypokriten, Heuchler einer heuchlerischen Gesellschaft, beschrieben. Was sich darin widerspiegelt, ist eine ambivalente Konstruktion von Männlichkeit als solcher. Victor J. Seidler beschreibt in »Unreasonable men«, wie über den repetitiven Verweis auf die »schlechte Natur« des Mannes und den performativen Beweis der Vernunftgeleitetheit seines Handelns Männlichkeit konstruiert wird.46 »Echte Männer« haben zwar normwidrige Emotionen, handeln aber nicht nach ihren Gefühlen. Zu einer Prostituierten zu gehen, stellt dabei ein ambivalentes Verhalten dar. Einerseits ist es – zumindest im Vergleich zu einer Vergewaltigung – »vernünftiges Handeln«, andererseits wird hier nach körperlichen, sozialen und psychischen Bedürfnissen gehandelt, ein Widerspruch zur Idee vernunftgeleiteter Männlichkeit. Susan Bordo schreibt in ihrer Abhandlung zum männlichen Körper: »[M]en are not supposed to be guided by the rhythms of bodily cycles, susceptible to hormonal tides. They are not supposed to be slaves to sexual moods and needs, to physical and emotional dependency. They are supposed to think objectively – to think like Man with a capital letter, discerner of the Eternal Truth, the Universal Subject of History, Philosophy, Religion. They’re not supposed to think with their penises!«47
Zu einer Prostituierten zu gehen, bedeutet einerseits, sexuelle und emotionale Bedürftigkeit zuzugeben – und damit einen Bruch zu Männlichkeitskonstruktionen. Gleichzeitig kann der Akt der Erlangung von Verfügungsgewalt über 43 | Ebd. S. 53. 44 | Vgl. Richard von Krafft-Ebing: Psychopathia Sexualis, München 1984 [1886]. Für eine historische Diskussion der Konstruktion von Männlichkeit vgl. Georg L. Mosse: The Image of Man. The Creation of Modern Masculinity, New York/Oxford 1996. 45 | Jacques Rossiau: Dame Venus: Prostitution im Mittelalter, München 1994. 46 | Vgl. Victor J. Seidler: Unreasonable men. Masculinity and social theory, London/New York 1994, S. 165f. 47 | Susan Bordo: The Male Body. A New Look at Men in Public and in Private, New York 1999, S. 19.
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258 | Loretta Ihme weibliche Körper, emotionale und sexuelle Zuwendung, insbesondere im Austausch mit Geld, als Akt der Herstellung von Maskulinität verstanden werden. Der Bezug zwischen Fußball und Männlichkeit erweist sich ebenfalls als mehrschichtig. Männlichkeitsforscher wie Georg L. Mosse oder R. W. Connell verweisen auf die Rolle des Sports für die Herstellung von Männlichkeit – auf individueller wie soziokultureller Ebene –, andere diskutieren den Zusammenhang von Fußball und Männlichkeit als Arena von Aushandlungsprozessen unterschiedlicher Männlichkeiten.48 Die Konstruktionsprozesse sind dabei uneinheitlich – jenseits der Vorstellung grölender, derber Männlichkeiten ist Fußball als kulturelles Ritual von unterschiedlichen Bildern durchzogen. Im San Fransisco Chronicle beschreibt die Journalistin Gwen Knapp gebrochene Männlichkeitsinszenierungen im Fußball: »I particularly love the operatic deathbed scenes that accompany even minor injuries, with none of the shame that boys here are taught to feel if they flinch when a fastball clips them viciously on the elbow. In futbol [sic!], stoicism hurts; it won’t elicit a yellow card of sympathy. Drama queens get all the breaks.«49
Diese Wahrnehmung ist insofern interessant, als dass Autorinnen wie Susan Bordo darauf verweisen, wie elementar wichtig es in der Herstellung männlicher Identität ist, Härte zu zeigen. »Boys are«, schreibt Bordo, »ashamed to tell others when they are injured; the simple act of telling is an admission that they are not bearing their pain silently, stoically, ›like a men‹«.50 Die »Sexpertin« Susie Bright hat Ausschnitte aus Knapps Artikel in ihrem Internetblog veröffentlicht – und es überrascht nicht, wenn Kommentare wie der von »Sandrino« kommen: »These guys, pretty or not, are playing for keeps and they don’t play nice. They may not be built like overfed bulls, but Soccer players are very fit, very fast and extremely nimble. They can put a hurt on you if you get in their way. I assure you that many of those injuries are not being played up.«51
48 | Vgl. G. L. Mosse: The Image of Man; R. W. Connell: Masculinities, Cambridge/Oxford 1995; Christian Bromberger: »Ein ethnologischer Blick auf Sport, Fußball und männliche Identität«, in: Eva Kreisky/Georg Spitaler (Hg.), Arena der Männlichkeit. Über das Verhältnis von Fußball und Geschlecht, Frankfurt am Main/New York 2006, S. 41-52; Matthias Marschik: »›It’s a Male Ball‹ – Über Fußball und Maskulinität, Cultural Studies und Kulturwissenschaften«, in: Eva Kreisky/Georg Spitaler (Hg.), Arena der Männlichkeit, S. 53-65. 49 | Gwen Knapp: »Beautiful Game is proud of it«, in: San Francisco Chronicle vom 25.06.2006, www.sfgate.com/cgi-bin/article.cgi?file=/chronicle/archive/2006/06/25/S PG3JJK5BH1.DTL&type=printable, gesehen am 29.06.2006. 50 | S. Bordo: The Male Body, S. 57. 51 | http: // susiebright . blogs . com / susie _ brights _ journal _ / 2006 / 06 / a _ month _ before_. html#comments, gesehen am 30.06.2006.
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Vielleicht muss »Sandrinos« Intervention als ein Ringen um Männlichkeit gelesen werden, wenn er (oder sie) uns »versichert«, dass es sich bei den Fußballspielern nicht um »Drama Queens« handelt. Aber auch an anderen Stellen fällt der Bruch mit dem Ideal des »vernunftgeleiteten Mannes« auf. »It’s not manly enough to play soccer, too much happyness when goals are scored«,52 kommentiert eine andere Leserin in Susie Brights Blog. Fußball gehört zu einer der wenigen gesellschaftlichen Orte in westlichen Kulturen, in dem sich auf dem Feld wie in den Zuschauerrängen Männer umarmen und Tränen öffentlich fließen dürfen. Die homosoziale, wenn nicht homoerotische Komponente ist kaum zu übersehen – insbesondere dort, wo versucht wird, ihr Einhalt zu gebieten. Das kürzlich ausgesprochene Urteil des »International Football Association Boards« (IFAB), das nun das Hochreißen oder Ausziehen eines Trikots beim Torjubel der Spieler als »unsportliches Verhalten« wertet, kann in diesem Zusammenhang als – wenn u.U. auch vorbewusster – Versuch der Vereinheitlichung von Geschlecht und sexueller Orientierung gelesen werden. Zentral ist bei all dem die diskursive Verknüpfung insbesondere der Fankultur an einen proletarischen Kontext. Almut Sülzle stellt beispielsweise die These auf, dass die meisten Fankulturen durch »protestierende Männlichkeiten« geprägt seien die nicht dem hegemonialen Ideal von Maskulinität entsprechen.53 Es sei eine marginalisierte Männlichkeit, die hier – in einem gesellschaftlichen Schutzraum – inszeniert werde. Meiner Ansicht nach handelt es sich allerdings vielmehr um ein komplexes Aushandlungsfeld unterschiedlicher Maskulinitäten. Eva Kreisky und Georg Spitaler haben herausgestellt, wie die »Bezugnahme auf die scheinbar authentischen, rauen und proletarischen Milieus« es »den unterschiedlichsten Männern [ermöglicht], sich selber ›männlich zu machen‹«.54 Dabei, und das wird mitunter vernachlässigt, handelt sich um ein scheinbar proletarisches Milieu, dessen Repräsentation als proletarisch wiederum nicht zufällig sondern signifikant ist. Hegemoniale Männlichkeit stellt sich immer wieder neu und immer auch in Abgrenzung zu als anders charakterisierten und marginalisierten Männlichkeiten her.55 Bestimmte Attribute werden verworfen und symbolisch marginalisierten Gruppen zugewiesen – »Homosexuellen« auf der einen Seite, »farbigen« und »proletarischen« Männern auf der anderen. Ihnen werden Formen von Maskulinität zugeschrieben, die von der Konstruktion hegemonialer Männlichkeit abweichen. Während homosexuellen Männern vorrangig eine von hegemo-
52 | Ebd. 53 | Almut Sülzle: »Fußball als Schutzraum für Männlichkeit? Ethnographische Anmerkungen zum Spielraum für Geschlecht im Stadion«, in: Antje Hagel/Nicole Selmer/Almut Sülzle (Hg.), gender kicks. Texte zu Fußball und Geschlecht, Frankfurt am Main 2005, S. 37-56. 54 | Eva Kreisky/Georg Spitaler: »Geschlecht als fußballanalytische Kategorie«, http://science.orf.at/science/news/144823, gesehen am 23. Juni 2006. 55 | R.W. Connell definiert hegemoniale Männlichkeit als »configuration of gender practice which embodies the currently accepted answer to the problem of the legitimacy of patriarchy« – R. W. Connell: Masculinities, S. 77.
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260 | Loretta Ihme nialen Männlichkeitskonstruktionen verworfene Weiblichkeit zugewiesen wird56 werden proletarische sowie »farbige« Männer häufig als hypermaskulin und außer Kontrolle geraten konstruiert.57 Fußball – das Geschehen auf dem Spielfeld, auf den Zuschauertribünen und vor den Fernsehern – kann als gesellschaftliches Ritual gelesen werden, in dem, wie Kreisky und Spitaler betonten, unterschiedlichste Männer diese verworfenen Elemente in ihr eigenes MannSein integrieren können. Hier können als homoerotisch kodierte Komponenten (der begehrliche Blick von Männern auf Männer, Körperkontakt unter Männern), homosoziale Aspekte (Gemeinschaftlichkeit, kollektive Emotionalität), üblicherweise als weiblich kodierter Ausdruck von Gefühlen, aber eben auch als hypermaskulin gekennzeichnete Faktoren (Wettkampf, Konkurrenz, Aggression bis hin zu Gewalt) inszeniert – und damit in hegemoniale Männlichkeitskonstrukte risikoarm und gesellschaftlich funktional aufgenommen werden. Denn während diese Inszenierung innerhalb der Stadien ritualisiert und akzeptiert ist, stellt sie außerhalb der Stadien eine Bedrohung dar. Dies gilt in unterschiedlichem Ausmaß. Die Fortsetzung der hergestellten Gemeinschaftlichkeit über das Stadion hinaus stellt Teil des Rituals dar – hier können bspw. sowohl der Verweis auf das Trinken »unseres« Bieres aus dem oben aufgeführten (angeblichen) Zitat des englischen Fans wie auch der Verweis auf den Austausch von Frauen als Teile eines Rituals zur Produktion männlicher Gemeinschaften interpretiert werden. Gleichzeitig wird insbesondere das Heraustragen von Aggression und Gewalt aus den Stadien problematisiert und als Teil eines Konfliktes zwischen hegemonialen und marginalisierten Männergruppen gelesen. R. W. Connell schreibt, dass »Klassendeprivation hässliche Formen männlicher Überlegenheit generiert«58 – und verweist dabei auf gewaltsame Ausschreitungen insbesondere englischer Fußballfans. Gewalt diene in diesem Zusammenhang der Herstellung von Männlichkeit. Die Grundidee der hier konstituierten Männlichkeit ist – im Unterschied zum Konstrukt einer vernunftgeleiteten Männlichkeit – die des Risikos.
4. Finale – Auf der Suche nach dem verantwortlichen Freier Angesichts der scheinbaren Untrennbarkeit von Fußball und Prostitution und der Verknüpfung mit einer risikoverliebten Männlichkeit liegt den Kampagnen
56 | Vgl. R. W. Connell: Masculinities, S. 78. 57 | Dabei sind diese Konstruktionen nie eindimensional oder simple, insbesondere dort, wo unterschiedliche Faktoren – ›race‹, Klasse, sexuelle Orientierung – aufeinanderprallen oder komplexe Repräsentationssysteme vorliegen; anschaulich beschreibt dies Kobena Mercer anhand der homoerotischen Portraits afroamerikanischer Männer des weißen Fotografen Robert Mapplethorpe (Kobena Mercer: »Reading Racial Fetishism: The Fotographs of Robert Mapplethorpe«, in: Kobena Mercer, Welcome to the Jungle, New York/London 1994, S. 179.) 58 | R. W. Connell: Masculinities, S. 237.
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zu Zwangsprostitution, die die WM begleiten, die Hoffnung zu Grunde, (wenigstens) verantwortliche Freier zu kreieren. Die bereits genannte Kampagne »abpfiff – Schluss mit Zwangsprostitution«59 des Deutschen Frauenrates steht nicht alleine da. Die Organisation Frauenrecht ist Menschenrecht (FiM) in Frankfurt am Main initiierte eine Kampagne mit dem Titel »Stoppt Zwangsprostitution«60 die sich genauso wie die durch die Nichtregierungsorganisationen (NRO) Ban Ying und Hydra ins Leben gerufene Kampagne »Verantwortlicher Freier«61 und die von der NRO Franka in Kassel initiierte Kampagne »Schau genau eine Frau«62 an die Freier wendet. Kernstücke der Freierkampagnen sind einerseits Plakate, Postkarten und Give-aways, die Aufmerksamkeit erzeugen sollen, andererseits Indikatorenlisten, die den Freiern ermöglichen sollen, freiwillige von unfreiwilliger Prostitution zu unterscheiden. Der Freier, so lautet die zentrale Botschaft der Kampagnen, ist nicht nur in der Lage, sondern steht auch in der Verantwortung, zu erkennen, ob es sich bei »seiner« Prostituierten um eine freiwillige oder unfreiwillige Prostituierte handelt. Insbesondere bei der von Ban Ying und Hydra initiierten Kampagne ist der Zusammenhang mit klassischen Konstruktionen von Männlichkeit evident – »Verantwortung kann man nicht in Zentimetern messen«, heißt es auf den Plakaten, auf denen Pfeile mit der Aufschrift 7, 14,5 und 20 cm abgebildet sind, »[d]enn egal wie groß Dein Schwanz ist, Du bist der Einzige, der erkennen kann, ob eine Frau zur Prostitution gezwungen wird.«63 Die Plakate – strategisch auf Augenhöhe über Pissoirs öffentlicher Herrentoiletten angebracht – verweisen auf paradoxe Aspekte der Herstellung von Männlichkeit. »Does size matter?«, fragt Susan Bordo64 und greift damit einen fundamentalen kulturellen Topos auf. Bordo schließt: »Absolutely, yes. But the matter of size is as ›mental‹ as it is ›material‹ – never just a question of nerve endings, always a collaboration with the imagination, and therefore with culture.«65 Die Größe des Penis, so scheint die Kampagne in ihrem ironischen Bezug auf gängige Kriterien für Männlichkeit zu suggerieren, ist ein in dieser Angelegenheit wenig verlässliches Maß. Ganz anders ist es mit der Verantwortung. Sich verantwortlich zu zeigen – und hier wird eine hegemoniale Konzeption von Männlichkeit aufgegriffen, die von der mit Fußball und Fußball-Fankultur in Zusammenhang gebrachten abweicht – ist ein Indiz von Maskulinität. Konträr zum angestrebten Modell des verantwortlichen Freiers wird in der medialen Debatte immer wieder darauf verwiesen, dass Freier sich gerade nicht verantwortlich zeigen. »Aneta Hovorka«, eine ehemalige Zwangsprostituierte, wird im Spiegel zitiert – sie glaube nicht, dass die Kampagnen etwas nützen: »Die Freier kommen doch ge59 | http://www.abpfiff-zwangsprostitution.net, gesehen am 17.06.2006. 60 | http://www.stoppt-zwangsprostitution.de, gesehen am 17.06.2006. 61 | http://www.verantwortlicherfreier.de, gesehen am 17.06.2006. 62 | http://www.franka-kassel.de, gesehen am 29.06.06. 63 | http://www.ban-ying.de/verantwortlicherfreier/verantwortung.html, gesehen am 17.06.2006. 64 | S. Bordo: The Male Body, S. 69ff. 65 | Ebd., S. 83.
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262 | Loretta Ihme rade deswegen, weil sie sich ein, zwei Stunden lang keine Gedanken machen wollen.«66 Es wird darauf hingewiesen, dass die Freier kein Interesse daran hätten, den Frauen zu helfen, verstärkt durch eine Beschreibung der Freier als triebgesteuert. So erzählt »Aneta Hovorka« weiter: »Gleich in der ersten Nacht […] hat die Puffmutter alle ihre Stammkunden zusammengerufen. […] Die sind dann über mich hergefallen«,67 und in anderen kulturellen Repräsentationen von Zwangsprostitution kommt es mitunter zu ausufernden Beschreibungen der »perversen Vorlieben« der Freier.68 Die Kampagnen wollen aber diesem Bild von Freiern nicht lediglich etwas entgegensetzen, sondern bieten Indikatorenlisten an, entlang derer Freier erkennen können sollen, wer gezwungen wird und wer sich freiwillig prostituiert. Diese Indikatorenliste erscheint auf der einen Seite banal: Man würde meinen, ein Freier, der durch z.B. sichtbare Zeichen von Misshandlungen – eine eingesperrte Frau oder eine Prostituierte, die erzählt, sie sei vergewaltigt und/ oder zur Prostitution gezwungen worden – nicht von sich aus alarmiert ist, wird sich auch nach Lektüre der Indikatorenlisten der Freierkampagnen nicht um Hilfe für die Frau bemühen. Auf den zweiten Blick geht es wohl eher um eine Normalisierung des Freierseins – eine Normalisierung, die ein Darüber-Reden ermöglicht, ermöglicht, unabhängig von Angst vor gesellschaftlicher Stigmatisierung, das eigene »Freier-Sein« zu artikulieren. Man kann nur hoffen, dass die Freier es tatsächlich bis zu den Indikatorenlisten der Kampagnen schaffen, und sich nicht auf das verlassen, was in den Zeitungen davon übrig geblieben ist: »Ungewöhnliche sexuelle Praktiken könnten der Hinweis sein – ein Indiz für den Freier, dass die Prostituierte zu ihrer Arbeit gezwungen wird«,69 heißt es beispielsweise im Spiegel – eine Aussage, die beinahe grotesk anmutet. Und Heike Rudat vom Bund Deutscher Kriminalbeamter wird mit den Worten zitiert: »Wir vertrauen auf das Einfühlungsvermögen des Freiers […] Das spürt man doch, wenn eine Frau eingeschüchtert ist.«70 Man möge sich auf seinen »gesunden Menschenverstand« verlassen und sich »der Polizei als Zeugen zur Verfügung stellen«.71 Die NROs hingegen verweisen immer wieder darauf, dass Freier den Frauen unter Umständen mehr Schaden als Gutes zufügen, wenn sie sich auf Verdacht an die Polizei wenden. Hier stellt weniger der allgemein imaginierte »wegsehende« Freier ein Problem dar, als diejenigen Freier, die aus 66 | R. Heflik: »›Sonst werde ich da drinnen sterben‹«. 67 | Ebd. 68 | Vgl. z.B. Frauke Hunfeld: »Lina und die FRAUENHÄNDLER – mitten unter uns«, in: Der Stern (49) vom 30.11.2005. 69 | Eva Lodde: »›Wir vertrauen auf das Einfühlungsvermögen der Freier‹«, in: Der Spiegel Online vom 8.03.2006, http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,404770, 00.html, gesehen am 13.03.2006. 70 | Ebd., vgl. auch Associated Press: »›Abpfiff‹ für Zwangsprostitution und Menschenhandel« vom 7.03.2006, in: Pressepiegel des Deutschen Frauenrates, stand 18.06. 2006. 71 | Mit Verweis auf Rudat in Antje Hildebrandt: »Anpfiff zum Abpfiff«, in: Badische Zeitung vom 8.03.2006.
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falsch verstandenen Hilfsbereitschaft Beratungsstellen oder Behörden auf die vermeintliche Notsituation von Frauen aufmerksam machen, ohne dass dies im Interesse der betroffenen Frau geschieht, die in Folge dieser Alarmierung negativen Konsequenzen ausgesetzt sein kann.72 Im Rahmen der Kampagnen wird daher gebeten, nichts ohne Rücksprache mit der betroffenen Frau zu unternehmen und sich im Zweifelsfall lieber an eine Fachberatungsstelle zu wenden als an die Polizei.
5. Abpfiff – Bilanz einer Debatte Am Ende scheint die ganze Aufregung umsonst gewesen zu sein. Prostituierte in den Austragungsstädten beklagen sich über die ausbleibenden Stammgäste und die Touristen, die nur »zum Gucken« kommen; »einige Frauen«, wird ein Bordellbesitzer zitiert, »sind schon wieder abgereist«.73 Manche der Initiatorinnen der Kampagnen hatten bereits zu Beginn darauf hingewiesen – »Wir wollen uns die riesige Medienpräsenz bei der WM zunutze machen, um für das Thema Zwangsprostitution zu sensibilisieren«74, wird Henny Engel, Geschäftsführerin des Deutschen Frauenrates, zitiert und trifft damit den Kern: Es geht darum, sich etwas zu Nutze zu machen. Wo sonst, als eingewoben in die Berichterstattung der WM, könnte man so viele Männer mit diesem heiklen Thema erreichen? Gleichzeitig stellen die Debatten um Prostitution und Zwangsprostitution im Vorfeld der WM Teil eines Diskursgeflechtes dar, in dem hegemoniale Konzepte von Männlichkeit und männlicher Sexualität rekonstruiert werden. Was fehlt, ist eine öffentliche Debatte, in der über Männer und Prostitution geredet werden könnte, ohne in stereotype und essentialistische Sprechweisen darüber zu verfallen, was »echte« Männlichkeit ausmacht – eine öffentliche Debatte, die versteht, dass männliche Identitäten mehr Unordnung in sich tragen, als gemeinhin zugegeben wird. Solange der Besuch einer Prostituierten auch auf diskursiver Ebene so eng mit einer als einheitlich gedachten Männlichkeit verwoben ist, bleibt fraglich, ob alle Freier in der Lage sein werden, die eigene Unordnung hinter sich zu lassen und die Widersprüchlichkeit der Prostituierten und ihres Lebens zu begreifen und danach zu handeln.
72 | Obwohl Hinweise von Freiern weder für die Ermittlungs- noch für die Beratungsarbeit eine zahlenmäßig signifikante Bedeutung haben, wurde ich im Rahmen meiner promotionsbegleitenden Feldforschung insbesondere seitens der Beratungsstellen immer wieder auf diese Problematik hingewiesen. 73 | J. Schaaf: »Weltmeister in käuflichem Sex«. Es muss an dieser Stelle offen bleiben, inwiefern die Mediale Debatte und die hier angeführten Kampagnen dazu beigetragen haben, dass die Umsätze der Sexarbeiterinnen während der WM so gering geblieben sind. 74 | Emma: »Zwangsprostituierte für WM-Fans?«, in: Emma vom Januar/Februar 2006.
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264 | Loretta Ihme
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2006-11-15 17-28-58 --- Projekt: T549.gc.grenz.prostitution / Dokument: FAX ID 00fb131592162986|(S. 247-265) T01_13 kapitel ihme.p 131592163386
Narrative über die Fußball-WM und die Prostitution | 265
Sülzle, Almut: »Fußball als Schutzraum für Männlichkeit? Etnographische Anmerkungen zum Spielraum für Geschlecht im Stadion«, in: Antje Hagel/Nicole Selmer/Almut Sülzle (Hg.), gender kicks. Texte zu Fußball und Geschlecht, Frankfurt am Main 2005, S. 37-56. Yuval-Davis, Nira: Geschlecht und Nation, Emmendingen 2001.
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Prostitution und die Harmonie der Täuschungen | 267
Prostitution und die Harmonie der Täuschungen. Einschreibungen, kulturelle Markierungen und Verkehrungen Dorothea Dornhof
Bildstörungen – TäuschungsWissen Das um die Figur der Prostituierten zirkulierende Wissen um Lust und Körper hat die Eigenschaft, sich temporär zu verfestigen und weist zugleich mediale Überschreitungen aus, in denen sich das traditionelle Bild serialisiert und somit zum flexiblen Medium sozialer Normalität wird. Dabei ist offensichtlich, dass mit den Szenarien der Prostitution stets auch Bedeutungen der Geschlechterdifferenz ausgehandelt werden. Es sind gegenwärtig vor allem Künstlerinnen, die mit den überkommenen Wahrnehmungsmustern spielerisch umgehen und sie für eine radikale mimetische Schreibweise nutzbar machen, wie es die junge polnische Autorin Dorota Maslowska in ihrem Buch »Schneeweiß und Russenrot« (2004) vorführt. Auch die poetischen Bilder sexualisierter Gewalt, mit denen die französische Autorin Nelly Arcan in ihrem Roman »Hure« (2002) die destruktive Sexualität der Prostitution inszeniert, beschwören Abscheu und rufen voyeuristische Bedürfnisse gleichermaßen hervor. Ich werde mich in meinen Beitrag mit wissenschaftlichen Reaktionen auf die Veränderung von Geschlechterverhältnissen um 1900 beschäftigen, um der Genealogie von kulturellen Codierungen auf die Spur zu kommen, die bis heute Angst vor der Auflösung vertrauter Differenzen zwischen den Geschlechtern hervorrufen. Denn es sind vor allem kulturelle Markierungen und Verkehrungen des Prostitutionsdiskurses, in denen die geschlechtliche Differenz als Effekt auf spezifische Weise hervorgebracht und als Angstabwehr figuriert wird. Durch die Arbeit von Prostituiertenprojekten und mit dem Gesetzesentwurf zur »Verbesserung der rechtlichen und sozialen Lage der Prostituierten«, der nach jahrelangen Diskussionen im Oktober 2001 im Bundestag verabschiedet worden ist, und mit dem die Prostitution von der Sittenwidrigkeit getrennt wird, haben sich auch Veränderungen innerhalb der Prostitutionsforschung ergeben: Stereotype
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268 | Dorothea Dornhof der Prostituierten als Opfer von Missbrauch, Zwang und materieller Not werden in jüngster Zeit kritisch reflektiert. Die analytische Aufmerksamkeit richtet sich nun mehr auf die heterosexuelle Norm, den Freier und Differenzen zwischen selbst bestimmter Sexarbeit, Rotlicht- und Zwangsprostitution.1 Obwohl sich die Sexindustrie in der Gegenwart wesentlich von der gewerblichen Prostitution im 19. Jahrhundert unterscheidet, gibt es auf diesem Gebiet entscheidende Kontinuitäten, mit denen die Prostitution nach wie vor ins Zentrum der Sexualitätsauffassungen rückt. Trotz aller Bemühungen, undifferenzierten Wahrnehmungen der im Prostitutionsgewerbe Tätigen entgegenzutreten, halten sich im kollektiven Imaginären hartnäckig Muster unkontrollierter abweichender Sexualität, die nicht nur auf konservative Einstellungen und Angstabwehr zurückzuführen sind, sondern auf grundlegende Veränderungen ästhetischer Organisationsformen von Wissen im Zeitalter Neuer Medien. »Das Sehen ist nicht mehr die Möglichkeit, etwas zu sehen, sondern die Unmöglichkeit, nichts zu sehen. […] Nach der Automatisierung der Produktion und mit dieser revolutionären Umwandlung der Übertragungstechniken, […] befinden wir uns nun an der Schwelle einer Automatisierung der Weltwahrnehmung.«2
Diese von Paul Virilio hier nur angedeutete Entwicklung hat ihren Ausgangspunkt bereits in der »Krise der Wahrnehmung« zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Prostitution Ende des 19. Jahrhunderts ist eng verbunden mit medial geprägten Erfahrungen, die besonders in der Fotografie und im Film als Projektionsflächen vorwiegend männlicher Beobachter zum Ausdruck kommen. So gehen mit der Visualisierung der Prostitution unter modernen Bedingungen des Wissens und der Medienreproduktion um 1900 überkommene Mythen und unbewusste Phantasien in moderne Wissensprogramme ein. In einem Ensemble von Machttechnologien, das von der sittenpolizeilichen Einschreibung und medialer Kontrolle bis zu sozialpolitischen, hygienischen Maßnahmen und frauenpolitischen Interventionen reicht, wird im Prostitutionsdiskurs die Geschlechterdifferenz als ein spezifisches Wissen erzeugt, in dem sexuelle Imaginationen der degenerierten Frau und des verführerischen Kindes zu zentralen Metaphern der Prostitution werden. Obwohl sich an diesem Diskurs immer auch hegemoniale Einstellungsmuster zu Sexualität ablesen lassen, ist er gleichzeitig an Ursprungsphantasien gebunden und ruft mit der sexuellen Norm immer auch Verkehrungen auf: von
1 | Vgl. Sabine Grenz: (Un)heimliche Lust. Über den Konsum sexueller Dienstleistungen, Wiesbaden 2005; Joyce Outshoorn (Hg.): The Politics of Prostitution. Women’s Movements, Democratic States and the Globalisation of Sex Commerce, Leiden 2004; Martin Lücke: »›Das ekle Geschmeiß‹. Mann-männliche Prostitution und hegemoniale Männlichkeit im Kaiserreich«, in: Martin Dinges (Hg.), Männer – Macht – Körper. Hegemoniale Männlichkeiten vom Mittelalter bis heute, Frankfurt am Main/New York 2005. 2 | Paul Virilio: »Das Privileg des Auges«, in: Jean-Pierre Dubost (Hg.), Bildstörung. Gedanken zu einer Ethik der Wahrnehmung, Leipzig 1994, S. 55.
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Recht und Gesetzlosigkeit, von Gesundheit und Krankheit sowie von Kultur und zügelloser Wildheit.3 Für den Sexualforscher Iwan Bloch gibt erst die Syphilis der modernen Prostitution ihr Gepräge, ja er spricht sogar von der Syphilisbesessenheit des 19. Jahrhunderts. Ebenso wie die Syphilis wird die Prostitution um 1900 über spezifische Aussagen und Visualisierungen zu einer wissenschaftlichen Tatsache, mit der die Figur der Prostituierten in ihrer kulturellen Markierung fixiert und in staatliche Kontrollinstanzen eingeschrieben wird. Dieses »Gestaltsehen als ausgesprochene Denkstilangelegenheit«4 und als geschichtliche Entwicklung eines Denkgebietes hat der polnische Bakteriologe und Arzt Ludwik Fleck im Jahre 1935 am Beispiel des Syphilisbegriffs nachgewiesen. Damit hat er eine bestimmte Wissensform analysiert und die in sie eingeflossenen kulturellen Einschreibungen und Wahrnehmungsmustern im kulturellen Archiv der Moderne verortet. Für Fleck sind es vor allem Beharrungstendenzen der Meinungssysteme und die Harmonie der Täuschungen, die von einem Denkstil zum anderen kreisen und die Wissensproduktion bestimmen.5 Als konzeptionelle Instrumente, mit denen Fleck die kulturellen Bedingungen und fiktionalen Anteile des Wissens analysiert, prägte er die Begriffe des Denkkollektivs und des Denkstils. Jede »Gemeinschaft von Menschen«, schreibt er, entwickelt einen eigenen Denkstil, der sich aus der Geschichte der jeweiligen Gemeinschaft erklärt. »Er schafft eine gewisse Bereitschaft, er verleiht sie den Mitgliedern der Gemeinschaft auf soziologischen Wegen und er diktiert, was und wie diese Mitglieder sehen.«6 Bei jeder wissenschaftlichen Operation ist die Disposition für gerichtetes Wahrnehmen an die Preisgabe gebunden, Heterogenes wahrnehmen zu können. Wissenschaftliche Tatsachen sind somit nicht etwas sich unmittelbar Darbietendes, sondern entstehen in einer spezifischen Beziehung des Wahrgenommenen zum Denkkollektiv. Auch wenn die Syphilis mit der Erfindung der Wassermann-Reaktion eine neuartige empirische Faktizität erlangte, war das keine individuelle Denkleistung, denn auch die in das medizinische Labor verlegte Wahrheitsfindung ist nur in einer bestimmten historischen Situation mögliche Verknotung von Ideengängen, bei der immer neue Knoten entstehen und alte sich gegenseitig verschieben, »ein Netzwerk in fortwährender Fluktuation: es heißt Wirklichkeit oder Wahrheit«.7
3 | Burkhard Schmidt: Geschlecht unter Kontrolle. Prostitution und moderne Literatur, Freiburg i.Br. 1998. 4 | Ludwik Fleck: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre von Denkstil und Denkkollektiv. Mit einer Einleitung herausgegeben von Lothar Schäfer und Thomas Schnelle, Frankfurt am Main 1994, S. 121. 5 | Vgl. ebd., S. 41. 6 | Ludwik Fleck: Über die wissenschaftliche Beobachtung und die Wahrnehmung im allgemeinen, in: ders., Erfahrung und Tatsache. Gesammelte Aufsätze, Frankfurt am Main 1983, S. 75. 7 | Ebd.
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270 | Dorothea Dornhof Die Erkenntnis der Prostitution verdankt sich somit einem kulturellen Diskurs, der sich den Subjekten vor allem in Bildern aufdrängt. Im Zuge der wissenschaftlichen Bearbeitung wird der vielschichtige Entwicklungsweg der Arbeit rationalisiert und schematisiert, so dass am Ende fertige Begriffe bereitstehen, die – wie jedes Wissensbegehren – den Wirkungen »der Harmonie der Täuschungen« unterliegt.8 Von entscheidender Bedeutung ist dabei, dass Denkkollektive die Tendenz und den Wunsch haben, Hierarchien zu bilden, Klarheiten zu schaffen, Mischungen zu vermeiden und stark selektive Wahrnehmungsstrukturen auszubilden, mit denen Spalten und Brüche imaginär überblendet werden. Was im wissenschaftlichen Diskurs der Prostitution fixiert und festgeschrieben wird, speist sich aus kulturellen Deutungsmustern, die als regulierende Phantasmen das Wissens prägen. Die den Modernisierungsprozess irritierenden und ambivalenten Phänomene werden abgespalten, so dass die Wissenschaft des ausgehenden 19. Jahrhunderts bestrebt war, diese Unbestimmtheiten zu bekämpfen und im Feld der Prostitution eine Ordnung der Lüste zu errichten. Die dabei hergestellte Gleichzeitigkeit von Verknüpfen und Verfehlen9 ist im Wissen der Prostitution strategisch wirksam und macht die kulturelle Faszinationsgeschichte der Figur der Prostituierten aus. Ein Rückblick auf die im kollektiven Wissen eingelagerten Projektionen und Mythen kann dazu beitragen, abwehrende Sexualpolitik gegenüber der Prostitution in ihren erfolgreichen Strategien zu entziffern, da sie die imaginären Einschreibungen der Prostitution verkennt, und sie als klar umschriebene, kontrollierbare Größe erscheinen lässt.
