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German Pages IX, 320 [329] Year 2020
PROLEGOMENA ROMANICA
Jenny Augustin
Gewalt erzählen Grenzen und Transgressionen im mexikanischen Roman der Gegenwart
Prolegomena Romanica. Beiträge zu den romanischen Kulturen und Literaturen Reihe herausgegeben von Mechthild Albert, Bonn, Deutschland Christoph Strosetzki, Münster, Deutschland Christian Wehr, Würzburg, Deutschland Beiratsmitglieder Susanne Friede, Bochum, Deutschland Kurt Hahn, München, Deutschland Barbara Kuhn, Eichstätt, Deutschland Martin Von Koppenfels, München, Deutschland Gesine Müller, Köln, Deutschland Carmen Rivero, Münster, Deutschland Stefan Schreckenberg, Paderborn, Deutschland
In der Reihe ist die Publikation von Beiträgen zur Literatur und Kultur der Romania vom Mittelalter bis zur Gegenwart geplant. Dabei sind monographische Studien, Sammelwerke sowie Qualifikationsschriften willkommen. Die Bände erscheinen vor allem in deutscher und englischer Sprache, in Ausnahmen auch in Spanisch und Französisch. – Da sich die Literaturwissenschaften seit jeher durch ein fachübergreifendes Profil auszeichnen und Fragestellungen der Philosophie, Geschichte, Rechtswissenschaften oder Lebenswissenschaften integrieren, soll die Interdisziplinarität im Zentrum der Reihe stehen. Im Unterschied zu anderen Reihen verzichtet „Prolegomena Romanica“ bewusst auf eine literaturhistorische Eingrenzung, um das Fach in seiner ganzen Breite zu reflektieren. Auch der zunehmenden kulturwissenschaftlichen und intermedialen Orientierung soll durch Einbeziehung visueller Medien, aber auch der Architektur und bildenden Kunst Rechnung getragen werden, sofern der erkennbare Bezug zu philologischen Corpora, Erkenntnisinteressen und Methoden gewährleistet bleibt. Ein international besetzter wissenschaftlicher Beirat garantiert die Qualität der Veröffentlichungen der Reihe.
Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/16515
Jenny Augustin
Gewalt erzählen Grenzen und Transgressionen im mexikanischen Roman der Gegenwart
Jenny Augustin Romanistik Universität Düsseldorf Düsseldorf, Deutschland Eingereicht als Dissertation mit dem Titel „Grenzenlose Gewalt und transgressive Literatur? Mexikanische Romane der Gegenwart“ an der Heinrich Heine Universität Düsseldorf, D61.
ISSN 2662-7590 ISSN 2662-7604 (electronic) Prolegomena Romanica. Beiträge zu den romanischen Kulturen und Literaturen ISBN 978-3-662-62205-6 (eBook) ISBN 978-3-662-62204-9 https://doi.org/10.1007/978-3-662-62205-6 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Umschlagabbildung: © Amelia/stock.adobe.com Planung/Lektorat: Ute Hechtfischer J.B. Metzler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany
Meinen Eltern.
VII
Inhalt 1.
2.
Einleitung
1
1.1 Thema und Stand der Forschung
1
1.2 Forschungsfragen
5
1.3 Theoretische Grundlagen
6
1.4 Korpus und Methode
8
Theorie: ‚Grenze‘ und ‚Transgression‘
12
2.1 Das Konzept der ‚Grenze‘
12
2.1.1 Etymologie der ‚Grenze‘ – neutrale Zone, Demarkationslinie, Front
12
2.1.2 Raum, Macht, Grenzen – innergesellschaftliche Grenzziehungen
17
2.1.3 Die Grenze als ‚Schwelle‘
24
2.1.4 Die Grenze in Border Studies und postkolonialer Theorie
29
2.2 Das Konzept der ‚Transgression‘
3.
33
2.2.1 Definitionen von ‚Transgression‘
33
2.2.2 Transgression bei Bataille und Foucault
36
2.2.3 Transgression als literaturwissenschaftliche und narratologische Kategorie
43
2.3 Zwischenfazit: Grenze und Transgression
49
Der gesellschaftliche Kontext Mexikos: Grenze, Transgression, Gewalt
53
3.1 Historische Grenzziehungen
54
3.1.1 Kolonialzeit und Unabhängigkeit: Castas, caciques, caudillos
54
3.1.2 Das 20. Jahrhundert: ‚Dictablanda‘ und Dictadura
59
3.1.3 An der Schwelle zum 21. Jahrhundert: „Two-Speed Economy“
65
VIII 3.2 Mexiko im 21. Jahrhundert: Politische Konflikte, steigende Gewalt 68 3.2.1 La guerra contra el narco
68
3.2.2 Manifestationen der Gewalt: „Violencia sin límites“
76
3.2.3 Ausblick: „Cortinas de desarrollo“
83
3.3 Zwischenfazit 4.
Grenzen und Transgressionen im mexikanischen Roman der 89 Gegenwart 4.1 David Toscana: El último lector (2004)
5.
86
89
4.2 Cristina Rivera Garza: La muerte me da (2007)
112
4.3 Yuri Herrera: Señales que precederán al fin del mundo (2009)
132
4.4 César Silva Márquez: Una isla sin mar (2009)
158
4.5 Luis Humberto Crosthwaite: Tijuana: Crimen y olvido (2010)
181
4.6 Nadia Villafuerte: Por el lado salvaje (2011)
204
4.7 Geney Beltrán Félix: Cualquier cadáver (2014)
225
4.8 Guillermo Arreola: Fierros bajo el agua (2014)
246
Fazit
272
5.1 Theorie: ‚Grenze‘ und ‚Transgression‘
272
5.2 Der gesellschaftliche Kontext Mexikos: Grenze, Transgression, Gewalt
275
5.3 Grenzen und Transgressionen im mexikanischen Roman der Gegenwart
277
Literaturverzeichnis
286
IX
Danksagung Die vorliegende Arbeit wurde im September 2019 von der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf als Dissertation angenommen. An erster Stelle möchte ich meiner Erstbetreuerin, Prof. Dr. Ursula Hennigfeld, von ganzem Herzen für ihre Förderung, die wertvollen Tipps und langen Gespräche danken. Mein Dank gilt auch Prof. Dr. Frank Leinen, meinem Zweitbetreuer, für dessen Unterstützung. Die gemeinsamen Lektüren und Debatten mit den TeilnehmerInnen des Doktoranden-Kolloquiums am Institut für Romanistik habe ich sehr geschätzt. Mit Julia Moldovan und Gero Faßbeck wurde die Promotionsphase zu einer unvergesslichen Zeit, in der neue Freundschaften entstanden sind. Mijail Lamas und Jorge Mendoza sowie der Fundación para las Letras Mexicanas danke ich für Ihre Gastfreundschaft und den wissenschaftlichen Austausch während meines Aufenthaltes an der UNAM in Mexiko-Stadt, finanziert durch das Beca de Excelencia del Gobierno de México para Extranjeros und das Frauenförderstipendium der Philosophischen Fakultät. Meinem Vater Michael Augustin, Anika Grabenhorst und Lea Reichel danke ich für Ihre hilfreichen Kommentare. Vor allem aber möchte ich meinen Eltern und Großeltern für Ihre Unterstützung danken – und Paul, der immer an meiner Seite steht. Düsseldorf, 7. Juli 2020
Jenny Augustin
1.
Einleitung
1.1
Thema und Stand der Forschung
Ausgangspunkt der vorliegenden Untersuchung ist die seit dem Jahre 2000 exponentiell angestiegene Gewaltrate in Mexiko (vgl. INEGI 1997-2019). Insbesondere die Anfang 2020 offiziell verkündete Zahl von mehr als 61.000 Verschwundenen und eine Straflosigkeit von über 90% zeigen, dass sich das Land aktuell in einer Krisensituation befindet. 1 Es mangelt an sozialem Vertrauen und das soziale Gefüge ist signifikant geschädigt. 2 Zusätzlich wird eine diskursive Auseinandersetzung mit der Gewaltthematik durch eine stark eingeschränkte Pressefreiheit erschwert – Reporter ohne Grenzen (2019) erklärt Mexiko zuletzt im April 2019 zum für Journalisten 3 gefährlichsten Land außerhalb regulärer Kriegsregionen. Die Kulturwissenschaftlerin Rossana Reguillo verhandelt vor diesem Hintergrund die Frage, ob und wie die extremen Gewalterfahrungen gesellschaftlich kommunizierbar sind: Las violencias […] en México han inaugurado una zona fronteriza, un orden abierto a la definición constante, un espacio de disputas entre regímenes de interpretación y producción de sentido. […] Las violencias en el país hacen colapsar nuestros sistemas interpretativos (Reguillo 2012, 33f.).
Reguillo beschreibt eine Gewalt, die in einem ungreifbaren Grenzbereich agiert („zona fronteriza“), diverse Erscheinungsweisen annimmt und personifiziert wird, dabei aber anonym bleibt. Die Gewalt ist transgressiv; sie geht einen immerwährenden Konflikt mit den Modellen der Weltdeutung ein, die dadurch kollabieren („hacen colapsar nuestros sistemas interpretativos“).
Vgl. Secretaría de Gobernación (2020); sowie Aristegui Noticias (2018). Der Terminus ‚Krise‘ wird hier in seiner breiten Bedeutung verwendet, um eine sowohl wirtschaftliche als auch politische und soziale Problemphase zu benennen, in der das soziale Fundament aus dem Gleichgewicht gerät (vgl. Koselleck u.a. 1976). – Das soziale Vertrauen konstituiert sich aus dem Vertrauen in staatliche Institutionen und personale Interaktion sowie aus der Vorstellung, geteilter „moralische[r] Maßstäbe“ (Reemtsma 2016a, 33ff.). Einen Aufschluss über das statistisch schwer messbare soziale Vertrauen bieten die Erhebungen des Latinobarómetro zu den Themen „Confianza en el Gobierno“, „Confianza en el Poder Judicial“, „Satisfacción con la democracia“, bei denen die mexikanischen Institutionen in den vergangenen Jahren schlecht abschneiden. Auf „¿Con qué frecuencia se preocupa de que pueda llegar a ser víctima de un delito con violencia?“ antworten zuletzt 2017 50% mit „Todo o casi todo el tiempo“, 27% mit „Algunas veces.“ Das verdeutlicht, dass ein Großteil der Bevölkerung die Gewalt als bedrohlich empfindet (vgl. Latinobarómetro o. J.). 3 Zur besseren Lesbarkeit wird in der vorliegenden Arbeit allgemein die maskuline Form verwendet. 1 2
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Augustin, Gewalt erzählen, Prolegomena Romanica. Beiträge zu den romanischen Kulturen und Literaturen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-62205-6_1
2 1. Einleitung
Ein besonderes Modell der Weltdeutung, das Reguillo jedoch nicht erwähnt, ist der literarische Text. 4 Die katastrophalen Auswirkungen von Gewalt auf Sprache und damit auf die Grundlage von Kommunikation werfen also die Frage auf, welche Rolle Literatur angesichts extremer Gewalterfahrungen einnehmen kann. Mit dieser Thematik befasst sich die Schriftstellerin Cristina Rivera Garza in ihrem Essayband Los muertos indóciles: „¿Cuáles son los diálogos estéticos y éticos a los que nos avienta el hecho de escribir, literalmente, rodeados de muertos?“ (Rivera Garza 2013, 19). In Anbetracht der vielen Todesopfer in Mexiko sei ein gesellschaftlicher Dialog unumgänglich, in dem diverse Grenzen neu auszuhandeln wären: die zwischen ‚Literatur‘ und ‚Welt‘, jene zwischen unterschiedlichen Texten sowie die Grenzen des Zusammenlebens inmitten von Gewalt. 5 Neben den ethischen ergeben sich also auch ästhetische Konsequenzen für das literarische Schreiben. Die Zitate von Reguillo und Rivera Garza demonstrieren, dass die gesellschaftliche Krisensituation erheblich auf kollektive Kommunikationsprozesse einwirkt. Meine These lautet, dass sie aber zugleich mithilfe der Konzepte ‚Grenze‘ und ‚Transgression‘ metaphorisch beschreibbar wird. ‚Grenze‘ wird in diesem Fall also über eine räumliche Erscheinungsform hinaus verwendet, um die fundamentalen Konflikte des gesellschaftlichen Zusammenlebens theoretisch zu fassen. Bei der Verbindung von Mexiko mit dem Konzept der ‚Grenze‘ dominiert jedoch in der Forschung das Thema der frontera norte genannten Grenze zwischen den USA und Mexiko. 6 Seit einigen Jahren gerät in diesem Zusammenhang auch die frontera sur zu Guatemala und Belize vermehrt in den Fokus, wird jedoch bislang nicht annähernd so ausführlich erforscht. 7 An dieser Schwelle zwischen dem 4 Die Frage, ob man erlebtes Grauen in Worte fassen kann, wird im Kontext der Shoah als ‚Unsagbarkeitstopos‘ gefasst. Im Zuge dieser Debatte verweisen unterschiedliche Autoren auf die besondere Rolle des ästhetischen Textes, den Abgrund zwischen dem Erfahrenen und dem Erzählen zu überbrücken und sich gegen das Vergessen einzusetzen (Antelme) sowie beim Leser Empathie auszulösen (Semprún). Vor diesem zeitlosen Problem steht auch das 21. Jahrhundert im Kontext krisenhafter Ereignisse, was in Romanen metafiktional aufgegriffen wird (vgl. Hennigfeld 2014a, 388, 391). – In der Romananalyse der vorliegenden Arbeit wird zu zeigen sein, ob und inwiefern die Texte sich auf den ‚Unsagbarkeitstopos‘ oder die Shoah beziehen, um die Gewalt in Mexiko und die Rolle des literarischen Textes zu thematisieren. 5 Zugleich liegt der dialogische Charakter von Literatur in der intertextuellen Auseinandersetzung mit bereits geschriebenen Werken: Das Kapitel 4.2 der vorliegenden Arbeit legt dar, wie Cristina Rivera Garza eine transgressive Intertextualität nutzt, um Gewalt zu verhandeln. 6 Das aktuelle internationale, nicht nur fachwissenschaftliche Interesse an der frontera norte zeigt sich daran, dass 2018 in Deutschland unterschiedliche Monographien zum Thema erscheinen: Eine Kulturgeschichte der Grenzregion, mit einem Fokus auf Akteuren und Mythen beidseitig der Grenze, bietet Jeanette Erazo Heufelder (2018). Die Grenze im 21. Jahrhundert als Medium analysiert Alexander Gutzmer (2018). 7 Seit den 1980er Jahren besteht ein vermehrtes akademisches Interesse, 1994 gründet sich das Forschungsinstitut El Colegio de la Frontera Sur. Den unterschiedlichen sozialen, wirtschaftlichen und geopolitischen Phänomenen der südlichen Grenzregion widmen sich die Sammelbände von Kauffer Michel (2002) sowie Basail Rodríguez (2005). Einen aktuellen Beitrag zur geopolitischen Bedeutung der frontera sur im 21. Jahrhundert liefert die Monographie von Villafuerte Solís (2017, 13), dessen These ist, dass die Südgrenze von unterschiedlichen Kräften auf der Makro- und Mikroebene (USA, multinationale Konzerne, soziale Einrichtungen, Bevölkerung)
1.1 Thema und Stand der Forschung 3
Globalen Norden und dem Globalen Süden befindet sich Mexiko in einer geopolitischen Sonderposition. 8 Innerhalb der Literaturwissenschaften bildet der Begriff ‚Grenze‘ ab Ende der 1980er Jahre den Gegenstand einer Debatte zwischen der anglophon dominierten postkolonialen Theorie und der mexikanischen Literaturwissenschaft: Mit Gloria Anzaldúas Borderlands/La Frontera (1987) rückt eine metaphorische Lesart der Grenze als subversivem Ort ins Zentrum der Aufmerksamkeit, der es ermöglichen soll, hegemoniale und homogene Identitätskonzepte diskursiv aufzubrechen. Doch mexikanische Wissenschaftler wie María Socorro Tabuenca Córdoba sprechen sich dezidiert gegen diese idealisierende Lesart der Border Literature aus. Sie entwerfe essenzialisierende Identitätskonzepte und lasse heterogene Grenzperspektiven außer Acht (vgl. Vila 2003, 307). Stattdessen müsse die Forschung sich der unterschiedlichen Bedeutungen bewusst sein, die mit den jeweils verwendeten Grenzbegriffen einhergehen: „¿Literatura fronteriza, de frontera, de la frontera, sobre la frontera, en la frontera, o desde la frontera?“ (Tabuenca Córdoba 1997, 105, Hervorhebung i. O.) Aktuell bleibt das Thema der Grenze in der US-amerikanischen Literatur- und Kulturwissenschaft schwerpunktmäßig auf die chicano- und latino-Literatur beschränkt. Die Studien beziehen die ‚Grenze‘ auf nationale und transnationale Identitätsprozesse, für die sie sich als anschlussfähig erweist. 9 In Mexiko analysiert die Forschung zur literatura fronteriza bzw. literatura del norte vor allem die Literatur, die im Gebiet der staatspolitischen Grenze entstanden ist (vgl. z. B. Palaversich 2010; Gewecke 2013). 10 Mit diesen sozioliterarischen Begriffen erachtet sie statt textinterner Kriterien auf problematische Weise die Herkunft des Autors als entscheidendes Merkmal. Die Definition des Genres wird allerdings auch unter mexikanischen Autoren polemisch diskutiert. 11 Einige von ihnen kritisieren die Etikettierung als Marketingstrategie des vom mexikanischen Zentrum dominierten Buchmarkts, der den Norden als narco-Milieu und Gewaltraum exotisiere, wozu einem „campo de batalla“ werde, in dem sich fronterización und desfronterización dynamisch abwechseln. Für die vorliegende Arbeit bedeutet dies, dass sich in Grenzräumen die Heterogenität der regionalen, nationalen und globalen Akteure abzeichnet, die ihre unterschiedlichen Interessen aushandeln. 8 Die Global Studies ermöglichen es, die Bedeutung Mexikos für weltpolitische Zusammenhänge aufzuzeigen (vgl. z. B. Dickinson 2017, 58). 9 Die Darstellung mexikanischer Migranten in der mexikanisch-amerikanischen Literatur untersucht Sisk (2011). Einzelne Beiträge analysieren Akteure und Phänomene beidseitig der Grenze (z. B. Kabalen de Bichara 2018). 10 Im Jahre 2012 publiziert Frauke Gewecke ein Dossier für die Iberoamericana, das sich der Grenze widmet: „Espacios, fronteras, territorios: acerca de las prácticas culturales de la Frontera Norte.“ Zudem eröffnen zwei Ausgaben der iMex – México interdisciplinario – Interdisciplinary Mexico eine interdisziplinäre Perspektive auf die „Frontera Norte“ (2015 und 2016). 11 Ausgangspunkt der Debatte ist ein Artikel von Rafael Lemus (2005), der den nordmexikanischen Autoren vorwirft, ihr Erfolg beruhe nicht auf ästhetischer Qualität, sondern darauf, dass sie unreflektiert Gewalt und Drogenhandel thematisieren. Lesenswert ist auch die Antwort von Eduardo Antonio Parra (2005), der das Vorgehen Lemus’ als zentralistische Delegitimierungsstrategie bezeichnet.
4 1. Einleitung
durch nordmexikanische Autoren weiterhin marginalisiert würden. 12 Anstatt durch textexterne Zuschreibungen Ungleichheiten zu reproduzieren, sollte m. E. eher die textuelle Ästhetik maßgebend sein. Zudem birgt eine solche binäre Perspektive die Gefahr, die Gewalt als ein gesamtgesellschaftliches Problem auszublenden. Der Einfluss dieser Debatte in Mexiko führt dazu, dass literatura fronteriza bislang lediglich die Literatur mit einem direkten Bezug zur territorialen Grenze bezeichnet. Doch die umstrittenen Definitionsversuche zeigen, dass im Rahmen der literaturwissenschaftlichen Kontroverse ganz andere Grenzen ausgehandelt werden: die zwischen ‚Zentrum‘ und ‚Peripherie‘. Innerhalb der lateinamerikanischen Kulturtheorie, die sich dem Thema der Gewalt widmet, entwickelt bereits 1950 Octavio Paz in El laberinto de la soledad ein Bild der mexikanischen Identität, die von violencia, orfandad y muerte geprägt sei (Paz 1999, 51, 59, 69, 94, 96). 13 Weniger pathologisierend als Paz vergleicht Ariel Dorfman in „La violencia en la novela hispanoamericana actual“ (1970, 1316) die europäische und hispanoamerikanische Literatur anhand ihres Umgangs mit Gewalt. Auch Dorfman zufolge bestimmt Gewalt die lateinamerikanische Realität (ebd., 11, 16f.). 14 Ohne abzustreiten, dass die lateinamerikanische Auseinandersetzung mit Gewalt durch ihren historischen Kontext und die Zäsur der Kolonialisierung 15 geprägt ist, wäre es verkürzt, die Gewalt als ein spezifisch lateinamerikanisches Phänomen zu sehen (vgl. Chihaia 2019, 13; Kohut 2002, 203). Um auch die soziopolitischen Unterschiede zwischen den Epochen und Regionen zu berücksichtigen, bedarf es bei der Auseinandersetzung mit Gewalt und ihrer literarischen Darstellung einer genauen Kontextualisierung (vgl. Kohut 2002, 204). Zahlreiche literaturwissenschaftliche Sammelbände widmen sich sowohl aus spezifisch mexikanischer Perspektive als auch nationenübergreifend den Genres So z. B. die Kritikerin und Autorin Eve Gil (2005), die Bolaños 2666 als beste „novela de la frontera norte“ bezeichnet. Sie erachtet die Themen und ästhetischen Einflüsse eines Werkes als entscheidend, um das Schaffen eines Autors zu analysieren. – Vgl. den Sammelband von Viviane Mahieux und Oswaldo Zavala (2012), die die Kategorie der ‚nordmexikanischen Literatur‘ problematisieren und die Ästhetik der Texte in den Fokus rücken, die sie für ebenso ‚mexikanisch‘ wie andere Texte halten. Ein konkurrierender Sammelband wirft Mahieux und Zavala jedoch vor, dem Norden damit seine regionale literarische Besonderheit abzusprechen (vgl. Cota Torres u.a. 2014). 13 Für eine Analyse der Thesen Octavio Paz’ vgl. Kapitel 4.3 der vorliegenden Arbeit. – Vgl. Matei Chihaia (2019), der die Bedeutung des Konzepts violencia in der lateinamerikanischen Literatur- und Kulturtheorie sowie die Entwicklungen der letzten Jahrzehnte resümiert. 14 Karl Kohut bezieht sich auf Dorfman und stellt eine These auf, die die strukturellen und historischen Ursachen der Gewalt mitdenkt, ohne sie als ein rein lateinamerikanisches Phänomen zu erachten: „(1) si bien la presencia de la violencia como elemento definidor de la literatura latinoamericana del siglo XX tiene sus raíces, sin duda alguna, en la realidad política e histórica del subcontinente, es decisiva la sensibilidad particular de los escritores e intelectuales ante ella; (2) por lo menos en la literatura del Boom y Posboom, el tema de la violencia se diversifica y cambia, según los distintos países y según la época, tanto en la fuerza de su presencia como en su representación literaria.“ (Kohut 2002, 203, Hervorhebungen i. O.). Vgl. dazu Chihaia (2019, 13). 15 Vgl. hierzu das Kapitel 3 der vorliegenden Arbeit, das die aktuelle Gewalt in Mexiko aus dem historischen Kontext herleitet. 12
1.2 Forschungsfragen 5
der sog. narcoliteratura, novela policíaca und novela negra, da sie sich explizit mit dem Gewaltthema auseinandersetzen. 16 Oswaldo Zavala (2015, 45f.) zufolge verharmlose und entpolitisiere die dabei im Fokus stehende zeitgenössische Literatur jedoch meistens die Gewalt. 17 Seine Kritik verdeutlicht, dass der literarische Text nicht ausnahmslos Rettung in Krisenzeiten verspricht (Estrada 2015, 20), sondern auch daran beteiligt sein kann, Ausgrenzungsmechanismen zu reproduzieren oder der Gewalt einen metaphysischen Charakter zu verleihen. Doch Zavala erwähnt nur wenige Beispiele mexikanischer Literatur, die sich fundiert mit der Gewalt auseinandersetzen und diskreditiert damit zu Unrecht viele zeitgenössische Autoren. 18 Jenseits der von ihm genannten Texte eröffnen andere mexikanische Romane neue Perspektiven auf das Gewaltthema, wie die vorliegende Untersuchung anhand einer eigenen Textauswahl erörtern wird.
1.2
Forschungsfragen
Die dieser Arbeit zugrundeliegende Forschungsfrage lautet: Wie kann mithilfe der Konzepte ‚Grenze‘ und ‚Transgression‘ gezeigt werden, auf welche Weise zeitgenössische mexikanische Romane die von Gewalt dominierte Aktualität Mexikos verhandeln? Wie kann Literatur 1. vergangene gesellschaftliche Gewalterfahrung und Traumata im kulturellen Gedächtnis verarbeiten bzw. sichtbar machen und 2. eine Sprache für gegenwärtige gesellschaftliche Krisensituationen finden, den Opfern eine Stimme verleihen sowie 3. die Möglichkeiten für eine resiliente Gesellschaft der Zukunft ausloten? 19 16 Oft werden dabei Mexiko und Kolumbien verglichen, da die Literatur in beiden Ländern den prägenden Einfluss von Drogenhandel und Kartellen thematisiert (vgl. z. B. Adriaensen und Kunz 2016). Gemeinsamkeiten zeigt auch Polit Dueñas (2013) anhand von Interviews mit Autoren in Mexiko und Kolumbien, in denen sie den gesellschaftlichen Kontext und das literarische Werk verknüpft, die Texte aber nur oberflächlich analysiert. Für die vorliegende Arbeit ist interessant, ob und inwiefern die Romane sich auf Kolumbien bzw. andere mittelamerikanische Länder beziehen. – Vgl. auch Adriaensen (2012); Michael (2013). 17 Während Zavala (2015, 49) die mexikanischen narco-Romane lediglich als Kopie von Arturo Pérez-Revertes La reina del sur (2002) bezeichnet, belegen Einzelstudien das durchaus kritische Potenzial von Texten wie Yuri Herreras Trabajos del reino (2004), der sich auf neue Art mit dem narco-Phänomen befasst (vgl. Michael 2015). 18 Von den fünf Autoren, die Zavala (2015, 52) nennt, sind allerdings die vier Erstgenannten bereits verstorben: Víctor Hugo Rascón Banda, César López Cuadras, Daniel Sada, Roberto Bolaño und Juan Villoro. 19 In den 1970er Jahren bezeichnet der Begriff ‚Resilienz‘, aus dem Lateinischen resilire, „zurückspringen, abprallen“ (Böhme 2019, 8), erstmals in der Psychologie die Fähigkeit von Individuen, mit Krisen umzugehen (ebd., 8f.). Inzwischen wird ‚Resilienz‘ auch in der interdisziplinären Analyse des kollektiven und gesellschaftlichen Zusammenlebens angewandt (vgl. Fathi 2019, 26f.). Eine zentrale, nicht einheitlich beantwortete Frage ist dabei, wodurch sich eine resiliente Gesellschaft auszeichnet. Fathi zufolge ist ein Zusammenspiel der folgenden Kriterien für eine „multiresiliente Gesellschaft“ wichtig: 1. Resiliente Individuen, 2. eine souveräne Handhabung von Nicht-Wissen, 3. die „Entkopplung und Wissensvernetzung der Teilsysteme“, 4. kollektive intelligente Entscheidungen, 5. eine Lernkultur (ebd., 84f.).
6 1. Einleitung
Konkret untersucht die Arbeit, inwiefern die Konzepte ‚Grenze‘ und ‚Transgression‘ den literarischen Text auf Ebene der histoire und des discours strukturieren. Wie wird über bestimmte Wortfelder eine Grenze erzeugt oder überschritten und welchen Aufschluss bieten Metaphern der Grenze und Transgression? Es wird außerdem analysiert, welche Rolle die Intertextualität und -medialität – d. h. der Bezug auf Mythen, literarische Texte, Kunst und Film – dabei spielen, das gesellschaftliche Zusammenleben inmitten von Gewalt zu verhandeln. Für die zugrundeliegende Fragestellung sind die Bezugnahmen auf den extratextuellen Kontext zentral: Wie positionieren sich die Romane hinsichtlich des stark umstrittenen kulturellen Gedächtnisses Mexikos und was tragen sie dazu bei, die aktuelle Gewalt zu deuten; perpetuieren sie das binäre Bild eines ‚guten Staates‘, dem als Verkörperung des Bösen die ‚Kriminellen‘ gegenüberstehen, die Dichotomie von Zentrum und Peripherie oder fordern sie die offiziellen Grenzziehungen heraus? Gelingt es den literarischen Texten, das Schicksal derjenigen Opfer zu thematisieren, die oftmals nicht in die offiziellen Statistiken eingehen – das Leid der Migranten, Landarbeiter, desaparecidos sowie der ermordeten Frauen? Und welche metafiktionale Perspektive eröffnet die ästhetische Verhandlung von Grenze und Transgression? Dabei ist zu untersuchen, ob die Romane einen dezidiert ethischen Anspruch verfolgen. Außerdem analysiert die Arbeit, welchen Beitrag die Romane durch ihr interdiskursives Potenzial leisten können: Es ist zu erörtern, ob die Romane sich auf den wissenschaftstheoretischen Disput um die literatura fronteriza bzw. border literature beziehen und dabei selbst einen Standpunkt einnehmen, ob sie die Reduktion der komplexen Grenze fortschreiben oder sie mithilfe der textuellen Ästhetik gegensätzliche Positionen verbinden.
1.3
Theoretische Grundlagen
Als Untersuchungsgegenstand machen ‚Grenzen‘ sichtbar, wie Machtkonstellationen wirken, wo gesellschaftliche Konfliktlinien verlaufen und es zeigt sich, dass Grenzen mit Gewalt zusammenhängen (vgl. Borsò 2004, 18). 20 Theorien aus unterschiedlichen Forschungsfeldern analysieren, wie die Mehrheitsgesellschaft Gewalt (v)erkennt: Die Kulturtheoretikerin Judith Butler (2004, 2009) weist auf die Opfer hin, die sich außerhalb der Rahmen (frames) des Sichtbaren befinden und deren Leben nicht als betrauernswert gilt. 21 Auf ähnliche Weise unterscheidet der Lacanianer Slavoj Žižek (2009, 1f.) eine Gewalt, die man nicht wahrnimmt, weil sie dem kapitalistischen System inhärent ist (objective violence), von der, die 20 Die Forschung demonstriert, dass es am besten gelingt, sich dem komplexen Thema der Gewalt aus einer interdisziplinären Perspektive heraus anzunähern vgl. z. B. Borsò u.a. (2014) sowie die Ausgabe „Violencia(s) en México“ der iMex México interdisciplinario – Interdisciplinary Mexico (2012). Die Notwendigkeit, das Gewaltphänomen nicht nur national zu betrachten, sondern Überschneidungen im mittelamerikanischen Raum zu berücksichtigen, unterstreicht der Sammelband von Werner Mackenbach und Günther Maihold (2015). 21 Vgl. hierzu die ausführlichen Überlegungen in Kapitel 2.1.2. dieser Arbeit.
1.3 Theoretische Grundlagen 7
man aufgrund ihres eruptiven Charakters subjektiv erkennt. Der Soziologe Jan Philipp Reemtsma (2016a, 31, 44) legt offen, dass sich Gesellschaften mit der Frage nach dem Warum einer solchen transgressiven, ‚autotelischen Gewalt‘ davon abzugrenzen versuchen. Der Medientheoretiker Jean Baudrillard (1990, 88) wiederum attestiert der zeitgenössischen westlichen Gesellschaft, dass sie einen Konsens des „blanchissement de la violence“ etabliert habe, „où il n’y a plus de possibilité de dire le Mal“. Doch die unterdrückten Elemente treten in Gestalt des Bösen zutage, wenn es zu Katastrophen wie Kriegen oder Terrorismus komme (ebd., 111). Die unterschiedlichen theoretischen Ansätze legen dar, dass Gesellschaftsordnungen auf bestimmten Formen der Gewalt beruhen, die sie normalisieren und über die nicht gesprochen wird. Diese Aufgabe kann jedoch, sowohl Butler (2009, 55-62) als auch Reemtsma (2002, 70) zufolge, der literarische Text übernehmen, dem beide ein transgressives Potenzial zusprechen – den sie aber nicht näher ästhetisch analysieren. Literatur als solche sowie ihren Beitrag, Gewalt zu verhandeln, nehmen einige kürzlich erschienene Sammelbände innerhalb der lateinamerikanistischen Literaturwissenschaften in den Blick. 22 Es ist auffällig, dass diese Studien oftmals die Konzepte ‚Grenze‘ und ‚Grenzüberschreitung‘ nennen und sich nicht nur auf den geographischen Raum der frontera, sondern auch auf soziale und metaphorische Grenzen beziehen (vgl. z. B. Braig u.a. 2005; Igler und Stauder 2008). Das Begriffspaar ‚Grenze‘ und ‚Transgression‘ beschreibt in der Forschung z. B. Gewalträume oder den transgressiven Charakter einer Gewalt, die sich nicht beherrschen lässt und grenzenlos oder grenzüberschreitend erscheint. 23 Das Konzept der ‚Grenze‘ ist Gegenstand unterschiedlicher Disziplinen: Die geschichtswissenschaftliche Forschung nimmt die sich historisch wandelnde Form von Grenzen in den Blick, denn nicht immer treten sie als staatspolitisch und linear in Erscheinung (vgl. Sahlins 1989; Osterhammel 2001; Febvre 1962). Dass die Grenze sich auch als innergesellschaftliches Ordnungssystem verstehen lässt, erforschen soziologische Ansätze (vgl. Simmel 1908; Bourdieu 1979). Die sozialen Grenzen nehmen oftmals eine räumliche Form an und treten z. B. als periphere Orte oder Heterotopien (vgl. Foucault 1966) in Erscheinung. Zentral sind dabei die Analysen Michel Foucaults, der zeigt, wie ‚Wahnsinn‘ diskursiv erzeugt wird, indem man ihn von der Normalität abgrenzt (vgl. Foucault 1961). Konzipiert man die Grenze jedoch als ‚Schwelle‘, kann sie verbindend sein, da sie Kontakt und Wandel ermöglicht und mit einem Übergang assoziiert wird, wie in kultursemiotischen (Lotman 2010) und anthropologischen Ansätzen (Turner 1969). 24 Die Rolle des literarischen Textes in gesellschaftlichen Prozessen in Mittelamerika beleuchtet z. B. Alexandra Ortiz Wallner (2012). 23 Die Sammelbände von Estrada (2015) und Borst u.a. (2018) gehen auf die Bedeutung von Gewalt in der lateinamerikanischen Fiktion ein. Die Herausgeber beschreiben eine Gewalt, die den Leser schockiert, nicht domestizierbar ist und sich dadurch paradoxerweise gegen Gewalt richte (vgl. Borst u.a. 2018, 5). Mit den Begriffen der vorliegenden Arbeit kann die hier beschriebene Gewalt als transgressiv bezeichnet werden, da sie bestimmte Grenzen überschreitet. Es bietet sich also an, Gewalt mit den Termini ‚Grenze‘ und ‚Transgression‘ zu untersuchen. 24 Die hier genannten Ansätze zur ‚Grenze‘ werden in Kapitel 2.1 dieser Arbeit analysiert. 22
8 1. Einleitung
Die ‚Transgression‘ richtet sich zwar gegen die Grenze, macht diese damit jedoch zugleich sichtbar, wodurch der korrelative Charakter der beiden Konzepte verständlich wird (vgl. Jenks 2006). Aus kulturwissenschaftlicher und anthropologischer Perspektive steht die Transgression als mögliche Inversion im Zentrum des Interesses (vgl. Babcock 1978). Zugleich ist der Terminus eng mit Gewalt und Sexualität verbunden: Georges Bataille erhebt die ‚Transgression‘ zu einem zentralen Begriff, der unlöslich mit der menschlichen Erfahrung verschränkt ist, die Lust und die Angst vor dem Tod vereint und sich der konventionellen Sprache entzieht (vgl. Bataille 1957; Foucault 1963). Hier deutet sich an, dass der literarische Text das transgressive Moment artikulieren kann. Foucault weist jedoch im ersten Band der Histoire de la sexualité darauf hin, dass die Sprache als Mittel der Macht fungiert und die bloße Thematisierung tabuisierter Inhalte nicht transgressiv sei (vgl. Foucault 1976). In der Literatur findet sich die Transgression sowohl auf Ebene der histoire (vgl. Wolfreys 2008) als auch auf der des discours (vgl. Genette 1972; Grabe u.a. 2006). Es kann untersucht werden, wie der Text Sexualität, körperliche, psychische und strukturelle Gewalt darstellt. In der erzählten Welt lassen sich neben den räumlichen auch die sozialen oder moralischen Grenzen transgredieren. Auf discours-Ebene hinterfragen z. B. journalistische oder lyrische Textelemente die Genregrenzen des Romans. Der Rekurs auf Mittel des paradoxalen Erzählens (z. B. Doku- und Autofiktion, Metalepsen, mises en abyme, Achronien) fordert die Grenzen zwischen intra- und extradiegetischer Welt heraus. 25
1.4
Korpus und Methode
Aus einer extensiven Materialfülle habe ich ein Korpus aus acht Romanen mexikanischer Autoren zusammengestellt, die in den Jahren 2004 bis 2014 erschienen sind. Den Beginn des Untersuchungszeitraums markiert 2004, als das NAFTAFreihandelsabkommen zehn Jahre besteht und Mexiko sich mit den sozioökonomischen Auswirkungen in einem wirtschaftlich und politisch gespaltenen Land befasst. Den Abschluss der Untersuchung bildet das Jahr 2014, als die 43 Studierenden der Normal Rural in Ayotzinapa verschleppt werden und dies einen negativen Einschnitt im kollektiven Gedächtnis markiert. 26 Die ausgewählten Werke sind David Toscanas El último lector (2004), Cristina Rivera Garzas La muerte me da (2007), Yuri Herreras Señales que precederán al fin del mundo (2009), César Silva Márquez’ Una isla sin mar (2009), Luis Humberto Crosthwaites Tijuana: Vgl. Kapitel 2.2. der vorliegenden Arbeit zum Konzept der ‚Transgression‘. Im Untersuchungszeitraum polarisieren unterschiedliche Ereignisse die Bevölkerung, wie die Wahl von 2006 und die von Calderón ausgerufene guerra contra el narcotráfico, die den Anstieg der Gewalt potenzieren (vgl. Kapitel 3.2.). – Da die vorliegende Arbeit die politischen und sozialen Grenzen innerhalb Mexikos untersucht, und sich das Phänomen Gewalt in Mexiko anders manifestiert als in den USA, bezieht sie keine chicano-Literatur in die Analyse ein. Damit soll vermieden werden, den Grenzbegriff abstrahierend oder universalisierend auf disparate soziopolitische Zusammenhänge zu übertragen. 25 26
1.4 Korpus und Methode 9
Crimen y olvido (2010), Nadia Villafuertes Por el lado salvaje (2011), Geney Beltrán Félix’ Cualquier cadáver (2014) sowie Guillermo Arreolas Fierros bajo el agua (2014). Um einen Querschnitt des zeitgenössischen mexikanischen Romans zu zeichnen, wurden die folgenden strukturellen, inhaltlichen und ästhetischen Selektionskriterien angewandt: Die ausgewählten Autoren repräsentieren unterschiedliche Altersklassen, Geschlechter und Herkunftsorte. Da nicht alle aus dem Norden Mexikos stammen, zählt die mexikanische Forschung nur Crosthwaite, Silva Márquez, Toscana und Rivera Garza zur literatura fronteriza. Während sich Autoren wie Rivera Garza oder Herrera einer großen Beliebtheit erfreuen und ihr international ausgezeichnetes Werk in diverse Sprachen übersetzt ist, sind andere – wie Arreola oder Villafuerte – über Mexiko hinaus bislang wenig bekannt. 27 Trotz seiner Präsenz innerhalb mexikanischer Diskurse wird das Werk Beltráns international bisher kaum rezipiert. 28 Insgesamt ist zu den ausgewählten Romanen nur spärliche Forschungsliteratur verfügbar und zu dem Korpus liegt bislang keine Monographie vor. 29 Das Korpus der vorliegenden Arbeit ist auf Romane beschränkt. Das verdeutlicht die Vielfalt des zeitgenössischen mexikanischen Romans mit unterschiedlichen Untergattungen wie der Dokufiktion oder novela policíaca. Zudem lässt sich untersuchen, ob und wie die Texte mit der Gattung experimentieren und ob sie die Genregrenzen hinterfragen, indem sie beispielsweise lyrische Elemente in das Werk integrieren. Andere Gattungen wie journalistische Texte, crónicas oder Filme werden im Laufe der Arbeit ergänzend herangezogen, da sie wichtige diskursive Beiträge leisten. 30 Die erzählte Welt der ausgewählten Romane ist hauptsächlich in Mexiko situiert, wobei unterschiedliche Orte zugelassen wurden: sowohl die frontera norte als auch die frontera sur, Schauplätze in ländlichen, ‚peripheren‘ Orten, aber auch das Auf Deutsch liegen die Romane Herreras vor, Señales que precederán al fin del mundo, Trabajos del reino und La transmigración de los cuerpos, erschienen unter dem Titel Der König, die Sonne, der Tod. Mexikanische Trilogie (Herrera 2014), übersetzt von Susanne Lange. Herrera (2016) und Rivera Garza (2005) werden mit dem deutschen Anna Seghers-Preis ausgezeichnet (vgl. Anna Seghers Stiftung o. J.). Toscana ist im Jahre 2003/2004 Gast des Berliner Künstlerprogramms (vgl. DAAD o. J.), Willi Zurbrüggen übersetzt mit Endstation Tula (Toscana 1998) ein Werk Toscanas ins Deutsche. Näheres zu den Autoren findet sich zu Anfang des jeweiligen Analysekapitels dieser Arbeit. 28 Beltrán gilt als einflussreiche, kritische Stimme innerhalb der neueren mexikanischen Literatur (vgl. González Boixo 2010, 84). Dennoch verzeichnen internationale Fachdatenbanken keine Forschungsliteratur zu seinem Werk. 29 Auch die ausgewählten Werke der renommierteren Autoren gehören lediglich zum Korpus einzelner Monographien: Die Rolle der Poesie in Rivera Garzas La muerte me da untersucht Salas Durazo (2012), dessen Dissertation nur digital vorliegt. Bislang sind die Dissertationen, die sich mit Herreras Señales que precederán al fin del mundo befassen, unveröffentlicht und waren daher für die vorliegende Arbeit nicht verfügbar, zeugen aber von einem Interesse am Roman (vgl. z. B. Jiménez Chacón 2018). – Toscanas El último lector widmen sich die digital mit beschränktem Zugriff vorliegende Dissertation von Bennett (2007) sowie Scheffer (2015). 30 Vgl. die Überlegungen in Kapitel 3.1.2 zum gesellschaftspolitischen Engagement Intellektueller wie Elena Poniatowska, José Agustín oder Carlos Monsiváis. 27
10 1. Einleitung
‚Zentrum‘ Mexiko-Stadt oder namenlose urbane Settings. Zeitlich haben die Texte ihren Schwerpunkt in der Gegenwart, was jedoch Vor- und Rückblenden nicht ausschließt. Alle Romane sind thematisch heterogen. Die Gewalt ist in der erzählten Welt präsent, jedoch nicht immer explizit sichtbar. Ästhetisch betrachtet experimentieren die Texte auf vielfältige Weise mit den Grenzen und ihrer Überschreitung. Die Arbeit bezieht den international breit rezipierten und erforschten Roman 2666 von Roberto Bolaño als Intertext in die Analyse ein, um zu ergründen, inwiefern er sich auf die Thematisierung von Gewalt in den nachfolgend erschienenen Romanen auswirkt. 31 Die gewählten Methoden der vorliegenden Arbeit ergeben sich aus dem Untersuchungsgegenstand: Im Theorieteil wird eine transdisziplinäre Herangehensweise gewählt, um der Komplexität der Korrelativ-Termini ‚Grenze‘ (Kapitel 2.1) und ‚Transgression‘ (Kapitel 2.2) gerecht zu werden. Mit der narratologischen Perspektive auf Grenzen und Transgressionen entsteht eine Grundlage für die Romananalyse, die beide Termini nicht allein inhaltlich, sondern zudem formal berücksichtigt. Die herangezogenen Theorien werden neu miteinander verbunden. Dabei greift diese Arbeit neben der spanischsprachigen auf die englisch- und deutschsprachige Forschung sowie auf die französische Theorie zurück. Dies ermöglicht es, internationale Gemeinsamkeiten und Differenzen herauszuarbeiten und die Bedeutungsvielfalt der Grenze und Transgression zu erfassen. Um einen breiten Überblick über den soziohistorischen Kontext Mexikos zu erlangen, untersucht Kapitel 3 historische, wirtschaftswissenschaftliche und soziologische Quellen. 32 Der diskursanalytische Zugang erlaubt es, aus einer Metaperspektive heraus aufzuzeigen, wie Medien, Politik und Wissenschaft sprachlich die ‚Grenze‘ und ‚Transgression‘ einsetzen. Zudem lassen sich so Widersprüche und Lücken der aktuellen Forschung offenlegen. Der Textanalyse (Kapitel 4) liegt die methodische Prämisse zugrunde, dass Literatur interdiskursiv ist (vgl. Link und Link-Heer 1990). Sie kann demzufolge die Arndt Lainck (2014) und Ursula Hennigfeld (2015) untersuchen die Verhandlung von Gewalt und dem Bösen in Bolaños Werk und verdeutlichen, dass der Text jenseits der sichtbaren Gewalt auch strukturelle Machtkonstellationen offenlegt. Für die vorliegende Romananalyse bedeutet dieses Ergebnis, dass die Spuren der nicht expliziten Gewalt im Text berücksichtigt werden sollen. 32 Neben renommierten Werken wie der Nueva Historia General de México (2010), beziehe ich Sammelbände ein, die eine neue, kritische Perspektive auf das 20. Jahrhundert in Mexiko und das kulturelle Gedächtnis werfen (Rangel Lozano und Sánchez Serrano 2015; Pensado und Ochoa 2018). Da der spezifische Untersuchungszeitraum der 2000er und 2010er Jahre jedoch noch nicht ausführlich erforscht ist, werden in der vorliegenden Arbeit Datenbanken nationaler (INEGI) und internationaler Art (UNO) herangezogen, die ihrerseits jedoch nicht immer aktuell oder vollständig sind, weshalb zusätzlich Berichte von Nichtregierungsorganisationen (z. B. Reporters Without Borders) und unabhängigen Untersuchungskommissionen (Comisión Interamericana de Derechos Humanos) konsultiert wurden. Ferner analysiert das Kapitel diskursive Positionierungen und Grenzziehungen ausgewählter präsidialer Ansprachen (Felipe Calderón, Andrés Manuel López Obrador) und gleicht sie mit der Berichterstattung in den mexikanischen Medien ab. Darüber hinaus werden kulturelle Erzeugnisse wie Filme oder literarische Texte herangezogen, sofern sie einen Einfluss auf die Debatte um das kulturelle Gedächtnis und auf die Deutung der Ereignisse haben. 31
1.4 Korpus und Methode 11
Grenzen zwischen konkurrierenden ‚Spezialdiskursen‘ überschreiten und einen neuen Beitrag zur Debatte leisten, der sich außerdem durch die Literarizität ästhetisch vom journalistischen Text unterscheidet. Die Analyse der Romane wird mit einer kulturwissenschaftlichen Herangehensweise verbunden, die extraliterarische Aspekte berücksichtigt. Dies liegt in der Fragestellung begründet, die die ästhetische Besonderheit des Textes mit seiner gesellschaftspolitischen Bedeutung verknüpft.
2.
Theorie: ‚Grenze‘ und ‚Transgression‘
2.1
Das Konzept der ‚Grenze‘
Die gegenwärtig dringende Frage, wie Grenzen im globalisierten Zeitalter beschaffen sind, führt dazu, dass vor allem ihre territoriale Erscheinungsform breit kommentiert, zugleich aber auf ihre neue Beweglichkeit hingewiesen wird (vgl. z. B. Marshall 2018; Edition Le Monde Diplomatique 2018). Diese alle Disziplinen umspannende Konjunktur der Grenzthematik zeigt sich, neben den Border Studies und estudios fronterizos, in den deutschsprachigen sozial-, kultur- und literaturwissenschaftlichen Beiträgen (vgl. Bauer und Rahn 1997; Benthien und Krüger-Fürhoff 1999; Kleinschmidt und Hewel 2011). Auch die romanistische Forschung untersucht die Grenze in variablen Zusammenhängen (vgl. De Toro 2008; Locane und Nemrava 2019). Die vielfältigen Anwendungsfelder demonstrieren, dass die ‚Grenze‘ kein rein topologischer Terminus ist, kann er sich doch beispielsweise auf Grenzen der Identität, des Geschlechts, zeitliche, soziale oder sprachliche Grenzen beziehen. Dass der ‚Grenze‘ unterschiedliche Bedeutungen zugeschrieben werden und sie variable Erscheinungsformen annimmt, lassen allein schon ihre diversen spanischen Namen erkennen: confín, límite, umbral, frente, frontera. 1 Um zu einer Definition der ‚Grenze‘ zu gelangen, die ihre Polyvalenz berücksichtig, verfolgt dieses Kapitel eine transdisziplinäre und diachrone Herangehensweise. Der Akt der Grenzziehung, so die These, ist immer ein sozialer, der von den Akteuren und ihren Diskursen abhängt. Dabei hat die Grenze nicht nur eine abweisende oder trennende Funktion, vielmehr wirkt sie auch verbindend: Deutet man sie als Schwelle, ist sie eine positiv konnotierte Kontaktzone zweier getrennter Bereiche, die Wandel und Übergänge ermöglicht. 2.1.1
Etymologie der ‚Grenze‘ – neutrale Zone, Demarkationslinie, Front Bereits in der antiken Philosophie ist die ‚Grenze‘, peras (πέρας), ein zentrales Konzept. Die Pythagoreer integrieren sie in die von ihnen aufgestellten Gegensatzpaare, die die Welt strukturieren und stellen sie in Opposition zum ‚Unbegrenzten‘, apeiron (ἄπειρον) (vgl. Hager 1971; Gatzemeier 1974). Mit Ausnahme von Anaximander bewerten die Vorsokratiker das apeiron negativ, da „wahres Sein und göttliche Unsterblichkeit mit begrenzter Gestalt und Form identisch“ seien (Hager 1971, 433). So auch Platon, der die Grenze als eine der vier Arten des Seienden bezeichnet und im Timaios beschreibt, wie sie das apeiron ordnet und es dadurch in „Schönheit, Gesetz und Ordnung“ umwandelt 1 In diesem Zusammenhang ist es verwunderlich, dass die Geschichtlichen Grundbegriffe das Lemma ‚Grenze‘ nicht aufführen (vgl. Brunner und Conze und Koselleck 2004). – Die Enzyklopädie der Neuzeit betont, dass es sich um einen vielschichtigen Terminus handelt: „Veränderlichkeit, Veränderbarkeit und Polymorphie gehören zu den Kernelementen des G.-Begriffs“ (Stauber 2006, 1113).
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Augustin, Gewalt erzählen, Prolegomena Romanica. Beiträge zu den romanischen Kulturen und Literaturen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-62205-6_2
2.1 Das Konzept der ‚Grenze‘ 13
(vgl. Gatzemeier 1974, 873f.). Die Grenze ist bei Aristoteles ebenfalls positiv konnotiert, da sich ihm zufolge Gegenstände erst durch eine Abgrenzung konstituieren (vgl. ebd.). Hier wird ersichtlich, dass die sich auf Raum, Zeit und Sein beziehende Grenze essenziell ist, um die Welt zu ordnen. Dies zeigt sich auch an anderer Stelle, wenn Aristoteles hóros (ὅρος), eigentlich ‚Grenzstein‘, verwendet, um damit einen ‚Begriff‘ bzw. eine ‚Definition‘ zu umschreiben. Er überträgt das Wort somit auf den Bereich der Sprache und Bedeutungen. 2 Die verschiedenen Grenzbegriffe in den romanischen Sprachen lassen sich etymologisch anhand ihrer lateinischen Ursprünge herleiten. Am Beispiel ihrer sich verändernden Darstellung in juristischen und politischen Schriften der Antike zeigt Scattola (1997), dass sich die ‚Grenze‘ im römischen Recht größtenteils auf die privatrechtliche Sphäre bezieht. Während der Gesetzestext des Corpus iuris civilis die Grenzen zwischen unterschiedlichen Völkern nicht erwähnt, thematisiert er jene zwischen den Besitztümern römischer Bürger, die schon früh Gegenstand der juristischen Schriften sind (vgl. Scattola 1997, 37). So definiert beispielweise bereits ca. 450 v. Chr. das Zwölftafelgesetz das confinium als „gemeinsame[s] Grenzland, das von beiden Seiten frei und unbebaut gelassen werden soll, damit man den Pflug wenden kann“ (ebd., 43). Bei diesen neutralen Regionen handelt es sich einerseits um Landabschnitte, die aufgrund natürlich-geographischer Gegebenheiten als abgrenzende Zwischenzone dienen, andererseits werden sie von Menschenhand konstruiert (vgl. Febvre 1962, 15). Das Wort finis beschreibt die Grenze eines Landbesitzes, einer Stadt oder Ähnlichem, den äußeren Abschnitt des Landes, das wiederum mit dem Plural fines definiert wird (vgl. Scattola 1997, 37). Da die Rechtstexte diverse die Landschaft und Natur beschreibende Worte nutzen, erhalten diese eine politische Konnotation und entwickeln sich aus der privatrechtlichen zur öffentlichen Sphäre hin. Dies gilt z. B. für limes, ehemals „eine Bahn, die etwas durchquert: die Felder, den Wald, den Himmel, das Meer, die Truppen der Feinde“ (ebd., 39; vgl. Ruprechtsberger 1999). In der Landwirtschaft bezeichnet limes den Grenzweg zwischen zwei Besitztümern und die davon abgeleiteten Begriffe limitare und limitatio beziehen sich zunächst ebenfalls auf das Vermessen und Einteilen des Landes durch die Feldmesskunst (vgl. Scattola 1997, 46-50). Erst später verweisen die Begriffe auf die äußeren Reichsgrenzen, da die römische Konzeption des Rechtsraumes eine universelle Rechtsgrundlage mit anderen Völkern ausschließt (vgl. ebd., 39f., 44f.). 3 Eine gegenseitige Anerkennung von Außengrenzen kann also nicht zustande kommen, vielmehr geht es darum, das Reich von innen heraus an den jeweiligen Außen-Territorien zu sichern (ebd.). Wie diese Semantik in das Wort limes übergeht, zeigt der französische 2 Aristoteles verwendet hóros in der Topik und der Ersten Analytik. Die Grenzmetaphorik bleibt bei der Übersetzung des Wortes ins Lateinische erhalten, wie Rüdiger Zill (2014, 144) an definitio und determinare zeigt, die mit finis und terminus verwandt sind. 3 In dieser zweiten Konnotation taucht es erstmals bei Tacitus in den Schriften Agricola und Annales auf, wo es beschreibt, wie die Nachfolger von Augustus die Außengrenzen des Reichs festlegen. Im späteren Corpus iuris civilis wird es auch auf diese Weise verwendet (vgl. Scattola 1997, 39f.).
14 2. Theorie: ‚Grenze‘ und ‚Transgression‘
Historiker Lucien Febvre, der in „Frontière: le mot et la notion“ (1962) historische Grenzkonzeptionen analysiert. Der limes diene als eine Verteidigungslinie der römischen Gemeinschaft, gegen „populations réfractaires à l’ordre, à la paix, à la civilisation matérielle ou morale qu’ils représentent“ (Febvre 1962, 16). Jürgen Osterhammel (2001, 210) prägt für diese Art der Grenze den Begriff „imperiale Barbarengrenze“, die durch Eroberungsfeldzüge ausgedehnt wird, aber auch über längere Zeit stabil bleiben kann. Grenzanlagen sichern die als zivilisiert erachtete Sphäre und trennen sie von der vermeintlichen Barbarei (ebd., 211). Aus dem lateinischen frons, frontis entwickelt sich über das spanische frente das Wort frontera, welches in den überlieferten Schriften erstmals im Cantar de Mio Cid in Erscheinung tritt (vgl. Corominas 1954, 573). 4 In diesem die spanische Literaturgeschichte initiierenden Epos beschreibt die frontera ein Gebiet, das zu Zeiten der reconquista Völker voneinander trennt (vgl. Febvre 1962, 23). Aus dem Begriff entwickelt sich die französische frontière (vgl. Stauber 2006, 1105). Dem heutigen frontière sind etymologisch drei grundlegende Bedeutungen inhärent: Einerseits herrscht „la notion de bande de terrain plus ou moins large, sise aux extrémités d’un pays, bordant sa ligne de démarcation“ (Febvre 1962, 22f.). Es geht dabei um das, was bis ins 17. Jahrhundert hinein fins (lateinisch fines) heißt und mit der Zeit durch confins ersetzt wird (ebd., 11ff.). 5 Andererseits könne frontière für die Demarkationslinie an sich stehen, als Synonym des Wortes limites (lateinisch limes), wie an dem Ausdruck „délimiter une frontière“ ersichtlich wird (ebd., 14, Hervorhebung i. O.). Drittens bestehe die „notion de barrière défensive créée pour assurer la protection d’un pays contre les agressions des voisins“ (ebd., 23). Dabei bleibt offen, ob es sich um eine durchgängige Linie oder einzelne Befestigungen handelt (ebd.). Im Spanischen vereint das Wort frontera ebenfalls die dreifache Semantik von confín, límite und frente (vgl. Real Academia Española 2014, 1062). Dabei fällt auf, dass sowohl im Spanischen als auch im Französischen das Wort límite bzw. limite nicht nur die räumliche, sondern ebenfalls eine zeitliche Begrenzung ausdrückt und sich auf körperliche oder geistige Phänomene beziehen kann (vgl. ebd., 1341; Trésor de la Langue Française informatisé 1994). Der deutsche Begriff ‚Grenze‘ entwickelt sich aus dem polnischen und russischen granica, also „Grenzmarke, Grenzzeichen“ (Kluge und Seebold 2012). Er ist seit Mitte des 13. Jahrhunderts gebräuchlich und ersetzt das ursprünglich dominante Wort germanischen Ursprungs, ‚Mark‘, das sich auf ein Grenzgebiet bezieht und daher „nicht mehr […] den modernen Vorstellungen einer Grenze“ entspricht
Corominas zufolge entsteht der Cantar de Mio Cid im Jahr 1140 (vgl. Corominas 1987, 281). Da diese Datierung heutzutage allerdings umstritten ist, zeigt die Jahreszahl hier nur annähernd, dass der Cid zwischen dem 12. und 13. Jahrhundert verfasst wird (vgl. Millet und Montaner 2013, 496). 5 Die semantische Vielfalt der Grenzbegriffe wird daran ersichtlich, dass allein das französische confins unterschiedliche Formen umschreibt: „L’image évoquée est celle d’une portion d’espace concr. ou abstr.“, „L’image évoquée est celle d’une ligne ou d’un point“ (Trésor de la Langue Française informatisé 1994). 4
2.1 Das Konzept der ‚Grenze‘ 15
(ebd.). 6 Im 16. Jahrhundert verbreitet sich der Terminus zunehmend durch Martin Luther (vgl. DWB 1854-1961, Bd. 9, Sp. 125). Im Deutschen Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm erschließt sich der Konstruktcharakter von Grenzen, die man „(um)schlieszen, umschränken“ sowie „weitern, engern, verrücken“ kann (ebd., Bd. 9, Sp. 140). Es attestiert dem Lemma ‚Grenze‘ eine semantische Dichte und nennt neben dem juristischen sowie militärischen auch den erkenntnistheoretischen und metaphorisch-abstrakten Gebrauch (ebd., Bd. 9, Sp. 138). Als bedeutende Metapher ist die Grenze mit der kosmologischen Frage verbunden, ob das Universum begrenzt oder unbegrenzt ist (vgl. Zill 2014, 138, 142). Die bis ins späte Mittelalter vom aristotelischen Sphärenmodell geprägte Konzeption des Universums hinterfragen ab dem 15. Jahrhundert beispielsweise Nikolaus von Kues und Kopernikus (vgl. ebd., 142f.). Außerdem gelten die von den Säulen des Herakles symbolisierten Grenzen des Erdkreises als „bewußt errichtetes Grenzzeichen“, dessen Transgression geographische, epistemologische und moralische Konsequenzen hat (ebd., 143). Damit kann man die sich nach der Atlantiküberquerung durch die Europäer veränderte Weltordnung als Resultat einer Grenzüberschreitung erachten (ebd.). 7 Mit den sich in der Neuzeit etablierenden staatlichen Grenzen gilt der Staat ab dem 15. Jahrhundert als Souverän und die Menschen beginnen, sich ihm zugehörig zu fühlen (vgl. Scattola 1997, 46). Die philologische Forschung des 16. und 17. Jahrhunderts überträgt die Grenzbegriffe der römischen Rechtstexte auf die Aktualität und ab Mitte des 17. Jahrhunderts wird die Grenze mit dem erstarkenden Naturrecht schließlich Teil der zwischen unterschiedlichen Staaten geltenden Rechtsauffassung (vgl. ebd., 52, 65f.). Febvre erachtet es als entscheidendes Verdienst der Französischen Revolution, dass sie die Schranken zwischen den unterschiedlichen sozialen Schichten auf französischem Territorium aufhebt, indem die französische Bevölkerung an ihren Staat gebunden wird und über alle Schichten hinweg eine neu konstruierte Einheit formt. La ligne des limites devint une espèce de fossé entre nationalités fortement distinctes. Elle se doubla d’une frontière morale. Et qui ne tarda pas à se hérisser de toutes les haines, les rancunes et les frayeurs que soulevait, en France et à l’étranger, la Révolution française (ebd., 19).
Der sprachübergreifende Einfluss des Wortes ‚Mark‘ zeigt sich daran, dass im Tesoro von Covarrubias (1994, 336, 344) das Lemma comarca als Synonym der confines einen Grenzbereich beschreibt. 7 Vittoria Borsò zeigt, dass der Atlantik seit der europäischen Eroberung des amerikanischen Territoriums zu einer doppeldeutigen Grenze geworden ist, der Kontakt und Abgrenzung in sich vereint: „El Atlántico funciona desde entonces como límite en su doble acepción: como frontera con respecto a las topografías políticas e ideológicas y como confín, es decir, zona de pasaje, con respecto a las transformaciones culturales“ (Borsò 2012a, 58). Damit gelingt es ihr, kulturelle Austauschprozesse zu denken, ohne die fortwirkenden Konsequenzen der kolonialen Gewalt außer Acht zu lassen. Es offenbart sich die Besonderheit des polyvalenten Grenzbegriffs, kulturelle Prozesse in ihrer Mehrdeutigkeit erfassen zu können. 6
16 2. Theorie: ‚Grenze‘ und ‚Transgression‘
Dabei wächst die Bedeutung der Außengrenze, die sich in der Identität der Bevölkerung in Abgrenzung von den ‚Anderen‘ widerspiegelt („frontière morale“). Doch die „nationalstaatliche Territorialgrenze“ als „Demarkationslinie zwischen zwei im Prinzip ähnlich organisierten politischen Gebilden“ muss einen Fortifikationsprozess durchlaufen, bevor sie eine wirklich lineare Gestalt annimmt (Osterhammel 2001, 211f.). Auch wenn die gesetzten Demarkationslinien die politischterritoriale Einheit absichern sollen, lassen sich die sozialen Praktiken meist nicht auf diese Statik reduzieren: Der Grenze wird damit als randständigem Raum trotz des Bezugs auf dominierende Zentralstaatlichkeit ein gewisses Eigenleben als Folge ‚peripherischer Auflockerung‘ zugesprochen. Oft sind es solche schwächer kontrollierten Zwischengürtel, an denen sich politische und ethnische Neubildungen ergeben und mitunter zu Herausforderungen für die beiderseitigen Zentren entwickeln (ebd., 212).
Grenzräume sind hiernach heterogen und definieren sich einerseits über ihre spezielle Beziehung zum Zentrum des eigenen Nationalstaats sowie andererseits über den Grad des grenzüberschreitenden Kontakts. Dabei kommt dem Grenzraum eine dynamische, auf die Gesellschaften rückwirkende Funktion zu („Neubildungen“, „Herausforderungen“). Neben der imperialen Barbarengrenze und der nationalstaatlichen Territorialgrenze macht Osterhammel einen dritten Grenztyp aus: Die „Erschließungsgrenze“, frontier genannt, ist die „Expansionsgrenze par excellence“, eine sich konstant bewegende Grenze, die noch weniger als die beiden zuvor erwähnten Grenzarten einer Linie entspricht (ebd., 213f.). Vielmehr treffen im Gebiet der frontier zwei vorher getrennte Gruppen konfliktiv aufeinander (vgl. ebd.). Das eine Kollektiv rechtfertige seine Expansion durch „die naturalistische Vorstellung, ‚unberührte Wildnis‘ durch Arbeit zurückzudrängen und sich damit einen Rechtstitel auf vorgeblich herrenloses Land, terra nullius, zu erwerben“ (ebd.). Diese metaphorische Konzeption der frontier wird Ende des 19. Jahrhunderts maßgeblich von Frederick Jackson Turner beeinflusst, der sie in seinem programmatischen Aufsatz „The Significance of the Frontier in American History“ (1893) auf problematische Weise zu einem „meeting point between savagery and civilization“ (Turner 1893, 200) stilisiert. 8 Die frontier ist nur eine unter diversen englischen Bezeichnungen für die Grenze: „frontier, boundary, border, limit“ (Febvre 1962, 24). Während border ‚Rand‘
8 Turner (1893, 200, 207) erzählt ethnozentrisch die Kolonisierung des nordamerikanischen Kontinents nach, bei der die anglophonen Kolonisten, für Turner das Inbild der Zivilisation, auf die als barbarisch gezeichneten Indigenen treffen. Da Turner den Beginn der amerikanischen Geschichte chronologisch bei der ersten Landnahme durch europäische Eroberer verortet, erachtet er auf fragwürdige Art das Land als zuvor unbewohntes Terrain. Die Metapher der frontier legitimiert das US-amerikanische Selbstbild in einer dreifachen Abgrenzung vom ‚Anderen‘, erstens vom alten Europa, zweitens von der indigenen Bevölkerung auf nordamerikanischem Boden und drittens schließlich von Mexiko. Kapitel 3.1.1 der vorliegenden Arbeit erläutert, dass den Territorialkonflikten vor dem Mexikanisch-Amerikanischen Krieg eine ähnliche Vorstellung zugrunde liegt, die sog. Manifest Destiny (vgl. Erazo Heufelder 2018, 33f.).
2.1 Das Konzept der ‚Grenze‘ 17
oder ‚Saum‘ heißt, meint boundary ‚Demarkationslinie‘ (ebd.). 9 Peter Sahlins warnt davor, die zweigliedrige Grenzkonzeption von frontier und boundary hierarchisch zu bewerten als „evolutionary movement, necessary and irreversible, from a sparsely settled, ill-defined zone toward an uncontested, nonsubstantial, mathematically precise line of demarcation.“ (Sahlins 1989, 4). Wie die vorliegende Arbeit zeigt, sind lineare Grenzkonzeptionen kein ausschließliches Phänomen der Moderne, existieren sie doch bereits in der Antike, wenn auch zunächst in der privatrechtlichen Sphäre. Zudem bestehen Sahlins zufolge nach nationalstaatlichen Grenzziehungen weiterhin frontier-artige Sphären, wie administrative Zonen (Zoll, militärische Grenzsicherung), die gleichzeitig der Ort internationaler Zusammenarbeit sind (vgl. ebd., 4f.). Kurzum muss die heutige Wahrnehmung von nationalstaatlichen Territorien, die sich über ihre politischen Grenzen definieren, die historisch unterschiedlichen Konnotationen und konkurrierenden Grenzdefinitionen als gleichwertig berücksichtigen und anerkennen, dass Grenzen die Selbst- und Fremdwahrnehmung erheblich beeinflussen. Hier wird die Nähe zu Osterhammels Ansatz deutlich, der konstatiert, dass man jede der drei von ihm erläuterten Grenzformen auch als kulturelles Grenzphänomen lesen kann (vgl. Osterhammel 2001, 216f.). Nicht immer stimmen die Außengrenzen mit kulturellen Grenzen überein, denn auch Binnengrenzen und nicht sichtbare Grenzen bestimmen das Leben und die Praktiken der Menschen (vgl. ebd., 217f.). Aus den etymologischen Überlegungen folgt, dass die deutschen, englischen und romanischen Grenztermini nicht deckungsgleich sind. Der jeweils verwendeten Bezeichnung liegt eine individuelle Begriffsgeschichte zugrunde. Das sensibilisiert für die Bedeutungsvielfalt der ‚Grenze‘ und zeigt, in welch engem Zusammenhang sie mit den Vorstellungen von Welt, Nation und Identität steht. Grenzbegriffe dienen den Menschen dazu, die Welt zu beschreiben und zu kategorisieren, das Miteinander zu strukturieren und dem ‚Anderen‘ zu begegnen. In der vorliegenden Arbeit, die sich mit dem Zusammenleben in Krisenzeiten, äußeren und inneren Grenzen sowie sozialer Interaktion befasst, kann man die etymologischen Vorüberlegungen anwenden, um zu untersuchen, welche Vorstellungen die verwendeten Grenzbegriffe evozieren. 2.1.2
Raum, Macht, Grenzen – innergesellschaftliche Grenzziehungen
Am historischen Wandel der Grenze ist die menschliche Interaktion maßgeblich beteiligt. Die Frage, wie sich soziale Differenzen räumlich niederschlagen und dies in der Konstruktion von Grenzen mündet, kann man anhand ausgewählter Theorien der Soziologen Georg Simmel und Pierre Bourdieu sowie mit Michel
Border und boundary können sich auch auf nicht-räumliche Phänomene beziehen und werden ab Mitte des 20. Jahrhunderts häufig in der Anthropologie verwendet, um ethnische oder religiöse Gruppenidentitäten bzw. Grenzüberschreitungen zu beschreiben (vgl. Stauber 2006, 1111). Limit bezieht sich auf „die Grenze im übertragenen Sinne“ (Zill 2014, 139). 9
18 2. Theorie: ‚Grenze‘ und ‚Transgression‘
Foucault beantworten, die den Zusammenhang zwischen ‚Macht‘ und ‚Raum‘ erläutern. In seinem 1909 erschienenen Aufsatz „Brücke und Tür“ attestiert Georg Simmel (1957, 2) anhand dieser von ihm metaphorisch verwendeten Gebilde den Menschen einen Drang, permanent auf den Raum einzuwirken. Weil der Mensch das verbindende Wesen ist, das immer trennen muß und ohne zu trennen nicht verbinden kann – darum müssen wir das bloße indifferente Dasein zweier Ufer erst geistig als eine Getrenntheit auffassen, um sie durch eine Brücke zu verbinden (Simmel 1957, 6).
Simmel stellt fest, dass es keine natürlichen Grenzen gibt, sondern die Menschen sie erst als solche wahrnehmen und folglich definiern müssen, es sich dabei also um einen kommunikativen und sozialen Akt handelt. Nachdem das Individuum die Trennung mental erfasst, konstruiert es eine verbindende Brücke, die diesen mentalen Prozess verkörpere (vgl. ebd., 2). Hieraus lässt sich folgern, dass Menschen das Bedürfnis der Grenzüberschreitung erst wirklich empfinden können, wenn sie die Grenzen als solche wahrnehmen. Dass die vom Subjekt auf den Raum ausgeübte Verbindung von Elementen mit der Trennung essenziell zusammengehört, zeigt Simmel, indem er die Brücke mit der Tür vergleicht (vgl. ebd., 3). Denn obwohl die Tür einerseits von der Außenwelt isoliere, bliebe sie doch beweglich: Und ebenso ist der Mensch das Grenzwesen, das keine Grenze hat. Der Abschluß seines Zuhauseseins durch die Tür bedeutet zwar, daß er aus der ununterbrochenen Einheit des natürlichen Seins ein Stück heraustrennt. Aber wie die formlose Begrenzung zu einer Gestalt kommt, so findet seine Begrenztheit ihren Sinn und ihre Würde erst an dem, was die Beweglichkeit der Tür versinnlicht: an der Möglichkeit, aus dieser Begrenzung in jedem Augenblick in die Freiheit hinauszutreten (ebd., 6f.).
Der Mensch als „Grenzwesen, das keine Grenze hat“ verdeutlicht die Dialektik von Trennung und Verbindung. Die Grenze entfaltet demzufolge ihre volle Wirkung erst dadurch, dass sie potenziell transgredierbar ist. 10 Bereits in Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung [1908] (1922) fragt Simmel danach, wie sich räumliche und soziale Faktoren wechselseitig beeinflussen (vgl. Schroer 2012, 62). Der Raum bedingt also die menschliche Interaktion, wird aber erst durch diese zu einem gefüllten, analysierbaren Raum, der sich über fünf Qualitäten definiert (ebd., 63f.). Eine dieser Qualitäten ist, dass der Raum in Teile gegliedert werden könne, die durch „Grenzen eingerahmt sind“ (Simmel 1922, 465). Simmel überträgt das Motiv des Bilderrahmens auf soziale Gruppen und akzentuiert die doppelte Funktion von Grenzen, sowohl ab- als auch einzugrenzen. 11 Grundlegend ist dabei, dass Simmel natürliSimmels Definition der Tür wird in den Analysen der Romane von David Toscana (Kapitel 4.1) und Cristina Rivera Garza (4.2) herangezogen. 11 „Der Rahmen, die in sich zurücklaufende Grenze eines Gebildes, hat für die soziale Gruppe sehr ähnliche Bedeutung wie für ein Kunstwerk. [...] So ist eine Gesellschaft dadurch, daß ihr 10
2.1 Das Konzept der ‚Grenze‘ 19
che Grenzen negiert, da sie immer von Menschen konstruierte soziale Gebilde darstellen (vgl. Schroer 2012, 68). Während eine Grenze verhindern soll, dass sich zwei Größen wechselseitig beeinflussen, führt paradoxerweise gerade die Grenzsetzung dazu, dass diese sich aufeinander beziehen und verbunden werden (vgl. ebd., 69). Diese Dialektik findet sich in jeglichen sozialen Beziehungen wieder und zeigt sich paradigmatisch in der territorialen Grenze: „Die Grenze ist nicht eine räumliche Tatsache mit soziologischen Wirkungen, sondern eine soziologische Tatsache, die sich räumlich formt“ (Simmel 1922, 467). Schroer (2012, 78f.) krisitiert zurecht, dass Simmel Bewegung immer als Wechsel zwischen zwei Containern versteht, keinen Raum der transnationalen Bewegung definiert und überzeugt ist, dass modernisierte Gesellschaften sich vom Raum loslösen. Trotz der Kritikpunkte ist Simmels Theorie anschlussfähig, da sie berücksichtigt, dass der Raum sozial erschaffen wird, und er kein objektives Gebilde, sondern ein sichtbarer Ausdruck menschlicher Interaktion ist (vgl. ebd., 78). In der Soziologie Pierre Bourdieus ist der Raum ebenfalls bedeutsam, da die räumlichen Strukturen die soziale Verfasstheit einer Gesellschaft sichtbar machen: „On peut ainsi représenter le monde social sous la forme d’un espace (à plusieurs dimensions) construit sur la base de principes de différenciation ou de distribution […]“ (Bourdieu 1984, 3). Diesen Raum vergleicht Bourdieu mit einem „champ de forces“ (ebd.), um seine Relationalität hervorzuheben. Während das hier evozierte Bild suggeriert, dass man die sozialen Kräfteverhältnisse verschieben kann, lassen sich jedoch laut Bourdieu die sozialen Strukturen nur schwer verändern, da sie sich in den Raum einschreiben (vgl. Schroer 2012, 82) und dadurch auf die Mitglieder der Gesellschaft geradezu natürlich wirken: „Le propre du sens des limites est d’impliquer l’oubli des limites.“ (Bourdieu 1979, 549). Anders gesagt werden die Grenzen nachträglich naturalisiert und in ihrer Unerschütterlichkeit bestärkt, da man ihren Konstruktcharakter ausblendet. Die räumlichen Positionen, die die Akteure einer Gesellschaft einnehmen, seien ebenfalls relativ und richten sich nach ihrem jeweils angehäuften ökonomischen, kulturellen sowie sozialen Kapital (vgl. ebd., 128). Aus diesem Grund begegnen sich nur selten Menschen, die nicht über ein ähnliches Maß an Kapital verfügen (vgl. Schroer 2012, 84). Selbst wenn unterschiedlich ausgestattete Akteure räumlich aufeinandertreffen, erachtet Bourdieu eine wechselseitige emotionale Annäherung als unwahrscheinlich (vgl. ebd., 95). Nicht gänzlich überzeugend ist an Bourdieus Theorie, dass das Raumkonzept starr wirkt und sozialer Wandel nahezu unmöglich scheint (vgl. ebd., 102f.). Außerdem weist Schroer darauf hin, dass in der heutigen Gesellschaft soziale Hierarchien oft nicht mehr direkt an der räumlichen Anordnung ablesbar sind, sie aber dennoch als solche bestehen (vgl. ebd., 103). So wirken auch in marginalisierten Räumen bestimmte Ausschlussmechanismen (vgl. ebd., 104). Existenzraum von scharf bewußten Grenzen eingefaßt ist, als eine auch innerlich zusammengehörige charakterisiert, und umgekehrt: die funktionelle Beziehung jedes Elementes zu jedem gewinnt ihren räumlichen Ausdruck in der einrahmenden Grenze“ (Simmel 1922, 465).
20 2. Theorie: ‚Grenze‘ und ‚Transgression‘
Mit der daran anschließenden Frage, wie Menschen innerhalb von Gemeinschaften in marginale Positionen gelangen, befassen sich die Analysen Michel Foucaults, dessen Werk sich ausführlich den sozialen Strukturen und Prozessen widmet, die bei der Konstruktion von Alterität im Laufe der Geschichte westlicher Gesellschaften in Erscheinung treten (vgl. Dünne 2012, 292). Foucault arbeitet selbst transdisziplinär, an der Schnittstelle unterschiedlicher Disziplinen wie der Geschichtswissenschaft und der Philosophie (vgl. Geisenhanslüke 2014, 18). In seinem frühen Werk Histoire de la folie à l’âge classique (1961) begibt er sich auf die Suche nach der „césure qui établit la distance entre raison et non-raison“ und zeichnet nach, wie der als ‚wahnsinnig‘ geltende Mensch im 17. und 18. Jahrhundert diskursiv erschaffen wird. 12 Foucault stellt fest: Selbst wenn die Gruppe der Ausgeschlossenen sich über die Jahrhunderte hinweg verändert, so bleibt doch der Prozess sozialer Exklusion bestehen. Pauvres, vagabonds, correctionnaires et ‚têtes aliénées‘ reprendront le rôle abandonné par le ladre, et nous verrons quel salut est attendu de cette exclusion, pour eux et pour ceux-là mêmes qui les excluent. Avec un sens tout nouveau, et dans une culture très différente, les formes subsisteront – essentiellement cette forme majeure d'un partage rigoureux qui est exclusion sociale, mais réintégration spirituelle (Foucault 1972, 19).
Indem die nicht als ‚normal‘ geltenden Menschen ausgegrenzt werden, erhalten sie zugleich einen symbolischen Platz in der Ordnung, die sie in der Exklusion integriert („exclusion sociale“ – „réintégration spirituelle“). Damit greift die Ordnung auf die Menschen zu. Die diesen Prozessen zugrundeliegenden Machtstrukturen zeigen sich, wenn man eben jene Grenzbereiche nach ihrer symbolischen Bedeutung befragt: On pourrait faire une histoire des limites […]. Interroger une culture sur ses expérienceslimites, c’est la questionner, aux confins de l’histoire, sur un déchirement qui est comme la naissance même de son histoire (Foucault 1994a, 161).
Der Blick auf die Randbereiche („limites“, „confins“) macht nachvollziehbar, wie die Gesellschaft sich über die Ausgrenzung des ‚Anderen‘ konstituiert. Entscheidend ist dabei der Terminus der ‚Vernunft‘, der Foucault zufolge erst über eine diskursiv erschaffene Alterität entsteht: Cette structure est constitutive de ce qui est sens et non-sens, ou plutôt de cette réciprocité par laquelle ils sont qu’il ne peut y avoir dans notre culture de raison sans folie, quand bien même la connaissance rationnelle qu’on prend de la folie la réduit et la désarme en lui prêtant le frêle statut d’accident pathologique (ebd., 163).
Der ‚Wahnsinn‘ wird also zu einem Merkmal all derer, die von der gesellschaftlichen Norm ihrer Zeit abweichen. Indem die Gesellschaft das Fehlverhalten mit einem „accident pathologique“ begründet, legitimiert sie, dass man die als wahnsinnig geltenden Menschen vermeintlich korrigiert und ausschließt. In der moder12
Dieses Zitat stammt aus dem Vorwort der ersten Ausgabe (vgl. Foucault 1994a, 159).
2.1 Das Konzept der ‚Grenze‘ 21
nen Gesellschaft verbannt man sie schließlich in den Raum der Psychiatrie, die Foucault zu einer Heterotopie deklariert. Mit diesem Begriff definiert er in einem 1966 aufgezeichneten Radio-Vortrag 13 jene real existierenden Orte, qui sont en quelque sorte absolument différents: des lieux qui s’opposent à tous les autres, qui sont destinés en quelque sorte à les effacer, à les compenser, à les neutraliser ou à les purifier. Ce sont en quelque sorte des contre-espaces (Foucault 2005, 40).
Als Beispiele für Heterotopien – Gegen-Räume – nennt Foucualt neben der Psychiatrie, Friedhöfe, Gefängnisse, aber auch Bordelle und Feriendörfer (vgl. ebd., 41). Entscheidend daran ist, dass sie in jeder Gesellschaft entstehen und dabei die unterschiedlichsten Formen annehmen. Sie sind in diesem Sinn sozial konstruiert und hängen von dem Kontext ab, der sie schafft und ihnen ihre Funktion zuweist (vgl. ebd., 41). 14 Da sich diese im historischen Verlauf ändert, sind auch Heterotopien wandelbar (ebd., 43). Daraus lässt sich schließen, dass die Analyse von heterotopen Räumen die Grenzen und das symbolische Gefüge der gesamten Gesellschaft einsehbar machen. Für die Romananalysen der vorliegenden Arbeit bedeutet dies, dass die Heterotopien der erzählten Welt einen Aufschluss über gesellschaftliche Exklusionsmechanismen und ihre Verarbeitung im literarischen Text geben. Diejenigen, die einen heterotopen Ort betreten, müssen bestimmte Riten durchlaufen (vgl. ebd., 47f.), so z. B. ab dem 20. Jahrhundert die von der Norm abweichenden Menschen, die in die „hétérotopies de déviation“ eingewiesen werden (ebd., 42f.). Heterotopien regulieren auch das Verhältnis von Leben und Tod: Mit dem Friedhof wird dem Tod symbolisch ein Ort zugewiesen (ebd., 43). Da die Heterotopie die liminale Position im Inneren der Gesellschaft darstellt, ermöglicht sie es, das Konzept ‚Grenze‘ in ihrer heterogenen Erscheinungsform in diversen, teils offen zugänglichen Räumen zu identifizieren. 15 Dennoch bleibt Foucaults flexibler Heterotopie-Begriff mitunter vage und er grenzt die unterschiedlichen Bezeichnungen wie „contre-espaces“ oder „autre lieu“ nicht präzise voneinander ab (vgl. ebd., 40, 43). Der in den Werken Foucaults entwickelte Gedanke, dass bestimmte Subjekte aus dem Bereich der ‚Vernunft‘ ausgeschlossen werden und nicht hörbar sind, Eine überarbeitete Version erscheint später (vgl. Foucault 1994d). Wie der Spiegel, den Foucault als Utopie und zugleich als Heterotopie definiert, unterhalten heterotope Orte eine dialektische Beziehung zur Gesellschaft (vgl. Foucault 1994d, 756). Ihre Funktion lässt sich an zwei Extremen festmachen: Manche Heterotopien wie das Bordell ermöglichen es ihren Besuchern, Sehnsüchte auszuleben und stellen kurzzeitig die externe Ordnung aller anderen Räume in Frage (vgl. Foucault 2005, 46f., 49). Doch andere, wie die Kolonie, machen auf das aufmerksam, was in der restlichen Gesellschaft nicht geordnet ist (vgl. ebd., 49f.). Während einige Heterotopien mehrere Räume an einem Ort verbinden (Theater, Kino, Gärten, Romane, ebd., 44f.), sind für die Moderne die Heterotopien der Zeit charakteristisch, wie Museen und Bibliotheken, gänzlich im Dienste der Idee „de constituer l’archive générale d’une culture“ (ebd., 46). Hier zeigt sich, dass sie sich im Bezug zum kulturellen Gedächtnis formen. 15 Denn nicht immer nehme man Heterotopien als Zwang wahr: „L’hétérotopie est un lieu ouvert, mais qui a cette propriété de vous maintenir au dehors“ (ebd., 48). 13 14
22 2. Theorie: ‚Grenze‘ und ‚Transgression‘
lässt sich auf die Frage nach der Sichtbarkeit von Gewalt und Leid übertragen. Dies tut die US-amerikanische Kulturtheoretikerin Judith Butler in Precarious Life (2004) und Frames of War (2009), die in einem epistemologischen Ansatz das Ungleichgewicht analysiert, das der öffentlichen Anerkennung von Trauer zugrunde liegt („hierarchy of grief“, Butler 2004, 32). 16 Denn nicht jeder Tote werde, stellt Butler fest, auf dieselbe Weise als betrauernswert erachtet (ebd.). 17 Dies liege daran, dass Gesellschaften von Beginn an nicht jedes Leben als vollwertig und lebenswert anerkennen (Butler 2009, 7). Diese Perspektive kann man als Kritik an einem biopolitisch agierenden Kapitalismus deuten, der dem Menschenleben einen Wert zuteilt (vgl. ebd., 28f.). Dies regulieren laut Butler die sog. frames, die all das begrenzen, was die Mehrheitsgesellschaft wahrnimmt. Mit dem frame verwendet Butler einen nicht unumstrittenen, in der Linguistik, Medientheorie und den Sozialwissenschaften gebräuchlichen Terminus. 18 Die Theoretikerin selbst bedient sich einer offenen Begriffsverwendung und fasst darunter BildProduktionen („the frame of the photograph“), aber auch sprachliche Diskurse (ebd., 26). [W]e cannot understand the field of representability simply by examining its explicit contents, since it is constituted fundamentally by what is left out, maintained outside the frame within which representations appear. […] That delimiting is part of an operation of power that does not appear as a figure of oppression (ebd., 73).
Das explizit Gezeigte macht Butler zufolge nur einen kleinen Teil des prinzipiell Darstellbaren („representability“) aus. Erst durch den Ausschluss bestimmter Elemente („what is left out“, „maintained outside“) konstituiert sich das Feld des Sichtbaren, das also den frames unterliegt. Die sind als solche jedoch schwer zu erkennen, da sie meist nicht repressiv, z. B. in Form von Zensur in Erscheinung treten („does not appear as a figure of oppression“). Entscheidend ist, dass Butler zufolge die frames aus Machtoperationen resultieren. Damit geht sie einen Schritt über Susan Sontag hinaus, auf deren Essay Regarding the Pain of Others (2003) sie sich kritisch bezieht. Die US-amerikanische Schriftstellerin Sontag analysiert darin den Blick auf das Leid der Anderen, wie er vor allem in der Fotografie und im Fernsehen praktiziert wird. Dabei stellt sie fest, dass die Opfer, deren Leid man medial zur Schau stellt, für den Zuschauer meist anonym und fremd bleiben (vgl. Sontag 2003, 55). Als voyeuristisch bewertet In Precarious Life knüpft Butler (2004, 51ff., 91f.) dabei vor allem an Foucaults Begriff der ‚Gouvernementalität‘ an. 17 Butler (2004: xi) bezieht sich in diesen Werken auf die Zeit nach dem Anschlag vom 11. September 2001 und stellt fest, dass im Kontrast zur darauf folgenden breiten Trauerkultur, die zivilen Opfer im Afghanistan-Krieg nicht betrauert wurden. Im Essay „The Charge of AntiSemitism: Jews, Israel and the Risk of Public Critique“ (ebd., 101-127) bezieht Butler diese Überlegung auf den Israel-Palästina-Konflikt und vertritt dabei problematische Positionen, die der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) zufolge als antisemitisch eingestuft werden müssen (vgl. IHRA 2016). Zur Debatte über Antisemitismus rund um Butlers Werk, vgl. Shaul (2014). 18 Zu den unterschiedlichen frame-Theorien, vgl. Scheufele (2003). 16
2.1 Das Konzept der ‚Grenze‘ 23
Sontag den Blick des Betrachters auch dann, wenn das Bild nicht durch ein Medium vermittelt wird, denn „watching up close […] is still just watching“ (ebd., 105). Zuzusehen impliziert demnach immer eine Distanz und Hierarchie zwischen dem Betrachter und dem Betrachteten, der zu einem Objekt werde (ebd., 72). Butler geht insofern über Sontag hinaus, als sie nach dem fragt, was gar nicht erst gezeigt wird und damit die epistemischen Grundlagen betrachtet. Zudem bewertet sie die Rolle des medial zirkulierenden, Leid darstellenden Bildes optimistischer, da sie ihm ein positives Potenzial zuschreibt. Es stille nicht lediglich ein voyeuristisches Begehren – wie Sontag feststellte – sondern es könne auf die frames aufmerksam machen und Dinge zeigen, die ohne diese Zirkulation überhaupt nicht wahrnehmbar wären (vgl. Butler 2009, 100). Sowohl Butler als auch Sontag fragen nach einem möglichen Ausgang aus diesem ungleichen Verhältnis, entwickeln also ethische Ansätze. Butler geht in Anlehnung an Emmanuel Levinas davon aus, dass alle Menschen verletzlich sind und in einem relationalen Verhältnis zueinander stehen (vgl. ebd., 14). Wenn nun dieser geteilte Zustand sichtbar gemacht werde, würden die Grenzen der Wahrnehmung transgrediert und es gelänge, „the precariousness of the Other“ anzuerkennen (Butler 2004, 133f.). 19 Doch eine punktuelle Sichtbarkeit führt nicht unbedingt dazu, dass sich grundlegend etwas ändert, da die Gefahr besteht, dass das neu sichtbar Gemachte nun Ungleichheitsrelationen unterworfen wird, wovor Sontag warnt. Ein Lösungsansatz findet sich bei Vittoria Borsò, die mit dem Levinas’schen Begriff der ‚Exteriorität‘ beschreibt, wie bestimmte Medien das Blickregime unterwandern, indem sich an der „im Abendland mächtige[n] Grenze, die die Differenzierung zwischen einem souveränen Subjekt und einem davon abhängigen Objekt bestimmt“ das „Noch-nicht-Gesehene“ materialisiert, das die zugrundeliegenden Strukturen irritiert (Borsò 2004, 34f.). 20 Diese medial erzeugte sog. Visualität – ein Begriff, den Borsò in Anlehnung an Merleau-Ponty und Waldenfels verwendet – könne „sensibel [machen] für andere Räume, die jenseits der Grenzen des Sichtbaren und des Selben existieren“ (ebd., 36). Hier zeigt sich die wichtige Funktion der Grenze: an ihr kann der Blick gestört und gebrochen werden, wodurch sie sich überhaupt erst manifestiert. Entscheidend für die vorliegende Untersuchung ist, dass Sontag, Butler und Borsò dem schriftlichen Text einen besonderen Stellenwert einräumen, um das Leid des ‚Anderen‘ erkennbar und verständlich zu machen: Der Akt des öffentlichen Sprechens bzw. Schreibens über das Leid gibt Sontag zufolge den Toten einen Namen und kann zu einer gesellschaftlichen Erinnerung beitragen 19 Dies exemplifiziert sie an den öffentlich gewordenen Fotos der Folterszenen aus Abu Ghraib, die eine breite Empörung ausgelöst haben (vgl. Butler 2009, 100). Wie das 3.2.2 Kapitel der vorliegenden Arbeit zeigt, ziehen in Mexiko auf ähnliche Weise einzelne, publik gewordene Menschenrechtsverletzungen öffentliche Proteste nach sich. 20 Borsò unterscheidet zwischen ‚Visibilität‘, den „sichtbaren Dinge[n] nach den Ordnungsregeln der naturalistischen Illusion“ und ‚Visualität‘, einer „Potentialität des Sehens […], wenn das Material dem naturalistischen Blick Grenzen entgegen bringt“ (Borsò 2006, 138). Ihr Terminus der Visibilität ähnelt Butlers representability, doch die Grenze ist bei Borsò viel stärker als der Ort konzipiert, an dem der naturalistische Blick gebrochen wird.
24 2. Theorie: ‚Grenze‘ und ‚Transgression‘
(vgl. Sontag 2003, 103, 110). Butler zeigt, dass die Gedichte der GuantánamoHäftlinge die frames durchbrechen und denjenigen eine Stimme im Diskurs verleihen, die eigentlich davon ausgeschlossen sind. Dadurch bergen sie ein subversives Potenzial (vgl. Butler 2009, 58). Literatur trägt also dazu bei, das Leid sichtbar zu machen, das die Mehrheitsgesellschaft nicht als solches wahrnimmt. Weder Butler noch Sontag berücksichtigen in ihren Beiträgen die ästhetische Besonderheit des literarischen Textes, den sie dadurch als reines Medium der Vermittlung erachten. Dennoch sind beide Positionen auch für die intratextuelle Analyse anwendbar: Zunächst kann mit Butler nach der zugrundeliegenden Ordnung gefragt werden und nach ihren Grenzziehungen, die bestimmen, was sichtbar ist und was nicht. Nicht immer ist die Gewalt als solche explizit, es gilt auch die impliziten Spuren der Gewalt zu berücksichtigen. Mit Sontag kann man die Szenen, in denen Leid thematisiert wird, nach ihrer Art der Darstellung auf Ebene des discours und den damit sich manifestierenden hierarchischen Machtverhältnissen auf Ebene der histoire, z. B. in den Figurenkonstellationen, analysieren. Borsòs Ansatz hilft dabei, die Szenen zu deuten, in denen es zu Brüchen der Visibilität kommt. Dabei muss für jede Gewalt-Szene bestimmt werden, wo sie sich entlang des schmalen Grats positioniert, zwischen einer im Leser ausgelösten Empathie, auf die Butler hofft (vgl. ebd., 98) und einer Objektifizierung, vor der Sontag warnt (vgl. Sontag 2003, 72). 2.1.3 Die Grenze als ‚Schwelle‘ Die Grenze hat nicht nur eine trennende und ausgrenzende Funktion, denn man kann sie auch als eine Schwelle wahrnehmen. Der entscheidende Vorteil am Schwellenkonzept liegt darin, dass es „die Beziehung zwischen Innen und Außen nicht als gegensätzliche Kategorien (drinnen oder draußen), sondern als komplementär (innen und außen) definiert“ (Borvitz und Ponzi 2014, 9, Hervorhebung i. O.). Dies bedeutet, dass ihr etwas Verbindendes zugeschrieben wird. Aus dem lateinischen liminaris, von limen (verwandt mit limes) entwickelt sich über lumbral der spanische Terminus umbral als „parte inferior de la puerta de una casa“ (Corominas 1987, 592) bzw. als Fensterbrett (vgl. Corominas 1954, 647). 21 Zu der deutschen Schwelle, Mittelhochdeutsch swelle, finden sich im Indogermanischen zwei Vorgänger, svelyâ und suliâ (DWB 1854-1961, Bd. 15, Sp. 2488). Letzteres hat seinen Ursprung im lateinischen solia, aus dem ebenfalls das französische Wort seuil und der italienische Begriff soglia hervorgehen (Borvitz und Ponzi 2014, 8). Im Deutschen überwiegt für die Schwelle etymologisch der Sinngehalt ‘Balken’ (vgl. Kluge und Seebold 2012), wobei vor allem der „grundbalken, der irgend einen aufbau trägt“ bzw. der „querpfosten einer thür“ gemeint ist (DWB 1854-1961, Bd. 15, Sp. 2488, Hervorhebungen i. O.). Walter Benjamin weist in seinem Passagen-Werk auf den Zusammenhang zwischen der ‚Schwelle‘ und dem Verb schwellen hin: „Die Schwelle ist ganz scharf 21 An dieser Stelle deckt sich die Etymologie der Schwelle mit dem von Simmel aufgezeigten doppelten Charakter der Tür als trennendes und zugleich verbindendes Gebilde, vgl. Kapitel 2.1.2. dieser Arbeit.
2.1 Das Konzept der ‚Grenze‘ 25
von der Grenze zu scheiden. Schwelle ist eine Zone. Wandel, Übergang, Fluten liegen im Worte ‚schwellen‘ und diese Bedeutungen hat die Etymologie nicht zu übersehen“ (Benjamin 1983, 618). Entscheidend an der hier vorgenommenen Definition der ‚Schwelle‘ ist, dass sie sich von der ‚Grenze‘ löst, die als eine zwei Bereiche trennende Linie konnotiert ist (vgl. Borvitz und Ponzi 2014, 8). Vielmehr betont Benjamin die Breite der Schwelle als „Zone“ und schreibt ihr Bewegung zu („Wandel, Übergang, Fluten“). Von einem statischen gelangt er zu einem dynamischen Konzept der Schwelle. In dem Verb ‚schwellen‘ im Sinne von ‚übertreten‘ spitzt sich diese Dynamik zu und die Schwelle an sich wird als grenzüberschreitend charakterisiert. Dennoch ist die von Benjamin angedeutete Verbindung der Schwelle mit dem Verb ‚schwellen‘ etymologisch nicht nachgewiesen, das Grimm’sche Wörterbuch schließt einen direkten Zusammenhang aus. 22 Im englischen Sprachgebrauch bezeichnet ‚threshold‘ die Schwelle. In diesem aus dem Altenglischen hervorgehenden Begriff steckt das Element thresh, „in the primitive sense of ‚tread, trample‘“ (Onions 1966, 919). Die menschliche Aktivität des Betretens ist dem threshold also inhärent. Die Schwelle erscheint hier als eine Grundfeste, aber gleichzeitig als ein Bereich des Dazwischen, der die angrenzenden Gebiete vereint sowie meist überschritten oder passiert werden kann. Sie stellt, ähnlich wie die Grenze, nicht nur einen räumlichen Begriff dar, sondern das Konzept ist auf andere Bereiche des gesellschaftlichen Zusammenlebens übertragbar. Die ethnologische Forschung leistet einen wichtigen Beitrag zu einer solch umfassenden Definition des Schwellen-Terminus: Victor Turner erweitert das von Arnold van Gennep 23 aufgestellte ritualtheoretische Modell, indem er sich ausführlich der sog. liminalen Phase widmet, die er auf die Analyse von Kulturen und Gesellschaften ausweitet (vgl. Turner 1969, 94). Er erläutert, dass die sogenannten „threshold people“ sich durch ihren uneindeutigen Status jeglicher Klassifizierung entziehen und in einer Zwischenposition befinden: Liminal entities are neither here nor there; they are betwixt and between the positions assigned and arrayed by law, custom, convention, and ceremonial. As such, their ambiguous and indeterminate attributes are expressed by a rich variety of symbols in the many societies that ritualize social and cultural transitions (ebd., 95).
Während liminale Wesen also keine konventionelle Rolle in der Gesellschaft einnehmen, stehen sie dennoch nicht vollkommen außerhalb („neither here nor there“), sondern vielmehr in einem dialektischen Dazwischen („betwixt and between“). Das Attribut der Liminalität wird daher beispielsweise solchen Phänome„die zu grunde liegende wurzel ist wol nicht schwellen […], sondern eine besondere gleichlautende wurzel (svelo-) in der bedeutung ‚gründen‘, […] ferner säule […]“ (DWB 1854-1961, Bd. 15, Sp. 2488, Hervorhebungen i. O.). 23 Bereits 1909 widmet sich Van Gennep in Les Rites de Passage (1969) den Übergangsriten, die er in drei Stufen teilt: Während die rites préliminaires eine Trennung von den alten Strukturen begleiten, untermalen die rites postliminaires die Angliederung an die neue Ordnung. Die dritte Kategorie, genannt rites liminaires, ordnet er der Zwischenphase zu (vgl. ebd., 27). 22
26 2. Theorie: ‚Grenze‘ und ‚Transgression‘
nen zugeschrieben, die sich zwischen Leben und Tod abspielen (vg. ebd.). Es handelt sich um rituell begleitete Vorgänge, die symbolisch aufgeladen sind. Die Liminalität grenzt Turner von der Struktur ab, an deren äußerem Rand („on its margins“) und auf deren untersten Sprossen („lowest rungs“) die liminalen Menschen leben (ebd., 125). Da die Theorie der Liminalität auf alle Gesellschaftsformen übertragbar ist, kann man sie in unterschiedlichen Disziplinen und Kontexten verwenden, problematisch sind jedoch vage formulierte oder empirisch nicht haltbare Thesen und eine ahistorisch dargestellte Wiederholbarkeit der Übergänge (vgl. Bräunlein 2012, 143f., 153f.; Parr 2008, 29). Auch bezieht sich Turner durchweg positiv auf das Ritual und berücksichtigt nicht seinen möglichen aggressiven, gewalttätigen Charakter (vgl. Bräunlein 2012, 160ff.). 24 Außerdem übersieht er, dass Frauen oftmals gender-bedingt andere Formen sozialer Ausgrenzung erleiden als Männer – von einer absoluten Gleichheit im liminalen Zustand kann also nicht die Rede sein (vgl. Walker Bynum 1984, 105f.). 25 Obwohl das Konzept der Liminalität also mit Vorsicht angewendet werden muss, macht es die heterogenen Positionen der Mitglieder einer Gesellschaft anschaulich und zeigt, wie diese durch Riten gekennzeichnet sind, denen ein wichtiger symbolischer Gehalt inhärent ist. Die Schwellenphase bekommt einen performativen Charakter, ist also durch Wandel und Bewegung charakterisiert, steht aber zugleich in einer untrennbaren Beziehung zur Struktur. So gesehen ist die Liminalität für den Erhalt der Gesellschaft wichtig. Eine weitere Lesart der Grenze als dynamische Schwelle, die man auf gesellschaftliche Prozesse sowie auf den literarischen Text anwenden kann, findet sich in den narratologischen und kultursemiotischen Überlegungen Jurij M. Lotmans. In seinem erst seit 2010 auf Deutsch vorliegenden Werk Die Innenwelt des Denkens bezeichnet Lotman die Kultur als einen allumfassenden semiotischen Raum, genannt Semiosphäre. Sie ist heterogen und alle sich in ihr befindlichen Sprachen tauschen sich ständig aus (Lotman 2010, 166, 168f.). Entscheidend ist dabei, dass Zentrum und Peripherie der Semiosphäre in einer asymmetrischen Beziehung zueinander stehen (vgl. ebd.). Lotman weist darauf hin, dass alles über das Zentrum Hinausgehende regelrecht ignoriert werde: „Die Liste dessen, was im System einer Kultur ‚nicht existiert‘, in der Praxis aber geschieht, ist immer ein wichtiges typologisches Charakteristikum des jeweiligen Systems“ (ebd., 171). Es kommt dazu, dass unliebsame Elemente ausgegrenzt werden. Die verschwiegenen Details, die in den offiziellen Narrativen einer Gesellschaft keine Erwähnung finden, sind also aufschlussreich: wenn Literatur sie thematisiert, gelangen mit ihnen die zugrundeliegenden kollektiven Konflikte in den Fokus. Für die folgende Romanana24 Sylvia Karl gelingt es, Turners Ansatz auf die Gewaltfragen im mexikanischen Kontext anzuwenden: Da es den Angehörigen der desaparecidos verweigert wird, sich angemessen von den Toten zu verabschieden, drängt man sie in eine liminale Phase (vgl. Karl 2014, 446). 25 Ebenfalls kritisch zu sehen ist die von Turner gemachte Behauptung, die Liminalität sei von einer „minimalization of sex distinctions“ (Turner 1969, 106) geprägt. Die Vergewaltigung als mögliches Aufnahmeritual für weibliche Anwärterinnen einiger mittelamerikanischer pandillas verstärkt die Geschlechterdifferenz, da es sich um eine explizit gegen Frauen gerichtete Gewalt handelt (vgl. Gereda u.a. 2012, 21f.).
2.1 Das Konzept der ‚Grenze‘ 27
lyse ergibt sich aus Lotmans Überlegungen die besondere Relevanz von Leerstellen, die im literarischen Text eine gesellschaftliche Reflexion über tabuierte Themen codieren können. Entscheidend für den inneren Zusammenhalt der Semiosphäre ist vor allem ihre äußere Grenze: Die Grenze lässt sich als Linie beschreiben […]. Der Raum innerhalb dieser Grenze wird als ‚unser eigener‘, als ‚vertraut‘, ‚kultiviert‘, ‚sicher‘, ‚harmonisch organisiert‘ usw. erklärt. Ihm steht der Raum ‚der anderen‘ gegenüber, der als ‚fremd‘, ‚feindlich‘, ‚gefährlich‘ und ‚chaotisch‘ gilt. [...] Der Begriff der Grenze ist ambivalent: Einerseits trennt sie, andererseits verbindet sie. Eine Grenze grenzt immer an etwas und gehört folglich gleichzeitig zu beiden benachbarten Kulturen, zu beiden aneinandergrenzenden Semiosphären. Die Grenze ist immer zwei- oder mehrsprachig. Sie ist ein Übersetzungsmechanismus, der Texte aus einer fremden Semiotik in die Sprache ‚unserer eigenen‘ Semiotik überträgt; sie ist der Ort, wo das ‚Äußere‘ zum ‚Inneren‘ wird, eine filternde Membran, die die fremden Texte so stark transformiert, dass sie sich in die interne Semiotik der Semiosphäre einfügen, ohne doch ihre Fremdartigkeit zu verlieren (ebd., 174-182).
Das hier gezeichnete Bild der Grenze besteht aus folgenden zentralen Kategorien: Während sie zum einen nach innen für Zusammenhalt sorgt, einen ‚eigenen‘ Raum umfasst, grenzt sie diesen simultan von einem als ‚fremd‘ designierten Bereich ab, der jenseits dieser Grenze liegt. Doch hat sie, darauf weist Lotman explizit hin, nicht nur eine trennende, sondern auch eine verbindende Funktion. So wird die Grenze zu einem Ort des Kontakts (vgl. Ruhe 2015, 173). Indem er sie als Membran bezeichnet, unterstreicht Lotman ihre selektive Semipermeabilität. 26 Die Grenze wählt aus, welche Inhalte zwei Semiosphären austauschen und nimmt zusätzlich eine übersetzende Funktion ein, um die externen Texte und Zeichen dem Sinnzusammenhang der eigenen Semiosphäre anzupassen (vgl. Lotman 2010, 187). Auch literarische Texte können Grenzen überwinden – einerseits dadurch, dass sie in die Sprache einer anderen Semiosphäre übersetzt werden, andererseits durch die Überschreitung der Genregrenzen, die Lotman als Wechselwirkung von „Innovation“ und „Erinnerung“ beschreibt (ebd., 183): Es generiert sich etwas Neues, während Elemente des Vorherigen bestehen bleiben. Hier zeigt sich, dass das Konzept der Grenze nicht allein auf eine territoriale Ebene beschränkt bleibt. Gesellschaftliche Phänomene verbinden sich mit textuellen und die Grenze erscheint als semidurchlässiger Ort der Übersetzung und des Austauschs, wodurch sie literaturwissenschaftlich analysierbar ist und gleichzeitig über den Text hinaus kulturelle Relevanz gewinnt. Der in Lotmans Theorie enthaltene zeitliche Aspekt deutet bereits darauf hin, dass sich das Konzept der Schwelle auch als temporale Kategorie konzeptualisieren lässt. Innerhalb der Geschichts- und Politikwissenschaft ist dies unmittelbar Hier gelingt es Lotman, sich von dem rigiden Grenzkonzept zu lösen, das er in Die Struktur literarischer Texte (1972) anwendet und in dem es lediglich einer Figur gelingt, die Grenze zwischen zwei strikt getrennten semantischen Räumen zu überschreiten (vgl. Frank 2012, 222, 225). 26
28 2. Theorie: ‚Grenze‘ und ‚Transgression‘
mit der relevanten Frage verknüpft, wie Epochen periodisiert und datiert werden. Dabei machen die Grenz- bzw. Schwellenmetaphern die zugrundeliegenden Konzeptionen historischer Entwicklung analysierbar: Ab Mitte des 18. Jahrhunderts verwenden unterschiedliche Disziplinen metaphorisch den Begriff ‚Übergang‘, lateinisch transitio bzw. transgressio (vgl. Korten 2001). Ende des 18. bis Mitte des 19. Jahrhunderts bilden sich Komposita heraus, wie z. B. die ‚Übergangsperiode‘, die vordergründig Umbruchsphasen politischer Art bezeichnet, geprägt von Karl Marx und seiner Rezeption (vgl. Demandt 2001, 32). Ebenso wird der Übergang mit dem Begriff der Krise assoziiert (vgl. ebd.). Im Verlauf der Begriffsgeschichte beschreibt die ‚Krise‘ (griechisch κρίσις „Scheidung, Streit, Entscheidung, die einen Konflikt beendet“) Übergangsphasen und Perioden, in denen das soziale Fundament aus dem Gleichgewicht gerät (Koselleck u.a. 1976). 27 Der Krisenbegriff ebenso wie die damit verwandten Termini der Katastrophe und Zäsur drücken dabei eine spezifische Interpretation historischer Ereignisse aus. 28 Auf ähnliche Weise wendet die Geschichtsphilosophie des 20. Jahrhunderts die Metapher der Schwelle auf geistesgeschichtliche Prozesse an, wie Kosellecks Begriff der ‚Sattelzeit‘ exemplifiziert, der den Übergang zur europäischen Moderne beschreibt (vgl. Koselleck 2004, XV-XIV). Das von Koselleck verwendete Konzept ähnelt wiederum der sog. ‚Epochenschwelle‘, die der Philosoph Hans Blumenberg bereits 1966 in Die Legitimität der Neuzeit entwickelt. 29 Beide Termini wurden in ihrer Rezeption auf unterschiedliche historische Phasen übertragen, um ihren jeweiligen für relevant erachteten Umbruchscharakter hervorzuheben. 30 Die konsultierten deutschsprachigen Beiträge zum Phänomen des Übergangs berücksichtigen jedoch nicht, dass der Terminus transición in der spanischsprachigen Welt seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert eine starke realpolitische Prägung erhält: Im 19. Jahrhundert ist er, ähnlich wie in Deutschland, zum einen von der Marx-Rezeption beeinflusst und wird zum anderen mit der Krise assoziiert (vgl. Fuentes Aragonés 2006, o. S.). Nach Francos Tod (1975) entwickelt sich Zur problematischen Krankheitsmetaphorik in Kosellecks Krisenbegriff, vgl. Imbriano (2013). Die ‚Katastrophe‘, griechisch καταστροφή katastrophé beschreibt eine negative, plötzliche „Umkehr, Wendung“. Der aus dem Theater stammende Begriff kann sowohl von der Natur verursachte als auch menschengemachte Katastrophen bezeichnen (vgl. Kluge und Seebold 2012; Kalisky 2014, 25f.). Die ‚Zäsur‘, cesura wiederum bezeichnet einen Einschnitt, von „caedĕre ‘cortar’“ (Real Academia Española 2014, 494). Innerhalb der Geschichtswissenschaft entwickelt sie sich zu einer „Leitkategorie eines nicht mehr als gesetzmäßig und kontinuierlich gedachten Geschichtsverlaufs, der vielmehr als von Katastrophen, Umbrüchen und Einschnitten geprägt verstanden wurde“ (Sabrow u.a. 2012, 317). 29 Blumenberg überträgt das Schwellenkonzept metaphorisch auf die Geistesgeschichte, um Wandlungsprozesse zwischen Epochen zu beschreiben, die nicht an einem bestimmten Ereignis punktartig bestimmt werden können, sondern sich überlagern: „Dieses Noch-Nicht und dieses Schon indizieren das, was dazwischen liegt“ (Blumenberg 1966, 440f.). Die Epochenschwelle zeichne sich dadurch aus, dass sich die Antworten auf die wichtigen kollektiven Fragen verändern, wie der Autor an Cusanus und Bruno zeigt, (ebd., 441). 30 Vgl. z. B. Osterhammel (2009, 104), der das 19. Jahrhundert als eine „global[e] Sattelzeit“ beschreibt, was seiner Auffassung von Geschichte als globale Verflechtungsgeschichte entspricht. 27 28
2.1 Das Konzept der ‚Grenze‘ 29
die transición in Spanien zu einem Leitbegriff für den Übergang von der Diktatur zur Demokratie, der im politischen sowie medialen Diskurs alltäglich ist (vgl. ebd.). Er gewinnt über Spanien hinaus eine paradigmatische Bedeutung und beschreibt seit den 1980er Jahren auch in Lateinamerika die postdiktatorische Phase nach Militärdiktaturen, z. B. in Chile und Argentinien (vgl. ebd.). Mexiko verwendet den Terminus erst später, als im Jahre 2000 nach über siebzigjähriger Herrschaft das PRI-Regime endet. 31 Man kann die transición also als eine Schwellenphase erachten, in der die Gesellschaft sich eingesteht, sich in einem Umbruch zu befinden. Sie wendet sich von dem Vergangenen ab und strebt, einem Fortschrittsgedanken folgend, bestimmte Veränderungen an. Hier hat das Kräfteverhältnis der unterschiedlichen gesellschaftlichen Akteure einen entscheidenden Einfluss. Ist von einer transición die Rede, geht damit außerdem die schwierige Frage einher, wann sie als abgeschlossen gelten kann. Die temporale Deutung der Schwelle, so zeigt sich, stellt in der politischen Sphäre die Gegenwart in ein Verhältnis zur Vergangenheit und deutet zugleich auf die Zukunft. Etymologisch wird offensichtlich, dass die temporal konzipierte Schwelle als Übergang nicht immer sauber von der ‚Transgression‘ abgegrenzt werden kann – hier tritt deutlich der doppelseitige Charakter der Schwelle zutage, die in sich Elemente der ‚Grenze‘ und der ‚Transgression‘ vereint. 2.1.4 Die Grenze in Border Studies und postkolonialer Theorie Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre rückt die Grenze im Zuge der mit dem sog. spatial turn aufkommenden raumtheoretischen Fragestellungen verstärkt in ihrer territorialen Erscheinungsform ins Zentrum des Interesses. 32 Dazu tragen maßgeblich die geopolitischen Veränderungen bei, als sich mit dem Ende der Sowjetunion die Teilung in zwei verfeindete und durch den sog. ‚Eisernen Vorhang‘ getrennte Blöcke auflöst. Die etwa zeitgleich einsetzende Beschleunigung globaler Prozesse führt dazu, dass das anbrechende 21. Jahrhundert als Zeitalter der Deterritorialisierung wahrgenommen wird, in dem die Grenzen ihre Relevanz verlieren (vgl. Wastl-Walter 2011, 2). Doch die gleichzeitig sich vollziehenden neuen Grenzziehungen und damit einhergehenden Konflikte, die wiederum eine ‚Re-Territorialisierung‘ andeuten, offenbaren die Komplexität der Grenze und führen dazu, dass sich die Sozialwissenschaften vermehrt der Bedeutung nationalstaatlicher Grenzen widmen, wie die zunächst in der anglophonen Forschung angesiedelten inter- und transdisziplinären Border Studies (vgl. Wilson und Donnan 2012). Die Theorie der Grenze, so zeigt sich, bietet stets Aufschlüsse über die gegenwärtigen gesellschaftspolitischen Narrative von Nation und Identität. Die frühen Border Studies erheben die Grenze zwischen Mexiko und den USA zum Paradigma, das innerhalb der Theorie als eine Art Modell, quasi als „Grenze Zur kontroversen Bewertung der transición in Mexiko vgl. Kapitel 3.1.3 der vorliegenden Arbeit. 32 Zum spatial turn innerhalb der Sozialwissenschaften, der sich innerhalb der Literatur- und Kulturwissenschaften als topological oder topographical turn niederschlägt, vgl. Döring (2010); Wagner (2010). 31
30 2. Theorie: ‚Grenze‘ und ‚Transgression‘
aller Grenzen“ fungiert (vgl. Gutzmer 2018; Wilson und Donnan 2012, 7). Im extensiven Korpus der Forschungsliteratur lassen sich zwei divergierende Positionen ausmachen, die die Theoriebildung zur ‚Grenze‘ maßgeblich prägen: Als bis heute international breit rezipierter Bezugspunkt sowohl im englischsprachigen als auch im deutschen und lateinamerikanischen Wissenschaftsdiskurs, dient eine metaphorische Lesart der Grenze, wie sie postkoloniale Theoretiker (1.) vollziehen. Die große Resonanz dieser Ansätze führte dazu, dass sie als richtungsweisend für die Grenzthematik gelten. 33 Doch Pablo Vila, Vertreter einer sozialwissenschaftlich geprägten Grenzforschung (2.), zeigt auf, dass postkoloniale Grenztheorien auf problematische Weise jene Prozesse einseitig bevorzugen, in denen es zu einer Transgression komme: [T]here is a […] failure to pursue the theoretical possibility that fragmentation of experience can lead to the reinforcement of borders instead of an invitation to cross them. Thus, crossing borders, and not reinforcing borders, is the preferred metaphor in current border studies and theory (Vila 2003b, 307, Hervorhebung i. O.).
Die Identitätsentwürfe der an der Grenze lebenden Menschen, die nicht diesen subversiven Charakter innehaben, sondern viel eher ausgrenzende Diskurse perpetuieren („reinforcing borders“), blenden die Theoretiker oftmals aus. 34 Diese einseitige Sicht erklärt sich Vila zufolge daraus, dass das innerhalb der postkolonialen Theorie in den Mittelpunkt gestellte ‚hybride Subjekt‘ eine privilegierte Rolle einnehmen solle, um die Grenzprozesse jenseits des Binären zu verkörpern (vgl. ebd., 307). Mit der Privilegierung einer bestimmten Identität, sei sie auch subversiver Art, geht eine Hierarchisierung einher, die sich auf andere Identitätsentwürfe nachteilig auswirkt und somit eben jene Othering-Prozesse vollzieht, gegen die sich die Kritik ursprünglich wendet. Dieser Widerspruch zeigt sich exemplarisch im Werk der Chicana-Feministin Gloria Anzaldúa. In ihrem 1987 veröffentlichten Werk Borderlands/La Frontera. The New Mestiza überschreitet Anzaldúa vielfältige Grenzen 35 und proklamiert die Entstehung einer „third country – a border culture“ (Anzaldúa 2012, 25), die eine Zwischenposition darstellt. Die Grenze ist nicht länger eine zwei Kulturen trennende Linie, sondern eine Fläche („Borderlands“), die eine dritte, d. h. eine Zwischenposition ermöglicht. 36 Daraus erwachse Anzaldúa zufolge eine „new mestiza Beispielsweise bezeichnet die Encyclopedia of Global Studies unter dem Lemma ‚Border‘ Gloria Anzaldúa als die wegbereitende Grenz-Theoretikerin des 20. Jahrhunderts (vgl. McNevin 2012, 136). 34 Josiah Heyman zeigt, dass beide Positionen aus dem soziohistorischen Prozess hervorgehen und nicht immer eindeutig zu bestimmen sind: „often the same people are affected by both tendencies and manifest both cultural styles at different times and in different relationships“ (Heyman 2012, 48f.). 35 Bereits im Titel, Borderlands. La Frontera. The New Mestiza, vermischen sich sprachlich English und Spanisch, was sich durch das gesamte Werk zieht. Anzaldúa überschreitet auch die Genregrenzen, wenn sie in ihrem Text theoretische Überlegungen mit autobiographischen Anekdoten und Gedichten verbindet. 36 Hier zeigt sich, dass Anzaldúas Modell Homi Bhabhas third space ähnelt. In The Location of Culture [1994] (2004) erwähnt Bhabha die Grenze als boundary eines ethnozentrischen Weltbil33
2.1 Das Konzept der ‚Grenze‘ 31
consciousness“ (ebd., 99, Hervorhebung i. O.). Die Autorin schreibt hier jedoch den problematischen Terminus mestizaje unter Berufung auf José Vasconcelos fort und reproduziert damit affirmativ den mexikanischen Indigenismus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. 37 Während sie sich idealisierend auf eine mythische, indigene Vergangenheit bezieht (vgl. z. B. ebd., 68f.), essenzialisiert Anzaldúa die weiße US-amerikanische Kultur, von der sie sich distanziert (vgl. Vila 2003b, 307). Damit fällt sie hinter die Ergebnisse von Edward Said (2003, 325f., 332) zurück, der 1978 in Orientalism zeigt, dass jede Kultur an sich heterogen ist und erst durch Diskurse homogenisiert wird, die das ‚Eigene‘ vom ‚Anderen‘ abgrenzen. Anzaldúas Grenzüberschreitung zwischen theoretischem und poetischem Text verleiht dem Werk eine ästhetische Ebene und steuert eine neue Sicht auf die US-mexikanischen Grenze bei, doch es gelingt ihr nicht, die Komplexität der Grenze wissenschaftlich, unter Berücksichtigung vorausgegangener Forschung, zu erörtern (vgl. Vila 2003b, 308f.). Dennoch wird Anzaldúas Werk international bis heute breit rezipiert und dient vielen in der Folge veröffentlichten Studien als theoretische Grundlage, um die Epistemologie der Grenze zu fassen. Innerhalb der lateinamerikanischen postkolonialen Theorie beruft sich Walter Mignolo (2000, 223) auf Anzaldúa, um sie als Vertreterin der sog. border gnosis zur Vordenkerin einer neuen Wissenschaft zu erheben, die sich von einer eurozentrischen Epistemologie abwendet. Mignolo (ebd., 5f.) benutzt die Grenze über ihre nationalstaatliche Funktion hinaus als Metapher, um die Ränder der herrschenden Ordnung zu beschreiben, die darauf beruht, den kolonialen Anderen zu marginalisieren. [C]olonial modernities, [...] a period expanding from the late fifteenth century to the current stage of globalization, has built a frame and a conception of knowledge [...], and, by doing so, has subalternized other kinds of knowledge (ebd., 13).
Neben den politischen und sozioökonomischen Grenzziehungen seit der Kolonialzeit, 38 deutet Mignolo auf die Ausschlüsse wissenschaftspolitischer Art hin und des, das in den Erzählungen von Migranten und Flüchtlingen hinterfragt werde: „It is in this sense that the boundary becomes the place from which something begins its presencing in a movement not dissimilar to the ambulant, ambivalent articulation of the beyond […]“ (Bhabha 2004, 7, Hervorhebungen i. O.). An den Rändern und Grenzen des Systems entstehen künstlerische Ausdrücke, die zu einem neuen Verständnis von Kultur verhelfen, denn „[...] it is the ‚inter‘ – the cutting edge of translation and negotiation, the inbetween space – that carries the burden of the meaning of culture. It makes it possible to begin envisaging national, anti-nationalist histories of the ‚people‘“ (ebd., 56). Bhabha zufolge entsteht an den Rändern und Zwischenräumen der Gesellschaft die wirkliche Kultur der Menschen, für deren diskursive Wahrnehmung er plädiert. Ähnlich wie Anzaldúa vertritt Bhabha eine idealisierende Sicht auf die Grenzsubjekte und überträgt mit dem Begriff der ‚Hybridität‘ einen biologischen Terminus mit einer problematischen Begriffsgeschichte auf kulturelle Prozesse. 37 Vgl. das Kapitel 3.1.2 der vorliegenden Arbeit. 38 Mignolo (2000, 22) vertritt unter Bezug auf Aníbal Quijano die These, dass die Moderne auf Kolonialität beruhe, die seit Ende des 15. Jahrhunderts die verdeckte, ‚dunkle‘ Seite der Moderne darstelle. An dieser metaphorischen Sprache zeigt sich, dass man Mignolos Thesen mit der Frage nach Sichtbarkeit verbinden kann. Die westlichen Länder hätten ihre lokalen Geschichten (Local
32 2. Theorie: ‚Grenze‘ und ‚Transgression‘
fragt nach der Hörbarkeit subalterner, außerhalb der etablierten frames situierter Positionen. Diese erlangen eine subversive Funktion, da sie die trennenden Charakteristika der Grenze aufbrechen: ‚Borderlands‘ (Anzaldúa 1987), contrary to ‚frontiers‘, are no longer the lines where civilization and barbarism meet and divide, but the location where a new consciousness, a border gnosis, emerges from the repression subjected by the civilizing mission (ebd., 299).
Indem er den postkolonialen Text zum Ort der Wissensgenerierung jenseits der Binarität von ‚Zivilisation‘ und ‚Barbarei‘ macht, hebt Mignolo das hierarchische Gefälle zwischen dem zu untersuchenden ‚Objekt‘ und dem wissenschaftlichen, in diesem Fall eurozentrischen ‚Subjekt‘ auf (vgl. ebd., 18, 222f.). Mignolos Terminus der border gnosis ist insofern nützlich, als er aufzeigt, dass sich die herrschenden Machtkonstellationen bereits darin niederschlagen, was überhaupt als Wissenschaft gilt – hier findet sich eine Anlehnung an Foucaults Diskurs-Begriff, die Butlers frame ähnelt. Doch Mignolo erklärt eine aus dem etablierten Wissenschaftssystem hervorgehende Kritik am Eurozentrismus für ungültig und bevorzugt besagte „new consciousness“ (vgl. ebd., 9f.), wodurch er die Ausschlussmechanismen umkehrt und eine Wissenschaft jenseits der von ihm propagierten Methode ablehnt. Mignolo engagiert sich für eine Wissenschaft, in der jede/r die eigene Position als Wissenschaftler/in befragt, um nicht unbewusst Machtasymmetrien fortzuschreiben. Fraglich bleibt jedoch, ob eine tatsächlich allumfassende Perspektive des ‚Außen‘ überhaupt möglich ist. Andere Vertreter der Border Studies melden sich in den 1990er Jahren kritisch zu Wort und weisen darauf hin, dass die von sozialen Ungleichheiten geprägte Realität an der Grenze von der Theorie nicht zugunsten des metaphorischen Wortgebrauchs außer Acht gelassen werden dürfe. 39 Die Grenze gelte zudem aus einer mexikanischen Perspektive heraus betrachtet – die selbst heterogen ist und ganz unterschiedliche Sichtweisen auf die Grenze umfasst – nicht ausnahmslos als hybrider Raum, wie ethnographische Untersuchungen ergeben (vgl. Vila 2003b, 307). Die interdisziplinäre, sozialwissenschaftlich dominierte Forschung zur Grenze institutionalisiert sich in Mexiko etwa zeitgleich zu der in den USA, wird jedoch international weniger rezipiert als die an US-amerikanischen Universitäten praktizierte postkoloniale Theorie. 40 José Manuel Valenzuela Arce prägt Histories) als universal gültig verstanden (Global Designs) und damit zwangsweise zur Unterdrückung jeglicher anderen Form des Wissens geführt, die bis heute nicht als Wissen anerkannt werde. Neben ökonomischen geht es Mignolo also vor allem um die epistemologischen Auswirkungen des Kolonialismus auf die heutige Welt. – Diese lateinamerikanische Herangehensweise unterscheidet sich von den meisten anglophonen postkolonialen Theorien darin, dass der Kolonialismus des 16. Jahrhunderts zum zentralen Datum wird (vgl. Kastner und Waibel 2012, 19f.). 39 Eine kritisch-differenzierte Perspektive auf das eigene wissenschaftliche Feld entwickeln die Sammelbände von Michaelsen und Johnson (1997); Vila (2003). 40 Das 1982 gegründete Centro de Estudios Fronterizos del Norte de México, begleitet bis heute wissenschaftlich als Colegio de la Frontera Norte politische und sozioökonomische Prozesse an der Grenze (vgl. El Colegio de la Frontera Norte o. J.).
2.2 Das Konzept der ‚Transgression‘ 33
die mexikanische kulturwissenschaftlich-soziologische Grenzforschung und vertritt eine interdisziplinäre Perspektive. Er zeigt, dass die unterschiedlichen Metaphern und Stereotypisierungen, die der Grenze sowohl von US-amerikanischer als auch von mexikanischer Seite aus zugeschrieben werden, Rückschlüsse auf nationale Diskurse und die Verhandlung von Identitäten zulassen (vgl. Valenzuela Arce 2003). 41 Damit gelingt es ihm, sozioökonomische Zusammenhänge und die imaginäre Seite der Grenze miteinander in Beziehung zu setzen, wie es auch Vila in seiner Kritik an der postkolonialen Theorie fordert (Vila 2003a, x). Anhand dieses Disputs wird erkennbar, dass die metawissenschaftliche Analyse der unterschiedlichen Grenzkonzepte und -metaphern die zugrundeliegenden Vorstellungen von Kultur und Nation offenlegen, die die jeweiligen Theoretiker perpetuieren, hinterfragen oder weiterentwickeln (vgl. Alvarez 2012, 538f.).
2.2
Das Konzept der ‚Transgression‘
2.2.1 Definitionen von ‚Transgression‘ Der Terminus ‚Transgression‘ ist im allgemeinen Sprachgebrauch nicht so präsent wie die ‚Grenze‘. Auf der Suche nach einer Definition wird man nur in wenigen Lexika 42 fündig: Im Duden Universalwörterbuch ist der Begriff nicht verzeichnet, das Duden Fremdwörterbuch nennt den lateinischen Ursprung des Wortes, „transgressio = das Hinübergehen“, siedelt den Begriff aber thematisch lediglich in den Feldern der Biologie und Geowissenschaften an. 43 Der geowissenschaftlichen Bedeutung nach handelt es sich bei der ‚Transgression‘ um eine landwärts gerichtete Bewegung des Wassers, ein „Vordringen des Meeres über größere Gebiete des Festlands“ (Duden Fremdwörterbuch 2015, 1080), das die Grenze verwischt und zuvor getrennte Elemente vermischt. Die Transgression gilt also als eine Überschwemmung (Vgl. DWB 1854-1961, Bd. 23, Sp. 248). Die Grenze zwischen 41 Die Grenzregion dient mitunter dazu, gesellschaftliche Prozesse zu illustrieren, wie bei Néstor García Canclini (2010, 286), der sie als Paradebeispiel postmoderner Prozesse und der hibridación bezeichnet. García Canclini zeigt sich bewusst, dass er auf ein biologistisches Vokabular zurückgreift, um kulturelle Prozesse der Vermischung zu beschreiben (vgl. ebd., 15f.), ändert damit jedoch nichts an der Problematik seiner Vorgehensweise. Der Autor beschreibt Kulturen als durchzogen von Prozessen der Vermischung (ebd., 14). Seine breite Begriffsverwendung umfasst Vermischungen in unterschiedlichen Sphären: „tradición/modernidad, norte/sur, global/local“, Kunst, Musik und Kultur (vgl. ebd., 13, 15). Er zeigt, dass Kulturen in sich komplex und heterogen sind (vgl. ebd., 17). Für García Canclini spricht, dass er soziale Ungleichheiten und Prozesse der „reterritorialización“ ebenfalls in seiner Analyse berücksichtigt und dadurch kein euphemistisches Bild gesellschaftlicher Prozesse zeichnet (vgl. ebd., 295). 42 Das Historische Wörterbuch der Philosophie nennt die ‚Transgression‘ nicht, führt aber den bereits erwähnten Eintrag zum verwandten Lemma ‚Übergang‘ (vgl. Korten 2001). Vgl. auch Röttgers (2014). 43 In der Biologie steht die ‚Transgression‘ für ein mögliches Resultat der Kreuzungszüchtung, bei dem das genetische Material der Nachkommen eine qualitative Steigerung darstellt. Die Grenzen, die das Erbmaterial der Eltern aufweist, werden überschritten, sodass etwas Neues entsteht und sich ein Fortschritt vollzieht (vgl. Wegener 2002, 225f.; Duden Fremdwörterbuch 2015, 1080). Vgl. auch Herbig (2002, 228).
34 2. Theorie: ‚Grenze‘ und ‚Transgression‘
Wasser und Land wirkt in diesem Sinne wie ein Gebiet, in dem sich die Kräfte der Meeresbewegung manifestieren und das von permanenten Verschiebungen gekennzeichnet ist. 44 Vor allem der alltagssprachliche Gebrauch deutet die ‚Transgression‘ als unidirektionale Grenzüberschreitung; so ist die ‚Transgression‘ in den Weltsprachen vor allem als Regelbruch konnotiert, wie der Blick in die gängigen Wörterbücher bestätigt: Auf Spanisch bezeichnet die transgresión eine explizite Grenzverletzung, denn das Verb transgredir bedeutet „[q]uebrantar, violar un precepto, ley o estatuto“ (Real Academia Española 2014, 2155). In ihrer englischen Verwendung verweist die transgression ebenfalls auf ein „infringement or violation of a law, command, or duty“ (Merriam-Webster 2019). Die Transgression als Ausdruck des Devianten zu verstehen, entspricht laut Kathrin Audehm und Hans Rudolf Velten (2007, 25) der „kultursoziologische[n] Auffassung von Transgression – [der] Überschreitung von Regeln, Normen und Gesetzen.“ Kulturanthropologisch hingegen liege der Fokus vermehrt darauf, dass symbolische Grenzen überquert werden und Zwischenräume entstehen (vgl. ebd., 25). Das Metzler Lexikon Literaturund Kulturtheorie verbindet diese zwei Sichtweisen, die sich ergänzen können: Als transgressiv lassen sich [...] performative Praktiken […] der Übertretung kultureller Grenzen (limites, Grenze/Grenzziehung) bezeichnen, wobei unterschieden werden kann zwischen Verletzungen von (vertikalen) Normen, die das Verhältnis von Oben und Unten im Inneren einer sozialen Ordnung regeln [...], und Überquerung von (horizontalen) Grenzen (frontières), die die Differenz von Innen und Außen prozessieren (Isekenmeier 2008, 725, Hervorhebung i. O.).
Der hier angeführten Definition zufolge bezieht sich die Transgression als performativer Akt auf jegliche gesellschaftlich konstruierte Unterteilung in hierarchisch strukturierte Gegensätze – Oben/Unten, Innen/Außen oder auch Eigenes/Fremdes. Chris Jenks betont ebenfalls die semantische Tiefe der Transgression und bemüht sich um eine Definition, die sie nicht eindimensional als Gegenbewegung wahrnimmt, sondern eine Doppeldeutigkeit erfasst: To transgress is to go beyond the bounds or limits set by a commandment or law or convention, it is to violate or infringe. But to transgress is also more than this, it is to announce and even laudate the commandment, the law or the convention. Transgression is a deeply reflexive act of denial and affirmation (Jenks 2006, 2).
44 In den geographischen Beobachtungen zum Meer lassen sich Anknüpfungspunkte zu kulturwissenschaftlichen Fragestellungen der Grenze und Transgression finden. Ursula Hennigfeld (2014b, 138f.) zeigt, wie dem Wasser eine grenzüberschreitende Kraft zugeschrieben wird: Gaston Bachelard zeichne das Wasser in L’eau et les rêves (1942) als transitorisch, das auf doppelte Weise Leben und Tod symbolisiere und Ausdruck einer nicht menschlichen, unbändigen Gewalt sei. In Communitas (1998) von Roberto Esposito werde dem Meer „un potencial adquisitivo y apropiativo“ attribuiert und es stehe für das Irrationale (ebd., 140). Ähnlich habe auch Michel Foucault die Lesart von Wahnsinn als aquatisch dargestellt (vgl. ebd., 139), wie sich im Titel „L’eau et la folie“ (1963) bereits andeutet.
2.2 Das Konzept der ‚Transgression‘ 35
Demnach werden die bestehenden Regeln oder Grenzen überschritten, hinterfragt und gestört („go beyond“, „violate“, „infringe“) – aber erst in der Transgression zeigt sich ihre Form und Funktion. Die Transgression erscheint hier wie ein performativer Akt („announce and […] laudate“) nach dem Motto: Siehe, diese Struktur durchbreche ich gerade. In der Dialektik von „denial and affirmation“ liegt das reflexive Moment der Transgression. Diesen Aspekt der Transgression analysieren die diversen Beiträge der romanistischen Forschungsliteratur in unterschiedlichen thematischen Feldern. 45 Auch die US-amerikanische Kulturanthropologie befasst sich mit der Reflexivität von Transgressionen, wie der 1978 von Barbara Babcock entwickelte Begriff der symbolic inversion zeigt. Obwohl sie dieses Konzept lediglich im Vorwort eines von ihr herausgegebenen Sammelbandes einführt, ist es vor allem für die (anglophone) Anthropologie relevant und wird synonym zur Transgression verwendet (vgl. Isekenmeier 2008, 725). Sie definiert die symbolic inversion als any act of expressive behaviour which inverts, contradicts, abrogates, or in some fashion presents an alternative to commonly held cultural codes, values and norms be they linguistic, literary or artistic, religious, social and political (Babcock 1978, 14).
Das hier beschriebene Verhalten, das symbolisch gegen die dominante Ordnung gerichtet ist, drückt Babcock zufolge das Bedürfnis einer jeden Gesellschaft aus, sich mit den eigenen Grenzen auseinanderzusetzen (ebd., 20f.). Dennoch verändere dieser Akt nicht grundlegend das System, da Rituale zeitlich beschränkt seien (vgl. ebd., 23). 46 Die symbolische Inversion wirke viel eher auf die Gesellschaft ein, wenn Figuren wie der Clown oder der Transvestit die Konventionen umkehren und dazu beitragen, dass man sie fokussiere (vgl. ebd., 29). 47 Daher, konstaDass das sozial Periphere in Theater und Film besonders in Szene gesetzt (‚inszeniert‘) werden kann, wird an der Konjunktur des Begriffes der ‚Transgression‘ in neueren romanistischen filmund theaterwissenschaftlichen Beiträgen zu Aspekten des Marginalen sichtbar: Bernhard Chappuzeau (2005, 11) sieht in den Filmen Almodóvars und Fassbinders eine Verbindung von ‚Transgression‘ und ‚Trauma‘, weil transgressive Filme Verdrängtes sichtbar machten. Ein von Kirsten von Hagen und Ansgar Thiele (2013, 8) herausgegebener Sammelband widmet sich mit dem Roadmovie in der Romania einer Inszenierung des „Akt[s] des Transgredierens“ sozialer Außenseiter. Die Transgression im Theater untersucht Matei Chihaia (2002, 47), der die Integration des Ausgegrenzten in der Inszenierung der französischen Tragödie als ordnungsstützend bezeichnet. 46 Babcock (1978, 24) verweist auf Turners Konzept der Liminalität. Beide Ansätze stehen sich disziplinär nah, vgl. Kapitel 2.1.3 dieser Arbeit. 47 Butler entwickelt in Gender Trouble [1990] die Theorie der Performativität der Geschlechter. Anstatt von einem vordiskursiven sex auszugehen, auf das sich ein gesellschaftlich konstruiertes gender lege, konstatiert Butler, in Anlehnung an Foucault, dass Körper, Begehren und Identität diskursiv verfasst sind (vgl. Butler 2008, 10, 45). Butler sieht das inszenierte Spiel mit der Ordnung als Ort der kritischen Reflexion: Der Transvestitismus hinterfrage die Grenze zwischen Innerem und Äußerem und die Existenz einer inhärenten Geschlechtsidentität (vgl. ebd., 186f.). Drag spiele also mit den Kategorien „anatomical sex, gender identity, and gender performance […] In imitating gender, drag implicitly reveals the imitative structure of gender itself – as well as its contingency“ (ebd., 187, Hervorhebungen i. O.). Es gehe nicht darum, dass es ein Original 45
36 2. Theorie: ‚Grenze‘ und ‚Transgression‘
tiert Babcock, ist sozial Peripheres für die Gesellschaft symbolisch zentral (ebd., 32). Wenn eine symbolische Inversion die ausgeschlossenen Elemente in den Mittelpunkt rückt, kann ein detailliertes Wissen über die sonst nicht sichtbaren Grenzen der Ordnung gewonnen werden. 48 2.2.2 Transgression bei Bataille und Foucault Die in diesen Ansätzen auffällig ambige Beziehung zwischen Grenze und Transgression ist ein dezisives Element im Werk des französischen Philosophen und Schriftstellers Georges Bataille, der Mitte des 20. Jahrhunderts den Terminus der ‚Transgression‘ entscheidend prägt. In L’Érotisme [1957] (1987) zeichnet er ein Bild der Menschheit als ein von Grenzen und ihrer Überschreitung dominiertes Dasein. Für die vorliegende Arbeit ist vor allem Batailles Definition des ‚Verbots‘ und der ‚Transgression‘ wichtig. Das Leben der Menschen schließe immer beide Phänomene ein (vgl. Bataille 1987, 43). Um dies zu verdeutlichen, teilt er die Welt in zwei Seiten: Vernunft und Arbeit befinden sich auf der einen, Natur und Gewalt auf der anderen (vgl. ebd., 43). Da es essenziell sei, beide Bereiche zu trennen, um die soziale Gemeinschaft zu erhalten, werde dies über Verbote aufrechterhalten (vgl. ebd., 44), die man mit einer ‚Grenze‘ gleichsetzen kann. Dabei sind zwei Aspekte des Batailleschen Modells hervorzuheben: Erstens bezieht seine Lesart des Verbots – analog zu der einer Grenze – dessen (potenzielle) Überschreitung immer ein. Die Transgression überwindet das Verbot und vervollständigt es zugleich (vgl. ebd., 39). Daraus folgt zweitens, dass das Verbot auch nach seiner Überschreitung bestehen bleibt (ebd., 51). Denn erst das Verbot verleiht der Transgression einen ganz besonderen Sinn und ermöglicht es ihr, die charakteristische, aus einer Angst hervorgehende Lust auszulösen (vgl. ebd., 42, 49, 51). Verbot und Transgression – Grenze und Überschreitung – funktionieren nur, wenn sie zusammen existieren bzw. agieren. Wendet man diese Gedankengänge auf Batailles zweiteiliges Weltmodell an, zeigt sich, dass die Grenze zwischen der organisierten Vernunft und der impulsiven Gewalt 1. zu gewissen Teilen durchlässig ist, 2. zusammen mit der Transgression die soziale Welt bestimmt und 3. deren Binarität sowohl erhält als auch permanent infrage stellt. So attestiert Bataille jedem Menschen einen Drang, Grenzen zu überschreiten (vgl. ebd., 41). 49 „La transgression organisée forme avec gebe, das parodiert werde, vielmehr werde aufgezeigt, dass die Vorstellung eines ‚Originals‘ nicht haltbar sei (vgl. ebd., 188). Das Spiel der Deplatzierung hinterfragt die Ordnung. 48 Peter Stallybrass und Allon White (1986) greifen den Ansatz Babcocks auf. Die Autoren setzen die symbolische Inversion mit der Transgression gleich und zeigen, dass sie in gewissen Kontexten gewollt und deshalb nicht automatisch subversiv ist (vgl. ebd., 16f.). Die Ansätze von Babcock und Stallybrass/White stimmen dahingehend überein, dass die Transgression sich im Spiel mit den sozial etablierten Kategorisierungen äußert. Die Transgression kann zwar symbolisch gegen die Ordnung gerichtet sein, doch sie ist als solche immer ein Teil der Gesellschaft, die sie zum eigenen Fortbestehen benötigt. 49 Das gesamte menschliche Dasein sei von einer Angst bestimmt, in der den Menschen ihr Zustand als „êtres discontinus“ (Bataille 1987, 18, Hervorhebung i. O.) bewusst werde. Sie erkennen angesichts der Unvermeidbarkeit der eigenen Endlichkeit, dass ihr Leben durch die Trennung von anderen Menschen bis zum Tode von Einsamkeit geprägt sei (vgl. ebd.). Wenn der
2.2 Das Konzept der ‚Transgression‘ 37
l’interdit un ensemble qui définit la vie sociale“ (ebd., 68). Dieses Fazit verdeutlicht, dass die soziale Gemeinschaft, um zu bestehen, bestimmte Grenzen und Verbote benötigt, die aber in ausgewählten Zusammenhängen überschritten werden dürfen oder gar sollen (vgl. ebd., 66). Die Transgression ist in die Gesellschaft eingegliedert und in bestimmten Situationen erlaubt: „C’est le monde de la fête, des souvenirs et des dieux“ (ebd., 70). Indem die Transgression sowohl örtlich als auch zeitlich („la fête“, „des souvenirs“) auf einen gewissen Bereich der Gesellschaft beschränkt bleibt, gelingt es, sie kontrolliert zu integrieren. Da sie mit einem eigenen Sinn („des dieux“) aufgeladen und an bestimmte Riten gebunden ist, ergänzt man die negativen Implikationen des Verbots mit der positiven Wirkmacht der Überschreitung (vgl. ebd., 67). Wenn jedoch diese gesellschaftliche Verbindung von Angst und Lust aus dem Gleichgewicht gerät, entsteht Bataille zufolge der Ekel, der die Menschen vorfühlen lässt, dass ihr eigener Tod unvermeidbar ist (vgl. ebd., 60). 50 Daher sind „nausée, écœurement, dégoût“ (ebd., Hervorhebungen i. O.) beim Anblick einer verwesenden Leiche für den Menschen entscheidend: „[L]a mort annoncera mon retour à la purulence de la vie. Ainsi puis-je pressentir […] cette purulence multipliée qui par anticipation célèbre en moi le triomphe de la nausée“ (ebd.). Was Bataille hier als „purulence de la vie“ bezeichnet, ist der beobachtbare Verwesungsprozess (ebd., 59). Der Tod in Gestalt einer von Ungeziefer zersetzten Leiche zeigt damit dem Menschen, dass auch er nach seinem Tod als Materie wieder in den Kreislauf des Lebens übergeht (vgl. ebd., 58). Menninghaus (2001, 167) betont, dass der Mensch an dieser Stelle das „Gefühl des Umschlags der Verwesung in neues wucherndes Leben“ empfindet. Der Tod – aus dem menschlichen Leben verbannt – tritt durch den Ekel unmittelbar in das Leben ein und der Mensch nimmt seine eigenen Grenzen wahr. 51 Mensch während der erotischen Erfahrung temporär mit dem Gegenüber verschmelze, setze er sich mit dieser Todesangst auseinander (vgl. ebd., 29). Bataille impliziert durch diese Parallele, dass Tod und Erotik sich nicht widersprechen, sondern der Tod mit einer gewissen Lust zusammenhängt (vgl. ebd., 24). Diese Lust komme in einem permanenten Spiel mit den eigenen Grenzen zum Ausdruck, einer Art Pendelbewegung zwischen Lust und Angst, die die unbewusste Hoffnung darauf enthalte, die Furcht vor dem Tod zu überwinden (vgl. ebd., 89). 50 Für eine Kulturgeschichte des Ekels vgl. Menninghaus (1999); Menninghaus (2001). Der Autor zeichnet chronologisch die kulturtheoretischen Schriften zum Thema des Ekels nach und zeigt, dass er eine fundamentale Größe bei der Frage von Identität und Alterität darstellt (Menninghaus 1999, 7), der die „Unterscheidung von Natur und Kultur [...] begründet“ (Menninghaus 2001, 160). 51 Hier ähnelt die Theorie Batailles den Überlegungen von Julia Kristeva zur sog. abjection. Auch bei Kristeva ist der Kadaver als Gipfel der abjection zentral, wie sie 1980 in Pouvoirs de l’horreur. Essai sur l’abjection schreibt: „Le cadavre (cadere, tomber), ce qui a irrémédiablement chuté, cloaque et mort, bouleverse plus violemment encore l’identité de celui qui s’y confronte comme un hasard fragile [...]. [...] ne signifient pas la mort. [...] m’indiquent ce que j’écarte en permanence pour vivre. [...] Si l’ordure signifie l’autre côté de la limite, où je ne suis pas et qui me permet d’être, le cadavre, le plus écœurant des déchets, est une limite qui a tout envahi“ (Kristeva 1980, 11, Hervorhebungen i. O.) Der Kadaver markiert eine Grenze und ist selbst ein Signifikant für das, was die Lebenden und die Gesellschaft verdrängen („m’indiquent ce que j’écarte“), das, was außerhalb des Systems liegt und so erst erlaubt, dass dieses überhaupt besteht („qui me permet d’être“). Der Anblick des Kadavers konfrontiert das Subjekt also mit
38 2. Theorie: ‚Grenze‘ und ‚Transgression‘
Obwohl der Ekel wie ein subjektiv empfundenes Gefühl erscheint, wird er kulturell über die Generationen hinweg weitergegeben und entscheidet über die Intensität der Verbote (vgl. Bataille 1987, 61, 89). Interessant ist, dass Bataille ihn nun als Ausdruck des sozialen Lebens lesbar macht: Das Zentrum betrachtet mit Abscheu die an den Rändern der Gesellschaft lebenden Menschen (ebd., 134). Der Ekel funktioniert also als ein hierarchischer Ausschluss-Mechanismus der Gesellschaft, deren Grenzen er definiert (vgl. Margat 2011, 17). Ähnlich verhält es sich mit dem in der Gesellschaft als ‚das Böse‘ 52 Geltenden: „[N]’est pas la transgression, c’est la transgression condamnée. Le Mal est exactement le péché“ (Bataille 1987, 127). Eine Überschreitung kann folglich erst als ‚das Böse‘ oder als Sünde bezeichnet werden, wenn die Gesellschaft sie durch ihre Verbote als solche verurteilt („la transgression condamnée“). 53 Für die vorliegende Arbeit sind außerdem jene Stellen relevant, an denen Bataille die Funktion der Literatur mit der Transgression verknüpft. So konstatiert Bataille in einer den Leser fokussierenden Herangehensweise, die Lust an der Lektüre von Kriminalromanen entstehe dadurch, dass der Leser aus einer sicheren Position heraus die Angst des Protagonisten mitempfinden kann (vgl. ebd., 88). 54 Diese von der fiktiven für die reale Welt eingenommene Stellvertreterrolle ermöglicht es demnach den Menschen, imaginär mit den vielfältigsten Möglichkeiten zu experimentieren und Grenzen auszureizen. Allerdings kannn die lustvolle Stimmung kippen (vgl. ebd., 89), wenn skandalöse, transgressive Literatur im Leser den eigenen Grenzen, holt das Verdrängte hervor und vermittelt dem Subjekt zugleich, dass es das Abjekte in sich trägt (vgl. ebd., 12). Hier zeigt sich, dass das Abjekte nicht mit einem Objekt gleichzusetzen ist, da es das Subjekt in seiner Integrität konfrontiert und als konstitutiv für die Kultur erachtet wird (vgl. ebd., 9f.). Die verdrängte Erfahrung des Subjekts, das den mütterlichen Körper verlassen hat, tritt in der abjection zutage und „erschüttert [...] jede männlich-paternale Ordnung in ihrem Kern“ (Menninghaus 1999, 532). Darin geht Kristevas psychoanalytische Kulturanalyse weiter als die vaterzentrierten Theorien Freuds und Lacans und unterscheidet sich auch von Bataille, der vor allem die männliche Lust thematisiert (vgl. ebd., 532). Bei Kristeva kommt dem literarischen Text ein hoher Stellenwert zu, das Abjekte in die Kultur zu holen und Binaritäten zu durchbrechen: „[C]omme le sentiment d’abjection est à la fois juge et complice de l’abject, ainsi l’est la littérature qui s’y confronte. Aussi pourrait-on dire qu’avec cette littératurelà s’accomplit une traversée des catégories dichotomiques du Pur et de l’Impur, de l’Interdit et du Péché, de la Morale et de l’Immoral“ (Kristeva 1980, 23). 52 Vgl. Sabine Friedrich (1998), die das ‚Böse‘ mithilfe Batailles Begriffe der ‚Transgression‘ und des ‚Heterogenen‘ erläutert. Aus einer ambivalenten Dekonstruktion der Grenzen auf ästhetischer und symbolischer Ebene im literarischen Text ergeben sich, so Friedrich, Konsequenzen für den Diskurs (vgl. ebd., 32f.). 53 Dies würde implizieren, dass in einer rein profanen Welt keine Sünde mehr möglich wäre, auch wenn die bloße Erinnerung daran bereits auf den Menschen anregende Effekte hätte (vgl. Bataille 1987, 128). Den Gedanken wird Michel Foucault (1994b) in seiner Analyse des Batailleschen Transgressions-Begriffs weiterführen. 54 Bataille stellt hier die These auf, dass solche literarischen Werke nur von Interesse seien, da sie sich vom Alltäglichen unterscheiden (vgl. Bataille 1987, 88). Es ist demzufolge die Ereignishaftigkeit, die die besondere Lust im Leser erweckt. Vgl. Lotmans Definition des ‚Ereignisses‘, das in einem unmittelbaren Zusammenhang mit dem kulturell geprägten Weltbild stehe und erst vor dessen Hintergrund als Ereignis bewertet werde oder irrelevant bleibe. Dieses Ereignis, eine Grenzüberschreitung, definiert nach Lotman (1972, 332f., 338f.) die Sujethaftigkeit literarischer Texte.
