Verfassungsgerichtsbarkeit, Demokratie und Mißtrauen: Das Bundesverfassungsgericht in einer Verfassungstheorie zwischen Populismus und Progressivismus [1 ed.] 9783428494156, 9783428094158

Das Problem der verfassungsgerichtlichen Läuterung der demokratisch unmittelbar legitimierten Ergebnisse des politischen

135 114 65MB

German Pages 465 Year 1998

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Verfassungsgerichtsbarkeit, Demokratie und Mißtrauen: Das Bundesverfassungsgericht in einer Verfassungstheorie zwischen Populismus und Progressivismus [1 ed.]
 9783428494156, 9783428094158

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ULRICH R. HALTERN

Verfassungsgerichtsbarkeit, Demokratie und Mißtrauen

Schriften zum Öffentlichen Recht Band 751

Verfassungsgerichtsbarkeit, Demokratie und Mißtrauen Das Bundesverfassungsgericht in einer Verfassungstheorie zwischen Populismus und Progressivismus

Von Ulrich R. Haltern

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Haltern, Ulrich R.: Verfassungsgerichtsbarkeit, Demokratie und Mißtrauen : das Bundesverfassungsgericht in einer Verfassungstheorie zwischen Populismus und Progressivismus / von Ulrich R. Haltern. Berlin : Duncker und Humblot, 1998 (Schriften zum öffentlichen Recht ; Bd. 751) Zugl.: Bochum, Univ., Diss., 1997/98 ISBN 3-428-09415-8

Alle Rechte vorbehalten © 1998 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Werner Hildebrand, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 3-428-09415-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier

entsprechend ISO 9706 θ

Dem Andenken Werner von zur Mühlens

Vorwort Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit dem Ineinandergreifen der Institution der Verfassungsgerichtsbarkeit und dem Bild, das das Grundgesetz vom Menschen, insbesondere seiner politischen Identität und seinem Handeln hat. Während Verfassungsgerichtsbarkeit — vor allem im Hinblick auf Gesichtspunkte wie Kontrolldichte, Verfahren zur Entlastung, Kompetenzabgrenzungen gegenüber dem Gesetzgeber, Überprüfung von Fachgerichtsbarkeit usw. — ausführliche Analyse erfahren hat, sind Ausführungen auf der hier angezielten Ebene eher selten. Dies gilt auch für die (noch ausführlichere) Paralleldiskussion in den Vereinigten Staaten, in der Verfassungsrecht ganz überwiegend vom Problem der judicial review ausgeht und darüber hinaus meistenteils unter dem Paradigma der counter-majoritarian difficulty geführt wird. Der unmittelbare Anwendungsnutzen der Arbeit wird daher geringer sein als der einer solchen, die sich detailliert mit Strategien beschäftigt, Kompetenzen abzugrenzen oder das Gericht zu entlasten. Dennoch verbleibt mir die Hoffnung, daß sie der Institution der Verfassungsgerichtsbarkeit eine Analyse zukommen läßt, die gerade für die deutsche Verfassungsdiskussion neue Aspekte zu Tage fördert. Die Arbeit wurde im Wintersemester 1997/98 von der Juristischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum als Dissertation angenommen und befindet sich auf dem Stand vom Frühjahr 1997. Später erschienene Literatur konnte zumeist noch bis Ende 1997 Berücksichtigung finden. Mein Dank richtet sich an erster Stelle an meinen Doktorvater und Erstgutachter Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Knut Ipsen, der mich in vieler Hinsicht auf den Weg gebracht und in einer Weise gefordert hat, die weit über das Maß des „Normalen" hinausgeht. Insbesondere sein Vertrauen in meine Arbeit, verbunden mit viel wissenschaftlicher Freiheit während meiner langen Tätigkeit an seinem Lehrstuhl, haben mich immer wieder angespornt. Ebenso danke ich Prof. Dr. Dr. h.c. Rolf Grawert, der die Mühe des Zweitgutachtens auf sich genommen und mich bei vielen anderen Gelegenheiten gefordert hat. Die Grundlage für diese Arbeit wurde an der Yale Law School gelegt, wo ich das Glück hatte, in die Welt des US-amerikanischen Rechts einzutauchen; meine Zeit als Assistent und Visiting Researcher an der Harvard Law School gab mir Gelegenheit zur Vertiefung der Problematik. Anregungen im Verlaufe mehrerer Aufenthalte an der University of Michigan Law School zwangen mich, manche Thesen zu überdenken.

Vorwort

8

Ohne die äußerst großzügige Unterstützung in jeder Hinsicht und die vielfältigen Anregungen durch Prof. Joseph Weiler (Harvard / Florenz) könnte die Arbeit in dieser Form nicht vorgelegt werden. Er hat mir so viele neue Perspektiven eröffnet, daß mein Dank im Rahmen eines dürren Vorwortes dem in keiner Weise gerecht werden kann. Die Professoren Jack Balkin und Paul Kahn (Yale) haben lang, ausführlich und geduldig mit mir diskutiert und mir viele Anregungen zukommen lassen. Ausgiebiger Dank gebührt auch den Professoren Don Herzog und Jeff Lehman (Michigan) für ihre außergewöhnliche Unterstützung. Professor Dr. Winfried Brugger (Heidelberg) hat die Arbeit in ihren Grundzügen angeregt und ihr durch seine eigenen Schriften an mancher Stelle seinen Stempel aufgedrückt; er sowie die Professoren Dres. Rolf Grawert (Bochum), Dieter Grimm (Karlsruhe) und Peter Häberle (Bayreuth) haben hilfreiche Bemerkungen zu manchen meiner Gedanken gemacht, die z.T. in anderer Form publiziert wurden. Ihnen allen gilt mein herzlicher Dank. Dankbar bin ich auch der Studienstiftung des deutschen Volkes, die mich sowohl während des Studiums als auch während der Promotion mit großer Flexibilität und viel Vertrauen gefordert hat. Die Haniel-Stiftung hat mein Studium in Yale durch ein großzügiges Stipendium ermöglicht, wofür ich ihr sehr dankbar bin. Das European Law Research Center der Harvard University hat sich unkompliziert und zuvorkommend meiner angenommen; auch hierfür bin ich zu Dank verpflichtet. Ohne die Stütze meines persönlichen Umfeldes wäre gar nichts gegangen. Meine Eltern und mein Bruder haben mich ohne Wenn und Aber gestützt und mir damit den — bei weitem nicht nur für diese Arbeit — notwendigen Rückhalt gegeben. Meine Freunde, insbesondere Bethany Berger, daneben Andrea Andor, Hartwig Fuhrmann und Dr. Kerstin Strick haben mehr zur Entstehung der Arbeit beigetragen, als ihnen vielleicht bewußt ist oder als ich ihnen zurückgeben kann. Christian Drepper verdanke ich zahlreiche Anregungen aus den „Nachbarwissenschaften". Dr. Volker Epping gilt Dank für seinen unermüdlichen Ansporn, Martin Berger dafür, daß er mir die Erfahrung eines town meetings (in Saltaire, N.Y.) ermöglicht hat. Matthias Meisborn sowie insbesondere meine Eltern haben mir schließlich bei der Korrektur des Manuskripts geholfen. Die Arbeit ist dem Andenken des Kirchenmusikdirektors Werner von zur Mühlen gewidmet.