Prostitution als polymorph-perverse Sexualität In seinen »Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie« von 1905 hatte Freud das Sexualleben des Kindes und den Entwicklungsprozess der frühkindlichen Sexualität bis zum Ausgang in die Perversion, die Neurose oder in das normale Geschlechtsleben behandelt. Freud war zwar nicht der Erste, der die frühe Sexualität des Kindes zur Sprache brachte,10 was er jedoch entdeckte, war die kindliche polymorph-perverse Anlage des Sexualtriebes, die im Laufe der Entwicklung gegen seelische Mächte wie Scham und Ekel anzukämpfen hat, mit denen wiederum die Möglichkeit gegeben ist, den Trieb innerhalb der als normal geltenden Schranken zu bannen. Dass Freuds Bestrebungen, das Rätsel gerade der weiblichen Sexualität zu lösen, ihn ausgerechnet zur Figur der Prostituierten führten, mag kein Zufall sein, galt die Prostituierte in der Wahrnehmung des 19. Jahrhunderts – und das gilt noch bis in unsere unmittelbare Gegenwart hi8 | L. Fleck: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache, S. 114. 9 | Barbara Rendtorff: Geschlecht und différance. Die Sexuierung des Wissens. Eine Einführung, Königstein i.Ts. 1998, S. 49. 10 | Sander L. Gilman: »Das männliche Stereotyp von der weiblichen Sexualität im Wiener Fin de sciècle«, in: ders., Rasse, Sexualität und Seuche. Stereotype aus der Innenwelt der westlichen Kultur, Reinbek b.H. 1992, S. 156.
2006-11-15 17-28-58 --- Projekt: T549.gc.grenz.prostitution / Dokument: FAX ID 00fb131592162986|(S. 267-279) T01_14 kapitel dornhof.p 131592163402
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nein – als die sexualisierte Frau par exellence, deren Geheimnis auch Freud nicht zu enträtseln vermochte. »Das Kind verhält sich hierin nicht anders als etwa das unkultivierte Durchschnittsweib, bei dem die nämliche polymorph perverse Veranlagung erhalten bleibt. Dieses kann unter den gewöhnlichen Bedingungen etwa sexuell normal bleiben, unter der Leitung eines geschickten Verführers wird es an allen Perversionen Geschmack finden und dieselben für seine Sexualbetätigung festhalten. Die nämliche polymorphe, also infantile Anlage beutet dann die Dirne für ihre Berufstätigkeit aus, und bei der riesigen Anzahl der prostituierten Frauen und solcher, denen man die Eignung zur Prostitution zusprechen muß, obwohl sie dem Berufe entgangen sind, wird es endgültig unmöglich, in der gleichmäßigen Anlage zu allen Perversionen nicht das allgemein Menschliche und Ursprüngliche zu entdecken.«11
Hier klingen bereits zwei Momente an, die imaginäre Strukturen des Wissen zur Metapher einer weiblichen Sexualität formten: das verführerische Kind und die degenerierte Prostituierte. Als abweichend von der herrschenden Norm verkörpert sie »verstellend« eine Mischung von Angstabwehr und Wunscherfüllung, da die Bedrohung durch die so inszenierte Abweichung nur die eine Seite des Wissensbegehrens darstellt. In der Figur der Prostituierten wird die Geschlechterdifferenz gleichzeitig dynamisiert, denn es überschneiden sich hier zentrale Sexualitätsdiskurse um die Jahrhundertwende, die ein treibendes Moment dieser Dynamik bilden.12 Mit gesteigerter Lust an der Analyse mischen sich gerade in der Figur der Prostituierten bereits vorhandene ästhetische Bilder der femme fatale mit einem bedrohlichen Begehren. Umwoben von unreinen und zweideutigen Bildern ist die Prostituierte eine Grenzgängerin, die mit ihrer verschwenderischen und 11 | Sigmund Freud: »Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie«, in: ders., Gesammelte Werke. Bd. 5, Frankfurt am Main 1999, S. 92. 12 | Die das 19. Jahrhundert durchziehende Onaniedebatte, mit der sich Ärzte als »neue Priester« legitimierten, ist ein Indiz für diese Dynamik einer immer wieder Ambivalenz produzierenden weiblichen Sexualität, die sich zwischen extremer Sinnlichkeit und absoluter Trieblosigkeit bewegte. Den Frauen wurde dann ein stärker ausgeprägter Sexualtrieb zugeschrieben, auch ein stärkerer Masturbationsdrang, wenn Sexualität als etwas Schmutziges, Unreines, Verwerfliches – die Sexualität der Prostituierten – wahrgenommen wurde. Vgl. G.B. Moraglia: Die Onanie beim normalen Weibe und bei den Prostituierten, Sammlung Criminalanthropologischer Vorträge 2, Berlin 1897. Männern wird ein stärkerer Sexualtrieb zugesprochen, wenn dieser mit einer positiv konnotierten Sexualität in Zusammenhang gebracht wird, dem gegenüber die Frau den passiven Teil verkörpert. Vgl. Hermann Rohleder: Die Masturbation. Eine Monographie für Ärzte und Pädagogen, Berlin 1899; Christina von Braun: »Männliche Hysterie – Weibliche Askese. Zum Paradigmenwechsel der Geschlechterrollen«, in: dies., Die schamlose Schönheit des Vergangenen. Zum Verhältnis von Geschlecht und Geschichte, Frankfurt am Main 1989; Klaus Hödl: Die Pathologisierung des jüdischen Körpers. Antisemitismus, Geschlecht und Medizin im Fin de Siècle, Wien 1997.
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272 | Dorothea Dornhof selbstzerstörerischen Ökonomie die Gemeinschaft zu verunreinigen droht. Sie spiegelt einerseits das ambivalente männliche Verhältnis zur Frau und autorisiert andererseits das männliche Subjekt auf der Grundlage der symbolischen Differenz der Geschlechter.13 Im Diskurs über die »Natur« der weiblichen Sexualität wird die Prostituierte als die sexualisierte Frau an sich im medizinisches Modell konstituiert. Sexualität und Krankheit bilden dabei die beiden Pole einer Pathologie des Anderen, die der männliche Entdecker am Objekt Frau entziffert, das wiederum aufs Engste mit dem Morbiden und den Perversionen verknüpft ist.14 Die Prostituierte gehört somit zu den großen Wissensfiguren, die das ausgehende 19. ebenso wie das 20. Jahrhundert unaufhörlich mit Hilfe von religiösen und medizinischen Deutungen sowie sozialen Techniken um die Sexualität errichtet hat, um sie in eine maximale Distanz zur Normalität zu stellen.15 Ein Blick in jenes Milieu außerhalb der Normalität macht neugierig auf diesen geheimnisvollen Ort, den zu betreten reizvoll und gefährlich zugleich ist, da dort die vertrauten Regeln der Ordnung außer Kraft gesetzt sind. Denn die Prostitutionsfrage verweist darauf, dass die »Harmonie der Täuschungen«, die den Bestand einer Gemeinschaft garantieren soll, als instabil betrachtet werden muss, weil mit der Figur der Prostituierten ständig Differenzen produzierende Konstellationen aufgerufen werden, die sich reproduzieren, auflösen und Materialisierungen devianter Körper befestigen. Der um die Jahrhundertwende alle Medien beherrschende Diskurs der Prostitution richtet somit feststehende Oppositionen wieder auf, indem er gleichzeitig Bedeutungen in Bewegung bringt, die die dyadische sexuelle Differenz in diskursiven Text- und Bildserien unterlaufen und vervielfältigen.
Prostitution und Ökonomien der Verschwendung Unter dem Einfluss neuer Medien wie Fotografie und Film haben sich nicht nur erkennungsdienstliche und statistische Methoden der Sexualwissenschaften etabliert, auch der wissenschaftliche Prostitutionsdiskurs konstituiert sich am Ende des 19. Jahrhunderts über die in den neuen Medien vorhandenen Möglichkeiten der Einschreibung des Visiblen. Zentraler Ort der Einschreibung sind neben den Gesetzen und der Sittenpolizei die Psychiatrie. Für den psychiatrischen Denkstil sind visualisierende Messverfahren charakteristisch, mit denen die degenerativen Merkmale der Prostitution sichtbar gemacht werden, um sie der Kontrolle zu unterwerfen. Prototyp eines von den Messverfahren besessenen Forschers war der italienische Psychiater und Kriminalanthropologe Cesare Lombroso, der damit die 13 | Vgl. Dietmar Schmidt: Geschlecht unter Kontrolle. Prostitution und moderne Literatur, Freiburg i.Br. 1998, S. 18. 14 | Vgl. Bram Dijkstra: Evil Sisters. The Threat of Female Sexuality and the Cult of Manhood, New York 1996. 15 | Vgl. Klaus Hödl: Die Pathologisierung des jüdischen Körpers, Wien 1997.
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Prostitution als weibliches Äquivalent zum Verbrechen nachzuweisen versuchte. Das Verworfene, Deviante übte in seinen extremsten menschlichen Erscheinungsweisen – ob als das Heilige/Geniale oder das Kriminelle/Gewalttätige – eine derartige Faszination auf den positivistischen Wissenschaftler aus, dass er sie in endlosen Beschreibungen und Darstellungen zu tilgen versuchte. Denkstilgebunden wurden Abweichungen grenzenlos multipliziert und somit stets als neue Gefahren für individuelle und Gemeinschaftskörper visualisiert. In der Gefahrenabwehr verweisen diese Texte auf eine epistemologische und narrative Krise, indem sie auf die Beweiskraft des Sichtbaren setzen, auf Zeichen der Abweichung, vor allem auf Gesichts- und genitale Deformationen und Asymmetrien. Aber auch anderes Material, wie Zeichnungen, Anekdoten, Sprüche, Tätowierungen sollten den devianten weiblichen Körper markieren und produzierten ihn als Symptom, das mit Freud als Kompromissbildung zwischen Triebimpuls und Abwehr zu lesen ist. Der so entstandene heterogene Text enthält Erzählungen tierischer Kriminalität und monströser Mutterschaft, listiger Diebinnen und Messergebnisse, die all die weiblichen Abweichler intelligibel machen. Der »rein logischen Betrachtungsweise« der Untersuchung sind heterogene Verkehrungen eingeschrieben, die in ihrer Überblendung die Frau als Prostituierte und Verbrecherin als verwerflich erscheinen lassen. Bereits im Vorwort wird die narrative Methode unfreiwillig deutlich: »Der Erfolg ist nicht ausgeblieben, denn bei der Zusammenfassung des Materials schlossen sich anscheinend widersprechende Thatsachen zu einem vollständigen, wohlgeordneten Bilde zusammen. Wenn uns beim Beginn des Sammelns der Thatsachen oft zu Muthe war, als tappten wir im dunkeln, so war, als schließlich sich ein helles und deutliches Ziel zeigte, unsere Freude die des Jägers, der den Genuss der Erfolges verdoppelt fühlt, wenn er unter Angst und Mühen endlich seine Beute erreicht.«16
Der anthropologische Forscher als Jäger und Sammler kann in den Genuss der Beute nur kommen, wenn er das dunkle Feld des Wissens mit Tatsachen füllt, mit denen die Prostituierte atavistischen Ursprungs als ein Sicherheitsventil für die Moral und die öffentliche Ordnung erscheint. In der hier entfalteten Ökonomie hat die Frau als Prostituierte keinen Wert für sich, ihr Wert besteht in der Handlung des männlichen Subjekts: »[S]ie wäre nicht entstanden und geblieben, wenn die Lasterhaftigkeit des Mannes sie nicht konservierte.«17 Die Prostituierte verkörpert somit ein ökonomisches Paradox: gebraucht und benötigt zu werden und keinen Gebrauchswert zu besitzen. Aus dieser doppelten Negation, die sich aus dem Umstand ergibt, dass die Prostituierte weder positiven Wert noch Schaden hervorbringt, resultiert eine Abwesenheit von Wert und damit ein Vakuum, das als virtueller Raum aller möglichen Werte und Produkte fungiert.18 16 | Cesare Lombroso/Guglielmo Ferrero: Das Weib als Verbrecherin und Prostituierte. Anthropologische Studien, gegründet auf einer Darstellung der Biologie und Psychologie des normalen Weibes, Hamburg 1894, S. III. 17 | Ebd., S. IV. 18 | Vgl. B. Schmidt: Geschlecht unter Kontrolle, S. 189.
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274 | Dorothea Dornhof So verdeutlicht Lombrosos Datenflut, wie an die Stelle des Nichts eine Flut von Zahlenmaterial und statistischen Erhebungen gesetzt wird. Prostitution als eine wissenschaftliche Tatsache ist als Null-Zeichen ein leeres Bedeutendes, das nach Maßgabe des männlichen Beobachters als Zeichen gefüllt und in sexuelle Szenarien verwandelt wird, mit denen die Prostituierte als Objekt der Begierde und der Verachtung gleichermaßen entworfen wird. Indem der männliche Wissenschaftler mit seinen Daten die Prostituierte erst der Sichtbarkeit zuführt, spiegelt er sich mit seinen Phantasien auf sich selbst zurück. Damit erhält die Prostitution wieder einen Wert, der bis heute die sexualpolitischen Diskurse besetzt hält – das Paradox einer moralischen Ökonomie, das sich ständig verschiebt, ohne jemals zu einer Lösung zu finden. Ökonomische Transaktionen und Moral benötigen einander nicht, um funktionieren zu können. Was den Text Lombrosos letztendlich noch einmal aktuell werden lässt, ist sein Versuch, über das Nichts die Prostituierte als Regulativ des Übergangs zu projizieren. Indem sie moralische Negativität in ökonomische Positivität verwandelt, wird das Moralische in das Ökonomische überführt. Wenn als normativer Rahmen die »natürliche« Fortpflanzung gilt, so handelt es sich bei der als pathologisch qualifizierten Sexualität der Prostitution jedoch um einen unproduktiven Geschlechtstrieb, der in der heterosexuellen Matrix die Verschwendung markiert. Dieses Verhältnis von Erwerb und Verschwendung ist aber letztendlich in den Gesetzen der Ökonomie verortet. In seinem Bemühen, ein wissenschaftliches Modell abweichender Körper und Sexualitäten zu erstellen, bringt der Prostitutionsdiskurs einerseits die moralische Verwerfung hervor, in dem die Prostitution als ein »fressendes Geschwür am Körper der Gesellschaft«19 dargestellt wird, und andererseits inszeniert er die Verschwendung in dem Bemühen, Lüste zu vervielfachen und zu intensivieren. Mit seiner immanenten Lust an der Wahrheit der Lust enthält er Bruchstücke einer Kunst der Erotik, heimlich getragen vom Geständnis in der Wissenschaft von der Sexualität. Die Mediziner, Juristen, die Behörden und nicht zuletzt vor allem die Frauenrechtlerinnen interessierte vor allem das Phänomen der männlichen Nachfrage nach der Prostitution. Der Geschlechtstrieb und die »bloße Sinnlichkeit« konnten weder erklären, warum viele Ehemänner die Prostituierten frequentierten, noch die immer wieder in »Erstaunen setzende Anziehungskraft, welche Prostituierte auf hochgebildete, ästhetische und ethisch fein empfindende Männer ausüben. Besitzt der moderne Kulturmensch ein geheimes Innenleben, das ihn zu diesen Übertretungen führt? Wir erkennen ihn nicht wieder, weil in solchen Momenten etwas ganz anderes in ihm aufgetaucht ist, eine andere Natur sich in ihm regt und ihn mit der Kraft einer elementaren Gewalt zu Dingen hinreißt, vor denen sein ›Oberbewußtsein‹, der Kulturmensch in ihm zurückschaudern würde.«20
19 | Vgl. Iwan Bloch: Das Sexualleben in unserer Zeit in seinen Beziehungen zur modernen Kultur, Berlin 1909, S. 342. 20 | Ebd., S. 361/362.
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Da die Prostitution in Iwan Blochs anthropologischem Modell den Rest einer primitiven Kultur repräsentiert, avanciert sie zum Zentralproblem der Sexualwissenschaft, denn sie stellt zwar ein soziales Übel dar, aber kein notwendiges. In einer speziellen Logik des Begehrens richtet sich auch hier der Blick des Forschers auf das innere Wesen der Prostitution, um ihr das Geheimnis zu entreißen. Mit ihren »primitiven Wurzeln« wird sie in der modernen Kultur verortet und bekommt gerade durch ihre Einschreibung in wissenschaftliche Klassifikationsmerkmale eine dämonische Dimension. Die Prostituierte wird zu einer dämonischen Figur durch die Abwehr gegenüber den Elementen einer archaischen Kultur, die eine Bedrohung heraufbeschwören, vor der sich die Gesellschaft schützen muss. Als soziales Phänomen ist Prostitution ein »survival« im Sinne Tylors, ein Überrest primitiven Sexuallebens,21 und als biologisches Phänomen eine unkontrollierte Form dionysischer Selbstentäußerung, die mit Formen religiöser und künstlerischer Ekstasen in Verbindung gebracht wird. Diese dämonische Einschreibung der Figur der Prostituierten entsteht in dem Moment, wo das Wissensbegehren auf den Mangel trifft, den es zu verleugnen gilt und der die Harmonie der Täuschungen aufs Neue hervorbringt. So wird von Bloch ein umfangreiches historisches Archiv aktiviert, um den Nachweis zu erbringen, dass die gesamte moderne Organisation und Definition der Prostituierten aus dem klassischen Altertum stammt. Die moderne Sexualethik spiegelt sich in derjenigen des antiken Sklavenhalterstaates, die ebenfalls auf staatlicher Reglementierung basierte. Eine Prostituierte ist in diesem überhistorischen Szenario ein »sexuell ausschweifendes Weib«, eine Ehebrecherin oder eine Frau, die zum Zweck des Gelderwerbs sich öffentlich oder heimlich vielen Männern wahllos geschlechtlich preisgibt. »Die Prostitution ist eine bestimmte Form des außerehelichen Geschlechtsverkehrs, die dadurch ausgezeichnet ist, daß das sich prostituierende Individuum mehr oder weniger wahllos sich unbestimmt vielen Personen fortgesetzt, öffentlich und notorisch, selten ohne Entgeld, meist in Form der gewerbsmäßigen Käuflichkeit zum Beischlafe oder zu anderen geschlechtlichen Handlungen preisgibt oder ihnen sonstige geschlechtliche Erregung und Befriedigung verschafft und provoziert und infolge dieses Unzuchtgewerbes einen bestimmten Typus bekommt.«22
Die Ökonomie der Prostitution ist hier ein wesentlicher Faktor, der in Verbindung mit archaischen Diskurselementen das Dämonische der Prostituierten hervorbringt. Bloch weist mehrfach darauf hin, dass er den ökonomischen Faktor der Prostitution für sekundär hält, obwohl er kaum leugnen kann, dass sich die Prostituierten im Normalfall für ihre Arbeit bezahlen lassen. Bloch versucht an diesem Punkt nicht »die individuelle Geldentschädigung«, sondern die »allgemeine Käuflichkeit« der Prostituierten als Kriterium hervorzuheben. Die widersprüchlichen Diskurselemente der Prostitution bringen nicht zuletzt in der
21 | Vgl. Iwan Bloch: Die Prostitution, Bd. 1, Berlin 1912, S. XVIII. 22 | Ebd., S. 38.
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276 | Dorothea Dornhof Re-Semantisierung ihrer Bilder Akteure und Regeln hervor, die in einer spezifischen Bild-Ästhetik des Weimarer Autorenkinos inszeniert werden.23
Das Denken in Bildern – Tauschgeschäfte Die der Prostitution anhaftende Ökonomie der Verschwendung gehorcht einer unproduktiven Ökonomie der Lust, die es immer wieder in eine geregelte Ordnung zu überführen gilt. Als Beispiel für das ambivalente Verhältnis dieser beiden Ökonomien, einer rationalen der Kontrolle und Einschreibung und einer der Verausgabung, möchte ich auf einen der zahlreichen Prostitutionsfilme der Weimarer Republik eingehen, auf den Stummfilm »Die freudlose Gasse« (1925) von Georg Wilhelm Pabst.24 Der Film zählt zu den bedeutendsten Werken der Weimarer Republik und entwickelte sich zu einem der spektakulärsten Zensurfälle der 20er Jahre. Das Original wurde von der Zensur vollständig zerstört, so dass heute nur noch eine aus unterschiedlichen Fragmenten rekonstruierte Fassung des Münchner Filmmuseums von 1997 vorliegt. In mehreren Zensurverfahren – je nach Land – mussten Kürzungen vorgenommen werden, wo Nacktheit und Gewalt zu drastisch empfunden wurden, so z.B. Frauenbeine vor dem Kellerfenster des Schlachters, der die Prostituierten mit Fleisch entlohnt, oder eine Szene, wo eine der Protagonistinnen, Marie, die Schreie einer Freundin im Lagerkeller hört oder die Großaufnahme des von Marie gewürgten Konsuls Canez.25 Mit der kontrastierenden Montage werden gedankliche Prozesse initiiert und das Denken in Bildern gelenkt. »Das Denken wurde zum Ereignis, dessen zeitliche Struktur im Bild selbst verortet war.«26 In den Bildräumen des Films, die in der Wiener Melchiorgasse im Herbst 1921 labyrinthartig zusammenlaufen, werden alle Elemente des Prostitutionsdiskurses in Szene gesetzt – der Verlust von Ordnung, Liebe und Prostitution, Tauschgeschäfte, Bordell und Verbrechen sowie die archaisch-tierischen Attributionen. Die beiden Frauen Marie (Asta Nielsen) und Grete (Greta Garbo) verkörpern unterschiedliche Mythen der Prostitution: Marie will der Armut und ihrem Elternhaus entfliehen und prostituiert sich, um ihrem Geliebten einen Börsencoup zu ermöglichen. Der wiederum betrügt sie mit einer Dame aus dem noblen Hotel Carlton, die von Marie aus Eifersucht erwürgt wird. Als erstarrter weiblicher Körper der Prostitution übt Marie ihre Faszination als Kleiderpuppe und damit in den Warenverkehr integriertes Wertobjekt des Mannes aus. Grete ist bestrebt, die bürgerliche Existenz 23 | Lotte H. Eisner: Die dämonische Leinwand, Frankfurt am Main 1990. 24 | Die freudlose Gasse. Deutschland 1925. ca. 157 Minuten. Der Film ist die von Jan-Christopher Horak, Klaus Volkmer und Gerhard Ullmann restaurierte Fassung des Filmmuseum München. 25 | Gerald Koll: Pandoras Schätze. Erotikkonzeptionen in den Stummfilmen von G.W. Pabst, München 1998, S. 76. 26 | Hermann Kappelhoff: Der möblierte Mensch. Georg Wilhelm Pabst und die Utopie der Sachlichkeit, Berlin 1995, S. 18.
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mit ihrer Fürsorge für den Vater, einen verarmten Hofrat, und für die kleine Schwester aufrechtzuerhalten und wird letztendlich von dem amerikanischen Leutnant Davy errettet und visuell zur Madonna verklärt. Handlungsmächtige Akteure in diesem Film sind die männlichen Boten aus der Fremde, der Konsul Ganez, der das Kapital bringt und der amerikanische Leutnant, der Marie aus den Armen der Kupplerin Greifert befreit. Die Kupplerin wird in den Bildern auf ihren expressivem Gestus reduziert. »Sie ist die heimliche Herrin dieser Halbwelt, in der sich die Bahnen des gesellschaftlichen Verkehrs kreuzen; sie arrangieret die Orgien, lenkt die Wege der Mädchen und stellt die Weichen für das nächste Geschäft. Und das düstere Zentrum ihrer Ranküne ist das Treppenhaus.«27 Die Szenarien der Prostitution sind stets bedrohte und zugleich bedrohliche Räume, in denen die heterosexuelle Familie begehrt oder die Vergnügungen in den verborgenen Salons der Frau Greifer (Valeska Gert) und in dem Luxushotel Carlton mit den hungernden schlangestehenden Frauen kontrastierend montiert werden. Doch die Übergänge und Grenzen zwischen den Bildräumen sind fließend. Es sind Schwellenräume, die unvorstellbare Dimensionen der jeweiligen Welten visualisieren. Die Akteure der rationalen Ökonomie, die Bankiers und Börsenspekulanten verkörpern zugleich instabile und in Auflösung begriffene Familienstrukturen und verkehren mit größter Selbstverständlichkeit in den Salons der Prostitution, deren Machtzuwachs wiederum destabilisierend auf das bürgerliche Normsystem wirkt. Eine unheimliche Schattenwelt des Helldunkel und das Wechselspiel der sozialen Verkehrsformen gehen in der Montage ineinander über und trennen zugleich auf der Darstellungsebene die beiden Frauenfiguren, von denen die eine aus der Schattenwelt entstammt, in die die andere zu versinken droht.28 Im Gegensatz zur Ökonomie der Verausgabung in der Prostitution wird die erotische Liebe zwischen Grete und dem amerikanischen Leutnant in asketischen Bildern diszipliniert. Über mis-en-scène und Lichtgestaltung ist jedoch auch die Figur der Grete durch den von der Bordellbesitzerin Greifer angebotenen und getragenen Pelzmantel mit den Zeichen der Prostituierten versehen, die animalische Erotisierung und Nacktheit bedeuten, aber auch Schutz vor Zugriffen. Lichtgestaltung als auch Parallelmontagen lassen soziale und intime Bildräume entstehen, die den Frauenfiguren ihre geschlechtlichen Konturen verleihen, so wie in den Bildern ausschweifender Feste im Bordell und wartender Frauen in der Schlange auf der Straße vor der Fleischerei. Macht und Sexualität sind in der Schattenwelt der Straße und in den Repräsentationsformen der fetischisierten Körper der Prostituierten unauflöslich miteinander verwoben. Der christliche Subtext des Films verschärft die in den Kontrastmontagen aufgerufenen Normwelten. In Großaufnahmen wird Grete zur christlichen Ikone stilisiert und Marie ist als Sünderin dem Tode geweiht. Die Bordellszenen sind geprägt durch Effekte visueller Macht, wenn die Besitzerin den Plan realisiert, lebende Bilder für die Begehrlichkeit ihrer Kunden aufzustellen, in denen junge Frauen als Schauobjekte »tableaux vivants« präsentiert werden. In dieser Verbildlichung der Prostituier27 | Ebd., S. 35. 28 | Ebd., S. 42.
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278 | Dorothea Dornhof ten über die Semantisierung der Blicks sind all die Denkbilder zu finden, die den Prostitutionsdiskurs als Markierungen und Verfehlungen ständig fexibilisieren; Angst machende Bedrohung des Gemeinwesens, Fetisch, Verbrechen und Tod. Die Bedeutungen der vorgeführten Vereinnahmung des weiblichen Körpers können von den Betrachtenden durchaus ausgehandelt werden, da es keine festgeschriebene Bedeutungen der Bilder noch der Betrachterpositionen gibt. So lassen sie Gefährdungen heterosexueller Familien- und Erotikmodelle ebenso sehen wie die Vergeblichkeit einer Ordnung der Lüste, weil die Bilder immer mehr bedeuten als sie zeigen.
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Die Familie Sander. Prostitution, Zuhälterei und Justiz in der späten Weimarer Republik * Stefan Wünsch
1. Einleitung »Ich bestreite ganz entschieden, mich der Zuhälterei schuldig und strafbar gemacht zu haben. […] Ich bin homosexuell veranlagt und habe mit meiner Ehefrau wenig Geschlechtsverkehr«,1 erwiderte Anton Sander in seinem polizeilichen Verhör am 23. Februar 1931 auf den gegen ihn erhobenen Vorwurf, seine Ehefrau zur Prostitution gezwungen zu haben.
Schauplatz dieses Verhörs, das den Beginn des Kontaktes des »Damenimitators« Anton Sander mit der Weimarer Justiz dokumentiert, ist das Berlin der frühen 30er Jahre. Aufgrund der Länge des juristischen Verfahrens, das auch einen Urteilsspruch des Leipziger Reichsgerichts verlangte, ermöglicht es die Überlieferung dieses Strafprozesses, einen präzisen Einblick in eine Familiengeschichte zu erhalten, die an sich schon etwas – im Sinne von Edoardo Grendi – Außergewöhnliches darstellte: Der Vater und Ehemann, Anton Sander, war Tänzer und Damenimitator in Berliner Nachtlokalen und bezeichnete sich selbst vor Gericht als einen homosexuellen Transvestiten. Seine Ehefrau und Mutter des gemeinsamen Sohnes, Lissy Sander, finanzierte durch ihre Prostitutionstätigkeit auf der Friedrichstraße und am Potsdamer Platz einen erheblichen Teil des gemeinsamen Familieneinkommens. Diese während der gerichtlichen * Der vorliegende Aufsatz stellt einen Auszug aus dem empirischen Teil meiner Magisterarbeit (2005): »Die Sanders – oder was ist Familie. Eine mikrohistorische Studie zum Begriff der bürgerlichen Familie« dar. 1 | LAB A Rep. 358-01 Nr. 2666 Bd. 1, Blatt 12f. Da hier vorrangig diese im Berliner Landesarchiv lagernde Akte analysiert wird, werde ich folgende Abkürzungen für die Quellenangabe verwenden und mich hierbei auf die archivarische Nummerierung der einzelnen Aktenblätter beziehen: LAB A Rep. 358-01 Nr. 2666 Bd. 1, Blatt 13 = Sander 1/13 oder LAB A Rep. 358-01 Nr. 2666 Bd. 3, Blatt 2 Rückseite = Sander 3/2R.
2006-11-15 17-28-59 --- Projekt: T549.gc.grenz.prostitution / Dokument: FAX ID 00fb131592162986|(S. 281-299) T01_15 kapitel wuensch.p 131592163434
282 | Stefan Wünsch Verhandlungen detailliert herausgearbeiteten Familienverhältnisse bewirkten eine grundlegende Irritation des sittlichen Wertegerüsts des Gerichtes, da sich der Angeklagte in seiner Verteidigung auf seine eigene transvestitische Veranlagung sowie auf die aktive Sexualität seiner Frau berief und so die Ankläger mit einem Geschlechterbild konfrontierte, das deren normierte Vorstellungen von weiblicher und männlicher Identität herausforderte. Das Wissen über Geschlechtlichkeit und der Umgang mit diesem Wissen soll Gegenstand der folgenden Darstellung sein, da Geschlechtlichkeit im zugrundeliegenden Gerichtsprozess als das zentrale Element fungierte, mit dem versucht wurde, die Prostitutionstätigkeit zu bestimmen – ob nun als Straftat oder Erwerbstätigkeit. Die fast schon klassisch anmutende mikrohistorische Methode,2 einen Gerichtsfall zu analysieren, wurde nicht zuletzt deshalb gewählt, da hieran aufgrund der Nähe zum Gegenstand zwei konkurrierende Positionen zur Prostitution weitgehend erschlossen und aufgrund der interaktiven Situation verglichen werden können. So entsteht die Möglichkeit, ein hegemoniales Geschlechterbild, repräsentiert durch das Gesetz, mit einem Gegenentwurf zu konfrontieren. Historische Kämpfe und der ihnen zugrundeliegende Wille zum Wissen können so detailliert herausgearbeitet werden. Ein weiterer Vorteil der Gerichtssituation liegt darin, das Phänomen der Prostitution von einer abstrakten, äußeren Ursachenerklärung zu entheben, um somit am konkreten Einzelfall Erkenntnisse über die Legitimationsstrategien einer sich prostituierenden Person zu gewinnen.3
2. Hintergründe und Personen Die Eheleute Anton und Lissy Sander hatten am 1.9.1926 in Hamburg geheiratet und waren die leiblichen Eltern eines vierjährigen Sohnes. Anton Sander wurde am 29.6.1903 in Bingen am Rhein geboren.4 Im Jahr 1926 lernte er seine Ehefrau Lissy in Hamburg in einem Kabarett kennen. Über die Zwischenzeit von 23 Jahren ist anhand der Akte nur bekannt, dass er am 8.9.1922 vom 2 | Zentral zum Thema der Mikrohistorie u.a.: Walter Benjamin: »Über den Begriff der Geschichte«, in: ders., Illuminationen. Ausgewählte Schriften 1, Frankfurt am Main 1977, S. 251-261; Winfried Schulze (Hg.): Sozialgeschichte, Alltagsgeschichte, Mikro-Geschichte. Eine Diskussion, Göttingen 1994; Jürgen Schlumbohm (Hg.): Mikrogeschichte, Makrogeschichte. Komplementär oder inkommensurabel?, Göttingen 1998; Matti Peltonen: »Clues, Margins, and Monads: The Micro-Macro Link in Historical Research«, in: History and Theory 40 (2001), S. 347-359. 3 | Vgl. zum Erkenntnisgewinn historisch-juristischen Prozessmaterials: Winfried Schulze (Hg.): Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte, Berlin 1996; Carlo Ginzburg: Der Käse und die Würmer. Die Welt eines Müllers um 1600, Berlin 2002. 4 | Vgl. Sander 1/12. Sein Vater Wilhelm Hermann Sander war Hafenpolizeiwachtmeister und lebte zur Untersuchungszeit in Duisburg. Seine Mutter Marie-Magdalene Sander, geb. Klein, war bereits verstorben. Ebd.