2.2 Das Konzept der ‚Transgression‘ 39
Ekel und Schrecken auslöst und damit wiederum auf die Stärke der gesellschaftlichen Grenzen verweist: „Nous voulons les [=les limites, JA] excéder et l’horreur éprouvée signifie l’excès auquel nous devons parvenir, auquel, s’il n’était l’horreur préalable, nous n’aurions pu parvenir“ (ebd., 143). Die Intensität der widerstrebenden Gefühle zeigt dementsprechend die Qualität der Konventionen an, und die zu einer bestimmten Zeit tabuierten Äußerungen machen diskursive Grenzen sichtbar. Zudem artikuliert diese Art der Literatur die üblicher Weise verschwiegenen Emotionen der Grenzüberschreitung (vgl. ebd., 186f.). Das literarische Werk vermittelt also die Leidenschaft Einzelner in einem das Schweigen und Sprechen verbindenden „discours paradoxal [...]. Sade parle, mais il parle au nom de la vie silencieuse, au nom d’une solitude parfaite, inévitablement muette“ (ebd. 187, Hervorhebung i. O.). Folgt man diesem Gedanken Batailles, gelingt es Literatur, selbst Ungesagtes zu kommunizieren. Neben seinen theoretischen Schriften versucht Bataille in seinem literarischen Werk zu erproben, wie sich die Transgression auf die Sprache auswirkt (vgl. Wiechens 1995, 21), so zum Beispiel im Roman Histoire de l’œil (1928). Auf dieses Werk geht Michel Foucault in seinem Aufsatz „Préface à la transgression“ [1963] ein, den er kurz nach Batailles Tod veröffentlicht. Anfangs führt Foucault (1994b, 234) in das philosophische Weltbild ein, das er für das 20. Jahrhundert ausmacht: Wir lebten in einer Gesellschaft, in der es nach dem ‚Tod Gottes‘ nichts mehr zu entheiligen gebe. Während sich die europäische Philosophie also einerseits von der Begrenzung der eigenen Welt durch einen Gott befreit habe, zeigen sich angesichts der nun unvermeidlichen Konfrontation mit der eigenen Sterblichkeit neue Grenzen (vgl. ebd., 235). In dieser von Foucault skizzierten Welt nimmt die Sexualität eine besondere Rolle ein, da die Gesellschaft ihr Grenzen auferlegt, sie jedoch zugleich Transgressionen ermöglicht (vgl. ebd., 233, 236). In Anlehnung an Bataille geht Foucault davon aus, dass die Überschreitung die Grenze nicht negiert, sondern beide voneinander abhängen: La limite et la transgression se doivent l’une à l’autre la densité de leur être : inexistence d’une limite qui ne pourrait absolument pas être franchie ; vanité en retour d’une transgression qui ne franchirait qu’une limite d’illusion ou d’ombre (ebd., 237).
Hier betont Foucault, dass Transgressionen an die Grenze gebunden sind, um als solche wahrgenommen zu werden, ebenso wie sich die Grenze erst durch ihre Überschreitung zeigt. Dieses Zitat spitzt die Bedeutung des Grenzbegriffs noch einmal zu: Man könne die Grenze nicht erfassen, ohne die sie kreuzenden, transgressiven Elemente zu berücksichtigen. Eine Analyse von Transgressionen müsse die vielschichtigen Grenzen und die Beschaffenheit gesellschaftlicher Hierarchisierungen mitdenken. In der erotischen Literatur Batailles entdeckt Foucault eine transgressive Sprache, die die Grenzerfahrung einer ganzen Kultur vermittelt (vgl. ebd., 240f.): [D]ans un perpétuel passage à des niveaux différents de parole, par un décrochage systématique par rapport au Je qui vient de prendre la parole, prêt déjà à la déployer et à
40 2. Theorie: ‚Grenze‘ und ‚Transgression‘ s'installer en elle: décrochages dans le temps (‘j'écrivais ceci’, ou encore ‘revenant en arrière, si je refais ce chemin’), décrochages dans la distance de la parole à celui qui parle (journal, carnets, poèmes, récits, méditations, discours démonstratifs), décrochages intérieurs à la souveraineté qui pense et écrit (livres, textes anonymes, préface à ses propres livres, notes ajoutées) (ebd., 243).
Foucault beschreibt eine literarische Sprache, die nie zu ruhen scheint: Die Texte Batailles sind durchzogen von paratextuellen Elementen, einem vertikalen Wechsel zwischen intra- und extradiegetischer Ebene. Hinzu kommen Sprünge in der Zeit (horizontal) und Perspektive (sowohl horizontal als auch vertikal) des Erzählens. Diese vielfältigen Entkopplungen schaffen einen von Brüchen gezeichneten Sprachraum, der durch permanente Transgression auf verschiedenen Ebenen und in verschiedene Richtungen immer neue Grenzen überschreitet und zugleich setzt. Dadurch entsteht die „[l]angage non dialectique de la limite qui ne se déploie que dans la transgression de celui qui le parle“ (ebd., 244). Die sprechende Instanz ist von diesen Brüchen geprägt, ebenso wie die entstehende Sprache zirkulär ist. Um zu exemplifizieren, wie diese Transgression zu denken ist, geht Foucault auf das Bild des Auges im Werk Batailles ein. Das Auge bildet eine horizontähnliche Grenze, die der Blick in einer sich von innen nach außen vollziehenden Bewegung überquert (vgl. ebd.). Damit verbinde das Auge die Grenze und Überschreitung: „Il est la figure de l’être qui n’est que la transgression de sa propre limite“ (ebd., 245). Während es traditionell eine Metapher für die Selbstermächtigung des souveränen Subjekts sei und als Fenster zu seinem Inneren gelte (ebd.), kehre Bataille dies im Bild des herausgerissenen und verdrehten Auges dezidiert um: 55 [L]’œil révulsé, chez Bataille, ne signifie rien dans son langage, pour la seule raison qu’il en marque la limite. Il indique le moment où le langage arrivé à ses confins fait irruption hors de lui-même, explose et se conteste radicalement dans le rire, les larmes, les yeux bouleversés de l’extase, l’horreur muette et exorbitée du sacrifice, et demeure ainsi à la limite de ce vide, parlant de lui-même dans un langage second où l’absence d’un sujet souverain dessine son vide essentiel et fracture sans répit l’unité du discours (ebd., 247).
Das verdrehte Auge verbildlicht den Moment des transgressiven Ausbruchs, in dem die Worte fehlen („le langage arrivé à ses confins“). Klawitter (2008, 113) bezeichnet das Auge „als eine Art stumme Metapher [für] das ‚leere‘ Sein der Sprache“. Es verweist in diesem Moment auf nichts („ne signifie rien dans son langage“), sondern nimmt eine metasprachliche Funktion ein („parlant de luimême dans un langage second“) und macht somit auf die Grenzen der Sprache sowie des zuvor einheitlich geglaubten Diskurses aufmerksam („marque la limite“, „fracture sans répit l’unité du discours“). Foucault versucht hier zu einer Denkweise zu gelangen, die weder Totalität noch Widersprüche, sondern die Verbindung von Grenze und Transgression denken kann (vgl. Foucault 1994b, 248). 55 In Form der Löcher des Schädels werde eine Leere sichtbar, hinter der sich nichts verberge; dieses Nichts sei aber gleichzeitig ein Abbild des Todes und der eigenen Vergänglichkeit (vgl. Klawitter 2008, 113).
2.2 Das Konzept der ‚Transgression‘ 41
In der transgressiven Sprache der Literatur findet Foucault diese Nahtstelle, da sie die Sprache an sich infragestellt und eine Zirkularität ad infinitum erschafft, wodurch man den eigenen Grenzen begegne (vgl. ebd., 248f.). Gleichzeitig zieht sie dadurch die menschliche Wahrnehmung der Welt und unserer Selbst in Zweifel. Es ließe sich annehmen, dass darin der Schock liegt, den die obszönen Texte von Autoren wie Bataille auslösen. 56 Dieser Beitrag Foucaults zur Begriffsschärfung der ‚Transgression‘ fokussiert die Sprache, in der die Überschreitung sichtbar werden bzw. überhaupt erst stattfinden kann. Wichtig ist auch hier, dass Foucault, unter Berücksichtigung von Batailles Theorie, die Grenze und Transgression als zusammengehörige Elemente greift, die Ausdruck der menschlichen Erfahrung per se sind. Bei der Analyse des literarischen Textes gilt es, verstärkt zu berücksichtigen, welche Instanz spricht, vor allem aber, ob Brüche sowie vertikale oder horizontale Grenzüberschreitungen zu erkennen sind. Anschließend ist ein Bezug zum Diskurs zu ziehen, um zu erfassen, wie sich die transgressive Sprache auf die Wahrnehmung der Welt und des menschlichen Seins auswirkt. Auch wenn Foucault in diesem Text zu dem Ergebnis kommt, dass Transgressionen auf Ebene der (literarischen) Sprache stattfinden können, besagt dies nicht, dass eine Thematisierung gesellschaftlicher Tabus immer bereits grenzüberschreitend ist. Dies zeigt sich vor allem im 1976 erschienen ersten Band von Histoire de la sexualité, nämlich La volonté de savoir, in dem Foucault (1976, 12) sich diskursanalytisch mit dem Verhältnis von Macht, Wissen und Sexualität auseinandersetzt. Er leitet historisch her, wie die Institutionen der Medizin und Psychoanalyse eine Wissenschaft etablieren, die sich in die Belange der Bevölkerung einmischt und vorgibt, damit die physische und moralische Integrität des gesellschaftlichen Körpers zu erhalten (vgl. ebd., 33, 73). 57 Entscheidend ist dabei das Die grenzüberschreitende Kraft Batailles lässt sich auch in der Aktualität beobachten. So veröffentlicht die englische Gendertheoretikerin Ashley Tauchert mit Against Transgression (2008) ein Manifest gegen die männlich konnotierte Sicht auf Transgression, die sie bei Bataille und vor allem in Foucaults „Préface“ entdeckt (vgl. ebd., 2). Es handelt sich um einen größtenteils polemischen Text, der stark von wertenden Aussagen („I am sick of transgression,“ ebd., 97) sowie biographischen Bezügen der Autorin durchzogen ist (vgl. ebd., 11) und nicht in die Tiefe geht. Des Weiteren kann der Vorwurf Taucherts an die Wissenschaft nicht bestätigt werden, wie an den in dieser Arbeit herangezogenen Beiträgen erkenntlich wird. Dennoch kann die Lektüre von Against Transgression interessant sein, da Tauchert weibliche Körperlichkeit fokussiert und für die ‚Compassion‘ als integratives Gegenkonzept zur ‚Transgression‘ plädiert (vgl. ebd., 114f.). Außerdem findet sich im Anhang eine bibliographische Übersicht von Werken, die ‚Transgression‘ im Titel tragen. Da sie vom 16. Jahrhundert bis 2006 reicht, lassen sich Tendenzen in der Begriffsgeschichte erkennen. 57 Seine historische Analyse zeigt, wie nach dem 17. Jahrhundert eine monogame, heteronormative Fortpflanzungspolitik die Sexualität aus dem öffentlichen Raum verbannt und sie einer Norm unterwirft, während zeitgleich die Diskurse über den Sex ausgeweitet und verlagert werden (vgl. Foucault 1976, 9f., 33). Anstatt vor Sex die Augen zu verschließen, habe man begonnen, ihn zu bewerten (vgl. ebd., 76, 21f.). So hätten die Machtmechanismen aus ökonomischem, politischem und technischem Eigeninteresse ein System aus Diskursen und Apparaten entwickelt, um Sex erst detailliert zu analysieren, ihn dann zu klassifizieren und in ihn einzugreifen (vgl. ebd., 33, 37, 76). Als Beispiel nennt Foucault die Pariser Salpêtrière von Charcot (Foucault 1976, 74f.), in der im 19. Jahrhundert jegliche ‚Abweichungen‘ erforscht und kategori56
42 2. Theorie: ‚Grenze‘ und ‚Transgression‘
Geständnis („l’aveu“, ebd., 78), das seit dem Mittelalter die Rolle eines konstitutiven Rituals innehat 58 und inzwischen gesamtgesellschaftlich existiert (vgl. ebd., 78, 79f., 86). Das Geständnis zeichnet sich durch eine besondere Sprechsituation aus, als „l’expression obligatoire et exhaustive d’un secret individuel [...]. [...] qui se déploie dans un rapport de pouvoir“ (ebd., 82f.). Der Sprechende macht sich selber, seine eigenen Taten und Ansichten, zum Gegenstand der Rede (vgl. ebd., 78, 82). Entscheidend ist dabei, dass ein Gegenüber das Geständnis entgegennimmt, es bewertet und somit das Gesagte interpretiert, wodurch die Macht („rapport de pouvoir“) nicht bei der sprechenden Person liegt (vgl. ebd., 83f.). Begriffe wie „discours vrais“ und „vérité reglée“ (ebd., 92) zeigen die hier stattfindende, von den Trägern der Ordnung vorgenommene und diskursiv so legitimierte Produktion von Wahrheit, dass ihre Verknüpfung mit der Macht nicht ohne Weiteres sichtbar ist. Es gilt genau nachzuforschen, welche Instanz das Gesprochene bewertet und unter welchen Umständen Geheimnisse geäußert werden – so kann selbst einem vermeintlich freiwilligen Geständnis eine Machtbeziehung zugrunde liegen. Da die Wahrheit immer von den Machtstrukturen produziert wird, ist es Foucault zufolge dringend notwendig, nicht nur nach der Unterdrückung von Sexualität zu fragen, sondern nach den sie bestimmenden diskursiven Mechanismen (vgl. ebd., 81, 98). Foucault beschreibt das sog. Sexualitätsdispositiv in einem Interview als ensemble résolument hétérogène, comportant des discours, des institutions, des aménagements architecturaux, des décisions réglementaires, des lois, des mesures administratives, des énoncés scientifiques, des propositions philosophiques, morales, philanthropiques, bref: du dit, aussi bien que du non-dit, voilà les éléments du dispositif. Le dispositif lui-même, c'est le réseau qu'on peut établir entre ces éléments (Foucault 1994d, 299).
Die unterschiedlichen, diskursiven und nicht-diskursiven Elemente einer Gesellschaft sind miteinander verbunden und bilden ein interrelatives Netz, das als Dispositiv zu verstehen ist. Das Netz ist einerseits dynamisch und beweglich, man kann es also verschieben und verändern („changements“, „modifications“, ebd., 299) – aber es steht immer im Verhältnis zur Macht, als ein „jeu de pouvoir“ (ebd., 300). Die Machtstrukturen gehen also aus dem Dispositiv hervor, bestimmten jedoch gleichzeitig dessen Grenzen (vgl. ebd.). Das ist entscheidend für die Frage, ob eine Transgression über die Ordnung hinaus möglich sein kann. Verschiebungen können zufolge der zitierten Ausschnitte stattfinden, doch ein Widerstand kann nie außerhalb stehen, da er sich immer innerhalb des Machtnetzes siert werden. Die Diskurse der Psychopathologie analysiert Link-Heer (1983). Für den Zusammenhang zwischen der Psychopathologie und der Normalisierung, vgl. Link-Heer (1999). 58 Nach dem Laterankonzil von 1215 wird die Beichte im Christentum entscheidend (vgl. Ohst 1995, 1). Auch in der Strafjustiz setzen sich die „méthodes d’interrogation et d’enquête“ durch (Foucault 1976, 78). Aus hispanistischer Perspektive ist hier ebenfalls an Inquisitionstribunale zu denken (vgl. ebd.). Zur historischen Analyse der christlichen Pflichtbeichte, vgl. Ohst (1995).
2.2 Das Konzept der ‚Transgression‘ 43
befindet, das jeglicher sozialer Handlung zugrunde liegt (Foucault 1976, 125f.). Demnach werden keine Grenzüberschreitungen durch Transgressionen vorgesehen. Allerdings bewertet Foucault den Widerstand trotzdem nicht als passiv, sondern sieht dessen Effekte als für die Funktion der Macht wichtige Gegenpunkte (vgl. ebd., 126f.). 59 Die Sexualität stellt ein Feld dar, das den Machtstrukturen global wie regional den Zugang zu jedem Einzelnen ermöglicht und den Menschen mit dem Gesellschaftskörper verbindet (vgl. ebd., 138, 140f.). 60 Dadurch, dass das Sexualitätsdispositiv den gesamten Körper durchdringt, produziert es die Sexualität (ebd., 139ff.). Hieraus ergibt sich, dass das Sexualitätsdispositiv 1. sowohl strategisch als auch heterogen ist, 2. alle Menschen betrifft und deshalb zwar vielfältig, aber gleichzeitig umfassend ist sowie 3. dadurch, dass es allen Handlungen zugrunde liegt, natürlich wirkt, obwohl es Fundament und Ausdruck von Machtmechanismen ist. Da das Sexualitätsdispositiv immer von den Machttechniken abhängt, kann laut Foucault auch Sex nicht subversiv sein (vgl. ebd., 198). Sex sei eine Idee, also ein diskursives Konstrukt, das durch seine angebliche Natürlichkeit seine kulturelle Daseinsform vergessen mache (vgl. ebd., 205). Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, Sex und Sexualität immer vor diesem dispositiven Hintergrund zu analysieren. 2.2.3
Transgression als literaturwissenschaftliche und narratologische Kategorie Für die literaturwissenschaftliche Analyse geht aus den bisherigen Überlegungen hervor, dass man das Konzept der ‚Transgression‘ mit einer gewissen Vorsicht anwenden muss: Grenzwertige Inhalte bzw. eine fiktionale Welt mit marginalisierten Protagonisten an peripheren Orten machen nur einen kleinen Teil des transgressiven Potenzials aus (vgl. Audehm und Velten 2007, 26f.). Relevant ist die Art und Perspektive des Erzählens, d. h. welche Instanzen welche Inhalte äußern und bewerten, sowie worüber geschwiegen wird. Paradoxale Diskurse (Bataille) und Das Gleiche gelte für die strategische Funktion von Diskursen und deren Verhältnis zur Macht. Die Strukturen der Macht akzeptieren zeitgleich unterschiedliche Diskurse, Heterogenität stellt also eine Machtstrategie dar (vgl. Foucault 1976, 132ff.). Die Interdiskurstheorie wiederum sieht in dieser Heterogenität die Möglichkeit für „Strategien der Resistenz“, die sich „gegen die Erfassung durch eine hegemoniale Machtbeziehung [...] als ‚resistent‘ erweisen“ können (Link und Link-Heer 1990, 91). 60 Das Sexualitätsdispositiv hat sich seit dem 18. Jahrhundert über die folgenden diskursiv erschaffenen Grundannahmen herausgebildet: Die Hysterisierung des weiblichen Körpers, die Pädagogisierung des kindlichen Sexes, die Sozialisierung des Fortpflanzungsverhaltens und die Psychiatrisierung der perversen Lust (vgl. Foucault 1976, 137f.). – Foucault verknüpft das Sexualitätsdispositiv mit einer neu entstehenden Macht: Das Konzept des „bio-pouvoir“ (ebd., 184) beschreibt eine Machtform, die den Körper nicht nur unterdrückt und diszipliniert, sondern den Fokus auf das Leben, die (diskursiv konstruierte) Wahrheit und das Wissen legt (ebd., 183). Sie drohe den Menschen nicht, sei aber durch Kontrollen und Regulationen Kapitalismus-konform (vgl. ebd., 185, 189). Bei der dadurch entstehenden Verbindung von Politik und Biologie sei Sex entscheidend, weil er die Bevölkerung zugleich diszipliniere und reguliere (vgl. ebd., 187, 191f.). Das aktuelle Verhältnis von Biomacht und Sexualitätsdispositiv untersucht Laufenberg (2014). Vgl. auch Borsò und Cometa (2013). 59
44 2. Theorie: ‚Grenze‘ und ‚Transgression‘
eventuell vorhandene Brüche (Foucault) müssen dabei ebenfalls in den Blick genommen werden. Julian Wolfreys schlägt vor, diese unterschiedlichen Ebenen der narrativen Textanalyse in einer transgressiven Lesart miteinander zu verbinden. Der in seinem Werk Transgression. Identity, Space, Time (2008) verfolgte diskursivliteraturwissenschaftliche Ansatz sucht zunächst nach alternativen Definitionen von ‚Transgression‘. Wolfreys bezieht sich kritisch auf Chris Jenks, indem er argumentiert, dass bereits das Verständnis von Transgression als Regelbruch eine dichotome Gesellschaftsstruktur bestätige, da es eine binäre Opposition voraussetze (vgl. Wolfreys 2008, 1f.). Erweitere man den Begriff jedoch auf jegliche Überschreitung von Linien, Grenzen und Konventionen, könne man drei grundlegende Gemeinsamkeiten ausmachen: [T]he common assumptions that inform any definition of transgression have to do with (a) form or identity; (b) a movement or motion, a passage of some kind, and therefore implicitly a duration or temporality; and this passage from being on the side of the law to being lawless for example; hence trespass, to pass over or across, to infringe or impose; (c) spatial and relational position or location (ebd., 3, Hervorhebungen i. O.).
Die genannten Elemente – Identität und ihr sich wandelnder Bezug zu Temporalität und Lokalität – wirken orientierend. Damit löst sich der Ansatz Wolfreys’ von dem Binären, ohne jedoch zu negieren, dass Grenzen existieren. Vielmehr gelingt es, die menschliche und kulturelle Identität als Teil eines mehrdimensionalen Gefüges zu verstehen. Des Weiteren berücksichtigt er persönliche Parameter, denn das, was für das eine Individuum eine Transgression bedeute, müsse nicht zwangsweise für ein anderes eine ebensolche sein (ebd., 9). Abgesehen von den drei gemeinsamen Elementen sei eine einheitliche und universal gültige Definition von ‚Transgression‘ nahezu unmöglich (vgl. ebd., 7), denn transgressions, being many, multiple, and endlessly inventive and self-differentiating, avoid such determinations, such laws of order, logic and narrative. Moreover, they cannot be examined from the outside, for the very reason that they are of the very fabric of the historical […] (ebd., 8).
Wolfreys verwendet hier bewusst den Plural, um zu betonen, dass Transgressionen vielschichtig sind und wiederholt auftreten („many, multiple“). Da sie wandelbar sind („endlessly inventive and self-differentiating“), entziehen sie sich der Kausalität oder Linearität („avoid […] determinations, […] laws of order, logic and narrative“). Doch es misslingt, Transgressionen unvoreingenommen von außen zu analysieren, da sie von der gesellschaftlichen Struktur und Geschichte bzw. der individuellen Identität abhängen (vgl. ebd., 4ff.). Die Herangehensweise Wolfreys’ verdeutlicht, dass es nicht immer einfach ist, Transgressionen zu erkennen, doch sie sind ein entscheidendes menschliches Charakteristikum: Die Erinnerung als Transgression par excellence vereint alle drei Ebenen, dadurch, dass sie Vergangenes mit der Aktualität verbindet, örtlich und zeitlich über das Subjekt einfällt, sich ihm aber gleichzeitig durch Lücken entzieht und dadurch unkontrol-
2.2 Das Konzept der ‚Transgression‘ 45
lierbar ist (vgl. ebd., 10f.). In der selektiven und subjektiven Erinnerung verbindet sich Wolfreys zufolge Wahres mit Imaginärem, ähnlich wie in einem fiktionalen Text: „[N]arrative, like memory ‚fictionalizes‘; it tells a tale in a manner that is neither simply true nor simply false“ (ebd., 11). Die Art des Erzählens („manner“) spielt hier eine wichtige Rolle. Denn, wie schon Foucault, betont Wolfreys, dass ein transgressiver Text nicht lediglich auf der inhaltlichen Ebene schockiert, sondern sich vor allem stilistisch von der Konvention löst (ebd., 12). Folglich empfiehlt Wolfreys für die literaturwissenschaftliche Analyse von Transgressionen, das close reading mit dem literarischen und gesellschaftlichen Kontext zu verbinden, da somit „any text […] can be read as transgressive“ (ebd., Hervorhebungen i. O.). Versteht man Literatur als immer potenziell transgressiv, kann der Terminus als Analysegegenstand fortbestehen, jenseits der Annahme, dass es heutzutage für den fiktionalen Text prinzipiell keine inhaltlichen Beschränkungen mehr gebe (vgl. ebd., 13f.). 61 Wolfreys zufolge ist im literarischen Werk eine doppelte Transgression denkbar: Es zeige, ähnlich einem (Meta-)Diskurs, soziale und strukturelle Grenzen des Kontexts und ermögliche den Leser/innen die Erfahrung einer Transgression, indem sie in die fiktive Welt eintauchen und die Erlebnisse der Protagonisten miterleben (vgl. ebd., 15). Die These Wolfreys’ entspricht den leserzentrierten Überlegungen Batailles zur Funktion literarischer Texte. Wolfreys beantwortet jedoch nicht, wie sich Transgressionen ästhetisch im literarischen Text manifestieren. Diese Frage lässt sich anhand der im Folgenden herangezogenen narratologischen Ansätze erörtern, die auf Transgressionen im literarischen Text eingehen. Die Vorüberlegung besteht aus zwei Grundannahmen, die sich allerdings im Verlauf dieses Textes als erschütterbar erweisen werden: 1. Bei der Lektüre fiktionaler narrativer Werke geht der Leser davon aus, dass es sich um einen Text handelt, der sich in gewisser Hinsicht von einem faktualen Text unterscheidet. Zum Beispiel kann dies bedeuten, dass der fiktionale Text sich nicht zwangsweise mit der extratextuellen Wirklichkeit decken muss. 62 Christoph Vgl. auch Michel de Certeau, der in Arts de faire, dem ersten Teil von L’invention du quotidien [1980] (1990) zeigt, dass Erzählungen den Raum beeinflussen und die Grenzen dahingehend transformieren, dass man sie überschreiten kann: „Le récit […] ‚tourne‘ la frontière en traversée, et le fleuve en pont. Il raconte en effet des inversions et déplacements : la porte qui ferme est précisément ce qu’on ouvre ; le fleuve, ce qui livre passage ; l’arbre, ce qui jalonne les pas d’une avancée ; la palissade, un ensemble d’interstices où se coulent des regards“ (ebd., 188). Dabei bewertet De Certeau die Transgression als widerständige Handlung, als „désobéissance à la loi du lieu“ und „‚trahison‘ d’un ordre“ (ebd.). Relevant ist dabei, dass in diesem Akt die vorgegebenen Codes verwendet und dabei aktiv umgedeutet werden. Mit De Certeau ließe sich also eine mögliche Transgression bereits im Alltäglichen finden. Erzählungen und somit auch die Literatur bekommen dadurch eine performative Kraft, die „Potenzialität, Wirklichkeit zu verändern“ (Audehm und Velten 2007, 29). 62 Die Frage der Unterscheidung von fiktionalen und faktualen Texten und ihrer Definition beschäftigt seit jeher die Literaturwissenschaft (vgl. Martínez und Scheffel 2009, 11). – Bereits Aristoteles vergleicht in der Poetik Geschichtsschreibung und Dichtkunst: „Aus dem Gesagten ergibt sich […], daß es nicht Aufgabe des Dichters ist mitzuteilen, was wirklich geschehen ist, sondern vielmehr, was geschehen könnte, d. h. das nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit Mögliche. Denn der Geschichtsschreiber und der Dichter unterscheiden sich nicht dadurch voneinander, daß sich der eine in Versen und der andere in Prosa mitteilt […]; sie unter61
46 2. Theorie: ‚Grenze‘ und ‚Transgression‘
Bode zufolge geht der Leser bereits davon aus, dass der literarische Text „a) doppelstrukturiert, b) tendenziell selbstbezüglich und c) ambig“ (Bode 2002, 624, Hervorhebungen i. O.) ist. 2. Gleichzeitig, so betonen es Grabe, Lang und Meyer-Minnemann, erwartet der Leser aber eine gewisse Ordnung, die den Text strukturiert und auf drei Ebenen in Form von Begrenzungen sichtbar wird: [L]os límites extra-, inter-, e intratextuales. Mientras que en la primera clase se encuentran sistematizadas las delimitaciones entre lo que es la obra y lo que no es o entre lo que es ficción y lo que no es ficción, la segunda clase reúne las delimitaciones entre obras o del mismo o diferentes géneros literarios y/o no-literarios con sus respectivas tradiciones. Dentro de la tercera clase se agrupan las delimitaciones efectuadas entre las estructuras específicas de la obra misma, es decir, entre el conjunto respectivo de los parámetros constitutivos del plano de la enunciación y del plano del enunciado (Grabe u.a. 2006, 9f., Hervorhebungen i. O.).
Aus dieser Vorüberlegung ergeben sich die folgenden Bereiche, die man bezüglich der Lage und Überschreitung ihrer Grenzen befragen kann: Wo liegen die Grenzen zwischen einem fiktionalen und einem faktualen Text? Welche Charakteristiken definieren das Genre, zu dem ein literarisches Werk gehört und ab wann lässt es sich dem nicht mehr zuordnen? Welche Grenzen auf Ebenen der histoire und/oder des discours werden überschritten? Mit den Grenzen zwischen dem fiktionalen und faktualen Text spielt die sog. Dokufiktion, die als hybrides Genre zwischen dem Dokumentarischen und dem Fiktionalen angesiedelt ist (vgl. Von Tschilschke und Schmelzer 2010, 16). Da die fundamentale Frage nach besagten Grenzen in den Vordergrund gelangt, hat die Dokufiktion einen reflexiven, d. h. metafiktionalen Effekt. Außerdem sind dokufiktionale Texte stark mit dem extraliterarischen Kontext verbunden (vgl. ebd., 20). Während dies einerseits als Authentifizierungsversuch des Textes fungieren kann, sind dokufiktionale Texte andererseits ein „campo de expresión a ciertas necesidades sociales, estados de ánimo nacionales y procesos de cambio colectivos“ (ebd.). Das kann die vorliegende Arbeit fruchtbar machen, indem sie danach fragt, wie die Romane mithilfe des dokufiktionalen Effekts bestimmte Konflikte des kollektiven Gedächtnisses verhandeln – wie also stilistische Grenzverwischungen auf extraliterarische Phänomene verweisen. Verwandt mit der Dokufiktion ist die sog. Autofiktion, die sich zwischen dem fiktionalen und dem autobiographischen Pakt ansiedelt und daher, laut Manuel Alberca (2005, 119f.), einem pacto ambiguo folgt. 63 Hier zeigt sich, dass sich die beiden soeben eingeführten Grundannahmen (Ambiguität und Ordnung) miteinander verschränken. In autofiktionalen Texten ist der Erzähler oder eine Figur der erzählten Welt mit dem Autor homonym, wodurch die Autorfigur inszeniert wird und die außerliterarische Welt sich im Text spiegelt. Die Grenzen zwischen Text und Welt verwischen und scheiden sich vielmehr dadurch, daß der eine das wirklich Geschehene mitteilt, der andere, was geschehen könnte“ (Aristoteles 2010, 29). 63 Die Begriffsentwicklung der Autofiktion, bereits 1977 von Serge Doubrovsky geprägt, resümiert Zipfel (2009). Für die spanischsprachige Autofiktion, vgl. Toro u.a. (2010).
2.2 Das Konzept der ‚Transgression‘ 47
zugleich drängt sich ex negativo die Frage nach dem ‚Tod des Autors‘ auf, wie Roland Barthes [1968] (1984) sie formuliert hat. Die Grenze zwischen intra- und extradiegetischer Ebene fasst Gérard Genette metaphorisch mit der paratextuellen ‚Schwelle‘, der er in Seuils (1987) ein ganzes Werk widmet. Der Paratext sei eine Schwelle zwischen Text und extratextueller Welt, „une sorte d’écluse [...]“ (ebd., 374). Genette weist darauf hin, dass der Paratext immer in einem Zusammenhang mit dem Text steht, den er begleitet, denn: „Il n’est de seuil qu’à franchir“ (ebd., 377). Betritt man die Schwelle, ist damit immer auch der Übergang ins Innere verbunden. Für die Romananalyse der vorliegenden Arbeit ergibt sich daraus die Frage, wie der Paratext zwischen Leser und Text agiert, ob er regulierend – wie eine Schleuse („écluse“) – oder verbindend – wie eine Schwelle („seuil“) – ist und welche Konsequenzen daraus für den Erkenntnisprozess des Lesers erwachsen. 64 Die Grenzen und Transgressionen auf Ebene des discours kann man aus Genettes Figures III (1972) herausarbeiten, das die verschiedenen zu einer Erzählung gehörenden Elemente entlang der Ebenen Ordre, Durée, Fréquence, Mode und Voix systematisiert. Es finden sich diverse Verfahren, die grenzüberschreitend sind, ohne dabei jedoch das gesamte System in Frage stellen zu müssen: Zum Feld der Ordnung (Ordre) zählt Genette die Anachronien, chronologische Diskordanzen wie die Prolepse oder die rückwärts gerichtete Analepse (vgl. ebd., 79, 82). Auf Ebene der Dauer (Durée) wird mit der Ellipse eine bestimmte Zeit des Erzählten in der Erzählung ausgelassen (vgl. ebd., 139). Dabei sei die implizite Ellipse lediglich über bestimmte Lücken im Text erkennbar (vgl. ebd., 140f.). Durch die von dieser ‚stummen‘ Ellipse erzeugte Verwirrung entstehe eine Leerstelle, da auch anschließend nichts über die ausgesparte Zeit berichtet werde (vgl. ebd.). Genette zufolge ist solch eine „désignation des limites“ vorteilhaft, ermöglicht sie doch „de déterminer avec précision les points sur lesquels, délibérément ou non, une telle œuvre excède de tels critères“ (ebd., 141, Hervorhebungen i. O.). Dort, wo die etablierten Methoden an ihre Grenzen gelangen, zeigt sich Neues und die transgressive Energie der Literatur kann erkannt sowie verortet werden („déterminer avec précision les points“). Im Modus (Mode) erwähnt Genette den Fokalisierungswechsel (vgl. ebd., 211) und die „polymodalité“, wenn sich unterschiedliche Fokalisierungstypen überlaGenette bezeichnet die Paratextualität als eine der fünf Arten der Transtextualität, die wiederum das Verhältnis eines Textes zu anderen beschreibt (vgl. Genette 1982). Das dort entwickelte strukturalistische Intertextualitätsmodell unterscheidet sich vom poststrukturalistischen (vgl. Pfister 1985, 25), wie es Julia Kristeva prägt, die Bachtins Dialogizitätskonzept erweitert: „tout texte se construit comme mosaïque de citations“, „un croisement de surfaces textuelles, un dialogue de plusieurs écritures“ (Kristeva 1969, 144, 146, Hervorhebung i. O.). Während sich Bachtin, Manfred Pfister (1985, 4f.) zufolge, vor allem auf eine Polyphonie innerhalb eines Textes bezieht, weitet Kristeva dies auf das Verhältnis zu anderen Texten und zur Gesellschaft aus. Denn im subversiven Roman treffen laut Kristeva das Verbot und seine Überschreitung aufeinander, wie sie es z. B. bei Sade und Bataille identifiziert (vgl. Kristeva 1969, 161, 169). Zum einen werden demnach die Grenzen zwischen den jeweiligen Texten intertextuell überschritten oder verwischt, zum anderen setzt sich die ambivalente Sprache der Romane inhaltlichthematisch mit gesellschaftlichen Diskursen auseinander (vgl. ebd., 149f.). 64
48 2. Theorie: ‚Grenze‘ und ‚Transgression‘
gern (ebd., 224, Hervorhebungen i. O.). 65 Die Stimme (Voix) weist ebenfalls verschiedene grenzüberschreitende Verfahren auf. Genette teilt die textuelle Welt in die extra-, intra- und metadiegetische Ebene und nennt die Erzählung in der Erzählung einen „récit métadiégétique“ (ebd., 241, Hervorhebungen i. O.). Wenn eine metadiegetische Erzählung so vermittelt wird, als befände sie sich auf der intradiegetischen Ebene, liegt eine sog. pseudo-diegetische Erzählung vor, die temporär die Grenzen verwischt (vgl. ebd., 246). Doch auch wenn die Grenzen zwischen verschiedenen diegetischen Ebenen bzw. zwischen der intra- und der extradiegetischen Welt bestehen bleiben, kann es in beide Richtungen zu Grenzüberschreitungen kommen, zu ‚narrativen Metalepsen‘ (vgl. ebd., 244). 66 Tous ces jeux manifestent par l’intensité de leurs effets l’importance de la limite qu’ils s’ingénient à franchir au mépris de la vraisemblance, et qui est précisément la narration (ou la représentation) elle-même; frontière mouvante mais sacrée entre deux mondes: celui où l’on raconte, celui que l’on raconte (ebd., 245).
Hier greift Genette einen Gedanken auf, der bereits in Batailles Überlegungen zur Transgression sichtbar wurde: Je stärker der von transgressiven Phänomenen hinterlassene Eindruck ist („l’intensité de leurs effets“), desto relevanter ist die überschrittene Grenze („l’importance de la limite“). Die Erzählung beruht auf der Trennung verschiedener Ebenen („la limite […] qui est précisément la narration […] elle-même“) – diese aber hebt sie eigenhändig durch die Metalepse und Pseudo-Diegese auf. In jenem Widerspruch liegt das Spielerische („jeux“) narrativer Texte, ein „effet de bizarrerie soit bouffonne […] soit fantastique“ (ebd., 244). Das kann gar wie ein Dominoeffekt weitere Gedankenketten auslösen, die Genette mit Jorge Luis Borges bezeichnet als „hypothèse inacceptable et insistante, que l’extradiégétique est peut-être toujours déjà diégétique, et que le narrateur et ses narrataires, c’est-à-dire vous et moi, appartenons peut-être encore à quelque récit“ (ebd., 245). Die Metalepse ist demnach ein paradoxes, weil widersprüchliches Phänomen, das sämtliche Ordnungen anzweifelt. 65 Zwei weitere Verfahren sind die ‚Paralepse‘ als das Hinzufügen und die ‚Paralipse‘ als das Weglassen von mehr Informationen, als bei dem Fokalisierungstyp vorsehen wäre (vgl. Genette 1972, 211). Dabei könne die ‚Paralipse‘ in Form einer „ommision volontaire“ bei der internen Fokalisierung z. B. eines Mörders, den Mord verschweigen (ebd., 212). Dieser Fall der ‚Paralipse‘ ist in der Literaturwissenschaft als unzuverlässige Erzählung bekannt, nachdem Wayne Booth (1987, 101ff.) den Terminus des unreliable narrator eingeführt hat. 66 Nina Grabe, Sabine Lang und Klaus Meyer-Minnemann entwickeln ein Modell der narración paradójica, das zwischen Verfahren unterscheidet, die die Grenzen aufheben und solchen, die sie überschreiten (vgl. Lang 2006, 30). Die beiden transgressiven Figuren sind die Metalepse als Bruch der Grenzen und die Hyperlepse als Überlagerung (vgl. ebd., 40). In beiden Fällen werden von Genette entworfene Kategorien modifiziert (vgl. ebd., 39, 41). Die vertikale Metalepse wird z. B. auf jeglichen „orden ontológico“ erweitert und durch die horizontale Metalepse ergänzt, die sich auf einer diegetischen Ebene abspielt (vgl. ebd., 39). Dieser detaillierte Ansatz versucht, paradoxe Verfahren zu modellieren, doch es liegt in deren Wesen, sich nicht immer klar abgrenzbaren Kategorisierungen zu fügen (vgl. ebd., 44). Dementsprechend kann dieses Modell die von Genette aufgestellten Kategorien ergänzen und die literarische Textanalyse präzisieren, weil es Transgressionen ästhetisch sichtbar macht – ohne dabei jedoch allgemeingültig zu sein.
2.3 Zwischenfazit: Grenze und Transgression 49
Das Paradox ist ein „in Bezug auf andere auffälliger Fall, gerade weil es aus einem (kognitiven/konzeptionellen/logischen) Rahmen fällt“ (Bode 2002, 619, Hervorhebungen i. O.). Indem es das Unhinterfragte hinterfragt, nimmt das Paradox dementsprechend eine besondere Position ein, die einen relevanten Signalcharakter hat (vgl. ebd., 628). Das bedeute als Konsequenz, dass ein Paradox historisch variabel sei (vgl. ebd., 619). Lang betont, dass das Paradox, da ihm in dem vorgegebenen Rahmen kein Platz zusteht, vor allem die Funktion hat, die Grenzen des Wissens zu markieren (vgl. Lang 2006, 21). 67 Das Paradoxe löst sich von binären Denkschemata und ermöglicht eine neue, von Widersprüchen und Differenz gekennzeichnete Sichtweise (vgl. ebd.). Es bleibt also nicht bei dem bloßen Spiel, das die Ordnung hinterfragt. Geschärft werden kann erstens das Wissen über die Grenzen des eigenen Systems, wie bereits Genette zeigte (vgl. Genette 1972, 141). Zweitens halten sowohl Lang als auch Bode einen über die Grenzen hinausreichenden Wandel für möglich. Lang deutet drittens an, dass paradoxe Literatur einen Ausdruck finden kann für all solche Geschichten, die nicht – bzw. nicht in der etablierten Form – erzählbar sind (vgl. Lang 2006, 25). 68 Folglich können die paradoxen Elemente und Grenzüberschreitungen die Phänomene zeigen, die verboten, undenkbar oder logisch nicht begründbar scheinen. Diese Überlegungen lassen sich um die Frage ergänzen, ob Batailles Transgression als innere Erfahrung, die der literarische Text aufgreift, dort primär über paradoxe Elemente in Erscheinung tritt, eine These, die Foucault mit den Brüchen bereits andeutete. Dies erlaubt eine Verbindung der kultur- und literaturwissenschaftlichen bzw. der textexternen und -internen Konzeptionen von Transgression.
2.3
Zwischenfazit: Grenze und Transgression
Aus dem Theorieteil geht hervor, dass ‚Grenze‘ und ‚Transgression‘ korrelative Termini sind. Nur eine transdisziplinäre Analyse kann die beiden komplexen Konzepte erfassen. Das Kapitel 2.1.1 hat die Etymologie des Wortes ‚Grenze‘ in den romanischen Sprachen sowie im Deutschen und im Englischen nachgezeichnet, um begriffliche Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu definieren. Die semantischen Verschiebungen der Grenzbegriffe machen Folgendes deutlich: 1. die Konzeption ist eng mit der geistesgeschichtlichen Entwicklung der Menschheit verbunden, womit 2. ein wandelnder Wortgebrauch im Zuge einer sich verändernden politisch-rechtlichen Wahrnehmung der Grenze einhergeht. 3. das Phänomen umfasst nicht nur räumliche, sondern auch philosophische, rechtliche und 67 Schon bei Foucault wird im verdrehten Auge in Batailles Werk die Grenze der Sprache sichtbar: „[N]e signifie rien dans son langage, pour la seule raison qu'il en marque la limite“ (Foucault 1994b, 247). Vgl. Kapitel 2.2.2. 68 Das trifft auch auf die Metapher zu, die zwei Begriffe aus ursprünglich getrennten Feldern verbindet und somit grenzüberschreitend ist (vgl. Bode 2002, 635). Neumann und Warning sehen in der Metapher eine Transgression mit extraliterarischen Konsequenzen, da sie „gewissermaßen performativ – Transfers in Szene setzt, die den Rahmen des herrschenden kulturellen Repräsentationssystems aufweichen“ (Neumann und Warning 2003, 12). Vgl. auch Genette (2005, 22).
50 2. Theorie: ‚Grenze‘ und ‚Transgression‘
militärische Aspekte. So werden bereits in der Antike Grenztermini metaphorisch verwendet (peras, hóros). Daraus erklärt sich die weite Verbreitung des Konzeptes in verschiedenen Disziplinen und die Vielzahl romanischer Grenzbegriffe, die nicht synonym sind und historisch betrachtet drei unterschiedliche Formen annehmen (Febvre, Osterhammel): Das confinium, Spanisch confín, bezeichnet eine Grenzzone. Der limes, Spanisch límite beschreibt eine lineare Grenze, die lange Zeit rein privatrechtlicher Natur ist (Scattola). Aus frons entwickelt sich über das Spanische frente – einerseits die bewegliche, militärische Grenze, andererseits die Stirn – das Wort frontera. Für den Zusammenhang zwischen Macht und Raum ist entscheidend, wie sich die innergesellschaftlichen Grenzen auf das Zusammenleben auswirken (2.1.2). Mit Simmel konnte ich darlegen, dass die menschliche Interaktion den Raum formt, der sozial und kommunikativ bedingt ist. Räumliche Strukturen machen die soziale Verfasstheit der Gesellschaft sichtbar (Bourdieu). Foucault wiederum erläutert, wie gesellschaftlich kodiert wird, was von der Norm abweicht. Heterotopien und soziale Grenzen sind wandelbar und machen so das symbolische Gefüge der Gesellschaft einsehbar. Ferner zeigt Foucault wie die Kategorien der ‚Vernunft‘ und ‚Normalität‘ sich überhaupt erst dadurch konstituieren, dass ein Anderer ausgegrenzt wird. Die Macht unterstellt marginalisierte Menschen ihrem Zugriff und integriert sie somit symbolisch. Anhand der Methoden und Begründungen dieser Abgrenzung können die Strukturen einer Gesellschaft offengelegt werden. Sontag, Butler und Borsò untersuchen jeweils, wie sich diese Mechanismen auf die gesellschaftliche Wahrnehmung von Gewalt auswirken und kritisieren einen bioökonomisch agierenden Kapitalismus, der bestimmte Formen der Gewalt außerhalb der frames nicht wahrnimmt (Butler) oder den Anderen seinem Blickregime unterwirft (Borsò, Sontag). Der literarische Text breche die Ungleichheitsrelationen jedoch auf. Für die vorliegende Arbeit sind die Theorien von Sontag, Butler und Borsò auf zwei Ebenen gewinnbringend: Extratextuell kann man mit ihnen nach der diskursiven Funktion des literarischen Textes fragen, ausgeblendete Gewalt kollektiv wieder sichtbar zu machen. Auf den Text selbst angewandt, dienen sie dazu, die Blickrelationen und (Un-)Sichtbarkeit von Gewalt innerhalb der erzählten Welt zu untersuchen. Das nicht Sichtbare bzw. all das, was sich nicht dem Blick fügt (z. B. amorphe Figuren), ist dabei von zentraler Relevanz, da es auf die Grenzen der Ordnung verweist. Als Schwelle (2.1.3) kann die Grenze auch positiv konnotiert sein, kann Wandel und Bewegung begünstigen (Turner). Die Schwelle ähnelt der Transgression und die Grenze ist unlösbar mit dem Akt ihrer Überschreitung verbunden. Eine Schwelle zwischen zwei Bereichen ermöglicht Kontakt und Austausch, wie anhand von Lotmans Grenze der Semiosphäre dargestellt wurde. Da sich seine Theorie auf eine Kultur als Ganzes, aber auch auf den einzelnen Text beziehen kann, ist sie für eine Analyse anschlussfähig, die textinterne mit extratextuellen Elementen verbindet. Die temporal gedachte Schwelle markiert Grenzen und Übergänge von Epochen und dient dazu, die Relevanz und Diskontinuität bestimmter historischer Momente hervorzuheben (Koselleck, Blumenberg). Es wurde deutlich, dass der
2.3 Zwischenfazit: Grenze und Transgression 51
spanische Terminus der transición die ‚Schwelle‘ zu einem politischen Begriff macht, der die kollektive Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verbindet. Die geopolitischen Veränderungen nach Ende des Kalten Krieges wirken sich auf die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Grenze aus (2.1.4). Der Kontrast zwischen De- und Reterritorialisierung zeigt, dass die Theorie der Grenze die zugrundeliegenden Narrative von Nation und Identität einsehbar macht. Innerhalb der interdisziplinären Border Studies wurden zwei konkurrierende Standpunkte herausgearbeitet: Zum einen die von Anzaldúa und Mignolo etablierte metaphorische Lesart der Grenze als alternative Wissenschaft, die jedoch auf neuen Essenzialisierungen beruht. Zum anderen fokussieren die estudios fronterizos die soziopolitische Situation an der Grenze (Vila, Valenzuela Arce). Kapitel 2.2 hat dargelegt, dass die ‚Transgression‘ in einem ambivalenten Verhältnis zur Ordnung steht. In den diversen Ansätzen lassen sich trotz ihrer unterschiedlichen Entstehungskontexte Gemeinsamkeiten verdeutlichen: Die soziale Ordnung konstituiert sich über horizontale wie vertikale Grenzen, die verschiedene Ebenen des menschlichen Lebens einbeziehen und eine prozessuale Größe darstellen. Der Erhalt der Gemeinschaft ist aus diesem Grund immer daran gebunden, dass sie etwas ausgrenzt (Babcock: „peripheral“, Foucault: „pathologique“), das mit negativen Emotionen belegt ist (Bataille: „dégoût“, Foucault: „dangereuse“), jedoch immer auch mit Lust und Faszination. In diesem Paradox von Ausgrenzung und Wunsch nach Verbindung, das dem Sozialen zugrunde liegt, entsteht das transgressive Moment. Grenzen können also nie ohne ihre (zumindest theoretisch mitgedachte) Überschreitung erfasst werden. Wenn jedoch dieses Gleichgewicht zwischen Lust und Ekel kippt, treten die tiefsten Ängste innerhalb der Gesellschaft zutage. Das verdeutlicht, dass die Semantik des Ekels im literarischen Text auf tabuisierte Themen und individuelle wie kollektive Grenzerfahrungen hinweist und sie verhandelbar macht. Anders als vom allgemeinsprachlichen Gebrauch impliziert, ist die Transgression kulturwissenschaftlich gesehen kein eindimensionaler Regelbruch. Sie äußert sich als reflexives Spiel, das zeitlich und örtlich beschränkt und bereits strukturell vorgesehen ist (Babcock, Bataille, Foucault, Jenks). Sie gewinnt ihren Sinn in Abhängigkeit von der historisch variablen Perspektive, aus der man sie bewertet und die doppelt ist: Von außen betrachtet, verurteilt die Ordnung eine Transgression und versieht sie dadurch mit einem Namen. Für das eine Transgression erlebende Individuum ist sie wiederum eine innere Erfahrung (Bataille, Wolfreys). Obwohl die Grenzüberschreitung nicht als subversiv bewertet wird, ist sie unabdingbar für die Gesellschaft: Symbolisch und diskursiv ist die Transgression von unmittelbarer Relevanz, da sie die (sozial konstruierte) Verfasstheit der Grenzen offenlegt. Sie kann als Katalysator für gesellschaftlichen Wandel dienen und Diskurse verschieben (Foucault, Jenks). In der Literatur, die mit den Ängsten spielen kann sowie Schweigen und Sprechen verbindet (Bataille, Foucault, Bode, Lang), kommen Transgressionen besonders zum Ausdruck. Literatur fokussiert die Grenzen der Gesellschaft und ihre Überschreitungen, sie kann dabei gar selbst transgressiv wirken. Darüber hinaus kann sie die Transgression artikulieren und diese
52 2. Theorie: ‚Grenze‘ und ‚Transgression‘
für den Leser nachvollziehbar machen. Dabei gelangt die Sprache bis an ihre eigene Grenze und fokussiert über eine Selbstbezüglichkeit die Krisen des menschlichen Seins (Foucault). Hieraus ergibt sich die Relevanz von Brüchen und Metaphern für die Romananalyse der vorliegenden Arbeit. Die Ästhetik und Materialität des Textes ist aufschlussreich, um die nicht unmittelbar sichtbaren und nicht explizit sagbaren Auswirkungen der extratextuellen Krisensituation offenzulegen. Aus den narratologischen Ansätzen wurden abschließend (2.2.3) drei Ebenen erarbeitet, die man bei der Romananalyse nach ihren Grenzen und Transgressionen befragen kann: 1. Die extratextuellen Grenzen zwischen Fiktionalität und Faktualität manifestieren sich z. B. im Paratext (Genette). Die Grenzverwischungen der Dokufiktion, die dokumentarische und fiktionale Aspekte mischt, machen Konflikte des kollektiven Gedächtnisses zugänglich (Von Tschilschke und Schmelzer). 2. Zwischen den Texten werden in einem intertextuellen (Genette, Kristeva) und interdiskursiven (Link und Link-Heer) Austausch Fragen verhandelt. 3. Ebenso sind die Grenzen, die auf Ebene von histoire und discours transgrediert oder verwischt werden, aufschlussreich (z. B. Metalepsen, mises en abyme, Fokalisierungswechel, Achronien). Während bei Genette das Paradoxe im Text die Grenzen der Erzähltextanalyse sichtbar macht und eine metafiktionale Wirkung erlangt, kann es nach Lang und Bode potenziell semiotische Effekte für die gesamte Gesellschaft nach sich ziehen. Wie die Transgression hebt sich das Paradox von einer Binarität ab, ist reflexiven Charakters und birgt ein subversives Potenzial.
3.
Der gesellschaftliche Kontext Mexikos: Grenze, Transgression, Gewalt
Das vorliegende Kapitel widmet sich den vielfältigen innergesellschaftlichen und diskursiven, d. h. nicht nur räumlichen Grenzen Mexikos und untersucht, welcher Zusammenhang mit den aktuell hohen Gewaltraten besteht. Es ist auffällig, dass die Forschungsliteratur häufig metaphorisch auf die Konzepte der ‚Grenze‘ und ‚Transgression‘ rekurriert, um diese Gewalt zu beschreiben. 1 Raummetaphern dienen dazu, Machtkonstellationen aufzudecken, wie Vittoria Borsò anhand von Michel Foucault zeigt (Borsò 2004, 18). Werden sie innerhalb des wissenschaftlichen Textes verwendet, deuten sie auf die Beziehung zwischen Wissen und Macht hin (ebd.). Dass die von Forschung und Presse zum gesellschaftlichen Kontext Mexikos eingesetzten Raummetaphern die spezifische Form der ‚Grenze‘ und ‚Transgression‘ annehmen, zeugt davon, so meine These, dass rund um das Thema der Gewalt um Deutungshoheit gestritten wird, und die Frage nach eindeutigen Definitionen und wissenschaftlichen Erklärungen noch auszuhandeln ist. Im Folgenden werden die von diesen Metaphern dominierten Themenbereiche miteinander in Beziehung gesetzt. Das Kapitel leitet die von einer extremen Gewalt geprägte Krisensituation Mexikos in den 2000er Jahren aus dem Kontext historischer Grenzziehungen her und analysiert die Kontinuitäten von Gewalt und sozialer Marginalisierung, die sich seit der Kolonialzeit in die mexikanischen Gesellschaftsstrukturen eingeschrieben haben. Anhand der institutionell nicht aufgearbeiteten Menschenrechtsverletzungen aus der Zeit des PRI-Regimes wird gezeigt, wie umkämpft das kulturelle Gedächtnis 2 ist, das keine stabile Grundlage bildet, um die aktuelle Gewalt erfolgreich zu bewältigen. Mexiko kann als ein Land der Schwelle par excellence bezeichnet werden: Es gehört geographisch zu Nordamerika, unterscheidet sich aber sprachlich – in Folge des Kolonialismus – von den anglophonen USA sowie dem franko-anglophonen Kanada. Mexiko gehört zu dem spanischsprachigen Teil Lateinamerikas, Hispanoamerika. Auch aus ökonomischer Perspektive befindet es sich als sog. ‚Schwellenland‘ (rising power, país emergente) in einer Zwischenposition, die die Binarität zwischen Globalem Norden und Globalem Süden herausfordert. 3 Doch 1 Die Beispiele finden sich sowohl in der spanischsprachigen, als auch in der englischen und deutschen Literatur und Presse: Die taz titelt „Aus der Schusslinie“ (Henkel 2012); es ist die Rede von „blurry battle lines“ (Esch 2018, 181). 2 Maurice Halbwachs’ Konzept der mémoire collective weiterentwickelnd, differenziert Jan Assmann zwischen dem ‚kommunikativen‘ und dem ‚kulturellen‘ Gedächtnis. Diese Unterscheidung hilft nachzuvollziehen, dass nicht alle Ereignisse im diskursiv dominanten Gedächtnis präsent bleiben, da es institutionell geformt wird, organisiert ist und normativ wirkt (vgl. Assmann 1988, 14f.). 3 Die Terminologie beruht auf der 1980 von der Brandt Kommission gemachten Feststellung, dass die wirtschaftlich dominanten Länder der Weltordnung im Norden angesiedelt sind, während der Süden aus ärmeren Staaten besteht (vgl. Bullard 2012, 724f.). Schwellenländer entwi-
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Augustin, Gewalt erzählen, Prolegomena Romanica. Beiträge zu den romanischen Kulturen und Literaturen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-62205-6_3
54 3. Der gesellschaftliche Kontext Mexikos: Grenze, Transgression, Gewalt
obwohl die Auswirkungen der Globalisierung die Rigidität staatspolitischer Grenzen in Frage stellen, bleiben Ungleichheiten bestehen und die Trennlinien des North-South-Divide verlagern sich ins Innere des Landes, wie anhand der asymmetrischen sozioökonomischen Entwicklungen innerhalb Mexikos zu zeigen sein wird. Das Land, in dem die großen weltpolitischen Themen, Globalisierung, Migration und Sicherheitspolitik, ausgehandelt werden, gleicht einem pars pro toto, das regional die Auswirkungen der komplexen Weltpolitik nachvollziehbar macht. 4 Mit den USA als wichtigem Global Player im Norden und dem Triángulo Norte (Guatemala – Honduras – El Salvador), der ärmsten und von Gewalt am stärksten betroffenen Region Lateinamerikas (vgl. Mackenbach und Maihold 2015, 1f.) im Süden, bildet Mexiko den einzigen Landweg zwischen den beiden Extremen des Globalen Nordens und Globalen Südens. Dabei wird ganz Mexiko mitunter als ‚Grenze‘ bezeichnet: „[T]odo México es una frontera vertical“ (Basail Rodríguez 2005, 243). Dies gilt für die USA, die Mexiko sicherheitspolitisch als verlängerte, zweite Außengrenze des eigenen Landes erachten (vgl. Marengo Camacho 2015, 23f.), ebenso wie für den Süden: hier betrachten die mittelamerikanischen Transmigranten Mexiko auf ihrem Weg in die USA als das Grenzland, das sie durchqueren müssen (Basail Rodríguez 2005, 243).
3.1
Historische Grenzziehungen
3.1.1 Kolonialzeit und Unabhängigkeit: Castas, caciques, caudillos Die Geschichte des heutigen Mexiko beginnt lange Zeit vor der Eroberung durch die Spanier, denn seit der präklassischen Periode (ca. 2500 BC-200 AD) leben in Mesoamerika unterschiedliche Hochkulturen. 5 Als Anfang des 16. Jahrhunderts
ckeln sich wirtschaftlich stärker und sind politisch präsenter als die Länder des Globalen Südens (vgl. Nölke u.a. 2014, 8). 4 Vgl. z. B. „Considered a semi-peripheral country, Mexico lies on the great default line between the Global North and Global South. [...] Mexico provides a rich case study of the nexus between globalization and migration“ (Dickinson 2017, 58). „La Frontera Sur de México es […] [un] laboratorio de los procesos globales“ (Basail Rodríguez 2005, 239). Mit diesen Aussagen folgt die Forschungsliteratur einem durch die postkolonialen Studien initiierten Topos der Grenze als Kontakt- und Konfliktzone zwischen der Ersten und der Dritten Welt bzw. als Laboratorium: „The U.S.-Mexican border es una herida abierta where the Third World grates against the First and bleeds“ (Anzaldúa 2012, 25, Hervorhebung i. O.), „[E]sta ciudad [Tijuana] […] es uno de los mayores laboratorios de la posmodernidad“ (García Canclini 2010, 286). Vgl. hierzu Fußnote 43 des vorliegenden Kapitels. 5 Die prähispanische Geschichte Mexikos kann hier nur in groben Zügen behandelt werden. Bei einer Analyse der Epochen der Klassik (ca. 100/250-900 AD) und Postklassik (ca. 900-1521), sind drei Aspekte zentral: 1. sind die Kulturen als heterogen zu betrachten, 2. wechseln sich kulturelle Blütezeiten, dominiert von profunden landwirtschaftlichen, bautechnischen und astronomischen Entwicklungen, urbanen Zentren und regem Handel, mit Phasen der Instabilität, d. h. demographischen Einbrüchen, Kriegen und dem Zerfall ganzer Gesellschaften ab. Die Gewalt ist bereits vor Ankunft der Spanier auf dem Kontinent präsent. 3. nehmen Religion und Rituale einen zentralen Aspekt in der Gesellschaftsorganisation ein, weshalb die jeweils herrschenden
3.1 Historische Grenzziehungen 55
die spanischen Eroberer an Land gehen, beherrscht das Mexica-Reich 6 große Teile des Territoriums. 7 So erachten Tlaxcala und Texcoco es als Möglichkeit, die Vormachtstellung der Mexicas zu unterminieren, indem sie mit den Spaniern kollaborieren und maßgeblich dazu beitragen, dass diese unter Hernán Cortés im Jahre 1521 Tenochtitlan einnehmen und die Mexicas besiegen (vgl. Escalante Gonzalbo 2017, 144-146; García Martínez 2017, 176). Die Conquista, die eine historische Zäsur markiert, legt den Grundstein für die Globalisierung, denn die Auswirkungen des Kolonialismus beeinflussen bis heute die wirtschaftliche und geopolitische Aufteilung der Welt (vgl. Mignolo 2000, 236f.). 8 Im 16. Jahrhundert hat dies für die indigenen Völker Mexikos ganz konkrete, fatale Konsequenzen. Aufgrund der überlegenen Waffentechnologie der Spanier und der aus Europa eingeschleppten Krankheiten, die in Amerika noch unbekannt sind, kommt ein Großteil der Bevölkerung um. 9 Die Sozialstrukturen zerfallen, die Landwirtschaft bricht ein, die Spanier beuten die Ressourcen aus (vgl. García Martínez 2017, 194f.). Da sich die spanische Vorherrschaft allerdings nicht unmittelbar flächendeckend auszubreiten vermag, was sich allein schon durch die Größe des zu verwaltenden Territoriums erklärt, bleiben einige Strukturen aus prähispanischer Zeit bestehen. Viele Mitglieder des indigenen Adels werden strategisch eingesetzt, indem sie zwar der spanischen Herrschaft unterstehen, aber auf lokaler Ebene die Verantwortung über Besitztümer und die tributzahlende Bevölkerung behalten (vgl. ebd., 183). Die ursprünglichen Nuancierungen verlieren innerhalb des Standes ihre Gültigkeit; unter dem Namen caciques entsteht eine neue, homogenisierte Gesellschaftsgruppe (vgl. Villella 2017, 31f.). Ebenso etabliert sich das feudale encomienda-System, das die politische und wirtschaftliche Verantwortung einzelner Regionen an die Konquistadoren delegiert. Die encomendores verwalten und christianisieren die Einwohner, im Gegenzug für Tributzahlungen und Dienstleistungen (vgl. García Martínez 2017, 179). Von Beginn an verbieten die Spanier die prähispanischen Religionen und führen die Inquisition ein (vgl. ebd., 196f.). Der christliche Glaube dient ihnen dazu, Hierarchien und Völker synkretistisch die existierenden religiösen Praktiken und Mythen übernehmen, um damit die eigene Herrschaft zu legitimieren (vgl. Nalda 2017, 75, 93ff., 105f.). 6 Die vorliegende Arbeit verwendet das in der mexikanischen Wissenschaft gängige Mexicas anstelle von ‚Azteken‘. Der Terminus aztecas etabliert sich erst im 19. Jahrhundert durch europäische Forscher wie Humboldt, während ältere Schriften wie die Códices noch deren Selbstbezeichnung als mexica benutzen (vgl. León-Portilla 2000, 309f.). 7 Die Mexicas gründen 1345 auf einer Insel im Texcoco-See die Stadt Tenochtitlan, das zukünftige Mexiko-Stadt, und ab 1434 gelingt es ihnen in der sog. Triple Alianza, schrittweise die Handelsrouten zu kontrollieren sowie andere Völker zu unterwerfen. Ab Mitte des 15. Jahrhunderts erlangt Tenochtitlan somit seine Hegemonie als Imperialmacht (vgl. Escalante Gonzalbo 2017, 139-144). 8 Vgl. Kapitel 2.1.4 dieser Arbeit zum Werk Walter Mignolos, der in Local Histories/Global Designs. Coloniality, Subaltern Knowledges, and Border Thinking (2000) die These vertritt, dass die Moderne auf Kolonialität beruhe. Neben ökonomischen geht es Mignolo dabei vor allem um die epistemologischen Auswirkungen des Kolonialismus. 9 Die autochthone Bevölkerung im Gebiet des heutigen Mexiko minimiert sich um etwa 80%, von ca. 17,8 Millionen Einwohnern im Jahre 1519 auf nur 3,5 Millionen im Jahre 1550 (García Martínez 2017, 194).
56 3. Der gesellschaftliche Kontext Mexikos: Grenze, Transgression, Gewalt
Gewaltanwendung zu legitimieren (vgl. Alcántara Granados 2014, 161f., 169f.). In vielen Fällen münden diese Organisationsstrukturen in Ausbeutung, Zwangsarbeit sowie in regionale Diskrepanzen, die sich in der neuen Gesellschaftsordnung verfestigen (vgl. García Martínez 2017, 195, 205). Dabei werden alle Indigenen unter der Kategorie indios subsumiert und bilden fortan eine klar abgegrenzte Unterschicht (vgl. Alcántara Granados 2014, 206). Diese terminologische Vereinheitlichung des neuen ‚Anderen‘ wird in der Kolonialzeit im sog. casta-System 10 institutionalisiert, das zwischen ethnisch begründeten Ständen unterscheidet und die koloniale Gesellschaft bis zu ihrem Ende streng hierarchisch organisiert. 11 Mit einem Rückgriff auf Walter Benjamins Zur Kritik der Gewalt kann man das castaSystem als Ausdruck des ‚rechtsetzenden‘ Charakters von Gewalt identifizieren. Gesellschaftsordnungen konstituieren sich demnach in einem Akt der Gewalt, der eine bestimmte Rechtsnorm etabliert und in der Folge zu erhalten versucht (Benjamin 1977, 190; vgl. Honneth 2011, 196). Auch nach der Unabhängigkeit Mexikos im Jahre 1821 bleiben die asymmetrischen Gesellschaftsstrukturen bestehen und das System der castas wirkt faktisch fort, obwohl es offiziell abgeschafft wird. 12 Die soziale Kluft zwischen den Bevölkerungsgruppen verhärtet sich. Darüber hinaus sieht sich das unabhängige Mexiko mit diversen politischen und wirtschaftlichen Problemen konfrontiert, ist international isoliert, der Handel minimiert sich und die produzierten Güter verlieren erheblich an Wert (vgl. González 2000, 97). Zudem sind 50% der arbeitsfähigen Bevölkerung während des Unabhängigkeitskrieges zu Tode gekommen (vgl. ebd.). Die fehlende Erfahrung in politischer Administration führt zu diversen bewaffneten Konflikten zwischen unterschiedlichen Interessengruppen und zur regionalen Machtübernahme durch caudillos (vgl. ebd., 98). Die Instabilität des Landes wird schon allein in der hohen Zahl von fünfzig unterschiedlichen Regierungen deutlich, die zwischen 1821 und 1850 in Mexiko jeweils kurz an der Macht sind (vgl. ebd., 105). Während sich Mexiko als Nationalstaat konsolidiert, entstehen im Norden und Süden Mexikos neue territoriale Grenzen (vgl. Fábregas Puig 2005, 34f.). Aller10 In diesem System befinden sich die Spanier an oberster Stelle, gefolgt von den auf amerikanischem Boden geborenen Kreolen. Auf der darunterliegenden Position werden die Mestizen und Mulatten angesiedelt, während sich die Indigenen und die aus Afrika verschleppten Sklaven auf der untersten gesellschaftlichen Stufe befinden (vgl. Ruhl und Ibarra García 2000, 98). Ende des 17. Jahrhunderts differenziert sich das casta-System weiter aus, wie das Genre der pinturas de castas zeigt: Je nachdem, aus welcher Vereinigung die Kinder hervorgehen, werden sie z. B. als pardos oder zambos bezeichnet, ihre ethnische Zugehörigkeit und soziale Wertigkeit klassifiziert (vgl. Hausberger und Mazín 2017, 292). 11 Fast drei Jahrhunderte besteht das 1535 gegründete Virreinato de Nueva España und entwickelt sich, bis zu den Unabhängigkeitskriegen ab 1810, zu Spaniens wirtschaftlich erfolgreichster und großflächigster Kolonie. Im 18. Jahrhundert ist Nueva España mehr als drei Mal so groß wie das heutige Mexiko und umfasst große Teile der heutigen USA, bis nördlich von San Francisco, sowie die Philippinen (vgl. Ruhl und Ibarra García 2000, 66). 12 Die Kontinuität der strukturellen Benachteiligung prägt bis heute die mexikanische Gesellschaft: „[N]etworks, access to influence, power, and ressources in Mexico since Europeans conquered the Amerindians have been tied, in general, to race/ethnicity“ (González 2019, 36).
3.1 Historische Grenzziehungen 57
dings sind sie in den nur spärlich besiedelten Grenzregionen nicht eindeutig definiert und der Großteil der Bevölkerung lebt im Zentrum des Landes (vgl. González 2000, 97). Angesichts dieser problematischen Situation, die Territorialkonflikte begünstigt, bemüht sich die mexikanische Regierung mit wirtschaftlichen Anreizen die peripheren Gebiete im Norden und Süden zu kolonisieren (vgl. ebd., 103). Bei den sich hier entwickelnden Prozessen nimmt die ‚Grenze‘ die Form einer Erschließungsgrenze an – das vermeintlich unberührte Land soll schrittweise nutzbar und bewohnbar gemacht werden. 13 Im Norden lassen sich vor allem anglophone Siedler nieder, die sich sprachlich, religiös und wirtschaftlich nicht an Mexiko gebunden fühlen und sich von der zentralen Regierungsgewalt lossagen, indem sie Texas 1836 zu einer unabhängigen Kolonie erklären und 1845 der Union der Vereinigten Staaten Amerikas beitreten (vgl. Serrano Ortega und Vázquez 2017, 424, 432). Die US-amerikanische Regierung unterstützt die Aufständischen, da sie als Verfechter der sog. Manifest Destiny das Ziel verfolgt, den eigenen Einfluss bis zum Pazifik auszuweiten. 14 Nach Zusammenstößen mit den mexikanischen Truppen erklären die USA im Jahr 1846 Mexiko den Krieg und das US-amerikanische Heer erobert in der Folge nahezu das gesamte Land (vgl. ebd., 432-435). Als Mexiko 1848 das Friedensabkommen von Guadalupe Hidalgo unterzeichnet, sieht es sich gezwungen, mehr als die Hälfte seines Territoriums an die USA abzutreten. 15 Die Grenze zwischen den beiden Ländern wird an den Río Grande/Rio Bravo verlegt, an jene Linie, die auch den heutigen Verlauf markiert. 16 Diese Grenzverlagerung, bei der sich ihre Form von einer beweglichen Zone zu einer Linie wandelt, hat für die in der Region lebenden Menschen eine direkte Konsequenz: Während die mexikanischen Siedler auf dem Territorium bleiben und die US-amerikanische Staatsbürgerschaft an-
Vgl. die in Kapitel 2.1.1 dieser Arbeit anhand von Osterhammel (2001, 213) erläuterte ‚Expansionsgrenze‘, der die Idee eines Niemandslandes (terra nulius) zugrundeliegt, mithilfe dessen oftmals die bereits im Gebiet lebenden Menschen oder Lebewesen missachtet und die eigene Expansion legitimiert werden. 14 In den 1840er Jahren dient die Manifest Destiny dazu, die US-amerikanische Expansion mythisch-religiös als Berufung zu legitimieren. Als rassistisch erscheint die dieser Doktrin inhärente Vorstellung, man müsse das mexikanische Territorium von der Herrschaft durch die Mexikaner befreien. Dabei werden die Mexikaner mit den negativen Stereotypen belegt, die vorher den Spaniern zugesprochen wurden (vgl. Erazo Heufelder 2018, 29, 33). 15 Mexiko verliert die Staaten Texas, Nuevo México und Nueva California, insgesamt 2.400.000 Quadratkilometer des Landes (vgl. González 2000, 105). – Heute erstreckt sich die frontera norte über 3.144 Kilometer (Gutzmer 2018, 5), entlang der Bundesstaaten Baja California, Sonora, Chihuahua, Coahuila, Nuevo León und Tamaulipas. Auf der US-amerikanischen Seite sind Kalifornien, Arizona, New Mexico und Texas die an der Grenze liegenden Staaten. 16 Im „Tratado de Paz, amistad, límites y arreglo definitivo entre la República Mexicana y los Estados Unidos de América“ bekräftigen die USA, dass sie nicht vor Waffengebrauch zurückschrecken werden, um das Land von ‚Wilden‘ zu befreien: „ocupada por tribus salvajes“ (Matute 1993, 459). Dieses Beispiel veranschaulicht, dass die US-Amerikaner das Territorium als vermeintliches Niemandsland betrachten, das sie sich zu eigen machen dürfen, ohne dass die Indigenen einen Daseinsanspruch hätten, da sie nicht als Rechtssubjekte gelten. 13
58 3. Der gesellschaftliche Kontext Mexikos: Grenze, Transgression, Gewalt
nehmen können, 17 werden die Indigenen, die auf besagtem Gebiet leben, offiziell zu salvajes und Störenfrieden der neu etablierten Ordnung deklariert. Daran zeigt sich, dass die Grenzziehung einen politischen Prozess darstellt, der sich sozial auf die Menschen auswirkt, die davon unmittelbar betroffen sind, weil sie – wie in diesem Fall die Indigenen – ihren bisherigen Lebensmittelpunkt aufgeben müssen. So lassen sich an der frontera norte sowohl Ausgrenzung, Trennung als auch Verbindungen sprachlicher und kultureller Art exemplarisch nachzeichnen. Die Grenzverlegung und damit einhergehenden Veränderungen wirken bis heute im kulturellen Gedächtnis Mexikos und jenem der USA fort, denn Musik, Kunst, Literatur und soziale Bewegungen beziehen sich auf dieses Ereignis. 18 Da sie mitunter die Grenzregion und ihre Bewohner metaphorisch zum stereotypen ‚Anderen‘ deklarieren, zeigt sich, dass am Beispiel der Grenze diskursiv aufschlussreich Fragen der Identität und Alterität thematisiert werden. Die südliche Grenze Mexikos, frontera sur 19, entwickelt sich etwa zeitgleich, jedoch auf unterschiedliche Weise: Im Süden lassen sich Mitte des 19. Jahrhunderts als Reaktion auf die von der Regierung geschaffenen Anreize vor allem deutsche Besitzer guatemaltekischer Kaffeeplantagen nieder, die billig Land erwerben und den Anbau ausweiten (vgl. De Vos 2002, 53). Bereits seit Jahrhunderten wird in der Region ein reger Austausch betrieben, über die kolonial errichteten politischen Grenzen hinaus. So ist es nicht verwunderlich, dass sich nach der offiziellen Grenzziehung im Jahre 1882 viele Guatemalteken regelmäßig auf die mexikanische Seite begeben, um dort als Tagelöhner auf den Plantagen zu arbeiten (vgl. ebd., 52-57). Von Beginn an ist die Region also zum einen von transnationaler Bewegung geprägt, zum anderen zeichnet sich aber eklatant eine Grenze zwischen den sozialen und ethnischen Klassen ab (vgl. ebd., 58). 20 Aus diesem Grund 17 In Kalifornien werden jedoch im Zuge des Land Acts viele der mexikanischen Landbesitzer enteignet, einige kehren nach Mexiko zurück, und der gesellschaftliche Einfluss dieser Gruppe in den USA minimalisiert sich bis 1890 erheblich (vgl. Erazo Heufelder 2018, 40, 45). 18 Im Zeitraum nach 1848 wird die Grenze im mexikanischen Diskurs zum Inbegriff der „ruptura, la mutilación territorial, la herida abierta o la fractura. A estas imágenes subyace un sentimiento de impotencia“ (Valenzuela Arce 2003, 33f., Hervorhebung i. O.). Der Autor legt dar, wie sich das Bild der Grenzregion und die damit verbundenen Metaphern im Laufe der Jahrzehnte, analog zu soziokulturellen Entwicklungen der beiden Länder, beidseitig der Grenze verändern. Eng verknüpft mit Fragen der Identität, verkörpern die Grenzregion und ihre Bewohner dabei häufig den ‚Anderen‘. Während in Mexiko der pocho und pachuco als US-amerikanisierter ‚Verräter‘ gilt, verwendet man in den USA despektierlich die Bezeichnungen greaser oder wetbacks für die Mexikaner, die über die Grenze kommen. Ende des 20. Jahrhunderts wird eine Konzeption der Grenzregion als Zwischenraum beliebt, als transnationales Mexamérica (vgl. ebd., 39f., 46f.), vgl. dazu Fußnote 43 des vorliegenden Kapitels. 19 Im Süden teilt Mexiko eine Grenze von insgesamt 1.149 Kilometern mit Guatemala (956 km) und Belize (193 km) (vgl. Villafuerte Solís 2017, 20). Die Bundesstaaten Chiapas, Tabasco, Campeche und Quintana Roo bilden die mexikanische Seite der Grenze, in der Forschung wird Yucatán meist ebenfalls zur Grenzregion hinzugezählt (vgl. Villafuerte Solís und García Aguilar 2005, 129). 20 Die Grenzprozesse vollziehen sich zugunsten der Eliten, und perpetuieren neben sozialen Unterschieden die Dichotomie zwischen ‚Zivilisation‘ und ‚Barbarei‘. Damit unterscheidet sich diese Form der Erschließungsgrenze vom Turnerschen frontier-Mythos (vgl. Bernecker 2005, 13f.). Zum frontier-Konzept vgl. Kapitel 2.1.1 der vorliegenden Arbeit.
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herrscht in der Forschungsliteratur zur Südgrenze Mexikos das Bild einer Region vor, die in sich diverse Grenzen vereint. 21 Die Beispiele der frontera norte und der frontera sur zeigen, dass das unabhängige Mexiko von Anfang an eine wichtige geopolitische Position einnimmt. Die Grenzen und die unterschiedlichen Akteure, die sich um sie herum positionieren, machen globale Entwicklungen und Konfliktlinien sichtbar. Die USA bemühen sich bereits frühzeitig darum, mit Mexiko zu kollaborieren und plädieren mit der Monroe-Doktrin, die semantisch eine Verbundenheit der amerikanischen Länder suggeriert, für eine regionale Kollaboration unter Vormachtstellung der USA. 22 Auch im 20. Jahrhundert, während des Zweiten Weltkriegs und des Kalten Krieges nutzen die USA die geographisch vorteilhafte Position Mexikos, 23 wobei bis heute die jeweilige innenpolitische und wirtschaftliche Situation der USA die Mexiko gegenüber verfolgte Außenpolitik prägt. 24 Ohne zu bestreiten, dass die Beziehung zu den USA mitgedacht werden muss, wenn es um wirtschaftliche Entwicklungen, den Drogenhandel und die aktuelle Situation der Gewalt geht, löst sich das vorliegende Kapitel von der territorialen Beschränkung auf die frontera norte und frontera sur, da es erst diese Vorgehensweise möglich macht, die vielfältigen Grenzen innerhalb Mexikos herauszuarbeiten. 3.1.2 Das 20. Jahrhundert: ‚Dictablanda‘ und Dictadura Im postrevolutionären 25 Mexiko des 20. Jahrhunderts dominiert das PRI-Regime. 1929 gelangt mit dem Partido Nacional Revolucionario jene Partei an die Macht, die über siebzig Jahre hinweg ihre Position als herrschende Kraft aufrechterhalten wird und nach zwei Namensänderungen seit 1946 als Partido Revolucionario Institucional (PRI) fortexistiert. Nachdem 1920 die kriegerischen Phase der mexikanischen Revolution endet, setzt zunächst ein Prozess der Konsolidierung ein (vgl. Garciadiego und Kuntz Ficker 2017, 563). Die Partei wandelt sich von einer Vgl. z. B. „[Las] múltiples dimensiones de las fronteras aluden al territorio y los territorios, a la cultura y las culturas, a las comunidades de identificación, a las formas políticas y sociales, a las cuestiones de género y etnicidad, así como a las de clase social“ (Fábregas Puig 2005, 32); „[L]a diversidad de las fronteras que se entrecruzan en este espacio“ (Castillo und Kauffer Michel 2002, 12). 22 Während die Monroe-Doktrin sich an einer panamerikanischen Vorstellung der Western Hemisphere orientiert und dafür plädiert, gegen die europäischen Kolonialmächte zu kooperieren, ist sie ein früher Versuch der USA, die politische und wirtschaftliche Vormachtstellung in Amerika zu erlangen (vgl. Kaltmeier 2013, 2f.). 23 Vor allem während des Kalten Krieges unterstützen die USA in Lateinamerika rechte Regierungen und Aufstände, um linke Regierungen zu bekämpfen (vgl. Nolte 2017, 266). Diese Perspektive der USA, die Politik Lateinamerikas unmittelbar mit den eigenen Interessen in Verbindung zu setzen, ist auch heute noch aktuell (vgl. Nolte 2018, 3). 24 Exemplarisch zeigt sich dies an der Diskrepanz zwischen dem Bracero Program, das rund um den Zweiten Weltkrieg mexikanische Arbeitskräfte in die USA holen soll, und der ab 1953 verfolgten Operation Wetback, die ihren Fokus auf eine massive Abschiebung setzt (vgl. Henderson 2011, 608ff.). Auch während der US-amerikanischen Wirtschaftskrise 2008/2009 werden vor allem lateinamerikanische Beschäftigte in den USA entlassen und abgeschoben (vgl. Martínez Cuero 2014, 139). 25 Zur Mexikanischen Revolution, vgl. Garciadiego und Kuntz Ficker (2017). 21
60 3. Der gesellschaftliche Kontext Mexikos: Grenze, Transgression, Gewalt
militärischen zu einer zivilen Institution, die die unterschiedlichen sozialen Akteure unter ihre Vorherrschaft stellt (vgl. Piñeyro 2015, 30). Um die militärischen und paramilitärischen Gruppierungen zu kontrollieren, wird der Präsident zum Obersten Befehlshaber über die Streitkräfte ernannt und ist dies bis heute. 26 Zudem versucht man, die marginalisierten Bevölkerungsgruppen, die für die Revolution gekämpft haben, in die Nation zu integrieren und die Herrschaft der neuen Regierung zu legitimieren. Dazu werden diskursiv Gemeinsamkeiten evoziert, mit denen sich eine einheitliche kulturelle Identität der mexicanidad begründen soll (vgl. Pérez Montfort 2003, 150f.; Borsò 1994). Eine wichtige Rolle spielt dabei das Konzept des mestizaje, das sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts von einem rassenideologischen zu einem kulturpolitischen Modell wandelt und als solches seit Beginn des 20. Jahrhunderts eine zentrale Rolle im offiziellen Identitätsdiskurs spielt (vgl. Borsò 1994, 115, 124). An den Schriften der Vertreter des Indigenismus wie Forjando Patria (1916) von Manuel Gamio oder José Vasconcelos’ Raza cósmica (1929) zeigt sich jedoch, dass die Indigenen weiterhin als das ‚Andere‘ gelten (vgl. Leinen 2000, 275). Die gesellschaftspolitischen und wirtschaftlichen Entwicklungen ab der Mitte des 20. Jahrhunderts sind davon geprägt, dass die mexikanische Regierung sich international darum bemüht, als moderner Staat wahrgenommen zu werden (vgl. Loaeza 2017, 654). Dies gelingt ihr, denn zwischen den 1940ern und 1960ern befindet sich die mexikanische Wirtschaft in einer Phase der Stabilität und des Wachstums – bezeichnet als milagro mexicano. Die PRI-Regierung dominiert als hegemoniale Macht das nationale Geschehen (vgl. González 2019, 40). Das politische System behält einen demokratischen Anschein, da Wahlen abgehalten werden, es aufgrund der verbotenen Wiederwahl eine regelmäßige personale Fluktuation gibt und vereinzelte Oppositionsparteien zugelassen werden (vgl. ebd., 41). Allerdings verlaufen die Wahlen nicht einwandfrei, 27 und die Regierung kooperiert mit regionalen caciques, die bei den Wahlen Stimmen für die PRI beschaffen und dafür Privilegien erhalten (vgl. ebd., 141f.). Der Staat ist zentralistisch organisiert und beruht auf einem asymmetrischen Verhältnis zwischen dem autoritären Präsidenten als „jefe de gobierno“ gegenüber einer schwachen Legislative und Judikative (vgl. Loaeza 2017, 654f.). Der Zentralstaat hat das Gewaltmonopol inne, schaltet Gewerkschaften gleich, versucht Oppositionelle ins System zu integrieren und geht mit Gewalt gegen Aufständische vor (vgl. McCormick 2018, 263; González 2019, 41). Als sich in den 1960er Jahren, vergleichbar mit Europa und den USA, in Mexiko eine studentische Protestbewegung formiert, positioniert sie sich vor allem gegen das autoritäre System des Präsidenten Gustavo Díaz Ordaz (1964-1970) und plädiert für eine partizipative Demokratie. Die mexikanische Regierung, die das internationale Großereignis der Olympischen Spiele 1968 in Mexiko stattfinden Dies ist in Artikel 89 der mexikanischen Verfassung geregelt (vgl. Cámara de Diputados 2019). 27 Beispielsweise lässt die Comisión Federal Electoral im Jahre 1976 nur einen Kandidaten zur Präsidentschaftswahl zu (vgl. Rodríguez Kuri und González Mello 2017, 734). 26
3.1 Historische Grenzziehungen 61
lassen will, reagiert repressiv und setzt gezielt Polizei und Militär ein, um die Proteste niederzuschlagen (vgl. Loaeza 2017, 681). Am 2. Oktober, wenige Tage vor den Olympischen Spielen, versammeln sich Studierende auf der Plaza de las Tres Culturas 28, als verdeckte Scharfschützen des Batallón Olimpia unvermittelt das Feuer eröffnen und das Militär daraufhin die Demonstration gewaltsam auflöst (vgl. ebd., 691). 29 Da die damalige Regierung eine Aufklärung der Ereignisse verhindert, kann bis heute die genaue Zahl der Toten nicht präzise bestimmt werden. 30 Hunderte der Protestierenden befinden sich noch jahrelang in Haft (vgl. ebd., 692). Das sog. Massaker von Tlatelolco (La Masacre de Tlatelolco) bildet einen wichtigen negativen Referenzpunkt des kollektiven Gedächtnisses in Mexiko, an dem das fehlende Vertrauen der Bevölkerung in die staatlichen Institutionen und das PRI-Regime zum Ausdruck kommt. Die repressive Vorgehensweise gegen Oppositionelle und Demonstranten rund um 1968 entkräftet das Selbstbild der Regierung als demokratische Vertretung einer vermeintlich homogenen Nation (vgl. auch Borsò 2012b, 68). Dennoch finden ab dem 12. Oktober die Olympischen Spiele statt und wenig später, im Jahre 1970, wird die Fußball-WM in Mexiko abgehalten. Der fehlende internationale Druck erleichtert es dem Regime, hart gegen seine Gegner vorzugehen. Als der ehemalige Innenminister Luis Echeverría, der bereits maßgeblich an den Ereignissen vom 2. Oktober 1968 beteiligt ist, 1970-1976 das Amt des Präsidenten übernimmt, führt er die repressive Politik fort (vgl. Rodríguez Kuri und González Mello 2017, 729, 731). 31 Bis heute werden die Ereignisse innerhalb des 28 Auf der Plaza de las Tres Culturas vereinen sich drei Epochen mexikanischer Geschichte: Bereits in der prähispanischen Zeit nimmt der Ort als Tempel und Marktplatz eine wichtige Rolle ein; die Spanier errichten nach der Conquista auf und mit den Ruinen die Iglesia de Santiago Tlatelolco (vgl. Matos Moctezuma 2008, 39). In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird das Gebiet im Zuge städteplanerischer Modernisierungen zum Standort der Hochhäuser des Conjunto Habitacional Nonoalco-Tlatelolco. Das Erdbeben von 1985 lenkt erneut die Aufmerksamkeit auf Tlatelolco, da dort die eingestürzten Hochhäuser die Bewohner unter sich begraben. Die Plaza de las Tres Culturas ist ein bedeutsamer Erinnerungsort Mexikos, den bis heute diverse Protestbewegungen aufsuchen, um wirtschaftliche und politische Probleme anzuklagen. 2007 wird mit dem Memorial del 68 erstmals ein Museum eröffnet, das sich einem Ereignis nach der Revolution widmet. Hier offenbart sich die besondere Symbolkraft der Plaza de las Tres Culturas, wenn sich die Frage nach der historischen Deutungsmacht stellt. Vgl. Allier Montaño (2018, 217, 219, 225, 234f.). 29 Diese paramilitärischen Akteure gehören zu den sog. porros, die der Staat seit den 1950ern einsetzt, um soziale Bewegungen zu unterwandern. Da sie in einer Grauzone agieren und nicht offiziell als staatliche Akteure zu identifizieren sind, entlasten sie das öffentliche Bild von Polizei und Militär (vgl. Pansters 2018, 44f.). Die Opfer können zudem die erlittene Gewalt nicht offiziell anklagen. Dass das Problem der porros noch immer aktuell ist, zeigt sich zuletzt im Sommer 2018 bei Protesten an der UNAM (vgl. Redacción BBC News Mundo 2018). 30 Es ist nicht geklärt, wie viele Menschen an diesem Tag sterben. Während offizielle Zahlen von 30 Toten sprechen, reichen heutige Schätzungen von mehreren hundert bis zu über 1000 Toten (vgl. Allier Montaño 2018, 218; Borsò 2012b, 70). 31 Am Jueves Corpus 1971 werden erneut Studentenproteste in Mexiko-Stadt blutig niedergeschlagen (vgl. Rodríguez Kuri und González Mello 2017, 731). Diese Ereignisse sind nicht annähernd so präsent wie die von 1968, werden jedoch vom Oscar-prämierten Spielfilm Roma (Cuarón 2018) ins kulturelle Gedächtnis gerufen, vgl. z. B. Nájar (2018).
62 3. Der gesellschaftliche Kontext Mexikos: Grenze, Transgression, Gewalt
offiziellen wie wissenschaftlichen Diskurses sehr unterschiedlich bewertet. Einige Autoren übernehmen etwa die offizielle Perspektive, dass Mexikos Regierung eine lateinamerikanische ‚Sonderrolle‘ eingenommen habe – und bezeichnen das Regime als sog. dictablanda, in Abgrenzung zur dictadura. 32 Die meisten Beiträge erwähnen zwar, dass Oppositionelle unterdrückt und verfolgt wurden, oftmals bezeichnen sie dies aber lediglich als represión (z. B. Rodríguez Kuri und González Mello 2017; González 2019). Da dieser Begriff suggeriert, der Staat sei einmalig und defensiv gegen die Oppositionellen vorgegangen, laufen die Autoren Gefahr, die Ereignisse verkürzt wiederzugeben. So stellen sie zum Beispiel das Massaker von Tlatelolco meist als tragischen Einzelfall dar, der aus einer ansonsten friedlichen Gesellschaftsordnung heraussteche. 33 Diese Sichtweise wird in den letzten Jahren jedoch verstärkt in Frage gestellt und durch den Begriff der sog. guerra sucia ersetzt (vgl. Scherer und Monsiváis 2004; Illades und Santiago 2014; Rangel Lozano und Sánchez Serrano 2015; Pensado und Ochoa 2018). 34 Obwohl dieser Terminus nicht unproblematisch ist, stellt seine Verwendung innerhalb der Erinnerungspolitik Mexikos ein wichtiges Statement dar, setzt er doch die Aktivitäten der mexikanischen Regierung in einen lateinamerikanischen Kontext und parallelisiert sie mit denen der Militärdiktaturen, beispielsweise in Argentinien oder Chile, die systematisch gegen Oppositionelle vorgingen. 35 Auf vergleichbare Weise kommt es auch in Mexiko im 20. Jahrhundert zu erheblichen Menschenrechtsverletzungen, wobei der Staat sich einer Taktik des Verschwindenlassens, der illegalen Gefängnisse und sog. vuelos de la muerte bedient (vgl. Rangel Lozano 2015, 16). Die als guerra sucia bezeichnete Phase beginnt bereits in den 1940ern und reicht, mit ihrem Höhepunkt in den 1960ern und 70ern, bis in die 1980er hinein (vgl. Pensado und Ochoa 2018a, 10; 32 Gillingham und Smith verwenden diesen Terminus in Dictablanda: Politics, Work, and Culture in Mexico, 1938–1968, um die PRI-Regierung als eine Form des „soft authoritarian regime“ zu bezeichnen. Bereits etymologisch ist dieser Neologismus aber irreführend, da er das Verb „dictar“ (von der Real Academia Española 2014, 794 definiert als „Dar, expedir, pronunciar leyes, fallos, preceptos“) mit dem Adverb „blando“ („Blandamente, con suavidad“, ebd. 316) verbindet. Dadurch geht jegliche Semantik eines autoritären Regimes verloren, wie sie im spanischen dictadura, von lat. dictatura, enthalten ist (vgl. ebd., 794). 33 Dies zeigen Pensado und Ochoa (2018b, 275f.), deren Sammelband den Blick über 1968 und eine männliche, urbane Perspektive hinaus eröffnet. 34 Die Real Academia Española (2014, 1141) defininiert guerra sucia wie folgt: „Conjunto de acciones que se sitúan al margen de la legalidad y combaten a un determinado grupo social o político“. Es handelt sich also nicht um einen ‚regulären‘ Krieg, sondern um Aktionen, die in einer legalen Grauzone oder illegal vollzogen werden. Der Begriff versucht, die fehlende Achtung der Menschenrechte und die Überschreitung der Grenzen ‚regulärer‘ Kriegsführung auszudrücken (vgl. Crandall 2014, 6f.). Problematisch ist, dass die Bezeichnung eines Krieges als ‚schmutzig‘ stark semantisch wertend ist und die Dichotomie rein vs. unrein, zivilisiert vs. barbarisch perpetuiert. Außerdem umfasst der Begriff eine breite Spanne, Andrés Manuel López Obrador bezeichnet beispielsweise Medienkampagnen gegen ihn in den 2000er Jahren als guerra sucia (vgl. CNN Español 2018). Diese Aussage wirkt in Hinblick auf die Verschwundenen entdifferenzierend. Um die semantische Problematik und begriffliche Unschärfe zu vermeiden, ist es wichtig, die Taten aufzuarbeiten und konkret zu benennen, um das genaue Ausmaß der staatlichen Gewalt gegen Oppositionelle fassen zu können. 35 Vgl. dazu Allier Montaño und Crenzel (2016).
3.1 Historische Grenzziehungen 63
Pansters 2018, 43). Neben den bereits erwähnten Eingriffen in die Studentenproteste im urbanen Raum, agiert der Staat vor allem in ländlichen Regionen (vgl. Pensado und Ochoa 2018a, 5). Dort leben trotz des wirtschaftlichen Aufschwungs weiterhin viele Menschen in Armut und sind der Waffengewalt der caudillos ausgesetzt, was die soziale Kluft zwischen Zentrum und Peripherie deutlich macht (vgl. Pansters 2018, 40, 42). 36 In diesen Gebieten formieren sich teils bewaffnete subversive Gruppen, die heterogene Interessen sozialer und politischer Art verfolgen (vgl. Pensado und Ochoa 2018a, 3f.). Der Staat geht mit Gewalt gegen die Aufständischen vor und legitimiert das militärische Vorgehen mit dem Plan de Defensa Nacional DN-II, der bis heute vorsieht, das Militär für die innere Sicherheit einzusetzen (Piñeyro 2015, 33f.). Indem die Oppositionellen zu Feinden der inneren Ordnung deklariert werden, gelten sie nicht mehr als heterogene, soziale Bewegung sondern als ‚Kriminelle‘ (vgl. ebd., 36; Mendoza García 2015, 112). Dennoch bewertet die Mehrheit der mexikanischen Bevölkerung in den 1940er60er Jahren die Geschehnisse nicht als guerra sucia, da die sich auf die ländlichen Regionen beschränkenden illegalen Gefängnisse eine geringe Sichtbarkeit haben und nicht alle Bürger von der Gewalt betroffen sind (vgl. Rangel Lozano 2015, 52, 64). 37 Um die Verantwortung des Staates 2001, dreißig Jahre später, öffentlich anzuerkennen, ordnet der Präsident Vicente Fox (2000-2006, PAN) an, die Geheimdienst-Archive zu öffnen (vgl. Rangel Lozano und Sánchez Serrano 2015, 273). Doch die zur Aufarbeitung gebildete Fiscalía Especial para Movimientos Sociales y Polítícos del Pasado (FEMOSPP) wird nach kurzer Aktivität aufgelöst, ohne Erfolge aufweisen zu können. Nichtstaatliche Menschenrechtsgruppierungen und Wissenschaftler kritisieren, dass es sich um eine staatliche Institution und nicht um eine unabhängige Wahrheitskommission handelte. Zudem wird der von der FEMOSPP verfasste Bericht nie offiziell veröffentlicht. 38 Die erhoffte Aufklärung „Guerrero, Morelos, Oaxaca y estados circunvecinos, o […] Chihuahua, Hidalgo y Baja California“ (Piñeyro 2015, 39). Es handelt sich um Bundesstaaten, die auch heute noch durch hohe Gewaltraten auffallen. Dabei wird eine Kontinuität des wirtschaftlichen und sozialen Ungleichgewichts zwischen dem urbanen Zentrum und besagten Regionen deutlich. 37 Da wenige Quellen erhalten und viele der Dokumente nicht öffentlich zugänglich sind, ist die Zahl der Opfer nicht eindeutig bestimmbar, für die Phase 1964-1982 liegen Schätzungen bei „approximately seven thousand people tortured, at least three thousand political prisoners, and more than three thousand disappeared or killed“ (McCormick 2018, 256). Nähme man die 1940er und 50er Jahre in die Rechnung hinzu, müssten die Zahlen entsprechend nach oben korrigiert werden. 38 Ein Entwurf des Berichts gelangt dennoch in Umlauf, da er der Website The National Security Archive zugespielt wird, vgl. The National Security Archive (2006). Der Bericht bestätigt, dass der mexikanische Staat und das Militär mit Mitteln der guerra sucia gegen Oppositionelle vorgegangen sind und dabei die Menschenrechte missachtet haben (vgl. Fiscalía Especial para Movimientos Sociales y Políticos del Pasado 2005, 1). Solange der Staat diesen Bericht nicht offiziell akzeptiert, bleibt jedoch die Anerkennung der Opfer und die Verurteilung der Täter rein hypothetisch. Einen Sonderfall stellt der des Aktivisten Rosendo Radilla Pacheco aus Guerrero dar, der in den 1970er Jahren verschleppt wird. Im Jahre 2009 erklärt die Corte Interamericana de Derechos Humanos (CoIDH) den mexikanischen Staat für schuldig, „por el delito de desaparición forzada“ und schafft damit einen Präzedenzfall (vgl. Sánchez Serrano 2015, 207). 36
64 3. Der gesellschaftliche Kontext Mexikos: Grenze, Transgression, Gewalt
und offizielle staatliche Anerkennung ist, von Einzelfällen abgesehen, bis zum heutigen Tag ausgeblieben (vg. Márquez und Meyer 2017, 780). Die Archive werden im Jahre 2015 unter der wiedergewählten PRI-Regierung sogar erneut für den öffentlichen Zugang gesperrt (vgl. Pensado und Ochoa 2018, XII). Hier zeigt sich, dass in Mexiko noch immer umstritten ist, wie die Vergangenheit gedeutet werden soll. In den 1970er Jahren beginnt der mexikanische Staat außerdem, den Anbau von Marihuana und Schlafmohn im sog. Triángulo Dorado (Sinaloa, Durango, Chihuahua) zu bekämpfen (Aviña 2018, 135). Alexander Aviña verdeutlicht die sozialen Auswirkungen dieser Operationen: These militarized counternarcotics programs – including the novel use of dangerous defoliant herbicides sprayed from helicopters and airplanes – resembled, in practice, what counterinsurgent military units had practiced in Guerrero […]: brutal attacks on rural highland peasant communities that left behind a trail of tortures, razed homes, disappeared campesinos, destroyed agricultural harvest, and environmental damage. Two Mexican ‚wars‘, one ‚dirty‘ and the other against drugs, and the multiple ways in which they intimately intersect historically during the 1970s, reveal […]: they were wars directed against poor people intended to reassert state control. For the PRI, the boundary between drug control and political control, between popular political protest and drug criminality, became usefully permeable (ebd., 135f.).
Dieses Zitat illustriert, dass das Militär mit den gleichen Mitteln gegen Oppositionelle und gegen den Drogenanbau vorgeht. Das in der sog. Operación Cóndor ab 1975 eingesetzte Militär übt starke Gewalt aus, ohne etwaige ökologische oder menschliche Verluste zu berücksichtigen. Auch hier sind die Kleinbauern die Leidtragenden, da sie aufgrund der zerstörten Existenzgrundlage ihre Heimatorte verlassen müssen, während die transnational agierenden Drogenbosse nicht nennenswert beeinträchtigt werden (vgl. Illades und Santiago 2014, 53). Daher stellt sich die Frage, wie effektiv diese Form der militärischen Einsätze ist, die zwar die Marihuana-Felder vernichtet, zugleich aber regionale Gemeinschaften dauerhaft schädigt und das Gefälle zwischen Zentrum und Peripherie verfestigt. Da in Mexiko der angestiegene Drogenkonsum national negative Schlagzeilen macht, ist es der Regierung leichter möglich, ihre militärische Gewalt zu rechtfertigen (vgl. Aviña 2018, 135). Die Frage nach etwaigen Menschenrechtsverletzungen während der Einsätze erscheint vor diesem Hintergrund nicht dringend. Die oppositionellen Akteure in den betroffenen Bundesstaaten können problemlos des Drogenanbaus bezichtigt und kriminalisiert werden. Dies erklärt die zeitlichen und personalen Überschneidungen im Kampf gegen Oppositionelle und im Kampf gegen den Drogenanbau (vgl. Illades und Santiago 2014, 53). In den 1980er Jahren spitzen sich die politischen, sozialen und wirtschaftlichen Konflikte zu, die auch im Zentrum sichtbarer werden: Ein weiterer Referenzpunkt des kulturellen Gedächtnisses ist das Erdbeben am 19. September 1985 in Mexiko-Stadt, Michoacán, Guerrero, Jalisco und Colima, bei dem zwischen 10.000 und 60.000 Menschen sterben (vgl. Márquez und Meyer 2017, 752). Die fehlenden Hilfeleistungen der Regierung nach dem Erdbeben führen dazu, dass sich soziale
3.1 Historische Grenzziehungen 65
Spaltung und Misstrauen verschärfen (vgl. ebd., 752). 39 Vor dem Hintergrund einer mangelhaften staatlichen Informationspolitik nehmen Intellektuelle wie Carlos Monsiváis eine entscheidende Rolle dabei ein, die hier erwähnten Ereignisse aufzuarbeiten (vgl. Borsò 2012b, 70ff.). 40 Beispielsweise gelingt es Elena Poniatowska in La noche de Tlatelolco (1971) im Kontrast zur offiziellen Berichterstattung die Perspektive der Opfer von 1968 hörbar zu machen. Und José Agustíns dreiteilige Tragicomedia Mexicana enttarnt ironisch die Kontinuität der Gewalt, auf der das vermeintliche Gleichgewicht der mexikanischen Gesellschaft beruht. 41 An den hier genannten Texten zeigt sich exemplarisch, dass die Kulturschaffenden eine wichtige diskursive Funktion einnehmen, da sie, oftmals auf der Schwelle zwischen Fiktionalität und Faktualität, gesellschaftspolitische Themen in Mexiko öffentlich thematisieren. In der Romananalyse wird zu zeigen sein, inwiefern die acht ausgewählten, zeitgenössischen mexikanischen Romane die Konfliktlinien des kollektiven Gedächtnisses aufgreifen, wie sie die Vergangenheit bewerten und ob sie die nicht aufgearbeiteten Menschenrechtsverletzungen sichtbar machen. 3.1.3 An der Schwelle zum 21. Jahrhundert: „Two-Speed Economy“ Um einen Ausweg aus der politischen und wirtschaftlichen Krise bemüht, initiieren die Präsidenten De la Madrid (1982-1988) und Salinas (1988-1994) wirtschaftliche Transformationen, die sich vom Protektionismus abwenden, den Markt neoliberal in Richtung USA öffnen und staatliche Betriebe privatisieren (vgl. Vidal 2014, 11). Die bereits seit dem bilateralen Programa de Industrialización Fronteriza (1965) in der nördlichen Grenzregion Mexikos installierten sog. maquiladoras werden nach Inkrafttreten des NAFTA-Freihandelsabkommens mit den USA und Kanada 1994 ausgebaut. 42 Seit den 1990er Jahren exemplifiziert die Am 19. September 2017 erschüttert erneut ein starkes Erdbeben Mexiko, bei dem über 200 Menschen sterben. Auch hier beklagen Menschenrechtsorganisationen eine mangelnde staatliche Unterstützung für die Opfer (vgl. Mancera und Ferri 2018). 40 Bis zu seinem Tod im Jahre 2010 ist Monsiváis eine prägende Figur des mexikanischen Diskurses. Dem Thema der guerra sucia widmet er sich mit Julio Scherer García in Los patriotas. De Tlatelolco a la guerra sucia (2004). Scherer wertet die neu geöffneten Geheimdienst-Archive aus, macht die Verantwortung des Staates und die Geschichten der Opfer sichtbar (vgl. ebd., 7139). Der Begleit-Essay Monsiváis’ stellt die These einer Kontinuität der Gewalt in Mexiko auf (vgl. ebd., 141-199). Bereits der Titel verrät ihre deutliche Positionierung („guerra sucia“). An diesem Buch zeigt sich das Engagement der beiden Intellektuellen, die die Archive dem Publikum zugänglich und verständlich machen wollen und damit die Opfer ins kulturelle Gedächtnis integrieren. 41 So bezeichnet er beispielsweise die Regierung von Díaz Ordaz als Periode einer „paz social mediante macanazos“ (Agustín 1991, 227). Die zunächst harmonische Semantik des öffentlichen Friedens wird gebrochen, da die „macanazos“ metonymisch auf die Gewalt verweisen, mit der die Ordnung sich aufrechterhält. – Vgl. auch Agustín (1992; 1998). 42 Die USA sichern sich mit dem North American Free Trade Agreement, span. Tratado de Libre Comercio de América del Norte, die eigene wirtschaftliche Vormachtstellung nach Ende des Kalten Krieges. Die mexikanische Regierung erhofft sich ein Wirtschaftswachstum und den Anschluss an die Länder der Ersten Welt (vgl. Oropeza García 2014, 13, 15f.). Während Waren und Kapital zirkulieren, sieht das NAFTA-Abkommen diese Freizügigkeit nicht für Personen vor (vgl. Martínez Cuero 2014, 134, 136). NAFTA hilft den USA sogar, die Migration einzudäm39
66 3. Der gesellschaftliche Kontext Mexikos: Grenze, Transgression, Gewalt
Forschungsliteratur am Beispiel des gemeinsamen NAFTA-Raumes die Entwicklungen des globalisierten Kapitalismus und zeigt, wie sich die Konzeption der ‚Grenze‘ an der Schwelle zum 21. Jahrhundert aufgrund transnationaler Prozesse ausdifferenziert. 43 Auf Druck der Trump-Administration erarbeiten Mexiko, Kanada und die USA ab Ende 2018 ein Nachfolgeabkommen, das unter dem Namen USMCA im Juli 2020 in Kraft tritt (vgl. Swanson und Tankersley 2020). Bis heute unterscheidet sich Mexiko durch seine engen wirtschaftlichen Beziehungen mit den USA und Kanada von den südamerikanischen Ländern, die sich um eine von den USA unabhängige Wirtschaftspolitik bemühen (vgl. Nolte 2017, 260, 269). Doch während das maquiladora-System einerseits, gemessen am BIP, die ökonomische Entwicklung der nördlichen Bundesstaaten Mexikos verstärkt, wird es andererseits bis heute dafür kritisiert, dass es eine nachhaltige Entwicklung behindere – beklagt werden fehlende Umweltbestimmungen, schlechte Arbeitsbedingungen und ein Kapitalfluss, bei dem die Gewinne in multinationale Unternehmen fließen, anstatt die lokale Wirtschaft zu stärken (vgl. Fernández-Kelly 2012, 1111). 44 Innerhalb Mexikos begünstigt das NAFTA-Abkommen eine asymmetrische Entwicklung, die sich in einer wachsenden Ungleichheit zwischen einzelnen Regionen und innerhalb der Bevölkerung äußert. 45 Einige Forscher gehen von einer wirtschaftlichen Spaltung in Gewinner und Verlierer aus, einer „two-speed men, da die Arbeiter der maquiladoras kein US-amerikanisches Territorium betreten (vgl. Berndt 2004, 89f.). Die nach Mexiko importierten Rohmaterialien werden vor Ort verarbeitet, um das fertige Produkt danach zollfrei zu exportieren. Die Firmen profitieren davon, dass sie niedrigere Löhne zahlen können sowie weniger strenge Arbeitsschutzgesetze und Umweltregularien vorfinden (vgl. Fernández-Kelly 2012, 1110f.). 43 Sowohl die US-amerikanische als auch die lateinamerikanische postkoloniale Theorie bezieht sich auf die US-mexikanische Grenzregion, um kulturelle Prozesse zu illustrieren, die sich jenseits von Binaritäten und einer homogenen Identität ansiedeln (vgl. García Canclini 2010, 286297; Bhabha 2004, 9f.; Soja 1996, 127-134). Soja (1996, 127-134) und Mignolo (2000, 227ff.) berufen sich dabei auf das Werk Gloria Anzaldúas, das die Grenzen zwischen den Sprachen und Genres überschreitet sowie die Gender-Binarität aufbricht. Vgl. Kapitel 2.1.4 der vorliegenden Arbeit zur Problematik von Anzaldúas Vorgehen. Ebenso zweifelhaft ist, dass die Konzepte der ‚Hybridität‘ (Bhabha) und ‚Hybridisierung‘ (García Canclini) einen biologischen Terminus mit einer problematischen Begriffsgeschichte auf kulturelle Prozesse übertragen. 44 Dass trotz Grenzüberschreitungen und partiellen Grenzverwischungen konkrete Ungleichheiten bestehen bleiben, zeigt Lawrence Herzog (2003) exemplarisch am Raum Tijuana/San Diego. Trotz des transnationalen Konsums bleibt die Spaltung zwischen Arm und Reich rigide (vgl. ebd., 123f., 131) und die Grenzübergänge als militarisierte „spaces of conflict“ (ebd., 135f.) rufen die trennenden Merkmale der Grenze in Erinnerung. Vgl. zudem Gewecke (2013, 277), die darlegt, dass neben Prozessen der ‚Deterritorialisierung‘, wie sie in der Theorie propagiert werden, literarische Texte der frontera norte viel eher Versuche einer ‚Reterritorialisierung‘ erkennen lassen, sich also auf den Raum und die trennenden Faktoren von Grenzen rückbesinnen. 45 Zeitgleich mit dem Inkrafttreten des Abkommens macht die EZLN 1994 mit Aufständen international auf die Benachteiligung der südlichen, ländlichen Regionen aufmerksam sowie auf die fehlende soziale Absicherung der ärmeren, meist indigenen Bevölkerung. Die mediale Resonanz und der internationale Druck auf die Regierung münden in die 1996 beschlossenen Acuerdos de San Andrés, die die Rechte der Indigenen anerkennen. Dass die Regierung diese Abkommen jedoch nicht als bindend erachtet, führt 2001 und 2006 zu weiteren Aufständen (vgl. Márquez und Meyer 2017, 759, 778).
3.1 Historische Grenzziehungen 67
economy“ (González 2019, 75). 46 Dies lässt sich vor allem anhand des landwirtschaftlichen Sektors nachvollziehen: Da in den 1990ern Mais und Getreide aus Kanada und den USA nach Mexiko importiert werden, kann ein Großteil der mexikanischen Bauern, die kaum Subventionen erhalten, nicht mit den Weltmarktpreisen mithalten (vgl. Márquez und Meyer 2017, 757f.). 47 Aufgrund der sich dadurch ausbreitenden Armut ziehen viele Menschen in die Städte und suchen im wachsenden informellen Sektor nach Arbeit (vgl. Martínez Cuero 2014, 132-134). In einigen der betroffenen Regionen übernehmen Drogenkartelle die Kontrolle und rekrutieren Bauern, die ihren Lebensunterhalt damit sichern, dass sie Mohn für die Heroinproduktion anbauen (vgl. Monsiváis 2004, 24f.). An diesem Beispiel zeigt sich, dass die steigenden Gewaltraten 48 mit den wirtschaftspolitischen Entwicklungen Mexikos in Beziehung gesetzt werden müssen und ferner, dass es sich nicht um ein rein national verursachtes Problem handelt. Die 1990er Jahre sind also, anders als erwartet, nicht von einem wirtschaftlichen Aufschwung, sondern viel eher von einer Krise und der damit einhergehenden Kapitalflucht geprägt (vgl. Márquez und Meyer 2017, 760). Zu den ökonomischen Problemen gesellen sich innenpolitische Spannungen, wie z. B. das Attentat auf den PRI-Wahlkampfkandidaten Luis Donaldo Colosio, 49 das ein Indiz für die krisenhafte Situation auch innerhalb der Partei ist. Die vielschichtigen Konflikte bereiten schließlich den Boden dafür, dass im Jahre 2000 mit Vicente Fox (PAN) erstmals ein Präsident, der nicht der PRI angehört, mit 42,5% der Stimmen die Wahlen gewinnen kann (ebd., 767). 50 Auch wenn in der Forschung mitunter von einer friedlichen, intern initiierten Demokratisierung, Transición, gesprochen wird (vgl. ebd., 777), ist diese Sicht kaum haltbar. So behält die alte 46 Während große Firmen, Korporationen und Unternehmer von den wirtschaftlichen Veränderungen profitieren können, erleiden kleinere Familienunternehmen und die 40-50% der Beschäftigten im informellen Sektor Verluste (vgl. González 2019, 75f.). 47 Es zeigen sich die negativen Mechanismen einer Bioökonomie, bei der die Wirtschaft auf das Leben des Individuums zugreift: „Das Leben jedes Einzelnen wird zum Kapital. Ein prekäres Kapital, das jederzeit riskiert, sich in sein Gegenteil zu verkehren, ins wertlose, ‚nackte Leben‘“ (Borsò 2013, 21). 48 Bereits Ende des 20. Jahrhunderts verzeichnet Mexiko einen exponentiellen Anstieg der Gewalt, in Form von Entführungen und Massenhinrichtungen. Während die meisten Fälle nicht aufgeklärt werden, zeigt sich z. B. bei der Hinrichtung von 17 Oppositionellen in Aguas Blancas, Guerrero, im Jahre 1995, dass die Polizei an den Straftaten beteiligt ist (vgl. Márquez und Meyer 2017, 763f.). Diese Ereignisse deuten auf eine bedenkliche Menschenrechtslage. 49 Im Jahre 1994 wird in Tijuana der Präsidentschaftskandidat der PRI, Luis Donaldo Colosio, erschossen. Ernesto Zedillo ersetzt ihn und ist 1994-2000 Präsident Mexikos. Weder die Ermordung Colosios noch die des Generalsekretärs Francisco Ruiz Massieu kurze Zeit danach werden aufgeklärt (vgl. Márquez und Meyer 2017, 760). 50 Schon während der Wahlen 1988 zeichnet sich ab, dass die PRI ihre Vormacht nicht aufrechterhalten kann, denn die Umfragewerte der Opposition sind vielversprechend. Doch bei der Auszählung der Wahlergebnisse wird zunächst deklariert, dass der Wahlcomputer zusammengebrochen sei, und später die PRI zum Sieger erklärt. Kritiker sehen dies als illegalen Versuch der Partei, an der Macht zu bleiben. Unter dem neuen Präsidenten Salinas kommt es teilweise zu Konzessionen gegenüber der rechten PAN, zugleich bekämpft die Regierung aber die aus der Opposition heraus neu gegründete linke PRD (vgl. González 2019, 131f.).
68 3. Der gesellschaftliche Kontext Mexikos: Grenze, Transgression, Gewalt
Regierungspartei nach ihrer Abwahl 2000 noch einen Großteil ihrer Macht im Kongress und in den Bundesstaaten (vgl. Pedroza 2017, 2). Die PAN kann daher wenige Veränderungen initiieren, veraltete Strukturen wie das Justizsystem bleiben bestehen, und die starke Korruption auf allen administrativen Ebenen verhindert einen nennenswerten Wandel (vgl. Márquez und Meyer 2017, 780f.). Einige Forscher beklagen, dass es keinen institutionellen Bruch gebe und keine unabhängige Comisión de la Verdad die Politik des Regimes aufarbeite (vgl. Rangel Lozano und Sánchez Serrano 2015, 273). Außerdem kollaborieren die PAN und PRI im Jahre 2006 bei der Niederschlagung der Lehrer-Proteste in Oaxaca durch die Bundespolizei, Fuerzas Federales, um die Macht des dortigen Gouverneurs aufrechtzuerhalten. Diese Politik folgt der repressiven Tradition des vorherigen Regimes (vgl. Márquez und Meyer 2017, 781). Schließlich gelangt nach nur zwölf Jahren PAN-Regierung im Jahre 2012 mit Enrique Peña Nieto (2012-2018) erneut die PRI-Partei an die Macht.
3.2
Mexiko im 21. Jahrhundert: Politische Konflikte, steigende Gewalt
3.2.1 La guerra contra el narco Die wirtschaftlichen und sozialen Probleme zu Beginn des 21. Jahrhunderts führen vor allem vor den Wahlen des Jahres 2006 zu politischen Auseinandersetzungen, die deutlich machen, dass die Bevölkerung in ein linkes und rechtes Lager gespalten ist (vgl. ebd., 784). Andrés Manuel López Obrador, Kandidat der linken Partei PRD, gilt als überlegener Favorit. Die Versuche der Regierung, ihn aus formalen Gründen von den Wahlen auszuschließen, misslingen aufgrund internationalen Drucks und Protesten innerhalb der Bevölkerung (vgl. ebd., 784f.). Als Felipe Calderón (PAN) mit einem Vorsprung von weniger als einem Prozentpunkt 51 zum Wahlsieger erklärt wird, erkennen die Anhänger López Obradors das Ergebnis nicht an, beklagen Wahlfälschung und besetzen monatelang den Zócalo in Mexiko-Stadt (vgl. ebd., 786). Im Kontext dieses Wahlkonflikts bemüht sich der neue Präsident Calderón darum, die eigene Macht zu stabilisieren. Wenige Tage nach seinem Amtsantritt im Dezember 2006 erklärt seine Administration eine militärische Offensive gegen den Drogenhandel und es beginnt eine Phase, die in Mexiko als guerra contra el narcotráfico bezeichnet wird. Wie bereits gezeigt wurde, stellt der Drogenhandel in Mexiko kein neues Phänomen dar. 52 Die Operación Cóndor in den 1970ern führt nicht zum Ende des 51 Während Calderón 35,89% der Stimmen erhält, liegt AMLO bei 35,33% – ein Ergebnis, das man verifizieren müsste: „El fraude […] nunca fue probado, pero como lo mostrarían más adelante las actas de escrutinio, los errores de cómputo superaron la diferencia entre el ganador oficial y quien quedó en segundo lugar y, por lo tanto, sin el recuento demandado no pudo haber certeza sobre el ganador“ (Márquez und Meyer 2017, 786, Hervorhebung JA). 52 Die mexikanische Schriftstellerin Carmen Boullosa und der US-amerikanische Autor Mike Wallace zeichnen in ihrem gemeinsam verfassten Buch A Narco History (2016a) die Geschichte des heutigen ‚Drogenkriegs‘ vom Anfang des 20. Jahrhunderts bis heute nach. Ihre Hauptthese
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Drogenhandels, vielmehr verlagert er sich an den neuen Standort Guadalajara, wo die Aktivitäten zentral zusammenlaufen (vgl. Illades und Santiago 2014, 53). Die Verbindungen zum PRI-Regime sorgen dafür, dass die Kartelle die Drogen bis in die 1980er Jahre hinein weitgehend unbehelligt unter dem Schutz korrupter Mitglieder des mexikanischen Geheimdienstes Dirección Federal de Seguridad (DFS) in die USA schmuggeln können (vgl. González 2019, 144). 53 Erst nach dem Tod eines DEA-Agenten im Jahre 1985 verstärken die USA den Druck auf die mexikanische Regierung, sodass die DFS aufgelöst und das Guadalajara-Kartell 1989 mit der Verhaftung von Miguel Ángel Félix Gallardo zerschlagen werden kann (vgl. Boullosa und Wallace 2016, 40, 56f.). Doch damit beginnen unter den verbliebenen Akteuren Nachfolge- und Territorialkriege (vgl. González 2019, 147ff.). Diese Situation spitzt sich 2000 zu, als mit dem Regierungswechsel das staatliche Monopol endgültig gebrochen ist und unterschiedliche Akteure versuchen, sich in der wirtschaftlichen und politischen Krisensituation ihren Einfluss zu sichern (vgl. ebd., 59). Um die Kontrolle zurückzugewinnen, setzt die neue Regierung vermehrt das Militär ein, doch während der Präsidentschaft von Fox desertieren mehr als 100.000 Soldaten, um sich den besser zahlenden Kartellen anzuschließen (vgl. Esch 2018, 187). Vor diesem Hintergrund zielt Calderóns Ausrufung der guerra contra el narcotráfico darauf ab, die Kontrolle des Staates mit gesteigerter Waffengewalt zurückzugewinnen und außerdem die mediale Aufmerksamkeit von der Wahlkrise und den Protesten der Anhänger López Obradors abzulenken (vgl. González 2019, 67f.). Die Bevölkerung soll gegen einen gemeinsamen, keinem der beiden politischen Lager angehörenden Feind vereinen werden, in diesem Fall gegen den zu einem Oberbegriff erhobenen narcotráfico, unter dem man beliebig unterschiedliche Gegner subsumieren kann. Hieraus erklärt sich, dass Calderón den bereits bekannten Terminus ‚Drogenkrieg‘ verwendet, einen Begriff mit einer besonderen Semantik, der einer spezifischen Kommunikationsstrategie folgt. 54 Dies zeigt sich als Calderón am 3. Januar 2007 bei den neu in Michoacán stationierten Truppen auftritt. Der in Mexiko üblicherweise in zivil gekleidete Präsident trägt in diesem Fall eine Militäruniform und bedient sich auch sprachlich eines militärischen Stils:
ist, dass die USA und Mexiko gemeinsam das Problem des ‚Drogenkriegs‘ erschaffen haben, das man nur transnational lösen könne. Die Perspektive ist durchaus bedenkenswert, da viele der Probleme, mit denen Mexiko sich aktuell konfrontiert sieht, nicht rein nationaler Natur sind, wie beispielsweise am NAFTA-Freihandelsabkommen oder am Waffenhandel deutlich wird. – Am Werk von Boullosa und Wallace ist jedoch problematisch, dass sie wiederholt Krankheitsmetaphern verwenden, um Korruption und Gewalt zu beschreiben („metastasizing cancers of corruption and criminality“ ebd., xxv). Trotz eines breiten Überblicks verliert der Text dadurch an der Differenziertheit, der es bedürfte, um die tiefgreifenden Herausforderungen Mexikos zu verstehen. 53 Nicht eindeutig geklärt ist dabei die Rolle der CIA, die mit den mexikanischen Drogenkartellen kollaboriert, um die paramilitärischen Contras in Nicaragua bei ihrem Kampf gegen die linke Sandinista-Regierung zu unterstützen (vgl. González 2019, 143; Scott und Marshall 1991, 40f.). 54 In den USA titelt die New York Times bereits zu Zeiten der Prohibition im Jahre 1925 über den damaligen Präsidenten Mexikos: „Calles Orders Drug War“ (Boullosa und Wallace 2016a, 10).
70 3. Der gesellschaftliche Kontext Mexikos: Grenze, Transgression, Gewalt En este gran esfuerzo nacional, en el que ustedes están en la primera línea de batalla, lo que buscamos es detener el avance de la delincuencia […]. Enviar a los criminales a las cárceles y devolver la tranquilidad a nuestros hogares, calles, plazas, a nuestras escuelas, a los centros de trabajo, a donde viven nuestras familias. […] Estamos decididos a recuperar la seguridad […] de toda región de México que esté amenazada por el crimen organizado. Los padres de familia pueden estar seguros de que haremos lo necesario para que los hijos no sean víctimas de esta delincuencia, del narcotráfico y de su acción criminal. Si seguimos trabajando como hasta ahora, nuestras ciudades y nuestra tierra no quedará en manos de delincuentes […]. Reitero que ésta no es una tarea fácil ni será rápida; que tomará mucho tiempo, implicará enormes recursos de los mexicanos, incluso, la pérdida lamentable de vidas humanas. […] Necesitamos leyes que nos ayuden a perseguir y encarcelar a los delincuentes, no que los salven del castigo que se merecen […]. […] Como su Comandante Supremo yo los instruyo para que continúen sirviendo a México con justicia, con valentía e integridad, para que sigamos firmes en la batalla contra el crimen (Presidencia de la República 2007a).
Dieser Ausschnitt exemplifiziert, wie sehr in Calderóns Ansprache das Wortfeld des Kampfes dominiert („detener el avance“, „preseguir“, „encarcelar“, „castigo“). Das Bild der Frontlinie („primera línea de batalla“) impliziert, dass der Staat mit einer befeindeten Gruppierung um das mexikanische Territorium kämpft. Die häufig erwähnten Feinde werden als Verbrecher bezeichnet („criminales“, „delincuentes“), bleiben anonym und werden lediglich darüber charakterisiert, dass ihre Taten gegen das Gesetz verstoßen („delincuencia“ „narcotráfico“, „acción criminal“). Dadurch vereinheitlicht Calderón die heterogenen Strukturen und Akteure innerhalb des organisierten Verbrechens, was dazu dient, eine klare Grenze zwischen den negativ konnotierten ‚Kriminellen‘ und dem ‚guten Staat‘ zu ziehen. Mit den häufig verwendeten Possessivpronomen und der ersten Person Plural evoziert Calderón eine positiv konnotierte Einheit („nuestros hogares“, „nuestras familias“, „nuestra tierra“). Das hier wahrnehmbare Pathos verstärkt sich, indem Calderón immer wieder Familien in den Mittelpunkt seiner Rede stellt („familias“, „padres de familia“, „hijos“). Die Familie symbolisiert eine idealisierte Form der Gemeinschaft, die auf Liebe und Zusammenhalt beruht, die Kinder stehen für Wachstum und Zukunft. Das verwendete Bild ist vage genug, sodass die Zuhörer ihre eigenen Vorstellungen hineinprojizieren können, zugleich wirkt das Szenario nicht unrealistisch. Umso konkreter wird folglich auch das Gefühl der Bedrohung, da die genannten Familien den ‚Feinden‘ ausgesetzt sind („amenazada“, „víctimas“). Der schützenswerte familiäre Mikrokosmos fungiert in Calderóns Rede als ein pars pro toto der mexikanischen Gesellschaft. Doch die zu erreichenden Ziele des Kampfes werden von Calderón lediglich als Abstrakta definiert („justicia“, „seguridad“, „tranquilidad“). Die intensivierenden Adjektive („gran esfuerzo nacional“, „enormes recursos“) heben die Relevanz hervor und implizieren, dass es sich um eine Herausforderung handelt („no es una tarea fácil“), bei der die Gesellschaft ein großes Opfer bringen müsse („pérdida lamentable de vidas humanas“). Auffällig ist, dass Calderón hier nicht mehr das Bild der Familie benutzt, sondern von den Toten abstrahiert, indem er sie generisch als verlorene Menschenleben bezeichnet. Die Toten, die hier als notwendiger Verlust während der Kampfeshandlungen hingenommen werden, sind bereits im präsidia-
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len Diskurs anonym und entindividualisiert. Mit dieser Härte beendet Calderón seine Rede und betont geradezu militaristisch, dass er den Streitkräften angehört und der oberste Befehlshaber ist („Como su Comandante Supremo yo los instruyo“). Als Oberhaupt der Streitkräfte und Nation führt er den Kampf gegen die kriminellen Gegner an und mahnt dabei vor allem zu Stärke („sigamos firmes en la batalla contra el crimen“). Die Rede Calderóns zeigt, wie der Staat durch seine diskursiv gezogenen Grenzen die Macht darüber behält, zu entscheiden, wer als kriminell gilt und wen er zum Feind der Ordnung erklären kann. Dies fasst Yuri Herrera, dessen Roman Señales que precederán al fin del mundo (2009) zum Korpus der vorliegenden Arbeit gehört, in einem Aufsatz treffend zusammen: [S]ólo hay dos posibilidades: eres un ciudadano intachable o eres un enemigo de la nación. Así, los sospechosos de ser criminales se constituyen, por esa mera sospecha, en un otro radical, ajeno, inhumano; la muerte de ese otro no necesita ser investigada ni sus responsabilidades esclarecidas (Herrera 2012, 131, Hervorhebung i. O.).
Er kritisiert, dass Calderón und die Presse diskursiv das Bild eines auszugrenzenden, ‚kriminellen Anderen‘ erzeugen, dessen Tod nicht beklagenswert ist. 55 Sowohl Herreras Kommentar als auch die Analyse von Calderóns Rede machen deutlich, dass sprachliche Grenzziehungen das soziale Zusammenleben erheblich beeinflussen, wenn sie eingesetzt werden, um unterschiedliche Akteure entdifferenzierend einem Feind-Schema zuzuordnen und die militärische Gewalt gegen sie zu legitimieren. Selbstverständlich ist der Drogenkrieg nicht rein diskursiver Art, vielmehr setzt mit der Operación Conjunta Michoacán eine intensive Militarisierung der mexikanischen Gesellschaft ein, die sich auf unterschiedlichen Ebenen äußert: Das Militär führt bis zum Ende von Calderóns Amtszeit über 200 sog. operaciones de alto impacto contra la delincuencia organizada im Inneren des Landes durch, zusätzlich werden 10.000 Soldaten in die erheblich aufgerüstete Bundespolizei integriert (vgl. Nájar 2012; Presidencia de la República 2007b). Auch auf administrativer Ebene übernehmen Mitglieder des Militärs sukzessive in unterschiedlichen Bundesstaaten leitende Posten (vgl. Morales Rosas und Pérez Ricart 2017, 71). Außerdem initiiert Calderón im Jahre 2007 zusammen mit den USA, die sich nach den Attentaten des 11. Septembers 2001 auf die Sicherung ihrer Außengrenzen fokussieren, die sog. Mérida-Initiative, die bis heute mit variierenden Schwerpunktsetzungen fortbesteht (vgl. Ribando Seelke 2020). Während die mexikanische Regierung sich verpflichtet, gegen Drogenschmuggel, Korruption und die Migration aus mittelamerikanischen Ländern vorzugehen, willigen die USA ein, innerhalb ihres Landes die Drogennachfrage sowie den illegalen Waffenhandel nach Mexiko zu beschränken (vgl. Ribando Seelke und Finklea 2017, 9). Der stellt in Mexiko ein erhebliches Problem dar: Da die Waffengesetze in den USA liberaler als jene in Mexiko sind, kommt ein Großteil der auf dem mexikani55 Diese Aussage Herreras gleicht Butlers (2004) These, dass das Leben mancher Menschen von der Gesellschaft als nicht betrauernswert angesehen werde, vgl. Kapitel 2.1.2 der vorliegenden Arbeit.
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schen Schwarzmarkt verfügbaren Waffen aus den USA, wo sie gekauft und über die Grenze geschmuggelt werden (vgl. Esch 2018, 184f.). Ebenso geschieht es aber, dass die legal an Mexiko gelieferten Waffen bei Menschenrechtsverletzungen des Militärs oder der Drogenkartelle zum Einsatz kommen (vgl. González 2019, 158), wie der Skandal um das deutsche Rüstungsunternehmen Heckler&Koch verdeutlicht. 56 Dieses publik gewordene Beispiel zeigt erstens, dass sich der Waffenhandel mitunter im Rahmen einer manipulierten Legalität bzw. in einer Grauzone vollzieht (vgl. Zachara 2012, 865) und zweitens, dass die oftmals nur national sichtbare Gewalt eine globale Dimension hat. Am Ende von Calderóns Regierungszeit, nach sechs Jahren Drogenkrieg, ist die Zahl der Toten exponentiell angestiegen – die offizielle Datenbank des Instituto Nacional de Estadística y Geografía (INEGI 1997-) zählt 121.613 Tötungsdelikte zwischen 2007 und 2012, die Dunkelziffer liegt vermutlich weitaus höher. 57 Im Jahre 2012 übernimmt Peña Nieto (PRI) das Amt des Präsidenten und führt während seiner Regierungszeit die Sicherheitspolitik Calderóns ohne große Änderungen fort, wobei er sogar das Militärbudget erhöht (vgl. Esch 2018, 187). Allerdings bedient sich Peña Nieto dabei einer neuen Kommunikationsstrategie und versucht anders als Calderón, das Thema bei öffentlichen Ansprachen zu vermeiden, sofern dies möglich ist (vgl. González 2019, 22). Sein Ziel ist es, das internationale Image Mexikos zu verbessern, das seit Beginn der 2000er vor allem aufgrund seiner Gewalt negativ im medialen Fokus steht. 58 Tatsächlich steigt die Gewalt während Peña Nietos Amtszeit weiter erheblich an (vgl. Martínez 2018). 56 Das deutsche Kriegswaffenkontrollgesetz reguliert den Export von Waffen in Kriegsgebiete, indem geplante Transaktionen mit einer sog. Endverbleibserklärung versehen und vom Auswärtigen Amt genehmigt werden müssen. Auf diese Weise soll man Waffenlieferungen in unsichere Regionen zumindest offiziell vermeiden. Um diese Einschränkung zu umgehen, so wird es fünf Mitarbeitern von Heckler&Koch bei einem Gerichtsprozess zwischen Mai 2018 und Februar 2019 vorgeworfen, hätten sie bewusst darauf eingewirkt, dass das mexikanische Verteidigungsministerium bei der Waffenbestellung die als unsicher eingestuften Bundesstaaten nicht erwähnte. Dies ermöglichte es dem Unternehmen, in den Jahren 2006 bis 2009 etwa 4700 G-36Sturmgewehre an Mexiko zu verkaufen, die für Chihuahua, Jalisco, Chiapas und Guerrero bestimmt waren – für eben jene Bundesstaaten, die offiziell nicht für Waffenlieferungen in Frage kommen (vgl. Ott und Richter 2018). Ähnliche Vorwürfe wurden zuletzt gegen den deutschen Waffenproduzenten Sig Sauer laut (vgl. Pieper 2020). 57 Vgl. Sandra Ley (2012), die die Todesraten verschiedener Statistiken und ihre lückenhafte Erfassung untersucht. Während der INEGI beispielsweise alle Tötungsdelikte unabhängig von der Verbindung mit dem Drogenkrieg analysiert, zählt die „Base de homicidios dolosos“ des Sistema Nacional de Seguridad Pública (SNSP) nur die zur Anzeige gebrachten Fälle. Die ebenfalls staatlich geführte „Base de Datos de Presuntos Homicidios Relacionados con la Delincuencia Organizada“ wiederum wird nach 2010 eingestellt. Diese Problematik deutet darauf hin, dass es notwendig ist, eine einheitliche, differenzierte Erfassung der Tötungsdelikte in Mexiko zu etablieren. Einen wichtigen Beitrag dazu leistet seit 2010 die Forschungsgruppe Justice in Mexico der University of San Diego, die halbjährlich Analysen zur Gewaltsituation in Mexiko veröffentlicht. 58 Im Jahre 2012 landen in einem internationalen Ranking der gefährlichsten Städte der Welt – das ein großes populäres Echo hat – unter den ersten zehn Plätzen fünf mexikanische Städte: Ciudad Juárez (Platz 2), Acapulco (4), Torreón (7), Chihuahua (8), Durango (9). Vgl. Berlinger (2012).