Bochum, im Januar 1998

Ulrich Haltern

Inhaltsübersicht

Einleitung

19

Erster Teil Populismus und Progressivismus als verfassungstheoretische Matrix

33

§ 1 Populismus und Progressivismus im Zusammenhang

36

§ 2 Populismus und Progressivismus als verfassungstheoretische Kategorien

40

§ 3 Populismus und Progressivismus — Problemfelder

51

Zweiter Teil Zur Standortbestimmung der deutschen Diskussion § 4 Grundlegendes zur deutschen Diskussion § 5 Zur Inkohärenz der Kritik ( 1 ): Formalistischer Diskurs § 6 Zur Inkohärenz der Kritik (2): Materielle Informiertheit § 7 Zum Verhältnis der Diskurse

67 68 73 96 101

Dritter Teil Bundesverfassungsgericht und pluralistischer Demokratiediskurs

110

§ 8 Klassischer Pluralismus und Neo-Pluralismus

113

§ 9 Bundesverfassungsgericht, Pluralismus und Liberalismus

151

Inhaltsübersicht

10

Vierter

Teil

Konstitutionalismus und Demokratie: Theorien der Verfassungsgerichtsbarkeit

169

§ 10 Konstitutionalismus und Demokratie

172

§ 11 Theorien der Verfassungsgerichtsbarkeit (1): Deutschland

204

§ 12 Theorien der Verfassungsgerichtsbarkeit (2): USA

241

§ 13 Beiträge der Theorien zur dritten Analyseebene

265

Fünfter Teil Gedanken zum Menschenbild: Politisches Handeln, Identität, Solidarität, Konflikt und Institutionalismus

273

§ 14 Politisches Handeln und Pluralismus bzw. Tauschtheorie

276

§15 Politisches Handeln und institutionalistische Theorie

280

§ 16 Konsequenzen aus dem institutionalistischen Modell

293

§ 17 Menschenbild, Omnikompetenz und Grundgesetz

330

Sechster Teil Verringerte verfassungsgerichtliche Kontrolle direkter Demokratie als Testfall des Populismus?

368

§ 18 Romer v. Evans und verfassungsgerichtliche Kontrolle direkter Demokratie in den Vereinigten Staaten 373 § 19 Verfassungsgerichtsbarkeit als bejahte counter-majoritarian Falsches Bewußtsein und Umgang mit dem Bösen

institution : 387

Zusammenfassung

418

Literaturverzeichnis

423

Sachregister

463

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

19

Erster Teil Populismus und Progressivismus als verfassungstheoretische Matrix

§ 1 Populismus und Progressivismus im Zusammenhang

33

36

I. Populismus

36

Π. Progressivismus

37

§ 2 Populismus und Progressivismus als verfassungstheoretische Kategorien

40

I. Populismus

43

Π. Progressivismus

47

§ 3 Populismus und Progressivismus — Problemfelder

51

I. Das Problem der Desubjektivierung

52

Π. Progressivismus und Elitismus

54

ΙΠ. Progressivismus und Civic Republicanism

55

IV. Das Problem der Ideologiekritik

60

V. Das Problem der Politik-Zentriertheit

61

VT. Das Problem der inhärenten Widersprüchlichkeit

64

12

Inhaltsverzeichnis Zweiter Teil Zur Standortbestimmung der deutschen Diskussion

67

§ 4 Grundlegendes zur deutschen Diskussion

68

§ 5 Zur Inkohärenz der Kritik (1 ): Formalistischer Diskurs

73

I. Die Form des formalistischen Diskurses

74

Π. Die Substanz des formalistischen Diskurses

81

ΙΠ. Zur Komplementarität von Form und Substanz des formalistischen Diskurses

§ 6 Zur Inkohärenz der Kritik (2): Materielle Informiertheit

§ 7 Zum Verhältnis der Diskurse

87

96

101

I. Über die Schwierigkeiten im öffentlichen und im Fachdiskurs

101

Π. Veränderte Umfeldbedingungen

107

1. Der Kruzifix-Beschluß und seine Diskussion 2. Konstruktion und Internationalismus Dritter Teil Bundesverfassungsgericht und pluralistischer Demokratiediskurs § 8 Klassischer Pluralismus und Neo-Pluralismus

107 109 110 113

I. Pluralismus der Pluralismen

113

Π. Der klassische Pluralismus

116

1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.

Pluralismus und Gruppen Macht, Ordnimg und politisches Handeln Zur Rolle des Staates Stabilität durch Konsens Kontrolle Abgrenzungen Anspruch (Deskription / Normativität) Anthropologische Grundierung: Utilitarismus

116 118 120 121 123 125 126 128

Inhaltsverzeichnis ΠΙ. Die Kritik des klassischen Pluralismus und der Neo-Pluralismus 1. 2. 3. 4. 5. 6.

Kulturell-geographische und theoretische Insularität Macht Status quo und Partizipation Konsens und Integration Weitere Einwände Absorption durch Neo-Pluralismus

IV. Deutscher Neo-Pluralismus: Ernst Fraenkel 1. Zur Rolle des Staates 2. Die Übernahme anthropologischer Grundierung 3. Der Verlust der Trennschärfe und das neo-pluralistische Paradoxon § 9 Bundesverfassungsgericht, Pluralismus und Liberalismus

132 132 133 133 134 137 138 141 142 146 147 151

I. Bundesverfassungsgericht und Pluralismus

151

Π. Bundesverfassungsgericht, Liberalismus und protektive Demokratie

157

ΠΙ. Konsequenzen

161

1. Unvereinbares wird vereinbar 2. Soziale Demokratie als juridical democracy 3. Anthropozentrismus: Liberalismus, Progressivismus und Bundesverfassungsgericht Vierter

161 162 164

Teil

Konstitutionalismus und Demokratie: Theorien der Verfassungsgerichtsbarkeit § 10 Konstitutionalismus und Demokratie

169 172

I. Zur Grundspannung zwischen Konstitutionalismus und Demokratie

172

Π. Mehrheitsherrschaft und Utilitarismus

174

ΠΙ. Zum deutschen Verfassungsdiskurs

176

1. Zur demokratisch-funktionalen Grundrechtstheorie 2. Vielschichtigkeit der Verknüpfungsebenen von Grundrechten und Demokratie IV. Zu US-amerikanischen Ausgleichsversuchen 1. Ronald Dworkin: Zur Reichweite von Demokratie 2. Stephen Holmes: Zur Funktion von Konstitutionalismus V. Verfassungsgerichtsbarkeit als Fokus: Drei Ebenen der Analyse

177 180 186 188 194 199

14

Inhaltsverzeichnis

§ 11 Theorien der Verfassungsgerichtsbarkeit ( 1 ): Deutschland

204

I. Bundesverfassungsgerichtliche Methode als Ausgangspunkt

204

Π. Kompetenzabgrenzungen

209

1. Grundlagen der Weimarer Debatte

209

2. Kompetenzbestimmungen in der neueren Diskussion

211

a) b) c) d) e)

Das Gewaltenteilungsprinzip Die Political Questions-Doktrin Der „Grundsatz" des Judicial Self-Restraint Insbesondere: Die Entgegensetzung von Recht und Politik Der funktionell-rechtliche Ansatz

ΙΠ. Gesamtgesellschaftliche Ansätze 1. Kapitalismuskritik: Massing, Schlothauer

211 212 215 217 220 224 226

a) Otwin Massing

226

b) Reinhold Schlothauer

226

2. Ideologiekritik: Ladeur, Preuß

227

a) Karl-Heinz Ladeur b) Ulrich Κ Preuß 3. Integrationstheorie: Pluralistische Theorien der Verfassungsgerichtsbarkeit (Peter Häberle, Ingwer Ebsen)

227 228

a) Peter Häberle b) Ingwer Ebsen

§ 12 Theorien der Verfassungsgerichtsbarkeit (2): USA I. Das „antidemokratische" Modell

229 230 237

241 245

1. Die originalistische Variante (Bork, Rehnquist)

245

2. Die politische Variante (Tushnet, Chemerinsky)

250

Π. Das „demokratische" Modell 1. Das Modell der aufgeklärten Präferenzen (Bickel, Ackerman) 2. Das Partizipations-orientierte Modell (Ely) 3. Das Rechte-orientierte Modell (Dworkin u.a.)