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Schöffengericht Hannover wegen Betrugs mit einem Monat Gefängnis bestraft wurde.5 In Hamburg war er als Damenimitator im dortigen Kabarett »Rote Mühle« beschäftigt.6 Nach eigenen Angaben zog er im »Jahr 1926 oder 1927«7 nach Berlin und arbeitete dort im Lokal »Internationale Diele« in der Köthenerstraße, wo er Zigarren und Zigaretten verkaufte. Später arbeitete er im Lokal »Nationalhof« in der Bülowstraße als Tänzerin. Seit drei Jahren, wie er am 23.2.1931 bei seinem polizeilichen Verhör angab, war er »im Mikado als Stimmungsmacherin und Tänzerin tätig«.8 Seine Ehefrau Lissy Sander wurde am 27.10.1905 in Hamburg geboren, wo sie in einem Zeitungsbüro und in einem Kabarett als Kontoristin gearbeitet hatte und Mitte des Jahres 1929 zu ihrem Mann nach Berlin zog.9 Mit seinen 28 Jahren wies Anton Sander also eine hohe lokale Mobilität auf; Lissy Sander hingegen lebte und arbeitete bis zu ihrem 24. Lebensjahr in Hamburg in einer Angestelltentätigkeit, wo sie ihren Mann 1926 heiratete und schwanger wurde. Für die Zeit in Berlin existieren keine offiziellen Angaben bezüglich ihrer beruflichen Tätigkeit. Des Weiteren lassen sich wichtige Informationen zur Lebenssituation der Familie aus den protokollierten Zeugenaussagen gewinnen, die zudem, da sie aus dem sozialen Umfeld der Familie Sander stammten, auch Konturen eines sozialen Netzwerkes der Familie andeuten. Vier Zeugen traten im Verfahren auf: Frau Günter und Frau Broska wohnten gemeinsam mit der Familie Sander in der Nähe des Halleschen Tors in der Johanniterstraße 1 zur Untermiete. Herr Mennerich und Herr Stüben waren Bekannte von Anton Sander, denen während des Prozesses auch transvestitische Neigungen sowie die Verstrickung in das kriminelle Milieu der Berliner »Halbwelt« nachgesagt wurden.10 Aus den Aussagen geht hervor, dass sich Lissy Sander prostituierte, dass Anton Sander transvestitisch und homosexuell veranlagt war und sich – so die Andeutungen – ebenfalls prostituierte11 und beide gemeinsam aus ihren Einkünften den finan5 | Vgl. Sander 1/12 und 1/0. 6 | Vgl. Sander 1/13. 7 | Über den genauen Zeitpunkt oder die Ursachen des Umzugs werden keine Angaben gemacht. Sander 1/13. 8 | Sander 1/13. Literatur zu transvestitischen Lokalen in Berlin zur Weimarer Zeit, wie das »Mikado«, ist spärlich. Nennenswert wäre jedoch: Eugen Szatmari: Was nicht im Baedeker steht. BERLIN, Leipzig 1997 [1927]; Mel Gordon: Voluptuous Panic. The Erotic World of Weimar Berlin, Venice (USA) 2000. 9 | Vgl. Sander 1/13. Über die Zeitspanne ihrer Beschäftigungen ist nichts bekannt. Vgl. zum Beruf der Kontoristin: Ute Frevert: Frauen-Geschichte. Zwischen Bürgerlicher Verbesserung und Neuer Weiblichkeit, Frankfurt am Main 1986, S. 173f. 10 | Charlotte Günter, geb. 24.4.1903 in Berlin, Beruf: »Holzarbeiterin«. Sander 1/8R. Herta Broska, geb. 4.3.1895 in Stettin, Beruf: »Buchhalterin«. Sander 1/11. Walter Mennerich, geb. 5.2.1902 in Hannover, Beruf: »Handelsreisender«. Sander 1/4R. Christian Stüben, geb. 6.11.1898 in Neumünster, Beruf: »Hotelportier«. Sander 1/5Rf. Zu den Anschuldigungen gegen Herrn Mennerich und Herrn Stüben siehe: Sander 1/30. 11 | Anton Sander war jedoch weder als Transvestit noch als Prostituierter polizeilich registriert, ebenso wenig wie seine Frau, wie eine Notiz in der Akte verrät. Sander 1/4.
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284 | Stefan Wünsch ziellen Lebensunterhalt der dreiköpfigen Familie bestritten. Da Anton Sander drogenabhängig war, konnte er das Geld, welches er verdiente, nicht ausschließlich zum Haushaltsbudget beisteuern, weshalb Lissy Sander mit ihrem Prostitutionsverdienst größtenteils für den Unterhalt der Familie aufkam. Sie musste davon auch die Damenkleidung für ihren Mann bezahlen. Eben jene Kleidung oder präziser, ein Paar Damenschuhe für 18 RM, stellte das corpus delicti dar, das die Familie Sander in den Blick der Justiz und des heutigen Historikers geraten lässt. Denn aufgrund einer scheinbaren Lappalie, eines Zahlungsrückstands für dieses Paar Schuhe, kam es zwischen Anton Sander und Herrn Stüben, der ihm diese Schuhe verkauft hatte, zu einem Streit. Anton Sander beging daraufhin den folgenschweren Fehler, die Auszahlung des restlichen Betrages zu verweigern. Umgehend verfasste der um sein Geld gebrachte Herr Stüben mit seinem Mitbewohner Herrn Mennerich ein Anzeigeschreiben, in dem sie Anton Sander beschuldigten, einen Brillantring in Schlangenform unterschlagen zu haben, und bezichtigten ihn ferner, um ihrer Anzeige Nachdruck zu verleihen, seine Frau zur Prostitution zu zwingen.12 Erst dieses Schreiben ermöglichte es den staatlichen Institutionen, ihre Tätigkeit aufzunehmen und die vorliegende Prozessakte zu produzieren.
3. Die Interaktion mit dem Gericht Ausgehend von dem Anzeigeschreiben und den darauffolgenden polizeilichen Ermittlungen formulierte das Gericht13 eine Anklage gegen Anton Sander. Den Hauptanklagepunkt bildete hierbei der Vorwurf der Zuhälterei gegenüber seiner Ehefrau Lissy Sander nach § 181a Abs. 2 StGB,14 welcher laut Gesetz eine Gefängnisstrafe von mindestens einem Jahr forderte. Der Vorwurf der Unterschlagung hingegen geriet aufgrund eines frühen Geständnisses in den Hintergrund des Gerichtsprozesses, welcher sich nunmehr einzig darauf konzentrierte, Beweise für den Anklagepunkt der Zuhälterei zu finden. Hierin offenbart sich das Spezifikum des Falls, da Anton Sander diesem Vorwurf eine konsequente Widerstandshaltung entgegenbrachte, die zwei Revisionsanträge sowie eine zehn12 | Vgl. Sander 1/2. 13 | Die Bezeichnung »das Gericht« soll nicht als eine spezifische Instanz innerhalb des staatlichen Gewaltmonopols verstanden werden, sondern als der Ort, an dem der Gesetzestext seine aktive Komponente erhält, wobei die individuellen Persönlichkeiten der Richter und Staatsanwälte zurücktreten. Die uniformierenden Roben der Staatsbeamten symbolisieren diese Verwandlung. Hierdurch kann einer zentralen Kritik der Forschung entgegengekommen werden, indem gezeigt werden kann, dass z.B. das Modell der bürgerlichen Familie oder die hegemonialen Formen von Weiblichkeit und Männlichkeit zwar von idealtypischer Natur sind und im Alltag stets als Mischformen auftreten, jedoch durch ihre Kodifizierung im Gesetz innerhalb des Gerichtssaals eine Handlungsoption bereitstellen, wodurch sie ihres Mythos’ der passiven Vorbildfunktion enthoben werden. 14 | Vgl. Reinhard Frank (Hg.): StGB für das Deutsche Reich, 18. Aufl., Tübingen 1931.
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monatige Verzögerung der Urteilsvollstreckung zur Folge hatte. Außerordentlich erscheint Anton Sanders Widersetzlichkeit auch im Verhältnis zu dem raschen Eingeständnis seines Fehlverhaltens bei der Unterschlagung des Brillantrings. Es könnte an dieser Stelle zwar gemutmaßt werden, dass das Eingeständnis des Unterschlagungsvorwurfs aufgrund seiner geringeren staatlichen Sanktionierung, die mitunter nur eine Geldstrafe vorsah (§ 246 StGB), vom Angeklagten dem hohen Strafmaß, welches ihn bei der Verurteilung wegen Zuhälterei erwarten würde, vorgezogen wurde. Allerdings zeigt sich anhand der Verteidigungsargumentation eine grundlegendere Problematik, die in diesem Fall thematisiert wurde.
3.1 Die weibliche Sexualität Zum ersten Mal wehrte sich Anton Sander in seiner polizeilichen Vernehmung am 23.2.1931 gegen die Beschuldigung, dass seine Frau eine Prostituierte sei. Er gab zu Protokoll: »Ich bestreite ganz entschieden, mich der Zuhälterei schuldig und strafbar gemacht zu haben. […] Meine Ehefrau treibt keine Gewerbsunzucht und ist auch von mir hierzu niemals veranlaßt worden.«15 Seine Begründung, die ihn von der Zuhälterei freisprechen sollte, lautete: »Ich bin homosexuell veranlagt und habe mit meiner Ehefrau wenig Geschlechtsverkehr. Es ist möglich, daß meine Ehefrau sich dafür einmal einen Mann mitnimmt, um ihre geschlechtliche Befriedigung zu finden. Daß sie aber von den Männern Geld bekommt, welches sie mir abliefern muß, ist vollkommen ausgeschlossen.«16
Bemerkenswert hieran erscheint nicht nur, dass Anton Sander nicht leugnete, davon gewusst zu haben, dass seine Frau mit anderen Männern sexuellen Kontakt gehabt hatte, sondern dass er ihr zudem das Recht auf eine sexuelle Befriedigung zugestand, die er selbst ihr aufgrund seiner homosexuellen Veranlagung nicht zukommen lassen konnte. Er setzt sich damit über maskuline Rollenbilder hinweg, indem er seine Unfähigkeit, seine Ehefrau sexuell zu befriedigen, öffentlich eingesteht. Aber auch seine Frau, die zur zweiten Gerichtsverhandlung als Zeugin erschien, erklärt dem Gericht, dass ihre sexuellen Kontakte zu anderen Männern und der damit zusammenhängende gelegentliche Erhalt von Geld einzig dem Unvermögen ihres Mannes, sie sexuell zu befriedigen, geschuldet sei.17 Lissy Sander hatte in der ersten Gerichtsverhandlung von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht als Ehefrau Gebrauch gemacht. Ihr Schweigen kann hierbei aber nicht als Passivität interpretiert werden, sondern es offenbart im Gegenteil eine gewisse Aktivität, da sie sich bewusst dem gerichtlichen Wahrheitsfindungsprozess entzog. Dahingehend ist ihr Schweigen auch nicht als eine Selbstdisziplinierung zu werten, wie es Regina Schulte den nicht registrierten Prosti-
15 | Sander 1/12f. 16 | Sander 1/13. 17 | Vgl. Sander 1/74R.
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286 | Stefan Wünsch tuierten unterstellt.18 Sabine Kienitz interpretiert das Schweigen der Frauen vor Gericht solcherart, dass Frauen nicht gezwungen waren, sich über »ihre sexuellen Handlungen konkret zu äußern, da das Sprechen über Sexualität sozial und kulturell codiert war«. Sie spricht hierbei von einer »›Diskursivierung‹ des Sexes«, der es den historischen Subjekten erlaubte, »im Sprechen zu schweigen«.19 Dieses wird auch am vorliegenden Fall bestätigt, da während des gesamten Prozesses nie die familiäre Sexualität des Angeklagten thematisiert wurde, welche jedoch elementar für eine Überführung gewesen wäre. Die beiden synchronen Argumentationen von Anton und Lissy Sander wurden hingegen durch das Gericht zurückgewiesen. Das Gericht hielt in seinen Urteilsbegründungen an der Schuldigkeit des Angeklagten fest und sah in den beiden Gerichtsverhandlungen vor allem in der »geschlechtlichen Hingabe an fremde Männer« und dem gelegentlichen Erhalt von Geld ein eindeutiges Indiz für die Prostitutionstätigkeit Lissy Sanders, das wiederum Anton Sander der Zuhälterei überführen sollte, da er von ihrem Erwerb »mindestens Teile seines Lebensunterhalts« finanzierte.20 Der zweite Straftatbestand der Zuhälterei nach § 181a StGB, die Anwendung von »Gewalt oder Drohung zur Ausübung des unzüchtigen Gewerbes«, konnte Anton Sander jedoch nicht nachgewiesen werden.21 Der abermalige Versuch der Verteidigung, im Revisionsantrag an das Leipziger Reichsgericht das Recht auf eine sexuelle Befriedigung der Frau als zentrales Argument anzuführen, scheiterte und wurde von diesem lakonisch und endgültig abgelehnt.22 Der Verlauf der Gerichtsverhandlungen zeigt, dass Anton und Lissy Sander eine stringente Verteidigungsargumentation während der verschiedenen Etappen des Prozesses vertraten, wobei natürlich davon ausgegangen werden muss, dass beide bemüht waren, den Vorwurf der Zuhälterei zu entkräften und ihre Aussagen abzustimmen, wovon auch der rege Briefverkehr und die Besuche während der Untersuchungshaft zeugen.23 Doch das eigentlich Außergewöhnliche bildet der Inhalt ihrer Verteidigungsargumentation, da hierbei die Einforderung des Rechts auf eine weibliche sexuelle Befriedigung thematisiert wurde. Allein der Verweis, dass Lissy Sander aus freien Stücken mit anderen Männern sexuellen Verkehr gehabt haben soll, stellt noch kein Spezifikum dar und kann, 18 | Vgl. Sander 1/10. Regina Schulte: Sperrbezirke. Tugendhaftigkeit und Prostitution in der bürgerlichen Welt, Frankfurt am Main 1979, S. 182. 19 | Sabine Kienitz: Sexualität, Macht und Moral. Prostitution und Geschlechterbeziehungen Anfang des 19. Jahrhunderts in Württemberg. Ein Beitrag zur Mentalitätsgeschichte, Berlin 1995, S. 228. 20 | Sander 1/74R. 21 | Vgl. Sander 1/36R. 22 | Vgl. Sander 1/87. 23 | Als Zeugnisse hierfür dienen die in der Akte enthaltenen »Begleitumschläge« der Gefängnispost sowie ein »Sprechzettel« von Lissy Sander, die ihren Mann am 12.4. und am 23.4.1931 besuchte. Der Briefverkehr erfolgte von Anton Sander an seine Frau am 25.2., 20.4., 28.4. und 7.5.1931 und umgekehrt gingen am 21.3., 17.4., 24.4., 11.5. und 18.5.1931 Briefe von Lissy Sander ins Gefängnis ein. Die Briefe sind nicht enthalten.
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wie es auch das Gericht betrachtete, als eine Ausflucht des Angeklagten verstanden werden, um der staatlichen Disziplinierung zu entgehen. Die Begründung hingegen, Lissy Sander habe in diesen Kontakten ihre sexuelle Befriedigung gesucht, verweist auf ein Verständnis einer autonomen weiblichen Sexualität, die indirekt in den Aussagen von Anton und Lissy Sander enthalten ist und zwischen den Zeilen der Verteidigung zum Vorschein kommt. Es deutet sich darin ein Verständnis an, das der Frau ein Selbstbestimmungsrecht über ihren Körper zugesteht. Dieser Verweis auf die Selbstbestimmtheit einer weiblichen Sexualität könnte auf die verschiedenen Sexualreformen in der Weimarer Republik zurückgeführt werden.24 Doch stellten diese Reformen nur vordergründig eine sexuelle Emanzipation dar, wie Ute Frevert treffend anmerkte: »Die Freisetzung und erneute Normierung der Sexualität sollte eben nicht allein dem einzelnen Individuum zugute kommen, sondern vor allem der Familie. Das eigentliche Ziel der Mediziner, Sozialfürsorger, Sozialisten, Kommunisten und Frauenbewegten, die sich in der Weimarer Republik für eine Liberalisierung des sexuellen Kodexes einsetzten, bestand darin, die Ehe als allgemein wünschbare Lebensform attraktiver zu gestalten und erotisch zu reformieren.«25
Vor dem Hintergrund einer solchen Einschätzung ist auch der vorliegende Fall als etwas Außergewöhnliches anzusehen, da sich die Argumentation der Sanders eben nicht auf Ehe und Familie, sondern auf die individuelle Sexualität bezog. Das Gericht hingegen zog den Gedanken der aktiven Weiblichkeit und einer selbstbestimmten Sexualität der Frau nicht in Betracht und konzentrierte sich einzig darauf, Indizien für eine ökonomische Komponente des Verhaltens von Lissy Sander zu finden, da dies im Einklang mit dem Bild einer weiblichen Passivität stand. Daher ist es auch zu erklären, warum es im Strafgesetzbuch kein direktes Gesetz gegen die Prostitution gab, da sich die Frau aufgrund ihrer Passivität stets in einem Opferdiskurs befand.26 Das einzige Gesetz, durch welches Frauen direkt aufgrund von Prostitutionstätigkeiten verurteilt werden konnten, war der § 361 Abs. 6 StGB.27 Es kann daher geschlussfolgert werden, dass die Verteidigung und die Anklage aneinander vorbeiargumentierten, da hier zwei 24 | Vgl. Kristine von Soden: »Sexualreform – Sexualpolitik. Die neue Sexualmoral«, in: Die wilden Zwanziger. Weimar und die Welt 1919-33, Hamburg 1988, S. 181-194; Ilona Stölken: »›Komm, laß uns den Geburtenrückgang pflegen!‹ Die neue Sexualmoral der Weimarer Republik«, in: A. Bagel-Bohlan/M. Salewski (Hg.), Sexualmoral und Zeitgeist im 19. und 20. Jahrhundert, Opladen 1990, S. 83-105. 25 | U. Frevert: Frauen-Geschichte, S. 187f. 26 | Vgl. Rebekka Habermas: »Geschlechtergeschichte und ›anthropology of gender‹. Geschichte einer Begegnung«, in: Historische Anthropologie 1 (1993), S. 485-509. 27 | Die Akten über das »Frauengefängnis Barnimstraße 1918-1945« zeigen jedoch, dass das Strafmaß hierbei sehr gering war. Die Urteile beliefen sich von ein bis zu vier Wochen Haft. LAB A Rep. 365.
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288 | Stefan Wünsch konträre Vorstellungswelten über die weibliche Sexualität aufeinander trafen: jene, welche in der Prostitution eine gesellschaftliche Gefährdung sah, die sanktioniert werden musste, da sie die Geschlechterrollen negierte, und eine andere, welche – basierend auf dem Verständnis eines Selbstbestimmungsrechts über den eigenen Körper – die Prostitution als eine Möglichkeit betrachtete, das eigene sexuelle Kapital in ökonomisches zu konvertieren.28 Die Existenz eines derartigen Verständnisses von Prostitution wird auch anhand anderer gerichtlicher Aussagen bestätigt. Herangezogen werden kann hierfür Lissy Sanders Aussage, dass sie der Mitbewohnerin Frau Günter nur vorgetäuscht habe, auf den Strich gegangen zu sein, damit Frau Günter sie nicht des Betrugs an ihrem Mann verdächtigte. Die geäußerte Furcht Lissy Sanders legt den Schluss nahe, dass der Ehebruch als ein vermeintlich schwerwiegenderes Vergehen angesehen wurde als die Prostitution, da der Prostitution der Charakter einer Erwerbstätigkeit zugesprochen wurde.29 Als ein weiterer Beleg dienen auch folgende von den Zeugen gebrauchte Paraphrasierungen der Prostitutionstätigkeit: »[…] auf der Straße liegen!«, »Ich habe sie wiederholt in der Friedrichstr. und Unter den Linden laufen gesehen«, »meine Frau geht Strichen«, »Man könnte annehmen, daß die Frau auf den Bummel ginge«.30 Diese Umschreibungen verraten eine relative Ungezwungenheit im Umgang mit der Thematik, da die Mundartlichkeit in der amtlichen Situation, in der sie geäußert wurden, beibehalten wurde. Die Formulierungen deuten zudem auf eine aktive Handlungsoption der sich prostituierenden Person hin und weniger auf eine Moralisierung dieser Tätigkeit oder auf eine Opferrolle der Frau. Da auch Frau Günter die Formulierung »geht strichen« gebraucht, können diese Äußerungen auch nicht als patriarchale Männerphantasien interpretiert werden.31 Die tendenziell nicht ablehnende Haltung der Frauen gegenüber der Prostitution verdeutlichen auch Frau Broska und Frau Günter, insofern, da sie zwar von der Prostitutionstätigkeit Lissy Sanders wussten, beide ihre Tätigkeit oder die häufige Abwesenheit der Mutter von ihrem Kind jedoch keineswegs in ihren Vernehmungen beanstandeten.32 Die Prostitutionstätigkeit Lissy Sanders war 28 | Vgl. auch S. Kienitz: Sexualität, Macht und Moral, S. 310. Vgl. zur zeitweiligen Prostitutionstätigkeit in Krisenzeiten als Alternative zur Proletarisierung: Judith R. Walkowitz: Prostitution and Victorian Society. Women, Class, and the State, Cambridge 1980, S. 31; S. Kienitz: Sexualität, Macht und Moral, S. 84. 29 | Vgl. Sander 1/74. 30 | Die einzelnen Zitate in o.a. Reihenfolge stammen aus: Sander 1/2, Sander 1/5, Sander 1/33, Sander 1/33R. 31 | Vgl. zu gemeinsamen sexuellen und sozialen Wertvorstellungen bei Bewohnern armer Wohnviertel: J.R. Walkowitz: Prostitution and Victorian Society, S. 199. Ferner hierzu auch das familiensoziologische Konzept der »close-knit« und »loose-knit« von Elizabeth Bott. Elizabeth Bott: Family and Social Network. Roles, Norms, and External Relationships in Ordinary Urban Families, London 1971. 32 | Hingegen verurteilen bürgerliche Autoren wie Willy Pröger, die mit den Prostituierten sympathisierten, stets die Prostitutionstätigkeit von Müttern. Willy Pröger (alias
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demnach frei von moralischen Implikationen innerhalb ihres Umfeldes. Die Prostitution wurde vielmehr als eine ökonomische Notwendigkeit betrachtet, welche zur Existenzsicherung, vor allem in ökonomischen Krisenzeiten wie gegen Ende der Weimarer Republik, benutzt werden konnte. Auch in den Äußerungen aus dem Umfeld der Sanders zeigt sich also, dass die weibliche Sexualität als eine ökonomische Ressource bzw. als ein sexuelles Kapital verstanden wurde, welches es der Frau erlaubte, selbst über ihren Körper zu verfügen.33
3.2 Gender-Trouble oder: Was ist eine männliche Person? Das Recht auf eine selbstbestimmte weibliche Sexualität hing in der Verteidigungsargumentation mit der »Transsexualität bzw. Homosexualität«34 Anton Sanders zusammen, die seine Frau dazu zwang, sich an andere Sexualpartner zu wenden. Die sexuelle Veranlagung Anton Sanders bildete demnach die Grundlage der Verteidigung, die darüber hinaus auch eine direkte Auseinandersetzung mit dem Gesetzestext suchte, da sie auf eine exakte Auslegung des § 181a StGB drängte und damit die Frage nach der Geschlechtlichkeit des Paragraphen thematisierte. Rechtswidrig handelte danach »[e]ine männliche Person, ›WEKA‹): Stätten der Berliner Prostitution, Berlin 1930, S. 31. Dies kann auf die von Klaus Theweleit thematisierte Gespaltenheit des bürgerlichen Frauenbildes zurückgeführt werden, für welches es nur die »reine Mutter« oder die »proletarische Hure« gab und gibt. Klaus Theweleit: Männerphantasien. Frauen, Fluten, Körper, Geschichte, Bd. 1, Frankfurt am Main 1977, S. 89f. 33 | Ich möchte an dieser Stelle aber entschieden darauf hinweisen, dass dieses Verständnis der Prostitution, wie es sich im vorliegenden Fall offenbart, nicht auf alle Ausprägungen der Prostitution übertragen werden darf, vor allem nicht auf Formen einer industrialisierten Prostitution, die durch ihre Zwangs- und Unterdrückungsmechanismen jegliche Ausprägungen von Selbstbestimmtheit eliminieren. Zeigen wollte ich hingegen, dass es nicht nur die »Zwangsprostitution« gibt – wie es gegenwärtig die christliche Kampagne der Diakonie mit dem Slogan »Zwangstprostitution« zu suggerieren versucht –, sondern dass auch die sich prostituierende Person ein hohes Maß an Selbstreflexion gegenüber ihrer Tätigkeit aufweist, wie auch geführte Interviews mit Prostituierten verdeutlichen. Vgl. Hubert Fichte: Interviews aus dem Palais d’Amour etc., Hamburg 1972; Kate Millett: Das Verkaufte Geschlecht. Die Frau zwischen Gesellschaft und Prostitution, Hamburg 1983. 34 | Die gesamte Akte weist keine genaue Begriffsbestimmung der Veranlagung Anton Sanders auf. Häufig dient die Bezeichnung der Homosexualität als eine Allgemeinformel, die sowohl Transvestitismus als auch Transsexualität meint. Es offenbart sich jedoch ein Bildungsgefälle. Gebraucht das soziale Umfeld von Anton Sander stets die Allgemeinheitsformel der »Homosexualität«, bedient sich der Rechtsanwalt bereits des Ausdrucks des »Transvestiten«. Sander 1/78. Dies markiert m.E. einen Wendepunkt in der Zeit, da einerseits bereits Begrifflichkeiten kursierten, die andererseits noch nicht passend – nach heutigem Verständnis – verwendet wurden. Vgl. zu einer modernen Definition von Transsexualität: Erwin J. Haeberle: »Transsexualität«, in: B. Kampard/W. Schiffels (Hg.), Im falschen Körper. Alles über Transsexualität, Zürich 1991, S. 12-16.
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290 | Stefan Wünsch welche von einer Frauenperson, die gewerbsmäßig Unzucht betreibt, unter Ausbeutung ihres unsittlichen Erwerbes ganz oder teilweise den Lebensunterhalt bezieht«. Der Gesetzestext legte demnach fest, dass ein Zuhälter nur eine männliche Person und eine sich prostituierende Person nur eine Frau sein konnte, weshalb die männlich-männliche Prostitution auch stets nach dem § 175 StGB verurteilt wurde. Auf dieser dem Gesetzestext innewohnenden Geschlechterdualität gründete Anton Sander seine Widerstandshaltung, da er sich nicht als eine männliche Person verstand und diesbezüglich eines geschlechtsspezifischen Verbrechens, wie dem der Zuhälterei, nicht beschuldigt werden konnte. Das Gericht hingegen war nicht in der Lage, jenseits dieser Binarität zu denken, da dies ein Außerhalb seines Diskurses dargestellt hätte.35 Es hielt an dem dualen Geschlechterbild fest und suchte nach Beweismitteln, welche Anton Sander wieder in jenes Bild zurückversetzen sollten, d.h., es benötigte Beweismittel für seine Männlichkeit. Diese glaubte es in seiner Zeugungsfähigkeit erkannt zu haben: »Das Gericht hat auch die Frage geprüft, ob der Angeklagte in Anbetracht seiner homosexuellen Veranlagung und seines öffentlichen Auftretens in Frauenkleidern als ›männliche Person‹ im Sinne des Gesetzes betrachtet werden kann. Seinen eigenen Angaben nach ist der Angeklagte aber dazu fähig, mit Frauen geschlechtlich zu verkehren; auch bezeichnet er sich als der Vater des in seiner Ehe geborenen Kindes. Das Gericht hat daher keinen Grund, das Vorliegen des fraglichen Tatbestandsmerkmals zu verneinen.«36
Daraus wird ersichtlich, dass das Gericht mit der Urteilsbegründung nicht versuchte, die Eigenart Anton Sanders zu akzeptieren und mit dem Gesetzestext zu vereinbaren, sondern danach strebte, die scheinbar abnorme Erscheinung zu entzaubern und wieder in ihre Geschlechternorm einzugliedern. Aufgrund dieser gerichtlichen Beurteilung der Geschlechtlichkeit Anton Sanders forderte sein Rechtsanwalt Dr. Meyer in einem Schreiben vom 24.4. 1931 die Staatsanwaltschaft auf, den »Angeklagten SANDER durch einen sachverständigen Arzt untersuchen zu lassen. Der Angeklagte ist nicht als ›männlich‹ im Sinne des Gesetzes anzusehen; er trägt nur Frauenkleidung, tritt als Frau auf, ist als Spitzentänzerin tätig. Das ganze Wesen und die Psyche des Angeklagten beweist deutlich, dass der Angeklagte nicht nur einen femininen Einschlag hat, sondern dass der Grundzug seines Wesens ein weiblicher ist.«37
Durch dieses Ersuchen kam mit der Medizin eine weitere Instanz innerhalb des Gerichtsprozesses zum Tragen, der eine erweiterte Kompetenz zu speziellen 35 | Vgl. zur Bedeutung der binären Geschlechtlichkeit für die soziale Ordnung in der bürgerlichen Gesellschaft: Pierre Bourdieu: »Die männliche Herrschaft«, in: I. Dölling/B. Krais (Hg.), Ein alltägliches Spiel. Geschlechterkonstruktionen in der sozialen Praxis, Frankfurt am Main 1977, S. 161f. 36 | Sander 1/36R. 37 | Sander 1/54.
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Aspekten zugesprochen wurde. Sie wurde als eine Institution angesehen, die fachkundige Aussagen über die Geschlechtlichkeit bereitstellen konnte und damit in der Lage war, die Urteilsfähigkeit des Gerichts, so die Hoffnung der Verteidigung, zu beeinflussen. Es sollte sich aber herausstellen, dass das medizinische Attest, welches vom Amtsarzt Dr. med. C. Evers erstellt wurde, in einer sehr knappen Art und Weise Anton Sander lediglich eine »konträre Sexualempfindung« attestierte, der deshalb einer gesonderten gerichtlichen Beurteilung bedürfe. Der Amtsarzt führte aus: »Bei S. handelt es sich um eine Verkehrung der Geschlechtsempfindung in der Weise, daß der Trieb sich auf dem gleichen Geschlechte angehörige Individuen richtet, bei gleichzeitig vorhandenem Widerwillen gegen geschlechtliche Beziehungen zum anderen Geschlecht (Konträre Sexualempfindung). Auffallend ist der beherrschende Einfluß, den der geschlechtliche Faktor auf die Gestaltung des ganzen Lebens ausübt (vorwiegend weibliche Betätigung in Frauenkleidern). Diese Eigenart der Betätigung, welche als Dauerzustand anzusehen ist, ist lediglich als Äußerungsweise einer Entartung zu werten. Die forensische Würdigung von strafrechtlich nicht gleichgültigen Handlungen derartiger Konträrsexualer unterliegt somit den für die Beurteilung Entarteter überhaupt gültigen Gesichtspunkten.«38
Dass ein derartiges Attest kaum wissenschaftlichen Standards der damaligen Zeit genügte, zeigen die Schriften des Sexualwissenschaftlers Magnus Hirschfeld, der über den Zusammenhang von Homosexualität und Transvestitismus anmerkte: »Wie die meisten Autoren vor und nach ihm [Krafft-Ebing, S.W.], sah er darin [im Transvestitismus, S.W.] nur eine Abart der Homosexualität, während wir heute mit Sicherheit aussagen können, daß es sowohl Homosexuelle, die keine Transvestiten sind, wie Transvestiten gibt, die keinerlei homosexuelle Neigungen aufweisen und sich nur vom anderen Geschlecht sexuell angezogen fühlen. Der Transvestitismus ist daher ein unabhängig auftretender Zustand, der von anderen sexuellen Anomalien getrennt betrachtet werden muß.«39
Trotz des Attests hielt das Gericht daran fest, dass Anton Sander eine männliche Person im Sinne des Gesetzes sei. Zwar vermerkte es die »gleichgeschlechtliche Veranlagung« des Angeklagten in der Urteilsbegründung des Berufungsverfahrens vom 20.5.1931, rekurrierte jedoch abermals auf die Zeugungsfähigkeit sowie auf die Anatomie als zentralen Beweis für die Männlichkeit Anton Sanders. Es heißt:
38 | Sander 1/68f. 39 | Magnus Hirschfeld: Geschlechtsverirrungen, Flensburg 1993, S. 143. Vgl. zu M. Hirschfeld und Transsexualität: Rainer Herrn: Schnittmuster des Geschlechts. Transvestitismus und Transsexualität in der frühen Sexualwissenschaft, Gießen 2005.
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292 | Stefan Wünsch »Das Gericht ist davon überzeugt, dass der Angeklagte der Zuhälter seiner Ehefrau gewesen ist. Der Angeklagte ist trotz seiner gleichgeschlechtlichen Veranlagung eine männliche Person im Sinne des Gesetzes; er ist äusserlich wie ein Mann gebildet, hat normale männliche Geschlechtsorgane und ist zur Ausübung des Beischlafs mit Frauen imstande gewesen. Er selbst bezeichnet sich als Erzeuger des von seiner Frau geborenen Sohnes.«40
Das ärztliche Attest wurde vom Gericht völlig übergangen, da der bloße Verweis auf eine »konträre Sexualempfindung« keine anderweitige Handlungsoption bereitstellten konnte. Demzufolge wurde der medizinischen Instanz nur eine beratende Funktion und keine Ebenbürtigkeit mit dem Gericht zugestanden. Die Ursache hierfür dürfte darin zu sehen sein, dass die externen Instanzen jener Zeit, die sich mit der Geschlechtlichkeit auseinandersetzten, wie die Sexualwissenschaft und die Psychologie, sich noch in ihren Anfangsstadien befanden und deren bis dato erzielten Erkenntnisse nicht über die allgemeinen Katalogisierungen von sexuellen Formen hinausreichte.41 Zusammenfassend lässt sich über die Interaktion zwischen dem Gericht und Anton Sander feststellen, dass in diesem Strafprozess eine Problematik thematisiert wurde, welche die rechtliche Norm in eine Definitionsnot brachte. Denn indem die Verteidigung auf der strafrechtlichen Handhabe einer transsexuellen Person insistierte, legte sie eine Leerstelle im Gesetzestext offen, welche das Gericht bemüht war zu schließen. Das Augenmerk des Gerichts richtete sich dementsprechend einzig darauf, Beweise für die Männlichkeit bei Anton Sander zu finden, um damit seine transvestitische Persönlichkeit zu negieren und somit die Konfrontation mit der Transsexualität zu umgehen. In diesem Zusammenhang sei auf die von Marjorie Garber thematisierte »Kategoriekrise« verwiesen, die der Transvestit hervorruft, da »er« die definitorische Distinktion aller gängigen Binarismen in Frage stellt und sie ferner destabilisiert.42 Betrachtet man Anton Sander unter einem solchen Blickwinkel, wird evident, warum das Gericht versuchte, seine Veranlagung zu negieren und ihn in das binäre Geschlechterbild wieder einzugliedern.43 Ob dies von Anton Sander beabsichtigt war oder nur zufälliges Produkt des Versuchs, den staatlichen Sanktionen zu entgehen, bleibt spekulativ. Allerdings lassen sich aus dieser Interaktion zwei spezifische Verständnisse von Ge40 | Sander 1/74R. 41 | Vgl. Erwin J. Haeberle: Anfänge der Sexualwissenschaft, Berlin 1983; R. Herrn: Schnittmuster des Geschlechts. 42 | Vgl. Marjorie Garber: Verhüllte Interessen. Transvestismus und kulturelle Angst, Frankfurt am Main 1993, S. 31. Vgl. auch Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt am Main 1991. 43 | Kritisch hierzu Hilge Landweer, die in der Travestie und Transsexualität nicht diese Fundamentalkritik formuliert sieht, da sie stets »die zwei Kernkategorien des Geschlechts (Frau/Mann) voraussetzen und bestätigen«. Hilge Landweer: »Jenseits des Geschlechts? Zum Phänomen der theoretischen und politischen Fehleinschätzung von Travestie und Transsexualität«, in: K. Pühl (Hg.), Geschlechterverhältnisse und Politik, Frankfurt am Main 1994, S. 140.