3.2 Mexiko im 21. Jahrhundert: Politische Konflikte, steigende Gewalt 73
Das von Calderón verwendete Wortfeld des Krieges, in dem die Grenze als Frontlinie erscheint, wird auch in der Forschung aufgegriffen. 59 Immer wieder betonen die Autoren jedoch, dass diese binäre Einteilung zum Scheitern verurteilt sei, denn Straflosigkeit und Korruption sowie die von Polizisten, Militärs und Kartellen begangenen Menschenrechtsverletzungen, machen in den 2000ern laufend sichtbar, dass sich die Trennung zwischen ‚gut‘ und ‚böse‘ nicht so einfach vollziehen lässt. Stattdessen zeichnet sich eine Fragmentierung auf unterschiedlichen Ebenen ab: Das veraltete Justizsystem Mexikos stellt einen entscheidenden Grund für die hohe Straflosigkeit dar. 60 Bis zu einer Gesetzesänderung im Jahre 2014 können die mitunter erheblichen Menschenrechtsverletzungen durch die Streitkräfte nicht vor zivilen Gerichten verhandelt werden, da sie aufgrund des sog. fuero militar in die Zuständigkeit von Militärgerichten fallen, die keine unabhängige Anlaufstelle für zivile Opfer sind. 61 Hinzu kommt, dass viele mexikanische Gefängnisse mit präventiv verhafteten Angeklagten überfüllt sind, denen oftmals geringe Vergehen vorgeworfen werden (vgl. González 2019, 23). Dennoch kommt es auch hier selten zu Verurteilungen und die wirklich einflussreichen Akteure der Drogenkartelle können sich meist aufgrund der Korruption auf nationaler, bundesstaatlicher und kommunaler Ebene dem Gesetz entziehen, wie die wiederholten Gefängnisausbrüche von Joaquín ‚El Chapo‘ Guzmán in den Jahren 2001 und 2015 exemplifizieren (vgl. Ribando Seelke und Finklea 2017, 1517). 62 Um diese Problemlage zu ändern, wird im Jahre 2008 eine Reform des Justizsystems beschlossen, die bis 2016 umgesetzt werden soll (vgl. González 2019, 23). Die entscheidenden Aspekte dieser Reform sind, dass Mexiko von einem schriftlich geführten Strafverfahren zu einem mündlichen Prozess wechselt, man präventive Inhaftierungen vermeidet und die Unschuldsvermutung gilt (vgl. Alemán 2017). Dennoch gehen Forscher davon aus, dass es noch einige Jahre dauern wird, diese Änderungen konkret zu implementieren (vgl. Cuéllar Vázquez u.a. 2017, 228f.). Vgl. z. B. „blurry battle lines“ (Esch 2018, 181), „The lines between combatants and civilians blurred, disappeared. At times it seemed a war of all against all. […] Territorial borders became as mutable as the boundaries of combatants“ (Boullosa und Wallace 2016a, 97). 60 Der im Jahre 2018 veröffentlichte Índice Global de Impunidad México bezeichnet Mexiko als Land mit der höchsten Straflosigkeit auf dem amerikanischen Kontinent und situiert es global an vierter Stelle. Der Bericht geht zudem davon aus, dass 93% der Straftaten nicht angezeigt werden, was das fehlende Vertrauen der Bevölkerung in staatliche Institutionen zeigt (vgl. Espinosa 2018). 61 Der Artikel 57 des Código de Justicia Militar wird im Jahre 2014 zwar angepasst, um den Empfehlungen der CoIDH zu entsprechen. Die Veränderung reicht jedoch nicht weit genug, da auch die Mitglieder des Militärs einer unabhängigen, zivilen Justiz unterstehen müssten (vgl. Góngora Maas 2015). Auffällig ist, dass es sich um Empfehlungen handelt, die die CoIDH im Fall von Radilla Pacheco gemacht hat, was bedeutet, dass die zeitgenössischen Probleme der Militärjustiz direkt mit den Fällen der guerra sucia verbunden sind, vgl. Fußnote 38 des vorliegenden Kapitels. Eine Justizreform ist dringend erforderlich, damit Menschenrechtsverletzungen zur Anklage gebracht werden können. 62 Aus diesem Grund wird ‚El Chapo‘ im Jahre 2016 an die USA ausgeliefert und dort, in New York, 2019 für schuldig befunden (vgl. Feuer 2019). 59
74 3. Der gesellschaftliche Kontext Mexikos: Grenze, Transgression, Gewalt
Die mexikanische Regierung unter Peña Nieto fokussiert sich darauf, die in der Hierarchie der Drogenkartelle wichtigsten Personen zu verhaften und löst damit immer wieder blutige Nachfolgerkämpfe aus, die es aufgrund der sich laufend verändernden und transnationalen Struktur der Kartelle erschweren, sie militärisch zu bekämpfen (vgl. Illades und Santiago 2014, 89). Außerdem desertieren ständig Soldaten und schließen sich den Drogenkartellen an, wie den Zetas, dem bewaffneten Arm des Golfkartells, bestehend aus ehemaligen Mitgliedern einer militärischen Eliteeinheit namens GAFE – die ursprünglich aufgebaut wurde, um den Drogenhandel zu bekämpfen (vgl. González 2019, 151). Die gut ausgerüsteten und trainierten ehemaligen Soldaten professionalisieren den Kampf um die Vorherrschaft und spalten sich Ende der 2000er vom Golfkartell ab, um ein eigenes Kartell zu bilden (vgl. Boullosa und Wallace 2016a, 100). Zudem unterscheiden sich die bewaffneten Akteure untereinander, anders als von Calderón in seiner Rhetorik der zwei verfeindeten Lager ‚Staat vs. Kriminelle‘ dargestellt und sind aus diesem Grund als heterogene Gruppierungen zu betrachten, wie das Beispiel der sog. autodefensas comunitarias illustriert. 63 Eine weitere Ausdifferenzierung ist, dass die Kartelle inzwischen auch in gesellschaftlich angesehenen Geschäftszweigen aktiv sind, die sich, wie der Immobilienmarkt, der Bausektor oder der Betrieb von Kasinos und Hotels, für die Geldwäsche eignen, da man große Geldsummen unauffällig in Umlauf bringen kann (vgl. Illades und Santiago 2014, 90). Die in einigen Regionen auf Drogenkartelle zurückzuführenden Investitionen in die lokale, vom Staat vernachlässigte Infrastruktur, machen es nachvollziehbar, dass in Teilen der Bevölkerung ein Rückhalt für einzelne Kartelle besteht und sie den staatlichen Strukturen misstrauen. 64 Seit den 2000er Jahren sind die Kartelle neben dem Drogenhandel vermehrt in Entführungen, Menschen- und Organhandel sowie Zwangsprostitution aktiv (vgl. Ribando Seelke und Finklea 2017, 3). Vor allem betrifft diese Gewalt die mittelamerikanischen Migranten, die seit Mitte des 20. Jahrhunderts, als sie vor Bürgerkriegen fliehen, in großen Zahlen die südliche Grenze überqueren (vgl. Dickinson 2017, 68). Im 21. Jahrhundert bilden diese Länder die ärmste und am stärksten von Gewalt betroffene Region Lateinamerikas, was dazu führt, dass auch heutzutage etliche Menschen aus politischen und ökonomischen Zwängen ihre Heimatorte verlassen. 65 Viele der Migranten gelangen auf dem Landweg in In den 2000er Jahren gründen sich in Guerrero und Michoacán unterschiedliche autonome Bürger-Milizen, die sich für den eigenen Schutz bewaffnen, da sie sich vom Staat vernachlässigt und der Gewalt organisierter Kriminalität ausgesetzt fühlen (vgl. Illades und Santiago 2014, 120). Neben Konflikten zwischen unterschiedlichen Milizen kommt es zu Zusammenstößen mit der Bundespolizei und zu Auseinandersetzungen mit den Kartellen, die die autodefensas unterwandern oder verdrängen (vgl. ebd., 120). – Einen Einblick in die heterogene Thematik der autodefensas bieten die Dokumentarfilme von Matthew Heineman, Cartel Land (2015), und Ludovic Bonleux, Guerrero (2017). 64 Exemplarisch zeigt sich dies an den Demonstrationen, die im Bundesstaat Sinaloa stattfinden, nachdem ‚El Chapo‘ verhaftet wird. Die Demonstranten bekunden ihre Sympathie für ihn (vgl. Aristegui Noticias 2014). 65 Die Datenbank der Vereinten Nationen gibt einen Überblick über die Mordraten pro 100.000 Einwohner, dabei gilt eine Gewaltrate ab 30 als ‚hoch‘. Im Jahre 2014 führt Honduras die Liste 63
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die USA, andere lassen sich an der frontera norte z. B. in Tijuana oder Ciudad Juárez nieder und suchen Arbeit (vgl. Erazo Heufelder 2018, 94ff., 186f.). 66 Meist reisen die Menschen heimlich auf den inoffiziell La Bestia genannten Güterzügen. 67 Auf dem strapaziösen Weg kommt es oftmals zu Unfällen und zu bewaffneten Überfällen durch kriminelle Banden oder die Migrationspolizei, bei denen immer wieder Migranten verschleppt und getötet, Frauen und Kinder in die Prostitution gezwungen werden (vgl. Dickinson 2017, 55-57). Da sich die Migranten meist unerlaubt im Land aufhalten und ohne Dokumente reisen, sind sie besonders wehrlos und haben keinen Zugang zu institutionellem Schutz (vgl. Marengo Camacho 2015, 15f.). Aktuell wird von etwa 70.000 vermissten mittelamerikanischen und mexikanischen Migranten ausgegangen (Hernández Castillo 2019). Die Presse erwähnt selten das Leid, das den Migranten auf ihrer Reise in den Norden widerfährt, und es geht nur marginal in die Statistiken ein. Ihre besondere Situation lässt das Thema der Gewalt zu einer Frage der Sichtbarkeit werden – treffend bezeichnet Amnesty International die Migranten in einem Bericht aus dem Jahre 2010 als „víctimas invisibles“ (vgl. Villafuerte Solís 2017, 205f.). Mit einem Rückgriff auf Judith Butler kann man sagen, dass die Migranten sich außerhalb der frames befinden, da die Mehrheitsgesellschaft ihr Leben nicht als betrauernswert erachtet (vgl. Butler 2004, 32). Erst den medial aufmerksam verfolgten sog. Flüchtlingskarawanen gelingt es, die Grenzen der Sichtbarkeit zu überschreiten und ihr Leid öffentlich zu zeigen. 68 Ähnliches geschieht, als im Jahre 2010 ein Massaker an 72 Migranten in Tamaulipas, nahe der frontera norte, bekannt wird, an (66,8), gefolgt von El Salvador (62,4) und Guatemala (31,4). 2016 steht El Salvador an erster Stelle (82,8), gefolgt von Honduras (56,5) und Guatemala (27,2). Im Vergleich dazu liegt die Rate in Mexiko 2014 deutlich niedriger bei 16,1 und 2016 bei 19,2 (vgl. United Nations Office on Drugs and Crime 2017). 66 Die frontera sur und die frontera norte sind miteinander verbunden, wenn es um das Thema der Migration und Sicherheitspolitik geht. Die USA betrachten die frontera sur Mexikos als Sicherheitsrisiko für das eigene Land (vgl. Marengo Camacho 2015, 15). Dementsprechend verlangte die Mérida-Initiative Mexiko dazu, Migranten abzuwehren und die Südgrenze stärker zu sichern (Ribando Seelke und Finklea 2017, 21). Daran anschließend gründet Mexiko im Jahre 2014 das Programa Frontera Sur, das auf eine stärkere Kontrolle an der Südgrenze Mexikos und eine vermehrte Abschiebung der mittelamerikanischen Migranten setzt. Menschenrechtsorganisationen und Forschungsinstitute beklagen, dass das harte Vorgehen gegen Migranten die Menschenrechte vernachlässigt (vgl. Castañeda 2016; Pedroza 2017, 4). Auch der aktuelle Präsident López Obrador setzt verstärkt die Guardia Nacional an der frontera sur ein (vgl. Ferri 2020). 67 Unterschiedliche internationale Spielfilme thematisieren in den 2000ern das Schicksal der Migranten auf ihrer Reise in den Norden, z. B. Cary Fukunagas Sin nombre (2009) sowie Diego Quemada-Díez’ La jaula de oro (2013). Fukunagas Film wird auf dem Sundance Film Festival ausgezeichnet und Quemada-Díez erhält einen Preis von Cannes, beide Filme werden also international rezipiert. Einen low-budget, dokumentarischen Einblick in die Hoffnungen und Ängste der Migranten bietet Tin Dirdamal mit De Nadie (2005). Auffällig ist, dass die Filmtitel die Rechtlosigkeit der Migranten hervorheben, die die Mehrheitsgesellschaft als anonym („sin nombre“) und nicht zugehörig („de nadie“) erachtet. 68 Auch die Angehörigen vermisster Migranten vereinen sich in selbstorganisierten Netzwerken wie den Madres Centroamericanas en Busca de Migrantes Desaparecidos. In regelmäßigen Demonstrationen suchen sie nach ihren Angehörigen und machen das Thema präsent (vgl. Illades und Santiago 2014, 114).
76 3. Der gesellschaftliche Kontext Mexikos: Grenze, Transgression, Gewalt
wodurch Mexiko breit über die Gewalt gegen schutzlose mittelamerikanische Migranten diskutiert (vgl. Boullosa und Wallace 2016a, 101; García Bernal und Guillermoprieto 2011). 3.2.2 Manifestationen der Gewalt: „Violencia sin límites“ Mit dem Anstieg der sichtbaren Gewalt geht einher, dass verschiedene Zeitungen und Nachrichtensendungen die beschriebene Gewalt als eine „violencia sin límites“ zu charakterisieren versuchen. 69 Die hier attestierte Grenzenlosigkeit kann sich auf verschiedene Aspekte beziehen, etwa auf die territoriale Ausbreitung der Gewalt, auf die exponentiell ansteigenden Gewaltraten sowie auf die vielen am Drogenhandel unbeteiligten Todesopfer, die belegen, dass die Gewalt nicht auf die kriminellen Milieus beschränkt ist, sondern die gesamte Gesellschaft betrifft. 70 Im Folgenden soll ein anderer Aspekt beleuchtet werden, der diese Transgressivität der Gewalt ausmacht: Die Täter instrumentalisieren die vollkommene Zerstörung ihrer Opfer auf problematische Weise, um in anderen Menschen Angst auszulösen. Damit beginnt in den frühen 2000er Jahren das Arellano-Félix-Kartell, das die in ein Tuch gewickelten Körper der von ihnen Ermordeten, encobijados, im öffentlichen Raum deponiert (vgl. González 2019, 149). Mit den steigenden Gewaltraten in den 2010er Jahren nehmen die Sichtbarkeit der Leichen in der Öffentlichkeit und die damit zur Schau gestellte Brutalität zu. Die Kartelle versehen die Leichen mit Botschaften, die begründen sollen, warum sie die Menschen hingerichtet haben (vgl. Reguillo 2012, 34). Immer häufiger werden die Körper der Opfer verstümmelt oder komplett zerstückelt. Die Gewalt, die darauf abzielt, das Gegenüber zu vernichten, kann man mit Jan Philipp Reemtsma als ‚autotelische Gewalt‘ bezeichnen. 71 Sie ist eine „Demonstration totaler Macht“ (Reemtsma 2016a, 51), ein transgressiver Akt, mit dem der Täter sich performativ außerhalb der Ordnung positioniert. 72 Wie jedoch im vorherigen Kapitel gezeigt wurde, löst eine Transgression die Ordnung nicht auf, sondern sie bezieht sich auf diese. Dementsprechend ist die Destruktion des Gegenübers immer auch ein problematischer kommunikativer Akt, der sich als Drohung an einen Dritten innerhalb
Vgl. z. B. den Aufsatz von Illades (2015), „La violencia sin límite“. Ein Beispiel ist das Massaker an 15 Studenten in Ciudad Juárez im Jahre 2010. Die Regierung bezeichnet die Opfer zunächst als Kriminelle, muss dann aber eingestehen, dass es sich um Unschuldige handelt (vgl. Villalpando 2010). 71 Wenn es eine Gelegenheit dazu gebe, finden sich überall Menschen, die autotelische Gewalt ausüben. Legitimiert werde autotelische Gewalt innerhalb der Ordnung, indem man sie z. B. zeitlich oder räumlich begrenze oder als Gewalt etikettiere, die noch schlimmere Gewalt verhindert. So erklärt sich der Aufwand Calderóns, die militärischen Maßnahmen der guerra contra el narco zu rechtfertigen. Auf diese Weise kann die Gewalt in den Normalfall integriert werden, der sich Reemtsma zufolge auch in Krisensituationen entwickelt. Vgl. Reemtsma (2016a, 37f., 41f., 48). 72 Neben dem demonstrativen Austritt aus der vorherigen Ordnung, ist sie eine „Selbstermächtigung zur Grenzenlosigkeit. […] [D]ieses Grenzenlose erweist sich dann, wenn es auf Kosten des Nebenmenschen geht, eben als grenzenlos – es muss rücksichtslos und zerstörerisch sein, sonst wäre es nicht, was es ist“ (Reemtsma 2016b, 19). 69 70
3.2 Mexiko im 21. Jahrhundert: Politische Konflikte, steigende Gewalt 77
der Ordnung wendet (vgl. ebd., 49f.). 73 Der zerstörte Körper des Opfers verwandelt sich dabei in ein Zeichen. Im Falle Mexikos demonstrieren die Täter, dass sie in der Lage sind, beliebig oft solche Gewalt auszuüben, ohne durch staatliche Institutionen dafür belangt zu werden. Die im öffentlichen Raum zur Schau gestellte Leiche erhält den Charakter einer gegen die gesamte Bevölkerung gerichteten Drohung (vgl. Illades und Santiago 2014, 88). Die Medien verstärken diesen Effekt, da die Bilder ortsunabhängig kursieren können. 74 Zudem wird diskutiert, ob die Mehrheitsgesellschaft mit ihrem Konsum der narcocultura, zu der auch die narcocorridos gehören, die Gewalt moralisch legitimiere, da sich so die Grenzen zwischen Populärkultur und Kriminalität verwischen (vgl. Maihold und Sauter de Maihold 2012). 75 Trotz der angesichts einzelner Fälle geäußerten öffentlichen Empörung, 76 üben die unterschiedlichen bewaffneten Akteure weiterhin Gewalt aus. 77 Eine Grenzverletzung, die jedoch in Mexiko und international Aufmerksamkeit erlangt, ist im Jahre 2014 die Ermordung von 43 Lehramtsstudenten der Escuela Normal Raúl Isidro Burgos in Ayotzinapa, Guerrero. 78 Als sie in der Nacht vom 26. auf den 27. September im Begriff sind, in der nahegelegenen Stadt Iguala Reisebusse zu besetzen, die sie für ihre geplante Fahrt zu einer Demonstration nach Mexiko-Stadt nutzen wollen, greift die Policía Municipal die Studenten an. An diesem Abend werden 43 Studenten verschleppt, sechs Menschen erschossen und viele weitere
Dieses Verhalten kann man auch als ‚Terror‘ bezeichnen (vgl. Van den Heuvel 1999). Indem die Kartelle die narcomantas teilweise simultan an weit entfernten oder schwer erreichbaren Orten platzieren, beanspruchen die Verfasser offensiv Raum für sich und suggerieren eine Präsenz, die sie in den klassischen Medien nicht erlangen. Die Regierung versucht, die Verbreitung der narcomantas in der Presse zu unterbinden. Während die narcomantas einerseits der Einschüchterung dienen, bemühen sich die Verfasser andererseits auch darum, in der Bevölkerung Sympathie zu erwecken und politische Ereignisse zu deuten (vgl. Maihold 2015, 213-215). Dies zeigt sich exemplarisch während der Covid19-Pandemie 2020, als unterschiedliche Kartelle Nahrungsmittel an die ärmsten Bevölkerungsteile Mexikos verteilen und dies propagandistisch in den sozialen Medien inszenieren (vgl. Corresponsales Proceso 2020). 75 In unterschiedlichen Bundesstaaten gibt es Initiativen, die narcocorridos zu verbieten (vgl. Llano 2016). Heutzutage stellt sich die Frage, inwieweit die sozialen Medien und NetflixProduktionen wie El Chapo (Contreras und Cravioto 2017) oder Narcos México (Brancato u.a. 2018) eine transnationale Verbreitung der narcocultura begünstigen. 76 Mexiko verfügt über eine breite Protestkultur, die sich öffentlich gegen die Gewalt positioniert. Die Proteste erreichen in den Jahren 2008, 2010, 2011 und 2014 jeweils einen Höhepunkt, in der Folge von medial rezipierten Vorfällen. Die Bevölkerung zeigt sich angesichts der Gewaltraten besorgt und die Ereignisse gehen ins kulturelle Gedächtnis ein, doch die Gewalt nimmt nicht ab (vgl. Ixtacuy Figueroa 2017, 150f.). 77 Auch Soldaten inszenieren ihre Gewalttaten: Nachdem 2009 der lang gesuchte Arturo Beltrán Leyva, „Jefe de Jefes“, bei einer Militäroffensive getötet wird, kursiert ein Foto seiner von Kugeln durchsiebten Leiche, auf der blutgetränkte Geldscheine ausgebreitet sind (vgl. Reguillo 2012, 34f.). 78 Die Schulen der normales rurales, in denen die Lehrer der Landschulen ausgebildet werden, haben ihren Ursprung in der mexikanischen Revolution. Während sie postrevolutionär vorrangig als Instrument verstanden werden, um die staatliche Ideologie zu verbreiten, entwickeln sich diese Schulen schon früh zu Orten der Infragestellung offizieller Politik (vgl. Padilla 2018, 53f.). 73 74
78 3. Der gesellschaftliche Kontext Mexikos: Grenze, Transgression, Gewalt
verletzt. 79 Zunächst ermittelt der Staat Guerrero im Fall, doch als die nationale und internationale Aufmerksamkeit steigt, übernimmt die Staatsanwaltschaft Procudaría General de la República (PGR). Die von der PGR im Januar 2015 präsentierten Untersuchungsergebnisse besagen, dass die Polizei die verschwundenen Studenten an das Kartell Guerreros Unidos übergeben hat, die sie ermordet, ihre Körper auf einer Müllhalde verbrannt und die Reste in Plastiktüten in einen Fluss geworfen hätten (vgl. ONU-DH 2018, 6). 80 Da jedoch nur die DNA-Spuren eines Studenten nachgewiesen werden, zweifeln Menschenrechtsaktivisten und internationale Beobachter die Ergebnisse an und die Comisión Interamericana de Derechos Humanos (CIDH) bestimmt eine unabhängige Expertenkommission, Grupo Interdisciplinario de Expertos Independientes (GIEI), die von März 2015 bis April 2016 am Fall arbeitet. 81 In den beiden bis dato veröffentlichten Berichten werden Menschenrechtsverletzungen und inhaltliche Unregelmäßigkeiten bei den staatlichen Ermittlungen festgestellt. 82 Die GIEI vermutet, dass sich in einem der Busse, die die Studenten entführten, Heroin oder Geld befand, das in die USA geschmuggelt werden sollte (vgl. GIEI 2015a, 324f.). Damit steht die brutale Reaktion der Polizei, Militärs und Guerreros Unidos im Kontext des organisierten Verbrechens. Bis heute ist der Fall nicht endgültig geklärt. 83 Mit jedem auf der Suche nach den sterblichen Überresten der Studenten gefundenen Massengrab, in dem sich dann aber keine Spur der vermissten normalistas findet, offenbart sich, dass Ayotzinapa kein Einzelfall ist. Als Reaktion kommt es in Mexiko und auch international zu Demonstrationen und Solidaritätsbekundungen (Ixtacuy Figueroa 2017, 147). Der Fall Ayotzinapa steht emblematisch für Korruption, Gewalt und die Missachtung der Menschenrechte, die von Drogenkartellen, staatlichen und militärischen Akteuren gleichermaßen ausgeübt werden – 79 Vgl. Oficina del Alto Comisionado de las Naciones Unidas para los Derechos Humanos (2018, 6). Der Bericht wirft der PGR, der Policía Federal und der Secretaría de Marina vor, während der Investigationen im Fall Ayotzinapa Menschenrechtsverletzungen begangen zu haben, d. h. Menschen willkürlich verhaftet und gefoltert zu haben, um Geständnisse zu erzwingen (vgl. ebd., 60). 80 Der damalige Verantwortliche der PGR präsentiert die Ergebnisse als „verdad histórica“ (Hernández 2017, 18). Inzwischen haben Experten jedoch herausgefunden, dass es faktisch nicht möglich war, die Studenten in kurzer Zeit und mit dem angegebenen Material auf der Müllhalde rückstandslos zu verbrennen. Die offizielle Version der PGR ist also vermutlich unzutreffend, stellt die unabhängige Expertenkommission fest (vgl. Grupo Interdisciplinario de Expertos Independientes 2015b, 25f.). Es zeigt sich, dass die ‚Wahrheit‘ in diesem Fall umstritten ist, womit sich Foucaults (1976, 92) These bestätigt, die Wahrheit sei immer an eine Machtoperation gebunden und werde diskursiv produziert, vgl. Kapitel 2.2.2 der vorliegenden Arbeit. 81 Vgl. Organización de Estados Americanos (2016); Grupo Interdisciplinario de Expertos Independientes (2015a); Grupo Interdisciplinario de Expertos Independientes (2016). 82 Als entscheidende Inkongruenz in den staatlichen Ermittlungen beschreibt der GIEI, dass ein wichtiges Beweismittel, ein fünfter Bus, in den Ermittlungen der PGR verschwiegen wird, obwohl überlebende Studenten davon berichten (vgl. GIEI 2015a, 321-325). 83 Bemüht darum, den Fall Ayotzinapa aufzuarbeiten, gründet die Regierung López Obradors im Juni 2019 eine Fiscalía Especial, und die Angehörigenverbände nehmen dies positiv auf (vgl. Dávila 2019). Im Juli 2020 werden Anführer der Guerreros Unidos verhaftet, was neue Hinweise im Fall Ayotzinapa verspricht (vgl. Dávila 2020); dennoch bleibt abzuwarten, inwiefern dies zu einer Aufklärung des vielschichtigen Falls beiträgt.
3.2 Mexiko im 21. Jahrhundert: Politische Konflikte, steigende Gewalt 79
die teilweise kooperieren. 84 „[C]ualquiera de nosotros puede ser uno de los 43, también de los detenidos arbitrariamente y torturados de manera infame“ (Hernández 2017, 355). Wie dieses Zitat der Journalistin Anabel Hernández illustriert, hat die Zahl 43 einen Symbolcharakter und fungiert bis heute als Platzhalter für die Zehntausenden von desaparecidos, die man in Mexiko beklagt. Obwohl es scheint, dass der Fall von Ayotzinapa einen Höhepunkt markiert, steigt in den folgenden Jahren die Gewalt weiter an. 2018 und 2019 verzeichnet das Land die bislang höchsten Gewaltraten. 85 Der aktuelle Stand im Januar 2020 liegt laut offiziellen Angaben bei über 61.000 Vermissten. 86 Doch es ist schwierig, die exakten Zahlen zu erfassen, da Mexiko lange Zeit über keine nationale Datenbank verfügt, in der alle Fälle registriert werden können. Erst im Oktober 2018 wird die Datenbank des Sistema Nacional de Búsqueda de Personas eingeweiht, die allerdings noch lückenhaft ist, da sich bislang nur wenige Bundesstaaten daran beteiligen und geringe Mittel zur Verfügung stehen (vgl. CNDH México 2018a; Daen 2018a). Es handelt sich also um einen Prozess, der in Mexiko längst nicht abgeschlossen ist. Aufgrund des oftmals fehlenden staatlichen Engagements spielen in Mexiko Angehörigenverbände und Nichtregierungsorganisationen eine wichtige Rolle bei der Suche nach Vermissten und der Öffentlichkeitsarbeit, um den desaparecidos eine Sichtbarkeit zu verschaffen und die Menschenrechte zu reklamieren. 87 Auch im Fall der sog. feminicidios führt die Präsenz der Angehörigen dazu, dass das Thema seit den 1990er Jahren vermehrt in den nationalen und internationalen Fokus gelangt (Fregoso und Bejarano 2010, 27f.). Die mexikanische Feministin und Politikerin Marcela Lagarde entwickelt den spanischen Terminus feminicidio, um ein Hassverbrechen gegen Frauen aufgrund ihres Geschlechts zu beschreiben. 88 Dabei sind drei Aspekte zentral: Erstens soll der feminicidio nicht lediglich das Geschlecht des Opfers, im Sinne von sex, definieren, sondern auf das sozial konstruierte gender verweisen, wodurch die zugrundeliegenden Machtstrukturen nachvollziehbar werden. 89 Zweitens ist der feminicidio der sichtbare Höhepunkt einer gesellschaftlich normalisierten Gewalt gegen Frauen. Dabei stelle er, ähnlich 84 Der Bürgermeister von Iguala, José Luis Abarca und seine Ehefrau befinden sich seit Ende 2014 in Haft, da ihnen Verbindungen zum organisierten Verbrechen nachgewiesen wurden (vgl. Dávila 2018). Der Bericht des GIEI erwähnt, dass unter Abarca schon vor den 43 Studenten regelmäßig Menschen verschleppt werden (vgl. GIEI 2015a, 375). Dies stellt keinen Einzelfall dar, vielmehr wird immer wieder bekannt, dass Lokalpolitiker oder Gouverneure unterschiedlicher Bundesstaaten mit Kartellen kooperieren (vgl. González 2019, 154). 85 Im Jahre 2019 wird mit offiziell 35.588 Todesopfern die bislang höchste Gewaltrate gemessen, die den Höchststand von 2018 übersteigt (vgl. Ángel 2020; vgl. auch Ángel 2019). 86 In einer offiziellen Ansprache verkündet die Regierung im Januar 2020, dass 61.635 Personen als vermisst gelten (vgl. Secretaría de Gobernación 2020). 87 Vgl. Movimiento por nuestros desaparecidos en México (o. J.). 88 Die Definition orientiert sich am englischen femicide von Diana Russell (vgl. Lagarde 2006a, 12f.; Lagarde 2006b). 89 Vgl. hierzu Judith Butler (2008, 9f.), die mit dem Konzept gender die Einschreibungen des Diskurses in den Körper fasst, die auch unsere Wahrnehmung des vermeintlich natürlichen Geschlechts (sex) prägen. Demzufolge ist der Körper immer schon diskursiv bestimmt.
80 3. Der gesellschaftliche Kontext Mexikos: Grenze, Transgression, Gewalt
wie homo- und transphobe Gewalt, den Versuch dar, das patriarchale, über die Sozialisation weitergegebene Geschlechterverhältnis aufrechtzuerhalten (Lagarde 2006b, 16, 27). Drittens schließlich umfasst die Definition die institutionelle Gewalt, die nicht nur das Opfer sondern auch die Angehörigen trifft, die vom Staat nicht aufklärend unterstützt werden. Lagarde zufolge vernachlässigt der Staat damit seine Verantwortung, die Bürger zu schützen, wodurch der feminicidio den Status des „crimen de estado“ erlangt (Lagarde 2006a, 12). In Lateinamerika zeigt sich während der sog. guerras sucias, dass feminicidios als Waffe verwendet werden (vgl. Fregoso und Bejarano 2010, 14). Die institutionelle und personale Kontinuität nach Ende der autoritären Regimes begünstigt es, dass sexualisierte Gewalt als Praktik fortbesteht, die Polizei, Militär und Paramilitärs gleichermaßen ausüben (vgl. ebd.). Im konkreten Fall Mexikos ist neben den häufigen feminicidios vor allem auffällig, dass sie meist straflos bleiben. Die feminicidios sind Teil einer staatlichen Politik, die nicht allen Bevölkerungsgruppen gleichermaßen einen Zugang zu Menschenrechten und Gerechtigkeit gewährt. Obgleich feminicidios in allen sozialen Schichten, sowohl an den Nord- und Südgrenzen Mexikos als auch im Zentrum vorkommen, werden sie oft von anderen Aspekten sozialer und politischer Marginalisierung begleitet (vgl. Lagarde 2006b, 20-23). Es sind vor allem Frauen betroffen, die in instabilen Regionen leben, in denen die Gewaltraten allgemein höher sind und es einen geringen institutionellem Schutz gibt (vgl. ebd., 23). Das wird innerhalb der mexikanischen und der internationalen Debatte am Beispiel von Ciudad Juárez 90 illustriert, wo man seit Anfang der 1990er Jahre vermehrte Fälle von feminicidios registriert. 91 Sie stehen in einem Zusammenhang mit der seit dem NAFTA-Abkommen stark gewachsenen maquiladora-Industrie, denn viele der Frauen, die einem feminicidio zum Opfer fallen, haben dort gearbeitet. 92 Ihre Leichen findet man meist mit starken Gewaltspuren in verlassenen Landstrichen (vgl. González Rodríguez 2002, 14f.). Im November 2001 stößt ein Mann zufällig in einem Baumwollfeld in der 90 Zahlreiche international rezipierte Dokumentationen (z. B. Portillo 2001: Señorita extraviada), Spielfilme (z. B. Nava 2006: Bordertown) und literarische Texte (z. B. Bolaño 2004: 2666) thematisieren die feminicidios der Grenzregion und tragen zu deren kollektivem Bild als Gewaltraum bei. Dennoch gilt es, die feminicidios als nationales bzw. transnationales Phänomen zu betrachten (vgl. Alvazzi del Frate 2011, 120f.). 91 Im Jahre 1993 wird der erste Fall offiziell registriert, inzwischen zählt die Metropolregion von Ciudad Juárez über 2.000 feminicidios (vgl. Martínez Prado 2020). Während die Debatte anfangs um einen vermeintlichen Serienmörder kreist, stellt sich auch nach der Verhaftung von Verdächtigen heraus, dass weiterhin Frauen ermordet werden und es sich um ein gesellschaftliches Problem handelt (vgl. González Rodríguez 2002, 18). In seinem Buch widmet sich González Rodríguez den Geschichten der Opfer und analysiert die Diskurse der Medien und staatlichen Institutionen rund um die feminicidios von Ciudad Juárez. 92 Ähnlich wie andere Städte der frontera norte zieht Ciudad Juárez Migranten aus anderen Regionen Mexikos oder aus Mittelamerika an, die in der Grenzstadt Arbeit suchen (vgl. Canales 2003, 104f.). Allerdings wird nicht nennenswert in die zivile Infrastruktur investiert (vgl. Monárrez Fragoso 2009). Lagarde zufolge treten feminicidios vermehrt in sozial marginalierten Regionen auf, in denen es wenig institutionellen Schutz gibt. Hinzu komme eine sich verändernde Rolle der Frau, denn maquiladoras stellen bevorzugt Frauen aus niedrigen Bildungsschichten und Migrantinnen ein (vgl. Berndt 2004, 134, 261f.).
3.2 Mexiko im 21. Jahrhundert: Politische Konflikte, steigende Gewalt 81
Nähe einer maquiladora in Ciudad Juárez auf die Leiche einer jungen, misshandelten Frau, und in den folgenden Tagen werden in dieser Gegend sieben weitere Frauenleichen geborgen (vgl. Pérez 2009, 1f.). 93 Von 2002 bis 2009 verhandelt die Corte Interamericana de Derechos Humanos den als Campo Algodonero bekannten Fall und erklärt den mexikanischen Staat des „incumplimiento […] en el deber de investigación y a sus deberes en torno al acceso a la justicia“ schuldig (Medina Rosas 2011, 9). Der Fall wird international beachtet und stellt insofern ein Novum dar, als hier erstmals ein internationaler Gerichtshof den Terminus feminicidio verwendet (Fregoso und Bejarano 2010, 6). Ebenso neu ist, dass ein unabhängiges Gremium den mexikanischen Staat dafür verantwortlich macht, Frauen strukturell und gesellschaftlich zu vernachlässigen. Da die Empfehlungen des Interamerikanischen Gerichtshofs nicht immer vollständig beachtet werden, obwohl die Staaten sich dazu verpflichten, 94 ist es dem Engagement der zivilgesellschaftlichen Institutionen zu verdanken, dass Mexiko im Jahre 2007 das Ley General de Acceso de las Mujeres a una Vida Libre de Violencia verabschiedet, das erstmals eine Zusammenarbeit der Institutionen auf nationaler, bundesstaatlicher und kommunaler Ebene beschließt, um die Gewalt gegen Frauen zu verhindern. 95 Es definiert die violencia feminicida und sieht für den Fall, dass in einer bestimmten Region die Menschenrechte von Frauen gefährdet seien, vor, den Status Alerta de Violencia de Género auszurufen (vgl. Cámara de Diputados 2015). Darüber hinaus klassifizieren auch die Bundesstaaten zwischen 2010 und 2012 den feminicidio als Straftat, die sie jedoch in der Praxis aufgrund uneinheitlicher, nicht objektiv nachweisbarer Merkmale oft gar nicht als solche ermitteln (vgl. Iribarne 2015, 219f.). Laut Observatorio Ciudadano Nacional del Feminicidio (OCNF 2012) verzichten außerdem einzelne Bundesstaaten darauf, die Alerta auszurufen. Bedauerlicher Weise sind die Statistiken lückenhaft, da nicht alle Bundesstaaten ihre Daten bereitstellen, wodurch die genaue Anzahl von feminicidios nicht ermittelt werden kann (OCNF 2018, 9, 215). Obwohl das Thema also präsenter wird und Mexiko seine Gesetze verändert, sind die Umsetzung dieser Gesetze sowie die Zusammenarbeit der Institutionen häufig mangelhaft. Auch die Situation für Journalisten hat sich in den letzten Jahrzehnten in Mexiko erheblich verschlechtert (vgl. Boullosa und Wallace 2016a, 127). Im Jahre 2004 zählt das Land fünf ermordete Journalisten und nimmt damit in Lateinamerika die Spitzenposition ein. 96 Im Jahre 2012 tritt das Ley para la Protección de Personas Defensoras de Derechos Humanos y Periodistas in Kraft, das es Journalisten und Menschenrechtsaktivisten ermöglichen soll, Hilfe in Form von Überwachungskameras oder Sicherheitspersonal zu beantragen (vgl. Concha 2018). AllerVgl. in Kapitel 4.4 der vorliegenden Arbeit die Analyse des Romans Una isla sin mar (Silva Márquez 2009), der den hier beschriebenen Fall aufgreift. 94 Vgl. Corte Interamericana de Derechos Humanos (2018). 95 Vgl. Comisión Nacional para Prevenir y Erradicar la Violencia Contra las Mujeres (2017). Zudem wurde 2012 dem Código Penal Federal der Artikel 325 hinzugefügt, der das Verbrechen des feminicidio definiert und auch für Beamten eine Strafe vorsieht, die Ermittlungen behindern (vgl. Cámara de Diputados 2018a, Art. 325, S. 96f.) 96 Vgl. Comisión Interamericana de Derechos Humanos (2008, 46f.). 93
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dings stehen weder 2017 noch 2018 genügend finanzielle Mittel zur Verfügung, wodurch einige Maßnahmen eingestellt oder manche Anträge auf Hilfsleistungen sogar komplett abgelehnt werden müssen (vgl. ebd.). Noch erschreckender ist es, dass einige der Journalisten diese Hilfe in Anspruch nehmen, aber kurze Zeit später getötet werden – womit fraglich ist, ob der staatliche Schutz nützt. Hinzu kommt, dass die meisten Fälle ermordeter Journalisten und Menschenrechtsaktivisten unaufgeklärt bleiben (vgl. Daen 2018b). Auch hier kümmert sich der Staat nicht ausreichend darum, Gewalttaten zu verhindern oder zu ahnden, wodurch die Straflosigkeit fortbesteht (vgl. CNDH 2018b). Angesichts dieser Situation bezeichnen die Reporter ohne Grenzen Mexiko in ihren Jahresberichten 2016 und 2017 als eines der gefährlichsten Länder für Journalisten und die CNDH registriert von 2000 bis 2017 insgesamt 130 ermordete Journalisten. 97 Es ist also nicht rein metaphorischer Art, wenn in der Presse davon gesprochen wird, dass sich Journalisten in Mexiko in der „Schusslinie“ befänden (vgl. Henkel 2012). 98 Dies zeigt sich im Mai 2017 als Javier Valdez Cárdenas vor seinem Redaktionsgebäude der Ríodoce in Culiacán erschossen wird (vgl. Redacción Ríodoce 2017). Sein umfassendes Werk widmet sich dem Phänomen narco und er galt als einer der Experten auf dem Gebiet. 99 Die Anschläge gegen Frauen, Menschenrechtsaktivisten und Journalisten werden vorrangig an Orten verübt, die ohnehin schon von einer höheren Gewaltrate geprägt sind, wo das organisierte Verbrechen präsent ist und eine hohe Straflosigkeit vorherrscht. Das Beispiel der 43 Studenten (Guerrero) und des Journalisten Valdez (Sinaloa) macht deutlich, dass nicht nur die unmittelbaren nördlichen Grenzstaaten betroffen sind, sondern oftmals Bundesstaaten, die bereits im historischen Verlauf als ‚peripher‘ erachtet wurden. Dennoch darf dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch im Zentrum, in Mexiko-Stadt und dem Estado de México, immer häufiger Fälle getöteter Frauen und Journalisten verzeichnet werden (vgl. Padgett 2011, 14), wie jüngst die Ermordung einer Studentin auf dem Campus der Universidad Nacional Autónoma de México (UNAM) illustriert. 100 97 Vgl. die „Jahresbilanz der Pressefreiheit. Getötete, inhaftierte, entführte oder verschwundene Journalisten 2017“ von Reporter ohne Grenzen (2017). Im jährlichen Ranking nimmt Mexiko zuletzt den Rang 143 von 180 ein (vgl. Reporter ohne Grenzen 2020). 2004 lag Mexiko noch auf Platz 96 von 167 (vgl. Reporter ohne Grenzen 2004). Hinzu kommen verschwundene Journalisten, allerdings zählt die CNDH hier erst ab dem Jahr 2005 bis 2017 insgesamt 20 Journalisten. Die Zählung ermordeter Menschenrechtsaktivisten beginnt sogar erst 2006 (vgl. Comisión Nacional de Derechos Humanos México 2018b). Es ist also schwierig, einen verlässlichen Überblick zu erhalten. 98 Vgl. auch: „México: Medios en línea de fuego“ (Godoy 2010). 99 Das Werk Valdez’ siedelt sich an der Schwelle zwischen Fiktionalität und Faktualität an und kann dem Genre der crónica zugeordnet werden. Seine Texte widmen sich z. B. den Herausforderungen der Journalisten, die sich mit dem Thema narco befassen (vgl. Valdez Cárdenas 2016). 100 Im Mai 2017 wird die Leiche von Lesvy Berlín auf dem Campus der UNAM gefunden. Es dauert ein Jahr, bis das Gericht den Fall aufgrund öffentlichen Drucks als feminicidio anstatt wie zuvor als Selbstmord klassifiziert (vgl. Roa 2018). Als das Gericht den Fall nach über zwei Jahren neu verhandelt, verurteilt es im Oktober 2019 den Ex-Freund des Opfers wegen Mordes (vgl. López 2019). Dieses Beispiel zeigt, dass auch das reformierte Strafsystem nicht problemlos
3.2 Mexiko im 21. Jahrhundert: Politische Konflikte, steigende Gewalt 83
Die Grenzen zwischen Zentrum und Peripherie, mit denen zentralistische Diskurse versuchen, die Gewalt an einen anderen Ort zu verbannen und sich von ihr abzugrenzen, sind im Falle Mexikos nicht mehr aufrecht zu erhalten. 101 Spätestens hier zeigt sich deutlich, dass die Gewalt ein dringendes, die gesamte Gesellschaft betreffendes Problem ist. Für die Romananalyse der vorliegenden Arbeit stellt sich zudem die Frage, inwiefern der fiktionale Text einen geschützten Raum darstellt, um die Gewalt zu verhandeln, zu der sich selbst renommierte Journalisten aktuell nicht gefahrlos äußern können. 3.2.3 Ausblick: „Cortinas de desarrollo“ Es ist vermutlich diesen gesellschaftspolitischen und wirtschaftlichen Entwicklungen geschuldet, dass die Wahlen im Jahre 2018 als Möglichkeit zu einer dringend erforderlichen Veränderung wahrgenommen werden. Die erhofft sich ein Großteil der Bevölkerung durch Andrés Manuel López Obrador und dessen neue Partei Movimiento de Regeneración Nacional (MORENA) in einem Zusammenschluss Linker und Christlich-Konservativer, Juntos haremos historia. Die Koalition erreicht sowohl im Senat als auch im Abgeordnetenhaus die absolute Mehrheit und kann daher Reformen und Gesetzesinitiativen leicht umsetzen. Hinzu kommt, dass die Bevölkerung neuerdings bei Volksbefragungen zu zentralen geplanten Projekten konsultiert wird. Die daraus resultierenden Ergebnisse sind zwar nicht bindend, stellen aber eine neue Form der Partizipation dar (vgl. Vollenweider und Chaves García 2018). In seiner Antrittsrede vor dem Kongress und schließlich in einer öffentlichen Ansprache auf dem Zócalo am 1. Dezember 2018, skizziert López Obrador einige Pläne für seine Amtszeit und proklamiert eine Cuarta Transformación, womit er sich in der Tradition der mexikanischen Unabhängigkeit, der Revolution und der Regierung von Lázaro Cárdenas sieht. Mit diesem mythisierenden Bezug auf die großen Ereignisse der mexikanischen Geschichte versucht der Präsident sich vor allem von den letzten Jahrzehnten der von sichtbarer Gewalt und wirtschaftlichen Ungleichheiten dominierten mexikanischen Politik abzugrenzen. Er beruft sich gewissermaßen auf den Geist eines großen, geeinten Mexikos der Vergangenheit, das einerseits wiedergeboren werden soll (renacimiento), andererseits den Fortschritt einleitet (transformación). 102 Dass die evozierte Einheit sich aber nicht funktioniert und ein erheblicher Aufwand von Angehörigen und Menschenrechtsverbände nötig ist. 101 Reguillo resümiert treffend: „[L]as violencias no se ubican en un más allá y de ninguna manera son circunscribibles a otro espacio, a un lugar salvaje y lejano vinculado con la barbarie por contraposición a la civilización. Ellas, las violencias, están aquí, ahora, presentes en un espacio complejo que no admite las distinciones de las viejas dicotomías“ (Reguillo 2012, 43). Die Abgrenzungsversuche („más allá“, „otro espacio“, „salvaje“, „lejano“) misslingen anhand der dringenden Aktualität der Gewaltproblematik („aquí, ahora, presentes“). 102 „[I]niciamos hoy la cuarta transformación política de México, […] hoy no solo inicia un nuevo gobierno, hoy comienza un cambio de régimen político. A partir de ahora se llevará a cabo una transformación pacífica y ordenada, pero al mismo tiempo profunda y radical, porque se acabará con la corrupción y con la impunidad que impiden el renacimiento de México“ (Presidencia de la República 2018a).
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immer in den Lebensrealitäten der Bevölkerung niederschlägt, hat ein Blick in die historische Vergangenheit Mexikos bereits gezeigt. Für das Thema der vorliegenden Arbeit ist interessant, wie sich López Obrador in seiner Antrittsrede zum Thema der Gewalt und Menschenrechte positioniert. Zunächst bekennt er sich zur Pressefreiheit und den Menschenrechten, beschließt eine Amnestie für aus politischen Gründen Inhaftierte sowie eine lückenlose Aufklärung der Geschehnisse im Fall Ayotzinapa, bei der alle Verantwortlichen verurteilt werden sollen (vgl. Presidencia de la República 2018b). Der Präsident plant, gegen Korruption vorzugehen, die Immunität von Politikern aufzuheben und die Regierungsausgaben zu kürzen. Doch López Obrador betont mehrmals, sich für einen ‚Schlussstrich‘ einzusetzen. 103 Was er in seiner Antrittsrede außerdem nicht erwähnt, ist die guerra sucia und die Frage, inwiefern er die Archive des Geheimdienstes zugänglich machen wird (vgl. Rodríguez García 2019). Obwohl López Obradors Wahlkampf vor allem im Zeichen einer friedlichen Lösung der Gewaltfrage 104 stand, setzt seine Administration seit Juli 2019 im Landesinneren und an den Staatsgrenzen die sog. Guardia Nacional ein, die aus der Bundespolizei, Teilen des Militärs und der Marine besteht und sich den Aufgaben der öffentlichen Sicherheit widmet (vgl. Presidencia de la República 2018a). Die Guardia Nacional ist von Beginn an umstritten und wird von Menschenrechtsorganisationen kritisiert. Wenn man Streitkräfte dauerhaft im Inneren des Landes einsetzt, so befürchten sie, nehmen die Gewalt und Menschenrechtsverletzungen zu. 105 Die Guardia Nacional soll innerhalb von fünf Jahren als explizit zivil geführte Institution das Militär im Landesinneren ersetzen (vgl. Semple und Villegas 2019). Doch die Gewalt steigt weiter an; die Mordraten des Jahres 2019 liegen höher als jene der vorherigen Jahre (vgl. Ángel 2020). Da die Guardia Nacional größtenteils aus ehemaligen Soldaten besteht, werden Zweifel am zivilen Charakter der Institution laut, gegen die zudem bereits Vorwürfe der Menschenrechtsverletzungen und Korruption vorliegen (vgl. Meyer 2020). Hinzu kommt, dass López Obrador im Mai 2020 per Dekret erheblich die Befugnisse des die Guardia Nacional ergänzenden Militärs erweitert, und sich damit von seinem Wahlkampfversprechen entfernt, die Militarisierung schrittweise abzubauen. Diese Faktoren lösen bei Menschenrechtsorganisationen Besorgnis aus, da die seit Calderón wachsende Militarisierung und Präsenz des Militärs im Landesinneren als Mitverursacher der steigenden Gewaltraten gilt (vgl. Meyer 2020). Obwohl die Guardia Nacional für die innere Sicherheit bestimmt ist, setzt die Regierung sie seit Sommer 2019 vor allem an der nördlichen und südlichen Grenze Mexikos ein, um sich Migranten entgegenzustellen. Dabei wird Kritik an ihrem offensiven Vorgehen gegen die Migranten laut (vgl. Ferri 2020). Seit Ende 2018 103 „[P]ropongo al pueblo de México que pongamos un punto final a esta horrible historia y mejor empecemos de nuevo […], que no haya persecución a los funcionarios del pasado“ (Presidencia de la República 2018a). 104 „Se acabará la guerra; construiremos la paz“ (Presidencia de la República 2018b). 105 Ein aktuelles Resümee der in den ersten Monaten der Guardia Nacional auftretenden Schwierigkeiten, ehemalige Soldaten in eine Institution mit einem zivilen Anspruch zu integrieren, bietet Catalina Pérez Correa (2019).
3.2 Mexiko im 21. Jahrhundert: Politische Konflikte, steigende Gewalt 85
erlangen mittelamerikanische Migranten, die Mexiko auf ihrem Weg in die USA in Karawanen durchqueren, eine breite mediale Aufmerksamkeit. 106 Donald Trump, der aktuelle Präsident der USA, setzt auf eine offensive Rhetorik und eine verstärkte Militarisierung der Grenze. 107 Die Regierung López Obradors bemüht sich darum, Konflikte mit den USA zu vermeiden, 108 und verkündet zudem eigene Entwicklungsprojekte im Süden und Norden des Landes: „[S]e crearán como cortinas de desarrollo de sur a norte del país para retener a los mexicanos en sus lugares de origen“ (Presidencia de la República 2018a). Obwohl López Obradors cortinas im Gegensatz zu Trumps Great Wall semantisch harmloser wirken, da sie weich und beweglich sind, verfolgen sie im Prinzip dasselbe repressive Ziel, die Migration zu verhindern („retener“). 109 Bereits beim Bau des sog. Tren Maya zeigt sich, dass die als Sozialprojekte deklarierten Veränderungen nicht ausnahmslos unproblematisch sind: Im Juni 2020 veröffentlichen mehrere hundert Nichtregierungsorganisationen gemeinsam einen öffentlichen Brief an den Präsidenten, in dem sie das Projekt aufgrund seiner sozialen und ökologischen Auswirkungen kritisieren. 110 Vor allem bemängeln sie die fehlende Befragung und Zusammenarbeit mit den indigenen Gemeinden, auf deren Territorium die geplanten Streckenabschnitte des Tren Maya verlaufen werden. In diesem Großprojekt zeigt sich erneut die Kollaboration der Regierung mit dem Militär, das sie beauftragt, einen der Streckenabschnitte zu bauen (vgl. Caballero 2020). Diese Entwicklungen verdeutlichen, dass die inszenierte Zusammengehörigkeit – Indigene überreichen López Obrador bei seinem Amtsantritt ein Regierungszep106 Die Migranten schließen sich in Karawanen zusammen, um sicherer und billiger an die Grenze zu den USA zu gelangen (vgl. Keppeler 2019). 107 Bereits im Wahlkampf erregt Trump mit polarisierenden, rassistischen Äußerungen zu Mexiko und Migranten Aufmerksamkeit: „They’re bringing drugs. They’re bringing crime. They’re rapists.“ Den Bau einer Mauer an den bislang unbefestigten Abschnitten der Grenze zu Mexiko macht Trump dabei zu einem der zentralen Themen seines Wahlkampfes („Build the Wall!“) und seiner Regierungszeit (vgl. Gantt Shafer 2017, 2). 108 Die Migrationspolitik der neuen Regierung wird unterschiedlich bewertet. Einerseits kritisieren Menschenrechtsorganisationen, dass die nördlichen Bundesstaaten den USA Folge leisten, indem sie die Migranten an der Weiterreise hindern sowie Migranten aufnehmen, die einen Asylantrag in den USA gestellt haben, aber von den dortigen Autoritäten für die Zeit des Verfahrens ausgewiesen werden (vgl. Ahmed und Semple 2019). Andererseits heben Migrationsforscher positiv hervor, dass die Regierung den Migranten ein humanitäres Visum mit einer 12monatigen Arbeitserlaubnis erteilt und in die regionale Entwicklung im Süden des eigenen Landes investiert (vgl. Pedroza 2019, 8f.). 109 Am Verb „retener“ zeigt sich der repressive Charakter dieser Maßnahmen, wie die Definitionen der Real Academia Española offenbaren, z. B. „Impedir que algo salga, se mueva [...]. Imponer prisión preventiva, arrestar“ (Real Academia Española 2014, 1912f.). 110 Sie beanstanden, dass 1. aufgrund der Covid19-Pandemie zwar Informationsveranstaltungen abgesagt werden, man den Bau aber trotz medizinischer Bedenken fortführe, 2. die Regierung die betroffenen indigenen Gemeinden nicht in die Planung einbezogen habe, und sie allein als Niedriglohnarbeiter am Projekt beteiligt seien, 3. nichts gegen die Umweltzerstörung des Projekts unternommen werde, obwohl Experten vor dieser warnten, 4. die Kulturerbe-Stätten durch die unmittelbare Nähe der Schienen und die erwarteten hohen Touristenzahlen gefährdet seien, 5. eine Unterstützung durch die Vereinten Nationen fehle. Vgl. Centro Mexicano de Derecho Ambiental (2020).
86 3. Der gesellschaftliche Kontext Mexikos: Grenze, Transgression, Gewalt
ter 111 – nicht bedeutet, dass die neue Regierung sämtliche Interessen marginalisierter Gruppen anerkennt. Es bleibt abzuwarten, wie López Obrador in seiner restlichen Amtszeit mit den vielfältigen, tiefgehenden Problemen des Landes und der geopolitischen Schwellenposition Mexikos umgehen wird.
3.3
Zwischenfazit
Das vorliegende Kapitel hat die aktuell von extremer Gewalt geprägte Krisensituation Mexikos historisch hergeleitet, da sich anhand der strukturellen Kontinuitäten verdeutlicht, wie die gegenwärtige soziopolitische Situation entstanden ist: Seit der Kolonialisierung, einer globalen historischen Zäsur, schreiben sich soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten in die Gesellschaft ein, die bis heute fortwirken. Die hierarchischen Strukturen des ethnisch begründeten casta-Systems bleiben auch nach der Unabhängigkeit bestehen, Minderheiten werden ausgegrenzt und bewaffnete Akteure wie die caciques und caudillos zeigen, dass in peripheren Regionen noch bis weit ins 20. Jahrhundert hinein ungleiche Machtverhältnisse dominieren. Die territorialen Grenzen im Norden und Süden Mexikos verlieren im 19. Jahrhundert ihren beweglichen Charakter, als sich die linearen frontera norte und frontera sur etablieren. Mit den Grenzen wandelt sich auch das Selbst- und Fremdbild, wie das Verhältnis zu den USA verdeutlicht, das sowohl von Territorialkonflikten als auch von Phasen der Zusammenarbeit geprägt ist. Das über siebzig Jahre bestehende PRI-Regime bemüht sich seit den 1960er Jahren um eine internationale Öffnung und bekämpft zugleich die innere Opposition mit Mitteln der sog. guerra sucia. Während Ereignisse wie das Massaker von Tlatelolco 1968 einen Teil des kulturellen Gedächtnisses bilden, sind viele der staatlichen Menschenrechtsverletzungen bis heute straflos geblieben. Die Forschungsliteratur bewertet die staatliche Rolle unterschiedlich und verwendet mitunter irreführende Begriffe wie jenen der ‚dictablanda‘. Daran wird ersichtlich, dass das kulturelle Gedächtnis Mexikos umkämpft ist. Die Aufarbeitungsversuche der FEMOSPP sind gescheitert, stellen aber (neben dem Urteil der Corte Interamericana de Derechos Humanos im Fall Radilla Pacheco) einen wichtigen Schritt hin zur Anerkennung der Opfer und der Verantwortung des Staates dar. Die fehlende Aufarbeitung ist ein entscheidender Grund dafür, dass viele Bürger den staatlichen Institutionen misstrauen und demokratiefeindliche Methoden in Militär, Polizei und Justiz fortbestehen. Die Transición ist in Mexiko bislang nicht vollendet, und dem Land fehlt eine Grundlage, um die aktuellen Gewaltausbrüche kollektiv zu bewältigen. Der in dieser Arbeit fokussierte Untersuchungszeitraum (2004-2014) ist von einer wirtschaftlichen und politischen Spaltung dominiert. Während in Zeiten der Globalisierung der transnationale NAFTA-Wirtschaftsraum die trennende Funktion von Grenzen in Frage stellt, zeigt sich jedoch, dass wirtschaftliche und soziale 111
Zum ersten Mal erhielt ein Präsident ein solches Zepter (vgl. Jiménez u.a. 2018).
3.3 Zwischenfazit 87
Ungleichheiten bestehen bleiben. In der asymmetrischen Entwicklung zwischen dem Norden und Süden Mexikos („two-speed economy“) spiegelt sich die sozioökonomische Grenze zwischen Globalem Norden und Globalem Süden innerhalb des Landes. Themen weltpolitischer Relevanz, Globalisierung, Migration und Sicherheitspolitik, werden auf mexikanischem Territorium ausgehandelt. Der Zusammenhang zwischen Armut, Migration und dem Erstarken der Drogenkartelle macht nachvollziehbar, dass wirtschaftliche Spaltung Gewalt begünstigt. Präsident Calderón lenkt 2006 von politischen Unruhen ab, indem er mit der ausgerufenen guerra contra el narco einen Gegner der gesamten Nation bestimmt. Dabei behält die Regierung die Definitionsmacht darüber, wer der Feind der Ordnung ist. Die Konsequenzen dieser Diskurse und der Militarisierung machen sich bis heute an der exponentiell angestiegenen Gewalt bemerkbar und haben zu einer unübersichtlichen Situation mit diversen bewaffneten Akteuren geführt („blurry battle lines“). Dies wird an einer ‚autotelischen Gewalt‘ (Reemtsma) deutlich, die eine Präsenz im öffentlichen Raum beansprucht. Doch ein Großteil der Gewalt spielt sich jenseits des Sichtbaren ab: Von ca. 61.000 desaparecidos fehlt jegliche Spur, laufend werden Massengräber entdeckt und vor allem die mittelamerikanischen Migranten sind von einer Gewalt betroffen, die die Mehrheitsgesellschaft nur in Einzelfällen wahrnimmt, da sie außerhalb der frames (Butler) stattfindet. Wie bereits zu Zeiten der guerra sucia leidet vor allem die arme Bevölkerung. Die feminicidios oder das Schicksal der Migranten sind zuletzt zwar vermehrt in den Fokus gelangt, doch die Umsetzung von Gesetzesänderungen und die Reformen des Justizsystems bleiben mangelhaft. Der Fall der 43 Studenten aus Ayotzinapa (2014) ist dafür emblematisch. Die Statistiken sind lückenhaft, da sie entweder nur wenige Jahre geführt werden, einige Bundesstaaten keine oder unvollständige Daten zur Verfügung stellen und ein Großteil der Fälle nicht gemeldet wird, weil die Angehörigen der Opfer den staatlichen Institutionen misstrauen. Umso wichtiger ist das permanente Engagement von NGOs und Angehörigenverbänden. Nichtsdestotrotz erreichen die Gewaltraten 2018 und 2019 ihren Höhepunkt. Der Staat kann auch den stark gefährdeten Journalisten keinen Schutz gewährleisten und beteiligt sich teilweise sogar an der Verfolgung („en la línea de fuego“). Auch die 2018 mit einer absoluten Mehrheit gewählte Regierung unter López Obrador hat bislang nicht dazu beigetragen, Gewalt und gesellschaftliche Spaltung zu minimieren. Während die sozial inklusive Kommunikationsstrategie sich von den Vorgängerregierungen abhebt, birgt die inszenierte Einheit die Gefahr, Repressionen zu verschleiern. Der Einsatz der Guardia Nacional, um die Migration einzudämmen und damit den Forderungen der USA nachzukommen sowie die Erweiterung der militärischen Befugnisse haben eine erhebliche Kritik der Menschenrechtsorganisationen ausgelöst. Zudem entstehen neue Konflikte rund um das von indigenen Gemeinden und Umweltverbänden abgelehnte Großprojekt Tren Maya. Es bleibt abzuwarten, wie die Regierung während der restlichen Amtszeit López Obradors mit den vielfältigen, tiefgehenden Problemen des Landes umgehen wird.
88 3. Der gesellschaftliche Kontext Mexikos: Grenze, Transgression, Gewalt
Für die Romananalyse ergibt sich aus den Überlegungen dieses Kapitels, dass auf vielfältige Grenzen in Mexiko zu achten sein wird: Neben den nationalstaatlichen Grenzen der frontera norte und frontera sur, gilt es zu berücksichtigen, wie die Romane die Grenzen innerhalb Mexikos thematisieren, ob sie einen Bezug zu dem Gefälle zwischen Globalem Norden und Globalem Süden herstellen, und inwiefern sie die transgressive, autotelische Gewalt (Reemtsma) mit Metaphern der Grenze ästhetisch erfassen. Dort, wo die Geschichtsschreibung sich nicht einig ist, wie die Vergangenheit zu bewerten sei, kann man untersuchen, welche Position die Romane beziehen und ob sie die offizielle Geschichtsschreibung hinterfragen. Daran anschließend ist von Interesse, ob sie das Leid derer sichtbar machen, die wie die Migranten und Opfer der feminicidios außerhalb der frames der Wahrnehmung (Butler) bleiben. Ebenfalls wissenswert ist, ob die Romane die diskursive Taktik der Regierung, die Deutungsmacht darüber zu behalten, wer als Feind der Ordnung gilt, aufdecken, oder ob sie sie vielmehr perpetuieren.
4.
Grenzen und Transgressionen im mexikanischen Roman der Gegenwart
4.1
David Toscana: El último lector (2004)
Die sich in David Toscanas 1 Roman El último lector entfaltende Geschichte beginnt damit, dass der Protagonist Remigio in seinem Brunnen ein totes Mädchen entdeckt (vgl. Toscana 2010, 11ff.). Statt die Polizei zu verständigen, vertraut er sich lediglich seinem Vater Lucio an (vgl. ebd., 27). Was sich wie der Anfang einer typischen Kriminalgeschichte liest und Assoziationen mit expliziter Gewalt wie feminicidios hervorruft, tritt jedoch als etwas anderes in Erscheinung: Auf Ebene des discours zeichnet sich El último lector dadurch aus, dass die sich in der erzählten Welt abspielenden Akte der Gewalt größtenteils nicht fokalisiert werden, zunächst also weder sicht- noch hörbar sind. Die Gewalt materialisiert sich stattdessen, so die These dieses Kapitels, auf Ebene der Binnengeschichten 2 und durch Spiegelungen (mises en abyme 3), die die Ebenen verknüpfen und schließlich den Fokus auf die Präsenz von Gewalt lenken. Das Zusammenspiel von mises en abyme und transgressiven Metalepsen verwischt die Grenzen zwischen den diegetischen Ebenen. Im Folgenden wird gezeigt, dass davon nicht nur die Grenze zwischen der hypo- und intradiegetischen Ebene betroffen ist, sondern auch jene zwischen der intra- und extratextuellen Welt und dass der Roman die Rolle der Literatur in der Gesellschaft verhandelt. Entscheidend ist dabei, so eine weitere These, dass die literarische Sprache dank ihrer Ambiguität Dinge ausdrücken kann, ohne sie explizit sagen zu müssen und über das Potenzial verfügt, die extraliterarische Welt zu beeinflussen. 1 David Toscana Videgaray (*1961, Monterrey) ist einer der Gründer der in Monterrey ansässigen Schriftsteller-Gruppe El Panteón, deren Mitglieder von 1992-2001 regelmäßig zusammenkommen, um ihre Texte zu kommentieren (vgl. Bennett 2007, 37). Da sie sich unmittelbar auf die nordmexikanische Stadt Monterrey beziehen und sich als Schreib-Werkstatt ästhetisch heterogener Autoren, d. h. nicht als Bewegung, erachten, unterscheidet sich El Panteón von der zeitgleich agierenden und weltweit bekannten Gruppe El Crack um Jorge Volpi (vgl. Puente García 2016, 325f.). Im Jahre 2017 erhält Toscana für seinen Roman Olegaroy den Premio Villaurrutia (vgl. López Aguilar 2018). 2 Als hypodiegetische Ebene wird die Binnenerzählung bezeichnet. Während Gérard Genette diese auf der metadiegetischen d. h. nächsthöheren Ebene verortet (vgl. Genette 1972, 239ff.), schlägt Mieke Bal ein umgekehrt strukturiertes Modell vor, in dem die Erzählung in der Erzählung sich auf der tiefer gelegenen, hypodiegetischen Ebene entfaltet (vgl. Bal 1977, 35). In der vorliegenden Arbeit wird mit dem Terminus von Bal gearbeitet. Das bedeutet beispielsweise, dass der Eintritt des Autors in die erzählte Welt bildlich einer absteigenden Metalepse entspricht. 3 Diese Arbeit bezieht sich mit der mise en abyme auf die von Klaus Meyer-Minnemann und Sabine Schlickers vorgelegte Definition. Sie erweitern Dällenbachs (1977) Kategorisierung und deuten die mise en abyme als Analogie, die sowohl vertikal, als auch horizontal vollzogen werde und auch die extrafiktionale Ebene einbeziehen könne. Es handelt sich dabei um ein Verfahren der Grenzverwischung (vgl. Meyer-Minnemann und Schlickers 2010, 95ff.).
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Augustin, Gewalt erzählen, Prolegomena Romanica. Beiträge zu den romanischen Kulturen und Literaturen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-62205-6_4
90 4. Grenzen und Transgressionen im mexikanischen Roman der Gegenwart
Der Roman ist in 39 Abschnitte gegliedert, die hier nicht als Kapitel bezeichnet werden, da sie weder nummeriert noch betitelt sind und jeweils wenige Seiten umfassen. Manche Abschnitte sind nur einige Zeilen lang (vgl. ebd., 42, 161). Die paratextuelle Schwelle 4 zwischen Text und Außenwelt besteht in diesem Fall ausschließlich in Gestalt des Titels. Auch die hetero- und extradiegetische Erzählinstanz ist innerhalb der Erzählung kaum sichtbar. Die interne Fokalisierung der beiden Protagonisten Remigio und Lucio dominiert und wechselt sich mit einer Nullfokalisierung ab. Die Redewiedergabe erscheint dementsprechend weitgehend als direkte, nicht eingeleitete Figurenrede, weil z. B. keine Anführungszeichen und wenige Verben des Sprechens vorhanden sind. Da die inneren Monologe von Lucio und Remigio einen proportional hohen Anteil an der direkten Rede haben, ist es mitunter schwierig, die Stimmen der Figuren untereinander sowie die Figuren- von der Erzählerrede zu unterscheiden. Die Erzählinstanz tritt somit hinter die Figuren zurück und die Grenze zwischen den Ebenen verwischt. Eine weitere Besonderheit macht in dieser Erzählsituation die hypodiegetische Ebene aus: Durch die interne Fokalisierung und autonome direkte Figurenrede Lucios entsteht diese Ebene, auf der sich die erzählte Welt der von Lucio gelesenen Romane entfaltet. Damit übernimmt die Figur Lucio selbst die Erzählerrolle, wodurch sich die ohnehin nicht immer explizite Trennung der Ebenen verkompliziert. An einigen Stellen kann die Figurenrede Lucios so sehr derjenigen des Erzählers gleichen, dass nicht deutlich ist, wer von beiden erzählt. 5 Doch die erzählte Welt in El último lector zeichnet sich durch einen zugrundeliegenden Dualismus aus. Während die frontera norte an keiner Stelle erwähnt wird, strukturieren unterschiedliche Grenzen diese binäre Welt, wie die folgenden fünf Beispiele exemplifizieren: 1. Zentrum (Villa de García) vs. Peripherie (Icamole): Icamole ist ein real existierendes Dorf im nördlichen Bundesstaat Nuevo León und ist in El último lector als Ort der Handlung der Inbegriff einer ländlich-peripheren Region. 6 Zeit der Erzählung ist Anfang September. Das Dorf hat seit über einem Jahr keinen Regen gesehen, es herrscht also akuter Wassermangel. 7 Icamole wird durch die enttäuschten Hoffnungen der Einwohner charakterisiert 8 und von Absenzen geprägt, die intertextuell untermalt werden durch die Ähnlichkeit mit Comala aus Pedro
Die paratextuelle Schwelle bezieht sich auf die in Kapitel 2.2.3 dieser Arbeit eingeführte Konzeption von Genette (1987). 5 Es entsteht im Sinne Genettes (1972, 246) ein Pseudodiegese, da eine Binnenerzählung so erzählt wird als sei sie auf der diegetischen Ebene anzusiedeln, vgl. Kapitel 2.2.3 dieser Arbeit. 6 Die mexikanische Rezeption des Werkes hebt es als besonderes Merkmal hervor, dass die erzählte Welt in der Peripherie angesiedelt ist: Miguel Rodríguez Lozano (2006, 60) bezeichnet es als „una insistencia por recuperar esos espacios negados por la historia oficial“. Vgl. auch Puente García (2016, 325). 7 „ni una gota, ni un escupitajo del cielo“, „tenemos sed“, „las acequias son avenidas para los tlacuaches“ (Toscana 2010, 9), „ese Icamole sin otra humedad que el sudor“ (Toscana 2010, 10). 8 „les robó las esperanzas […], decepcionados“ (Toscana 2010, 9). 4
4.1 David Toscana: El último lector (2004) 91
Páramo (Rulfo 1955). 9 Icamole ist nicht nur geographisch peripher, sondern auch infrastrukturell und sozial vernachlässigt. 10 Da es sich in dem Dorf nicht lohnt, Getränke zu verkaufen, bringt ein Lieferant das Kanalwasser aus dem nahegelegenen Villa de García (vgl. Toscana 2010, 10). Dieser Ort, wo die personifizierten Wolken ihre „perfecta carga“ (ebd., 9) abladen und es in Grün, der Farbe des Lebens, der Hoffnung und Fruchtbarkeit erstrahlen lassen, bildet eine Opposition zu Icamole. Villa de García stellt das Abbild der Zivilisation dar: Dort haben relevante Institutionen wie die Kirche und Polizei ihren Sitz (vgl. ebd., 61, 86). Es gibt eine Post, die den Kontakt zur Außenwelt ermöglicht und einen Markt, auf dem die Einwohner Icamoles wöchentlich ihre Produkte verkaufen dürfen (vgl. ebd., 35, 86). Dies ist die einzige Gelegenheit, ihre Waren zu Geld zu machen und zumindest punktuell an den kapitalistischen Tauschgeschäften teilzuhaben. Da die Möglichkeiten Villa de Garcías explizit erwähnt werden, wirken die Defizite Icamoles noch größer. Der Kontrast verstärkt sich außerdem dadurch, dass Icamole immer Mittelpunkt der Erzählung bleibt und Villa de García somit den relational anderen Ort darstellt. Außerdem sind die Einwohner Icamoles verpflichtet, dort ihre Toten zu begraben, da sich in Villa de García der einzige vom Gesundheitsamt genehmigte Friedhof befindet (vgl. ebd., 38, 93). Der Vorfahren zu gedenken und einen Erinnerungsort als Grundlage für eine generationenübergreifende Identitätsbildung und ihren Erhalt einzurichten, ist also in Icamole nicht möglich. 11 2. Stadt (Monterrey) vs. Land (Icamole): Eine weitere Opposition zu Icamole bildet das urbane Monterrey, dargestellt in Gestalt der intern fokalisierten Erinnerung Lucios an seinen einzigen Aufenthalt in dieser Stadt. Folglich wird Monterrey nur aus Lucios Sicht beschrieben, als ein lebensfeindlicher Raum, dessen Bewohner sich durch negatives Verhalten auszeichnen und den Lucio aufgrund der schlechten Erfahrungen nie wieder betreten möchte, ebenso wenig wie jede andere Stadt (vgl. ebd., 114f.). Monterrey ist somit das stereotype Negativbild des Urbanen. Die Grenze zwischen Stadt und Land bleibt über den Verlauf der Erzählung bestehen. 3. Gesellschaft (Icamole) vs. Literatur (Bibliothek): Auch der Raum Icamoles ist von Einteilungen und Abgrenzungen geprägt. Einen vom Rest des Dorfes getrennten Ort stellt die Bibliothek dar, die sich in Lucios Haus befindet. Der Leser erfährt in einem Rückblick Lucios, dass ihn die Regierung mit Bücherkisten belieferte und ihn regelmäßig für seine Arbeit als improvisierter Bibliothekar entlohnte 9 Ríos Baeza (2012, 156) sieht die Analogien zu Pedro Páramo neben der Darstellung von Zeit und Raum, auf Ebene der Figuren: Die Suche Anamaris Mutter nach ihrer Tochter in El último lector liest er als Umkehrung von Juan Preciados Suche nach seinem Vater. 10 „con la sequía llegó la pobreza“ (Toscana 2010, 10). 11 Der Friedhof ist Michel Foucault zufolge eine Heterotopie, die den Tod vom Leben getrennt hält, vgl. Kapitel 2.1.2 dieser Arbeit. In der erzählten Welt genehmigt die Regierung Icamole keinen Friedhof, woran sich exemplarisch zeigt, wie marginalisiert das Dorf ist. Es wird nicht für notwendig erachtet, einen Raum für die Toten zu schaffen. – Für den Zusammenhang zwischen Erinnerung und Identitätsbildung, wie er an konkreten Orten z. B. durch Grabsteine zum Ausdruck kommt, vgl. Assmann (2010).
92 4. Grenzen und Transgressionen im mexikanischen Roman der Gegenwart
(vgl. ebd., 33, 35). Doch diese Maßnahme hat in Icamole wenig Erfolg, da die Bewohner sich nicht für Literatur interessieren: [C]uando llegó el día de abrir la biblioteca, ya la gente estaba llena de argumentos contra los libros: las novelas cuentan cosas que no existen, son mentiras. Si acerco las manos al fuego, le dijo un hombre, me quemo; si me encajo un cuchillo, sangro; si bebo tequila, me emborracho; pero un libro no me hace nada, salvo que me lo arrojes en la cara. Otras personas rieron ante este comentario y el tema quedó saldado (ebd., 35).
Sie haben viele Gründe für diese Abneigung („llena de argumentos contra“) und setzen die Fiktion mit Lügen 12 gleich („cuentan cosas que no existen“, „son mentiras“), die keinerlei Wirkung auf die extratextuelle Welt habe („un libro no me hace nada“), da sie weder negativ verletzend („me quemo“, „sangro“), noch positiv bewusstseinserweiternd („me emborracho“) sei. Die Tatsache, dass die Literatur den Dorfbewohnern als lächerlich erscheint („rieron“) hindert sie daran, die Bibliothek zu besuchen und ihre Vorurteile zu korrigieren. Nachdem die Regierung schließlich aufgrund der ausbleibenden Leser ihre Zahlungen einstellt, gleicht die Bibliothek in ihrem Zerfall dem Dorf (vgl. ebd., 33ff.). Der Raum der Bibliothek, von Foucault als Heterotopie bezeichnet, lässt sich als Indikator der zugrundeliegenden Wissensordnung interpretieren. 13 Da es sich dabei um eine Heterotopie der Zeit handelt, steht sie in einem Verhältnis zum kulturellen Gedächtnis. Im Fall von El último lector kann man die nicht vorhandenen Leser sowie die eingestellte staatliche Förderung als Kritik am fehlenden gesellschaftlichen Interesse an Literatur und an der das kulturelle Gedächtnis vernachlässigenden mexikanischen Kulturpolitik deuten. 14 Außerdem weckt die Bibliothek intertextuelle Assoziationen mit Jorge Luis Borges’ „Biblioteca de Babel“, 15 in der das Universum als eine unendliche Bibliothek konzipiert ist (Borges 2011, 89, 99). In El último lector ist die Bibliothek räumlich betrachtet alles andere als unendlich, doch für Lucio ist sie der zentrale, sinnstiftende Ort (Toscana 2010, 26f., 142f.). Toscana greift aus Borges’ Bibliothek das Motiv der Suche nach dem perfekten, allumfassenden Buch auf sowie 12 Hier wird auf einen von Platons Ausschluss der Dichter aus dem Staat initiierten Topos rekurriert, der bis heute in der Literaturgeschichte die intensive Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Literatur und Lüge prägt. Mecke (2015, 19) legt dar, dass Platon jedoch nicht die Lüge kategorisch ausschließen, sondern vielmehr die Dichter daran hindern will, mit ihrer Darstellungsweise der Götter „die moralischen Grundlagen des Staates zu erschüttern“. – Es geht dabei also um das Potenzial des Textes, die herrschende Wissensordnung und das Weltbild der Leser zu unterminieren. Daran angelehnt schreibt auch El último lector der Literatur eine gesellschaftskritische Funktion zu, wie im Weiteren gezeigt wird. 13 Vgl. Kirsten Dickhaut (2004, 24f., 33), die darauf hinweist, dass Deformationen vor dem Modell einer ‚klassischen‘ Bibliothek analysiert werden müssen, um verstehen zu können, welche Konventionen sie hinterfragen. 14 Michael Abeyta (2010) zeigt, dass El último lector sich ironisch mit der in Mexiko herrschenden Kultur- und Bildungspolitik auseinandersetzt. Der Interessenskonflikt zwischen Lucio und der Regierung, die die Bibliothek schließt, verweise auf die Dominanz der großen Verlagshäuser und Buchläden in. Vgl. auch Puente García (2016). 15 Vgl. auch Ríos Baeza (2012, 153f.).
4.1 David Toscana: El último lector (2004) 93
den prophetischen Charakter von Literatur, in der alles geschrieben steht (vgl. Borges 2011, 94, 97). Der Bezug des Textes auf Borges verleiht Lucios Weltbild einen philosophischen Charakter. 16 Zugleich wird nachvollziehbar, dass die Distanz zwischen ihm als Einzelgänger und den Dorfbewohnern aufgrund dieser disparaten Weltvorstellungen unüberbrückbar ist. Lucio denkt nicht daran, mit seiner Arbeit als Bibliothekar aufzuhören: „Aún me falta mucho por leer, pasarán años antes de que clasifique todos estos libros. Remigio se acerca de mal humor. Para nadie es un secreto que perdiste tu empleo hace mucho“ (Toscana 2010, 28). Obwohl Lucio also nicht mehr offiziell als Bibliothekar gilt („perdiste tu empleo“), betrachtet er es immer noch als seine Aufgabe, den Inhalt der Bücherkisten zu klassifizieren („clasifique“). Dabei hat er eine ganz eigene Vorstellung davon, welche der Bücher ins Regal gelangen und folgt einer binären Wertung, die zwischen vermeintlich guten und schlechten Büchern unterscheidet (vgl. ebd., 115). 4. Gute vs. schlechte Literatur: All jene Bücher, die Lucio nicht überzeugen, erfahren sein hartes Urteil und werden von ihm mit dem Stempel eines Zensors markiert (vgl. ebd., 33). Er personifiziert einen Schreibtischtäter im Kampf gegen die Freiheit der Literatur und geht dabei noch über die bloße Zensurmaßnahme hinaus: Lucio se pone en pie, toma el libro y se encamina hacia una puerta gruesa que da al cuarto contiguo; un pasador herrumbroso con candado clausura la puerta; sin embargo, en la parte superior tiene una abertura disimulada con una cortinilla. […] Abre la cortinilla y por el hueco arroja El otoño en Madrid. No lo perdones, señor, dice, porque sabía lo que hacía. […] Hoy no me ha ido bien con los libros. Ya condené a dos (ebd., 26f., Hervorhebung i. O.).
Der Nebenraum der Bibliothek ist abgeschlossen wie ein Gefängnis („puerta gruesa“, „pasador herrumbroso con candado“, „clausura“). Mit dieser evozierten Härte kontrastiert das Bild des kleinen Vorhangs („cortinilla“), der, wie das Diminutiv andeutet, als euphemistische Verdeckung („disimulada“) des Lochs dient, durch das Lucio die Bücher in den Kerker wirft. 17 Doch dieses dekorative Detail kann 16 Die Tendenz Toscanas, einen Protagonisten aus einfachen Verhältnissen mit philosophisch anspruchsvollen Reflexionen zu verbinden, wird zu einem Leitmotiv seines Romans Olegaroy (Toscana 2018). Beide Texte spielen mit den Grenzen zwischen einem intellektuell geprägten Feld und dem ‚einfachen‘ Leben eines Outsiders. 17 „La única edificación de dos pisos es la de Lucio. Abajo se halla la biblioteca; arriba, su vivienda: una sola habitación que hace las veces de recámara y cocina, nada más, pues no le hace falta otra cosa. Cuando Lucio construyó la segunda planta, ambos niveles se comunicaban mediante una escalera en la habitación de los libros censurados; luego de clausurar ese acceso, montó por un costado una escalera de piedra. Le gusta mantener aparte casa y biblioteca“ (Toscana 2010, 85). Dank der zwei Etagen unterscheidet sich Lucios Haus in doppelter Hinsicht von den anderen Häusern Icamoles: es ist eine Bibliothek und das höchste Gebäude. In dieser Textstelle wird vor allem sichtbar, dass es Lucio nicht genügt, auf der horizontalen Ebene die Bibliothek von der Bücher-‚Hölle‘ zu trennen. Darüber hinaus kappt er nämlich die vertikale Verbindung zwischen zensierten Büchern (unten) und Wohnbereich (oben). Lucio verschließt das Treppenhaus, Assoziation der Verbindung (verstärkt durch das Verb „comunicarse“), und
94 4. Grenzen und Transgressionen im mexikanischen Roman der Gegenwart
nicht über die Gewalt hinwegtäuschen, da Lucio die Bücher in das Verlies schleudert („arroja“) und metaphorisch über Leben und Tod richtet („condené“, „No lo perdones, señor“), woraus sich der letzte Dualismus der erzählten Welt ergibt: 5. Leben vs. Tod: Das hier evozierte Bild des Todes 18 bleibt über die gesamte Erzählung hinweg bestehen, z. B. indem der Nebenraum mit der Hölle gleichgesetzt wird 19 und Lucio ausruft, „Mueran todos, mueran“ (ebd., 179). Damit personifiziert er die Bücher. 20 Die christlich konnotierte Sprache („No lo perdones, señor“, „infierno“) deutet auf eine Parallele zu Bücherverbrennungen, bei denen man die dem Feuer übergebenen Bücher als pars pro toto für ihre Autoren vernichtet, wie während der Inquisition und des deutschen Nationalsozialismus. 21 Das Bild der Parasiten 22 verstärkt diese zweite Assoziation: Der Nebenraum ist semantisch ein Ort der Verwesung, dominiert von Kakerlaken, die als invasives, allesfressendes und sich vermehrendes Ungeziefer den Ekel personifizieren (vgl. ebd., 45f.). Darüber hinaus entsteht ein topologischer Kontrast zwischen ‚oben‘ und ‚unten‘, da die Kakerlaken Lebewesen der Unterwelt sind (vgl. ebd., 45). An der paratextuellen Grenze zwischen intra- und hypodiegetischer Ebene siedeln sich die Titel der überwiegend fiktiven Bücher an, die Lucio liest. Es werden insgesamt über vierzig Werke erwähnt und von Lucio unterschiedlich ausführlich und häufig gelesen bzw. kommentiert. 23 Die explizit markierten intertextuellen verhindert damit jeglichen Austausch. Diese von Lucio gezogenen Grenzen bilden seine wertende Weltsicht ab. 18 Paulo Alvarado (2010, xxxviii) sieht den Tod als Thema, das in allen Romanen Toscanas zentral ist und bis jetzt in der Forschung nur marginal behandelt wurde. 19 „puerta hacia el infierno“ (Toscana 2010, 173). 20 Die Wut und Verachtung, die Lucio den Büchern, Autoren und Übersetzern gegenüber empfindet, dominieren die gesamte Erzählung (vgl. Toscana 2010, 16, 19, 26, 46, 179). Da sie immer wieder aufgegriffen und detailliert wiedergegeben werden, mit wertenden Ausdrücken und der internen Fokalisierung in den Momenten, in denen Lucio sich in Rage redet, strukturieren sie die binäre Weltsicht Lucios. Dabei ist allerdings die Grenze zwischen ihm und den Büchern insofern aufgehoben, als dass sie für ihn mehr als bloße Objekte darstellen, wie an ihrer Personifizierung ersichtlich wird. Dass die topologische Grenze zwischen guter Literatur (Bücherregal) und schlechter (Gefängnis, Hölle) nicht bis zum Ende des Romans bestehen bleibt, da Lucio selbst diese Grenze überschreitet (vgl. ebd., 179f.), erläutere ich am Ende dieses Kapitels. 21 Der Brauch der Bücherverbrennung reicht bis ins Altertum zurück. Während die Bücher meistens stellvertretend für die in ihnen enthaltenen Ideen und ihre Verfasser verbrannt werden, gibt es Fälle, in denen man die Autoren ebenfalls zum Tode verurteilt (vgl. Hillerbrand 2010, 15, 24f.). 22 Zur Ungeziefermetaphorik in der Sprache des Nationalsozialismus, vgl. Schmitz-Berning (2007). 23 Die Titel der Bücher lauten: Amargura, Batallas nocturnas, Biblia, Calcetas rosas, Causas perdidas, Ciudad sin niños, Cuidado integral de los chivos, Dos gramos de inocencia, El canto del olvidado, El color del cielo, El hijo del cacique, El hombre de cristal, El hospicio de los inocentes, El otoño en Madrid, El pan de cada día, El paraíso de Yoshikazu, Espejos de la vida, La charca, La frontera negra, La hija del telegrafista, La húngara y el ciego, La muerte de Babette, La muerte de don Porfirio, La muerte de Herlinda, La parcela prometida, La tentación creadora, La tuberculosis, La ventana clausurada, La verdad sobre los amantes, La vida en el campo de patatas, Las leyes de la sangre, Las nieves azules, Los peces de la tierra, Nostalgia de tu imagen, Ojos insomnes, Pater noster, Rebeca por las tardes, Santa María del Circo, Testimo-
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Verweise beziehen sich also größtenteils auf fiktive Werke, deren Buchtitel jedoch auch mit real existierenden literarischen Texten assoziiert werden können. 24 Auffällig ist, dass negativ konnotierte Wortfelder die Titel dieser Geschichten dominieren. 25 Auch die auf den ersten Blick marginal erscheinenden Werke, die Lucio nur einmal erwähnt, gewinnen anhand dieser Gemeinsamkeit an Relevanz. Die Romane im Roman dienen als semantische Grundlage dazu, die Lektüre in eine bestimmte Richtung zu lenken. Dies bestätigt sich auch dort, wo Lucio näher auf die von ihm gelesenen Werke eingeht, da die meisten Geschichten sich thematisch in ähnlichen Feldern befinden. 26 Das Thema der Gewalt ist beispielsweise in vierzehn Geschichten vertreten. Sie zeigen also, dass Gewalt und Tod permanent präsent sind, obwohl sie nicht explizit dargestellt werden. Für den Lektüreprozess bedeutet dies, dass die zunächst im Hintergrund vermutete Ebene über das Denotative hinaus berücksichtigt werden muss, um die Strukturen der Gewalt offenzulegen. Drei dieser Geschichten sind auch inhaltlich für die intradiegetische Ebene relevant: La hija del telegrafista, La muerte de Babette und El manzano. Dadurch, dass Lucio diese Romane heranzieht, um Remigio zu beraten, wie er im Falle des nio de un soldado, Traición, Vidas ocultas. Hinzu kommen 7 Werke ohne Titel. Mit Santa María del Circo verdammt Lucio einen von David Toscana veröffentlichten Roman in die BücherHölle. Der Roman überschreitet metaleptisch die Grenzen zwischen Realität und Fiktion, und zugleich wird der reale Autor auf ironische Weise fiktionalisiert. 24 Das Wort chivo in einem der Buchtitel erinnert beispielsweise an Mario Vargas Llosas La fiesta del chivo (2000). Thematisch hat dieses Werk mit El último lector die sexuelle Gewalt gegen Mädchen und Frauen gemeinsam. Nachdem es veröffentlicht wurde, löst es Debatten über das Verhältnis von Fiktion und Geschichtsschreibung aus (vgl. Gewecke 2001). – Der Titel Nostalgia de tu imagen ähnelt dem Gedichtband Nostalgia de la muerte (1938) von Xavier Villaurrutia und verweist damit auf die Bedeutung des Todes als Motiv in der mexikanischen Literatur (vgl. Dorantes Moreno 2012). – Zugleich weckt der Titel aber eine neuere Assoziation mit einer novela negra von Eduardo Antonio Parra, ebenfalls Mitglied von El Panteón. Obwohl sich dessen Roman Nostalgia de la sombra (2002) stilistisch stark von El último lector unterscheidet, teilen beide Protagonisten eine kritische Sicht auf die Großstadt Monterrey und die Modernisierung (vgl. Bush 2015, 373). – Indem hier sowohl auf ein als kanonisch erachtetes Werk der mexikanischen Literatur als auch auf einen neueren Text verwiesen wird, werden diese Kategorisierungen in Frage gestellt. Im Kontrast zu Lucios Sicht auf ‚gute‘ und ‚schlechte‘ Literatur zeigt sich, dass die jeweils zugrundeliegenden Ordnung die Literatur bewertet. – In den hier exemplarisch aufgezeigten Fällen hängen die intertextuellen Bezüge vom Wissen des jeweiligen Lesers ab, der über die fiktiven, von Lucio genannten Bücher hinaus auch reale Werke einbringen und so das intertextuelle Potenzial ausschöpfen kann. 25 Die Wortfelder sind: ‚Krankheit, Tod‘ (ciego, hospicio, insomne, muerte, sangre, tuberculosis), ‚Krieg‘ (batalla, frontera, perdido, soldado, traición), ‚Dunkelheit‘ (ciego, negro, nocturno, otoño), ‚Nässe/Kälte‘ (azul, nieve, otoño), ‚Verdeckt/Geschlossen‘ (ciego, clausurado, oculto, olvidado), ‚Verlust‘ (nostalgia, olvidado, perdido, sin niños, último), ‚Trauer/Trübsal‘ (amargura, nostalgia). Andere dominante, aber nicht negativ konnotierte Wortfelder sind ‚Sexualität‘ (amantes, manzano, tentación, vida) und ‚Religion/Bibel‘ (cielo, inocentes/inocencia, manzano, pan, paraíso, pater noster, peces, Rebeca, Santa María, tentación). 26 Andere Themen sind moralische Fragestellungen (in 9 Geschichten), Mord (7x), nicht monogame bzw. ‚illegitime‘ Sexualität (4x), Bestrafung (4x), Weggehen und Exodus (4x), Verrat und/oder Schuld (3x), Abschied und Trennung (3x), Missbrauch (3x), Hunger und/oder Durst (3x), Verschwinden (2x), Prostitution (1x).
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toten Mädchens zu handeln habe – und ihn darüber hinaus zu beeinflussen – wird die Grenze zwischen hypodiegetischer und intradiegetischer Ebene in Teilen überschritten. Als Remigio merkt, dass die Polizei das Mädchen aus seinem Brunnen sucht, bringt er seinem Vater einen Korb mit Avocados und vertraut sich diesem an (vgl. ebd., 22, 25ff.). 27 Lucio sieht sofort eine Parallele zu dem Roman La hija del telegrafista: Por supuesto, dice Lucio, debí imaginarlo, porque los aguacates tienen cierto parecido con las berenjenas, y Zimbrowski le lleva berenjenas a su padre cuando le confiesa que asesinó a Enzia, la hija del telegrafista […] La tuviste en tus manos, en tu pozo, la sacaste, la llevaste a la cocina, sin duda la has estado mirando y a lo mejor otras cosas; sospecho que aún no me dices todo. Yo no la maté, insiste Remigio. De eso estoy seguro, Lucio abre los ojos, mira con apatía, fue el alcohol, el deseo, la locura (ebd., 27).
Lucio macht darauf aufmerksam, dass seine Welt (Diegese) der im Roman (Hypodiegese) inhaltlich entspricht – ein Sohn bringt seinem Vater Essen und legt ein Geständnis ab, das mit einem ermordeten Mädchen in Zusammenhang steht. Er verwendet also die Geschichten, um die ihn umgebende Welt zu deuten. 28 Anschließend konfrontiert er seinen Sohn nicht mit einer Frage, sondern mit einer Mutmaßung dessen, was Remigio mit dem toten Körper getan haben könnte. Aufgrund des Indikativs („tuviste“, „sacaste“, „llevaste“) und des Berichtcharakters (Vergangenheitsform, dreigliedrige parallele Syntax), gleicht Lucios Rede hier der einer Erzählinstanz, wodurch seine Vermutung zu einer Feststellung wird, und die erwähnten Handlungen Tatsachen der erzählten Welt ähneln. Lucio erwähnt dabei keine expliziten sexuellen oder gewalttätigen Akte, semantisch gleicht der Körper des Mädchens hier aber einem aus dem Wasser gezogenen Fisch („en tu pozo, la sacaste, la llevaste a la cocina“), womit eine Reihe sexueller sowie Gewalt-Konnotationen entsteht. 29 Der Fischfang entspricht dem Feld der Jagd, symbolisch fängt dabei der männliche Jäger die weibliche Beute und macht sie sich zu eigen. Unumgänglich ist nun der Tod der Beute, denn an Land stirbt der Fisch bzw. wird getötet. 30 In diesem Text trägt der Jäger (Remigio) seine Beu27 Remigio wird als Figur eingeführt, die etwas verschweigt: Aufgrund seiner internen Fokalisierung erfährt der Leser, dass Remigio den anderen Bewohnern des Dorfes vorenthält, dass er als einziger noch Wasser in seinem Brunnen hat (vgl. Toscana 2010, 10, 21). 28 Als Remigio ihm beschreibt, wie das tote Mädchen aussieht, ist Lucio überzeugt: „Entonces se llamaba Babette“ (Toscana 2010, 29). Dies ist der Name der Protagonistin von La muerte de Babette. Lucio vermischt ‚Fiktion‘ (Hypodiegese) und ‚Realität‘ (Diegese), wobei auch die Unterscheidung zwischen Frankreich (Hypodiegese) und Mexiko (Diegese), bzw. 18. Jahrhundert (Hypodiegese) und Gegenwart (Diegese) nicht länger relevant ist (vgl. ebd., 29ff.). Von diesem Moment an nennen Lucio und sein Sohn sowohl das intra- als auch das hypodiegetische Mädchen Babette. Erst als der wirkliche Name der Toten, Anamari, bekannt wird (vgl. ebd., 62), erscheinen beide Namen parallel (vgl. ebd., 87, 172), wobei die unterschiedlichen diegetischen Ebenen nicht präzise auseinandergehalten werden. 29 Für diese These spricht, dass Remigio anfangs versucht, den Körper des Mädchens mit einem Haken aus dem Brunnen zu ziehen (vgl. Toscana 2010, 12). 30 Analog dazu ähnelt diese Beschreibung dem Bild der Meerjungfrau im Märchen Hans Christian Andersens. Diese opfert ihre Stimme, um an Land gehen zu können, wo sie schließlich stirbt,
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te (das Mädchen) in die Küche. Dies ist der Ort der Nahrungsmittelverarbeitung, wo man den rohen Fisch ausnimmt, der fortan den ‚frei gemachten‘, d. h. nackten weiblichen Körper repräsentiert. Als logische Konsequenz würde darauf das Verspeisen des Fisches folgen, der Akt des Verschlingens. Der Weg für diese Assoziationen ist offen, da Lucio, nachdem er die Küche erwähnt, nur Andeutungen macht („a lo mejor otras cosas“). Die sexuelle Konnotation liegt auch bei der Avocado vor, die wiederum mit dem Apfel parallelisiert wird, dem Symbol der Verführung und Sünde (vgl. Ajouri 2012a, 21). 31 Neben der Semantik des (sexuellen) Appetits, klingt die des Rausches in dem zynisch von Lucio geäußerten Zitat aus La hija del telegrafista an, „fue el alcohol, el deseo, la locura“. 32 Die Rauschzustände, von willentlich konsumierten Betäubungsmitteln („alcohol“), über das sexuelle Verlangen („deseo“), bis zum Klimax des Wahnsinns („locura“), werden hier personifiziert und implizieren, dass das eigene Handeln fremdgesteuert ist und aufgrund eines transgressiven Ausbruchs nicht mehr innerhalb der vorgegebenen Grenzen verweilt. Da Lucio diese Ausrede vorwegnimmt, drängt er seinem Sohn jedoch eine Version der Ereignisse auf, ohne ihn selbst zu Wort kommen zu lassen. Lucio zweifelt Remigios Aussage an („sospecho que aún no me dices todo“) und tritt ihm mit einer für elterliche Fürsorge ungewöhnlichen Härte entgegen („mira con apatía“). Dabei ist der Blick Lucios nicht neutral, sondern vielmehr ausforschend. 33 Wie weiter oben in der vorliegenden Arbeit mit Michel Foucault 34 gezeigt wurde, ist in Geständnissituationen entscheidend, wer die Rolle der Interpretation übernimmt, also den Wahrheitsgehalt der Aussage bestimmt. Bei dieser Person liegt die Macht, da sie beeinflusst, was als ‚wahr‘ gilt, wodurch fundamental in Frage gestellt ist, ob ein Geständnis überhaupt zu einer objektiven Wahrheit führt. In diesem Textbeispiel zeigt sich das an Lucio, der Remigio seinem Blick unterwirft, in die Position des Schweigenden drängt und selbst das Wort übernimmt. da es ihr nicht gelingt, sich mit dem Prinzen zu vermählen. Kraß betont, dass die Meerjungfrau eine marginale Figur darstelle (vgl. Kraß 2010, 357). – Auch Anamari kommt nicht zu Wort und ist marginalisiert. Als einseitige Liebesgeschichte kann dieser Fall insofern gedeutet werden, als sie nach ihrem Tode Remigio ausgesetzt ist, der seine Fantasien in sie hineinprojiziert. 31 Lucio zitiert El manzano, in dem ein Mann den von ihm zuvor ermordeten Jungen unter einem Apfelbaum vergräbt, und überzeugt damit Remigio, die Leiche unter dem Avocadobaum zu begraben (vgl. Toscana 2010, 40f.). Dieser lebt später am Avocadobaum seine sexuellen Fantasien aus und macht die Avocados zu Stellvertretern des Mädchens (vgl. ebd., 57, 140, 172). Er streichelt sie, isst sie und beschädigt sie durch zu grobe Handhabung (vgl. ebd., 51, 57, 140). An diesem metaphorischen Tod der Avocados wird sichtbar, dass sexuelles Begehren jederzeit in Gewalt umschlagen kann. – Das aus dem Nahuatl stammende Wort aguacate ist etymologisch bereits sexuell konnotiert: „ahuacatl ‘fruto del aguacate’, ‘testículo’“ (Real Academia Española 2014, 67). Zudem setzt die Naturmedizin die Frucht als Aphrodisiakum ein (vgl. Cisneros 2018). 32 Diesen Satz hatte Lucio kurz zuvor zitiert. In La hija del telegrafista gesteht der Sohn seinem Vater den Mord an Enzia. Da Lucio diese Textstelle zitiert, impliziert er, dass Remigio am Mord des toten Mädchens die Schuld trägt (vgl. Toscana 2010, 27f.). 33 Vgl. „[E]l mirar en cambio es cultural [...]. Mirar es [...] indagar con los ojos,“ (Sánchez Bedoya, 2009, 199). 34 Vgl. die Ausführung in Kapitel 2.2.2 dieser Arbeit sowie Foucault (1976).
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Dadurch macht Lucio von seiner hierarchischen Überlegenheit Gebrauch und kann das Geschehen kontrollieren. 35 Auch die sich auf der intradiegetischen Ebene abspielenden Akte der Gewalt werden mehrheitlich nicht von der Erzählinstanz, sondern sekundär über die Erzählungen anderer Figuren vermittelt. Meist schweigen die zu der Gruppe der Opfer gehörenden Figuren also. Dieses ‚machtlose Schweigen‘, ein in der Forschung zu El último lector bislang eher vernachlässigter Aspekt, zeigt sich besonders deutlich an der Figur Melquisedecs. 36 Es gelingt Lucio, den Verdacht auf ihn zu lenken, woraufhin die Soldaten Melquisedec als vermeintlichen Mörder des Mädchens festnehmen und ins Gefängnis bringen (vgl. Toscana 2010, 62ff.). Die Erzählinstanz fokalisiert Melquisedec zu keinem Zeitpunkt intern, und sein Tod wird elliptisch ausgelassen (vgl. ebd., 158, 163f.). Er fällt einer Gewalt zum Opfer, die sich, mit Judith Butler (2004) gesagt, außerhalb der frames des Sichtbaren abspielt. 37 Die Gewalt gegen Melquisedec lässt sich mithilfe seines Namens deuten, der intertextuell auf den gleichnamigen Priester im Alten Testament verweist (vgl. Gen 14,18-20; Ps 110,4). Auf Deutsch bedeutet Melchisedek „‚König der An dieser Textstelle, wo der Sohn seinem Vater gegenüber ein Geständnis ablegen könnte, ist neben Remigios Schweigen ausschlaggebend, dass Lucio seinen Sohn gar nicht entlarven will: „Soy inocente, insiste Remigio en silencio. Los ojos de Lucio, en cambio, se muestran severos, sin intención de revelar nada“ (Toscana 2010, 39). In diesem Blickaustausch beider Protagonisten kommt eine tiefe Spannung auf unterschiedlichen Ebenen zum Ausdruck: Das die Lexik dominierende Präfix ‚in-‘ fungiert als negierendes Präfix („inocente“). Auch im anderen Fall, wo das Präfix zielgerichtet ist („intención“), kommt es durch Voranstellung von „sin“ zu einer Verneinung. Die Negation steht auf phonetischer Ebene aber in einem paradoxen Widerspruch zum lautlichen Bild, das wiederholt [si] erklingen lässt (insiste, silencio, sin). Dieser Spannung der Situation entsprechend, erklingt in der „intención“ die tensión, geht man von der in Mexiko üblichen Aussprachevariation des Spanischen im seseo aus. Ein semantischer Gegensatz herrscht zwischen dem strengen Blick Lucios („se muestran severos“) und seiner „intención de revelar nada“, wodurch die Frage nach dem Akkusativobjekt (revelar algo) mit „nada“ zurückgewiesen wird. Die permanenten Widersprüche zeigen vorausdeutend an, dass diese revelación nicht stattfinden wird. So klärt sich auch in Textstellen der internen Fokalisierung Remigios nicht die Frage, ob er das Mädchen ermordet hat oder nicht. Lediglich die Tatsache, dass er seine sexuellen Fantasien auch mithilfe von Gewalt ausleben würde, liest sich heraus: „Por eso está seguro de que si en este momento se asomara al pozo y encontrara viva a la niña, ya no habría la intención de devolverla; sería cuestión de minutos para recostarla en la cama, así fuera a la fuerza y amordazada“ (ebd., 95, Hervorhebung JA). 36 Melquisedec wird als eine Figur eingeführt, die sich von den anderen Einwohnern Icamoles unterscheidet. Er ist zugezogen, hat sich also auf ungewöhnliche Weise vom Zentrum in die Peripherie begeben und er hat keine Familie (vgl. Toscana 2010, 82), d. h. er verfügt über kein direktes soziales Netz. Viel scheinen die anderen Bewohner Icamoles nicht über ihn zu wissen (vgl. ebd., 82f.). Aber Melquisedec ist für Icamole eine wichtige Verbindungsfigur, da er als einziger regelmäßig zwischen Icamole und Villa de García pendelt und dabei das lebenswichtige Wasser sowie Informationen überbringt (vgl. ebd., 10, 22). Vgl. auch Ríos Baeza (2012, 152), der auf die Ähnlichkeit Melquisedecs mit der Figur Melquíades in García Márquez’ Cien años de soledad (1967) hinweist. Da Melquisedec getötet wird, kann er in El último lector als eine Absage an die Genealogie gedeutet werden. Für diese These spricht auch, dass der Hebräerbrief den biblischen Melchisedek wie folgt beschreibt: „Er ist ohne Vater, ohne Mutter, ohne Stammbaum“ (Heb 7,3). 37 Vgl. Kapitel 2.1.2 der vorliegenden Arbeit. 35
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[...] Gerechtigkeit‘ oder ‚mein König ist Gerechtigkeit‘“ (Böttrich und NordheimDiehl 2012, o. S.). Im Neuen Testament greift der Hebräerbrief den Namen Melchisedek auf und bezeichnet ihn als unsterblichen „König des Friedens“ (Heb 7,23). Als Hohepriester hat er die entscheidende Mittlerposition zwischen Gott und dem Volk inne sowie das Privileg, rituelle Opferungen zu vollziehen (Böttrich und Nordheim-Diehl 2012, o. S.). Zunächst lässt sich also festhalten, dass die Figur Melquisedec aus El último lector durch ihren jüdisch-christlichen Kontext semantisch mit den Termini ‚Gerechtigkeit‘, ‚Frieden‘ und mit dem Ritual der Opferbringung verbunden ist. Bei dem im Alten Testament beschriebenen Ritual wählt der Priester zwei Böcke aus „und soll das Los werfen über die zwei Böcke: ein Los dem HERRN und das andere dem Asasel“ (Lev 16,5.7-8, Hervorhebung i. O.). 38 In El último lector beziehen sich die Gewaltakte an Melquisedec und dem Ziegenbock auf den Aspekt der rituellen Opferung. Dabei ließe sich Melquisedec als „Bock für Asasel“ bezeichnen und der Ziegenbock als „Bock für den Herrn“, der, im Gegensatz zu Melquisedec, als rein gilt (vgl. Toscana 2010, 152). 39 Lucio erteilt Remigio die Aufgabe, diesen Bock am Fuße des Avocadobaums mit einem Messer zu erstechen. Es handelt sich um den einzigen innerhalb der erzählten Zeit stattfindenden, explizit und detailliert im Präsens geschilderten Gewaltakt, bei dem Blut zu sehen ist: Remigio coloca la punta del cuchillo en el sitio justo. No la clava hasta mirar fijamente los ojos rubios, de pupila asalchichada; entonces empuja con fuerza. Al principio la única diferencia notoria es que el chivo deja de mascar; no hay balido. Sí, en cambio, un siseo 38 Als nächstes wird der für Gott bestimmte Bock geopfert: „Danach soll er den Bock, das Sündopfer des Volks, schlachten […] und soll mit seinem Blut tun, wie er mit dem Blut des Stieres getan hat, und etwas davon auch sprengen gegen den Gnadenthron und vor den Gnadenthron [15] und soll so das Heiligtum entsühnen wegen der Verunreinigungen der Israeliten und wegen ihrer Übertretungen, mit denen sie sich versündigt haben […] [16]“ (Lev 16,5. 15-16). Nachdem der Priester die Sünden aufsagt, schickt er den anderen Bock in die negativ konnotierte Wüste: „Dann soll Aaron […] über ihm bekennen alle Missetat der Israeliten und alle ihre Übertretungen, mit denen sie sich versündigt haben, und soll sie dem Bock auf den Kopf legen und ihn durch einen Mann, der bereitsteht, in die Wüste bringen lassen [21], dass also der Bock alle ihre Missetat auf sich nehme und in die Wildnis trage; und man lasse ihn in der Wüste [22]“ (Lev 16,5. 21-22). Beide Böcke verkörpern die, nicht von ihnen, sondern von den „Israeliten“ begangenen Sünden („Verunreinigungen“, „Übertretungen“, „versündigt“, „Missetat“) und sind somit Stellvertreter für die transgressiven Taten einer gesamten Gemeinschaft. Man wählt sie zufällig aus („Los werfen“) und überträgt durch Worte illokutionär die Sünden („über ihm bekennen“, „auf den Kopf legen“). Die zwei Böcke symbolisieren allerdings etwas Gegensätzliches: Das Blut des geschächteten Bocks ist reinigend, da der Priester damit den Altar säubert („sprengen gegen den Gnadenthron“, „Heiligtum entsühnen“, vgl. Frey-Anthes 2007). Der andere Bock wird jedoch als Träger des Unreinen („Missetat […] trage“) aus der Gemeinschaft vertrieben und in das jenseits ihrer Grenzen liegende Terrain geschickt („Wildnis“, „Wüste“), wo man ihn dem dämonischen Asasel überlässt („man lasse ihn in der Wüste“, vgl. ebd.). Das Volk ist auf das Opferritual angewiesen, um sich von seinen Sünden zu befreien, was bedeutet, dass das Gleichgewicht dieser Gesellschaft nur erhalten bleibt, wenn sich die Gewalt regelmäßig am Sündenbock entlädt. – Alle deutschsprachigen Bibelzitate in dieser Arbeit entstammen der Version der Deutschen Bibelgesellschaft: Die Bibel. Nach der Übersetzung Martin Luthers. Bibeltext in der revidierten Fassung von 1984. 39 Melquisedec erscheint in einigen Textstellen als ‚unrein‘ (vgl. Toscana 2010, 123, 165f.).
100 4. Grenzen und Transgressionen im mexikanischen Roman der Gegenwart de la garganta, una expansión y contracción rápida de los hoyos nasales. […] Remigio no ve la herida por tener la mirada en los ojos de su víctima; pero no le hace falta verla: siente la sangre bajarle por el puño, percibe en el brazo los débiles golpes de pezuña, escucha el chisguete de orines salpicando en la tierra. Tuerce el cuchillo un poco más y los párpados del chivo se entrecierran, el rostro en conjunto comienza a formar una expresión que Remigio no alcanza a precisar, pero que le intriga. El chivo acaba por cerrar los ojos a pesar de que aún le queda vida. […] Remigio saca el cuchillo y suelta al animal […] (ebd., 152).
Die Handlungen Remigios werden präzise beschrieben („coloca la punta del cuchillo“, „la clava“, „empuja“, „tuerce el cuchillo“, „saca el cuchillo y suelta al animal“), ebenso wie das, was er wahrnimmt („siente“ „percibe“, „escucha“). Das Wortfeld des Sehens ist präsent („mirar fijamente los ojos“, „mirada en los ojos de su víctima“, „cerrar los ojos“). Im konzentrierten Blick Remigios zeigt sich, dass er entschlossen handelt, ohne Skrupel zu empfinden. Auch der Effekt des Messerstichs auf den Ziegenbock wird detailliert, aber empathielos wiedergegeben („el chivo deja de mascar; no hay balido“, „un siseo de la garganta, una expansión y contracción rápida de los hoyos nasales“, „los párpados del chivo se entrecierran“, „acaba por cerrar los ojos a pesar de que aún le queda vida“). Obwohl Blut, Urin und Speichel die Textstelle semantisch im Bereich des Ekels verorten, empfindet Lucio positive Gefühlsregungen, als er seinen Sohn anblickt „con los pies salpicados de sangre“ (ebd., 154). 40 Erklären lässt sich das damit, dass die dem Schächten ähnliche Tötung des Ziegenbocks direkt am Avocadobaum vollzogen wurde, der für Remigio eine besondere Funktion hat, seit er dort den Körper des toten Mädchens begraben hat. Deutet man den Baum als heiligen Ort, stehen die Tropfen des Ziegenblutes für dessen Reinigung und es zeigt sich die Parallele zu Leviticus 16. So entfernen die Polizisten auch Melquisedec wie den „Bock für Asasel“ 41 nach seiner von Lucio wörtlich vollzogenen Beschuldigung aus der Gemeinschaft Icamoles, und bringen ihn durch die „Wüste“ in ein Gefängnis, wo er bis zum Ende bleibt. Wie in der alttestamentarischen Vorlage wird er hier lebend verbannt und kehrt nicht zurück. Melquisedec verliert seine Position als Grenzgänger, „personaje ‚fronterizo‘“ (Ríos Baeza 2012, 153), der als einziger Einwohner selbstbestimmt zwischen Icamole und Villa de García hin- und herpendelte, also eine Mittlerposition zwischen Zentrum und Peripherie innehatte. Er wechselt also von einem „personaje fronterizo“ zu einem personaje liminal und nimmt nun im Sinne Victor Turners eine liminale, d. h. außerhalb der Struktur stehende Position ein. 42 „sonríe […], lo abraza“ (Toscana 2010, 153f.). Der „Bock für Asasel“ wird in späteren Texten als „Sündenbock“ übersetzt (Frey-Anthes 2007). 42 Vgl. die in Kapitel 2.1.3 dieser Arbeit gemachten Überlegungen zu Turners Begriff der Liminalität. – Melquisedecs Zustand lässt sich auch mit Giorgio Agambens Überlegungen zur Figur des homo sacer assoziieren: Dieser darf dem archaischen römischen Recht nach nicht geopfert, aber straffrei getötet werden und befindet sich in einer Schwellenposition zwischen bíos und zoé. Damit erläutert Agamben (2002, 80ff.), wie die Biopolitik das Subjekt auf nacktes Leben, nuda vita, reduziert und auf es zugreift. – In El último lector wird Melquisedec ausgestoßen, aber dadurch komplett der Macht der Gesellschaft unterstellt, in der er nicht länger als Rechtssubjekt gilt. 40 41
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Der heterogene Grenzbegriff, dessen kommunikative Umsetzung die dominante soziale Ordnung einsehbar macht, wird hier an Melquisedec in Szene gesetzt, indem er von einer verbindenden Semantik zu einer der Liminalität und erzwungenen Expulsion wechselt. Im übertragenen Sinn hat Lucio Melquisedec verraten und den Ziegenbock besorgt, um Remigio von der Sünde zu befreien und das soziale Gleichgewicht wieder herzustellen 43 – da beide dafür aber vermutlich unschuldig sterben müssen, zeigt sich, dass dieses Gleichgewicht sich auf problematische Weise durch diskursiv legitimierte Gewaltakte etabliert. Das sichtbare Blut verweist in diesem Fall auf die Gewalt einer gesamten Gemeinschaft: Das rote Blut des Ziegenbocks tränkt den grünen Baum und das ihn umgebende Gras, die sich daran ernähren. Dadurch verkörpert der Tötungsakt die Gewalt des Kollektivs, das Sündenböcke benötigt und opfert, um sich selbst ‚rein‘ zu halten. 44 Mit dem vom französischen Theoretiker René Girard (1982) auf gesellschaftliche Kollektive übertragenen Konzept des bouc émissaire kann man die sich gegen Melquisedec entladende Gewalt als Indikator der sozialen Krise interpretieren. Sie verweist auf die nicht explizit sichtbare, strukturelle Gewalt, die sowohl gesellschaftlich als auch literarisch zunächst entziffert werden muss. Entscheidend ist, dass der getötete und ausgegrenzte Sündenbock nicht die Ursache der Krise (Dürre, Armut) behebt, sondern die zwischenmenschlichen Beziehungen stärkt: „Le bouc émissaire n'agit que sur les rapports humains détraqués par la crise“ (Girard 1982, 65). Das Gemeinschaftsgefühl beruht in diesen Fällen also auf der gewaltvollen Ausgrenzung des ‚Anderen‘. Hier erklären sich Lucios positive Reaktion auf den getöteten Ziegenbock sowie das fehlende Interesse der Dorfbewohner am Schicksal Melquisedecs (vgl. Toscana 2010, 99f.). Die dörfliche Gemeinschaft von El último lector stellt dabei metaphorisch die gleichgültige mexikanische Mehrheitsgesellschaft dar. Zudem enthält die Tatsache, dass mit Melquisedec symbolisch der ‚Frieden‘ und die ‚Gerechtigkeit‘ getötet werden, eine implizite Kritik an der extraliterarisch hohen Straflosigkeit, Folter und Verurteilung Unschuldiger. 45 43 Am Ende des Romans ist Remigio allerdings erschüttert, als er auf ein Foto Melquisedecs schaut: „Y ni aun en esos momentos de embriaguez Remigio podrá sonreír; ya no, ya nunca, porque Melquisedec lo mira […] y […] no otorga este permiso“ (Toscana 2010, 172). – Im Unterschied zum sterbenden Ziegenbock, dessen Blick Remigio problemlos standhält, weckt der Blick Melquisedecs in Remigio Schuldgefühle und lässt sich nicht assimilieren. Mit Vittoria Borsò (2006) kann das Foto als Ort gedeutet werden, wo sich der ‚Andere‘, also Melquisedec, dem Blick Remigios widersetzt, sich nicht der herrschenden Ordnung der Visibilität unterwerfen lässt, sondern diese an ihrer Grenze bricht. Vgl. Kapitel 2.1.2 der vorliegenden Arbeit. 44 Auch die anderen Bewohner Icamoles zeigen kein großes Interesse an Melquisedecs Verbleib (vgl. Toscana 2010, 83). Für die ermittelnden Soldaten erfüllt er die Notwendigkeit eines Schuldigen, um den Fall möglichst rasch abzuschließen (vgl. ebd., 61, 105). Da Lucio sich von Beginn an überzeugt gibt, dass die Soldaten Melquisedec zu Tode foltern werden (vgl. ebd., 71f., 99101), stellt es auch keinen inhaltlich überraschenden Bruch dar, dass dessen Tod während der Haft eintritt. Die Aussagen Lucios widersprechen der offiziell angegebenen Todesursache, Selbstmord (vgl. ebd., 158) und führen zu Zweifeln – es entsteht eine Ambivalenz, die nicht behoben wird. 45 Zur Straflosigkeit und den Problemen des mexikanischen Justizsystems vgl. Kapitel 3.2 dieser Arbeit.
102 4. Grenzen und Transgressionen im mexikanischen Roman der Gegenwart
Der Tod von Lucios Frau Herlinda 46 und der von Anamari liegen vor Beginn der erzählten Zeit. Das Schweigen des toten Mädchens ist auch machtlos, da sie über das, was ihr zugestoßen ist kein Zeugnis ablegen und keine Anklage erheben kann. Sie ist dem Sprechen der anderen Figuren, also Remigio, Lucio und ihrer Mutter ausgeliefert, die sich ihrer ermächtigen, indem sie über sie reden. 47 Deshalb gleicht sie einem leblosen Spiegelbild und ist ein Platzhalter für ein beliebiges vermisstes oder totes Mädchen. 48 Neben Anamari stellt ihre Mutter eine weitere Figur dar, die schweigt. Wie ihre Tochter ähnelt die namenlose Frau einem Abbild (vgl. ebd., 90). Sie gleicht in entscheidenden Punkten den argentinischen Madres de Plaza de Mayo, der bekannten Vereinigung Angehöriger, die für die Erinnerung an Verschwundene kämpfen (vgl. Navarro 2001). In beiden Fällen handelt es sich um eine von Frauen bzw. Müttern dominierte Suche nach ihren vermissten Angehörigen. Die Mutter Anamaris erhält keinen Namen, sondern wird lediglich metonymisch als „la mujer“ bezeichnet (vgl. ebd., 75), analog zu las madres. 49 Neben diesen Gemeinsamkeiten existiert aber ein einschneidender Gegensatz: Die madres machen es zu ihrer diskursiven Taktik, das Verschwinden nicht mit dem Tod gleichzusetzen (vgl. Navarro 2001, 255f.). Sie sind nicht bereit, einen Fall als abgeschlossen zu betrachten, bevor sie nicht den Körper des Vermissten auffinden, und fordern aus 46 Lucio erinnert sich an den Tod seiner Frau Herlinda, die vermutlich an den Folgen eines Skorpionstichs verstorben ist, auch wenn dies nicht zweifelsfrei bewiesen ist (vgl. Toscana 2010, 93). Der Skorpion ist ein mit Mythen belegtes Tier, das in Mexiko mit dem Feuer und dem Tod assoziiert wird und als unheilvolles Zeichen gilt (vgl. Hoffmann 1993). 47 Die Erzählung setzt ein, als Remigio das tote Mädchen in seinem Brunnen entdeckt. Der Verdacht, dass es sich um einen Unfall handele, wird aus dem Weg geräumt, wie das Mädchen aber dort hineingeraten ist und wer dafür verantwortlich ist, klärt sich nicht auf (vgl. Toscana 2010, 11). Das Mädchen wird zu Beginn der Geschichte als „niña“ (ebd.) bezeichnet. Lucio und Remigio geben ihr daraufhin mit „Babette“ den Namen einer hypodiegetischen Figur (vgl. ebd., 29) und erst auf S. 62 erklingt ihr wirklicher Name, „Anamari“. Folglich wirkt die intradiegetische Anamari lediglich wie eine Kopie der hypodiegetischen Babette. Diese Kopie ist stumm, da sie tot ist und aus diesem Grund über den gesamten Verlauf der Handlung schweigt. Es werden keine erzähltechnischen Mittel, wie z. B. Analepsen verwendet, um dieses Schweigen aufzuheben. – Die von der Mutter getätigten Aussagen setzen ihre Tochter ebenfalls mit der literarischen Figur Babette analog und wirken verstörend, da sie die Individualität Anamaris negieren, und somit die fehlende Tiefe der Figur bestehen bleibt (vgl. ebd., 77f.). 48 In Toscanas neuestem Roman Olegaroy bildet ebenfalls die Nachrichtenmeldung über den Mord an einer Frau die Ausgangssituation der sich entwickelnden Geschichte (vgl. Toscana 2018, 10). Die Tote, Antonia Crespo, bleibt stumm und der Mord unaufgeklärt. Die wiederkehrenden straflosen feminicidios in Toscanas Werk deuten auf eine Gesellschaft hin, in der sexualisierte Gewalt alltäglich ist. Dabei verweist die fehlende Aufmerksamkeit, die in der erzählten Welt der Tatsache zuteilwird, dass der Mord unaufgeklärt bleibt, auf das Desinteresse der Mehrheitsgesellschaft. 49 Zudem wird die Farbsymbolik der madres in El último lector aufgegriffen, indem das Markenzeichen der weißen Kopftücher der Argentinierinnen mit der schwarzen Trauerkleidung der Mutter kontrastiert, die sich auch in Weiß, aber nie bunt kleidet (vgl. Toscana 2010, 117). Die madres begannen ihren Protest gegen das Vergessen ihrer Kinder, indem sie stumm die Plaza de Mayo umrundeten und schweigend durch ihre Anwesenheit eine Botschaft des Widerstands äußerten. Auch die mujer macht sich selbstständig auf die Suche nach ihrer Tochter, schweigt dabei jedoch.
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diesem Grund heute wie damals eine „Aparición con vida“ (vgl. Asociación Madres de Plaza de Mayo 1990). So wird „Vivos se los llevaron, vivos los queremos“ zu einem Spruch, den man auch in Mexiko bei den Protesten gegen das Vergessen von Verschwundenen verwendet. 50 Die Mutter in El último lector überzeugt zwar Lucio, sie zum Grabe ihrer Tochter führen, bleibt darüber hinaus aber auffallend passiv. Lucio erklärt dem entsetzten Remigio: [V]isitará la tumba de su hija en silencio, sin ganas de escarbar, sin buscar venganzas o culpables más allá de Melquisedec. [...] y a la mujer no le hace falta ver el cuerpo, le basta con las palabras (Toscana 2010, 139f.).
Die Frau selbst kommt in der gesamten Szene nicht zu Wort und wird lediglich über Lucios intern fokalisierten Blick wahrgenommen (vgl. ebd., 139ff.). Lucio übernimmt die Erzählerfunktion, indem er über die Frau spricht und ihr Verhalten voraussagt, wie sich am Futur zeigt („visitará“). Angedeutet werden in diesem Zitat Handlungen, die es der Frau ermöglichen würden, dafür zu kämpfen, das Verschwinden ihrer Tochter aufzuklären: Sie könnte das vermeintliche Grab umpflügen („escarbar“), in der doppelten Bedeutung, nach dem Körper („cuerpo“) zu graben und in einem übertragenen Sinne, das Verdeckte freizuschaufeln. 51 Damit ginge ebenfalls einher, den wirklich Schuldigen zu suchen („culpables“), statt sich mit dem erstbesten Beschuldigten zufrieden zu geben („más allá de Melquisedec“). Doch all das negiert Lucio mit einem doppelten „sin“, und ist sich des Schweigens der Frau sicher. Auch den Körper, so Lucio, müsse die Frau nicht sehen („no le hace falta ver el cuerpo“). Hier zeigt sich die Macht Lucios, der an ihrer Stelle spricht. Die Beschreibung der Mutter ist irritierend und widerspricht den Erwartungen des Lesers, da ihr Handeln dem entgegengesetzt ist, was den Kampf der Hinterbliebenen um ihre vermissten Angehörigen auszeichnet. 52 Um zu beantworten, aus welchem Grunde sie so agiert, liegen zwei Lesarten auf der Hand: Einerseits verweist die Mutter Anamaris mit ihrem Schweigen allegorisch auf die Machtlosigkeit der Angehörigen, die um ein Auffinden ihrer Familienmitglieder kämpfen. Die Frau schweigt, klagt nicht an, „gräbt“ nicht und bemüht sich nicht um einen Kampf, da die Erfolgschancen gering sind. Sie verlässt schließlich Icamole ohne den Körper ihrer Tochter (vgl. ebd., 169). Andererseits kann das Verhalten der Mutter weniger pessimistisch gedeutet werden. Die Frau mag zwar nicht mehr an das Auffinden des Körpers ihrer Tochter glauben, aber Lucio betont: „le basta con las palabras“. Während der Körper („cuerpo“) vergeht, bleibt 50 Dies ist das Motto der Demonstrationen, die auf das Verschwinden der 43 Studenten im Staat Guerrero im September 2014 folgen (vgl. Planas 2016). Vgl. Kapitel 3.2.2 dieser Arbeit. 51 Der Soziologe Gabriel Gatti (2006, 30) zeigt, dass im postdiktatorialen Cono Sur in den Diskursen um die Aufarbeitung der desaparecidos die bildliche Forderung geäußert wurde, man müsse das ‚Verborgene‘ wieder sichtbar machen. El último lector greift mit dem doppeldeutigen „escarbar“ diesen metaphorischen Sprachgebrauch erinnerungspolitischer Art auf: es geht darum, den Körper des Opfers und die Identität des Täters offenzulegen. In diesem Fall scheitert aber beides. 52 Remigio äußert ähnliche Zweifel am Verhalten der Mutter, was hier als metatextueller Kommentar der untypischen Darstellungsweise der Mutter gedeutet wird (vgl. Toscana 2010, 86f.).
104 4. Grenzen und Transgressionen im mexikanischen Roman der Gegenwart
das Wort („palabra“) bestehen und kann nicht gelöscht werden, das Symbolische ist dem Materiellen also überlegen. Schrift und Literatur werden somit als Medium der Erinnerung bezeichnet, als einzige Elemente, die über den Tod hinaus erhalten bleiben. Auch wenn die Mutter Anamaris also schweigt, fordert sie Worte. Diese Worte könnten ein machtloses Schweigen überwinden. 53 Die Regierung, die einen weiteren relevanten Akteur in diesem Gefüge darstellt, verhilft den Angehörigen allerdings nicht zu den benötigten Worten. Denn an diesem Diskurs ist auffällig, dass er sich durch ein spezifisches Schweigen charakterisiert, das hier als offizielles Schweigen bezeichnet wird. Wie bereits anfangs erläutert wurde, ist Icamole ein Inbegriff der Peripherie, was eine Abwesenheit der im Zentrum agierenden Regierung bedeutet. Sie kommuniziert lediglich indirekt über schriftliche Anordnungen mit den Einwohnern Icamoles (vgl. ebd., 163, 157f.). Doch als in Villa de García das Mädchen verloren geht, richtet sich die Aufmerksamkeit der Regierung auf Icamole: Por la mañana llegan dos policías rurales. Hacen preguntas aquí y allá, nada que parezca una investigación formal, acaso vienen a intimidar con sus uniformes caquis y sus brillantes cuarentaicincos que ostentan en gruesos cintos embalados. Ambos con paliacate al cuello que se desanudan de vez en vez para secarse el sudor de la frente, echándose el sombrero hacia atrás, pues no se lo quitan ni para hablar con una anciana. ¿Han visto a una niña por aquí? ¿algo sospechoso? ¿raro? ¿un fuereño? ¿algún grito en la noche?, interrogan con el tono de quien da órdenes, y la gente de Icamole a todo responde negativamente, con temor. No tocan puertas, sólo cuestionan a quienes encuentran por la calle, y acaban molestos porque nadie les ofrece algo de comer ni de beber. Vamos a regresar, dicen por orgullo, por la vergüenza de irse con las manos vacías y no tener la menor idea sobre cómo conducir una investigación. Arrancan en una camioneta del mismo color que sus uniformes y hacen sonar una sirena inútil, dirigida a las hormigas del camino (ebd., 42).
Der erste Auftritt der Soldaten in Icamole spielt sich in dem kürzesten Kapitel des Romans ab, das nicht länger als der hier zitierte Abschnitt ist und die nur punktuelle polizeiliche Anwesenheit im Dorf deutlich macht. Im Vergleich zum Rest der Erzählung, in der sich erzählte Zeit und Erzählzeit oft decken, dominiert in den Situationen der polizeilichen Ermittlung eine starke Zeitraffung. Das unterstreicht die Art und Weise, wie die Ermittlungen im Fall des vermissten Mädchens geführt werden: Oberflächlich und inkompetent („hacen preguntas aquí y allá“, „nada que parezca una investigación formal“, „no tocan puertas, sólo cuestionan a quienes encuentran por la calle“, „no tener la menor idea sobre cómo conducir una investigación“, „inútil“). Dabei treten die Polizisten angsteinflößend („vienen a intimidar“, „cuarentaicincos que ostentan en gruesos cintos embalados“, „interrogan“, „el tono de quien da órdenes“, „temor“) und unsympathisch auf („no se lo quitan ni para hablar con una anciana“). Somit ‚sprechen‘ sie zunächst vor allem durch ihre körperliche Anwesenheit, untermalt von offen getragenen Waffen und einer tarnfarbenen Ausrüstung („uniformes caquis“, „camioneta del mismo color que sus uniformes“), die ihre Investigation mit einer drohenden Kriegssymbolik ver53
Dies wird weiter unten anhand der metafiktionalen Ebene in El último lector ausgeführt.
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sieht. Mit dem Dualismus des Krieges korrespondiert die Differenz zwischen den eingeschüchterten Dorfbewohnern („temor“) und den Polizisten, die nicht verstehen, wieso sie nicht willkommen geheißen werden („molestos porque nadie les ofrece algo de comer ni de beber“), Zeichen ihrer fehlenden Empathie. Die von den Polizisten gestellten Fragen wirken, da sie asyndetisch aneinandergereiht sind, wie auf die Bewohner Icamoles abgefeuerte Schüsse („¿Han visto a una niña por aquí? ¿algo sospechoso? ¿raro? ¿un fuereño? ¿algún grito en la noche?“). An den fehlenden Pausen manifestiert sich die mangelnde Geduld der Polizisten, um auf Antworten zu warten. Sie verspüren den Druck, den Fall schnellstmöglich zu lösen („la vergüenza de irse con las manos vacías“). Wichtig ist hierbei, dass es sich um „rurales“ handelt, d. h. nicht um offizielle Berufssoldaten, sondern um eine von der Regierung akzeptierte Freiwilligenarmee, die dem mexikanischen Militär offiziell untersteht (vgl. Ibarrola 2014). Doch in El último lector liegt keine Kooperation vor, vielmehr herrscht ein Wettbewerb zwischen den „rurales“ und den „federales“, rasch einen Schuldigen zu präsentieren (vgl. ebd., 61, 105). Zu dem fehlenden Vertrauen zwischen Polizei und Volk kommt also eine Uneinigkeit des nicht einheitlich agierenden Militär- und Polizeiapparats, die in diesem Fall als Zeichen der Instabilität und als Hindernis für die Wahrheitsfindung erscheint. Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass der Mord an dem Mädchen über Melquisedecs Verhaftung hinaus nicht aufgeklärt wird. Die wahre Ursache des Leids, das Anamari zugefügt wurde, bleibt als Leerstelle unergründet und impliziert die Gleichgültigkeit der Regierung und Mehrheitsgesellschaft. 54 Lucio bedient sich der Doppeldeutigkeit von Sprache, um die polizeiliche Investigation zu manipulieren. Indem er sich die Ambiguität der literarischen Sprache zu eigen macht, gelingt es Lucio, Aussagen zu tätigen, ohne sie explizit zu benennen (vgl. auch Abeyta 2010, 427). Als der ermittelnde Leutnant ihn nach Informationen zur vermissten Anamari fragt, nimmt Lucio Ciudad sin niños zur Hand: „No confía en el entendimiento de ese teniente, pero está decidido a intentarlo, así que comienza a leer en voz alta los renglones subrayados“ (Toscana 2010, 62). Er liest eine Geschichte über einen alten Mann vor, der tagtäglich Erde in den nahegelegenen Fluss Arno kippt, worüber sich die anderen Bewohner des Dorfes belustigen, bis eines Tages nach und nach die Kinder aus diesem Dorf verschwinden (vgl. ebd., 62ff.). ¿Qué quiere usted decirme? Nada, señor, yo sólo estaba leyendo. El libro yace cerrado; la mano de Lucio se posa sobre la portada, bloqueando título y autor. Teniente y bibliotecario se sostienen la mirada durante varios segundos […]. En eso suena el cencerro de Melquisedec. […] Espero que su información sea fidedigna, dice el teniente, o vendré por usted. Sale de la biblioteca y tarda un instante en ajustar su vista a la luz del exterior; rastrea el sonido del cencerro y descubre la carreta tambaleante con los tambos de agua. Vamos a llevarnos a ese hombre, dice a los dos policías mientras señala a Melquisedec [...]. Hasta entonces comprende Lucio que la lectura fue perfecta, que Melquisedec trae en sus tambos el agua del Arno (ebd., 64f.). 54 Arndt Lainck (2014, 239ff.) zufolge macht die fehlende Empathie der Mitmenschen für die Opfer in Bolaños 2666 sichtbar, dass bestimmte Formen von Gewalt der Gesellschaft inhärent sind.
106 4. Grenzen und Transgressionen im mexikanischen Roman der Gegenwart
Der hier vollzogene Spannungsaufbau entsteht dadurch, dass sich erzählte Zeit und Erzählzeit decken, was den Duellcharakter der Szene untermalt, in der sich der Teniente, Vertreter von Militär und Exekutivgewalt des Staates, und der Bibliothekar Lucio als Hüter von Literatur und Wissen, gegenüberstehen („se sostienen la mirada durante varios segundos“). Der Leutnant tritt drohend auf („vendré por usted“), hat aber wenig Einfluss auf Lucio, der sich innerhalb der Grenzen der Bibliothek, wo dieses Gespräch stattfindet, als Autorität fühlt (vgl. ebd., 59). Seine Körperhaltung verrät, dass er die Oberhand behält („la mano de Lucio se posa sobre la portada“) und über Wissen verfügt, das er nicht mit dem Teniente teilt („bloqueando título y autor“). Dadurch, dass Lucio betont, er habe nur gelesen („sólo estaba leyendo“) und wolle nichts bezwecken („nada“), teilt er dem Teniente die Rolle des Zuhörers bzw. Lesers zu, der den Text rezipiert und die Zuschreibung von Sinn sowie die Verknüpfung der Inhalte („¿Qué quiere decirme?“) in diesem Moment selbst vornehmen muss. Lucio, der um diese Prozesse weiß, lenkt mit der literarischen Ambivalenz den Leutnant, indem er bewusst Leerstellen setzt und bestimmte Textabschnitte verknüpft („renglones subrayados“). In dem Moment, als der Teniente Melquisedec sieht, kombiniert er dessen „tambos de agua“ mit den Inhalten der Geschichte. Die Ebene der Diegese, „Melquisedec trae en sus tambos“, vermischt sich mit der Hypodiegese, „el agua del Arno“. Die logische Konsequenz aus Sicht des Leutnants ist es, Melquisedec festzunehmen, der andeutungsweise mit dem Verschwinden von Kindern in Zusammenhang steht. Da sich der Teniente nun außerhalb der Bibliothek befindet, kann er mit diesem Akt auch seine Autorität wiederherstellen. Lucio bleibt zufrieden zurück und stellt fest, „la lectura fue perfecta“. Versteht man „lectura“ im doppelten Sinn als Prozess des Vorlesens und jenen des Lesens, ergeben sich zwei „perfekte“ Resultate: Der Teniente hat sein Textverständnis, dessen sich Lucio anfangs nicht sicher war („no confía“), unter Beweis gestellt. Zudem hat Lucio sein Ziel erreicht, die ihn umgebende Welt zu beeinflussen, indem er erfolgreich die Literatur instrumentalisiert hat. Durch die metaleptische Verknüpfung einer hypodiegetischen Geschichte mit der intradiegetischen Welt konnte Lucio den Verdacht auf Melquisedec lenken, ohne dessen Namen zu nennen. Anhand dieser Textstelle lassen sich metasprachliche Überlegungen anstellen. Es wird gezeigt, dass Sprache ein Mittel der Herrschaft sein kann. Sie hat nicht nur die neutrale oder mimetische Funktion, die Welt zu beschreiben, vielmehr prägt sie die Art, in der Menschen die Welt wahrnehmen und gestalten. Verbale Grenzziehungen und Marginalisierungen gehören nicht nur der symbolischen Ebene an, sondern sie können für die Menschen, die sie betreffen – in diesem Fall Melquisedec – reale Konsequenzen haben. Neben der ausgrenzenden Funktion von Sprache, verweist diese Textstelle doch zum anderen auf das Potenzial, das in der Literatur steckt und es ihr ermöglicht, die Realität, d. h. die Gesellschaft, zu beeinflussen. Hier kann die Forderung der Mutter nach „palabras“ nachvollzogen werden: Da Dank der Vieldeutigkeit der literarischen Sprache Botschaften übermittelt werden können, ohne dass diese explizit-denotativ artikuliert werden müssen, ist Literatur ermächtigend und subversiv.
4.1 David Toscana: El último lector (2004) 107
Wie sich hier bereits zeigt, macht die metaliterarische Reflexion einen wichtigen Teil von El último lector aus. Für die zugrundeliegende Fragestellung ist wichtig, dass Lucio wiederholt Gewalt und Tod in der Literatur reflektiert. Dabei kritisiert er, wie Autoren die Gewaltszenen in ihre Texte integrieren. [M]encionan la sangre y el horror, pero no se percibe ni una cosa ni otra, por eso abultan sus descripciones con adjetivos. […] [N]arrar la muerte de alguien implica más que inyectarle al texto varios sinónimos de horror, angustia, dolor. Lucio arroja el hueso de aguacate por la puerta. Por eso, si no ha de hacerse correctamente, es mejor obviar la muerte, como en La muerte de Babette (ebd., 51, Hervorhebung i. O.).
Lucios Kritik, dass die Autoren Synonyme und Adjektive verwenden, spiegelt sich textuell wider, da hier fast keine Adjektive verwendet werden. Dieser kurze Abschnitt ist durchsät mit Wörtern, die semantisch im Feld der ‚Gewalt‘ anzuordnen sind („sangre“, „horror“, „muerte“, „dolor“), doch der einzige Gewaltakt, der hier wirklich auf Handlungsebene geschieht, ist ein anderer. Zunächst bietet sich ein Blick auf den letzten Satz Lucios an, „es mejor obviar la muerte“: „Obviar“ heißt in diesem Fall, die Beschreibung des Todes zu vermeiden, wobei das Verb als Synonym von ‘evitar’ bzw. ‘eludir’ zu verstehen ist. Durch den Titel des Werkes (La muerte de Babette) ist der Tod aber bereits von Beginn an in der Erzählung präsent und aus „obviar la muerte“ entsteht die Assoziation es obvia la muerte. Transponiert man diese Aussage Lucios auf die hier zitierte Textstelle, wird der Fokus auf den einen Satz gelenkt, an dem der Tod explizit nicht durch Synonyme vertreten ist: „Lucio arroja el hueso de aguacate por la puerta.“ Die auf den ersten Blick banal erscheinende Beschreibung einer Bewegung Lucios mitten in seinem Diskurs über Gewalt und Literatur ist essenziell, denn der Wurf des Avocadosteins hat eine vierfache Parallele: 1. gleicht die Bewegung den von Lucio vollzogenen Bücher-Verurteilungen, die bereits weiter oben als Akt der Hinrichtung interpretiert wurden. 2. schleudert er den Stein aus der Tür und vollzieht damit eine Handlung, die auf hypodiegetischer Ebene Babettes Verschwinden hinter der Tür entspricht, dem Roman also, den Lucio an dieser Stelle als Beispiel einer guten Erzählweise nennt. 55 3. ist Babettes Pendant auf der intradiegetischen Ebene die tote Anamari, die in den Brunnen geworfen wurde. Für diese Hypothese spricht außerdem 4. der Fall, dass Remigio Anamari unter dem Avocadobaum vergraben hat (vgl. ebd., 49f.). Darüber hinaus hat Lucio sich die Avocado gegriffen und in sie hineingebissen, während er jene Textstelle aus El manzano rezitierte, in der der Mörder des unter dem Apfelbaum vergrabenen Jungen nicht in der psychischen Verfassung ist, Äpfel zu essen (vgl. ebd., 50f.). Lucio aber zeigt durch seinen Biss in die Frucht, dass er keinerlei moralische Bedenken hat. Die Avocado stellt eine 55 Auf der hypodiegetischen Ebene in La muerte de Babette entspricht die Tür einer Grenze zwischen Leben und Tod, da Babette hinter der Tür verschwindet (vgl. Toscana 2010, 30). Auf diese Schlüsselszene wird an mehreren Stellen in El último lector Bezug genommen (vgl. ebd., 77, 108, 127, 170f.). Die semantischen und inhaltlichen Spiegelungen, die sich teilweise über unterschiedliche Ebenen ziehen, sind Ausdruck einer Gewalt, die erst entziffert werden muss, um sichtbar zu werden.
108 4. Grenzen und Transgressionen im mexikanischen Roman der Gegenwart
Metapher für das ermordete Mädchen dar, womit der geworfene „hueso“ von einem einfachen Kern der Avocadofrucht zum „hueso“ als menschlicher Knochen mutiert. Es liegt die Parallele zwischen „arrojar un hueso“ und arrojar un cuerpo auf der Hand. Weder Adjektive noch starke Synonyme beschreiben an dieser Stelle den Tod, er wird aber trotzdem übermittelt und ist daher offensichtlich (obvio), obwohl er sprachlich vermieden wurde (obviado). Im Text entfaltet sich folglich eine Sprache, die die phonetische Nähe semantisch sich widersprechender Begriffe einsetzt. Diese sich über mehrere Ebenen ausbreitende Sprache löst die Gewalt von ihrer Gebundenheit an einen Signifikanten, was wiederum eine aufmerksame Lektüre erfordert, um die nicht immer sicht- und hörbare Gewalt zu erkennen. Das Verhältnis der literarischen Welt zur extraliterarischen und die Möglichkeiten diese zu verbinden, werden vor allem in den Abschnitten von El último lector verhandelt, in denen es um die Beziehung zwischen Vergangenheit und Gegenwart geht. Während diskutiert wird, welche Rolle die Literatur in Prozessen der Erinnerung 56 einnehmen kann, erklingt auch die metatextuelle Frage nach der Grenze zwischen fiktionalen und faktualen Texten: ¿[D]ónde estaba la frontera entre una y otra? ¿Dónde encajaban las memorias de un presidente? ¿Una novela histórica? ¿Las vidas de los santos? […] Un libro de historia habla de cosas que pasaron, mientras una novela habla de cosas que pasan, y así, el tiempo de la historia contrasta con el de la novela, que Lucio llama presente permanente, un tiempo inmediato, tangible y auténtico. En ese tiempo Babette existe, es más real que un héroe patrio sepultado en la rotonda de los hombres ilustres; jamás podría estar Babette en un estante con rótulo de ficción; en ese presente permanente una mano misteriosa toma a Babette una y otra vez cada vez que se abre el libro en la última página […]; Babette no es polvo ni en polvo se convertirá (ebd., 115f.).
Lucio nennt Werke, die an der nicht immer eindeutig zu definierenden Schwelle zwischen Fiktionalität und Faktualität anzusiedeln sind („memorias de un presidente“, „novela histórica“, „vidas de los santos“) und hinterfragt so diese Zweiteilung. Danach erläutert er, warum auch ein Roman nicht als fiktional definiert werden könne und stellt die Geschichte („historia“) der Literatur („novela“) gegenüber. Das verweist intertextuell auf die in der Poetik des Aristoteles (2010, 29) gemachte Unterscheidung von Geschichte und Dichtkunst, die Lucio aber zu einem anderen Ergebnis umwandelt. Während die Geschichte ihm zufolge das Zurückliegende umfasse, wie die abgeschlossene Vergangenheitsform zeigt („pasaron“), sei der Roman im Präsens angesiedelt („habla de cosas que pasan“). Es handelt sich dabei um eine besondere Art der Gegenwart, die Lucio mit dem Neologismus presente permanente bezeichnet.
56 El último lector verweist wiederholt auf die historische Vergangenheit, zentral ist dabei die Batalla de Icamole von 1876. Es wird der Kontrast zwischen den großen Namen der Geschichte (Porfirio Díaz) und den anonymen gefallenen Soldaten thematisiert und zudem kritisiert, dass Gesellschaften, die ihre Vergangenheit heroisieren und instrumentalisieren eine objektive Geschichtsschreibung verhindern. Die Forschung behandelt das Verhältnis von Literatur und Erinnerung in El último lector bislang nur am Rande, vgl. z. B. Geraldo (2015, 67f.).