§ 13 Beiträge der Theorien zur dritten Analyseebene

253 253 256 262

265

Inhaltsverzeichnis Fünfter Teil Gedanken zum Menschenbild: Politisches Handeln, Identität, Solidarität,Konflikt und Institutionalismus

273

§ 14 Politisches Handeln und Pluralismus bzw. Tauschtheorie

276

§ 15 Politisches Handeln und institutionalistische Theorie

280

I. Politisches Handeln

283

Π. Normen und Identitäten

284

LH. Liberalismus, Kommunitarismus und Institutionalismus

288

§ 16 Konsequenzen aus dem institutionalistischen Modell

293

I. Einheit, Vielfalt und der Staat

294

Π. Das Projekt der Erziehung

299

1. 2. 3. 4. 5.

Zum „Ob" eines didaktischen Elementes Zum „Wie" eines didaktischen Elementes Das Problem eines fehlenden demokratischen Fundaments Zum Umfang staatlichen Engagements Exkurs zur Zivilgesellschaft a) Karl Albrecht Schachtschneiders „Republiklehre" b) Radikale Demokratie: Ulrich Rödel, Günter Frankenberg und Helmut Dubiel c) System und Lebenswelt: Jürgen Habermas, Jean Cohen und Andrew Arato d) Kompatibilität von funktionaler Differenzierung der Gesellschaft und Zivilgesellschaft? — Zivilgesellschaft als associative democracy oder als Begleitsemantik der Inklusion

6. Konsequenzen

§ 17 Menschenbild, Omnikompetenz und Grundgesetz

301 303 309 311 314 315 316 318

322 327

330

I. Walter Lippmann, Philip Converse und der omnikompetente Bürger

331

Π. Menschenbild und Grundgesetz

338

1. Menschenbild des Grundgesetzes? 2. Bezugsgrößen des grundgesetzlichen Menschenbildes 3. Insbesondere: Kantische Einflüsse

341 343 346

Inhaltsverzeichnis

16

4. Pessimistisches und Optimistisches zum Menschenbild

350

a) „Pessimistische" Ambivalenz b) „Optimistische" Ambivalenz

352 355

5. Grundgesetzliches Menschenbild und institutionalistische Theorie

362

Sechster Teil Verringerte verfassungsgerichtliche Kontrolle direkter Demokratie als Testfall des Populismus?

368

§ 18 Romer v. Evans und verfassungsgerichtliche Kontrolle direkter Demokratie in den Vereinigten Staaten

373

I. Direkte Demokratie in den USA

373

Π. Kontrolle direkter Demokratie ?

374

ΙΠ. Colorado Amendment 2 und Romer v. Evans

376

IV. Skizze von Argumenten für und wider direkte Demokratie und Konsequenzen für verfassungsgerichtliche Kontrolle

§ 19 Verfassungsgerichtsbarkeit als bejahte counter-majoritarian

381

institution :

Falsches Bewußtsein und Umgang mit dem Bösen

387

I. Falsches Bewußtsein und Umgang mit dem Bösen

387

Π. Counter-majoritarianism als Positivum

392

1. Das Nebeneinander von Populismus und Progressivismus: Kontrolle und lernender Souverän 2. Exkurs: Zur Zweischneidigkeit von Verantwortlichkeit a) b) c) d) e) f) g)

Zur Psychologie von Verantwortlichkeit Deliberation und Handlung Lang- und Kurzfristigkeit Personeller Verantwortungsbereich Ergebnis- versus Handlungsverantwortlichkeit Persönliche Verantwortlichkeit als Komplexitätsreduktion Warum Verantwortlichkeit ?

3. Verfassungsrechtsprechung als knappes Gut ? Counter-majoritarianism und Dialog

393 398 400 402 403 404 406 407 408 410

Inhaltsverzeichnis

17

Zusammenfassung

418

Literaturverzeichnis

423

Sachregister

463

2 Haltern

Einleitung

In America, in contrast to Germany, it is the People who are the source of rights. Bruce Ackerman

1

[The Supreme Court] has embarked on a course of inscribing one after another of the current preferences of the society (and in some cases only the counter-majoritarian preferences of the society's law-trained elite) into our basic law. Justice Antonin Scalia 2

Verfassungsgerichtsbarkeit als solche gibt immer wieder Anlaß zur kontroversen Stellungnahme. Die Bundesrepublik mit der starken Stellung des Bundesverfassungsgerichts bildet in dieser Hinsicht keine Ausnahme.3 Der vehe1

Bruce Ackerman, We the People I: Foundations, Cambridge (Mass.) 1991, S. 15.

2

Dissenting Opinion im Fall United States v. Virginia et ai (zur Zulassung von Frauen zum Militär-College Virginia Military Institute [V.M.I.]), Urteil vom 26.6.1996 (Docket 94-1941), 116 S. Ct. 2264 (1996). 3 Z.T. wird sogar vertreten, daß die Lage in der Bundesrepublik einzigartig sei. Vgl. etwa die Aussage Ingwer Ebsens gleich zu Beginn seiner tiefgründigen Abhandlung über das Bundesverfassungsgericht: „Das ,Schielen nach Karlsruhe' als Vorwirkung der Möglichkeit, nahezu alle ernsthaften politischen Streitfragen auch vor das Verfassungsgericht zu bringen, erzeugt eine verfassungsjuristische Überlagerung des politischen Prozesses, die man wohl zur spezifischen politischen Kultur' der Bundesrepublik zählen kann." Ingwer Ebsen, Das Bundesverfassungsgericht als Element gesellschaftlicher Selbststeuerung, S. 11. Jedoch ist das „Schielen nach Karlsruhe" nur ein Ausdruck einer allgemeineren Entwicklung innerhalb des gesellschaftlichen und politischen Prozesses. Politischer Diskurs als Verfassungsdiskurs ist keineswegs eine typisch deutsche Eigenheit. Je deutlicher wird, daß traditionelle Wege der Integration moderner Gesellschaften versagen, um so stärker rückt die Verfassung als Instrument der gesellschaftlichen Integration in den Mittelpunkt, eine Entwicklung, die Jürgen Habermas bereits in den siebziger Jahren mit dem Stichwort des Verfassungspatriotismus angedeutet hat. Möglicherweise aber — und hier ist Ebsen Recht zu geben — nennt die politische, vor allem aber die Rechtskultur der Bundesrepublik Charakteristika ihr eigen, die den Verfassungsdiskurs besonders penetrant an die Oberfläche des politischen Diskurses treten lassen.