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schlechtlichkeit erschließen, die sich konträr zueinander verhielten. Auf der einen Seite vertrat die Verteidigung mit ihrer Benennung einer aktiven weiblichen Sexualität und dem Leugnen der binären Geschlechtlichkeit eine Auffassung, welche die hegemonialen Geschlechterbilder auf den Kopf stellte und förderte damit eine gewisse Hilflosigkeit des Gerichts zutage, das seine Autorität nur durch das Ausblenden dieser Argumente aufrechterhalten konnte. Auf der anderen Seite verdeutlicht diese gerichtliche Situation, dass das Gesetz aufgrund seiner Verfasstheit nicht in der Lage war, jenseits dieser ihm inhärenten Geschlechterbilder zu denken und dass es auf die Herausbildung neuer Institutionen wie der Medizin, die ihm erweiterte Zugriffsmöglichkeiten bereitstellen sollten, dringendst angewiesen war.
3.3 Das Spiel mit der Norm Das reguläre Strafverfahren im Fall Anton Sander hat gezeigt, dass sich zwei konträre Auffassungen von Geschlechtlichkeit gegenüberstanden, die sich nicht anzunähern vermochten. Nachdem dieser Fall nun alle juristischen Instanzen durchlaufen hatte und Anton Sander endgültig zu einem Jahr und einem Tag Gefängnishaft verurteilt wurde, leitete sein Anwalt ein Gnadenersuchungsverfahren ein, an dem sich zeigen sollte, dass die bisherige widerständige Haltung gegenüber den staatlichen Institutionen aufgegeben wurde und man sich einer entgegenkommenderen Rhetorik bediente. Zum ersten Mal argumentierte die Seite des nun Verurteilten mit einem gesellschaftlich normierten Familienbild,44 das während der Gerichtsverhandlungen vonseiten der Verteidigung nie thematisiert worden war. Dieser Wandel ist deshalb von Interesse, da er verdeutlicht, dass die Beschuldigten fähig waren, mit gesellschaftlichen Normen zu spielen und das Wissen um diese zu ihren Gunsten anzuwenden. Diese neue Rhetorik spricht nicht für ein Nachgeben des Verurteilten, um Gnade zu erlangen, sondern dokumentiert das Wissen über die Normen, derer man sich in der Interaktion mit den staatlichen Institutionen bedienen konnte. Als Beleg dafür kann der Einsatz Lissy Sanders sowie die Bemühung des zweiten Anwalts von Anton Sander, Dr. Weimann,45 für eine Begnadigung des Verurteilten herangezogen werden. Am 29.10.1931 beantragte Dr. Weimann ein Gnadenersuchen, in welchem er die einfache soziale Herkunft Anton Sanders sowie seine Veranlagung als eine 44 | Aus der Fülle an Literatur zum bürgerlichen Familienideal muss folgende Auswahl genügen: Edward Shorter: Die Geburt der modernen Familie, Hamburg 1977; Jacques Donzelot: Die Ordnung der Familie, Frankfurt am Main 1980; Heidi Rosenbaum: Formen der Familie. Untersuchungen zum Zusammenhang von Familienverhältnissen, Sozialstruktur und sozialem Wandel in der deutschen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, Frankfurt am Main 1982; Dieter Hoffmeister: Mythos Familie. Zur soziologischen Theorie familialen Wandels, Opladen 2001; Andreas Gestrich/Jens-Uwe Krause/Michael Mitterauer (Hg.): Geschichte der Familie, Stuttgart 2003. 45 | Der bereits erwähnte Anwalt Dr. Meyer hielt seine Vertretung aufgrund von Zahlungsrückständen nicht aufrecht. Sander 1/70R.
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294 | Stefan Wünsch Ursache für sein Absinken in ein kriminelles Milieu deutete.46 Vor allem aber rekurrierte er in diesem Schreiben auf die bürgerliche Familiennorm und somit erstmalig im Verlauf des gesamten Prozesses auf die Schilderung der familialen Trinität zwischen Anton Sander, seiner Frau und seinem Kind, deren Wiederherstellung der eigentliche Zweck einer Strafe darstellen sollte. Bemerkenswert erscheint hierbei auch der Bezug auf den Sohn Anton Sanders, der den Argumentationswandel versinnbildlicht, da auf das gemeinsame Kind während des gesamten Prozesses nicht eingegangen wurde, außer als Beweis für die Zeugungsfähigkeit und damit Männlichkeit Anton Sanders. Das Gesuch wurde dessen ungeachtet am 23.11.1931 abgelehnt.47 Am 17.12.1931 erfolgte der Haftbefehl gegen Anton Sander, der seinen Haftantritt auf den 29.12.1931 festsetzte.48 Daraufhin richtete sein Anwalt am 24. 12.1931 zwei Schreiben an das Justizministerium mit der Bitte, »vorläufig von Zwangsmassnahmen Abstand zu nehmen, zum mindesten die Feiertage abzuwarten«.49 Im zweiten Brief forderte er ebenfalls die Staatsanwaltschaft auf, vorerst die Strafvollstreckung auszusetzen, da sich der Antragsteller »mit Selbstmordgedanken trägt«.50 Dr. Weimann benutzte in seinen beiden Schreiben, die auf den Heiligen Abend datiert sind, bewusst erneut Konnotationen der bürgerlichen Familie. Zum einen bezieht er sich direkt auf die Weihnachtsfeiertage, welche sich seit dem 19. Jahrhundert zu einem den familialen Binnenraum thematisierenden Fest entwickelt hatten,51 und zum anderen erwähnte er die Selbstmordgedanken Anton Sanders, des Kindesvaters – und somit des Begründers und Vorstehers der Familie.52 Der Generalstaatsanwalt berücksichtigte dies jedoch nicht und hielt am Haftantrittstermin fest.53 Nachdem nun keine weiteren juristischen Möglichkeiten für den Anwalt Dr. Weimann bestanden, engagierte sich Lissy Sander für eine Begnadigung ihres Mannes. Sie reichte am 5.4.1932 einen handschriftlichen Brief an den Bevollmächtigten für Gnadengesuche beim preußischen Justizministerium ein, mit der Bitte um Strafaussetzung für ihren Mann.54 Sie leitete ihren Brief mit den 46 | Vgl. Sander 1/96. 47 | Vgl. Sander 3/2. 48 | Vgl. Sander 1/105. 49 | Sander 3/6. 50 | Sander 3/8. 51 | Vgl. Ingeborg Weber-Kellermann: Die deutsche Familie. Versuch einer Sozialgeschichte, Frankfurt am Main 1974, S. 223ff. 52 | Vgl. hierzu auch Philippe Ariès, der in seiner ikonographischen Analyse zeigt, wie sich ab den 16. Jahrhundert die Rolle des Josef in der Darstellung der heiligen Familie von einer farblosen Person zum Familienoberhaupt wandelte. Philippe Ariès: Geschichte der Kindheit, München 1985, S. 497f. Zur Rolle des Selbstmordes bei Homosexuellen und Transsexuellen als Drohung, um Eigeninteressen durchzusetzen: Magnus Hirschfeld: Berlins Drittes Geschlecht, hg. von M. Herzer, Berlin 1991 [1904]; R. Herrn: Schnittmuster des Geschlechts. 53 | Vgl. Sander 3/6. 54 | Vgl. Sander 3/14.
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allgemeinen Angaben zum Verfahren ihres Mannes ein und begann ihr Anliegen mit den Sätzen: »Die Strafe war gerecht, die Sühne hart. Er bereut, was er getan. Es war für ihn eine heilsame Lehre!« Es folgte der Verweis auf den Sohn, der »unausgesetzt nach dem Vater fragt« und auf die »73jährigen Eltern«, gegenüber denen es ihr »bald nicht mehr möglich [ist], den Aufenthalt meines Mannes zu verheimlichen«. Danach verwies sie auf ihre Notsituation, die sie als Mutter dazu nötigte, ihren Sohn zu ihren Eltern nach Hamburg »in Pflege« zu geben. Den einzigen Ausweg, um die Familie wiederherzustellen, sah sie daher in der vorzeitigen Entlassung ihres Mannes aus der Haft, denn: »Mein Mann könnte bei mir sein und Geld verdienen.« Damit dies nicht als eine bloße Floskel aufgefasst würde, fügte sie ihrem Brief ein Schreiben vom Betreiber des Lokals »Mikado« bei, in dem dieser bestätigte, dass Anton Sander bei ihm jederzeit wieder arbeiten könne.55 Lissy Sander schloss ihren Brief mit einer Reihe von Demutsgesten: »Ich bitte von ganzen Herzen für meinen irregegangenen Mann. Haben sie doch die Herzensgüte und lassen Sie bitte, bitte Gnade für Recht ergehen. […] Lassen Sie uns wieder zufrieden und glücklich werden, wieder in geordnete Verhältnisse kommen, wieder den rechten Weg finden. Auf den Knien will ich Ihnen von Herzen danken, sehr geehrter Herr Bevollmächtigter, wenn ich meinen Mann wieder bei meinem Kind und bei mir habe.«
Anhand dieser devoten Haltung, die Lissy Sander gegenüber dem Adressaten des Schreibens einnimmt, wird sichtbar, wie zentral das Bild der bürgerlichen Familie in ihrer Bitte ist. Der Wunsch, ihren Ehemann bei sich und bei ihrem Sohn zu haben, wird als die einzige Möglichkeit angepriesen, »wieder zufrieden und glücklich« zu werden und »wieder in geordnete Verhältnisse« zu kommen. Lissy Sander vertritt das Bild der fürsorgenden Mutter, die bemüht ist, die Familie zusammenzuhalten. Aufgrund einer Beurteilung des Haftanstaltsdirektors, der in Anton Sander keine »ernsthafte Reue für sein verwerfliches Vergehen«56 erkennen kann, lehnt der Beauftragte für Gnadensachen am 30.4.1932 Lissy Sanders Ersuchen ab.57 Sie verfasst hierauf erneut am 20.5.1932 ein letztes handschriftliches Schreiben an den Beauftragten für Gnadensachen und erbittet abermals Gnade für ihren Mann.58 Dieses Schreiben ist jedoch weit fordernder als das vorhergehende; die Begründung lautet diesmal: »Da er doch nach der Entlassung eine Verdienstmöglichkeit hat, wie aus dem vorigen Gesuch hervorgeht, also dem Staat nicht zur Last fallen wird, bitte ich Sie, sehr geehrter Herr um Ihre gütige 55 | Vgl. Sander 3/15. 56 | Sander 3/19. 57 | Vgl. Sander 3/20. 58 | Vgl. Sander 3/21. Dieses Schreiben wurde nur wenige Tage nach dem Muttertag verfasst, der sich seit 1930 unter der Bezeichnung »Ehrentag der deutschen Mutter« als Familienfest allgemein durchgesetzt hatte und jeweils am zweiten Mai-Sonntag begangen wurde. Vgl. U. Frevert: Frauen-Geschichte, S. 191.
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296 | Stefan Wünsch Gnade.« Das Hauptargument der bürgerlichen Familienideologie wurde von ihr fallengelassen, da deren außerordentliche Betonung im vorangegangenen Schreiben nicht den gewünschten Erfolg erzielt hatte; dies veranschaulicht erneut das Spiel mit der Norm.59 Lissy Sander bezieht sich nun auf den Druck der Arbeitslosigkeit, welcher auf den staatlichen Institutionen lastete und Mitte des Jahres 1932 immer noch ansteigend war.60 Das Argument einer sicheren Verdienstmöglichkeit ihres Mannes nach seiner Entlassung kann als ein gewisses Überlegenheitsgefühl ihrerseits gegenüber den staatlichen Institutionen interpretiert werden, da diese, wie es in den Medien verstärkt thematisiert wurde, sich mit einer leeren Staatskasse und den steigenden Ausgaben für Sozialleistungen konfrontiert sahen. Daher gibt Lissy Sander auch zu verstehen, dass ihr Mann »dem Staat nicht zur Last fallen wird«, wobei ihre Wahrnehmung einer aus Gegensätzlichkeit resultierenden Distanz zwischen dem Staat und ihrer eigenen sozialen Verortung zum Tragen kommt. Ihr Ersuchen wurde abermals am 8.6. 1932 abgelehnt, weshalb Anton Sander weitere vier Monate bis zum Ende seiner regulären Haftzeit in Tegel verweilen musste.61
4. Fazit Der Fall Anton Sander konnte aufzeigen, dass sich die Begrifflichkeiten der »Prostitution« wie die der »Zuhälterei« an einem spezifischen Wissen über Geschlechtlichkeit orientierten. Exemplarisch hierfür kann das Agieren des Gerichts aufgefasst werden, das aufgrund des ihm inhärenten und damit auch konstitutiven bürgerlichen, binären Geschlechtercodes das Verhalten von Anton und Lissy Sander als einen Straftatbestand verstand, da es gegen die exklusive Intimität des bürgerlichen Familienideals verstieß. Ein derartig starres Familienund somit auch Geschlechterbild forderte vom Gericht eine konforme Argumentationslogik, die sich dahingehend verkürzen lässt: Eine Ehefrau würde nur durch äußere Zwänge ihr passives und familiäres Wesen aufgeben, um der Prostitution nachzugehen. Der äußere Druck konnte hierbei nur von der Person ausgehen, der sie alleinig unterstand, ihrem Ehemann. Dementsprechend genügte dem Gericht die Feststellung, dass Anton Sander »Teile seines Lebensunterhalts« aus dem Verdienst seiner Frau bestritt, um ihn der Zuhälterei zu über-
59 | Auch Sabine Kienitz weist in ihrer Studie nach, dass von den Angeklagten häufig während der Gerichtsverhandlungen auf bürgerliche Moralvorstellungen rekurriert wurde. Hierbei glaubt sie aber nicht, dass es zu einer Internalisierung dieser Werte gekommen war, sondern, dass es sich hierbei »um die bewußte und situationsbezogene Funktionalisierung« dieser Werte handelte. S. Kienitz: Sexualität, Macht und Moral, S. 296. Sie spricht hierbei auch von der Fähigkeit, die Instrumentarien der Macht gegen die Herrschenden einzusetzen. Ebd., S. 320. 60 | Vgl. Berthold Grzywatz: Arbeit und Bevölkerung im Berlin der Weimarer Republik. Eine historisch-statistische Untersuchung, Berlin 1988. 61 | Vgl. Sander 1/123.
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führen, da er in den Augen des Gerichts die alleinige Verantwortung für das Verhalten seiner Ehefrau trug. Das Ehepaar Sander vertrat – und hierin ist die einzigartige Bedeutung des Falles zu sehen – ein hierzu konträres Geschlechterbild, mit dem es das Gericht dazu nötigte, sich selbst zu legitimieren. Das konsequente Beharren auf einer transvestitischen Veranlagung und dem Recht auf eine weibliche sexuelle Befriedigung brachte das Gericht derartig in Bedrängnis, dass es vordergründig einzig damit beschäftigt war, die gewerbliche Komponente von Lissy Sanders sexuellen Kontakten sowie die Männlichkeit Anton Sanders nachzuweisen, um dadurch die beiden wieder in den bürgerlichen Geschlechterdiskurs zurückzuholen. Diese vordergründige Normierung der Familie Sander verbirgt jedoch die Notsituation des Gerichts in dieser Auseinandersetzung, da sein Wissen über Geschlechtlichkeit und folglich seine Legitimität zu strafen in Frage gestellt wurde. In diesem historischen Kampf um Wissen konnte das Gericht sich zur damaligen Zeit nur durch die Taktik des vorübergehenden Ignorierens behaupten. Seine Festigung erlangte es erst durch die Integration neuer Wissensbestände zur Sexualität und Geschlechtlichkeit. Dementsprechend sind die Standpunkte der Familie Sander auch bei weitem mehr als eine bloße Abwehrhaltung, da sie zudem mögliche Legitimationsstrategien einer sich prostituierenden Person offenbaren, die sich außerhalb eines bürgerlichen Geschlechterdiskurses befinden und in welchem vor allem dem Körper eine völlig andere Bedeutung beigemessen wird. Verdeutlicht wurde dies auch in dem beschriebenen »Spiel mit der Norm«, da hieran gezeigt werden konnte, dass es nicht zu einer Internalisierung der bürgerlichen Werte gekommen ist, sondern dass diese bewusst für eigene Interessenslagen funktionalisiert wurden, die bei ausbleibendem Erfolg auch wieder fallengelassen werden können. Folglich verlangt das Verstehen der subjektiven Seite der Prostitution stets die Erschließung der Kultur unterbürgerlicher Schichten, da von einer bürgerlichen Warte aus die Frau immer in einem Opferdiskurs steht und männliche Prostituierte stets als eine Irritation aufgefasst werden. Wie sich das Leben der Familie Sander seit dem Herbst 1932 gestaltete, bleibt offen. Mit dem Blatt 125, der letzten Seite der Akte 1.Kup.M. 28/31 (129. 31), welche die Entlassung aus der Haftanstalt Tegel am 4. Oktober 1932 um 18:50 Uhr dokumentiert, verliert sich – vorerst – die historische Spur von Anton und Lissy Sander.
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Männliche Prostitution in belletristischen Texten 1900-1933 | 301
Beschmutzte Utopien. Subkulturelle Räume, begehrte Körper und sexuelle Identitäten in belletristischen Texten über männliche Prostitution 1900-1933 Martin Lücke
1. »eine eigene Art und Weise des Erfahrens« – Belletristische Literatur als Medium erfahrbaren Wissens »Literatur, im engeren Sinn insbesondere Schöne Literatur, entwirft und reflektiert Welt, innerste und äußerste, vergangene und künftige. Nicht nur alles, was ist, sogar all das, was denkbar ist, ist auch literarisch darstellbar und also erfahrbar und insofern ist es möglich, sich diese Erfahrungen anzueignen.«1
Folgt man diesen Ausführungen der Literaturwissenschaftlerin Cornelia Rosebrock, so verfügen literarische Texte über eine ganz besondere Fähigkeit: Nicht mit der bloßen Generierung oder lediglich mit der Reproduktion von Wissen will sich die »Schöne Literatur« aufhalten, sie ist vielmehr in der Lage, »eine eigene Art und Weise des Erfahrens […], eine zusätzliche Art und Weise des Inder-Welt-Seins für jeden einzelnen«2 zu eröffnen. Die Lektüre literarischer Texte dient nach einer solchen Lesart nicht nur dem reinen Gewinn von Faktenwissen, sondern der Prozess literarischen Lesens erhält auf diese Weise einen »persönlichkeitsbildenden Gehalt«3 und kann dazu führen, Wissen für jeden Einzelnen erlebbar und erfahrbar zu machen.
1 | Cornelia Rosebrock: »Literaturdidaktik und Lesekultur«, in: ide – Informationen zur Deutschdidaktik 24/2 (2000), S. 35-48, hier S. 35. 2 | Ebd., S. 36. 3 | Ebd.
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302 | Martin Lücke Eine solche persönlichkeitsbildende und identitätsstiftende Potenz literarisch-fiktionaler Texte ist auch der männlichen Homosexualitätsforschung nicht verborgen geblieben. Hier wurde erkannt, dass »schwule/ homosexuelle Identitätsbildung weitgehend über Lektüre, über (nicht zuletzt literarische) Texte stattgefunden hat und teilweise noch stattfindet«.4 In Anlehnung an den Literaturwissenschaftler David Bergman wurde die homosexuelle Identität5 als »literary construct«6 interpretiert, als ein Identitätskonzept also, das durch die Lektüre fiktionaler Texte erfahrbar wird und auf diese Weise bei den Lesern7 als vermeintlich sicheres Wissen über sich selbst eine individuelle Verankerung als Identität finden kann. Besonders im »Coming-out« von Jugendlichen können literarische Texte ihr persönlichkeitsbildendes Potenzial entfalten: Hier knüpfen sie nicht an bereits gemachte Erfahrungen mit Homosexualität an, sondern bereiten die zumeist junge Leserschaft durch die Textlektüre als einer »bedachtsamen Begegnung mit dieser Lebensform« auf das Zukünftige vor, so dass literarisches Lesen zu einer »fiktional vorweggenommenen Erfahrung«8 werden kann. Das Konzept einer »homosexuellen Identität« ist ein Kind des späten 19. Jahrhunderts. Es wurde nicht in literarischen Texten entworfen, sondern ist ein Produkt sexualwissenschaftlicher Diskurse und das Kennzeichen einer grundsätzlichen Neubewertung von mann-männlicher Sexualität im Zuge der Etablierung der Sexualwissenschaft als neuer Wissenschaftsdisziplin.9 Zentrales Merkmal der dort nun entworfenen »Homosexuellen«, die schnell zur »most
4 | Marita Keilson-Lauritz/Wim Hottentot: »Literaturwissenschaft und (männliche) Homosexualität«, in: Rüdiger Lautmann (Hg.), Homosexualität. Handbuch der Theorieund Forschungsgeschichte, Frankfurt am Main/New York 1993, S. 375-384, hier S. 375. 5 | Unter homosexueller Identität wird hier nach Rüdiger Lautmann verstanden: »in allen Kontexten hindurch dieselbe (›identische‹) Person zu bleiben«, also das sichere Wissen über ein gleichgeschlechtliches Sexualbegehren zur Grundlage einer dauerhaften Konstruktion von sexueller Identität zu erheben. Vgl. Rüdiger Lautmann: Soziologie der Sexualität. Erotischer Körper, intimes Handeln und Sexualkultur, Weinheim/München 2002, S. 177. 6 | David Bergman: Gaiety Transfigured. Gay Self-Representation in American Literature, Madison 1991, S. 6. 7 | Hier wird bewusst die männliche Form »Leser« verwendet, da sich der Beitrag in erster Linie mit Formen möglicher literarischer Identitätsbildung bei männlichen Homosexuellen befasst. 8 | Cyrus Dethloff: Jungenpaare – Mädchenpaare. Der humanwissenschaftliche Diskurs um die »Homosexualität« und sein Einfluß auf die Darstellung im erzählenden Kinder- und Jugendbuch (Literatur- und Medienwissenschaft Bd. 42), Paderborn 1995, S. 19-20. 9 | Zur Genese des als sexualpathologisch konzipierten Identitätskonzepts der Homosexualität: Rüdiger Lautmann (Hg.): Homosexualität. Handbuch der Theorie- und Forschungsgeschichte, Frankfurt am Main/New York 1993.
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prominent modern sexuell minority«10 werden sollten, war es, dass nicht sexuelles Handeln zwischen Männern zur Grundlage der Definition von Homosexualität wurde, sondern mann-männliches Sexualbegehren: »Echte Homosexuelle« waren nach Auffassung der Sexualwissenschaft nur die, deren Sexualbegehren sie zu anderen Männern trieb. Männliche Prostituierte hingegen, bei denen »nicht die Liebe zu der Person, sondern die zu deren Gelde die treibende Kraft«11 bei der Suche nach Sexualpartnern war, galten in der Terminologie der Sexualwissenschaft als »Pseudohomosexuelle« bzw. »unechte Homosexuelle«.12 Die »echten Homosexuellen« wurden im Rahmen dieses Diskursprozesses zu den »Modellperversen des 19. Jahrhunderts«13 und sollten das auch im 20. Jahrhundert noch lange bleiben. Männliche Prostituierte hingegen, sofern sie nicht auch über ein gleichgeschlechtliches Sexualbegehren verfügten,14 wurden vom Identitätskonzept der Homosexualität nicht erfasst und auf diese Weise zu zweifach Anderen: Gegenüber den »echten Homosexuellen« grenzten die sexualwissenschaftlichen Diskurse sie aufgrund ihres Sexualbegehrens ab, gegenüber einem als heterosexuell konzipierten Leitbild von Männlichkeit durch die von ihnen praktizierte mann-männliche Sexualität. Gerade deshalb geriet die männliche Prostitution für sexualwissenschaftliche und literarische Autoren zu einem spannungsreichen Thema.15 Im späten Kaiserreich und in der Weimarer Republik wurden belletristische Texte veröffentlicht, in denen sich »Homosexuelle« und männliche Prostituierte als literarische Figuren an den verborgenen Orten der männlichen Prostitution begegneten. 10 | Edward R. Dickinson/Richard Wetzell: »The Historiography of Sexuality in Modern Germany«, in: German History 23/3 (2005), S. 291-305, hier S. 291. 11 | Magnus Hirschfeld: Die Homosexualität des Mannes und des Weibes, Berlin 1914, S. 187. 12 | Ebd., S. 187-188. 13 | Andrea Dorothea Bührmann: »Die gesellschaftlichen Konsequenzen der Wissensproduktion. Zum Verhältnis von (Sexual-)Wissenschaften und gesellschaftlichen Normalisierungsmechanismen«, in: Ursula Ferdinand/Andreas Pretzel/Andreas Seeck (Hg.), Verqueere Wissenschaft? Zum Verhältnis von Sexualwissenschaft und Sexualreformbewegung in Geschichte und Gegenwart, Münster 1998, S. 213-228, hier S. 222. 14 | Die sexualwissenschaftlichen Autoren zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren davon überzeugt, dass die große Mehrheit der männlichen Prostituierten nicht über ein gleichgeschlechtliches Sexualbegehren verfügt hat. Magnus Hirschfeld, der mit der »Homosexualität des Mannes und des Weibes« das sexualwissenschaftliche Standardwerk zu diesem Thema verfasst hat, stellte zum Beispiel fest, »daß die Zahl der homosexuell veranlagten männlichen Prostituierten gegenüber den heterosexuellen relativ nur klein ist« (M. Hirschfeld: Die Homosexualität des Mannes und des Weibes, S. 713). 15 | Besonders Jeffrey Weeks führt hierzu aus: »It is significant that writings on male prostitution began to emerge simultaneously with the notion of ›homosexuals‹ being an identifiable breed of persons with special needs, passions, and lusts.« (Jeffrey Weeks: »Inverts, Perverts, and Mary-Anns. Male Prostitution and the Regulation of Homosexuality in England in the Nineteenth and Early Twentieth Centuries«, in: Journal of Homosexuality 6 [1981/1982], S. 113-134, hier S. 113).
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304 | Martin Lücke Die Texte, die sich in erster Linie an eine homosexuelle Leserschaft richteten und dort eine lebhafte und begierige Nachfrage fanden, indem sie »The Erotic as a consumer good«16 aufbereiteten, griffen die in der Sexualwissenschaft konzipierten Identitätskonzepte auf und arbeiteten sie in eine literarisch erfahrbare Form um. Literarisches Lesen wurde auf diese Weise zu einem möglichen Modus der Identitätsbildung homosexueller Männer. Hier soll in den Blick genommen werden, welche Modelle diese Texte für eine solche Identitätsbildung angeboten haben und insbesondere, welche Funktion die literarische Formung der männlichen Prostitution dabei gespielt hat. Analysiert wird der anonym verfasste Roman »Liebchen – Ein Roman unter Männern« aus dem Jahr 1908, John Henry Mackays Buch »Der Puppenjunge« von 1926 und Friedrich Radszuweits Wirklichkeitsroman »Männer zu verkaufen« aus dem Jahr 1931. Im Einzelnen wird betrachtet, wie die Orte der männlichen Prostitution als subkulturelle Räume codiert wurden, auf welche Weise die Körper der männlichen Prostituierten als begehrte Körper markiert werden konnten und drittens schließlich, wie sich die »Homosexuellen« in den Texten im Wechselspiel von Abgrenzung und Anlehnung zu den männlichen Prostituierten positioniert haben, um auf diese Weise eine eigene Identität auszubilden. Diese zunächst genuin literaturwissenschaftliche Fragestellung kann aufzeigen, welche kulturelle Reichweite die in der Sexualwissenschaft entworfenen Konzepte sexueller Identitäten erreicht haben und leistet auf diese Weise auch einen Beitrag zur Geschichte der Sexualität.
2. Der begehrte Körper als Machtressource: »Liebchen – Ein Roman unter Männern« Der anonym veröffentlichte Roman »Liebchen«17 aus dem Jahr 1908 bezieht sich in politischer Hinsicht konkret auf die so genannte »Eulenburg-Affäre« der Jahre 1906 bis 1908, in dessen Verlauf einige enge Vertraute Kaiser Wilhelms II. der Homosexualität bezichtigt worden waren.18 Bis zur »EulenburgAffäre« war das expandierende Schrifttum der Sexualwissenschaft zu Homosexualität zwar »in bisher ungeahnter Weise«19 in den wissenschaftlichen Fach16 | David James Prickett: »Defining Identity via Homosexual Spaces: Locating the Male Homosexual in Weimar Berlin«, in: Women in German Yearbook: Feminist Studies in German Literature & Culture 21 (2005), S. 134-162, hier S. 140. 17 | N.N.: Liebchen. Ein Roman unter Männern, Leipzig/Wien 11908, Reprint Berlin 2 1995. Hier verwendet wird die Reprint-Ausgabe aus dem Jahr 1995, die im Hinblick auf Satz und Seitennummerierung mit der Erstauflage identisch ist. 18 | Über Ursachen, Hintergründe und Folgen der so genannten »Eulenburg-Affäre« zuletzt: Claudia Bruns: »Skandale im Beraterkreis um Kaiser Wilhelm II. Die homosexuelle ›Verbündelung‹ der ›Liebenberger Tafelrunde‹ als Politikum«, in: Susanne zur Nieden (Hg.), Homosexualität und Staatsräson. Männlichkeit, Homophobie und Politik in Deutschland 1900-1945, Frankfurt am Main/New York 2005, S. 52-80. 19 | Ebd., S. 52.
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zirkeln verbreitet, kaum jedoch darüber hinaus. Erst durch eben jene Skandale der Jahre 1906 bis 1908 wurde der Fachterminus »Homosexualität« einer breiten Öffentlichkeit bekannt. Für die noch junge homosexuelle Emanzipationsbewegung bedeutete die »Eulenburg-Affäre« einen herben Rückschlag, vermutete die Öffentlichkeit hinter den Enthüllungen der Presse nämlich in erster Linie eine Art geheimer Cliquenbildung gleichgeschlechtlich begehrender Männer im Umfeld des Kaisers und empfand Homosexualität deshalb als Bedrohung für das Staatswesen. Der Mythos des »homosexuellen Staatsfeinds«, der sich im 20. Jahrhundert zu einem festen Charakteristikum homophober Politik herausbilden sollte, fand hier seinen Ausgangspunkt.20 Hauptfigur im Roman »Liebchen« ist der Unternehmer Paul Muxberg, in seinem Freundeskreis »Liebchen« genannt, der aus einem kleinen Familienbetrieb schnell ein weltweit agierendes Unternehmen aufgebaut hat. Seine sexuelle Leidenschaft gilt dem Prostituierten Eduard Kieseke, dem er regelmäßig hohe Geldbeträge zukommen lässt. Gemeinsam mit einem vermeintlich guten Freund von Muxberg verrät Kieseke jedoch die sexuelle Affäre an den Sensationsjournalisten Sußmann. In Folge des Skandals, der nun die Berliner Öffentlichkeit beschäftigt, ertränkt sich Muxberg während einer nächtlichen Bootspartie in der Havel. Die Parallelen zur »Eulenburg-Affäre« sind offensichtlich: Der Journalist Maximilian Harden (1861-1927), durch seine Veröffentlichungen in der Zeitschrift »Die Zukunft« verantwortlich für den »echten« Skandal, findet sein literarisches Pendant im Sensationsjournalisten Sußmann – und analog zum angeblich homosexuellen Beraterkreis um Wilhelm II. findet sich in »Liebchen« eine Freundesrunde um einen Prinzen des preußischen Königshauses ein. Der Roman eröffnete der homosexuellen Leserschaft auf diese Weise die Möglichkeit, die realen Zeitereignisse in literarisch geformter Weise als Erfahrung aufzunehmen. Konkret Bezug genommen wird im Text auf die »Eulenburg-Affäre«, indem auf den Treffen der Berliner Gesellschaft, an denen Muxberg teilnimmt, über »den Prozeß« und »die Affaire« (S. 29 u. 39) gesprochen wird. Hier diskutieren die Teilnehmer auch über die sexualwissenschaftliche Verortung des Phänomens der Homosexualität, indem etwa benannt wird, welche unterschiedlichen fachwissenschaftlichen Auffassungen über Homosexualität existierten und ob diese Auffassungen Homosexualität als Perversion, als Krankheit oder als legitime Spielart der Sexualität auffassten.21 Während sich der homosexuelle Freundeskreis um Muxberg mit dem Rezitieren poetischer Verse oder dem gemeinsamen Musizieren beschäftigt, werden sexuelles Begehren und praktizierte Sexualität im Roman ausschließlich der subkulturellen Welt der männlichen Prostitution zugewiesen. Auf diese Weise wird die bürgerlich-aristokratische Lebenswelt Muxbergs und seiner Freunde 20 | Zur Rolle der »Eulenburg-Affäre« bei der Etablierung des Mythos eines »homosexuellen Staatsfeindes« zuletzt: Susanne zur Nieden: »Homophobie und Staatsräson«, in: dies. (Hg.), Homosexualität und Staatsräson, S. 17-51. 21 | Konkret wird im Roman auf die Forschungen von Krafft-Ebing, Iwan Bloch, Magnus Hirschfeld und Albert Moll Bezug genommen (ebd., S. 41), die für die hier benannten unterschiedlichen Erklärungsmodelle von Homosexualität stehen.