4.1 David Toscana: El último lector (2004) 109
Wichtig ist dabei die Verbindung zweier gegenteiliger Begriffe: Denn die augenblickliche Gegenwart, die sich eigentlich entzieht, wird in der Literatur permanent. Dort entstehe laut Lucio eine neue Art der Zeit, ein „tiempo inmediato, tangible y auténtico“. Sie mache die Dinge nachvollziehbar, „tangible“, d. h. spürund greifbar. Dank dieser Nähe und Unmittelbarkeit sei die Literatur authentischer („auténtico“, „más real“) als die großen Namen der in die offizielle Geschichte eingegangenen Männer („un héroe patrio“ „los hombres ilustres“), die abstrakt bleiben. Während sie vergangen seien, „sepultado“, also tot und vergraben, bleibe das Mädchen in der Literatur präsent. Dabei werde diese Zeit durch den Akt des Lesens permanent gehalten („cada vez que se abre el libro“) und vollziehe sich jedes Mal von Neuem („una y otra vez“). Das bedeutet aber, dass der Leser sich auf diese Zeit einlassen muss, da es nur so möglich ist, das presente permanente zu spüren. Am Ende des Zitats zeigt sich der Gegensatz zwischen „polvo“ und „palabra“, erneut stehen sich Materie und das Symbolische gegenüber (vgl. Toscana 2010, 138). Die Literatur macht es möglich, dass Babette trotz ihres Todes für die Ewigkeit bestehen bleibt, festgehalten in einer Bewegung, die sich wie ein Daumenkino immer wieder vollführen lässt. Somit gelingt es der Literatur zum einen, die Grenze zwischen Gegenwart und Vergangenheit aufzuheben, indem sie Präsenz schafft. Zum anderen spielt sie auch in der Verbindung kollektiver und individueller Erinnerung eine Rolle, wie Anamaris Mutter postuliert: „[D]ebemos lograr que la historia sea literatura“ (ebd., 137). Sie tut dies während eines Rollenspiels mit Lucio, in dem sie die Rolle von Porfirio Diaz innehat, also faktisch eine historische Figur („historia“) fiktional zum Leben erweckt („literatura“) sowie die Sprache der Literatur nutzt, um politische Forderungen zu stellen. Denn die Aufforderung, Geschichte in Literatur zu konvertieren, impliziert, dass die Toten vor dem Vergessen bewahrt werden können, wenn sie in Literatur überführt werden. Durch die appellative Struktur des Satzes („debemos“) kann sich der Leser an dieser Stelle ebenfalls angesprochen fühlen. So ergeben sich metaliterarische Ansätze zur Rolle von Literatur im Erinnerungsprozess: Literatur ist im Gegensatz zur Vergangenheit viel realer, d. h. ihre vermeintliche Fiktionalität hindert sie nicht daran, die Welt zu beeinflussen. Das bedeutet, dass das kollektive Vergessen der Marginalisierten überwunden werden kann: Mithilfe der Literatur, die Erinnerung ermöglicht, präsent hält, was vergehen muss und sichtbar macht, was dies auf den ersten Blick nicht ist. Wer die Zeichen zu entziffern vermag, kann das Verborgene offenlegen. Demnach besteht die notwendige Voraussetzung darin, dass jemand die Literatur als Leser zur Kenntnis nimmt und in ihrer Bedeutung zu entschlüsseln versteht, sie also aus ihrer Fiktionalität befreit. Auf der discours-Ebene stellt El último lector mehrmals die Grenzen zwischen Fiktionalität und der extraliterarischen Welt in Frage. Neben Spiegelungen von hypo- und intradiegetischen Geschichten, lassen sich wiederholt metaleptische Grenzüberschreitungen finden, die im Laufe der Geschichte dominanter werden und vor allem an den Stellen auftreten, an denen Lucio über Literatur reflektiert (vgl. ebd., 19, 31, 52). Um diese metaliterarischen Reflexionen zu deuten, ist Cer-
110 4. Grenzen und Transgressionen im mexikanischen Roman der Gegenwart
vantes’ Don Quijote zentral, der nicht explizit als Intertext markiert wird. 57 Wie Alonso Quijano hält auch Lucio mitunter die fiktive und die reale Welt irrtümlich für dieselbe, was bei den anderen Bewohnern des Dorfes Spott und Ablehnung auslöst (vgl. ebd., 53f.). Don Quijote und El último lector unterscheiden sich jedoch maßgeblich in ihrem Ende: Don Quijote nimmt abschließend wieder seine Identität als Alonso Quijano an, wendet sich von den Ritterromanen ab, erlangt also auf dem Sterbebett sein juicio wieder, kann die Beichte ablegen und verstirbt (vgl. Cervantes Saavedra 1999). 58 Der intern fokalisierte Lucio entscheidet sich zunächst, die von sich selbst errichteten räumlichen und habituellen Grenzen zu transgredieren (vgl. Toscana 2010, 179f.). Es kommt zu einer erheblichen Veränderung seiner Lesegewohnheiten, beginnend damit, dass er nicht mehr in seiner Bibliothek liest, sondern an seinem Küchentisch im Wohnbereich (vgl. ebd., 177). Mit der Bibliothek und dem Wohnbereich mischt er zwei Felder, die er früher getrennt hielt. 59 Dann zerschlägt Lucio mit Gewalt das Brett, das zuvor im Treppenhaus als Grenze zwischen Wohnbereich und Bücher-Hölle fungierte und steigt die Treppen hinab (vgl. ebd., 178). In der Hölle erfolgt anfangs noch einer der typischen Wutausbrüche Lucios gegen die von ihm als schlecht bewerteten Bücher (vgl. ebd., 178f.). Doch dann reißt er, aus der Hölle heraus, die zur Bibliothek führende Absperrung herunter, durch die er vormals von der anderen Seite aus die verurteilen Bücher geworfen hatte und verbindet beide Bereiche. In der Bibliothek greift er sich eine noch geschlossene Bücherkiste, die er – durch die Hölle hindurch – die Treppen hoch in seine Wohnung trägt (vgl. ebd., 179). In der Folge durchkreuzt er auf seiner Route wiederholt die Hölle und manifestiert, dass er die selbst errichteten Grenzen nun eigenhändig eingerissen und damit eine Zirkularität erschaffen hat: Sein Weg führt von der Bibliothek in den Wohnbereich, durch die Hölle hindurch und zurück in die Bibliothek. Die Treppe gewinnt somit ihre verbindende Funktion zurück. Vereint werden 1. das Leben (Wohnbereich) mit der Literatur (Bibliothek, Hölle), 2. gute (Bibliothek) und schlechte Literatur (Hölle), 3. Leben (Wohnbereich, Bibliothek) und Tod (Hölle) sowie 4. das Unten (Hölle und Bibliothek) mit dem Oben (Wohnbereich). Gleichzeitig befreit sich Lucio von dem Hass, der zuvor seinen Alltag, seinen Beruf und seine Weltsicht prägte (vgl. ebd., 179). Ein Großteil der Grenzen, die die erzählte Welt strukturierten, wurde aufgehoben. Fortan ändert sich auch die Art, wie Lucio die Bücher liest: er zerschneidet sie und bildet daraus eigene Sätze (vgl. ebd.). 57 Die intertextuelle Verwandtschaft von Lucio und Alonso Quijano wird in der Rezeption einheitlich akzeptiert (vgl. Rodríguez Lozano 2006, 62; Bennett 2007, 233; Abeyta 2010, 426; Geraldo 2015, 64). – Diese Intertextualität hat ihre Gemeinsamkeit im Spielerischen, das durch paradoxales Erzählen metafiktionale Effekte hervorruft (vgl. Sánchez Peña 2011, 28f.). 58 Alonso Quijanos Beichte kann mit Rückgriff auf Foucaults Überlegungen zum Geständnis als der Moment bezeichnet werden, in dem sich Quijano dem herrschenden Machtdispositiv unterwirft, vgl. Kapitel 2.2.2 dieser Arbeit. 59 Vgl. Fußnote 17 in diesem Kapitel. – Vgl. zudem Kapitel 2.1.2 dieser Arbeit zu Georg Simmels Analyse der Tür, die sowohl trennen als auch verbinden kann. Lucio, der die Tür als Abgrenzung verwendet hatte, verbindet in dieser Szene das zuvor Getrennte.
4.1 David Toscana: El último lector (2004) 111 Esa mañana prefirió quedarse en cama, lee Lucio en voz alta. De nuevo estás aquí, dice, en cama, y ahora las piernas te duelen porque caíste de la silla, y esta vez yo no permitiré que entre ningún alacrán (ebd., 180).
Lucio liest laut vor („lee“), ist also der Erzähler einer Geschichte, die sich dementsprechend auf der hypodiegetischen Ebene ansiedelt. Der maßgebliche Unterschied zu vorherigen Szenen ist, dass er nun aber die Protagonistin dieser neuen Welt, seine verstorbene Frau Herlinda als erzählte Figur, direkt anspricht („estás aquí“). Dadurch tritt Lucio metaleptisch in die hypodiegetische Welt hinein und wird selbst zu einem Teil von ihr. Indem Lucio seine eigens verfasste Geschichte vorliest, schafft er einen variablen Handlungsstrang, der die Abwesenheit seiner Frau und ihren Tod aufhebt. Es entfaltet sich eine neue Erzählung, in der Lucio und Herlinda gemeinsam durch Icamole gehen, ein glückliches Ende, wie es scheint (vgl. ebd., 180f.). Aber […] sabe que un mal día puede abrir otra caja de libros y toparse con La muerte de Herlinda, y entonces ya no habrá modo de evitarle el destino trágico que le dé su autor, sea tras una puerta o por obra de un anciano que roba jóvenes esposas; Lucio sabe que, a fin de cuentas, él también ha de sucumbir en cualquier momento, avergonzado, con un cuchillo que gira en el esternón; sabe que un escritor de ciudad, […] habrá de reducirlo a la nada en una novela digna de infierno y cucarachas, habrá de sepultarlo en las arenas del mar o del desierto cada vez que alguien abra la última página de El último lector (ebd., 181f., Hervorhebung i. O.).
Neben Lucios Wechsel von der intradiegetischen in die hypodiegetische Ebene, erscheint nun eine weitere Metalepse: Der Titel des Buches, El último lector und der Leser rücken in die intradiegetische Welt hinein und heben die Schwelle zwischen extratextueller und intratextueller Welt auf, wodurch ein Austausch zwischen der Welt des Lesers und der Diegese möglich ist. Semantisch ist an dieser Schlussszene auffällig, dass sie Motive aufgreift, die im Laufe der Erzählung mit dem Tode in Verbindung gebracht wurden („muerte“, „destino trágico“, „puerta“, „sucumbir“, „cuchillo que gira en el esternón“, „infierno y cucarachas“). Die Passivität Lucios wird hervorgehoben („ha de“). Dann geschieht es, dass die vom Erzähler im subjuntivo angekündigte Tätigkeit („cada vez que alguien abra la última página de El último lector“) exakt die Handlung beschreibt, die der Leser simultan vollzieht, sich Erzählzeit und erzählte Zeit also decken. Der erwähnte Vorgang des Auslöschens („habrá de reducirlo a la nada“, „habrá de sepultarlo“) deutet auf die Gefahr hin, dass der Leser das Schicksal Lucios im Akt des Lesens besiegelt (vgl. auch Bennett 2007, 255). Der Leser ist selbst zu einer Figur geworden, dessen Handlungen vorgeschrieben werden. Doch zu einem wirklichen ‚Auftragsmörder‘ wird der Leser erst wenn er die Lektüre gänzlich beendet. Denn jedes Mal, wenn er das Buch öffnet („cada vez“), kann er damit gleichzeitig die Welt Lucios wieder zum Leben erwecken, wie bereits weiter oben anhand des presente permanente gezeigt wurde (vgl. Toscana 2010, 115f.). 60 Die Literatur Die Schlussszene des Romans wird in der Forschungsliteratur unterschiedlich bewertet. Während Rodríguez Lozano eine pessimistische Lesart vertritt, „ni la literatura es capaz de salvarnos 60
112 4. Grenzen und Transgressionen im mexikanischen Roman der Gegenwart
überschreitet somit die Grenze zwischen Leben und Tod, solange sichergestellt ist, dass auch der letzte Leser (El último lector) nicht aufhört zu lesen. Darin liegt die zentrale Handlungsanweisung an den impliziten Leser, der den Augenblick präsent halten kann. Wenn er es schafft, die Literatur nicht lediglich als fiktionalen Text zu lesen, kann er sie aus diesen Grenzen befreien und mit der extrafiktionalen Welt vereinen, womit die eingangs aufgestellten Thesen bestätigt werden. Literatur, so der Ausblick des Romans, kann die Welt beeinflussen, wenn der Leser dies zulässt, indem er ihr Aufmerksamkeit schenkt und ihre Zeichen deutet.
4.2
Cristina Rivera Garza: La muerte me da (2007)
Die Erzählung in Cristina Rivera Garzas 61 La muerte me da beginnt, ähnlich wie Toscanas Roman, mit einem Leichenfund: Die Protagonistin und Ich-Erzählerin entdeckt in einer Gasse den Körper eines toten Mannes (vgl. Rivera Garza 2007, 15). Sie ist somit die Zeugin des Falls und muss sich von der ermittelnden Kommissarin, genannt „la Detective“ (ebd., 22), befragen lassen. Der Mann wurde kastriert und ohne seine Geschlechtsteile zurückgelassen. Das einzige Indiz, das der Täter oder die Täterin 62 hinterließ, sind Verse aus den Gedichten der argentinischen Schriftstellerin Alejandra Pizarnik. Als man wenig später den zweiten kastrierten und ermordeten Mann auffindet, beginnt die Detektivin damit, die Ich-Erzählerin ausführlicher zu befragen, da diese als Schriftstellerin und Literaturwissenschaftlerin mit dem Werk Pizarniks vertraut ist. Die Ich-Erzählerin wird somit zur Informantin und zugleich zur Verdächtigen. 63 Weitere Leichen tauchen auf, fünf Männer werden insgesamt nach diesem Muster ermordet, jedes Mal mit anderen Versen bestückt. Von Beginn an sind die Ermittlungen um die Morde also verbunden mit Reflexionen über Literatur und Sprache. 64 Dies zeigt sich auch de lo que sea. El apartado final es desolador“ (Rodríguez Lozano 2006, 64), wendet Abeyta rationale Maßstäbe an, „Lucio se vuelve definitivamente loco por el hambre“ (Abeyta 2010, 426). Sánchez Peña wiederum interpretiert das Ende als positiv, denn „la lectura es un acto de alumbramiento y revelación“ (Sánchez Peña 2011, 30). 61 Cristina Rivera Garza (*1964, Matamoros) publiziert 1999 ihren ersten Roman, Nadie me verá llorar (Mexiko-Stadt: Tusquets). Dieser und die vielzähligen weiteren Veröffentlichungen verhandeln Kategorien wie Männlichkeit, Weiblichkeit, Wahnsinn und hinterfragen damit Normalisierungen (vgl. Estrada 2013, 63, 70). Das Werk Rivera Garzas umfasst Kurzgeschichten, Gedichte, Essays und eine Internet-Präsenz auf dem Blog No hay tal lugar. Für La muerte me da wird sie 2009 mit dem Premio de Literatura Sor Juana Inés de la Cruz ausgezeichnet (vgl. ebd., 46). 62 Aus Gründen der Lesbarkeit wird im Folgenden nur das Maskulinum genannt. Ist vom „Täter“ die Rede, bedeutet dies also nicht, dass es sich um einen männlichen Täter handelt. Denn bis zum Ende des Romans bleibt die Frage des Geschlechts ambivalent. 63 „Informante“ (Rivera Garza 2007, 16), „sospechosa“ (ebd., 34). 64 Hier lässt sich eine intertextuelle Relation zu Jorge Volpis Roman En busca de Klingsor (1999) aufzeigen, das auf Motive des Kriminalromans zurückgreift, dabei aber das Genre dekonstruiert und das Konzept der ‚Wahrheit‘ an sich in Frage stellt (vgl. Calderón 2004). – In Roberto Bolaños Los detectives salvajes (1998) und 2666 (2004) sind poetologische Fragen und Kriminalfälle eng miteinander verschränkt. Die Protagonisten des erstgenannten Romans suchen eine
4.2 Cristina Rivera Garza: La muerte me da (2007) 113
semantisch an der quantitativ gleichgewichteten Präsenz der dominanten Wortfelder Tod/Mord und Sprache/Literatur. 65 Passend dazu werden die intradiegetischen Nachforschungen der Ermittler parallelisiert mit denen des Lesers, der die unterschiedlichen textuellen Fragmente zu verknüpfen und Zitate einzuordnen versucht, um einen kohärenten Sinn herzustellen (vgl. auch Pitois Pallares 2014, 270f.). Der Leser sieht sich außerdem zu einer eigenen Recherche angeregt, da er durch häufige Fragen und die zweite Person Singular angesprochen und in den Prozess einbezogen wird (vgl. z. B. Rivera Garza 2007, 57, 258). 66 Die Suche nach des Rätsels Lösung und der Wahrheit ist also sowohl auf Ebene der erzählten Welt als auch auf der metaliterarischen Ebene angesiedelt. Bei den Ermordeten handelt es sich um durchschnittliche, junge Männer der Mittelschicht ohne Kontakte ins Drogenmilieu (vgl. ebd., 226f.). Sie und ihre Familien werden nur generisch benannt, bleiben anonym und fungieren somit als Stellvertreter aller extraliterarischen Gewaltopfer und ihrer Angehörigen. 67 Auffällig ist hier die Umkehrung auf Gender-Ebene. Da die Toten aufgrund ihrer genitalen Verstümmlung als sexualisiert gelten, kann man sie als eine Anspielung auf die sog. feminicidios deuten. Die durch die männlichen Leichen erzeugte Irritation lenkt den Fokus darauf, dass viele der Opfer von Gewaltverbrechen weib-
verschwundene Dichterin: „[...] representa la poesía, pero reducida a una poesía inexistente, un signo inalcanzable“ (Spiller 2009, 169). Das Motiv der unerreichbaren Lösung auf sprachlicher wie kriminalistischer Ebene wird auch von La muerte me da aufgegriffen. In 2666 wiederum recherchieren die Literaturwissenschaftler nach dem Autor Benno von Archimboldi/Hans Reiter. Wichtig ist in den hier genannten Romanen der reflexive Bezug auf den von Gewalt dominierten gesellschaftlichen Kontext (vgl. ebd., 146; Littschwager 2011). 65 Zum Wortfeld Tod/Mord zählen: „cuerpo“ (156x), „muerto“/„muerte“/„morir“ (149x), „asesino“/„asesinar“/„asesinato“ (74x), „castrado“/„castración“/„castrar“ (71x), „sangre/sangriento“ (54x) „rojo/a“ (49x), „víctima“ (25x), „matar“ (24x). Das Wortfeld Sprache/Literatur ist vertreten durch: „poesía“/„poema“/„poeta“ (138x), „escribir“/„escritura“/„escritorio“ (131x), „leer“/„lectura“/„lectores“ (89x), „palabra“ (81x), „texto“/„textual“ (46x). 66 Auffällig ist, dass dies bereits an der paratextuellen Schwelle geschieht. Der Leser wird hier in den Text hineingezogen, denn die Überschriften der Kapitel und Unterkapitel bestehen zum Teil aus Fragen oder wenden sich an ihn, z. B. „¿Qué se necesita para matar a un hombre?“ (Rivera Garza 2007, 101), „¿De qué habla la prosa?“ (ebd., 183), „Te arrepentirás“ (ebd., 335), „No le digas a nadie que estamos aquí“ (ebd., 337). Thematisch decken diese Titel das Spektrum der Erzählung ab, indem sie sich auf Sexualität, Mord und Literatur beziehen. Zusammen mit den verwendeten Imperativen und Negationen erzeugen sie eine bedrohliche Konnotation. Die beängstigende Atmosphäre nimmt zum Ende des Textes zu, wie sich an den letzten beiden Kapitelüberschriften zeigt. 67 Die toten Männer werden z. B. bezeichnet als „Hombres Castrados“, „víctima número Dos“ (Rivera Garza 2007, 34, 130). Dies bedeutet für die Detektivin eine notwendige Abstraktion: „Sabe sus nombres y recuerda sus rostros, pero para poder trabajar en sus casos necesita llamarlos Uno, Dos, Tres, Cuatro. Así no le causan vómito. Así los protege“ (ebd., 104). Die Angehörigen erhalten Namen wie „la ex Mujer del Bibliotecario“, „padre de la víctima número Tres“ (ebd., 132, 140). Die Opfer und ihre Familien tauchen im Text nur vereinzelt auf, sind also eindimensionale Figuren. Dies kann man als Kritik daran deuten, dass die von Gewalt Betroffenen gesellschaftlich vernachlässigt werden. Nicht überzeugend ist m. E. die These von Frazier (2016, 109), dass La muerte me da die Opfer und ihre Angehörigen durchgehend empathisch darstellt.
114 4. Grenzen und Transgressionen im mexikanischen Roman der Gegenwart
lich sind, womit die Normalität weiblicher Todesfälle hinterfragt wird. 68 Ein Ort in Mexiko, der seit den 1990er Jahren für die hohe Anzahl an feminicidios internationale Bekanntheit erlangte, ist die nördliche Grenzstadt Ciudad Juárez, inzwischen lassen sich jedoch im ganzen Land Fälle verzeichnen. 69 Analog dazu bleibt der Ort der Diegese in La muerte me da ein namenloses urbanes Setting, das auf jede Stadt Mexikos projizierbar ist („la ciudad,“ ebd., 17). In Bezug auf den gesellschaftlichen Kontext wird neben der omnipräsenten Gewalt kritisiert, dass die Täter straflos bleiben. Das geht einher mit einer von staatlicher Seite vollzogenen Inszenierung von Prozessen zur vermeintlich schnellen Lösung komplizierter Fälle 70 und dem Versuch, die Toten aus dem öffentlichen Blickfeld zu verbannen (vgl. ebd., 353). Die weibliche ermittelnde „Detective“ kehrt ebenfalls die dominante Gender-Aufteilung um und dekonstruiert patriarchale Gesellschaftsstrukturen. Sie weicht zudem als literarische Figur vom traditionell oft männlichen Detektiv der novela policíaca ab. 71 Hier zeigt sich die doppelte Bezugnahme von La muerte me da sowohl auf gesellschaftliche Kontexte als auch auf die Literatur. Der Text wendet sich dadurch von einer literarischen Fortführung patriarchaler Diskurse ab. Die inhaltlich fehlende Kohärenz findet sich auch auf Ebene des discours, da das gesamte Werk fragmentarisch erscheint und auf diversen Ebenen von Grenz-
68 Der Zusammenhang von Gender und Mord wird explizit verhandelt. Im Unterkapitel „La víctima siempre es femenina“ (Rivera Garza 2007, 28), sagt die Ich-Erzählerin: „Pensé […] en el término asesinatos seriales y me di cuenta de que era la primera vez que lo relacionaba con el cuerpo masculino. Y pensé […] que era de suyo interesante que, al menos en español, la palabra víctima siempre fuese femenina“ (ebd., 29f., Hervorhebung i. O.). Dies verweist sowohl auf die Ebene der Sprache als auch auf die realen Mordfälle. An späterer Stelle stellt die „Detective“ verbittert fest, dass selbst nach Beendigung des Falls weiterhin Menschen sterben werden: „¿Y qué más da? [...] Igual mueren las mujeres y los niños. Igual siguen muriendo las mujeres y los niños y los hombres“ (ebd., 247). Dies ist ein intertextueller Verweis auf Roberto Bolaños Roman 2666. In Santa Teresa erfahren die Literaturwissenschaftler von den nicht aufgeklärten Fällen der ermordeten Frauen: „Hay gente detenida desde hace mucho, pero siguen muriendo mujeres“ (Bolaño 2009, 182). Es wird darauf aufmerksam gemacht, dass es sich bei den in La muerte me da dargestellten Fällen nur um einen minimalen Teil der täglichen Todesfälle handelt. 69 Vgl. Kapitel 3.2.2 dieser Arbeit. 70 Der Vorgesetzte entzieht der „Detective“ schließlich den Fall (vgl. Rivera Garza 2007, 164f.) und präsentiert kurz darauf einen Mann im Fernsehen als Täter: „El primer hombre explica que el segundo hombre ha confesado. Un psicólogo se encarga ya de explorar su mente, dice“ (ebd., 294). Die Distanz („primer hombre“, „segundo hombre“, „un psicólogo“) erzeugt einen ironischen Effekt. Hier tritt die Unzuverlässigkeit des Geständnisses zutage, das auf einer Machtrelation beruht, wie das Kapitel 2.2.2 der vorliegenden Arbeit anhand von Foucault zeigt. Dabei wird deutlich, dass die medial inszenierte Verbrechensbekämpfung, die die Übermacht der Regierung suggerieren soll, keiner realen Lösung entspricht. Bei dem verurteilten Mann scheint es sich um einen Sündenbock zu handeln, der das Bild der Ordnung aufrechterhalten soll (vgl. Girard 1982). Hier äußert sich eine implizite Kritik am mexikanischen Rechtssystem. 71 In ihrer Analyse lateinamerikanischer Kriminalromane mit weiblichen Hauptfiguren zeigt Yasmin Temelli (2013, 169), dass sie die dichotomischen gesellschaftlichen Strukturen durchbrechen. – Frank Leinen (2004, 535f.) zufolge hinterfragt die ludische, von Ironie geprägte Ästhetik des mexikanischen Kriminalromans den homogenisierenden offiziellen Diskurs.
4.2 Cristina Rivera Garza: La muerte me da (2007) 115
überschreitungen oder -verwischungen geprägt ist. 72 Bereits die Struktur der acht Kapitel, kleinteilig in 97 Unterkapitel gegliedert, bricht Linearität und Hierarchien auf. 73 Außerdem stellen Auto- und Dokufiktion 74 sowie die Vermischung von Prosa und Poesie 75 die Genregrenzen in Frage. Das Verhältnis zwischen Signifikant und Signifikat tritt in den Vordergrund, wobei eine spielerische Polysemie dominiert. Der Text entzieht sich somit einem eindeutigen Sinn. Wiederholte Metalepsen überschreiten die Grenzen zwischen der hypo-, intra- und extradiegetischen Welt. 76 Zudem ist die Erzählung von einer achronologischen Zeitstruktur und wechselnden Erzählerstimmen charakterisiert, die nicht immer exakt verortbar sind. 77 Besonders fällt dabei in Kapitel V die analeptisch wirkende Prolepse auf: „Muchos años después, y después aún de muchos años después, ya casi al final del tiempo, recordaría perfectamente lo que hizo en ese momento“ (ebd., 349). Dies kann als ironische, intertextuelle Anspielung auf García Márquez’ Cien años de Auch Oswaldo Estrada (2010, 31) und Carlos Abreu Mendoza (2010, 292f.) erachten den Begriff der „transgresión“ als konstitutiv für das Schreiben Rivera Garzas. 73 Teilweise verbinden die Unterkapitel die Kapitel untereinander. An manchen Stellen entsteht gar eine zusätzliche Unterebene: Die Ich-Erzählerin erhält z. B. am Ende des Kapitels I, in Unterkapitel 18, einen Brief, „mensaje“ (Rivera Garza 2007, 74). Die elf folgenden Briefe machen in Kapitel II, die Unterkapitel 19-29 aus, „Mensaje n.o 2“ (ebd., 77) bis „Mensaje n.o 12“ (ebd., 97). Somit verbindet die untergeordnete Ebene die Kapitel über ihre Grenzen hinweg. Kapitel III gliedert sich in die Unterkapitel 30-50, Kapitel IV in die Unterkapitel 51-55. Diese stellen einen wissenschaftlichen Aufsatz dar, geteilt in die Unterunterkapitel „Intro“, „Kap. 1“, „Kap. 2“, „Conclusión“, „Coda“. Kapitel V besteht aus den Unterkapiteln 56-60, Kapitel VI aus Unterkapiteln 61-74. Kapitel VII gliedert sich in die Unterkapitel 75-93. Dabei enthalten die Unterkapitel 78-93 als Unterunterkapitel die Gedichte I bis XVI. Kapitel VIII besteht aus den Unterkapiteln 94-97. Zudem werden innerhalb des Textes Rückbezüge auf vorherige Kapitel und Unterkapitel genommen und einige der Überschriften wiederholen sich, z. B. „La víctima siempre es femenina“ (ebd., 28, 316). 74 Die Protagonistin und Ich-Erzählerin trägt den Namen der realen Autorin Cristina Rivera Garza (vgl. Rivera Garza 2007, 74). Die somit vorliegende Autofiktion beruht auf einer die Grenzen zwischen Text und Welt paradox verwischenden mise en abyme. Kapitel IV wiederum ist als wissenschaftlicher Text markiert. Als Verfasserin wird „Dra. Cristina Rivera Garza“ (ebd., 177) angegeben, wobei nicht feststeht, ob es sich dabei um die Protagonistin oder die reale Autorin handelt. Die Integration des wissenschaftlichen Textes führt dazu, dass der Text sich an der Schwelle zwischen Fiktionalität und Faktualität ansiedelt und somit auch der Dokufiktion zugerechnet werden kann. Zur Auto- und Dokufiktion, vgl. Kapitel 2.2.3 der vorliegenden Arbeit. 75 Das Kapitel VII besteht fast gänzlich aus Gedichten (vgl. Rivera Garza 2007, 307-336). Zudem ist am Druckbild von La muerte me da auffällig, dass es an einigen Stellen weiße Flächen enthält (ebd., 95f., 134, 140), und die elliptischen Sätze manchmal Versen gleichen (vgl. ebd., 45f., 47ff., 140). 76 Die drei Protagonisten Cristina, „la Detective“ und Valerio unterhalten sich jeweils insgeheim mit Figuren, die ihrer Imagination entspringen und sich also auf der Ebene der Binnenerzählung ansiedeln (vgl. z. B. Rivera Garza 2007, 215, 231f., 290f.). Durch die transgressiven Gespräche werden die Grenzen zwischen den Ebenen durchlässig. 77 Zunächst wird chronologisch erzählt. Über die Kapitel hinweg werden aber manche Ereignisse aus der erzählten Welt, wie das Erscheinen der weiteren Leichen, repetitiv und aus wechselnden Perspektiven erzählt. Da die direkte Rede dominant ist und die Erzählinstanzen sich abwechseln, entsteht eine Vielstimmigkeit. Unterschiedliche Ich-Erzähler sowie hetero- und extradiegetische Erzählinstanzen, die mal im Präsens, mal rückblickend erzählen, alternieren und verschwimmen an einigen Stellen. Dies wirkt sich auf den Lektüreprozess desorientierend aus. 72
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soledad gedeutet werden. 78 Dabei findet eine Abkehr statt: La muerte me da negiert die Genealogie und den Bezug auf Mythen des Ursprungs. Die Zirkularität richtet sich vielmehr vorausschauend auf eine pessimistisch bewertete Zukunft, die in den negativen Konsequenzen der Gegenwart gefangen bleiben wird. Da in der Narration von La muerte me da außerdem nicht deutlich ist, welcher Zeitpunkt als Präsens gilt, ist er aus Perspektive des Lesers verschiebbar. So kann die Erzählung immer im ‚Jetzt‘ des Lesers stattfinden und verliert nicht an Aktualität, wie dies beispielsweise ein konkretes Datum zur Folge gehabt hätte. Das erlaubt es, die erzählte Welt mit der extraliterarischen Welt des Lesers zu verknüpfen. Die Zeitstruktur verstärkt also die Möglichkeit einer gesellschaftlichen Reflexion. Meine These lautet, dass auch die intertextuelle Beziehung eine Form der Grenzverwischung zwischen unterschiedlichen Texten ist. La muerte me da steht in einem engen intertextuellen Verhältnis zum Werk der argentinischen Dichterin Alejandra Pizarnik (1936-1972), die im Januar 1963 folgenden Vers in ihrem Tagebuch notiert: „Es verdad, la muerte me da en pleno sexo“ (Pizarnik 2007, 315). 79 In seiner ursprünglichen Form verbindet der Vers Sexualität und den personifizierten Tod. Das Verb „dar“ bedeutet hier ‚treffen, einschlagen‘ (vgl. Real Academia Española 2014, 705f.). Vergleicht man Pizarniks Vers und den verkürzten Buchtitel La muerte me da, fällt zunächst auf, dass die Wahrheit („es verdad“) in diesem Fall weggestrichen wurde. Dies deutet metaphorisch auf eine abwesende, folglich ausradierte Wahrheit. Der Aspekt des „en pleno sexo“ erscheint in dem Roman von Rivera Garza auf der Inhaltebene, die Figuren der kastrierten, toten Männer verkörpern diesen Teil des Satzes. Durch die Verkürzung kann „La muerte me da“ zum einen als kastrierter Vers bezeichnet werden. Die Gewalt schreibt sich in die Materialität des literarischen Textes ein. Zum anderen eröffnet der Vers aufgrund seiner elliptischen Form neue und vielfältige Assoziationen. Denn das Verb „dar“ bedeutet ebenfalls ‚geben‘. Dabei bleibt die Frage offen, was der personifizierte Tod dem sprechenden, doch passiven Ich gibt. Dem Leser kommt die Aufgabe zu, diese Lücke zu füllen. Es entstehen unterschiedlichste Diese Art der Satzkonstruktion wiederholt sich mehrmals (vgl. z. B. Rivera Garza 2007, 215, 219, 346). Aufgrund der strukturellen Ähnlichkeit und Wiederholung des „muchos años después“ ist der intertextuelle Bezug auf Cien años de soledad deutlich, das mit dem Satz beginnt: „Muchos años después, frente al pelotón de fusilamiento, el coronel Aureliano Buendía había de recordar aquella tarde remota en que su padre lo llevó a conocer el hielo“ (García Márquez 1971, 9). García Márquez’ Roman zeichnet sich durch eine besondere, von Zirkularität dominierte Zeitstruktur aus und gilt als Paradebeispiel des sog. Magischen Realismus (vgl. De Toro 1986, 6, 95). 79 Pizarnik, die Tochter jüdisch-russischer Einwanderer, lebt und studiert in Buenos Aires (vgl. McCulloch 2012, 138). Bei einem Paris-Aufenthalt in den Jahren 1960 bis 1964 prägt der Kontakt mit dem Surrealismus entscheidend das schriftstellerische Werk Pizarniks (vgl. ebd., 139). Als sie 1972 Selbstmord begeht, hinterlässt sie viele unpublizierte Texte, die von Ana Becciu und Olga Orozco gesammelt und schließlich aus Argentinien nach Paris in die Obhut des mit Pizarnik befreundeten Julio Cortázar gegeben werden, da die Manuskripte wegen ihrer subversiven Inhalte in Argentinien nicht als sicher gelten. Aufgrund der politischen Ereignisse in Argentinien, die im Militärputsch von 1976 und der darauf einsetzenden Diktatur kulminieren, verzögert sich die bereits 1972 geplante Publikation der posthumen Textos de sombra bis zur Zeit der Transition im Jahre 1982 (vgl. Becciu 2002). 78
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Kombinationsmöglichkeiten, die z. B. Angst, Ekel und Wut darstellen, Gleichgültigkeit ausdrücken, sexuell konnotiert sind oder positiv erscheinen. 80 Hier zeigt sich, dass die Verbindungen teils semantisch ambivalent sind. 81 Auch über den Titel hinaus ist die intertextuelle Beziehung zu Pizarniks Werk relevant. Ihre Texte bieten thematisch-semantische Anknüpfungspunkte zu Fragen von Macht und Gewalt, die sich nicht auf einen historischen Zeitpunkt beschränken. Bereits in Pizarniks Veröffentlichungen ist zudem eine Art der Intertextualität maßgebend, die mehr als singuläre Allusionen umfasst (vgl. Negroni 2000, 170f.). Diesen Aspekt greift in La muerte me da das als wissenschaftlicher Aufsatz von „Dra. Rivera Garza“ markierte Kapitel IV auf (Rivera Garza 2007, 177). Sie konstatiert, dass im Schreiben Pizarniks die Orientierung an literarischen Vorlagen relevant gewesen sei, die inhaltlich wie formal zu einer Art Gussform („molde,“ ebd.: 189) wurden. Das kann man als einen metaliterarischen Hinweis auf die Entstehung des Romans La muerte me da interpretieren, der sich auf diversen Ebenen intertextuell auf das Werk Pizarniks bezieht. 82 Innerhalb der Erzählung wiederholen sich zudem einige der Zitate in verschiedenen Variationen. 83 Sie bilden ein Netz aus vielen Stimmen, die sich – aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang herausgetrennt – mit dem neuen Kontext von La muerte me da über unterschiedliche diegetische Ebenen hinweg verbinden und semantisch eigenständig werden. Die vieldeutigen Textstellen lassen sich folglich nicht auf eine einheitliche Aussage reduzieren. So kann man die These aufstellen, dass der Bezug auf Pizarnik die Grenzen zwischen den Texten verwischt. Es entsteht eine Art gemeinschaftlicher Schreibprozess, der sich über Zeit, Raum und singuläre Autorschaft hinweg entfaltet. Diese Form des Schreibens wird die reale Autorin Rivera Garza in einem späteren Essay als necroescritura bezeichnen. 84 Die Kombination dieses Verfahrens 80 Z. B. La muerte me da miedo. La muerte me da pena. La muerte me da terror. La muerte me da asco. La muerte me da rabia. La muerte me da igual. La muerte me da ganas. La muerte me da placer. La muerte me da gracia. La muerte me da risa. 81 Z. B.: La muerte me da a luz. La muerte me da vida. 82 Im Laufe von La muerte me da erscheinen immer wieder Fragmente aus unterschiedlichen Texten Pizarniks. Mal werden die Zitate als solche markiert, indem sie z. B. kursiviert sind (vgl. Rivera Garza 2007, 95, 124), mal geschieht dies nicht (vgl. ebd., 249). In einigen Fällen wird die bibliographische Quelle genannt (vgl. ebd., 205), in anderen Fällen nicht (vgl. ebd., 96). Das erschwert es, alle intertextuellen Anspielungen zu erfassen. 83 Besonders auffällig ist das wiederholte Pizarnik-Zitat „¿Quién carajos habla?“. Im Laufe des Textes variiert diese Frage, mit der am häufigsten gewählten Form „¿Por qué no preguntar quién carajos habla?“ (vgl. Rivera Garza 2007, 281, 317, 340). Da nicht direkt gefragt wird, wer spricht, erhält sie einen sekundären Charakter. Das „¿Por qué no preguntar?“ regt den Leser dazu an, sich mit der Erzählinstanz zu beschäftigen. Der Text selbst rückt also die Frage nach der Stimme mehrmals in den Fokus, die innerhalb der Diegese nach dem Täter, der anonymen Briefeverfasserin oder der Autorin des Gedichtbands fragen kann. Metaliterarisch verweist dies auf Roland Barthes und Michel Foucault, die in ihren jeweiligen Schriften zum ‚Tod des Autors‘ fragen: „Qui parle ainsi?“ (Barthes 1984, 61), bzw. „Qu’importe qui parle?“ (Foucault 1994c, 789). – La muerte me da spielt mit der Autofiktion und entzieht sich aber gleichzeitig einer eindeutigen Stimme und Autorschaft (vgl. auch Close 2014, 400; Palaisi-Robert 2014, 227). 84 In Los muertos indóciles. Necroescrituras y desapropiación fragt Rivera Garza (2013, 19), wie die gesellschaftspolitische Krise in Mexiko das literarische Schreiben beeinflusse. Die Antwort liege in pluralistischen Schreibpraktiken, necroescrituras, die eine „desapropiación“ vollziehen
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mit der bereits aufgezeigten fragmentarischen Struktur des Textes bildet ein heterogenes und bewegliches Gefüge – ein ‚Rhizom‘ nach Gilles Deleuze und Félix Guattari. 85 Das Konzept des ‚Rhizoms‘ verdeutlicht, dass die grenzüberschreitende, semantisch ambivalente Konstruktion von La muerte me da eine subversive, weil Dichotomien und Hierarchien anfechtende Haltung einnimmt. Eine weitere These von „Dra. Cristina Rivera Garza“ ist, dass die Versuche der Argentinierin, entlang der Grenzen zwischen Poesie und Prosa zu schreiben, geleitet seien von den Gefühlen des „anhelo“ und „fracaso“ (Rivera Garza 2007, 181f.). Die Dialektik der eigentlich gegensätzlichen Empfindungen bezieht sich in La muerte me da sowohl auf den Akt des Lesens als auch auf den des Schreibens. Dadurch gewinnen sie ebenfalls eine metaliterarische Valenz und können sich über Pizarnik hinaus auf La muerte me da beziehen. Das wirft die Frage auf, ob der Leser daran scheitern wird, alle intertextuellen Spuren zu verfolgen, und ferner, ob der Text dies beabsichtigt. 86 Die Integration von Pizarniks Werk unterstreicht, dass das schreibende sowie das lesende Individuum am literarischen Text letztlich den das Leben bestimmenden Konflikt zwischen Lust und Scheitern erleben. Zum Ende der Erzählung scheint die Frustration zu überwiegen. Die IchErzählerin berichtet davon, dass sie einen Gedichtband mit dem Titel La muerte me da zugeschickt bekommen habe, der bei ihr Angst auslöse (ebd., 339). 87 Es (ebd., 22): „[B]usca [...] desposeerse del dominio de lo propio, configurando comunalidades de escritura que, al develar el trabajo colectivo de los muchos, […] atienden a lógicas del cuidado mutuo y a las prácticas del bien común que retan la naturalidad y la aparente inmanencia de los lenguajes del capitalismo globalizado“ (ebd., 23). Das bedeute, sich nicht auf einen einheitlichen Sinn reduzieren zu lassen und dabei vor allem die Instanz des individuellen Autors abzulehnen (ebd., 270). Literatur wird als gemeinschaftlicher Prozess verstanden („comunalidades“, „trabajo colectivo“, „bien común“). An diesem seien sowohl andere Texte intertextuell beteiligt, als auch der Leser, der an einer dialogischen Sinnkonstruktion mitwirke (ebd., 22, 282). Die These Rivera Garzas, dass sich die Ästhetik des literarischen Schreibens mit gesellschaftspolitischen Aussagen verbinden lässt und dem Leser dabei eine wichtige Rolle zukommt, kann anhand der vorliegenden Analyse von La muerte me da nachvollzogen werden. 85 Deleuze und Guattari (1980, 13) ersetzen das Baummodell durch den Begriff des ‚Rhizoms‘. Dabei beziehen sie sich auch auf den literarischen Text, den sie nicht als bloße Widergabe der Welt verstehen, sondern als Möglichkeit, rhizomatisch die herrschenden Hierarchien und „l’hégémonie du signifiant“ (ebd., 23) zu hinterfragen. 86 Aufgrund der an vielen Stellen fehlenden Quellenangaben scheitert bisweilen sogar die Forschung an der Spurenverfolgung. Vgl. Hind, die eine neologistische Dekonstruktion der Sprache in La muerte me da ausmacht und dabei übersieht, dass es sich um ein Zitat aus Jonathan Swifts Gulliver’s Travels handelt (vgl. Hind 2010, 333). Sie bezieht sich auf die Textstelle Rivera Garza 2007, 257. Die intertextuellen Anspielungen und Eingliederung von Zitaten aus Jonathan Swifts Gulliver’s Travels Into Several Remote Nations of the World (vgl. z. B. Rivera Garza 2007, 251, 267f., 283ff.) zeigen die grenzüberschreitende Funktion von Literatur. Das Werk wurde zu Beginn des 18. Jahrhunderts unter Pseudonym veröffentlicht und fungiert als kritische Allegorie der Gesellschaft (vgl. O’Sullivan 2017, 82). 87 Der Gedichtband trägt denselben Titel wie der Roman La muerte me da und auch thematisch greifen die 16 Gedichte zentrale Inhalte auf, wie die dominanten Wortfelder ‚Tod‘ und ‚Sprache‘. Die Integration des Gedichtbands in La muerte me da macht darauf aufmerksam, dass sowohl Prosa als auch Lyrik sich gesellschaftspolitischen Themen widmen und davon erzählen können. Es wird außerdem signalisiert, dass die Grenzen zwischen den Genres verschiebbar sind,
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handelt sich um ein auch extraliterarisch existierendes Buch, das im Jahre 2007 im mexikanischen Verlag Bonobos Editores erschienen ist (Bianco 2007). Der Gedichtband und der homonyme Roman von Rivera Garza stehen somit in einem intertextuellen Verhältnis zueinander. Zugleich liegt eine Metalepse vor, denn der Gedichtband wird in die erzählte Welt integriert und das Kapitel VII besteht aus besagten Gedichten. Die Frage nach der Identität der Autorin scheint an die Hoffnung auf Hinweise zum Täter gebunden zu sein. Als Autorin der Gedichte ist „Anne-Marie Bianco“ (Rivera Garza 2007, 299) angegeben, wobei es sich jedoch um ein Pseudonym handele (vgl. ebd., 303-305). Innerhalb der erzählten Welt wird also auf die Fiktionalität des Namens hingewiesen und schlussendlich auf die Unmöglichkeit, den Täter zu identifizieren. Da aber auch in der extraliterarischen Welt das Verlagshaus als Autorin Anne-Marie Bianco benennt, weiten sich die Zweifel ebenso auf dieser Ebene aus. 88 Das untergräbt die Überzeugung des Lesers, zu wissen, wo die Grenze zwischen Fiktionalität und Realität liegt. Das Spiel, an dem er beteiligt ist, beschränkt sich nicht mehr nur auf den Text, wie beim Eingehen des fiktionalen Paktes angenommen wurde. Der Leser sieht sich mit dem Paradoxon konfrontiert, dass sich die intradiegetische und die außerliterarische Ebene überlagern. Das eigentlich lustvolle Spiel kippt, wird frustrierend und entzieht dem Leser die sichere Distanz. Somit erfährt er am eigenen Leib eine ungleiche Machtrelation – denn jemand anderes scheint die Regeln zu bestimmen und sie nicht klar zu kommunizieren. 89 Das hier beschriebene Phänomen erlaubt es, die Erzählung als unzuverlässig zu bezeichnen. denn die Gedichte weisen kein einheitliches Versmaß auf. Das lyrische Ich wendet sich zudem häufig an ein Du, wodurch die Gedichte dialogisch werden (vgl. z. B. Rivera Garza 2007, 307, 309). Sprachlich ist dabei auffällig, dass sich spezifische Ausdrucksweisen wiederholen, die im Roman von der Ich-Erzählerin verwendet wurden – z. B. die Feststellung „La víctima siempre es femenina“ (ebd., 28, 30, 316). Diese intratextuellen Kreuzungen lassen die Hypothese zu, dass die Ich-Erzählerin des Romans zugleich die Autorin der Gedichte ist. Das widerspricht jedoch den Aussagen der Ich-Erzählerin, die sagt, ihr sei das Buch zugeschickt worden (vgl. ebd., 339). Die Frage nach der Autorschaft bleibt hier unbeantwortet. 88 Als Autorin wird auf der Verlagshomepage Anne-Marie Bianco angegeben, doch hinter ihrem Namen erscheint die Biographie Cristina Rivera Garzas (vgl. Bonobos Editores o. J.). Die Zweifel des Lesers an der Ich-Erzählerin weiten sich nun auf die reale, extratextuelle Autorin aus, die als Urheberin alles zu lenken scheint. Hier wird der Effekt der Autofiktion verstärkt, die Grenzen zwischen intra- und extradiegetischer Welt zu verwischen. 89 Dieser Verdacht entsteht, indem wiederholt die Rede von einem „Alguien“ ist: „Alguien se divierte con todo esto. Alguien quiere jugar escribir leer. Alguien quiere ser leído“ (Rivera Garza 2007, 277). Der unbestimmte, anonyme Akteur gelangt durch das anaphorisch wiederholte „alguien“ in den Fokus. Die parallele syntaktische Struktur an unterschiedlichen Textstellen erzeugt einen Signalcharakter, der das „alguien“ nicht abstrakt, sondern personifiziert erscheinen lässt. Semantisch dominiert das Wortfeld des Spielerischen („querer“, „jugar“, „divertirse“). Dabei sticht das Asyndeton („jugar escribir leer“) heraus und erzeugt eine Spannung. Spiel und Sprache werden hier miteinander verknüpft und der ludische Akt des Schreibens, respektive Lesens hervorgehoben. Es folgt eine indirekte Aufforderung an den Empfänger der Botschaft („quiere ser leído“). Indem der Leser liest, nimmt er am Spiel teil und folgt dem Wunsch des „alguien“. Während das Spiel so eine Gemeinschaftshandlung darstellt, bleibt der Spaß dabei aber einseitig, da das „divertirse“ nicht mit einem „nosotros“ verbunden wird. Mit Verdächtigungen und fehlenden Antworten entzieht der Text sich einem eindeutigen Sinn.
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Analog zur fehlenden Identifizierung des Täters, zeigen sich im Text also vermehrt Zeichen, die nicht auf einen homogenen Inhalt reduzierbar sind oder denen der Inhalt fehlt. Die unsichere Relation zwischen Signifikant und Signifikat macht Leere und Abwesenheit nachvollziehbar. Die „Detective“ kommt schließlich in Bezug auf das Pseudonym „Anne-Marie Bianco“ zum Ergebnis: „Significa […] que el nombre, el otro, el escondido, el original si cabe el término, no quiere ser enunciado“ (ebd., 349). Der Satz beginnt mit einem Ausdruck, der die Verknüpfung zwischen Signifikant und Signifikat bezeichnet („significar“) und sie fokussiert. Das eigentlich Gesuchte, der Name des Autors und Täters („el original“), ist unbekannt und versteckt („otro“, „escondido“). Man muss sogar anzweifeln, dass ein Original existiert („si cabe el término“). Der Name wird personifiziert („no quiere“), weigert sich aber, in gesprochener Rede, parole, Form anzunehmen („enunciado“). Das sprachliche Zeichen hat hier ein großes Gewicht, da es nicht nur die Bedeutung abbildet, sondern sie sprachlich erschafft oder sich in diesem Fall vielmehr dagegen wehrt. Es erscheint unmöglich, die Wahrheit auszusprechen, man kann sich ihr lediglich über ähnliche Namen annähern. In diesem Sinn schiebt sich der Name „Anne-Marie Bianco“ vor einen anderen Namen, der wiederum unbekannt bleibt. Dieser Prozess gleicht jenem, den der französische Psychoanalytiker Jacques Lacan als Wirkweise der Metapher bezeichnet. 90 Das Pseudonym fungiert somit wie eine Metapher, indem es den anderen Namen verdeckt. Das Wissen um die Existenz eines anderen Namens führt aber dazu, dass dieser aus dem Verborgenen wirken kann. Lacan erkennt in der Metapher einen Zugang zum Unbewussten. Sie verweist also auf tabuisierte oder mit einem Trauma belegte Themen und kann es ermöglichen, diese zu artikulieren. Das Pseudonym „Anne-Marie Bianco“ erscheint in La muerte me da als Indikator für einen unsichtbar agierenden Träger von Macht, besagten „alguien“. Der Name verkörpert und erzeugt ein bedrohliches Gefühl. Der Bezug auf die Theorie Lacans in La muerte me da zeigt sich explizit am dominanten Bild des männlichen Glieds sowie an der Bedeutung der Kastration. Wichtig ist, dass es sich beim Phallus laut Lacan nicht um das reale Geschlechtsorgan handelt, sondern um ein Symbol, einen die Leere verkörpernden Signifikant. 91 Das Subjekt erkenne nach seiner symbolischen Kastration, dass es vom 90 Das Unbewusste ist bei Lacan ähnlich der Sprache strukturiert (vgl. Haverkamp 1996, 16). In diesem Zusammenhang sind die Metonymie und die Metapher bedeutend. In Anlehnung an Roman Jakobson und Freud (vgl. Pagel 2007, 44f.), definiert Lacan die Metapher wie folgt: „L’étincelle créatrice de la métaphore […] jaillit entre deux signifiants dont l’un s’est substitué à l’autre en prenant sa place dans la chaîne signifiante, le signifiant occulté restant présent de sa connexion (métonymique) au reste de la chaîne“ (Lacan in Haverkamp 1996, 16). Der ursprüngliche Signifikant wird also latent, da ein anderer ihn verdrängt („l’un s’est substitué à l’autre“), er ist durch die Signifikantenkette aber noch wirksam („restant présent“), weshalb die Metapher einen Zugang zur Sprache des Unbewussten ermöglicht (vgl. Lipowatz 2004, 147). 91 Lacans Phallus-Begriff löst sich von Freuds naturalistisch-essenzialistischem Ansatz (vgl. Pagel 2007, 47, 91). In der symbolischen Kastration lerne das Subjekt, dass es unmöglich sei, „Phallus zu sein und ihn zu haben“ (ebd., 104, Hervorhebung i. O.). Diesen, das Sein bestimmenden Mangel empfindet das Subjekt in Bezug auf sich selbst und im Verhältnis zum Anderen. Der Phallus werde „ein abwesender, ein besonderer, nichtverbaler Signifikant, indem er das
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Mangel eines Phallus bestimmt werde. Dies sorge dafür, dass das Begehren, désir (vgl. Widmer 1990, 10), permanent aufrechterhalten werde und sich ständig auf neue Objekte der Begierde verschiebe (vgl. Hammermeister 2008, 68). Entscheidend ist, dass das Begehren immer unstillbar bleibt, worin das kreative Moment liege (vgl. Lipowatz 2004, 161). Der Mangel wird demzufolge notwendig, um Begehren zu empfinden. Hier offenbart sich eine direkte Parallele zur wichtigen Stellung, die in La muerte me da die Dialektik von „anhelo“ und „fracaso“, „gusto“ und „terror“ einnimmt. 92 So verstanden ist die symbolische Kastration wichtig und in dem Sinne nicht nur negativ, da sie das Begehren möglich macht (vgl. Lindhoff 2003, 77). Diesen Aspekt unterstreicht in La muerte me da das Zitat der slowenischen Philosophin Renata Salecl, das andeutet, dass die symbolische Kastration eine Einfühlung in den Anderen anstoße. 93 Somit stelle sie einen notwendigen Schritt dar, den der Mensch durchlaufen müsse, um Teil der Gesellschaft zu werden und sich auf das Zusammenleben mit dem Anderen als seinem Gegenüber einzulassen. Die Tatsache, dass die Kastration bei Salecl als positiv bewertete Bedingung für die Gemeinschaft gilt, steht in einem widersprüchlichen Verhältnis zur Kastration im Kontext von La muerte me da. Zunächst fällt auf, dass diese von der psychoanalytischen Theorie abweicht: Während die Kastration bei Lacan und Salecl immer sprachlich und somit symbolisch ist, wird sie innerhalb der erzählten Welt von La muerte me da real vollzogen und geht mit dem Tod des Betroffenen einher. Die Kastration ist also mit einer abjekten, angsteinflößenden Semantik belegt und sexuelle Begehren zwischen zwei Subjekten notwendigerweise vermittelt und auch Machtmomente mit enthält“ (Lipowatz 2004, 150). Berechtigter Weise kritisiert die feministische Theorie Lacan dafür, die dualistische Trennung von Mann und Frau sowie die Unterordnung unter den Phallus beizubehalten (vgl. Pagel 2007, 80; Lindhoff 2003, 77). Auch Deleuze und Guattari setzen sich kritisch mit dem Werk Lacans und der Psychoanalyse auseinander (vgl. Berressem 2008, 120f.). – In La muerte me da lassen sich das Bild des ‚Rhizoms‘ und jenes des Phallus trotz ihrer Unterschiede miteinander vereinbaren. Gegen den Mangel, der sich im leeren Signifikant manifestiert, schreibt eine rhizomatische, polyseme Literatur an. 92 Lacans Theorie des Begehrens ist außerdem in Form eines eigenen Wortfelds in La muerte me da präsent: Die spanischen Äquivalente zum französischen désir sind dabei die Bezeichnungen „deseo/desear“ (58x) und „anhelo/anhelar“ (35x). Der Mangel wird ebenfalls semantisch hervorgehoben, mit „falta/r“ (35x), „fracasar/fracaso“ (19x), „ausencia/ausente“ (14x). 93 Dem ersten Kapitel von La muerte me da ist ein Zitat von Salecl vorangestellt: „It […] is only because subjects are castrated that human relations as such can exist. Castration enables the subject to take others as Other rather than the same, since it is only after undergoing symbolic castration that the subject becomes preoccupied with questions such as ‚what does the Other want?‘ and ‚what am I for the Other?‘“ (Salecl in Rivera Garza 2007, 13). Sie bezeichnet die symbolische Kastration als essenziell dafür, dass das Subjekt sich in den Anderen einfühle. Erst nachdem das Subjekt sich des eigenen Mangels bewusst werde, erkenne es den Anderen als solchen an (vgl. Salecl 1998, 69). Das Zitat stammt aus (Per)Versions of Love and Hate (ebd., 3), in dem Salecl zeitgenössische Filme und literarische Texte anhand ihrer Verbindung von Liebe und Hass analysiert. Salecl (ebd., 3, 178) stellt Bezüge zu Lacans Theorie her und zeigt, wie sehr beide Emotionen miteinander verknüpft sind. Ähnlich wie das Begehren seien Liebe und Hass das Produkt eines Mangels und können sprachlich nicht ausgedrückt werden, regen jedoch seit Jahrhunderten zur künstlerischen Auseinandersetzung an (vgl. ebd., 177f.). Es handelt sich hier also erneut um einen Mangel, der erhalten bleiben muss, um kreativ wirken zu können.
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negativ konnotiert. Zugleich beschäftigen sich die ermittelnden Polizisten mit der Frage nach der symbolischen Bedeutung, die hinter den realen Kastrationsfällen steht. Ähnlich wie also bei Lacan der Phallus einen Signifikant darstellt, der einen Mangel zum Ausdruck bringt, bezeichnen die Protagonisten La muerte me da die fehlenden männlichen Geschlechtsteile als Schlüssel oder Code. 94 Da der Täter sie entwendet hat, ist der Fall damit nahezu unlösbar. Zugleich treibt die Frage nach dem, was das Glied symbolisiert, die Ermittler in ihrer Arbeit an. Parallel dazu treibt laut Lacan die Unmöglichkeit, den Phallus zu besitzen, das menschliche Begehren an. In La muerte me da sind die realen Penisse zwar verschwunden, ihre sprachliche Präsenz im Verlauf des Romans ist aber dominant. 95 Sie stellen somit ein bis zum Ende ambivalentes Leitmotiv dar. Die einzigen Anhaltspunkte für die Ermittler und den Leser sind die vom Täter zurückgelassenen Gedichte. Das beim zweiten Opfer positionierte Gedicht enthält den Vers „Quién dejará de hundir la mano en busca del tributo para la pequeña olvidada“ (Rivera Garza 2007, 31). 96 Das Wort „tributo“ ist relevant, da es noch fünf weitere Male erscheint (ebd., 32, 35, 130, 133, 220). 97 In diesem Zitat ist der Tribut gedacht für „la pequeña olvidada“, ein anonymes Individuum ohne Namen und Gesicht. Fest steht allein, dass es sich um eine weibliche, als klein beschriebene Person handelt. Das Adjektiv kann sich auf ihr junges Alter beziehen oder auf ihre gesellschaftlich marginale Position. 98 Hinzu kommt, dass sie vergessen wurde, sie also keinen Platz im kollektiven Gedächtnis einnimmt. Die Stimme im Gedicht wendet sich in einer angedeuteten Frage ohne Fragezeichen („Quién dejará de“) an die Adressaten. Während alle anderen die Suche nach Anerkennung für die mit dem Vergessen bestrafte Person einstellen, denkt der Täter nicht daran, aufzuhören. Das „hundir la mano“ evoziert den Akt des Grabens und die Suche nach etwas Verborgenem. Es erinnert an die von Angehörigen organisierten Suchaktionen nach den Überresten ihrer verschwundenen Familienangehörigen. 99 „La pequeña olvidada“ könnte stellvertretend alle Frauen repräsentieren, deren Ermordungen nicht aufgeklärt werden und die nur eine anonyme Ziffer darstellen. „[L]lave“, „clave“ (Rivera Garza 2007, 144, 276). Während die Penisse in der erzählten Welt geraubt sind, ist der Phallus sprachlich im Text an unterschiedlichen Stellen präsent, z. B. im Wort „carajo“ (9x). Dieser pejorative Ausdruck kann im Spanischen das männliche Glied bezeichnen (vgl. Real Academia Española 2014, 432). – Ebenfalls dominant sind die Begriffe „pene“ (40x), „penetrar“ (4x), „coda“ (2x) und „falo“. 96 Alle Gedichtausschnitte enthalten semantisch gesehen etwas Bedrohliches, zunächst weil der Täter sie neben einer Leiche ablegt. Sprachlich wird dies untermalt mit dem Wortfeld des Todes, dem Motiv der Absenz im Sinne von Dunkelheit, Kälte und Stille („silenciosa“, „desierto“, „vacío“, „sombra“, Rivera Garza 2007, 22f.), der Angst („miedo“, ebd., 32f.). Der Imperativ („cuídate“, „recibe“, ebd., 22, 287) wirkt ebenfalls beängstigend. 97 Etymologisch gesehen bezeichnet der Tribut eine Abgabe, die die Besiegten meist nach Kriegen an die Sieger zahlen und die als Zeichen der Anerkennung dient (vgl. Duden deutsches Universalwörterbuch 2015, 1789). 98 Der Real Academia Española zufolge umfasst „pequeño“ u. a. die Bedeutung „De corta edad“ oder steht für eine Person, die „[p]oco importante“, „[b]ajo, abatido y humilde“ ist (Real Academia Española 2014, 1678). 99 Vgl. dazu das Kapitel 3.2.2 der vorliegenden Arbeit. 94 95
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Verknüpft man diese Hypothese mit dem Vers, verlangt der Täter dem männlichen Teil der Gesellschaft symbolisch einen Tribut ab und übt Rache. Man kann die Kastration als eine an Männern durchgeführte Gewalt hier als eine bewusste Verletzung der patriarchalen Gesellschaft interpretieren. Das Romanende kritisiert implizit die mexikanische Gesellschaft, die feminicidios und Mordfälle nicht aufklärt. Die Umkehrung auf Gender-Ebene versucht, den Schmerz und die Angst nachempfindbar zu machen, indem die männlichen Figuren und die Leser gleichermaßen beunruhigt werden. In Anlehnung an das Zitat von Salecl ließe sich sagen, dass die Kastration den Adressaten vermitteln soll, was sexualisierte Gewalt und eine fehlende Aufklärung dieser Verbrechen bedeuten. Das Resultat einer solchen Kastration müsste konsequenterweise sein, dass sich die Betroffenen daraufhin in die anderen Menschen, in alle „pequeñas olvidadas“ einfühlen. Der Schmerz soll damit eine gesellschaftliche Veränderung anstoßen. Als die Detektivin der Ich-Erzählerin das Foto vom zweiten Tatort zeigt, weckt dies in Letzterer sofort die Erinnerung an ein Kunstwerk von Jake und Dinos Chapman, das den Titel Great Deeds Against the Dead trägt (vgl. ebd., 23). Die Installation ist einer Radierung des spanischen Malers Goya aus der Reihe Desastres de la guerra nachempfunden, mit dem ursprünglichen Titel Grande hazaña! Con muertos! 100 In beiden Fällen ist auffällig, dass die Verbindung eigentlich widersprüchlicher Begriffe („hazaña“ vs. „muertos“, „Great Deeds“ vs. „Dead“) ironisch eine diskursive Legitimierung von Gewalt hinterfragt. Während sich Goyas Werk kritisch auf die spanische Gesellschaft des beginnenden 19. Jahrhunderts bezieht, 101 bewertet die Sekundärliteratur eine spätere Adaption der Chapmans, Insult to Injury, als Kritik am 2003 beginnenden Irakkrieg (vgl. Baumgartner 2008, 134f.). Mit dem intermedialen Bezug auf Goya in La muerte me da wird der über die Kunstwerke vermittelte Schrecken gesellschaftlicher Krisensituationen ins zeitgenössische Mexiko verlegt und eine transhistorische sowie transnationale Verbindung erschaffen, die sich gegen Gewalt wendet. Dies verstärkt sich dadurch, dass einige der Titel Goyas in La muerte me da wiederholt und in den neuen Kontext integriert werden, also die Erinnerung an seine Bilder bestehen
Die Chapman Brothers werden zum Kreis der Young British Artists gezählt (vgl. Baumgartner 2008, 129, 132). Ihre diversen grenzüberschreitenden Bearbeitungen künstlerischer Vorgänger erregte Aufmerksamkeit, beispielsweise ihre intensive Auseinandersetzung mit dem Werk Goyas (vgl. ebd., 32) sowie die Bearbeitung von Adolf Hitlers Bildern (vgl. Brown 2008). 101 Francisco de Goya schuf die erst 1863 posthum veröffentlichen Desastres de la guerra wahrscheinlich zwischen 1810-1820. Sie lassen sich thematisch in drei Gruppen gliedern, „die Kriegsereignisse unter Napoleon (Des. 2-47), die Madrider Hungersnot (Des. 48-64) und die ‚Caprichos enfáticos‘ (Des. 65-82)“ (Traeger 2000, 143). Hier tritt der künstlerische Bezug auf gesellschaftliche Krisensituationen deutlich hervor. Goyas Desastres wurden zu dessen Lebzeiten nicht veröffentlicht, da sie als obszön und gegen die Ordnung gerichtet galten (vgl. ebd., 143; Schaar 1993, 8). Baumgartner (2008, 134) zufolge inspiriert das Werk Goyas Teile aus Pablo Picassos Sueño y mentira de Franco (1937). Es zeigt sich, dass über die Jahrhunderte hinweg mit einer gesellschaftskritischen Konnotation auf Goyas Desastres Bezug genommen wird. Indem La muerte me da Goyas Werk eingliedert, reiht sich der Text in diese Tradition ein. 100
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bleibt. 102 Hier gilt es zu berücksichtigen, dass es das Foto eines Opfers ist, das in der Ich-Erzählerin diese Assoziationen erstmals hervorruft (vgl. Rivera Garza 2007, 23). Demzufolge reiht sich der vom Täter inszenierte und ästhetisch aufbereitete Kastrationsmord in die Tradition Goyas und der Chapman-Brüder ein. 103 Die Transformation der zweidimensionalen Radierung zu einer dreidimensionalen Skulptur, wie sie die Chapman Brothers vollzogen haben, setzt der Täter nun konsequent fort – er positioniert sein Werk nicht im Museum, sondern im öffentlichen Raum und verwendet anstelle von „resina, […] cabello artificial“ (ebd., 23) die Körper realer Menschen. Diese Lesart ist nicht unproblematisch, da sie Menschen enthumanisierend zu einem Kunstwerk objektifiziert, das den Blicken der Betrachter ausgesetzt ist. Dennoch wirft sie radikal die Frage nach der Grenze zwischen Kunst, Literatur und dem Leben auf. Zunächst zeigt sich, dass Kunst den realen Schrecken über Zeit und Raum hinweg übermitteln, den Betrachter emotional berühren und Empathie hervorrufen kann. 104 Schon bei Goyas Bildern deutet sich aber an, dass der Blick des Schauenden zugleich voyeuristisch sein (vgl. Baumgartner 2008, 132), die Betrachtung verstümmelter und ermordeter Menschen Empfindungen von Lust auslösen kann (vgl. Traeger 2000, 150). Das Gleichgewicht zwischen Lust und Schrecken erweist sich dabei als fragil. In Anlehnung an Georges Bataille lässt sich daraus schließen, dass die unterschiedlichen – positiven wie negativen – Reaktionen auf Kunstwerke, die Sexualität und Tod verknüpfen, als Indikator für die gesellschaftlich dominanten Diskurse gelten können. 105 Vor diesem Hintergrund scheint La muerte me da jener Art von Kunst einen besonderen Stellenwert zuzusprechen, der 102 Die Ich-Erzählerin bezeichnet das Werk der Chapman Brothers als „eco de Goya“ (Rivera Garza 2007, 25). Durch die wiederholte Zitierung von Goya-Titeln entsteht aber auch in La muerte me da eine Art Widerhall, der konsequent die Aufmerksamkeit des Lesers auf die Bilder Goyas lenkt (vgl. ebd., 25f., 332f., 352). Das „eco de Goya“ gewinnt somit eine metatextuelle Bedeutung. Der intertextuelle Umgang mit Goya enthält eine spielerische Konnotation, so z. B. „¡Ah! Saña“ (ebd., 333). Das positiv konnotierte „hazaña“ wird hier phonetisch gebrochen und zu einer Interjektion („Ah“) mit einem negativ assoziierten Begriff („saña“) transformiert. Es tritt eine Doppeldeutigkeit zutage, denn das in Kriegen als Heldentat Bezeichnete beruht oft auf Gewalt. Die Semantik des Wortes „saña“, das eine starke negative Emotion ausdrückt, kontrastiert zudem mit dem witzigen Effekt des Wortspiels. 103 Für diese Lesart spricht erstens, dass sowohl in Goyas Radierung als auch in der Skulptur der Chapmans ermordete und kastrierte Männer dargestellt werden. Zweitens zieht die Ich-Erzählerin ebenfalls eine Verbindung zwischen Goya, den Chapman Brüdern und den realen Toten: „lo espantoso y lo increíble que resultaba siempre ver, sin importar si se trataba de Goya o de los hermanos Chapman, de un grabado o de una instalación o del hecho real, el cuerpo de un hombre castrado“ (Rivera Garza 2007, 27). 104 Susan Sontag (2003, 40) sieht die Relevanz in Goyas Desastres de la guerra darin, dass sie explizit darauf abzielen, den Betrachter zu schockieren, ohne dabei aus der Gewalt ein Spektakel zu machen. 105 Vgl. Kapitel 2.2.2 dieser Arbeit, das anhand Batailles L’Érotisme [1957] (1987) den Zusammenhang zwischen Tod und Erotik, Grenze und Transgression erläutert. Das Gefühl des Ekels gilt bei Bataille (1987, 60) als Zeichen dafür, dass das Verhältnis zwischen Angst und Lust nicht mehr ausgewogen ist. In solchen Fällen kann es zu einem Umschwung kommen, der sich in Tabus äußert (vgl. Bataille 1987, 187f.). Die Affekte sind Bataille zufolge ein Indikator gesellschaftlicher Grenzen.
4.2 Cristina Rivera Garza: La muerte me da (2007) 125
es gelingt, moralische Grenzen zu überschreiten. Dies sei der Weg, um eine Botschaft zu übermitteln und gesellschaftliche Reflexionen anzustoßen. Diese Hypothese lässt sich anhand der in La muerte me da vollzogenen Anspielungen auf den Bereich der Performance Art unterstützen. 106 Auf die Diegese von La muerte me da übertragen, ließe sich sagen, dass der Täter die Opfer und die Öffentlichkeit zum Teil einer Performance macht. Durch diese moralische Grenzüberschreitung gelingt es dem Täter, eine radikale Kunst zu erschaffen, die über die bisherige Performance Art hinausgeht. Das Publikum – die Zeugin, die ermittelnden Polizisten, die Öffentlichkeit – wird indirekt aufgefordert, die Morde zu stoppen, indem es die gesellschaftlichen Umstände ändert. So verstanden hat auch der Täter eine Form der Kunst geschaffen, die die diskursiven Grenzen des gesellschaftlich als normal Geltenden transgrediert. Dies wiederum zeichnet ein pessimistisches Bild der zeitgenössischen Gesellschaft, in der die fehlende Empathie es quasi unmöglich mache, das Publikum mit den konventionellen Methoden der Kunst oder Literatur zu schockieren. Daran anschließend kann man den Täter-Künstler als Kritiker verstehen, der der Gesellschaft ihre Aktualität spiegelt und sie zwingt, genau hinzusehen. Er macht die Toten zur Metapher der von Gewalt und Morden durchzogenen Gesellschaft. Zugleich zeigt sich zugespitzt, dass Kunst nicht immer harmlos ist. Der Text widmet sich auch der explizit metaliterarischen Frage, wie sich die realen Todesfälle auf den literarischen Schreibprozess auswirken. Von Beginn an entstehen Zweifel, ob die Literatur den Morden gerecht werden könne. Dies geschieht z. B. im zweiten Unterkapitel, in dem die Detektivin die Ich-Erzählerin befragt. Während die Fragen nicht abgedruckt werden, erscheinen die Antworten in Kursiv. Darauf folgen längere Textabschnitte, die in Form eines inneren Monologs verfasst sind:
106 Die anonyme Verfasserin der Briefe von Kapitel II – und mögliche Täterin – gibt zunächst vor, ihr Name sei Joachima Abramövic (vgl. Rivera Garza 2007, 79). Wenig später verneint sie dies und sagt, sie heiße Gina Pane (vgl. ebd., 84). Der Detektivin ist bewusst, dass es sich hierbei nicht um echte Namen handelt, sondern dass sich die anonyme Briefeschreiberin hinter diesen Pseudonymen versteckt. Es schließen sich Reflexionen der Detektivin über das Schaffen Marina Abramovics an (vgl. ebd., 108-111). Die genannten Künstlerinnen Gina Pane (1939-1990) und Marina Abramovic (*1946) haben sich bei ihren Performances wiederholt Schmerzen zugefügt. Dabei kann der Schmerz der Künstlerin die gesellschaftliche Gewalt repräsentieren und zugleich als symbolische Reinigung und Befreiung der Gemeinschaft gelesen werden (vgl. Meyer 2008, 176, 185). Das stellvertretende Leiden habe im Werk Gina Panes eine entscheidende Rolle gespielt, da sie sich Verletzungen zugefügt habe, um auf die Gewalt hinzuweisen, der andere Individuen ausgesetzt seien (vgl. ebd., 181). Dadurch machte sie ihren Körper zu einem Repräsentanten von gesellschaftlichem Leid (vgl. ebd., 182, 185). Außerdem haben Pane und Abramovic bewusst mit der Reaktion des schockierten Publikums gearbeitet (vgl. ebd., 183, 194f.). In den Performances von Abramovic zeigt sich einerseits, dass das Publikum selbst zu Gewalt fähig ist (vgl. Marina Abramovic Institute o. J.). Andererseits kann es aber auch eine schützende Rolle einnehmen, z. B. wurde ein Auftritt von Abramovic vom Publikum abgebrochen, als sich die Künstlerin zu großer Gefahr aussetzte (vgl. Museum moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien o. J.).
126 4. Grenzen und Transgressionen im mexikanischen Roman der Gegenwart Sí, escribo. También. También por placer, como el correr. Para llegar a algún lado. Utilitariamente. Para llegar al fin de la página, quiero decir. No para hacer ejercicio. Si me entiende: cosa de vida o muerte. Es difícil explicar lo que uno hace. Las causas. Las consecuencias. El proceso. Es difícil explicar lo que uno hace sin echarse a reír o a llorar, desmesuradamente. Mi ojo me mira ahora sin precaución. Ante la imagen del asesinado que se introduce como ruido blanco en el interrogatorio; ante eso que ya no vemos pero que no podemos dejar de ver, ¿qué carajos importa llegar o no llegar al final de la página? Es un rectángulo, ¿no lo ves?, le pregunto. No estoy en condiciones de decir que hacer eso, llegar al final de la página, sea una cuestión de vida, una cuestión de muerte. ¿Dónde está la sangre que lo prueba?, me preguntas. ¿Dónde está mi sangre?, afirmas, perplejo (Rivera Garza 2007, 20, Hervorhebung i. O.).
Die Präsensform und die häufigen elliptischen Sätze suggerieren spontane Mündlichkeit und gleichen einem Gedankenfluss. Die anaphorischen Wiederholungen („También“, „Para llegar“, „Es difícil“, „Las“, „Ante“, „¿Dónde está?“) und inhaltlichen Dichotomien („vida o muerte“, „echarse a reír o a llorar“, „llegar o no llegar“, „una cuestión de vida, una cuestión de muerte“) evozieren eine Pendelbewegung, die eine innere Rastlosigkeit der Protagonistin repräsentieren kann. Sie beschreibt das Schreiben und Laufen als utilitaristisch („utilitariamente“), das damit angestrebte Ziel bleibt undefiniert („algún lado“). Der Verweis auf den Utilitarismus und den damit verbundenen Hedonismus („placer“) suggeriert, dass sie es anstrebt, Lust zu empfinden (vgl. Prechtl 2008, 234). Zugleich bezeichnet die Ich-Erzählerin den Akt des Schreibens aber als „cosa de vida o muerte.“ Daher gewinnt er eine bedrohliche Komponente, fernab vom Spielerischen. Schreiben und Laufen scheinen der Protagonistin eine Flucht zu ermöglichen. Das Wort „muerte“ markiert graphisch einen Wechsel, da es den kursiven Textabschnitt abschließt. Es leitet zum Bild des ermordeten Mannes über („asesinado“). In einer Synästhesie, die das Akustische („ruido“) mit dem Visuellen („imagen“ „blanco“) verknüpft, wird der Anblick des Toten mit einem weißen Rauschen 107 verglichen. Dies kann man unterschiedlich interpretieren: Zunächst blendet das Bild des Toten wie eine Störung alles Restliche aus und verhindert, dass Informationen verarbeitet werden. Es überdeckt die anderen Ereignisse, die ihre Relevanz verlieren. Dabei sticht der Tote aber nicht heraus, er fügt sich vielmehr in die Umwelt ein, mit der er zu einem Rauschen fusioniert, das nicht punktuell, sondern dauerhaft erklingt. Das ließe sich als Warnung deuten, dass die Erscheinung des Toten allzu schnell normalisiert werde. Zugleich veranschaulicht das Textbeispiel, dass das Bild des Toten, ähnlich der unsichtbaren Folter, traumatisch wirken kann. Obwohl 107 Das weiße Rauschen kommt in unterschiedlichen Feldern zum Einsatz, von Meditation bis Folter, es kann also sowohl positiv als auch belastend auf das Individuum wirken. Der physikalische Begriff des weißen Rauschens bezeichnet eine „endlose[…] Überlagerung verschiedener Signale“, die dazu führt, dass keines der Signale einzeln entnommen werden kann (Piehler 2006, 10). Außerdem ist der Ton eine Störung (vgl. ebd., 10). Allerdings kann das weiße Rauschen andere störende Geräusche ausblenden und dient in diesem Zusammenhang therapeutischen Zwecken sowie der Entspannung (vgl. Stanchina 2004, 427). In Kombination mit dem Wort „interrogatorio“ macht La muerte me da darauf aufmerksam, dass das weiße Rauschen auch als physische, unsichtbare Form der Folter fungiert (vgl. Caba 2015).
4.2 Cristina Rivera Garza: La muerte me da (2007) 127
es keine körperlich sichtbaren Spuren im Zeugen hinterlässt, trifft es diesen dennoch. Erst die ästhetische Verarbeitung in der literarischen Sprache macht die unsichtbaren Spuren von Gewalt artikulierbar. Das verstörende Bild bleibt in Form einer Erinnerung dauerhaft präsent, denn „ya no vemos pero no podemos dejar de ver.“ An dieser Stelle trennt sich der reale, auf den Toten gerichtete Blick, der bereits abgeschlossen ist („ya no vemos“), vom inneren Blick auf das eingeprägte Bild der Erinnerung („no podemos dejar de ver“). Die Vergangenheit entpuppt sich als nicht abschließbar, und der Tote bleibt latent präsent, obwohl er real nicht mehr zu sehen ist. Auffällig ist an dieser Stelle der Wechsel in die erste Person Plural, der traumatische Effekt ist nicht mehr individuell, sondern breitet sich zu einem kollektiven Phänomen aus. Die Traumata der Einzelnen, so deutet sich an, wirken sich negativ auf das gesamte Kollektiv aus. Das hier evozierte Bild des Toten konfligiert mit den zuvor getätigten Aussagen über das Schreiben, was sich am Bruch durch das umgangssprachliche „carajos“ zeigt, das eine phonetische und semantische Härte enthält. Die emotionale Zerrissenheit materialisiert sich im Wechsel von dichotomisch strukturierten Aussagesätzen zu vier Fragesätzen sowie in der Dominanz interrogativer Begriffe („preguntar“, „cuestión“). Die bereits zuvor spürbare Negativität durch das „no“, „sin“ und das negierende Präfix „des-“ manifestiert sich nach Erwähnung des Toten explizit in einem fünfmaligen „no“. Nachdem die Ich-Erzählerin den Toten direkt anspricht, entfaltet sich syntaktisch und semantisch eine ihr Gefühlsleben abbildende Desorientierung. Es ist nicht eindeutig, mit wem sich die Protagonistin hier unterhält („le pregunto“), ob es sich dabei um die „Detective“ handelt oder sie sich mit dem eigenen Gewissen auseinandersetzt, in Form eines dialogischen Monologs. Die Polyphonie dieser Textstelle macht darauf aufmerksam, dass der Umgang mit den Toten auf persönlicher wie gesellschaftlicher Ebene höchst komplex ist. Die Erzählerin wendet sich an eine zweite Person Singular, wobei es sich um den Toten handeln könnte. Für diese Hypothese spricht der Titel des Unterkapitels, „Mi primer cadáver“ (Rivera Garza 2007, 17). Der Tote wird hier auf seinen Zustand als lebloser Körper reduziert, der ohne Unterscheidung zwischen dem Menschlichen und dem Tierischen nur noch zerfallende Materie darstellt. Die Erzählerin selbst spricht auf vorherigen Seiten in verkürzter Form von „mi primer“ (ebd., 19). Die Ellipse bildet das fehlende Wissen der Protagonistin über den Toten ab und es entsteht eine Lücke. In beiden Fällen ist das Possessivpronomen auffällig. Einerseits deutet sich eine Vereinnahmung des Toten an, da das „mi“ Besitz und ein hierarchisches Verhältnis signalisiert. Im Gegensatz zur Protagonistin kann der Tote nicht mehr sprechen, wodurch sie für und über ihn spricht, ohne jedoch dessen Identität zu kennen. Die Protagonistin kann die Lücke des „mi primer“ imaginär mit ihren eigenen Assoziationen und Bedürfnissen füllen. Damit gleicht ihre Wortwahl der eines Täters. Zudem deutet sich hier an, dass es noch mehrere Opfer geben wird (segundo, tercero usw.). Andererseits zeigt das Possessivpronomen jedoch, dass die Protagonistin ergriffen ist und sich mit dem ihr zuvor Fremden insofern identifiziert, als sie sich in einer direkten Verbindung zu ihm sieht. Da sie
128 4. Grenzen und Transgressionen im mexikanischen Roman der Gegenwart
wahrscheinlich erstmals als Zeugin eines Mordfalls fungiert, ist die Protagonistin besonders berührt. Dies zeigt sich auch daran, dass das allgemeine „la sangre“ zum individuellen „mi sangre“ wird. Da die Protagonistin sich vom Toten angesprochen fühlt („me preguntas“, „afirmas“), versucht sie empathisch die Perspektive des Anderen nachzuempfinden. Es ließe sich ebenfalls vermuten, dass die Erinnerung an den Toten die Protagonistin emotional belastet und wie ein Wahn verfolgt. Sie scheint gar zu glauben, die Stimme des Mannes zu hören („me preguntas“, „afirmas“). Indizien für eine psychische Krise können polare Gefühlsäußerungen („reír o llorar“), widersprüchliche Kombinationen („afirmar“ vs. „perplejo“) und grenzenlos konnotierte Bezeichnungen sein („desmesuradamente“, „sin precaución“). Besonders auffällig ist der durch die Alliteration hervorgehobene Satz „Mi ojo me mira“. Das Auge steht oftmals für den Außenkontakt des Individuums mit der Gesellschaft und ermöglicht den Blick ins Innere des Subjekts – in der vorliegenden Textstelle ist der Blick aber paradox umgekehrt. Dies impliziert, dass die Protagonistin momentan nicht in der Lage ist, mit der äußeren Welt in Kontakt zu treten, da ihre eigenen Gedanken und Erinnerungen sie stark einnehmen. Die Befragung zwingt sie, sich den Bildern zuzuwenden, die sie gesehen hat und die noch immer präsent sind. Da das observierende 108 Auge hier personifiziert wird und das Ich im Gegensatz passiv bleibt, scheint eine gefühlte Spaltung zwischen dem Körper und dem Bewusstsein vorzuliegen. Die Metapher des Auges ermöglicht es der Ich-Erzählerin, ihre emotionale Krise zu artikulieren, ohne sie explizit benennen zu müssen. 109 Zudem führt sie eine innere Auseinandersetzung damit, wie sich ihr Selbstbild als Schriftstellerin moralisch mit den Toten vereinbaren lässt, und fragt nach dem Zusammenhang zwischen Schrift und Leben, indem sie auf die rechteckige Form der Seite hinweist („Es un rectángulo“). Die Form ermöglicht es, die Buchseite in ihrer Analogie mit anderen Elementen zu betrachten: Das Buch erfüllt beispielsweise wie eine Tür diverse Funktionen, kann sowohl trennen als auch unterschiedliche Welten verbinden. 110 Darüber hinaus gleicht die Buchseite ebenfalls der rechteckigen Form eines Grabes und kann als Metapher das menschliche Leben darstellen, das linear und begrenzt ist. Mit einem negativen Grundton entsteht hier der Gedanke ans Ende, d. h. an den Tod als Ziel des Lebens. 108 Anstelle des Verbes ver wird hier mirar verwendet, was den inspizierenden Charakter des Blickes hervorhebt. Synonyme sind „observar [...], inquirir“ (Real Academia Española 2014, 1470). 109 Vgl. die in Kapitel 2.2.2 dieser Arbeit herangezogene Analyse Foucaults des Auges im Werk von Georges Bataille. Während Foucault (1994b, 245) dem Auge die Verbindung von Innen und Außen attestiert, sieht er im herausgerissenen Auge eine Abwendung von dieser Interpretation. So wird für Foucault (ebd., 247) diese Darstellung des Auges zur Metapher der Transgression. In La muerte me da ist das Auge nicht wie im Werk Batailles herausgerissen, doch auf ähnliche Weise verdreht. 110 Im Essay „Saber demasiado“ verwendet Rivera Garza (2010, 18) die Analogie zwischen der rechteckigen Seite und den Gegenständen des Lebens: „Las páginas de ese libro comparten forma con la puerta, la mesa, la cama, la tumba: el rectángulo de las experiencias básicas“. – Vgl. das Kapitel 2.1.2 der vorliegenden Arbeit, das anhand von Georg Simmel (1957, 3, 6f.) die doppelte Funktion der Tür zeigt, die für die menschliche Interaktion steht.
4.2 Cristina Rivera Garza: La muerte me da (2007) 129
In diesem Kontext ist das „llegar o no llegar“, gefolgt von „cuestión“ eine intertextuelle Anspielung auf Shakespeares Hamlet. In einem Soliloquium des 3. Aktes äußert die gleichnamige Hauptfigur den bekannten Zweifel: „Ser o no ser, ésa es la cuestión...“ (Rafter 2013, 76f.). Die Forschung bewertet Hamlets Reflexion über Leben und Tod unterschiedlich. Fest steht, dass dieser Ausruf sich über die Jahrhunderte hinweg zu einem transnational gültigen und auf diverse Kontexte übertragbaren Sprichwort etabliert hat (vgl. Mieder 2008, 11f., 14). Dies zeigt die besondere Fähigkeit von Literatur, existenzielle Problemlagen und Fragestellungen für die Allgemeinheit zu artikulieren und ihnen einen Platz im kulturellen Gedächtnis zu geben. Allerdings bewertet La muerte me da das Zitat kritisch und stellt es viel eher infrage („¿qué carajos importa llegar o no llegar al final de la página?“). Der durch das „carajos“ markierte Bruch suggeriert, dass die Protagonistin ihre zuvor getätigte Aussage, es gehe beim Schreiben um Leben oder Tod, bereut und zurücknimmt („No estoy en condiciones de decir“). Durch den Gedanken an den Toten wird sich die Protagonistin bewusst, dass die Bezeichnung „muerte“ nicht rein metaphorischer Art ist. Das kann als Warnung vor einem undifferenzierten Sprachgebrauch gelesen werden, der allzu leicht von den realen Toten abstrahiert. In eine ähnliche Richtung deutet an späterer Stelle die folgende Aussage der hetero- und extradiegetischen Erzählinstanz über das Verhältnis von Literatur und Verbrechen: Lo que en realidad pasa: Eso no lo puede saber la novela (Rivera Garza 2007, 107).
Obwohl sie zu Beginn suggeriert, dass die Wirklichkeit preisgegeben werde („en realidad“), negiert die Erzählinstanz dies im folgenden Satz und spricht dem Roman („novela“) ab, etwas über die Realität zu wissen. Dadurch setzt sich dieser Abschnitt metafiktional mit der Relation zwischen Fiktionalität und Wirklichkeit auseinander. Die eingenommene Perspektive erscheint zunächst pessimistisch, doch Inhalt und Struktur der Textstelle sind nicht vereinbar, denn es ist lediglich vom Genre des Romans die Rede, obwohl die Untergliederung in zwei Verse an die Form des Gedichts erinnert. Folgt man diesem Indiz, deutet sich an, dass die Poesie dazu beiträgt, die Realität zu erkennen (vgl. auch Abreu Mendoza 2010, 295). Diese Hypothese lässt sich am Unterkapitel 97 überprüfen, das in Versform geschrieben ist und den Roman abschließt. Die Überschrift wendet sich in der zweiten Person Singular an den Leser: „No tienes derecho a saber nada de los muertos“ (Rivera Garza 2007, 353). Zunächst potenziert sich das Gefühl einer unsichtbaren Macht, denn das hier sprechende, aber anonym bleibende Subjekt befindet sich in der hierarchisch überlegenen Position, da es die Rechtslage bestimmen kann („tener derecho a“). Bereits mit dem ersten Wort ist die Aussage von Negation gekennzeichnet („no“, „nada“). Es wird ein Verbot des Wissens ausgesprochen („saber“). Die Stimme ist somit jene einer unterdrückenden Macht, die um den Tod kreist und sich über das Verbot konstituiert. In Anlehnung an Michel Fou-
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cault zeigt sich hier die enge Verbindung von Macht und dem Zugang zu Wissen sowie zum Diskurs. 111 Das fehlende Wissen führt schließlich dazu, dass die Toten auch in der Zukunft keinen Teil eines kollektiven Gedächtnisses bilden und die Gesellschaft es somit nicht lernt, weitere Todesfälle zu vermeiden. Der Verbotssatz erinnert in Teilen („No tienes derecho a saber nada“) an die im Alten Testament von Gott an Adam gerichtete Warnung, vom Baum der Erkenntnis zu essen, da dies zu seinem Tode führen würde (Gen 2,16-17). Das friedliche Zusammenleben im Paradies endet, als Adam und Eva von besagtem Baum essen und Gott sie folglich aus dem Garten Eden verstößt (Gen 3,23-24). 112 Dadurch beginnt jedoch das menschliche Leben auf Erden (vgl. Pfeiffer 2006). Diese Implikationen der Paradieserzählung lassen sich auf die zeitgenössische Gesellschaft übertragen. Diejenigen, die den dominanten Diskurs akzeptieren und der Weisung folgen, haben ein unbeschwertes Leben, doch es ist eines ohne Erkenntnis, das auf Unterwerfung beruht. Die Suche nach der Erkenntnis, in diesem Fall also nach Informationen über die Todesfälle, geht allerdings einher mit Leid und einem sich abrupt ändernden Leben. Das im Titel geäußerte Verbot ist also insofern doppeldeutig, als dass es – mit Georges Bataille gesagt – zu seiner Überschreitung anregen kann. 113 Es könnte ein impliziter Handlungsanstoß für den Leser sein, das Verbot zu brechen und nach der Wahrheit zu suchen, wie sich am restlichen Gedicht nachvollziehen lässt: A la víctima se le cubre el cuerpo. Esto es un velo. Bajo el velo, la daga. Sobre el velo, la ráfaga. La ráfaga es tu respiración (Rivera Garza 2007, 353).
Im ersten Vers wandelt sich die im Titel verwendete Bezeichnung „los muertos“ zu „la víctima.“ Damit wird einerseits allumfassend das männliche sowie das weibliche Geschlecht einbezogen, andererseits lenkt dies den Fokus vom Allgemeinen („los“) auf das individuelle Opfer („la“) – das aber trotzdem anonym bleibt. Die Passivität des Opfers drückt sich grammatikalisch aus („A la víctima se le cubre“).
111 Vgl. Kapitel 2.1.2 dieser Arbeit zur erzeugten Grenze zwischen raison und folie, die nicht allen Menschen gleichermaßen einen Zugang zum Diskurs ermöglicht (vgl. Foucault 1971). 112 Die Schlange stellt die Aussage Gottes in Frage: „Ihr werdet keineswegs des Todes sterben, sondern Gott weiß: an dem Tage, da ihr davon esst, werden eure Augen aufgetan, und ihr werdet sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist“ (Gen 3,4-5). Sie zweifelt das dominante Narrativ des Herrschenden an. 113 Vgl. Kapitel 2.2.2 der vorliegenden Arbeit zu Georges Batailles Verbindung von Verbot und Transgression. Die Überschreitung stelle das Verbot in Frage, festige es aber zugleich (vgl. Bataille 1987, 39).
4.2 Cristina Rivera Garza: La muerte me da (2007) 131
Ab dem zweiten Vers steht der das Opfer bedeckende „velo“ im Mittelpunkt, der mit einem Leichentuch, einem Schleier 114 und einem Vorhang assoziiert werden kann. 115 In allen drei Fällen verdeckt er etwas („cubrir“), dessen Offenbarung aber mitgedacht ist. Typographisch bilden die Leerzeilen und dominanten weißen Flächen auf der Seite des Buches den Schleier und das von ihm Verdeckte, nicht Sichtbare, ab. Das lyrische Ich scheint aber zu wissen, was sich unter dem Schleier befindet, da es in Vers drei und vier das Unten („bajo el velo“) und Oben („sobre el velo“) einander gegenüberstellt. Beide Verse sind in Form der heptasílaba verfasst, während das Versmaß des restlichen Gedichts nicht einheitlich ist. Auch die Syntax der zwei Verse ist parallel und aufgrund der fehlenden Verben elliptisch. Dies deutet auf einen Stillstand und lässt die beschriebene Szene wie eine Momentaufnahme erscheinen. Der Dolch („daga“) stellt einen Zusammenhang zum Rest der Erzählung her, da er Mord und Kastration evoziert. Er repräsentiert die Tatwaffe und somit das Beweismittel, befindet sich jedoch unter dem Schleier. Die „daga“ erzeugt semantisch eine düstere Stimmung, die phonetisch mit den dominanten, hart klingenden Lauten [k], [r] und den Alliterationen („cubre el cuerpo“, „ráfaga es tu respiración“) untermalt wird. Dies steht im Kontrast zum bilabial anlautenden [ˈbelo]. 116 An der Metrik des Gedichts ist auffällig, dass nur die ersten drei Verse auf der vorletzten Silbe betont werden, also llanos sind. Dies ändert sich mit dem vierten Vers, der einen esdrújulo darstellt. Der Terminus „ráfaga“ bringt zunächst rhythmisch eine Bewegung mit sich und markiert den Wendepunkt des Gedichts. Die Wiederholung in Form einer Anadiplose rückt das Wort in den Fokus. Semantisch sticht es ebenso heraus, da es mehrdeutig ist und sowohl einen Windstoß, als auch ein aufleuchtendes Licht oder aber eine Gewehrsalve bezeichnen kann. 117 Letztere bedient das Wortfeld der Gewalt, wie schon zuvor „víctima“ und „daga“. Alle drei Vgl. Johannes Endres (2014, 24), der literaturgeschichtlich unterschiedliche Funktionen des Schleiers aufzeigt, zugleich die „Verbergung eines eigentlich Bekannten und dessen anschließende Entschleierung“ oder aber eine „Offenbarung – eines Unsichtbaren, Unbekannten, Abwesenden, Undarstellbaren“. Endres (ebd., 41) betont die „transgressive und subversive Funktion des Schleiers […], die Grenzen […] verwischt“. 115 Im Alten Testament (Lev. 4,6.17) schützt der Vorhang den Bereich des Allerheiligsten, der einmal jährlich mit dem Blutritus gereinigt wird (vgl. Vahrenhorst 2013). Beim Tod Jesu im Neuen Testament zerreißt der Vorhang und die Trennung zum Göttlichen wird aufgehoben (vgl. ebd.). La muerte me da greift das hier präsente Motiv der Auferstehung auf. 116 Darüber hinaus erinnert die Kombination aus „velo“ und „daga“ an die sog. comedia de capa y espada des spanischen Theaters des Siglo de Oro. Einen elementaren Teil machen Intrigen und Verwechselungen aus, wobei auch die Grenzen zwischen den Geschlechtern zeitweilig spielerisch überschritten werden (vgl. Arellano 1995, 138f., 499ff.). Die comedia ist dabei aber nicht gesellschaftskritisch, da am Ende die Ordnung wiederhergestellt wird (vgl. ebd., 500; Tietz 2006, 167f.). La muerte me da greift die spielerische Verschleierung von Identitäten auf, ohne diese aber zum Ende aufzudecken. Folglich kann eine gesellschaftliche Ordnung höchstens zum Schein bestehen. 117 „Viento fuerte, repentino y de corta duración. […] Golpe de luz vivo o instantáneo. […] Conjunto de proyectiles que en sucesión rapidísima lanza un arma automática“ (Real Academia Española 2014, 1843). 114
132 4. Grenzen und Transgressionen im mexikanischen Roman der Gegenwart
Bedeutungen von „ráfaga“ ähneln sich dadurch, dass sie einen plötzlichen Wechsel der herrschenden Bedingungen umschreiben. Der letzte Vers markiert strukturell und inhaltlich den Höhepunkt. Die Assonanzen des Gedichts sind so angeordnet, dass sie eine absteigende Zahlenfolge bilden, wenn man die Überschrift mitberücksichtigt: 3 („muertos“/„cuerpo“/„velo“), 2 („daga“/„ráfaga“), 1 („respiración“). Des Weiteren unterscheidet sich der letzte Vers von den anderen, da er in Form des agudo verfasst ist und auf der letzten Silbe betont wird. Das Adjektiv agudo bedeutet ‚spitz‘, ‚lebendig‘ und ‚intensiv‘ (vgl. Real Academia Española 2014, 69f.). Dies ließe sich auf den Vers selbst übertragen, der semantisch eine Transformation vom passiven Tod zum aktiven Leben markiert. Der das Leben symbolisierende Atem („respiración“) kann in diesem Zusammenhang auf eine mögliche Auferweckung der Toten hinweisen (vgl. Haekel 2008, 24f.). Hier bezeichnet die „ráfaga“, metaphorisch mit dem Atem gleichgesetzt, einen Windstoß („la ráfaga es tu respiración“). Es deutet sich an, dass der Schleier mit dem Atem gehoben und der Blick auf das darunter Liegende frei werden könne. Indem sich der letzte Vers noch einmal direkt an das Du („tu“) wendet, bezieht er den Leser ein. Dieser erhält zwar keine explizite Handlungsanweisung, ihm wird aber die Möglichkeit eröffnet, die Suche nach der Erkenntnis fortzuführen. Dabei deutet der Text an, dass die transformative Kraft im Leser selbst liegt („es tu respiración“), der als Akteur der extraliterarischen Welt den Text mit dem Leben verbinden und den Schleier der Erkenntnis heben kann.
4.3
Yuri Herrera: Señales que precederán al fin del mundo (2009)
Im Jahre 2009 veröffentlicht Yuri Herrera mit Señales que precederán al fin del mundo seinen zweiten Roman. 118 Die Protagonistin Makina ist eine junge Indigene, die sich auf den Weg in die USA begibt, um dort auf Geheiß ihrer Mutter ihren Bruder zu finden. Die inhaltliche Ebene befasst sich mit der beschwerlichen und grenzüberschreitenden Reise der Protagonistin, die Migrationsgeschichte der Mexikanerin wird aber mit prähispanischen Mythen gekreuzt, wodurch die Erzählung eine zweite Ebene erhält. 119 Die Reise erscheint zugleich als Weg einer VerstorYuri Herrera (*1970, Actopan) gewinnt mit seinem Debütroman Trabajos del reino den Premio Binacional de Novela Border of Words sowie den Premio Otras Voces, Otros Ámbitos. Das Werk wird 2008 im spanischen Verlagshaus Periférica veröffentlicht, wie auch Señales que precederán al fin del mundo (2009) und La transmigración de los cuerpos (2013). Alle drei Romane thematisieren den Zusammenhang von Macht, Raum und Sprache. Herrera verfasst auch journalistische Texte, z. B. für El País, La Jornada, Letras Libres. Seine Romane wurden in zwölf Sprachen übersetzt (vgl. Editorial Periférica o. J.). Im Folgenden kürze ich den Titel zu Señales ab. 119 Der ‚Mythos‘ (gr. μῦθος, Erzählung, Dichtung, Fabel), wird in der Antike vom Logos (gr. λόγος, Rechnung, Rechenschaft, verantwortete Rede) abgegrenzt und von Platon als ‚lügenhaft‘ definiert (vgl. Burkert und Horstmann 1984). Von Beginn handelt es sich also um ein umstrittenes Konzept, das mit ästhetischen und erkenntnistheoretischen Fragestellungen verbunden ist (vgl. Borsò 1994, 63). Betrachtet man, wie dieses Kapitel, aus einer europäischen 118
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benen ins Reich der Toten, und bezieht sich damit auf den literarischen Topos der Unterweltreise. 120 Die Charakterisierung der diegetischen Welt und der frontera norte hängt eng mit dieser doppelten Lesart zusammen. Zudem verweisen die Raumdarstellungen auf gesellschaftliche Diskurse, wobei sich zwei Bilder gegenüberstehen: Auf der einen Seite dominieren Binarität und Abgrenzung – die Grenze ist als Ort des Todes und Konfliktes konzipiert. Auf der anderen Seite ist die Grenze ein positiver Ort des Austauschs, der Solidarität und Wandel ermöglicht. Dabei steht die grenzüberschreitende Funktion von Literatur im Fokus, die einen Gegendiskurs artikulieren kann. Von Beginn an ist der Tod semantisch im Roman präsent. Bereits auf paratextueller Ebene deutet sich im Titel ein apokalyptisches Szenario an („fin del mundo“). Der Untergang der Welt erscheint wie ein in der Zukunft liegender Endpunkt, der in jedem Fall erreicht wird, wie das Futur suggeriert. Diesem Ende gehen aber bestimmte Zeichen („señales“) voran, was impliziert, dass man sie erkennen und deuten kann. Offen bleibt jedoch die Frage, ob das Ende der Welt daraufhin noch zu verhindern ist. Der Paratext schafft somit eine düstere, bedrohliche Grundstimmung und beeinflusst die Erwartungshaltung des Lesers gegenüber der erzählten Welt. Außerdem steht die Verbindung von Signifikant und Signifikat, d. h. die Zeichenhaftigkeit von Sprache im Fokus und der Leser wird dazu angeregt, die Sprache des Textes in ihrer allegorischen Funktion besonders aufmerksam zu betrachten. Der erste Satz des Textes führt die Semantik des Untergangs und des Endes fort: „Estoy muerta, se dijo Makina cuando todas las cosas respingaron“ (Herrera 2010, 11). Mit dieser wörtlichen Rede setzt die Handlung ohne erklärende Einführungen der Erzählinstanz mitten im Geschehen ein. 121 Dabei irritiert das Adjektiv „muerta“, da es den Tod der Protagonistin artikuliert und somit Anfang Perspektive heraus den ‚Mythos‘ in der mexikanischen Literatur, darf man den Terminus nicht leichtfertig anwenden. Vielmehr muss bedacht werden, dass der Mythos seit der Aufklärung mit der Frage nach der zivilisatorischen Entwicklung von Gesellschaften verknüpft wird, also mitunter einen abwertenden Blick auf den, in einem vermeintlich vor-rationalen Zustand verharrenden, ‚Anderen‘ umfasst (vgl. Burkert und Horstmann 1984). Versteht man zudem die literarische Verhandlung mythischer Themen „im Sinne autochthoner Identitätsfindung und als eigenständige amerikanische Ästhetik“ (Borsò 1994, 58), lässt dies die von Machtrelationen geprägten Prozesse der Mythenüberlieferung außer Acht und geht fälschlicher Weise von einem homogenen ‚Mythos‘ aus (ebd., 59). Dies möchte die vorliegende Arbeit vermeiden. Interessant ist viel eher, wie der literarische Text mythische Elemente aufgreift und ihre dominante Deutung transformiert (vgl. ebd., 84). So gesehen kann man die literarische Verarbeitung als interdiskursiven Prozess verstehen, der die Sprache des Spezialdiskurses ‚Mythen‘ aufgreift und mit anderen verknüpft. 120 Zum literarischen Topos der Reise in die Unterwelt und seiner Verarbeitung in der Erzählliteratur des 20. Jahrhunderts, vgl. Platthaus (2004). 121 Die Erzählinstanz ist hetero- und extradiegetisch, nimmt aber die Perspektive Makinas ein, die sie intern fokalisiert. Auch sprachlich scheint der Erzähler sich an Makina anzunähern, wie die umgangssprachlichen und wertenden Termini zeigen: „[E]l infeliz camino de la chingada“ (Herrera 2010, 12, Hervorhebung JA). Die wörtliche, direkte Rede der Charaktere erscheint ohne Anführungszeichen, wodurch die Grenze zwischen Erzähler- und Figurenrede verwischt. Damit entsteht ein Gefühl der Nähe zur Protagonistin. Gleichzeitig erfordert die Lektüre eine erhöhte Aufmerksamkeit des Lesers, um die Sprecher voneinander zu unterscheiden.
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und Ende paradox verschachtelt – denn dies ist chronologisch gesehen der Anfang der Reiseerzählung Makinas. Der Leser erfährt nicht, ob Makina tatsächlich gestorben ist oder ihre Aussage einen rein metaphorischen Charakter hat. Der Erzähler bleibt in Hinblick auf diese Frage ambivalent. Lediglich implizit weisen einige Textstellen darauf hin, dass Makina zu Anfang gestorben ist und sich nun auf dem Weg in die Unterwelt befindet. 122 Hierfür spricht vor allem, dass die Überschriften der insgesamt neun Kapitel intertextuell auf die neun Stationen verweisen, die ein Verstorbener der prähispanischen Legende nach auf dem Weg ins Mictlan 123, das Reich der Toten, passieren muss. Die Anordnung der Kapitelüberschriften in Señales steht in einer intertextuellen Beziehung mit den Aufzeichnungen von Fray Bernardino de Sahagún, Cecilio Robelo und Alfredo López Austin. 124 Die chronologische Anordnung der Stationen weicht in den unterschiedlichen Textquellen voneinander ab. Analysiert man die Wortfelder der einzelnen Kapitelüberschriften in Señales, zeigt sich, dass der Roman vor allem bedrohlich konnotierte Aspekte von den Quellen übernimmt. 125 Die Dunkelheit evoziert eine düstere Atmosphäre Einige Indizien deuten darauf hin, dass Makina zu Anfang der Erzählung gestorben ist, z. B. spürt sie nach Erleiden einer Schussverletzung keinerlei Schmerzen („no le dolía y apenas si sangraba,“ ebd., 55, „la herida en el costado estaba seca, al pasarle el jabón apenas si aguijonéo [sic],“ ebd., 65) und hat keinen Körpergeruch („hacía mucho no se había bañado, y sin embargo no estaba sucia ni olía mal – no olía a nada,“ ebd., 118). Außerdem erscheint bereits auf der zweiten Seite des Textes das Wort „inframundo“, das intertextuell auf die mythische Unterwelt verweist (vgl. ebd., 12). 123 Cecilio Robelo (1980, 275) definiert den aus dem Nahuatl stammenden Begriff wie folgt: „Micqui, muerto; tlan, junto á, y, por extensión, lugar: ‚Lugar de los muertos‘“. Die eines natürlichen Todes Gestorbenen würden im Mictlan enden (vgl. López Austin 1980, 375, 380). 124 Der spanische Franziskanerpater Bernardino de Sahagún lebt von 1529-1590 in Nueva España, (vgl. Todorov 1982, 225). Die mit Hilfe von Informanten erarbeiteten Angaben zum Weg der Verstorbenen ins Mictlan finden sich im „Apéndice del Libro Tercero del Códice Florentino“ in der Historia general de las cosas de Nueva España (1979). Trotz orthographischer Irregularitäten wird die Schreibweise Sahagúns beibehalten. – López Austin orientiert sich bei seiner Auflistung am Códice Vaticano Latino 3738 und betont, dass die Quellen sich in ihrer Beschreibung voneinander unterscheiden (vgl. López Austin 1980, 381). – Vgl. auch Santiago Navarro Pastor (2011), der die Kapitelüberschriften von Señales mit Sahagún und Robelo gegenüberstellt. Navarro Pastor berücksichtigt allerdings nicht die in der vorliegenden Arbeit herangezogene Aufzählung López Austins. 125 Herrera verwendet folgende Kapitelüberschriften: „1. La tierra,“ „2. El pasadero de agua,“ „3. El lugar donde se encuentran los cerros,“ „4. El cerro de obsidiana,“ „5. El lugar donde el viento corta como navaja,“ „6. El lugar donde tremolan las banderas,“ „7. El lugar donde son comidos los corazones de la gente,“ „8. La serpiente que aguarda,“ „9. El sitio de obsidiana, donde no hay ventanas, ni orificios para el humo.“ – Diese Anordnung vertauscht erheblich die von Sahagún (1979, 225f.) angegebene Reihenfolge: „7. hazian, al defuncto llevar consigo un perrito, de pello bermejo: y al pescueço le ponían hilo floxo de algodon: dezian q. los defunctos, nadavan encima del perrillo,“ „8. pasavan un rio, del ynfierno, q. se nombra chicunaoapa,“ „1. aveys de pasar, en medio de dos sierras que estan encontrandose, una con otra,“ „4. aveys de pasar, a ocho paramos,“ „6. aveys de pasar, al viento de navajas, que se llama ytzebecaya: porque el viento era tarazio, que llevava las piedras y pedazos de navajas,“ „5. aveys de pasar, a ocho collados,“ „2. aveys de pasar el camino, donde esta una culebra guardando el camino,“ „3. aveys de pasar adonde esta la lagartija verde, que se dize Xochitonal,“ „9. en llegando los defunctos, ante el diablo, que se dize mictlantecutli, ofrescian, y presentavanle los papeles que llevavan.“ – Ähnlicher ist Robelos (1980, 275) Anordnung: „1. Pasar el río Apanoayan con la ayuda de un 122
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(„negra“ „obsidiana“), die zugleich mit dem Krieg in Verbindung gebracht werden kann, da prähispanische Völker aus dem Obsidian-Gestein Waffen herstellten (vgl. Grube 2000, 48f.). Neben dem Wortfeld des Krieges („cortar“, „navaja“) sind auch Implikationen der Opferung und des Kannibalismus („son comidos los corazones“) vorhanden. Dabei ist auffällig, dass der Ort, der im siebten Kapitel als „lugar donde son comidos los corazones de la gente“ (Herrera 2010, 93) beschrieben wird, die USA darstellt. Eine historisch von europäischen Forschern den prähispanischen Völkern zugeschriebene und als barbarisch konnotierte Praktik wird also an dieser Stelle gegen die USA gewendet. Damit erscheinen die USA metaphorisch als menschenfeindlicher Raum, was von gegenseitigen Stereotypen zeugt. Indem Señales das bei Sahagún und Robelo präsente Bild der Eidechse („largatija“) durch eine Schlange ersetzt („serpiente,“ Herrera 2010, 105), verschränken sich die prähispanische und christliche Mythologie. Einerseits symbolisiert die Schlange im mexikanischen Diskurs das Leben und den Ursprung. 126 Andererseits lässt sich die Schlange aber nicht von ihrer christlichen Konnotation als böses und hinterlistiges Tier trennen. 127 Der Text verknüpft widersprüchliche Bedeutungen und bietet keine homogene Interpretation an. Dadurch treten die Facettenvielfalt und Ambiguität mythischer Bilder zutage. 128 Der Roman macht auf die historioperro,“ „2. Cruzar, sin vestidos, por entre dos montañas, Tepeme Monamictia que chocan la una contra la otra,“ „3. Pasar ‚por un cerro erizado de pedernales‘ con el nombre de Itztepetl,“ „5. Atravesar los Itzehecayan, ocho páramos en que el viento corta como navaja,“ „4. Atravesar ocho collados en los que siempre está nevando, el Cehuecayan,“ „6. Encontrarse con Teocoylehualoyan, un tigre que le come el corazón,“ „7. Caer en agua negra, el Apanhuiayo, donde está la lagartija Xochitonal,“ „8. Atravesar los Chiconauhapan, los nueve ríos,“ „9. En Izmictlana-pochcalocca termina el viaje y se presenta a Mictlantecuhtli.“ – Am meisten gleichen Herreras Reihenfolge und Sprachwahl der von López Austin (1980, 381): „1. La tierra,“ „2. El pasadero de agua,“ „3. El lugar donde se encuentran los cerros,“ „4. El cerro de obsdiana,“ „5. El lugar del viento de obsidiana,“ „6. El lugar donde tremolan las banderas,“ „8. El lugar donde son comidos los corazones de la gente,“ „7. El lugar donde es muy flechada la gente,“ „9. El sitio de obsidiana de los muertos o El sitio sin orificio para el humo.“ 126 Die Schlange ist in Mexiko mit Narrationen eines mythischen Ursprungs verbunden und wird im politischen Diskurs verwendet, wie sich an zwei Beispielen zeigt: 1. Quetzalcóatl („serpiente emplumada“) ist bei den Mayas der Gott des Mais und des Lebens (vgl. Florescano 2015, Pos. 1469). Auch in der Nahuatl-Kosmologie stellt er einen der wichtigsten Götter dar, da er einer der Götter ist, die den Kosmos erschaffen (vgl. ebd., Pos. 1530). Obwohl Quetzalcóatl nicht auf eine homogene Bedeutung beschränkt werden kann (vgl. ebd., Pos. 1576), gleichen sich die unterschiedlichen Lesarten in der Semantik des Lebens und der Erschaffung der Welt. 2. Die Mexicas sehen der Legende nach an jenem Ort, an dem sie Tenochtitlan gründen würden, einen Adler, der eine Schlange im Schnabel hält – dieses Bild ziert heute das Nationalwappen Mexikos (vgl. López Austin 2015, Pos. 64). 127 In der Bibel ist das Böse in Gestalt der Schlange sowohl am Anfang als auch am Ende präsent. In der Genesis verführt die Schlange Eva und ist somit verantwortlich dafür, dass Adam und Eva aus dem Paradies vertrieben werden (Gen 3). Im letzten Buch des Neuen Testaments, der Offenbarung des Johannes (Off 12 und Off 20,2), erscheint die Schlange als ein Symbol Satans (vgl. Frey-Anthes 2008). 128 Diese Schreibweise entspricht dem Prozess, den García Canclini (2010) als hibridación bezeichnet: Die Vermischung unterschiedlicher kultureller Strukturen oder Praktiken fordert homogene Identitätskonzeptionen heraus und verweist damit auf den heterogenen Charakter von
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graphische Variation von Mythen aufmerksam. Inhaltliche Unterschiede verweisen zum einen auf den gesellschaftlichen Kontext zu Lebzeiten des jeweiligen Verfassers. 129 Zum anderen machen sie darauf aufmerksam, dass es sich bei den prähispanischen Mythen um überlieferte Inhalte handelt, um Annäherungen, die aber nie zu dem wirklichen ‚Ursprung‘ zurück gelangen können, da Mythen heterogen sind und die Quellen größtenteils zerstört wurden. Es wird also auf den textuellen, d. h. sekundären Charakter verwiesen. Señales folgt in der gewählten Reihenfolge keiner der hier aufgelisteten Quellen exakt, sondern nimmt individuelle Variationen am Mythos vor und stellt sich somit als den anderen Quellen gleichwertig dar. Der literarische Text verschriftlicht auf eine eigene Weise die mythischen Inhalte. Neben den prähispanischen Bezügen verweist Señales auch auf einen europäischen Intertext: Die Gliederung in neun Stationen der Unterwelt erinnert an Dante Alighieris Divina Commedia (DC), in deren erstem Teil, Inferno, Dante zusammen mit Vergil die neun Höllenkreise passiert, an denen sie jeweils auf unterschiedliche Sünder treffen (vgl. Wittschier 2004). 130 Ergänzend zu der Gliederung in neun Stationen finden sich in Señales verschiedene inhaltliche Anlehnungen an Dantes Werk. 131 Mit dem europäischen Intertext verweist Señales also nicht allein Kultur. Trotz der problematischen Übertragung eines biologischen Terminus auf kulturelle Prozesse macht García Canclinis Konzept nachvollziehbar, dass der literarische Text dominante Identitätsdiskurse dekonstruieren kann. 129 Die christliche Konnotation von Sahagúns Text sticht durch seine Bezeichnung von Mictlantecuhtli als „diablo“ heraus. Todorov weist bei seiner Analyse darauf hin, dass der Text zwischen den Bezeichnungen „dios“ und „diablo“ changiert, wenn er sich auf die Götter der Mexica bezieht und dadurch beide Termini neutralisiert werden (vgl. Todorov 1982, 237). Während Sahagún also seine eigenen christlich-spanischen Parameter anwende, um die Nahuatl-Kultur zu verstehen, gelinge es ihm dennoch, ein dialogisches Werk zu schaffen (vgl. ebd., 238f., 244). 130 Die Höllenkreise sind wie folgt strukturiert: 1. Kreis: Limbus für Ungetaufte, 2. Kreis: Wollust, 3. Kreis: Gier, 4. Kreis: Geiz und Verschwendung, 5. Kreis: Jähzorn und Trägheit, 6. Kreis: Häretiker, 7. Kreis: Gewalttäter, 8. Kreis: „Kuppler und Verführer (ruffiani und seduttori), Schmeichler (adulatori), Schacherer oder Erschleicher von Ämtern (simoniaci), Wahrsager (indovini), Bestechliche und Bestechende (barattieri), Heuchler (ipocriti), Diebe (ladri), böse Ratgeber (consiglieri fraudolenti), Zwietrachtstifter (seminatori di discordia) und Fälscher (falsari, falsatori)“ (Wittschier 2004, 54), 9. Kreis: Verräter. Vgl. auch Stierle (2014, 53-88). 131 Während Dante sich in der DC vor seiner Reise im Wald von drei wilden Tieren bedrängt sieht (vgl. Stierle 2014, 44), sucht Makina in Señales vor ihrer Reise die drei „duros“ auf, die der Erzähler teilweise mit Tieren gleichsetzt („animal“, „serpiente“ Herrera 2010, 15, 17). Kapitel 4 von Señales bezieht sich mit der Supermarkt-Szene (ebd., 62f.) implizit auf den 4. Höllenkreis der DC, in dem Geiz und Verschwendung bestraft werden (vgl. Stierle 2014, 57f.). In Kapitel 7 („El lugar donde son comidos los corazones de la gente“, Hervorhebung J.A.) begibt sich Makina in die Militärkaserne (Herrera 2010, 95f.). Dies kann man als einen impliziten Verweis auf den 7. Höllenkreis der DC deuten, in dem die Gewalttäter bestraft werden, und wo die Harpyien sich von den in Pflanzen verwandelten Selbstmördern ernähren (vgl. Stierle 2014, 61f.). Im 8. Höllenkreis wiederum treffen Dante und Vergil auf die Menschen, die „den Pakt der Sprache gebrochen haben“ (ebd., 69). Rundherum sind Schlangen zu sehen, die an das Vergehen der biblischen Schlange aus Gen. 3 erinnern (ebd., 75). In Señales trifft Makina in Kapitel 8 („La serpiente que aguarda“) auf einen Polizisten, der mit einer Schlange verglichen wird, und dem Makina mit ihrem Gedicht die Sprache verschlägt (Herrera 2010, 108, 110). Hier steht die Macht von Sprache im Fokus, wie ich weiter unten zeigen werde. Im letzten, 9. Kapitel steigt Makina
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auf prähispanische Mythen, sondern es zeigt sich vielmehr, dass bestimmte Mytheme in diversen Kulturkreisen relevant sind. Die intertextuellen Bezüge markieren die Frage nach dem die Verstorbenen erwartenden Schicksal als eine transhistorische und transnationale Konstante. Zugleich bemühen sich die Menschen seit jeher darum, dieses Unbekannte narrativ zu erkunden und verständlich zu machen. Damit ist die Unterweltreise eine Grenzüberschreitung (vgl. Platthaus 2004, 14) – zwischen dem Raum der Lebenden und dem Raum der Toten sowie zwischen dem Bekannten und dem Unbekannten – die im literarischen Text vollzogen und für den Leser nachvollziehbar gemacht wird. Mit dem Tod greift Señales ein Thema auf, das in den Identitätsdiskursen Mexikos seit Ende des 19. Jahrhunderts eine relevante Rolle einnimmt. 132 Auch aktuell steht in Mexiko der Bezug auf die Mythen des Todes in einem engen Verhältnis zur gesellschaftspolitischen Situation, wie daran nachvollziehbar wird, dass in wirtschaftlichen und sozialen Problemzeiten vor allem unter marginalisierten Bevölkerungsgruppen die Popularität des Día de Muertos und des SantaMuerte-Kults zunimmt (vgl. Olmos 2010, 16f., 59; Flores Martos 2008, 58f.). Folglich ist es notwendig, das Symbol des Todes in Mexiko immer im Kontext seiner politischen Funktion zu betrachten. Anstatt den Tod lediglich als ein inhaltliches Ornament zu verwenden, reiht sich Señales in eine diskursive Tradition ein. 133 Deren Analyse zeigt, dass die prähispanischen Mythen für nationale Identitätsdiskurse wichtig sind, dass die offiziellen Diskurse von der sozialen Realität abweichen, und dass das Todes-Symbol ein subversives, da gesellschaftskritisches Potenzial hat. Indem Señales auf die prähispanischen Todes-Mythen verweist und sich intertextuell auf die kulturpolitische und literarische Vergangenheit Mexikos eine Treppe hinab und befindet sich in einem Raum der Stille (ebd., 117, 119). Ähnlich ist der 9. Höllenkreis in Dantes DC von Stille gekennzeichnet und die letzte Station des Inferno (vgl. Stierle 2014, 88). 132 Ab Ende des 19. Jahrhunderts werden Totenköpfe und Skelette piktographisch zu politischen Karikaturen verarbeitet und auch unter der analphabetischen Bevölkerung diffundiert. Vor allem José Guadalupe Posada trägt zur Popularisierung des Skelett-Motivs in Mexiko bei (vgl. Ríos de la Torre 2007, 112f.). Nach der Mexikanischen Revolution hat das Todessymbol einen entscheidenden Anteil daran, den mexikanischen Staat zu konsolidieren (vgl. Olmos 2010, 48). Lázaro Cárdenas unterstützt beispielsweise die Feierlichkeiten des Día de Muertos, um den Bezug zwischen der mexikanischen Identität und der prähispanischen Vergangenheit zu stärken (vgl. Flores Martos 2008, 72). 133 Bereits Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts stilisieren die kreolischen Eliten in Nueva España die prähispanische Vergangenheit zum glorreichen Ursprung der mexikanischen Zivilisation, um politisches Handeln zu legitimieren und Einheit zu stiften – doch die Einheit ist zentralistisch und führt zu einer Abgrenzung vom Anderen. Denn 1. setzen sie die Kategorie ‚prähispanisch‘ mit ‚aztekisch‘ gleich und blenden andere indigene Völker aus, 2. bemühen sich die Kreolen um eine ethnische Abgrenzung, nicht nur von den Spaniern, sondern auch von den zeitgenössischen Indigenen (vgl. Rodríguez Soriano 2015, 36, 44, 56). – Die propagierte Einheit in Abgrenzung zum Anderen und die Berufung auf eine mythische Vergangenheit, wobei die aktuelle soziale Situation vernachlässigt wird, dominiert wesentlich später die Phase nach der Mexikanischen Revolution. Vgl. das Kapitel 3.1.2 der vorliegenden Arbeit zur wichtigen Rolle des mestizaje, das sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts von einem rassenideologischen zu einem kulturpolitischen Modell wandelt und als solches eine zentrale Rolle im offiziellen Identitätsdiskurs spielt (vgl. Borsò 1994, 115, 124).
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im 20. Jahrhundert bezieht, macht der Text auf die Ausgrenzung marginalisierter Gruppierungen aufmerksam. Entscheidend ist nun, dass die erzählte Welt ins 21. Jahrhundert verlagert wird, was eine Kontinuität der ausgrenzenden Diskurse sichtbar macht. Die Literatur kann diese unterschiedlichen zeitlichen Ebenen verbinden und fungiert so als Medium des kulturellen Gedächtnisses. Von der mythischen Todeserzählung greift Señales den Aspekt der beschwerlichen Seelenreise auf, vom Moment des Todes bis zum Erreichen des Mictlan, die den Anfangs- (vgl. Herrera 2010, 11) und Endpunkt (vgl. ebd., 118f.) des Romans markieren. Ein Mensch unternimmt also eine beschwerliche Reise in Richtung Norden 134, ins Reich des Todes. Diese Simplifizierung macht die Parallelen zwischen der mythischen Erzählung und der damit verschachtelten Migrationsgeschichte des 21. Jahrhunderts nachvollziehbar. Indem er beide Bedeutungsebenen verschränkt, gelingt es dem Text, die gesellschaftliche Aktualität zu kritisieren, in der die Reise mit dem Ziel eines vermeintlich besseren Lebens, d. h. in die USA, für viele mit dem Tod endet. 135 Die allegorische Struktur des Textes, die eine mythische Erzählung mit der gesellschaftlichen Aktualität verknüpft, ermöglicht eine Kritik ohne simplifizierendes Pathos. Denn der Text kann ambivalent bleiben und regt den Leser an, die Doppeldeutigkeit zu entziffern, heterogene Bedeutungszusammenhänge miteinander zu verknüpfen und sie zu reflektieren. 136 Sprachlich fällt dabei zunächst auf, dass in Señales bestimmte Termini fehlen, die charakteristisch für den Bereich des Drogenhandels und jenen der Migration sind. 137 Dennoch ist die Gewalt in der Diegese auf unterschiedlichen Ebenen präsent. Im ersten Kapitel wird beispielsweise keine explizite körperliche Gewalt ausgeübt, aber die Machtrelationen manifestieren sich anhand der Raum- und Figurencharakterisierung: Bevor Makina sich auf den Weg in die USA macht, stattet sie „señor Dobleú“ (vgl. ebd., 12-14), „señor Hache“ (vgl. ebd., 15-19) und „señor Q“ (vgl. ebd., 20-23) einen Besuch ab und setzt sie über ihren Plan in Kenntnis. Vermutlich handelt es sich bei den drei Männern um lokale Drogenbarone, da die Bezeichnung als „señores“ ihren besonderen sozialen Status hervorhebt und auf den señor de los cielos genannten Anführer des Juárez-Kartells, Amado Carrillo 138, verweist. Die abgekürzten Eigennamen („Hache“, „Q“, „Dobleú“) deuten darauf hin, dass die Männer im Geheimen agieren. Hinzu kommt, 134 Viele prähispanische Quellen assoziieren neben der Unterwelt auch den nördlichen Teil der Erdoberfläche mit dem Tod (vgl. López Austin 1980, 65). – Rückblickend ergibt sich für den Romantitel eine zweite Interpretation: Das „fin del mundo“ ließe sich auch räumlich verstehen und kennzeichnet die USA als das ‚Ende der Welt‘. 135 Vgl. Kapitel 3.2.1 dieser Arbeit zum Leid der Migranten auf dem Weg in die USA. 136 Navarro Pastor (2011, 108) plädiert dafür, beide Bedeutungsebenen gleichermaßen zu berücksichtigen; vgl. auch Sara Carini (2014, 7). 137 Es fehlen beispielsweise die Worte „narcotráfico“, „drogas“, „migración“, „migrantes“, „frontera norte“, „Estados Unidos“. Einige der Termini sind durch andere ersetzt worden, statt „Estados Unidos“ ist z. B. die Rede vom Land der „gabachos“ (Herrera 2010, 66). Die Grenze zwischen Mexiko und den USA wird als „límite de la tierra“ und „línea“ (ebd., 36, 38) bezeichnet. 138 Amado Carrillo Fuentes führt bis zu seinem Tod im Jahre 1997 das Juárez-Kartell an (vgl. Mariche 2017).
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dass die anderen Figuren sie „los duros“ (ebd., 20, 67) nennen und damit einen Begriff aus dem kolumbianischen Drogenjargon verwenden. 139 Durch diese Assoziationen ist die Diegese im narco-Milieu situiert. Die Räume, in denen sich die Männer aufhalten, sind von der restlichen Gesellschaft abgegrenzt, was sich zunächst daran zeigt, dass Makina die selektive Grenze der Türsteher passieren muss, die die Eingänge bewachen (vgl. ebd., 13, 15). Dabei ist vor allem der Name des Lokals von „señor Hache“ relevant, „Pulquería Raskolnikova“ (ebd., 15, Hervorhebung i. O.), ein intertextueller Verweis auf Raskolnikow, den Protagonisten von Dostojewskijs Verbrechen und Strafe (1866). 140 Dies erschafft eine Semantik des Mordes, mit Raskolnikow, einem bekennenden Täter als Namensgeber. Im Falle des russischen Intertextes weiß der Leser von Beginn an, dass Raskolnikow einen Doppelmord begangen hat. Erst zum Ende entschließt er sich, die Tat zu gestehen, was eine Handlungsmacht und Überlegenheit des Täters gegenüber einem impotenten Strafsystem signalisiert. In den Zusammenhang des mexikanischen Drogenmilieus transponiert, weist dies darauf hin, dass die „duros“ sich nicht vor dem Justizsystem fürchten. Beispielsweise sind „Señor Haches“ Umgangssprache, Mimik und Gestik bedrohliche Machtdemonstrationen. 141 Auch die ihm Gesellschaft leistenden Mitarbeiter können als Verkörperung von Gewalt gedeutet werden. Dadurch, dass die Erzählinstanz die Männer mit den Namen der von ihnen getragenen Pistolen versieht, „esbirros .38“ Im kolumbianischen Kriminalroman Rosario Tijeras werden die Drogenbosse als „duros de los duros“ bezeichnet (vgl. Franco Ramos 2000). Die intertextuelle Verbindung zwischen Señales und Rosario Tijeras ist relevant, da beide Romane eine weibliche Hauptfigur in einem männlich dominierten Drogenmilieu positionieren. Inhaltlich gleichen sich die Protagonistinnen in ihrer Herkunft aus einer peripheren Region und darin, dass sie bestimmte Grenzen der männlich dominierten Gesellschaftsordnung überschreiten, indem sie sich gegen Vergewaltigungen wehren (vgl. Wieser 2012, 214, 222). In Bezug auf den extrafiktionalen Kontext wird signalisiert, dass die politische Situation Mexikos aktuell ähnlich von Gewalt dominiert sei wie Kolumbien zu Zeiten des Drogenkartells von Pablo Escobar. Der kritische Bezug auf die gesellschaftliche Realität ist in beiden Romanen durch eine Abwesenheit von Polizei und Justiz kodiert (vgl. ebd., 228f.). Die Romane unterscheiden sich vor allem in ihrem Ausblick: Während in Rosario Tijeras die soziokulturellen Grenzen bestehen bleiben und der Tod der Protagonistin keine Hoffnung auf ein Ende des Drogenkriegs in Aussicht stellt (vgl. ebd., 227f., 229), bietet Señales mit der geglückten Grenzüberschreitung die Möglichkeit für ein positives Ende. 140 Vgl. Dostojewskij (1994). Indem Señales auf ein relevantes Werk der Weltliteratur verweist, stellt es sich in eine transnationale und transhistorische Tradition und zeigt, dass in der Literatur verschiedene moralische Facetten von Gewalt erörtert sowie kontrovers diskutiert werden können. Señales plädiert mithilfe des russischen Intertextes dafür, Aussagen über den extraliterarischen Kontext mit der Ästhetik des literarischen Textes zu verbinden und sie nicht allein auf Mexiko beschränkt zu sehen. 141 Er verwendet beispielsweise umgangssprachliche Kraftausdrücke wie „apendejarse“ und „chínguese“ (Herrera 2010, 18), die in einem Widerspruch stehen zu den häufigen Diminutiven („pulquito,“ „orgullosita,“ „cosita,“ „sencillita,“ „salucita,“ ebd., 17ff.) und zu seinem Lächeln („sonrió“, „sonreía y sonreía,“ ebd., 17). Da die Erzählinstanz ihn metaphorisch als „serpiente disfrazada de hombre“ und „reptil en pantalones“ (ebd.) beschreibt, wird er über die christliche Konnotation als hinterlistig und teuflisch charakterisiert. Während er Makina beauftragt, ein Päckchen in die USA zu bringen und ihr dieses Päckchen aushändigt, lässt er es in einem Überlegenheitsgestus zunächst nicht los (vgl. ebd., 18f.). Auf den genauen Inhalt wird nicht eingegangen, durch das evozierte narco-Milieu entstehen aber Assoziationen mit Drogen. 139
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und „esbirro .45“ (ebd., 16), wirken sie anonym und austauschbar. Despektierlich als „esbirro“ bezeichnet, gleichen die Männer Karikaturen, die sich allein am Kaliber ihrer Schusswaffen voneinander unterscheiden. Das bedeutet zugleich, dass ihre einzige Aufgabe darin besteht, Waffen zu tragen und Befehle auszuführen. Da die Erzählinstanz nicht auf das Aussehen der Pistolen eingeht, deutet sich zudem eine alltägliche Präsenz von Waffen und Gewalt an. Denn obwohl die Räume der Drogenbosse abseits liegen, haben die Männer doch einen zentralen Einfluss, da sie in die lokale Politik eingreifen: Recaditos a media noche a un acelerado que se movía por fuera del enjuague y que, repentinamente, al escuchar las palabras de Makina (que ella no entendía, aunque sí entendiera), decidía retirarse. Un sobre entregado a cacique pueblerino que de la reticencia pasó a la diligencia tras ojear las nuevas. Por su vía los duros repartieron resignación o huesos y así todo se resolvió con discreta efectividad. El señor Q nunca recurría a la violencia – por lo menos no había nadie que pudiera decirlo –, y sin duda jamás se le había escuchado levantar la voz (ebd., 20).
Die nicht explizit sichtbare und dennoch präsente Gewalt, die bereits bei der Figuren- und Raumdarstellung aufgezeigt wurde, schlägt sich in diesem Textabschnitt sprachlich nieder. Die euphemistische Wortwahl, beginnend mit dem Diminutiv „recaditos“, konnotiert semantisch zunächst keine Gefahr. 142 Auch der neutrale Begriff der „palabras“ sagt nichts über den Inhalt von Makinas Botschaften aus. Allein die hier beschriebene Reaktion der Empfänger, deren Verhalten sich ins Gegenteil kehrt („se movía por fuera del enjuague“ vs. „retirarse“ und „reticencia“ vs. „diligencia“) deutet auf eine Kraft der Worte hin. Die Verben der Bewegung stehen dabei metaphorisch dafür, dass die Akteure aufeinandertreffen. Ergänzend dazu betont das auffällig dominante Präfix „re-“ die Kraftverhältnisse: Während es einerseits etymologisch ein Präfix mit einem potenzierenden Effekt ist („repartir“, „repentinamente“, „reticencia“), deutet es andererseits eine rückwärts gerichtete Bewegung an („retirarse“, „resignación“, „resolver“, „recorrer“). Hier manifestiert sich die inhaltlich beschriebene Auseinandersetzung der Akteure um Macht formal in der widersprüchlichen Bedeutung der Präfixe. Als es schließlich um den Inhalt der Botschaften geht, bleibt der Text kryptisch, das verdinglichte Abstraktum „repartir resignación“ ist zwar negativ konnotiert, aber nicht konkret. Erst die phonetische Nähe des Ausdrucks „repartir huesos“ zu „partir huesos“, signalisiert die Anwendung von körperlicher Gewalt. Wortwörtlich gelesen, senden die Drogenbosse ihren Gegnern Knochen oder verstümmelte Körperteile zu („repartir huesos“), die Gewalt androhen und somit der psychischen Folter gleichkommen. Der Knochen dient dabei als Zeichen, das auf die explizite Gewalt („partir huesos“) verweist. 143 Bevor sich diese beängstigende 142 Dass die Aktion nachts stattfindet („a media noche“) weist jedoch bereits darauf hin, dass es sich um eine geheime Botschaft handeln muss, da Makina sie nicht tagsüber aushändigt. Die Nacht evoziert Dunkelheit, Verborgenheit und Gefahren. 143 In Mexiko legen die Drogenkartelle in einigen Fällen die amputierten Körperteile der verstümmelten Mordopfer als Drohung und sog. narcomensaje in der Öffentlichkeit ab, vgl. Kapitel 3.2.2 dieser Arbeit.
4.3 Yuri Herrera: Señales que precederán al fin del mundo (2009) 141
Semantik jedoch entfalten kann, wird sie durch das unmittelbar folgende „todo se resolvió con discreta efectividad“ euphemistisch beendet. Und so wird auch die Gewalt, sichtbar im Wort „violencia“, negiert („nunca“, „jamás“, „nadie“). 144 Ähnlich wie die Erzählinstanz den Gedanken des impliziten Lesers an Gewalt einzudämmen versucht, bringen die „duros“ in der erzählten Welt jeglichen Widerstand zum Schweigen („nadie que pudiera decirlo“). Es zeigt sich die Verbindung von Macht und Sprache, wobei die Macht sich nicht immer explizit äußert („jamás se le había escuchado levantar la voz“). Gewalt ist nicht immer hör- oder sichtbar – hier verweist Señales zugleich metatextuell auf sich selbst. Der literarische Text ist dazu fähig, diese verdeckte Gewalt offenzulegen, wie Martín Lombardo (2014, 196) treffend resümiert: „[L]ogra poner de manifiesto aquello que […] en la configuración comunitaria aparece bajo las formas del secreto, del ruido o del silencio. La literatura visibiliza lo invisible.“ Die mexikanische Regierung wird im gesamten Roman lediglich in dieser Textstelle erwähnt, und als schwach und korrupt charakterisiert („sobre entregado a cacique pueblerino“, „ojear las nuevas“). Dies bezieht sich auf lokale Regierungen und Institutionen 145, denn der Text nennt nicht die Zentralregierung und Streitkräfte. Das steht für ihre Abwesenheit in der extradiegetischen Welt und deutet auf eine Form der Gewalt, die Slavoj Žižek als objective violence bezeichnet. 146 Das impliziert eine Kritik an der mexikanischen Gesellschaft, an einem schwachen und korrumpierbaren Staat, dessen zentrale Regierung die peripheren Regionen vernachlässigt. Die Verhältnisse in der Peripherie sind zwar geordnet, beruhen aber auf Gewalt und einem Ungleichgewicht zugunsten der Drogenbosse. Sie haben auf regionaler Ebene das Sagen, schaffen Arbeitsplätze, eine soziale Infrastruktur und verfügen dabei über transnationale Netzwerke. 147 Da Señales die Gewalt miteinbezieht, handelt es sich nicht um eine Apologie des narco-Milieus, es wird allerdings signalisiert, dass die gesellschaftspolitischen Strukturen für
144 Der Begriff „violencia“ erscheint im gesamten Roman nur zwei Male und gelangt somit in einen besonderen Fokus (vgl. Herrera 2010, 20, 110). Wie diese Analyse zeigen soll, ist die Gewalt auch sprachlich nicht explizit sichtbar und doch präsent. 145 Señales verwendet den aus der Kolonialzeit stammenden Terminus cacique. Vgl. Kapitel 3.1.1 der vorliegenden Arbeit zu den caciques, die Ausdruck einer ungleichen Machtverteilung sind, bei der sich einzelne Individuen einen politischen und wirtschaftlichen Einfluss sichern. In Señales sind Lokalpolitiker oder andere Menschen in Führungspositionen auf regionaler Ebene gemeint, um anzudeuten, dass noch heute Verstrickungen auf regionaler Ebene die autoritäre Machtverteilung regulieren (vgl. Solís Sánchez 2016, 171). 146 Die objective violence konstituiere sich aus der symbolischen und der systemischen Gewalt und werde meist als Normalzustand erachtet, da sie dem System inhärent sei (vgl. Žižek 2009, 1f.). Mit dieser Definition zeigt Žižek erstens, dass Gewalt nicht immer als solche erkannt wird und zweitens, dass das alltägliche kapitalistische System auf Gewalt beruht, die ein Teil der Menschen erleidet. Vgl. die Überlegungen zu Žižek, Butler und Reemtsma in der Einleitung dieser Arbeit. 147 Die Türsteher, Kellner, „esbirros“ und Chucho arbeiten allesamt im Auftrag der Drogenbosse (vgl. Herrera 2010, 13, 14, 15, 16, 17). „Señor Q“ macht Makina auf sein Netzwerk aufmerksam: „Una vez que estés ahí, habrá gente que se encargará de lo que necesites“ (ebd., 22).
142 4. Grenzen und Transgressionen im mexikanischen Roman der Gegenwart
diese Situation verantwortlich sind. Eine binäre Einteilung nach dem Motto guter Staat vs. böser Drogenhandel ist also nicht uneingeschränkt haltbar. 148 Die Textabschnitte, in denen die erzählte Welt in den USA situiert ist, fallen dadurch auf, dass die Gewalt dort dominanter und sichtbarer ist. Zunächst geschieht dies dadurch, dass viele dem Wortfeld des Krieges zugeordnete Termini erst verwendet werden, nachdem Makina die Grenze überquert hat. 149 Im Roman fehlen zum einen die stereotyper Weise dem mexikanischen Drogenkrieg zugeordneten Begriffe, und zum anderen sind die USA der semantisch von Gewalt und Tod gezeichnete Raum. Nachdem Makina und Chucho den Fluss überquert haben – eine Anspielung auf den Río Bravo – passieren sie die Wüste (vgl. Herrera 2010, 47f.). Das erste Bild, das die Protagonistin auf der anderen Seite der Grenze sieht, ist mit dem Tod verknüpft: Luego vio a lo lejos un árbol y debajo del árbol a una mujer embarazada. Vio su vientre antes que las piernas o su rostro o la cabellera y vio que reposaba a la sombra del árbol. Y pensó que ése era buen augurio si alguno: un país donde una que anda de cría camina por el desierto y se echa a dejar que ésta le crezca sin ocuparse de nada más. Pero conforme se acercaban discernió los rasgos de la gente, que no era mujer; ni era la suya panza de embarazo; era un pobre infeliz hinchado de putrefacción al que los zopilotes ya le habían comido los ojos y la lengua (ebd.).
Die Erzählinstanz beschreibt aus einer internen Fokalisierung Makinas heraus die Dinge, die diese sieht und äußert ihre Gedanken („vio“, „pensó“, „discernió“). Anfangs wirkt die Szenerie idyllisch, denn das wiederholte Wort „árbol“ und dessen Verbindung mit dem Bild einer schwangeren Frau („mujer embarazada“, „una que anda de cría“) stehen für Fruchtbarkeit. Hinzu kommt, dass der Schatten des Baumes Schutz vor der Sonne bietet und somit ein Gefühl der Ruhe und Entspannung ausstrahlt („reposar“). Die Wüste wirkt hier weder bedrohlich, noch lebensfeindlich. Makina bewertet die sich ihr bietende Szene als ein positives Omen für die Zukunft („buen augurio“). Das „augurio“ impliziert seiner etymologischen Bedeutung nach ‚Wachstum‘ und erinnert an die seherische Aufgabe der römischen Auguren, anhand des Fress- und Flugverhaltens der Vögel die Zeichen der Götter zu deuten. 150 In diesem Fall erkennt Makina jedoch plötzlich, dass sie einer optischen Täuschung erlegen ist. Denn das Verhalten der Vögel – in diesem 148 Vgl. auch Uribe, der die These vertritt, dass die Gewalt in Trabajos del reino und in Señales nicht explizit sei, um die strukturellen Gründe und Ursprünge der Gewalt zu fokussieren (vgl. Uribe 2016, 27). 149 „Guerra“ (Herrera 2010, 67, 74, 99, 100), „bala“/„balazo“ (ebd., 53, 54, 55, 100), „arma“/„armado“ (ebd., 50, 52, 54, 63, 64) „matar“ (ebd., 53, 65, 98). Auffällig an der Verwendung von „armado“ ist, dass es zu einer Bedeutungsverschiebung kommt, wenn der Terminus mexikanische Einwanderer beschreibt: Die Mexikaner sind nicht bewaffnet („armados“), sondern werden als schwer arbeitend charakterisiert („armado de chambas,“ „más armados que en ninguna otra parte, de cocineros o de ayudantes o de lavaplatos,“ ebd., 63f.). Hier wird das Stereotyp des bewaffneten und Drogen schmuggelnden Mexikaners in den USA aufgebrochen. 150 „[E]xpresa la idea de crecimiento; el término augurium […] conservó siempre el sentido de acción de incremento“ (Montero 2001, 50, Hervorhebung i. O.). – Vgl. auch Linke (2014, 46).
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Fall eines Aasgeiers – verweist auf Tod, Verwesung und Ekel („putrefacción“). Mit dem „zopilote“ wird eine Bezeichnung verwendet, die etymologisch aus dem Nahuatl stammt (vgl. Real Academia Española 2014, 2286). Diese Wortwahl liest sich als intertextueller Bezug auf José Revueltas’ El luto humano [1943] (2014). In dem Roman ist die Todessymbolik ebenfalls äußerst präsent und die Geschichte endet fatalistisch, da alle Protagonisten sterben. 151 Der Aasgeier fällt von oben über die Toten her, von denen er sich ernährt, von deren erlittenem Unglück er also profitiert, da es sein Fortleben sichert. Er verkörpert das unausweichliche Ende des Menschen sowie die endgültige Dominanz des Todes – eine negative Semantik, die auch in Señales enthalten ist. Dort mutiert das Bild der schwangeren Frau zum amorphen („hinchado“) und entstellten Körper, dem die Attribute von Menschlichkeit fehlen. Der fortschreitende Status der Verwesung lässt vermuten, dass er bald verschwinden wird, ohne eine Spur oder einen Namen zu hinterlassen. Dadurch erinnert das Bild zugleich an die verstümmelten, mit abgetrennten Körperteilen aufgefundenen Körper der Opfer des sog. Drogenkriegs. Das herausgerissene und im Schädel fehlende Auge steht, so Michel Foucault bei seiner Bataille-Lektüre, für das Ende des selbstbestimmten Subjekts und die menschliche Vergänglichkeit. 152 Señales ergänzt dieses Bild um das der herausgerissenen Zunge. Die gewaltvoll zum Schweigen gebrachte Stimme, eigentlich ein Instrument par excellence zum Ausdruck von Konsens oder Dissens, steht für ein unterdrücktes, mundtot gemachtes Individuum. Foucaults Überlegungen folgend, ließe sich eine metaliterarische Hypothese aufstellen: Die Kombination beider Metaphern in Señales artikuliert, wie schwierig es ist, für die Todesopfer zu sprechen, und vermittelt somit den Moment, in dem der literarische Text an seine Grenze gelangt. Allerdings impliziert der Roman, indem Revueltas’ Erzählung setzt mit dem Tod des Mädchens Chonita ein (vgl. Revueltas 2014, 9). Sowohl in El luto humano als auch in Señales ist der Tod also bereits im ersten Satz präsent: „La muerte estaba ahí, blanca, en la silla, con su rostro“ (ebd., 9). „Estoy muerta, se dijo Makina cuando todas las cosas respingaron“ (Herrera 2010, 11). Das Bild des Todes signalisiert in El luto humano eine kritische Auseinandersetzung mit den hegemonialen Identitätsbildern des postrevolutionären Mexiko (vgl. Borsò 1994, 179, 192, 212-216). Beide Werke artikulieren über die Todessymbolik also eine Gesellschaftskritik und enden mit dem Tod. Señales geht aber insofern über El luto humano hinaus, als dass 1. die Geschichte aus Sicht der Toten erzählt wird, und 2. man das ambivalente Ende gleichermaßen als Beginn von einem neuen Leben Makinas in den USA deuten kann. Dies bietet die Möglichkeit für eine positive Zukunftssicht. – Auf den letzten Seiten von El luto humano dominiert das Bild der Aasgeier, die über den Protagonisten kreisen und darauf warten, diese zu verspeisen (vgl. Revueltas 2014, 212-219). Die etymologische Herleitung, die die Erzählinstanz vornimmt, „Tzotl, basura. Pilotl, acto de levantar o recoger. Basura, basura infinita“ (ebd., 213, Hervorhebung i. O.), suggeriert den fehlenden Wert des menschlichen Lebens, das zu Abfall objektifiziert wird. 152 Das Kapitel 2.2.2 der vorliegenden Arbeit erläutert, dass Foucault in „Préface à la transgression“ (1994b) das Auge als traditionellen Ausdruck des souveränen Subjekts versteht, in seiner Funktion als Bindeglied zwischen dem Inneren und dem Außen. Das herausgerissene Auge, wie es bei Bataille literarisch in Szene gesetzt werde, verbinde Grenze und Transgression, artikuliere also das Nicht-Artikulierbare. Das ermöglicht es, textimmanente mit textexternen Fragen zu kombinieren: Es zeigt, wie Literatur die das Sein bestimmenden Konflikte ästhetisch verarbeitet. Die Metapher des Auges im literarischen Text verweist somit über sich selbst hinaus auf die Schwierigkeit, bestimmte Grenzerfahrungen zu versprachlichen. 151
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er mit dem Bild der herausgerissenen Zunge intertextuell auf die mythische Philomela anspielt, zugleich optimistisch, dass Literatur Leid artikulierbar macht, obgleich das Opfer selbst verstummt ist. 153 Der Wechsel vom Positiven zum Negativen lässt sich ebenso daran nachvollziehen, dass in der zweiten Hälfte des Zitats die negierenden Worte und Präfixe zunehmen („sin“, „nada“, „no“, „ni“, „in-“). Dabei evolviert die Perspektive der Protagonistin von einem oberflächlichen Blick, bei dem sie nur die großen Elemente des Bildes erkennt (Baum, Frau, Bauch) zu einem präzisen Blick, der die Details entziffert (aufgequollene Leiche, fehlende Augen und Zunge). Die neue Sicht auf die Realität ist nicht schön, aber unverfälscht und führt auf einer Metaebene wiederum dazu, die gesellschaftliche Lage zu verstehen. Dadurch, dass Makina anfangs von einem „augurio“ ausging, das die Situation in der gesamten Gesellschaft repräsentiere („un país“), muss man auch den Kadaver als repräsentativen Ausdruck der Situation des gesamten Landes bewerten. Dass die Schwangere durch einen verwesenden Leichnam ersetzt wird, versinnbildlicht also eine negative Zukunftssicht auf die Gesellschaft. Die Darstellung der Grenzregion als Raum des Todes zeigt, dass der diegetische Raum gesellschaftliche Konfliktsituationen widerspiegelt. Das negativ konnotierte Bild bleibt erhalten, als Makina aus der Wüste in eine US-amerikanische Stadt gelangt und der Erzähler den sich ihr bietenden Anblick beschreibt: La ciudad era un arreglo nervioso de partículas de cemento y pintura amarilla. Carteles de prohibición hormigueaban calle a calle inspirando a los nacionales a verse siempre protegidos, seguros, amables, inocentes, soberbios, intermitentemente azorados, livianos y desbordantes; sal de la única tierra que vale la pena conocer. Florecían en los supermercados, vergel donde se podía tener más que los demás, o algo diferente o una marca más nueva o un pan menos chico que el de los demás (Herrera 2010, 62f.).