Einleitung

20

ment kritisierten Entscheidungen sind es zu viele, um sie an dieser Stelle aufzuführen: Allein in jüngster Zeit haben etwa die zweite Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch, der sog. Kruzifix-Beschluß, die Entscheidung zu § 240 StGB, die Maastricht-Entscheidung, die Entscheidungen zu Einsätzen der Bundeswehr „out of area" und zum Ehrschutz oder zuletzt der Beschluß des Ersten Senats zur Arzthaftung bei fehlgeschlagener Sterilisation und fehlerhafter genetischer Beratung4 die Wellen der öffentlichen Kritik hochschlagen lassen. Ein ganzes Bündel leicht nachvollziehbarer Merkwürdigkeiten im Hinblick auf die Institution der Verfassungsgerichtsbarkeit dient dabei als Katalysator. Zuvörderst zu nennen ist zum einen die „Zwitterstellung" des Bundesverfassungsgerichts. 5 Zunächst konzipiert als „politisches" Verfassungsgericht (im Gegensatz zu den Juristischen" Obersten Bundesgerichten) ist es dennoch verortet im IX. Kapitel des GG, „Rechtsprechung". Damit ist seine Qualität die eines ^politisch akzentuierten' Gerichts"6; die Systemtheorie, die Verfassung als solche als Instrument struktureller Kopplung zwischen politischem und Rechtssystem begreift, würde das Verfassungsgericht im Brennpunkt eben dieser Koppelung ansiedeln.7 Einseitige Zuordnungen und Mißverständnisse dieser Doppelfunktion, die häufig willentlich oder unwillentlich die jeweils andere Seite des Verfassungsgerichts außer acht lassen, fuhren immer wieder zu scharfer Kritik. 8 Daneben liegt die weit offene Flanke

4

Letzterer Beschluß vom 12. November 1997, Aktenzeichen 1 BvR 479/92 und 307/94, veröffentlicht in EuGRZ 1997, S. 635 ff. Die Kritik an diesem Beschluß knüpfte nicht nur an die Rechtsprechung des Ersten Senats zur Frage „Kind als Schaden" an, sondern an die Verweigerung der vom Zweiten Senat ausdrücklich gewünschten Anrufung des Plenums des Bundesverfassungsgerichts gem. § 16 BVerfGG (der Beschluß des Zweiten Senats vom 22.10.1997 mit der Aufforderung an den Ersten Senat, zur Frage „Kind als Schaden" das Plenum anzurufen, ist abgedruckt in EuGRZ 1997, S. 645 ff). 5

Hierzu nur Helmuth Schulze-Fielitz, Das Bundesverfassungsgericht in der Krise des Zeitgeists, AöR 122 (1997), S. 1ff. (14 ff). 6

Alfred Rinken, Alternativkommentar zum Grundgesetz, vor Art. 93, Rdnr. 39.

7

Vgl. nur Niklas Luhmann, Verfassung als evolutionäre Errungenschaft, Rechtshistorisches Journal Vol. 9 (1989), S. 176 ff; ders., Das Recht der Gesellschaft, 1993, v.a. S. 468 ff; ders., Operational Closure and Structural Coupling: The Differentiation of the Legal System, Cardozo Law Review 13 (1992), S. 1419. Kritisch hierzu etwa Günter Frankenberg, Die Verfassung der Republik, 1996, S. 28 ff. 8

Gleiches gilt — dies soll nicht unerwähnt bleiben — für die Verteidiger des Verfassungsgerichts. Während die eine Seite dem Bundesverfassungsgericht etwa Mißverständnisse anlastet, die die Medien durch nicht ausreichend gründliche Lektüre eines in der Formulierung schwierigen verfassungsgerichtlichen Textes hervorrufen, da ihrer Ansicht nach das Verfassungsgericht seine politische Verantwortung des klaren und verständlichen Ausdrucks nicht wahrgenommen habe, argumentiert die Gegenseite, daß das Verfassungsgericht eben immer noch ein Gericht sei und als solches sich

Einleitung

der Verfassungsgerichtsbarkeit in ihrer angreifbaren demokratischen Legitimation. Wie kann demokratisch legitimiert werden, daß verfassungsgerichtliche Dezision die Entscheidungen des direkt vom Volk gewählten Gesetzgebers korrigiert? Wie ist mit der Tatsache umzugehen, daß in der Institution der Verfassungsgerichtsbarkeit die beiden Teile des Begriffes „Verantwortung" auseinanderfallen, die in der deutschen Sprache nur einheitlich in diesem Wort zusammengefaßt werden können, für die das Englische aber die Begriffe „responsibility" und „accountability" gefunden hat?9 Alfred Rinken formuliert dieses Problem treffend: „Die vom GG institutionalisierte verfassungsgerichtliche Sicherung des Verfassungsvorrangs ist mit schwerwiegenden demokratietheoretischen Folgeproblemen verbunden: Wie kann verhindert werden, daß die vom BVerfG ausgeübte Entscheidungsmacht zu einer Verlagerung des politischen Gravitationszentrums vom demokratisch strukturierten Prozeß, insbesondere vom demokratisch unmittelbar legitimierten und politisch kontrollierten Gesetzgeber, auf das demokratisch nur mittelbar legitimierte und politisch nicht kontrollierte BVerfG führt?" 10

Diese beiden Hauptangriffspunkte treffen auf die Institution Verfassungsgerichtsbarkeit als solche zu, vor allem, wenn sie vom Parlament — als Repräsentanten des Volkes — erlassene Gesetze kontrolliert und im Bedarfsfalle invalidiert. Diese Erkenntnis ist nicht neu; in den Vereinigten Staaten bildet das Problem der „«counter-majoritarian difficulty " spätestens seit dem bahnbrechenden Beitrag Alexander Bickels unter dem ironisch gemeinten Titel „The Least Dangerous Branch" 11 das allen verfassungsrechtlichen Diskurs begleitende und in der Tat anführende Paradigma. Insoweit könnte — insbesondere in bezug auf demokratietheoretische Probleme — getrost auf die gedankenreiche und lebhafte amerikanische Diskussion verwiesen werden, auch wenn dem Vorbehalt Rudolf Dolzers zuzustimmen ist, daß „ein Rechtsvergleich des Bunder juristischen Fachsprache zu bedienen das Recht und die Pflicht habe. So geschehen in der Diskussion der Kruzifix-Entscheidung. 9 Weniger klar als das Englische ist insoweit der Begriff der Verantwortlichkeit. Jedoch hilft auch dieser weiter, als es sich bei der Notwendigkeit einer „erkennbaren Verantwortlichkeit im Staat" um einen „verfassungsrechtlichen Grundsatz" (Peter Badura, Verfassung, Staat und Gesellschaft in der Sicht des Bundesverfassungsgerichts, in: Christian Starck [Hrsg.], Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz, Festgabe aus Anlaß des 25jährigen Bestehens des Bundesverfassungsgerichts, Bd. 2, 1976, S. 1 ff, hier 17) handelt. BVerfGE 9, 268 (281): „Die demokratische und rechtsstaatliche Herrschaftsordnung des Grundgesetzes setzt erkennbare Verantwortlichkeit im Staat... voraus." Dieses Postulat bedarf weiterer Analyse. Vgl. ausführlicher unten 6. Teil, § 19 Π.2. 10 11

Alfred Rinken, Alternativkommentar zum Grundgesetz, vor Art. 93, Rdnr. 4.

Alexander M Bickel , The Least Dangerous Branch — The Supreme Court at the Bar of Politics, 1962. Bickel spielt auf die berühmte Formulierung im Federalist No. 78 an.