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306 | Martin Lücke entsexualisiert und die gesellschaftlich verpönte und juristisch sanktionierte mann-männliche Sexualität einer der Lebenswelt dieser Männer fernen Sphäre zugewiesen. Auch die Körperlichkeiten von Muxberg und seinen Freunden geraten nicht in den Blick des Erzählers, im Unterschied dazu hingegen wird der Körper des Prostituierten Kieseke, der im Roman zusätzlich den Namen »Tantenede« trägt, in ausführlicher Form beschrieben. Er war »ein wundervolles Exemplar eine Jünglings. Mit seinen neunzehn Jahren hatte er kraftvolle Muskeln wie ein Athlet, seine Gestalt war geschmeidig, sein Kopf hatte fast klassische Züge, ein ganz dünner, schwarzer Flaum bedeckte seine Oberlippe und sein Haar, das übermäßig pomadisiert war, lag glatt am Schädel. […] Tantenede war eine der begehrtesten Persönlichkeiten der Kranzlerecke und sein Ruf ging bis in ferne Provinzen, sodaß er oftmals so genannte Geschäftsreisen unternehmen musste.« (S. 8)
Diese als männlich-viril dargestellte Körperlichkeit ist es dann auch, die die besondere Begierde von Muxberg entfesselt. In einem Stundenhotel im Osten Berlins, zwischen einem »Schlächterladen« und einem Pfandleihgeschäft gelegen, kommt es zum Sexualkontakt zwischen den beiden. Über die sexuelle Lust von Muxberg und deren Folgen heißt es: »Er zog ihm hastig die Kleider vom Leibe, knöpfte ihm den Kragen auf, löste ihm die Krawatte, nestelte die Bandschluppen seiner Lackschuhe auf und strich mit seinen zuckenden Händen über die vollen Formen des jugendlichen Körpers. Tantenede ließ alles ruhig mit sich geschehen. Er wartete den Augenblick ab. Als er nackt vor ihm stand, seine Arme kraftvoll von sich streckend und die Muskeln dehnend, sagte er, indem er stolz das Bein vorstellte: ›Nu aber im Ernst, Liebchen, jetzt unterschreibst de mir, det de mir monatlich fünf Blaue jiebst, sonst kann ick die Sache nich machen, vastehste?‹ Muxberg hatte sich auf das aufgeschlagene Bett gesetzt und zitterte. […] Tantenede stand dicht vor ihm und hatte seine Hand auf seine Schulter gelegt. Als er diesen Mann in seiner hilflosen Erregung vor sich sah, erfaßte ihn einen Augenblick das Mitleid, und er beugte sich zu ihm nieder und küßte ihn, wie man ein armes, kleines bedrücktes Kindchen küsst.« (S. 16)
Bemerkenswert an dieser Darstellung ist vor allem, dass die Machtbalance zwischen Freier und Prostituiertem an diesem Ort der Subkultur eindeutig zu Gunsten des Prostituierten ausschlägt. Als seine Machtressource dient ihm sein begehrter männlicher Körper und mit der bewussten Inszenierung seiner männlichen Körperlichkeit gelingt es ihm sogar, dem Freier die Kontrolle über dessen Machtressource – das Geld – zu entziehen, indem er Muxberg dazu veranlasst, ihm zukünftig regelmäßige und von konkreten Sexualkontakten unabhängige Geldbeträge zukommen zu lassen. Erzählerisch umgesetzt wird das ungleiche Machtverhältnis zwischen Prostituiertem und Freier, indem die sexuelle Erregung Muxberg zu einer hilflosen und Mitleid erregenden Figur macht, während »Tantenede«, der über kein gleichgeschlechtliches Begehren verfügt, seine Körperlichkeit kontrolliert und berechnend einzusetzen vermag.
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Die auf diese Weise im Roman entworfene subkulturelle Welt der männlichen Prostitution ließ die Leserschaft eine überaus ambivalente literarische Erfahrung mit mann-männlicher Sexualität machen. Prostitution wurde hier als ein Raum entworfen, an dem ganz offenbar andere Machtverhältnisse galten als in der bürgerlich-aristokratischen Welt, indem etwa die bürgerliche Machtressource des Geldes hinter die Machtressource einer viril-maskulinen Männlichkeit zurücktreten musste. Hier wurde sexuelles Begehren als Schwäche sichtbar und konnte deshalb ausgenutzt werden. Im Gegensatz zur bürgerlichen Welt war sie jedoch der Ort, an dem die literarischen Figuren ihr gleichgeschlechtliches Begehren überhaupt nur stillen und dementsprechend die literarischen Leser ihren sexuellen Voyeurismus befriedigen konnten. Sie wurde auf diese Weise zu einem Raum, den zu betreten gleichermaßen gefährlich und begehrenswert war. Gesteht man dem Text zu, einen Beitrag zu einer homosexuellen Identitätsbildung geleistet zu haben, so war eine solche Identität durch eben diesen Gegensatz zwischen Gefahr und Begehren gekennzeichnet. Homosexualität als »literary construct«22 wurde auf diese Weise zu einer gebrochenen und in sich widersprüchlichen Identität.
3. »Viele der jetzt aufgestellten Theorien hielt er für falsch und gefährlich« – »Der Puppenjunge« von John Henry Mackay Der Roman »Der Puppenjunge«23 von John Henry Mackay, im Jahr 1926 unter dem Pseudonym »Sagitta« veröffentlicht, konnte in den Jahren der Weimarer Republik zu einem der populärsten literarischen Texte werden, die das Thema der männlichen Prostitution aufgegriffen haben. Der Autor Mackay (1864-1933) wurde sich im Alter von 22 Jahren, angeblich durch die Lektüre von KrafftEbings »Psychopathia sexualis«, »seiner homosexuell-päderastischen Grundneigung«24 bewusst, lehnte aber bereits zu diesem Zeitpunkt die sexualwissenschaftlichen Erklärungsmuster für mann-männliches Begehren entschieden ab, die er als »ein Wachsfigurenkabinett der Wissenschaft von Scheusäligkeiten, von Mißgeburten und Monstrositäten aller Art«25 bezeichnete. Der Homosexu22 | D. Bergman: Gaiety Transfigured, S. 6. 23 | Vgl. Sagitta (= John Henry Mackay): Der Puppenjunge. Die Geschichte einer namenlosen Liebe aus der Friedrichstraße, 1. Auflage Berlin 1926, unveränderter Nachdruck Hamburg/München 21975, Freiburg i.Br. 31977, Berlin 41999. 24 | »Mackay, John Henry (d.i. Farquhar, John Henry; ›Sagitta‹)«, in: Bernd-Ulrich Hergemöller: Mann für Mann. Biographisches Lexikon zur Geschichte von Freundesliebe und mann-männlicher Sexualität im deutschen Sprachraum, Hamburg 1998, S. 481-482, hier S. 481. 25 | Hubert Kennedy weist darauf hin, dass diese Wortwahl Mackays aus seinem Roman »Fenny Skaller« eine literarische Spiegelung seiner eigenen Auffassung über die sexualpathologischen Thesen seiner Zeit gewesen ist. Siehe Hubert Kennedy: Anarchist der Liebe. John Henry Mackay als Sagitta, Berlin 1988, S. 9.
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308 | Martin Lücke ellen-Bewegung um Magnus Hirschfeld warf er vor, dass sie aus politisch-strategischen Gründen »die Liebe zwischen Männern und Knaben verdammte«26 und somit seinem pädophilen Begehren keinen legitimen politischen Raum zuwies. Unter anderem als Reaktion darauf verfasste er unter dem Pseudonym »Sagitta« im Zeitraum von 1906 bis 1926 die insgesamt acht »Bücher der namenlosen Liebe«, »die ausschließlich um die Zuneigung des gereiften Mannes zum Knaben und Jüngling kreisten«.27 Der Roman »Der Puppenjunge« ist das letzte Werk dieser Reihe. Er erzählt die Geschichte der Beziehung zwischen dem 26-jährigen Hermann Graff, der sich in den anfangs 15-, später 16-jährigen Prostituierten Günther verliebt. Graff lernt Günther nicht an den Orten der männlichen Prostitution kennen und tritt während des Romans an keiner Stelle als Freier auf, sondern trifft Günther per Zufall auf den Straßen Berlins. Graff bemüht sich, zu Günther eine dauerhafte Beziehung aufzubauen, was zunächst an Günthers völligem Unverständnis für die nicht rein sexuellen Interessen an seiner Person scheitert. In Folge einer Polizeirazzia im Prostitutionsmilieu wird Günther der Fürsorgeerziehung überwiesen, kann jedoch aus der Fürsorgeanstalt entfliehen und findet bei Graff Aufnahme. Die Beziehung der beiden wird von Graffs Zimmerwirtin verraten, Günther erneut in die Fürsorgeanstalt überwiesen und Graff wegen Vergehen gegen § 175 angeklagt und zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Während Günther nach der Entlassung aus der Fürsorgeanstalt in seine ländliche Heimat zurückkehrt (S. 340), wagt Graff nach abgesessener Haft »als ein Mann, der das Leben erkennen und es meistern wollte, wie es war« (S. 334), in der Metropole Berlin einen Neuanfang. Der Text führt die Leser an zahlreiche Berliner Orte der männlichen Prostitution der 20er Jahre, so zum Beispiel in die Stricherkneipe »Adonis-Diele«, in die »Passage« an der Ecke Friedrichstraße/Unter den Linden, die ein Treffpunkt des Straßenstrichs war, oder in den Berliner Tiergarten.28 Auf diese Weise wurden die tatsächlichen Orte der männlichen Prostitution zum Schauplatz der Handlung. Wie Jens Dobler jedoch am Beispiel der im Roman geschilderten Polizeirazzien zeigt, waren die Polizeieinsätze gegen die männliche Prostitution zumindest ab dem Jahr 1923 weit weniger repressiv als es der Romanautor Glauben machen will.29 Die vermeintliche Authentizität von Orten und Begebenheiten wurde im Text also im Rahmen einer dramatischen Zuspitzung des Geschehens verdichtet und literarisch umgeformt und konnte auf diese Weise zu einem literarischen Erfahrungsraum werden.
26 | Ebd., S. 10. 27 | B.-U. Hergemöller: Mann für Mann, S. 482. 28 | Insbesondere zur Kneipenszene, aber auch zu anderen Orten der männlichen Prostitution im Berlin der 20er Jahre: Mel Gordon: Voluptuous Panic: The Erotic World of Weimar Berlin, Venice (USA) 2000. 29 | Vgl. Jens Dobler: »Nicht nur Verfolgung – auch Erfolge. Zusammenarbeit zwischen Schwulenbewegung und Polizei in der Kaiserzeit und in der Weimarer Republik«, in: Comparativ 9/1: Polizei und schwule Subkulturen (1999), S. 48-60, hier S. 55.
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Es ist das Kennzeichen der Darstellung von Sexualität und Begehren im »Puppenjungen«, dass die sexuellen Aktivitäten von Günther als Prostituierter in Relation zur Kategorie des Ekels gesetzt werden. So heißt es über seinen ersten bezahlten Kontakt zu einem Mann: »Und davor hatte er Angst gehabt! – Wenn es ihm auch grade keinen besonderen Spaß gemacht hat, dabei war doch nichts Besonderes gewesen!« (S. 45) Diese Empfindung des Keinen-Spaß-Habens wird bereits einige Sexualkontakte später explizit an der Kategorie des Ekels gemessen, indem es heißt: »Es schmeichelte ihm, als ›Neuer‹ begehrt zu werden. Ekel? – Nein, er empfand eigentlich keinen Ekel. Aber auch kein Vergnügen. Er machte eben mit. Schließlich war bei alledem doch nur das Geld die Hauptsache.« (S. 55)
Als Günthers Nimbus des begehrten Neulings schließlich verflogen ist und es ihm zunehmend schwerer fällt, bezahlende Sexualpartner zu finden, wird der Ekel schließlich zum bestimmenden Moment seines sexuellen Erlebens. Über seine verzweifelte, von Hunger bestimmte Suche nach einem Freier heißt es: »Endlich, schon spät am Nachmittag fand er Einen. Aber was für ein ekelhafter, kleiner, krummbeiniger Kerl das war: der Kopf saß ihm zwischen den gebuckelten Schultern, die Augen lauerten schon hinter der Brille. Und wie unsauber, wie alt schon! ›Kommst Du mit? Auf die Schnelle. Drei Mark…‹ Wieder nur drei Mark! – Aber was sollte man machen! ›Wohin denn?‹ ›Komm nur mit!‹ […] Nach einem kurzen Aufenthalt wieder unten, wollte er, zum ersten Mal ganz zerwürgt von Ekel, sein Geld.« (S. 61-62)
Das Gefühl des Ekels, allgemein als ein besonders starkes und wirkmächtiges Gefühl angesehen,30 dient hier dazu, die prostitutive Sexualität des 15-Jährigen als besonders ablehnungswürdig zu kennzeichnen. Auf diese Weise wird den Lesern nicht nur ein nachvollziehbares, also nach-erfahrbares Erlebensmuster von Sexualität präsentiert. Ekel dient hier auch dazu, die Idee des Sexualbegehrens als solches zu plausibilisieren: Indem Günther gegen sein als natürlich gedachtes Sexualbegehren verstößt, entsteht bei ihm Ekel als gleichsam natürliche Konsequenz auf sein widernatürliches Handeln. Im Kontrast zur sexuellen Ekelempfindung des Prostituierten wird das Leben von Graff hingegen entsexualisiert präsentiert; sein Erleben unterscheidet sich deutlich von dem des Prostituierten. Über seine Tage im Berliner Frühling heißt es: »Seine Tage hatten ihren Inhalt. Den Abenden gab er ihn, indem er entweder zu Hause las oder ein Theater und ein gutes Konzert besuchte, meistens aber, indem er an diesen 30 | Die Theorie und Geschichte des Gefühls des Ekels kann hier nicht in aller Ausführlichkeit dargestellt werden. Vgl. hierzu: Winfried Menninghaus: Ekel. Theorie und Geschichte eines starken Gefühls, Frankfurt am Main 1999 und William Ian Miller: The Anatomy of Disgust, Cambridge 1997.
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310 | Martin Lücke zauberischen Frühlingstagen, von denen einer den anderen übertreffen wollte an Reinheit der Luft und mildem Glanz der ersten Sonne, hinausfuhr in die Umgebung.« (S. 63)
Auffällig ist hier nicht nur die Betonung der verbürgerlichten Kulturbeflissenheit des Protagonisten, die ihn deutlich vom Strichjungen Günther – auch in Hinsicht auf deren Klassenunterschied – unterscheidet, sondern die Platzierung seiner Lebensführung in einen reinen und milden Frühling. Passend zu dieser Schilderung soll sich Graff am Ende des Romans als ein Mann herausstellen, der nur »mit dem Herzen lieben« (S. 331) kann, dessen Begehren sich also jedweder Form ekelerregender Sexualität, wie sie das Kennzeichen der prostitutiven Sexualität im Roman ist, entzieht. Der Schilderung von Günthers Körperlichkeit wird im Roman große Aufmerksamkeit gewidmet. Hier ist auffällig, dass die körperlichen Attribute des Strichjungen nicht – was erzählerisch nahe liegen würde – bei seiner Tätigkeit in der Prostitution geschildert werden, sondern ausschließlich aus der Perspektive der inneren Wahrnehmung von Graff. So sieht Graff nach der ersten zufälligen Begegnung mit Günther vor seinem inneren Auge immer wieder »das wirre, dunkelblonde Haar, den leichten Gang, seine grau-blau seltsamen Augen« (S. 65), findet bei einem ersten Treffen besonderen Gefallen an »seinem glattrasierten Gesicht und den regelmäßigen jungen Zügen«, seine Träume schließlich »woben sich um ein junges, blondes Haupt, um ein kleines blasses Gesicht, um seine schlanke, zarte Gestalt« (S. 98). Seinem Glück sehr nah wähnt sich Graff schließlich, als Günther »duftend von Wasser und Jugend« (S. 133) vor seinem Verehrer steht. Dass der Strichjunge in diesem Fall nur ausnahmsweise und in wohl kalkulierter Absicht eine Badeanstalt besucht hatte, um sich auch in hygienischer Hinsicht auf das Treffen mit Graff vorzubereiten, bleibt diesem hier verborgen. So wünscht sich Graff in seinen Fantasien zunächst auch keine konkreten Sexualakte mit Günther, sondern hofft zunächst nur darauf, »die knabenhaftschlanke, noch unentwickelte und so zarte Gestalt […] auch nur einmal in seine Arme zu schließen!« (S. 77-78) Als er den halbnackt schlafenden Günther während eines Ausflugs nach Potsdam in einem nächtlichen Hotelzimmer beobachtet – sein »Blick brannte auf ihm« –, bemerkt er jedoch fast unsichtbare Anzeichen von dessen bisheriger Tätigkeit in der Prostitution. Über den Mund des Prostituierten heißt es: »Das war nicht der Mund eines Kindes, nicht der Mund eines noch so jungen Menschen. Es war der reife Mund eines Erwachsenen mit einem Zug von Bitterkeit und der Erfahrung, der Übersättigung, ja des Ekels am Leben – ein ihm ganz fremder Mund.« (S. 141142)
In nur subtiler Weise wird hier die Tätigkeit Günthers als Strichjunge thematisiert und erneut dient der Begriff des Ekels dazu, Prostitution sichtbar zu machen. In seiner Wahrnehmung verzichtete Graff jedoch nicht darauf, sich von solcher Übersättigung und einem solchen Ekel am Leben rasch zu distanzieren, indem er seine Fremdheit diesem Anblick gegenüber zum Ausdruck bringt. Der
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erste sexuelle Kontakt zwischen beiden findet schließlich nicht statt »in dem Rausch der Sinne, sondern unter den ungefügen Worten schamhafter Liebe, die allein noch daran denkt, zu beglücken, was sie liebt«. (S. 268) Auf diese Weise wird das sexuelle Begehren eines erwachsenen Mannes gegenüber einem Jugendlichen als vorbildliche Begehrensform präsentiert; der Roman reiht sich so in seiner Intention in Mackays Reihe der »Bücher der namenlosen Liebe« ein. Diese erzählerische Strategie findet im »Puppenjungen« ihren Ausdruck auch darin, dass Graff die Räume der männlichen Prostitution, zum Beispiel die berüchtigte »Adonis-Diele«, erst dann betritt, als er auf der Suche nach dem zwischenzeitlich verschollenen Günther ist, als ihn also nicht die Lust des Freiers, sondern die Sorge des älteren Partners an diese Orte führt. Nicht nur von der männlichen Prostitution, auch von den in der Sexualwissenschaft entworfenen Konzepten zur Erklärung und Legitimierung der Homosexualität grenzt sich die literarische Figur des Graff ab. Insbesondere der einflussreiche Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld hatte die Theorie eines »Dritten Geschlechts« entwickelt, nach der sich gleichgeschlechtlich begehrende Männer und Frauen in körperlich sichtbaren, so genannten »Zwischenstufen« von als heterosexuell konzipierten »Vollmännern« bzw. »Vollweibern« unterschieden. Auf diese Weise hoffte die Sexualwissenschaft um Hirschfeld, unter Zuhilfenahme der konventionellen und von den Zeitgenossen als plausibel angesehenen Bildern von Männlichkeit und Weiblichkeit, »Homosexualität« als natürliche Erscheinung zu legitimieren.31 Dem daraus resultierenden Körperkonzept wohnte in den Augen mancher Zeitgenossen die Gefahr inne, dass auf diese Weise eine effeminisierte homosexuelle Männlichkeit entworfen wurde. Auch Graff grenzt sich von einem solchen Körperkonzept ab, indem er zu verstehen gibt: »Er kannte seine Veranlagung. Er wußte, wie es um ihn stand. Er las immer noch Viel, bemühte sich aber nicht um Erklärungen, wo es Nichts zu erklären gab. – Was selbstverständlich, natürlich und nicht im Geringsten krankhaft war bedurfte nicht der Entschuldigung durch eine Erklärung. Viele der jetzt aufgestellten Theorien hielt er für falsch und gefährlich.« (S. 184)
Dass sich eine solche Ablehnung der Theorien konkret auf das Zwischenstufenkonzept von Hirschfeld bezieht, wird in Graffs Schilderung eines homosexuellen Arbeitskollegen deutlich, denn
31 | Ausführlicher zu den sexualwissenschaftlichen Vorstellungen der Schule um Magnus Hirschfeld und dem Zusammenhang zwischen Homosexualität und männlicher Prostitution: Martin Lücke: »Das ekle Geschmeiß – Mann-männliche Prostitution und hegemoniale Männlichkeit«, in: Martin Dinges (Hg.), Männer – Macht – Körper. Hegemoniale Männlichkeiten vom Mittelalter bis heute, Frankfurt am Main/New York 2005, S. 157-172, hier. S. 163-167.
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312 | Martin Lücke »er mochte diesen Kollegen nicht. Er hatte so etwas – (nicht gerade Schleimiges, aber doch Anschmiegendes) – so etwas spezifisch Weibisches in seinem ganzen Wesen, das er nun mal auf den Tod nicht vertragen konnte.« (S. 317)
Zur Formierung einer eigenen männlich-homosexuellen Identität bediente sich die literarische Figur des Graff hier zweier Merkmale: zum einen dem Verweis auf eine Natürlichkeit seiner sexuellen Veranlagung und einer Negierung der für viele Zeitgenossen befremdlichen Theorien über ein »Drittes Geschlecht«, zum anderen der Einordnung seiner Geschlechtsnatur in die konventionelle Geschlechterordnung, die auf diese Weise reproduziert und gestärkt wird. Verknüpft mit seiner Ablehnung der männlichen Prostitution konnte er auf diese Weise zu einer Identifikationsfigur für die homosexuelle Leserschaft werden.
4. »Eine einzige Atmosphäre der Sexualität herrschte in diesem Raum«: »Männer zu verkaufen« von Friedrich Radszuweit Friedrich Radszuweits Roman »Männer zu verkaufen«32 aus dem Jahr 1931 sticht dadurch hervor, dass sich der Text direkt auf die politischen und unternehmerischen Aktivitäten des Autors bezieht. Radszuweit (1876-1932) war nicht in erster Linie Schriftsteller, sondern Verbandsaktivist und Medienunternehmer. Als Vorsitzender des so genannten Bundes für Menschenrecht stand er der größten Homosexuellen-Organisation der Weimarer Republik vor und gab als Verleger die marktgängigsten Homosexuellen-Zeitschriften seiner Zeit heraus.33 Durch eine lebhafte Presse-Agitation hatte sich Radszuweit im Zusammenhang mit den Debatten um eine Reform des § 175 in den 20er Jahren als ein 32 | Vgl. Friedrich Radszuweit: Männer zu verkaufen. Ein Wirklichkeitsroman aus der Welt der männlichen Erpresser und Prostituierten, Berlin 11931, Leipzig 61932. 33 | Radszuweit wurde 1922 zunächst Vorsitzender der Homosexuellen-Organisation Vereinigung der Freunde und Freundinnen, die 1923 mit dem Deutschen Freundschaftsverband zum Bund für Menschenrecht e.V. (BfM) fusionierte, dessen erster Vorsitzender er wurde. Im Vergleich etwa zum Wissenschaftlich-humanitären Komitee um die Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld und Ernst Burchard, das in erster Linie ein akademisches Klientel ansprach, konnte der BfM zu einer homosexuellen Massenorganisation werden, die 1929 angeblich 29.000 Mitglieder verzeichnete. Zahlen dieser Größenordnung dürften sich jedoch eher auf die Abonnenten und regelmäßigen Leser der Periodika beziehen, die in Radszuweits Verlag seit 1923 erschienen. Neben Zeitschriften für männliche Homosexuelle wie den »Blättern für Menschenrecht«, dem »Freundschaftsblatt« oder der »Insel« veröffentlichte Radszuweit auch Periodika für lesbische Frauen wie die Zeitschriften »Die Freundin« und »Ledige Frauen«; sogar ein Blatt für Transvestiten konnte im Zeitraum von 1930-33 unter dem Titel »Das Dritte Geschlecht. Die Transvestiten« erscheinen. Radszuweit starb im März 1932 überraschend an den Folgen einer Tuberkulose-Erkrankung. Vgl. »Radszuweit, Friedrich« in: B.-U. Hergemöller: Mann für Mann, S. 568.
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scharfer Gegner der männlichen Prostitution und als Befürworter einer Strafverschärfung für männliche Prostituierte profilieren können. So ließ er männliche Prostituierte 1927 im »Freundschaftsblatt« als »Hyänen der Großstadt«34 bezeichnen, fasste die männliche Prostitution als »Geschwür am deutschen Volkskörper«35 auf und wetterte gegen die so genannte »Pseudohomosexualität«.36 Strichjungen waren für ihn die »Unappetitlichen, […] Parasiten, Warzen, Polypen, Grützbeutel«37 des Gesellschaftskörpers. Hintergrund dieser politischpublizistischen Strategie war es, seine eigene homosexuelle Klientel, die sich im Bund für Menschenrecht zusammenfand, von den männlichen Prostituierten abzugrenzen, was umso besser gelingen konnte, je präsenter die angebliche Gefährlichkeit der männlichen Prostitution vom Publikum wahrgenommen wurde. Den Roman »Männer zu verkaufen« veröffentlichte er im Verlag seines Lebensgefährten und Adoptivsohns Martin Butzkow-Radszuweit (1900-1933)38 und verzichtete nicht darauf, für das Buch in seinen Periodika intensiv die Werbetrommel zu rühren. So urteilte das »Freundschaftsblatt« bereits vier Wochen nach Erscheinen über Radszuweits Buch: »[M]an darf mit Recht sagen, kein anderes einschlägiges Buch hat in so kurzer Zeit einen solchen Erfolg erreicht wie gerade dieses Werk«39 und acht Wochen nach Erscheinen wurde bereits die dritte Auflage ausgeliefert, eine vierte sollte rasch folgen. Der Zusammenhang zwischen Radszuweits politischer Agitation und seiner unternehmerischen Tätigkeit ist augenfällig: Die Propagierung politischer Ziele und der kommerzielle Erfolg gingen hier Hand in Hand. Mit der männlichen Prostitution hatte Radszuweit ein Thema gefunden, dass sich durch eine hohe politische Propagandafähigkeit auszeichnete. Es konnte gerade deshalb auch in literarischer Formung publizistisch marktgängig werden, weil es bereits die politischen Debatten der Homosexuellen-Bewegung bestimmte. Die Handlung des Romans zeichnet sich nicht durch eine besondere erzählerische Raffinesse aus. Als der homosexuelle Baron von Rotberg von dem Berliner Prostituierten Helmut Hintze erpresst wird und nicht mehr in der Lage ist, dessen Geldforderungen zu erfüllen, nimmt sich der Hauslehrer der Rotbergs, Erich Lammers, der Angelegenheit an und sucht Hintze in dessen ärmlicher Berliner Wohnung auf, um diesen von seinen kriminellen Forderungen abzu34 | Es ist ein Kennzeichen der Presse-Veröffentlichungen Radszuweits, dass er in seinen eigenen Periodika häufig Beiträge aus anderen Zeitungen zitierte, um den eigenen Texten eine höhere Plausibilität zu verschaffen. So zitierte das »Freundschaftsblatt« in diesem Fall aus der Kölner Gerichtszeitung vom 15.01.1927. Vgl. »Hyänen der Großstadt«, in: Das Freundschaftsblatt 5. Jg. (1927), Nr. 4, S. 1-2. 35 | »Männliche Prostitution! Ein Geschwür am deutschen Volkskörper«, in: Das Freundschaftsblatt 5. Jg. (1927), Nr. 5, S. 1-2. 36 | »Pseudohomosexualität«, in: Das Freundschaftsblatt 5. Jg. (1927), Nr. 34, S. 1. 37 | Hier verwendet Radszuweit einen nicht datierten Beitrag aus den »Hamburger Nachrichten«. Siehe »Die Unappetitlichen«, in: Das Freundschaftsblatt 8. Jg. (1930), Nr. 3, S. 1-2. 38 | Vgl. Artikel »Butzkow, Martin« in: B.-U. Hergemöller: Mann für Mann, S. 171. 39 | »Männer zu verkaufen«, in: Das Freundschaftsblatt 9. Jg. (1931), Nr. 2, S. 1.
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314 | Martin Lücke bringen. Erstaunlicherweise stellt sich bei diesem Zusammentreffen heraus, dass es sich bei Hintze um Lammers verschollenen Bruder Herbert handelt. Durch diese unverhoffte Familienzusammenführung geläutert, schwört Herbert alias Helmut, nun ein neues Leben zu beginnen und auch von seinen finanziellen Forderungen an Rotberg abzusehen. Erich Lammers möchte jedoch nicht darauf verzichten, dass ihm der Bruder die Stätten seiner Tätigkeit als Prostituierter zeigt, damit er sich aus eigener Anschauung ein Bild von dessen ehemaliger Tätigkeit machen kann. Der Besuch der heterosexuellen Brüder an den Orten der homosexuellen Subkultur und der männlichen Prostitution stellt den erzählerischen Mittelpunkt des Textes dar.40 Im Vergleich zu Mackays Roman »Der Puppenjunge« erfolgt eine Abgrenzung zwischen »echter« und »unechter« Homosexualität hier nicht durch die literarische Formung von Begehren und Körperlichkeit, sondern, indem die Leserschaft – geführt von zwei Heterosexuellen als vermeintlich objektiven Beobachtern – an die dunklen und verwerflichen Orte der männlichen Prostitution geleitet wird. Auf diese Weise wird die männliche Prostitution als ein Raum entworfen, der sich deutlich von der restlichen homosexuellen Subkultur abgrenzt. Erste Station ist ein Stricherlokal »in einer spärlich beleuchteten Straße im Zentrum Berlins« (S. 80), wo es über das Verhalten der Prostituierten heißt: »Sie gingen von Tisch zu Tisch, um sich bei den einzelnen Gästen anzubiedern. Frech forderten sie Zigaretten und Bier. Setzten sich genau wie die weiblichen Huren auf den Schoß der Männer und begannen mit Liebkosungen. Gemeine Witze wurden laut erzählt, schweinische Zoten rief man sich von Tisch zu Tisch. Eine einzige Atmosphäre der Sexualität herrschte in diesem Raum.« (S. 81)
Seine Gefährlichkeit erhält der Raum hier dadurch, dass mann-männliche Sexualität sichtbar und sogar atmosphärisch spürbar wird, etwa durch offensichtliche Liebkosungen zwischen Männern und laut erzählte Witze mit schlüpfrigem Inhalt. So verwundert Erich Lammers’ Bewertung des Treibens nicht, als er ausführt: »[D]ie Liebe dieser Burschen kommt mir vor wie das brünstige Werben einer Hirschkuh. Die Männer, die für solche Liebe noch bezahlen, sind doch wohl nicht wert, daß man sie bemitleidet.« (S. 83)
40 | Mit diesem Aspekt des Textes hat sich auch David James Prickett befasst, der anhand eines Vergleichs des Textes von Radszuweit mit Magnus Hirschfelds Werk »Geschlecht und Verbrechen« aus dem Jahr 1930 der Frage nachgeht, »how Weimar Berlin’s homosexual spaces define male homosexual identity« und dabei aufzeigt: »[B]oth authors delineate homosexual spaces to prove the male homosexual’s innocence vis-à-vis the male prostitute’s and the ›new woman’s‹ moral and criminal guilt.« (Vgl. D.J. Prickett: Defining Identity via Homosexual Spaces, S. 134.)
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Anschließend besuchen die Brüder jedoch einen Ball, den die »Organisation der Gleichgeschlechtlichen« (S. 85) veranstaltet – Radszuweits Bund für Menschenrechte war selbst häufig Veranstalter solcher Feste – und hier ergibt sich ein ganz anderes Bild: Hier, so Erich Lammers, »fühlt man sich auch als Normalempfindender wohl. Dieses dezente Benehmen, diese ruhige Art im Umgang miteinander; diese lachenden Gesichter, ob jung, ob alt, alle haben etwas Freundschaftliches, man kann ruhig sagen Familiäres, an sich.« (Ebd.)
Der Bruder ergänzt, dass auch »viele Freundespaare, die schon seit Jahrzehnten miteinander verbunden sind« und die »besonders stolz sind auf ihre gegenseitige Treue, die sie sich ein Leben lang gehalten haben« (S. 86) unter den Gästen seien, so dass Erich Lammers hier nun resümiert: »Wie erhaben und hoch stehen diese Frauen und Männer doch über dem Geschwätz der Normalen, das man über diese Leute verbreitet. Nur Unwissenheit kann solche vagen Behauptungen, daß bei diesen Menschen alles nur auf das Sexuelle eingestellt ist, verbreiten. Ich habe meine Meinung gründlich geändert.« (S. 88)
Die Gefährlichkeit des Raums der männlichen Prostitution wird von Radszuweit im weiteren Verlauf des Textes zusätzlich untermauert, indem er die Brüder ein Transvestiten-Lokal betreten lässt, in dem sich Männer aufhalten, die »als Weiber auf die Straße gehen und sich prostituieren« (S. 92). Abschließend betreten sie ein Lokal, in dem sich minderjährige Strichjungen aufhalten und in dem »ihnen eine Luft entgegenschlug, so stickig und rauchig, daß Erich Lammers unwillkürlich den Atem anhielt« (S. 93). Auf diese Weise erhält der Raum der männlichen Prostitution eine zusätzliche Bedrohlichkeit: In ihm wird gegen die konventionelle Ordnung der Geschlechter und der Generationen verstoßen. Umso deutlicher kann sich die nicht-prostitutive homosexuelle Subkultur als einen Raum darstellen, an dem vorbildliche Werte wie langjährige sexuelle Treue reproduziert werden und wo die Vorstellung einer sexuell besonders triebhaften homosexuellen Persönlichkeit keine Bestätigung findet. Indem sich auch ein »Normalempfindender« hier wohl fühlen kann, verzichtet der Autor Radszuweit als Homosexuellen-Akivist nicht darauf, die homosexuelle Subkultur mit einer heteronormativen Folie zu messen. Auf dieser Weise verdeutlicht er »den Unterschied zwischen den guten und den schlechten Gleichgeschlechtsliebenden« (S. 99) aus heterosexueller Perspektive.