Die metaphorisierend als Zusammenspiel aus grauen und gelben Flecken („partículas“) beschriebene Stadt erinnert an das Bild einer aus der Ferne betrachteten Baustelle („cemento“, „pintura“). Wie in einem kubistischen Gemälde ist die Stadt hier in abstrakte Teilelemente zergliedert. Vor dem Hintergrund des grauen urbanen Raums, in dem keinerlei Natur zu sehen ist, hebt sich die für Gefahr, Gift und Krankheit stehende Warnfarbe Gelb ab (vgl. Meineke 2012, 147). Noch sind keine Menschen oder für eine Stadt typische Wahrzeichen zu erkennen, wodurch die Stadt anonym erscheint. Hinzu kommt die Verwendung von Orten ohne Namen, die sich beliebig auf jede Stadt übertragen lassen („ciudad“, „calle“, „supermercados“). Naturbegriffe („florecían“, „vergel“) werden paradox gepaart mit
153 In Ovids Metamorphosen (2017, VI, Vers 424-674) schneidet Philomelas Vergewaltiger Tereus ihre Zunge heraus, damit niemand von seiner Tat erfährt. Doch es gelingt Philomela, ihre Leidensgeschichte in einen Teppich einzuweben und ihre Schwester darüber zu informieren. Versteht man das Weben als Metapher für die Narration, so verhilft das künstlerische Werk den Opfern zu ihrer Stimme und macht Leid artikulierbar.
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„supermercados“. 154 Bezeichnender Weise sind es nicht etwa Menschen, die die Straßen der Stadt füllen, sondern Verbotsschilder („carteles de prohibición“), die zu Ameisen animalisiert werden („hormiguear“), um ihre große Anzahl und Verbreitung zu repräsentieren. Hier erscheint das Bild einer rastlosen, kapitalistischen Gesellschaft. Gemeinsam mit dem Adjektiv „nervioso“ entsteht das Gefühl einer unruhigen Bewegung, untermalt von syntaktischen Merkmalen wie dem dreifachen „o“ und der lückenlosen Reihung von acht Adjektiven zu einem Asyndeton („protegidos, seguros, amables, inocentes, soberbios, intermitentemente azorados, livianos, desbordantes“). Die teils widersprüchlichen Adjektive wirken so, als seien sie willkürlich kombiniert worden, wodurch der semantische Gehalt des jeweiligen Wortes verloren geht. 155 Die Erzählinstanz distanziert sich so ironisch von der Selbstcharakterisierung der Bevölkerung („nacionales“). Das Ganze kulminiert im „sal de la única tierra que vale la pena conocer“. Die Anlehnung an Matthäus 5,13 156 in Verbindung mit dem hyperbolischen, da absolut wirkenden Adjektiv „única“ schafft einen ironischen Effekt und deutet an, dass die USAmerikaner hochmütig seien („soberbios“) – die christliche Konnotation parallelisiert die Einstellung der US-Amerikaner also mit der ersten Hauptsünde, superbia. Sie seien an einer Abgrenzung vom Anderen interessiert („única tierra“, „que los demás“) und messen sich zugleich an diesem Anderen („diferente“, „más nueva“, „menos chico“) – hier deuten sich ebenfalls avaritia, luxuria, gula und invidia an. Dies kündet davon, dass sich die eigene Identität über die Abgrenzung vom Anderen konstituiert. Problematisch ist jedoch, dass die von der Erzählinstanz vorgenommenen generalisierenden Aussagen über die als sündhaft charakterisierten „nacionales“ ebenfalls einen abgrenzenden Effekt haben. Es wird angedeutet, dass die US-amerikanische Gesellschaft dem Leid der Anderen nicht mit Empathie begegnet, sondern die Individuen viel eher versuchen, ihren eigenen Vorteil durchzusetzen. Den Tod der Anderen nehmen sie billigend in Kauf, indem sie Migranten in der Wüste sterben lassen 157 und dabei sogar von Hier erscheint ein Raum, der Marc Augé zufolge als non-lieu bezeichnet werden kann: „[U]n espace qui ne peut se définir ni comme identitaire, ni comme relationnel, ni comme historique définira un non-lieu“ (Augé 1992, 100). Augé (ebd., 38, 42) bezeichnet den non-lieu als Ausdruck der zeitgenössischen, beschleunigten Welt und verbindet ihn mit dem Gefühl der „solitude et similitude“ (ebd., 130). 155 Die willkürlich wirkende Zusammensetzung der Adjektive weist darauf hin, dass die von den Verbotsschildern und Werbetafeln übermittelten Botschaften dazu dienen, die Bevölkerung zu kontrollieren und zu verwalten. Es deutet sich das Sicherheitsdispositiv („protegidos“, „seguros“) an, das Kontrolle mit einer abstrakten Gefahr begründet. Ebenso zeigt sich, dass der Eingriff der Politik in sämtliche Bereiche des Lebens („amables“) seine Funktionsweisen verschleiert, indem es dem Subjekt das Gefühl lässt, sich frei entfalten zu können („livianos, desbordantes“). Die Spannungen, die bei der Kombination teils widersprüchlicher Adjektive („inocentes“, „soberbios“) entstehen, regen Reflexionen über das Verhältnis von Politik und Leben an. Die Textstelle reflektiert also kritisch die biopolitische Kontrolle und Verwaltung der Bevölkerung. Zum Verhältnis von Literatur und Biomacht, vgl. Borsò (2013, 19, 31f.). 156 „Ihr seid das Salz der Erde,“ (Mt 5,13). 157 Auch auf der mexikanischen Seite der erzählten Welt lassen die Schlepper, die den Migranten ihre Dienste anbieten, diese skrupellos in der Wüste zurück und setzen sie dem Tod aus (vgl. Herrera 2010, 39). Es wird suggeriert, dass sowohl die USA als auch Mexiko auf problema154
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ihren Waffen Gebrauch machen, um ihre Grenzen zu schützen (vgl. Herrera 2010, 48, 53ff.). 158 Darüber hinaus kritisiert der Text, dass diese auf Abgrenzung basierende Gesellschaft Latinos als Soldaten des US-amerikanischen Militärs für die USA sterben lässt, wie sich an Makinas Bruder zeigt, der unter falscher Identität im Militär aufgenommen und in den Krieg geschickt wurde (vgl. ebd., 99f.). Was sich wie eine unwahrscheinliche Geschichte liest, beruht aber auf extradiegetisch realen Begebenheiten. 159 Indem die Erzählerinstanz die Binnenerzählung des Bruders wiederholt als „historia increíble“ (ebd., 97, 103) bezeichnet, gerät die Paradoxie der extratextuellen Realität in den Fokus, in der Soldaten ihr Leben für ein Land riskieren, von dem sie nicht sichergehen können, dass es ihnen danach noch einen Raum für das eigene Leben gewährt. Somit enttarnt der fiktionale Text die Widersprüchlichkeiten der extradiegetischen Welt und klagt sie zugleich an. Die Gewalt äußert sich auch strukturell, denn die Latinos üben in den USA die schlechteren Jobs aus und sind racial profiling sowie verbaler Gewalt ausgesetzt (vgl. ebd., 63f., 81, 107). Diese Bilder und Szenen, die die Grenzregion zu einem Ort des konfliktvollen Aufeinandertreffens stilisieren, zeichnen ein kritisches Bild der US-amerikanischen Gesellschaft. Makina steht den USA bereits zu Beginn ihrer Reise skeptisch gegenüber. 160 Doch obwohl die USA das Land des Krieges darstellen, trifft die Protagonistin auf Mexikaner, die dort bereits lange Zeit leben und erfährt von ihrem Bruder, dass er in den USA bleiben möchte (vgl. ebd., 103). Diese Begegnungen führen dazu, dass Makina ihre kritische Perspektive auf die US-amerikanische Gesellschaft überdenken muss. Dabei werden erneut die Ränder der Gesellschaft fokussiert. Neben ihrer Konnotation als Raum des Konflikts, ermöglicht es die Grenze zugleich, dass etwas Neues, Transgressives entsteht: Son paisanos y son gabachos y cada cosa con una intensidad rabiosa. [...] Hablan una lengua intermedia con la que Makina simpatiza de inmediato porque es como ella: maleable, deleble, permeable, un gozne entre dos semejantes distantes y luego entre otros dos, y luego entre otros dos, nunca exactamente los mismos, un algo que sirve para poner en relación. tische Weise den Tod des Anderen in Kauf nehmen und gar mitverantwortlich dafür sind. Im Text sind die Migranten auf sich allein gestellt und stehen außerhalb der Gesellschaft. 158 Señales thematisiert, dass bewaffnete US-Amerikaner auf eigene Initiative versuchen, die Immigranten an der Grenzüberquerung zu hindern (vgl. Herrera 2010, 48, 54f.). Das spielt auf die xenophoben Milizen der sog. Minutemen an, die vor allem zwischen 2004 und 2009 an der Grenze zwischen den USA und Mexiko selbstorganisiert gegen Migranten vorgingen (vgl. McKinley und Wollan 2009; Hoffman 2016). 159 Das US-amerikanische Militär rekrutiert auch Nichtstaatsbürger mit einer gültigen Aufenthaltsgenehmigung, die eine Chance, aber keine Garantie auf die Staatsbürgerschaft erhalten (vgl. Stock 2009). Kürzlich wurden Fälle von Einwanderern bekannt, die mit geliehenen, gestohlenen oder gefälschten Dokumenten dem Militär beitraten und in Afghanistan oder dem Irak kämpften. Einige von ihnen erhielten die Staatsbürgerschaft, bei anderen wurde dies abgelehnt (vgl. Gorman 2010). Außerdem gibt es viele Todesfälle: Der erste im Irakkrieg verstorbene US-Soldat war ein guatemaltekischer Immigrant (vgl. Kahn 2010). 160 „Ella se iba para nomás volver“ (Herrera 2010, 57).
4.3 Yuri Herrera: Señales que precederán al fin del mundo (2009) 147 Más que un punto medio entre lo paisano y lo gabacho su lengua es una franja difusa entre lo que desaparece y lo que no ha nacido. Pero no una hecatombe. Makina no percibe en su lengua ninguna ausencia súbita sino una metamorfosis sagaz, una mudanza en defensa propia. Pueden estar hablando en perfecta lengua latina y sin prevenir a nadie empiezan a hablar en perfecta lengua gabacha y así pueden mantenerse, entre cosa que se cree perfecta y cosa que se cree perfecta, transfigurándose entre dos animales hasta que por descuido o por clarísima intención de pronto dejan de alternar lenguas y hablan en esa otra. [...] Al usar en una lengua la palabra que sirve para eso en la otra, resuenan los atributos de una y de la otra: si uno dice Dame fuego cuando ellos dicen Dame una luz, ¿qué no se aprende sobre el fuego, la luz y sobre el acto de dar? No es que sea otra manera de hablar de las cosas: son cosas nuevas. Es el mundo sucediendo nuevamente, advierte Makina: prometiendo otras cosas, significando otras cosas, produciendo objetos distintos. Quién sabe si durarán, quién sabe si sus nombres serán aceptados por todos, piensa, pero ahí están, dando guerra (ebd., 73f.).
Aus der internen Fokalisierung Makinas („simpatiza“, „advierte“, „piensa“) wird hier ihre Wahrnehmung der Spanglish-Sprecher bzw. der Latinos in den USA („son paisanos y son gabachos“) beschrieben. Syntaktisch ist in diesem Textabschnitt zunächst die dominante zweigliedrige Form auffällig, die jeweils zwei Aspekte einander gegenüberstellt („entre lo paisano y lo gabacho“, „lo que desaparece y lo que no ha nacido“, „hablando en perfecta lengua latina y […] en perfecta lengua gabacha“). Diese Binarität zerbricht allerdings auf mehreren Ebenen. Die Zergliederung in Teilelemente könne sich wie bei einer mise en abyme à l’infini unendlich fortführen und die Grenzen verwischen („entre dos semejantes distantes y luego entre otros dos, y luego entre otros dos“). Die zweigliedrige Form bricht auch inhaltlich auf, weil die Sprecher und ihre Sprache die Dichotomie maßgeblich überschreiten: Die widersprüchliche Verbindung von „semejante“ und „distante“ suggeriert, dass sich Menschen unterschiedlicher Sprachen trotz ihrer Ähnlichkeit voneinander abgrenzen. Dabei ist die Sprache der Latinos aber verbindend, wie die technische Metapher des Scharniers impliziert („gozne“). Es verbindet zwei an sich unbewegliche Elemente und macht sie beweglich, ermöglicht also eine Dynamik, ohne dabei jedoch die Unterschiede gänzlich aufzuheben („nunca exactamente los mismos“). Die Spanglish-Sprecher stellen ein Dazwischen dar („intermedia“, „punto medio“, „franja“, „maleable“, „permeable“, „deleble“). Das wiederholte „lengua“ (7x) fokussiert das Feld der Sprache. Das Englische und Spanische werden jeweils mit dem Adjektiv „perfecto/a“ begleitet, das in den Fokus gerät. Es kann eine qualitative Makellosigkeit ausdrücken (vgl. Real Academia Española 2014, 1683), im Lateinischen bezeichnet perfectus den Status des ‚vollendet Seins‘. 161 Dieser positive Zustand wird allerdings durch ein „se cree“ in Frage gestellt, was erstens eine Kritik am Nationalstolz andeutet. Zweitens impliziert das, in Allusion auf sprachpolitische Äußerungen zum Thema des Sprachwandels, dass Sprachen keine in sich abgeschlossenen und einheitlichen Entitäten „perfectus, dem PPP. von l. perficere (perfectum) ‚fertigmachen, vollenden‘“ (Kluge und Sebold 2012, Hervorhebung i. O).
161
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sind. 162 Der Sprachwandel erscheint als natürlich, unaufzuhaltsam, und repräsentiert den gesellschaftlich-kulturellen Wandel. 163 Als Makina hört, wie jemand das Wort „fuego“ metonymisch durch „luz“ ersetzt, beginnt sie über die Sprache und die Wahrnehmung der Welt nachzudenken. Der Erzähler bezieht den Leser in diese Reflexion mit ein („¿qué no se aprende?“). Die alltagssprachliche, geradezu banal wirkende Frage nach Feuer stößt philosophische Fragen über das gesellschaftliche Zusammenleben an („el acto de dar“). 164 Anstatt die Dinge als falsch abzustempeln, könne ein aufmerksamer Umgang miteinander und ein wechselseitiges Zuhören neue Perspektiven eröffnen. Vor dem historischen Hintergrund erscheint das Spanglish als natürliches Produkt der Evolution, die an dieser sich pausenlos verändernden Sprache unmittelbar nachvollziehbar ist („metamorfosis sagaz“, „mudanza“, „transfigurándose“, „nunca exactamente los mismos“). 165 In dem Zusammenhang ist das häufige „otros/as“ 162 Der Sprachwandel ist in der hier analysierten Textstelle auch an den beiden Gräzismen erkennbar („metamorfosis“, „hecatombe“). Etymologisch gesehen werden beide Begriffe zunächst aus dem Altgriechischen ins Lateinische entlehnt und werden von dort zum Teil des sich neu entwickelnden Spanisch (vgl. Real Academia Española 2014, 1159, 1455). Es deutet sich an, dass neben Sprachwandel und Veränderungen („metamorfosis“) auch extreme Gewalt und Katastrophen („hecatombe“) eine transhistorische Konstante sind. 163 Das hier entwickelte Bild lässt sich mit einem Rückgriff auf Jurij Lotmans Konzept der Semiosphäre und ihrer Grenze nachvollziehen. Lotmans Herangehensweise ermöglicht es, die Sprache in ihrer grenzüberschreitenden Funktion zu lesen. Überträgt man das Modell auf die erzählte Welt von Señales, ließen sich die USA und Mexiko als zwei voneinander getrennte Semiosphären deuten. Die Sprecher des Spanglish personifizieren somit die Grenzüberschreitung, da sie den Wandel der Semiosphäre sichtbar machen. Sie zeigen, dass die Abgrenzung in zwei homogene Blöcke nicht standhält. Statt einer Trennung kommt es zu einer Verbindung, in der beide Semiosphären verändert werden, wie das Zitat am Beispiel des Unterschieds zwischen „luz“ und „fuego“ verdeutlicht. – Vgl. Kapitel 2.1.3 dieser Arbeit zu Lotmans Konzept der Semiosphäre. 164 Für diese Lesart spricht, dass mit dem ‚Licht‘ ein Begriff verwendet wird, der für die Erkenntnis steht (vgl. Voß 2012, 244f.). – „[E]l acto de dar“ ist ein Indikator der gemeinschaftlichen Interaktion. Vgl. Roberto Esposito, der bei einer Neulektüre des Terminus communitas den Aspekt des munus als fundamental erachtet (definiert als „‚Gesetz‘ und ‚Gabe‘ bzw. ‚Gesetz der Gabe‘“ (Esposito 2014, 65). Die Gemeinschaft konstituiere sich über die gegenseitige Verpflichtung, sich eine Gabe zu überreichen, wobei der Fokus auf dem Akt des Gebens liegt (vgl. ebd.). Das macht auch Señales und verweist auf die Verpflichtung des Einzelnen in einer Gemeinschaft, die sich nicht über eine gemeinsame Herkunft, sondern als Produkt der Interaktion konstituiert. 165 Auf sprachlicher Ebene spielen in Señales die Neologismen eine wichtige Rolle. Ein Beispiel ist das 22 Mal auftretende Verb „jarchar“. Es handelt sich dabei um eine Variation des mozarabischen jarcha, aus dem Arabischen „jarŷa ‘salida’. [...] Canción tradicional en mozárabe con que cerraban las moaxajas los poetas andalusíes árabes o hebreos“ (Real Academia Española 2014, 1279). Die jarchas sind die ältesten überlieferten romanischen Texte, datiert auf das 11.-12. Jahrhundert und gelten als literarische Dokumente des Sprachkontakts (vgl. Bollée und Neumann-Holzschuh 2013, 51). In Señales bedeutet das Verb ‚hinausgehen, weggehen‘, doch der genaue Sinngehalt des Wortes bleibt wie das Ende der Geschichte unklar (Navarro Pastor 2011, 121). Am Ende gelangt Makina zur „Jarcha“, d. h. sie erreicht entweder das Mictlan oder sie beginnt ein neues Leben in den USA (Herrera 2010, 117, Hervorhebung i. O.). Die doppelte Lesart wird durch das facettenreiche Wort jarcha hervorgehoben, in dem sich Literatur und Sprachgeschichte auf eine hybride Weise mit dem Raum und der persönlichen Reise Makinas verbinden.
4.3 Yuri Herrera: Señales que precederán al fin del mundo (2009) 149
(8x) auffällig. Es liest sich als eine Anspielung auf die im Rahmen der mexikanischen Identitätsdiskurse des 20. Jahrhunderts getätigten Aussagen von Octavio Paz, der den Terminus der otredad verwendet, um damit die mexikanische Identität zu umschreiben (vgl. Borsò 1994, 136). Das hier analysierte Zitat aus Señales ähnelt Paz’ Skizzierung der kolonialen Gesellschaft von Nueva España in seinem Werk Sor Juana Inés de la Cruz o las trampas de la fe [1982] (1994). Über die mestizos schreibt Paz dort Folgendes: Los mestizos […] no eran ni criollos ni indios. Rechazados por ambos grupos, no tenían lugar ni en la estructura social ni en el orden moral. […] Del sentimiento de ilegitimidad brotaban su inseguridad, su perpetua inestabilidad, su ir y venir de un extremo al otro […]. […] Era la verdadera novedad de la Nueva España. Y más: eran aquello que la hacía no sólo nueva sino otra (Paz 1994, 57f., Hervorhebung i. O.).
Vergleicht man die beiden Zitate, so wird ersichtlich, dass der Identitätsdiskurs von Paz in Señales in abgewandelter Form erscheint. Statt wie Paz den mestizos eine außerhalb der Grenzen stehende und negativ konnotierte Position zuzuweisen („no eran ni … ni …“), klingt in Señales die Möglichkeit an, dass die Latinos multiple Identitäten miteinander vereinbaren können („Son paisanos y son gabachos“), was Makina und der sie fokalisierende Erzähler positiv bewerten („simpatiza“). Am Zitat von Paz zeigt sich, dass er den kolonialen mestizos eine Identität abspricht („ilegitimidad“, „inseguridad“, „inestabilidad“), betont durch die negierenden Präfixe „il-“ und „in-“. Problematisch ist hier seine psychologisierende Beschreibungsweise, die pathologisierend („sentimiento“, „brotaban“) agiert. Señales wendet sich davon ab, da das drei Male im Textausschnitt auftretende Präfix „in-“ seiner Funktion nach nicht negierend ist, sondern richtungsweisend („inmediato“, „intensidad“, „intención“) und im „inter-“ ein Dazwischen evoziert („intermedia“). Statt einer Marginalität und einer Position im Abseits, die Paz den mestizos zuweist, erhalten hier die Sprecher des Spanglish implizit einen zentralen Standort. Das Wort „otro“ wird trotz seiner Häufigkeit mit „nuevo“ ersetzt, was die trennende Semantik von „otro“ mindert. 166 Die hier vollzogene Verschiebung von sich auf die historische Vergangenheit Mexikos beziehenden Identitätsmodellen aus dem 20. in das 21. Jahrhundert impliziert eine diskurskritische Perspektive. Gesellschaftliche Debatten über die Identität treten in diversen Zusammenhängen auf, nehmen unterschiedliche Formen an und beruhen dabei oft auf Ausschlüssen. Der Text zeigt jedoch, dass abseits der theoretischen Reflexionen echte Menschen stehen, die ihre Sprache sprechen, ohne dies ideologisch zu begründen. Damit weist er auf die Gefahr hin, dass sie instrumentalisiert werden, um Identitätsdiskurse zu legitimieren. Der 166 Anstelle eines verlustreichen Endes („no una hecatombe“, „ninguna ausencia“), wird dies als Startpunkt für etwas Neues konnotiert („el mundo sucediendo nuevamente“, „produciendo objetos distintos“). Das betont den Einfluss von Sprache auf die Realität („son cosas nuevas“). Obwohl sich andeutet, dass die Zukunft der Spanglish-Sprecher, am Futur erkenntlich („durarán“, „serán“), ungewiss ist („quién sabe“), erscheinen sie als unermüdlich und standhaft („ahí están, dando guerra“).
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Fokus liegt nicht auf einem vermeintlich verlorenen gemeinsamen ‚Ursprung‘, sondern auf der sprachlichen Vielfalt des Augenblicks. Da Makina sich in den Menschen wiedererkennt und bestätigt fühlt („es como ella“), tritt der empathische und grenzüberschreitende Effekt von menschlicher Interaktion zutage. 167 Dabei wird keine psychologisierende Wertung vorgenommen. Es scheint gar so, als verliere Makina einige ihrer Vorurteile als sie sieht, dass es in anderen Gesellschaften ebenfalls Menschen gibt, die mehrsprachig sind und inklusive Identitätsmodelle verkörpern. Das Feld der Mehrsprachigkeit ist eng verknüpft mit der kritischen Verarbeitung des Malinche-Mythos in Señales. 168 Während die historische Figur der Malinche aufgrund der Quellenlage nur vage charakterisiert werden kann, lassen sich anhand ihrer textuellen Repräsentationen tiefgehende Erkenntnisse über die in der jeweiligen Zeit vorherrschenden diskursiven Formationen gewinnen. Eindrücklich zeigt sich dies an der Divergenz zwischen den postrevolutionären Diskursen um die Identität Mexikos, die das Malinche-Bild pejorativ verwenden 169 und den positive Verarbeitungen der Malinche im politischen Diskurs und der Literatur der
167 Die Sekundärliteratur deutet Makinas Grenzüberschreitung als eine persönliche Transformation, als „viaje de iniciación [...] que ha de obrar una transformación fundamental en el personaje“ (Navarro 2011, 105), „desarrollo [...] similar al rito de pasaje“ (Uribe 2016, 17), „ha cruzado simbólicamente su propia línea hacia una libertad sexual“, „viaje iniciático de una mujer,“ (Demeyer 2016, 440). 168 Im Jahre 1519 wird die indigene Malinalli/Malintzin, von den Spaniern la Malinche oder Doña Marina genannt, die Sklavin von Hernán Cortés (vgl. Glantz 1994, 75f., 84). Das wenige Wissen über die historische Figur beruht auf den von den Spaniern verfassten Schriftstücken sowie auf den indigenen Códices, die sie unterschiedlich darstellen und bewerten (vgl. Brotherston 1994, 13ff.). Die Spanier nennen Marina bei ihrem Namen, was darauf hinweist, dass sie eine bedeutsamere Position als andere Sklavinnen und Dolmetscher hat (ebd., 15). Sie spricht Maya, Nahuatl und eignet sich das spanische Wissenssystem an, wodurch es ihr gelingt, eine Kommunikation zwischen den Spaniern und unterschiedlichen indigenen Völkern herzustellen (vgl. Glantz 1994, 75ff.). – Während die Schriftstücke der Mexica und der Verbündeten von Tenochtitlan eine ablehnende Haltung gegenüber Malinche einnehmen, wird sie von den Gegnern der mexica positiv dargestellt, z. B. im Lienzo de Tlaxcala (vgl. Brotherston 1994, 15, 17). Unabhängig davon, ob die Quellen Malintzin affirmativ oder negativ bewerten, kündet bereits ihre Präsenz davon, dass sie einen politischen Einfluss ausübt und ihr Verhalten von den Frauen konventionell zugeschriebenen Rollen abweicht (vgl. ebd., 15ff.). Sie überschreitet also gesellschaftliche Grenzen, was schon zeitgenössische Quellen unterschiedlich bewerten. 169 So verbreitet sich z. B. das noch heute gebräuchliche Adjektiv ‚malinchista‘: „quienes, en todo y sin motivos que los justifiquen, prefieren a los extranjeros, los sobrevalúan, los consideran naturalmente superiores, se ‚amanceban‘ con ellos. El vocablo es hiriente, y su aplicación, […] es de índole más económica y política que espiritual“ (Monsiváis 1994, 145). Es handelt sich um ein Bild, das im dominanten politischen Diskurs zum Einsatz kommt und despektierlich ist. Auch Octavio Paz (1999, 82f., 94) kreiert in El laberinto de la soledad mit Malinche einen negativen Ursprungsmythos der Mexikaner. Das pejorative Bild der vergewaltigten indigenen Frau steht bei Paz symbolhaft für die Unterwerfung der indigenen Bevölkerung unter die Spanier und dient ihm dazu, die These der orfandad der mexikanischen Bevölkerung zu legitimieren (vgl. Borsò 1994, 138). Paz schafft mythisierende Bilder, um politische Zusammenhänge herzuleiten. Seine kulturalistische und sexistische Argumentation ist problematisch, muss aber berücksichtigt werden, weil sie die Semantik der Malinche stark prägt.
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zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. 170 Die Fragen nach dem konfliktiven Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, nach Identität, Konventionen, nach der Rolle des (weiblichen/indigenen) Anderen spiegeln sich in den Darstellungen der Malinche und ihrer jeweiligen Bewertung. Mit dieser These versteht die vorliegende Arbeit Malintzin als eine allegorische Figur mit diskursiver Bedeutung: Sie ist transhistorisch wirksam, enthält aber keine homogene Bedeutung. Die historisch unterschiedlichen Darstellungsweisen und diskursiven Instrumentalisierungen des Malinche-Bildes haben es jeweils geprägt und müssen bei der Analyse berücksichtigt werden, so auch bei der Bewertung des intertextuellen Verweises in Señales. Der Roman enthält die folgenden Allusionen auf die mythische Malinche: Phonetisch und graphisch ähneln sich ‚Makina‘ und ‚Marina‘, die nur in einem Konsonanten voneinander abweichen. 171 Des Weiteren wird suggeriert, dass Makina indigen ist 172 und neben Spanisch auch eine indigene Sprache sowie Englisch beherrscht (vgl. Herrera 2010, 19). Señales konnotiert ihre Mehrsprachigkeit, die sie einsetzt, um anderen zu helfen, durchwegs positiv. Dadurch erscheint Makina als Person, die von der Sprache Gebrauch zu machen weiß, sich im männlich dominierten narco-Milieu durchsetzt und schließlich in die USA gelangt. Es handelt sich hier um eine feministische und anti-patriarchale, also gegen den Diskurs von z. B. Octavio Paz gerichtete Lesart, die auf die den mexikanischen Gründungsmythen inhärente diskursive Gewalt verweist. Die Parallelen zwischen Makina und Malinche suggerieren, dass es sich bei der Gewalt gegen Frauen um ein über die Jahrhunderte bestehendes Problem handelt. Dabei gelingt es dem Text, ohne ein eindimensionales Opfernarrativ zu inszenieren, Makina als selbstbewusst darzustellen. Während sie auf der Busfahrt einen Jugendlichen, der sie belästigt, unter Anwendung körperlicher Gewalt in die Die sich in den USA der 1980er Jahre konstituierende Chicana-Bewegung grenzt sich von den männlich dominierten Chicanos ab und evoziert mit dem Bild der ausgestoßenen Malinche ein geteiltes Schicksal (vgl. Franco 1994, 164). Franco (ebd., 157) weist darauf hin, dass hierbei mitunter die gewaltvolle Seite der conquista euphemistisch wiedergegeben werde. – Auch literarische Werke in Mexiko ernennen Malinche zu ihrer Protagonistin und bemühen sich um eine feministische Neuformulierung, wie z. B. Esquivel (2015) (vgl. Torres Torres 2011, 373ff.). 171 Phonetisch betrachtet ähnelt Makina zudem der máquina, von Lat. machina. Zum einen verweist dies darauf, dass Makina die Handlangerin der Drogenbosse ist, für deren Zwecke sie sich einspannen lässt. Zum anderen bedeutet das lateinische machina jedoch auch „Kunstgriff, Kunst, List“ (Langenscheidts Großwörterbuch Lateinisch 1971, 451). Das bezieht sich auf die besonderen Fähigkeiten Makinas, sich in einem gefährlichen und unbekannten Territorium geschickt zu behaupten. 172 Das geschieht z. B. indem der Ort der Erzählung ein ländliches, „Pueblo“ genanntes Dorf ist (Herrera 2010, 19). Da es dort nur ein Telefon gibt, ist es infrastrukturell schlecht ausgestattet (vgl. ebd.). Eine genaue geographische Lokalisierung ist aufgrund dieser metonymischen Benennung nicht möglich, proportional machen aber in Mexiko die Indigenen einen hohen Anteil der ländlichen Bevölkerung aus. Das Dorf scheint in einer Bergbau-Region zu liegen, es könnte sich also um eine Anspielung auf das für den Silberabbau bekannte Taxco im Bundesstaat Guerrero handeln („cinco siglos de voracidad platera,“ ebd., 11f.). Die Anzahl der Sprecher indigener Sprachen liegt in Guerrero über dem nationalen Durchschnitt (vgl. INEGI 2010). Entscheidend ist, dass die Bezeichnung „Pueblo“ repräsentativ für jegliche periphere Dörfer steht. 170
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Flucht schlägt, 173 befürchtet sie bei der Übergabe des Päckchens an „señor Pe“, dass der sie vergewaltigen könnte: „¿Pensaría el señor Pe que se chingaría al señor Hache chingándola a ella?“ (ebd., 68). Hier wird mit der ambivalenten Bedeutung des Wortes „chingar“ gespielt, das sowohl ‚hintergehen‘ als auch ‚penetrieren‘ heißen kann (vgl. Real Academia Española 2014, 515). 174 Der Terminus, der aufgrund seiner häufigen affektiven Verwendung in der mexikanischen Alltagssprache und in Señales 175 nur eine geringe bedrohliche Semantik enthält, beschreibt hier eine für die Protagonistin unmittelbar gefährliche Situation. Als der Leser erkennt, dass es sich nicht um eine bloße Redewendung handelt, gelangen die Inhaltsebene des Wortes chingar und dessen verbreiteter euphemistischer Gebrauch in den Fokus. Das weist kritisch darauf hin, dass Gewalt gegen Frauen sowohl in den USA als auch in Mexiko akzeptiert und normalisiert ist, und Frauen sich damit regelmäßig konfrontiert sehen. Der internen Fokalisierung Makinas getreu, bewertet die Erzählinstanz diese Gewalt explizit als negativ. 176 Makina kann als eine Repräsentantin marginalisierter Gruppen gedeutet werden. Eine arme, indigene, weibliche Migrantin, mit der in der extratextuellen Welt wenig Empathie empfunden würde, ist die Protagonistin, und erweckt beim Leser Sympathie. 177 Erzähltechnisch ist dabei die Erzählinstanz entscheidend, die Makina gegenüber wohlgesonnen ist, da sie sie ohne Eingriffe intern fokalisiert und der wörtlichen Rede ihrer Gedanken und Gespräche Raum gewährt. Anstatt jedoch Makina selbst als autodiegetische Erzählerin über ihre Erfahrungen sprechen zu lassen, wird der Erzähler zur Verbindung zwischen Protagonistin und Leser. Als mögliche Deutung dieses Sachverhalts ließe sich die These aufstellen, dass der Erzähler zur Spiegelung des Autors dient: Während auf der intraliterarischen Ebe173 Eine der wenigen Szenen expliziter körperlicher Gewalt ist die, in der Makina den Mittelfinger eines sie belästigenden Mannes zurückbiegt, bis dieser in Tränen ausbricht (vgl. Herrera 2010, 32f.). Makina nutzt das Überraschungsmoment gegen den Täter und erhebt sich über das Phallussymbol des Fingers. 174 Hier liegt erneut der Bezug zu El laberinto de la soledad auf der Hand, das die Semantik des schillernden Wortes prägt (vgl. Paz 1999, 83f.). In seiner dichotomischen Lesart schreibt Paz dem Verb „chingar“ eine männliche, aktive und gewalttätige Semantik zu (vgl. ebd., 85) und grenzt es ab von „lo chingado“, dem Weiblichen, Passiven, Abjekten (vgl. ebd., 94). Problematisch ist, dass Paz die Binarität ‚männlich vs. weiblich‘ perpetuiert, („¿es igual a nosotros?“, ebd., 73). Die Frau wird zum transhistorischen Anderen. Indem Señales vor diesem intertextuellen Hintergrund Makina zur Protagonistin macht, wendet der Roman sich von der Paz’schen Lesart ab. 175 Das Wort wird insgesamt 12 Male verwendet, meist als Kraftausdruck: „chingada“ (Herrera 2010, 12, 48, 52, 67), „chingadera“ (ebd., 18, 87), „chínguese“ (ebd., 18), „chingado“ (ebd., 25), „rechinga“ (ebd., 32), „chingar“ (ebd., 39), „chingaría“, „chingándola“ (ebd., 68). 176 Dies zeigt sich vor allem daran, dass die übergriffigen Männer pejorativ bezeichnet werden als „hijo de puta“, „idiota“, „cabrón“ (ebd., 32, 33, 81). 177 Señales steht in einer intertextuellen Verbindung zu den Superhelden-Comics Amazing Spider-Man Friends and Enemies (Lin u. a. 1995). Eine der Figuren trägt wie die Protagonistin aus Señales den Namen Makina. Dabei handelt es sich um eine Latina, Mitglied der sog. Metahumes, einer Gruppe unterschiedlicher nicht-weißer Charaktere, die mit Spiderman kollaborieren. Die intertextuelle Beziehung kündet vom Bedarf an Helden, die nicht weiß sind und dabei nicht stereotyper Weise auf der Seite des Bösen stehen, sondern als Identifikationsbilder einer multikulturellen Welt fungieren können.
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ne der Erzähler versucht, die Perspektive Makinas einzunehmen, steht extraliterarisch der Autor den gesellschaftlich marginalisierten Menschen gegenüber. Die Erzählinstanz signalisiert das Bewusstsein über die soziale Divergenz zwischen dem männlichen, akademischen Autor und der weiblichen, indigenen, armen Protagonistin. Dadurch verhindert der Text vorzugeben, dass es wahrhaftig Makina sei, die spricht. Anders gesagt: Der literarische Text verweist durch die Erzählinstanz kritisch auf die nicht überwindbare Grenze zwischen Autor und sozial Exkludierten und dient dazu, diesen Zusammenhang zu reflektieren. Da die Erzählinstanz in einer extradiegetischen Position verweilt, zeigt sie sich bemüht, sich zurückzuhalten, die Perspektive der Protagonistin zuzulassen und somit die Einfühlung in den Anderen zu ermöglichen. Die Grenze zwischen dem Eigenen und dem Anderen wandelt sich metaphorisch von einer trennenden Konnotation zu einer Kontaktfläche. Die hier veranschaulichten Relationen sind relevant, da sie metaliterarische Reflexionen anstoßen, zum einen über die Funktion von Literatur in Identitätsdiskursen, zum anderen über die ethische Frage, ob der literarische Text für marginalisierte Menschen sprechen kann, ohne sie zu vereinnahmen. Darauf folgt außerdem die Frage, ob Literatur im Stande ist, den Blick des Lesers auf die extratextuelle Realität zu verändern – eine Frage, die eine Szene im vorletzten Kapitel des Romans vertieft: Nachdem Makina sich von ihrem Bruder verabschiedet hat, wird sie auf ihrem Rückweg plötzlich zusammen mit anderen Menschen, dem Aussehen nach Mexikaner, 178 von einem US-amerikanischen Polizisten in einem Hinterhof festgesetzt und gezwungen, sich hinzuknien (vgl. Herrera 2010, 107). Bei einem der Männer findet der Polizist ein Buch. Já, dijo el policía tras ojearlo, Poemas. Vaya con la mano de obra calificada, no traen dinero, no traen documentos, pero traen poemas. ¿Eres muy romántico? ¿Eres poeta? ¿Eres escritor? Pues ahora vamos a ver. Arrancó una de las últimas hojas, la apoyó en la pasta del libro, sacó un lápiz de su camisa y le dio todo al hombre. Escribe. El hombre levantó la mirada sin entender de qué se trataba. Te dije que escribieras, no que me miraras, hijo de puta. Pon los ojos en el papel y escribe por qué crees que estás en la mierda, por qué crees que tu culo está en las manos de este oficial patriota. ¿O no sabes qué has hecho mal? Sí lo sabes. Escribe (ebd., 108f.).
Der Polizist ist, obwohl er zahlenmäßig eine Minderheit darstellt, hierarchisch überlegen. Während die Mexikaner schweigen, spricht allein er und demonstriert in seiner direkten Rede, initiiert mit einem herablassenden Lachen („Já“), seine Macht. Obwohl er den Mann befragt („¿Eres poeta?“, „¿Eres escritor?“), lässt er diesem keine Gelegenheit, zu antworten, und drückt damit seine fehlende Dialogbereitschaft aus. Er erteilt dem Mann wiederholt einen Befehl („escribe“), verwendet Schimpfwörter („hijo de puta“, „tu culo“) und droht ihm („estás en la mierda“). Als der Mann anscheinend aus Unverständnis hochblickt („sin entender 178
„[E]ran o parecían paisanos“ (Herrera 2010, 107).
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de qué se trataba“), nimmt der Polizist keinerlei Rücksicht darauf („¿O no sabes? […] Sí lo sabes“) und befiehlt ihm, den Kopf zu senken, wodurch er den im Blick symbolisierten empathischen Kontakt verweigert. Hier untermalt der Kontrast zwischen oben und unten die Machtrelation zwischen dem Polizisten und den Mexikanern. In der Frage „¿Eres muy romántico?“ wird der Versuch des Polizisten erkenntlich, sein Gegenüber zu demütigen. Zunächst überschreitet er damit eine Grenze, weil es sich um eine intime Frage handelt, die er einem Fremden stellt. Da er aber gar keine Antwort des Mannes zulässt und die adverbiale Betonung „muy“ hinzufügt, deutet sich an, dass es sich um eine rhetorische, ironisch gemeinte Frage handelt. Bewertet man ‚romantisch‘ als Antonym von ‚pragmatisch‘ und ‚rational‘, so impliziert die Aussage des Polizisten, dass Literatur weltfremd sei. Indem er „dinero“ und „documentos“ mit „poemas“ kontrastiert, zeigt sich, dass er Literatur nicht als würdige Arbeit ansieht und ihren gesellschaftlichen Beitrag für nichtig erklärt. Obwohl der Polizist zuvor andeutete, die Mexikaner seien ungebildet (vgl. ebd., 107f.), erkennt er den Dichter nicht als Gegenbeispiel an („Vaya con la mano de obra calificada“). Körperlich manifestieren sich die Gewalttätigkeit des Polizisten und seine fehlende Wertschätzung für Literatur, als er dem Mann das Buch entreißt und es zerstört, indem er eine Seite herausreißt. Dem eingeschüchterten Mann gelingt es nicht, etwas zu schreiben, woraufhin Makina ihm Stift und Papier abnimmt und ohne lange innezuhalten das Blatt beschriftet (vgl. ebd., 109). Der über Makinas Eingriff erstaunte Polizist nimmt den von ihr beschriebenen Zettel und liest das Gedicht laut vor: Nosotros somos los culpables de esta destrucción, los que no hablamos su lengua ni sabemos estar en silencio. Los que no llegamos en barco, los que ensuciamos de polvo sus portales, los que rompemos sus alambradas. Los que venimos a quitarles el trabajo, los que aspiramos a limpiar su mierda, los que anhelamos trabajar a deshoras. Los que llenamos de olor a comida sus calles tan limpias, los que les trajimos violencia que no conocían, los que transportamos sus remedios, los que merecemos ser amarrados del cuello y de los pies; nosotros, a los que no nos importa morir por ustedes, ¿cómo podía ser de otro modo? Los que quién sabe qué aguardamos. Nosotros los oscuros, los chaparros, los grasientos, los mustios, los obesos, los anémicos. Nosotros, los bárbaros (ebd., 110).
Besonders auffällig ist in dieser Textstelle der Parallelismus, der auf der anaphorischen Wiederholung von „los que“ + Verb (12x) beruht. Die im allgemeinen Sprachgebrauch häufig mit dem Personalpronomen der dritten Person Plural („ellos“) verbundene Beschreibung einer Tätigkeit kann man als ein Heterostereotyp bewerten. Es charakterisiert den Anderen und suggeriert, dass dieser seine Handlung regelmäßig vollziehe. Dadurch werden zudem verschiedene, heterogene Menschen simplifizierend und anonymisierend zu einer Gruppe zusammengefasst. Die Häufigkeit der Satzkonstruktion erzeugt einen Rhythmus, der die Fülle der repetitiven Fremdzuschreibungen akzentuiert und sie geradezu bedrohlich erscheinen lässt. Entscheidend ist nun aber, dass Makina die Verben nicht in der dritten, sondern in der ersten Person Plural („nosotros“) verwendet, d. h. es hat eine Variation von „ellos“ zu „nosotros“ stattgefunden, die Fremdzuschreibung
4.3 Yuri Herrera: Señales que precederán al fin del mundo (2009) 155
wird somit als Selbstzuschreibung übernommen. Im „nosotros“, etymologisch aus dem Kompositum „nos“ und „otros“ hervorgehend (vgl. Real Academia Española 2014, 1546), ist der Andere (‚otro‘) graphisch präsent und deutet darauf hin, dass das „nosotros“ nie ohne die Anderen existieren würde, da die eigene Gruppenidentität sich über die Abgrenzung vom Anderen konstituiert. Hier greift Makina die Worte der Einwanderungs-Gegner auf und bricht sie durch innere Widersprüche ironisch. Beispielsweise erklingt der Vorwurf, die Migranten kämen, um den US-Amerikanern die Jobs wegzunehmen („venimos a quitarles el trabajo“). Anstatt dies zu verneinen oder dagegen zu argumentieren, zeigt Makina die Paradoxie der Aussage durch ihren nächsten Satz auf: „aspiramos a limpiar su mierda“. Das positive „aspiramos a“ steht in einem Widerspruch zum mit Ekel besetzten Begriff „mierda“, das als pars pro toto für Pflegeberufe darauf hinweist, dass viele Migranten die Jobs zu schlechteren Konditionen übernehmen („a deshoras“), die aber notwendig sind, um für die alternde Bevölkerung der USA zu sorgen. Der ironische Nachschub hinterfragt den vorherigen Satz und verdeutlicht, dass die Aufteilung in ‚wir‘ und ‚ihr‘ nicht uneingeschränkt gilt, da die USA auf die Einwanderung angewiesen sind. Durch die Verbindung von „aspirar a“ und „anhelar“ mit widersprüchlichen, da negativ bewerteten Tätigkeiten, zeigt sich, dass der American Dream und die Bezeichnung von Migranten als Dreamers euphemistisch sind. 179 Ergänzend dazu dominieren semantisch die negativ bewerteten Wortfelder Abjektion („ensuciamos“), Verlust und Zerstörung („destrucción“, „rompemos“, „quitarles“), Krieg und Tod („culpables“, „violencia“, „amarrados“, „morir“). Untermalt wird dies von verneinenden Adverbien („no“), Konjunktionen („ni“) und Präfixen („des-“). Die USA werden durch ihre Bauwerke charakterisiert, zum einen über das Eingangstor und den Drahtzaun („portales“, „alambradas“), die das Innen vom Außen abgrenzen und verhindern, dass unerwünschte Gäste eindringen. Zum anderen erwähnt Makina die Straße („calles“), die einen vorgegebenen, geradlinigen Weg darstellt und den Eingriff des Menschen in die Natur repräsentiert. Hierbei handelt es sich um periphere Räume, an denen sich die Migranten aufhalten, denn anstatt im Haus zu sein, verweilen sie im Eingangsbereich, auf der Straße und an den äußeren Rändern des Grundstücks. Der Raum wird, mit Pierre Bourdieu gelesen, 179 Ausländische Minderjährige ohne Aufenthaltsgenehmigung werden in den USA Dreamers genannt. Dies beruht auf den Gesetzesentwürfen des sog. DREAM Acts (Development, Relief and Education for Alien Minors Act), der 2001 erstmals vorgestellt wird, seitdem laufend Thema der politischen Debatte ist und am Widerstand der Republikaner scheitert. Das Gesetz sieht für die Dreamers eine Arbeits- und Studienerlaubnis vor, mit Aussicht auf eine permanente Aufenthaltsgenehmigung, und die US-amerikanische Armee soll sie rekrutieren können (vgl. Patler und Appelbaum 2011). Im Jahre 2012 initiiert Barack Obama das strukturell dem DREAM Act gleichende DACA-Programm, das Donald Trump wiederum seit 2017 abschaffen möchte, woran ihn aber im Juni 2020 der Oberste Gerichtshof hindert (vgl. Liptak und Shear 2020). In der Covid19-Pandemie zeigen sich zugespitzt die gesellschaftlichen Konsequenzen, die ein Ende des DACA bedeuten würde, denn etwa 27.000 Dreamers arbeiten im Gesundheitssektor, für den ein Verlust an Fachpersonal fatal wäre (vgl. Liptak 2020). – Vgl. auch Joachim Michael (2017, 156f.), der Señales vor allem als Abkehr vom die USA idealisierenden „mexikanischen Gegenwartstraum“ deutet.
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zum Indikator der sozialen Position, die Menschen in der Gesellschaft einnehmen. 180 Aber die Präsenz der Migranten bedroht die Stabilität dieser Grenzen, da sie grenzüberschreitend wirkt, und sich über Gerüche („olor“), Geräusche („no sabemos estar en silencio“), Staub („polvo“), Löcher („rompemos“) und Kulturgüter („comida“) äußert. 181 Auch wenn die Menschen in einer marginalen gesellschaftlichen Position gehalten werden, kann man nicht alles einschränken oder verbieten. Neben der negativ-abjekten und grenzüberschreitenden Charakterisierung werden die Migranten auch als bedrohlich-mysteriös konnotiert, als Träger des im Latenten lauernden verdeckten Etwas („quién sabe qué aguardamos“). Vorurteile und Ausgrenzung, so verdeutlicht dieses Beispiel, funktionieren oftmals unbegründet, ein bloßes Gefühl reicht aus. Da das Gedicht die vielfältigen Ressentiments aufgreift und ausspricht, reproduziert und übermittelt es die negative Grundstimmung. Makinas Text bezieht sich dabei allerdings auch auf die positive Selbstzuschreibung der USA („silencio“, „calles limpias“). 182 Der Konnotation als gewaltfrei („violencia que no conocían“) widerspricht Makina aber diametral, indem sie den Tod der Migranten erwähnt („morir por ustedes“), die z. B. als Soldaten der US-amerikanischen Armee im Irak und Afghanistan kämpfen. In dem Zusammenhang erscheint ein Verweis auf Folter („merecemos ser amarrados del cuello y de los pies“). 183 Diese Allusionen zeigen zwei Kontinuitäten auf, die zugleich kritisiert werden: Nicht-Staatsbürger opfern sich für die USA und die US-amerikanischen Truppen greifen unter Anwendung von Folter in die Politik anderer Länder ein (Lateinamerika im 19. und 20. Jhd., Irak im 21. Jhd.). Die nachgeschobene rhetorische Frage „¿cómo podía ser de otro modo?“ bricht ironisch das US-amerikanische Selbstbild und weist auf die negativen Auswirkungen sowie auf das Leid des Anderen hin. 184 Vgl. in Kapitel 2.1.2 dieser Arbeit die Überlegungen zu Bourdieus Raumkonzeption. In La distinction weist er darauf hin, dass sich die Position der Akteure im Raum nach ihrem jeweiligen Kapital richte (vgl. Bourdieu 1979, 128). 181 Señales stellt Essen als grenzüberschreitendes Kulturgut dar. Bezeichnend ist, dass das Adjektiv „mexicano“ nur einmal im Roman verwendet wird, in Verbindung mit Essen: „Toda la cocina es cocina mexicana, se dijo“ (vgl. Herrera 2010, 64). Der Fokus der Bezeichnung ‚mexikanisch‘ verschiebt sich, indem es nicht das Stereotyp von Gewalt, Drogen und Migration bedient, sondern das Bild einer international präsenten, positiv bewerteten mexikanischen Küche. 182 Der Zusatz „no llegamos en barco“ kontrastiert die lateinamerikanischen Migranten mit den europäischen Kolonisten und Einwanderern, die die US-amerikanischen Identitätsnarrative dominieren. Die Unterscheidung zwischen vermeintlich ‚guter‘ und ‚schlechter‘ Einwanderung wird hier kritisiert. Es erscheint paradox, dass eine Einwanderungs-Gesellschaft nun anderen Menschen den Zugang verwehren möchte, zumal es sich dabei um Menschen handelt, deren Vorfahren bereits auf dem amerikanischen Kontinent lebten, als die europäischen Schiffe im 15. und 16. Jahrhundert dort anlegten. 183 Das verweist auf die Folter in Militärstützpunkten außerhalb des US-amerikanischen Festlands, wie in Guantánamo und Abu Ghraib. Die britische Zeitung The Guardian bezeichnet diese Methoden der Kriegsführung als dirty war und sieht sie als Kontinuität jener Praktiken, die in den 1970er Jahren unter US-amerikanischer Aufsicht in Lateinamerika vollzogen wurden (vgl. Murtaza 2013). Vgl. Kapitel 3.1.2 zum Begriff guerra sucia im mexikanischen Kontext. 184 Ebenso wie die Gewalt also nicht von außerhalb invasiv in das Land eindringe, deutet der Roman an, dass der mexikanische Drogenhandel aufgrund der großen Drogen-Nachfrage in den 180
4.3 Yuri Herrera: Señales que precederán al fin del mundo (2009) 157
Am Ende des Textes fallen die Verben gänzlich weg und es bleibt eine asyndetische Aneinanderreihung negativ konnotierter Adjektive: „los oscuros, los chaparros, los grasientos, los mustios, los obesos, los anémicos“. Ohne eine Pause, die Reflexion oder Besinnung ermöglichen würde, äußert Makina eine große Zahl an Fremdzuschreibungen, die alle darauf hinauslaufen, sich vom Anderen abzugrenzen und ihn als den ‚Anderen‘ zu markieren. Semantisch entsteht ein nicht dem gängigen Schönheitsideal entsprechendes Bild („oscuros“, „chaparros“, „mustios“ „obesos“, „anémicos“), das den Mexikanern zugeschriebene Stereotype aufgreift. 185 Die Liste der Adjektive steht jedoch wie bereits die Verben nicht allein als Fremdzuschreibung da, sondern wird durch ein vorangestelltes „Nosotros“ zu einer Selbstzuschreibung gemacht. Der letzte Vers, der aufgrund seiner Kürze in den Fokus gerät, bildet schließlich den Höhepunkt: „Nosotros, los bárbaros.“ Indem Makina hier ein Bild mit einer langen historischen Vergangenheit verwendet, weist sie darauf hin, dass die ausgrenzenden Diskurse fortdauern. 186 Die Wortwahl möge sich ändern, doch die binär funktionierenden Ausschlussmechanismen bleiben dieselben. Es zeigt sich, dass Makinas Gedicht die Selbst- und Fremdzuschreibungen paradox kombiniert. Indem sie sich den Diskurs der Einwanderungsgegner aneignet, gelingt es ihr, seine Widersprüchlichkeiten ironisch zu enttarnen. Der Polizist liest das Gedicht laut vor, ist danach sprachlos und lässt die Migranten schließlich sogar frei (vgl. Herrera 2010, 110). Auch ohne gegen seine Feinde zu argumentieren bzw. laut die Stimme zu erheben, sei es möglich, Menschen mit literarischen Texten zu treffen. Obwohl die Migranten schweigen, gelingt es dem ironischen Text stellvertretend für alle eine Botschaft des Protests gegen die dominante Ordnung auszusprechen und sie zu dekonstruieren. Dabei schützt das Medium der Literatur auch die Autorin, die einer Repression durch den Polizisten entgangen USA („transportamos sus remedios“) existiere: Das positiv konnotierte „remedio“ ersetzt das negativ konnotierte Wort „droga“, wodurch der Fokus darauf gelegt wird, dass Drogen die Bedürfnisse der Verbraucher stillen, ein „remedio“ seien. Außerdem weist das auf den semantischen Wandel der Worte „droga“ bzw. „narcótico“ und auf den medizinischen Gebrauch von Betäubungsmitteln hin. Es wird impliziert, dass der illegale Drogenhandel notwendig sei, um den Bedarf zu decken. Ob eine Legalisierung von Drogen die Aktivität der Kartelle und die Gewalt mindern könnte, wird in Mexiko und den USA kontrovers diskutiert (vgl. z. B. Boullosa und Wallace 2016b; Benavides 2014). 185 „Grasientos“ ist die spanische Übersetzung des englischen greasers, das seit dem Mexikanisch-Amerikanischen Krieg des 19. Jahrhunderts eine despektierliche Bezeichnung für Mexikaner ist (vgl. Merriam-Webster o. J.) und das Literatur und Film in den USA Anfang des 20. Jahrhunderts zum stereotypen Bild der männlichen Mexikaner verarbeiten, die „rauben, betrügen, vergewaltigen und morden“ (Schmidt-Welle 2011, 126). 186 Wie das Kapitel 2.1.1 der vorliegenden Arbeit zeigt, gilt im Römischen Reich das außerhalb der eigenen Grenzen liegende Territorium als das der Barbaren, die keinen Teil des Rechtssystems bildet (vgl. Febvre 1962, 16). Aus diesem Grund bezeichnet Jürgen Osterhammel (2001, 210) Grenzen wie den limes als „imperiale Barbarengrenze“. Die Kategorie des Barbarischen wurde zu Zeiten der europäischen Aufklärung als Korrelativbegriff der ‚Zivilisation‘ verwendet (vgl. ebd., 122). Hier zeigt sich die politisch-diskursive Funktion des ‚Barbaren‘-Begriffs, der die eigene Identität in Abgrenzung zum Anderen konstruiert und eine europäische Vorherrschaft legitimieren soll.
158 4. Grenzen und Transgressionen im mexikanischen Roman der Gegenwart
ist. Da die Gegner, die einem vielleicht nicht zugehört hätten, den literarischen Text lesen, von dem sie glauben, nichts befürchten zu müssen, kann Literatur den Protest wirksamer äußern als ein nicht-fiktional markierter Text. So hebt in diesem Beispiel Makinas Gedicht den spottenden Kommentar des Polizisten auf, der die Dichtung als weltfremd abgetan hatte, und beeinflusst die Realität unmittelbar. Die hier analysierte Szene ist exemplarisch für die metafiktionale Botschaft von Señales, dass Literatur und Gesellschaft keine voneinander getrennten Phänomene sind. Die Grenze zwischen intra- und extratextueller Welt wird überschritten und die Literatur als Teil des gesellschaftlichen Diskurses markiert, als Mittel der Selbstermächtigung marginalisierter Menschen, die einen kritischen Gegendiskurs äußern können. Parallel dazu enthält auch das Ende von Señales eine zweideutige Semantik und ließe sich entweder als Ankunft von Makinas Seele im Mictlan oder aber als Beginn eines neuen Lebens mit gefälschten Dokumenten in den USA lesen. Entscheidend ist hier, nach einer kurzen Panik, die sich zum positiven wendende Reaktion Makinas: [E]ntendió que lo que le sucedía no era un cataclismo; lo comprendió con todo el cuerpo y con toda su memoria, lo comprendió de verdad y finalmente se dijo Estoy lista cuando todas las cosas del mundo quedaron en silencio (ebd., 119).
Diese letzten Zeilen stellen einen Bezug zum Titel des Romans her, indem sie das Ende der Welt („todas las cosas del mundo quedaron en silencio“) evozieren. Dabei handelt es sich um ein ganzheitliches Phänomen („todo el cuerpo“, „toda su memoria“, „todas las cosas“), das einen Einklang zwischen Körper, Geist und Welt erschafft. Makina versteht jedoch, dass die unumkehrbare Situation, in der sie nun angelangt ist, nicht negativ zu beurteilen ist („no era un cataclismo“) und tritt ihrem Schicksal entgegen („Estoy lista“). Die Wendung der letzten Szene zu einer affirmativen und zukunftsgewandten Einstellung verbindet erneut das Ende und den Anfang. Es wird auf den Beginn der Erzählung zurückverwiesen („Estoy lista“ vs. „Estoy muerta“) und das Ende zugleich als Anfang von etwas Neuem konnotiert. 187
4.4
César Silva Márquez: Una isla sin mar (2009)
Der etwa 30-jährige Protagonist und Ich-Erzähler Martín in César Silva Márquez’ 188 2009 veröffentlichtem Roman Una isla sin mar wird als durchschnittlicher Mann der Mittelschicht charakterisiert. Er lebt allein in seiner Wohnung in Vgl. auch Navarro Pastor 2011, 121; Demeyer 2016, 442; Uribe 2016, 27. César Silva Márquez (*1974, Ciudad Juárez) verfasst neben Prosa auch Lyrik. Im Jahre 2005 wird er für seinen Debütroman Los cuervos (2006) mit dem Premio Binacional de Novela Joven Frontera de Palabras/Border of Words ausgezeichnet (vgl. Silva Márquez 2018). Ciudad Juárez ist der Schauplatz mehrerer seiner Romane, z. B. des zuletzt erschienenen La balada de los arcos dorados (Almadía 2014). Vgl. hierzu Íñiguez (2016). 187 188
4.4 César Silva Márquez: Una isla sin mar (2009) 159
Ciudad Juárez und arbeitet als Informatiker in einer maquiladora der Autoindustrie (vgl. Silva Márquez 2009, 114). Der Protagonist ist in seinem Beruf unzufrieden und wurde zudem vor kurzem von seiner Freundin verlassen (vgl. ebd., 14). In Folge wiederkehrender Träume fragt er sich, ob er aus Juárez wegziehen sollte und bemerkt, dass seine Freunde nach und nach die Stadt verlassen (vgl. ebd., 35). Una isla sin mar befasst sich vordergründig mit innergesellschaftlichen Grenzen und den zwischenmenschlichen Prozessen, in denen sich die eigene Identität konstituiert. Dabei lenkt die Identitätskrise der Protagonisten den Fokus auf die Mitglieder der mexikanischen Mittelschicht, die – wie es zunächst scheint – nicht von der Gewalt betroffen sind, die mit dem Drogenkrieg und der Migration 189 in Ciudad Juárez einhergeht. Im Laufe der Erzählung zeigt sich jedoch, dass die Gewalt sehr wohl präsent ist, die Mehrheitsgesellschaft sie jedoch nicht zur Kenntnis nimmt. Hinzu kommt, dass Gewalt sich nicht immer explizit körperlich manifestiert, wie sich hier anhand der Themen Zeugenschaft, sprachlicher Gewalt und kollektiver Erinnerung zeigt. Vor diesem Hintergrund fragt der Roman, welche Funktion die Literatur einnehmen kann, wenn es darum geht, Gewalt sichtbar zu machen. Der Konflikt zwischen Grenze und Grenzverwischung, Bewegung und Stillstand ist bereits paratextuell im Titel enthalten. Una isla sin mar erzeugt das Bild einer Insel, 190 die ohne ein sie umgebendes Meer („sin mar“) von der außenstehenden Welt isoliert bleibt. 191 Die Titel der beiden Romankapitel pendeln ebenfalls zwischen Grenze und Transgression: Das erste Kapitel, „La orilla“, evoziert das Bild einer Grenze. 192 Sie kann eine räumliche Position an der frontera norte 189 Der Text thematisiert zwar die Migration, es handelt sich dabei aber nicht um die stereotyp mit Ciudad Juárez assoziierte, illegale Migration. Perla, eine der Freundinnen Martíns, zieht in die USA, in einen Vorort von San Antonio (vgl. Silva Márquez 2009, 161). Zudem zeigt sich anhand von Martíns Eltern, die mit Aufkommen der maquiladora-Industrie in den 1960er Jahren nach Ciudad Juárez kamen und sich ein stabiles Leben aufbauen konnten, der generationale Unterschied und der Wandel vom sekundären zum tertiären Sektor in Mexiko (vgl. ebd., 94f., 119). Auf der Mikroebene der Familie ist die Makroebene des gesellschaftlichen Wandels ablesbar. 190 Ottmar Ette (2011, 21) konstatiert, dass eine Insel nicht nur als isolierter Raum zu betrachten sei, da sie „auf den unterschiedlichsten […] Ebenen mit vielen anderen Inseln verbunden ist“. Zugleich zeigt er an anderer Stelle, dass das Motiv der Insel die diskontinuierlichen, „fragmentarische[n] Strukturen“ darstellen kann, die ein „Schreiben[…] ohne festen Wohnsitz“ nachvollziehbar machen (Ette 2005, 78-81). – Mit dem Bild der Insel wird demzufolge aus einer Bewegung heraus danach gefragt, wie und wo sich das Subjekt verortet. Dies greift Una isla sin mar zwar auf, evoziert jedoch zugleich kontrastierend einen Stillstand und vermittelt somit das Konfliktpotenzial, das Verortungsprozessen inhärent ist. 191 Diese These bestätigt sich bereits etymologisch, denn das Verb ‚aislar‘ stammt von ‚isla‘ ab (vgl. Real Academia Española 2014, 77). Zudem befand sich dort, wo heute die ChihuahuaWüste und Ciudad Juárez liegen, in der Kreidezeit das Mar Interior Occidental (vgl. Mendoza Hernández 2016). Der gegensätzliche, inzwischen vergangene Zustand (Meer vs. Wüste), deutet auf den historischen Wandel hin, in dem auch die als gegeben und unveränderbar angesehenen gesellschaftlichen Zustände nicht von Dauer sein müssen. 192 Etymologisch entwickelte sich das Wort „orilla“ aus dem Lateinischen ora, ‘Rand’, ‘Grenze’ (vgl. Langenscheidts Großes Schulwörterbuch Lateinisch-Deutsch 1982, 797f.). Im heutigen Spanisch bezeichnet „orilla“: „Término, límite o extremo de la extensión superficial de algunas
160 4. Grenzen und Transgressionen im mexikanischen Roman der Gegenwart
und dem Ufer der metaphorischen Insel Ciudad Juárez beschreiben, sich aber ebenso auf eine innere Grenzerfahrung des Subjekts beziehen. Das zweite Kapitel zeichnet hingegen eine Bewegung nach („Los que se van“). Einige, doch nicht alle Menschen – wie die elliptische Fremdbezeichnung („los que“) suggeriert – verlassen den Ort, an dem sich der Sprecher befindet. Er verbleibt an der „orilla“ oder „isla“, während die anderen fortgehen, vielleicht in einer Art Exodus. 193 Der Roman verfügt über eine besondere Erzählsituation, denn neben Martín wird ein zweiter Ich-Erzähler eingesetzt: Fabio, ein enger Freund Martíns, ist der Ich-Erzähler von neun der insgesamt 34 kurzen, unbetitelten Unterkapitel. Martín und Fabio berichten als Erzähler auch über das Leben des jeweils anderen (vgl. ebd., 36-39, 114-119). Dadurch kann der Leser das Selbstbild des jeweiligen Protagonisten mit dem abgleichen, was der jeweils andere erzählt – er enthält also einerseits zusätzliche Informationen. Andererseits stellt sich aber heraus, dass die beiden nicht immer ehrlich zueinander sind und sich gegenseitig Dinge verschweigen, sie also unzuverlässig sind (vgl. ebd., 64-67). Der Leser weiß vorübergehend mehr als die Figuren, wird sich aber auch des Umstands bewusst, dass er selbst nur selektiv von der Gedankenwelt des jeweiligen Ich-Erzählers erfährt. Hier fehlt ein zwischengeschalteter hetero- und extradiegetischer Erzähler, der einen allumfassenden Überblick ermöglichen würde. Dem Leser ist es also nicht möglich, gänzlich auf die Figuren zuzugreifen; bestimmte Wissenslücken bleiben bis zum Ende der Erzählung bestehen. Dadurch spiegelt die discours-Ebene die Konflikte der Protagonisten wider und bricht ein homogenes Identitätskonzept auf. Die erzählte Welt ist räumlich direkt an der politischen Grenze zwischen den USA und Mexiko situiert (vgl. ebd., 25). Am Beispiel von Martíns Identitätskonflikt werden jedoch vor allem die sozialen Grenzen thematisiert, die nicht unmittelbar sichtbar sind. Zu Beginn der Erzählung berichtet er von seinem Leben, während er sich über mehrere Unterkapitel hinweg in seinem Büro befindet (vgl. ebd., 18-24). Da nicht ersichtlich ist, ob es sich um einen oder mehrere Arbeitstage handelt, erscheinen sie eintönig und immer gleich:
cosas. […] Extremo o remate de una tela […]. Límite de la tierra que la separa del mar, de un lago, de un río, etc. […] Faja de tierra que está más inmediata al agua. […] Senda que en las calles se toma para poder andar por ella […]. Límite, término o fin de algo no material“ (Real Academia Española 2014, 1587). Hier zeigt sich, dass die „orilla“ eine lineare Grenze meinen kann, aber auch einen Landstreifen beschreibt. Dabei bezieht sich der Begriff nicht nur auf den Raum, sondern auch auf Stoffliches und Abstraktes. 193 Die Textstelle verweist implizit auf die biblische Exodus-Erzählung. Die Israeliten werden von der Unterdrückung des Pharaos und aus der Zwangsarbeit befreit (vgl. Oswald 2005). Es gelingt Moses durch Gottes Hilfe, das Meer zu teilen, damit die Israeliten hindurchgehen können (Ex 14,15-29). – Im heutigen Sprachgebrauch beschreibt der „éxodo“ eine emigrierende Menschengruppe: „Emigración de un pueblo o de una muchedumbre“ (Real Academia Española 2014, 991). Die durch den impliziten Bezug auf die Exoduserzählung erzeugte Semantik (Leid, Unterdrückung, Befreiung durch massenhafte Auswanderung) trifft auch auf die Migrationsbewegungen des 21. Jahrhunderts zu. Una isla sin mar greift die Semantik ebenfalls auf, thematisiert aber die auswandernde Mittelschicht Mexikos anhand einzelner Protagonisten, es handelt sich also eher um einen emotionalen Exodus.
4.4 César Silva Márquez: Una isla sin mar (2009) 161 Me rodean los ruidos monótonos de la oficina: el sonido de las páginas de algún documento en el instante en el que es hojeado, plumas que se deslizan y caen al suelo o que son colocadas sobre el escritorio. Pisadas de zapatos altos apresurándose para salir. [...] Trato de hacer mi trabajo pero el sueño me gana. Alguien estornuda. Alguien cuelga el teléfono. Alguien más ríe. Trato de acomodar los papeles. Las actividades pendientes para mañana. No hago nada. No pienso en nada. [...] La hora no importa. [...] En este lugar no existe el tiempo. Las lámparas siempre están encendidas. [...] La temperatura es la misma a cualquier hora del día (ebd., 20f.).
Der Textabschnitt entspricht in seiner Form der von Martín beschriebenen Monotonie: Die semantisch von den Begriffen „monótono“ und „rodear“ evozierte repetitive Zirkularität 194 findet sich syntaktisch in den kurzen Sätzen und häufigen Anaphern („Alguien“, „Trato de“, „No hago“ „No pienso“). Der Ich-Erzähler beschreibt die ihn umgebenden Geräusche und erwähnt dabei zunächst keine Menschen, sondern lediglich Objekte („las páginas de algún documento“, „plumas“, „pisadas de zapatos“). Die Szene wirkt dadurch menschenlos und anonym. Da Martín sehr feine Geräusche wahrnimmt, befindet er sich vermutlich in einem Großraumbüro. 195 Obwohl die individuellen Grenzen im Büro aufgehoben sind, führt das nicht zu einer kollegialen Gemeinschaft. Viel eher bleiben seine Kollegen anonym, wie sich daran zeigt, dass er sie nicht namentlich nennt, sondern als „alguien“ bezeichnet. 196 Sie erscheinen so austauschbar und beliebig wie das gesamte Bürogebäude („este lugar“). Dieser maquiladora-Raum stellt metonymisch den globalisierten NAFTA-Raum dar, in dem die Grenzen zwischen den Mitgliedsländern teilweise, z. B. für die Waren, aufgehoben werden, dies aber nicht ausnahmslos zu einer transnationalen menschlichen Gemeinschaft führt. 197 Denn während sich Papier, Stifte und Schuhe bewegen („es hojeado“, „se deslizan y caen al suelo“, „apresurándose para salir“), ist Martín im Gegensatz dazu träge und müde. Der passive Martín kapituliert vor seiner Müdigkeit („el sueño me gana“), und es gelingt ihm nicht, vorwärts zu denken, denn das Morgen („pendien-
194 Das Verb „rodear“ bildet sich aus dem Substantiv „rueda“ (lat. rota) (vgl. Real Academia Española 2014, 1931). 195 Dieser Raum entsteht, indem man die traditionellen Einzelbüros aufhebt und damit die einzelnen Mitarbeiter nicht mehr voneinander getrennt sind. Das Konzept des Großraumbüros wird in Zeiten der globalen Umgestaltung des Arbeitsplatzes polemisch diskutiert. Beispielsweise liest Patrick Spät (2016) das Großraumbüro, angelehnt an Marc Augés non-lieux, als „seelenlose Nicht-Orte“. Una isla sin mar bewertet das Großraumbüro ähnlich und suggeriert, dass aufgehobene Grenzen nicht immer positiv für die davon betroffenen Menschen seien. 196 Während Martín zu seinen Bürokollegen keinerlei Kontakt hat, sie anonym als „una mujer“ und „un hombre“ bezeichnet (Silva Márquez 2009, 59), tauscht er sich aber am Telefon mit USamerikanischen Kollegen privat aus und nennt sie beim Vornamen („April“, „Steve“ ebd., 26f.). Der Text greift erstens die Debatte um den Unterschied zwischen face-to-face und medialer Kommunikation auf und wendet sich gegen eine medienpessimistische Position. Zweitens wird die Vielschichtigkeit der nicht dichotomisch zu denkenden Debatte um Grenzen und ihre Aufhebung erkennbar, denn während einzelne Aspekte der Globalisierung kritisiert werden, sind andere, wie hier, positiv konnotiert. 197 Vgl. Kapitel 3.1.3 dieser Arbeit zu den wirtschaftlichen und sozialen Konsequenzen des NAFTA-Abkommens.
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tes para mañana“) und folglich die Zukunft werden negiert („No hago nada“), wie das zweimalige „nada“ und viermalige „no“ eindrücklich betonen. Der artifizielle Raum, in dem die Zeit und das Wetter („no existe el tiempo“) belanglos sind („las lámparas siempre están encendidas“), ähnelt einem Gefängnis. Passend dazu setzt Martín sein Leben mit dem der Häftlinge im Film The Shawshank Redemption (1994) gleich, als er sagt, er sei „institucionalizado“ (Silva Márquez 2009, 25), habe sich also an den Trott des Arbeitsalltags gewöhnt. 198 Das deutet, neben den sozialen Einschränkungen im NAFTA-Raum, 199 vor allem auf eine emotionale Gefangenschaft hin: Martín ist mit seinem Alltag zutiefst unzufrieden, schafft es aber nicht auszubrechen. Wie die Protagonisten im erwähnten Film, sehnt er sich nach einem paradiesischen Ort. Während Mexiko und der Pazifik im Film für die US-amerikanischen Protagonisten zunächst auf utopische Art, dann ganz real freiheitsstiftend sind, erfüllen sie diese Funktion weder für Martín noch für die anderen Menschen, die in Mexiko leben. Weitere intertextuelle und -mediale Bezugnahmen dienen dazu, diesen Kontrast zwischen imaginierten Räumen und der Realität auszuführen: Auf paratextueller Ebene ist der Erzählung als Motto ein Ausschnitt aus Jack Kerouacs On the Road (1957) vorangestellt. 200 Der junge Protagonist dieses Beat-Reiseromans fühlt sich innerlich rastlos, sehnt sich danach zu reisen und bricht aus dem Alltag des konventionellen bürgerlichen Lebens aus (vgl. Paes de Barros 2009, 299f.). Er fährt Im US-amerikanischen Film The Shawshank Redemption geht es um die Freundschaft der Gefängnisinsassen Andy und Red. Das fiktive Gefängnis „Shawshank“ ist kein Ort der Gerechtigkeit, denn der korrupte Direktor und die willkürlich gewalttätigen Aufseher nehmen sogar den Tod einzelner Häftlinge in Kauf. Es stellt sich heraus, dass Andy unschuldig hinter Gittern sitzt und keine Chance auf eine neue Verhandlung hat. Als „institutionalized“ wird im Film einer der Gefangenen beschrieben, der nach fünfzigjähriger Haft nicht aus dem Gefängnis entlassen werden möchte, weil er das Leben außerhalb fürchtet und sich an die Gefangenschaft gewöhnt hat. In Freiheit begeht der Mann Selbstmord. – Mexiko ist in diesem Film eine Metapher für die Freiheit: Andy sagt, dass er nach Zihuatanejo reisen werde, der Ort ist also sein ersehntes Ziel. Schließlich bricht Andy aus dem Gefängnis aus, und der später entlassene Red trifft ihn in Zihuatanejo. Vgl. Darabont (1996, 54, 58, 90, 100, 118). 199 Fabio beschreibt, dass Martín anfangs in seinem maquiladora-Job oft geschäftlich verreisen durfte. Dies habe sich nach der Automobilkrise von 2008 jedoch abrupt geändert. Die Vorgesetzten in der maquiladora sind US-Amerikaner, die sich nicht für Martín einsetzen (vgl. Silva Márquez 2009, 115ff.). Der Umschwung von ‚Reise‘ zu ‚Stagnation‘ deutet auf die verhinderte soziale Mobilität hin. Zudem wird kritisch darauf verwiesen, dass die ökonomischen Krisenzeiten vor allem zum Nachteil der mexikanischen Beschäftigten verlaufen, also auch in einem transnationalen Unternehmen die Grenzen zwischen der nationalen Zugehörigkeit gelten. 200 Im Paratext von Una isla sin mar wird aus der spanischen Übersetzung von On the Road zitiert. Dabei werden die Ortsbezeichnungen des Originals herausgestrichen, d. h. man kann den Text über die USA hinaus auch auf Mexiko oder andere Räume übertragen. Der Ich-Erzähler im Zitat betrachtet den Sonnenuntergang. Sein kontemplativer Blick führt zum Gefühl der Einheit mit dem Land, das ihn umgibt („se mete en mi interior toda esa tierra descarnada“) und er gelangt zu einer Erkenntnis („y sé que“): Es herrscht ein allumfassendes Nicht-Wissen über die Zukunft vor, denn gewiss ist allein, dass auf den Tag die Nacht folgt und auf das Leben der Tod („y envuelve la orilla del final, y nadie, nadie sabe lo que le va a pasar a nadie excepto que todos seguirán desamparados y haciéndose viejos…“) (vgl. Kerouac 1972, 291). Una isla sin mar erschafft mit der Kapitelüberschrift „La orilla“ einen Bezug zu Kerouac, wodurch das Wort eine neue Bedeutung erhält, als Schwelle zwischen Leben und Tod. 198
4.4 César Silva Márquez: Una isla sin mar (2009) 163
mit Freunden durch die USA und Mexiko, wobei sie Marginalisierten, dem ‚Anderen‘, begegnen und zeitgleich nach ihrer inneren Bestimmung suchen. 201 Da der Protagonist in Una isla sin mar ebenfalls rastlos und unzufrieden ist, wird impliziert, dass es sich um universale Gefühle handelt, die als gemeinsames Motiv in On the Road, The Shawshank Redemption und Una isla sin mar vorkommen. Angelehnt an diese Werke, fragt der Roman nach sozialer Mobilität, Identität und Lebenssinn. Martín scheint jedoch keine passende Antwort zu finden, da er nicht sicher ist, welcher Ort für ihn der richtige wäre (vgl. Silva Márquez 2009, 25, 34, 60, 78). Die literarischen und filmischen Werke fungieren für Martín zwar einerseits als Identifikations- und Reflexionsraum, 202 andererseits merkt er aber, dass die idealisierenden Bilder aufgrund der sozialen Unterschiede nicht problemlos auf sein Leben übertragbar sind. 203 Die von den Reisenarrativen erzeugten Grenzkonzepte deuten auf die vorherrschenden Selbst- und Fremdbilder hin. Ein intertextueller Bezug auf das Genre der Reiseliteratur weckt zweifellos Assoziationen mit der kolonialen Vergangenheit Mexikos und dem von Europäern konstruierten Bild Amerikas. 204 Doch Una isla sin mar thematisiert mit den intertextuellen Verweisen vor allem die USamerikanischen, medial vermittelten Hetereostereotype Mexikos und verschiebt damit den Fokus vom europäischen Kolonialismus auf das Verhältnis zwischen Auffällig ist, dass Kerouac Mexiko mit einem Vokabular beschreibt, das der orientalistischen Sicht des (konstruierten) ‚Orients‘ entlehnt ist, wie sie Edward Said (2003) analysiert hat. Mexiko wird zum Ort, in dem reichlich Drogen („like Oriental junkies“ Kerouac 1972, 259), Geld und Frauen vorhanden sind, die der Ich-Erzähler sexualisiert darstellt („our lovely girls in this strange Arabian paradise“ ebd., 273). Kerouac führt damit die Tradition des Blicks auf den ‚Anderen‘ fort. Daher ist m.E. die Analyse von Ann Brigham überzeugend: Die Protagonisten treffen den ‚Anderen‘ nur vorübergehend, denn der Protagonist reist immer weiter und kehrt schließlich in das bürgerliche Leben zurück (vgl. Brigham 2015, 66). Die Grenzen zwischen dem Selbst und dem ‚Anderen‘ würden zwar zwischenzeitig aufgehoben, dies geschehe jedoch immer zugunsten des weißen Mannes (vgl. ebd., 65). Sobald der weiße, männliche Protagonist seine Rolle gefunden habe, werden die Grenzen wieder etabliert (vgl. ebd., 60f.). 202 Mitunter identifiziert sich Martín so sehr mit den Geschichten, dass er die Fiktion mit seinem eigenen Leben verbindet: „Cuando yo nací, Andy tendría a lo mucho unos cincuenta y tres años de edad“ (Silva Márquez 2009, 49). Die hypodiegetische Ebene wird mit der intradiegetischen verknüpft. 203 „Si yo pudiera, viviría en California. Viviría en Santa Mónica. […] Santa Mónica, esa playa donde el clima es perfecto, se levantará majestuosa para darme la bienvenida […]. […] ¿De qué viviría? ¿De lavaplatos?, ¿de jardinero?“ (ebd., 89f.). Die verwendete oración condicional potencial und die Interrogativsätze zeigen, dass Martín sich ausmalt, wie es wäre, in Kalifornien zu leben. Die metaphorische Größe Santa Mónicas steht für ihn außer Frage, wie sich am Futur manifestiert („se levantará“). Anhand positiver Begriffe erzeugt er ein beschönigendes Bild des Ortes („perfecto“, „majestuosa“, „bienvenida“). Doch kontrastiv dazu ist sich Martín bewusst, dass er trotz seines Bildungsabschlusses in den USA wahrscheinlich im Niedriglohnsektor als Tellerwäscher oder Gärtner arbeiten würde. Hier wird die soziale Ungleichheit zwischen Mexiko und den USA trotz der teilweise geöffneten Grenzen erkennbar. Gut ausgebildete Immigranten in den USA arbeiten mitunter in Berufen, für die sie überqualifiziert sind (vgl. Hall u.a. 2011, 15f.). 204 Siehe beispielsweise Todorov (1982), der die Eroberung Amerikas anhand der Aufzeichnungen spanischer Eroberer und Missionare nachzeichnet, um die Frage nach dem Bild des ‚Anderen‘ zu erörtern. 201
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den USA und Mexiko. 205 Der Roman stilisiert die USA jedoch nicht einfach zu neuen Kolonisatoren. Sie nehmen zwar wirtschaftspolitisch eine hierarchisch dominante Position ein, zugleich produzieren sie aber kulturelle Bilder, die grenzüberschreitend auch von den Mexikanern in Martíns Generation konsumiert werden, was im Text positiv konnotiert ist. Die diskursive Trennung zwischen dem ‚Eigenen‘ und dem ‚Anderen‘ kann also nicht konsequent aufrechterhalten werden, und es handelt sich um semipermeable Grenzen. Una isla sin mar verknüpft diese Prozesse der privaten und kollektiven Identitätsstiftung in Abgrenzung zum Anderen mit der Frage nach der Sichtbarkeit von Gewalt. Fabio, der erfolglos versucht, sich als Schriftsteller zu etablieren (vgl. Silva Márquez 2009, 103), liest Martín eine selbst verfasste Kurzgeschichte vor. Sie handelt von einem Detektiv, der beobachtet, wie eine Frau verschwindet (vgl. ebd., 30f.). Als er damit beginnt, in diesem Fall zu ermitteln, bemerkt er, dass sich am anderen Ende der Stadt die Ereignisse spiegelbildlich wiederholen (vgl. ebd., 31), die Welt des Detektivs erweist sich also als mise en abyme. Am Ende muss er erkennen, dass er selbst ermordet wird (vgl. ebd., 33). 206 Die Gewalt, die der Detektiv auf der anderen Seite der Stadt vermutet hatte, trifft ihn selbst, sie überschreitet also die imaginären Grenzen. Der Detektiv kann sich nicht länger von ihr abgrenzen, indem er sie an andere, periphere Orte verdrängt. Diese Verdopplung impliziert, dass die Gewalt prinzipiell jeden betreffen kann, und warnt davor, die Gewalt als ein randständiges Phänomen zu erachten. 207 Die Binnengeschichte fokussiert mit dem Frauenmord und der Straflosigkeit des Täters Themen, die extraliterarisch oftmals mit Ciudad Juárez assoziiert werden. 208 Erst nach dieser Kurzgeschichte tauschen sich auch die Figuren innerhalb der diegetischen Welt über Gewalt aus. Der literarische Text regt also dazu an, über diskursiv randständige gesellschaftliche Konflikte und Ängste nachzudenken. Und so erzählt Fabio seinem Freund bei ihrem nächsten Treffen davon, was er eines Nachts bei einer Autofahrt erlebt hat:
In der Forschung wird darauf hingewiesen, dass die US-amerikanische Reiseliteratur seit Beginn des 19. Jahrhunderts den frontier-Mythos gen Süden, auf Lateinamerika als Ganzes und auch spezifisch auf Mexiko richtete. Dabei werde das Bild eines leeren, besitzlosen Territoriums reproduziert, das ausgebeutet werden könne und dessen Bewohner im dualistischen Weltbild als barbarisch gelten, im Gegensatz zu den zivilisierten US-Amerikanern. Caesar zeigt, dass auch die im zwanzigsten Jahrhundert veröffentlichten, an US-amerikanische Touristen gerichteten Texte diese Binarität fortführen (vgl. Caesar 2009, 181, 183). – Vgl. Kapitel 2.1.1 dieser Arbeit zur frontier. 206 Am Ende erhält der Detektiv einen Anruf, bei dem eine Stimme sagt: „Me ha disparado... El detective cuelga el teléfono de golpe, se siente mareado. [...] Esa era mi propia voz, dice“ (Silva Márquez 2009, 33). Auf paradoxe Art werden also die Stimme am anderen Ende der Leitung und der Detektiv eins. Er wird sich bewusst, dass er blutet und erliegt seiner Schusswunde. 207 Zudem ist nicht deutlich, wo die erzählte Welt der Kurzgeschichte situiert ist. Diese Szene könnte sich in jeder beliebigen Stadt Mexikos abspielen. Indem Una isla sin mar die Gewalt also über Ciudad Juárez hinaus denkt, distanziert es sich von den zentralistischen Diskursen, die die Gewalt als alleiniges Phänomen des Nordens darstellen. 208 Vgl. Kapitel 3.2.2 dieser Arbeit. 205
4.4 César Silva Márquez: Una isla sin mar (2009) 165 [R]egresé a mi departamento como a las once de la noche. Acababa de llover y la ciudad estaba vacía. Como siempre, iba manejando a una velocidad moderada. Sobre la Ejército Nacional, yendo al puente Zaragoza, exactamente a la altura donde comienza el despoblado, veo a una mujer haciéndome señas, tomo el carril derecho y disminuyo la velocidad. Cuando me detengo, la muchacha de cabello oscuro y revuelto me dice ‹me tiene que ayudar›, su rostro se ve sucio y sus ojos transmiten desesperación, están desorbitados. ‹Por favor, ayúdeme›, me suplica y voltea hacia los campos oscuros detrás de ella. También yo lo hago pero no veo nada. Las nubes espesas cubren el cielo oscureciendo aún más el horizonte. […] Sin pensarlo, estoy decidido a abrirle a la chica delgada y disminuida por la supuesta angustia que mana de sus gestos. Miro de nuevo los campos húmedos, estudio el rostro de la mujer y algo no me parece correcto, es tan sólo una corazonada, pero para mí es suficiente; vuelvo a colocar la palanca de cambios en marcha y acelero sin decir nada. Oigo cómo me grita: ‹¡Regrese!›, miro por el retrovisor y la distingo haciéndome señas, aspavientos por encima de su cabeza hasta que la noche y la velocidad la desvanecen de mi vista. Fabio se detiene, vuelve a dar un trago largo a su cerveza y busca al mesero. ¿Otra?, me pregunta antes de lograr atraer la atención del joven que nos atiende. Yo asiento con la cabeza. ¿Qué crees que pasó con la mujer?, le pregunto en automático. No tengo idea […]. Los siguientes días leí el periódico esperando algo terrible sobre la muchacha en aquellos campos, pero no descubrí nada. Los revisé por dos semanas y no encontré ni pizca, ni siquiera una notita, algo que me hablara de una mujer maltratada o asesinada. Eso no significa que no ha sucedido. [...] Hay veces que imagino a la muchacha con la ropa desgarrada y un poco de sangre en el costado. Claramente la veo porque estoy seguro de que sangraba, Fabio levanta la mano como si la imagen fuera un holograma y él pudiera señalar exactamente en qué área tenía la sangre la desconocida; cuando imagino eso, me angustia no haberla ayudado. [...] Me platica la historia como si fuera un cuento suyo (ebd., 83-85).
Fabio beschreibt zunächst rückblickend, wie er mit dem Auto durch die Nacht fuhr. Er wechselt jedoch schnell ins Präsens („veo“). Die analeptisch erzählte Begegnung mit der Frau wirkt präsent und es wird ersichtlich, dass sie für Fabio prägend, geradezu traumatisch war, und er sie immer wieder durchlebt. Die häufigen Negationen („nadie“, „nada“, „ni“ „no“, „sin“), verneinenden Präfixe („des-“, „in-“) und solche, die Verlust („dis-“) und Stillstand („de-“) anzeigen, konnotieren den Abschnitt semantisch negativ, verstärkt durch das dominante Wortfeld der Dunkelheit („noche“, „oscuro“, „nubes espesas“, „penumbras“). In diesen Hintergrund fügt sich das Bild der verzweifelt wirkenden Frau ein („desesperación“, „desorbitado“, „angustia“). Sie fleht Fabio um Hilfe an („me suplica“) und siezt ihn dabei („me tiene que ayudar“, „ayúdeme“, „regrese“). Doch Fabio erwidert nichts, geht also keinen Dialog mit der Frau ein („sin decir nada“), die für ihn anonym bleibt („una mujer“, „la chica“). Während er Martín von seinem Erlebnis erzählt, bezeichnet Fabio die Frau häufig verniedlichend als „muchacha“, wodurch sich das Gefälle verstärkt. 209 Fabio schaut die Frau lediglich an. Nachdem er sie am Straßenrand erblickt („veo“), betrachtet er sie genauer („miro“) und mustert sie schließlich kritisch und
Die Bezeichnung als „muchacha“ hebt hervor, dass es sich um eine junge Frau handelt, auf die der Sprecher herabschaut (vgl. Real Academia Española 2014, 1505). 209
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detailliert („estudio“). 210 Der Protagonist interpretiert das, was er sieht („se ve“, „sus ojos transmiten“). Es ist ein hierarchischer Blick, der die Frau unterwirft. 211 Doch Fabio erkennt die Quelle der Gefahr nicht, vor der die Frau flüchtet („no veo nada“). Im Nachhinein behauptet Fabio, er habe der Frau helfen wollen, aber diese Ungewissheit habe ihn zweifeln lassen („algo no me parece correcto“). Die Zweifel und Angst führen dazu, dass er die Frau nicht in sein Auto hineinlässt, sondern stattdessen impulsartig („corazonada“) und affektiv reagiert. Die parallel strukturierten Sätze mit schnell aufeinander folgenden Verben ohne Adjektive („vuelvo [...] acelero [...]. Oigo [...] miro [...] la distingo“) zeigen Fabios fluchtartige Reaktion, der versucht, aus der als gefahrvoll empfundenen Situation zu entkommen, bis die Frau aus seinem Blickfeld verschwindet („hasta que […] la desvanecen de mi vista“). Fabios Verhalten ist typisch für eine Gesellschaft, in der aus Angst um das eigene Leben Solidarität und Hilfsbereitschaft nicht mehr funktionieren. Das wirkt sich problematisch auf den Zusammenhalt der Gesellschaft aus, denn es führt dazu, dass die Menschen vereinzeln. Es fällt auf, dass in der zweiten Hälfte des Textabschnitts das Wortfeld der Gewalt und negativ konnotierte Adjektive dominieren („maltratada“, „asesinada“, „desgarrada“, „sangrar“, „terrible“). Fabio ist also erst rückblickend dazu fähig, die Gewalt als solche zu benennen. Er hat die impulsive Angst hinter sich gelassen und gleicht die eigenen Erlebnisse mit dem gesellschaftlichen Kontext ab. Dabei fällt ihm auf, dass er wahrscheinlich zum Zeugen dessen geworden ist, was er sonst nur aus der Presse kennt („mujer maltratada y asesinada“). 212 Das verweist direkt auf den extraliterarischen Kontext Mexikos. Die genannten Straßennamen („Ejército Nacional“, „puente Zaragoza“) deuten auf einen feminicidio-Fall hin, der sich in just dieser Gegend im Jahre 2001 zutrug und als „Campo Algodonero“ international bekannt wurde. 213 Fabio kritisiert, dass man nicht über alle feminicidios öffentlich berichte: „Eso no significa que no ha sucedido.“ Diese Satzkonstruktion verlangt eigentlich das subjuntivo (haya), um anzuzeigen, dass Fabio nicht genau weiß, was mit der Frau geschehen ist. Mit dem Indikativ gibt er sich jedoch überzeugt, dass sie ermordet wurde. Kontrastiv zu den vielen unaufgeklärten Fällen in Mexiko und den Angehörigen, die meist jahrelang nach ihren desaparecidos suchen, wirken die zwei Wochen, die Fabio recherchiert, jedoch sehr kurz und widersprechen seiner zuvor geäußerten persönlichen Betroffenheit. In diesem Zusammenhang fällt auf, dass die Polizei und Regierungsinstitutionen nicht erwähnt werden. Fabio hat nicht in Betracht gezogen, die Polizei zu benachDas Verb „estudiar“ beschreibt einen forschenden Blick: „examinar atentamente“ (Real Academia Española 2014, 979). 211 Vittoria Borsò konstatiert, dass der Blick auf den ‚Anderen‘ dazu beitrage, ihn zu unterwerfen: „El triunfo del acto de mirar es un proceso de sujeción de lo otro“ (Borsò 2002a, 97). Folglich macht der Blick auszuhandelnde Machtprozesse und das sich konstituierende, zugleich abgrenzende Subjekt nachvollziehbar. Vgl. hierzu das Kapitel 2.1.2 der vorliegenden Arbeit. 212 Es fällt auf, dass der Text nicht die Perspektive des Opfers oder des Täters, sondern die des Zeugen verhandelt und damit die gesellschaftliche Mitte fokussiert. Dies kann den impliziten Leser dazu anregen, sich mit seiner eigenen Rolle als Zeuge zu befassen. 213 Vgl. Kapitel 3.2.2 dieser Arbeit zu „Campo Algodonero“ und feminicidios. 210
4.4 César Silva Márquez: Una isla sin mar (2009) 167
richtigen und auch Martín fragt nicht danach. Die polizeiliche Abwesenheit in der gesamten erzählten Welt deutet darauf hin, dass sie die Opfer von Gewalt vernachlässigt, und die Bevölkerung in Regionen wie Ciudad Juárez ihr nicht traut. 214 Martín vergleicht das, was Fabio ihm erzählt, mit einer fiktionalen Kurzgeschichte („Me platica la historia como si fuera un cuento suyo“). Das impliziert die Frage, was eine Erzählung dazu beitragen kann, Gewalt zu verhandeln. Ein reales Erlebnis fiktional zu erzählen, hat Vor- und Nachteile: Einerseits ist es leichter, über die erlebte Gewalt zu sprechen. Denn Fabio fasst seine Gewalterfahrung rückblickend in Worte und setzt sich narrativ mit der eigenen Schuld auseinander („me angustia no haberla ayudado“). Andererseits ermöglicht es einem die Erzählung jedoch, sich von der realen Gewalt abzugrenzen. Indem man sie lediglich als fiktiv erachtet, hält man sie auf Abstand. So bleibt die reale Frau anonym und ist für den Zuhörer Martín nur noch ein abstraktes Bild („imagen“, „holograma“). Er bleibt emotional distanziert und zeigt keine Gefühlsregungen („en automático“). Denkbar ist, dass Martín sich bereits an Gewalterzählungen gewöhnt hat. Hier warnt der Roman implizit vor ihrer Normalisierung. Als Zuhörer steht Martín innerhalb der erzählten Welt analog zum Leser, der wiederum dazu motiviert werden kann, seine eigene Position zu reflektieren und die fiktiven Gewaltszenen mit dem extraliterarischen Kontext abzugleichen. Der Text regt dazu an, nach den realen Gewalterfahrungen zu fragen, die fiktionalen Erzählungen zugrunde liegen. Doch Martín ist nicht nur der Zuhörer, sondern eigentlich der Ich-Erzähler der Szene. Er unterbricht Fabios Monolog und beschreibt, wie dieser sich noch ein Bier bestellt („Fabio se detiene, vuelve a dar un trago largo a su cerveza y busca al mesero. ¿Otra?“). Als Erzähler leitet Martín die Narration, bewertet aber mit keinem Wort das Verhalten Fabios und kommt auch später nicht darauf zurück. Er reagiert also nicht darauf, dass Fabio ein Geständnis abgelegt hat. 215 Dadurch repräsentiert Martín die gesellschaftlich dominanten Diskurse, die die Erzählungen von Gewalt gegen Frauen als irrelevant erachten und den feminicidios eine marginale Bedeutung zuweisen. In einem späteren Unterkapitel ist Fabio selbst der Ich-Erzähler (vgl. ebd., 103105). Erst dort verrät er dem Leser, dass er am folgenden Abend erneut zu der Stelle gefahren und aus dem Auto gestiegen sei: Entonces lo supe. Lo que allí había era el vacío absoluto. Miré hacia la cortina de árboles, hasta ahí llegaba la ciudad, el mundo se reducía en ese espacio. ‹Esa es la orilla donde comienza el reflejo de todo›, me dije. Era como en mi cuento del detective. Agucé la vista 214 Das so erzeugte Bild weicht radikal vom extraliterarischen Kontext ab: Die Polizei in Ciudad Juárez wird nach der 2006 ausgerufenen guerra contra el narcotráfico stark bewaffnet und ihre Präsenz erhöht, was jedoch nicht zu einem Rückgang der Gewalt führt (vgl. Valenzuela Mendoza und Acosta López 2016, 170f.). 215 Michel Foucault (1976) zeigt, dass die Macht in einer Geständnissituation nicht bei der Person liegt, die spricht, sondern beim jeweiligen Gegenüber (z. B. Psychoanalytiker, Pfarrer, Richter), der die Aussage bewertet, vgl. das Kapitel 2.2.2 der vorliegenden Arbeit. – Martín ist kein institutioneller Akteur, aber ein durchschnittlicher Bürger, wodurch zu erkennen ist, dass jedes einzelne Mitglied der Gesellschaft dazu beiträgt, wie Ereignisse kollektiv bewertet werden.
168 4. Grenzen und Transgressionen im mexikanischen Roman der Gegenwart y ante los pinos percibí una figura que podía ser humana. Temerosamente di un paso atrás y la forma respondió con la misma acción: alejándose. Por la distancia y la oscuridad apenas distinguía lo que veía, levanté mi mano derecha y el espectro imitó mi movimiento, me quedé perplejo, había encontrado el umbral de algo. Me paralizó la idea de que, al igual que yo, el ente aquel también se sorprendiera. De súbito, atrás del personaje que emulaba mis movimientos, surgió otra cosa amorfa y con velocidad se acercó a él, los pulmones se me llenaron de aire, las pupilas se me dilataron, sentí la adrenalina en mi sangre y músculos; corrí a la derecha y mi sosia también escapó de la sustancia informe; llegué al auto pensando que quizá eso mismo haría mi doble y no supe más, subí temblando y aceleré. […] Supe que la mujer ultrajada que había abandonado a mitad de la carretera decía la verdad. Quizá algo había cruzado a este lado y la había engullido. O ella, siendo de la otra orilla, había traspasado a este mundo como si fuera el eco de alguien más. Recordé los cuentos de la rosa amarilla. Ella era una rosa amarilla. [...] Observé el día pasar desde mi ventana, como lo hacía el detective en el cuento. Todos somos detectives. Cada vez que evoco mi narración, entiendo más a los personajes. Unos son la continuación de los que viven al otro extremo de la ciudad, no son complementos, son la encadenación de sus vidas. [...] Lo de la rosa amarilla lo leí en dos relatos, uno de Borges y otro de Cortázar, ambos comparten el mismo título (ebd., 104f.).
Der Protagonist versucht, den Ort zu charakterisieren, an den er gelangt ist. Da ihm jedoch die exakten Worte fehlen, nähert er sich mit teils widersprüchlichen Beschreibungen an („vacio absoluto“ vs. „reflejo de todo“). Der Raum wird anhand von zwei Konzepten charakterisiert, die in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen: Einerseits ist der Raum durch eine Schwelle binär strukturiert („umbral“, „este lado“ vs. „la otra orilla“, „al otro extremo“). Hier erscheint das Motiv des Waldes („cortina de árboles“) als Raum des Anderen, Barbarischen, der sich dichotomisch der Zivilisation entgegenstellt (vgl. Suter 2012, 470f.). Andererseits erwähnt der Ich-Erzähler eine Art Spiegel („reflejo de todo“), der den dreidimensionalen Raum bildlich reflektiert. Fabio bemüht sich um einen genauen Blick („Miré“, „agucé la vista“, „percibí“) und bemerkt zugleich, dass er dennoch nicht alles greifen kann („apenas distinguía lo que veía“). Er sieht eine Figur, die nicht eindeutig als Mensch zu identifizieren ist und dadurch phantasmagorisch erscheint („una figura que podía ser humana“, „la forma“, „el espectro“, „el ente aquel“). Im Sinne von Vittoria Borsò findet der Protagonist hier nicht länger eine Welt der ‚Visibilität‘ vor, die sich seinem Blick fügt, sondern er wird mit einer ‚Visualität‘ konfrontiert, die über seine bisherige Ordnung hinausgeht. 216 Der Prozess, den der Protagonist durchläuft, ähnelt ebenso der von Judith Butler beschriebenen Art, wie die Mehrheitsgesellschaft Gewalt wahrnimmt: Die Menschen, die außerhalb der frames Gewalt In Anlehnung an Merleau-Ponty und Waldenfels unterscheidet Vittoria Borsò zwischen ‚Visibilität‘, den „sichtbaren Dinge[n] nach den Ordnungsregeln der naturalistischen Illusion“ und ‚Visualität‘, einer „Potentialität des Sehens […], wenn das Material dem naturalistischen Blick Grenzen entgegen bringt“ (Borsò 2006, 138). – Demnach beruht die Wahrnehmung der Welt auf diskursiven Zusammenhängen. Wenn die Sinne herausgefordert werden, kann zugleich die Identität des Subjekts an ihre Grenzen gelangen. 216
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erleiden, sind von Innen nur als schemenhafte „figure[s]“ erkennbar (vgl. Butler 2009, 7f.). Erst ein Aufbrechen dieser Rahmen ermögliche es, die Verletzlichkeit des Anderen anzuerkennen und dessen Leben als gleichwertig zu erachten (vgl. ebd., 77). Auf ähnliche Weise verändert sich Fabios Perspektive auf den Anderen: Er erkennt, dass es sich bei dem Unbekannten um seinen Doppelgänger handelt („mi sosia“, „mi doble“). Im sich imitierend bewegenden Gegenüber („imitó mi movimiento“, „emulaba mis movimientos“) identifiziert Fabio eine Spiegelung seiner selbst, die ihm immer mehr gleichkommt, also zunächst ähnlich ist („al igual que yo“, „también“) und dann gänzlich gleicht („eso mismo haría“). 217 Mit Fabios Bild vom ‚Anderen‘ ändert sich auch das Raumkonzept von den binären Differenzen zu einem auf Ähnlichkeit beruhenden Spiegel-Raum. Als Fabio sieht, wie jemand seinen Doppelgänger vermutlich angreift („surgió otra cosa amorfa y con velocidad se acercó a él“), fühlt er sich ebenfalls bedroht („los pulmones se me llenaron de aire, las pupilas se me dilataron, sentí la adrenalina en mi sangre y músculos“). Doch anstatt, wie Butlers ethischer Ansatz es vorsieht, mit dem Anderen in einen solidarischen Austausch zu treten, flieht Fabio („corrí“, „llegué“, „subí“, „aceleré“). Die schnell aufeinanderfolgenden Verben im indefinido betonen, dass er erneut, wie bei seiner plötzlichen Flucht am Vorabend, überstürzt handelt. Fabio überprüft dabei nicht, ob er selbst wirklich angegriffen wird und kann die Gefahr nicht identifizieren („cosa amorfa“). Doch er erkennt durch den Spiegel, dass die Gewalt auch ihn treffen könnte, weil er dem Anderen so sehr ähnelt. 218 Nun erinnert sich Fabio an die Frau, die er am Vorabend an dieser Stelle gesehen hatte. Er hält es für möglich, dass sie aus dem Spiegel hervorgekommen sei wie ein Echo. Hier geht der Text synästhetisch vom Motiv des Blicks zu dem der Stimme über und verweist intertextuell auf die mythische Erzählung von Echo und Narziss. 219 Wiederkehrende Motive dieses im Verlauf der Literatur- und Kunstgeschichte vielfach aufgegriffenen und adaptierten Mythos sind 1. die Tatsache, dass die tragischen Schicksale von Echo und Narziss miteinander verwoben sind, und 217 „Igual“ und „mismo“ unterscheiden sich semantisch, „igual“ bedeutet „Muy parecido o semejante“; „mismo“ hingegen gilt als „idéntico, no otro“ (Real Academia Española 2014, 1212, 1472). 218 Somit repräsentiert Fabio jene Menschen, die fliehen, da sie befürchten, eine willkürlich ausgeübte Gewalt könne sie treffen. Die Medienkritik stellt ähnliche Reaktionen bei Zuschauern fest, die im Fernsehen mit Gewaltbildern konfrontiert werden. Susan Sontag konstatiert, dass erschütternde Bilder die Betrachter nicht zwangsweise dazu anregen, sich gegen die Gewalt zu engagieren, sondern sie viel eher veranlasst, wegzuschauen: „It also invites them to feel that the sufferings […] are too vast, too irrevocable, too epic to be changed“ (Sontag 2003, 70). Vgl. Kapitel 2.1.2 der vorliegenden Arbeit zur Sichtbarkeit von Gewalt bei Sontag, Butler und Borsò. 219 Die Nymphe Echo kann nur die letzten an sie gerichteten Worte wiederholen (vgl. Bell 1991, 173). Da Narziss sie verschmäht, stirbt Echo aus Kummer und wird mit den Steinen der Landschaft eins: „Magerkeit lässt die Haut ihr schrumpfen, der Körpersaft schwindet ganz und gar, nur Stimme und Knochen sind übrig: Die Stimme bleibt; es werden in Steine die Knochen verwandelt“ (Ovid 2017, III, Vers 397-399). Narziss wiederum verliebt sich in sein Spiegelbild. Als seine Versuche, sich mit dem Bild zu vereinen, verzweifelt scheitern, bleibt an seiner Stelle nur noch die Narzisse zurück, „safrangelb in der Mitte, von weißen Blättern umschlossen“ (ebd., III, 510). Vgl. Hunger 1969, 265f. – Hier taucht bereits das Motiv der gelben Blume auf.
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2. der Einsatz von Doppelungen: zum einen tritt Narziss seinem Spiegelbild entgegen, zum anderen steht ihm Echo gegenüber (vgl. Pister 2017, 324f.). Zentrales Thema ist dabei die Konfrontation zwischen ego und alter, also dem Selbst und dem Anderen (vgl. ebd., 326). Diese Aspekte sind für die Interpretation der vorliegenden Textstelle relevant: Ähnlich wie in Mexiko die Opfer der feminicidios oftmals in der Wüste verscharrt werden, wird die von Narziss nicht erhörte Nymphe Echo nach ihrem unglücklichen Tod mit den Steinen der Landschaft eins. Dies kann man als Kritik daran deuten, dass Frauen gesellschaftlich keine eigene Stimme haben, da man ihren Forderungen nach Gleichberechtigung und Schutz vor Gewalt nicht nachkommt. Während der Körper mit der Zeit verschwindet, bleibt die Stimme jedoch bestehen: Das „eco de alguien más“ wiederholt etwas bereits Gesagtes. Es handelt sich also um eine fremde und zerstückelte Sprache, um einen nachträglichen Widerhall dessen, was ein abwesender, anonymer Sprecher gesagt hat. Erst wenn die Gesellschaft über Gewalt spricht, greift sie das Echo der zum Schweigen gebrachten Frauen auf und macht es hörbar. Und doch bleibt die Stimme der vielen Toten, für die jede Hilfe zu spät kommt, ein bloßer Widerhall. Fabio nimmt in diesem Gefüge die Rolle des Narziss ein und durchläuft einen ähnlichen Prozess wie dieser: Zunächst entwirft er seine Persönlichkeit nach einer Idealvorstellung und ist von seinem Selbstbild fasziniert. 220 Hier wird der Narzissmus der patriarchalen Gesellschaft angeprangert, in der die Menschen so sehr mit sich selbst beschäftigt sind, dass sie das Leid der Anderen nicht wahrnehmen. Es dauert bis zu dem Moment, in dem Fabio seine eigene Verletzlichkeit erkennt, dass er bereit ist, die Frau als sein Gegenüber wahrzunehmen, und er die Gewalt als ein gemeinsames Problem versteht, das beide Geschlechter betrifft. Anders als der mythische Narziss, der in dem Moment umkommt, als er seine zum Scheitern verdammte Selbstliebe erkennt (vgl. Pister 2017, 324), stirbt Fabio nicht im Moment der Erkenntnis, und doch zerbricht sein bisheriges Selbstverständnis. Fabio vergleicht das, was er erlebt, mit seiner Detektivgeschichte („Era como en mi cuento del detective“, „como lo hacía el detective en el cuento“). Der fiktionale Text hilft Fabio, die neuen Erlebnisse zu deuten und trägt mehr zu dessen Dieser Blick in den Spiegel, den Jacques Lacan anhand des mythischen Narziss’ erarbeitet, ist ein zentraler Prozess der Identitätsbildung. Vgl. hierzu Lacans Theorie des Imaginären: Das Subjekt entwickele beim Blick in den Spiegel seine eigene Identität, indem es zwischen er- und verkennen pendele (vgl. Pagel 2007, 25). Während es einerseits ein ideales Bild von sich selbst im Spiegel erkenne, sei dieses zugleich das Bild des „Anderen. [...] Das Spiegelbild gibt eine Identität vor, auf das hin sich das Subjekt entwerfen muß“ (Gekle 1996, 56, Hervorhebung i. O.). Dieses Spannungsverhältnis mache das Subjekt ängstlich und aggressiv. Zugleich helfe das erhöhte Bild von sich selbst dabei, die Angst vor dem Tod zu verdecken (vgl. ebd., 56f., 94). Gerda Pagel zufolge ermögliche die Theorie gesellschaftspolitisch „die Wirkungsweisen identitätsverheißender Formationen zu entlarven. Deren Effekt beruht darauf, daß sie dem Subjekt ein Zentrum (Idee, Führer, Objekt) bereitstellen, in dem es sich spiegeln bzw. mit dem es sich identifizieren kann. Durch die Auszeichnung von Geschlossenheit und in Verharmlosung von Widersprüchlichkeiten verheißen sie Sinnstiftung und Kontinuität“ (Pagel 2007, 33). Hier treffen sich die Mikroebene des Subjekts und die Makroebene der gesellschaftlichen Bilder. Das Selbstverständnis ist konstruiert und nicht konfliktfrei. 220
4.4 César Silva Márquez: Una isla sin mar (2009) 171
Verständnis bei, als ein journalistischer Text es könnte. Denn allein die Fiktion macht die paradoxen Doppelungen artikulierbar, die über das hinausgehen, was Fabio bisher in seinem Alltag gesehen hat. Er evoziert die Figur der endlos sich fortsetzenden mise en abyme à l’infini („el eco de alguien más“, „son la continuación“, „son la encadenación“) und setzt schließlich die ihn umgebende Welt mit der Binnengeschichte gleich („Todos somos detectives“). Durch die erste Person Plural bezieht Fabio den impliziten Leser mit ein. So verbindet er Text und Welt und macht die Welt zu einer Spiegelung der Erzähltexte. Damit kehrt er radikal das Konzept einer Literatur um, die die Realität mimetisch abbildet. Da die sich überlappenden Konzepte ‚Original‘ und ‚Spiegelung‘ ununterscheidbar sind, wird die Frage nach dem Ursprung verneint. Mit Rückgriff auf Roland Barthes (1984) kann man sagen, dass Fabio das homogene Bild des Autors hinterfragt. 221 Von seiner eigenen Literatur geht Fabio zu zwei Kurzgeschichten von Julio Cortázar und Jorge Luis Borges über, und sagt fälschlicher Weise, dass sie denselben Titel trügen („comparten el mismo título“). 222 Damit verbindet er die verschiedenen Texte zu einem intertextuellen Netz mit einem gemeinsamen Motiv: Die jeweiligen Protagonisten erblicken eine gelbe Blume und erlangen dadurch eine besondere Erkenntnis, die ihre Perspektive auf das Leben grundlegend verändert. Semantisch ist die Farbe Gelb mit Krankheit und Neid assoziiert, und kann für die Vergänglichkeit stehen (vgl. Meineke 2012, 147). Die gelbe Blume fungiert in den Texten als Metapher des Unsagbaren (Borges), des Nichts (Cortázar), der Zerstörungskraft des Krieges (Roger Waters). 223 Diese Bedeutung schwingt
Wichtig für die Lektüre von Una isla sin mar ist, dass Barthes (1984, 61) das Schreiben mit der Identität verknüpft, die sich auflöse, „où vient se perdre toute identité“. Passenderweise gibt Fabio selbst vor, als Verfasser der Detektivgeschichte seine Figuren nicht gänzlich zu kennen („Cada vez que evoco mi narración, entiendo más a los personajes,“ Silva Márquez 2009, 105). 222 Cortázars Kurzgeschichte „Una flor amarilla“ erscheint im Jahre 1956 (Cortázar 1994a). Ein Mann beschreibt, wie er eine schöne gelbe Blume betrachtete: „[C]omprendí la nada, eso que había creído la paz, el término de la cadena. [N]o habría nunca más una flor para alguien como nosotros“ (ebd., 340). Die Blume, die für das vergängliche Leben steht, ermöglicht dem Mann eine ästhetisches Erlebnis („belleza“, „lindísima flor“), das einmalig, individuell und nie gleich wiederholbar ist. Erst dadurch erkennt er die Bedeutung des endlichen Lebens. – Die ästhetische Erfahrung findet auch in „Una rosa amarilla“ statt, der Kurzgeschichte von Jorge Luis Borges (1996, 43f.). Der Protagonist, der Dichter Giambattista Marino, erblickt eine gelbe Rose und gelangt durch sie zur Erkenntnis. Er wird sich bewusst, dass er mit Worten niemals das ausdrücken kann, was diese Erfahrung beinhaltet: „vio la rosa como Adán pudo verla en el Paraíso, y sintió que ella estaba en su eternidad y no en sus palabras“ (ebd., 44, Hervorhebung i. O.). Der Anblick der Rose enthält das, was nicht einmal die besten Werke der Weltliteratur – Marino, Dante und Homer (vgl. ebd.) – ausdrücken können, die im Vergleich zur ewigen Schönheit der Rose vergänglich sind. Ein Zitat aus Borges’ Kurzgeschichte wird zudem bereits als Motto Una isla sin mar vorangestellt. Das Motiv der Blume ist also omnipräsent, verbindet mehrere diegetische Ebenen und lenkt dadurch die Aufmerksamkeit auf seine mögliche Bedeutung. 223 Fabio erwähnt auch das Bild der „yellow rose“ in der Musik von Roger Waters (vgl. Silva Márquez 2009, 105). Sein Lied „Watching TV“ erscheint auf dem Konzeptalbum Amused to Death (1992), das sich gegen Krieg und die Rolle der Massenmedien ausspricht (vgl. Bargrizan 2017, 26). – In diesem Lied ist die Rose eine tote Frau auf dem Tian’anmen Platz, die das lyrische Ich betrauert und als ein „symbol of our failure“ bezeichnet (vgl. Waters o. J.). Das lyrische 221
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mit, wenn Una isla sin mar die gelbe Rose intertextuell aufgreift. Als Metapher macht sie es möglich, die Gewalt und die Grenzerfahrung des Protagonisten in Worte zu fassen. Dort, wo die rationale Sprache scheitert, gelingt es der Ästhetik der Metapher, die Gewalt zu artikulieren. Indem nun Fabio die Frau am Straßenrand als „rosa amarilla“ bezeichnet, suggeriert er, dass er durch sie zur Erkenntnis gelangt sei („lo supe“, „supe“, „la verdad“). Er realisiert, dass er die Gewalt nicht länger von sich weisen kann, da er wie die Frau jederzeit der Gewalt zum Opfer fallen kann. Für diese These spricht, dass er sich mit dem Detektiv gleichsetzt, der ja am Ende, von der Gewalt eingeholt, selbst stirbt. Fabios Selbstbild zersplittert, während er sich seiner eigenen Verletzlichkeit und Schuld bewusst wird. 224 Ein möglicher Ausweg aus dieser Krise kündigt sich an, als Fabio etwa zeitgleich eine Frau namens Mariana kennenlernt, mit der er die Nacht verbringt und sich sofort in sie verliebt (vgl. Silva Márquez 2009, 70ff.). Er schreibt ihr Briefe, in denen er über die Frau am Straßenrand nachdenkt und den Wunsch äußert, Mariana wiederzusehen. 225 Der Protagonist spricht davon, dass er sich nachts selbst transformiere: Te escribí que al finalizar la transformación, si le pudiéramos llamar así, me desmayé. Así lo creía, pero ahora, meditando lo sucedido, sospecho que es distinto, como si una parte de mí durmiera y alguien más gobernara mi cuerpo. […] [E]n las noches cuando me transformo en mujer algo más sucede. […] [A]hí, entre las sábanas, encontré la evidencia, había una polaroid donde aparecía una mujer. La contemplé. La admiré con horror por varios minutos y escudriñé el fondo. […] Era yo mismo en la fotografía, era ella, la mujer del campo que dejé abandonada, éramos los dos dentro de un solo cuerpo. [...] Cuando sucede [...], unos segundos antes de perder el conocimiento, nuevas sensaciones me invaden, apenas son unos instantes, pero es suficiente para que algo más íntimo suceda: reconozco una palpitación […] entre las piernas [...] y entiendo esa palpitación, es una sumisión controlada, es permitir entrar para constreñirlo ahí adentro y nunca dejarlo escapar, es como llevar un traje de carne nuevo. [...] La mujer que se apareció en mi sueño me dijo ‹ella te espera› y se refería a ella, a la mujer del baldío, pero también se refería a ti. Es lo único que me esperanza a dejar de vivir lo que vivo. Debo verte (ebd., 149f., Hervorhebung i. O.).
Fabio führt Überlegungen weiter, die er in einem vergangenen Brief begonnen hat. Er blickt nun anders auf das, was mit ihm geschieht („pero ahora“ „es distinto“). Dabei ist die Beschreibung nur eingeschränkt zuverlässig („me desmayé“, „sospecho“, „como si“ + subjuntivo, „perder el conocimiento“, „mi sueño“), bleibt teilweise vage („algo más“, „alguien más“) oder wird über Vergleiche entwickelt („es como“). Dies deutet zum einen darauf hin, dass Fabio erneut eine ihm bisher Ich macht sich selbst und die Zuhörer mitverantwortlich für den Tod der jungen Frau. Una isla sin mar impliziert, dass die teilnahmslose Gesellschaft an den feminicidios mitschuldig sei. 224 Die sich als Irrtum erweisende Vorstellung ist der etymologischen Bedeutung des lateinischen vanitas inhärent: „Nichtigkeit, leerer Schein […] Einbildung“ (Langenscheidts Großes Schulwörterbuch Lateinisch-Deutsch 1982, 1189). 225 Drei Abschnitte in Una isla sin mar stellen die Briefe Fabios an Mariana dar (vgl. Silva Márquez 2009, 106-111, 126f., 138-141). Es wird keine Antwort Marianas wiedergegeben.
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unbekannte Situation zu beschreiben versucht. Zum anderen wirkt er aufgrund der Ambivalenzen wie ein unzuverlässiger Erzähler. 226 Indem Fabio sich das Bild genauestens ansieht, bemüht er sich darum, rückblickend das Geschehene zu verstehen („La contemplé. La admiré“, „escudriñé“). Da das Foto den Moment belegt („evidencia“), an den er sich nicht mehr bewusst erinnern kann, nutzt Fabio es als Medium des Gedächtnisses, das das Unbewusste zugänglich und den unaussprechlichen Moment beschreibbar machen soll. 227 Dabei ist auffällig, dass es sich um ein Polaroidfoto handelt. Materialtechnisch ist an diesem sog. Integralfilm besonders, dass das Positiv und Negativ auch nach der Entwicklung zusammenbleiben (vgl. Lawendel 2008, 7f.). So steht das Foto analog zu Fabio, der sich in einem Zustand zwischen männlich und weiblich zu befinden meint. Er gleicht das Bild mit dem ab, an das er sich körperlich erinnert („nuevas sensaciones“), was deutlich sexuell konnotiert ist („íntimo“, „entre las piernas“ „palpitación“). Das fotografische Produkt enthält zudem visuell eine sexualisierte Komponente, da es den abgebildeten Körper dem lustvollen Blick Fabios unterwirft. Syntaktisch sticht ein Satz hervor, in dem Fabio von der ersten Person Singular zur dritten Person Singular wechselt und schließlich beide in der ersten Person Plural vereint: „Era yo […], era ella […] éramos los dos.“ Durch die anaphorische Satzstruktur entsprechen sich Form und Inhalt. Das Eigene („yo“) und der Andere („ella“) vereinen sich also inhaltlich, grammatikalisch und syntaktisch – Fabio verwandelt sich in die Frau vom Straßenrand. Er beschreibt einen sexualisierten, hybriden Akt, der das Innen und Außen, das Männliche und Weibliche vereint, da er gleichzeitig ‚aufnimmt‘ („permitir entrar“, „constreñirlo“) und ‚aufgenommen‘ wird („sumisión“, „llevar un traje de carne nuevo“). Das gleicht der von Georges Bataille beschriebenen gefühlten Verschmelzung von zwei Körpern im Geschlechtsakt, bei dem sich das individuelle Subjekt auflöse („dissolution“, „destruction“) und die Todeserfahrung vorweggenommen werde. 228 Doch der Prozess verläuft nicht nur harmonisch: Während die Vorstellung, in einen anderen Körper zu schlüpfen, auf die sexuell-metaphorische Rückkehr in den Mutterleib anspielt, ist das gewählte Bild des „traje de carne“ zugleich gewalttätig – denn um sich Dafür spricht außerdem, dass Fabio in seinem vorangegangenen Brief schrieb, dass er glaube, verrückt zu werden: „Me estoy volviendo loco“ (ebd., 126). Der implizite Leser muss folglich seinen eigenen Maßstab hinterfragen und bemerkt, dass er dem Text nicht völlig trauen kann, also keine homogene Wahrheit garantiert wird. 227 Aleida Assmann (2010, 157) zufolge wurde die Fotografie nach dem Ersten Weltkrieg metaphorisch mit den Erinnerungsprozessen des Unbewussten assoziiert. Anhand der Entwicklung unterschiedlicher Gedächtnismetaphern folgt Assmann einer parallel verlaufenden „Technikgeschichte und Gedächtnistheorie“ und gelangt zu der These, dass im digitalen Zeitalter vor allem die Netzmetapher greife (ebd., 158). – Doch Fabio versucht anhand eines analogen Mediums, die Situation zu verstehen. Er sucht also nach einem verlässlichen Medium, das den grenzüberschreitenden Moment festhält und beschreibbar macht. 228 In L’Érotisme analysiert Bataille die Verbindung von Tod und Lust. Im sexuellen Akt kommt es zu einer „fusion où se mêlent deux êtres à la fin parvenant ensemble au même point de dissolution. Toute la mise en œuvre érotique a pour principe une destruction de la structure de l’être fermé“ (Bataille 1987, 23). 226
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dessen Haut anzuziehen, muss man den anderen Menschen töten und häuten. An dieser Stelle zeigt sich also, dass Sexualität jederzeit in Gewalt umschlagen kann. 229 Die vorliegende Transformationsszene enthält dominante intertextuelle Bezüge auf den literarischen Topos der Verwandlung. Neben dem bereits aufgezeigten Verweis auf Ovids Metamorphosen, 230 spielt die vorliegende Szene auf Franz Kafkas Verwandlung, spanisch La Transformación, an. 231 Mit dem Rückgriff auf Ovid und Kafka erscheint die Frage nach Geschlechterrollen, Gewalt und Sexualität in der zeitgenössischen Gesellschaft, wie sie Una isla sin mar darstellt, als eine transhistorische Problemstellung, die von der Literatur thematisiert wird. In Kafkas Erzählung fällt der verwandelte Gregor Samsa aus seiner gesellschaftlichen und sozialen Rolle heraus und erfährt keinen familiären Rückhalt (Kafka 2005, 7f., 58f.). Dass Fabio in Una isla sin mar Ähnliches widerfährt, verdeutlicht, wie einschneidend sich traumatische Erlebnisse auf die Persönlichkeit der Menschen auswirken, die daraufhin nicht länger regulär am gesellschaftlichen System teilnehmen können (vgl. Silva Márquez 2009, 138f.). Damit wird zugleich kritisiert, dass die Gesellschaft keinerlei solidarische Auffangmöglichkeiten für solche Situationen bietet. Analog zu Samsa, dessen Verwandlung in ein abjektes Ungeziefer das sozial Marginale sichtbar macht (Schmitz-Emans 2008, 161f.), transformiert sich Fabio, nachdem er mit der sozial marginalisierten Frau zusammentrifft, und sich mit seinen eigenen Schuldgefühlen auseinandersetzen muss. Seine Verwandlung ist also körperlicher, vor allem aber auch physischer Art, wodurch die Metamorphose zu einer Metapher für den mentalen Wandlungsprozess wird, den Fabio durchläuft. Darüber hinaus spielen Fabios Begegnung mit der Frau und die daraufhin einsetzenden Albträume und Transformations-Fantasien auf den Vampirmythos an, der literaturgeschichtlich aufschlussreich ist, da er gesellschaftliche KrisenDiskurse aufgreift. 232 Der Vampir, der aus seinem Grab emporsteigt und dabei die Die Wortfelder ‚Lust‘ und ‚Furcht‘ sind hier vereint, wie auch in „La admiré con horror“. Es fällt auf, dass viele der in diesem Abschnitt verwendeten Termini mit einem Tatort assoziiert werden können: „evidencia“, „horror“, „un solo cuerpo“, „sumisión“, „constreñirlo“, „nunca dejarlo escapar“, „un traje de carne“ (Silva Márquez 2009, 149f.). 230 Für die in diesem Kapitel vollzogene Lesart ist wichtig, dass Monika Schmitz-Emans (2008, 41) innerhalb der heterogenen Rezeptionsgeschichte von Ovids Metamorphosen vor allem die Problematisierung einer sich wandelnden Identität als zentrales Thema erachtet, das in den jeweiligen diskursiven Kontext einzuordnen sei. 231 Der Bezug auf Kafka lässt sich daran belegen, dass Fabio sich nachts in seinem Bett verwandelt, er dies als „transformación“ benennt und das Wort kursiv hervorgehoben wird. Kafkas Protagonist Gregor Samsa verwandelt sich in ein Ungeziefer, was es ihm unmöglich macht, weiterhin an der Gesellschaft zu partizipieren. Die Kommunikation mit seiner Familie misslingt, und sie treibt ihn am Ende in den Tod (vgl. Kafka 2005, 7f., 15f., 58f.). Je mehr Gregor zu einem Tier mutiert, desto schlechter kann er sehen (vgl. Schmitz-Emans 2008, 167). In Una isla sin mar bemüht sich Fabio ebenso um einen klaren Blick und schreibt in einem seiner Briefe, dass er mehrere Tage lang nicht bei der Arbeit gewesen sei (vgl. Silva Márquez 2009, 138f.). 232 Fabio bezieht sich explizit auf Cortázars Kurzgeschichte „El hijo del vampiro“ (vgl. Silva Márquez 2009, 126). Der Vampir Duggu Van verliebt sich in eines seiner Opfer. Anstatt die Frau zu beißen, vergewaltigt er sie und zeugt mit ihr einen Sohn. Die sexualisierte Konnotation des 229
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Linie zwischen dem Friedhof und dem Raum der Lebenden überschreitet, zeugt von einer diskursiven Angst vor einem Grenz- und Kontrollverlust. 233 Dies lässt sich transhistorisch auf die jeweils aktuelle Epoche übertragen, in der die Figur des Vampirs den ‚Anderen‘ verkörpert und Marginales sichtbar macht. Das Ungesagte drängt sich in den Diskurs hinein, wodurch die traumatischen Erfahrungen des Kollektivs präsent bleiben bzw. immer wieder zurückkehren. Indem der literarische Text dies aufgreift, macht er das kollektiv Verdrängte sichtbar. Die Frau sucht Fabio wie ein Vampir in seinen Erinnerungen und Träumen heim, drängt sich also vom Grenzraum (Straße am Stadtrand) ins Zentrum (Schlafzimmer). Sie wehrt sich dagegen, vergessen zu werden und sucht einen Platz in der Erinnerung. Diese Erinnerung nimmt als Traum eine besondere Form an, denn psychoanalytisch betrachtet stellt der Traum das Verdrängte dar, das ins Bewusstsein dringt (vgl. Frey 2012, 451; Deserno 2006, 108). Die verlassene Frau in Una isla sin mar repräsentiert die ermordeten und verschwundenen Frauen, die in Ciudad Juárez und ganz Mexiko den feminicidios zum Opfer fielen, die größtenteils noch nicht aufgeklärt wurden. 234 Fabio wiederum erlebt am eigenen Körper, dass die Grenzen zwischen ‚Gut‘ und ‚Böse‘ nicht eindeutig zu ziehen sind. Er erkennt das Böse in sich selbst, da er der Frau in Not nicht geholfen hat („la mujer del campo que dejé abandonada“). Hier verwendet er die erste Person Singular, sieht sich also selbst als einen Akteur der Szene, nicht nur als teilnahmslosen Zuschauer. Zeugenschaft und Mittäterschaft überlagern sich. Fabio bemerkt, dass er das Böse nicht von sich weisen kann – der öffentliche und der private Raum gehen ineinander über – und er damit moralisch dem Rest der Gesellschaft nicht überlegen ist. mythischen Vampirbisses wird also explizit sichtbar gemacht. Während der Schwangerschaft saugt das Baby die Mutter von innen aus und übernimmt am Ende ihren Körper (Cortázar 1994b, 33, 35). Der intertextuelle Einbezug von Cortázars Kurzgeschichte zeigt, dass sich in der Figur des Vampirs Gewalt und Sexualität verbinden. Dabei wird eine männliche Gewalt gegen Frauen evoziert und die transgenerationale Weitergabe von Gewalt fokussiert – so klagt die schwangere Mutter: „Es como su padre“ (ebd., 34). Es entsteht eine Zirkularität, bei der Gewalt stets neue Gewalt erzeugt und das neue Leben bereits seine Unschuld verloren hat. 233 Der Vampir als der ‚Andere‘ verkörpere „our current anxieties about the dissolution of boundaries. […] [T]he vampire reflects such border anxieties, since it penetrates boundaries by its very nature – between life and death, between love and fear, between power and persecution“ (Gordon und Hollinger 1997, 7). – Die Beziehung zwischen dem Vampir und der Gedächtniskultur ist dabei entscheidend. Mit dem Vampir werde das individuell und gesellschaftlich Verdrängte sichtbar, denn „[h]umans need the figure of the vampire to contain all the parts of themselves that they cannot, or will not, accept or recognize“ (Bacon und Bronk 2014, 3). Der Vampir kann variable Formen annehmen. Für die vorliegende Arbeit ist dabei wichtig, dass Erzählungen anhand der Figur des Vampirs „minority discourse and/or traumatic experience“ verhandelbar machen, ein weiblicher Vampir verkörpert dabei „sexual difference in the face of patriarchal normativity“ (ebd., 7, 13). 234 Einige Jahre später lässt der mexikanische Dichter Luis Felipe Fabre in Poemas de terror y de misterio die aktuellen Gewaltopfer in Mexiko in Form verschiedener untoter Figuren zurückkehren. Dabei werden die verschwundenen Frauen zu rachedurstigen Vampiren: „son las mujeres vampiro | que del crimen, la muerte y el olvido han vuelto, sedientas | de sangre y de venganza“ (Fabre 2013, 14).
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Die Angst und Schuldgefühle, die Fabio empfindet, als er an die verlassene Frau denkt, vermischen sich jedoch mit der Lust, die Mariana in ihm erregt („se refería a ella, a la mujer del baldío, pero también se refería a ti“). Fabio löst das Andere, sichtbar in der dritten Person („ella“), mit der zweiten Person („tú“) ab, das als ein gleichwertiges Gegenüber identifiziert wird, mit dem sich das Ich austauscht – die Frauen lassen sich scheinbar problemlos auswechseln. Der Protagonist meint, mithilfe Marianas sein quälendes schlechtes Gewissen überwinden zu können („dejar de vivir lo que vivo. Debo verte“). Mariana verkörpert für Fabio also eine Hoffnung darauf, erlöst zu werden („esperanzar“). 235 Durch die ansonsten spärlichen Informationen wirkt Mariana als Figur schattenhaft, stereotyp und nicht autonom. 236 Als Fabio schließlich zu ihr reist, verschwindet er als Erzähler und aktive Figur, und bleibt nur noch sekundär über Martíns Berichte präsent (vgl. Silva Márquez 2009, 153). Dieser sagt, dass Fabio sich in seinem mit Mariana neu begonnenen Leben nicht länger in eine Frau verwandelt habe (vgl. ebd., 159f.). Fabio versucht mit seinem privaten Glück das erlebte gesellschaftliche Unglück zu verdrängen: Da er vor dem Schuldgefühl flieht und seine Angst mit der von Mariana verkörperten Lust ersetzt, kann Fabio an ihrer Seite seine eigene Männlichkeit wieder konsolidieren. Der Kontakt mit dem Anderen hat also nur kurzzeitig zu einer Identitätskrise und einem Grenzverlust geführt. Die Grenzen sind wieder etabliert und die Identität ist gefestigt. Dennoch benötigt Fabio Mariana als Gegenpart, kann also seine eigene Position nur im Austausch mit dem Gegenüber entwickeln. Anhand von Fabios Erlebnissen verhandelt Una isla sin mar das Spannungsverhältnis, das auf Gender-Ebene zwischen einer Trennung der binär gedachten Geschlechter und einer vermeintlichen Grenzverwischung besteht. Die Frau erscheint hier als das ‚Andere‘ in einer männlich dominierten Ordnung. Beispielsweise fällt bei der Figurencharakterisierung auf, dass die weiblichen Figuren zwar mitunter emanzipiert sind und dem Bild der modernen Frau entsprechen, doch die meisten Namen etymologisch ein stereotypes Frauenbild reproduzieren. 237 Darüber hinaus beurteilen die beiden männlichen Ich-Erzähler die Frauen häufig Hier findet sich eine intertextuelle Anlehnung an die Rolle der weiblichen Figur in José Zorrillas Bearbeitung des Don-Juan-Mythos. Anders als in Tirso de Molinas El burlador de Sevilla, erkennt Zorrillas Don Juan im Angesicht des Todes seine Sünden (vgl. Zorrilla 2007, 217). Dabei ermöglicht es die aufopfernde Liebe der Doña Inés, dass ihm die Sünden vergeben werden und beide ins Himmelreich emporsteigen (vgl. Peña 2007, 41). 236 An Mariana ist auffällig, dass sie die Namen der Ex-Freundinnen von Martín und Fabio vereint („María“ und „Ana“) und eine gutmütige, religiöse Mutterfigur symbolisiert: Die heilige María gilt als die Mutter Jesu (vgl. Petersen 2011). Die heilige Anna wird in apokryphen Texten als Mutter der Maria bezeichnet und in Kunst und Literatur verehrt (vgl. Hentschel 2003). 237 Nahezu alle erwähnten Frauennamen enden auf „-a“ und entsprechen semantisch einem stereotypen Bild von Weiblichkeit: Besonders deutlich zeigt sich dies an den Namen „Perla“, „Angélica“ und „Bianca“. Der Name „Yolanda“ stammt ursprünglich aus dem Griechischen ‚Veilchen‘ (vgl. Kohlheim und Kohlheim 2012, 234). Es werden auch Namen mythologischen Ursprungs verwendet, z. B. „Idalia,“ ein Beiname der Aphrodite; oder „Delia,“ ein Beiname der Artemis (vgl. Bell 1991, 53, 71). Die Mutter Martíns wiederum heißt „Concepción“ und wird dadurch auf die mütterliche Empfängnis reduziert (vgl. Real Academia Española 2014, 592). 235
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nach ihrem Äußeren, nehmen sie als Sexualobjekte wahr (vgl. z. B. ebd., 99) und repräsentieren damit eine patriarchale, phallozentrische 238 Normalität. Daran ist zu erkennen, dass beide Protagonisten ambivalent sind. Das macht sie einerseits glaubwürdig, und die impliziten Leser, die ihr Weltbild teilen, können sich mit ihnen identifizieren. Andererseits offenbart sich eine ungehindert fortbestehende, normalisierte Gewalt, die den Alltag und die zwischenmenschlichen Beziehungen prägt. 239 Dabei sind nicht nur Frauen von der Gewalt betroffen. Dies zeigt sich, als Martín eine Kneipe besucht, in der er eigentlich ein Hausverbot hat, da er sich an einer Schlägerei beteiligt hatte (vgl. ebd., 52). Das vom Kellner widerwillig servierte Bier trinkt der Protagonist gelassen aus und fragt dann nach einer Serviette: Mejor tómate lo que te queda, me dice prepotente. No estoy bromeando, le arrojo las palabras, dame una servilleta. El cantinero al escuchar mi tono da un paso hacia atrás. Entiende que no debe pasarse de la raya. (ebd., 55)
Bereits das Wort „servilleta“ bezieht sich etymologisch auf das Verhältnis zwischen Diener und Herrscher. 240 In den modernen Kontext versetzt, macht es auf die Machtrelationen aufmerksam, die sich in die Sprache eingeschrieben haben und heutzutage nicht mehr ohne Weiteres also solche zu erkennen sind. Die weiche Serviette, die man verwendet, um etwas zu säubern, kontrastiert semantisch mit der sich zuspitzenden Szene zwischen den beiden Männern. 241 Der Kellner
Dies zeigt sich bereits inhaltlich daran, dass Martín und Fabio häufig ihren Penis und Erektionen thematisieren: „erección“ (Silva Márquez 2009, 41, 58, 109, 156), „pene abultado“ (ebd., 68), „Mi pene, erguido“ (ebd., 102). 239 Der Text suggeriert, dass auch Frauen sich an der Normalisierung sexualisierter Gewalt beteiligen. Perla erzählt, wie sie einst mit ihrer Mutter im Busbahnhof von Mexiko-Stadt überfallen wurde: „A pesar de que llorábamos, nadie nos ayudó. Con permiso, nos decían las mujeres que pasaban a un lado de nosotras“ (ebd., 43). Die anderen Reisenden mischen sich nicht ein und bieten auch nachträglich keine Hilfe an. Während sie zwar oberflächlich höflich sind, verhalten sie sich aber nicht solidarisch oder empathisch, sondern versuchen, vor dem sichtbaren Leid der Anderen zu fliehen. Diese Szene zeichnet ein pessimistisches Bild der mexikanischen Gesellschaft als Ort ohne zivilen Zusammenhalt, in dem die Gewalt gegen Frauen normalisiert wird. Da die Gewalt nicht in Ciudad Juárez, sondern in Mexiko-Stadt ausbricht, widerlegt der Text die zentralistischen Diskurse, die die Gewalt als ein nur den Norden betreffendes Phänomen darstellen. 240 Das Wort entwickelte sich aus dem französischen serviette (vgl. Real Academia Española 2014, 2002). Dies geht wiederum auf das lateinische Verb servire zurück: „‚être esclave, vivre dans la servitude‘, au fig. ‚être sous la dépendance de‘, ‚se mettre au service de, être dévoué à‘“ (Trésor de la Langue Française informatisé 1994). Auffällig ist dabei, dass das Verb sich auf untergeordnete Sklaven und Bedienstete bezieht. An der Serviette ist außerdem wichtig, dass der Ausdruck „donner la serviette“ im Ancien Régime das Privileg des Bediensteten beschreibt, dem König nach dessen Mahlzeit die Serviette zu reichen (vgl. Trésor de la Langue Française informatisé 1994). Martín beansprucht also symbolisch die hierarchische Position eines Herrschers, als er sagt „Dame una servilleta“ (Silva Márquez 2009, 55). 241 Martíns Name ist St. Martin nachempfunden, der der Sage nach mit einem Bettler seinen Mantel teilt (vgl. Lechner 2003). Der Protagonist verhält sich in dieser Szene konträr zu seinem Namensgeber – anstatt den Mantel zu teilen, kämpft er um die Serviette. Es entsteht das Bild 238
178 4. Grenzen und Transgressionen im mexikanischen Roman der Gegenwart
verweigert Martín die Serviette, da er meint, ihm bereits zu viel eingeräumt zu haben. Seine Entschlossenheit, die der Imperativ ausdrückt („tómate“), bewertet Martín jedoch negativ („prepotente“), so als fühle er sich gekränkt. Während Martín erzählt, lässt er unerwähnt, dass er eigentlich nicht einmal ein Bier hätte beanspruchen dürfen. Er dreht also das hierarchische Gefüge um, indem er den Kellner als unverschämt bezeichnet. Anfangs bat Martín noch um die Serviette, nun äußert er hingegen einen Befehl („dame“), seine Sprache wird also gewalttätig. Das Verb „arrojar“ setzt die abstrakten Worte („palabras“) mit Gegenständen gleich, die Martín direkt auf den Kellner wirft („le arrojo las palabras“). Sprachliche und körperliche Gewalt hängen eng zusammen, denn Martín suggeriert, dass er auch vor körperlicher Gewalt nicht zurückschrecken würde. Seine verbalen Drohgebärden haben die Welt direkt beeinflusst und erreicht, dass der Kellner stumm zurückweicht („da un paso hacia atrás“). Erneut bewertet der Protagonist die Situation aus seiner eigenen Perspektive und impliziert, dass der Kellner endlich die Verhaltensregeln verstanden habe („Entiende que“, „no debe“). Martín dominiert den Raum und bestimmt, wo die metaphorische Linie verläuft, die der Kellner nicht überschreiten darf („pasarse de la raya“). Das Beispiel von Martín macht deutlich, dass Gewalt in Mexiko alltäglich und in der Mitte der Gesellschaft stattfindet. Die Menschen, die sich wie Martín gewalttätig verhalten, definieren die Räume, und ihre Grenzüberschreitungen werden nicht konsequent geahndet. Es zeigt sich, wie schnell die diskursive Verschiebung dazu führt, dass die Stärkeren in der dominanten Position bleiben und das rechtfertigen. Damit ist die Interaktion der beiden Männer ein negatives pars pro toto der mexikanischen Gesellschaft. Während die Gewalt in der erzählten Welt alltäglich ist, scheint der Tod hingegen einen marginalen Platz einzunehmen: Als Martín sich verpflichtet fühlt, der Beerdigung des Vaters eines alten Schulfreundes beizuwohnen, betritt er erstmals seit langem einen Friedhof und fühlt sich mit der Situation überfordert (ebd., 144). Er repräsentiert jene Mitglieder der Gesellschaft, die versuchen, den Tod der anderen aus dem Blickfeld der Gesellschaft auf den Friedhof zu verbannen. 242 Als Martín sich von der Trauergemeinde entfernt, bemerkt er jedoch plötzlich das Grab seines Jugendschwarms Luisa, die während der gemeinsamen Schulzeit bei einem Unfall gestorben war (vgl. ebd., 145f.). Martín bleibt vor dem Grab stehen, erinnert sich an Luisa und ihre Todesumstände. A Luisa la siento más viva o más muerta que nunca, que para el caso es lo mismo y, así de pronto, una lágrima me corre por el rostro [...]. Luisa, la muchacha de ojos verdes, nunca se fue de Juárez. Lo difícil es pensar que ahora descansa bajo mis pies pudriéndose en las entrañas de esta ciudad. [...] Yo sí me iré de Juárez, le digo a la piedra que tengo enfrente (ebd., 147). eines nicht auf Solidarität und Nächstenliebe, sondern auf Egoismus beruhenden Zusammenlebens, bei dem sich der Stärkere durchsetzt. 242 Michel Foucault beschreibt den Friedhof als eine Heterotopie. Als innergesellschaftlicher Grenzraum trennt der Friedhof den Raum der Toten von jenem der Lebenden. Vgl. Kapitel 2.1.2 der vorliegenden Arbeit sowie Foucault (2005).