Einleitung

22

desVerfassungsgerichts mit dem Supreme Court wegen der Verflochtenheit der beiden Institutionen mit dem jeweiligen Rechtssystem, mit den verschiedenen politischen Faktoren und mit der Historie des betreffenden Landes nur in beschränktem Umfang in sinnvoller Weise vorgenommen werden kann" 12 (wobei insbesondere Dolzers drittes Kriterium — Historie — kaum überschätzt werden kann). Anstatt eines reinen Verweises, etwa in der Form eines kurzen Aufsatzes mit einem umfassenden Literaturverzeichnis, wird nunmehr eine ausführliche Abhandlung vorgelegt — ein Unternehmen, das der Rechtfertigung bedarf. Das vorrangige Interesse der Arbeit gilt der Verbindung, die zwischen der Institution der Verfassungsgerichtsbarkeit und einem Phänomen besteht, das sich sowohl im Grundgesetz selbst als auch in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sowie in der Staatsrechtslehre und bei Vertretern des politischen Prozesses findet und das vorliegend als „Progressivismus" bezeichnet werden soll. Damit wird nicht — wie etwa in den pointierten Beiträgen Brun-Otto Brydes n oder Joseph Weilers 14 — eine Kritik der materiellen Konzeption angezielt, die das Bundesverfassungsgericht sowie die herrschende Staats- und Verfassungslehre dem Volksbegriff des Grundgesetzes unterlegen. Vielmehr geht es primär um einen prozeduralen Volksbegriff, der Stellung, Status und Einflußmöglichkeiten „des Volkes" und „des Bürgers" an sich im Verfassungsgefüge der Bundesrepublik lokalisiert. Worin sich die Bundesrepublik diesbezüglich von anderen Staaten unterscheidet, ist ein geradezu spürbares Mißtrauen gegenüber dem Volk als Handlungseinheit. Das Grundgesetz konzipiert das deutsche Regierungssystem als Repräsentativdemokratie, und angesichts der offensichtlichen Unmöglichkeit Athener oder Genfer unmittelbarer Demokratie im modernen Flächen- und Massenstaat war dies für die Gründerväter der Republik eine leichte Wahl. Eine andere Frage hingegen ist es, die Bundesrepublik als ausschließlich repräsentative Demokratie zu begreifen. Immerhin formuliert Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG den Grundsatz der Volkssouveränität dergestalt, daß das Volk durchaus als Handlungseinheit vorkommt, und zwar nicht nur im Hinblick auf regelmäßig wiederkehrende Wahlen: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in 12

Rudolf Dolzer, Die staatstheoretische und staatsrechtliche Stellung des Bundesverfassungsgerichts, 1972, S. 9. Hierzu zuletzt auch Christian Rau, Selbst entwickelte Grenzen in der Rechtsprechung des United States Supreme Court und des Bundesverfassungsgerichts, 1996, S. 246 ff Zum amerikanischen Verfassungsverständnis und dem ,American exceptionalism" insgesamt Hans Vorländer, Forum Americanum, JöR N.F. Bd. 36(1987), S. 451 ff 13

Brun-Otto Bryde, Die bundesrepublikanische Volksdemokratie als Irrweg der Demokratietheorie, Staatswissenschaften und Staatspraxis 1994, S. 305 ff. 14 J.H.H. Weiler, The State ,über alles' — Demos, Telos and the German Maastricht Decision, in: Ole Due et al. (Hrsg.), FS Ulrich Everling, S. 1651 ff ; deutsche Fassung nunmehr in JöR N.F. Bd. 44 (1996), S. 91 ff

Einleitung

Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt." Dem unbefangenen Leser drängt sich die Vorstellung auf, daß das Grundgesetz eine Synthese aus unmittelbarer (mit dem Volk als handelndem Subjekt — Art. 20 Abs. 2 S. 2, 1. Teil) und repräsentativer (mit demokratisch legitimierten Organen als handelnden Subjekten — Art. 20 Abs. 2 S. 2, 2. Teil) Demokratie konzipiert. Von diesem Standpunkt aus muß es zumindest verwundern zu lernen, daß das Volk als Verfassungsorgan an recht kurzer Leine gehalten wird. Wohl dürfte es überzogen sein, von einer völligen „Entmündigung" des Volkes zu sprechen oder der „Abtrennung der Volkssouveränität vom wirklichen Volk" unter Hinweis auf die Formulierung des Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG, in dem Volkssouveränität als vom Volk „aus- bzw. weggehend begriffen" werde.15 Doch ist es richtig, daß die Entscheidung des Grundgesetzes für die mittelbare Demokratie sowie die Ausformung dieser Entscheidung durch die nachfolgende Staatspraxis „schmerzlich empfundene Lücken in der Rolle des Volkes bei der politischen Willensbildung hinterlassen" hat.16 Noch heute wird etwa vertreten, daß Volksbefragungen nicht nur verfassungswidrig seien, sondern auch durch Verfassungsänderung nicht eingeführt werden können.17 Es wird sichtbar werden, daß dieser Anti-Popularaffekt mit der Frage nach der Legitimation und der Reichweite von Verfassungsgerichtsbarkeit verschränkt ist. Dies wird bereits begrifflich dadurch deutlich, daß unmittelbare Demokratie auf das Mehrheitsprinzip in seiner Urform verweist, während Verfassungsgerichtsbarkeit als solche eine anti-majoritäre Einrichtung dar15 So etwa Karl Mittermaier / Meinhard Mair, Demokratie - Die Geschichte einer politischen Idee von Plato bis heute, 1995, S. 181. Die Interpretation von Art. 20 Π 1 GG, die Volkssouveränität gehe vom Volke aus und also vom Volke weg, dürfte wohl eher dem Bereich der Polemik zuzuordnen sein und weniger den Anforderungen juristischer Auslegung genügen. Vgl. auch die Beiträge in Bernd Guggenberger / Andreas Meier (Hrsg.), Der Souverän auf der Nebenbühne. Essays und Zwischenrufe zur deutschen Verfassungsdiskussion, 1994. 16

Peter Cornelius Mayer-Tasch, Politische Theorie des Verfassungsstaates, 1991, S. 96. Dieser Gedanke spielt auch eine führende Rolle in den Überlegungen von Ernst Gottfried Mahrenholz, Die Verfassung und das Volk, 1992. Rudolf Smend, in einem auf das Jahr 1969 zurückdatierenden Beitrag, meint gar, daß die Staatsrechtslehre „zu keiner befriedigenden Theorie der Demokratie als Kernstruktur der Verfassung gelangt ist" und fahrt fort: „Ein Schmerzenskind der deutschen Staatstheorie ist die Demokratie allerdings überhaupt." Rudolf Smend, Deutsche Staatsrechtswissenschaft vor hundert Jahren — und heute, nunmehr wiederabgedruckt in ders., Staatsrechtliche Abhandlungen und andere Aufsätze, 3. Aufl. 1994, S. 609 ff. (618). 17 Vgl. etwa Peter Krause, Verfassungsrechtliche Möglichkeiten unmittelbarer Demokratie, in: Josef Isensee / Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland Bd. Π, § 39 Rdnr. 7. Weitere Nachweise bei Karsten Bugiel, Volkswille und repräsentative Entscheidung - Zulässigkeit und Zweckmäßigkeit von Volksabstimmungen nach dem Grundgesetz, 1991, S. 79 ff.