5. Die männliche Prostitution als »literary construct« und die entsexualisierte Homosexualität Die literarische Formung der männlichen Prostitution, das haben die Beispiele der drei Texte gezeigt, diente als Kontrastfolie, vor dessen Hintergrund die Identitätskonzepte gleichgeschlechtlich begehrender Männer umso schärfer und deutlicher sichtbar wurden. Die männliche Prostitution war in der Tat das »An-
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316 | Martin Lücke dere«, das dabei half, homosexuelle Identitäten als das »Eigene« für die Leserschaft erfahrbar zu machen, und wurde auf diese Weise zu einem Feld des Wissens, in dem es nicht primär um die käufliche Sexualität zwischen Männern ging, sondern darum, männliche Homosexualität zwischen sexueller Triebhaftigkeit auf der einen und einer sozialverträglichen Sexualitätsform auf der anderen Seite zu verorten. Betrachtet man die untersuchten Texte in zeitlicher Dimension, so zeigt sich, dass das Pendel hierbei eindeutig in Richtung eines sozialverträglichen Homosexualitätskonzepts ausschlug. Der Industrielle Muxberg muss 1908 noch daran scheitern, dass das Praktizieren von mann-männlicher Sexualität nur im gefährlichen Raum der männlichen Prostitution stattfinden kann. Die Autoren der Weimarer Zeit entwerfen vermeintlich selbstbewusstere Identitätskonzepte für ihre Protagonisten, indem sich etwa Hermann Graff deutlich von prostitutiver Sexualität und gleichzeitig von einem effeminisierten Homosexualitätskonzept abgrenzt oder indem die »normalveranlagten« Lammers-Brüder gerade an die Orte der homosexuellen Subkultur geführt werden, an denen Werte wie sexuelle Treue und langjährige Partnerschaft praktiziert und auf diese Weise reproduziert werden. Nur vermeintlich selbstbewusster waren diese Identitätsofferten, weil die literarischen Charaktere und die subkulturellen Räume entsexualisiert und im Sinne der konventionellen Geschlechterordnung geschlechtlich normiert wurden. Erst also, indem das Sexuelle und geschlechtlich Deviante an der Homosexualität unsichtbar wurde, konnte gleichgeschlechtliches Begehren zu einer positiv erfahrbaren Identität werden. Sichtbar hingegen blieb das Sexuelle und geschlechtlich Deviante mit seinen triebhaft-gefährlichen Charakterzügen in der männlichen Prostitution. Sie blieb – narrativ sauber von »echter Homosexualität« getrennt – ein Erfahrungsraum für Lust und Begehren, ohne die Utopie einer Sozialverträglichkeit der »echten Homosexualität« zu beschmutzen und in Frage zu stellen.
Literatur Primärliteratur Das Freundschaftsblatt. Offizielles Publikationsorgan des »Bundes für Menschenrecht, e.V.«, Berlin, Jg. 1 (1922) bis Jg. 11 (1933), wöchentliche Erscheinungsweise. Mackay, John Henry (Sagitta): Der Puppenjunge. Die Geschichte einer namenlosen Liebe aus der Friedrichstraße, 1. Auflage Berlin 1926, unveränderter Nachdruck Hamburg/München 21975, Freiburg i.Br. 31977, Berlin 41999. N.N.: Liebchen. Ein Roman unter Männern, Leipzig/Wien 11908, Reprint Berlin 2 1995. Radszuweit, Friedrich: Männer zu verkaufen. Ein Wirklichkeitsroman aus der Welt der männlichen Erpresser und Prostituierten, Berlin 11931, Leipzig 61932.
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Prostitution. Verhinderung oder Ermöglichung sexueller Gewalt? | 319
Prostitution, eine Verhinderung oder Ermöglichung sexueller Gewalt? Spannungen in kulturellen Konstruktionen von männlicher und weiblicher Sexualität Sabine Grenz
Nach wie vor wird über die heterosexuelle Prostitution, in der Frauen sexuelle Dienste leisten und Männer dafür bezahlen, heftig debattiert. Eines der radikalsten Argumente gegen die Prostitution ist, dass es sich dabei um eine gekaufte Vergewaltigung handele.1 Einer solchen Auffassung nach wäre die Prostitution ein System, das grundsätzlich Vergewaltigungen ermögliche. Dem wird von Prostitutionsbefürworter/-inne/-n ein ebenso extremes Argument entgegengehalten, nämlich, dass die Prostitution Vergewaltigungen verhindere, indem sie Männern die Möglichkeit gäbe, ihren »Sexualtrieb« sozialverträglich befriedigen zu können. Obwohl sich die Positionen diametral gegenüberstehen, sind sie sich in manchen Aspekten doch sehr nah, denn zunächst gehen beide von einem negativen Männlichkeitsbild aus, in dem Männer gewalttätig werden, wenn sie ihren Trieben nicht folgen können, bzw. nur das Ziel verfolgen, egoistisch ihren Lüsten folgen zu können.2 Denn was sonst bedeutet die Rede vom »starken männlichen Sexualtrieb«, der jederzeit eine Möglichkeit zur Abfuhr benötigt, anderes, als dass die potentielle Gewalt an so genannten »soliden« Frauen stellvertretend an Prostituierten ausgelebt wird?
1 | Vgl. z.B. Sheila Jeffreys: »Prostitution as a Harmful Cultural Practice«, in: Christine Stark/Rebecca Whisnant (Hg.), Not for Sale. Feminists Resisting Prostitution, Melbourne (Australien) 2004, S. 386-399; Janice G. Raymond: »Prostitution as Violence Against Women: NGO Stonewalling in Bejing and Elsewhere«, in: Women’s Studies International Forum, 21/1 (1998), S. 1-9. 2 | Im zweiten Fall betrifft das natürlich nur die individuellen Männer, die tatsächlich zu Sex-Arbeiterinnen gehen, während im ersten Männer als Kollektiv gemeint sind.
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320 | Sabine Grenz Noch viel weiter geht jedoch die Übereinstimmung in der Kulturgeschichte der Vergewaltigung. In der Frühen Neuzeit umschrieb der Begriff zunächst den Tatbestand des Raubes einer Frau3, ab dem 17. Jahrhundert wurde darunter die Verletzung der (sexuellen) Ehre einer Frau gefasst.4 Die sexuelle Integrität einer Frau war an die Familie gebunden, weshalb die Vergewaltigung einem »Ehrenraub« gleichkam, der die gesamte Familie betraf. Auch damit wurde bei der Vergewaltigung gewissermaßen Eigentum verletzt.5 Dies geschah, indem in den Körper der Frau und damit in den Körper der Familie oder des Volkes eingedrungen bzw. derselbe erobert wurde. Ähnlich beschreiben radikale Prostitutionsgegnerinnen nun das, was mit der Prostituierten heute geschieht.6 Es wird in ihren Körper eingedrungen und er wird kolonialisiert.7 D.h., das, was sonst in der Vergewaltigung geschieht, geschieht in der Prostitution gleichermaßen, lediglich jedoch in bezahlter Form. Die andere Position ist dazu komplementär, denn der Mann, der bezahlen kann, raubt nicht mehr. Hinzu kommt, dass beide Positionen die Frau als passives Objekt beschreiben. Erstere als Objekt von Gewalt, letztere als Objekt eines Triebes, der sich gewaltsam entlädt, wenn er nicht befriedigt wird. Dieser Konstruktion der potentiellen und tatsächlichen sexuellen Gewalt soll in diesem Artikel erneut betrachtet werden. Dabei wird beiden Extremen nachgegangen werden. Dies geschieht zum einen anhand von Studien anderer Autor/-inn/-en sowie von Theorien über die Prostitution, zum anderen anhand meines eigenen empirischen Materials. Dieses stammt aus einer Studie narrativer Interviews mit 19 männlichen heterosexuellen Freiern, die ich 2001 überwiegend in Berlin durchgeführt habe.8 Die Probanden stammten aus unterschiedlichen sozialen Schichten, waren alleinstehend oder verpartnert und unterschiedlichen Alters.9
3 | Vgl. Angela Koch: »Die Verletzung der Gemeinschaft. Zur Relation der Wortund Ideengeschichte von ›Vergewaltigung‹«, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften, 15/1 (2004), S. 37-56, hier S. 39. 4 | Vgl. Gesa Dane: ›Zeter und Mordio‹. Vergewaltigung in Literatur und Recht, Göttingen 2005, S. 37. 5 | Vgl. ebd., S. 29. 6 | Vgl. z.B. Julia O’Connell Davidson: Prostitution, Power and Freedom, Cambridge (GB) 1998, S. 118ff.; Christine Stark/Rebecca Whisnant (Hg.): Not for Sale. Feminists Resisting Prostitution, Melbourne (Australien) 2004; Teela Sanders: Sex Work. A Risky Business, Devon (GB) 2005. 7 | Vgl. z.B. Andrea Dworkin: »Pornography, prostitution, and a beautiful and tragic recent history«, in: C. Stark/R. Whisnant (Hg.), Not for Sale, S. 137 und die Diskussion in J. O’Connell Davidson: Prostitution, Power and Freedom, S. 122f. 8 | Vgl. Sabine Grenz: (Un)heimliche Lust. Über den Konsum sexueller Dienstleistungen, Wiesbaden 2005. 9 | Vgl. ebd., S. 41.
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Prostitution als System bezahlter sexueller Gewalt Der Gedanke, die Prostitution sei ein System organisierter und bezahlter Vergewaltigung, entsteht durch die Verknüpfung verschiedener Aspekte. Zum einen bezieht er sich auf die Kritik am Patriarchat. Der Begriff »Patriarchat« beschreibt die ausbeuterische Beziehung der Geschlechter und die Unterwerfung von Frauen, die Männern den unbeschränkten Zugang zu weiblichen Körpern garantiert.10 Prostitution wurde dadurch konzeptionell mit der Arbeitsteilung und dem Ehevertrag verbunden.11 Diese Sichtweise gipfelt in der Auffassung, dass im Grunde jede Frau (die ökonomisch von einem Mann abhängig ist) Prostituierte ist.12 Denn in beiden sozialen Einrichtungen, Ehe und Prostitution, drückt sich das männliche Recht aus, auf weibliche Körper zuzugreifen.13 In dieser Herangehensweise geht es weniger um die individuelle Interaktion zwischen einer Hure und ihrem Freier als um den ausbeuterischen Charakter der Institution Prostitution. Besonders wichtig ist dabei, dass männliche Privilegien durch die Form individueller Verträge zwischen Prostituierten und Freiern verschleiert werden.14 Denn der individuelle Vertrag nährt die Illusion, zwei strukturell Gleichgestellte kämen miteinander überein.15 Weitere Aspekte hängen mit dem Ruf zusammen, der der Prostitution voraneilt, nämlich ein Produkt von Armut zu sein und ein System darzustellen, in dem Frauen von Dritten (z.B. Zuhältern) zu sexuellen Dienstleistungen gezwungen werden. Dieser Ruf zeigt sich quasi in der gesamten geschichtswissenschaftlichen Aufarbeitung des Themas. Denn abgesehen von ganz frühen Erscheinungen der Prostitution, wie etwa der (so genannten) heiligen Prostitution, die auch von Frauen aus höheren Schichten ausgeübt wurde, stammten zumindest die registrierten Prostituierten – egal zu welcher Periode – überwiegend aus unteren Schichten.16 In geschichtswissenschaftlichen Arbeiten über die Antike wird zudem immer wieder betont, dass Sklavinnen zur Prostitution gezwungen wurden.17 Dass freie Frauen in der Prostitution zu arbeiten begannen, wird auch für das Römische Reich damit begründet, dass es für die weibliche Bevölkerung zu wenige lukrative Arbeitsplätze neben der Prostitution gab.18 Im 19.
10 | Vgl. Carole Pateman: The Sexual Contract, Cambridge 1988, S. 189. 11 | Vgl. ebd., 194. 12 | Vgl. Rose-Marie Giesen/Gunda Schumann: An der Front des Patriarchats. Bericht vom langen Marsch durch das Prostitutionsmilieu, Bensheim 1980, S. 20. 13 | Vgl. C. Pateman: The Sexual Contract, S. 189. 14 | Vgl. ebd.; J. O’Connel Davidson: Prostitution, Power and Freedom, S. 125. 15 | Vgl. ebd., S. 125. 16 | Vgl. Sybille Krafft: Zucht und Unzucht. Prostitution und Sittenpolizei im München der Jahrhundertwende, München 1996; Bettina Eva Stumpp: Prostitution in der römischen Antike, Berlin 2001; Philipp Sarasin: Reizbare Maschinen. Eine Geschichte des Körpers 1765-1914, Frankfurt am Main 2001. 17 | Vgl. B. E. Stumpp: Prostitution in der römischen Antike, S. 31. 18 | Vgl. ebd., S. 32.
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322 | Sabine Grenz Jahrhundert, »dem Zeitalter der Prostitution«19, war das nicht wesentlich anders. Die Frauen waren vorher Fabrikarbeiterinnen20, arbeiteten in privaten Haushalten21 oder waren Kellnerinnen22, alles Tätigkeiten, von denen allein sie nicht leben konnten. Auch Krafft kommt nach der Durchsicht der Polizeiakten aus München um die Jahrhundertwende zu dem Schluss, dass »[ö]konomische Motive wie Geldnot, Arbeitslosigkeit und geringer Verdienst […] die hauptsächlichen Beweggründe dar[stellten]«.23 Heute stellt sich die wirtschaftliche Situation von Frauen in Deutschland zwar besser dar, dennoch zeigt sich nach wie vor ein deutliches Missverhältnis im Einkommen von Männern und Frauen. So sind z.B. nur »5% der Spitzenpositionen in der Wirtschaft, die mit einem überdurchschnittlichen Einkommen entgolten werden«, von Frauen besetzt:24 »1993 waren 64% der Deutschen ohne eigenes Einkommen Frauen. Nur ca. 27% konnten ihre Existenz mit ihrem eigenen Einkommen sichern […] 54,3% aller erwerbstätigen Frauen einschließlich der Selbständigen hatten in Westdeutschland ein Gesamtnettoeinkommen von weniger als 1800,-- DM (Männer im Vergleich: 13,5%).«25
Obwohl sich Prostituierte und Prostituierten-Organisationen seit den 1980ern immer wieder gegen diesen Ruf der Prostitution zur Wehr gesetzt haben und hervorhoben, dass sie nicht Opfer seien und sich freiwillig zu dieser Tätigkeit entschieden hätten,26 kann immer noch nicht ausgeschlossen werden, dass der
19 | P. Sarasin: Reizbare Maschinen, S. 9. 20 | Vgl. Claudia Moritzi: »Freudenmädchen für Börsenhaie. Das Einnahmebüchlein einer Luxusprostituierten«, in: Philipp Sarasin/R. Bochsler/P. Kury (Hg.), Wertes Fräulein, was kosten Sie? Prostitution in Zürich 1875 – 1925, Baden 2004, S. 40-45, hier S. 42. 21 | Vgl. Melanie Furrer: »›Darum prüfe, wen du anstellst!‹ Das Bordellbuch ›Zum Prüfstein‹«, in: Philipp Sarasin/R. Bochsler/P. Kury (Hg.), Wertes Fräulein, was kosten Sie?, S. 46-51, hier S. 48. 22 | Vgl. Natalie Avanzino: »›Ich verkehrte geschlechtlich mit demselben und erhielt zwei Franken Trinkgeld‹. Die Zürcher Kellnerinnen und ihre Nähe zur Prostitution«, in: P. Sarasin/R. Bochsler/P. Kury (Hg.), Wertes Fräulein, was kosten Sie?, S. 58-63, hier S. 59. 23 | S. Krafft: Zucht und Unzucht, S. 114. 24 | Birgitta Wrede: »Frauen und Geld. Ein besonderes Verhältnis? Erklärungsversuche eines denkwürdigen Phänomens«, in: dies. (Hg.), Geld und Geschlecht. Tabus, Paradoxien, Ideologien, Opladen 2003, S. 46-66, hier S. 48. 25 | Ebd. 26 | Z.B. Petra Schmackpfeffer: Frauenbewegung und Prostitution, Dissertation Universität Oldenburg 1989 http://www.bis.uni-oldenburg.de/bisverlag/schfra 89/inhalt.html, gesehen am 19.09.2006, auch einige der Prostitution kritisch gegenüberstehenden Feministinnen stellen den Opferstatus in Frage: z.B. R.-M. Giesen/G. Schumann: An der Front des Patriarchats; J. O’Connell Davidson: Prostitution, Power and Freedom, 109ff.
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Umstand geringerer Verdienste und langweiligerer Berufstätigkeiten entscheidende Faktoren ausmachen.27 Zudem sind inzwischen schätzungsweise 60% der Prostituierten Migrantinnen, die ohnehin schlechtere Chancen auf gut bezahlte Arbeitsplätze haben.28 Außerdem sind schätzungsweise 30%-40% der in der Prostitution arbeitenden Frauen illegalisiert, sie haben keine Arbeitserlaubnis, und häufig ist auch die Aufenthaltsgenehmigung abgelaufen.29 Illegalisierte Frauen kommen aus Entwicklungs- bzw. Schwellenländern, in denen die Einkommensmöglichkeiten für sie gering sind. Dieser Umstand bedeutet aber weder, dass dies die einzigen Gründe dafür wären, dass Frauen aus höheren Schichten in der Prostitution weniger sichtbar sind, noch dass die Frauen lediglich zu Opfern geworden wären, oder dass ihr Leben in der Prostitution nicht zu elementaren Verbesserungen für sie geführt hätte. Dennoch steht diese Problematik der formalen Gleichberechtigung und dem Recht auf freie Berufswahl diametral gegenüber. Wäre dieses Recht soziale Realität, so könnte davon ausgegangen werden, dass für alle Frauen, die mit Sex-Arbeit ihr Geld verdienen, die Sex-Arbeit ihre erste Wahl wäre. Angesichts des wirtschaftlichen Missverhältnisses zwischen Männern und Frauen sowie unterschiedlichen Schichten und dem ökonomischen Ungleichgewicht zwischen Westen und Osten bzw. Norden und Süden, ist aber nicht von diesem Idealfall auszugehen. Hinzu kommt, dass Prostitution für ihre Konsumenten nicht nur der Freizeitgestaltung dient, sondern auch für berufliche bedingtes Socialising eingesetzt wird. In der hier zugrunde liegenden Studie mit männlichen heterosexuellen Freiern sprachen drei Männer über Prostitutionserfahrungen im Zusammenhang mit ihrer Berufstätigkeit. Einer (Ralf) war als Ingenieur im Außendienst tätig. Er erzählte mir, dass bei manchen Kunden bereits eine Sex-Arbeiterin für ihn bestellt sei bzw. bereits auf ihn warte, wenn er im Hotel ankäme. Ein anderer (Paul), der eine Maklerfirma besitzt, erzählte mir davon, dass Bauabschlüsse regelmäßig im Bordell gefeiert würden. Der dritte (Stephan) war Personalentwickler in einer großen Firma und für die Einstellung von Managern fürs gehobene Management zuständig. Er sprach davon, dass es zwei Arten von Geschäftsessen gäbe, mit und ohne Gattin. Nach den Geschäftsessen, die ohne Gattin stattfänden, sei es durchaus im Rahmen, anschließend ins Bordell zu gehen. Aus diesem Grund könne auch ein Vorstellungsgespräch den Bordellbesuch einschließen, um auszuprobieren, wie sich der Kandidat in dieser Umgebung bewege und ob er in die Firma passe. Die entscheidende Frage dabei sei 27 | Vgl. R.-M. Giesen/G. Schumann: An der Front des Patriarchats, S. 33f. Die dort interviewten Sex-Arbeiterinnen stammten überwiegend nicht aus der Unterschicht, sind aber auch aus finanziellen Gründen Sex-Arbeiterinnen geworden. Vgl. auch Heinrich W. Ahlemeyer: Geldgesteuerte Intimkommunikation. Zur Mikrosoziologie heterosexueller Prostitution, Gießen 2002 (1996), S. 107f. 28 | Vgl. Heike Rudert: Podiumsbeitrag der Kriminaldirektorin, LKA 22 zur Diskussion »Frauenhandel. Das europäische Gesicht der Sklaverei«, anlässlich des Internationalen Frauentages, Bundestagsfraktion der PDS, Abgeordnetenhaus, Berlin 2004. 29 | Vgl. ebd. und den Artikel von Kathrin Schrader in diesem Band.
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324 | Sabine Grenz nicht, ob er mit einer Sex-Arbeiterin aufs Zimmer gehe oder nicht, sondern ob er grundsätzlich damit umgehen könne, dass Bordelle besucht werden. Alle drei Erzählungen deuten darauf hin, dass Frauen von den entsprechenden beruflichen Positionen ausgeschlossen werden. Im ersten Falle würde wahrscheinlich einfach keine Prostituierte bestellt, wenn eine Frau die Ingenieurin wäre, oder man ließe eventuell einen männlichen Sex-Arbeiter kommen. Im zweiten und dritten Fall sieht die Sache allerdings anders aus. Es ist offensichtlich, dass Paul in seiner Firma und auch die Unternehmen, mit denen er Verträge abschließt, keine Frauen in Positionen einstellen, von denen aus sie ein »Anrecht« darauf hätten, mit eingeladen zu werden. Frauen als Angestellte kamen in seiner Erzählung überhaupt nicht vor. Dasselbe gilt für Stephan. Es schien überhaupt nicht in Frage zu kommen, eine Frau für diese Position einzustellen. Geschäftsessen finden nicht mit oder ohne Gatten, sondern mit oder ohne Gattin statt. In allen drei Interviews wurden diese Geschäftspraktiken als völlig normal dargestellt. Die Beziehung zwischen diesen Erzählungen und den oben erwähnten Beschäftigungszahlen von Frauen springt geradezu ins Auge. Es entsteht der Eindruck, dass andere Arbeitsfelder in entscheidender Weise durch die Prostitution am Leben erhalten werden und dass dies auf Kosten von Frauen geht, die auch aus diesem Grund nur erschwert Zugang zu bestimmten Arbeitsfeldern erlangen können. Dadurch wird das gesamte Niveau der Frauenarbeit niedrig gehalten, und das führt wieder dazu, dass mehr Frauen dazu bereit sind, in der Prostitution zu arbeiten – wenn auch nicht in Vollzeit, sondern nur nebenberuflich, um die niedrigen Verdienste in anderen Sparten aufzubessern. Die häufig zitierte »Freiwilligkeit« wird dadurch zumindest eingeschränkt. Sie besteht eher in einer bewussten rationalen als einer »freien« Entscheidung.30 Dennoch stellt sich die Frage, ob es sich bei der Prostitution um bezahlte Vergewaltigungen handelt oder um sexuelle Dienstleistungen, also um Arbeit. Bei vielen Studien besteht das Problem darin, dass in erster Linie Frauen befragt wurden, die auf dem Straßenstrich arbeiten und dadurch größeren Gefahren ausgesetzt sind.31 Dabei wurde (und wird) zudem häufig der Opfercharakter der Frauen in den Vordergrund gestellt.32 Andrijasevic plädiert dafür, selbst gehandelte Frauen, die zunächst für einen »Zuhälter« gearbeitet haben, nicht einfach als Opfer zu bezeichnen, da der Begriff »Opfer« Passivität impliziert, die Frauen hingegen aktiv mit ihrer Lebenssituation umgegangen sind und umgehen (z.B. indem sie so genannte »Dritte« einfach verlassen und anschließend für sich selbst in der Prostitution arbeiten).33 In Studien über Prostitution, in denen Frauen befragt wurden, die nicht auf dem Straßenstrich, sondern in Wohnun30 | Vgl. T. Sanders: Sex Work, S. 38. 31 | Vgl. ebd., S. 10. 32 | Z.B. Alexandra Geissler: Gehandelte Frauen. Menschenhandel zum Zweck der Prostitution mit Frauen aus Osteuropa, Berlin 2004 (ISIS). 33 | Vgl. Rutvica Andrijasevic: Trafficking in women and the politics of mobility in Europe, 2004, http://igitur-archive.library.uu.nl/dissertations/2005-0314-013009/index.htm, gesehen am 15.09.2006, S. 4-5.
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gen und Bordellen arbeiten, wird ebenfalls hervorgehoben, dass die Frauen ihre Sexualität zur Arbeit einsetzen und sich nicht passiv vergewaltigen lassen, sondern sich vor Gewalt jeglicher Art schützen.34 Wird also allgemein von Vergewaltigung im Zusammenhang mit Prostitution gesprochen, so werden Frauen, die sich aufgrund ihrer Lebensbedingungen oder ihres Interesses an dieser Arbeit dazu entschlossen haben, Sex-Arbeiterinnen zu werden, erneut pathologisiert.35 Die endgültige Beantwortung dieser Frage hängt entscheidend von der Einstellung der jeweiligen Frau zu ihrer Tätigkeit und der Interaktion zwischen Sex-Arbeiterin und Freier ab. Sie hängt auch davon ab, wie die Frage beantwortet wird, ob es grundsätzlich möglich sein kann, mit Sex zu arbeiten, also insofern aktiv mit der eigenen Sexualität umzugehen, um sexuelle Dienstleistung anbieten zu können. Obwohl die Frage der Gewalt nur von der Seite des Opfers aus beantwortet werden kann, da nur das Opfer wissen kann, wann ihm Gewalt angetan wurde und Täter/-innen oft blind gegenüber ihren eigenen Privilegien sind, lohnt es sich doch, das Interviewmaterial mit den männlichen Freiern in die Überlegungen mit einzubeziehen. Denn in dem gesamten Interviewmaterial gab es nur eine Passage, die direkt auf potentielle Gewalt schließen lässt: Hans: Weil die Frauen, die kalkulieren ja knallhart. Die sagen sich: ›Okay, erst mal kommt der Typ und will 20 Minuten für 60 Mark [€ 30]. Vielleicht kriege ich den ja noch irgendwie hochgepuscht auf 100 Mark [€ 50] für eine halbe Stunde.‹ Das läuft denn immer so, ja: ›Heute bin ich ganz zärtlich und ganz lieb zu dir und überhaupt‹. Also, die kühnsten Versprechungen werden dann gemacht. Und im Kopf läuft dann aber die Rechnung eh, na ja: ›Der Durchschnittsmann kommt nach zwei bis drei Minuten.‹ So, also: ›Ich hab den erst mal auf einen Hunderter hoch gehandelt, auf eine halbe Stunde, und dann nach drei Minuten ist das Ding auch abgehakt.‹ So und in dem Moment, wo ihnen mal jemand zeigt, wie lang eine halbe Stunde sein kann, dann fangen die an rumzukotzen, ne. Also dann kann es so sein, nach 10 Minuten spätestens fangen die an: ›Willst du nicht mal fertig werden?‹ Oder: ›Mach hin und komm jetzt endlich mal.‹ Sind total zickig. Und wenn ich dann sage: ›He ich habe für eine halbe Stunde bezahlt.‹ Ja: ›Du musst doch aber nicht eine halbe Stunde.‹ (lacht) So, so und solche Geschichten. Und da kann man sich wirklich richtig anscheißen. Wo ich dann gesagt habe: ›Gut dann will ich die Frauen haben, denen es wirklich Spaß macht oder denen es mit mir Spaß macht.‹ Und dann weiß ich auch genau, die halbe Stunde, die ich bezahlt habe, ist dann auch eine halbe Stunde.
Diese Passage zeigt deutlich, dass Sex-Arbeiterinnen potentiell Gewalt ausgesetzt sind. Denn der Zwang, das Ausgehandelte auf jeden Fall auszuführen, kann mit ihrer sexuellen Selbstbestimmung kollidieren und widerspricht auch 34 | Vgl. R.-M. Giesen/G. Schumann: An der Front des Patriarchats; T. Sanders: Sex Work. 35 | Vgl. S. Jeffreys: »Prostitution as a harmful cultural practice«, S. 392 spricht zum Beispiel Annie Sprinkle an, die in ihren Augen die Gewalt minimieren würde, so als sei gar nichts geschehen. Ihre Fähigkeit in der Sex-Industrie zu arbeiten besteht demnach aus einer Verdrängungsleistung.
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326 | Sabine Grenz dem neuen Prostitutionsgesetz.36 Zudem zeigt diese Passage, dass manche Freier zur Not auch ohne vorheriges Aushandeln ihren Willen durchsetzen können, wenn sie physisch überlegen sind. Sanders vergleicht die Gefahren in der Sex-Arbeit mit jenen, denen auch andere Berufsgruppen wie z.B. Polizisten ausgesetzt sind. Wie diese entwickeln auch Sex-Arbeiterinnen Strategien, sich zu schützen.37 In dem Zitat zeigt sich aber auch, wonach die Probanden gesucht haben. Sie suchten nach Konsens, einer gewissen Gegenseitigkeit oder zumindest der Illusion davon. Genau das unterscheidet sie von Vergewaltigern, denen dieser Konsens gleichgültig ist.38 Das macht die Prostitution aber noch nicht unproblematisch, da es auch bedeuten kann, dass die Frauen zu der Gewalt, die sie erfahren, noch eine gute Miene machen müssen, wie von Klaus angedeutet wird: S.G.: Können sie dich nicht auch ablehnen, wenn du nicht freundlich bist? Klaus: Können sie immer, wenn ich stinke auch, klar, oder Alkoholiker bin, natürlich, aber manchmal können sie es auch nicht, weil sie noch keinen Kunden hatten oder was weiß ich […] Das weißt du nicht. Vielleicht werden sie danach auch verprügelt, wenn sie keinen nehmen. Das weißt du auch nicht. Das ist auch so ein Punkt, den man nicht genau weiß. Kommt drauf an, wo du hingehst. Aber manchmal denkst du, die sind alle dazu gezwungen, das ist Sklavenleben. Ist auch kein gutes Gefühl, so was zu unterstützen.
Obwohl Klaus nicht davon sprach, dass er diese Dienste ablehnen und wieder gehen würde, und Aussagen dieser Art grundsätzlich ambivalent zu deuten sind, wird doch deutlich, dass die Vorstellung, er könnte durch sein Geld Zwangssysteme unterstützen, Unwohlsein hervorruft.39 Ähnlich äußerte sich Hans: Hans: Also ich sag mal, gerade viele Thailänderinnen, die werden ja stellenweise ziemlich ausgebeutet. Die müssen ja Tag und Nacht in ihren Läden hocken, die wirklich stellenweise schlimm aussehen. Und die übernachten da auch. Die haben keine eigene Wohnung, sondern die müssen da wirklich drin wohnen, ne. Dann kam ich da morgens um neun, und die kam noch im Bademantel angelaufen. Sie haben noch geschlafen. Ich hab die geweckt, ne. Und das sind so, so die finsteren Seiten des Milieus, wo ich auch zwischenzeitlich gesehen habe, dass da wirklich stellenweise eine krasse Ausbeutung ist.
Es wird zwar von beiden keine bzw. nur geringfügig Verantwortung übernommen. Andererseits wird deutlich, dass ihnen ein anderes Ideal von Sex-Arbeit 36 | Vgl. Margarete v. Galen: »Das Prostitutionsgesetz. Eine Bewertung aus rechtlicher Sicht«, in: Elisabeth v. Dücker (Hg.), Sexarbeit. Prostitution. Lebenswelten und Mythen, Bremen 2005. 37 | Vgl. T. Sanders: Sex Work, S. 72ff. 38 | Vgl. Carlo Godenzi: Bieder, brutal. Frauen und Männer sprechen über sexuelle Gewalt, Zürich 1989, z.B. S. 46. 39 | Vgl. den Artikel von Martina Löw und Renate Ruhne in diesem Band.
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vorschwebt. So wurde immer wieder angesprochen, dass die Frauen eben arbeiten: Dieter: Nein, auf keinen Fall, nein, weil bei mir ist es ja auch so, Privatleben und Arbeit verbinde ich ja auch nicht in eins. Sicherlich, ich fahre gerne Auto, ist ein Hobby von mir, aber ich glaube nicht, dass eine Frau eh so mannstoll sein kann, dass das ein Hobby ist, also, wenn dann macht sie das unentgeltlich, weil sie eben diesen Mann haben will und nicht, weil der Mann zu ihr kommt. Wissen Sie, was ich meine, wenn die wirklich so mannstoll ist, dann nimmt sie sich einen und dann geht es los. Aber, bei denen ist es nun so, man bezahlt dafür. Ich denke mal, die macht nur ihren Job. Warum sie den macht und weshalb, ist alles nebensächlich.
Diese Passagen machen deutlich, dass die Probanden wenigstens bemüht sind, zwischen ihrer eigenen Lust und der Situation der Sex-Arbeiterin zu unterscheiden. Ihr »Ideal« ist eine Frau, die selbstständig arbeitet, mit der sie verhandeln können. Allerdings bestehen sie darauf, dass das Verhandelte dann auch eingehalten wird. Das beinhaltet – wie ich oben ausgeführt habe – potentielle Gewalt. Häufig wurde von den Probanden angesprochen, dass es sicher kein »leichter Job« sei, als Prostituierte zu arbeiten. In diesem Zusammenhang stehen auch Passagen, in denen darüber gesprochen wurde, dass die Frauen sich selbst oder ihre Seele verkaufen: Christian: […] eigentlich ist es ja ein Schweinejob, was die Frau da macht. Die verkauft sich ja selbst sozusagen bzw. auch einen Teil von ihrer Seele, wenn sie sich da prostituiert.
Oder: Hans: Und eh der Mechanismus bei diesen Frauen ist aber eh, sie machen es wegen Geld, ganz einfach, ne. Und wenn sie es nur wegen Geld machen, sind sie nach ungefähr zwei bis drei Jahren tot. Man kuckt denen in die Augen und weiß genau, da ist kein Leben mehr. Die sind einfach tot, ne. Und deshalb: Entweder die hören früh genug auf, das machen die nicht, denn die wollen ja viel Geld, oder sie werden darüber, ich sag mal, seelisch sterben.
In den Augen dieser beiden Probanden verliert eine Prostituierte ihre seelischen, mentalen Eigenschaften und Energien, da diese untrennbar mit den sexuellen Diensten verbunden sind. Dies erinnert nicht nur daran, dass eine Frau eben nicht beides (Geld und Sex) haben kann. Es erinnert auch an stereotype Vorstellungen von Weiblichkeit, in denen Weiblichkeit mit natürlichen Zuständen und Undifferenziertheit assoziiert wird. Dies findet sich auch in den Arbeiten des Soziologen Simmel über die Philosophie des Geldes (zu Beginn des 20. Jahrhunderts).40 Darin vermutet Simmel die Frau als »mit dem dunklen Ur-
40 | Vgl.: Georg Simmel: Philosophie des Geldes, Köln 2001 (1920).