4.4 César Silva Márquez: Una isla sin mar (2009) 179
Vor Luisas Grab zu stehen, löst im Protagonisten starke Gefühle aus („siento“, „más [...] que nunca“), die dazu führen, dass er ungewollt zu weinen beginnt („así de pronto, una lágrima me corre por el rostro“). Die hier beschriebene, einzelne Träne verleiht der Szene einen pathetischen Ton, ebenso wie die Charakterisierung Luisas als „muchacha de ojos verdes.“ Es entsteht das Bild eines unschuldigen, jungen Mädchens, deren grüne Augen ausgerechnet in der Farbe erstrahlen, die das fruchtbare Leben und die Hoffnung symbolisiert (vgl. Ajouri 2012b, 168). Martín beschreibt ihren Tod zunächst euphemistisch („descansa“), dann fokussiert er jedoch den Boden („bajo mis pies“) und bricht mit dem Pathos („pudriéndose en las entrañas de esta ciudad“). Das zuvor entwickelte Bild des jungen Mädchens wandelt sich zu einem verwesenden Leichnam, der im tiefen Inneren des Erdbodens liegt. Dabei wird die Stadt zu einem Körper personifiziert, deren Eingeweide die Toten wie zu verdauende Nahrung zersetzen. Semantisch entsteht ein Ekelgefühl. Damit kehrt sich der Text vom christlichen, positiven Narrativ der in den Himmel emporgestiegenen Seele sowie des ewigen Lebens ab. Anders als in der vorherigen Szene, setzt sich Martín nun aktiv mit der Vergangenheit und dem Tod auseinander. Er denkt an Luisa und spürt den Verlust, den er als Jugendlicher empfunden, aber inzwischen vergessen hat („la siento más viva o más muerta que nunca“). Dabei ist er sich aber bewusst, dass er ihren Tod nicht rückgängig machen kann, indem er sich an sie erinnert („es lo mismo“). Tatsächlich jedoch spricht er gar mit dem Grabstein („le digo a la piedra“), und macht ihn zu seinem Gegenüber („enfrente“). Martín stellt sein Leben dem Luisas gegenüber („nunca se fue de Juárez“ vs. „Yo sí me iré de Juárez“), und ist sich plötzlich sicher, dass er Juárez verlassen wird, wie sich am Futur und am verstärkenden „sí“ zeigt. Er erkennt nun, dass er freier ist als Luisa, deren Körper unwiderruflich in Ciudad Juárez begraben liegt. Der Moment, in dem er mit Luisas Grab konfrontiert wird, scheint für den Protagonisten einen Wendepunkt zu markieren. Kurze Zeit später entscheidet er sich schließlich, seiner guten Freundin Yolanda, die nach Mazatlán gezogen ist, zu folgen (vgl. Silva Márquez 2009, 158f.). Er kauft ein lediglich für den Hinflug gültiges Ticket und macht sich für die Abreise bereit (vgl. ebd., 162). Doch als er am Morgen des Flugtages erwacht, ist sein Ticket zerrissen und Martín muss sich im Reisebüro ein neues besorgen (vgl. ebd., 163f.). A la mañana siguiente el billete amaneció roto. Desde entonces espero al hombre de blanco a que reaparezca en mis sueños, estoy seguro de que algo más tendrá que decirme. Mientras sucede, después del trabajo, visito la tumba de Luisa, le llevo unas flores o trato de limpiar el polvo que se le acumula. Nunca me he topado con alguien, pero la misma tarjeta o al menos una similar a la que vi la primera vez, sigue sonando con aquella música gastada. ‹FELIZ CUMPLEAÑOS›, tiene escrito en grandes letras de molde (ebd., 164, Hervorhebung i. O.).
Die Szene mit dem zerstörten Ticket wiederholt sich. Auffällig ist, dass das Flugticket personifiziert wird („el billete amaneció roto“). Martín verschweigt dadurch, dass er selbst rational betrachtet das Ticket nachts zerrissen haben muss. Indem er
180 4. Grenzen und Transgressionen im mexikanischen Roman der Gegenwart
die Situation als unerklärlich darstellt, entzieht sich Martín der Verantwortung. Stattdessen versteht er es als ein Zeichen, das ihm nur der zuvor in Albträumen erschienene Mann deuten könne („algo más tendrá que decirme“). 243 Der Protagonist ordnet also die Realität der Traumwelt unter. Auch wenn Martín, anders als Fabio, räumlich in Juárez bleibt, ähneln sich beide darin, dass sie vor Konflikten fliehen. Denn anstatt sich einzugestehen, dass er in Juárez bleiben möchte, kauft Martín immer wieder neue Tickets und belügt Yolanda. 244 Er könnte jederzeit Juárez verlassen, entscheidet sich aber jeden Tag aufs Neue dafür, zu bleiben. Potenziell erscheint die Reise also konstant möglich, Martín realisiert sie aber nie. Der Protagonist nimmt eine Zwischenposition ein, die ihm dazu verhilft, sich frei zu fühlen. 245 Somit pendelt er zwischen dem unbeweglichen Grenzraum Juárez und der grenzüberschreitenden Reise, und verbindet beide zu einem offenen Ende, bei dem er die Macht über sich selbst behält. Der Roman beantwortet die Frage nicht endgültig, ob Martín Juárez verlassen wird, und bleibt damit ambivalent. Der Ich-Erzähler wechselt ins Präsens, als er die neue Routine beschreibt, der er nachgeht („Desde entonces espero“, „Mientras sucede“). Mit dem „espero“ beschreibt Martín einen Zustand des ‚Wartens‘ und ‚Hoffens‘, der zwar statisch erscheint, aber eine positive Aussicht impliziert (vgl. Real Academia Española 2014, 949). Dabei ist unklar, wie lange er seinen Alltag bereits auf diese Weise strukturiert. Anstatt wie zuvor den Friedhof zu meiden, sucht Martín diesen außerhalb liegenden Ort regelmäßig auf und überschreitet die Grenze zwischen dem Raum der Lebenden und dem Raum der Toten. Auch semantisch werden die Wortfelder ‚Tod‘ und ‚Leben‘ einander gegenübergestellt: Der Friedhof als Raum des Todes kontrastiert mit der Geburtstags-Grußkarte und dem positiv konnotierten „Feliz Cumpleaños.“ Dabei stehen die auf der Karte eingeprägten Buchstaben, „letras de molde“, parallel zur Grabinschrift. Statt Trauermusik, ist eine Geburtstags-Melodie zu hören, die jedoch abgenutzt und leise klingt, also für die Geburtstage steht, die Luisa nicht feiern konnte. Das Leben ist begrenzt, wie das dominante Wortfeld der Vergänglichkeit unterstreicht („roto“, „tumba“, „flores“, „polvo“, „gastada“). Da der Protagonist ganz allein ist („Nunca me he topado con alguien“), zeugt der Friedhof von einer Gesellschaft, die ihrer Toten nicht gedenkt. Dieses Bild kontrastiert mit den gut besuchten Friedhöfen während des mexikanischen día de los muertos und widerlegt die stereotype These, wie sie beispielsweise Octavio Paz in El laberinto de la soledad äußerte, dass Mexiko eine besonders enge Be-
243 Am Anfang der Erzählung litt Martín unter wiederkehrenden Albträumen, in denen ihn ein alter Mann aufforderte, Juárez zu verlassen (vgl. Silva Márquez 2009, 28, 34). Diese Träume verweisen auf die innere Zerrissenheit des Protagonisten. Da sie nun nachgelassen haben, wird suggeriert, dass Martín seine unbewussten Konflikte gelöst hat. 244 „Ese día que Yolanda me llamó, le mentí; cuando hablamos por teléfono, le dije que iría a encontrarme con ella al terminar un trabajo pendiente […]“ (ebd., 164). 245 Das ‛Dazwischen’ findet sich im Wort „Mientras“, das sich etymologisch aus dem Lateinischen dum interim herausbildete (vgl. Real Academia Española 2014, 1461).
4.5 Luis Humberto Crosthwaite: Tijuana: Crimen y olvido (2010) 181
ziehung zum Tod pflege. 246 Dass Martín Luisa jedoch Blumen bringt, ähnelt dem mexikanischen Brauch, am día de los muertos die Friedhöfe und Hausaltare mit den orangegelben Cempasúchil-Blumen zu schmücken (vgl. Redacción Excélsior 2017). Der Legende nach orientieren sich die Verstorbenen auf dem Weg zurück zu den Lebenden an den Blumen, in diesem Fall scheint sich aber vor allem Martín an dem neuen Ritual zu orientieren. Das an dieser Stelle erneut erscheinende Leitmotiv der gelben Blume zeigt, dass der Protagonist in der Konfrontation mit dem Tod in Gestalt von Luisa zu einer Erkenntnis gelangt ist. Denn die Erinnerung an Luisa hat Auswirkungen auf Martíns Identität: Er geht weiterhin einem geregelten Berufsalltag nach („después del trabajo“) und ist nicht mehr so träge wie anfangs. Martín fühlt sich durch Luisa an Ciudad Juárez gebunden („sujetado“, Silva Márquez 2009, 162). Er pflegt das Grab („trato de limpiar“) 247 und verleiht damit seinem Leben einen neuen Sinn, scheint also seinen Identitätskonflikt beigelegt zu haben. Die gedächtnistheoretische Forschung hat gezeigt, dass sich kollektive Erinnerungsprozesse den Bedürfnissen der Gegenwart entsprechend entwickeln (vgl. Assmann 1988, 10). Sie tragen dazu bei, die Identität des Kollektivs oder des Individuums zu formen. Martín findet seine eigene Identität, indem er sich an Luisa erinnert und sich auf die gemeinsame Vergangenheit beruft – die Erinnerung verändert nicht die tote Luisa, wohl aber Martín. Und so wie die individuelle Erinnerung an die Toten dem Protagonisten dazu verhilft, das eigene Leben wertzuschätzen, könnte im kollektiven Gedenken an die Toten ein möglicher Ausweg aus der gesellschaftlichen Krise zu finden sein.
4.5
Luis Humberto Crosthwaite: Tijuana: Crimen y olvido (2010)
In dem 2010 von Luis Humberto Crosthwaite 248 veröffentlichten Roman Tijuana: Crimen y olvido nimmt der Paratext eine entscheidende Rolle ein, da die Erzäh246 Paz’ These, dass der kollektive Umgang mit dem Tod aufschlussreich sein könne, um eine Gesellschaft zu verstehen, ist durchaus bedenkenswert (vgl. Paz 1999, 59). Allerdings ist seine eigene Analyse höchst problematisch, da sie essenzialisierend den Mexikanern ein UrSchuldgefühl attestiert und den angeblichen besonderen Hang Mexikos zum Feiern sowie eine Gleichgültigkeit dem Tode gegenüber als Ausdruck einer bis in die Kolonialzeit reichenden „soledad“ und „orfandad“ sieht (ebd., 70). Der Text von Paz und die internationale Bekanntheit des día de los muertos tragen zu einer stereotypen Sicht auf Mexiko bei, bei der die historischen Prozesse des Synkretismus meist nur verkürzt berücksichtigt werden. 247 Nach Jahren, in denen er nicht über Luisa nachgedacht oder sich mit ihrer Familie ausgetauscht hatte, entscheidet sich Martín nun dafür, der lebende Partner Luisas zu sein. Dabei bleibt Martín in der dominanten Position, da er sich Luisa zu eigen macht, indem er die Erinnerung an sie übernimmt. Die Tote hat in dieser Konstellation keine Wahl und keine eigene Stimme. So enthält diese Textstelle zugleich eine implizite Kritik an der Instrumentalisierung der Vergangenheit durch die Erinnerungspolitik. 248 Im Werk Luis Humberto Crosthwaites (*1962, Tijuana) ist die frontera norte als kultureller und sprachlicher Raum der erzählten Welt sehr präsent. Zu erwähnen sind dabei vor allem die gesammelten Kurzgeschichten Estrella de la calle sexta (2000) und Instrucciones para cruzar la
182 4. Grenzen und Transgressionen im mexikanischen Roman der Gegenwart
lung erst auf S. 21 mit dem ersten Kapitel beginnt. Der Leser wird also noch bevor er seine Lektüre initiiert durch die paratextuell evozierten Eindrücke geprägt: Der Titel lässt vermuten, dass die erzählte Welt in Tijuana, an einem real existierenden Ort situiert ist. Zugleich dominiert eine negative Semantik, beeinflusst von den Bildern, die mit der an der frontera norte liegenden Stadt verknüpft sind. 249 Die negative Konnotation verstärkt sich dadurch, dass der Doppelpunkt impliziert, Tijuana sei der Schauplatz von „Crimen y olvido“. 250 Zunächst könnte sich der Terminus „crimen“ auf die Mord- und Entführungsfälle in der erzählten Welt beziehen, er verweist aber gleichermaßen auf alle anderen Verbrechen, die in Tijuana und ganz Mexiko geschehen. Diese Wortwahl wirft die Frage nach der Deutungsmacht auf, bildet doch die zugrundeliegende diskursive Ordnung die Voraussetzung dafür, dass man einen Akt überhaupt als transgressiv bewertet. Denn eine Handlung erscheint erst in Relation zum von ihr gebrochenen Gesetz als „crimen“. Der Titel verbindet die Bezeichnung „crimen“ mit dem Wort „olvido“, womit sowohl das individuelle, als auch das kollektive Vergessen gemeint sein kann, und das als Korrelativbegriff der individuellen oder kollektiven Erinnerung (memoria) gilt. Das verbindende „y“ kann hier für eine zeitliche Abfolge stehen – auf ein Verbrechen folgt das Vergessen – oder eine Gleichwertigkeit implizieren – das Vergessen ist so schädlich wie ein Verbrechen. Der Titel bezieht sich intertextuell auf Fjodor Dostojewskijs 1866 im russischen Original veröffentlichten Verbrechen und Strafe, das in der spanischen Übersetzung Crimen y castigo heißt. 251 Im intertextuellen Verweis zeigt sich, dass die Frage nach der Überschreitung diskursiver und moralischer Grenzen eine transhistorische Konstante darstellt. In Tijuana: Crimen y olvido, 252 dem mexikanischen Fall, findet eine Ahndung begangener Straftaten („castigo“) nicht statt, d. h. die Grenzen der Ordnung werden nicht wiederhergestellt, was die kontrastreiche Ersetzung durch den „olvido“ impliziert. Der Titel signalisiert vorausdeutend, dass in der erzählten Welt keine Bestrafung stattfinden wird. Er verweist damit gleichzeitig kritisch auf die extrafiktionale Gegenwart, in der die Verbrefrontera (2002), die auch in der Sekundärliteratur am meisten beachtet werden (vgl. z. B. Jiménez de Báez 2012; Palaversich 2012). 249 Zwischen 2006 und 2010 steigt die Gewalt in Tijuana an; im Jahr der Publikation des Romans, 2010, ist die Stadt eine der fünf mexikanischen Städte mit den meisten Mordfällen (vgl. Ríos und Shirk 2011, 1). Über die Statistiken hinaus ist nicht zu vernachlässigen, dass man Tijuana durch das erfolgreiche Lied „Welcome to Tijuana“ von Manu Chao (1998) international mit Drogen und Prostitution assoziiert. 250 Die negative Konnotation setzt sich in den Titeln der vielzähligen Unterkapitel fort: „despedida“, „pistola“, „olvido“, „zozobra“, „dolor“, „evasión“, „metralla“, „violencia“, „impaciencia“, „maldad“, „vulnerable“. Auffällig ist hier die Verbindung der Wortfelder ‚Krieg‘ und ‚Emotionen‘, wodurch der gesellschaftliche mit dem individuellen Konflikt verschränkt ist. 251 Vgl. Dostojewskij (1994). Für die spanische Übersetzung vgl. Dostoievski (2006). Dietrich Wörn (1998, 45) weist darauf hin, dass eine angemessene Übersetzung des russischen Titels Prestuplenije i nakasanije „Übertretung und Zurechtweisung“ wäre, da in ihm die doppelte, d. h. „moralische und kriminalistische“ Semantik zum Ausdruck komme. Am Ende von Dostojewskijs Roman gesteht der Protagonist Raskolnikow seine begangene Grenzüberschreitung, einen Doppelmord, und wird daraufhin verurteilt (vgl. Kasack 1998, 68). 252 Im Folgenden kürze ich den Titel zu Tijuana ab.
4.5 Luis Humberto Crosthwaite: Tijuana: Crimen y olvido (2010) 183
chen ohne Weiteres dem Vergessen anheimfallen und die Täter ihre Schuld nicht eingestehen. 253 Zwei weitere intertextuelle Bezüge, die dem Werk in Form eines Mottos vorangestellt sind, verstärken diese pessimistische Assoziation. Jorge Luis Borges fragt in einem Vers des Gedichts „A un poeta menor de la antología“: „¿Y habrá suerte mejor que ser la ceniza, de que está hecho el olvido?“ (Crosthwaite 2010, o. S.). Diese Zeile verweist im Bild der grauen Asche auf die Vergänglichkeit des Lebens. Das Vergessen im Tod ist hier positiv konnotiert („suerte mejor“). Auf das Zitat von Borges folgt eine Liedzeile der Rolling Stones aus dem Hit „Paint it Black“: „I look inside myself and see my heart is black“ (ebd., o. S.). Die schwarze Farbe steht für das innere Gefühl der Trauer. Das lyrische Ich beklagt die unvorhergesehene Abwesenheit der Geliebten. Da das Lied im Abspann des Kriegsfilms Full Metal Jacket (Kubrick 1987) sowie in jenem des Thrillers The Devil’s Advocate (Hackford 1997) erklingt, erweckt die zitierte Zeile Assoziationen mit Krieg, Gewalt und der Frage nach dem Bösen. Indem das Zitat die Dunkelheit explizit mit der Trauer verbindet, setzt es die Dunkelheit des Buchtitels von Tijuana in einen emotiven Rahmen. 254 Einer der renommiertesten lateinamerikanischen Schriftsteller (Jorge Luis Borges) wird auf eine Ebene mit Rockmusikern (Rolling Stones) gestellt. Dies suggeriert, dass es sich beim Tod und der Trauer um Motive handelt, die auch außerhalb des Kanons und unabhängig vom sprachlichen Kontext (Spanisch und Englisch) Gegenstand des menschlichen Zusammenlebens sind. Da es sich um fiktionale Werke handelt, die das Bild der Dunkelheit metaphorisch verwenden, scheint die Ästhetik des fiktionalen Textes in besonderer Weise dazu befähigt, die Themen Tod, Trauer sowie kollektive Erinnerungsprozesse zu thematisieren. Die hier nachvollziehbar werdende Verbindung des literarischen Textes mit gesellschaftspolitischen Fragen stellt ein Leitmotiv von Tijuana dar. Schon im Peritext werden Elemente angeführt, die es erschweren, das Werk als fiktional oder faktual zu definieren. Das vorangestellte Inhaltsverzeichnis erinnert beispielsweise an eine wissenschaftlich-journalistische Arbeit. 255 Darauf folgt eine Widmung: „A 253 Auch Herreras Señales spielt intertextuell auf Dostojewskijs Verbrechen und Strafe an, um die Straflosigkeit der Täter zu akzentuieren. Vgl. die Romananalyse in Kapitel 4.3. 254 Die Semantik der Dunkelheit durchzieht den gesamten Roman. Beispielsweise erscheint das Wort „oscuridad/oscurece/oscuro/oscura“ insgesamt 34 Mal, ergänzt durch andere verwandte Worte wie „siniestro/a“, „negro/a“ und „noche“ (43x). Außerdem spielen sich etliche der Szenen nachts ab. Die Dunkelheit dominiert hauptsächlich im letzten Abschnitt des Textes, dem „Epílogo“ (vgl. Crosthwaite 2010, 257-288), und macht dort die Verzweiflung des Erzählers sichtbar (vgl. z. B. ebd., 257, 273). 255 Die Kreuzung des Journalistischen mit dem Fiktionalen lässt sich auch an dem Aufbau des Buches nachvollziehen, das aus sieben Kapiteln, einem Vor- und einem Nachwort besteht: „Prefacio“, „1. Magda Gilbert (2004-2005),“ „2. Entrevistas,“ „3. Juan Antonio Mendívil (2005),“ „4. Crimen y olvido (2005, 1964-1967),“ „5. Notas varias,“ „6. Cronología,“ „7. Lo que perdí (2010),“ „Epílogo“. – Die Kapitel zeichnen das Bild einer wissenschaftlichen Recherche und kombinieren unterschiedliche Textsorten – z. B. transkribierte Interviews, eine tabellarische Chronologie – mit fiktional markierten Textabschnitten, wodurch man das Werk dem hybriden Genre der Dokufiktion zuordnen kann. Indem das Schreiben des Buches selbst einen Platz in
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Magda y a Juan, donde quiera que se encuentren“ (vgl. Crosthwaite 2010, o. S.). In der Regel sind Widmungen an reale, in der extrafiktionalen Welt lebende Personen gerichtet. Magda und Juan, denen das Werk gewidmet ist und deren Aufenthaltsort unbekannt ist, scheinen aber fiktive Protagonisten zu sein. Bereits die Widmung ist also intradiegetisch, gibt aber vor, es nicht zu sein. Obwohl oder gerade weil Magda und Juan fiktiv sind, stehen ihre Namen stellvertretend für die Menschen in der mexikanischen Gesellschaft, denen ein ähnliches Schicksal widerfahren ist. Während Genette jedem Paratext attestiert, in einer ambivalenten Schwellenposition zwischen dem Innen (Text) und Außen (Welt) zu verharren, 256 hebt Tijuana die Ambivalenz besonders hervor. Dies setzt sich im Vorwort („Prefacio“) fort, das an den Stil einer wissenschaftlichen Einleitung angelehnt ist: der Erzähler führt in den Gegenstand des Werkes ein und berichtet vom Verschwinden Magda Gilberts und Juan Antonio Mendívils. Sein erklärtes Ziel ist es, beide Fälle aufzuklären (vgl. ebd., 15f.). Da der Erzähler wie der reale Autor die Initialen LHC 257 trägt und sich als Verfasser des Buches ausgibt, das der Leser in den Händen hält (vgl. ebd., 17), bleibt der Eindruck bestehen, dass es sich um einen faktualen Text handelt. 258 Doch die Trennung zwischen intradiegetischer und extradiegetischer Welt verkompliziert sich, da LHC betont, in seinem Werk Fakt und Fiktion zu mischen. 259
dieser Chronologie findet („2007 Se empieza a escribir este libro,“ ebd., 242), wird suggeriert, dass es sich in allen aufgelisteten Ereignissen um extrafiktionale Geschehnisse handelt. 256 Genette bezeichnet dies als „‚Zone indécise‘“ (Genette 1987, 7). Vgl. Kapitel 2.2.3 dieser Arbeit. 257 Im Folgenden beziehen sich „LHC“, „Erzähler“ oder „Erzähler-Autor“ nicht auf den realen Autor (Luis Humberto Crosthwaite), sondern auf die Figur des Textes, die mit dem realen Autor homonym ist. 258 Crosthwaite ist bekannt dafür, metaleptische Grenzüberschreitungen in die erzählte Welt seiner Romane zu unternehmen, wie z. B. in La luna siempre será un amor difícil (Crosthwaite 1994, 129-134, 170-180). Während der Autor dort punktuell in die erzählte Welt eintritt und das einen komischen Effekt erzeugt, liegt in Tijuanas düsterer Stimmung eine andere Situation zugrunde. Der Kontrast zu vorherigen Werken desselben Autors verstärkt die Negativität von Tijuana. 259 „[L]a narración se basa mucho en especulaciones personales y por lo tanto carece de un final apropiado. Aclaro por adelantado que me tomé ciertas libertades al intentar rellenar los huecos en la narrativa; decidí que el trabajo no sería exclusivamente periodístico sino que tendría elementos de ficción policíaca“ (Crosthwaite 2010, 16f.). Der Erzähler gesteht, mit seiner eigenen Imagination („especulaciones personales“) die Lücken des Falls („huecos“) gefüllt zu haben. Indem er die wissenschaftlich-journalistische Recherche („periodístico“) mit fiktionalen Elementen kombiniert, kennzeichnet der Erzähler die Schwelle verschiedener Genres und positioniert dort das Werk. Er impliziert, dass Literatur dort, wo eine Recherche nach wissenschaftlichen Standards nicht greift, Leerstellen und Wissenslücken füllen kann. Dadurch, dass LHC aber das nicht angemessene Ende des Textes bemängelt („carece de un final apropiado“), weckt er Zweifel daran, ob er Magda und Juan aufspüren wird, ob also Literatur eine kriminalistische Aufgabe erfüllen kann.
4.5 Luis Humberto Crosthwaite: Tijuana: Crimen y olvido (2010) 185
Aufgrund dieser Pendelbewegung ließe sich Tijuana als dokufiktionales und autofiktionales Werk bezeichnen. 260 Die auto- und dokufiktionalen Aspekte ermöglichen es dem Text, das Individuelle mit dem Allgemeinen sowie die erzählte Welt mit der extrafiktionalen Ebene zu kombinieren: Der Text kann die gesellschaftlichen Umstände kritisieren, ohne dass sich der Autor in demselben Maße einer Reglementierung aussetzt, als würde er ein uneingeschränkt als faktual geltendes Werk verfassen (vgl. Zipfel 2009, 300f.). 261 Die Überlegungen, die der Erzähler über das literarische Schreiben anstellt, lassen sich zugleich als metafiktionale Reflexionen über Tijuana und Literatur im Allgemeinen verstehen, sowie als Auseinandersetzung mit der diskursiven Funktion von Literatur in gesellschaftlichen Krisensituationen. 262 Die Analyse der Paratexte verweist bereits auf die zentralen Motive von Tijuana: 1. Obwohl die erzählte Welt an der frontera norte angesiedelt ist, geht es dabei nicht allein um Tijuana, sondern um die gesamte mexikanische Gesellschaft, da die Frage nach den symbolischen Grenzen im Text dringlicher ist. 2. Diese die Gesellschaft teilenden symbolischen Grenzen sind nicht ohne Weiteres sichtbar, was als Indiz der Orientierungslosigkeit gelesen werden kann. 3. Das Werk nimmt durch seine düstere Grundstimmung eine desillusionierte Sicht auf die außerliterarische Gesellschaft ein. 263 Die Täter sind unbekannt, und es lässt sich nicht exakt bestimmen, wo die Grenze zwischen dem Guten und dem Bösen verläuft. Mit ihrem Versuch, die Grenzen sichtbar zu machen, bemühen sich die Protagonisten darum, eine Ordnung herzustellen. Doch dieses Unterfangen misslingt, weil sowohl die Kommunikation zwischen den Protagonisten, als auch jene auf gesell260 Die Autofiktion siedelt sich an der Grenze zwischen dem autobiographischen und dem fiktionalen Pakt an (vgl. Zipfel 2009, 286). Vgl. Kapitel 2.2.3 der vorliegenden Arbeit. 261 Trotzdem ist die Grenze zwischen der intra- und extrafiktionalen Welt vage. So wird eine Präsentation von Tijuana im Jahre 2011 aufgrund kritischer Äußerungen des Autors vorzeitig abgebrochen. Das Verlagshaus bezeichnet das als Akt der Zensur: „[E]s la primera vez que un autor nuestro sufre de este trato por parte de una institución pública. Nos indigna la intolerancia y condenamos cualquier muestra de censura. La novela […] versa sobre el peligro que corren los periodistas en el ejercicio de su profesión, lo cual convierte en algo mucho más sintomático este acontecimiento“ (Redacción Excélsior 2011). 262 Christian von Tschilschke und Dagmar Schmelzer (2010, 20) stellen heraus, dass dokufiktionale Werke oft Fragen aktueller gesellschaftlicher Umbruchszeiten verhandeln. 263 Die in Tijuana semantisch erzeugte Negativität kann mit Hans Ulrich Gumbrecht als ‚Stimmung‘ interpretiert werden, die die gesellschaftspolitische Krisensituation ästhetisch erfahrbar macht. In seiner Studie Stimmungen lesen. Über eine verdeckte Wirklichkeit der Literatur plädiert Gumbrecht (2011, 10) für eine Lesart von Literatur, die den Fokus auf die sog. Stimmungen legt. Obwohl Gumbrecht keine genaue Definition vornimmt (vgl. ebd., 12, 20) und keine Methoden artikuliert (vgl. ebd., 29), gibt er einige Hinweise, wie man Stimmungen entziffern kann: anhand von Prosodie, Rhythmus sowie „Gerüchen, Farben, Geräuschen“ (ebd., 14, 23). Von Gumbrecht nicht explizit benannt, aber wichtig, ist das Feld der Semantik. Durch die Assoziationen, die mit im Text dominanten Wortfeldern ausgelöst werden, kann in der erzählten Welt eine bestimmte Grundstimmung konstruiert werden. Da das Konzept der ‚Stimmung‘ auf jede Zeit und Kultur anwendbar sei, werde es im jeweiligen Text unterschiedlich vermittelt (vgl. ebd., 20). In Tijuana spielen, neben der Semantik einer metaphorischen Dunkelheit, auch die Figurenkonstellation und die textuelle Graphik eine entscheidende Rolle dabei, eine negative Stimmung zu erzeugen, wie das vorliegende Kapitel darlegt.
186 4. Grenzen und Transgressionen im mexikanischen Roman der Gegenwart
schaftlicher Ebene scheitern. Die Verzweiflung der Protagonisten und des Erzählers angesichts der gesellschaftlichen Umstände führt dazu, dass in Tijuana das Scheitern als Zeichen der Aussichtslosigkeit durchweg negativ bewertet ist. Nicht nur im discours ist die Frage nach der Position der Grenzen relevant, sondern auch auf der Ebene der erzählten Welt, die sich direkt an der politischen Grenze zwischen Mexiko und den USA befindet, in dem Tijuana und San Diego umfassenden urbanen Raum (vgl. Crosthwaite 2010, 13). Die Handlung erstreckt sich über verschiedene Orte in beiden Städten, und die Protagonisten agieren in einem Lebensumfeld, das sich über beide Seiten der Grenze ausdehnt. 264 Grenzüberquerungen werden zwar erwähnt, aber nicht detailliert geschildert – sie scheinen für die Protagonisten normal zu sein (vgl. ebd., 156, 209). Die staatspolitische Grenze bildet nur einen Hintergrund für die Handlung der erzählten Welt. Der Fokus wird auf die Stadt Tijuana gelenkt, deren aktuelle Lage auf die gesamte mexikanische Gesellschaft verweist. 265 Diese These lässt sich mit einem Blick auf die erzählte Welt bestätigen, da die Grenzen, die den Raum und die Gesellschaft Tijuanas durchziehen, dominant sind. Magda kommentiert in ihrem Tagebuch 266 die Gewalt, die in den marginalen Vierteln Tijuanas Einzug erhält, wie folgt: Convivimos con el miedo, lo ignoramos. Creamos fronteras psicológicas, nos albergamos en el falso sentimiento de seguridad que nos brinda la idea de que la peor violencia se desata en los rincones más alejados de la ciudad, en la otra Tijuana, la desposeída, la tierra de nadie (ebd., 100).
Die Ich-Erzählerin Magda zieht eine Grenze zwischen dem Tijuana, in dem sie sich aufhält, und dem anderen Tijuana („los rincones más alejados“, „la otra“), wo die Gewalt ausbricht („se desata“), also nicht kontrolliert wird und chaotische Ausmaße annimmt. Dieses andere Tijuana ist verlassen, peripher und niemand fühlt sich für den Raum verantwortlich („desposeída“, „tierra de nadie“). Auffällig ist das dominante Präfix ‚des-‘, das seiner Funktion nach negierend ist und hier eine Entgrenzung sowie Kontrollverlust markiert. Ähnlich evoziert „tierra de nadie“, etymologisch aus dem Lateinischen (terra nullius) stammend, das Bild einer 264 In San Diego befinden sich das Haus von Juan Antonio Mendívil, das Haus von Edén Flores, die Redaktion der San Diego Tribune und die Kneipe namens Club 13. Der Protagonist betritt auch die Straßen des öffentlichen Raums San Diegos. In Tijuana befinden sich die Häuser von Magdas Familie und vom Erzähler LHC, das ehemalige Haus Juan Antonios, in dem nun seine Ex-Frau Natalia lebt, die Zeitungsredaktion, die Polizeidirektion, die touristische Avenida Revolución sowie der öffentliche Raum, in dem sich die Protagonisten aufhalten. An dieser Aufzählung wird bereits sichtbar, dass Tijuana einen proportional größeren Anteil ausmacht. 265 Eine solche Perspektive der zeitgenössischen mexikanischen Literatur auf die Grenzregion beschreibt auch Marco Kunz (2012, 129): „[L]o fronterizo ya no interesa tanto como zona de transición entre dos estados, sino más bien como región periférica donde se reflejan, de manera excesiva y a veces grotescamente deformados, los problemas de todo México.“ 266 Magdas Tagebuchnotizen bilden den proportional größten Teil des Textes (vgl. Crosthwaite 2010, 19-108). In dem aus ihrer Perspektive intern fokalisierten Text wird die Gedankenwelt der Protagonistin mit ihrer Angst und Verzweiflung nachvollziehbar, wodurch beim Leser ein Gefühl der Empathie entstehen kann.
4.5 Luis Humberto Crosthwaite: Tijuana: Crimen y olvido (2010) 187
fehlenden Ordnung und einer kriegerischen Front. 267 Dieser Ausdruck diente historisch dazu, kolonialistische Expansionen zu legitimieren. 268 Denn die ‚Anderen‘, in diesem Fall die Menschen, die in besagtem Teil Tijuanas leben, werden als „nadie“ markiert, haben keinen Namen, kein Gesicht und kommen nicht zu Wort. Im Kontrast dazu steht die erste Person Plural, mit der Magda sich selbst und die anderen Menschen bezeichnet, als sie in topologischen Begriffen die versuchte Abgrenzung vom konfliktgeladenen Tijuana beschreibt („fronteras“, „nos albergamos“). Hier zeigt sich, dass der Schutz der Einen, semantisch im „albergarse“ ausgedrückt, mit der Ausgrenzung der Anderen einhergeht und dass diese Grenzen menschengemacht sind. Um die eigene Angst zu ertragen verleugnet man die Gefahr, sichtbar im Widerspruch zwischen „convivimos“ und „lo ignoramos“. Doch Magda ist sich bewusst, dass die Mauern keinen wirklichen Schutz bieten können („falso sentimiento de seguridad“). Magdas Beschreibungen, die sich auf den Raum Tijuanas beziehen, ließen sich als kritisches Spiegelbild der mexikanischen Gesellschaft sehen, in der die zentralen Städte einen Vorrang vor den peripheren Regionen erhalten. Für diese Hypothese spricht, dass sich Presse und Literatur 269 häufig mit dem Begriff „tierra de nadie“ auf den Norden Mexikos beziehen, während Magda ihn aber nur auf einen Teil Tijuanas anwendet. Tijuana als vom Zentrum aus als peripher erachtete Stadt Mexikos zeigt, dass sich auch die Peripherie in voneinander abgegrenzte Räume trennt; so wiederholt sich im Kleinen (Tijuana) eine Teilung des Raumes, wie sie im Großen (Mexiko) geschieht. Das impliziert eine Kritik daran, dass die zentralistische Mehrheitsgesellschaft sich gegenüber der Gewalt, die sich im Norden des Landes abspielt, ignorant verhält. Zudem warnt der Text davor, dass ein solch abgrenzendes Verhalten die Gewalt nicht werde eindämmen können. Der Versuch, Grenzen zu errichten, führt dazu, dass man den Anderen verleugnet und marginalisiert. Am Beispiel Tijuanas als pars pro toto der gesamten mexikanischen Gesellschaft kritisiert der Text eine geteilte Gesellschaft, die es darauf anlegt, sich von dem Anderen abzugrenzen und ihn seinem Schicksal zu überlassen. 267 Der Begriff ist militärisch konnotiert, beschreibt doch das sog. Niemandsland die unbesetzte Zone, die an der Front zwischen zwei befeindeten Lagern liegt (vgl. z. B. Nübel 2008). – Damit deutet der Roman an, dass die soziopolitische Lage in Mexiko einem Krieg gleicht, dessen Front quer durch die peripheren Stadtteile verläuft und sie verwüstet. 268 Der römische Rechtsbegriff terra nullius bezeichnet ein Land ohne Besitzer (vgl. Benton und Straumann 2010, 1). Wie in Kapitel 2.1.1 der vorliegenden Arbeit anhand von Osterhammel (2001, 213) gezeigt, fungiert der Terminus bei der kolonialen Eroberung indigener Länder als Legitimierung. Im Kontext von Tijuana dient das „tierra de nadie“ dazu, die Verantwortung für das Terrain abzustreiten und es abzugrenzen. Diejenigen, die den Terminus verwenden, so zeigt sich, meinen, mit ihrem Gegenüber („nadie“) nicht dieselbe Ordnung zu teilen. Es entsteht ein Ungleichgewicht, das die eigenen Interessen stärkt, zum Nachteil des marginalisierten Anderen. 269 Im Jahre 1999 veröffentlicht der mexikanische Schriftsteller Eduardo Antonio Parra ein Buch mit dem Titel Tierra de nadie, das Kurzgeschichten enthält, die im Norden Mexikos spielen. Auch die Presse bezieht sich mit dem Ausdruck „tierra de nadie“ auf die nördliche oder in neueren Jahren auf die südliche Grenze Mexikos, wobei vor allem die fehlende Ordnung semantisch zum Vorschein kommen soll, vgl. die beiden Überschriften der Zeitung Excélsior: „Morir en tierra de nadie: frontera entre México y EU“ (Redacción Excélsior 2016), „La Frontera de México y Guatemala, ‚tierra de nadie‘“ (Redacción Excélsior 2010).
188 4. Grenzen und Transgressionen im mexikanischen Roman der Gegenwart
Das hier evozierte Bild der invasiven Gefahr ist problematisch, da ihm die Semantik einer zerstörerischen Barbarei zugrunde liegt, die in einem Widerspruch zur geordneten Zivilisation steht und diese angreift. Die Gefahr nimmt unterschiedliche Formen an, hat dabei kein wirkliches Gesicht und trägt keinen Namen, wird aber als bedrohlich wahrgenommen und löst Angst aus. Daher ließe sie sich als eine latente Gefahr bezeichnen, in Anlehnung an das Konzept der ‚Latenz‘ von Anselm Haverkamp. 270 Literatur kann Latentes, also die narrativ verschleierten Funktionsweisen der Macht, vermitteln, ohne sie explizit machen zu müssen (vgl. Haverkamp 2002, 9, 18, 23). Anhand von Metaphern oder Brüchen im Text zeigen sich also die Ausgrenzungsmechanismen der mexikanischen Gesellschaft. Der metaphorische Sprachgebrauch dient in diesem Fall dazu, etwas auszudrücken, das sich nicht gänzlich fassen und nicht exakt benennen lässt. Indem der Text auf vertraute Bilder zurückgreift, vermittelt er dennoch eindrücklich das bedrohliche Gefühl. Nichtsdestotrotz ist zu kritisieren, dass eine solche Darstellungsweise die Gewalt zu einem metaphysischen Phänomen stilisiert, die dadurch ahistorisch erscheint. 271 Tijuana trägt an dieser Stelle also viel eher dazu bei, die gesellschaftlichen Ursachen von Gewalt nicht zu benennen – die gewählte Metapher konfligiert mit dem implizierten gesellschaftskritischen Anspruch des dokufiktionalen Textes. Es zeigt sich, dass literarische Texte Ausgrenzungsmechanismen perpetuieren können – vor allem, wenn es darum geht, mit Metaphern soziale Probleme zu beschreiben. Sichtbar werden die symbolischen Grenzen vor allem an den Herausforderungen, denen sich die Akteure des journalistischen Feldes im Umgang mit der Gewalt und dem Drogenkrieg stellen müssen: Magda und ihre Kollegen, die für eine Tageszeitung 272 in Tijuana arbeiten (vgl. Crosthwaite 2010, 15), haben die Aufgabe, zu den Orten des Verbrechens zu fahren und zu den Schlagzeilen passende 270 Vgl. Haverkamps Werke Figura cryptica. Theorie der literarischen Latenz (2002) und Latenzzeit. Wissen im Nachkrieg (2004). Dort geht er etymologisch auf den Terminus ein: „Latenz, vom lateinischen latere – ‚verborgen, versteckt sein‘, ‚to go into or be in hiding, … lurk‘, - aus dem Verborgenen drohen“ (Haverkamp 2002, 7, Hervorhebung i. O.). Anhand antiker Gründungsmythen zeigt Haverkamp, wie die mythische Latenz die Mechanismen der Macht verschleiert, indem sie „verstellt […], was sie funktionieren läßt“ (ebd., 18). Die in einer jeweiligen Kultur vorherrschenden diskursiven Formationen, in Anlehnung an Blumenberg als ‚Sprachsituation‘ bezeichnet, können „in die Ambiguität von Dichtung verdichtet“ werden (Haverkamp 2004, 23). Haverkamp verortet die ‚Latenz‘ in der auf den Zweiten Weltkrieg folgenden Nachkriegszeit, weist aber darauf hin, dass sie sich je nach Kontext anders zeige (vgl. Haverkamp 2002, 18). 271 Vgl. die Überlegungen in der Einleitung der vorliegenden Arbeit zu Oswaldo Zavala (2015), der die zeitgenössische mexikanische Literatur dafür kritisiert, die Gewalt verharmlosend darzustellen. In diesem Fall ist die Kritik durchaus berechtigt. 272 Dadurch, dass die Zeitung ohne Namen bleibt, steht sie stellvertretend für andere Zeitungen und zeigt, dass alle Journalisten Tijuanas gefährdet sind. Zugleich schützt der Autor damit die Journalisten real existierender Zeitungen, da keine namentlichen Übereinstimmungen den fiktionalen Status infrage stellen könnten. Als Kontrast trägt die US-amerikanische Zeitung der erzählten Welt denselben Namen wie die extrafiktional existierende Zeitung The San Diego Tribune. Dort können die Journalisten furchtlos über gefährliche Themen schreiben (vgl. Crosthwaite 2010, 14).
4.5 Luis Humberto Crosthwaite: Tijuana: Crimen y olvido (2010) 189
Fotos zu liefern (vgl. ebd., 114). Dass dieser Beruf gefährlich ist, wird nachvollziehbar, als der Erzähler die Journalisten mit Soldaten vergleicht, die sich in die Kampfzone begeben, um an Informationen zu gelangen (vgl. ebd., 15, 73). Wer sich in Mexiko dazu entschließe, Journalist zu werden, riskiere sein Leben: ¿Cómo se sabe cuándo un periodista cruza la línea? Parecía ser una pregunta que atormentaba a Magda. Se puede ver en varias partes del cuaderno, en distintas hojas, en apuntes al margen y en notas garabateadas sin pensar: cruzar la línea, cruzar la línea, cruzar la línea ... Esa frase, que en Tijuana significa atravesar la frontera internacional para ingresar a los Estados Unidos, poseía un significado severo para Magda. La línea era la división entre los periodistas que están a salvo y los que están en peligro de morir. [...] Según Magda: ‚Puedes mencionar un nombre y ya estar al otro lado de la línea sin saberlo. Cuando menos lo esperas se detiene un auto junto a ti, unos hombres te obligan a subir y sabes que todo está perdido‘ (ebd., 36).
Wann, so lautet die hier offen gestellte Frage, hat man die Grenze überschritten? Der Erzähler weist darauf hin, dass es sich eigentlich um einen Begriff handele, der sich auf die staatliche, also physische Grenze zwischen Mexiko und den USA beziehe. Für die mittelamerikanischen Migranten, die sich mit diesem Ziel auf die lange Reise an die frontera norte begeben, repräsentiert die Aussicht auf eine erfolgreich überschrittene Grenzlinie die Hoffnung, ihren bisherigen Lebensumständen zu entkommen und ein neues Leben in den USA beginnen zu können. 273 In dieser Textstelle wird die Konnotation allerdings umgekehrt und auf eine andere, metaphorische Grenze bezogen, die nicht materiell fassbar ist und doch das Leben („están a salvo“) vom Tod („están en peligro de morir“) trennt. Man kann das Bild der Linie mit Krieg assoziieren, da der Begriff „línea de fuego“ die Schusslinie bezeichnet, in die Menschen bei einer bewaffneten Auseinandersetzung geraten können. 274 Da die hier beschriebene Linie für die Augen unsichtbar ist, besteht die Gefahr sie zu überschreiten, ohne sich dessen bewusst zu sein („sin saberlo“). Als trete man auf eine Mine, kommt dabei die Erkenntnis erst in dem Moment, in dem es bereits zu spät ist („sabes que todo está perdido“), und so gibt es kein Zurück, wenn man die Grenze einmal überschritten hat. 273 Durch diesen kontextuellen Bezug kann der Rhythmus des dreifachen, asyndetisch aneinandergereihten „cruzar la línea“ mit dem Geräusch eines vorbeifahrenden Zuges assoziiert werden. Das rekurriert auf die Güterzüge, auf denen etliche Migranten heimlich Mexiko passieren. Der Weg, den die Migranten zurücklegen müssen, um überhaupt an die frontera norte zu gelangen, ist beschwerlich und birgt viele Risiken. Auch hier sind die Gefahren nicht unmittelbar sichtbar, da sie über die Grenzlinie hinaus, entlang der Schienen durch ganz Mexiko verlaufen. Vgl. Kapitel 3.2.1 dieser Arbeit. 274 Die Metapher der Linie ist auch im außerliterarischen Diskurs über die Gefahren, denen sich mexikanische Journalisten aussetzen, präsent. Beispielsweise betont der Journalist Javier Valdez Cárdenas im Jahre 2011 als er den internationalen Preis der Pressefreiheit erhält: „[H]acer periodismo es caminar sobre una invisible línea marcada por los malos que están en el narcotráfico y en el gobierno“ (vgl. SomosElMedioTV 2017, Transkription JA). Dass diese Rede wörtlich zu nehmen ist, zeigt sich als Valdez 2017 in der Nähe seiner Arbeitsstätte erschossen wird, wie das Kapitel 3.2.2 dieser Arbeit erläutert.
190 4. Grenzen und Transgressionen im mexikanischen Roman der Gegenwart
Mit der zweiten Person Singular („se detiene un auto junto a ti, unos hombres te obligan a subir“) wird der Leser angesprochen und darauf hingewiesen, dass auch er potenziell die Grenze übertreten könnte. Allerdings bleibt die Gefahr, von der Magda hier spricht, wie im vorherigen Beispiel ohne Gesicht und Namen („unos hombres“). Grenzlinie und Täter sind unsichtbar – und doch existieren sie. Wie stark die Protagonisten diese latente Bedrohung („pregunta que atormentaba“, „significado severo“) empfinden, zeigt sich daran, dass sie die Frage nach dem Grenzübertritt mehrmals stellen. Form und Inhalt entsprechen sich in diesem Zitat, denn an der Epizeuxis „cruzar la línea“ zeigt sich, wie dominant die Frage ist, und die repetitive Struktur erzeugt ein Gefühl der Aussichtslosigkeit. Es ist der Erzähler, der Magdas Frage wiederholt und sie sich zu eigen macht (vgl. ebd., 52, 82, 114). Das „se puede ver en varias partes“ bezieht sich also nicht nur auf Magdas Notizen, sondern gleichermaßen metatextuell auf Tijuana. Die sprachliche Benennung der latenten Grenze zeugt von dem Versuch, sie sichtbar zu machen, artikuliert zugleich aber die Angst vor der ihr inhärenten Gefahr. Hier werden stellvertretend die Ängste der Journalisten (Magda) und Schriftsteller (LHC) in Mexiko nachvollziehbar. Auf sprachlicher Ebene lässt sich an den Kommunikationssituationen zwischen den Protagonisten sowie zwischen den sozialen Akteuren erkennen, dass die Kommunikation größtenteils gescheitert ist. Da es den Protagonisten an Verständnis füreinander fehlt, misslingt die private Kommunikation, und sie vermögen keine Gemeinschaft zu bilden. 275 Einerseits erhält der implizite Leser einen Empathie ermöglichenden Einblick in die Emotionen der Protagonisten, andererseits wird er zu einem Zeugen des immer wieder missglückten Austauschs innerhalb der erzählten Welt. Da er nicht eingreifen kann, entsteht eine negative, frustrierende Stimmung. Der Text impliziert, dass ein fehlender Austausch auf Ebene des Privaten gesellschaftliche Konsequenzen hat. Dies lässt sich daran zeigen, dass auch die gesellschaftliche Kommunikation in Tijuana scheitert, wie sich verdeutlicht, als die Akteure Polizei und Presse aufeinandertreffen. Das von der Polizei und ihrem Umgang mit dem Verbrechen gezeichnete Bild ist durchgehend kritisch. 276 Obwohl sich Magda zufolge auch die Polizisten gelegentlich ernsthaften Drohungen ausgesetzt sehen (vgl. ebd., 42), erweckt der Text keine Empathie mit ihnen. Die Polizisten bleiben namenlos und repräsentieren einen anonymen und unfähigen Polizeiapparat.
275 Alle Liebesbeziehungen, 1. zwischen Magda und Juan (vgl. Crosthwaite 2010, 95ff.), 2. zwischen Magda und LHC (vgl. ebd., 251f.), 3. zwischen Juan und seiner Exfrau Natalia (vgl. ebd., 125, 158f.), 4. zwischen LHC und seiner Exfrau (vgl. ebd., 251), sind gescheitert. Auch im alltäglichen Umgang fehlt ein ehrlicher Austausch: Juan ist isoliert von seinen USamerikanischen Kollegen, Magda vermag es nicht, mit ihren Kollegen über ihre Ängste zu sprechen und auch LHC möchte seine Emotionen nicht seinem Nachbarn anvertrauen (vgl. ebd., 113f., 138, 264). 276 Bereits im „Prefacio“ kritisiert LHC das Desinteresse der Polizei an einer Aufklärung, steht der Ordnungsmacht negativ gegenüber und nimmt keinen neutralen Standpunkt ein (vgl. Crosthwaite 2010, 14).
4.5 Luis Humberto Crosthwaite: Tijuana: Crimen y olvido (2010) 191
Als Magda für ihre Zeitung einen Kommandeur interviewt, gibt dieser sich dennoch überzeugt: „Los esfuerzos del gobierno aniquilan al narcotráfico“ (ebd., 90). Im Indikativ Präsens geäußert, entspricht der Satz einer Feststellung, an der der Sprecher nicht zweifelt und in der er sich nicht hinterfragen lässt. Er stellt hier die Regierung und den Drogenhandel in Opposition, wobei die Regierung positiv und überlegen erscheint. Im Wort „esfuerzo“ kommt sowohl eine körperliche als auch eine geistige Kraft zum Ausdruck, die auf einen besonderen Mut 277 beim Kampf gegen ein Hindernis deutet und somit der Regierung heldenhafte Züge zubilligt. Die Regierung besiege den Drogenhandel nicht lediglich, sondern sie vernichte ihn, wie das Verb „aniquilar“ suggeriert. Etymologisch ist das Wort vom lateinischen nihil abzuleiten (vgl. Real Academia Española 2014, 152f.) – der Drogenhandel werde also bekämpft, bis nichts übrigbleibe. Das vom Kommandanten verwendete Wortfeld des Krieges erinnert zugleich an das Vokabular der Ungezieferbekämpfung. 278 Die Ungeziefermetaphorik impliziert, dass es sich um einen Schädling handele, der sich heimlich im Haus der Gesellschaft einniste und dieses verschmutze, der sich schmarotzend der Ressourcen bediene, um sich zu vermehren und sich erneut auszubreiten drohe, sofern er nicht komplett vernichtet werde. Das Leben des Ungeziefers wird als minderwertig konnotiert und der mit ihm gleichgesetzte Mensch auf problematische Weise animalisiert. Dies verstärkt die negative Bewertung des personifizierten Drogenhandels, der in einem totum pro parte „narcotráfico“ alle Menschen repräsentiert, die in den Drogenhandel involviert sind. 279 Durch die binäre Opposition „gobierno“ vs. „narcotráfico“ streitet der Kommandeur gleichzeitig ab, dass die Regierung mit dem Drogenhandel kooperiere. Obwohl sie den Kommandeur zu Wort kommen lässt, stellt Magda in ihren Notizen seine Position in Frage (vgl. Crosthwaite 2010, 90f.) und enttarnt so seine Aussage als euphemistisch. Hier tritt die diskursive Konkurrenz zwischen der staatlichen und der alternativen, d. h. journalistischen Deutung der gesellschaftlichen Situation zutage. Der Roman bezieht eine regierungskritische Position. Während sich Tijuana durch Magdas Äußerungen auch von der durch den Kommandanten verwendeten Ungeziefermetaphorik distanziert, fällt jedoch auf, dass die ebenfalls problematische Metapher einer bakteriellen Gefahr an anderer Stelle des Romans wiederholt undifferenziert verwendet wird. 280 „Ánimo, vigor, brío, valor“ (Real Academia Española 2014, 914). Historisch findet sich die Metapher des Ungeziefers vor allem im antisemitischen Bild des ‚parasitären Juden‘, das im deutschen Nationalsozialismus seinen Höhepunkt erreicht, da es dort ein Element der diskursiven Legitimierung des Holocaust ausmacht (vgl. Schmitz-Berning 2007, 460ff.). 279 Diese Rhetorik verweist auf das Jahr 2006, als der Präsident Felipe Calderón die guerra contra el narcotráfico ausruft. Kapitel 3.2.1 der vorliegenden Arbeit analysiert, wie Calderóns Wortwahl das Bild eines anonymen Feindes der Ordnung kreiert und damit staatliche Gewalt und Menschenrechtsverletzungen legitimiert. – Magdas Notizen, die auf die Jahre 2004/2005 datiert sind, zeigen, dass der Krieg in Mexiko bereits vor seiner offiziellen Benennung existiert und Opfer fordert. 280 Das Bild der Stadt als kranker Körper setzt die marginalen Viertel mit Wunden gleich, die einer drohenden bakteriellen Entzündung („lesiones,“ „infectarse,“ Crosthwaite 2010, 100) 277 278
192 4. Grenzen und Transgressionen im mexikanischen Roman der Gegenwart
Neben der Kommunikation staatlicher Akteure misslingt auch der gesellschaftliche Austausch zwischen den ‚Normalbürgern‘, die sich im öffentlichen Raum der Stadt begegnen, wie sich in Magdas Notizen zeigt. An einer Stelle berichtet die Protagonistin davon, wie sie zum ersten Mal als Journalistin einen Tatort aufsucht (vgl. ebd., 73ff.). Hier sind die physische und die psychische Ebene auf eine besondere Weise verschränkt: Obwohl Magda weiß, dass sie sich an einem Tatort befindet, sieht sie die Leiche zunächst nicht. Von deren genauer Position erfährt sie erst, als sie nicht mehr weitergehen kann, da sie ins Straucheln kommt – sie stolpert über den Körper des auf der Straße liegenden Toten und stürzt (vgl. ebd., 73f.). Magda ist also überrascht als die für sie unsichtbare Leiche, von deren Existenz sie eigentlich weiß, im Moment der Berührung in Erscheinung tritt und somit etwas Latentes manifest macht. Die Berührung und der Sturz sind erst einmal physisch zu verstehen und körperlich wahrnehmbar. Doch emotional wird Magda gleichermaßen vom Ereignis berührt und gerät im übertragenen Sinn ins Straucheln. Magda fällt auf eine Ebene mit dem Toten und ist genau wie dieser den Blicken der Schaulustigen ausgesetzt. Statt ihr auf die Beine zu helfen, brechen die Anwesenden in Gelächter aus (vgl. ebd., 74). Das Lachen der Journalisten und Schaulustigen lässt sich als Zeichen der empathielosen Gesellschaft interpretieren. Dieses emotionale Defizit kann ein Indiz dafür sein, dass die Menschen Tijuanas alltäglich in ihrem unmittelbaren Umfeld Zeugen von Gewalt werden (vgl. ebd., 92f.). Dabei ist es nicht verwunderlich, dass die Kinder, die sich am Ort des Verbrechens aufhalten, es den Erwachsenen nachtun: „[…] unos niños lanzaban piedras al cadáver, ellos también se reían a carcajadas“ (ebd., 74). Die Kinder empfinden weder Angst noch Ekel vor dem Toten, was darauf schließen lässt, dass sie mit Gewalt innerhalb ihres Lebensumfeldes vertraut sind, bereits wiederholt tote Menschen gesehen haben und in einer Gesellschaft aufwachsen, die den Respekt vor den Opfern nicht tradiert. Passend dazu ist das Opfer, als „cadáver“ bezeichnet, nicht mehr als ein anonymer, toter Körper. 281 Der Steinwurf auf den Toten („lanzaban piedras al cadáver“) erscheint synchron mit dem Bild der lachenden Kinder („se reían a carcajadas“), das eigentlich mit Unschuld und einer idyllischen Kindheit assoziiert wird. Doch die parallele Syntax und die phonetische Ähnlichkeit zwischen „cadáver“ und „carcajada“ sorgen dafür, dass in den „carcajadas“, onomatopoetischer Ausdruck des Lachens, vor allem die Klangfarbe der harten Laute [ɾ] und [k] auffällt und das Lachen seine Konnotation der Unbeschwertheit verliert. Kinder, die schwächsten und unschuldigsten Mitglieder einer Gesellschaft, manifestieren ausgesetzt sind, die sich ausbreiten und somit den gesamten Organismus schwächen würde. Hier ist das medizinische mit dem kriegerischen Wortfeld verbunden. Dieser Aspekt des Romans ist problematisch, da soziale Prozesse metaphorisiert werden. Wie bereits Foucault in Histoire de la sexualité I (1976) zeigt, legitimiert die Krankheitsmetaphorik zudem einen Eingriff der Macht in den Körper, vgl. Kapitel 2.2.2 dieser Arbeit. Auch im Sprachgebrauch der lateinamerikanischen Militärdiktaturen dient das Bild einer ‚Infektion‘ dazu, die Bekämpfung Oppositioneller zu legitimieren (vgl. Regueiro 2015, 428f.). 281 Das Diccionario de la lengua española beschreibt den „cadáver“ als „cuerpo muerto“ (Real Academia Española 2014, 376).
4.5 Luis Humberto Crosthwaite: Tijuana: Crimen y olvido (2010) 193
hier körperlich ihre Überlegenheit gegenüber dem Toten, über den sie sich erheben, indem sie ihn symbolisch steinigen. Wichtig ist, dass die Erwachsenen dieses Handeln weder kommentieren noch reglementieren. Damit steht es einerseits in einer Parallele zu extrafiktionalen Menschenrechtsverletzungen, auf die der Staat nicht reagiert, andrerseits gibt diese Szene einen pessimistischen Ausblick, da Kinder die Erwachsenen einer zukünftigen Gesellschaft sein werden und sich in ihrem Verhalten keine Besserung abzeichnet. Die Szene, in der Magda über die Leiche stolpert, ist als allegorische Kritik an einer Mehrheitsgesellschaft lesbar, die die Opfer meist ausblendet – im Sinne Judith Butlers also jenseits der frames verortet. 282 Magda sah die Leiche anfangs nicht, wurde dann von deren Präsenz emotional und körperlich berührt, und vermag es seitdem nicht mehr, ihren Blick von den Ermordeten abzuwenden: Muchas personas que acaban de morir parecen dormidas, tienen esa serenidad, esa actitud de reposo. […] Como si el sueño o un abrupto cansancio los hubiera alcanzado, se echan de lado o se dejan caer. Así los encontramos. Y si no fuera por el baño de sangre, por las vísceras que se asoman, me atrevería a decir que parecen cargados de una extraña dulzura; por más culpable que haya sido un hombre por sus crímenes, la muerte violenta le devuelve la inocencia. A veces paso la mano con suavidad por el cabello de los muertos, como quien intenta despertar a un niño sin asustarlo. Eso quiero hacer, despertarlos. […] Procuramos llegar primero que la policía (lo cual no es difícil) para inspeccionar la escena del crimen, tomar fotos al cadáver antes de que se acumulen los mirones y arrasen con los casquillos o cualquier prueba que se encuentre alrededor como ‚recuerdito‘. No falta quien me diga: ‚Si quieres te tomo una foto con el muertito‘. Pero no se trata de eso: no soy turista. Solamente quiero verlos de cerca (Crosthwaite 2010, 45f.).
Die abjekten Bilder der Zerstörung und des Todes („baño de sangre“, „vísceras“, „crímenes“, „muerte violenta“) stehen in einem expliziten Gegensatz zu den von Magda den Toten zugeschriebenen Attributen, die diese menschlich erscheinen lassen („personas que acaban de morir“) und Magdas Empathie zeigen („parecen dormidas“, „serenidad“, „sueño“, „dulzura“, „inocencia“). Sie weist darauf hin, dass der Tod alle Menschen gleichermaßen betrifft und die Grenze zwischen Gut und Böse aufhebt („por más culpable que haya sido un hombre por sus crímenes, la muerte violenta le devuelve la inocencia“). Damit wird impliziert, dass alle Menschen am Anfang ihres Lebens unschuldig seien und erst aufgrund der Umstände zu Verbrechern mutieren. In diesem kurzen Satz dominieren negativ konnotierte Wörter („culpable“, „crímenes“, „muerte violenta“), wodurch die „inocencia“ allein steht und fast übersehen werden kann. Obwohl es ein positives Wort ist, enthält „inocencia“ Vgl. hierzu die Überlegungen in Kapitel 2.1.2 der vorliegenden Arbeit zu Judith Butler (2004, 2009), die feststellt, dass die Mehrheitsgesellschaft bestimmte Opfer nicht wahrnehme und sie in einen Bereich außerhalb der frames verdränge. Diese Kritik an einem hierarchisierenden Umgang mit den Toten reflektiert Tijuana anhand von Magdas Erlebnissen. Am Beispiel einzelner Figuren der erzählten Welt erörtert der Roman kritisch die Handlungen der extraliterarischen gesellschaftlichen Akteure gegenüber den Opfern.
282
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semantisch den Aspekt der Schuld, negiert im Präfix ‚in-‘. 283 Textuell spiegelt sich also das Bild des Tatorts: Die vorherrschende Zerstörung erschwert einen empathischen Blick, der die Unschuld, „inocencia“ wahrnimmt. Magda bemüht sich aber, das Menschliche zu entziffern, indem sie die Leichen genau ansieht und einen vermeintlich echten Blick wagt („quiero verlos de cerca“). 284 Doch unabhängig davon, wie sehr sich Magda den Toten annähern mag, ändert ihr Verhalten nichts daran, dass die Toten anonym bleiben. 285 Die Grenze zwischen Leben und Tod ist endgültig, was Magda nicht wahrhaben zu wollen scheint, als sie sich ein Lebenszeichen der Ermordeten erhofft und ihren Wunsch äußert, die Toten aufzuwecken („quiero [...] despertarlos“). 286 Sie versucht die Distanz sogar aufzuheben, indem sie die Toten anfasst und ihnen über das Haar streicht. Diese intime Geste zwischenmenschlicher Fürsorge, die Zuneigung ausdrückt und Trost spenden soll, kontrastiert mit der Gewalt, die zum Tod des Opfers geführt hat. Im Kontext der christlichen Semantik, die bereits in „serenidad“ und „inocencia“ enthalten ist, wirkt die Bewegung Magdas einerseits so, als würde sie die Toten segnen, andererseits verweist das doppelt genannte Verb „despertar“ auf die biblische Erzählung des Lazarus, den Jesus von den Toten erweckt (vgl. Joh 11,145). 287 Dem Johannesevangelium zufolge reisen Menschen an, um den erweckten Lazarus zu bestaunen und beginnen zugleich, an Jesus zu glauben (vgl. Joh 11,45). In Tijuana sind zwar ebenfalls Schaulustige am Tatort, um den Toten zu betrachten, doch Magdas versuchte Auferweckung misslingt. Es bleibt die Erkenntnis, dass der Glaube an Heilsfiguren, die eine hoffnungslose Situation zum Positiven wenden, aussichtslos ist, und der Tod nicht rückgängig gemacht werden kann. 288 Das lateinische innocens trägt die Bedeutung ‚schuldig‘ und ‚schädlich‘ (nocens) in sich. Es kann so als „positive[s] Negativum“ bezeichnet werden (Thome 1993, 231). Obwohl die Schuld also verneint wird, bleibt sie im Wort innocens/innocente sichtbar. 284 Vgl. auch „Me interesa observarlos“, „Lo miré de cerca“ (Crosthwaite 2010, 73, 74). 285 Magda schreibt über „los muertos“, „un hombre joven“, „un hombre“ (ebd., 73, 74, 103). 286 Vgl. „[Q]uiero que despierten [...] y abran los ojos,“ „no los quiero olvidar“ (ebd., 73). 287 Die spanische Version des Johannesevangeliums verwendet auch das Verb „despertar“, als Jesus beschließt, Lazarus auferstehen zu lassen: „Nuestro amigo Lázaro duerme, pero yo voy a despertarlo“ (San Juan 11:11, zitiert nach La Biblia). 288 Tijuana verweist zwar auf den biblischen Lazarus, dieser materialisiert sich aber nicht als Figur, wodurch sich die Deutung dieser Szene verkompliziert. Zwei verschiedene Lesarten sind denkbar: 1. Die Etymologie des Namens, aus dem Hebräischen „Elazar/Eleazar – ‚Gott hilft‘/‚Gott hat geholfen‘,“ (Strube 2013) bekräftigt die These, dass Tijuana die Hoffnung auf göttliche Rettung negiert. 2. Zugleich könnte der fehlende Lazarus suggerieren, dass sich niemand gegen den Status quo erheben wird. Diese Interpretation beruht auf der literaturwissenschaftlichen Analyse der Lazarus-Figur von Ursula Hennigfeld (2016). Angelehnt an Gumbrechts und Haverkamps Latenzbegriffe zeigt Hennigfeld, dass literarischen Texte aus „posttraumatischen Gesellschaften“ (ebd., 151) mit besagter Figur „historische Umbrüche, Krisen und Spannungen, Verdrängtes und Unbewältigtes sichtbar […]“ (ebd., 127) machen und sich dabei eine transgressive Wirkung entfalte: „Indem sie das im Verborgenen Drohende […] oder das Verdrängte […] wieder sichtbar machen, legen die Lazarus-Figuren […] nicht nur die Funktionsweisen von Macht offen, sondern operieren auch gegen die definitive Schließung von Geschichte“ (ebd., 152). In Tijuana kommen Machtmechanismen zum Vorschein, das Weltbild bleibt aber pessimistisch, da subversive Figuren wie jene des Lazarus nicht erscheinen und die Toten irreversibel in ihrem Status verharren. 283
4.5 Luis Humberto Crosthwaite: Tijuana: Crimen y olvido (2010) 195
Die implizit aufgeworfene Frage, wie ein moralisch vertretbarer Umgang mit den Toten auszusehen hat, wird in Tijuana an verschiedenen Verhaltensweisen dargestellt: Zunächst kritisiert Magda die Polizei wegen ihrer Abwesenheit, dann beschreibt sie die Arbeit der Reporter, die zu den Tatorten fahren, um Fotos zu machen. Ihr Blick enthält eine wissenschaftlich-detaillierte Konnotation („inspeccionar“). Dieser Sprachgebrauch, der ohne Adjektive auskommt, untermalt die Distanz zwischen den Journalisten und dem Gegenstand ihrer Analyse („escena del crimen“, „cadáver“). Der Tote wird auf den leblosen Körper („cadáver“) reduziert. Auf ähnliche Weise objektifizieren die Schaulustigen den Toten, wenn sie Gegenstände vom Tatort entwenden, ihn euphemistisch als „muertito“ bezeichnen und zum eigenen Vergnügen Fotos machen, auf denen sie gemeinsam mit der Leiche zu sehen sind. Im verniedlichenden Diminutiv kommt der fehlende Respekt gegenüber den Verstorbenen zum Ausdruck. Obwohl die Schaulustigen eine andere Intention als die Journalisten verfolgen, eignen sich beide den Toten an, im Sinne der von Susan Sontag formulierten Erkenntnis: „Photographs objectify: They turn an event or a person into something that can be possessed“ (Sontag 2003, 72). 289 In seinen Parallelen zu den philosophischen Reflexionen von Susan Sontag und Judith Butler zeichnet Tijuana ein pessimistisches Bild: Wie oben dargelegt, nimmt die Mehrheitsgesellschaft die Toten zunächst nicht wahr (Butler) – und wenn sie es tut, degradiert sie sie zu anonymen Objekten, die sich aneignen lassen (Sontag). Während sowohl Sontag als auch Butler dafür plädieren, das Leid öffentlich zu thematisieren, um zu einer kollektiven Erinnerung beizutragen, findet jedoch in der erzählten Welt von Tijuana ein solches öffentliches Sprechen 290 nicht statt: Magda berichtet rückblickend von einer Entführung, die sich am helllichten Tage auf einer belebten Straße abspielt (vgl. Crosthwaite 2010, 102f.). So schnell wie die Kidnapper erscheinen, verschwinden sie mitsamt ihrem Opfer und auch die Zeugen führen ihr alltägliches Leben fort, als wäre nichts geschehen: „El hecho fue lanzado al olvido“ (ebd., 103). Man schleudert den Zwischenfall ins Vergessen („lanzado“), auf die gleiche Art wie die Täter den Entführten niederschlagen, ins Auto schleudern und seinen malträtierten oder toten Körper später irgendwo aus dem Auto werfen. Das Verb „lanzar“ verdinglicht das abstrakte Ereignis („hecho“). Es entsteht eine Parallele zwischen Ereignis und Opfer, die dazu führt, dass der Tote entmenschlicht wird. Zudem werden die Passanten hier den Tätern gleichgestellt. Das indifferente Schweigen der Einen entspricht demzufolge der körperlichen Gewalt der Anderen. Indem zusätzlich das Wort „olvido“ auf den Titel des Ro289 Vgl. Kapitel 2.1.2 dieser Arbeit zu Sontag (2003, 55, 105), die den Blick auf das Leid der Anderen als voyeuristisch bezeichnet. Zusehen impliziert demnach immer eine Distanz und Hierarchie zwischen dem Betrachter und dem Betrachteten, der zu einem Objekt werde (vgl. ebd., 72). 290 Magda schreibt zwar, aber die Toten bleiben anonym und das Tagebuch privat. Doch LHC, der die privaten Notizen veröffentlicht, kann Magdas Ängste einem breiten Publikum zugänglich machen. Er macht ihr Einzelschicksal nachvollziehbar und nennt mit Magda und Juan zwei Namen, die nicht vergessen werden. Somit würde sein Handeln nach den Kategorien von Sontag und Butler zu einer gesellschaftlichen Erinnerung beitragen.
196 4. Grenzen und Transgressionen im mexikanischen Roman der Gegenwart
mans zurückverweist, legt diese Szene nahe, dass alle Mitglieder der Gesellschaft, also auch Magda, sich an „crimen y olvido“ beteiligen. Sie verhindern, dass die Ereignisse in das gemeinsame kollektive Gedächtnis 291 eingehen und verhelfen dem gesellschaftlichen Vergessen dazu, seine volle Wirkmacht zu entfalten. Da die Menschen darauf verzichten, nach Sinn und Ursachen zu forschen, erlauben sie es den Tätern anonym zu bleiben. Neben der Anonymität der Opfer ist auch die der Täter ein dominantes Thema des Werkes: Sie bleiben namenlos und unerkennbar. 292 Es misslingt, das Böse zu definieren und ihm ein Gesicht zu geben. 293 Dennoch wird über das Böse reflektiert, z. B. im Kapitel „3. Juan Antonio Mendívil (2005)“, in einer Textstelle mit dem Titel „maldad“ (vgl. ebd., 176ff.). Der ehemalige Polizist Flores 294 erläutert dort Juan, was der Akt des Tötens bedeute: Matar es un acto natural al cual los seres humanos no podemos resistirnos, está en nuestros genes. Caín mató a su hermano no por malo sino porque lo tenía hasta la chingada, esa muerte era justificada, como si yo me levantara ahora y te diera un plomazo en la cabeza (ebd., 177).
Christian Sperling (2015, 30) vertritt die These, dass Tijuana sich bewusst einer kohärenten Sinnbildung verweigert und damit die gescheiterte kollektive Erinnerung widerspiegelt. 292 Die Täter werden bezeichnet als „ellos“ (Crosthwaite 2010, 60, 102), „los que matan“ (ebd., 61, 102), „hombres“ (ebd., 102), „delincuentes“ (ebd., 111). – In einer Szene findet Magda unter ihrer Tür ein Foto, von dem sie glaubt, es sei das Bild von Fabiáns Mörder, dessen Gesicht sie jedoch nicht zu erkennen vermag, da es unscharf ist (vgl. ebd., 67, 69, 107). Juan Antonio wiederum sieht sich verschiedene Fotos eines anderen Kriminalfalls an. Während bei einem Foto der mutmaßliche Täter nur im Hintergrund zu sehen ist (vgl. ebd., 164), wurde bei einem anderen dessen Gesicht unkenntlich gemacht (vgl. ebd., 184). Die Fotografien dienen Magda und auch Juan Antonio dazu, über die Frage zu reflektieren, wie der Blick eines Mörders aussieht und sich von denen anderer Menschen unterscheidet (vgl. ebd., 107, 184). 293 Laut Vittoria Borsò (2011, 19) sei das Böse heutzutage in der Gesellschaft nicht sichtbar, da es sich einer präzisen Bestimmung entziehe. Unsichtbar werde es dadurch, dass die Menschen versuchen, sich von dem Bösen abzugrenzen (vgl. ebd., 22). Das bedeute aber zugleich, dass die Menschen an der diskursiven Konstruktion des Bösen beteiligt sind (vgl. ebd., 30). Entscheidend an den Überlegungen Borsòs ist, dass sie dem literarischen Text die Fähigkeit zuspricht, diese diskursiven Zusammenhänge aufzudecken (vgl. ebd., 23), wodurch der Leser „über seine Verantwortung bei der Erschaffung des Bösen reflektiert, sich dieser bewusst werden kann“ (vgl. ebd., 30). Tijuana lenkt den Fokus auf die Frage nach dem Bösen, weil es nicht identifizierbar ist. 294 Flores ist eine ambivalente Figur, die von Beginn an präsent und dennoch nicht greifbar ist, da sie lediglich in den Erzählungen der anderen Protagonisten erscheint: Magda spricht in ihren Notizen von einem Polizisten namens „tío Efe“ (Crosthwaite 2010, 67). Bereits hier entsteht Misstrauen gegen die Figur Efe: „Jugaba con tu mente por puro placer. [...] ¿Es un asesino?“ (ebd., 69). Dass Magda direkt fragt, ob es sich um einen Mörder handelt, regt den Leser an, jede weitere Erwähnung Efes vor dem Hintergrund der Täterfrage zu beurteilen. Als ehemaliger Polizist ist er ein Vertreter der alten Eliten. LHC stellt eine Verbindung zwischen Efe und Flores her (vgl. ebd., 132). Der Leser wird hier explizit an Magdas Beschreibung erinnert, weshalb die Personalunion von „tío Efe“ und Flores als sicher gilt – obwohl LHC eingesteht, dass es sich um seine eigenen Schlussfolgerungen handelt („las conclusiones son mías,“ ebd., 132). Der Erzähler LHC beeinflusst damit die Interpretation des Textes durch den Leser. 291
4.5 Luis Humberto Crosthwaite: Tijuana: Crimen y olvido (2010) 197
Flores rechtfertigt den Akt des Tötens, indem er suggeriert, es handle sich um eine angeborene und folglich natürliche Aktivität („justificada“, „acto natural“, „en nuestros genes“), die er in einen unmittelbaren Zusammenhang mit der Lust („no podemos resistirnos“) und den Affekten („lo tenía hasta la chingada“) stellt, ohne sie dabei jedoch als Ausdruck des Bösen zu werten. Mit der ersten Person Plural („podemos“) bezieht Flores sowohl Juan als auch den impliziten Leser mit ein. Der Verweis auf die alttestamentarische Erzählung von Kain und Abel dient hier als Beispiel dafür, dass Gewalt einen elementaren Bestandteil des menschlichen Zusammenlebens ausmacht. 295 Indem Flores dabei aber ein mythisches Bild („Caín“) mit evolutionsbiologischen Prozessen gleichsetzt („genes“), naturalisiert und verharmlost er die Gewalt. Euphemistisch ist auch die Semantik des Namens Edén Flores, der Assoziationen mit dem biblischen Garten Eden weckt. 296 Die erzählte Welt Tijuanas kann vor allem mit dem Ausschluss der Menschen aus Eden parallelisiert werden: Für Journalisten in Mexiko ist die Wahrheitsfindung immer mit Gefahren verknüpft – der gefährliche Weg zur Unterscheidung zwischen Gut und Böse wird von einem Sprechverbot und von einer latenten oder offenen Todesdrohung begleitet. Diejenigen, die der Wahrheit auf die Spur kommen, setzen damit ihr Leben und ihre Souveränität aufs Spiel, und wer nicht stirbt, dem ist dennoch kein normales Leben mehr vergönnt (vgl. Crosthwaite 2010, 81f.). Die alttestamentarische Paradieserzählung evoziert einen Ort, an dem eine andere, idealisierte Weltordnung existiert (vgl. Pfeiffer 2006, o. S.), wodurch er gleichzeitig in einem diametralen Gegensatz zur mexikanischen Gesellschaft steht, wie sie Tijuana darstellt. Die Handlungen, die Flores als Ausdruck des Bösen sieht, gehen über den körperlichen Akt des Tötens hinaus und finden sich auf einer anderen, symbolischen Ebene wieder: Das wirklich Böse werde dann sichtbar, wenn sich der Täter daran erfreue, jemanden getötet zu haben und das Leid der Angehörigen genieße (vgl. Crosthwaite 2010, 177), sich also seiner fehlenden Empathie bewusst sei. Anhand des Umstands, dass allein der Mörder von seinen Taten weiß, zeigt sich – nicht körperlich, sondern symbolisch – eine asymmetrische Machtverteilung. 297 Die Erzählung von Kain und Abel zeigt „dass der Mensch nicht nur Adam, sondern auch Kain und Abel ist. Steht Adam für den von Gott geschaffenen [...] Menschen, der sich aber als anfällig für das Böse erweist (Gen 2-3), so Kain für den Sünder, der seinem Mitmenschen gegenüber Gewalt als Mittel der Selbstbehauptung gebraucht“ (Brandscheidt 2010, o. S.). Gott verbannt Kain schließlich nach Nod, ins Gebiet „der Ruhelosigkeit und Heimatlosigkeit“, das den Gegenort zum göttlichen Eden bildet (ebd.). Die erzählte Welt von Tijuana gleicht dem biblischen Nod und ist somit das Gegenteil des utopischen Eden. 296 In diesem paradiesischen Garten Gottes lebten der Erzählung nach einst Mann und Frau, Mensch und Tier friedlich zusammen, ohne dass das Gute und das Böse sich unterschieden. Die neu erlangte Fähigkeit, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden, resultiert im Ausschluss aus dem göttlichen Paradies, der Unausweichlichkeit des Todes und der Feindschaft zwischen den Menschen (vgl. Pfeiffer 2006). 297 Für die Angehörigen der Opfer ist die Phase des Nicht-Wissens geprägt von einer diffusen und allgegenwärtigen Bedrohung, denn theoretisch könnte jedes andere Mitglied der Gesellschaft für den Mord verantwortlich sein und jederzeit erneut zuschlagen. Ein anonymer Täter kann für seine grenzüberschreitenden Taten nicht verurteilt und die Ordnung also nicht wiederhergestellt werden. Das genannte Beispiel enthält eine Parallele zur extrafiktionalen mexikanischen Gesell295
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Der Täter könne dank seines Wissensvorsprungs den Platz des Verstorbenen einnehmen und den Moment wählen, in dem er sich enttarne (vgl. ebd.). Entscheidend an einer Selbstenttarnung ist, dass der Mörder den Angehörigen und der Gesellschaft vor Augen führt, dass sie die gesamte Zeit unwissend mit ihm zusammenlebten, ihm gar fälschlicher Weise vertraut haben. Er beweist der Gesellschaft, dass sie nicht dazu fähig war, den wirklich Schuldigen zu finden und die Ordnung wiederherzustellen. Das bedeutet, dass der Täter die Entscheidungsmacht darüber behält, wann und zu welchem Grad man seine Schuld entdeckt, er somit aktiv bleibt und die Opfer dazu zwingt, ihn als Täter anzuerkennen, also eine reaktive Position einzunehmen. Hier offenbart sich außerdem eine fehlende Angst vor gesellschaftlicher Reglementierung. Die dominante Rolle in diesem Gespräch nimmt Flores ein, indem er proportional mehr redet als sein Gegenüber, der es nicht wagt, ihn zu unterbrechen (vgl. ebd.). Sowohl semantisch als auch in Edéns umgangssprachlicher Rede entsteht ein Eindruck der Härte. 298 Dabei philosophiert er nicht über ein abstraktes Böses, sondern bezieht Juan direkt ein, wendet sich in der zweiten Person Singular an ihn und macht ihn zunächst hypothetisch zum Opfer („como si yo […] te diera un plomazo en la cabeza“), gleichzeitig aber zu einem Täter. 299 Auch der Leser fühlt sich durch die verwendete zweite Person Singular angesprochen. Obwohl sie nur fiktiv sind, beschreibt Flores die Gewalttaten und drängt damit sowohl Juan als auch den Leser dazu, sie sich vorzustellen. Einerseits muss sich der Adressat fragen, ob er in der Lage wäre, jemanden zu ermorden – eine scharfe Trennlinie zwischen Gut und Böse existiert demzufolge nicht. Andererseits kann er sich von den Worten des Täters und den hervorgerufenen Bildern nicht abgrenzen. Indem Flores seinem Gegenüber bestimmte Bilder aufzwingt, wird also demonstriert, dass Sprechen ein Akt der Machtausübung ist und Gewalt sich symbolisch äußern kann. So führt auch der gescheiterte Austausch auf privater und gesellschaftlicher Ebene dazu, dass LHCs Projekt misslingt. Sein Scheitern ist das Leitmotiv der letzten beiden Kapitel des Romans, „Lo que perdí (2010)“ und „Epílogo“. Drei Jahre trennen diese Textabschnitte von dem Prolog und daher ist die erzählte Welt auf 2010 datiert, das Jahr, in dem das reale Werk Tijuana erscheint (vgl. ebd., 245). Es entsteht somit der Eindruck einer unmittelbaren Nähe zwischen den Worten des Erzähler-Autors und dem Leser.
schaft, in der eine hohe Straflosigkeit herrscht und die Täter oft nicht ermittelt werden. Vgl. Kapitel 3.2 dieser Arbeit. 298 In Flores’ Rede dominiert das Wortfeld des Krieges und Todes, er verwendet beispielsweise in diesem Gespräch zwölf Mal Formen des Verbs „matar“. „Maldad“ bzw. „malo“ ist allein in seiner wörtlichen Rede neun Mal vertreten und „muerte/morir“ fünf Mal. Hinzu kommen andere Begriffe, die diese Semantik unterstützen: „guerra,“ „balas,“ „disparar,“ „robar la vida,“ „plomazo,“ „crimen,“ „ausencia,“ „llorar,“ „luto,“ „tragedia,“ „chillar“. Von ihm verwendete umgangssprachliche Ausdrücke sind „cabrón,“ „pinche,“ „hasta la chingada,“ „chingaste“ (vgl. Crosthwaite 2010, 176-178). 299 „¿[T]e imaginas?, tú sabiendo que te chingaste a su papá y disfrutándolo“ (ebd., 177).
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LHC berichtet davon, dass er sich entschlossen habe, Tijuana nicht zu veröffentlichen (vgl. ebd.: 263). Der Leser, der das Buch ja in der Hand hält, weiß allerdings, dass es doch publiziert wurde und fragt sich nach den Gründen dafür. Ein bestimmtes Ereignis muss dazu geführt haben, dass LHC das Buch veröffentlicht hat. Schließlich berichtet er davon, wie Unbekannte ihn nachts überfielen, verschleppten und in ein Erdloch warfen (vgl. ebd., 272f.). [E]scuché una voz decir: ‚¿Cómo vas a escribir sobre ello si nunca lo has vivido?‘, luego paladas, el ruido del metal incrustándose en el suelo arriba de mí, y la tierra que caía sobre mi cuerpo, y no, no, no, no, eso no, no quiero eso, por favor no, déjenme en paz, por piedad, y las paladas no dejaban de escucharse y el peso de la tierra que caía y las paladas y la tierra y mi esfuerzo por gritar y mi necesidad de aire y el sabor a sangre y la resequedad de mi boca y el dolor y el ruido incesante en mi cabeza no, no, no, no ... Oscuridad (ebd., 274).
Mit der suggestiven Frage „¿Cómo vas a escribir sobre ello si nunca lo has vivido?“ implizieren die Täter, sie würden LHC helfen, indem sie ihm genau das zufügen, worüber er schreibt. Doch auf Ebene der Syntax zeigt sich viel eher, dass der Erzähler traumatisiert ist, da es ihm nicht mehr gelingt, kohärente Sätze zu formulieren – es stellt sich umgekehrt die Frage, ¿Cómo vas a escribir sobre ello si lo has vivido? Denn während LHC rückblickend von den Geräuschen berichtet, die er wahrnehmen konnte („escuché“), kommt es plötzlich zu einem punktuellem Flashback unmittelbar in das erzählte Geschehen hinein und er beginnt, die Täter anzuflehen („no quiero eso, por favor no, déjenme en paz, por piedad“). Dass ein Wechsel vom rückblickenden Erzählen („escuché“, „caía“) ins Präsens vollzogen wird („déjenme“) und das Erlebnis in der direkten, uneingeleiteten Rede erscheint, kann man als Indikator dafür sehen, dass die Emotionen noch immer sehr stark wirken und LHC traumatisiert ist. Die in der Szene beschriebene Panik steigert sich zu einer Klimax, da die Sprache des Erzählers immer mehr an Kohärenz verliert. Dies lässt sich daran erkennen, dass Wortwiederholungen dominieren („paladas“, „tierra“, „ruido“) und der sich über mehrere Zeilen erstreckende Satz zu aneinandergereihten Fragmenten mutiert. Anstelle eines Punktes, der eine Pause zwischen den einzelnen Satzgliedern markieren würde, werden sie mit einem „y“ verbunden, wodurch die Geschwindigkeit und panische Atemnot des Sprechers nachvollziehbar ist. Der Satz löst sich zum Ende gänzlich auf, als die Verben wegfallen und wiederholte Interjektionen („no, no, no, no“) erscheinen. Phonetisch fällt hier das wiederholte [o] auf, das in seiner Gestalt dem vor Grauen aufgerissenen Auge 300 und dem Leid artikulierenden Mund ähnelt. Es gelingt dem literarischen Text, das nicht in kohärenten Sätzen artikulierbare, über die Grenzen der Sprache hinausgehende Trauma eindrücklich zu vermitteln. Zugleich stellt der Roman sich mit der hier aufgeworfenen Frage in die Tradition eines international Vgl. die in Kapitel 2.2.2 dieser Arbeit vorgestellten Überlegungen Foucaults zur Metapher des Auges im Werk Batailles. Das herausgerissene und verdrehte Auge, so Foucault (1994b, 247), verbildliche den Moment des transgressiven Ausbruchs, der nicht in Worte gefasst werden könne.
300
200 4. Grenzen und Transgressionen im mexikanischen Roman der Gegenwart
breiten Korpus, das sich dem Thema Zeugenschaft widmet. 301 Die Frage, ob man berechtigt sei, über das Leid des Anderen zu schreiben, ohne es selbst erfahren zu haben, bezieht sich sowohl auf LHC und sein Buchprojekt innerhalb der erzählten Welt, als auch metatextuell auf das reale Werk Tijuana und Literatur im Allgemeinen. Den Höhepunkt erreicht der hier analysierte Textabschnitt in dem allein stehenden Wort „oscuridad“, womit er abrupt endet. Die Dunkelheit verweist auf den Aufenthaltsort des in der Erde verscharrten Protagonisten, zu dem kein Licht mehr vorzudringen vermag und der nicht mehr sehen kann. Zugleich steht sie für die Ohnmacht des ausgelöschten Lebens, den Tod als Endpunkt. Dass die gegenüberliegende Seite komplett von einem schwarzen Rechteck bedeckt wird, hebt die inhaltliche Dunkelheit optisch hervor (vgl. ebd., 275). In Tijuana nimmt insgesamt vier Mal ein schwarzes Rechteck einen Großteil der jeweiligen Seite ein (vgl. ebd., 199, 224, 275, 286). 302 Da die Rechtecke zum Ende des Romans häufiger auftauchen, lässt sich konstatieren, dass die Dunkelheit in dem Werk an Raum gewinnt und sich materialisiert. Es bieten sich unterschiedliche Assoziationen an: 1. Das Rechteck stellt graphisch die Abwesenheit von Sprache dar und ähnelt einem Zensurbalken, der das nicht Sagbare verdeckt. 2. Verbunden mit der Geschichte des Romans, lesen sich die schwarzen Rechtecke als Metapher des plötzlichen Verschwindens der Entführten, so als erfasse sie ein ‚schwarzes Loch‘. 3. Die Rechtecke werden zu einer Metapher für das sich ausbreitende und alles einnehmende Böse. Vergleicht man die vier Szenen, die jeweils von einem Rechteck abgeschlossen werden, so fällt auf, dass dem Protagonisten (Juan bzw. LHC) immer jemand gegenübersteht, der körperliche oder sprachliche Macht ausübt, ohne dass der Protagonist antworten kann. Stattdessen erscheint lediglich ein Rechteck, das die sprachlose Machtlosigkeit optisch sichtbar macht. 303 Während die Szene vor dem ersten Rechteck einen Rückblick andeutet („Cierras los ojos y regresas,“ ebd., 199, Hervorhebung JA), ist die vor dem letzten Rechteck als düstere Zukunftssicht konnotiert („sentirás el peso de mi zapato sobre ti,“ ebd., 286, Hervor301 Die Debatte um Zeugenschaft und Literatur wird hauptsächlich im Zusammenhang mit der Shoah geführt (vgl. Bachmann 2010). In Lateinamerika ist sie mit den Diktaturen des Cono Sur verbunden (vgl. Nickel und Ortiz Wallner 2014, 9). Interessant für die vorliegende Arbeit ist, dass viele der Texte, die sich mit dem Überleben traumatischer Ereignisse auseinandersetzen, metaliterarische Reflexionen anstellen. Das zeigt für die romanistische Literatur Silke SeglerMessner (2006, 34) in ihrer Analyse französischer Literatur nach 1945, die „von einem grundsätzlichen Zweifel am Wert und am Nutzen des Schreibaktes gekennzeichnet“. 302 Im Kapitel „Lo que perdí (2010)“ ist wiederum auffällig, dass die weißen Flächen dort proportional dominieren, wenn z. B. nur ein einzelner Satz auf der Seite erscheint (vgl. Crosthwaite 2010, 247, 254). Erneut spiegeln sich graphisch die Emotionen des Erzählers, in diesem Fall die des Verlusts und der Absenz, wie auch der Titel des Kapitels suggeriert. 303 Monika Schmitz-Emans (1995, 60) zufolge verweisen solche Brüche im literarischen Text auf eine Unfähigkeit zu sprechen, die gesellschaftliche Dimensionen annehmen kann. Ohne sich auf Schmitz-Emans zu beziehen, interpretiert Christian Sperling (2015, 31, 33) auf ähnliche Weise die schwarzen Rechtecke in Tijuana als textuelle Störung, die das individuelle und gesellschaftliche Trauma ausdrücken.
4.5 Luis Humberto Crosthwaite: Tijuana: Crimen y olvido (2010) 201
hebung JA). Hier kann sich durch die zweite Person Singular auch der Leser angesprochen fühlen. Zusammengenommen, implizieren diese Aussagen, dass ungleiche Machtverteilungen und Gewalt in der mexikanischen Gesellschaft konstant sind. Jegliche Hoffnung auf ein positives Ende des Romans, des Kriminalfalls sowie der gesellschaftlichen Krisensituation wird zunichte gemacht. Auf den folgenden Seiten kontrastiert grelles Licht mit der Dunkelheit, als LHC davon berichtet, wie er in seinem vom Tageslicht durchfluteten Haus erwacht (vgl. ebd., 276). 304 Es gelingt ihm, mit dem alten Mann zu sprechen, der ihm gegenüber sitzt und dessen Anwesenheit er zunächst als positiv empfindet (vgl. ebd., 278-286). Doch dieses Gefühl schlägt schnell ins Gegenteil um, als LHC erkennt, dass es sich um denjenigen handelt, der ihm nachts auf der Straße den Schlag versetzt hatte, und den er nun gar als Edén Flores identifizieren kann (vgl. ebd., 279f.). Der Mann spricht: –Aunque sabes muchas cosas de mí, sigo siendo una persona anónima.– No me ves en carteles de la FBI, no soy de los más buscados. Después de tanta chingadera que he hecho, mi nombre sigue siendo una incógnita. Pero en México no pasa nada sin que yo lo sepa y estoy detrás de todo: narcos, policías, políticos. Ellos saben que existo y todos me temen sin saber siquiera mi nombre. […] Por eso quiero que termines de escribirlo; tú explica que soy más cabrón de lo que te imaginabas, quiero que lo sepan todos (ebd., 284).
Obwohl er der Gesellschaft unbekannt sei („persona anónima“, „no me ves“, „mi nombre sigue siendo una incógnita“), sei er doch präsent („sabes muchas cosas de mí“, „saben que existo“). Dabei ist die Angst, die er auslöst, zentral („todos me temen“). Weil jeder sich vor ihm fürchte, so Flores, sei er mächtiger als alle anderen Akteure. Indem er sich als Herrscher über die Drogenkartelle, Polizei und Politiker bezeichnet („estoy detrás de todo: narcos, policías, políticos“), impliziert er, dass die Fäden des Staates und der Kriminalität an einem Ende zusammenlaufen. Gleichzeitig zeugt sein Glaube, dass er hinter allem stehe, von einem Größenwahn, der sich noch steigert, als er sagt „yo soy tu dios, tu creador, el mismísimo demonio“ (Crosthwaite 2010, 286). Auch hier funktioniert die scharfe Trennung zwischen Gut und Böse nicht: Flores gibt vor, in Personalunion Gott (das Gute) und der Teufel (das Böse) zu sein und möchte diesen Zusammenhang bekannt machen („quiero que termines de escribirlo“, „que lo sepan todos“). Somit verkörpert Flores eine Macht, die alle Narrative dominieren möchte. Die christliche Semantik des Textabschnitts ließe sich mit der Offenbarung des Johannes parallelisieren. In beiden Fällen, in der Offenbarung des Johannes sowie in Tijuana, wird dem Ich-Erzähler befohlen, das Gesehene niederzuschreiben 305 304 Das grelle Licht erweckt dreierlei Assoziationen: Es ähnelt einerseits dem Krankenhauslicht, das der Patient erblickt, andererseits kann es dank seiner christlichen Konnotation das Paradies repräsentieren, in das der Sterbende blickt. Im Kontext von Tijuana ließe es sich schließlich als das Licht der Erkenntnis lesen. Da der Erzähler jedoch vom Licht geblendet und orientierungslos ist, erfüllt die Erkenntnis nicht die erhoffte Wirkung. 305 Beide Texte sind ähnlich strukturiert: Der „Epílogo“ ist der letzte Teil von Tijuana (vgl. Crosthwaite 2010, 278-288) und die Offenbarung ist das letzte Buch des Neuen Testaments.
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und im Imperativ zeigt sich eine asymmetrische Machtrelation. 306 Semantisch ist auffällig, dass man die Offenbarung auch als ‚Apokalypse‘ bezeichnet. Deren Etymologie nach erscheint im Text etwas zuvor Verdecktes. 307 Damit wird das anfängliche Motiv von Tijuana, dass der Erzähler nach der Wahrheit suche, wieder aufgegriffen. Doch im aktuellen Sprachgebrauch ist der Terminus ‚Apokalypse‘ negativ bewertet. Während der biblische Ich-Erzähler also ein Zeuge von Gottes Wort ist, sieht er gleicherweise das sich manifestierende Böse in Gestalt von Satan (vgl. Apk 12,9, Apk 20,2; vgl. Reinmuth 2010). Apokalyptische Texte zeigen, „als [...] Gegenutopie [...] Hoffnung und Angst zugleich. Untergangsvisionen bilden nur den dunklen Hintergrund für die apokalyptischen Hoffnungsbilder einer neuen Welt“ (Körtner 2009, o. S.). 308 Anders als in der Bibel endet die Tijuana zugrunde liegende gesellschaftliche Krisensituation jedoch nicht. Die Hoffnung, die LHC anfangs verspürte, ist hier dem „dunklen Hintergrund“ gewichen und alles endet in Angst (vgl. Crosthwaite 2010, 288). Im Unterschied zum neutestamentarischen Sieg Gottes über das Böse, behält in Tijuana das Böse in Figur des Edén Flores das letzte Wort und bleibt dominant. Durch die intertextuellen Bezüge zur Genesis (Anfang des Alten Testaments) und zur Apokalypse (Ende des Neuen Testaments) ist das Böse dauerhaft präsent. Daraus lässt sich schlussfolgern, dass der Text impliziert, es sei hoffnungslos, darauf zu warten, dass sich irgendwann das Gute in Gestalt eines Messias offenbaren und die Gesellschaft vom Bösen befreien werde. Die bereits in der Lazarus-Parallele angedeutete Absage an Heilserwartungen wird hier vollendet und anstelle von Hoffnung bleibt die Verzweiflung. Literatur vermag es, diese Verzweiflung zu artikulieren und das Böse in seiner Wirkmacht darzustellen. Metaliterarisch betrachtet, bietet sich noch eine ergänzende Lesart der Szene an. Der alte Mann sagt: „Soy Edén Flores a tus órdenes, el villano de tu libro“ (Crosthwaite 2010, 283). Der Satz spielt mit der Grenze zwischen der Fiktion und der Realität, da sich Flores explizit als Bösewicht („villano“) ausgibt und sich somit selbst zu einer Figur der diegetischen Welt macht („de Die Offenbarung wird in der Forschung in sieben Kapitel mit einer Art Einleitung und einem Epilog gegliedert und die Zahl Sieben spielt symbolisch eine wichtige Rolle (vgl. Lohse 1988, 24). Tijuana besteht ebenfalls aus sieben Kapiteln, die vom „Prefacio“ und „Epílogo“ eingerahmt sind. In beiden Werken berichtet ein Ich-Erzähler davon, wie er die Stimme eines von Helligkeit umgebenen Mannes hörte, der sich an ihn wandte (vgl. Apk 1,12-16; Crosthwaite 2010, 278). Der Ich-Erzähler des biblischen Textes, San Juan, trägt denselben Namen wie Juan aus Tijuana. Dessen Name, Juan Antonio Mendívil, hat die identische Silbenzahl und Betonung wie Luis Humberto Crosthwaite, der Ich-Erzähler von Tijuana. 306 In der Offenbarung wird der Ich-Erzähler zum Zeugen Gottes, dessen Wort er fortan verkündet (Apk 1,9-10), da dieser ihm den Auftrag gab, es in einem Buch festzuhalten: „die [Stimme, JA] sprach: Was du siehst, das schreibe in ein Buch [...]“ (Apk 1,11). Auf eine ähnliche Weise erhält Luis Humberto in Tijuana von Flores den Auftrag, das Buch zu veröffentlichen: „Tú acaba ese libro […]“ (Crosthwaite 2010, 285). 307 „[A]pokálypsis, eigentlich ‛Enthüllung’, zu gr. (ep.) kalýptein ‛verhüllen’ und gr. apo- ‛weg’, Offenbarung über das kommende Weltende, schreckliches Unheil“ (Kluge und Seebold 2012, Hervorhebungen i. O.). 308 Das wiederum erklärt, warum sie häufig in kollektiven Problemzeiten entstehen (vgl. Hellholm 2009; Körtner 2009).
4.5 Luis Humberto Crosthwaite: Tijuana: Crimen y olvido (2010) 203
tu libro“). Das „a tus órdenes“ wirkt so, als würde Flores dem Autor-Erzähler anbieten, er könne ihn in dieser Rolle einsetzen, wie er wolle. Der Leser erinnert sich jedoch daran, dass LHC kurz zuvor beschlossen hatte, nicht weiterzuschreiben, weil er in seinen Recherchen zu keinem Ergebnis gekommen war (vgl. ebd., 263). Was ihm fehlte, war offenbar genau das, was Flores ihm nun anbietet: Ein identifizierbarer Bösewicht, der zum Ende der Geschichte alle Taten gesteht. 309 Es könnte sein, dass Flores ein bloßes fiktives Produkt ist, erschaffen mittels der Fantasie des Erzähler-Autors, der keinen anderen Ausweg sah als selbst die Figur zu erschaffen, die die Rolle des Schuldigen für das Buchprojekt erfüllen und das Gleichgewicht der verwischten Grenzen wieder herstellen würde. Somit gibt Edén Flores dem Bösen einen Namen, ein Gesicht und verkörpert „ellos“, die namenlosen Täter. Die Suche nach einem Schuldigen und der Versuch, das Böse auszuschließen, werden in Edéns Auftritt grotesk zugespitzt. Der allein zurückgebliebene Erzähler schließt mit folgenden Worten ab: „‚No hay más que silencio en la oscuridad‘, eso me digo cada noche para tratar de ahuyentar mis temores. Pero es inútil“ (ebd., 288). Es gelingt LHC nicht, seiner Angst („temores“) Herr zu werden, obwohl er sich davon zu überzeugen versucht, dass die Dunkelheit ein Ort der Stille sei. Wenngleich er nichts sehen kann, spürt er die Präsenz von etwas Anderem, Phantasmagorischem. Folglich fürchtet sich LHC vor dem, was die Dunkelheit verbirgt, das er aber nicht identifizieren kann. 310 Da es ihm nicht gelingt, seine Ängste zu verscheuchen („ahuyentar“), erfüllen seine Worte nicht ihren Zweck („Pero es inútil“). Diese Aussage lässt sich metatextuell verstehen, denn obwohl die Figur Flores dazu führte, dass LHC sein Buchprojekt veröffentlicht, bleiben Magda und Juan verschwunden. Es handelt sich nicht um ein Happy End, sondern um ein Ende, an dem die das Werk durchziehende pessimistische Stimmung kulminiert. Die LHC umgebende Dunkelheit 311 steht metaphorisch zum einen für seine innere Verzweiflung, zum anderen für das fehlende Licht der Erkenntnis und Aufklärung. Das pessimistische Ende impliziert, dass es der Literatur, also LHCs Buchprojekt, nicht gelingt, die Gesellschaft signifikant zu verbessern. Trotzdem haben die Umstände (in Personifikation von Flores) den Erzähler dazu gezwungen, seine Notizen über den Fall von Magda und Juan zu publizieren. Hier wird also eine Form des öffentlichen Sprechens im Sinne Sontags und Butlers vollzogen. Denn obwohl die Literatur keine endgültige Lösung anbieten kann, ist sie dazu befähigt, das private Einzelschicksal mit dem gesellschaftlichen Ganzen zu verbinden, ebenso die intradiegetische mit der extradiegetischen Welt. Die Nähe zur Gefühlswelt des Protagonisten in Tijuana kann Empathie anregen. Allerdings impliziert der Roman, dass sich die gesellschaftliche Situation nur bessern könne, wenn jeder Einzelne es wagt, mit seinen MitmenFlores beschreibt in einem herablassenden Monolog das Leid, das er Magda, Fabián und Juan zugefügt habe, sagt dabei aber nicht, wo sie sich befinden und ob sie noch leben (vgl. Crosthwaite 2010, 281-284). 310 „[L]o que hay afuera de mi casa,“ „más que ver algo específico, siento una presencia“ (ebd., 288). 311 Die letzte Seite des Textes enthält fünf Mal das Wort „oscuridad“ (ebd.), die Dunkelheit ist in der Abschlussszene also dominant. 309
204 4. Grenzen und Transgressionen im mexikanischen Roman der Gegenwart
schen in einen empathischen Austausch zu treten. Das scheint der wichtigste und zugleich schwierigste Schritt auf dem Weg zu einem gesellschaftlichen Wandel zu sein. Auch wenn ein expliziter Appell an den Leser ausbleibt, ist es letztlich ihm überlassen, diese Erkenntnis anzunehmen und daraus entsprechende Konsequenzen zu ziehen.
4.6
Nadia Villafuerte: Por el lado salvaje (2011)
Im Jahre 2011 veröffentlicht Nadia Villafuerte 312 ihren ersten Roman Por el lado salvaje. Der Titel evoziert die Sphäre des Wilden, Barbarischen und Chaotischen („salvaje“), und erzeugt ex negativo eine Spannung mit dem damit korrelierenden sittlich-zivilisierten Raum, der als das Innere der Ordnung gedacht werden kann. Über die Grenze dieser binären Trennung hinweg wird eine Bewegung konturiert („por el“), die sich in Richtung des Barbarischen vollzieht und einen Austritt aus den vorgegebenen Konventionen andeutet. Durch den intermedialen Bezug auf Lou Reeds Take a Walk on the Wild Side (1972) enthält der Titel implizit gar eine Aufforderung („Take“), diesen Weg anzutreten. Dabei wird eine Reise beschrieben, die in ein subversives Verhältnis zur Ordnung tritt und sich auf Körper und Identität auswirkt – eine mit Sexualität und Tabubrüchen assoziierte Reise, die das Subjekt grundlegend verändert. 313 Hier zeigen sich bereits wesentliche inhaltliche Aspekte des Romans: Die junge Protagonistin Lía, die in einem von Armut geprägten Ort in Chiapas lebt, findet in der Fantasie einen Weg, der Realität zu entfliehen („Imagino otro mundo,“ Villafuerte 2011, 15). Eines Tages freundet sie sich mit einem Mädchen namens Margit an, die von ihrem Vater geschwängert wurde, der daraufhin auch Lía vergewaltigt (vgl. ebd., 17f.). Die Protagonistin überschreitet in der Folge diverse territoriale Grenzen: Sie lässt sich von Glenda, die eigentlich Genaro heißt und ein Transvestit ist, nach Honduras mitnehmen, wo er/sie Lía als Putzfrau ausbeutet und sexuell missbraucht (vgl. ebd., 45f.). 314 SpäNadia Villafuerte (*1978, Tuxtla Gutiérrez) ist für ihre Kurzgeschichten bekannt, die den Blick auf die südliche Grenze Mexikos werfen und dabei binäre Genderkategorien hinterfragen, z. B. ¿Te gusta el látex, cielo? (2008). Das Bild der Grenze, das im Werk Villafuertes zum Vorschein kommt, verbindet also räumliche, soziale und körperliche Aspekte. 313 Der wesensverändernde Charakter dieser Reise ist im Albumtitel Transformer sichtbar (Reed 2002). Das genannte Lied thematisiert und verbalisiert gesellschaftlich tabuisierte Themen wie Oralsex, Drogenkonsum und Transvestismus. Die Grenzen zwischen den Geschlechtern werden performativ in Frage gestellt. Diedrich Diederichsen (2014, 168f.) weist in seiner Analyse der Popmusik jedoch darauf hin, dass in den 1970er Jahren auf der Bühne inszenierte queere Elemente nicht zu einer Auflösung der heterosexuellen Männlichkeit geführt haben. – Der Bezug auf Reed im Roman ist offensichtlich, denn das zweite Kapitel trägt den Titel „Date una vuelta por el lado salvaje“ und innerhalb des Kapitels wird die spanische Übersetzung einer Liedzeile zitiert (vgl. Villafuerte 2011, 31, 37). 314 Immer wenn Genaro zu einer Dragqueen wird, wechselt sein Name zu Glenda (Villafuerte 2011, 28). Auffällig ist die phonetische Nähe zwischen Genaro und dem Wort género – dies untermalt die Wandelbarkeit in der Geschlechtsidentität der Figur. Zugleich zeigen sich auch seine/ihre Selbstzweifel und Ängste davor, gesellschaftlich ausgegrenzt zu werden (ebd., 132ff.). Als Genaro/Glenda eines Abends erstmals Lía vergewaltigt, übt er/sie eine spezifisch männliche, 312
4.6 Nadia Villafuerte: Por el lado salvaje (2011) 205
ter reicht Glenda Lía an den pädophilen Fotografen Bardem weiter (vgl. ebd., 60, 79f.). Nach einigen Jahren schickt Bardem die Protagonistin mit gefälschten Papieren per Flugzeug nach Tijuana, da er sie an ein Bordell verkauft hat (vgl. ebd., 159, 162). Von dort flieht Lía und gelangt an der frontera norte an einen Ort namens Playa Bagdad, wo die Erzählung endet (vgl. ebd., 400ff.). Neben den inhaltlichen Bezügen auf die physischen Grenzen der frontera norte und frontera sur, fokussiert der Roman moralische Transgressionen und schwere Verbrechen. Im Spannungsverhältnis zwischen einer poetisch-stilisierten Sprache und der extremen, allgegenwärtigen Gewalt, verhandelt Por el lado salvaje die metafiktionale Frage, wie Literatur von extraliterarischer Gewalt erzählen kann. Die Raumsemantik ist im Text zentral, da sie die emotionale und soziale Perspektivlosigkeit der erzählten Welt aufgreift. „Playa Bagdad“ zeigt beispielhaft, dass die Räume der erzählten Welt peripher und semantisch von Gewalt und Vergessen gezeichnet sind. Bagdad, gelegen an der Mündung des Río Grande/Río Bravo, war im 19. Jahrhundert ein Knotenpunkt für den Baumwollhandel (vgl. Erazo Heufelder 2018, 77). 315 Inzwischen existiert der Ort jedoch nur noch als Geisterstadt und Strand. Gleichzeitig führt der aktuelle extraliterarische Kontext dazu, dass man den Namen „Bagdad“ mit dem Irakkrieg assoziiert. 316 Das veranschaulicht, wie historische Prozesse auf den Raum einwirken und die den Orten zugeschriebene Bedeutung verändern. 317 Kontrastierend zu Playa Bagdad ist Tijuana in der Erzählung von Beschleunigung geprägt. Die Ich-Erzählerin zählt über nahezu eine gesamte Textseite hinweg unterschiedliche Orte der Stadt auf, die im Sinne Marc Augés als non-lieux gelten. 318 Form und Inhalt gleichen sich, denn die von Asyndeta geprägte Syntax vermittelt die Geschwindigkeit der Stadt („[C]alles atestadas de bares, negocios, hoteles, centros de diversión, prostíbulos [...],“ Villafuerte 2011, 165). Dass die sexualisierte Gewalt aus („Me sentí más hombre de lo que alguna vez hubiese podido soportar“ ebd., 45) und manifestiert damit seine/ihre Überlegenheit. Auch außerhalb des heteronormativen Schemas wird Gewalt ausgeübt, die auf binärer Unterdrückung beruht. Glenda/Genaro erscheint bereits in Villafuertes Kurzgeschichte „¿Te gusta el látex, cielo?“ (2008) und übt dort als Auftragskiller eine männliche Gewalt aus, „La masculinidad del asesino travesti desafia pero hasta cierto punto también reafirma los sistemas de poder en la sociedad fronteriza“ (Villalobos 2016, 59). 315 Playa Bagdad liegt am Flussdelta des Río Bravo, der als ökologische Grenze einen Teil der frontera norte bildet. „Puerto Bagdad“, eine wichtige Hafenstadt, wird nach dem MexikanischAmerikanischen Krieg zu einem Teil des Konföderierten-Staates Texas. Im Jahre 1880 deklariert man den Ort nach Kriegen und Unwettern offiziell als inexistent (vgl. Paullier 2017). 316 Im März 2003 beginnt der Irakkrieg mit einem Luftangriff der USA auf Bagdad, ohne dass jedoch ein UN-Mandat vorliegt. Erst 2011 – in dem Jahre als Villafuertes Roman erscheint – ziehen die USA ihre letzten Truppen aus dem Irak ab. Es wird von über 100.000 irakischen Todesopfern ausgegangen (vgl. Landeszentrale für Politische Bildung BW o. J.). 317 Viele der anderen im Laufe der Erzählung genannten Orte, die sich über alle Kontinente verteilen, befinden sich so wie Playa Bagdad an einem Meer oder großen Binnengewässer: Tel Aviv, Managua, Shanghai, Lissabon, Beirut, Mumbai, Cavite, Manila, Kalkutta, Odessa (Villafuerte 2011, 19, 80, 238, 250, 274, 279, 285, 288). Es handelt sich um historisch von Kriegen und Kolonialismus geprägte Orte. Por el lado salvaje eröffnet einen transnationalen Blick auf Gewalt und Macht und zeigt damit, dass es sich nicht um ein rein mexikanisches Thema handelt. 318 Augé (1992, 130) zufolge sind die non-lieux Ausdruck einer „solitude et similitude“.
206 4. Grenzen und Transgressionen im mexikanischen Roman der Gegenwart
Stadt in der erzählten Welt nur anhand ihrer non-lieux charakterisiert wird, erzeugt ein Bild von Tijuana als anonymem Transitraum (vgl. ebd., 163), in dem keine Gemeinschaft zwischen den sich durch die Stadt bewegenden Menschen entsteht. Am Ende macht Lía es kurz: „una ciudad enorme que sólo tiene fábricas, maquiladoras y problemas“ (ebd., 171). Dabei kontrastiert die geographische Größe („enorme“) mit der kulturellen und sozialen Leere („sólo“). Das von Lía gezeichnete Bild der Stadt lässt durch das gewählte Wort „problemas“ genügend Interpretationsspielraum für den Leser, der es z. B. mit den hohen Gewaltraten Tijuanas assoziieren kann. 319 Hinzu kommt, dass sich diese Aussage intertextuell auf Roberto Bolaños Roman 2666 bezieht, der das fiktive Santa Teresa mehrmals auf eine ähnliche Weise charakterisiert. 320 Por el lado salvaje weist mit dem intertextuellen Bezug darauf hin, dass infrastrukturelle Probleme und feminicidios 321 ähnlich drastisch Tijuana prägen – die gesamte frontera norte ist von Gewalt betroffen. 322 Zugleich impliziert die Zuhilfenahme von Bolaños Roman, der an dieser Stelle fast wortwörtlich zitiert wird, dass dessen Sprache sich besonders dazu eignet, die Gewalt Nordmexikos zu beschreiben. Por el lado salvaje unterscheidet sich von den anderen in dieser Arbeit analysierten Werken, da auch die frontera sur Mexikos und Mittelamerika einen wich-
319 Die Öffnung Mexikos nach 1985 und die Unterzeichnung des NAFTA-Abkommens 1994 haben zu einem wirtschaftlichen Wachstum geführt, das jedoch ungleich ausfiel, da es sich vorrangig auf die nördlichen Staaten beschränkte (vgl. Márquez und Meyer 2017, 767f.). Das Abkommen ist implizit im Text präsent, da die erzählte Zeit sich an der Schwelle zwischen den 1990er Jahren und den 2000ern ansiedelt. Beispielsweise ist die Rede vom „norte próspero“ (Villafuerte 2011, 383). Für eine Analysen der hohen Gewaltraten in Tijuana zwischen 2008 und 2010, vgl. Valle-Jones (2011). Vgl. Kapitel 3.1.3 der vorliegenden Arbeit zu den wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen. 320 „[H]ay fábricas, y también problemas. No creo que sea un lugar bonito,“ „Tenemos de todo. Fábricas, maquiladoras, un índice de empleo muy bajo“ (Bolaño 2009, 141, 362). – Bolaños und Villafuertes Romane fokussieren die infrastrukturellen Veränderungen der durch die Globalisierung und Migrationsbewegungen stark gewachsenen Städte: „[L]a ciudad les pareció un enorme campamento de gitanos o de refugiados dispuestos a ponerse en marcha a la más mínima señal“ (ebd., 149). Villafuerte greift Bolaños Beschreibung fast wortwörtlich auf: „La ciudad es un campamento de gitanos o de refugiados dispuestos a ponerse en marcha a la más mínima orden“ (Villafuerte 2011, 165). In Bolaños Zitat empfinden die Protagonisten den Zustand von Santa Teresa wie ein Flüchtlingslager („La ciudad les pareció“). Indem Villafuerte das Verb auswechselt, wird der Satz zu einer Tatsachenbeschreibung („La ciudad es“). Dies deutet kritisch auf die rapide wachsende Stadt, die infrastrukturell nicht den Bedürfnissen der vielen Transmigranten nachkommt, die nach Tijuana migrieren (vgl. dazu Canales 2003, 123f.). 321 Die Sekundärliteratur setzt Santa Teresa häufig mit dem realen Ciudad Juárez gleich, das aufgrund der vielen feminicidios in den 1990er Jahren international bekannt wird (vgl. z. B. Lainck 2014, 12). Vgl. Kapitel 3.2.2 dieser Arbeit zum Phänomen der feminicidios. 322 Die Gewalt existiert im Roman im gesamten mexikanischen Norden: „[H]abla de cuando estuvo la última vez en el norte del país, de cómo se transformó. ‚Hay tanta mercancía circulando que apenas estiras la nariz y te sangra. Estallidos, sangre y sesos‘“ (Villafuerte 2011, 385f.). Während diese Beschreibung des Nordens zunächst wirtschaftlich konnotiert ist („transformarse“, „mercancía“, „circular“), wird am Ende des Satzes deutlich, dass es sich bei den „mercancías“ um Drogen handelt („la nariz […] te sangra“), die zu einer allgegenwärtigen Gewalt führen („Estallidos, sangre y sesos“).
4.6 Nadia Villafuerte: Por el lado salvaje (2011) 207
tigen Teil der erzählten Welt ausmachen. Die südlichen Regionen werden als peripher charakterisiert: [C]onocí […] el peligro de viajar en este hilillo putrefacto llamado Centroamérica, la sensación de que falta mucho para subir a la prepotente nación americana – nunca lo he deseado – y poco para resbalarse al infierno, de donde uno es, a pesar del asco (Villafuerte 2011, 36).
Der honduranische Ich-Erzähler Genaro stellt in dieser Textstelle mit den USA und Mittelamerika zwei Räume einander gegenüber. Aus Perspektive des Sprechers erscheinen die USA räumlich erhöht und entfernt gelegen („falta mucho para subir a la prepotente nación americana“). Die Bezeichnung als „nación americana“ spielt darauf an, dass die USA für sich den Namen ‚Amerika‘ beanspruchen und dabei die anderen nord-, mittel- und südamerikanischen Länder nicht berücksichtigen. 323 Die wirtschaftliche, soziale und kulturelle Vormachtstellung des Landes wird durch das kritisch-distanzierend konnotierte Adjektiv „prepotente“ hervorgehoben. So betont der Ich-Erzähler explizit, sich niemals für eine Reise in die USA interessiert zu haben („nunca lo he deseado“) und grenzt sich von dem Land ab. Die räumliche Distanz drückt also ebenso metaphorisch eine fehlende emotionale Identifikation mit den USA aus. Genaro bezeichnet den zweiten Raum, Mittelamerika, metaphorisch als „hilillo.“ Der Begriff ist multivalent und kann ‚Faden‘, ‚Grenzbereich‘ oder ‚Rinnsal‘ bedeuten (vgl. Real Academia Española 2014, 1178). Das so hervorgerufene Bild erzeugt Assoziationen mit einer Landkarte, auf der Mittelamerika einen schmalen Landstreifen zwischen Nord- und Südamerika bildet. Das „putrefacto“ verdeutlicht, dass der Sprecher ein zutiefst negatives Gefühl mit diesem Ort verbindet. Er setzt Mittelamerika mit der Hölle gleich, die nicht weit von ihm entfernt liegt („y [falta] poco para resbalarse al infierno“). Der christlichen Lesart zufolge ist die Hölle der Ort der ewigen Bestrafung, in den die Sünder nach ihrem Tod gelangen – in diesem Textbeispiel wird sie aber gleichzeitig als Herkunftsort bezeichnet („de donde uno es“). Das Leben der Mittelamerikaner ist also durch Leid und Tod bereits vorbestimmt und Mittelamerika ein von Verwesung („putrefacto“) gezeichneter „lugar de gran sufrimiento, […] lugar de los muertos“ (ebd.). Die körperliche Abwehrreaktion des Ekels („asco“) weist darauf hin, dass der IchErzähler emotional erschüttert ist und tagtäglich mit seinen eigenen Grenzen konfrontiert wird. Er scheint sich Mittelamerika nicht zugehörig zu fühlen 324 und befindet sich in einem Niemandsland zwischen der „nación americana“ und der mittelamerikanischen Hölle. Durch die christliche Konnotation kann der „hilillo putrefacto“ als eine Art Limbus erachtet werden. Die Menschen, die entlang dieses Grenzgebiets reisen, setzen sich dem Ich-Erzähler zufolge Gefahren aus; das 323 Dieses sprachlich vermittelte Selbstbild der USA zeigt sich exemplarisch in einem USamerikanischen Einführungswerk in die nationale Geschichte, The American Nation (Carnes und Garraty 2011). 324 Kapitel 2.2.2 der vorliegenden Arbeit zeigt, dass Georges Bataille zufolge der Mensch im Gefühl des Ekels mit seinem eigenen Tod und der eigenen Vergänglichkeit konfrontiert wird.
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Wort „peligro“ bleibt abstrakt und vermittelt ein bedrohliches Gefühl. Man gerät leicht ins Rutschen („resbalarse“), ist also von Instabilität und fehlender Sicherheit betroffen. Genaro lässt anklingen, dass er selbst Gewalterfahrungen gemacht hat („conocí“), erläutert sie aber nicht näher. Durch diese negative Semantik weckt die Textstelle Assoziationen mit dem gefährlichen Weg, den die mittelamerikanischen Migranten auf sich nehmen, um aus den von Gewalt dominierten Heimatländern zu fliehen. 325 Ist von „Norteamérica“ die Rede, bezieht sich der Roman allein auf die USA (z. B. Villafuerte 2011, 80, 112, 330, 349). Mexiko, das eigentlich geographisch betrachtet zu Nordamerika gehört, wird also entweder implizit Mittelamerika zugeordnet oder als Grenzgebiet zwischen Nord- und Mittelamerika erachtet. 326 Wie das vorliegende Textbeispiel gezeigt hat, ist die Gemeinsamkeit zwischen den mittelamerikanischen Ländern nicht positiv konnotiert, sie beruht viel eher darauf, dass sie von den USA abgegrenzt und durch den Tod gezeichnet sind. Auch Lías Heimatort Paredón ist semantisch vom Tod geprägt. Er ist namensgleich mit einer im südlichen Bundesstaat Chiapas, in unmittelbarer Nähe zur frontera sur gelegenen Stadt (vgl. ebd., 36). Die Protagonistin beschreibt den Ort ex negativo: „En Paredón no hay olas. Es mar muerto, mutilado: para esto no hay prótesis“ (ebd., 14). Paredón ist semantisch durch das Wortfeld des Todes („muerto“) und der Zerstörung („mutilado“) geprägt. 327 Lía hebt die Unbeweglichkeit Paredóns hervor („no hay olas“), die sich syntaktisch an den kurzen Sätzen manifestiert. Sie spielt sowohl auf geographische als auch auf soziale Begebenheiten an. 328 Der aktuelle Zustand ist irreversibel („no hay prótesis“). Durch die Worte „mutilado“ und „prótesis“ wird der Raum mit Lías Körper parallelisiert. Ihr linker Arm ist anscheinend bereits seit der Geburt verstümmelt (vgl. ebd., 14, 363). Mit der Hand und einem Teil des Arms fehlen Lía wichtige Körperteile, die den Kontakt zur Außenwelt und den Grad der individuellen Selbstständigkeit bestimmen (vgl. Natterer 2012, 172). Lías Behinderung wird zu einem Definitionsmerkmal, wenn die anderen Figuren sie als „manca“ bezeichnen und sie damit auf ihren
325 Vgl. Kapitel 3.2.1 dieser Arbeit zur Migration aus dem Triángulo Norte und den Gefahren, denen die Migranten auf ihrem Weg in die USA ausgesetzt sind. 326 „Centroamérica“ wird im Text 10 Mal genannt, „México“ 12 Mal. Der Fokus ist gleichmäßig sowohl auf Mexiko als auch auf die mittelamerikanische Region als Ganzes gerichtet. 327 Bereits der Name „Paredón“ enthält etymologisch die Wortfelder ‚Tod‘ und ‚Zerstörung‘: „Pared que queda en pie, como ruina de un edificio antiguo. […] Sitio, generalmente delante de un muro, donde se da muerte por fusilamiento“ (Real Academia Española 2014, 1635). 328 Tatsächlich liegt Paredón an einer Lagune, die den Namen „Mar muerto“ trägt (vgl. TapiaGarcía 2011). Die soziale Bedeutung Paredóns lässt sich auch an der intertextuellen Beziehung zu Nadia Villafuertes Text „Paredón“ nachvollziehen, der an der Grenze zwischen Fiktion und Essay angesiedelt ist. Paredón wird bezeichnet als „fragmento imaginario de ese sur opresivo del que salí, [...] ese error y horror histórico que no obstante explica y traduce algo de lo que soy“ (Villafuerte 2010, 81). Der Text betont, dass die Stadt immer imaginär ist („imaginario“). Dadurch fungiert sie als Metapher für die rigide Gesellschaft („sur opresivo“) und hat als historischer Raum neben der kollektiven zugleich eine autobiographische Relevanz („salí“, „algo de lo que soy“).
4.6 Nadia Villafuerte: Por el lado salvaje (2011) 209
körperlichen Defekt reduzieren (z. B. Villafuerte 2011, 48, 83). 329 Im übertragenen Sinn steht der verstümmelte Arm außerdem für die schwierigen sozialen Verhältnisse, die Lías Leben von Beginn an als mangelhaft charakterisieren (vgl. ebd., 15). El sexo es cuanto me une a la vida. Lo supe desde la infancia. Y no tuve infancia. Esta tierra de la que hablan todos, no existió para mí. No hay fotos, a eso me refiero. Hay un hueco de seis, siete años, como el vacío que se hace en la manga izquierda de mis blusas. […] Estoy en un patio y mi madre me dice: ‚Muévete‘. No deja que me bañe a mi antojo, y logra infundir en mí la poética del trauma que no me abandonará en el futuro: un charco de lodo, un pantanoso espejo sentimental desde donde todo lo observaré. […] No hay la señal de un padre (ebd., 13f.).
Die Textstelle beginnt mit den Schlüsselbegriffen „sexo“ und „vida“. Sie kontrastieren mit der „infancia“, die eigentlich mit Unschuld und Naivität assoziiert werden sollte und nicht etwa mit einem Wissen über Sexualität. Die metaphorisch als Land („tierra“) charakterisierte Kindheit erzeugt den Eindruck von Stabilität, Schutz und einem Zugehörigkeitsgefühl – doch all dies existiert für Lía nicht. Im Gegenteil prägen Lücken und Leere („huecos“, „vacío“) ihr Leben ohne Kindheit und Vater. Dieser nicht ausgleichbare Mangel drückt sich textuell durch häufige Negationen aus, die mittels Anaphern („No hay“) und einer parallelen Satzstruktur („no tuve“, „no existió“, „no deja“) hervorgehoben werden. 330 Die unpräzise Zeitangabe („seis, siete años“) lässt vermuten, dass die Protagonistin in ihrer Kindheit traumatische Erfahrungen gemacht hat und sie daher unter einer dissoziativen Amnesie leidet. 331 Passend zu dieser Hypothese lenkt der Titel des ersten Kapitels, „Lo que recuerdo y lo que no“ (ebd., 11) die Aufmerksamkeit auf die Lücken der Erinnerung („lo que no“). Es existiert kein sekundäres Zeugnis der Erinnerung („fotos“), mithilfe dessen Lía ihr fehlendes Wissen ausgleichen könnte. Der Vater war nie existent, kann also auch nicht zurückgewonnen werden („No hay la señal de un padre“). Die Mutter tritt sprachlich nur durch den verwendeten Imperativ („Muévete“) in Erscheinung, der vermuten lässt, dass sie streng mit ihrer Tochter umgeht. Insofern stellt die Elterngeneration allegorisch das zerstörte soziale Gefüge dar: Andere Mütter in der erzählten Welt begehen aufgrund unheilbarer körperlicher oder psychischer Erkrankungen Selbstmord (vgl. ebd., 143f., 177, 190f.) – keine von ihnen kann das Bild der fürsorglichen Mutter ausfüllen. Die abwesende oder gewalttätige Vaterfigur verkörpert eine fehlende Ordnung, die sich negativ auf die jüngere Generation auswirkt. Die Vergangenheit ist mit einem Trauma Semantisch ist das Wort „manca“ als Verlust und Defekt konnotiert: „Que ha perdido un brazo o una mano […]“, „defectuosa, falta de alguna parte necesaria“ (Real Academia Española 2014, 1391). 330 Es deutet sich an, dass die Protagonistin ihre eigene Geschichte mit der sie umgebenden Welt und den Diskursen der anderen Menschen abgleicht („de la que hablan todos“) und erst in der Gegenüberstellung mit den anderen ihren Mangel bemerkt. Beispielsweise erwähnt Lía keinen fehlenden Arm, sondern einen nicht ausgefüllten Blusenärmel („el vacío que se hace en la manga izquierda“). Lía erkennt, dass sie nicht dem vorgegebenen Modell von Normalität entspricht (vgl. Villafuerte 2011, 13f.). 331 Zur dissoziativen Amnesie vgl. Seidler (2013, 139). 329
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belegt, die Gegenwart von Gewalt geprägt und die Zukunft bereits durch den Tod vorbestimmt. 332 Das idyllische, mit Unschuld assoziierte Bild des sich waschenden Mädchens wird durch die Intervention der Mutter verhindert, die ihrer Tochter verbietet, nach eigenem Belieben zu baden („que me bañe mi antojo“) und das Wasser in einen verunklarten „charco de lodo“ konvertiert. Das Motiv des „espejo sentimental“ spielt dabei eine wichtige Rolle. Jacques Lacan zufolge ist der Blick in den Spiegel der Moment, in dem das Subjekt sich selbst erkennt und zugleich verkennt, da der Identitätsbildung ein unerreichbares Ideal zugrunde liegt, das einen Mangel markiert (vgl. Lipowatz 2004, 147). Der Spiegel kann jedoch zugleich die Sicht auf die Wirklichkeit verzerren. Lías Blick auf die Welt ist in diesem Fall durch das transgenerational von ihrer Mutter vererbte Trauma 333 geprägt, das einen dunklen Schatten auf die Weltsicht legt und aus der Vergangenheit in die Zukunft hinein fortwirkt – wie sich im Futur „observaré“ zeigt. Der Spiegel stellt zusammen mit der „poética del trauma“ (Villafuerte 2011, 13) einen Schlüsselbegriff für das Textverständnis dar. 334 In Bezug auf die zentrale metafiktionale Frage, wie Literatur extraliterarische Gewalt verhandelt, demonstriert Por el lado salvaje, dass die Ästhetik dabei entscheidend ist: Im Kreislauf der extremen Gewalt gelingt es dem Roman, so meine These, eben diese „poética del trauma“ zu erzeugen, die zeigt, dass eine Traumatisierung stattgefunden hat, und das durch Gewalt Zerstörte sichtbar macht, ohne dass es in den Bereich des eindeutig Definierbaren, explizit Sagbaren überführt und somit umgekehrt wird. Die bereits im Ausdruck ‚Poetik des Traumas‘ enthaltene Widersprüchlichkeit zieht sich durch den gesamten Text als permanentes Spannungsverhältnis zwischen einer poetisch-stilisierten Sprache und der im Kontrast dazu extremen, allgegenwärtigen Gewalt. Das lenkt den Fokus auf die metaliterarische Frage, wie Literatur Traumatisches verhandeln kann. Indem die poetische Sprache nicht die brutale, vom Wortfeld der Gewalt durchzogene Sprache reproduziert, schützt sie die Opfer vor einer Reviktimisierung. Doch eine gesteigerte Poetizität setzt voraus, dass der Leser die Textstellen zu interpretieren weiß, um die sprachlich verdichtete Gewalt als eine solche zu erkennen. Dieser Prozess enttarnt zugleich die Euphemismen, die mitunter zum Einsatz kommen, um extreme Gewalt zu beschreiben. Die Problematik tritt deutlich zutage, als Lía den Moment schildert, in dem sie das erste Mal vergewaltigt wird: 332 Das neue Leben entsteht im Roman immer durch Gewalteinwirkung – Margit erwartet ein Kind von ihrem Vater, Bardem schwängert Lía und zwingt sie zu einer illegalen Abtreibung (vgl. Villafuerte 2011, 16, 91f.). Das neu gezeugte Leben ist entweder inzestuös entstanden oder es wird abgetrieben, die Zukunft ist also nicht lebensfähig. 333 Traumata können transgenerational weitergegeben werden (vgl. Seidler 2013, 164f.). Wissenschaftler der Universidad Nacional Autónoma de México gehen gar davon aus, dass das Trauma bereits im Mutterleib an das ungeborene Kind vererbt werden könne (vgl. UNAM global 2018). 334 Für eine historische Einführung in die Poetik, die Lehre der Dichtkunst und Literatur, vgl. Werner Jung (2014, 7f.), der betont, dass sich bei der Poetik immer Theoretisches und Praktisches verschränken. Obwohl Por el lado salvaje kein theoretisches Traktat entwirft, stellt der Roman ganz praktisch eine Poetik des Traumas auf, legt also dar, wie der literarische Text Traumatisches verhandelt.
4.6 Nadia Villafuerte: Por el lado salvaje (2011) 211 […] Margit […] me conduce y ordena: ‚Sin miedo, ande‘, hasta que, con una naturalidad clínica, me lleva hasta el espejo. Nunca siente repudio por el muñón, no pregunta por qué, cómo. Tampoco su padre. Me refiero al hombre de facciones toscas pero distante y respetuoso, de labios curvándose en una blanda y estúpida sonrisa: el que sin titubeos se acerca por detrás, ronronea, se pega contra mí, empujando, y repite el suave movimiento que desgarra la carne, el silencio que se rompe sin que pueda detenerse la cisura, la impresión de estar por fin libre. El que me enseña que todo el calor de la tierra puede refugiarse ahí. Quien regalándome un cuerpo nuevo, hace que vuelva a casa reptando igual que una culebra entre las flores. […] Gracias al sexo descubro la dinámica de plenitud y vacío, ese despliegue de parámetros de la milicia doméstica; el acto de seducción por el que se entra al campo de los adversarios para descomponerlos lenta e imprevisiblemente, desde dentro; la lógica del método cuando, después del amor, uno se da cuenta de que la violencia es el único camino por recorrer. Llego a la vivienda de Margit dos, tres veces por semana. Hay demasiado tiempo libre, así que mantengo el interés frente al muro donde crece el deleite unido al castigo, el amor atado al desprecio. Con ellos me identifico. A partir de entonces soy otra. Me enseñan que el mar hace su tarea de ardernos antes de tiempo. Luego nos domesticamos, igual que flores marchitándose en un jarrón (Villafuerte 2011, 18f.).
Lías neue Freundin Margit tritt bestimmend („me conduce“, „ordena“), routiniert und distanziert („naturalidad clínica“) auf und nimmt die Rolle einer Kupplerin ein, als sie Lía zu ihrem Vater führt. Der namenlose Vater wird von der IchErzählerin zunächst seinem Aussehen nach charakterisiert, wirkt grob („facciones toscas“), aber „distante y respetuoso“. Dieser Eindruck schwindet, als er sich lächelnd nähert. Da Lía dieses Lächeln nicht positiv bewertet, zeigt sich ein Gefühl der Ablehnung („blanda y estúpida sonrisa“). Im Folgenden beschreibt sie die Bewegungen des Mannes („se acerca“, „se pega contra mí, empujando“). Das onomatopoetische Verb „ronronea“ setzt ihn mit einem Raubtier gleich und erzeugt das Gefühl einer latenten Bedrohung. Die Intensität der beschriebenen Szene nimmt zu, da mit dem Blick, Gehör und Takt unterschiedliche Sinne synästhetisch verbunden werden. Das Asyndeton untermalt die schnellen Handlungen von Margits Vater („se acerca por detrás, ronronea, se pega contra mí, empujando“). Es ist nicht eindeutig, auf welchen Moment sich das „sentimiento de estar por fin libre“ bezieht. Es kann Lías Erlebnis des sexuellen Akts beschreiben oder aber den Moment, in dem der Mann sie endlich loslässt. Die Konfusion verstärkt sich, da Lía diese erste sexuelle Erfahrung nicht etwa als Vergewaltigung bezeichnet, sondern von einem Geschenk spricht und ihren Vergewaltiger mit positiven Worten charakterisiert („me enseña“, „regalándome“). 335 Lía selbst nimmt eine passive Position als Objekt ein („-me“), und sprachlich zeigt sich, wie die Gewalt auf den Köper einwirkt: Während die Erzählerin anfangs noch ein Personalpronomen verwendet („contra mí“), verschwindet das Ich im Akt der Vergewaltigung („des335 Dass ein Geschenk nicht nur positiv und altruistisch ist, wird an einer späteren Stelle im Text betont. Lía sagt: „‚No me gustan los regalos.‘ ‚¿Por qué?‘ ‚Porque no me gusta dar las gracias‘“ (Villafuerte 2011, 388). Die Protagonistin deutet darauf hin, dass man sich beim Erhalt eines Geschenks immer auch dazu verpflichtet, es anzuerkennen. Sich zu bedanken („dar las gracias“) führt zu einer asymmetrischen Beziehung zugunsten des Geschenkgebers.
212 4. Grenzen und Transgressionen im mexikanischen Roman der Gegenwart
garra la carne“). Die Worte „carne“, „cuerpo“, „uno“ markieren eine Distanz und implizieren, dass sich Lías Persönlichkeit spaltet. An der Sprache wird nachvollziehbar, dass die sexualisierte Gewalt auf die Protagonistin traumatisierend wirkt, obwohl sie dies nicht explizit sagt. Während die üblicherweise mit einer Vergewaltigung assoziierten Worte 336 fehlen, beschreibt das Wort „cisura,“ dass Lía eine körperliche und seelische Verletzung erleidet. 337 Außerdem fällt auf, dass die Ich-Erzählerin nur wenige Adjektive verwendet, und sie nicht ihr Leid beschreiben, sondern positiv konnotiert sind („suave“, „libre“). Stattdessen dienen Vergleiche und Metaphern dazu, die Schmerzen zu artikulieren: Lía vergleicht sich mit einer Schlange („reptando igual que una culebra“) und impliziert damit, dass sie aufgrund der Schmerzen nicht mehr aufrecht gehen kann. Das verweist auf den Ausschluss aus dem Paradies im 3. Buch Genesis. 338 Der Kontrast zwischen dem Akt der Erkenntnis und dem Leid, mit dem ein neues Verhältnis zum Körper einhergeht, unterstreicht die verhängnisvolle Konsequenz für die Protagonistin, für die es kein Zurück hinter diese traumatische Erfahrung mehr gibt und die die Merkmale der biblischen Schlange und Evas in sich vereint. Es entsteht ein Kontrast zwischen der Schlange und den ebenfalls symbolisch bedeutsamen Blumen, die für Schönheit und Liebe, aber auch für Vergänglichkeit stehen („flores marchitándose“) (vgl. Grosse Wiesmann 2012, 56ff.). Die erwähnten Blumen erzeugen durch die sprachliche Nähe Assoziationen mit der euphemistischen Bezeichnung einer Entjungferung als ‚Defloration‘ (desflorar). Hier zeigt sich, dass die Sprache Gewalt beschönigen und verdecken kann. Der ästhetische Gehalt der gewählten Worte kontrastiert mit der von ihnen beschriebenen Gewalt. Im umgekehrten Sinn hält die Sprache jedoch auch Bilder bereit, die die Gewalt erfassen, die anders nicht ausgesprochen werden kann. Denn die in dieser Textstelle gewählten Metaphern der Natur und des Krieges vermitteln die Gewalttätigkeit der von Lía gemachten sexuellen Erlebnisse („milicia doméstica“, „se entra al campo de los adversarios“, „descomponerlos lenta e imprevisiblemente“). Im Sinne Jacques Lacans lässt sich die These aufstellen, dass die Metaphern 336 Bezeichnungen, die zum Wortfeld der sexualisierten Gewalt gehören, fehlen in diesem Textabschnitt, z. B. „violar“, „abusar“, „penetrar“, „maltratar“, „doler“. Auch Geschlechtsteile werden nicht erwähnt (vgl. ebd., 18f.). 337 Die phonetische Nähe zwischen „cisura“ und „cesura“ markiert diesen Moment als unumkehrbaren Einschnitt, als eine Zäsur im Leben Lías. Allerdings bleibt die „cesura“ im Spanischen meist auf ihre metrische Bedeutung beschränkt, allein als „cesura histórica“ findet der Begriff im spanischsprachigen Raum eine Verwendung (vgl. Real Academia Española 2014, 494; Benedetti 2014). 338 Im dritten Buch Genesis nimmt die Schlange eine wichtige Rolle ein: Sie weiß, wofür der Baum der Erkenntnis steht, widerspricht dem Wort Gottes, indem sie es sich aneignet und verführt Eva, vom Baum zu essen (Gen 3,5-6). Adam tut es Eva gleich. Aus der Grenzüberschreitung folgt für Adam und Eva, dass sie Scham empfinden, also ein neues Verhältnis zu ihrem Körper haben (Gen 3,7). Gott verweist sie des Paradieses (Gen 3,23), womit aber der Beginn der Menschheit einhergeht. Nach der Transgression des göttlichen Wortes können ‚Gut‘ und ‚Böse‘ voneinander unterschieden werden, aber Gott verdammt die als hinterlistig charakterisierte Schlange zum Kriechen (Gen 3,14) und Eva wird die ewigen Qualen der Geburt tragen müssen, weil sie sich hat verführen lassen (vgl. Frey-Anthes 2008).
4.6 Nadia Villafuerte: Por el lado salvaje (2011) 213
einen Zugang zum Verdrängten und zum Unbewussten der Erzählerin bieten. 339 Die für die Protagonistin traumatische Erfahrung der Vergewaltigung wird erst durch ihre ästhetische Verarbeitung als Metapher artikulierbar. In diesem Zusammenhang erscheint erneut das relevante Motiv des Spiegels, vor dem die Vergewaltigung geschieht. In der hier markierten Grenzerfahrung verändert sich die Perspektive der Protagonistin auf ihren Körper radikal und irreversibel („cuerpo nuevo“). Die Mauer („muro“) verdeutlicht dabei, dass die gemachte Erfahrung unumkehrbar ist. Darüber hinaus bietet der Spiegel ein verzerrtes Abbild der Realität, das dem Subjekt aber die Erkenntnis ermöglicht („me enseña“). Lía kann ihre Vergewaltigung auf der Metaebene des Spiegels sehen, die der Differenz zwischen dem erzählten und dem erzählenden Ich entspricht. 340 Damit gleicht der literarische Text einem Spiegel, von dem aus die erlebte Gewalt beschrieben und erkenntnisbringend verarbeitet werden kann. Stilistisch fallen in diesem Textabschnitt die vielen antithetischen Verbindungen auf („suave movimiento“ – „desgarra la carne“, „plenitud y vacío“, „amor“ – „violencia“), die eine ambivalente Spannung zwischen positiv und negativ konnotierten Worten erzeugen. 341 Dabei stellen die chiastisch angeordneten Korrelativbegriffe „deleite“/„castigo“ und „amor“/„desprecio“ einen intertextuellen Bezug auf Sor Juana Inés de la Cruz dar, die beispielsweise in ihrer polemisch rezipierten „Carta Atenagórica“ [1690] die Begriffe „amor“, „deleite“ und „castigo“ verwendet (De la Cruz 1994, 421f.). 342 Por el lado salvaje weist mit der Nähe zu Sor Juana auf transhistorische patriarchale Strukturen in Mexiko hin und lenkt den Blick auf das körperliche und diskursive Leid der Frau. 343 Die poetisch-stilisierte Sprache macht auf die Distanz aufmerksam, die zwischen der realen körperlichen Erfahrung und der sprachlichen Verarbeitung im Text liegt. Es zeigt sich ein weiteres Charakteristikum der poética del trauma, deren Bezug auf barocke Motive es Lacan zufolge ersetzt in der Metapher ein Signifikant den anderen. Der verdrängte Signifikant wirkt im Verborgenen und bleibt dadurch latent präsent (vgl. Lacan 1957, 60). 340 Die Distanz zwischen dem Erleben und dem Erzählen schlägt sich auch sprachlich nieder und es scheint, dass sich die Erzählerin an ein Gegenüber wendet: „Me refiero al“, „Por raro que suene“, „a partir de entonces“ (Villafuerte 2011, 18f.). 341 Mit der Verknüpfung von „plenitud y vacío“ setzt der Text semantisch das um, was Aleida Assmann als Indikator für das Trauma bezeichnet, das im paradoxen Widerspruch zwischen „Überschuss und Leere“ erscheint (vgl. Assmann u.a. 2014, 10f.). 342 Gegenstand des theologisch wie politisch deutbaren Textes ist die Liebe Gottes für die Menschen, erkennbar im Tod Jesu als „mayor fineza“ (De la Cruz 1994, 417). Wie Por el lado salvaje thematisiert er das Motiv des Geschenks und des Opfers. Auffällig ist, dass Sor Juana die biblische Geschichte Jakobs zur Illustration heranzieht, indem sie seinen aufopfernden Dienst für die Heirat mit Rahel analysiert (vgl. ebd., 416). Lea, die ungeliebte Frau Jakobs, erscheint in dem Text nicht namentlich, ist aber implizit präsent. In der Forschung wird u.a. die These vertreten, dass der Text Sor Juanas gegen die patriarchale Konvention gerichtet ist und das Recht auf die freie Meinungsäußerung betont (vgl. Brescia 1998, 93). 343 Für den Bezug auf Sor Juana spricht auch die folgende Szene, in der sich die Ich-Erzählerin Lía das erste Mal mit Bardem unterhält: „‚No necesita usted explicarse‘, le digo y él contesta: ‚Te expresas como si estuviéramos en la época de la colonia‘“ (Villafuerte 2011, 55). Lía siezt Bardem und verwendet eine durch die Inversion auffällige Syntax. Bardems metasprachlicher Kommentar lenkt den Fokus auf Lías untypische Sprache, die ihm antiquiert erscheint. Er gibt ihr sogar einen zeitlichen Rahmen („época de la colonia“). 339
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erlaubt, die Schreibweise von Por el lado salvaje als neobarock zu bezeichnen. 344 Wie am Beispiel dieser Textstelle illustriert, dominieren dabei Stilmittel wie die Metapher, Antithese und Alliterationen, die die Literarizität des Textes stark fokussieren. Die traumatische, durch Gewalt erzeugte Leere wird sprachlich gefüllt – und tritt dabei umso markanter in Erscheinung. Neben Verbrechen wie Vergewaltigungen, Pädophilie und Zwangsprostitution 345 findet auch die willkürlich von staatlichen Institutionen verübte Gewalt einen Eingang in die erzählte Welt. Lía beschreibt den Moment, als sie mit Glenda am Grenzübergang nach Guatemala steht und dort eine Szene beobachtet, die sich in ihrer Nähe abspielt: A unos metros de nosotras un guardia, de pie junto a un costal, forcejea con un perro que protesta con ladridos demasiado bravos para su flaco lomo. El zambo bajito corre, abre el costal y allí lo zambulle. Cierra el costal con una cincha, lo coloca en el piso y el perro comienza a gruñir. Los guachos tienen ya los garrotes en las manos, comienzan a golpear mientras el fardo danza, bota, aúlla enloquecido. ‚¿Y ahora qué?‘, Glenda buscando sus gafas en el bolso. ‚Subamos. Que me devuelven,‘ le jalo la blusa. Supongo que se me nota el terror en la cara pero tengo suerte porque el soldado me indica que ya pase, sin saber que estoy escapando ilegalmente, en lo que él apalea al animal. ‚Larguen a este bulto‘, es lo último que oímos (Villafuerte 2011, 27).