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stellt.18 Doch weit über diese Begrifflichkeit hinaus kreuzen sich die Wege dieser beiden Aspekte des Verfassungslebens. Sie konvergieren etwa im Hinblick auf ihre Geschichtsgebundenheit. Allgemein bekannt und akzeptiert ist, daß „die Lehren von Weimar", aus denen die Entwürfe zum Grundgesetz die Konsequenzen gezogen haben, zu einer stark verkürzten Rolle des Volkes im politischen Prozeß geführt haben. Nicht nur Weimar, sondern auch die Zeit des Nationalsozialismus ließ die politische Elite der jungen Bundesrepublik (und ebenso die Alliierten) mißtrauisch sein gegenüber der Demokratiefahigkeit des deutschen Volkes.19 Dieses Mißtrauen, das in der Mitte dieses Jahrhunderts angesichts der anti-demokratischen Geschichte Deutschlands nicht nur nachvollziehbar, sondern möglicherweise ebenso berechtigt war, ist der Ursprung beider in Frage stehenden Phänomene: des Anti-Popularaffektes einerseits, und der starken Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit andererseits. Auf diesem gemeinsamen Ursprung aufbauend kann eine weitere Schnittmenge der beiden Problembereiche „Verfassungsgerichtsbarkeit" und „Volksdemokratie" identifiziert werden, nämlich das Verständnis des politischen Prozesses seitens des Bundesverfassungsgerichts. Eine Analyse der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung wird zeigen, daß das Gericht durch eine inkohärente Theoretisierung des politischen Prozesses, die die Grenzziehung zwischen Liberalismus und Pluralismus aufweicht und quasi selbstläuferisch auf ein unvermeidbares Maß von Staatszentriertheit zusteuert, das Mißtrauen des Grundgesetzes vis-à-vis der demokratischen Potenz des deutschen Volkes nicht nur zu teilen, sondern verstärkt zu internalisieren scheint. Die Konsequenz ist ein progressivistisches Verständnis von Demokratie.20 All die Elemente, die wohlbekannt sind — etwa die von Ernst Fraenkel theoretisch aufgearbeitete Pluralismustheorie, Repräsentation, die Vermittlung politischer Willensbildung durch die politischen Parteien usw. — sind völlig unstreitig im Grundgesetz angelegt. Doch kann umgekehrt nicht behauptet werden, daß die verfassungsgerichtliche Ausformung der Vorgaben des Grundgesetzes die einzig mögliche gewesen ist. Zum einen nämlich ist es das Wesen des Verfassungsrechts, abstrakt, allgemein und häufig vieldeutig lediglich Rahmenordnungen festzulegen, nicht aber Detailvorgaben zu machen, die nur noch durchgeführt werden müßten, so daß fast immer mehrere, manchmal gar diametral gegenläufige Interpretationen im Verfassungstext eine Stütze finden. 18 Diese Gedanken bedürfen freilich einer näheren Analyse, hierzu etwa unten Teile 4 und 6. 19

Was selbstverständlich eine Verkürzung gegenüber der politischen Rolle von Eliten in der Weimarer Republik oder während des Nationalsozialismus darstellt. Vgl. statt aller nur Peter Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft, 2 Bde., 1983. 20

Zur ausführlicheren Begriffsklärung (Progressivismus / Populismus) sei an dieser Stelle auf den 1. Teil verwiesen.

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Zum anderen legt sich das Grundgesetz nicht auf eine einzige Demokratietheorie fest. 21 Unter diesen Umständen liegt es nahe, die Pluralismusorientierte Rechtsprechung des Gerichts einer näheren Analyse zu unterziehen und in der Zusammenschau mit Aspekten des Liberalismus daraufhin zu befragen, ob sie nicht ein Verständnis des politischen Prozesses privilegiert, das — zumindest unter heutigen Vorzeichen — der Politik und hier auch der Einbeziehung des Bürgers zu mißtrauisch begegnet. In Frage steht hierbei auch das Selbstverständnis des Bundesverfassungsgerichts. Die den Progressivismus kennzeichnenden Elemente — etwa der Glaube an das gebildete und zivilisierte Individuum, an Einsicht in das öffentliche Wohl und Interesse, an rationale Deliberation und an Expertise als Instrument auf dem Weg zu vernünftigen politischen Entscheidungen, einhergehend mit der nur geringen Sorge über Machtzentralisierung und -konzentration —, führen in vielfacher Hinsicht auf das Bundesverfassungsgericht selbst zurück. Es liegt aus progressivistischer Sicht nahe, den öffentlichen Diskurs zu filtern und zu läutern, ihn außerdem seitens eines weisen und wissenden Staates managen zu lassen — wer käme dafür besser in Betracht als etwa eine Institution, die aus außergewöhnlich qualifizierten und gebildeten Frauen und Männern besteht und deren institutionalisierte Verfahrensprozedur allen Beteiligten Gehör gewährt und dabei obendrein einen deliberativen Entscheidungsprozeß garantiert? 22 Wenn Progressivismus für das Ideal einer guten Regierung („good government") und einer aufgeklärten Politik im Namen des öffentlichen Wohls und Interesses steht, dann muß dem Verfassungsgericht nach dieser Logik eine exponierte Rolle im Hinblick auf die Läuterungs- und Filterfunktion des Staates zufallen. Dies gilt um so mehr, als sich in der Bundesrepublik der erwähnte Anti-Popularaffekt aus tiefen historischen Traumata speist. Einem Volk, dem Demokratiebewußtsein und demokratische Kultur (noch) nicht zugetraut werden kann, sind diese Dinge anzuerziehen. Hierbei ist — ganz im //ege/schen Sinne der bürgerlichen Gesellschaft als Sphäre des universalen Egoismus und des Staates als Sphäre des universellen Altruismus — die öf21

Allgemeine Auffassung; statt aller nur Ekkehart Stein, Art. 20 Abs. 1-3 Π: Demokratie, in: Alternativkommentar zum Grundgesetz, 2. Aufl. 1989, Rdnr. 21. 22

Die Ähnlichkeit mit den Argumenten der Befürworter einer starken judicial review sind durchaus gewollt; vgl. etwa Owen Fi ss, Objectivity and Interpretation, 34 Stanford Law Review 739 (1982), aber auch — aus dem Lager des Civic Republicanism — Cass R. S uns te in, etwa The Partial Constitution, 1993, oder der s., Democracy and the Problem of Free Speech, 1994. Selbst Juristen, die die Reichweite richterlicher Prüfungskompetenz beschneiden wollen, können sich von dieser verbreiteten Auffassung nicht freimachen: im Ansatz etwa John Hart Ely , Democracy and Distrust - A Theory of Judicial Review, 1980, S. 102 f. Vgl. im deutschsprachigen Schrifttum nunmehr Oliver Gerstenberg, Bürgerrechte und deliberative Demokratie — Elemente einer pluralistischen Verfassungstheorie, 1997.