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328 | Sabine Grenz grund der Natur«41 enger zusammenhängend, was dazu führt, dass »ihr Wesentlichstes und Persönlichstes eben auch noch kräftiger in jenen natürlichsten, allgemeinsten, die Einheit der Art garantierenden Funktionen [wurzelt]«: »Und es folgt weiter, daß jene Einheitlichkeit des weiblichen Geschlechts, die das, was allen gemeinsam ist, weniger scharf von dem, was jede für sich ist, unterscheidet – daß diese sich in der größeren Einheitlichkeit des Wesens jeder einzelnen Frau für sich spiegeln muß. Die Erfahrung scheint zu bestätigen, daß die einzelnen Kräfte, Qualitäten, Impulse der Frau psychologisch unmittelbarer und enger zusammenhängen als beim Manne, dessen Wesensseiten selbständiger ausgebildet sind, so daß Entwicklung und Schicksal jeder einzelnen von dem jeder anderen relativ unabhängig sind. Das Wesen der Frau aber lebt – so kann man wenigstens die allgemeine Meinung über sie zusammenfassen – vielmehr unter dem Zeichen des Alles oder Nichts, ihre Neigungen und Betätigungen stehen in engeren Assoziationen, und es gelingt leichter bei ihnen als bei Männern, die Gesamtheit des Wesens mit allen seinen Gefühlen, Wollungen, Gedanken von einem Punkt aus aufzuregen. Wenn sich dies so verhält, so liegt eine gewisse Berechtigung in der Voraussetzung, daß die Frau mit dieser einen zentralen Funktion, mit der Hingabe dieses einen Teils ihres Ich, wirklich ihre ganze Person vollständiger und unreservierter dahingegeben habe, als der differenziertere Mann es bei der gleichen Gelegenheit tut.«42
Diese Passage enthält sozusagen den Nukleus der Prostitution: Frauen werden als der Natur näher stehend und weniger differenziert gesehen. Die Frauen in der Prostitution sind ganz und gar, was sie tun, während Männer Sex mit ihnen haben können, ohne davon weiter beeindruckt zu sein. D.h., dass eine Frau, die als Prostituierte arbeitet, mit dem Sex beständig ihr Innerstes verkauft. All das hängt mit den bürgerlichen Geschlechterbildern zusammen, die die Natur der Frau als Liebe darstellen: Sie erlöse den Mann, während er von »Natur« aus triebgebunden sei.43 Beide Freierpassagen bezeugen also die Gespaltenheit von Natur und Kultur, Körper und Geist, wie sie sich in der europäischen Kulturgeschichte herausgebildet hat. Obwohl sich also Geschlechterbilder ändern, und es heutzutage schwerer fällt, Frauen als der Natur näher stehend und undifferenzierter als Männer zu bezeichnen, werden bestimmte Aspekte weitergeführt. Dies ist vor allem in meinem Interviewmaterial der Fall, in dem die Männer einen ganz klaren Sinn davon vermitteln, was für sie männlich und weiblich ist. Dabei wird von vielen Probanden sehr deutlich zwischen beiden Geschlechtern unterschieden44, wie z.B. von Wolf: »Frau und Mann sind so verschieden wie Sonne und Mond, wie Feuer und Wasser«. Außerdem distanzieren sich die Männer überwiegend von den als weiblich deklarierten Eigenschaften, was als verdeckte und
41 | Ebd., S. 415. 42 | Ebd. 43 | Vgl. Maria Wolf: »… quasi irrsinnig.« Nachmoderne Geschlechter-Beziehung, Pfaffenweiler 1995, S. 40f. 44 | Vgl. S. Grenz: (Un)heimliche Lust, S. 104ff.
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nicht voll bewusste Homophobie interpretiert werden kann, da der »weibische« Mann immer auch der schwule Mann ist. Dieser Umstand macht die Distanzierung und die Abwertung weiblicher Eigenschaften notwendig, um die eigene heterosexuelle Geschlechtsidentität zu reproduzieren. Es gibt aber noch eine weitere Interpretationsmöglichkeit, die mit der Konstruktion der Sexualität als innersten Kern unserer Wahrheit zusammenhängt.45 Denn wenn man seine eigene Sexualität verkauft, verkauft man sich logischerweise ganz. Das beinhaltet auch, dass die andere Person einen/eine dann ganz kauft und dann eben nach Gutdünken mit einem/einer verfahren kann. Diese Perspektive ist auch deswegen plausibel, weil Hans selbst eine zeitlang als Prostituierter gearbeitet hat. Er hörte damit auf, weil er sexuelle Praktiken durchführen musste, die er nicht mit sich vereinbaren konnte. Er reflektiert hier also eventuell auch seine eigenen Erlebnisse. Es kann aber auch, unabhängig von dieser Erfahrung, von den anderen Probanden ebenfalls in diesem Sinne gemeint sein. Es laufen also verschiedene diskursive Stränge zusammen, die zum einen mit geschlechtsspezifischer Symbolik (und der Doppelmoral) und zum anderen mit der Einstellung zur Sexualität in generellerem Sinne zusammenhängen. Folgt man der Ansicht Simmels oder geht man davon aus, dass sexuelle Identität für jede/-n Einzelne/-n zur innersten Wahrheit geworden ist, so erscheint es unmöglich, dass Frauen Sex als Dienstleistung anbieten, da sie sich damit ja gleich selbst verkaufen. Es stellt sich daher die Frage, ob radikale Feministinnen wie Jeffreys, die nicht zwischen verschiedenen Formen und Situationen der Prostitution unterscheiden möchte46, nicht eben von diesem Frauenbild und diesen Vorstellungen über Sexualität beeinflusst sind. Denn in ihrem Artikel, in dem sie Prostitution als schädliche kulturelle Praktik darstellt, geht Jeffreys auch auf die Schamgefühle einer Prostituierten ein sowie das Gefühl, einen schmutzigen Körper zu haben.47 Beide Äußerungen können Ausdruck traditioneller Weiblichkeitsvorstellungen sein, was nicht notwendigerweise auf konkrete sexuelle Gewalt hindeutet, sondern auf den »innerlichen« Zusammenbruch der Geschlechterordnung hinweisen kann. Denn in der Prostitution werden ohne Frage herrschende Geschlechtsnormen und der ihnen innewohnende Sexismus reproduziert.48 Die Sex-Arbeiterin bietet nicht nur eine rein körperliche Dienstleistung an. Sie nimmt den Freier sexuell an, wie er ist und »erlöst« ihn gewissermaßen von emotionalen wie sexuellen Mangelzuständen. D.h., sie dient ihm als emotionale Ressource, eine Funktion, die wir üblicherweise mit Mutterschaft verbinden. Gleichzeitig aber findet sie durch die herrschende Doppelmoral keinen Platz mehr in dieser Geschlechterordnung, zumindest keinen, der ihr Selbstwert verleihen könnte. Sie ist marginalisiert und stigmatisiert als
45 | Vgl. Michel Foucault: Der Wille zum Wissen, Sexualität und Wahrheit Bd. 1, Frankfurt am Main 1997 [1983]. 46 | Vgl. S. Jeffreys: »Prostitution as a harmful cultural practice«, S. 387 u. 396. 47 | Vgl. ebd., S. 392. 48 | Vgl. S. Grenz: (Un)heimliche Lust, S. 229f.
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330 | Sabine Grenz die »Andere«.49 Es ist nicht auszuschließen, dass Freier dies in der Begegnung vermitteln. Die Sex-Arbeiterin befindet sich außerhalb der Gesellschaft, in einem Bereich, den O’Connell Davidson als sozial tot beschrieben hat.50 Es kann daher sein, dass die Paradigmen der Geschlechterordnung in ihr zusammenbrechen und sie damit nicht umgehen kann. Es muss also unbedingt auf das gehört werden, was die jeweilige Frau sagt, da letztlich nur sie entscheiden kann, ob ihr Gewalt angetan wurde oder nicht. Ebenfalls kann nur sie entscheiden, ob und wie sie mit der Reproduktion von Sexismus in der Prostitution umgeht, um damit Geld verdienen zu können.
Prostitution als Mittel der Verhinderung von sexueller Gewalt Nun zur Gegenposition. Dass Prostitution sexuelle Gewalt verhindere, ist eine der am häufigsten geäußerten Behauptungen in diesem Zusammenhang. Der Ausgangspunkt dafür ist der scheinbar unbändige und angeblich biologisch bedingt stärkere »Trieb« von Männern. Dabei wird sich argumentativ an die sexuelle Revolution und die Befreiungsbewegungen sexueller Minderheiten angelehnt, da es ja nur um das Ausleben real existierender Bedürfnisse gehe. Diese Anlehnung geschieht über die Prostituierte, die de facto sexuell marginalisiert wird. So ordnete Rubin in einem Vortrag auf einer Konferenz über weibliche Sexualität zu Beginn der 80er Jahre kommerzielle Sexualität in ihre Liste sexuellen Andersseins ein.51 Sie bezog sich dabei auf Foucault, um ihren konstruktivistischen Standpunkt zu verdeutlichen, und verankerte ihre Theorie darin, dass Foucault Unterdrückung ja nicht grundsätzlich ausschloss. Ihr Ziel war es, »to recognize repressive phenomena without resorting to the essentialist assumptions of the language of libido«.52 Allerdings gelang ihr dies nicht vollständig. Sie sah zwar, dass »as with other aspects of human behaviour, the concrete institutional forms of sexuality at any given time and place are products of human activity«.53 Die Repression wurde von ihr aber so stark in den Vordergrund gestellt, dass sie ganz eindeutig von mehr oder weniger unabänderlichen sexuellen
49 | Vgl. den Artikel von Petra de Vries in diesem Band und R. Andrijasevic: Trafficking in women and the politics of mobility in Europe, S. 140ff. Die Frauen in Andrijasevics Studie ringen mit dem Stigma und der Doppelmoral und distanzieren sich davon, Prostituierte zu sein, da sie diese Tätigkeit ja nur aufgrund materieller Not ausübten, ansonsten aber »anständige« Frauen seien. 50 | Vgl. J. O’Connell Davidson: Prostitution, Power and Freedom, S. 127f.; siehe auch den Artikel von Kathrin Schrader in diesem Band. 51 | Vgl. Gayle Rubin: »Thinking Sex: Notes for a Radical Theory of the Politics of Sexuality«, in: Carole S. Vance (Hg.), Pleasure and Danger. Exploring Female Sexuality, London 1992 [1984], S. 267-318, hier S. 281. 52 | Ebd., S. 277. 53 | Ebd., S. 267.
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Identitäten ausging. Sie kritisierte, dass Sex zu ernst genommen und deswegen unterdrückt würde. Prostitutionsbefürworter/-innen berufen sich auf eben diese Argumentation. So sieht Queen54 die Bedürfnisse der Freier in diesem Licht, die Rubin selbst allerdings an keiner Stelle ausdrücklich in ihre Betrachtungen mit einbezieht. Die Frage, worin sich die Sexualität der Freier genau von den Sexualnormen der Gesellschaft unterscheidet, bleibt von Queen weitgehend unbeantwortet, sie gibt aber ein Beispiel für unterdrückte Sexualität: Nach dem Tod ihres Vaters erfährt sie, dass er ihre Mutter einige Male um Oralsex gebeten hatte, was diese ihm verwehrte. Diese »sex-negative« Einstellung ihrer Mutter führt Queen zu folgender Äußerung: »More than once I’ve wished that my distressingly buttoneddown dad – whose sexual unhappiness rubbed off on everyone in my family – had turned to a whore to let of steam.«55 Für Queens Vater, der hier exemplarisch für alle Männer steht, wäre die Prostitution ihrer Ansicht nach eine Befreiung gewesen, da dort auch sein Bedürfnis befriedigt worden wäre. Daraus folgt, dass Sexualität zwanghaft zu sein scheint und im Falle des Unbefriedigtseins zum Schaden für sich selbst und andere führen kann. Männern (und Frauen) sollte daher die Freiheit gegeben werden (die sie an vielen Orten dieser Welt ohnehin schon haben), jederzeit eine Prostituierte aufsuchen und die gewünschte Art von Sexualität ausleben zu können, da sich ihre sexuellen Energien ansonsten ins Negative wenden. Sexualität gehört demnach zur unveränderlichen Identität und nimmt Schaden, wenn sie nicht ausgelebt werden kann. Dies findet sich auch in dem Interviewmaterial: S.G.: Also Sie empfinden das nicht als Untreue? Dieter: […] Nicht unbedingt, nicht unbedingt. Sicherlich, als Untreue, na klar, aber in diesem Fall sehe ich mich in einer Notsituation. Mich selbst, na ja, dass ich halt nicht irgendwelchen Mist mache, mache ich es lieber so.
Bemerkenswert ist die Wendung Queens, »to let of steam«, die an die im 19. Jahrhundert weit verbreitete Auffassung des Triebes analog zum Dampfkessel erinnert, die von Freud dann differenzierter dargestellt wurde.56 Genau diese Vorstellung des Triebes ist es, die den Gedanken, die Prostitution verhindere sexuelle Gewalt, erst ermöglicht. Denn durch sie wird nahegelegt, dass sich sexuelle Energie solange aufstaue, bis sie nicht mehr gehalten werden könne und sich in einer Gewalttat entlädt. Diese Vorstellung wird von der zeitgenössischen Sexualmedizin jedoch nicht mehr geteilt.57 Unter »Trieb« wird heute ein phy54 | Carol Queen: »Sex Radical Politics, Sex-Positive Feminist Thought, and Whore Stigma«, in: Jill Nagle (Hg.), Whores and Other Feminists, New York/ London 1997, S. 125-135, hier S. 125. 55 | C. Queen: »Sex Radical Politics, Sex-Positive Feminist Thought, and Whore Stigma«, S. 131. 56 | Vgl. Gunter Schmidt: Das neue Der Die Das, Gießen 2005. 57 | Vgl. Klaus M. Beier/Hartmut A.G. Bosinski/Uwe Hartmann/Klaus Loewit: Sexualmedizin, München 2001, S. 196f.
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332 | Sabine Grenz siologischer Prozess verstanden, der eine »Grundenergie«58, also die grundsätzliche Potenz sexuellen Verlangens darstellt, und zwar für Männer wie für Frauen. Er ist an der Entstehung sexueller Fantasien »beteiligt«59, wird aber nicht als Ursache benannt.60 Damit es zu einer sexuellen Handlung kommen kann, müssen noch zwei weitere Ebenen hinzukommen, die psychologische und soziale bzw. kulturelle. Aus der psychologischen Ebene ergibt sich eine sexuelle Motivation und die sozialen wie kulturellen Faktoren lassen den Wunsch erst entstehen.61 Sexuelle Lust ist demnach ein hochkomplexer Prozess, der zudem geschlechtlich kodiert und höchst störanfällig ist. Der »starke männliche Trieb« ist somit längst als Mythos entlarvt worden.62 Dennoch berufen sich Sex-Arbeiterinnen und andere Prostituionsbefürworter/ -innen nach wie vor auf diesen »Trieb«, um die Prostitution zu legitimieren.63 Auch die Probanden stellten ihren »Trieb« als »natürlich« dar und sprachen häufig davon, dass das bei Frauen anders sei, womit sie auf eine angeblich grundsätzlich verschiedene »Natur« von Männern und Frauen anspielten, die die Prostitution notwendig erscheinen lässt. Bei genauer Betrachtung widerlegen die Äußerungen der Probanden deren vermeintlich natürliche Triebhaftigkeit aber eher. Einige gingen nur alle paar Monate zu Sex-Arbeiter/-innen, ohne andere Gelegenheiten zu sexuellen Begegnungen zu haben. Die meisten gingen ein bis zwei Mal monatlich zu Prostituierten und hatten ebenfalls keine anderen Gelegenheiten zum Sex. Bis auf wenige Ausnahmen – die sich zudem auf bestimmte Lebensphasen beschränkten, hatten sie gar keine stärkere Libido oder sie masturbierten: Christian: Also ich brauch es schon ziemlich oft, bloß ehm meistens verkneif ich es mir denn oder ich geh dann mal für eine Stunde ins Badezimmer oder so, um diesen Trieb einfach loszuwerden.
Damit der »starke männliche Trieb« aber als Begründung für die Prostitution angenommen werden kann, muss weiter vorausgesetzt werden, dass sich der Trieb auf Sex mit einer Frau bezieht. Denn ansonsten wäre Masturbation ja eine Lösung zur Gewaltverhinderung. Diese Lösung wird von den meisten Männern benutzt. Sie wurde aber als weniger befriedigend empfunden. Das hängt auch 58 | Ebd., S. 196. 59 | Ebd. 60 | Vgl. ebd. 61 | Vgl. K. Beier u.a.: Sexualmedizin, S. 197f. 62 | Vgl. G. Schmidt: Das neue Der Die Das, S. 55 und 64. Schmidt spricht davon, dass Sexualität heute als »Ressource für Lust- und Affektsuche« gesehen wird und das sexualmedizinische Handbuch von K. Beier u.a.: Sexualmedizin, S. 54ff. führt keinerlei medizinisch begründeten stärkeren männlichen Trieb an, versucht aber (wenig überzeugend) empirisch nachzuweisen, dass Männer mehr Gelegenheits-Sex haben, ohne jedoch begründen zu können, warum. 63 | Vgl. ZDF-Nachtstudio: »Prostitution. Wie käuflich ist die Liebe?«, 12. Juni 2006, Äußerungen von Felicitas Schirow und Paul Sahner.
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damit zusammen, dass häufig ganz andere Gründe eine Rolle dabei spielten, Prostituierte aufzusuchen, z.B. Langeweile, Einsamkeit, Suche nach dem Fremden, dem Exotischen, die Fantasie ein reicher Mann zu sein, anregende Szenen im Fernsehen. All dies erhärtet, dass kulturelle Annahmen und Konstruktionen den Weg in die Prostitution bahnen und nicht etwa ein vermeintlich biologischer Trieb.64 Zudem stellte der »Trieb« bzw. die Vorstellung des triebhaften Mannes einen Maßstab dar, an dem sich die Probanden gemessen haben. Für einige (wie z.B. Paul und Hans) schien dies kein Problem zu sein, für andere aber schon. Wolf z.B. gab an, es »nur alle zwei Wochen« zu schaffen. Wolf war zur Zeit des Interviews 68 Jahre alt. Vermutlich konnte er im Alter sexuell nicht mehr mit seinen Ansprüchen aus jüngeren Jahren mithalten. Dieses Messen an einem Standard ist auch der Sexualmedizin bekannt. Es spielt eine Rolle bei der Diagnose so genannter Appetenzstörungen: »Im Gegensatz zu Frauen, für die außerhalb einer Partnerschaft Quantität und Qualität des sexuellen Verlangens zumeist nicht hinterfragt und die sexuelle Appetenz tendenziell eher ›abgeschaltet‹ wird, kommen häufiger Männer in die Sprechstunde, die sich […] Sorgen um ihre sexuelle Appetenz machen. In der Exploration dieser Patienten wird deutlich, dass das eigene sexuelle Verlangen mit einem bestimmten Standard verglichen wird, der eher intern durch Erinnerungen an persönlich erlebte Zeit hoher sexueller Motivation oder eher extern, v.a. durch das in den Medien oder in Erotika vermittelte Bild männlicher Sexualität, geprägt sein kann.«65
Es zeigt sich also, dass Männer durch das Trieb-»Argument« selbst unter Druck gesetzt werden und dass auch die Medien mit der Reproduktion von Stereotypen ihren Beitrag dazu leisten. Wird dies von dem Drei-Schichten-Modell sexueller Lust ausgehend interpretiert, zeigt sich, dass kulturelle Annahmen über männliche Sexualität, die sowohl in Alltagsdiskursen wie in Medienrepräsentationen kursieren, zu ganz verschiedenen Reaktionen führen können, die von erhöhter Libido bis zu Versagensängsten reichen. In einer Interviewpassage wird das Moment, dass sexuelle Lust von einem Interpretationsvorgang begleitet wird, besonders deutlich: Wolf: Wenn ich also sozusagen einen Drang spürte, oder eine Erektion hatte, dann war das für mich sozusagen, erschien mir die Erlösung, wenn ich mal eine hätte, die ich so richtig durchficken, rannehmen kann, durchficken, nageln […] Und genau so, diese Sexualität, weil ich ja keine andere kannte, habe ich bei den Frauen da gesucht.
Wolf beschreibt hier sehr detailliert, dass Lust nicht eine Bedeutung per se hat, sondern interpretiert wird und zwar durch bestimmte soziale Vorgaben.66 Er 64 | Vgl. S. Grenz: (Un)heimliche Lust, S. 136ff. und 143ff. 65 | K. Beier u.a.: Sexualmedizin, S. 200. 66 | Vgl. zur Entwicklung männlicher Sexualität Rolf Pohl: Feindbild Frau. Männliche Sexualität, Gewalt und die Abwehr des Weiblichen, Hannover 2004.
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334 | Sabine Grenz hatte Lust und hat geglaubt, diese Lust würde etwas Bestimmtes bedeuten. Es ist natürlich nicht für alle Probanden so gewesen, dass sie bei einer Prostituierten vaginalen Geschlechtsverkehr wollten. Ein Freier suchte sogar ausdrücklich nicht danach, und ein anderer war aufgrund seiner Erektionsstörungen nicht dazu in der Lage, suchte aber dennoch die körperliche und sexuelle Nähe einer Frau. Das Zitat macht aber deutlich, dass das Empfinden sexueller Lust keine »natürlichen« Konsequenzen nach sich zieht, sondern erst interpretiert werden muss. Ginge es einfach nur um die Befriedigung eines physiologisch bedingten Triebes, so könnte er sich auch einfach selbst befriedigen, zumal, zumindest rational gesehen, die Selbstbefriedigung von aller Schuld entlastet ist. Die »Erlösung« erschien ihm aber darin zu liegen, »mal eine zu haben«. Die Lust entsteht dabei völlig autonom, sie wird nicht durch eine bestimmte Frau angeregt, muss aber von einer befriedigt werden bzw. es muss ein Frauenkörper als Feld der Betätigung zur Verfügung stehen, damit er von seinem Drang zur Sexualität befreit werden kann. Damit greift Wolf auf die symbolische Ordnung der Geschlechter zurück, in welcher der Frau die Rolle der Erlöserin und Mutter (oder der Mutter als Erlöserin) zukommt. Die Frau als Liebende und Erlösende wurde analog zum Bild des triebhaften Mannes gebildet, dass im 19. Jahrhundert eine Blüte erlebte. Die Sozialwissenschaftlerin Maria Wolf zitiert aus Fichte: »Dass ich alles kurz zusammenfasse: Im unverdorbenen Weib äußert sich kein Geschlechtstrieb, sondern nur Liebe; und diese Liebe ist der Naturtrieb des Weibes, einen Mann zu befriedigen. Es ist allerdings ein Trieb, der dringend seine Befriedigung erheischt: aber diese seine Befriedigung ist nicht die sinnliche Befriedigung des Weibes, sondern die des Mannes; für das Weib ist es nur die Befriedigung des Herzens.«67
Natürlich ist die Prostituierte nicht das »unverdorbene Weib«, von dem Fichte hier spricht. Dennoch kommt der Frau die Rolle zu, den Mann zu befriedigen. Sie ist das Mittel seiner Erlösung. Sie hat kein eigenes sinnliches Begehren; ihr Herz ist befriedigt, wenn er sinnlich befriedigt ist. Das ist das Bild der idealen Mutter, die sich selbstlos ihrem Kinde zuwendet und alle seine Begehren befriedigt. Dass »[d]ie Entwicklungsgeschichte der patriarchalischen Ehe zur Kleinfamilie […] eine Geschichte der Mutterwerdung der Frau [ist]«,68 darauf verweist von Braun: »Dein Bauch gehört mir – diese bekannte Forderung des Patriarchen bezieht sich nicht auf die Nachkommenschaft, sondern sie bezieht sich auf den Anspruch, den der Patriarch für sich auf den Bauch der Frau stellt: als Ort seiner Geborgenheit, der sicheren Zuflucht, der Versorgung. Die mit Gewalt verteidigte Monogamie, die Abhängigkeit, in der der Patriarch die Frau hält, ihre soziale Abwertung hat nichts damit zu tun, dass er sich seiner
67 | M. Wolf: »… quasi irrsinnig«, S. 40f. 68 | Cristina v. Braun: NichtIch. Logik, Lüge, Libido, Frankfurt am Main 1999 [1985], S. 275.
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Prostitution. Verhinderung oder Ermöglichung sexueller Gewalt? | 335 Reproduktion vergewissern will – sie sind vielmehr ein Mittel, die Frau als seine ›Mutter‹ zu wahren.«69
Auch hier steht nicht die Prostituierte, sondern die Nicht-Prostituierte, die Frau, mit der man verheiratet ist, im Vordergrund. Trotzdem werden genau diese Eigenschaften temporär auf die Prostituierte übertragen. Dies ist nötig, da das Bild der »Mutter« in der Ehefrau vollständig entsexualisiert wurde und reale Frauen dem Idealbild natürlich nie entsprechen. Unter Umständen setzen sie sich sogar aktiv dagegen zur Wehr. Diesen Widerspruch löst die Prostitution. Die Sex-Arbeiterinnen übernehmen jene Bereiche, denen sich Nicht-Prostituierte widersetzen oder entziehen bzw. für die sie vorübergehend nicht zur Verfügung stehen. Dadurch wird auch deutlich, dass Prostituierte nicht als »andere« Wesen empfunden werden. Sie dienen als Projektionsfläche aller möglichen Wünsche, die den Männern von ihren privaten Partnerinnen nicht erfüllt werden, die sie häufig aber lieber von ihnen befriedigt hätten. Gleichzeitig sind sie auch von dem Druck befreit, etwa zu müssen. Sie müssen nicht potent sein, müssen sich nicht um die Prostituierte kümmern, sondern können sich gehen lassen. »Erlösung« ist sicher eine ernste Angelegenheit. Zumal sich in der Prostitution ein Trend zeigt, den Baudrillard als Kennzeichen unserer Zeit ausmacht, nämlich den Körper erlösen zu wollen.70 Dieser steht den Zeiten gegenüber, in denen es vor allem um die Erlösung der Seele ging. Die Sex-Industrie nährt diese Tendenz, indem sie das perfekte sexuelle Erlebnis verspricht und durch ihre ständige Präsenz – ebenso wie andere Industriezweige – die Lust kreiert, einfach mal gucken zu gehen – natürlich ganz unverbindlich. In der Darstellung der Zwanghaftigkeit sexueller Handlungen und der dadurch bedingten Notwendigkeit von Prostitution zeigen sich zudem aufschlussreiche Parallelen zu Studien über Konsumverhalten von Männern generell. Campbell hat feststellen können, dass Männer dazu neigen, die Anschaffung von Konsumgütern als ebensolche Notwendigkeit darzustellen.71 Im Gegensatz zu der Tendenz bei Frauen, Konsum als Vergnügen darzustellen, heben sie die Ernsthaftigkeit hervor. Wird diese Parallele gesehen, so lässt sich leicht schließen, dass es bei der Rede vom »starken Trieb« eher um die Verschleierung von Vergnügen geht und, da Zwänge nicht verhandelbar sind, auch um den Erhalt von Privilegien. In eben diesem Zusammenhang steht auch jene Behauptung, die Prostitution verhindere sexuelle Gewalt: Paul: […] Ja und das hat doch nicht nur eine biologische Funktion, das hat doch auch eine gesellschaftliche Funktion. Überlegen Sie mal, wie die Vergewaltigungen steigen würden, wenn es das nicht gäbe […]
69 | Ebd. 70 | Jean Baudrillard: Consumer Society, London 1998 [1970]. 71 | Vgl. Colin Campbell: »Shopping, Pleasure and the Sex War«, in: Collin Campbell/Parsi Falk: The Shopping Experience, London 1997, S. 166-176.
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336 | Sabine Grenz Denn es sind immer andere Männer, von denen die Vergewaltigungsgefahr ausgeht, nie die Sprecher selbst: S. G.: Würden Sie denn anfangen, Frauen zu vergewaltigen, wenn Sie sich die nicht kaufen könnten? Paul: Nee, nein, weil ich weiß, dann würde ich es anders machen, dann würde ich es rhetorisch geschickt machen, also das hat es bis jetzt noch nicht gegeben, dass ich eine Frau nicht krieg. Wenn ich das wirklich will und wenn ich ein halbes Jahr baggere, das gibt es nicht […].
Daraus lässt sich folgern, dass das negative Bild des gefährlichen »Triebtäters« in diesem Fall auch ein Resultat von Konkurrenzverhalten zwischen Männern ist. Es dient der Herstellung von Hierarchien zwischen Männern, die sich im Griff haben und anderen, die dazu zu »wild« sind. Damit wird Sexualität zu einem Mittel der Herstellung sexueller und sozialer Identität. So stellt Paul Gewalt an Frauen generell als »unmännlich« dar: Paul: […] Hab aber noch nie eine Frau in den Haaren gezogen oder geschlagen oder sonst was, weil das ist für mich, weiß ich nicht, unmännlich. […]
Dass Sex-Arbeiterinnen sich schützen müssen wird aus den statistischen Daten deutlich: Frauen in der Prostitution sind durchschnittlich größeren Gefahren ausgesetzt, nicht nur durch Freier, sondern auch durch Zuhälter und ganz gewöhnliche Räuber.72 Aber genau dieser Umstand, dass sich die Frauen vor Gewalt schützen, deutet daraufhin, dass sexuelle Gewalt für sie nicht zu dem »normalen« Handel zwischen einem Freier und einer Prostituierten gehört, was die Statistiken ebenfalls belegen, denn die allermeisten Kontakte sind frei von Gewalt.73 So stimmen diese Ergebnisse weitgehend mit den Freier-Interviews überein. Denn die Ablehnung von Gewalt war in den Interviews durchweg präsent. Viel stärker war die Suche nach Sympathie oder Gegenseitigkeit, die Paul in dem obigen Zitat für Begegnungen außerhalb der Prostitution schildert. Da er vorwiegend Kontakt zu Frauen hat, die er bezahlt, sucht er die Sympathie auch dort. Er hat den Ehrgeiz, auch der Prostituierten zu gefallen, was ihm nach eigener Aussage auch gelingt: Paul: Zum Beispiel Chantalle ist eine meiner … Stammnutte klingt jetzt blöd, aber die, die ich regelmäßig beehre und die sich dann schon tierisch freut. Und ich merke an gewissen Reaktionen am Körper, es gibt Sachen, die kann man nicht simulieren. Auf Deutsch gesagt, die geht auch noch ab wie ein Zäpfchen. Und das unterstelle ich ihr, dass das nicht bei jedem so sein kann. Das ist, das ist für mich dann wieder die große Erfüllung. Oder dass sie bereit wäre, sogar ohne Gummi, was normal auch, gibt es normal nicht, gibt es
72 | Vgl. T. Sanders: Sex Work, S. 73f. 73 | Vgl. ebd., S. 75.
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Prostitution. Verhinderung oder Ermöglichung sexueller Gewalt? | 337 nicht. Wo ich aber sage: ›Och, nee, muss nicht sein.‹ Und und und, obwohl ich die Dinger hasse, aber da muss man Abstriche machen, immer.
Diese Suche nach Gegenseitigkeit ist kein Einzelfall, sondern ist in den meisten Interviews präsent: Hans: Ja, ich war mit einer Freundin zusammen und die hat da immer rumgenervt, ja, du willst jeden Tag Sex und das ist mir zuviel und da hab ich gesagt, kannst dich freuen, andere Frauen jammern rum, dass ihre Männer nicht wollen. Aber das hat sie halt so nicht gesehen und irgendwann hat mich das so angenervt, ne, also wo ich dacht na okay, da gibt es noch andere Frauen, die freuen sich darüber, ne so und eh weil ich wusste, wenn ich zu Prostituierten ging, die waren immer total happy, wenn ich mit denen zusammen war. Und ehm da bin ich halt da auch wieder hingegangen und waren so wieder die alten Reaktionen, ah ja, du hast so einen schönen Schwanz und bist so zärtlich und treu. Und super, dachte ich, die wissen es wenigsten zu schätzen. Ja, also das war, hat mir auch irgendwo gutgetan.
Es lässt sich nicht klären, ob Pauls Wahrnehmung von »Chantalle« geteilt wird und ob Hans wirklich so gemocht wird, wie er hier darstellt. Sanders berichtet in ihrer Studie über Prostituierte von einer Sex-Arbeiterin, die sich besonders auf einen Freier freut.74 Die Studie von Giesen und Schumann legt ebenfalls nahe, dass die Beziehungen von Sex-Arbeiterinnen zu ihren Freiern durchaus freundschaftlich gestaltet sein können und sie unter Umständen auch ihre eigene Lust mit ihnen ausleben, vor allem, wenn es sich um so genannte Stammfreier handelt.75 Diese »glücklichen« Umstände scheinen aber eher die Ausnahme zu sein.76 Die Freier können sich der Sympathie der Prostituierten zudem nie sicher sein. Selbst wenn sie sich freundlich verhält, bedeutet das nicht, dass sie den Freier mag. Denn Freundlichkeit entspricht sowohl der Geschäftsmäßigkeit als auch dem Sicherheitsverhalten von Sex-Arbeiterinnen. Sanders, die das System der Sex-Arbeiterinnen, sich selbst zu schützen, detailliert analysiert, zitiert z.B. eine Sex-Arbeiterin: »You have got to use your own mind to turn it around and be super nice. […] The one thing I try not to do is to insult someone sexually and demean them. It is irresponsible as you are leaving them in a position where they could attack you or another woman […] I try and make a man feel good about what he has got or try to find a nice feature – his legs or his feet (Sarah, sauna)«77
Die Unsicherheit in Bezug auf die Gegenseitigkeit stellte für die Probanden ein Problem dar. Fast alle waren bemüht, das Medium Geld zu überwinden, begehrt
74 | Vgl. ebd., S. 2 75 | Vgl. R.-M. Giesen/G. Schumann: An der Front des Patriarchats, S. 58f. 76 | Vgl. ebd. 77 | T. Sanders: Sex Work, S. 77.
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338 | Sabine Grenz zu werden und auf die »echte« »natürliche« Sexualität der Sex-Arbeiterin zu stoßen. Manche beklagten sich auch darüber, dass die Sex-Arbeiterin ihnen zu viele Vorschriften gemacht oder sich plötzlich »kalt« verhalten habe.78 Verhält sich eine Sex-Arbeiterin zu kalt und damit zu offensichtlich geschäftsmäßig, fühlten die Probanden sich gekränkt. Dann passiert genau das Gegenteil wie in den von Paul und Hans geschilderten Situationen. Das Selbstwertgefühl wird nicht gesteigert, sondern geknickt. Der Prostitutionsbesuch dient daher auch der Hebung des Selbstwertgefühls. In anderen Konsumbereichen ist das Phänomen, dass Konsum sozialen Status und andere Aspekte der Identität herstellt, bereits eingehend beleuchtet worden.79 Cronin bezeichnet es sogar als Binsenweisheit.80 An diesem Punkt zeigt sich im Zusammenhang mit der aufgezeigten Geschlechterordnung in der Prostitution, dass es auch bei dem Konsum sexueller Dienstleistungen in erheblichem Maße um die Herstellung sozialer Identität geht und nicht etwa um die Befriedigung eines »natürlichen« Triebes.