Die Alliteration „perro que protesta“ lenkt die Aufmerksamkeit auf den Hund, der durch das Verb „protestar“ vermenschlicht wird. Da er sich nicht der Ordnung fügt, die der Wachmann verkörpert („ladridos demasiado bravos“), entwickelt sich zwischen beiden eine Auseinandersetzung („forcejear“). Nachdem der Hund zur Bestrafung in den Sack gesteckt wird („costal“), verliert er erstens jegliche Ähnlichkeit mit einem Menschen und erscheint zweitens auch nicht länger als Tier, sondern lediglich als Sack („fardo“). Der Wachmann reduziert ihn diskursiv auf den Status eines Gegenstands („Larguen a este bulto“) und distanziert sich mit dem despektierlichen „este“ vom Tier. Den Befehl, den Hund zu töten, drückt er euphemistisch mit dem Verb „largar“ aus. Doch die Ich-Erzählerin benennt die Gewalt explizit („golpear“, „apalear“). Die wilden Bewegungen des in den Sack eingesperrten Hundes zeichnen sich auf Ebene der Syntax im Rhythmus des asyndetischen „danza, bota, aúlla“ ab. Durch die euphemistische Beschreibung als Unterschiedliche lateinamerikanische Schriftsteller wie Alejo Carpentier und José Lezama Lima prägen den Begriff des neobarroco, der sich auf die lateinamerikanische Literatur des 20. Jahrhunderts bezieht, aber nicht einheitlich definiert ist (vgl. Ueckmann 2014, 170). Zentral ist dabei die zweiseitige Bewertung des Barock in Amerika, einerseits als aus Europa kolonial eingeführter literarischer und künstlerischer Stil, andererseits als eigenständiger kultureller Ausdruck Lateinamerikas; Kolonialgeschichte und Widerstand sind hier verschachtelt (vgl. ebd., 150ff.). – Für den Neobarroco sind die Motive ‚Krise‘ und ‚Trauma‘ wichtig: „Das dem Neobarroco vorausgegangene Krisenerlebnis ist das Zerbrechen eines von politischen Überzeugungen geleiteten Weltbildes“ (ebd., 181). Die poststrukturalistische Definition von Severo Sarduy ist anschlussfähig, da sie nicht essenzialisierend vorgeht und auf Lacan beruht: Der neobarocke Roman spiele mit den Signifikanten und wende sich gegen große Erzählungen sowie einen einheitlichen Sinn (vgl. ebd., 180). 345 Die Gewalt nimmt im Text unterschiedliche Formen an: Inzest, Vergewaltigungen, Zwangsabtreibungen, Menschenhandel und Prostitution (vgl. Villafuerte 2011, 16, 18, 92, 166, 169). 344
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tanzender Sack wirkt die Szene zunächst komisch („el fardo danza“). Der Sack wird personifiziert, doch das Lebewesen, das in dem Sack steckt, ist nicht länger sichtbar. Allein die aus dem Sack zu hörenden Geräusche vermitteln die Schmerzen, die der Hund empfindet: Das bedrohliche Knurren („gruñir“) wandelt sich zu einem unbändigen Jaulen („aúlla enloquecido“). Am Ende sind die Worte des Soldaten das Letzte, was noch zu hören ist („lo último que oímos“). Der Hund verstummt, denn er ist tot. In dieser Szene wird mit dem Hund ein Tier zum Opfer von willkürlicher Gewalt, das als Wächter, Freund und domestizierter Begleiter des Menschen gilt (vgl. Borgards 2012, 192f.). Es handelt sich also um ein Tier, das sich der Kultur des Menschen anpassen und unterordnen kann. Hier zeigt sich, dass diese kulturelle Ordnung auf Gewalt beruht. Wie Jan Philipp Reemtsma (2016b, 24f.) erläutert, ist bei einem vermeintlich unbegründeten Gewaltausbruch vor allem der kommunikative Aspekt aufschlussreich, der sich an Außenstehende wendet: Die Soldaten demonstrieren in diesem Fall ihre Stärke und die Willkür, mit der sie straflos gegen andere vorgehen können. Auffällig ist, dass Glenda als Außenstehende der Gewalt keine Aufmerksamkeit widmet und wegsieht („¿Y ahora qué?“, „buscando sus gafas“). Scheinbar möchte sie selbst einer weiteren Schikane entgehen. Denn wie Lía erzählt, wurde Glenda zuvor von den Soldaten respektlos behandelt („no se ha defendido; prefiere acabar con el interrogatorio,“ Villafuerte 2011, 26). Dieses Beispiel zeigt, dass die willkürliche Gewalt der Institutionen das soziale Vertrauen zerstört und eine gegenseitige Solidarität verhindert. Dass Menschen ihren Blick von der Gewalt abwenden, ist nicht nur ein Ausdruck ihrer Normalisierung, vielmehr liegt dieses Verhalten oftmals in Angst begründet. Mehrere Aspekte erlauben es, die Szene allegorisch als eine Kritik an der extraliterarischen, institutionellen Gewalt zu deuten: Der Hund wird erst personifiziert, dann aber verdinglicht. 346 Seine Bezeichnung als „bulto“ ahmt einen Sprachgebrauch nach, mit dem das mexikanische Militär in den 1970er Jahren die gefangen genommenen Oppositionellen bezeichnete. 347 Diese Verdinglichung erzeugt eine Distanz zwischen dem Täter und seinem Opfer, dem die Identität und jegliche Rechte abgesprochen werden. Zudem setzt das Motiv der Stimme („protestar“, „gruñir“, „aullar“) den Hund in eine Parallele zu Menschen, die gegen die Regierung protestieren: Der Hund erhebt die Stimme und wird von der Ordnungsmacht zum Schweigen gebracht, so wie das repressive Vorgehen von Polizei und Militär die Oppositionellen oder Menschenrechtler in ihrer freien Meinungsäußerung einschränkt. 346 Dass der Hund in einen „costal“ gesteckt wird, erzeugt Assoziationen mit Nachrichtenmeldungen aus Mexiko, die davon berichten, wie Leichen in „costales“ aufgefunden werden (vgl. Vórtice MX 2017). 347 Während der sog. guerra sucia in Mexiko ist diese diskursive Taktik üblich, wenn es um den Transport von Oppositionellen in illegale Gefängnisse oder auf sog. vuelos de la muerte geht. Der sog. Plan Luciérnaga (1973) bezeichnet die Gefangenen als „paquetes“ (vgl. Rangel Lozano 2015, 64f.).
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Dabei sticht das Adverb „ilegalmente“ hervor. Lía verlässt in dieser Szene zwar freiwillig das Land, ist aber minderjährig und hat keine Papiere (vgl. ebd., 22, 27); Glenda betreibt somit rechtlich gesehen Menschenschmuggel. Hier zeigt sich die doppelte Funktion der staatspolitischen Grenze, die nicht nur nach außen abgrenzen, sondern vielmehr einen Schutz des Inneren wahren soll. Der schützenden Funktion kommt sie in diesem Fall jedoch nicht nach, da das Militär sich nicht um Minderjährige kümmert und illegalen Aktivitäten nichts entgegensetzt, weil es selbst damit befasst ist, Gewalt gegen Schwächere auszuüben („se me nota el terror en la cara“, „estoy escapando ilegalmente, en lo que él apalea al animal“). Der Zusammenhang zwischen beiden Handlungen besteht auch formal, da sie in einem Satz parallelisiert und als Alliterationen hervorgehoben werden („estoy escapando“, „apalea al animal“). Die repressive Gewalt geht zu Lasten der schwächsten Mitglieder der Gesellschaft. Außerdem sind in dieser Szene die Worte auffällig, mit denen die IchErzählerin die Grenzsoldaten beschreibt. Während „guardia“ und „soldado“ neutrale Berufsbezeichnungen sind, verwendet Lía mit „zambo“ und „guacho“ auf die Kolonialzeit zurückgehende Termini. Im sistema de castas gehören die „zambos“ zu den sozial niedrig gestellten Bevölkerungsgruppen. 348 Durch die Charakterisierung als klein und krummbeinig („zambo bajito“), erscheint der Wachmann in dieser Szene zunächst als harmlos, der Diminutiv erhöht diese Wirkung. Gleichzeitig entsteht semantisch eine Distanz zu den Soldaten und die ausschließende Funktion von Sprache tritt zutage. Denn „guacho“, ein aus der Sprache der Purépecha-Indigenen stammender Begriff, dient bis heute dazu, Menschen aus sozialen und/oder ethnischen Gründen abzuwerten (vgl. Ragone und Marr 2006, 116). 349 Häufig richtet man ihn in Mexiko pejorativ gegen Soldaten. Im Text werden die ethnische Zugehörigkeit der Figuren und die damit verschränkte soziale Konnotation hervorgehoben. An anderer Stelle bezeichnet Lía ihre Mutter als „negra“ und „mulata perdida“ (Villafuerte 2011, 15, 401). Chiapas, eigentlich bekannt für seine diversen indigenen Völker, 350 wird von einer unterschiedlichen Seite beleuchtet, indem der Roman auf die bislang wenig erforschte Tatsache verweist, dass auch im kolonialen Chiapas Sklavenhandel mit Menschen aus Afrika betrieben wurde. 351 Lía verknüpft die explizit beschriebene Hautfarbe mit einer Zugleich kann „zambo“ eine Person mit X-Beinen bezeichnen: „Que por mala configuración tiene juntas las rodillas y separadas las piernas hacia afuera. […] Nacida de negro e india, o de indio o negra,“ (Real Academia Española 2014, 2277). 349 Auf die Bedeutung des „guacho“, mit dem man despektierlich dunkelhäutige Soldaten bezeichnet, geht der Blog Chinaco (2011) ein. Vgl. auch Morales Sales und Carrillo Torea (2015). 350 Die offizielle Website des Bundesstaates Chiapas betont beispielsweise die ethnische und kulturelle Vielfalt des Staates. Unter den genannten grupos étnicos findet sich jedoch weder ein Verweis auf die historische Präsenz von afrikanischen Sklaven, noch auf aktuelle afrodescendientes (vgl. López Ruiz 2012). Eine der wenigen wissenschaftlichen Studien zum Thema veröffentlicht González Esponda (2002). Vgl. auch Taniguchi (2011). 351 „Mi madre es negra, de un negro azulado con el que una creía mancharse si se la tocaba; el mío es claro“ (Villafuerte 2011, 15). Indem sie die Hautfarbe ihrer Mutter als dreckig konnotiert, grenzt Lía sich von ihr ab („mancharse“ vs. „claro“). – Das Zitat macht auf die afrikanischen Sklaven aufmerksam, die während der Kolonialzeit nach Chiapas verschleppt werden. Seit 1542 348
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sozialen Position: „Ella es criada. Y las criadas reproducen su especie“ (ebd., 19). Der biologische Sprachgebrauch setzt die Berufsgruppe der Mutter mit einer Tierart gleich („especie“). Anstatt jedoch wie bei Tieren von einer sexuellen Fortpflanzung („reproducir“) zu sprechen, beschreibt die Ich-Erzählerin hier viel eher einen asexuellen Reproduktionsprozess, den die „criadas“ ganz allein zu vollziehen scheinen. Denn die sozial höher gestellten Gesellschaftsgruppen, die die Arbeit der Bediensteten in Anspruch nehmen und damit ebenso die Strukturen aufrechterhalten, werden ausgeblendet. Der Arbeitgeber, der Lías Mutter als „criada“ einstellt, bleibt unerwähnt – so wie jegliche Spur von dem Mann fehlt, der biologisch an der Zeugung Lías beteiligt gewesen sein muss. Es lässt sich vermuten, dass ein sozial höher gestellter Mann Lías Mutter vergewaltigt und geschwängert hat. 352 Die Sexualität (biologische Reproduktion) wird mit den Gesellschaftsstrukturen (soziale Reproduktion) parallelisiert. Durch den parataktischen Satzbau wirkt Lías Aussage wie eine Tatsachenbeschreibung, die fehlenden Adjektive lassen den Satz neutral und absolut erscheinen. Zudem verwendet sie Begriffe, die der soziologischen Theorie der sog. ‚sozialen Reproduktion‘ gleichen („criadas“, „reproducir“). Die beschreibt zum einen die intergenerationale Weitergabe bestimmter, an einen sozialen Stand gebundener Verhaltensmuster, die Pierre Bourdieu mit dem Begriff des ‚Habitus‘ definierte. 353 Zum anderen verweist das Konzept auf eine oftmals fehlende soziale Mobilität, die es Kindern aus schlechten Verhältnissen erschwert, innerhalb der Gesellschaft aufzusteigen. Grund dafür sind die Strukturen, die Slavoj Žižek als
die Versklavung von Indigenen auf Initiative von Fray Bartolomé de las Casas durch die Leyes Nuevas verboten wird, steigt die Zahl afrikanischer Sklaven im Virreinato de Nueva España an. In Chiapas und Guatemala arbeiten die Sklaven als Feldarbeiter und Hauspersonal. Von Beginn an finden sich Dokumente über einen Kontakt zwischen den unterschiedlichen ethnischen Gruppen (vgl. Peña Vicenteño 2009, 170, 175). – Lía beschreibt sich selbst so als sei sie heller als ihre Mutter. Dies könnte darauf hinweisen, dass ihr Vater weiß ist, könnte aber auch ein Versuch sein, sich emotional abzugrenzen. 352 Diese Hypothese lässt sich nicht einwandfrei bestätigen, anhand von Indizien aber untermauern: Die emotionale Distanz zwischen Lía und ihrer Mutter („Le cuesta trabajo acariciarme, convivir conmigo,“ Villafuerte 2011, 14) gleicht der ablehnenden Haltung Margits gegenüber ihrem Kind, das in der Vergewaltigung durch ihren Vater gezeugt wurde („[E]l niño que empapa de ternura a Margit aunque esta se niegue,“ ebd., 20). Lías Mutter verhält sich, als sei sie traumatisiert: „Habla poco, salvo por la noche. Por la noche, toma una botella que tiene en un estante y bebe. Pronto se pone a hablar en una lengua que desconozco. […] A veces se ríe, o se enfada, o bien grita. Al final, casi siempre, se pone a llorar,“ (ebd., 401). Es deutet sich an, dass sie von einer Erfahrung aus der Vergangenheit geprägt ist, die für Lía unverständlich bleibt („desconozco“) und mit Leid einhergeht („se enfada“, „grita“, „llorar“). 353 Pierre Bourdieu zufolge verfestigen sich soziale Unterschiede über bestimmte Vorlieben und Alltagspraktiken (vgl. Bourdieu 1979). Vgl. auch Kapitel 2.1.2 der vorliegenden Arbeit. – Lía lernt von ihrer Mutter die folgende Handlungsanweisung: „Observar, callar, obedecer“ (Villafuerte 2011, 14). Dieses asyndetische Trikolon gleicht einem einprägsamen Mantra, das aber durch die Infinitivformen unpersönlich bleibt und eine automatisierte Handlungsabfolge beschreibt, die von Unterwerfung unter ein Gegenüber (lateinisch ob ‚gegenüber‘) gezeichnet ist (vgl. Langenscheidts Großwörterbuch Lateinisch 1971, Bd. 1, 511).
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objective violence bezeichnet. 354 Es geht also um eine Form der Gewalt, die die Mehrheitsgesellschaft nicht als solche erkennt, weil sie für die reguläre Funktion des kapitalistischen Systems notwendig erscheint. Indem nun die Protagonistin, die wie ihre Mutter eine der Leidtragenden dieser Strukturen ist, eine solche Diagnose zur sozialen Reproduktion äußert, legt der literarische Text offen, wie verharmlosend die Aussage ist, weil sie von den konkreten Einschränkungen abstrahiert, die mit dem Leben als „criada“ einhergehen. 355 Der hier mit dem biologischen Spezialdiskurs interdiskursiv verknüpfte soziologische Spezialdiskurs verdeutlicht, dass soziale Benachteiligung noch immer oftmals eine ethnische und geschlechtliche Komponente hat. Die Gewaltverhältnisse, die auf die Kolonialzeit zurückgehen, schreiben sich in den Körper ein und werden sprachlich reproduziert. 356 Ähnliches zeigt sich am Namen der Protagonistin, Lía, der auf die biblische Figur Lea zurückgeht. 357 In Tijuana nennt sie sich „Bonnie.“ 358 Phonetisch ähnelt „Bonnie“ dem englischen Verb to bond, das wiederum dem spanischen liar entspricht. Beide Termini können sowohl positiv als auch negativ konnotiert sein, da sie 1. ein erzwungenes Festhalten ebenso wie 2. eine emotionale Bindung zwischen zwei Menschen beschreiben (vgl. Merriam-Webster 2019). Vergleicht man diese Semantik mit der Geschichte der Protagonistin, greift sie die Thematik der sozioökonomischen Verhältnisse auf, die einen deterministisch an eine bestimmte Lebensweise binden. Auch die Unterdrückung, der Lía durch die Männer ausge354 Die ‚symbolische‘ Gewalt tritt im Bereich der Sprache zutage, die ‚systemische‘ Gewalt beschreibt Žižek als „the often catastrophic consequences of the smooth functioning of our economic and political systems“ (Žižek 2009, 1). – Žižek erwähnt nicht Bourdieu, obwohl er den von ihm geprägten Terminus der symbolischen Gewalt verwendet (vgl. dazu Schmidt 2009). 355 Erst ganz am Ende zählt die Ich-Erzählerin Lía auf, welche infrastrukturellen Mangel das Leben in Paredón charakterisieren: „En Paredón no hay cuarto de baño, ni agua corriente. [...] No hay jabón, ni dentífrico. [...] Nunca hay papel“ (Villafuerte 2011, 401). 356 Dies ist ein durchaus problematischer Aspekt des Romans, der hier einen sozialdarwinistischen, biologische mit soziologischen Termini vermischenden Sprachgebrauch reproduziert, wenn auch auf parodistische Weise. 357 Der Name Lía bezieht sich zum einen auf die biblische Figur Lea, im Spanischen Lía genannt. Im Alten Testament wird sie von ihrem Vater verheiratet und ist die nicht geliebte Ehefrau Jakobs, deren Kinder aber die Stämme Israels bilden werden (vgl. Gies 2013). Der Name symbolisiert somit ein Leiden, das entsteht, weil die Frau dem Mann unterstellt ist. Zum anderen ist Lía an das Verb liar angelehnt, das negativ konnotiert ist, da es betrügerisch („Engañar a alguien“) und beengend klingt („Atar y asegurar los fardos y cargas con lías. […] Envolver algo, sujetándolo, por lo común, con papeles, cuerda, cinta, etc.“). Nicht mehr gebräuchlich ist die positiv konnotierte Bedeutung, „Hacer, contraer alianza con alguien“ (vgl. Real Academia Española 2014, 1333). 358 Die Protagonistin nennt sich „Bonnie“, verwendet also als Pseudonym den Namen von Bonnie Parker, die zusammen mit Clyde Barrow bis heute als deviantes Liebespaar mythisch weltweit bekannt ist. Der Mythos beruht auf zwei Aspekten – erstens einer Liebe zwischen zwei Menschen, die gemeinsam allen Umständen trotzen und sich bis in den Tod treu sind. Zweitens ist relevant, dass es sich um randständige Figuren handelt, die sich der Ordnung widersetzen, zu der sie sich nicht zugehörig fühlen (vgl. Leong u.a. 1997, 72). Aus Lías Sicht enthält die Wahl dieses Pseudonyms ironische Züge. Die Heroisierung des Lebens am Rand der Ordnung wird als euphemistisch offenbart, da es in einem Kontrast zu den Erfahrungen steht, die Lía/Bonnie als Prostituierte in Tijuana macht.
4.6 Nadia Villafuerte: Por el lado salvaje (2011) 219
setzt ist, lässt sich mit der Semantik des liar/bond assoziieren. Erst am Ende der Erzählung, als Lía an niemanden außer sich selbst gebunden ist, fühlt sie sich frei (vgl. Villafuerte 2011, 396, 400). Im Laufe der Erzählung stellt sich heraus, dass die wechselnden Namen der Protagonistin Pseudonyme sind – der ‚echte‘ Name kommt nicht zum Vorschein, sondern er wird durch wechselnde Signifikanten ersetzt. 359 Mit ihren selbstgewählten fingierten Namen gelingt es der Protagonistin also, sich der vollkommenen Kontrolle durch die Männer zu entziehen. Denn die Namen gleichen einer Maske, die die eigene Identität schützt und eine eindeutige Identifikation durch die anderen Figuren, aber ebenso durch den Leser verhindert. Die Sprache ist also das Feld, das es der Protagonistin ermöglicht, die bestehenden Verhältnisse zu transgredieren und frei zu sein. Eine weitere Figur, deren ursprünglicher Name verborgen bleibt, ist „Spiderman“, mit dem sich Lía in Tijuana anfreundet. An seinem Namen entwickelt sich ein intertextuelles Spiel: Indem sich der Charakter als Spiderman bezeichnet, macht er das Pseudonym einer Comicfigur zu seinem eigenen. 360 Die Überschrift des Kapitels, in dem Spiderman der Ich-Erzähler ist, lautet „Qué triste no ser el Hombre Araña“ (ebd., 175). Hier lassen sich zwei intertextuelle Bezüge erkennen: 1. Die Überschrift ist ein zitierter Vers aus dem Werk des mexikanischen Dichters Luis Daniel Pulido (2008), der widerum auf die Marvel Comics rekurriert. Es tritt inhaltlich der Wunsch zutage, mit Superkräften den Herausforderungen des Lebens trotzen zu können. Dass nur noch ein Superheld für die Rettung Mexikos in Frage kommt, vermittelt außerdem ein düsteres Bild der Gesellschaft, und ist eine Kritik an den Institutionen, die die Ordnung nicht aufrechterhalten. 2. Außerdem bezieht sich die Kapitelüberschrift intertextuell auf Manuel Puigs zu Zeiten der argentinischen Militärdiktatur zensurbedingt in Spanien veröffentlichten Roman El beso de la mujer araña (1976). Der Text verhandelt die Themen Repression, Gewalt, und bricht binäre Geschlechteridentitäten auf. In der sich durch eine fehlende Erzählinstanz und dominante Dialoge zwischen den Protagonisten auszeichnenden Erzähltechnik dominieren die Binnengeschichten (vgl. Schlickers 1997, 171f.). Sie eröffnen den beiden sich in Gefangenschaft befindlichen Männern eine Möglichkeit, ihrer aussichtslosen Situation gedanklich zu entfliehen, und dienen ihnen zugleich dazu, die eigene Sexualität und gesellschaftliche Marginalisierung zu reflektieren (vgl. Bost 1989, 95). Die hier fokussierte subversive Funktion von Literatur greift wiederum Por el lado salvaje auf, da „Spiderman“ selbst Gedichte und Graffiti schreibt. Es stellt sich die metafiktionale Frage, ob Literatur eine Art ‚Superkraft‘ entfalten kann, die eine Flucht aus der aktuellen Krise ermöglicht. 359 Lía erhält einen gefälschten honduranischen Pass mit einem neuen Namen (vgl. Villafuerte 2011, 152, 159). Später stellt sich heraus, dass auch „Lía“ nur ein Alias war: „[N]o se llama Bonnie pero tampoco es como decía su pasaporte. Ni siquiera como – según dijo – la nombraba su amigo italiano“ (ebd., 177). Das „según dijo“ deutet an, dass diese Aussage ebenso unzuverlässig sein kann. 360 Der Comic-Superheld Spiderman heißt eigentlich Peter Parker und ist ein verwaister Teenager, den Mitschüler mobben. Das markiert einen Umbruch innerhalb des US-amerikanischen Superhelden-Genres, da den Lesern eine besondere Identifikationsmöglichkeit geboten wird (vgl. Gross 2002, 8f.).
220 4. Grenzen und Transgressionen im mexikanischen Roman der Gegenwart
Doch Spiderman charakterisiert seine literarischen Texte als „frases huecas en el cuaderno como sábanas para cubrir cadáveres“ (Villafuerte 2011, 188). Er kritisiert die Sätze als inhaltslos („frases huecas“), 361 und zugleich manifestiert sich das damit beschriebene Missverhältnis zwischen Form und Inhalt: Die Stilmittel Alliteration und Vergleich tragen zur Poetizität des Satzes bei, in dem es ja eigentlich darum geht, sich selbstkritisch mit dem eigenen Schreiben zu befassen. Spiderman vergleicht seine Texte mit einem Tuch, bei dem es sich – wie die durch ihre Parallelität hervorgehobenen „sábana“ und „cadáveres“ verdeutlichen – um ein Leichentuch handelt. Literatur kann die Toten nicht retten oder vor ihrem Schicksal bewahren, wie es ein Superheld könnte. Doch sie kann die Toten wie ein Tuch bedecken („sábanas para cubrir cadáveres“) und sie vor den Blicken der Außenwelt schützen. Zugleich besteht jedoch auch die Gefahr, dass Literatur dazu beiträgt, die Toten aus dem Bereich des Sichtbaren zu verdrängen („cubrir“). Anhand der beiden Deutungsmöglichkeiten zeigt sich, dass die „frases huecas“ mehr als leere Sätze sind, denn ihr Sinn erschließt sich dadurch, dass der Leser sie interpretiert. Zugleich stellt sich die Frage danach, wie explizit Literatur über die Toten schreiben sollte, und ob die literarische Ästhetisierung von Gewalt ihre Opfer schützt oder vielmehr deren Ausgrenzung verstärkt. Neben den Gedichten Spidermans enthält der Roman weitere Textsorten, z. B. Ausschnitte aus Zeitungsartikeln, Briefe und fünf Binnenerzählungen (vgl. ebd., 41, 71, 141f., 208, 319-372). So entsteht ein heterogener, hybrider Text, in dem die Motive Gewalt, Sexualität und Trauma dominieren. Besonders sticht dabei das siebte Kapitel heraus, „Cinco retratos para una exposición (Las postales de Bonnie)“ (ebd., 243). 362 Die Kapitelüberschrift bezieht sich intertextuell auf Oliverio Girondos Gedichtband Veinte poemas para ser leídos en el tranvía [1922] (2008). 363 Auf ähnliche Weise greifen Bonnies fünf Kurzgeschichten das Leben und die diversen Räume der globalisierten Welt auf. Sie lesen sich wie autonome Binnengeschichten, die einen Blick auf neue Protagonisten und Welten eröffnen. 364 Formal unterscheiden sie sich allein aufgrund ihres Umfangs von dem, was auf einer Postkarte Platz fände, trotzdem werden sie als solche bezeich361 „Dicho especialmente del lenguaje o del estilo: Que expresa ostentosa y afectadamente conceptos vanos o triviales“ (Real Academia Española 2014, 1199). 362 Der Titel erzeugt ein Spannungsverhältnis zwischen Bild und Text, denn ein „retrato“ kann eine Fotografie, ein Gemälde oder eine Geschichte sein (vgl. Real Academia Española 2014, 1915). Eine Postkarte bzw. Ansichtskarte funktioniert durch das Zusammenspiel von Bild und Text. Der Text steht auf der Rückseite der Karte, so wie im übertragenen Sinn hinter jedem Foto und Bild eine Geschichte vermutet werden kann. 363 Die Gedichte fügen sich in die sich wandelnde beschleunigte Welt ein und machen den urbanen Raum zu ihrem Motiv. Sie werfen einen bisweilen kritischen Blick auf das Europa der 1920er Jahre. Sie spielen mit dem Genre der Postkarte, da sie unterschiedlichen europäischen Städten gewidmet und von formaler Kürze sind (vgl. Barrera 2008, 14). Das Gedicht „Venecia“ beginnt beispielsweise mit dem Vers: „Se respira una brisa de tarjeta postal“ (Girondo 2008, 41). 364 Eine der Binnengeschichten handelt z. B. von zwei verwaisten Schwestern, die nach Mumbai auswandern (vgl. Villafuerte 2011, 274-283). Eine andere Geschichte ist aus Perspektive einer kolumbianischen Ich-Erzählerin verfasst, die in Shanghai in einer WG mit internationalen Mitbewohnern lebt (vgl. ebd., 257-267). Daran zeigt sich exemplarisch der multiperspektivische Charakter des Textes.
4.6 Nadia Villafuerte: Por el lado salvaje (2011) 221
net („postales“). Es bleibt unklar, wie und wo die Reise der Protagonistin nach dem Ende der Erzählung weitergegangen ist, ob sie wirklich an die erwähnten Orte gereist ist und die Postkarten Jahre später an Spiderman schickt oder ob sie imaginär sind. 365 Sicher ist, dass die Binnengeschichten in einem Zeitraum stattfinden, der nach dem Ende der übergeordneten Erzählung liegt; eine lineare Zeitstruktur ist damit aufgebrochen. Zusätzlich finden sich im restlichen Roman Prolepsen und Analepsen. 366 Einige der Zeitangaben sind vage: „un hueco de seis, siete años“, „199*“ (Villafuerte 2011, 13, 183), die genaue Jahreszahl bleibt unbekannt. Auch graphisch schreibt sich das Verdrängte und Vergessene in Form von teilweise unbedruckten und geschwärzten Seiten in den Text ein. 367 Die häufig wechselnden Erzählerstimmen in Por el lado salvaje brechen Homogenität und Hierarchien auf, und es entsteht eine polyphone Erzählung. 368 Oft wird aus der Ich-Perspektive der unterschiedlichen Figuren erzählt, wodurch der Leser einen intimen Einblick in ihre Ängste erhält. Während die Protagonisten Die Zeitangabe ist nicht eindeutig, Spiderman bekommt die Postkarten viele Jahre später zugesandt (vgl. ebd., 236). Er kommentiert: „[L]as direcciones postales eran un engaño: los nombres de las calles daban combinaciones falsas y el resultado una mezcla de ambigüedad“ (ebd., 237f.). Lías Geschichte ist nicht greifbar („engaño“, „falsas“, „ambigüedad“). 366 Besonders dominant sind die Analepsen im vierten Kapitel des Romans, das Bardem intern fokalisiert. Er hielt sich im Jahr 1979 während der sandinistischen Revolution in Managua, Nicaragua auf und arbeitete dort als Kriegsfotograf (vgl. Villafuerte 2011, 80f.). Die Erinnerungen an die Erlebnisse unterbrechen häufig in Form von Analepsen den Erzählfluss (vgl. z. B. ebd., 93-95). Dadurch, dass Nicaragua einen relevanten Teil der Erzählung einnimmt, lenkt Por el lado salvaje den Fokus auf die Gewalt des 20. Jahrhunderts, deren Auswirkungen bis heute die mittelamerikanischen Gesellschaften prägen. Das Kapitel setzt sich außerdem kritisch mit der Rolle von Kriegsreportern auseinander, die meist aus der ‚ersten‘ Welt stammen, Sensationsjournalismus betreiben und sich am Leid der Anderen bereichern (vgl. ebd., 88, 95, 393). Dabei sind sie vor den Gefahren relativ geschützt, da sie im Zweifelsfall das Land verlassen können (vgl. ebd., 107). 367 An einer Stelle folgt auf die Ankündigung „Las palabras de aquel papel de libreta decían:“ (ebd., 87) eine halbe Textseite, die leer aber bleibt. Die leere Seite steht für das Verdrängte, das nicht sprachlich artikuliert werden kann oder soll (vgl. auch ebd., 141f.). 368 Die Kapitel 1, 3, 5, 9 und 10 sind im Präsens aus Perspektive der homodiegetischen IchErzählerin Lía verfasst. Obwohl im Präsens erzählt wird, zeigt sich bereits im ersten Kapitel durch Vorwegnahmen und Futur-Konstruktionen, dass das erzählende Ich Lías sich in einer zukünftigen Zeit befindet und rückblickend über die 1990er Jahre spricht (vgl. ebd., 183). – Das Kapitel 2 ist aus der Ich-Perspektive von Genaro/Glenda verfasst, der/die rückblickend in der Vergangenheitsform berichtet. – Das Kapitel 4 übernimmt eine hetero- und extradiegetische Erzählinstanz, die Bardem überwiegend intern fokalisiert. Das Kapitel ist in neun sog. Lehren untergliedert, die sich im Präsens dem Zusammenleben Bardems mit Lía widmen. Dabei dominiert die direkte Rede, die „Lección Número Ocho“ besteht z. B. nur aus der freien, direkten Rede Bardems (ebd., 143-145). Somit bleibt dieses Kapitel trotz des dazwischen geschalteten Erzählers nah an Bardems Gedankenwelt. – Im Kapitel 6 berichtet Spiderman rückblickend von der Zeit mit Lía. Er wechselt zwischen der Vergangenheitsform und dem Präsens, und befindet sich als Ich-Erzähler in einem nicht näher definierbaren Moment der Zukunft (vgl. ebd., 236). – In Kapitel 7, den fünf Binnengeschichten, erzählen marginalisierte Figuren wie Terroristen, Mörder und Migranten ihre Geschichte (vgl. ebd., 274-283, 285-302). – Im Kapitel 8 berichtet der Ich-Erzähler Eduard im Präsens von den Briefen, die er von Bardem erhält und zitiert die Briefe, in denen Bardem wiederum eigene Gespräche paraphrasiert. Dadurch können beide Stimmen nur schwer auseinander gehalten werden. 365
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einerseits versuchen, mit ihrer eigenen traumatischen Vergangenheit umzugehen, üben sie aber andererseits Gewalt gegen schwächere Andere aus. 369 Die Figuren können also als ‚Opfer‘ der von ihnen erfahrenen Gewalt erachtet werden, sind aber zugleich ‚Täter‘, denn die Dichotomie zwischen beiden Kategorien ist aufgehoben. Für Villafuertes Roman spricht in diesem Fall, dass die Täterfiguren nicht metaphysisch-abstrakt sind, sondern einen Namen und eine Vorgeschichte erhalten. Dass die meisten Protagonisten die Gewalt reproduzieren, evoziert einen Kreislauf: Zum einen zeigt sich, dass Sozialisation und ökonomische Benachteiligung einen Anstieg von Gewalt begünstigen, zum anderen wirkt dies aber auf problematische Weise deterministisch. Aufgrund der nicht stattfindenden Selbstreflexion der Figuren und des fehlenden auktorialen Erzählers delegiert Por el lado salvaje die Bewertung der Gewalt an den Leser. Auf Ebene der Figurenrede wird erneut die zentrale metafiktionale Frage des Textes aufgegriffen, wie man Gewalt in den Bereich der Sprache übertragen sollte. Die anderen Figuren kritisieren Lía wiederholt für ihre Art des Sprechens – sie verwendet ein falsches Register, ist nicht demütig genug oder zu formal, zu gebildet oder antiquiert (vgl. ebd., 19, 25, 44, 55). Nicht der Inhalt, sondern die Art ihrer Aussagen irritieren. Dies kann metonymisch auf den gesamten Text übertragen werden, der mit einer poetischen Sprache eine Geschichte der Gewalt und Migration beschreibt. Dabei sind die Leerstellen wichtig, wie auch für die Protagonistin das Schweigen zentral ist: Sé que mi silencio no es incómodo, ni molesto, ni llamativo, ni acusador o de protesta. Es un aletargamiento, una inactividad, un equivalente a saber que lo que he estado haciendo con el paso de los años es retraerme. Pero no se lo digo, ni a él, ni a nadie. (ebd., 387)
Die Textstelle ist von Negationen geprägt („no“, „ni“, „nadie“, „in-“). Lía distanziert sich von einem Schweigen, das eine Protest- oder Abwehrhaltung kommunizieren soll („incómodo“, „acusador“, „de protesta“). Ihre eigene Stille definiert sie viel eher als einen Rückzug („aletargamiento“, „inactividad“, „retraerme“), der sich hier auch formal vollzieht und in einem Schweigen Lías endet. Ohne dass die Protagonistin es explizit sagen muss, macht das Wort „aletargamiento“ deutlich, dass Lía schweigt, weil sie Gewalt erfahren hat. 370 Das Schweigen stellt als Reaktion auf die traumatisierenden Erfahrungen eine Überlebenstaktik dar. Die etymologische Verwandtschaft mit dem griechischen lethe weckt wiederum Assoziationen mit dem mythischen Fluss des Vergessens, aus dem die Verstorbenen Beispielsweise erfährt der Leser aus Ich-Perspektive Genaros, dass dieser aufgrund seiner Homosexualität mehrmals brutale, homophobe Gewalt erlitten hat (vgl. ebd., 38-41). Die dadurch ausgelöste Empathie wird jedoch gebrochen, als er kurze Zeit später detailliert beschreibt, wie er Lía vergewaltigt: „Entonces fui a su cuarto y la desnudé. […] La cogí por el culo. […] Si rechinaban sus dientes y le dolía, ese no era mi problema“ (ebd., 45). 370 Der Begriff „aletargamiento“ ist in verschiedenen Disziplinen von Relevanz: Innerhalb der Biologie bezeichnet er die Winterstarre, in die sich Tiere begeben, um in der lebensfeindlichen Umwelt zu überleben (vgl. Mata Jiménez 2005, 22f.). Darüber hinaus gilt „aletargamiento“ innerhalb der Psychologie als eines der Symptome der posttraumatischen Belastungsstörung (vgl. Brooker 2010, 481). 369
4.6 Nadia Villafuerte: Por el lado salvaje (2011) 223
trinken, um ihr Leben hinter sich zu lassen. 371 Ein Teil der Protagonistin ist im übertragenen Sinn den Weg über den Fluss Lethe gegangen und gestorben. Die Gewalt zerstört die Persönlichkeit der Protagonistin, wirkt auf die Sprache ein und löscht sie aus – es bleibt nur noch die Stille zurück. Hier zeichnet sich eine zutiefst pessimistische Sicht auf das soziale Gefüge ab, in dem die zwischenmenschliche Kommunikation nicht länger möglich ist, was in Vereinzelung der von Gewalt betroffenen Menschen endet. Doch der literarische Text, so zeigt sich, ist in der Lage, durch die interne Fokalisierung und den mehrdeutigen Sinn einzelner Worte die Auswirkungen der Gewalt sichtbar und artikulierbar zu machen. Außerdem bietet das Schweigen Schutz und Selbstbestimmung, da es den Bereich der Sprache markiert, in den das Gegenüber nicht eingreifen kann. Michel Foucault zufolge ist der Akt des Sprechens keine Transgression, wenn er sich im Rahmen des Sexualitätsdispositivs vollzieht, das die Menschen zum Sprechen bringen möchte. 372 Es entsteht ein asymmetrisches Machtverhältnis zwischen demjenigen, der spricht, und demjenigen, der die Aussagen bewertet. Indem die Protagonistin schweigt, entzieht sie sich dem Zugriff durch das Gegenüber. Dies gilt sowohl im Verhältnis zu den anderen Figuren innerhalb der erzählten Welt, als auch in Bezug auf den Leser: Das Ende des Romans deutet an, dass die IchErzählerin unzuverlässig ist. 373 Sie sagt über die anderen Figuren: O quizá nunca existieron y son sólo una sombra planeando en el filo de mi cabeza. […] Esta historia no es la de una puta en ascenso que tarde o temprano acaba muerta o chapaleando en el mismo desagüe que la engendró. De hecho, esta historia comienza cuando termina. Y los relatos nunca terminan, están llenos de huecos, pistas falsas, contradicciones. […] No voy a volver, eso está claro. […] Desde aquí puedo rozar con mis pies el agua cenagosa. Desde aquí puedo meterme a la postal en la que Lía se sube al taxi rumbo a la central de autobuses y asoma su rostro por la ventanilla. Varada en el muelle, la veo irse. Su ansiedad es absoluta: lo ve todo, y no comprende nada, pero en ese momento no le importa. No hay sombras en el cielo: sólo velocidad (Villafuerte 2011, 399-402).
So wie sie im ersten Kapitel die Erzählung initiierte, beendet Lía als IchErzählerin das letzte Kapitel des Romans. Die ansonsten durch Brüche und Perspektivwechsel gekennzeichnete Erzählung kommt also zu einem Ende, das eine 371 Etymologisch findet „aletargamiento“ seinen Ursprung im Altgriechischen, „lēthargós ‛schläfrig’ überliefert, zu gr. lḗthē ‛Vergessen, Vergesslichkeit’ (zu gr. lanthánein ‛vergessen, vergessen machen’) und gr. argós ‛untätig’“ (Kluge und Seebold 2012, Hervorhebungen i. O.). In diesem Wort steckt eine Verbindung zu Lethe, dem mythischen Fluss des Vergessens und des Todes (vgl. Weinrich 2000, 18). 372 Vgl. die Überlegungen in Kapitel 2.2.2 dieser Arbeit zu Foucaults Histoire de la sexualité 1 (1976). 373 Bereits im ersten Kapitel hinterfragt sich die Ich-Erzählerin nach einer detaillierten Beschreibung selbst: „Nunca vuelvo a sentir un sitio con más nitidez. […] Tal vez las imágenes no sucedieron de ese modo“ (Villafuerte 2011, 28). Die anfänglich betonte Klarheit („nitidez“) wird in Zweifel gezogen. Lía wechselt von der zeitlichen Erzählposition des Präsens in die Vergangenheitsform („sucedieron“). Sie erzählt ihre Geschichte also rückblickend. Das Gedächtnis erzeugt nicht immer zuverlässige Bilder („Tal vez“, „no“). Denkbar ist auch, dass Lía neue Bilder erfindet, die nicht dem Geschehenen entsprechen.
224 4. Grenzen und Transgressionen im mexikanischen Roman der Gegenwart
gewisse Parallelität mit dem Anfang eingeht. Doch die gesamte Erzählung erscheint als unzuverlässig, da die Ich-Erzählerin andeutet, die diegetische Welt sei ein Produkt ihrer Imagination. Der Text sät Zweifel („O quizá“), die im asyndetischen Trikolon hervorgehoben werden („huecos, pistas falsas, contradicciones“) und mit der Wahrheitsbehauptung „de hecho“ kontrastieren. Zusätzlich erzeugen die antithetischen Verbindungen („comienza cuando termina“, „llenos de huecos“) einen paradoxen Effekt. Die anderen Figuren der erzählten Welt werden metaphorisch Schatten gleichgesetzt, die wie Vögel im Schwebeflug durch Lías Gedanken kreisen („una sombra planeando“). Der eigentlich gebräuchliche Ausdruck „filo del viento“, der eine Windrichtung beschreibt, erscheint in diesem Textbeispiel als „filo de mi cabeza“. Damit ist die von Lía vorgegebene Denkrichtung gemeint, der die Schatten folgen. Lías Fantasie ist die richtungsweisende Instanz, was von ihrer bisherigen Abhängigkeit und Unterdrückung in der erzählten Welt abweicht. Die Imagination ist in diesem Sinne eine Sphäre, die Selbstbestimmung und eine Flucht vor erfahrenem Leid ermöglicht. Der personifizierte „desagüe que la engendró“ charakterisiert Lía als aus dem dreckigen Wasser hervorgegangener ‚Abschaum‘. 374 Das verweist auf die schlechten sozialen Verhältnisse, in die Lía hineingeboren wurde und zeichnet eine deterministische Sicht auf die Kontinuität der strukturellen Gewalt („termina muerta“). Doch Lía definiert die Geschichte hier ex negativo, indem sie behauptet, es handele sich eben nicht um die gewöhnliche Erzählung einer Prostituierten. Das pejorative „puta“ sticht aus diesem Textabschnitt hervor und erinnert an Stereotype, die in der Regel mit Geschichten über Tijuana, Prostituierte und Migranten assoziiert werden. Dies lässt sich als intertextuelle Auseinandersetzung mit zeitgenössischer mexikanischer Literatur deuten und als versuchte Abgrenzung von stereotypen Darstellungen („Esta no es la historia de una puta“). 375 Das Motiv des Wassers, das in der Eingangsszene unter Einwirkung der Mutter zu einer dunklen Pfütze wurde, die die Sicht Lías auf den eigenen Körper und die Zukunft verunklärte, wird in dieser Endszene erneut aufgegriffen. Nun kann Lía im Unterschied zum Anfang jedoch das Wasser streifen („rozar con mis pies el agua“). Dass die Füße hier das Wasser berühren, ließe sich mit einer rituellen Fußwaschung assoziieren 376 – doch Lía ist allein und wäscht niemandem außer sich selbst die Füße, sie muss also im Vergleich zu vorher niemandem dienen. Die Protagonistin kann selbstbestimmt ihren eigenen Weg nehmen. Die semantisch durch Schatten und schlammiges Wasser den Text dominierende negative StimDer „desagüe“ bezeichnet eine Mündung und ein Abwasserrohr (vgl. Real Academia Española 2014, 736). Die Semantik des Ekels ist im Wort enthalten, das als Verb, „desaguar“ umgangssprachlich ‚urinieren‘ oder ‚sich übergeben‘ heißen kann (vgl. ebd.). 375 Vgl. z. B. den Titel der Kurzgeschichtensammlung von Eduardo Antonio Parra (2014): Ángeles, putas, santos y mártires. Die Kurzgeschichten sind im Norden Mexikos angesiedelt, in einem Milieu marginaler Figuren wie narcos, Kopfgeldjäger und Prostituierte. 376 Die Fußwaschung gilt bereits im antiken Judentum und Alten Testament als Zeichen der „Gastfreundschaft oder Ergebenheit.“ Die im Johannesevangelium beschriebene Fußwaschung der Jünger durch Jesus (Joh 13,1-17) wird unterschiedlich ausgelegt, z. B. als „Demutsbeispiel“ (Wetz 2010). 374
4.7 Geney Beltrán Félix: Cualquier cadáver (2014) 225
mung weicht am Ende einer klaren Sicht („no hay sombras en el cielo“). Ihr Blick ist dabei gen Himmel, also nach oben gerichtet. 377 Der anfängliche Stillstand („no hay olas,“ ebd., 14) transformiert sich in eine grenzenlose Beschleunigung („velocidad“). Durch die veränderte Raumsemantik – Geschwindigkeit statt Stagnation, der gen Himmel statt auf den Boden gerichtete Blick, Licht statt Dunkelheit – ist diese Szene positiv konnotiert. Dabei sind zwei Lesarten denkbar: 1. Lía befindet sich nun in Playa Bagdad und blickt auf ihr bisheriges Leben zurück. Sie tritt im übertragenen Sinn in die ‚Postkarte‘ ein („meterme a la postal“) wie in eine Erinnerung. Es wird auf den Anfang der Erzählung verwiesen, als Lía sich mit Glenda zur Busstation begibt und damit ihre Reise beginnt. Die ‚Postkarte‘ fungiert als Metapher der Erinnerung, die einen Rückblick auf die Vergangenheit ermöglicht. Dazu passt, dass sich Lía in ein erzählendes Ich und in die erzählte, dritte Person („Lía“, „la veo“) aufspaltet. Lía kann ihr früheres Ich betrachten und die Erlebnisse verarbeiten. Da sie ihr damaliges Unwissen („no comprende nada“) hervorhebt, betont sie, dass sie aus dem Hier und Jetzt – markiert in der zweimaligen Anapher des „Desde aquí puedo“ – über die Vergangenheit sprechen und sie verstehen kann. 2. Ebenso ist jedoch denkbar, dass sich Lía noch immer in Paredón befindet und dort auch bleibt („varada en el muelle“). Stattdessen reist sie imaginär, ganz wie es im ersten Kapitel des Romans hieß: „Imagino otro mundo“ (ebd., 15). Während ein Teil von ihr bleibt, geht der andere Teil von ihr fort, da die Fantasie es ihr ermöglicht, an weit entfernte Orte zu gelangen („la veo irse“). Aufgrund der vielen „pistas falsas“ bleibt am Ende von Por el lado salvaje offen, ob die Ich-Erzählerin die gesamte Erzählung erfunden hat oder ob sie tatsächlich eine Reise in die weite Welt antritt, von der sie die „postales“ an Spiderman schicken wird. Sicher ist allein, dass das Ende den Beginn von etwas markiert, das außerhalb dessen liegt, was der Leser sich aneignen und gänzlich erfassen kann („comienzan cuando terminan“).
4.7
Geney Beltrán Félix: Cualquier cadáver (2014)
Im Jahre 2014 veröffentlicht Geney Beltrán den Roman Cualquier cadáver. 378 Die Alliteration macht den Titel einprägsam und verleiht ihm einen spielerischen Aspekt, der jedoch mit der Semantik des Todes kontrastiert: Der tote Körper wird als Kadaver bezeichnet und dadurch auf seinen Zustand als zerfallende Materie reduziert. Das Adjektiv „cualquier“ markiert den Kadaver als anonym, beliebig, indeterminiert, und macht ihn zu einem unter vielen. Cualquier cadáver, das etwa zeit377 Eine weitere Lesart findet sich bei Ana Luisa Coulon (2014, 92), die dieses Ende als Selbstmord der Protagonistin interpretiert. 378 Geney Beltrán Félix (*1976, Culiacán) erhält für seinen zweiten Roman, Cualquier cadáver, den Premio de Narrativa Colima 2015 (vgl. Aristegui Noticias 2015). Dennoch wird dem Text bislang in der Forschung wenig Aufmerksamkeit zuteil. Beltrán beteiligt sich in Essays u.a. an der Debatte um die Rolle, die Literatur im Mexiko des 21. Jahrhunderts einnehmen kann, z. B. in Historias de un país inexistente (2005). Zuletzt erschien 2019 der Roman Adiós Tomasa (vgl. Enciclopedia de la literatura en México 2020).
226 4. Grenzen und Transgressionen im mexikanischen Roman der Gegenwart
gleich mit Cristina Rivera Garzas Essay Los muertos indóciles (2013) erscheint, 379 enthält also bereits im Titel die von Rivera Garza beschriebene Ästhetik der sog. necroescritura: Beltráns Roman verkörpert einen ‚textuellen Kadaver‘ („cadáver textual“, Rivera Garza 2013, 36) in der extradiegetischen Welt. So gesehen kann der Titel als implizite Kritik an der Anonymität der vielen Todesopfer im zeitgenössischen Mexiko gedeutet werden, zwischen denen er sich metaphorisch einreiht. Diese gesellschaftliche Ebene verlässt der Text jedoch unmittelbar, indem er mit einer ganz individuellen und persönlichen Szene beginnt. Dem ersten Kapitel sind zwei unbetitelte Seiten vorangestellt, die in der Vergangenheitsform eine Episode aus dem Leben des Protagonisten wiedergeben: „Su padre se pegó un balazo en la sien derecha“ (Beltrán 2014, 11, Hervorhebung i. O.). Der Vater begeht Selbstmord, als sein Sohn fünfzehn Jahre alt ist (vgl. ebd., 212). Dieses Ereignis wirft einen Schatten auf die Erzählung, die sich in den 39 Kapiteln des Textes entfalten wird. Immer wieder kehrt diese Schlüsselszene aus der Vergangenheit in Analepsen zurück. 380 Das veranschaulicht die Bedeutung, die sie für das Leben des Protagonisten hat. Die konventionell Stärke und Ordnung verkörpernde Figur des Vaters verschwindet in diesem Fall aus eigenem Willen. Der Tod des Vaters hat traumatische Folgen und beeinflusst die Zukunft des Sohnes negativ. Hier zeigt sich bereits, dass der Text ein Spannungsverhältnis zwischen verschiedenen binären Kategorien aufbaut. Der träge Emarvi verkörpert eine stagnierende Gegenwart, die in einem traumatischen Verhältnis zur sich entziehenden Vergangenheit steht und sich mit einer apokalyptisch markierten Zukunft konfrontiert sieht. Auf räumlicher Ebene besteht eine Opposition zwischen Zentrum und Peripherie, die Grenzen zwischen den Kategorien werden sich jedoch als instabil erweisen. Eine dritte Gegenüberstellung beruht auf dem Verhältnis zwischen dem Individuum und der Gesellschaft, also der privaten und politischen Sphäre. Auch hier zeigt sich, dass der Versuch, beide Ebenen voneinander zu trennen, zum Scheitern verurteilt ist. Das private Schicksal der Protagonisten zeugt dabei von einer Gesellschaft, in der es an Empathie fehlt und in der transgressive Gewalt dominiert. So entsteht ein pessimistisches Bild der mexikanischen Gegenwart, in der die Unterscheidung zwischen Tätern und Opfern nicht eindeutig ist. In den ersten Kapiteln der Erzählung wird der Protagonist Emarvi als durchschnittlicher, junger Mann der Mittelschicht vorgestellt. 381 Er lebt im gentrifizierVgl. das Kapitel 4.2 der vorliegenden Arbeit, das sich Cristina Rivera Garzas Roman La muerte me da (2007) widmet. Rivera Garza fragt in besagtem Essay (2013), wie die zeitgenössischen Schriftsteller in Mexiko literarisch auf die vielen Todesopfer reagieren. 380 An einigen Stellen ist die Erzählweise achronologisch: sie springt vom Präsens in die Vergangenheitsform und vice versa (vgl. Beltrán 2014, 71, 186f., 198). Häufige Interrogativsätze und Ellipsen (vgl. ebd., 115, 130f.) bringen die Unsicherheit des Protagonisten zum Ausdruck. Indem Aussagesätzen an einigen Stellen eine Frage folgt, entsteht eine Ambivalenz: „El lugar donde todo empezó, ese sitio que (¿acaso exagero?) dio origen a la orfandad que me condiciona“ (ebd., 131). Zugleich wird so die Ernsthaftigkeit ironisch gebrochen und eine Distanz des Lesers zur Diegese erzeugt, z. B. „[U]n hecho: lo habita (¿cómo?) el demonio de su padre“ (ebd., 204). 381 Er ist 32 Jahre alt, seit kurzem geschieden und hat einen siebenjährigen Sohn namens Adrián (vgl. Beltrán 2014, 17, 27, 83). Emarvi arbeitet in einem Bürojob, der ihm nicht viel Freude 379
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ten Süden von Mexiko-Stadt, in einem Wohnkomplex an der großen Straße „Eje 10“, einer nach ihrer Funktion benannten Achse zwischen Zentrum und Peripherie (vgl. ebd., 22f.). 382 Emarvi bewegt sich immer vor einer Kulisse mit einem hohen Verkehrsaufkommen (vgl. ebd., 23). Auch der sich aus seiner Wohnung bietende Ausblick ist städtischer Natur, denn Emarvi blickt aus seinem Zimmer auf einen Supermarkt. 383 Da es sich dabei um einen Wal-Mart handelt, also um die Filiale eines US-amerikanischen Konzerns, fungiert er als Ebenbild des Neoliberalismus und der Globalisierung. 384 Mexiko-Stadt wird generisch „Ciudad“ genannt und durch die Majuskel personifiziert (vgl. z. B. ebd., 18, 19, 25, 50). Dabei verändert sich der eigentliche Name, „Ciudad de México“, indem unterschiedliche, vor allem negativ konnotierte Adjektive das weggestrichene „de México“ ersetzen. 385 Man kann „la Ciudad“ erstens als Ausdruck der in ihr lebenden Menschen und zweitens als pars pro toto der gesamten Gesellschaft interpretieren. 386 Dabei erweist sich der Blick auf die bereitet (vgl. ebd., 21). Eigentlich wäre er gern Schriftsteller, hatte aber bisher bei keinem Verlagshaus Erfolg (vgl. ebd., 50). 382 Mexiko-Stadt wird im Zuge städteplanerischer Modernisierungen seit Mitte des 20. Jahrhunderts ausgebaut (vgl. García Canclini 1998, 26, 29). Die im Süden der Stadt neu erbauten Wohnkomplexe richten sich an sozial gehobene Schichten und die ärmeren Schichten werden verdrängt. – In diesem sich erst kürzlich veränderten Raum wohnt und lebt der Protagonist. Das Taxi-Depot, in dem man seinen ermordeten Sohn auffindet, liegt in dem Grenzbereich zwischen Ciudad Universitaria und den colonias populares, hier überlappen sich also Zentrum und Peripherie. 383 „¡[V]ivir en esta Ciudad colosal y sólo tener enfrente la pared enorme de un puto supermercado!“ (Beltrán 2014, 47). Das pejorative „puto“ vermittelt die Empörung des Protagonisten. Hier kontrastiert Mexiko-Stadt als historischer Ort und Wahrzeichen („colosal“) mit dem urbanen Alltag Emarvis. Die Mauer, die keine zwischenmenschliche Kommunikation ermöglicht, schränkt den Blick des Protagonisten ein. Ihre graue Farbe (vgl. ebd., 18) steht für Gefangenschaft und Anonymität. Wie schon auf der Straße ist auch in Emarvis Hinterhof keinerlei Natur präsent. 384 Der Supermarkt und der „Eje 10“ können als non-lieux nach Marc Augé (1992) gedeutet werden. Die Autobahnzufahrt wirkt unpersönlich, da ihr Name sich nicht auf das kollektive Gedächtnis bezieht, sondern auf ihre Funktion als Achse („Eje“). Auch die anderen Ortsangaben beziehen sich größtenteils auf non-lieux: Metrostationen, Bushaltestellen, Parkplätze und Kettengeschäfte wie „Sanborns“ oder „Vips“ (Beltrán 2014, 22, 26, 28, 32, 59, 60f., 109, 111, 225). Die Vielzahl dieser Schauplätze unterstreicht die anonyme Großstadt-Atmosphäre der erzählten Welt. Der Raum wird allein durch seine Funktionalität für die Bewohner charakterisiert. 385 „[E]sa Ciudad muerta“, „esta Ciudad huérfana“ (Beltrán 2014, 108, 166). Das Adjektiv „huérfana“ verweist auf die Zerstörung Tenochtitlans und der Mexica-Gesellschaft durch den spanischen Kolonialismus. Zugleich beschreibt das Adjektiv die Bewohner der Stadt und ihre Leidensgeschichten, wie an den Halbwaisen Emarvi und Elvia nachvollziehbar wird. Für Emarvi ist nicht nur der Ursprung verloren, sondern auch die Zukunft zerstört („orfandad hacia arriba y hacia abajo,“ ebd., 126). Diese pessimistische Aussage gilt sowohl individuell als auch gesellschaftlich. 386 Cualquier cadáver reiht sich in eine literarische Tradition ein, die Mexiko-Stadt eine dominante Rolle zuspricht und die Debatten der jeweiligen Epoche verhandelt. An der Schwelle zum 21. Jahrhundert wird die Globalisierung zusammen mit möglichen sozialen Problemen literarisch vor der Szenerie Mexiko-Stadts erörtert. Homero Aridjis entwirft beispielsweise in ¿En qué piensas cuando haces el amor? (1996) ein dystopisches Mexiko-Stadt des 21. Jahrhunderts, das am Ende der Erzählung komplett zerstört wird. Dennoch evoziert der Text einen möglichen
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Zukunft als unheilvoll: „La Ciudad será destruida. Forzosamente. […] Habrá venganza“ (ebd., 25). Die Zukunft beruht auf Gewalt und endet in Zerstörung („destruida“, „forzosamente“, „venganza“). Deren Wucht lässt sich am Zitat nachvollziehen, das syntaktisch aus kurzen, teils elliptischen Sätzen besteht, die einen strukturellen Bruch darstellen. Das Futur („será“, „habrá“) zeigt an, dass das Ende nicht rein hypothetisch ist, sondern in jedem Fall eintreten wird. Damit spielt die Textstelle auf die biblische Apokalypse an. 387 Vor allem ähnelt die hier angekündigte Zerstörung Mexiko-Stadts aber der im Alten Testament vollzogenen Vernichtung von Sodom und Gomorra. 388 In beiden Fällen verkörpert die Stadt das Schlechte und Sündhafte. Durch den biblischen Bezug entstehen semantische Assoziationen mit Gewalt und Sexualität. Wie Cualquier cadáver verkündet, wird an der Stadt und den in ihr lebenden Menschen Rache geübt werden („venganza“). Die zerstörerische Zukunft erscheint also als eine Vergeltung, die die von der Stadt und den Menschen verübte Gewalt erwidert und ausgleicht. Das heißt jedoch in der Konsequenz, dass sich keine friedliche Lösung der momentan unerträglichen Situation abzeichnet. Mit dem biblischen Intertext ist außerdem die Frage verbunden, wie man schuldige von unschuldigen Menschen trennt und ob sie Gottes Vergebung verdienen. 389 Dieses Motiv ist auch für die Lektüre von Cualquier cadáver relevant, da Emarvi von Beginn an ein ambivalenter Charakter ist. Aufgrund der einführenden Szene, die den Selbstmord seines Vaters fokussiert, regt der Text den Leser zunächst zu Empathie an. Durch die interne Fokalisierung wird jedoch ersichtlich, dass Emarvi selbst mit anderen Menschen wenig Empathie empfindet und Frauen größtenteils als Sexualobjekte betrachtet (vgl. z. B. ebd., 16, 31, 220f.). Diese nicht idealisierte Charakterisierung des Protagonisten ermöglicht es zum einen, Neuanfang (vgl. Ta 2007, 309f., 323f.). Auch in Carlos Monsiváis’ Los rituales del caos (1995) entstehe im post-apokalyptischen Mexiko-Stadt die Hoffnung auf eine neue Gesellschaft (vgl. Van Hecke 2010, 392, 395). Die unterschiedlichen Texte stellen Mexiko-Stadt ähnlich dar: Die Stadt ist laut und stinkend (Carlos Fuentes’ La región más transparente. 1958, vgl. Ta 2007, 143), chaotisch (Monsiváis’ Los rituales del caos. 1995, vgl. Van Hecke 2010, 392), und als kranker Körper metaphorisiert (Juan Villoros El disparo de Argón. 1991, vgl. Ta 2007, 229). Ästhetisch dominieren eine fragmentarische Textkonstitution und wechselnde Erzählerperspektiven (vgl. ebd., 142, 206). Es lässt sich nachvollziehen, dass die Darstellung Mexiko-Stadts in Cualquier cadáver den literarischen Vorgängern gleicht. 387 Hinzu kommt, dass die Apokalypse im Roman auch wörtlich vertreten ist: „[A]pocalíptica,“ „apocalipsis“ (Beltrán 2014, 34, 210). 388 In Genesis 19 zerstört Gott Sodom und Gomorra, konnotiert als Orte der Gewalt und fehlenden Gastfreundschaft. In der späteren Rezeption assoziiert man sie auch mit Wollust (vgl. Knauf 2007). – An anderer Stelle nennt der Prophet Ezechiel Sodom als einen der Orte, an denen Gott Rache üben wird. Er personifiziert Sodom als Schwester Jerusalems: „Siehe, das war die Schuld deiner Schwester Sodom: Hoffart und alles in Fülle und sichere Ruhe hatte sie mit ihren Töchtern; aber dem Armen und Elenden halfen sie nicht“ (Hes 16,49). Diese Charakterisierung Sodoms ließe sich mit der in Cualquier cadáver kapitalismuskritischen Sicht auf das ebenfalls personifizierte Mexiko-Stadt parallelisieren. 389 Abraham fragt Gott vor der Zerstörung Sodoms: „Willst du denn den Gerechten mit dem Gottlosen umbringen? Es könnten vielleicht fünfzig Gerechte in der Stadt sein; wolltest du die umbringen und dem Ort nicht vergeben um fünfzig Gerechter willen, die darin wären?“ (Gen 18,23-24).
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dass der Leser sich mit Emarvi identifizieren kann. Zum anderen entsteht eine Distanz zwischen Leser und Protagonist, an dem sich zeigt, wie misogyne Diskurse normalisiert werden. Während Emarvi eines Tages unter der Dusche masturbiert, erreicht ihn die Nachricht seiner Ex-Frau Luz, dass sein Sohn Adrián entführt wurde (vgl. ebd., 56f.). 390 Die Polizei und das ministerio público unterstützen Emarvi und Luz bei ihrer Suche nach Adrián kaum (vgl. ebd., 49, 61f.). Hier kritisiert der Text die fehlende staatliche Bemühung, Verbrechen aufzuklären. Einige Tage später findet man den Sohn ermordet und zusammen mit den Körpern anderer Kinder in einem verlassenen Auto auf einem Parkplatz: Ey, tú, garrapata, cuico escoria – su lengua nada dice: en su mente él balbucea en una condición de fiebre: tiene frente a sí, cosida por dentro de los ojos, la imagen del cuerpillo pálido y tasajeado sobre una plancha en la morgue, las cuencas oculares vacías, el tórax abierto, la rota piel de un ángel muerto de siete años –. ¿Sabes que Adrián fue asesinado? ¿Sabes que le sacaron los órganos y dejaron su cadáver dentro de uno de esos taxis? […] Lo dicen los noticieros, lo leerás en el diario de la tarde. Pero ningún periodista, nadie sabrá una palabra sobre el único Adrián que existió, el que se columpiaba en los juegos de la unidad mugrienta donde vivo, cómo se carcajeaba terca, luminosamente en un columpio. Luminosamente, antes de morir (ebd., 74f.).
Dieser Textabschnitt beginnt mit einem Ausruf, der Affektivität und Mündlichkeit („Ey“) hervorhebt. Emarvis emotionale Überforderung manifestiert sich in der sprachlichen Aggressivität, da er einen unbekannten Wachmann pejorativ als „cuico“ 391 und parasitäre Zecke („garrapata“) bezeichnet. Doch diese Beschimpfungen spricht Emarvi nicht wirklich aus, da er seine Emotionen nicht in Worte fassen kann („nada dice“, „en su mente él balbucea“). Dank des Erzählers, der mit der internen Fokalisierung Emarvis Gefühle äußert und sie in zusammenhängende Sätze umwandelt, kann der Leser sie nachvollziehen. Hier lässt sich die metatextuelle These aufstellen, dass Literatur das Trauma des Einzelnen auf eine persönlichere Weise als ein journalistischer Text artikuliert. Passend dazu wird die mediale Berichterstattung mit dem kontrastiert, was der Verlust Adriáns für seine Angehörigen bedeutet. Die Anonymität der Medien führt dazu, dass in den vielen Nachrichtenmeldungen („noticieros“, „diario“) das individuelle Gewicht des Einzelschicksals verloren geht („el único Adrián que existió“) und abstrakt bleibt („nadie sabrá“). Durch die zweite Person Singular und die Anapher „¿Sabes?“ fühlt der Leser sich direkt angesprochen („lo leerás“). 392 390 Indem Emarvi unter der Dusche masturbiert, vollzieht er einen Akt, der analog zur Zeugung steht – doch Emarvi ist allein und kurz davor zu erfahren, dass sein Sohn entführt wurde (vgl. Beltrán 2014, 56f.). So gesehen verläuft sein ‚Akt der Zeugung‘ bezeichnender Weise ins Leere. Es deutet sich an, dass der Protagonist neben seiner Frau auch sein Kind verlieren wird. 391 Der aus dem Náhuatl stammende Begriff dient heutzutage in Mexiko als despektive Bezeichnung für Polizisten, „Del náhuatl cuico ‘que viene a coger o prender’“ (Real Academia Española 2014, 690). 392 Es dominiert ein wissenschaftlich-medizinischer Sprachgebrauch, der das Wortfeld des Körpers („lengua“, „fiebre“, „ojos“, „piel“, „tórax“, „órganos“) und des Todes („morgue“, „cadá-
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In dieser Textstelle nimmt das Bild der Augen eine dominante Stellung ein. Emarvis traumatische Erinnerung an den Moment, in dem er seinen ermordeten Sohn identifizierte, sei „cosida por dentro de los ojos“. Die spitze Nähnadel, gedanklich durch das Wort „cosida“ hervorgerufen, steht in Opposition zum weichen, runden Auge und vermittelt so eindrücklich den psychischen Schmerz, den Emarvi beim Zurückdenken an dieses Bild empfindet. Der literarische Text macht hier über die Metapher das unsichtbare Leid nachvollziehbar. Adrián wiederum wurde wirklich physisch verletzt und seine Leiche ohne Organe und Augen zurückgelassen („cuencas oculares vacías“). Indem der Vater den Blick in die leeren Augenhöhlen seines Sohnes richtet, stellt er sich dem darin evident werdenden Tod und erkennt, dass er nicht mehr mit seinem Sohn wird kommunizieren können. Wie bereits in Rivera Garzas La muerte me da (2007), Herreras Señales (2009) und Crosthwaites Tijuana (2010), artikuliert auch hier die Metapher des herausgerissenen Auges den Moment, an dem die konventionelle Sprache an ihre Grenze gelangt. 393 Allegorisch gelesen wird mit Emarvis Sohn die private und die gesamtgesellschaftliche Zukunft ausgelöscht. Da Adrián dem illegalen Organhandel zum Opfer fällt, lebt wahrscheinlich ein anderer Mensch, vielleicht in Mexiko oder in den USA, mit seinen Organen weiter. 394 Dabei trifft es mit einem Kind das schwächste Glied der Gesellschaft. Der Text klagt an, dass die mexikanische Gesellschaft ihre Kinder nicht schützt und die eigene Zukunft vernachlässigt. 395 ver“, „asesinado“, „morir“) umfasst. Dies wird jedoch begleitet von eher affektiv-wertenden Begriffen, wie dem Diminutiv „cuerpillo“ und dem christlich konnotierten, geradezu pathetisch klingenden „ángel muerto“. Die metaphorische Gleichsetzung eines Kindes mit einem Engel hat einen idealisierenden Effekt und hebt im Fall von Adrián dessen Unschuld hervor. Das Adjektiv „muerto“ unterstreicht die Irreversibilität des Mords. Die Semantik der Zerstörung und Leere („tasajeado“, „vacías“, „rota“, „sacaron“) sowie Negationen („nada“, „ningún“, „nadie“) potenzieren dieses pessimistische Bild (vgl. Beltrán 2014, 74f.). 393 Drei weitere der hier analysierten Romane greifen das Motiv der herausgerissenen Augen auf, vgl. Kapitel 4.2 Rivera Garza: La muerte me da (2007), 4.3 Herrera: Señales (2009) und 4.5 Crosthwaite Tijuana (2010). Vgl. außerdem Kapitel 2.2.2 zu Foucaults (1994b) Analyse des herausgerissenen Auges bei Bataille. 394 Hier wird kritisch auf die kapitalistische Ausbeutung von Menschenleben in den sog. Schwellenländern angespielt und darauf hingewiesen, dass die Kriminalität ungehindert transnational agiert. Es zeigt sich, dass die Kriminalität der Kartelle nicht allein auf den Drogenhandel beschränkt ist, sondern auch Menschenhandel, illegale Prostitution und Organhandel umfasst (vgl. Martínez 2015; Arena Pública 2017). Da sich Institutionen wie Krankenhäuser am illegalen Organhandel beteiligen, enttarnt Cualquier cadáver die Grenzen zwischen Legalität und Illegalität als fließend. 395 Die Textstelle und damit das Kapitel enden mit der Erinnerung an den lebenden Adrián, der auf einer Schaukel sitzt („columpio“). Die Bewegung der Schaukel symbolisiert in ihrem Auf und Ab den Rhythmus des Lebens. Kurz wird das positiv konnotierte Wortfeld des Spiels aktiviert („columpiaba“, „juegos“, „carcajeaba“) und die Lichtmetaphorik bedient („luminosamente“), die ein strahlendes Bild des glücklichen Adrián erzeugt – das der Tod abrupt beendet („morir“). Der syntaktische Aufbau des letzten Satzes vermittelt, wie unerwartet der Tod Adriáns war und hebt die Endgültigkeit hervor (vgl. Beltrán 2014, 74f.) – Das Wortfeld ‚Licht‘ ist auch in den Namen von Emarvis Ex-Frau „Luz“ und seiner ehemaligen Geliebten „Claire“ enthalten. In allen drei Fällen ist das Licht gelöscht, denn Adrián lebt nicht mehr und das Verhältnis zu den beiden Frauen findet einen negativen Ausgang. So tritt metaphorisch die emotionale Dunkelheit
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Nach dem Tod seines Sohns beginnt Emarvi, Schuldgefühle zu entwickeln. Er fragt sich, welche Rolle sein eigenes literarisches Schreiben einnimmt: Escribir es una falta. Sobrará quien me diga: ‚Escribe de Adrián, convierte en prosa y arte lo que ha pasado, he ahí una gran historia‘. Pero no soy un buitre. ¿Lo soy? No hay nada heroico en escribir un libro, eso ahí es vanidad. Es demasiado lo que pienso. El mundo es de los que actúan, de los que trasmutan a la gente con sus hechos, de los que protegen a los niños de su sangre, o a los niños de cualquier sangre. […] Expiar a favor mío la muerte de mi hijo, darle una verborrea, un vómito de palabras grandilocuentes a ese niño cuyo breve cuerpo no supe resguardar. Pero así me alimentaría del cadáver de Adrián, lo expondría a la vista de la gente como un comerciante de mierda. Sería un buitre. ¿Eso la escritura? ¿Un buitre? Porque así antes fantaseaba con qué sería de mi vida si de súbito él y Luz desapareciesen y yo recobrara mi libertad y pudiera largarme sin dejar raíces en ningún lado. Pero nada. Escribo, escribo, escribo. Sólo palabras, no hice nada. Sólo palabras. Adrián sigue muerto (Beltrán 2014, 85f.).
Die hier zitierte Textstelle ist in der ersten Person Singular aus Sicht Emarvis verfasst. Es hat also ein Wechsel der Erzählperspektive von der Erzählinstanz zu Emarvi stattgefunden, der seine Gedanken in einer Art Selbstgespräch äußert. Emarvi bereitet sich innerlich auf die Kommentare seiner Mitmenschen vor („Sobrará quien me diga“) und beginnt, über sein Verhalten und die aktuelle Situation zu reflektieren. Syntaktisch zeigt sich Emarvis innere Zerrissenheit und Unsicherheit, indem er seine eigenen Aussagen hinterfragt („Pero no soy un buitre. ¿Lo soy?“) und offene Fragen stellt („¿Eso la escritura? ¿Un buitre?“). Zugleich wird der implizite Leser in die Reflexionen einbezogen. Die elliptische Form der Syntax, die Anaphern („Pero“, „Sólo palabras“) und die Epizeuxis („Escribo, escribo, escribo“) untermalen Emarvis Emotionen. Die häufigen negativen Worte („no“, „nada“) und Präfixe („des-“) potenzieren dies. Hinzu kommt zutage, die die Gegenwart des Protagonisten bestimmt. – Außerdem fällt auf, dass Adriáns und Arindes Namen mit dem Buchstaben „A“ beginnen. Folgt man der Symbolik des Vokals, verkörpern sie, wie das hebräische Aleph, den positiv konnotierten Anfang. In Jorge Luis Borges’ [1952] (1984) gleichnamiger Kurzgeschichte ist „el Aleph“ der Punkt, von dem aus das gesamte Universum sichtbar wird, verknüpft mit der Frage nach der Erinnerung an die Toten sowie nach der sprachlichen (Un-)Möglichkeit, das Aleph zu vermitteln (vgl. auch Deppner 2009). Da in Cualquier cadáver jedoch Adrián und Arinde sterben, sind Ursprung und Unendlichkeit unwiderruflich zerstört. – Die Namen der Figuren Emarvi und Elvia beginnen jeweils mit dem Vokal „E“ und tragen das „v“ und „a“ in sich. Betrachtet man die vier Namen zusammen, liegt ein Bezug zu den biblischen Figuren Adam und Eva nahe. Die Paradieserzählung evoziert Reflexionen über das Verhältnis der Geschlechter, die Frage nach der Schuld und der Unterscheidung zwischen ‚Gut‘ und ‚Böse.‘ Zentral ist ebenfalls die Vertreibung aus dem Paradies, nach der das menschliche Leben mit Leiden verbunden ist. Diese christliche Konnotation kontrastiert jedoch damit, dass der Protagonist selbst behauptet, sein Name sei ein Neologismus aus „Omar“ (Beltrán 2014, 44). Dies deutet auf eine muslimische Etymologie, angelehnt an den für seine Sittenstrenge bekannten Kalifen Umar (vgl. Heine 1991, 726). – Cualquier cadáver entzieht sich auf Ebene der Figurennamen einer homogenen Bedeutung und überlässt es somit dem Leser, den vieldeutigen Namen und impliziten intertextuellen Bezügen nachzugehen. Da sie zentrale Motive des Romans aufgreifen, ergänzen sie semantisch die Lektüre.
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eine Semantik des Ekels („sangre“, „vómito“, „mierda“, „cadáver“, „verborrea“ 396), die auch das Wortfeld des Todes aktiviert. Auffällig ist außerdem die Häufigkeit der Silbe „es“. Sie ist gleichlautend mit der konjugierten Form des Verbes „ser“ im Präsens Indikativ und kontrastiert mit dem Subjunktiv „fuese“ und Konditional „sería“. Dies kann bedeuten, dass Emarvi sich des aktuellen Ist-Zustands bewusst wird. Er bemerkt die Konsequenz seiner Gedankenspiele („fantaseaba“) und kann das Geschehene nicht mehr rückgängig machen. Das Motiv der Vergänglichkeit ist präsent („vanidad“, „sin dejar raíces“, „falta“). Dabei sticht die Polysemie des Wortes „falta“ hervor, das neben der ‚Abwesenheit‘ auch einen ‚Fehler‘ oder eine ‚Grenzverletzung‘ bezeichnen kann (vgl. Real Academia Española 2014, 1007). Somit offenbart sich das Schuldgefühl Emarvis. Er begründet seine eigene Machtlosigkeit damit, dass er den Tod seines Sohnes explizit in Kauf genommen habe („no hice nada“), um frei zu sein („libertad“, „largarme“). Die Idee der Freiheit ist für Emarvi an seine Etablierung als Schriftsteller gebunden, einen Traum, den er seit seiner Jugend verfolgt. 397 Daher beziehen sich die Bezeichnungen „gran“, „heroico“, „grandilocuente“ auf seine früheren Versuche, ein bahnbrechendes Werk zu schreiben. 398 Er fühlte sich durch seinen Sohn gezwungen, in Mexiko-Stadt zu bleiben („dejar raíces“). Als Adrián stirbt, trägt Emarvi für niemanden außer sich selbst die Verantwortung (vgl. auch Beltrán 2014, 98f.). Am Übergang von „libertad“ zu „nada“ zeigt sich jedoch, wie der Protagonist erkennt, dass die eigene innere Leere keine Freiheit ist. Es zeichnet sich ab, dass Emarvi sich von seinen früheren Vorstellungen über das Schreiben entfernt, denn literarisches Schreiben („No hay nada heroico en escribir“, „Sólo palabras“, „Escribir es una falta“) und Handeln treten auseinander („El mundo es de los que actúan“, „trasmutan a la gente con sus hechos“, „no hice nada“). Das Schreiben ist aus Sicht Emarvis kein Instrument des kollektiven Gedächtnisses, sondern eine kannibalische Bereicherung am Tod des Anderen. Diesen Gedanken entwickelt Emarvi an der Metapher des Aasgeiers („buitre“), der sich vom Kadaver ernährt („me alimentaría del cadáver“). Indem das Tierische hier mit dem Kapitalismus („comerciante“) verknüpft ist, wird angedeutet, dass die Menschen den Tieren nicht moralisch überlegen sind, da sie als Mitglieder der kapitalistischen Gesellschaft vom Leid ihrer Mitmenschen profitieren. Der Protagonist erachtet Literatur als einen Teil des kapitalistischen Systems und setzt sie mit einem Aasgeier gleich. Wie sich zeigt, ist Emarvis Sicht auf die Literatur pessimistisch, denn das Schreiben kann seinen Sohn nicht zum Leben erwecken. Folglich findet der Protagonist auch am Ende seines Gedankenganges keinen Trost, denn der Tod ist irreversibel („Adrián sigue muerto“). Das Adjektiv „muerDas Suffix „-rrea“ steht für die fließende Bewegung, wodurch „verborrea“ zur Semantik des Ekels beiträgt (vgl. Real Academia Española 2014, 1942). 397 Sein erstes Ziel auf diesem Weg war Mexiko-Stadt. Er hatte darüber hinaus die Absicht, nach Frankreich zu reisen, um dort an seinem Schriftsteller-Traum zu arbeiten (vgl. Beltrán 2014, 50f.). Allerdings trat Emarvi nie das Stipendium an, das ihn nach Frankreich bringen sollte, da Luz schwanger wurde (vgl. ebd., 97f.). 398 Vgl. die Bezeichnung „La Obra“ (ebd., 51). An der Majuskel wird die besondere Bedeutung erkennbar, die Emarvi dem Werk gern zuschreiben würde. 396
4.7 Geney Beltrán Félix: Cualquier cadáver (2014) 233
to“ schließt den Absatz und das gesamte Kapitel ab. Der in Cualquier cadáver vollzogene Wechsel zwischen positiven (vgl. ebd., 74f.) und negativen Bewertungen von Literatur zeigt, dass sich Emarvi intensiv mit dieser Frage befasst. Da der Text keine eindeutige Antwort gibt, macht er auf die Komplexität des Themas aufmerksam und bezieht den impliziten Leser in den Reflexionsprozess ein. Nach dem Tod seines Sohns verlässt Emarvi Mexiko-Stadt und reist nach Culiacán, im nördlichen Bundesstaat Sinaloa, wo seine Familie lebt (vgl. ebd., 109f.). Die Rückkehr Emarvis in diese Stadt bildet zeitlich betrachtet die Rückkehr von der Gegenwart in die Vergangenheit ab sowie geographisch und sozial eine Bewegung vom Zentrum in die Peripherie. 399 Die Konstellationen, die Emarvi vorfindet, haben sich jedoch verändert: Während das ehemalige Zentrum der Stadt zerfällt, fließt das Geld der Drogenkartelle in die Entwicklung der zuvor peripheren, im Norden der Stadt gelegenen Regionen (vgl. ebd., 113). 400 Im Raum offenbart sich die soziopolitische Situation, in der die narcos einen starken Einfluss auf die lokale Infrastruktur haben. Der Taxifahrer, der Emarvi von diesen strukturellen Veränderungen berichtet, verkörpert das inoffizielle, aber alltägliche Wissen der Stadt. Es ist allgemein bekannt, so wird hier suggeriert, dass das Geld nicht aus legalen Geschäften stammt. Die Regierung versucht jedoch nicht, etwas an diesem Zustand zu ändern, denn sie ist in der erzählten Welt Culiacáns abwesend (vgl. ebd., 168). Das Militär hingegen ist präsent und macht sichtbar, dass die Stadt von Gewalt gezeichnet ist (vgl. ebd., 111f.). 401 Außerdem spielt Musik im diegetischen Raum Culiacáns eine zentrale Rolle (vgl. ebd., 114). Der Text nennt die Vertreter unterschiedlicher musikalischer Stile
399 Sinaloa entwickelt sich wirtschaftlich nach Inkrafttreten des NAFTA-Abkommens besser als der Süden des Landes (vgl. Márquez und Meyer 2017, 767f.). Dennoch nimmt das Bundesland in der Geschichte des zentralistisch organisierten Mexikos eine periphere Position ein (vgl. Polit Dueñas 2013, 27f., 94). Im Roman gibt Emarvis Familiengeschichte einen Einblick in die sozioökonomischen Veränderungen der Region. Emarvis Eltern kommen aus der ländlichen Sierra und die Familie zieht erst in den 1970er Jahren nach Culiacán (vgl. Beltrán 2014, 18, 131). Ihre Bewegung vom Land in die Stadt fällt in die Phase der sog. Operación Cóndor Mexikos. Kapitel 3.1.2 dieser Arbeit zeigt, dass die Vernichtung der Felder sowie Menschenrechtsverletzungen zu einer massiven Landflucht führten (vgl. auch Polit Dueñas 2013, 28). Cualquier cadáver erwähnt weder den Drogenanbau noch die Operación Cóndor explizit, die Anspielungen sind also nur für einen Leser mit Vorwissen ersichtlich. Es entsteht eine Leerstelle, die die in Sinaloa noch immer traumatische Beziehung zu diesem Abschnitt der Vergangenheit reflektiert (vgl. ebd., 24). 400 Die Regierung der USA führt seit 2000 eine Liste mit mexikanischen Firmen, die sie der Geldwäsche für Drogenkartelle verdächtigt. Den Firmen, einige von ihnen Bauunternehmen, werden ebenfalls Verbindungen mit den Landesregierungen nachgesagt (vgl. Guazo 2015). Heute gilt das Immobiliengewerbe als eine der erfolgreichsten Methoden, um in Mexiko Geld zu waschen (vgl. Yamashiro 2010). 401 Während seines Aufenthalts in Culiacán erfährt Emarvi von unterschiedlichen gewalttätigen Auseinandersetzungen mit Schusswaffen, die sich in seiner unmittelbaren Umgebung ereignen. Dabei sterben unschuldige Minderjährige und Räume wie das Krankenhaus verlieren ihre eigentlich schützende Funktion (vgl. Beltrán 2014, 112, 168). Es zeichnet sich ab, dass die Gewalt moralische und strukturelle Grenzen überschritten hat. Dies scheint ein hauptsächlicher Grund zu sein, weshalb viele Menschen aus Culiacán in die USA auswandern (vgl. ebd., 160f.).
234 4. Grenzen und Transgressionen im mexikanischen Roman der Gegenwart
und verweist damit auf die Diskrepanz zwischen Mythos und Realität. 402 Das Zentrum macht sich kulturell konstruierte und vermittelte Vorstellungen von ländlich-peripheren Regionen, die dem jeweils dominanten Diskurs nutzen – früher diente das postrevolutionäre Bild des ländlichen Helden dazu, marginalisierte Schichten imaginär in die Nation zu integrieren, heutzutage führt die Verortung von narcos im Norden dazu, dass das Zentrum die eigenen Gewaltprobleme geographisch von sich weist. Der Text deutet kritisch auf die Funktionsweise dominanter Diskurse und ein noch immer bestehendes zentralistisches Denksystem hin, das medial vermittelt wird. Erstaunlich ist jedoch, dass der Protagonist diese stereotype Sicht auf Culiacán übernimmt. 403 Indem er die Klischees nicht etwa bestreitet, sondern sie perpetuiert, versucht auch er, sich vom Raum abzugrenzen, mit dem er negative Gefühle verbindet, und den er als „tierra podrida“ bezeichnet (ebd., 125). Die Semantik des Ekels und der Verwesung verknüpft den geografischen Raum mit dem Tod und der ganz persönlichen Erinnerung Emarvis an den Selbstmord seines Vaters. Denn auf seiner Reise bemüht sich Emarvi darum herauszufinden, aus welchem Grund es zu diesem Suizid gekommen ist. Als er seinen älteren Bruder und seine Mutter konfrontiert, weigern sich jedoch beide, über das Thema zu reden (vgl. ebd., 154ff., 188, 189f.). Sie unterbinden den Versuch des Protagonisten, sein Trauma aufzuarbeiten. Emarvis Mutter ist eine Allegorie für die mexikanische Gesellschaft, die nicht über die eigene Vergangenheit sprechen möchte und Nachforschungen verbietet. Auf Emarvis gegenwärtiges Leben fällt zwar der Schatten der Vergangenheit, doch es gelingt ihm nicht, sich mit ihr auseinanderzusetzen und sie sich anzueignen. 404 Dies zeichnet sich ebenfalls auf der räumlichen Ebene ab: Das vom Vater gebaute ehemalige Haus der Familie ist zu einer Gewerbe-Immobilie geworden, in der nun keine Familie mehr lebt (vgl. ebd., 115, 117, 130, 152). Metaphorisch gesehen kann sich in diesem leblosen Raum also keine Zukunft entwickeln. EmarDer ländliche, revolutionäre Held, wie der Schauspieler und Sänger Antonio Aguilar (vgl. ebd., 174f.), wird Ende des 20. Jahrhunderts abgelöst vom Gewalt-affinen narcocorridoSänger (vgl. Polit Dueñas 2013, 96). Der im Text erwähnte Chalino Sánchez (vgl. Beltrán 2014, 176) stammt selbst aus dem narco-Milieu Culiacáns und erlangt nach seiner Ermordung mythische Bedeutung (vgl. PBS 2006). 403 Emarvi äußert seine Ablehnung Culiacáns in einem Textabschnitt, der durch die sechsmalige Anapher „Me cago en“ (Beltrán 2014, 125f.) rhythmisiert zu sein scheint und zunächst an ein corrido-Lied oder Gedicht erinnert. Doch das nicht einheitliche Versmaß bildet einen arrhythmischen Ton, die Musikalität scheitert, und Emarvi negiert die Kultur, die er mit Culiacán verbindet. 404 Während Emarvi sich in Culiacán aufhält, fokussiert die Erzählung allerdings in drei Rückblenden die Vergangenheit seines Vaters (vgl. Beltrán 2014, 151f., 157f., 174f.). Die Authentizität dieser Textabschnitte erscheint aber zweifelhaft („Esto, posible,“ ebd., 152, „Acaso, así, el pasado,“ ebd., 158, „Un día probable del año 1973,“ ebd., 175), und es wird impliziert, dass Emarvi sie selbst verfasst hat. Literarisch gelingt es ihm, sein fehlendes Wissen über die Vergangenheit auszugleichen. Dies kann als metatextuelle Botschaft gedeutet werden: Der fiktionale Text ermöglicht es dem Schreibenden sowie dem Lesenden, sich in das Leben der Vorfahren einzufühlen und die Vergangenheit zu rekonstruieren. Allerdings handelt es sich dabei immer nur um eine Konstruktion, also eine Annäherung, die nicht mit der Realität zu verwechseln sei. 402
4.7 Geney Beltrán Félix: Cualquier cadáver (2014) 235
vis Mutter ist in ein neues Haus gezogen, um die Trauer über den Verlust ihrer Tochter zu verkraften (vgl. ebd., 137). Denn Emarvis jüngere Schwester Arinde ist einige Monate zuvor an Leukämie verstorben (vgl. ebd., 40). Arinde symbolisiert eine eigentlich vielversprechende, nun aber zerstörte Zukunft. Mit dem Haus der Familie verlässt die Mutter einen Raum, der positive Erinnerungen an die lebende Arinde enthalten könnte. Stattdessen versucht man, die Toten aus den Bereichen des Lebens zu verdrängen, indem man sie auf den vom Rest der Gesellschaft abgegrenzten Friedhof verbannt (vgl. ebd., 187f.). Hier wird ein Ort erwähnt, den Michel Foucault als Heterotopie bezeichnet. 405 Allerdings gelingt in der erzählten Welt die angestrebte Trennung von Tod und Leben nicht. Erstens bleibt der Tod in Culiacán nicht nur auf den Friedhof begrenzt, sondern ist auch im Zentrum der Stadt präsent (vgl. ebd., 112), zweitens erschwert die Trauer um ihre verstorbenen Angehörigen das Leben der Protagonisten. Die vielfältigen Familienkonstellationen sind alle von Gewalt oder unnatürlichen Todesfällen gezeichnet. 406 Auf Ebene der Elterngeneration ist die Figur des Vaters meist abwesend. Die soziale Ordnung, die der Vater repräsentiert, ist hier nicht vorhanden. Der Theorie Lacans folgend, verkörpert die Figur des Vaters das Verbot, das es dem Kind ermöglicht, seine eigene Geschlechtsidentität und soziale Rolle zu entwickeln. 407 In diesem Sinne verweisen die abwesenden Väter in Cualquier cadáver darauf, dass das Verhältnis zwischen den Geschlechtern nicht reguIn der jeweiligen Gesellschaft können Heterotopien unterschiedliche Formen annehmen und fungieren als innere Grenze. Der Friedhof dient dazu, den Tod zu kontrollieren, indem er ihn auf einem beschränkten Platz eingrenzt. Vgl. Kapitel 2.1.2 der vorliegenden Arbeit, das sich mit der von Foucault (2005) erläuterten sozialen Funktion von Heterotopien befasst. 406 In Cualquier cadáver werden drei Familienkonstellationen vorgestellt, 1. Emarvis Familie, 2. Elvias Familie und 3. Estebans Familie. 1. Emarvis Familie ist geprägt vom Selbstmord des Vaters und dem Leukämie-Tod Arindes. In Rückblenden erfährt der Leser, dass Emarvi Luz geheiratet hatte, weil sie schwanger war und nicht abtreiben wollte (vgl. Beltrán 2014, 51, 97f., 149). Als Emarvi eine Affäre beginnt, trennt er sich von Luz, wird aber schnell von seiner Geliebten verlassen (vgl. ebd., 26f.). Das schlechte Verhältnis zwischen Luz und Emarvi bessert sich nach Adriáns Tod nicht (vgl. ebd., 68, 84). 2. Elvia und ihre ältere Schwester Yolanda wurden früh von ihrer Mutter verlassen (vgl. ebd., 93). In der Kindheit wurde Yolanda von einigen Onkeln vergewaltigt (vgl. ebd., 207f.). Elvia und ihr Vater hatten einen Autounfall, bei dem der Vater verstarb und Elvia querschnittsgelähmt zurückblieb (vgl. ebd., 91f.). Den Schwestern gelang der soziale Aufstieg (vgl. ebd., 94). 3. Esteban ist ein alter Schulfreund Emarvis (vgl. ebd., 139). Er wuchs als Waise bei seiner Großmutter auf (vgl. ebd., 143). Mit seiner Frau Rosaura hat er zwei Kinder, kümmert sich jedoch nie, da er Alkoholiker ist (vgl. ebd., 144ff.). Rosaura und Emarvi hatten ohne das Wissen Estebans eine Affäre, wobei sie ungewollt schwanger wurde (vgl. ebd., 146f.). Daraufhin forderte Emarvi Rosaura auf, das Kind abzutreiben, vergewaltigte und schlug sie (vgl. ebd., 147f.). Ein Jahr später trennte Rosaura sich von Esteban (vgl. ebd., 149). Als Emarvi nach dem Tod Adriáns nach Culiacán kommt, sucht er Rosaura auf (vgl. ebd., 159). Sie erzählt ihm, dass sie mit ihren Kindern zu Verwandten in die USA gehen wird und ihn nicht sehen möchte (vgl. ebd., 160f.). 407 Das durch den Vater geäußerte Verbot sei Lacan zufolge eine „kulturstiftende Leistung“ (Gekle 1996, 129). Neben seiner repressiven Funktion fungiere der Vater aber ebenso als Ideal (vgl. ebd., 130): „Nicht untersagt das Verbot das Begehren – laut Lacan ist es gerade umgekehrt: Erst das Verbot schafft das Begehren“ (ebd., 106, Hervorhebung i. O.). Dabei ist nicht der reale Vater gemeint, „[v]ielmehr repräsentiert der Vater die symbolische Dimension“ (Pagel 2007, 101). 405
236 4. Grenzen und Transgressionen im mexikanischen Roman der Gegenwart
liert ist, und in eine von sexualisierter Gewalt geprägte Gesellschaft mündet. Die von sexuellem Missbrauch und Vergewaltigungen bestimmte erzählte Welt deutet kritisch auf eine gesamtgesellschaftliche patriarchale Normalität hin. Auch das Bild der nährenden und selbstlosen Mutter wird meistens nicht bedient. Mütter, die beispielsweise ihre Familie verlassen (vgl. ebd., 93), sind eine Allegorie für die mexikanische Regierung, die die Bevölkerung nicht ausreichend unterstützt. Dennoch halten einige Familien der erzählten Welt zusammen und verkörpern ein alternatives, selbstorganisiertes Miteinander, das jedoch nur unter erheblichem Aufwand der Beteiligten funktioniert. Obwohl es ihnen mitunter gelingt, sozial aufzusteigen, garantiert dies nicht, dass auch die folgenden Generationen davon profitieren. Die Kinder werden entweder gar nicht erst geboren, sterben zu früh oder sie wandern in die USA aus. Sie sind eine Allegorie für eine negative, leere Zukunft, die sich nur außerhalb des Landes erfolgreich entwickeln kann. Cualquier cadáver entwirft somit ein pessimistisches Bild der gesellschaftlichen Realität, in der jeder Mensch sein eigenes Leid zu verkraften hat. Die Mikroebene der Familienstruktur macht die Probleme der Gesellschaft sichtbar und der Leser kann für den Einzelnen Empathie empfinden. Zugleich zeigt sich, dass strukturelle Probleme des Zusammenlebens über Generationen hinweg bestehen bleiben und es nicht leicht ist, sich von dieser Prägung zu lösen. Emarvi und seine neue Nachbarin Elvia beginnen, sich miteinander zu unterhalten, und ihre Gespräche ziehen sich wie ein roter Faden durch die Erzählung. 408 Es entwickelt sich auf individueller Ebene eine Art gesellschaftlicher Dialog (vgl. Beltrán 2014, 42-49). Dabei ist auch die politische Krisensituation Mexikos präsent, obwohl sie zunächst hintergründig bleibt, da der Protagonist sich gedanklich mehr mit seinem persönlichen Leben befasst (vgl. z. B. ebd., 31f.). Während er im Internet surft, an Zeitungskiosken vorbeigeht, oder sich mit Kollegen, Nachbarn und seiner Mutter unterhält, trifft der Protagonist aber wiederholt auf Nachrichten, die die politische Situation Mexikos thematisieren. 409 Dass die dabei stets präsente explizite Gewalt meist medial vermittelt ist, 410 kann man als implizite Kritik an den Medien und vor allem der nota roja deuten, die auf eine Wiedergabe von
408 Vgl. Beltrán 2014, 16, 20f., 42-49, 79-83, 91-96, 184f., 201, 206-211. Die hetero- und extradiegetische Erzählinstanz nimmt meist die interne Fokalisierung Emarvis ein, wechselt aber an einigen Stellen in die interne Fokalisierung Elvias (vgl. z. B. ebd., 100-103, 120f., 164-167). In den meisten Fällen erscheinen ihre Unterhaltungen in der Form der direkten, eingeleiteten Rede. Durch diese Gespräche und die interne Fokalisierung erhält der Leser einen privaten Einblick. 409 Vgl. ebd., 23, 32, 34, 38, 45-49, 155. Bereits am Anfang der Erzählung wird darauf hingewiesen, dass die politische Situation Mexikos angespannt ist. Der Protagonist denkt über die Möglichkeit eines Bürgerkriegs nach: „Otros reportes […] le hacen creer ver los gérmenes (¿tanto así?) de una guerra“ (ebd., 34). Die ironische Frage in Klammern nimmt dem aber die Ernsthaftigkeit. 410 Erwähnt werden narcos (vgl. ebd., 34, 113, 125f.), Schießereien (vgl. ebd., 112), tote Kinder und vergewaltigte Frauen sowie Zwangsprostitution, bei der Polizisten Mittäter sind (vgl. ebd., 46f., 49). Die Institutionen, die eigentlich zum Schutz der schwächeren Glieder der Gesellschaft dienen, sind gescheitert. Die strukturellen Probleme des Landes enden in körperlicher Gewalt, die vor allem marginalisierte Menschen real erfahren.
4.7 Geney Beltrán Félix: Cualquier cadáver (2014) 237
möglichst gewalttätigen Szenen spezialisiert ist und dabei keinen differenzierten, ethischen Journalismus verfolgt. Elvia bezieht ihre Informationen überwiegend über die Medien (vgl. ebd., 45, 200). Zugleich bemalt sie Leinwände mit roter Farbe (vgl. ebd., 96, 208). Das Rot kann mit dem Blut der vielen Opfer und der nota roja assoziiert werden. Die Wiederholung des immer gleichen Motivs verweist auf die vielen anonymen Toten und bezieht sich implizit auf den Titel des Romans, Cualquier cadáver. In den abstrakten Gemälden manifestiert sich die Schwierigkeit, die Realität in Worte zu fassen und wiederzugeben. Es gelingt dem Roman, über diese Bilder die Ambiguität der gesellschaftlichen Situation und die Positionen der unterschiedlichen sozialen Akteure darzustellen, ohne in pathetische oder vereinheitlichende Diskurse zu verfallen. Dass Elvia querschnittsgelähmt ist, kann man in diesem Zusammenhang also allegorisch deuten: Sie repräsentiert eine junge Generation Mexikos, die wie paralysiert, ungläubig die Realität wahrnimmt und nicht sozial in Bewegung kommt. 411 Emarvi hat im Gegensatz zu Elvia keine großen Schwierigkeiten, sich emotional von der Gewalt abzugrenzen, da er sich bis zur Ermordung seines Sohns nicht von ihr betroffen fühlt (vgl. ebd., 48). Er wäre anders als Elvia in der Lage, sich mit körperlichem Einsatz zu engagieren, tut aber nichts, um die gesellschaftliche Situation zu verändern. Als sein Sohn entführt wird, informiert Emarvi sich zwar über die selbstorganisierten Suchaktionen von Eltern verschwundener Kinder, engagiert sich aber nicht (vgl. ebd., 68, 186f.). Es zeigen sich eine fehlende Solidargemeinschaft und die Trägheit des Einzelnen. 412 Passend dazu wohnt der Protagonist nach einer Ellipse von etwa einem Monat im vorletzten Kapitel wieder in Mexiko-Stadt und bewegt sich scheinbar in seinem Alltag wie zuvor. 413 Emarvi ist guter Laune, denn er hat Geburtstag und das erste Mal nach Monaten wieder Geschlechtsverkehr (vgl. ebd., 220f.). Beide Ereignisse sind positiv konnotiert und stehen für eine Bejahung des Lebens, kontrastieren damit aber zugleich mit dem gesellschaftspolitischen Hintergrund. Die erzählte Welt ist auf 2005 datiert, also auf das Jahr, das auch real jenes unmittelbar 411 Elvias Leben ändert sich kurzzeitig, als sie sich mithilfe eines jungen Mannes im Wahlkampf engagiert (ebd., 195f.). Doch die Illusion der Veränderung zerbricht, denn nachdem der Politiker vermeintlich ermordet wird, endet Elvia wie zuvor allein in ihrer Wohnung (ebd., 198f.). 412 Der rastlose Protagonist hat laufend wechselnde Ziele im Sinn, z. B. die USA (ebd., 160, 161, 169, 178f., 189), Frankreich (vgl. ebd., 51, 85, 97f.), Kanada, Australien (vgl. ebd., 35). Wie sich zeigt, fühlt sich Emarvi heimatlos und möchte vor seinen eigenen Emotionen fliehen. Zugleich hindert ihn seine Trägheit daran, seine Ziele konsequent zu verfolgen. Nicht einmal im Traum gelingt Emarvi die Flucht in eine Utopie, vielmehr verstärken die ihn plagenden Albträume seine Unausgeglichenheit. Insgesamt werden sechs Träume Emarvis beschrieben (vgl. ebd., 15-18, 30, 53-55, 83, 133, 162f.). Sie sind von Tod und Gewalt dominiert und lösen in Emarvi Gefühle von Angst und Trauer aus. In keinem der Träume zeichnet sich eine positive Wendung oder ein Happy End ab. Die Flucht gelingt Emarvi nur, wenn er aus dem Traum erwacht. Oft bleibt aber das unangenehme Gefühl der Träume darüber hinaus im Wachzustand bestehen (vgl. ebd., 16, 54). Vgl. Kapitel 4.4 zu Silva Márquez’ Una isla sin mar (2009), dessen erzählte Welt auch eine Spannung zwischen Rastlosigkeit und Trägheit erzeugt. 413 Emarvi befindet sich im Fahrstuhl seines Mietshauses (vgl. ebd., 217), wie zu Beginn der Erzählung (vgl. ebd., 16, 20). Hier schließt sich der Kreis zwischen Anfang und Ende. Dies suggeriert, dass Emarvis Leben sich trotz des Todes von Adrián kaum verändert hat.
238 4. Grenzen und Transgressionen im mexikanischen Roman der Gegenwart
vor den Wahlen in Mexiko ist. Es dominieren die Nachrichten über den linken Politiker Pérez Gracia, der laut Umfragewerten bei der Bevölkerung sehr beliebt ist. 414 Da man ihm jedoch ein Verbrechen vorwarf, tauchte Pérez Gracia unter, um seiner Festnahme zu entgehen (vgl. ebd., 23, 155). 415 In der darauf folgenden Konfusion widersprechen sich die Nachrichtenmeldungen. 416 Dieses Beispiel suggeriert, dass die Medien in Mexiko je nach politischem Interesse unterschiedliche Meldungen veröffentlichen und daher nicht als objektiv gelten können. Im Mexiko der erzählten Welt finden nach dem Tod Pérez Gracias Demonstrationen statt und es bildet sich eine Guerilla (vgl. ebd., 32, 67, 201, 209f.). Die Proteste werden gewalttätig und eskalieren in einer Form, die nicht der extratextuellen Realität entspricht: Ein Flugzeug wird zum Absturz gebracht und eine Bombe explodiert im großen Medienunternehmen TV Azteca (vgl. ebd., 220). 417 Mehr als 200 Menschen, darunter auch Unbeteiligte, kommen ums Leben (vgl. ebd., 225). In Mexiko bricht der Bürgerkrieg aus und damit erreicht eine Entwicklung, die sich im Laufe der Erzählung hintergründig abzeichnete, ihren Höhepunkt. Diese Ereignisse sind auf den September 2005 datiert und fallen somit auf den zwanzigsten Jahrestag des Erdbebens vom September 1985, bei dem mehrere Zehntausend Menschen in Mexiko starben. 418 Der Roman spielt hier auf ein Vgl. ebd.: 23, 32, 48, 67, 72, 155, 195-197, 199-201, 209f., 220, 225. Auffällig ist hier der Name des Politikers, der durch das „Gracia“ positiv konnotiert ist und metaphorische Größe impliziert. Pérez Gracia ähnelt, da er einen semantisch auffälligen Namen hat, López Obrador. Der trägt als linker Politiker passender Weise die Semantik des ‚Arbeiters‘ im Namen („Obrador“) (vgl. Calderón 2012). Cualquier cadáver nennt jedoch nicht den Vornamen von Pérez Gracia und macht ihn so zu einer unmenschlichen Politiker-Karikatur. 415 Die sich hier abzeichnende politische Lage Mexikos spielt auf zwei extraliterarische Ereignisse an: 1. die unaufgeklärte Ermordung des PRI-Präsidentschaftskandidaten Luis Donaldo Colosio im Jahre 1994, dem Jahr, in dem außerdem das NAFTA-Abkommen in Kraft tritt und die EZLN protestiert (vgl. Márquez und Meyer 2017, 759); sowie 2. die Medienkampagne gegen den PRDKandidaten López Obrador im Jahre 2005/2006 und dessen knappe Wahlniederlage, die zu monatelangen Protesten in Mexiko-Stadt und Oaxaca führt (vgl. ebd., 785f.). Wie Kapitel 3.1.3 der vorliegenden Arbeit zeigt, nehmen beide Ereignisse historisch eine wichtige, aber negativ konnotierte Stellung ein. Sie stehen im Zusammenhang mit erheblichen innenpolitischen Problemen und deuten auf ein permanentes Misstrauen der Bevölkerung gegenüber Politik und Medien hin sowie auf eine gesellschaftliche Polarisierung in ein linkes und rechtes Lager. 416 Während die meisten Medien behaupten, der Politiker sei von seiner Frau erstochen worden, sind andere Medien davon überzeugt, dass Pérez Gracia nach Kuba geflohen sei (vgl. Beltrán 2014, 199f.). 417 Neben Televisa ist TV Azteca einer der führenden Medienkonzerne Mexikos. Während der Wahlen 2012 stand TV Azteca in der Kritik, die PRI-Partei mit favorisierender Berichterstattung unterstützt zu haben (vgl. Notimex 2011). Der Sender steht somit für einen regierungsnahen Diskurs (vgl. Barragán 2017). Der Name des privaten Konzerns („Azteca“) erinnert an den staatlichen Indigenismus und den homogenisierenden Diskurs der postrevolutionären Regierungen, vgl. in der vorliegenden Arbeit Kapitel 3.1.2. Da die Demonstranten TV Azteca in der erzählten Welt angreifen, materialisiert sich ein Misstrauen der Bevölkerung gegenüber den Medien. Außerdem kann man dies als eine versuchte Abwendung von diskursiven Kontinuitäten interpretieren. 418 Kapitel 3.1.2 dieser Arbeit zeigt, dass nach dem Erdbeben vor allem die staatlichen Hilfeleistungen ausbleiben. José Agustíns essayistische Nacherzählung des Erdbebens thematisiert dessen einschneidende Bedeutung für die mexikanische Gesellschaft: „[E]l terremoto más devas414
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weiteres gesellschaftspolitisch einschneidendes Ereignis der jüngeren mexikanischen Geschichte an. In der erzählten Welt wiederholt sich die totale Zerstörung, die dieses Mal aber nicht aufgrund einer Naturgewalt geschieht, sondern durch die Menschen selbst. Als Emarvi sich aus dem evakuierten Bürogebäude zurück in sein Apartment begibt, bemerkt er, dass bei Elvia eingebrochen wurde. Er betritt ihre Wohnung und stößt auf die Leiche Elvias, die auf ihrem Bett liegt und vor ihrem Tod vergewaltigt worden ist. Neben ihr befinden sich verstreute Seiten von Emarvis Manuskript. 419 Ve la entrepierna de la joven. De siempre se creyó por encima de toda esa violencia atroz de su tierra. Tierra de narcos. Él, por su parte, leía a Conrad, esto lo hacía superior a esos sicarios. Pero violó a la Rosaura. Abandonó a su hijo. ¿De dónde todo esto? Ve a la joven. Paralítica y muerta. ¿Le importa realmente? Sé sincero: no. La bolita de papel está en su mano. Se acerca a Elvia. Huele su sexo. Se imagina violándola, se ve a sí mismo sobre ese cuerpo. Es un visceral grito que viene de lejos. Debe obedecerlo, a riesgo de hundirse – si no – en una frontera ahogada, de dispersiones. Sin llorar, con el aire escaso, mete la bola de papel en la vagina de la joven muerta (ebd., 224).
Das Zitat fällt syntaktisch durch Ellipsen und generell kurze Sätze auf. Es kontrastiert mit anderen Textstellen des Romans, in denen längere reflexive Satzkonstruktionen dominieren (vgl. z. B. ebd., 204f.). Diese Opposition evoziert eine hektische Eile, die synchron mit Emarvis Situation und seinen Gedanken erscheint. Zunächst erwähnt die Erzählinstanz das öffentliche Leben Mexikos und die gesellschaftliche Gewalt („violencia“, „narcos“, „sicarios“). Dann geht sie unmittelbar zu der Gewalt über, die Emarvi selbst körperlich und psychisch ausgeübt hat („violó“, „abandonó“). Also stellt sich die Frage, wo die Grenze zwischen organisierter Kriminalität und der Gewalt des Einzelnen liegt. Cualquier cadáver klagt nicht nur die gesellschaftliche Krisensituation an, der Roman wirft auch die unangenehme Frage nach der Grenze zwischen gesellschaftlicher und privater Gewalt auf. Die Gewalt auf einer Makroebene abzulehnen, täusche darüber hinweg, dass im Kleinen jedes Individuum einen Teil dieser Gesellschaft ausmache. Da Familienmitglieder Elvias Schwester missbrauchen (vgl. ebd., 207) und Emarvi die schwangere Rosaura vergewaltigt (vgl. ebd., 148), zeigen sich auf der Mikroebene ebenfalls Indikatoren für eine gesellschaftliche Mitschuld. Ähnlich wie in Villafuertes Por el lado salvaje (2011) verdeutlicht hier das Beispiel von Emarvi, dass die Grenze zwischen Täter und Opfer nicht immer eindeutig zu ziehen ist. Der Protagonist orientiert sich intellektuell an nicht-mexikanischen Vorbildern und liest ausländische Literatur, wodurch er sich zwar überlegen fühlt („superior“, „por encima de“), jedoch lediglich vor den eigenen Problemen zu fliehen scheint. tador de la historia del país“, „escenario de ciencia ficción o imagen de pesadilla […], sensación apocalíptica“, „semejaba haber vivido un bombardeo“ (Agustín 1998, 80, 83, 86). 419 Emarvi hatte Elvia ein Manuskript zum Lesen gegeben, das sie als besonders pessimistisch kritisierte (vgl. Beltrán 2014, 208). Darauf entwickelte sich der Dialog zwischen den beiden zu einem Gespräch über Literatur zwischen Autor und Leser.
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Denn während es ihn interessiert, dass Autoren wie Joseph Conrad philosophische Fragen und Gewalt literarisch aufarbeiten, lehnt Ermarvi es aber ab, sich mit dem Leid in Mexiko und der eigenen Schuld zu befassen. Trotz der kritischen Sicht auf Emarvis evasives Lektüreverhalten zeigt Cualquier cadáver, dass Literatur sich transnational und -historisch mit diesen Themen auseinandersetzt. Denn im Laufe des Textes werden mit Conrad (vgl. ebd., 9, 224), Fjodor Dostojewskij (vgl. ebd., 18, 85, 144), J.M. Coetzee (vgl. ebd., 41) und Thomas Bernhard (vgl. ebd., 226) internationale Autoren des 19. und 20. Jahrhunderts genannt. Die Autoren vereint, dass sie sich in ihren Werken wiederholt mit dem Motiv des Selbstmords bzw. der abwesenden Vaterfigur befassen. 420 Zugleich steht der Akt des Schreibens in einigen Fällen in einem unmittelbaren Zusammenhang mit gesellschaftlichen und privaten Krisen. Die Werke enthalten somit eine metatextuelle Valenz und stellen die Frage nach der Grenze zwischen Text und Welt – einer Grenze, die, wie sich herausstellt, nicht klar markiert ist, sondern immer wieder verwischt. Dadurch, dass innerhalb der Diegese von Cualquier cadáver weder Emarvi noch der Erzähler die Lektüren näher kommentieren, sind die thematischen Gemeinsamkeiten nicht ohne Weiteres erkennbar. Es entsteht eine nicht explizit zur Sprache gebrachte Leerstelle. Da Emarvi die Worte fehlen, wendet er sich als Leser den literarischen Werken zu. Dementsprechend kann man die Hypothese aufstellen, dass Emarvi diese Werke liest, um Antworten zu finden und Literatur als gemeinsamen Reflexionsraum zu nutzen. Dort, wo mit dem abwesenden Vater aller Sinn unauffindbar und zerstört ist, trägt Literatur dazu bei, einen neuen Sinn zu erzeugen. Der Leser erkennt, dass er mit seinen individuellen Sorgen nicht allein ist, denn der literarische Text kann traumatische Ereignisse thematisieren und einen Dialog initiieren, der über Jahrhunderte und diverse Nationalliteraturen hinweg reicht. Dabei liegt es aber immer am Leser, die Verknüpfung zwischen Text und Welt herzustellen. So gesehen ist hier eine implizite Aufforderung an den Leser enthalten, selbst einen Abgleich zwischen der literarischen und der extratextuellen Welt zu wagen.
In Joseph Conrads Chance begeht der Vater der Protagonistin Selbstmord (vgl. Wake 2007, 67). J.M. Coetzee (1995) bearbeitet fiktional die Biographie Dostojewskijs, indem er den Protagonisten nach dem vermeintlichen Selbstmord seines Sohnes nach St. Petersburg reisen lässt. In Dostojewskijs (1996, 617, 991) Die Dämonen ist das Motiv des Selbstmords ebenfalls präsent. In Thomas Bernhards (1996, 154ff.) Roman Verstörung berichtet Fürst Saurau vom Selbstmord seines Vaters. Auffällig ist zudem, dass in der Forschung mitunter die Biographie des jeweiligen Autors als Interpretationsgrundlage verwendet wird, was zu der Überlagerung von Fiktion und Realität beiträgt. Beispielsweise werden Conrads Depressionen und Selbstmordversuche mit seiner literarisch häufigen Bearbeitung des Themas in Verbindung gebracht (vgl. z. B. Cox 1973, 285f.). Sigmund Freud verbindet das Werk Dostojewskijs mit dessen frühem Verlust des Vaters und deutet sein Schreiben psychoanalytisch – hierauf nimmt wiederum Coetzee in seinem Werk Bezug und fügt fiktional den Verlust des Sohns hinzu (vgl. Hyde 2011, 212). In den Werken Thomas Bernhards werden an den Grenzen zwischen fiktionalem und autobiographischem Text Anspielungen an die Tatsache vermutet, dass er selbst von seinem leiblichen Vater verleugnet worden sei (vgl. Mittermayer 2015, 49ff.).
420
4.7 Geney Beltrán Félix: Cualquier cadáver (2014) 241
Die abjekte Semantik dieser Textstelle („visceral“, „vagina“, „huele“ „paralítica“, „muerta“) untermalt das Spannungsverhältnis zwischen Erotik und Ekel. 421 Über mehrere Zeilen hinweg bleibt unklar, was Emarvi als nächstes tun wird. 422 Es fällt dem Protagonisten schwer zu atmen („aire escaso“), seine Beklemmung manifestiert sich körperlich, und trotzdem weint Emarvi nicht („sin llorar“). Indem die Erzählinstanz dies erwähnt, lenkt sie den Fokus jedoch auf das Weinen und impliziert, die Situation sei so bedrückend, dass man eigentlich weinen müsste. Die „frontera ahogada“ kann sowohl mit dem Ersticken als auch mit dem Ertrinken („hundirse“) in Tränen assoziiert werden. Diese Wortkombination markiert den irreversiblen Moment, in dem man loslässt und stirbt. Übertritt man die Grenze, gelangt man in einen Bereich fragmentarischer Zerstreuungen („dispersiones“) – dies kann auf einen postmortalen körperlichen Zerfall verweisen sowie, im übertragenen Sinn, auf einen emotionalen Identitätsverlust. Die Worte greifen ebenso die aktuell eskalierende gesellschaftliche Situation auf. Deren Resultat wiederum verkörpert die tote Elvia. Ihr Name taucht nur einmal auf, da der Erzähler sie sonst mit den Distanz erzeugenden Begriffen „joven“, „cuerpo“, „joven muerta“ bezeichnet, wodurch sie ihre Individualität verliert und zum toten Körper wird. Dieser ist dem Blick Emarvis schonungslos ausgesetzt („ve“). 423 Es zeigt sich, wie von Susan Sontag konstatiert, dass der stumme Blick des Lebenden auf das Opfer voyeuristisch ist. 424 In dieser Textstelle erscheint nur das Verb „ver“, Emarvis Blick ist also nicht als detailliert-observierender Akt („mirar“), sondern lediglich als physische, also emotional teilnahmslose Aktivität konnotiert (vgl. Sánchez Bedoya 2009, 199). Denn Emarvi kann den Tod seiner Nachbarin sehr wohl verkraften: „¿Le importa realmente? Sé sincero: no“ (Beltrán 2014, 224). Hier wendet sich die Erzählinstanz direkt an den Protagonisten. Ebenso ist denkbar, dass sie diese Frage an den Leser richtet, den sie erst siezt („Le“) und dann duzt („sé“). Es kommt zu einer die diegetischen Ebenen überschreitenden Metalepse, bei der der Erzähler aus seiner Rolle fällt. Mit dem Imperativ „sé“ überquert der Erzähler auch die Grenze der interpersonalen Distanz und fordert den Protagonisten bzw. Leser auf, sich seine eigene Ignoranz einzugestehen. An dieser Stelle übernimmt die Literatur in Gestalt des Erzählers die Aufgabe, dem Protagonisten/Leser die unangenehme Wahrheit vor Augen zu führen. Erneut stellt sich die metatextuelle Frage nach der Trennung von Leben und Text. Hier lässt sich die These Georges Batailles (1987, 88, 187f.) nachvollziehen, dass der literarische Text es ermögliche, lustvoll grenzüberschreitende Momente nachzuempfinden: An der affektiven Reaktion des Lesers offenbart sich, dass mit dieser Szene die Grenzbereiche der gesellschaftlichen Konvention erreicht werden. Vgl. Kapitel 2.2.2 der vorliegenden Arbeit. 422 Ambivalent ist in diesem Zuge der „visceral grito que viene de lejos“ (Beltrán 2014, 224). Es wird nicht deutlich, ob es sich hier körperlich um eine Art inneren Sexualtrieb handelt („visceral“, „Se imagina violándola“) oder vielmehr moralisch um sein Gewissen, das auf ihn einredet („debe obedecerlo“). 423 Nicht nur seinem Blick ist Elvia ausgeliefert: Emarvi riecht an ihrem Genitalbereich und übertritt damit ihre Intimgrenze. Hier verbindet sich der Ekel („huele“) mit einer erotischen Konnotation („sexo“), wie sich auch dadurch erklärt, dass die Nase den Phallus symbolisieren kann (vgl. Natterer 2012b, 249f.). 424 Vgl. Kapitel 2.1.2 dieser Arbeit zu Sontag (2003, 72, 105). 421
242 4. Grenzen und Transgressionen im mexikanischen Roman der Gegenwart
Die von Emarvi zu einer Kugel zerknüllte Seite seines Manuskripts („bola de papel“) kann man als Metapher für Literatur interpretieren. Dass Emarvi zum Schluss die Papierkugel in die Vagina des toten Mädchens einführt, ist eine mehrdeutige Szene: Einerseits stellt sich die Frage nach der Grenze, die zwischen diesem Akt und einer Vergewaltigung liegt. Emarvi sagte an einer früheren Stelle, er wolle einen Text schreiben, der den Leser verletze (vgl. ebd., 208). In diesem Fall schändet Emarvi mit dem Text die Leiche und zeigt, dass mithilfe von Sprache und Literatur Gewalt ausgeübt werden kann. Andererseits ist der Text wie Elvia der Gewalt zum Opfer gefallen. Das Bild des zerstörten Manuskripts gleicht erneut dem von Cristina Rivera Garza beschriebenen „cadáver textual“ (Rivera Garza 2013, 36) und es wird auf den Titel Cualquier cadáver zurückverwiesen. Emarvi ist als Autor der Erzeuger des Textes, der nun aber fragmentiert und zerstört vor ihm liegt. Es fällt auf, dass der schreibende Protagonist eine Spiegelung des realen Autors ist. 425 Da Emarvi die Zettel nicht rettet, indem er sie z. B. einsammelt oder einen alternativen Text verfasst, gibt er seinem Werk den Todesstoß. Das markiert ein Scheitern der Literatur angesichts der gesellschaftspolitischen Gewalt. Dieser pessimistischen Lesart entspricht auch, dass Emarvi sich daraufhin mit einem Messer in sein Zimmer zurückzieht. Emarvi wirft seine Kleider und Brille aus dem Fenster, versucht, seine bisherige Identität abzustreifen und möchte die Realität nicht länger sehen (vgl. Beltrán 2014, 227). Es scheint, als wolle er für seinen Sohn an sich selbst Rache üben. 426 Seine Kastrations- und Selbstmordfantasien mischen sich mit einer Vergewaltigungsfantasie und Emarvi beginnt erneut, zu masturbieren (vgl. ebd.). Mit dieser Szene, in der sich Schmerzen und erotische Lust verbinden, endet die Geschichte des Protagonisten. Das darauf folgende letzte Kapitel, das mit zwei Seiten verhältnismäßig kurz ist, beschreibt den Blick auf eine postapokalyptische Landschaft. Es sind keine Menschen und keine Gespräche zu hören, die Gesellschaft hat sich zerstört: Se desdobla el viento en remolinos que enturbian la vista. Todo aquí es polvo. Va y viene y mutila el antes azul de los cielos tornándolo un gris lacónico, una lámina claroscura que podría cortarse con las manos, como quien rasga una tela esbelta pero luego se descubre los dedos viscosos, ensuciados por una persistente podredumbre. Eso es el aire ahora. Nadie camina por estos pedregales. Algunas alimañas de piel terrosa corren, se esconden del sol atronador en agujeros, buscan algún jugo en cualquier raíz perseverante, vomitan plastas pegajosas, desaparecen. Aunque no es sólo tierra aquí, este mundo. Hay bloques de concreto –fueron paredes, fueron muros de edificios erguidos y tan bulliciosos siglos atrás, cuando hacia delante estaba fijo todo el presente, tan sustentado en la confianza de quienes asumían el mañana una cerca siempre amable que se vence sin retraso. Hay restos de columnas, tienen los contornos desgastados, dejan que el viento las escarapele y haga transitar sus partículas de concreto y mezcla vieja por los aires como un regalo vencido; he aquí la piedra plural como una fila de cadáveres amputados. 425 Der reale Autor ist wie der Protagonist in Culiacán geboren. Außerdem ist die paratextuelle Widmung des Romans an Geney Beltráns Vater gerichtet, der 73 Jahre alt wurde (vgl. Beltrán 2014, 9). Damit erreichte er dasselbe Alter wie der Vater des Protagonisten (vgl. ebd., 11). 426 „Una víscera, por las de Adrián“, „Nadie ha pagado“ (ebd., 226f.).
4.7 Geney Beltrán Félix: Cualquier cadáver (2014) 243 En días de luz clara, cuando el polvo controla su furia ansiosa y se recuesta en su polvo inferior, desde aquí se ven cerros lejanos. Se ven más cerca otras columnas, otros fragmentos de paredes, despojos altos de concreto, aquí y allá, sin nadie, sin más ruido que el ulular ventoso. Ya no existen el estrépito guerrero, ni los gritos del orgasmo, ni los estertores de quien está siendo muerto en lo que antes fue una Ciudad, al sur de un lago que desapareció por el voraz ímpetu de las generaciones. Frente a estos muros residuales, dentro de la mirada de este polvo, hay una superficie rota por la erosión y en la que no se escucha, ni como un eco engañoso, ya no sólo la risueña voz de un niño de siete años al impulsarse, tan precario, en un columpio –sino tampoco nada de todo esto que has leído y que, tan real como lo es el miedo, he venido escribiendo para desvenarme de culpa el corazón (ebd., 228f.).
Die an anderen Stellen des Romans dominanten Interrogativsätze, Dialoge in wörtlicher Rede und Ellipsen fallen in der hier zitierten Passage weg. Diese syntaktische Veränderung erzeugt einen Effekt der Verlangsamung, der die Leere der beschriebenen Landschaft untermalt. Während das Kapitel insgesamt kurz ist, fällt die Syntax mit langen, poetisch anmutenden Sätzen und häufigen Alliterationen auf. Die raue Sprache gleicht dem im Text beschriebenen Terrain: Es handelt sich um eine Art arider Wüstenlandschaft („polvo“, „tierra“, „sol“). Dabei dominieren das Wortfeld der Vergänglichkeit und Zerstörung („mutila“, „desaparecer“, „erosión“) sowie Negationen („no“, „ni“, „sin“, „nada“, „des-“). Die Anaphern und binären Satzkompositionen („va y viene“, „aquí y allá, sin nadie, sin más“) erzeugen eine Pendelbewegung, die dem Wind gleicht, der sich über diese wüste Landschaft bewegt („viento“, „aire[s]“, „ventoso“) und onomatopoetisch untermalt wird („ulular“). Das dadurch aktivierte Wortfeld des Hörens lenkt den Fokus auf die Stille des Moments, der mit der lauten, lebendigen Vergangenheit kontrastiert („bulliciosos“, „ruido“, „ecos“, „voz“). Auch von den Gebäuden dieses vormals bewohnten Gebiets sind nur noch Ruinen übrig („muros de edificios“, „restos de columnas“, „partículas de concreto“). Der beschriebene Anblick erscheint postapokalyptisch, denn die durch die Bauwerke einst ausgedrückte gesellschaftliche Stärke – Mauern und Gebäude bieten Schutz, Säulen repräsentieren Größe – ist inzwischen nicht mehr vorhanden. Stattdessen wird das Gemäuer mit den Toten verglichen („como una fila de cadáveres“), wobei das Bild des Kadavers aus dem Titel des Romans wieder auftritt. Statt eines einzelnen „cualquier cadáver“ ist nun eine Vielzahl von Leichen zu sehen. Dieses Bild weist noch einmal darauf hin, dass die Zahl der Gewaltopfer in Mexiko („estertones“, „quien está siendo muerto“) zunimmt. Während die Zivilisation in dieser Textstelle nicht mehr existiert, bewegen sich vereinzelte Lebewesen im Raum, die tierische Attribute haben („alimañas“) und abjekt sind („jugo“, „vomitan“, „plastas pegajosas“, „viscosos“, „ensuciados“). Vor diesem Hintergrund hebt sich das ambivalente Bild der „piedra plural“ ab. Einerseits könnte damit das in viele Teile fragmentierte Gebäude gemeint sein. Andererseits erinnert die antiquierte Formulierung „He aquí“ an eine Stelle im zum Alten Testament gehörenden Buch des Propheten Sacharja. 427 Damit bezieht „Porque he aquí aquella piedra que puse delante de Josué; sobre esta única piedra hay siete ojos; he aquí yo grabaré su escultura, dice Jehová de los ejércitos, y quitaré el pecado de la tierra
427
244 4. Grenzen und Transgressionen im mexikanischen Roman der Gegenwart
sich Cualquier cadáver auf einen Text mit apokalyptischen Motiven. Inhaltlich werden im Roman die Zerstörung und die Vergebung der Sünden („culpa“) aufgegriffen, doch ein göttliches Heilsversprechen fehlt. Ebenso beschreibt die Erzählinstanz eine zerstörte Landschaft, ohne dabei jedoch das Geschehene explizit zu erklären („vista“, „se ven“). Die Deutung bleibt in diesem Falle dem Leser selbst überlassen, der zwar von einem einheitlichen, autoritären Narrativ befreit ist, dafür aber selbstständig nach einem Sinn suchen muss. Während die Vergangenheitsform („fueron“, „estaban“) erstens darauf hinweist, dass die unwiderrufliche Zerstörung bereits eingetreten ist, wird zweitens an die Geschichte von Mexiko-Stadt erinnert, die vor mehreren Jahrhunderten („siglos atrás“) an einem See gegründet wurde, für dessen Verschwinden die Menschen selbst verantwortlich sind („guerrero“, „lago que desapareció por el ímpetu voraz de las generaciones“). Mit der Natur zerstören die Menschen ihre eigene Lebensgrundlage. Der Bezug auf Gegenwart und Zukunft („presente“, „mañana“, „hacia delante“) führt unmittelbar zu der Frage, welche Zukunft sich der Leser wünscht. 428 Die mexikanische Gesellschaft steuere auf das Ende zu, das in einigen Jahrzehnten oder Jahrhunderten eintreten werde. Doch man kann es möglicherweise noch herauszögern. Da der Erzähler in diesem Abschnitt den Leser direkt anspricht („has leído“), setzt er die Diegese mit der außertextuellen Welt gleich. Die Grenzen zwischen Protagonist, Erzähler und Autor verschwimmen autofiktional („he venido escribiendo“, „real“), und es entsteht der Eindruck, dass sich der reale Autor an den Leser wendet. 429 Der Schreibende nennt schließlich im letzten Satz den Grund dafür, dass er sein Buch verfasste, „para desvenarme de culpa el corazón“. Literatur hilft demnach dabei, das Schuldgefühl loszuwerden. Einen literarischen Text zu schreiben heißt, sich der persönlichen Schuld zu stellen. Zugleich kann man en un día.“ (Zacarías 3:9, Reina Valera 1960, Hervorhebung JA). Der Prophet Sacharja berichtet in diesem Text von seinen Visionen. Er wird dabei von einem sog. ‚Deuteengel‘ unterstützt, der eine Vermittlerfunktion einnimmt und Sacharja die Bedeutung des Gesehenen erklärt (vgl. Jeremias 1977, 86). Der Text sagt die baldige Endzeit und Zerstörung der feindlichen Besatzer Jerusalems durch JHWH voraus („quitaré el pecado“) (vgl. Delkurt 2006). Im Alten Testament steht der Stein oft metaphorisch für Stärke. Dabei gebe Gott den Gläubigen einen „Grundstein“ als Fundament ihres Glaubens (vgl. Molnar-Hidvegi 2010). Der einzelne Stein („única piedra“) ist in Cualquier cadáver zu einer „piedra plural“ geworden. Dies kann als Bruch mit einem einheitlichen Glauben gedeutet werden. 428 Im Roman wurden verschiedene historische Ereignisse der letzten Jahrzehnte (1985, 1994, 2005) evoziert. Da der Aufstand in der erzählten Welt im Jahre 2005 stattfindet – also in einer Zeit, die bereits vergangen ist – kann der Leser den Roman nicht als dystopischen ScienceFiction-Text deuten. Diese Reihe fortführend, würden als nächstes die Jahre 2014/2015 folgen, die genau auf den Erscheinungszeitpunkt des Romans Cualquier cadáver fallen. Der Leser ist somit gezwungen, auf die eigene Gegenwart und Vergangenheit zu blicken. 429 Die Erzählsituation trägt ebenfalls dazu bei: Sie changiert zwischen der Stimme eines heteround extradiegetischen Erzählers, der in der dritten Person, aber aus der internen Fokalisierung Emarvis berichtet und Abschnitten, die aus Sicht Emarvis in der ersten Person Singular verfasst sind. Hierbei handelt es sich um innere Monologe und tagebuchartige Skizzen des schreibenden Protagonisten, der selbst in der ersten und dritten Person schreibt (vgl. Beltrán 2014, 51). Aufgrund der vielen Perspektivwechsel ist der Übergang bisweilen fließend.
4.7 Geney Beltrán Félix: Cualquier cadáver (2014) 245
diese Aussage im übertragenen Sinn auf die gesellschaftliche Funktion von Literatur beziehen, diskursive Leerstellen und zeitgenössische Problemfälle sichtbar zu machen. So gesehen plädiert dieses Schlusswort für eine Literatur, die, jenseits von Pathos und Utopie-Entwürfen, die Realität nicht beschönigt. Die hier signalisierte heilende, entgiftende („desvenar“) Wirkung des Textes impliziert, dass der Schreibende sich selbst beim Schreiben reinigt. Dabei bleibt jedoch unklar, ob der Versuch wirklich gelingt und inwiefern der Leser von dieser Katharsis profitieren kann. Diese metatextuellen Überlegungen werden im Peritext fortgeführt. Dem Roman ist ein Zitat nachgestellt, das aus Imre Kertész’ Werk Ich – ein anderer stammt. 430 Dort geht es um die Frage nach dem Verhältnis, das zwischen dem literarischen Text und der einer unaufhaltsamen Zerstörung ausgesetzten Welt („hundimiento“, „imparable“, „barrerá“) bestehen kann. Literatur wird die Aufgabe zugeschrieben, das Röcheln der Toten aufzunehmen („estertores“). Dies suggeriert, dass Literatur in jenen Momenten eine Artikulationsmöglichkeit bereithält, in denen die konventionelle Sprache versagt. Zugleich kann der literarische Text die Erinnerung an die Toten bewahren. Diese These stellt die Grenze zwischen der Fiktionalität und der extratextuellen Welt auf den Prüfstand, da sie dem Text eine elementare Rolle in gesellschaftlichen Diskursen zuspricht. Der Intertext von Kertész bringt die metatextuellen Fragestellungen mit der Debatte um die Funktion von Literatur nach der Shoah zusammen. Die gesellschaftspolitische Situation Mexikos ist nicht leichtfertig mit der Shoah gleichzusetzen – Cualquier cadáver warnt mit diesem historischen Orientierungspunkt jedoch vielmehr vor den Konsequenzen des menschlichen Handelns und beweist, dass die im letzten Kapitel entworfene postapokalyptische Gesellschaft nicht undenkbar ist. Zudem wirft das Zitat die Frage auf, was die Menschheit aus ihrer Geschichte lernen kann. Dabei zeigt sich, dass auch die Debatten um die Rolle der Literatur nicht neu sind (vgl. Poetini 2014, 246f.). 431 Indem das Zitat von Kertész den Roman beendet, wird der Literatur zugesprochen, als einziges Medium die krisenhafte Realität greifen zu können. Ähnlich wie Kertész verabschiedet sich Cualquier cadáver vom Ideal des großartigen literarischen Werks und einer moralischen Schreibweise (vgl. Beltrán 2014, 47, 50f., 52, 85). Damit geht einher, dass der Autor, in diesem Fall Emarvi, keine heroische Figur ist und keinen homogenen Sinn erzeugt, in
430 „Este arte extrae su última inspiración del hundimiento increíblemente vertiginoso de los hombres; pero el imparable hundimiento barrerá toda inspiración... Salvo el de la destrucción. ¿Quién habla ahora de literatura? Registrar los últimos estertores, eso es todo“ (Kertész in Beltrán 2014, 230). 431 Kertész selbst bezeichnete das sog. ‚atonale Erzählen‘ als eine Form des Schreibens, die sich nicht nach den diskursiv akzeptierten Vorstellungen von Moral richtet (vgl. Kertész in Ebert 2010, 129). Anstatt eine beschönigende Sicht auf die Gesellschaft zu vertreten, könne diese Art der Literatur das Ganze greifen (vgl. Ebert 2010, 122f.). Ich – ein anderer signalisiert, dass die negative Welt den Autor zum Schreiben zwinge und der Autor keine totale Kontrolle dieser Welt habe (vgl. Kertész 2002, 80f.).
246 4. Grenzen und Transgressionen im mexikanischen Roman der Gegenwart
Anlehnung an den sog. ‚Tod des Autors‘ nach Barthes (1984, 62, 65). 432 Dem Leser kommt die wichtige Aufgabe zu, sich in die Debatten über Literatur und Gesellschaft zu involvieren und ständig aufs Neue jene Fragen zu erörtern, zu denen der Text keine endgültigen Antworten gibt.
4.8
Guillermo Arreola: Fierros bajo el agua (2014)
Im Jahre 2014 veröffentlicht Guillermo Arreola Fierros bajo el agua. 433 Der autodiegetische Ich-Erzähler Leonardo, der in Mexiko-Stadt wohnt, kehrt im Jahre 2008 nach zwanzigjähriger Abwesenheit in die Stadt Tijuana zurück (vgl. Arreola 2014, 17). Einerseits verfolgt er die Spuren der französischen Malerin Danielle Gallois, die seit den 1960er Jahren in Tijuana gelebt hatte und dort 2006 gestorben war. Leonardo kannte die Künstlerin und besaß eines ihrer Gemälde, das verloren gegangen ist, an das er sich aber zusehends erinnert (vgl. ebd., 18). Andererseits beschäftigt den Ich-Erzähler die Erinnerung an seinen ehemaligen Freund und Geliebten Cas Medina. Er wurde 1985 tot aufgefunden, die Umstände seiner Ermordung sind noch immer ungeklärt (vgl. ebd.). Der Ich-Erzähler wird auf seiner Suche nach Spuren zu Cas Medinas Mord sowie nach dem Vergessenen, das keinen Platz im kollektiven Gedächtnis einnimmt, an Akteure geraten, die ihn an seinen Plänen zu hindern versuchen. Zugleich begleitet die Semantik des Todes 434 Leonardo auf seiner doppelten Suche, bei der er vom Zentrum in die Peripherie und von der Gegenwart in die Vergangenheit reist. Dass beide nicht voneinander zu trennen sind, zeigt die discours-Ebene: Die achronologische Erzählweise führt dazu, dass sich Vergangenheit und Gegenwart überlagern. 435 Analog dazu wird die Gewalt der Vergangenheit der aktuellen Gewalt gegenübergestellt und angedeutet, dass sie nicht getrennt zu betrachten sind. Darüber hinaus verbindet FierDie Ästhetik der sog. necroescritura von Rivera Garza (2013, 40) knüpft an Barthes an, verabschiedet sich von „apropiación“, „originalidad“ und „propiedad“, und verlagert die Überlegungen ins zeitgenössische Mexiko. 433 Der Schriftsteller und Künstler Guillermo Arreola (*1969, Tijuana) veröffentlicht mit La venganza de los pájaros (2006) seinen Debütroman. Ähnlich wie der vorliegende Roman kreist dieser um das Thema der Erinnerung und ist eine „historia de aquello que no se cuenta“ (Osuna 2011, 91). – Fierros bajo el agua wird bislang wissenschaftlich wenig beachtet, trotz der vielen positiven Rezensionen (vgl. z. B. Ortega 2015; Beltrán Félix 2015). Ich verwende im Folgenden die gekürzte Variante des Titels, Fierros. 434 Das dominante Wortfeld des Todes trägt zu dieser Semantik bei: „muerte“ 19x, „muerto/a“ 24x, „morir“ 23x, „matar“ 25x, „cadáver“ 3x, „sangre“ 14x, „fantasma“ 11x, „desaparecer/desaparecido/a“ 13x, „violencia/violento“ 5x. 435 An einigen Stellen vermischt sich die Vergangenheitsform mit dem Präsens, woran sich zeigt, dass die Vergangenheit immer wieder in die Gegenwart des Ich-Erzählers einbricht (vgl. Arreola 2014, 106-108). Manche Ereignisse werden in unterschiedlichen Textabschnitten iterativ erzählt (vgl. ebd., 33, 43). Mitunter liegen Informationslücken vor, deren Sinn sich für den Leser erst nachträglich ergibt (vgl. ebd., 25f., 90f.). Allerdings ist der Inhalt nicht immer logisch, da einzelne Textabschnitte, die z. B. im stream of consciousness verfasst sind, enigmatisch bleiben (vgl. ebd., 158-163). Dies impliziert, dass eine lineare, homogene Erzählung unmöglich ist und die Vergangenheit nicht gänzlich rekonstruierbar ist. 432
4.8 Guillermo Arreola: Fierros bajo el agua (2014) 247
ros lyrische, prosaische und journalistische Textelemente zu einem Spiel mit den Genregrenzen, bei dem sich Fiktion und Realität teilweise mischen. 436 Bereits hier zeigt sich, dass der Roman die Grenze nicht nur inhaltlich und räumlich, z. B. als Ort der Handlung nutzt, sondern sie auf unterschiedlichen Ebenen ein strukturgebendes Motiv ist. Da der Ich-Erzähler Schriftsteller ist, befasst er sich außerdem permanent mit der metafiktionalen Frage, welche Rolle Kunst und Literatur dabei spielen können, eine alternative Erinnerung zu skizzieren. Regresé a Tijuana tras los rastros de una posible forma de verdad. ¿Qué es la verdad? ¿Qué verdad puede haber en hechos y seres ya transformados en fantasmas por el tiempo y la memoria? ¿Y si los fantasmas me emboscaran para gritarme que carne fueron también? (ebd., 19)
In diesem kurzen Textabschnitt machen die wiederholten Interrogativsätze nachvollziehbar, dass der Ich-Erzähler zweifelt. Er setzt sich kritisch damit auseinander, ob es aus der Gegenwart heraus überhaupt möglich sei, die Vergangenheit zu beurteilen („¿Qué verdad puede haber?“). Zudem ist er sich der Schwierigkeit bewusst, eine homogene Wahrheit zu erlangen – der Begriff wird dreimal erwähnt und dadurch nachdrücklich betont. Der Erzähler sucht viel eher nach Spuren und Überresten („rastros“), die variable Erscheinungsformen annehmen können („una posible forma de verdad“). Zugleich wird der Leser angeregt, sich an den Reflexionen zu beteiligen und seine eigene Definition von Wahrheit zu hinterfragen. Anstatt vom Vergessen (olvido) zu sprechen, verwendet der Ich-Erzähler das korrelative Wort „memoria“, das im Spanischen zugleich ‘Erinnerung’ und ‘Gedächtnis’ heißt (vgl. Real Academia Española 2014, 1442). Er impliziert, dass Erinnerungen selektiv entstehen („transformados por el tiempo y la memoria“), da bestimmte Menschen und Ereignisse mit der Zeit im Gedächtnis zu abstrakten „fantasmas“ werden. Das Unheimliche ist zwar nicht von materieller Präsenz, doch eine schattenhafte, latente Anwesenheit ist ihm inhärent. Die Vergangenheit ist daher nicht gänzlich verloren und befindet sich in einem liminalen Zustand zwischen Vergessen und Erinnerung. Es manifestiert sich das Unbehagen des Protagonisten, mit der phantasmagorischen Vergangenheit zusammenzutreffen: Das hypothetische imperfecto de subjuntivo zeigt, dass der Ich-Erzähler unsicher ist, was ihn erwartet („¿Y si los Einige Textabschnitte sind als Zeitungsmeldungen (vgl. ebd., 60) bzw. als Briefe (vgl. ebd., 14-16) markiert. Die Kombination unterschiedlicher Textsorten kann der Dokufiktion zugeordnet werden. Hinzu kommt, dass real existierende Personen (Danielle Gallois, Benjamín Serrano, Jorge Hank Rhon, Ernesto Reséndiz Oikion, Quetzalcóatl Rangel, Carlos Monsiváis) neben den fiktiven Figuren einen Teil der Diegese bilden. Außerdem stellt der Protagonist als schreibender Ich-Erzähler eine mise en abyme des realen Autors dar. Der Text, den Leonardo über Danielle Gallois und Tijuana schreibt, wird ebenso zur Spiegelung von Fierros. Schließlich fühlt sich der Leser durch Interrogativsätze und die häufig verwendete 2. Person Singular angesprochen. Folglich überschneiden sich an mehreren Punkten die intra- und extrafiktionale Welt und sind nicht immer deutlich voneinander trennbar. Dies ermöglicht es dem Text, den extradiegetischen Kontext Mexikos zu verhandeln, an der Schwelle zwischen Fiktion und Realität.