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fentliche Tugend und Gerechtigkeit der staatlichen Organe gefragt. 23 Das Verfassungsgericht trifft, immer im Denkschema des Progressivismus, hierbei eine besondere Verantwortung, ist es doch, anders als etwa der Bundestag, gerade nicht Repräsentant des Volkes und damit per se abseits des zu läuternden Diskurses.24 Es kann kaum verwundern, daß stellenweise die Vermutung naheliegt, daß das Bundesverfassungsgericht sich in der Rolle eines benevolenten Herrschers und Erziehers wähnt. Damit gelangte man zu der zumindest in historischer Dimension paradoxen Situation, daß das Bundesverfassungsgericht sich einerseits mit der noblen Aufgabe betraut sieht, die junge Demokratie in Nachkriegsdeutschland zu stabilisieren und im Bewußtsein der Bevölkerung zu festigen, sich zu diesem Zwecke aber andererseits auf den manchmal zweifelhaften Boden eines einseitigen Progressivismus stellt und damit von einer —zumindest heute nur beschränkt angemessen erscheinenden — Basis aus operiert, die den Ansprüchen des eigenen, d.h. bundesverfassungsgerichtlichen, Demokratiediskurses nicht immer vollumfanglich genügt. Diese Paradoxie verschärft sich insofern, als das Unterfangen des Verfassungsgerichts von Erfolg gekrönt gewesen ist. Die Bundesrepublik ist heute im wesentlichen ein Staat mit ausgeprägtem, kritischen Demokratiebewußtsein in der Bevölkerung sowie von bemerkenswerter Stabilität, was nicht zuletzt dem Bundesverfassungsgericht zu verdanken sein mag.25 Dennoch gerät jener Auftrag zu „Erziehung durch Verfassungsjudikatur" gerade in Anbetracht des Erfolges zumindest unter Rechtfertigungsdruck. Dies gilt um so mehr aus dem Blickwinkel des Progressivismus, wenn unter dem Volk, das zum großen Teil aus dem politischen Prozeß herausgehalten wird, insbesondere das gebildete Bürgertum verstanden wird, wie es etwa Peter Cornelius Mayer-Tasch zu tun scheint, wenn er seiner Beobachtung die folgende Formulierung gibt: „Die Beschränkung der politischen Willensbildung der Bevölkerung erscheint nicht zuletzt auch im Hinblick auf die wachsende (politische) Bildung der Bevölkerung als anachronistisch. Von seinen Anfängen an hatte das System der repräsentativen Demokratie den Kurzschluß von besitzendem, gebildetem und politisch wirksamem Bürgertum vollzogen; um so weniger läßt sich der völlige Ausschluß (nicht zuletzt) der gebildeten Bürger aus den Regierungs- und Gesetzgebungsgeschäften nachvollziehen..."

23

Zur Verbindung mit Hegel vgl. noch unten 3. Teil, § 9 ΠΙ.3.

24

Auch diese Überlegungen — mögen sie auch auf den ersten Blick einsichtig und logisch erscheinen — sind durchaus nicht selbstverständlich. Einflußreiche Theorien der Verfassungsgerichtsbarkeit in den USA etwa verstehen jene mit guten Gründen als grundsätzlich repräsentative Institution. Vgl. etwa unten 4. Teil, § 12 Π. 1. 25

S. 46 f.

Vgl. etwa Josef Isensee, Am Ende der Demokratie — oder am Anfang?, 1995,

Einleitung An gleicher Stelle spricht Mayer-Tasch auch potentielle Gefahren an, die sich aus einer solchen Haltung ergeben können: „Zu glauben, daß man einerseits die — von den Alliierten nach dem Zweiten Weltkrieg nachdrücklich in Gang gebrachte und geförderte — politische Bildung forcieren und andererseits die Bevölkerung auf dem Partizipationsniveau des 19. Jahrhunderts belassen könne, ist ein Trugschluß, der gerade für die Beständigkeit der Demokratie zur Unzeit fatale Folgen haben könnte."26 Ein weiteres Paradox also: Aus dem Erfolg einer manchmal mit elitistischen Tendenzen identifizierten, progressivistischen Demokratietheorie mag der Schluß zu ziehen sein, daß dieser Boden nunmehr zu verlassen ist zugunsten eines Demokratieverständnisses, das für Pateraalismus weniger Raum läßt. Ein weiterer Aspekt übt zusätzlichen Druck auf das verfassungsgerichtliche Verständnis des politischen Prozesses aus, nämlich die zunehmende Tendenz zur gesellschaftlichen Selbstregulierung. Bei weitem nicht nur die Systemtheorie beobachtet eine Erosion staatlicher Steuerungsfähigkeit 27, die u.a. auf die wachsende horizontale (und somit vom Staat abgelöste) Selbstkoordination gesellschaftlicher Akteure zurückzuführen ist. In den Worten von Jürgen Gebhard und Rainer Schmalz-Bruns: ,,[D]ie Gesellschaft [gewinnt] im Zusammenwirken einer repolitisierten öffentlichen Handlungssphäre mit korporativen und staatlichen Akteuren zunehmend an Autonomie, an der sich die integrative Wirkung hierarchischer Kontrolle abschleift." 28 Es bleibt zu untersuchen, ob es für die Verfassungsgerichtsbarkeit Sinn macht, quasi im Wider-

26

Beide Zitate bei Peter Cornelius Mayer-Tasch, sungsstaates, 1991, S. 100 f.

Politische Theorie des Verfas-

27 Vgl. etwa die Beiträge in Dieter Grimm (Hrsg.), Wachsende Staatsaufgaben — sinkende Steuerungsfahigkeit des Rechts, 1990; ders. (Hrsg.), Staatsaufgaben, 1994. Aus der Literatur mit systemtheoretischen Hintergrund etwa Helmut Willke, Ironie des Staates, Grundlinien einer Staatstheorie polyzentrischer Gesellschaft, 1992; ders., Abwicklung der Politik, in: Siegfried Unseld (Hrsg.), Politik ohne Projekt? Nachdenken über Deutschland, 1993, S. 54 ff. (etwa 58 ff); Gunther Teubner, Recht als autopoietisches System, 1989; Gunther Teubner/ Helmut Willke, Kontext und Autonomie: Gesellschaftliche Selbststeuerung durch reflexives Recht, Zeitschrift für Rechtssoziologie 6 (1984), S. 4 ff ; Niklas Luhmann, Metamorphosen des Staates, in: ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik, Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd. 4, 1995, S. 101 ff; Thomas Vesting , Staatslehre als Wirklichkeitswissenschaft?, Der Staat 31 (1992), S. 161 ff; zuletzt die Beiträge von Matthias SchmidtPreuß und Udo Di Fabio , Verwaltung und Verwaltungsrecht zwischen gesellschaftlicher Selbstregulierung und staatlicher Steuerung, VVDStRL 56 (1997), S. 160 ff. bzw. 235 ff. 28 Jürgen Gebhard / Rainer Schmalz-Bruns, Was hält heutige Gesellschaften politisch zusammen?, in: dies. (Hrsg.), Demokratie, Verfassung und Nation. Die politische Integration moderner Gesellschaften, 1994, S. 7 ff (13 f.).

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stand gegen diese zunehmende Selbstregulierung der Gesellschaft beharrend die eigene Autorität im bisherigen Sinne zu behaupten. Grundierendes Vorverständnis der Untersuchung wird daher sein, daß aus den gewandelten Rahmenbedingungen, insbesondere den vorhandenen gesellschaftlichen Voraussetzungen der Demokratie sowie aus den Anforderungen des modernen Staates, möglicherweise die Konsequenz zu ziehen ist, Alternativen zumindest gewissenhaft zu prüfen. Dies bezieht sich auf alle genannten Punkte, insbesondere aber auf den Appell, mehr Vertrauen in den politischen Prozeß und in die gesellschaftliche Selbstregulierung zu investieren.29 Es mag m.a.W. an der Zeit sein, der Überbetonung von Progessivismus durch mehr Populismus im noch zu definierenden Sinne30 entgegenzusteuern (ohne ersteren durch letzteren zu ersetzen) und dadurch auch das Problem der Machtkonzentration beim Bundesverfassungsgericht zu adressieren. Es wird erhellen, daß das Thema Verfassungsgerichtsbarkeit nicht nur in einem Schnittbereich zwischen Recht und Politik angesiedelt ist, sondern gewissermaßen im Zentrum der drängendsten gesellschafts- und demokratietheoretischen Fragestellungen steht. Es verweist auf primär staatsorganisationsrechtliche Felder, wie etwa auf das Prinzip der Gewaltenteilung, ebenso wie auf methodische (funktionell-rechtliche Methode) und materielle (Liberalismus / Kommunitarismus, Wertbezug des Rechts) Konzeptionen, die an den Rand der politischen Theorie stoßen können und doch in der Diskussion über die Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit nicht vermieden werden können. Das Problemfeld des „Menschenbildes des Grundgesetzes" etwa stellt ein exponiertes Beispiel dessen dar, wie hinausweisend eine hier angezielte Untersuchung zu sein hat.31 Aus diesem Grund stellen sich auch Lösungsmöglichkeiten der counter-majoritarian difficulty als über den Rahmen einer formaljuristischen Argumentation hinausreichend dar. Dies jedoch soll und darf den Juristen nicht abschrecken, denn es hat auch Aufgabe der Rechtswissenschaft zu sein, sich selbst als eingebettet und multi-kontextuell zu begreifen und aus der Erkenntnis einer polyzentrischen Gesellschaft eine Tugend für das eigene Fach zu machen. Auch Rufer nach juristischer Wissenschaft als streng dogmatischer Wissenschaft, die nicht nur nach „rationalen, intersubjektiv vermittel- und nachprüfbaren, insofern objektiven Kriterien und Standards argumen-