Abschließende Erwägungen Die Analyse konnte zeigen, dass beide Positionen – sowohl die, die in der Prostitution generell eine Form direkter sexueller Gewalt an der Sex-Arbeiterin sieht, als auch jene, die Prostitution als Mittel zur Verhinderung sexueller Gewalt außerhalb der Prostitution einschätzt – nicht haltbar sind. Wenn pauschal von Prostitution als Vergewaltigung gesprochen wird, wird von einem Teilbereich, der so genannten Zwangsprostitution, einer Form von Zwangsarbeit, die mit der sexuellen Selbstbestimmung in Konflikt steht, auf alle Bereiche der Prostitution geschlossen. Damit aber werden Frauen, die sich aufgrund einer rationalen Analyse ihrer Situation oder aus Interesse zur Sex-Arbeit entschlossen haben, entmündigt. Zudem wird auch den tatsächlichen Opfern durch die Pauschalisierung nicht geholfen werden können, da diese letztlich nur auf eine Illegalisierung und stärkere Strafverfolgung der Prostitution drängt. Abgesehen davon führt diese auf die Auflösung kommerzieller Sexualität zielende Argumentationsweise dazu, dass die darin enthaltene berechtigte Kritik an der Prostitution weniger ernst genommen wird. Denn angesichts der – wenn auch bezahlten – Freiwilligkeit fällt es schwer, die Motivation und das Verhalten von Sex-Arbeiterinnen, die sich eigenständig zur Prostitution entschieden haben, und dem Großteil ihrer Freier damit in Beziehung zu setzen.81 Schließlich wird damit das Stigma der Prostituierten, quasi zur Vergewaltigung zur Verfügung zu stehen, reproduziert. Eine vergewaltigte Prostituierte könnte dies dann nie artiku78 | Was ebenfalls Teil einer Sicherheitsstrategie sein kann. Vgl. ebd., S. 76. 79 | Vgl. Gerhard Schulze: Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt am Main 1993 und Anne M. Cronin: Advertising and Consumer Citizenship. Gender, Images and Rights, London 2000. 80 | Vgl. ebd., S. 1. 81 | Vgl. J. O’Connell Davidson: Prostitution, Power and Freedom, S. 122.
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lieren. M.E. nach wird den arbeitenden Frauen damit eher geschadet als geholfen. Wird andererseits von einem »starken männlichen Sexualtrieb« gesprochen, der die Prostitution unbedingt notwendig macht, so hängen die Vertreter/-innen entweder einer überkommenen Sichtweise an oder benutzen das Argument absichtlich, um ihr Geschäft mit der sexuellen Lust oder ihre Privilegien, jederzeit gegen Geld sexuelle Lust ausleben zu dürfen, aufrechtzuerhalten. Um noch einmal auf Rubin und Queen zurückzukommen, die sich beide auf Foucaults Geschichte der Sexualität beziehen: Beide übersehen eine der deutlichsten Botschaften Foucaults,82 nämlich dass moderne Macht nicht nur das Begehren prägt, sondern gerade durch das Begehren wirksam wird. Denn anders kann »der Körper als Produkt der Diskurse der Macht«83 nicht gedacht werden. Obwohl Foucault Repression nicht ausschloss, sah er, dass unter anderem durch die Repression Wissen über Sexualität produziert wird, mit dem sich dann identifiziert werden kann. D.h. über Männer und Frauen wurde unterschiedliches »Wissen« – historisch gewachsene Diskurse über Sexualität – erzeugt, das nur langsam ausgetauscht wird. Auf die Freier-Studie bezogen bedeutet dies, dass die Männer auf die beständige Werbung der Sex-Industrie reagieren, die wiederum zu ihren männlichen sexuellen wie ökonomischen Privilegien passt. Zumindest in der Fantasie sorgt die Prostitution dafür, dass soziale Identität wiederhergestellt wird und zwar durch die – potentiell auch bezahlte – sexuelle und emotionale Arbeit von Frauen. Diesen Markt zur Verfügung zu haben, ist dennoch ein Privileg von Männern, das durch den Diskurs über den »starken männlichen Sexualtrieb«, den Zwang zur Prostitution verschleiert wird. Zudem ist die Drohung, etwas ganz Schreckliches möge von einer Personengruppe ausgehen, sofern ihre Bedürfnisse nicht befriedigt werden, eine eindeutige Machtgeste. Diese wird in der Regel – so zumindest der Anschein durch die Forschung – aber nicht direkt zwischen einem Freier und einer Prostituierten ausgesprochen, sondern sie bleibt abstrakt. Sie ist eine gesellschaftliche Bedrohung. Im Verbund mit der Doppelmoral und der Stigmatisierung der Prostituierten führt dies allerdings zu einer erhöhten Gefährdung von Sex-Arbeiterinnen. Die Beziehung ist in der Regel eben nicht persönlich. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass ein Freier zu einer Sex-Arbeiterin geht, die er verachtet, eher zu einer, die er schätzt. Dennoch ist es aufgrund der Strukturierung kommerzieller Sexualität sehr wahrscheinlich, dass er seine latente Verachtung Frauen gegenüber auslebt, die darin besteht, sie zum Objekt seiner Lust zu machen. Dies beständig zu erleben und dabei aufgrund der Stigmatisierung zu einer gesellschaftlichen Außenseiterin zu werden, kann in sich bereits ausreichend frustrie-
82 | Vgl. M. Foucault: Der Wille zum Wissen, Sexualität und Wahrheit, Bd.1. 83 | Birgit Althans: »Transformation des Individuums. Michel Foucault als Performer seines Diskurses und die Pädagogik der Selbstsorge«, in: Christoph Wulf/Michael Göhlich/Jörg Zirfas (Hg.), Grundlagen des Performativen. Eine Einführung in die Zusammenhänge von Sprache, Macht und Handeln, Weinheim 2001, S. 129-155, hier S. 143.
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340 | Sabine Grenz rend für die Sex-Arbeiterin sein, ohne dass sie konkrete Gewalterfahrungen macht. In individuellen Fällen kann aber alles auch ganz anders sein. Es kann sein, dass Freier im besonderen Maße das Geld oder die Anonymität erotisiert haben, oder dass sie – wie in anderen Lebensbereichen auch – eben nach einer Expertin suchen. Denn Fantasie und Realität passen selten überein und die Sex-Industrie wirbt damit, eben diese Lücke zu füllen und Fantasien käuflich zu machen.84 Ebenfalls kann einer Sex-Arbeiterin nicht die Fähigkeit abgesprochen werden, den Sexismus, der ihr begegnet, umzudeuten, sich aus der Passivität zu befreien und für sich selbst konstruktiv mit der Situation umzugehen. Sie kann im besten Falle »Sexpertin«85 werden und dadurch die bestehende Geschlechterordnung auch durchbrechen. All diese Formen können theoretisch nebeneinander bestehen. Die Position, die Prostituierte generell als Opfer von Gewalt beschreibt, ist ebenso dabei, die Diskussion zu schließen und differenzierte Forschung abzulehnen, wie jene, die von Männern als sexuell zwanghaft spricht. Beide Positionen sind konservativ – insbesondere in Bezug auf die Geschlechterkonstruktion – und versuchen zu verhindern, dass sich Prostitution zu einer Sex-Arbeit mit weniger Sexismus und besseren Bedingungen für die darin arbeitenden Frauen (und Männer) entwickeln kann.
Literatur Ahlemeyer, Heinrich W.: Geldgesteuerte Intimkommunikation. Zur Mikrosoziologie heterosexueller Prostitution, Gießen 2002 [1996]. Althans, Birgit: »Transformation des Individuums. Michel Foucault als Performer seines Diskurses und die Pädagogik der Selbstsorge«, in: Christoph Wulf/Göhlich, Michael/Jörg Zirfas (Hg.), Grundlagen des Performativen. Eine Einführung in die Zusammenhänge von Sprache, Macht und Handeln, Weinheim 2001, S. 129-155. Andrijasevic, Rutvica: Trafficking in women and the politics of mobility in Europe, 2004, http://igitur-archive.library.uu.nl/dissertations/2005-0314-013009/index. htm, gesehen am 15.09.2006. Avanzino, Natalie: »›Ich verkehrte geschlechtlich mit demselben und erhielt zwei Franken Trinkgeld‹. Die Züricher Kellnerinnen und ihre Nähe zur Prostitution«, in: Philipp Sarasin/R. Bochsler/P. Kury (Hg.), Wertes Fräulein, was kosten Sie? Prostitution in Zürich 1875 – 1925, Baden 2004, S. 58-63 Baudrillard, Jean: Consumer Society, London 1998 [1970]. Beier, Klaus M./Bosinski, Hartmut A.G./Hartmann, Uwe/Loewit, Klaus: Sexualmedizin, München 2001. 84 | Vgl. zu »designtem Sex« G. Schmidt: Das neue Der Die Das, S. 58f. 85 | Laura Méritt: »Du kannst da spielen gehen, und das Geschlecht ist eigentlich egal«, in: Elisabeth v. Dücker (Hg.), »Sexarbeit. Prostitution. Lebenswelten und Mythen«, Bremen 2005, S. 124.
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Prostitution. Verhinderung oder Ermöglichung sexueller Gewalt? | 341
Braun, Cristina v.: NichtIch. Logik, Lüge, Libido, Frankfurt am Main 1999 [1985]. Campbell, Colin: »Shopping, Pleasure and the Sex War«, in: Collin Campbell/ Parsi Falk: The Shopping Experience, London 1997, S. 166-176. Cronin, Anne M.: Advertising and Consumer Citizenship. Gender, Images and Rights, London 2000. Dane, Gesa: ›Zeter und Mordio‹. Vergewaltigung in Literatur und Recht, Göttingen 2005. Dworkin, Andrea: »Pornography, Prostitution, and a Beautiful and Tragic Recent History«, in: Christine Stark/Rebecca Whisnant (Hg.), Not for Sale. Feminists Resisting Prostitution, S. 137-145. Foucault, Michel: Der Wille zum Wissen, Sexualität und Wahrheit Bd. 1, Frankfurt am Main, 1997 [1983]. Furrer, Melanie: »›Darum prüfe, wen du anstellst!‹ Das Bordellbuch ›Zum Prüfstein‹«, in: Philipp Sarasin/R. Bochsler/P. Kury (Hg.), Wertes Fräulein, was kosten Sie? Prostitution in Zürich 1875 – 1925, Baden 2004, S. 46-51. Galen, Margarete v.: »Das Prostitutionsgesetz. Eine Bewertung aus rechtlicher Sicht«, in: Elisabeth v. Dücker (Hg.), Sexarbeit. Prostitution. Lebenswelten und Mythen, Bremen 2005. Geissler, Alexandra: Gehandelte Frauen. Menschenhandel zum Zweck der Prostitution mit Frauen aus Osteuropa, Berlin 2004 (ISIS). Giesen, Rose-Marie/Schumann, Gunda: An der Front des Patriarchats. Bericht vom langen Marsch durch das Prostitutionsmilieu, Bensheim 1980. Godenzi, Carlo: Bieder, brutal. Frauen und Männer sprechen über sexuelle Gewalt, Zürich 1989. Grenz, Sabine: (Un)heimliche Lust. Über den Konsum sexueller Dienstleistungen, Wiesbaden 2005. Jeffreys, Sheila: »Prostitution as a Harmful Cultural Practice«, in: Christine Stark/Rebecca Whisnant (Hg.), Not for Sale. Feminists Resisting Prostitution, Melbourne (Australien) 2004, S. 386-399. Koch, Angela: »Die Verletzung der Gemeinschaft. Zur Relation der Wort- und Ideengeschichte von ›Vergewaltigung‹«, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften, 15/1 (2004), S. 37-56. Krafft, Sybille: Zucht und Unzucht. Prostitution und Sittenpolizei im München der Jahrhundertwende, München 1996. Berlin 2003. Méritt, Laura: »Du kannst da spielen gehen, und das Geschlecht ist eigentlich egal«, in: Elisabeth v. Dücker (Hg.), Sexarbeit. Prostitution. Lebenswelten und Mythen, Bremen 2005, S. 124. Moritzi, Claudia: »Freudenmädchen für Börsenhaie. Das Einnahmebüchlein einer Luxusprostituierten«, in: Philipp Sarasin/R. Bochsler/P. Kury (Hg.), Wertes Fräulein, was kosten Sie? Prostitution in Zürich 1875 – 1925, Baden 2004, S. 40-45. O’Connell Davidson, Julia: Prostitution, Power and Freedom, Cambridge (GB) 1998. Pateman, Carole: The Sexual Contract, Cambridge 1988.
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342 | Sabine Grenz Pohl, Rolf: Feindbild Frau. Männliche Sexualität, Gewalt und die Abwehr des Weiblichen, Hannover 2004. Queen, Carol: »Sex Radical Politics, Sex-Positive Feminist Thought, and Whore Stigma«, in: Jill Nagle (Hg.), Whores and Other Feminists, New York/London 1997, S. 125-35. Raymond, Janice G.: »Prostitution as Violence Against Women: NGO Stonewalling in Bejing and Elsewhere«, in: Women’s Studies International Forum, 21/1 (1998), S. 1-9. Rubin, Gayle: »Thinking Sex: Notes for a Radical Theory of the Politics of Sexuality«, in: Carole S. Vance (Hg.), Pleasure and Danger. Exploring Female Sexuality, London 1992 [1984], S. 267-318. Rudert, Heike: Podiumsbeitrag der Kriminaldirektorin, LKA 22 zur Diskussion Frauenhandel. Das europäische Gesicht der Sklaverei, anlässlich des Internationalen Frauentages, Bundestagsfraktion der PDS, Abgeordnetenhaus, Berlin 2004. Sanders, Teela: Sex Work. A Risky Business, Devon (GB) 2005. Sarasin, Philipp: Reizbare Maschinen. Eine Geschichte des Körpers 1765-1914, Frankfurt am Main 2001. Schmackpfeffer, Petra: Frauenbewegung und Prostitution, Dissertation Universität Oldenburg 1989 http://www.bis.uni-oldenburg.de/bisverlag/schfra89/inhalt. html, gesehen am 19.09.2006. Schmidt, Gunter: Das neue Der Die Das, Gießen 2005. Schulze, Gerhard: Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt am Main 1993. Simmel, Georg: Philosophie des Geldes, Köln 2001 [1920]. Stark, Christine/Whisnant, Rebecca (Hg.): Not for Sale. Feminists Resisting Prostitution, Melbourne (Australien) 2004. Stumpp, Bettina Eva: Prostitution in der römischen Antike, Berlin 2001. Wolf, Maria: »… quasi irrsinnig« Nachmoderne Geschlechter-Beziehung, Pfaffenweiler 1995. Wrede, Birgitta: »Frauen und Geld. Ein besonderes Verhältnis? Erklärungsversuche eines denkwürdigen Phänomens«, in: dies. (Hg.), Geld und Geschlecht. Tabus, Paradoxien, Ideologien, Opladen 2003, S. 46-66.
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Autorinnen und Autoren | 343
Autorinnen und Autoren
Nicola Behrmann, M.A., Ph.D., Candidate am Department of Germanic Languages & Literatures, New York University. Studium der Neueren deutschen Literatur, Soziologie und Publizistik in Berlin, Zürich und London. Arbeitet zurzeit an einer Edition von Emmy Ball-Hennings’ Gesammelten Werken. Forschungsschwerpunkte: Autobiografie- und Biografieforschung, Theorie der Avantgarde, Gender Studies, Literatur und Psychoanalyse, Europäischer Realismus; Veröffentlichungen: »Porträt der Künstlerin als Modell. Entfremdung und Sehnsucht bei Emmy Hennings«, in: Bernhard Echte (Hg.), »Ich bin so vielfach …« Emmy Ball-Hennings. Texte, Bilder, Dokumente (1999); »Ein gewissenhafter Kodak wider Willen. Zur Relation von Text, Körper und Medium in Emmy Hennings’ Autografie«, in: Birgit Mersmann/Martin Schulz (Hg.), Kulturen des Bildes (2006); Artikel und Vorträge zu Else Lasker-Schüler, Adalbert Stifter, Robert Walser. Christina von Braun, Dr. phil., Professorin für Kulturwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin. Kulturtheoretikerin und Filmemacherin; Forschungsschwerpunkte: Gender, Medien, Religion und Moderne, Geschichte des Antisemitismus; ca. 55 Filmdokumentationen und Fernsehspiele, zahlreiche Bücher und Aufsätze zum Wechselverhältnis von Bild/Schrift, Kulturgeschichte und Geschlechterrollen; Veröffentlichungen: a) Bücher u.a.: Nicht ich. Logik, Lüge, Libido (1985), Die schamlose Schönheit des Vergangenen. Zum Verhältnis von Geschlecht und Geschichte (1989), Versuch über den Schwindel. Religion, Schrift, Bild, Geschlecht (2001), Gender@Wissen. Ein Handbuch der Gender-Theorien (2005, Hg. zus. m. Inge Stephan); b) Filme u.a.: Zum Sterben muß man geboren sein. Zur Geschichte des Todes im Abendland (1976), Gegen den Strich (1986), Böses Blut. Mythen und Wirkungsgeschichte der Syphilis (1993), Vom Sinn des Sehens. Augen-Blicke der Geschlechter (1994), Schönheit – verzweifelt gesucht. Zur Geschichte der Schönheit (2002). . Bozena Chołuj, Dr., Professorin für Deutsch-Polnische Kultur- und Literaturbeziehungen und Gender Studies an der Europa-Universität Viadrina (Frankfurt/Oder), Professorin für Literaturwissenschaft und Gender Studies an der Universität Warschau, Promotion und Habilitation an der Universität War-
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344 | Verhandlungen im Zwielicht schau; Forschungsschwerpunkte: Indentitätsproblematik (nationale, geschlechtliche etc.), Grenzliteraturen, literarische Körperkonstruktionen, Subversivität in der Literatur, deutsch-polnische Kulturbeziehungen; Veröffentlichungen u.a.: Alltag als Enge in deutschen Prosawerken vom Ende des 19. Jh. bis zur Gegenwart (1999); »Auf den Körper schauen und hören. Zur Körperproblematik in Heinrich von Kleists ›Penthesilea‹« und »Die Marquise von O…«, in: Beiträge zur Kleist-Forschung (2002); »Die Macht des Schweigens über Maria«, in: Miroslawa Czarnecka u.a. (Hg.), Archetypen der Weiblichkeit im multikulturellen Vergleich (2006); Mitherausgeberin der Vierteljahresschrift Katedra Gender Studies und der Schriftreihe Ost-West-Diskurse. Susanne Dodillet, Doktorandin am Institut für Ideengeschichte und Wissenschaftstheorie der Universität Göteborg, Studium der Kulturwissenschaften an den Universitäten Hildesheim und Linköping. Ihr Promotionsprojekt trägt den Arbeitstitel »Kulturschock Prostitution. Deutsche und schwedische Prostitutionspolitik seit den 60er Jahren« und wird voraussichtlich im Sommer 2008 erscheinen; Forschungsschwerpunkte: Vergleichende Geschichte Europas, Diskursanalyse, politische Ideengeschichte; Veröffentlichungen u.a.: »Cultural Clash on Prostitution: Debates on Prostitution in Germany and Sweden in the 1990s«, in: Margaret Sönder Breen u.a. (Hg.), Genealogies of Identity. Interdisciplinary Readings on Sex and Sexuality (2005). Dorothea Dornhof, PD Dr., Literatur- und Kulturwissenschaftlerin, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Europa Universität Viadrina Frankfurt/Oder im Lehr- und Forschungsprojekt »Transformationen von Wissen, Mensch und Geschlecht«, Privatdozentin an der Humboldt-Universität zu Berlin; Forschungsschwerpunkte: Kultur- und Literaturgeschichte der Bundesrepublik und der DDR, Geschichte und Theorie der Alterität, Zusammenhang von Wissenschafts- und Geschlechterforschung; Veröffentlichungen u.a.: »Geschlecht als wissenschaftliche Tatsache. Intersexualität zwischen Reifizierung und Destabilisierung von Zweigeschlechtlichkeit«, in: Urte Helduser/Daniela Marx/Tanja Paulitz/Katharina Pühl (Hg.), under construction. Feministische Konstruktivismen in Theoriedebatten, Forschungs- und Alltagspraxis (2004). »Postmoderne«, in: Christina von Braun/Inge Stephan (Hg.), Gender@Wissen. Ein Handbuch der Gender-Theorien (2005); Orte des Wissens im Verborgenen. Kulturhistorische Studien zu Herrschaftsbereichen des Dämonischen (2005). Romana Filzmoser, Mag. phil., Kunsthistorikerin, Doktorandin an der Universität für angewandte Kunst Wien, IFK-Junior Fellow und Stipendiatin des Berliner Chancengleichheitsprogramms für Frauen in Forschung und Lehre, Studium der Kunstgeschichte und Geschichte an der Universität Salzburg, der Humboldt-Universität zu Berlin und der Freien Universität Berlin. Veröffentlichungen u.a.: »Wohnen, Arbeiten und Zuwanderung in Lend im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert«, in: Mitteilungen der Gesellschaft für Salzburger Landeskunde 145 (2005); »Von visueller und körperlicher Verfügbarkeit.
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Lamis Foyer de la Danse als anrüchiger Raum«, in: Gunhild OberzaucherSchüller, (Hg.), Souvenirs de Taglioni (2006; im Erscheinen); »Der Tod in Maske. Prostitution und Krankheit im Totentanz des späten 18. Jahrhunderts«, in: L’Art macabre 8 (2007; im Erscheinen). Sabine Grenz, Dr. phil., Postdoktorandin im Graduiertenkolleg »Geschlecht als Wissenskategorie« an der Humboldt-Universität zu Berlin; Studium der Erziehungswissenschaft, Psychologie und Soziologie an der Universität Köln und der Gender Studies an der London School of Economics and Political Science (LSE); Promotion in Gender Studies an der Humboldt-Universität mit zweijährigem Forschungsaufenthalt an der LSE; Forschungsschwerpunkte: (Wissens-)Geschichte der Sexualität, Prositution, sexuelle Gewalt, Männlichkeitsforschung, der Zweite Weltkrieg und seine Erinnerungskultur, qualitativ-empirische Sozialforschung (Interviews und Tagebücher); Veröffentlichungen u.a.: (Un)heimliche Lust. Über den Konsum sexueller Dienstleistungen (2005; 2. Auflage im Erscheinen); »Intersections of Sex and Power in Research on Prostitution: A Female Researcher Interviewing Male Heterosexual Clients«, in: Signs: Journal of Women in Culture and Society (2005). Elke Hartmann, Dr. phil., Juniorprofessorin für Alte Geschichte (unter besonderer Berücksichtigung der Geschlechtergeschichte) am Institut für Geschichtswissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin. Studium der Alten und Neuen Geschichte sowie der Klassischen Archäologie an der Freien Universität Berlin; Forschungsschwerpunkte: Geschlechtergeschichte der Antike (z.B. Paarbeziehungen zwischen Männern und Frauen im Athen des 5. und 4. Jh.s.), antike Sozial- und Rechtsgeschichte; Veröffentlichungen u.a.: Heirat, Hetärentum und Konkubinat im klassischen Athen (2002); »Zur Geschichte der Matriarchatsidee« (2004, http://edoc.hu-berlin.de); »Preisrichter oder Publikum? Zur Urteilsfindung in den dramatischen Wettkämpfen des klassischen Athen«, in: Klio (2006; zus. mit C. Schaeffer). Loretta Ihme, Diplompsychologin, derzeit Promotionsstudium an der kulturwissenschaftlichen Fakultät der Europa-Universität Viadrina in Franfurt/Oder zu dem Thema: »Interpenetration von kulturellen Repräsentationen von ›Frauenhandel‹ und institutionellen Praxen«. Forschungsschwerpunkte: wechselseitige Konstitution von Diskursen, Körpern, Subjekten und Institutionen; Veröffentlichungen u.a.: »Europas Gespenster. Frauenhandel, Nation und Supranation«, in: Marcin Witkowski/Joanna Dlugosz (Hg.), Perspektiven für ein neues Europa – Die neue Öffnung? (2006), »Gemeinsam gegen den Frauenhandel? Implikationen Nationaler und Europäischer Politiken für die Arbeit nicht-staatlicher Akteure«, in: Amelie Kutter/Vera Trappmann (Hg.), Das Erbe des Beitritts. Mittelund osteuropäische Gesellschaften nach dem Beitritt zur EU (2006). Martina Löw, Dr. Prof. für Soziologie an der TU Darmstadt; Forschungsschwerpunkte: Stadt, Geschlecht, Raum; Veröffentlichungen u.a.: Raumsoziologie (2001); Die Wirklichkeit der Städte. Sonderband 16: Soziale Welt (2005 zus. mit
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346 | Verhandlungen im Zwielicht Helmuth Berking); Schlüsselwerke der Geschlechterforschung (2005 zus. mit Bettina Mathes); Negotiating Urban Conflicts. Interaction, Space and Control (2006; zus. mit Helmut Breking/Sybille Frank/Lars Frers/Lars Meier/Silke Steets/Sergej Stoetzer). Martin Lücke, wissenschaftlicher Angestellter in der Lehreinheit Fachdidaktik Geschichte, Historisches Seminar der Universität Leipzig, Erstes und Zweites Staatsexamen in den Fächern Geschichte und Deutsch; arbeitet an einem Promotionsprojekt zur Geschichte der mann-männlichen Prostitution in Deutschland im Kaiserreich und in der Weimarer Republik; Forschungsschwerpunkte: Geschlechter- und Sexualitätsgeschichte, Männlichkeitsforschung, Didaktik der Geschlechtergeschichte, Didaktik und Methodik des Geschichtsunterrichts; Veröffentlichungen u.a.: »Genere e (omo)sessualità: un percorso nella recente storiografia di lingua tedesca«, in: Omosapiens. Studi e ricerche sull’orientamento sessuale (2006); »Das ekle Geschmeiß – Mann-männliche Prostitution und hegemoniale Männlichkeit im Kaiserreich«, in: Martin Dinges (Hg.), Männer, Macht, Körper. Hegemoniale Männlichkeiten vom Mittelalter bis heute (2005). Bettina Mathes, Dr. phil., Associate Professor of German, Science, Technology, and Women’s Studies an der Pennsylvania State University. Studium der Anglistik/Amerikanistik und Germanistik in Frankfurt/Main; Promotion und Habilitation im Fach Gender Studies an der Humboldt-Universität zu Berlin; Forschungsschwerpunkte: Gender Studies, Kultur, Wissenschaft und Kunst der Frühen Neuzeit, Faust, DEFA-Filme, Geschichte der Psychoanalyse, Islam in Europa; Veröffentlichungen u.a.: Verhandlungen mit Faust. Geschlechterverhältnisse in der Kultur der Frühen Neuzeit (2001); Schlüsselwerke der Geschlechterforschung (2005, Hg. zus. mit Martina Löw); Die imaginierte Nation. Körper und Geschlechterbilder in DEFA-Filmen (2006, Hg.); Under Cover. Das Geschlecht in den Medien (2006); Verschleierte Wirklichkeit. Die Frau, der Islam und der Westen (2007, zus. mit Christina von Braun). Renate Ruhne, Dr. phil., Technische Universität Darmstadt/Institut für Soziologie. Wissenschaftliche Mitarbeiterin im DFG-Projekt »Zum Wirkungsgefüge von Raum und Geschlecht am Beispiel Prostitution«. Forschungsschwerpunkte: Allgemeine Soziologie, Stadt- bzw. Raumsoziologie, Geschlechterforschung, Prostitution; Veröffentlichung u.a.: Raum Macht Geschlecht. Zur Soziologie eines Wirkungsgefüges am Beispiel von (Un)Sicherheiten im öffentlichen Raum. Forschung Soziologie Bd. 193 (2003). Alice Sadoghi, Mag., wissenschaftliche Mitarbeiterin mit Diplom, Institut für Strafrechtswissenschaften, Johannes Kepler Universität Linz, seit 2005 Doktoratsstudium der Rechtswissenschaften an der Johannes Kepler Universität Linz; Forschungsschwerpunkte: Frauenrecht, Strafrecht: Grundfragen des allgemeinen Teils, Laiengerichtsbarkeit im Strafverfahren; Veröffentlichungen u.a.: Offene Rechtsfragen zur Prostitution in entwicklungsgeschichtlicher Perspektive (2005).
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Birgit Sauer, Dr. phil., Univ.-Professorin für Politikwissenschaft am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien. Studium der Fächer Politikwissenschaft und Germanistik in Tübingen und der FU Berlin. Promotion 1993 an der FU Berlin, Habilitation 2000 an der Universität Wien. Forschungsschwerpunkte: Governance, Politik der Geschlechterverhältnisse, Staats-, Demokratie und Institutionentheorien sowie vergleichende Policy-Forschung, Veröffentlichungen u.a.: Die Asche des Souveräns. Staat und Demokratie in der Geschlechterdebatte (2001), Politikwissenschaft und Geschlecht. Konzepte – Verknüpfungen – Perspektiven, Wien (2004, hg. zus. mit Sieglinde Rosenberger), Was bewirkt Gender Mainstreaming? Evaluierung durch Policy-Analysen (2005, hg. zus. mit Ute Behning). Kathrin Schrader, Diplom-Sozialarbeiterin, Diplom-Sozialwirtin, Master of Arts: »Gender und Arbeit«, Vorstandsfrau ragazza e.V. Hamburg, Mitarbeiterin des Ratschlag Prostitution Hamburg. Forschungsschwerpunkte: Gender Studies, Soziale Konstruktionen, Beschaffungsprostitution. Petra de Vries, Dr. phil., Universitätsdozentin am Department of Political Science an der Universität Amsterdam, Mitbegründerin des Studiengangs Gender Studies in den Niederlanden. Sie hat Psycholgie studiert und in Sozialwissenschaften promoviert; Forschungsschwerpunkte: Geschichte des feministischen Denkens vom 18. Jahrhundert bis heute, Prostitutionspolitik, »weiße Sklaverei«, Menschenhandel, Frauen in bewaffneten Konflikten; Veröffentlichungen u.a.: The Women’s Movement and Motherhood (1984; zus. mit Selma Sevenhuijsen); Kuisheid voor Mannen, Vrijheid voor Vrouwen (1997); The Shadow of Contagion: Gender, syphilis and the regulation of prostitution in the Netherlands 1870-1911 (2001); De Tweede Feministische Golf (2006). Stefan Wünsch, M.A., Studium der Geschichte, Soziologie, Politikwissenschaft in Berlin und Brighton. Titel der Magisterarbeit (2005): »Die Sanders – oder was ist Familie. Eine mikrohistorische Studie zum Begriff der bürgerlichen Familie.« Momentan »Hartz IV«-Empfänger und auf der Suche nach einer Arbeits- und Promotionsmöglichkeit. Voraussichtlicher Titel der Promotion: »Sexualität und Familienkonzepte in Gesetz, Medizin und in der Kultur der unterbürgerlichen Schichten.« Forschungsschwerpunkte: Historische Familien- und Geschlechterforschung, Mikrohistorie.
2006-11-15 17-29-01 --- Projekt: T549.gc.grenz.prostitution / Dokument: FAX ID 00fb131592162986|(S. 343-347) T01_18 autorinnen.p 131592163498
Geschlecht/Gender Gabriele Dietze Weiße Frauen in Bewegung Genealogien und Konkurrenzen von Race- und Genderpolitiken März 2007, ca. 450 Seiten, kart., ca. 31,80 €, ISBN: 3-89942-517-0
Hedwig Wagner Die Prostituierte im Film Zum Verhältnis von Gender und Medium Februar 2007, ca. 320 Seiten, kart., ca. 28,80 €, ISBN: 3-89942-563-4
Bettina Bock von Wülfingen Genetisierung der Zeugung Eine Diskurs- und Metaphernanalyse reproduktionsgenetischer Zukünfte Februar 2007, ca. 360 Seiten, kart., ca. 30,80 €, ISBN: 3-89942-579-0
Roswitha Muttenthaler, Regina Wonisch Gesten des Zeigens Zur Repräsentation von Gender und Race in Ausstellungen Dezember 2006, 268 Seiten, kart., zahlr. Abb., 26,80 €, ISBN: 3-89942-580-4
Sabine Grenz, Martin Lücke (Hg.) Verhandlungen im Zwielicht Momente der Prostitution in Geschichte und Gegenwart Dezember 2006, 340 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 3-89942-549-9
Constanze Bausch Verkörperte Medien Die soziale Macht televisueller Inszenierungen November 2006, 250 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 3-89942-593-6
Ursula Link-Heer, Ursula Hennigfeld, Fernand Hörner (Hg.) Literarische Gendertheorie Eros und Gesellschaft bei Proust und Colette Oktober 2006, 288 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 3-89942-557-X
Bettina Mathes Under Cover Das Geschlecht in den Medien Oktober 2006, 186 Seiten, kart., 23,80 €, ISBN: 3-89942-534-0
Walburga Hülk, Gregor Schuhen, Tanja Schwan (Hg.) (Post-)Gender Choreographien / Schnitte September 2006, 236 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN: 3-89942-277-5
Alice Pechriggl Chiasmen Antike Philosophie von Platon zu Sappho – von Sappho zu uns September 2006, 188 Seiten, kart., 20,80 €, ISBN: 3-89942-536-7
Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de
2006-11-15 17-29-01 --- Projekt: T549.gc.grenz.prostitution / Dokument: FAX ID 00fb131592162986|(S. 348-349) anz.gender.ds11a.p 131592163506
Geschlecht/Gender Annette Runte Über die Grenze Zur Kulturpoetik der Geschlechter in Literatur und Kunst März 2006, 384 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN: 3-89942-422-0
Stefanie Richter Essstörung Eine fallrekonstruktive Studie anhand erzählter Lebensgeschichten betroffener Frauen Februar 2006, 496 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN: 3-89942-464-6
Brigitte Hipfl, Elisabeth Klaus, Uta Scheer (Hg.) Identitätsräume Nation, Körper und Geschlecht in den Medien. Eine Topografie 2004, 372 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN: 3-89942-194-9
Birgit Richard Sheroes Genderspiele im virtuellen Raum 2004, 124 Seiten, kart., 15,00 €, ISBN: 3-89942-231-7
Sabine Brombach, Bettina Wahrig (Hg.) LebensBilder Leben und Subjektivität in neueren Ansätzen der Gender Studies
Sabine Kampmann, Alexandra Karentzos, Thomas Küpper (Hg.) Gender Studies und Systemtheorie Studien zu einem Theorietransfer
Januar 2006, 308 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 26,80 €, ISBN: 3-89942-334-8
2004, 212 Seiten, kart., 22,80 €, ISBN: 3-89942-197-3
Marcus Termeer Verkörperungen des Waldes Eine Körper-, Geschlechterund Herrschaftsgeschichte
Bettina Heintz, Martina Merz, Christina Schumacher Wissenschaft, die Grenzen schafft Geschlechterkonstellationen im disziplinären Vergleich
2005, 644 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN: 3-89942-388-7
Jürgen Budde Männlichkeit und gymnasialer Alltag Doing Gender im heutigen Bildungssystem
2004, 320 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN: 3-89942-196-5
2005, 268 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 3-89942-324-0
Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de
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