436
248 4. Grenzen und Transgressionen im mexikanischen Roman der Gegenwart
fantasmas me emboscaran para gritarme?“). Das Verb „emboscar“ entstammt einem militärischen Kontext, es beschreibt einen Hinterhalt, in dem die personifizierten Geister der Vergangenheit lauern. 437 Der etymologisch mit dem Wald (bosque) verwandte Begriff setzt den Blick des Protagonisten in die Vergangenheit metaphorisch mit dem Gang in einen als dunkel konnotierten Wald gleich, in dem ihn etwas Verborgenes erwartet. Leonardo wird sich bewusst, dass die abstrakten Spuren auf reale Menschen verweisen („carne fueron también“). Allerdings bezeichnet er sie als „carne“ und reduziert sie damit auf ihre Leiblichkeit, sie bleiben also anonym. Dies kann mit den in Mexiko immer wieder publik gewordenen Funden illegal verscharrter Körper von Gewaltopfern assoziiert werden. 438 Der Protagonist hält es für möglich, dass die geisterhaften Toten der Vergangenheit darauf warten, schreiend mit den Lebenden in Kontakt zu treten („gritarme“). In der Regel drückt man schreiend starke Emotionen aus und irritiert durch die hohe Lautstärke den Empfänger. Mit dem hier aufgegriffenen Motiv der Stimme bezieht sich die Textstelle auf Juan Rulfos Pedro Páramo (1955), wo der Protagonist Juan Preciado auf die murmullos der Vergangenheit trifft. 439 Der intertextuelle Verweis suggeriert, dass sich der Ich-Erzähler in Fierros einer Vergangenheit widmet, die nicht der offiziellen Erzählung entspricht. Da statt der murmullos in diesem Fall gritos zu hören sind, vermittelt der Text eindrücklich das mit einem schmerzerfüllten Schrei assoziierte Leid der Toten. Fierros greift individuelle Stimmen der Erinnerung auf: Der Ich-Erzähler gibt die Erzählungen seiner Gesprächspartner teils über mehrere Seiten hinweg in direkter Rede wieder, ohne selbst einzugreifen. 440 Die Erzählperspektive ist also nicht immer eindeutig 437 „Poner encubierta una partida de gente para una operación militar, […] ocultarse entre el ramaje“ (Real Academia Española 2014, 854). 438 Vgl. das Kapitel 3.2.2 der vorliegenden Arbeit, das auf die Problematik der oftmals nicht vorliegenden einheitlichen Daten zur Anzahl klandestiner Gräber, Toter und desaparecidos in Mexiko hinweist. 439 Für diese Lesart sprechen außerdem die syntaktische Struktur des Eingangssatzes, die Erzählsituation sowie das Motiv der Suche nach einer verlorenen Vergangenheit. Juan Preciado, der Ich-Erzähler von Pedro Páramo, gelangt nach dem Tod seiner Mutter auf der Suche nach seinem Vater nach Comala, in ein zerfallenes, vom Tode dominiertes Dorf. In Fierros reist Leonardo ins periphere Tijuana, um nach Spuren zu suchen und wird dort mit Erzählungen über die Toten konfrontiert. Der Satzanfang „Regresé a Tijuana“ wiederholt sich anaphorisch: „Regresé a Tijuana veinte años después de haber abandonado la ciudad, porque allí había vivido una pintora francesa […]“ (Arreola 2014, 18, Hervorhebung JA). Dies ähnelt dem Textanfang von Pedro Páramo: „Vine a Comala porque me dijeron que acá vivía mi padre, un tal Pedro Páramo“ (Rulfo 1973, 7, Hervorhebung JA). Beide Texte gleichen sich zudem in ihrer fragmentarischen Struktur ohne Kapitelüberschriften und dem Wechsel der Erzählinstanzen. In Pedro Páramo nimmt Juan Preciado Stimmen wahr, die sog. murmullos, die aus der Vergangenheit eine eigene, nicht-offizielle Erzählung erschaffen (vgl. Borsò 1994, 271). 440 Beispielsweise lernt der Protagonist einen Mann namens Alberto kennen, der ihm seine Geschichte erzählt, die neben den crímenes de odio an die AIDS-Pandemie der 1980er Jahre erinnert (vgl. Arreola 2014, 130). Er erwähnt die AIDS-Herberge „La Morita, un albergue que en aquel tiempo recibía a gente con sida, no sé ahora“ (ebd., 26). Der Zusatz „no sé ahora“ verbindet die 1980er Jahre mit den 2000ern. Besagte Herberge bietet noch immer mittellosen, HIVpositiven Menschen Obdach, z. B. mittelamerikanischen Migranten (vgl. Redacción Excélsior
4.8 Guillermo Arreola: Fierros bajo el agua (2014) 249
definierbar. So vermischen sich auch hier, ähnlich wie in Pedro Páramo, die unterschiedlichen Sprecher zu einer polyphonen Stimme der Erinnerung. Das Thema der Suche nach einer verlorenen Vergangenheit wird ebenso auf der paratextuellen Ebene aufgegriffen: Der Titel des Werkes, Fierros bajo el agua, evoziert Eisenobjekte wie Waffen oder Werkzeug („fierros“, vgl. Real Academia Española 2014, 1025). Das Metall erzeugt semantisch eine bedrohliche Stimmung. 441 Die harten Eisenobjekte stehen im Kontrast zum sie umgebenden weichen Wasser. Da sich die „fierros“ unter Wasser befinden, sind sie für den Betrachter nicht von vornherein sichtbar. Dies bezieht sich einerseits extraliterarisch auf die Grenzpfeiler, die in Tijuana in den Pazifik führen. 442 Andererseits kann man es als Metapher der menschlichen Psyche lesen, wobei das Wasser für das Unbewusste steht (vgl. Gretz 2012, 476), und die „fierros“ eine Verdinglichung latenter Erinnerungen darstellen. In Kombination mit der Semantik des Eisens sind diese Erinnerungen negativ konnotiert. Die bruchstückhafte Erinnerung und Lücken der Vergangenheit manifestieren sich auch graphisch auf der Textebene. Sie besteht aus 100 Abschnitten, die keine Titel oder Nummerierung aufweisen und jeweils durch eine Tilde (~) voneinander getrennt sind. Im Spanischen wird die Tilde mit schriftlichen Abbreviaturen und getilgten Buchstaben assoziiert. 443 Metaphorisch kann man die Tilde in Fierros also als Platzhalter interpretieren, der all jenes repräsentiert, das nicht sichtbar ist, da es zensiert und
2013). Dies impliziert, dass sich in der marginalen Situation der an HIV erkrankten Menschen bis heute wenig verbessert hat. Die Aussage Albertos, der die Regierung für ihre fehlende Unterstützung anklagt (vgl. Arreola 2014, 29), kann also auch auf den aktuellen gesellschaftlichen Kontext übertragen werden. In einigen Textabschnitten wird die direkte Rede des Mannes ohne Anführungszeichen über mehrere Seiten hinweg zitiert, wodurch die Stimmen des Ich-Erzählers und Albertos verfließen (vgl. ebd., 25-30). Die einzelnen individuellen Erinnerungen vereinen sich so zu einem alternativen kollektiven Gedächtnis. 441 Eisen steht für „Härte und Hartherzigkeit“ sowie „Waffengewalt und Krieg“ (Bartl 2012, 88). 442 Dort, wo die frontera norte bei Tijuana in den pazifischen Ozean hineinreicht, sind Schilder angebracht, auf denen zu lesen ist: „Peligro. Fierros bajo el agua“ (vgl. Dedina 2012). Bei einem Vergleich fällt auf, dass das Wort „peligro“ im Buchtitel weggelassen wurde. Die gefahrvolle Semantik entsteht erst im Abgleich mit der Realität. Schon bevor der Text beginnt, ist die erzählte Welt also für den Leser an einem konkreten, realen Ort situiert und erweckt Assoziationen, die mit der Grenze und Tijuana verbunden sind. Allerdings sind sie solchen Lesern vorbehalten, die sich bereits mit dem Thema auseinandergesetzt haben oder den Ort aus eigener Erfahrung kennen. – Die Warnung bezieht sich auf die Wasserverschmutzung, die Grenzpfeiler im Pazifik und auf die starken Strömungen. Häufig ertrinken Menschen beim Baden oder beim Versuch, die Grenze am Pazifik schwimmend zu passieren (vgl. Maya 2019). Die englische Aufschrift lautet „Danger. Objects Under Water.“ Der Kontrast zwischen dem Wort „fierros“ und dem viel neutraler klingenden „objects“ ist auffällig. Von der US-amerikanischen Grenzsicherung errichtet, lassen die Schilder ein Narrativ der Abschreckung vermuten, das sich vor allem an die spanischsprachigen Migranten richtet. 443 Etymologisch stammt das Wort aus dem Lateinischen titulare. Bevor sich der Buchstabe ñ herausbildete, wurde die Tilde in schriftlichen Dokumenten als Zeichen der Abbreviatur, das auf herausgestrichene Buchstaben hinweist, über die gekürzten Worte gestellt (vgl. Real Academia Española 2014, 2119). Vgl. auch Ueda (2015). Heutzutage bedeutet das Verb „tildar“ u. a. „Tachar lo escrito“ (Real Academia Española 2014, 2119).
250 4. Grenzen und Transgressionen im mexikanischen Roman der Gegenwart
aus dem offiziellen Gedächtnis gestrichen wurde. 444 Dazu passt, dass sich zwischen den einzelnen Textfragmenten immer wieder unbedruckte Zwischenräume befinden. Auch sie stehen für das Vergessene, über das niemand schreibt. Diese besondere graphische Anordnung führt dazu, dass die Aufmerksamkeit des Lesers von der intradiegetischen auf die paratextuelle Ebene gelenkt wird. Ein linearer Text weicht Bruchstücken, die die Prozesse der kollektiven und persönlichen Erinnerung repräsentieren. Es liegt am Leser, die Abschnitte miteinander zu verknüpfen und auch die Leerstellen zu deuten. Als der Protagonist in Archiven nach Hinweisen auf den Tod von Cas sucht, findet er viele Zeitungsmeldungen zu anderen Mordfällen, die zeitgleich verübt wurden und deren Gemeinsamkeit darin besteht, dass es sich um homophobe Taten handelt. Immer wieder erscheinen diese Meldungen ohne einleitende oder erklärende Worte: Primero lo derribó de un botellazo en la cabeza. Enseguida le dejó caer sobre el cráneo una piedra de aproximadamente veinte kilogramos. ‚Pierde la vida de tremendo rocazo un individuo de costumbres raras‘, consigna un periódico de agosto de 1985. El criminal, de nombre José Ruiz, argumentó que la víctima, Guillermo García, era homosexual y le quería hacer el amor, y no pudo soportar la forma tan impertinente en que lo miraba (Arreola 2014, 88).
Der Ich-Erzähler tritt hier nicht als solcher in Erscheinung. Vielmehr wird aus Perspektive einer dritten Person von der Ermordung eines gewissen Guillermo García berichtet. Da Täter und Opfer namentlich genannt werden, erscheint der Inhalt dieser Textstelle authentisch. Die einfache Beschreibung des Tatvorgangs im indefinido wirkt aufgrund der fehlenden Adjektive und der quantifizierbaren Angaben („aproximadamente veinte kilogramos“, „agosto de 1985“) zunächst wissenschaftlich und suggeriert eine objektive Berichterstattung. Dieser Eindruck verflüchtigt sich jedoch, als die Schlagzeile direkt zitiert und darauf folgend die Aussagen des Täters paraphrasiert werden. Denn die hyperbolische Sprache („tremendo“ „-azo“) imitiert den Stil des Sensationsjournalismus der sog. nota roja. Das impliziert eine Kritik an einem nicht differenziert recherchierenden Journalismus, der voyeuristisch über Gewalt berichtet. Der Zeitungsartikel bewertet die Lebensweise des Opfers negativ („costumbres raras“), greift damit die Argumentation des Täters auf, und macht sie sich zu eigen. Da der Täter affektiv auf die sexuelle Orientierung des Opfers reagiert 444 Darüber hinaus kann die geschwungene Form der Tilde eine grenzüberschreitende Bewegung symbolisieren. In der Natur ließe sie sich z. B. im fließenden Wasser wiederfinden. Diese Lesart der Tilde wird durch den Titel („agua“) begünstigt sowie dadurch, dass die erzählte Welt am Pazifik situiert ist. Hier sind die paratextuelle Ebene und die diegetische Welt verknüpft. Zwischen den Tilden und unbedruckten Flächen heben sich die einzelnen Textblöcke hervor, die teilweise aus wenigen Absätzen bestehen. Anknüpfend an die als bewegtes Wasser gedeutete Tilde, gleicht der Text an einigen Stellen den aus dem Wasser ragenden Grenzpfeilern (z. B. Arreola 2014, 10f., 98, 154). Außerdem kann die Tilde den künstlerischen Pinselstrich symbolisiert, wie sich ebenfalls assoziativ aus ihrer Form schließen lässt. Damit stellt sie den kreativen Schaffensprozess dar.
4.8 Guillermo Arreola: Fierros bajo el agua (2014) 251
(„no pudo soportar“, „impertinente“), genügt scheinbar ein falscher Blick, um ihn zum Mord zu provozieren. Hier sucht man die Fehler nicht beim Täter, sondern findet sie beim Opfer – obwohl das aus rechtlicher Perspektive den Mord nicht legitimiert. 445 Das ist kein Einzelfall, denn der Ich-Erzähler findet bei seiner Archiv-Recherche wiederholt vergleichbare Meldungen, die er mit genauen Daten und Schlagzeilen zitiert (vgl. z. B. ebd., 71). Fierros verweist darauf, dass es in den 1980er Jahren in Mexiko vermehrt homophobe Übergriffe gegeben hat und vor allem, dass sich die Berichterstattung daran beteiligte, die homophobe Stimmung zu verbreiten. 446 Vor diesem Hintergrund kann man vermuten, dass auch der Tod Cas Medinas mit einer feindlichen Reaktion auf seine sexuelle Orientierung zusammenhängt. Der Ich-Erzähler selbst äußert diese Hypothese nicht, die wiederholten Zeitungsausschnitte können jedoch dem Leser solch einen Verdacht nahelegen. Während er also zum einen in den Rechercheprozess eingebunden ist, beeinflussen ihn zum anderen die vielen ähnlichen Meldungen. Das ändert sich, als der Protagonist mit einem ehemaligen Polizisten namens Mauro Rodríguez Pesqueira spricht, der die Ergebnisse völlig anders deutet: –A los márgenes, algunos asesinatos de personas... de esa... minoría sexual; un plan de limpieza de la misma minoría por parte de un programa policíaco […]. Por otro lado, me trae usted un ramillete de casos sobre niños violados y asesinados. Todo para llegar al centro de su interés: la muerte de su amigo. De acuerdo, no deja de ser interesante. Jajajajajajaja. ¿De veras cree usted que todo esto tenga relación, Leonardo? – me dijo Mauro Rodríguez Pesqueira. – –Yo ya no soy policía, pero lo fui. En 1985 yo era policía, y no recuerdo el caso de su amigo. No recuerdo el asunto de una limpieza policíaca de homosexuales […], no recuerdo muchos casos de abusos contra menores. […] Leonardo, en el caso de su amigo, le convendría a usted aceptar que su muerte pudo haber sido un accidente. Ya se lo dije: nadie recuerda nada, ni siquiera hay un expediente. Estas notas, estas noticias son ... nutrimento del morbo reporteril de aquellos tiempos. Estamos en 2008, vea usted (Arreola 2014, 134f.).
Die Stimme Rodríguez Pesqueiras erklingt in Form der markierten direkten Rede. Von Beginn seiner Aussage an versucht er, dem Mord an Homosexuellen eine nur randständige Position zuzusprechen („A los márgenes“). Das hinzugefügte, quan445 Carlos Monsiváis klagt im Jahre 2010 die Homophobie der mexikanischen Gesellschaft an und liefert einen historischen Abriss unterschiedlicher homophober Gesetze, Ereignisse und literarischer Texte (Octavio Paz, Efraín Huerta u.a.). Zum Thema der Gewalt äußert er sich wie folgt: „Los crímenes de odio: Una campaña permanente contra la disidencia sexual: los asesinatos de homosexuales, prodigados a lo largo del siglo XX y los principios del siglo XXI […] Y, todavía hasta hoy, la frase más repetida entre los muy escasos asesinos a los que se apresa, le da razón de la ideología machista: ‚Lo maté porque se lo merecía‘“ (Monsiváis 2010, 8f.). In diesem Zitat beschreibt er die Gewalt gegen Homosexuelle als systematische Konstante („campaña permanente“) und als Ausdruck der zugrundeliegenden gesellschaftlichen Diskurse, die er kritisiert („ideología machista“). Fierros bewertet die Gewalt gegen Homosexuelle ähnlich wie Monsiváis. 446 Seit Ende der 1970er Jahre behandeln die mexikanischen Medien vermehrt das Thema der Homosexualität. Häufig vertritt die Presse dabei allerdings, gestützt von den Aussagen medizinischer und psychologischer Fachvertreter, einen pathologisierenden Diskurs (vgl. Argüello Pazmiño 2014, 32f.).
252 4. Grenzen und Transgressionen im mexikanischen Roman der Gegenwart
titativ einschränkende „algunos“ erzeugt den Eindruck, dass es nicht viele Fälle gegeben habe. Die zweimalige Bezeichnung der Homosexuellen als „minoría“ impliziert, dass ihre Ermordungen weniger relevant seien. Denn obwohl Rodríguez Pesqueira hier einen objektiv klingenden Begriff verwendet, wertet er ihn ab, indem er ein „esa“ voranstellt und kurz innehält („...de esa...minoría sexual“). Hier zeigt sich seine ablehnende Einstellung. 447 Rodríguez Pesqueira hinterfragt die Überlegungen des Protagonisten mit einem ironischen Kommentar („no deja de ser interesante“) und einer ungläubigen Frage („¿De veras cree usted que todo esto tenga relación, Leonardo?“). Das auffällig lange Lachen („Jajajajajajaja“) indiziert, dass Rodríguez Pesqueira das Thema für unwichtig erachtet und seinem Gegenüber nicht mit dem angemessenen Respekt entgegentritt. Schließlich verniedlicht er die Rechercheergebnisse des Ich-Erzählers mit dem euphemistisch verwendeten Begriff „ramillete“ und verspottet ihn somit. 448 Der positiv konnotierte Begriff kontrastiert mit dem Thema Gewalt und Tod („violados y asesinados“, „muerte“, „abusos“) und dem durch Alliterationen hervorgehobenen Wortfeld der Kriminalität und Kriminologie („algunos asesinatos“, „programa policíaco“). Letzteres verleiht dem Textabschnitt zunächst einen objektiven, wissenschaftlichen Klang („caso/s“, „expediente“, „noticias“ „plan de limpieza“, „asunto de una limpieza policíaca“), doch der zweimal verwendete Begriff „limpieza“ tritt als Euphemismus für die Vertreibung von Homosexuellen zutage. Der Sprecher negiert deren Verfolgung also doppelt: erstens durch die beschönigende Sprache, zweitens dadurch, dass er abstreitet, sich an eine systematische Diskriminierung von Homosexuellen zu erinnern. 449 Die Verneinungen („no“, „nadie“, „nada“, „ni siquiera“) potenzieren die ablehnende Botschaft und ihre extensive Wiederholung („no recuerdo“, „nadie recuerda nada“) dient dazu, die Aussage zu verstärken. Der Ex-Polizist beruft sich auf eine fehlende polizeiliche Akte, die schließlich beweisen soll, dass es keinen Mord gegeben habe („ni siquiera hay un expediente“). Obwohl Rodríguez Pesqueira den Ich-Erzähler siezt und damit Respekt und Distanz impliziert, nennt er häufig den Vornamen und versucht, ihn zu überreden: „Leonardo, en el caso de su amigo, le convendría a usted aceptar que su muerte pudo haber sido un accidente“ (ebd.). Hier deutet Mauro außerdem an, dass es sich um einen privaten Verlust handelt („su amigo“), den der Ich-Erzähler fälschlicher Weise mit den anderen Kriminalfällen assoziiert. Da Rodríguez Pesqueira selbst einmal Polizist war, beansprucht er für sich, die Wahrheit zu kennen und gibt Leonardo einen Ratschlag („le convendría aceptar“), der zugleich eine subtile Drohung darstellt. Denn Rodríguez Pesqueira versucht nicht zum ersten Mal, Leonardo von der Recherche abzuraten („Ya se lo dije“). Das Verb „convenir“ „Indica menosprecio respecto de algo o alguien“ (Real Academia Española 2014, 939). Der Terminus „ramillete“ umschreibt eine Auswahl an Blumen, Süßspeisen oder anderen positiv konnotierten Dingen (vgl. Real Academia Española 2014, 1845). 449 Renaud René Boivin (2015, 163) zieht u. a. Studien von Amnesty International heran und belegt, dass Polizisten und Soldaten sich seit Ende der 1980er Jahre in Mexiko daran beteiligen, Sexarbeiter sowie LGBT-Menschen systematisch zu diskriminieren, zu verfolgen und zu ermorden. 447 448
4.8 Guillermo Arreola: Fierros bajo el agua (2014) 253
verweist dabei auf die convención, also eine kollektiv getroffene soziale Übereinkunft. Indem Rodriguez Pesqueira dem Protagonisten dazu rät, seinen Verlust als einen privaten Einzelfall zu erachten und nicht von einem gesellschaftlichen Phänomen auszugehen, fordert er ihn also auf, über die Vergangenheit zu schweigen. Da er als ehemaliger Polizist eine soziale Institution verkörpert, kann man sein Verhalten auf den extratextuellen Kontext Mexikos beziehen. Kritisiert wird die unterlassene Aufarbeitung der Mordfälle aus homophoben Motiven, zu denen ein institutionell aufgedrängter Pakt des Schweigens herrsche. Abschließend beschuldigt der Sprecher die Presse, für die Nachrichtenmeldungen verantwortlich zu sein und konnotiert sie, auf problematische Weise, als krankhaft und bösartig („morbo reporteril“). Er versucht somit der Presse und den Archiven ihre Glaubwürdigkeit zu entziehen. Schließlich verschiebt Rodríguez Pesqueira mit seinem letzten Satz, „Estamos en 2008, vea usted“, die Aufmerksamkeit von der Vergangenheit auf die Gegenwart. Damit impliziert er, dass die Aktualität wichtiger sei als vergangene Verbrechen. Dass es eine Verbindung zwischen den 1980er Jahren und der aktuellen gesellschaftlichen Situation geben könne, scheint für ihn nicht in Betracht zu kommen. Leonardo widerspricht Rodríguez Pesqueira weder direkt, noch kommentiert er die Situation aus seiner Perspektive als Ich-Erzähler. 450 Es bleibt also dem Leser überlassen, die Aussage für sich selbst zu bewerten und die historischen Zusammenhänge nachzuforschen. Die vorliegende Textstelle zeigt, dass Fierros in diversen Aspekten, inhaltlich wie formal, dem ebenfalls in dieser Arbeit analysierten Roman Tijuana: Crimen y olvido (Crosthwaite 2010) ähnelt. 451 In beiden Werken sind die Ex-Polizisten („Mauro Rodríguez Pesqueira“ und „Edén Flores“) Stellvertreter der alten mexikanischen Eliten. Sie sind korrupt, verfügen nach Jahrzehnten noch immer über ein Netzwerk, das ihnen Straflosigkeit garantiert. Außerdem verharmlosen sie Allerdings ist der Name Mauro Rodríguez Pesqueira negativ konnotiert: Der Vorname „Mauro“ leitet sich etymologisch von der Fremdbezeichnung der Mauren anhand ihrer dunklen Hautfarbe ab und verweist auf die spanische Reconquista (vgl. Real Academia Española 2014, 1428). Der Nachname wiederum erinnert an den General Ignacio Pesqueira, einen einflussreichen Caudillo im Sonora des 19. Jahrhunderts. In einer Phase, in der die Zentralregierung die nordwestlichen Staaten kaum kontrollierte, war Ignacio Pesqueira knapp 20 Jahre lang Gouverneur und führte Kriege u.a. gegen Indigene, Angloamerikaner, Franzosen und Oppositionelle (vgl. Acuña 1970). Semantisch kann der Name Mauro Rodríguez Pesqueira also mit Kriegen, Machtkämpfen und einer Einflussnahme, dort wo die schwache Regierung nicht etabliert ist, assoziiert werden. Der bedrohlich konnotierte Name hilft implizit dabei, die Figur zu charakterisieren und kann den Leser misstrauisch machen. 451 Vgl. Kapitel 4.5 der vorliegenden Arbeit zu Crosthwaites Tijuana: Crimen y olvido (2010). Die recherchierenden Ich-Erzähler treffen sich in Tijuana mit älteren ehemaligen Polizisten. In beiden Fällen endet das letzte Treffen für die Protagonisten fast tödlich, sie ziehen sich daher nach dem Vorfall zurück und hören auf, zu recherchieren. Zudem wird weder in Tijuana noch in Fierros ersichtlich, was genau vorgefallen ist. Während so einerseits die Erzählung mit einer pessimistischen Sicht auf die Aktualität endet, heißt es andererseits, dass die Protagonisten in ihren Verdächtigungen und Rechercheansätzen richtig gelegen haben. Auf discours-Ebene können beide Werke der ‚Dokufiktion‘ zugeordnet werden, da sie Textabschnitte als Zeitungsartikel markieren. Damit beziehen sich beide Werke kritisch auf den extraliterarischen gesellschaftspolitischen Kontext. 450
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Gewalt, sprechen der jüngeren Generation („Leonardo“ bzw. „Juan Antonio“/„Luis Humberto“) ab, die Gesellschaft zu verstehen und hindern sie aktiv daran, Vergangenes aufzuarbeiten. Dies bedeutet – auf den extraliterarischen Kontext bezogen – dass beide Romane den Ursprung für die aktuelle Gewalt des 21. Jahrhunderts bei den alten Eliten verorten. Die Vergangenheit aufzuarbeiten wäre somit eine unabdingbare Voraussetzung dafür, die gegenwärtige gesellschaftliche Problemlage zu bewältigen. 452 Eine besondere Eigentümlichkeit des Textes besteht darin, dass es vereinzelt gelingt, den dominanten Diskurs zu brechen. Der Text verhandelt subtil vermeintlich Unerklärliches, indem er die Absurdität der extradiegetischen Welt aufgreift. Das geschieht oft gerade dann, wenn die in der erzählten Welt beschriebenen Ereignisse und Taten den Anschein erwecken, fiktiv zu sein. Dann stellt sich aber heraus, dass die fantastisch anmutenden Darstellungen reale Verbrechen realer Akteure sind. 453 Damit zeigt der Text zum einen, dass die Realität die Fiktion übertrifft. Zum anderen wird deutlich, dass hinter unerklärlich erscheinenden Ereignissen meist machtpolitische Erklärungen stehen. Nicht nur mit der Vergangenheit sieht sich der Ich-Erzähler konfrontiert, sondern auch mit einer alltäglichen Gewalt, für die er eine Sprache zu finden versucht: Una mañana, Dolores Amezcua, José Rodríguez Aguilar, Roberto Pineda López. A la mañana siguiente: Eduardo Jiménez. Ayude a encontrarlos. Ayer apareció el nombre de Fiona entre los extraviados. Fiona estaba de paso, de fin de semana, de party tal vez. No volvió a cruzar de regreso la frontera. Hay demasiada gente desaparecida en la ciudad. Fotografías de los desaparecidos surcan las páginas de los periódicos. La gente desaparece en las calles y en los cerros, quizá también en la playa. Desaparecido, desaparecida. Ayude a encontrarlos. Fierros greift auch den privaten Konflikt mit der Vergangenheit auf, der zutage tritt, als der Protagonist sporadisch über seinen Vater spricht, der ihn despektierlich als „joto“ bezeichnete (Arreola 2014, 118). Die gesellschaftlich nicht vorhandene Akzeptanz für Sexualitäten, die vom heteronormativen Modell abweichen, fehlt also bereits innerhalb der familiären Beziehungen. Alle Figuren, die im Laufe des Textes erwähnt werden, haben sich aus diesem Grund von ihrem jeweiligen Elternhaus abgewandt (vgl. ebd., 26, 30f.). Hier zeigt sich, dass auch die privaten Umgangsformen und der gelebte Alltag zur kollektiven Homophobie beitragen. Das Problem ist also nicht rein institutioneller Art, es betrifft ebenso die individuell tradierten und gelebten Genderrollen. Die Beleidigung des Vaters wiederholt sich wie ein Echo mehrmals im Laufe der Erzählung und gleicht einer traumatischen Erinnerung, die Leonardo nicht loslässt (vgl. ebd., 11f.). 453 Am deutlichsten tritt das zutage, als über den mexikanischen Unternehmer Jorge Hank Rhon gesprochen wird, der sein Haus mit prähispanischen Artefakten dekoriert und vom Aussterben bedrohte Tiere als Haustiere hält (vgl. Arreola 2014, 63-66). Obwohl einer seiner Kritiker, der Journalist Héctor „El Gato“ Félix im Jahre 1988 durch zwei Angestellte von Rhon ermordet wurde, zählt letzterer inzwischen zu den reichsten Männern Tijuanas und bekleidete von 20042007 das Amt des Bürgermeisters. Der Journalist hatte kritisch über die Verwicklung von Drogenhandel und Regierung geschrieben und dabei u. a. auch Rhon belastet (vgl. Bergman 2000; Wall 2018). Da Fierros den Vorfall thematisiert, verbindet er die Diegese mit dem extrafiktionalen Kontext und verweist kritisch auf die korrupte Allianz von Politik, Drogenkartellen und Unternehmern, die subversive Stimmen unterbinden und den Drahtziehern der Verbrechen ein straffreies Leben ermöglichen. 452
4.8 Guillermo Arreola: Fierros bajo el agua (2014) 255 De vez en vez la tierra habla y aparecen cuerpos, restos de cuerpos. O cuerpos destrozados. Cuerpos torturados. Reminiscencias de lo que alguna vez tuvo vida. Tarda mucho tiempo la policía tratando de identificar algún rasgo en las caras de las víctimas; tarda mucho la policía en querer identificar algo. Hay que esperar a que los números hablen, que los números se deslicen en el tiempo hacia la verdad; que se desborden en todo lo que representan; que corran hacia el esclarecimiento como corre el agua hacia la sed. El aire huele a sangre, dice la gente, suena a peligro (Arreola 2014, 12f., Hervorhebung i. O.).
Der Ich-Erzähler wird in diesem Abschnitt nicht als solcher sichtbar, da er sich im Hintergrund hält. Ebenso wenig handelt es sich um ein direktes Zitat aus einer Zeitung und anders als zuvor liegen keine genauen, sondern abstrakte Zeitangaben vor („Una mañana“ „A la mañana siguiente“). Das „Ayer“ erzeugt dabei eine zeitliche Nähe zum Erzähler. Auch der implizite Leser kann das „Ayer“ auf seine Aktualität übertragen. Damit werden die geschilderten Ereignisse mit der extradiegetischen Welt verbunden und sind nicht auf 2008, das Jahr der erzählten Welt, beschränkt. Anders als die Zeitungsmeldungen aus den 1980er Jahren, wirken die Ereignisse somit unmittelbar, als würden sie aktuell und real stattfinden. Durch die vielen Wiederholungen 454 und häufigen Alliterationen („páginas de los periódicos“, „tarda mucho tiempo“, „como corre el agua hacia“) ähnelt der Abschnitt einem in Prosa verfassten Gedicht. Diese Form untermalt den Inhalt der Aussage, der sich stärker einprägt. Dabei fällt auf, dass die eingängige Struktur für ein schwieriges Thema gewählt wurde. Das lässt die These zu, dass der ästhetischfiktionale Text es ermöglicht, sich der schwer erträglichen Gegenwart anzunähern und sich emotional mit der Gewalt auseinanderzusetzen. In den ersten beiden Sätzen werden lediglich unterschiedliche Namen aufgezählt, ohne dass konkretisiert wird, was den Menschen genau widerfahren ist. Erst als im dritten Satz die bekannten Hilfeaufrufe der Angehörigen direkt erklingen – „Ayude a encontrarlos“ – erfährt man, dass es sich um die Namen von desaparecidos handelt. Da sich dieser öffentliche Aufruf ein zweites Mal wiederholt, ist die Verzweiflung groß, denn etliche der Verschwundenen werden in der Regel nicht gefunden. Die allein achtmal wiederholten, negierenden Präfixe „des-“ und das Verlust anzeigende „extra-“ potenzieren die negative Stimmung. Die explizit ausgeschriebenen Namen verweisen intertextuell auf Roberto Bolaños 2666. 455 Anders als in Bolaños Roman werden die Namen der Vermissten in 454 Die Wiederholungen erscheinen in Form von Epanalepsen („de paso, de fin de semana, de party“, „en las calles y en los cerros, [...] en la playa“, „que los números hablen, que los números se deslicen [...]; que se desborden [...] que corran“), Anaphern („Tarda mucho tiempo la policía tratando de identificar [...]; tarda mucho la policía en querer identificar“), Anadiplosen („aparecen cuerpos, restos de cuerpos. O cuerpos destrozados. Cuerpos torturados“), Parallelismen („corran hacia el esclarecimiento […] corre el agua hacia la sed“, „huele a sangre [...], suena a peligro“) und einer Geminatio mit verändertem Genus („Desaparecido, desaparecida“) (vgl. Arreola 2014, 12f.). 455 In „La parte de los crímenes“ werden die Namen ermordeter Frauen aufgezählt (vgl. Bolaño 2009, 441-791). Die Absätze beginnen wie in Fierros mit Zeitangaben, z. B. „Cinco días después [...]“ (ebd., 445) und ähneln sprachlich ebenfalls Pressemeldungen, vgl. Lainck, der den Teil des Buches als dokufiktional bezeichnet. Über die Namen der ermordeten Frauen hinaus, werden in
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Fierros jedoch nur en passant genannt, ohne weitere Informationen, die z. B. das Aussehen oder die Lebensumstände der Menschen umschreiben würden. Dadurch wirken die Namen abstrakt und die schnelle Folge unterschiedlicher Namen führt dazu, dass die Erinnerung an sie verhältnismäßig schnell verblasst. Der damit beim Leser ausgelöste Effekt weist kritisch darauf hin, dass die Namen der desaparecidos für manche nicht mehr als den unbedeutenden Inhalt einer abstrakten Zeitungsmeldung ausmachen. So heißen auch in dieser Textstelle die Opfer schließlich nur noch anonymisierend „víctimas“ oder „gente“. Darüber hinaus deuten die wenigen Informationen zu den hier genannten Namen auf das fehlende Wissen der Angehörigen darüber hin, wo sich die Vermissten aufhalten und was ihnen widerfahren ist. Während es sich in Bolaños 2666 vor allem um die Opfer von feminicidios handelt, weist Fierros darauf hin, dass sowohl Frauen als auch Männer verschleppt werden. Es wird betont, dass dies keine Einzelschicksale sind, und die genannten öffentlichen Orte („en las calles y en los cerros“, „en la playa“) zeigen, dass Menschen nicht ausschließlich in marginalen Stadtvierteln, sondern überall verschwinden können. Dass mitunter auch US-Bürger nach einem Aufenthalt in Tijuana nicht mehr zurückkehren, exemplifiziert das Beispiel von „Fiona“. Sie trägt als einzige hier genannte Person keinen Nachnamen, wodurch ihr Name vertrauter und unschuldiger erscheint und sie wie eine Teenagerin wirkt. 456 Es ist nicht ersichtlich, ob es sich um eine US-Amerikanerin, eine Mexikanerin oder eine USAmerikanerin mit mexikanischem Hintergrund handelt. Denn auch wenn der Vorname im anglophonen Raum verbreiteter ist, könnte Fiona ebenso einen mexikanischen Nachnamen tragen. Die bewusst ausgesparte Information und der umgangssprachliche Spanglish-Ausdruck „de party“ machen auf die besondere sprachliche und kulturelle Verfasstheit der Grenzregion aufmerksam. 457 Es wird impliziert, dass die Kriminalität auch US-Amerikaner betrifft. 458 Hier zeigt sich, wie vielschichtig die Grenzregion ist: Zum einen trennt die politische Grenze die USA und Mexiko in zwei Nationen. Die unterschiedlichen politischen und rechtlichen Systeme erzeugen ein Gefälle in der Kriminalitätsstatistik. Zum anderen haben die historischen Grenzverschiebungen und Migrationsbewegungen sowie damit zusammenhängende kulturelle, sprachliche und wirtschaftliche Veränderungen dazu geführt, dass die Lebensrealität vieler Menschen nicht auf homogene, voneinander 2666 der Tathergang sowie der Zustand der Leiche detailliert beschrieben. Doch auch hier geht aufgrund der zahlreichen Fälle die Individualität des einzelnen Verbrechens verloren (vgl. Lainck 2014, 129). 456 Die Unschuld spiegelt sich im Namen „Fiona“ etymologisch wider: „[S]egún su origen, significa ‚blanca‘, ‚pura‘, ‚inocente‘“ (TodosPapas o. J.). 457 Vgl. Hernández Quezada (2015, 51, 54), der das in der nordwestmexikanischen Literatur verwendete Spanglish als Ausdruck dieser engen Verbindung zwischen den USA und Mexiko liest, die allerdings nicht immer frei von Konflikten war und einhergeht mit einer Entfernung vom Zentrum Mexikos. 458 Mitunter geschieht es, dass Menschen aus San Diego in Tijuana ermordet werden (vgl. z. B. Repard und Dibble 2009). Die Kriminalitätsrate in Tijuana liegt faktisch sehr viel höher als jene in San Diego (vgl. Soboroff u.a. 2018).
4.8 Guillermo Arreola: Fierros bajo el agua (2014) 257
trennbare Blöcke zu beschränken ist, sondern aus einem grenzüberschreitenden Austausch und Differenzen besteht. Der Erzähler äußert eine explizite Kritik an der fehlenden Aufklärung durch die Polizei („Tarda mucho“) und betont mit dem kursiv hervorgehobenen „querer“, dass dies an ihrem mangelnden Interesse liege. Die Vermissten werden nur manchmal gefunden („De vez en vez“), und sind dann meistens bereits tot („cuerpos“). Die extensive Wiederholung des Wortes und die elliptische Satzform („[A]parecen cuerpos, restos de cuerpos. O cuerpos destrozados. Cuerpos torturados“) gleichen in ihrer Form den vielen verscharrten Körperresten. Die Körper tragen die Spuren der Gewalt, wie sich am Wortfeld der Zerstörung („restos de“, „destrozados“) und des Schmerzes („torturados“) zeigt. Entscheidend ist hier, dass man die desaparecidos nicht etwa entdeckt, weil die Polizei sie sucht, sondern weil der personifizierte Erdboden sie hervorbringt („la tierra habla y aparecen cuerpos“). Im vorliegenden Textbeispiel ist also der Boden – der eigentlich für das Leben steht 459 – ein Raum des Todes, der eine zu decodierende Botschaft äußert („habla“). Denkbar wäre, dass er die Toten als ein Produkt der kollektiven Handlungen offenbart. Daraus folgt, dass die gesellschaftliche Zukunft pessimistisch mit der Semantik des Todes belegt ist. Doch der Erzähler hofft auf eine nicht datierbare Zukunft („Hay que esperar a que“ + subjuntivo), in der die organisch zersetzten Toten noch als Zahlen in einer Statistik präsent bleiben. Entscheidend ist, dass die Zahlen hier nicht abstrakt, sondern vielmehr personifiziert sind, da sie den Platz der Toten einnehmen und für sie sprechen („que los números hablen“). Die Zahlen vermitteln eine Botschaft, die man hören und interpretieren müsse. Dabei parallelisiert der Erzähler das Verlangen nach Wahrheit und Aufklärung („verdad“, „esclarecimiento“) mit dem das existenzielle Bedürfnis nach Wasser signalisierenden Durstgefühl („sed“). So wie die Menschen das Wasser zum Überleben brauchen, benötigen sie die präzise Anzahl der Toten, um die Wahrheit zu erfahren („que [los números] corran hacia el esclarecimiento como corre el agua hacia la sed“). Kriminalitätsstatistiken, so lässt sich folgern, sind für die gesellschaftliche Zukunft relevant, weil sie nicht mit dem Laufe der Zeit verschwinden – anders als die Körper und die Erinnerung. Der Hoffnungsschimmer für eine Zukunft, in der Mexiko die Fälle der desaparecidos aufklärt, endet abrupt mit dem letzten Satz des Abschnitts. Dort zitiert der Erzähler eine Aussage, ohne jedoch den Namen des Sprechers zu nennen: „El aire huele a sangre, dice la gente, suena a peligro“. Der abstrakte Terminus „la gente“ verkörpert die kollektiven Stimmen der Gesellschaft. Der hier genannte Blutge-
459 Der personifizierte Erdboden verweist auf die prähispanische Madre Tierra, die als zentrale Göttin der Fruchtbarkeit z. B. in Gestalt der Nahuatl-Göttin Tonantzin in Erscheinung tritt. In der Forschung wird davon ausgegangen, dass synkretistisch nach diesem Vorbild der Kult um die Virgen de Guadalupe entstanden ist (vgl. Báez-Jorge 2015). Auf die Bedeutung der Virgen de Guadalupe in Fierros gehe ich weiter unten ein. Ein fruchtbarer Boden ist für das zukünftige Überleben der Gesellschaft unabdingbar. Zugleich deutet die historische Spur auf die vergangene Gewalt der Kolonialisierung und Christianisierung Mexikos hin. Vgl. auch Monhoff (2012, 98f.).
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ruch aktiviert erneut das Wortfeld des Todes. 460 Eine Synästhesie verbindet die olfaktorische („huele“) und auditive („suena“) Wahrnehmung des über alle Sinne registrierbaren Todes, der nicht allein in der zweidimensionalen Ebene von Zeitungsmeldungen und Fotografien, sondern im dreidimensionalen Raum existiert. Der Erzähler ist vom Blutgeruch alarmiert („suena a peligro“), und hinterlässt mit dem letzten Wort ein bedrohliches Gefühl. Darüber hinaus verweist der Satz intertextuell auf José Emilio Pacheco, der in seinem Gedicht „Lectura de los ‚Cantares Mexicanos‘“ das Massaker von Tlatelolco 1968 mit der gewaltvollen Eroberung und Kolonialisierung Mexikos assoziiert. 461 Vierzig Jahre später, im Jahre 2008, reihen sich in Fierros die Fälle der desaparecidos in diese historische Folge ein, und es wird impliziert, dass die nicht bewältigte Gewalt der Vergangenheit zu neuer Gewalt führt. Der literarische Text legt die Konstante aus extremer Gewalt und fehlender Aufklärung offen. Das Gedicht in Prosa ermöglicht es also, sich mit den aktuellen Gewaltverbrechen auseinanderzusetzen, sie mit der Vergangenheit zu assoziieren und nach der Zukunft zu fragen. Der Ich-Erzähler selbst reflektiert in einem metatextuellen Passus sein Schreiben über die Gewalt und die Toten: [L]a materia de aquello que estaba escribiendo era tan orgánica, tan moldeable o plástica, e incluso en algunos párrafos la sentí tan encarnada, que creí que fácilmente podría conformar un cuerpo, un corpus aparte de mí. […] Varios días atrás creí al fin tenerlo, eso: un corpus. Escribía de una manera que, obviamente, intentaba seguir el ritmo de mi mente; por un instante bajé la vista para ver mis dedos en derroche de impulsos eléctricos. Al volver la vista hacia la pantalla, los caracteres habían desaparecido, para dar paso a una imagen oscura, encima de la cual fueron apareciendo trozos de carne, de tejidos, de nervios dilatados. […] Entonces me di cuenta de golpe de lo que era un claro procedimiento de mutación a la función orgánica de la escritura. Al principio me asustó, es cierto; luego le encontré un resorte cómico a todas esas imágenes. Probé a seguir escribiendo para ver las variantes orgánicas que se aparecían en la pantalla: músculos palpitantes, sangre, heces. Mi asombro se intensificó, y mi risa también. […] Voy ya para las noventa y seis horas sin dormir y en la pantalla de mi computadora siguen apareciendo variaciones orgánicas de mi escritura, una escritura escenográfica que ya no controlo, una escritura que emana de sí misma, y genera impulsos eléctricos para alimentarse hasta conformar un corpus que, sospecho, muy pronto será autónomo de toda intervención de mi parte (Arreola 2014, 86-88).
Analog dazu, dass Leonardo hier rückblickend seinen Schreibprozess erörtert, ist das Wortfeld des Schreibens dominant („escribir“, „escritura“, „pantalla“, „párraDer metallische Blutgeruch verweist zurück auf den Buchtitel (Fierros) und fügt ihm nachträglich eine deutliche Semantik des Todes hinzu. 461 José Emilio Pachecos Gedicht gehört zu einer Reihe literarischer Texte, die sich nach dem Massaker am 2.10.1968 auf der Plaza de Tlatelolco in Mexiko-Stadt, mit der Frage nach den Gründen für die Gewalt an die mexikanische Vergangenheit wenden (vgl. Carpenter 2018, 454). Intertextuell bezieht sich Fierros auf die Verse: „Y el olor de la sangre mojaba el aire. | Y el olor de la sangre mojaba el aire“, bzw. in einer späteren Version des Gedichts „Manchó el aire el olor de la sangre“ (Pacheco 2000 in Carpenter 2018, 462, 465). – Obwohl Tlatelolco in Fierros nicht explizit genannt wird, lassen besagter Vers, die Themen und die Datierung der erzählten Welt eine implizite Verbindung zu. Es gelingt dem fiktionalen Text, Ereignisse aufzugreifen und zu parallelisieren, ohne dies explizit auszusprechen. 460
4.8 Guillermo Arreola: Fierros bajo el agua (2014) 259
fos“, „caracteres“, „computadora“). Dabei fällt auf, dass ein physikalischer Terminus („impulsos eléctricos“) den Akt des Schreibens beschreibt. Auf den Protagonisten übertragen, impliziert diese Metapher, dass er die Informationen impulsartig über seine Finger in die Tastatur des Computers gibt, der sie in einen Text konvertiert. Da der Ich-Erzähler den Schreibprozess an seine persönlichen Erinnerungen knüpft und ihn wie eine écriture automatique („intentaba seguir el ritmo de mi mente“) als unkontrollierbar und nicht rational beschreibt, also als einen unbewusst gesteuerten Prozess, entzieht er sich gewissermaßen der Verantwortung für das Resultat. Einerseits schützt ihn die Aussage. Andererseits kann man die metafiktionale These aufstellen, dass das Schreiben jenes sichtbar macht, was in einem journalistischen Text rational nicht artikulierbar wäre. Es deutet sich an, dass vor allem die nicht-linear verfassten Textstellen das Unbewusste und Verdrängte greifbar machen. Die unsortierten, ins Unbewusste verdrängten Überreste der Erinnerung kommen nun fragmentarisch zum Vorschein. 462 Der Verbindung von physikalischem Vokabular mit dem Akt des Schreibens entsprechend, spielt der Text mit der ambivalenten Bedeutung des Wortes „cuerpo“, das etymologisch auf Lateinisch corpus zurückgeht (vgl. Real Academia Española 2014, 688). Es kann den lebenden Körper ebenso benennen wie einen Leichnam, oszilliert also semantisch zwischen Leben und Tod (vgl. Langenscheidts Großwörterbuch Lateinisch 1971, 179). Als juristischer Begriff bezeichnet das Corpus Delicti den Tatgegenstand, der in einem Kriminalfall als Beweismittel dient (vgl. Duden deutsches Universalwörterbuch 2015, 383). Auch das textuelle Werk heißt corpus. Das vorliegende Zitat parallelisiert den Textkörper mit dem realen Körper und suggeriert, dass der Text eine materialisierte Form annehmen kann. Semantisch wird diese Lesart dadurch angeregt, dass das Wortfeld ‚Körper‘ dominant ist („encarnada“, „alimentarse“) und Alliterationen die beiden Wortfelder ‚Schreiben‘ und ‚Körper‘ hervorheben („conformar un cuerpo, Für diese Lesart spricht auch die folgende Textstelle, in der Leonardo an seinem eigenen Text zweifelt: „[L]o que aquí se lee no es más que basura memorial“ (Arreola 2014, 69). Die Aussage ist metafiktional, da der Text die Aufmerksamkeit auf seinen eigene Textualität lenkt und darüber reflektiert. Leonardo spricht den impliziten Leser zwar nicht explizit an, beschreibt aber dessen Tätigkeit („Lo que aquí se lee“). Die Kombination des Präsens mit dem Ortsadverb „aquí“ erzeugt zudem das Gefühl einer Simultaneität zwischen Erzähler und Leser. Während der Text also zum einen auf seinen artifiziellen Zustand hinweist, bindet er zum anderen den Leser unmittelbar an sich. Auf diese Weise wird die Grenze, die zwischen der intra- und der extradiegetischen Ebene besteht, sichtbar und zugleich werden beide Welten miteinander verbunden. – Das Geschriebene ist hier negativ konnotiert („basura“). Semantisch erzeugt der Begriff ein Gefühl des Ekels, da er all jenes umfasst, das als dreckig und abstoßend gilt und Assoziationen mit Fäkalien, Überresten sowie dem Ausgeschlossenen weckt (vgl. Real Academia Española 2014, 290). Das wird metaphorisch im Bereich des Gedächtnisses angesiedelt („memorial“). Neben der individuellen Ebene kann sich der Terminus auch auf die Ebene des kollektiven Gedächtnisses beziehen und greift die von dort ausgestoßenen Aspekte auf. Hier gewinnt das Geschriebene als Ausdruck des alternativen Gedächtnisses einen subversiven Charakter und kann von einer rein negativen Deutung gelöst werden. Diese Hypothese bestärkt die Lesart, dass der Protagonist auf der Suche nach seiner individuellen Vergangenheit die Spuren vergessener, homophober Mordfälle findet und kritische Erkenntnisse über die kollektiven Prozesse der Erinnerung gewinnt. 462
260 4. Grenzen und Transgressionen im mexikanischen Roman der Gegenwart
un corpus“, „dedos en derroche de“, „escritura escenográfica“). Darüber hinaus wiederholt der Ich-Erzähler geradezu exzessiv, dass das Ergebnis seines Schreibens einen organischen Status innehabe („tan orgánica, tan moldeable o plástica“, „función orgánica de la escritura“, „variaciones orgánicas de mi escritura“). Er spielt mit der doppelten Bedeutung des Wortes „materia“, das sowohl das ideelle Thema eines Textes als auch eine materiale Form bezeichnen kann (vgl. Real Academia Española 2014, 1425). Das Schreiben gleicht einem schöpferischen Akt, da der Autor schreibend Leben erzeugt hat. 463 Dieses bekannte Motiv der Literaturgeschichte, das die Veröffentlichung eines Buches metaphorisch mit einer Geburt gleichsetzt, greift etwa zeitgleich Cristina Rivera Garza in ihrem Essay Los muertos indóciles (2013) auf, um zu konstatieren, dass das zeitgenössische Mexiko so sehr von Tod und Gewalt geprägt sei, dass der Textkörper zu einem „cadáver textual“ verkomme (Rivera Garza 2013, 36). 464 Leonardos Text ist zwar kein cadáver, kann aber ebenso wenig als gesundes Leben gelten, ist doch bei der ‚organischen‘ Funktion des Schreibens ein mutiertes Produkt entstanden („mutación“). 465 Wendet man die Wortbedeutung dieses biologischen Terminus auf den Schreibprozess an, hieße dies, dass sich die schädlichen äußeren Einflüsse von Gewalt und traumatischer Vergangenheit fatal auf das Schreiben auswirken: Es entsteht etwas, das sich als undefinierbares, amorphes Leben materialisiert („trozos de carne, de tejidos, de nervios dilatados“, „músculos palpitantes, sangre, heces“). Hier korrespondieren Form und Inhalt, da die asyndetische Aneinanderreihung der Körperfragmente ihren pulsierenden Charakter imitiert. Der Protagonist erschrickt und fühlt sich zugleich angezogen („me asustó“ vs. „resorte cómico“, „Mi asombro se intensificó, y mi risa también“). Dieses ambivalente Produkt des Schreibprozesses, das weder als Objekt noch als Subjekt in Erscheinung tritt, kann in Anlehnung an Julia Kristeva als abjekt bezeichnet werden. 466 Ihre Theorie der abjection erlaubt es, die individuelle Reaktion des Der Schreibprozess wird als Akt der Schöpfung bezeichnet, in Anlehnung an Gottes Wort, das dem ersten Buch Genesis zufolge die Welt erschafft (vgl. Schmitz-Emans 2012, 65). 464 „[N]o pocos escritores […] se acostumbraron a describir el proceso creativo como un tiempo de gestación, y a la publicación de una obra, como un parto. El cuerpo textual […] era, también y sobre todo, un ser vivo“ (Rivera Garza 2013, 35). Vgl. Kapitel 4.2 der vorliegenden Arbeit zum Konzept der necroescritura in Rivera Garzas Roman La muerte me da (2007). 465 Dieser biologische Terminus bezeichnet eine „Veränderung des Erbguts“, die bisweilen tödliche Konsequenzen haben kann. Mutationen entstehen mitunter durch äußere Einflüsse, sog. Mutagene. Bei der Genmutation kann es beispielsweise geschehen, dass „durch Insertionen und Deletionen das Lese-Raster der Translation verändert [wird]“ und folglich falsche Informationen übermittelt werden (Strittmatter und Klonk 1999). Auffällig ist, dass die Biologie hier Metaphern aus dem textuellen Bereich verwendet („Lese-Raster“, „Translation“) und Fierros wiederum biologische Metaphern auf den Prozess des Schreibens anwendet. Diese Verbindung von Text und Körper suggeriert, dass sich die extraliterarische Gewalt auf destruktive Weise in die Materialität des Textes einschreibt. 466 Julia Kristeva verknüpft das Gefühl der abjection mit der Konvention, d. h. anhand des Affekts zeigt sich gesellschaftlich Relevantes. In Pouvoirs de l’horreur. Essai sur l‘abjection (1980), erläutert Kristeva, dass das Abjekte einen ambivalenten, widersprüchlichen Charakter hat, das Ausgegrenzte repräsentiert und sich dem Subjekt entgegenstellt, indem es dessen Konventionen hinterfragt (vgl. ebd., 9f.). In der Konfrontation mit einem Kadaver erkenne der 463
4.8 Guillermo Arreola: Fierros bajo el agua (2014) 261
Protagonisten mit den kollektiven Konventionen zu verknüpfen: Der abjekte Text konfrontiert den Protagonisten mit seinen eigenen Grenzen und zwingt ihn dazu, das Abjekte in sich selbst zu erkennen. Die empfundene abjection indiziert, dass die Themen gesellschaftlich tabuisiert sind. Der literarische Text macht die Grenzmomente artikulierbar, das Ausgestoßene sichtbar und verhandelt marginalisierte Themen wie den Tod ungeachtet der Tabus. Am Ende des Abschnitts wechselt der Sprecher von der Vergangenheitsform ins Präsens. Da er seit vier Tagen nicht mehr geschlafen hat („noventa y seis horas sin dormir“), wirkt er unzuverlässig. Ebenso wenig gelingt es ihm, die Folgen seines Schreibens vorauszusagen, denn er befürchtet, die Kontrolle über sein Werk zu verlieren („sospecho, muy pronto será autónomo“). Die mit dem Futur angedeutete Zukunft erscheint beängstigend. Passend dazu bezieht sich Fierros intertextuell auf das Motiv des von Dr. Frankenstein erzeugten Monsters in Mary W. Shelleys Frankenstein; or, The Modern Prometheus (1818), 467 um die Frage aufzuwerfen, was Literatur erschaffen kann und wie sich das in der extrafiktionalen Welt manifestiert. Die Antwort fällt ähnlich pessimistisch aus: So wie Dr. Frankenstein aus Leichenteilen ein monströses Leben erzeugt, gelingt es zwar dem schreibenden Ich-Erzähler in Fierros, der sich an einer gewaltvollen Realität orientiert, etwas Lebendiges zu erschaffen, dieses bleibt jedoch abjekt und furchterregend. Mit dem intertextuellen Verweis wird gar impliziert, dass der literarische Schöpfungsprozess die Toten nicht problemlos zum Leben erweckt – es entsteht lediglich ein fragmentarischer, mutierter Textkörper. Diese Lesart ließe sich metatextuell auf Fierros beziehen, das nicht als kohärentes Werk, sondern in Form fragmentarisch zusammengesetzter Textstücke in Erscheinung tritt. Ein weiteres Charakteristikum des Romans sind die häufigen intermedialen Elemente: Das Medium der Malerei erscheint des Öfteren im Text. 468 Die Erinnerungen des Ich-Erzählers an Danielle Gallois 469 lassen sich aufgrund der spärliMensch das Abjekte in sich selbst und werde sich seiner eigenen Grenzen bewusst (vgl. ebd., 11f.). Wichtig ist, dass laut Kristeva das Abjekte in der Literatur artikulierbar wird, die dadurch die Auseinandersetzung mit den vorherrschenden Moralvorstellungen und Tabus ermöglicht (vgl. ebd., 13, 23). 467 Frankenstein befasst sich kritisch mit dem Schaffensprozess und fragt, inwiefern die Wissenschaft eine vorgegebene Ordnung durchbrechen darf (vgl. Smith 2016, 4, 7). In beiden Geschichten, Fierros und Frankenstein, wird aus der Perspektive der ersten Person Singular erzählt. Beide Protagonisten arbeiten allein und die Nacht hindurch (vgl. Shelley 2012, 111, 114). Das Resultat übersteigt schließlich jedoch die Grenzen des Absehbaren und überfordert beide Protagonisten (vgl. ebd., 114). Während Leonardo mit seinem Schreibakt kein identifizierbares Lebewesen erzeugt, erschafft er doch eine amorphe Gestalt und befürchtet, ähnlich wie Dr. Frankenstein, keine Kontrolle über seine Kreation zu haben. Leonardo und Dr. Frankenstein überschreiten also die konventionellen Grenzen. Die intertextuelle Beziehung zwischen beiden Werken lässt vermuten, dass Leonardo negative Konsequenzen für sein Text-Produkt erleiden wird. 468 Auch das dominante Wortfeld der Malerei fällt auf: „pintar“ 16x, „pintor/a“ 13x, „pintura“ 12x, „pintarrejada“ 3x, „color“ 12x, „artista“ 10x, „arte“ 5x. 469 Die biographischen Details, die zu Gallois genannt werden, decken sich mit jenem, was an Informationen über die real existierende Künstlerin mit demselben Namen zu finden ist, allerdings liegt keine wissenschaftliche Literatur vor. Im Internet wird Gallois in Beiträgen zur lokalen Kunstszene Tijuanas erwähnt (vgl. Soto 2017). Zuletzt veranstaltete das Centro Estatal de las
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chen Quellenlage und der Überlagerung von Realität und Fiktion nicht auf ihre Authentizität hin überprüfen. 470 Doch er ruft sich wiederholt das verlorene Gemälde von Gallois in Erinnerung und beschreibt es (vgl. Arreola 2014, 17, 48, 155f.). 471 Zum einen schildert er den Inhalt des Bildes, zum anderen fügt er eigene Interpretationen hinzu und übersetzt das visuelle Kunstwerk mit seiner individuellen Wortwahl in einen Text. Der Leser wiederum stellt sich anhand der ihm gebotenen Worte gedanklich ein Bild vor: Un pedazo de mundo extendido sobre papel, y sin embargo: un universo, con árboles y mujeres y hombres soñando, con sus cuerpos acoplados a las copas; a cada cuerpo lo acompaña el contorno de un animal incrustado entre las hojas. De pie, en el suelo, dos figuras a medio cuerpo: un monje vestido con toga roja y un semidiós de torso desnudo y cabeza de venado. Se observan el uno al otro (Arreola 2014, 46).
Der Erzähler beschreibt den Inhalt des Gemäldes anhand figurativer Elemente aus der Natur („árboles“, „animal“, „hojas“, „venado“), in das sich Menschen einfügen („mujeres y hombres“), und suggeriert eine Harmonie zwischen Menschen und Umwelt. Ergänzend dazu signalisiert das Präfix „con“/„com-“/„co-“ eine Vereinigung. 472 Obwohl das Bild zweidimensional ist („sobre papel“) und nur einen kleinen Ausschnitt der Welt darstellt („pedazo de mundo“), enthält es ein ganzes Universum („un universo“). Die Kunst ist also nicht lediglich ein mimetisches Abbild der Welt, viel eher erzeugt sie im kreativen Schaffensprozess einen ganzen Kosmos, der zudem einen konnotativen, nicht sichtbaren Sinn enthält. Denn die erwähnten Träume der im Gemälde zu sehenden Figuren („soñando“) deuten darauf hin, dass sich hinter der sichtbaren Oberfläche eine weitere Ebene mit eigenen Bildern und Bedeutungen entfaltet. Gleichzeitig liegt es am Betrachter, aus diesem als unbegrenzt konnotierten Universum seine eigene Bedeutung zu schöpfen. Die Syntax ahmt den über das Bild gleitenden Blick nach, wie sich am ausführlichen parataktischen Eingangssatz zeigt („árboles y mujeres y hombres“). Artes Tijuana (CEART) im Jahre 2016 eine Ausstellung mit Bildern Gallois’ (vgl. Infobaja 2016). – Die Fiktion ermöglicht es, sich der rätselhaften Malerin anzunähern und mit paradoxen Erzähltechniken die Besonderheit ihrer Werke zu umschreiben. 470 Erst auf der vorletzten Seite des Textes stellt sich heraus, dass der Protagonist auf seiner Reise im Auftrag eines Verlagshauses ein Buch über Gallois schreiben wollte: „[M]e preguntaba cuándo iba a entregar a la editorial la novela que me habían contratado y que se basaría en la vida de la pintora francesa“ (Arreola 2014, 165). Es würde biographische Elemente („se basaría en la vida“) und Fiktionales („novela“) verbinden. Dass der Text des Protagonisten also dem realen Fierros ähnelt, verwischt die Grenze zwischen der intra- und der extratextuellen Welt. Fierros reiht sich ins Korpus der wenigen Quellen zum Leben der Künstlerin ein und hinterlässt als Verbindung fiktionaler und biographischer Elemente einen Einfluss in der extratextuellen Welt. Der Text trägt also dazu bei, die Erinnerung aufrecht zu erhalten. Zugleich schützt die Grenzverwischung zwischen Fiktion und Fakt, in der die Inhalte nicht zweifelsfrei einer Seite zugeordnet werden können, sowohl den Schreibenden als auch die Personen, über die erzählt wird. 471 Es lassen sich drei weitere Ekphrasen identifizieren (vgl. ebd., 19f., 47, 121f.). Die Bildbeschreibungen wirken zunächst wie Szenen der Erzählung. Daran zeigt sich, dass die Malerei, genau wie andere Gattungen, eigene Geschichten erzählt. 472 „Significa ‘reunión’, ‘cooperación’ o ‘agregación’“ (Real Academia Española 2014, 591).
4.8 Guillermo Arreola: Fierros bajo el agua (2014) 263
Obwohl die Beschreibung es leicht macht, sich die Substantive bildlich vorzustellen, bleibt sie zunächst oberflächlich und geht nicht ins Detail. Vom Hintergrund des Bildes wandert die Erzählung schließlich, analog zum Blick, auf eine Szene, die sich im Vordergrund abspielt („en el suelo“). Die beiden Figuren werden fokussiert („dos figuras“, „un monje“, „un semidiós“) und näher beschrieben. Das aktivierte Wortfeld der Religion („monje“, „semidiós“) und Hybridität („semi-“, „medio“, „cabeza de venado“) deutet eine Verbindung von Tier und Mensch, Christentum und Mythologie an. Das Verb „observar“ beschreibt einen vorsichtigen, genauen Blick (vgl. Real Academia Española 2014, 1560), der auf das Gegenüber gerichtet ist und den anderen als solchen wahrnimmt („el uno al otro“). Der Betrachter des Kunstwerks und der Leser werden zwar zu Zeugen der gegenseitigen Beobachtung, doch der Blick beider Figuren und ihre Gedanken bleiben den Außenstehenden verwehrt. 473 Liest man die Szene als Begegnung mit dem Anderen („otro“), sind die beiden Figuren eine Metapher für den kolonialen Kontakt zwischen den spanischen Missionaren („monje“) und den Indigenen, angedeutet mit dem „semidiós de cabeza de venado“. 474 Auffällig ist, dass der Erzähler hier erstmals mit dem roten Stoff eine Farbe nennt („toga roja“). Die Komplementärfarbe zu den mit einem satten Grün assoziierten Bäumen des Hintergrunds erzeugt einen ausdrucksstarken Kontrast. Zudem ist Rot als Warnfarbe negativ konnotiert und erinnert an Blut. Dies impliziert, dass der Kontakt zwischen den beiden Figuren und den von ihnen verkörperten Glaubenssystemen nicht gewaltfrei geschehen ist. Die rote Farbe taucht erst wieder auf, als der Protagonist gegen Ende seines Aufenthaltes in Tijuana einen Sammler und Künstler namens Martín Ramírez trifft (vgl. Arreola 2014, 114f.). Dieser zeigt ihm in seinem Atelier einige Bilder von Danielle:
Das Wortfeld des Blicks dominiert den gesamten Text: Über hundert Mal wird eine Form von „ver/vista“ genannt, allein achtzig Mal „mirada/mirar“ und von den „ojos“ ist über fünfzig Mal die Rede. Auffällig ist dabei, dass der Protagonist den Blick der Männer, die ihn auf eine singuläre Art berühren (Ernesto, Cas, Quetzal), als „ojos de venado“ bezeichnet (Arreola 2014, 9, 107, 128, 166). – Dabei ist das ambivalente Wort „venado“ relevant. Einerseits bezeichnet es einen ‚Hirsch‘ und kann somit metaphorisch den scheuen, zärtlichen Blick des jeweils Gemeinten umschreiben. Etymologisch stammt der Begriff aus dem Lateinischen venatus, ‚Jagdbeute‘. Damit sind die „ojos de venado“ wiederum sexuell konnotiert. Eine dritte Bedeutung ist kolloquialer Art, „chiflado, loco“ (Real Academia Española 2014, 2222). Neben ihrer emotionalen und sexuellen Konnotation, offenbaren die „ojos de venado“ also auch die Konflikte und Probleme der Figur. Demzufolge kann der Blick zwischen „semidiós“ und „monje“ auf dem Gemälde zugleich ein Spiegelbild der amourösen Intimität zwischen Leonardo und seinen Geliebten sein. Der Protagonist erkennt im Kunstwerk einen Spiegel seiner eigenen, abwesenden Vergangenheit. Er erhofft sich also, mit dem Bild auch die verlorene Vergangenheit wiederzuerlangen – das Gemälde ist so gesehen ein Medium des Gedächtnisses. Außerdem wird impliziert, dass es für jeden Betrachter eine ganz individuelle Bedeutung enthält. 474 Der „semidiós con cabeza de venado“ kann als Bezug auf die bedeutende Rolle des Tieres in der Kosmogonie der Huichol-Indigenen gedeutet werden (vgl. Medina Miranda 2013, 167). 473
264 4. Grenzen und Transgressionen im mexikanischen Roman der Gegenwart –Leo, la única brecha que puede atravesar el arte actualmente es la de la moral. Una obra de arte vale por su compromiso moral. […] Si el artista no puede explicar su trabajo teóricamente, ninguna universidad de Estados Unidos le va a hacer caso. Hice un mohín y posé mis ojos en otra pintura: un universo, con árboles y mujeres y hombres que parecían soñar, entre verdes, sepias y rojos quemados, con los cuerpos acoplados a las hojas y a las ramas. De pie, dos figuras a medio cuerpo: un monje vestido con toga y un semidiós de torso desnudo y cabeza de venado adornada con salpicaduras de sangre (ebd., 155).
In einer erneuten, aber verkürzten Ekphrase beschreibt der Protagonist das von ihm vermisste Bild, erkennbar an den teils wortwörtlich wiederholten Textelementen. Der Unterschied ist, dass er mehr Farben nennt („verdes, sepias y rojos quemados“) 475 und fast beiläufig am Ende der Bildbeschreibung eine weitere Variation vollzieht: „adornada con salpicaduras de sangre“. Hier ist euphemistisch von einer Veredelung des Hirschkopfes die Rede. Erst als das Wort „sangre“ erscheint, erkennt der Leser, worum es sich handelt. Da die vorherige Ekphrase keine Blutflecken erwähnte, wurden sie scheinbar erst nachträglich hinzugefügt. Sie sind ein mögliches Indiz für die Aufklärung der Ermordung Cas Medinas, weil das Gemälde in seinem Schlafzimmer hing, als der Protagonist es zuletzt sah (vgl. ebd., 48). 476 Aus dieser Textstelle lassen sich kunsttheoretische Implikationen ableiten. Zum einen fügt sich die Realität (Blutspritzer) ins Bild ein – das Leben wird zu einem Teil der Kunst. Zum anderen fungiert das Gemälde dort, wo faktuale Dokumente fehlen, als Medium des Gedächtnisses, und Kunst übernimmt die Funktion der Zeugenschaft. 477 Dabei kommt es auf den Betrachter an, die Indizien zu erkennen und zu deuten. Im Fall des besagten Gemäldes wird das Blut allerdings nicht näher kommentiert und vom Protagonisten auch nicht weiter verfolgt. 478 Hier offenbart Die Farbkombination aus Grün, Sepia und Rot spielt auf die Farben der mexikanischen Nationalfahne an, offiziell festgelegt als: „verde, blanco y rojo“ (Cámara de Diputados 2018b). Erstens untermauert das die hier aufgestellte These, dass das Bild auf die mexikanische Vergangenheit anspielt. Zweitens lenkt Fierros die Aufmerksamkeit vom symbolischen Rot der Fahne hin zum realen Blut, von dem sie abstrahiert. 476 An anderer Stelle wird ein Tatort, an dem jemand ermordet wurde, mit dem Vokabular der abstrakten Kunst beschrieben als „dripping explosivo“ (Arreola 2014, 71, Hervorhebung i. O.). Aus der detaillierten Tatortbeschreibung sticht diese euphemistische Metapher irritierend hervor. Sie suggeriert, dass der Betrachter den Mord lediglich als ästhetisches Ereignis wahrnimmt, das weit entfernt stattfand und wie das anonyme Opfer abstrakt bleibt. Der Einschub bricht ironisch die graphische Beschreibung von Gewalt – an die der Leser sich ggf. bereits gewöhnt hat. Es zeigt sich, dass nicht nur Bilder von expliziter Gewalt sondern auch die Art, über Gewalt zu sprechen, unsere Wahrnehmung derselben beeinflussen. 477 Für diese Interpretation spricht, dass „cabeza de venado“ außerdem auf das gleichnamige Kunstwerk von Diego Velázquez aus dem 17. Jahrhundert verweist. Forscher vermuten, dass es beim Brand des Alcázars von 1734 beschädigt wurde und man es aufgrund dessen einige Zeit später aus dem königlichen Sortiment aussortierte (vgl. Portús 1999). Das Kunstwerk trägt also in sich die Spuren des historischen Ereignisses, das sich lange Zeit nach seiner Entstehung zutrug – es ist quasi ein transhistorischer Zeuge und enthält viel mehr als das, was auf den ersten Blick zu sehen ist. 478 Auf Nachfrage erfährt der Protagonist, dass Ramírez das Bild einem anderen Bekannten von früher, Pedro Yapur, abgekauft hat (vgl. Arreola 2014, 156). Trotzdem ist nicht ersichtlich, ob 475
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sich eine gewisse Machtlosigkeit des Protagonisten und eine pessimistische Sicht auf die Gesellschaft, die der Kunst abspricht, jenseits des Bildes Aussagen über die Welt zu treffen. Allein der implizite Leser kann seine Schlüsse ziehen und das eigene Kunstverständnis reflektieren. Darüber hinaus kritisiert die negative Darstellung der Figur Martín Ramírez die aktuelle Kunst der Grenze, die en vogue ist. Es fällt der belehrende Ton des Mannes auf, der den Protagonisten beim eigens gekürzten Vornamen nennt („Leo“). Er äußert ein eindimensionales Kunstverständnis („única“) und beharrt auf der Relevanz des moralischen Werts („moral“), den er also dem Ästhetischen vorzieht. Diese Sicht ist problematisch, da sie die vorher suggerierte Grenzenlosigkeit von Kunst einschränkt und sie einem rationalen Diskurs zu unterwerfen versucht. Denn Ramírez plädiert für eine Kunst, die theoretisch erklärbar ist und sich an den akademischen Diskursen der USA orientiert („Si el artista no puede explicar su trabajo teóricamente, ninguna universidad de Estados Unidos le va a hacer caso“). Damit impliziert der Sprecher, dass es das Ziel eines jeden Künstlers sei, von den US-amerikanischen Universitäten wahrgenommen zu werden. Der Protagonist reagiert auf Ramírez’ Aussage, indem er sein Gesicht ablehnend zu einer Grimasse verzieht („mohín“), womit sich andeutet, dass er ein anderes Kunstverständnis vertritt. Am Beispiel des Kunstverständnisses gelingt es Fierros, das doppeldeutige Konzept der ‚Grenze‘ zu problematisieren: Wenn Martín Ramírez 479 sich selbst als „artista fronterizo“ definiert, bezieht er sich auf seine Kunstprojekte an der realen, staatlichen Grenze (vgl. ebd., 114). Der Text suggeriert jedoch, dass die wahre Grenzkunst auf einem anderen Grenzkonzept beruht – diese Kunst bleibt enigmatisch, verfolgt also keine zweidimensionalen, artikulierbaren Gründe und wird von marginalen Künstlern wie Danielle erzeugt. Hier wendet sich der Roman auch gegen die Forschung, die lo fronterizo mit einem räumlichen Bezug auf die staatliche Grenze gleichsetzt. 480 Mit diesem heterogenen und metaphorischen Grenzkonzept wehrt sich der Text gegen ein stereotypes, verwertbares Bild der Grenzregion. Der Ich-Erzähler erschafft über seine Erinnerungen und Reflexionen ein eigenes Bild dessen, was die dieser wirklich der Mörder von Cas Medina ist. Der Protagonist verfolgt das Indiz nicht weiter, da er kurz darauf Tijuana verlässt und die Erzählung endet (vgl. ebd., 165). 479 Der Name der Figur ist dem Künstler Martín Ramírez (1885-1960) nachempfunden. Der in die USA immigrierte Mexikaner wurde als schizophren diagnostiziert und lebte über 30 Jahre in geschlossenen psychiatrischen Anstalten. Die vom Autodidakten erstellten Zeichnungen und Collagen erreichten erst posthum ein internationales Renommee (vgl. The Guggenheim Museums and Foundation o. J.). Er könnte als Künstler der Grenze gelten, weil sein Werk mit dem ‚Wahnsinn‘ assoziiert wird und er sozial marginalisiert war. Hierin ähnelt er Danielle Gallois und unterscheidet sich wiederum vom „Martín Ramírez“ in Fierros. Anhand dieser Figur offenbaren sich divergente Grenz- und Kunstverständnisse. 480 Da Fierros sich auch metaliterarischen Fragen widmet, kann man diese Position von der Kunst auf die Debatte um die Bedeutung des Konzepts literatura fronteriza übertragen. Der Roman wendet sich gegen Forscher wie Diana Palaversich, für die die staatliche Grenze zum entscheidenden Definitionskriterium wird. Zur Debatte um die literatura fronteriza, vgl. die Einleitung der vorliegenden Arbeit sowie Palaversich (2014).
266 4. Grenzen und Transgressionen im mexikanischen Roman der Gegenwart
Grenze, sowohl räumlich als auch sozial betrachtet, sein kann. Dabei dient der urbane Raum Tijuanas dem Protagonisten als assoziative Stütze, um sich an gemeinsame Treffen im Haus von Gallois zu erinnern. Für den Protagonisten im Jahre 2008 stellen die abgelegenen Straßen Tijuanas einen Raum dar, der ein alternatives Gedächtnis enthält (vgl. ebd., 25-30). Die Eindrücke erscheinen ihm so gegenwärtig, dass er sie im Präsens beschreibt: „El lugar donde vive son unos cuartuchos en la calle Primera del centro, la Zona Norte, el lugar más antrero de la ciudad. […] Danielle vive rodeada de la descomposición“ (ebd., 99). Er nennt konkret lokalisierbare Straßen in unmittelbarer Grenznähe („calle Primera del centro“, „Zona Norte“), die das Rotlichtviertel der Stadt ausmachen. 481 Dabei fällt auf, dass es sich um marginale Orte handelt, die zerfallen und dreckig sind („descomposición“). Das despektierliche „cuartucho“ potenziert den negativen Eindruck. Die hier beschriebenen Orte können mit Michel Foucaults Begriff der Heterotopie definiert werden. 482 In ihnen halten sich die innerhalb der Gesellschaft ausgeschlossenen Menschen auf, die den Status des ‚Anderen‘ einnehmen. Dennoch ist das Haus Danielles in der erzählten Welt ein gemeinsamer Raum der Künstlerin und der Homosexuellen, also ein Refugium für die marginalisierten Menschen, die sich in ihm aufhalten. Da der Raum es ihnen ermöglicht, ihre Identität zu entfalten, gewinnt er neben der konventionell negativen Konnotation eine neue, positive Bedeutung. 483 Schließlich setzt Fierros den Grenzraum mit den Menschen in ein Spiegelverhältnis, wie sich am Beispiel des folgenden Gesprächs zwischen Leonardo und einer Bekannten zeigt: Mira cómo tengo la cabeza toda fronterizada. Soy como esta Tijuana. [...] – me dijo Rouala, enigmática al grado de lo fantasmal, antes de despedirnos. La vi alejarse y entrar en una calle tumultuosa. Y vi cómo de repente pasó un hombre muy cerca de mí, para ir corriendo tras ella y gritándole: ‚¡Guadalupe!‘ (ebd., 145-147).
Der Ich-Erzähler beschreibt hier rückblickend das, was er hörte und sah („la vi“, „Y vi“). In direkter Rede gibt er die Worte von Rouala wieder. Der Name fällt auf, da er nicht Spanisch klingt, er also als ‚fremd‘ konnotiert ist. 484 Wie sich herausstellt, handelt es sich um ein Pseudonym, das die Frau manchmal benutzt (vgl. ebd., 85). Zudem definiert sie ihren Geisteszustand mit einer Wortneu481 Zur Zona Norte in Tijuana, vgl. Katsulis (2008, 13). Bis heute steht die Zona Norte für Drogenhandel und Gewalt (vgl. Caballero Jacobo 2017). 482 Heterotopien können unterschiedliche Formen annehmen und dienen als innergesellschaftliche Grenze. Vgl. Kapitel 2.1.2 der vorliegenden Arbeit sowie Foucault (2005). 483 Die homosexuellen Charaktere in Fierros entfliehen ihren Familien und Heimatorten, um im anonymen Tijuana frei leben zu können (vgl. Arreola 2014, 117f.). Dort finden viele der gemeinsamen Treffen in peripheren Orten statt, die das Panorama einer ganz eigenen Stadt bilden, z. B. „playa“, „Zona Norte“, „baños públicos“, „bares y tugurios“ , „salón de belleza“ (ebd., 42, 97, 109, 131). – Darin ähnelt der Text den früheren mexikanischen Romanen zum Thema der Homosexualität, wie El diario de José Toledo (1964) und El vampiro de la colonia Roma (1979). Dort suchen die Protagonisten ebenfalls nach einem geschützten Ort (vgl. Gutiérrez 2009, 282f.). Vgl. auch Del Toro (2015, 12). 484 Der Text selbst lenkt den Fokus auf den Namen, indem eine Figur sagt: „Rouala es un nombre que no existe por estos rumbos“ (Arreola 2014, 22).
4.8 Guillermo Arreola: Fierros bajo el agua (2014) 267
schöpfung: Durchaus anders als das Adjektiv ‚fronterizo‘ 485 umschreibt „fronterizada“ nicht nur eine Nähe des Subjekts zur Grenze, sondern eine direkte Einwirkung der zum Akteur personifizierten Grenze auf den Menschen („-ado, da“). 486 Diese Selbstcharakterisierung Roualas kann mit der sog. BorderlineStörung assoziiert werden, die auf Spanisch u. a. Trastorno de personalidad fronterizo heißt (vgl. Red Voz Pro Salud Mental o. J.). So wie die anderen Figuren verweist auch Rouala auf die innergesellschaftlichen Grenzen und Ausschlussmechanismen: Die als ‚wahnsinnig‘ geltenden, in prekären Verhältnissen lebenden und nicht der heteronormativen Sexualität entsprechenden Menschen weichen von dem ab, was sozial und diskursiv als normal gilt. 487 Roualas Neologismus zeigt, dass sich die Ausgrenzungsmechanismen in den Körper einschreiben, und macht so den biopolitischen Eingriff der Ordnung in den Körper sichtbar. Der Ich-Erzähler beschreibt Rouala auf eine ähnliche Art wie Danielle Gallois. Er bewertet beide Frauen als „enigmáticas“ und thematisiert deren jeweiligen Alkoholkonsum (vgl. Arreola 2014, 86). Eine weitere Gemeinsamkeit fällt auf, wenn man die Namen der Figuren parallel setzt: Gallois [ɡalwa], Rouala [rowala], Guadalupe [gwað̞alupe]. Phonetisch dient die Silbe [wa] als verbindendes Element. Schließlich fällt auf, dass auch die Stadt Tijuana [tixwana] besagte Silbe enthält. Wie die Frauen ist Tijuana marginalisiert, wird mit Drogen assoziiert und als Stadt des ‚Wahnsinns‘ erachtet. 488 Wenngleich der Text implizit zentralistische Diskurse kritisiert, scheint er gerade an dieser Grenze die Möglichkeit zu sehen, sich dem Zugriff der Ordnung zu entziehen: Die Menschen nutzen die heterotopen Räume alternativ und die Kunst verweigert sich einem homogenen Sinn. So bleibt auch Rouala, die den Ich-Erzähler auffordert, ganz genau hinzusehen („Mira“), dennoch phantasmagorisch („fantasmal“). Der Erzähler nimmt sie zwar optisch wahr („vi“), er kann sie sich aber nicht aneignen („enigmática“, „alejarse“). 489 Und die von Neologismen und Brüchen gekennzeichnete Sprache entzieht sich der biopolitischen Logik. Zuletzt fällt das offene Ende der hier zitierten Szene auf. Der Erzähler beschreibt lediglich, dass ein plötzlich erscheinender Mann Rouala mit dem Namen „Guadalupe“ anspricht. Es ist nicht ersichtlich, was danach passiert. Bezeichnen„Que está en la frontera“ (Real Academia Española 2014, 1062). „Forma adjetivos que expresan la presencia de lo significado por el primitivo“ (Real Academia Española 2014, 46). 487 Wie die Kapitel 2.1.2 und 2.2.2 mit Michel Foucault zeigen, handelt es sich bei jenem, was in einer Gesellschaft als ‚normal‘ und ‚wahr‘ gilt, um eine diskursiv bestimmte Kategorie. 488 Hier wird auf das stereotype Bild der Stadt angespielt, wie er in Manu Chaos (1998) Lied Welcome to Tijuana zum Ausdruck kommt, das die Stadt gleichsetzt mit „tequila, sexo, marijuana“. 489 Dafür spricht auch der Wechsel vom Verb „mirar“ zu „ver“ (Arreola 2014, 145f.). Während das erste den observierenden Blick beschreibt, bezeichnet „ver“ vor allem den physischen Akt des Schauens (vgl. Sánchez Bedoya 2009, 199). In Fierros wird das umgesetzt, was Vittoria Borsò (2006, 138) beschreibt, wenn sie die Grenze als den Ort konzipiert, an dem die Ordnung der Visibilität gebrochen und eine Visualität entstehen kann. Mit den Brüchen und Leerstellen entsteht zudem eine biopoetische Schreibweise, die sich gegen den biopolitischen Eingriff verwehrt (vgl. Borsò 2013). Vgl. Kapitel 2.1.2 der vorliegenden Arbeit. 485 486
268 4. Grenzen und Transgressionen im mexikanischen Roman der Gegenwart
der Weise enthält Fierros vier weitere Szenen, die der eben beschriebenen stark ähneln (vgl. Arreola 2014, 20-22, 59f., 166). Alle Szenen enden damit, dass ein Mann auf die Frau zugeht und sie mit dem Namen „Guadalupe“ anspricht. Mit der viermaligen Verwendung dieses Namens, verweist der Text auf die Virgen de Guadalupe, die der Legende nach dem Indio Juan Diego viermal erschienen ist. 490 Es handelt sich dabei um ein zentrales Motiv der mexikanischen Kulturpolitik, das synkretistisch prähispanische und katholische Elemente mischt. Um die „Guadalupe“ in Fierros zu deuten, bietet sich an, sie gemeinsam mit dem zweiten Mythenbezug zu lesen, der auch mehrmals im Text erscheint: Der Ich-Erzähler erwähnt einen jungen Mann namens Quetzal, der aus dem Fenster gestürzt und verstorben sei (vgl. ebd., 70). 491 Der Name Quetzalcóatl bezieht sich auf einen der wichtigsten Götter der prähispanischen Mythologie. 492 Sowohl Quetzalcóatl als auch die Virgen de Guadalupe sind synkretistisch, heterogen und bieten somit diverse interpretative Anknüpfungspunkte. Ähnlich wie die Figur der Malinche, die in der Analyse von Señales que precederán al fin del mundo (Herrera 2009) als transhistorisch wirksam, aber heterogen gelesen wurde 493 – geben auch Quetzalcóatl und Guadalupe einen Aufschluss über die gesellschaftlichen Diskurse. Überträgt man die Überlegungen Roland Barthes’ zum Mythos 494 auf den Fall Der Hügel Tepeyac war mit der prähispanischen Göttin Tonantzin assoziiert, was auf den synkretistischen Charakter des Guadalupe-Kults verweist (vgl. Wolf 1958, 35). Das hilft im 16. Jhd. entscheidend der Durchsetzung der offiziell christlichen Religion (vgl. Báez-Jorge 2015, Pos 1987-2108). Hier zeigt sich, dass der Guadalupe-Kult über das Religiöse hinaus eine diskursiv-ideologische Funktion besitzt: „[S]e transformó en un instrumento político, mediatizando las antigua imágenes autóctonas de la Madre Tierra […] y las ideas revolucionarias“ (ebd., Pos. 2043-2045). Vor der Unabhängigkeit Mexikos wird die Virgen von Miguel Sánchez 1648 mit der apokalyptischen Frau in der Offenbarung des Johannes (Off 12,1) gleichgesetzt, „who is to […] lead the Mexicans into the Promised Land. Colonial Mexico thus becomes the desert of Sinai; Independent Mexico the land of milk and honey“ (Wolf 1958, 38). Hier zeigt sich, dass man die mythische Figur bereits früh unmittelbar mit zeitgenössischen politischen Krisen verknüpfte. 491 Die Figur bezieht sich auf den 2008 verstorbenen mexikanischen Designer Quetzalcóatl Rangel (vgl. Videl 2008). 492 Der Gott Quetzalcóatl findet sich in den unterschiedlichen Epochen der prähispanischen Mythologie und variiert in der ihm zugeschriebenen Bedeutung (vgl. Florescano 2015, Pos. 1471). Bei den Nahuatl-Völkern ist Quetzcalcóatl der Sage nach an der Erschaffung des Kosmos beteiligt. Er steigt ins Mictlan hinab, um die „huesos de la antigua humanidad“ zu besorgen, aus denen die Menschen des Quinto Sol geformt werden (ebd., Pos. 1534-1537). Somit opfert er sich selbst, um das menschliche Leben zu ermöglichen. Zu Zeiten des Mexica-Reiches von Tenochtitlan nimmt Quetzalcóatl einen zentralen Platz im Kanon der Götter ein und vereint in seiner Figur die variierenden Charakteristika ähnlicher Figuren aus von den Mexicas eroberten und dominierten Regionen (ebd., Pos. 1532-1535). Es offenbart sich die diskursive Kraft, die anderen Völker an einen zentral vorgegebenen Glauben zu binden und dessen Vorherrschaft zu legitimieren. Dies war auch den spanischen Missionaren bewusst, die Quetzalcóatl zu einem Botschafter des christlichen Gottes umdeuteten (vgl. ebd., Pos. 1548f.). 493 Vgl. Kapitel 4.3 der vorliegenden Arbeit zu Herreras Señales (2009). 494 Roland Barthes hat die Funktion des Mythos semiologisch analysiert und gezeigt, dass der Mythos etwas Historisches als natürlich darstellt, indem er seine politische Seite vergessen macht („parole dépolitisée“, Barthes 1970, 216, Hervorhebung i. O.). Barthes definiert den Mythos als Rede (ebd., 181). In Anlehnung an Saussure bezeichnet er ihn als ein sekundäres semiologisches 490
4.8 Guillermo Arreola: Fierros bajo el agua (2014) 269
Mexikos, steht beispielsweise Guadalupe für die Verbindung unterschiedlicher ethnischer Bevölkerungsgruppen in einem geeinten Mexiko, während ausgeblendet wird, dass ihre Bezeichnung als „Virgen de Guadalupe“ selbst aus einer kulturellen Unterwerfung resultiert. Die ihr und Quetzalcóatl historisch zugesprochenen, variierenden Bedeutungen zeigen den Versuch, die jeweils dominante Ordnung als natürlich darzustellen. So dienen im Laufe der mexikanischen Geschichte beide Mythen dazu, einen hegemonialen Diskurs zu legitimieren – die religiösen Figuren haben eine politische Funktion, die man aber ausblendet. Die Besonderheit am literarischen Text ist Barthes zufolge, dass er den Mythos wiederum aufgreifen und einen „mythe artificiel“ erzeugen kann, eine Metasprache des Mythos (Barthes 1970, 209, Hervorhebung i. O.). 495 Dies macht Fierros, das die mythischen Figuren in die Aktualität und in marginale Positionen an den Rand der Gesellschaft versetzt. Damit kehrt der Text die den Mythen kollektiv zugeschriebene Bedeutung um. Es wird impliziert, dass sich die mexikanische Gesellschaft auf Mythen bezieht, die entleerte Formeln darstellen und die Geschichte verharmlosen: Die vermeintliche Einheit Mexikos existiert nicht, da „Guadalupe“ marginalisiert ist – und die prähispanische Vergangenheit ist mit „Quetzals“ Tod unwiederbringlich verloren. Während der Mythos die Gewalt ignoriert, auf der die aktuelle Gesellschaft gründet, rückt Fierros sie in den Mittelpunkt, da es den ausgeblendeten Teil der Mythen fokussiert. 496 So gelingt es dem literarischen Text, das Politische und die Leerstellen der Geschichte wieder sichtbar zu machen. Die Umstände, die zum Mord an Cas Medina führten, bleiben bis zum Ende der Erzählung unklar. Leonardo wird bei seinem letzten Treffen mit Rodríguez Pesqueira durch eine Schießerei verletzt – die ebenso wenig aufgeklärt wird – und kehrt nach Mexiko-Stadt zurück (vgl. Arreola 2014, 158, 165). Er beendet seine System (ebd., 187). Ein ursprüngliches Zeichen (signe) wird zu einem Signifikant reduziert, um eine neue Bedeutung zu erzeugen (vgl. ebd., 190). Demzufolge beruht der Mythos auf einer Deformation (ebd., 195), mit der Funktion „de fonder une intention historique en nature, une contingence en éternité“ (ebd., 216). 495 Diverse künstlerische Manifestationen kehren die Figuren Quetzalcóatl und Guadalupe zu einer subversiven Botschaft um: Beispielsweise finden sich sowohl in Mexiko als auch in den USA Wandgemälde, auf denen die Virgen de Guadalupe einen toten pandillero im Arm hält und die Gewalt anklagt (vgl. Báez-Jorge 2015, Pos. 2067-2069). – Mario Bojórquez bearbeitet in seinem Gedichtband Memorial de Ayotzinapa (2016) Quetzalcóatls mythische Reise ins Mictlan und kritisiert damit die aktuelle politische Situation Mexikos. Die „huesos preciosos“ repräsentieren die Knochen der Unschuldigen in den klandestinen Gräbern Mexikos (vgl. ebd., 12f.). Das lyrische Ich Quetzalcóatl (ebd., 39) mischt sich unter die 43 Studenten Ayotzinapas, als sie verschleppt und ermordet werden (ebd., 17, 25, 26, 37) und changiert selbst zwischen Opfer, Zeuge und Täter (ebd., 35f., 46). Eine nähere Analyse neuerer fiktionaler Rückgriffe auf prähispanische Mythen, um sich zeitgenössischen politischen Krisen zu widmen, wäre gewinnbringend. 496 Fierros greift hier ein Motiv auf, dass mit der nueva novela histórica assoziiert werden kann. Diese Gattung – zu deren frühen Vertretern in Mexiko Carlos Fuentes mit seinem Roman Cambio de Piel (1967) gehört – verhandelt mit metaliterarischen Erzählstrategien die Geschichte Lateinamerikas und legt „die lange Latenz der historischen Traumata offen“, indem sie Elemente der Vergangenheit in der Gegenwart sichtbar macht (Borsò 2002b, 305).
270 4. Grenzen und Transgressionen im mexikanischen Roman der Gegenwart
Erzählung im letzten Abschnitt des Buches mit nur einem Satz: „He aquí mi más clara verdad, la última mentira, de cómo empecé a vivir“ (ebd., 166). In der ersten Person Singular blickt er in die Vergangenheit („empecé“). Zugleich ist das Ende der Erzählung als Anfang markiert. Die einen Großteil von Fierros ausmachende Semantik des Todes endet, indem der Text sich auf das Leben beruft („empecé a vivir“). Der letzte Satz kann sich darauf beziehen, dass der Protagonist die Schießerei in Tijuana er- und überlebt hat. 497 Leonardo teilt somit die Wahrheit („verdad“) all derer, die Gewalt erleiden. Beispielsweise erkennt er, dass die Presse und Akteure wie Rodríguez Pesqueira maßgeblich zur Gewalt beitragen, da sie die Deutungsmacht innehaben. 498 Während die Täter straffrei bleiben, riskieren investigative Journalisten und Autoren wie Leonardo ihr Leben. Dieser Gedankengang verbindet die Sprache mit der Wirklichkeit. Zum einen kann reale Gewalt diskursiv erzeugt und perpetuiert werden. Zum anderen erscheint die literarische Sprache als Gegenspieler der dominanten Diskurse. Doch aufgrund der noch immer vorhandenen Lücken irritiert Leonardos Aussage. Denn er gibt vor, die Wahrheit, die er anfangs anzweifelte (vgl. ebd., 19), gefunden und unter seiner Kontrolle zu haben („haber“, „mi“). Die als hell charakterisierte Wahrheit („clara verdad“), verweist auf das Licht der Erkenntnis und das Ende des Unwissens. Sie ist positiv konnotiert und wirkt im Zusammenspiel mit der totalisierenden Sprache („más“ „última“) zunächst pathetisch. Dieser Eindruck schwindet aber unmittelbar, da mit „verdad“ und „mentira“ zwei einander ausschließende Termini paradox parallelisiert werden. Es liegt am Leser, sich damit auseinanderzusetzen, inwiefern man beide Konzepte definieren und voneinander abgrenzen kann. In diesem Zusammenhang ist die Etymologie des Wortes „mentira“ aufschlussreich, das sich aus dem Lateinischen mentior, ‘lügen’ – und ebenso ‘erdichten’ – entwickelt, das wiederum auf mens ‘Denken’, ‘Verstand’ beruht. 499 Bedenkt man dies, muss die „última mentira“ im Roman nicht zwangsweise eine vollkommene Negation der Wahrheit bedeuten, stattdessen kann sie eine Metapher für das literarische Werk Leonardos sein. Das Erdachte, die Fiktion, führt also zu 497 Auf einer persönlichen Ebene liest er sich als Resümee Leonardos zum im Tijuana seiner Jugend begonnenen selbstbestimmten Leben als Homosexueller. Ebenso kann er auf die kürzlich wiedergefundene eigene Vergangenheit anspielen. Wie in der Sage hat der Tod Quetzals den Protagonisten dazu verleitet, nach Tijuana zurückzukehren, um die eigene Vergangenheit aufzuarbeiten und hat ihm zu einem neuen Leben verholfen (Arreola 2014, 70). Hierfür spricht, dass der Protagonist diesen letzten Satz des Textes allein auf sich selbst bezieht, wie an der ersten Person Singular und dem Possessivpronomen („mi“) ersichtlich wird. Vgl. auch Osuna (2015). 498 „Dijeron que miembros del ejército habían intervenido en el enfrentamiento de dos grupos criminales en el interior de un bar. Dijeron que había seis muertos, aunque yo vi más de diez cuerpos en el suelo cuando los agresores se retiraron y salí [...]“ (Arreola 2014, 163). Hier gleicht der Protagonist seine eigene Erfahrung mit den Mediendiskursen ab („Dijeron que“), die zum Vorteil der Soldaten euphemistisch manipuliert werden („miembros del ejército“ vs. „agresores“, „seis“ vs. „más de diez“). 499 Einen Aufschluss geben die Lemmata „Mentir“ (Real Academia Española 2014, 1447), „Mens“ (Langenscheidts Großwörterbuch Lateinisch 1971, 469) sowie „Mentior“ (ebd.). – Man kann „mentira“ als Verweis auf die Dichtkunst deuten, wie sie Platon thematisiert, als er dafür plädiert, die Dichter aus dem Staat auszuschließen, weil diese mit ihrer Darstellung der Götter die moralische Ordnung anfechten (vgl. Mecke 2015, 19).
4.8 Guillermo Arreola: Fierros bajo el agua (2014) 271
einer eigenen Form der „verdad“. Die Literatur ermöglicht es, sich dem Verdrängten und Verlorenen anzunähern und ist ein Medium des Gedächtnisses. 500 Fierros zeigt eindrücklich, dass Literatur geschichtsbildend ist und unerlässlich wird, wenn es darum geht, sich der Vergangenheit anzunähern.
500 Das Lateinische mens, ‘Denken’, ‘Verstand’ lässt durchaus Assoziationen mit dem Feld der Erinnerung zu, z. B. bedeutet in mentem venire, dass einem etwas in den Sinn kommt, man sich erinnert. Mens wird wiederum als Synonym von memor aufgeführt, „sich erinnernd, gedenkend“ (Langenscheidts Großwörterbuch Lateinisch 1971, 467). Aus diesem Grund bietet sich die Interpretation als Medium des Gedächtnisses im Sinne der memoria an.
5.
Fazit
Wie die vorliegende Arbeit gezeigt hat, befindet sich Mexiko seit den 2000er Jahren in einer Krisensituation, mit der verhärtete ökonomische und politische Grenzen zwischen den Gesellschaftsgruppen, exponentiell ansteigende Gewaltraten sowie eine hohe Straflosigkeit einhergehen. Die diskursive Auseinandersetzung mit Gewalt ist durch die mangelhafte Pressefreiheit erheblich eingeschränkt. Vor diesem Hintergrund habe ich mithilfe der Konzepte Grenze und Transgression ergründet, wie zeitgenössische mexikanische Romane die gesellschaftspolitische Krise verhandeln – und wie der literarische Text zur kollektiven Debatte beiträgt. Die vorliegende Arbeit leistet eine disziplin- und sprachübergreifende Definition der Grenze und Transgression, die sie auf den mexikanischen Roman anwendet. Die zentrale These lautet, dass mithilfe von theoretischen Arbeiten zu Grenze und Transgression gezeigt werden kann, wie Gewalt normalisiert, naturalisiert und ausgeblendet wird. Die Analyse hat deutlich gemacht, dass Grenze und Transgression in der Literatur ästhetisch eindrücklich zur Geltung kommen: Sie kann z. B. mit Metaphern auch Uneindeutiges artikulieren und Leerstellen sichtbar machen. Es gelingt ihr, Verdrängtes und die Stimme der Marginalisierten in den Diskurs zu reintegrieren.
5.1
Theorie: ‚Grenze‘ und ‚Transgression‘
Das Theoriekapitel hat eine Definition der Grenze (2.1) und Transgression (2.2) vorgelegt, die auf den Ansätzen diverser Disziplinen (Etymologie, Geschichte, Soziologie, Kulturtheorie, Narratologie) aus unterschiedlichen Sprachräumen beruht (französische, spanische, lateinamerikanische, anglophone und deutsche Theoretiker). Damit unterscheidet sich die vorliegende Arbeit von Studien, die die Grenze als rein räumliches Phänomen erachten. Kapitel 2.1 hat gezeigt, dass die ‚Grenze‘ polyvalent ist und unterschiedliche Erscheinungsformen annimmt. Bereits in der Antike ist sie ein konstitutives Element für die Ordnung der Welt (peras vs. apeiron, hóros). Dass die Grenze sich als Linie, Zone und Schwelle manifestiert, hat die etymologische Betrachtung der – nicht synonymen – lateinischen Bezeichnungen gezeigt: confinium (Grenzland), limes (Bahn, Grenzweg), limen (Schwelle) und frons (Vorderseite, militärischer Grenzbereich) entwickeln sich zu den spanischen Termini confín, límite, umbral, frente und frontera. Historisch ist die Grenze, deren Form sich wandelt, unlösbar mit Prozessen der Selbstund Fremdwahrnehmung verwoben (Febvre, Sahlins, Osterhammel). Im 19. Jahrhundert versucht beispielsweise Frederick Jackson Turner, politische Landnahmen durch den von ihm propagierten frontier-Mythos zu legitimieren, dem ein binäres Weltbild zugrunde liegt.
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Augustin, Gewalt erzählen, Prolegomena Romanica. Beiträge zu den romanischen Kulturen und Literaturen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-62205-6_5
5.1 Theorie: ‚Grenze‘ und ‚Transgression‘ 273
Die Grenze wird diskursiv in einem sozialen und kommunikativen Akt konstruiert und kann auch innergesellschaftlich gezogen werden, wie soziologische Theoretiker zeigen: Mithilfe von Simmel hat die Arbeit dargelegt, dass Grenzen nicht natürlich gegeben sind. Da sie jedoch nachträglich naturalisiert werden, ist ihre soziale Konstitution oft nicht ohne Weiteres erkennbar (Bourdieu). Wie es gelingt, die Funktionsweisen der Macht mithilfe einer „histoire des limites“ (Foucault 1994a, 161, Hervorhebung i. O.) offenzulegen, macht Foucault plausibel: Der sozial ausgeschlossene und zugleich mittels Kategorisierungen unterworfene ‚Wahnsinn‘ entsteht als liminale Position in Abgrenzung von der ebenfalls diskursiv erzeugten ‚Vernunft‘, die reguliert, was als ‚normal‘ gilt. Räumlich manifestieren Heterotopien das Außen innerhalb der Gesellschaft, das zu ihrem Funktionieren beiträgt. Die heterotopen Räume können in jeder Gesellschaft unterschiedliche Erscheinungsformen annehmen; sie sind also variabel und machen die Ordnung beschreibbar. Für die Romananalyse ging daraus hervor, dass die Raumsemantik innergesellschaftliche Ausschlussmechanismen aufzeigen und ggf. infragestellen kann. Durch die kulturtheoretischen Ansätze von Sontag, Butler und Borsò wurde nachvollziehbar, dass die epistemischen Grenzen der zugrundeliegenden Ordnung beeinflussen, ob und wie Gewalt und Tod kollektiv wahrgenommen bzw. bewertet werden. Der Blick auf das Leid des Anderen degradiere den Anderen zu einem anonymen Objekt (Sontag). Doch die Gesellschaft nimmt überhaupt nur einen kleinen Teil der Gewalt wahr, da die aus Machtoperationen hervorgehenden Rahmen (frames) den Bereich des Darstellbaren (representability) begrenzen und bestimmte Opfer nicht anerkennen (Butler). Zugleich ist die Grenze der Ort, an dem die Ordnung des Blicks gebrochen werden kann (Borsò). Daraus ergibt sich die Relevanz, die nicht Sichtbares für die vorliegende Analyse hat. Mit Lotmans kultursemiotischem Konzept der Semiosphäre gelingt eine Lesart der Grenze in ihrer semantischen Vielfalt als semipermeable Membran, die einerseits eine abgrenzende Funktion hat, andererseits verbindet und somit für die kulturelle Dynamik unabdinglich ist. Da man diese Theorie sowohl auf die Kultur insgesamt als auch auf einen einzelnen literarischen Text übertragen kann, hat sie sich für die vorliegende Arbeit als besonders fruchtbar erwiesen. Im Kontext der globalpolitischen Veränderungen seit dem Ende des 20. Jahrhunderts fokussiert das transdisziplinäre Feld der Border Studies territoriale und politische Grenzen. Die mexikanischen estudios fronterizos untersuchen die soziopolitische Situation der Grenze zusammen mit der diskursiven Funktion metaphorischer Grenztermini und nationaler Identitätsentwürfe (Valenzuela Arce). Das Wechselverhältnis von De- und Reterritorialisierung zeigt, dass die Theorie der ‚Grenze‘ stets Aufschlüsse über die gegenwärtigen Narrative von ‚Nation‘ und ‚Identität‘ bietet. In ihrer prominenten Lesart erklärt Anzaldúa die Grenze zu einem Zwischenraum, der ein neues, hybrides Subjekt hervorbringe – dabei schreibt die postkoloniale Theoretikerin aber den problematischen mestizaje-Diskurs von Vasconcelos fort. Mithilfe von Vila konnte erläutert werden, dass diese Privilegierung einer bestimmten Identität, sei sie auch subversiver Art, eben jene Othering-
274 5. Fazit
Prozesse wiederholt, die sie ursprünglich kritisiert. Ähnlich verhält es sich mit Mignolos metaphorischem Konzept der sog. border gnosis als einer Wissenschaft, die sich von einer eurozentrischen Epistemologie abwendet und damit unreflektiert neue Totalitätsansprüche stellt. Aus Kapitel 2.2 resultiert, dass ‚Grenze‘ und ‚Transgression‘ als korrelative Termini zusammengedacht werden müssen, um ihre volle Bedeutung zu verstehen. Während die ‚Transgression‘ alltagssprachlich weniger gebräuchlich ist und als unidirektionale Grenzüberschreitung und Regelbruch definiert wird, weist die Theorie vor allem auf ihren doppelten Charakter hin: Einerseits vermag sie die Ordnung zwar zu durchbrechen, andererseits bestätigt sie sie damit aber in ihrer Verfasstheit als Ordnung. Anthropologisch als symbolic inversion definiert, macht die Transgression die Grenze sichtbar und kann als reflexiver Akt in psychischen, körperlichen, geographischen und sozialen Sphären vollzogen werden (Babcock). Die Transgression ist zudem performativ, denn das inszenierte Spiel mit der Ordnung hat eine Kommentarfunktion (Butler). Die über Verbote konstituierte Grenze bestimmt zusammen mit der Transgression die soziale Welt, deren Binarität sie erhält und zugleich infrage stellt (Bataille). Wenn jedoch das Gleichgewicht zwischen Grenze und Transgression kippt, macht der Ekel als Indikator des Sozialen und hierarchischer Ausschlussmechanismus die Ängste einer Gesellschaft sichtbar, denn der Ekel empfindende Mensch spürt seine eigenen Grenzen (Bataille, Menninghaus). Für die Romananalyse ging daraus hervor, dass die Semantik des Ekels auf tabuisierte Themen hinweist, die individuelle und kollektive Grenzsituationen markieren. Dass die Verknüpfung von Macht, Wissen und Sexualität auf strategische, aber heterogene Weise in den Körper des Einzelnen eingreift und ihn mit dem Gesellschaftskörper verbindet, wurde mit Foucaults Sexualitätsdispositiv erkennbar. Der Akt des Sprechens stellt nicht zwangsweise eine Transgression dar; wie sich an der asymmetrischen Sprechsituation des Geständnisses zeigt, ist vielmehr entscheidend, wer die Aussage des Sprechers bewertet: Was natürlich wirkt, ist Ausdruck von Machtmechanismen, denn die Wahrheit wird diskursiv konstruiert. Daraus ergibt sich, dass die Transgression ein Teil der Ordnung bleibt, da keine Position des Außen möglich ist. Doch sie kann Diskursverschiebungen bewirken (Foucault). Für die Romananalyse bedeutet dies, dass die Sprechsituation – sowohl der Figuren- als auch der Erzählerrede – über die zugrundeliegenden Machtrelationen Aufschlüsse zu geben vermag. Narratologisch betrachtet, sind Grenze und Transgression auf unterschiedlichen Ebenen relevant. Die folgenden Ebenen wurden für die Textanalyse herausgearbeitet: 1. Die extratextuellen Grenzen können mit dem Paratext als Schwelle erfasst werden, die vom Leser zu überschreiten ist (seuil) und die weder gänzlich außen noch innen ist (Genette). Die Grenzen zwischen Fiktionalität und Faktualität werden von Auto- und Dokufiktion in einem pacto ambiguo verwischt (Alberca, Zipfel, Von Tschilschke und Schmelzer). 2. Die Genregrenzen und intertextuellen Bezüge stellen den Text in ein dialogisches Verhältnis zu anderen Texten (Genette, Kristeva). Der als interdiskursiv erachtete Text überwindet die
5.2 Der gesellschaftliche Kontext Mexikos: Grenze, Transgression, Gewalt 275
Grenzen zwischen unterschiedlichen ‚Spezialdiskursen‘ und verbindet sie innovativ miteinander (Link und Link-Heer). 3. Die histoire und discours strukturierenden Grenzen innerhalb des literarischen Textes werden laufend dynamisiert, z. B. durch Achronien, Ellipsen, eine variierende Fokalisierung oder wechselnde Erzählebenen. Die narración paradójica transgrediert die Grenzen mit Metalepsen oder verwischt sie mit mises en abyme (Grabe und Lang und Meyer-Minnemann). Dabei machen die Brüche auf Ebene von histoire und discours die Grenzen des Subjekts und der Gesellschaft erfahrbar, wie Foucault am Motiv des herausgerissenen und verdrehten Auges in Batailles literarischem Werk zeigt. Dieses Auge wird zur Metapher der Grenze und Transgression schlechthin, die die Souveränität des Subjekts hinterfragt. Bezogen auf den Rezeptionsprozess ermöglicht der Text dem Leser einerseits, Angst und Gewalt auf lustvolle Art mitzuempfinden (Bataille), andererseits artikuliert er transgressiv das Leid des ausgegrenzten ‚Anderen‘ und regt zu Empathie an (Butler, Sontag). Die sozialwissenschaftlichen und kulturtheoretischen Theorien, die den literarischen Text als wichtig für die kollektive Debatte erachten, berücksichtigen dennoch meistens nicht seinen ästhetischen Gehalt. Bei den kleinteiligen Kategorisierungen der Narratologie wiederum, geraten mitunter die kulturwissenschaftlichen Zusammenhänge aus dem Blick. Der vorliegenden Arbeit ist es gelungen, beide Ansätze miteinander zu kombinieren. Das Theoriekapitel hat verdeutlicht, dass ‚Grenze‘ und ‚Transgression‘ nicht nur inhaltlich, sondern auch als strukturell konstitutive Elemente bedeutsam sind. Da sie textinterne mit textexternen Phänomenen verknüpfen, können die in dieser Arbeit dargelegten Konzepte für die interdisziplinär arbeitende Literaturwissenschaft fruchtbar gemacht werden.
5.2
Der gesellschaftliche Kontext Mexikos: Grenze, Transgression, Gewalt
Das dritte Kapitel hat die innergesellschaftlichen Grenzziehungen analysiert, um die historischen Ursachen und Kontinuitäten von Gewalt in Mexiko zu beleuchten; neben einem historisch fundierten Überblick (3.1) legt die Arbeit eine Analyse der Aktualität bis 2020 vor (3.2). Es wurden wirtschaftswissenschaftliche und geschichtswissenschaftliche Sekundärliteratur, Untersuchungsberichte sowie Statistiken herangezogen und eigens diskursanalytische Untersuchungen präsidialer Ansprachen erarbeitet, um zu zeigen, wie sich sprachliche Grenzziehungen vollziehen. Bereits im Zuge der Kolonialisierung schreiben sich Ungleichheitsrelationen in die Ordnung ein, die im unabhängigen Mexiko faktisch bestehen bleiben, wie z. B. das ethnisch begründete casta-System. Das Gefälle zwischen Zentrum und Peripherie dominiert bis heute die Verhandlung der nationalen Identität. Im 19. Jahrhundert werden die Staatsgrenzen der frontera norte und frontera sur gezogen, und mit den territorialen Grenzen verändert sich das Selbst- und Fremdbild, wie
276 5. Fazit
an den Beziehungen zu den USA nachvollziehbar wurde. Während der transnationale NAFTA-Raum seit 1994 die trennende Funktion linearer Grenzen herausfordert, verlagern sich die Grenzen zwischen Globalem Norden und Globalem Süden ins Innere Mexikos. Als einziger Landweg zwischen dem Global Player USA und dem Triángulo Norte nimmt das Land eine Schwellenposition ein. Die vorliegende Arbeit zeigt, dass in Mexiko Themen von weltpolitischer Relevanz – wie Globalisierung, Migration und Sicherheitspolitik – im nationalen Rahmen ausgehandelt werden. Das Land verfügt jedoch nur über eine mangelhafte soziale und institutionelle Grundlage, um die aktuelle Krisensituation zu bewältigen, da die Bewertung der Vergangenheit und damit das kulturelle Gedächtnis Mexikos stark umstritten sind. Das Kontextkapitel hat gezeigt, dass die von Forschung und Presse auffallend häufig verwendeten Metaphern der Grenze und Transgression auf einen Streit um Deutungshoheit hinweisen (z. B. two-speed economy, violencia sin límites). Bis heute sind das PRI-Regime, das über 70 Jahre herrschte, und die als guerra sucia bezeichneten staatlichen Menschenrechtsverletzungen – von Einzelfällen abgesehen – nicht aufgearbeitet worden. Die Transición ist damit keinesfalls abgeschlossen. Damals wie heute leidet vor allem die arme Bevölkerung unter der Gewalt, die oftmals abseits der frames verbleibt und nicht angemessen in Statistiken repräsentiert wird (z. B. Migranten, Opfer von feminicidios). Der Zusammenhang zwischen Armut, Migration und dem Erstarken der Drogenkartelle macht deutlich, dass steigende Gewaltraten mit den wirtschaftspolitischen Entwicklungen in Beziehung gesetzt werden müssen und es sich nicht um ein rein national verursachtes Problem handelt. Es wurde gezeigt, dass Calderón in seiner Ansprache zur 2006 ausgerufenen guerra contra el narcotráfico das Feindbild des außerhalb der Ordnung stehenden narco schafft. Dies entdifferenziert auf problematische Weise die heterogenen Gruppen bewaffneter Akteure und ist der Versuch, staatliche Menschenrechtsverletzungen zu legitimieren. In der Folge kommt es zu einer wachsenden Militarisierung und ‚autotelischen Gewalt‘ (Reemtsma), mit aktuell ca. 61.000 desaparecidos und über 270.000 Todesopfern seit 2006. Korruption und das veraltete Justizsystem begünstigen eine hohe Straflosigkeit; Gesetzesänderungen werden nur mangelhaft umgesetzt. Das Engagement von Menschenrechtsaktivisten und Journalisten ist essenziell – doch sie arbeiten unter Lebensgefahr, da sowohl Kartelle als auch staatliche Akteure sie verfolgen. Die 2018 gewählte Regierung unter López Obrador setzt seit dem Sommer 2019 die neu gegründete Guardia Nacional im Landesinneren und an den Grenzen ein. Menschenrechtsorganisationen kritisieren die starke Beteiligung des Militärs an der Institution, für die explizit eine zivile Führung beabsichtigt war, und beklagen ihr hartes Vorgehen gegen Migranten. Die Gewaltraten in Mexiko steigen weiter an; sie erreichen 2019 ihren bisherigen Höhepunkt. Auch der Bau des Tren Maya stößt unter Umweltaktivisten und Indigenenverbänden auf erhebliche Kritik. Es bleibt abzuwarten, wie sich die soziopolitische und menschenrechtliche Lage in López Obradors verbleibender Amtszeit entwickeln wird.
5.3 Grenzen und Transgressionen im mexikanischen Roman der Gegenwart 277
5.3
Grenzen und Transgressionen im mexikanischen Roman der Gegenwart
Wie die Literatur diese gesellschaftspolitische Krisensituation verhandelt, habe ich im vierten Kapitel anhand eines Korpus aus acht Romanen untersucht, die zwischen 2004 und 2014 erschienen sind. Mit 2004 wurde der Ausgangszeitpunkt zehn Jahre nach dem Inkrafttreten des NAFTA-Abkommens gewählt, das sich auf die inneren und äußeren Grenzen der mexikanischen Gesellschaft auswirkt. 2014 gewinnt die Gewalt Mexikos mit dem Fall der 43 Studenten von Ayotzinapa international an Sichtbarkeit und nimmt in der Folge noch massivere Ausmaße an. Das Korpus bildet für besagten Zeitraum die Vielfältigkeit des mexikanischen Romans ab, da die Autoren und ihr Werk unterschiedlich intensiv rezipiert werden und die Erzählungen thematisch heterogen sind. Die einenden Kriterien der Textauswahl waren, dass die erzählte Welt in der mexikanischen Gegenwart angesiedelt und das Thema der Gewalt – wenn auch in variabler Form – präsent ist. Literatur legt über das Spiel mit ihren formalen Grenzen die Machtrelationen offen, die den Erkenntnisprozess des Individuums in der Gesellschaft prägen. Das demonstrieren die Paratexte der Romane – in einigen Fällen erhält der Leser kaum Orientierungshilfe und wird unmittelbar mit dem Text konfrontiert, da die paratextuelle Schwelle größtenteils wegfällt (Toscana, Arreola). In anderen Fällen entzieht sich der Text einer kompletten Aneignung durch den Leser, da eine massive Fülle an paratextuellen, rhizomatisch verknüpften Elementen einen Zwischenraum erschafft, der Hierarchien herausfordert (Rivera Garza). Oft dominieren bereits im Titel die Wortfelder der Gewalt und des Todes („Muerte“, „Fin del Mundo“, „Crimen y Olvido“). Während dies zum einen heißt, dass die extratextuelle Gewalt sich in den Text einschreibt, reiht sich zum anderen der Roman als ‚textueller Kadaver‘ metaphorisch unter die vielen Todesopfer in Mexiko ein und kritisiert ihre Anonymität (vgl. Beltráns Cualquier cadáver). Alle acht Romane wenden sich von sog. ‚großen Erzählungen‘ ab, brechen Hierarchien, Linearität und Homogenität auf, indem sie mithilfe paradoxaler Mittel die strukturellen Grenzen des Textes inszenieren: Rivera Garza fordert beispielsweise mit einer Mischung narrativer, lyrischer und wissenschaftlicher Textelemente die Genregrenzen heraus. Dadurch, dass einige Romane dokufiktional journalistische Dokumente einbetten oder autofiktional die Autorfigur zu einem Teil der erzählten Welt machen, hinterfragen sie die Trennung von Text und Welt (Rivera Garza, Crosthwaite, Arreola, Beltrán). Sie erleichtern den Blick des Lesers auf die gewaltvolle Realität über den Umweg des fiktionalen Textes, der mithilfe der sich spiegelnden (mise en abyme) oder kreuzenden (Metalepsen) Erzählebenen die Gewalt offenlegt, die den hierarchischen Strukturen selbst inhärent ist. Indem die Binnenerzählungen die Gewalt der erzählten Welt spiegeln, machen sie schließlich auch die extraliterarische Gewalt sichtbar (Toscana, Silva Márquez, Villafuerte, Rivera Garza). Allerdings kommt die Mehrzahl der Romane nicht zu einer ethischen Bewertung, sondern bleibt ambivalent, da der hetero- und extradiegetische Erzähler sich
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im Hintergrund hält, seine Rede mit der freien direkten Rede der Figuren verschmilzt (Toscana) oder er unzuverlässig ist (Rivera Garza, Villafuerte, Beltrán). Die Bewertung der Gewalt wird an den Leser delegiert, denn die meisten Romane geben keine ausdrückliche Handlungsanweisung, äußern also keinen expliziten ethischen Anspruch. Der Appell entsteht eher ex negativo: Der Leser wird implizit dazu aufgefordert, die gescheiterte Suche des Ich-Erzählers nach Aufklärung fortzuführen (Crosthwaite, Arreola). Diese Initiation des Lesers stellt zugleich die Autorität des Autors in Frage. Die Ambivalenz kann insofern positiv sein, als der literarische Text dadurch für einen breiten Adressatenkreis zugänglich ist und ein offenes Reflexionspotenzial bereithält. Doch es besteht auch das Risiko, dass es nicht gänzlich ausgeschöpft wird, da der Leser unter Umständen sein gewaltverherrlichendes Weltbild bestätigt sieht. An der Erzählsituation kann jedoch veranschaulicht werden, dass die Romane Gewaltopfer und Marginalisierte in den öffentlichen Diskurs zu reintegrieren versuchen: Unterschiedliche Stimmen vereinen sich zu einer polyphonen Stimme der Erinnerung. Die Textabschnitte im stream of consciousness suggerieren, dass sie auf das Unbewusste zugreifen (Arreola). Weiterhin werden diejenigen Protagonisten, die das ‚Andere‘ symbolisieren, intern fokalisiert, um die nicht dominanten Perspektiven artikulierbar zu machen. Hiermit ermöglichen es die Romane, nachzuvollziehen, wie sich die strukturelle, normalisierte Gewalt auf den einzelnen Menschen auswirkt, der – wenn überhaupt – nur als statistische Ziffer erfasst wird. Dies kann zu einer gesteigerten Empathie des Lesers beitragen, und sich auf das extraliterarische Zusammenleben auswirken. Zugleich besteht jedoch die Gefahr, dass der literarische Text für andere spricht, sich ihrer bemächtigt und damit Ungleichheitsrelationen reproduziert. Denn auch in den Romanen wirken die Ausschlussmechanismen der Gesellschaft, wenn marginalisierte Figuren nicht zur Sprache kommen. In diesem Sinn belegt die Figurenrede das geschädigte soziale Vertrauen und die gesellschaftliche Spaltung Mexikos: Sprachlich manifestiert sich die Macht des Überlegenen im dominanten Redeverhalten einzelner Figuren, die mehr sprechen, ihrem Gegenüber ins Wort fallen und durch Gelächter, Imperative, subtile Drohungen oder gewalttätige Sprache eine Asymmetrie erzeugen. Mit dem Rückgriff auf Foucault definiert die vorliegende Arbeit Geständnis und Verhör in den Romanen als asymmetrische Sprechsituationen, die Machtrelationen offenlegen und demonstrieren, wie diese eine bestimmte Weltsicht diskursiv zur Wahrheit erheben und dabei belegbare Fakten ignorieren (Toscana, Rivera Garza, Crosthwaite, Arreola). Die Analyse der Erzählzeit hat ergeben, dass die Romane mit Analepsen vergangene und verdrängte Gewalterfahrungen in die Texte einbeziehen und Latentes im kollektiven Gedächtnis manifest machen. Dass die Perspektive der Opfer jedoch unwiederbringlich verloren geht, zeigt Toscanas Roman, indem er die Folterszene elliptisch auslässt und eine starke Zeitraffung weiterer Szenen die Abwesenheit staatlicher Institutionen illustriert. Da die Romane die erzählte Welt zeitlich mit der Gegenwart des Lesers verknüpfen, suggerieren sie, dass die kri-
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senhafte diegetische Welt der extraliterarischen Aktualität entspricht („Ayer“, „2008“, „2010“). Es konnte gezeigt werden, dass zwei Romane durch die verwendete Krankheits- und Ungeziefermetaphorik ausgrenzende Diskurse perpetuieren, es ihnen also nicht gelingt, sich von einem solchen extraliterarischen Sprachgebrauch zu lösen (Toscana, Crosthwaite). Doch mitunter kann die Gewalt ent-normalisiert werden, wenn die eigentlichen Opfer irritierend offensiv ein bioökonomisches Vokabular verwenden (Villafuerte). Anderen Romanen gelingt es, die auf Ebene der Handlung nicht explizit sichtbare Gewalt sprachlich zu repräsentieren, z. B. durch die Wortfelder der Gewalt und des Todes. Das dominante Wortfeld des Ekels verweist darauf, dass die Erzählungen tabuisierte Themen verhandeln. Herreras Roman wiederum sticht hervor, indem er die für den Bereich des Drogenhandels und die Migration charakteristischen Termini ausspart – Gewalt ist also auch sprachlich nicht immer explizit. Mithilfe dieser sprachlichen Mittel machen die Romane Mechanismen sichtbar, wie in der mexikanischen Gesellschaft Gewalt normalisiert und ausgeblendet wird. Das fiktionale Werk kann auf die etymologisch vielfältige Semantik von Worten zugreifen, das Verhältnis von Signifikant und Signifikat ambivalent lassen, Neologismen oder neue Bedeutungen generieren („fronterizada“, „jarcha“). Metaphern nehmen in den Romanen eine entscheidende Rolle dabei ein, menschliche Grenzerfahrungen zu verhandeln. Das Leitmotiv des herausgerissenen Auges wurde, mit einem Rückgriff auf Bataille und Foucault, als Metapher interpretiert, die den Moment fasst, in dem der literarische Text angesichts der Gewalt an die Grenze des Sagbaren gelangt. Diese Grenze schreibt sich zudem in die Materialität des Textes ein und wird zu einem Indikator für Gewalterfahrungen, die nicht versprachlicht werden können: Der Leser sieht sich beim Rezeptionsprozess mit unbedruckten Seiten, Tilden und zerstückelten Versen konfrontiert, die für das Verlorene stehen, oder mit geschwärzten Seiten, die Zensur und Verdrängung darstellen (Rivera Garza, Crosthwaite, Arreola). Hier macht der literarische Text Leerstellen und das nicht sprachlich Artikulierbare graphisch sichtbar. Auf Figurenebene werden homogene Identitätsentwürfe dekonstruiert und die Figuren bilden das zerstörte soziale Gefüge ab: Die Familie als geschützter Raum zerbricht, was zu Lasten der nachfolgenden Generation geht. Sie verkörpern die traumatische Vergangenheit, von Gewalt geprägte Gegenwart und durch den Tod vorbestimmte Zukunft. Die Grenze zwischen Gut und Böse ist unscharf, da einige der Protagonisten zu Tätern werden, wodurch die Romane eine klare Täter-OpferUnterscheidung problematisieren (Toscana, Silva Márquez, Villafuerte, Beltrán). Während sie damit zwar riskieren, Verbrechen zu verharmlosen, verdeutlichen die Romane jedoch eindrücklich, dass die Täter keine außerhalb der Ordnung stehenden ‚Fremden‘ sind, sondern Gewalt in der Mitte der Gesellschaft stattfindet. Damit verweisen sie auf die Verantwortung jedes Einzelnen, das eigene Handeln zu reflektieren und wenden sich zudem gegen die diskursive Kriegsführung der guerra contra el narco. Manche Erzählungen erzeugen jedoch selbst auf proble-
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matische Weise eine metaphysische, abstrakt bleibende Täterfigur („Alguien“, „ellos“). Mit René Girards Theorie, dass kollektive Einheit auf der gewaltvollen Ausgrenzung eines Sündenbocks beruht, konnte die Figur des Sündenbocks in den Romanen als Kritik an einem auf Korruption und Straflosigkeit beruhenden System interpretiert werden, das für den Fortbestand der massiven Gewalt verantwortlich ist (Toscana, Rivera Garza). Die im Theorieteil anhand von Sontag, Butler und Borsò erarbeiteten Grenzen, die regulieren, wie das Kollektiv Gewalt wahrnimmt, wurden herangezogen, um zu zeigen, dass einige Opfer in der erzählten Welt auf problematische Weise anonym bleiben und dem voyeuristischen Blick der Lebenden schonungslos ausgeliefert sind (Silva Márquez, Crosthwaite, Beltrán). Andere Figuren sind wiederum erkennbar realen Gewaltopfern nachempfunden und deuten dadurch explizit auf die extraliterarische Gewalt hin (Crosthwaite). Die Analyse der Raumsemantik hat ergeben, dass sich Machtrelationen und soziale Ausgrenzung räumlich niederschlagen und diese Ebene es den Akteuren zugleich ermöglicht, die Strukturen aufzubrechen. Die Friedhöfe in der erzählten Welt konnten mit Rückgriff auf Foucault als Heterotopien identifiziert werden, die eine innergesellschaftliche Grenze darstellen. Dass die Besucher ausbleiben, zeugt von einer Mehrheitsgesellschaft, die ihrer Toten nicht gedenkt (Silva Márquez). An anderer Stelle werden in der Analyse als Heterotopien identifizierte Räume wie Rotlichtviertel subversiv als Freiraum und Raum des alternativen Gedächtnisses genutzt und die kollektiven Ausgrenzungsmechanismen dekonstruiert (Herrera, Arreola). Fabriken oder Supermärkte, die im Sinne Augés als non-lieux bezeichnet werden konnten, wurden als kritische Spiegelung eines biopolitisch agierenden Kapitalismus gedeutet, die zeigt, dass im transnationalen NAFTARaum Ungleichheiten fortbestehen und soziale Vereinzelung herrscht (Herrera, Silva Márquez, Beltrán). Die Romane heben die historische Kontinuität repressiver Gewalt in Mexiko hervor und distanzieren sich von der offiziellen Geschichtsschreibung. Neben negativen Referenzpunkten des kulturellen Gedächtnisses, wie dem Massaker von Tlatelolco (1968), thematisieren sie bislang nicht aufgearbeitete Konflikte wie die Verfolgung Homosexueller in den 1980er Jahren (Arreola), bereits in den 1980er Jahren auf Journalisten verübte Anschläge oder feminicidios. Damit verhandeln die Romane neben historischen auch aktuelle soziopolitische Ereignisse und setzen dort an, wo im extraliterarischen Kontext keine Aufarbeitung der Gewalt erfolgt. Die Aufarbeitung wäre unabdinglich, um die Gegenwart zu bewältigen – doch sie misslingt in der erzählten Welt. Dieser pessimistische Blick in die Zukunft hat sich leider bestätigt, nimmt er doch die extraliterarische Entwicklung der Folgejahre, die sich verstärkende Gewalt nach 2014, vorweg. Einige der Romane kritisieren die den mexikanischen Gründungsmythen inhärente Gewalt und bieten neue Lesarten an. Mit Rückgriff auf Barthes konnte gezeigt werden, dass die Romane die politische Instrumentalisierung der Mythen sichtbar machen, indem sie diese dekonstruieren. Beispielsweise nutzt Herrera die
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feministische Interpretation der Malinche-Figur und wendet sich von Octavio Paz’ ausgrenzendem otredad-Konzept ab. Es zeigt sich, dass Mythen diskursiv erschaffen und in der jeweiligen gesellschaftlichen Situation anders gedeutet werden, sie also heterogen, aber transhistorisch wirksam sind. Die häufigen biblischen Bezüge auf das Alte und Neue Testament weisen kritisch auf die Gewalt-Narrative im Fundament des christlichen Glaubens hin. Einige Romane plädieren dafür, die von Autoritäten dominierte Ordnung nach der inhärenten Gewalt zu befragen, da es zwar leidvoll, aber erkenntnisfördernd sei, das göttliche Gebot zu überschreiten (Toscana, Rivera Garza, Crosthwaite). Wenn sich in den Romanen das Böse offenbart, ist keine (göttliche) Hilfe in Sicht, die Toten können nicht mehr auferweckt werden. Problematisch ist, dass die extraliterarische Gewalt aufgrund der biblischen Bezüge mythisch aufgeladen und als menschliche Grundkonstante dargestellt wird, wodurch der konkrete mexikanische Kontext aus dem Fokus gerät und die Gewalt entdifferenziert wird. Durch zahlreiche intertextuelle Bezüge suggerieren die Romane, dass Gewalt ein transnationales und transhistorisches Problem darstellt, über das aber literarisch reflektiert werden kann. Dieses Verfahren entdifferenziert die Gewalt in Mexiko nicht etwa, sondern es dient vielmehr dazu, sie in einem gemeinsamen intertextuellen Austausch artikulierbar zu machen. Die Romane treten in ein dialogisches Verhältnis mit Werken ein, die zu Zeiten ihrer Erscheinung Gewaltfragen verhandelten, wie z. B. Dostojewskijs Verbrechen und Strafe oder Bolaños 2666. Da es sich überwiegend um als kanonisch erachtete Werke handelt, sind sie für den Leser schnell zu erfassen und ermöglichen ihm, in der Literatur nach etwaigen Lösungsansätzen zu suchen. Dort, wo der einzelne Roman endet, hält die Literaturgeschichte Abhandlungen über die unterschiedlichsten Aspekte von Gewalt bereit, wirft neue Perspektiven und Fragen auf. Trotz der Kontinuität von Gewalt unternimmt Literatur also immer wieder den Versuch, über sie zu sprechen und prägt die Art, wie wir Gewalt kollektiv wahrnehmen. Gewissermaßen dient der intertextuelle Bezug auch der Selbstlegitimation des literarischen Textes als privilegiertes Medium, um über Gewalt zu sprechen. Beltrán bezieht sich explizit auf die sog. Shoah-Literatur und deutet mit einem Zitat von Imre Kertész an, dass Literatur die Erinnerung an die Toten bewahren kann, da sie ihre Stimme speichert, nachdem auch die letzten Zeugen verstummt sind. Zu der einen Ausgangspunkt dieser Arbeit bildenden metaliterarischen Frage, wie Literatur die gesellschaftliche Gewalt verhandelt, wurden aus dem Korpus zwei gegensätzliche Standpunkte herausgearbeitet: 1. Einige der Romane setzen sich kritisch mit dem eigenen Genre auseinander, indem sie suggerieren, Literatur könne die Gewalt nicht bewältigen und das Verlorene nur fragmentarisch wiedererlangen („basura memorial,“ Arreola). Diese Romane implizieren, dass eine wirkliche Transgression als fundamentale Entsagung von der Ordnung nicht möglich ist, wie im Theorieteil der Arbeit anhand von Foucault gezeigt wurde. Die extreme Gewalt wirkt sich auf die Kommunikationssysteme aus und lässt die Menschen verstummen; die Zerstörung ist irreversibel. 2. Hier setzen wiederum andere Romane an, um zu zeigen, dass – obwohl die diskursive Auseinanderset-
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zung mit der Gewalt scheitert – Literatur in solchen Grenzsituationen einschreiten kann und zu einem Medium des Gedächtnisses wird. Beispielsweise wurde anhand von Villafuertes poética del trauma gezeigt, wie im Spannungsverhältnis zwischen der poetisch-stilisierten Sprache (Form) und der allgegenwärtigen Gewalt (Inhalt), Literatur mit Stilmitteln das Traumatische artikulieren kann, sie die Leerstellen also aufzeigt, ohne sie zu füllen und dadurch umzukehren. Die ausgewählten Werke machen deutlich, dass die polyvalente Grenze mit einem einzelnen Ansatz nicht vollständig zu erfassen ist. Ebenso ist die Transgression kein einseitiger Regelbruch, sondern beide Konzepte bedingen sich wechselseitig. Die Romane wenden sich gegen binäre Schemata und machen die Grenze zum Abbild des Sozialen, das Ausgrenzung (rechtlich, politisch) und Austausch (kulturell, sprachlich) verbindet, wie mit Rückgriff auf Lotmans Konzept der Semiosphäre gezeigt werden konnte. In den Werken verknüpfen sich auf interdiskursive Art unterschiedliche Theorieansätze: Die an der frontera norte situierten Texte verbinden eine metaphorische Grenze mit soziopolitischen Perspektiven und der Grenzraum wird zum pars pro toto der mexikanischen Gesellschaft. Die Romane wenden sich von den Hybriditäts-Diskursen der postkolonialen Theorie ab; lediglich einer verwendet das sprachüberschreitende Spanglish und kritisiert zugleich das verwertbare, stereotype Grenzkonzept der fronterizo-Kunst (Arreola). Stattdessen bleibt die Grenze enigmatisch. Zudem stellt sich heraus, dass die international bekannteren Grenztheorien nicht für die Romananalyse genügen, da sich die Texte nicht auf ein einseitiges Grenzkonzept festlegen lassen. Erst ein polydisziplinärer Zugang ermöglicht es, die Grenzen im literarischen Text über die inhaltliche bzw. räumliche Ebene hinaus zu erfassen und so auch nicht unmittelbar sichtbare Ausschlussmechanismen offenzulegen. Bezüglich der literaturwissenschaftlichen Kontroverse zur literatura fronteriza ergibt die vorliegende Untersuchung, dass die gängige Kategorisierung nach textexternen Faktoren und der staatspolitischen Grenze irreführend und verkürzt ist. Um sich nicht auf inhaltliche Kriterien zu beschränken und dadurch die ästhetischen zu vernachlässigen, muss die literatura fronteriza meiner Analyse zufolge als eine Literatur erachtet werden, die vielfältige Grenzen auf der histoire- und discours-Ebene überschreitet und sich einer territorialen Bindung entzieht. Oswaldo Zavalas (2015, 45) Warnung, Literatur könne Ungleichheiten reproduzieren und gleichzeitig entdifferenzierend wirken, ist in Teilen zutreffend. So weist die vorliegende Arbeit auch im ausgewählten Korpus auf problematische Aspekte fiktionaler Texte hin, dass einige Romane z. B. die Gewalt undifferenziert darstellen und ihr einen metaphysischen Charakter verleihen. Zavala irrt jedoch, wenn er behauptet, der zeitgenössische mexikanische Roman verharmlose die Gewalt, denn das hier untersuchte, über das Genre der narcoliteratura hinausgehende Korpus hält innovative Verhandlungsformen bereit, die sogar die nicht explizit und körperlich ausgeübte Gewalt sichtbar machen. Gerade in Anbetracht der Debatte, wie die vergangene Gewalt des 20. Jahrhunderts beurteilt werden sollte, geben die literarischen Texte neue Impulse.
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Anders als Rafael Lemus (2005), der in seinem kontroversen Aufsatz die Popularität von Gewalt-Erzählungen auf dem mexikanischen Buchmarkt kritisiert, bewerte ich sie vielmehr als Indikator für ein erhöhtes Bedürfnis der Leser, sich mit dieser Problematik auseinanderzusetzen. 1 Denn wie die vorliegende Arbeit mit Bataille erläutert, ist auch eine lustvolle Beschäftigung mit Gewalt immer mit den Ängsten des Lesers verknüpft. Im aktuell von kollektiver Angst und einem geschädigten sozialen Vertrauen geprägten Mexiko ist es also umso wichtiger, dass die Literatur diese Abstrakta verhandelbar macht und es ermöglicht, sich ihnen zu stellen. Literatur kann nicht die Arbeit der Menschenrechtsorganisationen oder Institutionen ersetzen, die es für eine Aufarbeitung der Gewalt bräuchte. Der Beitrag der Romane besteht eher darin, dass sie dem Individuum den Blick auf die katastrophale Realität erleichtern und sich immer wieder bemühen, eine Sprache für jene Gewalt zu finden, die Journalisten wie z. B. den ermordeten Valdez Cárdenas zum Verstummen bringt (vgl. Kapitel 3.2.2). Um zu beurteilen, ob die in der vorliegenden Arbeit analysierten Romane als ‚engagierte Literatur‘ gelten können, ist ein Blick auf die Begriffsgeschichte sinnvoll: Die Bezeichnung ‚engagierte Literatur‘ geht auf Jean-Paul Sartres Konzept der littérature engagée zurück und wird oftmals verkürzt als Literatur verstanden, die ideologisch und politisch explizit Position bezieht und auf plakativen Darstellungen beruht. 2 Auch in Mexiko ist die Kategorie der literatura comprometida historisch beeinflusst, durch die Mexikanische Revolution und die darauf folgenden Debatten um eine Literatur im Dienst der Revolution. 3 Jedoch ist eine strikte 1 Vgl. auch das Interview von Gonzalo León (2015) mit unterschiedlichen mexikanischen Schriftstellern, die die Popularität von Gewalterzählungen nicht allein als Marketingstrategie der Verlage sehen, sondern vielmehr als ein Thema, das die Gesellschaft und ihr Schreiben erheblich prägt. 2 Sartre definiert in „Présentation des Temps Modernes“ [1945] (1948a) und „Qu’est-ce que la littérature?“ (1948b) sein Verständnis einer littérature engagée. Der Schriftsteller beziehe in seiner Epoche mit allem Position – sowohl mit dem, was er schreibt, als auch mit Auslassungen (Sartre 1948a, 13). Er müsse die Sprache von Ambivalenzen reinigen („les débarrasse [aux mots] de leurs sens adventices,“ Sartre 1948b, 305) und sie der Epoche entsprechend ausrichten („les adapte à la situation historique,“ ebd.). Literatur habe eine soziale Funktion (Sartre 1948a, 16), denn sie sei dazu bestimmt, „de démystifier notre public“ (Sartre 1948b, 306) sowie dem Leser seine gesellschaftlichen Handlungsmöglichkeiten aufzuzeigen (vgl. ebd., 311). Dem Kontext der Nachkriegszeit entsprechend, sieht Sartre es als Verpflichtung aller Schriftsteller, sich für ein sozialistisches, friedliches Europa einzusetzen (vgl. ebd., 314, 316). Sartre (1948b, 304f.) kritisiert die Metaphern der poésie moderne, er ist sich aber darüber bewusst, dass literarische Sprache nie frei von Mehrdeutigkeiten ist (ebd., 87) und betont: „[D]ans la ‚littérature engagée‘, l’engagement ne doit, en aucun cas, faire oublier la littérature“ (Sartre 1948a, 30, Hervorhebungen i. O.). Vgl. auch Geitner (2016, 31f., 38). 3 Im Vergleich zu anderen lateinamerikanischen Ländern, wo die Debatte vor allem in den 1960er Jahren an Relevanz gewinnt (vgl. Basile 2015, 44), wird in Mexiko seit Anfang des 20. Jahrhunderts diskutiert, wie eine literatura comprometida oder revolucionaria aussehen sollte (vgl. Tornero u.a. 2004). Während der Mexikanischen Revolution entstehen unterschiedliche Werke der sog. narrativa de la revolución, die sich für die Revolution aussprechen oder sie kritisch reflektieren (vgl. Pereira u.a. 2004). Nach der Institutionalisierung der Revolution unter der Regierung von Lázaro Cárdenas steht die soziale Funktion von Künstlern und Schriftstellern im Fokus, die sich an der Politisierung und Bildung des Volkes beteiligen sollen (vgl. Sheridan
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Trennung zwischen dem politischen Engagement des literarischen Textes auf der einen Seite und der Ästhetik des literarischen Kunstwerks auf der anderen Seite nicht in dieser Absolutheit haltbar (vgl. Geitner 2016, 27). Meine Analyse der acht ausgewählten Romane hat vielmehr gezeigt, dass sie ästhetisch anspruchsvoll, nicht auf einheitliche Aussagen reduzierbar und strukturell wie thematisch heterogen sind. Die Texte eint, dass sie sich engagieren, indem sie kritisch und aus einer inoffiziellen Perspektive historische Konflikte aufgreifen, sich auf die krisenhafte Gegenwart beziehen und die Frage nach der kollektiven Zukunft aufwerfen. Indem die Romane zudem marginalisierte Stimmen zu Wort kommen lassen und darauf ausgerichtet sind, den Leser zu aktivieren, bleiben sie angesichts der gesellschaftlichen Ereignisse nicht gleichgültig. Der Akt des Schreibens zeugt davon, dass der mexikanische Roman der Gegenwart die Gewalt nicht einfach hinnimmt, obwohl er dennoch keine eindeutige politische Position vertritt. Im ausgewählten Korpus gelingt es vor allem den ästhetisch anspruchsvollen Texten, die Gewalt zu verhandeln, ohne sie zu verharmlosen. Zusätzlich engagieren sich einige der hier behandelten Autoren in nicht-fiktionalen Essays für die Zivilgesellschaft und ergänzen damit das vielschichtige, ambivalent bleibende literarische Werk mit einem explizit geäußerten ethischen Anspruch (Rivera Garza, Herrera, Beltrán). Die Arbeit bietet Anschlussmöglichkeiten für literaturwissenschaftliche Folgestudien, die das Thema der Gewalt, Grenze und Transgression untersuchen: Beispielsweise ließe sich die Fragestellung auf die spezifische Ästhetik lyrischer Texte oder auf ein Korpus nach den Ereignissen von Ayotzinapa 2014 ausweiten, um zu überprüfen, ob der Fall sich als Zäsur in die Texte einschreibt. 4 Auch im Bereich der performance-Kunst und neuen Medien kann man mit den Analysekonzepten Grenze und Transgression untersuchen, in welchem Verhältnis Form 2004, 171f.). Einen Gegenpol zu ideologisch regierungsnahen Verbänden wie der Liga de Escritores y Artistas Revolucionarios (LEAR) bilden die sog. Contemporáneos (vgl. Tornero u.a. 2004). Nachdem mit dem Massaker von Tlatelolco 1968 der Mythos der Revolution zerbricht, entstehen literarische Werke, die sich sozial und politisch engagieren, aber nicht im Dienste der Regierung stehen, sondern kritisch Position beziehen, wie das Kapitel 3.1.2 der vorliegenden Arbeit gezeigt hat. Ende des 20. und Anfang des 21. Jahrhunderts, nach Ende des Kalten Krieges und den südamerikanischen Militärdiktaturen, entwickelt die kritische Literatur in Lateinamerika eine Stimme „que apuesta por la defensa de los derechos humanos y a las demandas de ‘memoria’ como nuevos paradigmas que van a recorrer América Latina“ (Basile 2015, 46). Dies erlaubt es, denn Begriff der literatura comprometida zu verwenden, um Werke wie die in dieser Arbeit analysierten zu beschreiben. 4 Die vorliegende Arbeit hat bereits auf lyrische Texte verwiesen, die sich für eine solche Analyse anbieten, Mario Bojórquez’ Memorial de Ayotzinapa (2016), Luis Felipe Fabres Poemas de terror y de misterio (2013). Vgl. auch Jorge Humberto Chávez’ Te diría que fuéramos al río Bravo a llorar pero debes saber que ya no hay río ni llanto (2013). – Grenze und Transgression können außerdem fruchtbar gemacht werden für die Analyse der kürzlich veröffentlichten Romane von Aura Xilonen, Campeón gabacho (2016), sowie von Fernanda Melchor, Temporada de Huracanes (2017). Anfang 2019 veröffentlicht die preisgekrönte mexikanische Autorin Valeria Luiselli erstmals einen Roman auf Englisch, Lost Children Archive (2019a), der sich dem Thema Grenze und Gewalt aus der Sicht US-amerikanischer Protagonisten nähert und erst danach auf Spanisch erscheint, unter dem Titel Desierto Sonoro (Luiselli 2019b).
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und Inhalt stehen, wie sich also die grenzüberschreitenden Medien auf die Thematisierung sozialer Grenzen auswirken. 5 Die Konzepte Grenze und Transgression können ebenfalls für Literaturen außerhalb Mexikos fruchtbar gemacht werden, die Gewalt oder das Zusammenleben im globalisierten Zeitalter thematisieren, in dem territoriale Grenzen teils flexibilisiert, teils verstärkt werden und zugleich die sozialen Grenzen wirkmächtig sind. Eine komparatistisch oder transnational angelegte Analyse wäre jedoch nur unter der Voraussetzung denkbar, dass sie nicht aufgrund des transkulturellen Ansatzes über Grenzen und Ungleichheiten hinwegsieht. Die vorliegende Untersuchung hat an einem Korpus mexikanischer Romane der Gegenwart nachgewiesen, dass literarische Texte sich an der kollektiven Verhandlung von Gewalt beteiligen. Sie prägen Diskurse, verbinden sie zu neuen Theorien und vertreten Positionen, die das Feld des konventionell Sagbaren mithilfe von Grenzüberschreitungen und -verwischungen erweitern. Angesichts der inneren gesellschaftlichen Grenzen, die dazu führen, dass Gewalt nicht immer als solche sichtbar ist, gewinnt Literatur an Bedeutung: Sie reintegriert ausgegrenzte Opferperspektiven und wirft einen multifokalen Blick auf Konflikte im kulturellen Gedächtnis sowie auf Themen, die (noch) nicht offiziell verhandelt werden. Es sind dabei vor allem die ästhetischen Mittel, die den literarischen vom journalistischen und wissenschaftlichen Text abheben. Sie befähigen ihn dazu, auch Lücken und Grenzen zu artikulieren oder ambivalent zu bleiben und so eine komplexe Sicht zu vermitteln. Eine transdisziplinär arbeitende Literaturwissenschaft, die diese Ebenen des Werkes freilegt und sie mit der Gesellschaft verknüpft, macht die Relevanz von Literatur in Krisensituationen deutlich. Die Analysekategorien Grenze und Transgression erweisen sich als fruchtbar, da sich mit ihnen eindrücklich zeigt, wie Gewalt normalisiert und ausgeblendet wird – Literatur sie aber immer wieder sichtbar machen kann.
5 Gewinnbringend wäre es, Christina Rivera Garzas (2013) Twitter-Poesie zu analysieren. Immer wieder dienen performances als künstlerischer Protest, z. B. gegen feminicidios. Während die performance zum einen mit der unmittelbaren Anwesenheit des Publikums arbeitet, verbreiten sich die Videos zum anderen durch das Internet transnational und über den Moment hinaus, wie die chilenische Choreographie „Un violador en tu camino“ zuletzt eindrücklich zeigte (vgl. Colectivo Registro Callejero 2019), die weltweit in performances wiederholt wurde (vgl. Noticieros Televisa 2019).
286 Literaturverzeichnis
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