29 Zum besonderen deutschen Mißtrauen gegenüber den ungewissen Ergebnissen eines pluralistisch organisierten Prozesses und der Notwendigkeit einer „gewissen Beruhigung" durch Verfassungsgerichtsbarkeit vgl. auch Winfried Brugger, Verfassungsstabilität durch Verfassungsgerichtsbarkeit? - Beobachtungen aus deutsch-amerikanischer Sicht, Staatswissenschaften und Staatspraxis 1993, S. 319 ff. (324). 30

Vgl. Teil 1.

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Hierzu ausführlich in den Teilen 3 und insbesondere 5.

Einleitung tiert" 3 2 , sondern auch gegenüber dem politischen Prozeß ihre Integrität zu bewahren hat 33 , anerkennen Verfassungsrecht als law in context : „Staatsrechtliche Regelungen und Grundsätze sind weit unmittelbarer, als das in anderen Rechtsgebieten der Fall ist, Ausdruck politischer Ordnungsvorstellungen, politischer Entscheidungen oder auch Kompromisse; sie tragen von ihrem Regelungsgegenstand her einen spezifisch politikbezogenen Gehalt in sich. Die grundlegenden staats- und verfassungsrechtlichen Begriffe, wie etwa Demokratie, Rechtsstaat, Bundesstaat, freiheitlich-demokratische Grundordnung, sind nicht zufallig, sondern notwendigerweise politisch-ideologisch geprägte Begriffe. [...] Staatsrechtliche Interpretation und Dogmatik muß im Auge haben, daß staatsrechtliche Regelungen und Entscheidungen eine normative Antwort auf bestimmte politische und politisch-soziale Problemlagen darstellen, festgelegt und eingesetzt als stabilisierendes und strukturierendes Element für das politische Leben und den politischen Prozeß; daß sie ferner selbst Ausdruck politischer Leitideen und Ordnungsvorstellungen, Niederschlag politischer Auseinandersetzungen und gegebenenfalls politischer Kompromisse sind."34 Als Kontext wird dabei allerdings nicht nur der tagespolitische Prozeß verstanden, wie es das Zitat aber nahelegt, sondern weiterhin auch die Einbettung des Rechts in Geschichte, politische Theorie bis an die Grenzen der Sozialund Moralphilosophie, sowie — auf der anderen Seite — in die Verfassungswirklichkeit. 35 Ebenso treibt die kritische und die postmoderne Literatur eine neue Selbstreflexion der Wissenschaft und ihrer Betreiber voran, indem sie eine mystifizierte, subjektlose Juristerei zu entzaubern trachtet. 36 Die vorliegen32

Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Eigenart des Staatsrechts und der Staatsrechtswissenschaft, in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie, 1991, S. 11 ff (27). 33 Ibid., S. 19: „Gerade deshalb aber darf die Arbeit am Staatsrecht nicht selbst von politischen Interessen und Konstellationen überdeterminiert und funktionalisiert werden; sie muß juristisch und als solche integer bleiben..." (Hervorhebung von mir). 34

Ibid., S. 16 bzw. 25.

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Dieser Ansatz wird von der weitaus überwiegenden amerikanischen Verfassungsliteratur verfolgt; vgl. nur als besonders gelungenes Beispiel einer Synthese der von Böckenförde eingeforderten Dogmatik und dem „context" Paul W. Kahn, Legitimacy and History — Self-Government in American Constitutional Theory, 1992; ders., The Reign of Law — Marbury v. Madison and the Construction of America, 1997. 36

Vgl. etwa J.M. Balkin, Populism and Progessivism as Constitutional Categories, 104 Yale Law Journal 1935 (1995), S. 1953: „The second error [of the constitutional theorist] is the tendency to speak as a representative of ,the people', rather than as a privileged academic who seeks to recognize the value of populism in her scholarship. Those who make this mistake will inevitably be faced with the rebuttal that they are not truly ,of the people'. In particular, such academics are highly vulnerable to accusations that the cars they drive, the books they read, the circles in which they travel, the houses in which they live, and the schools to which they send their children are inappropriate for those who profess solidarity with the great unwashed. Hence their populist and egalitarian rhetoric shows them to be at best fuzzy-headed dreamers and at worst moral and political hypocrites." Starken Einfluß übten die Arbeiten Schlags

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de Untersuchung wird manche dieser letztgenannten Gedanken an einzelnen Stellen aufgreifen, ohne jedoch in ihnen zu wurzeln. Statt dessen wird sie den Weg positivistisch-formaler Argumentation eher zugunsten funktionellrechtlicher Methode verlassen sowie insbesondere zugunsten der dem Grundgesetz und der verfassungsgerichtlichen Judikatur zugrundeliegenden Vorverständnisse in bezug auf die Stellung des Einzelnen in einer staatlich geordneten Gesellschaft und auf die Modi der gesellschaftlichen bzw. staatlichen Entscheidungsfindung. Dementsprechend wird eine neue Akzentuierung der demokratischen Gemeinschaft gegenüber einem individualistischen Menschenbild als Ansatzpunkt für eine innovative Perspektive auf die Institution der Verfassungsgerichtsbarkeit erwogen, wobei der Gemeinschaftsgedanke den Individualismus keineswegs ersetzen, sondern lediglich ergänzen soll. Weiterhin sollen die Modelle des Civic Republicanism daraufhin abgesucht werden, ob sie mit ihrer Betonung des gesellschaftlichen deliberativen Diskurses alternative Verständnisse der Rolle — und im weiteren der Kompetenzen — der Verfassungsgerichtsbarkeit eröffnen. Besonderes Anliegen der Arbeit wird es sein, unter Bezugnahme auf eine im Neo-Institutionalismus ruhende Skizze von menschlichem politischen Handeln, die ihrerseits mit dem Menschenbild des Grundgesetzes kompatibel ist, eine Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit zu entwerfen, die diese zum einen zumindest ansatzweise von den Lähmungserscheinungen eines sich konstant erhöhenden Legitimationsdruckes befreit, zum anderen aber den Weg in die politische Funktion der Verfassungsgerichtsbarkeit eröffnet. Letztere stellt sich — im Einklang mit den im Rahmen des Menschenbildes erarbeiteten Ergebnissen — als politikermöglichend dar, ohne auf die anti-majoritäre Eigenschaft zu verzichten. Zum Gang der Untersuchung In einem ersten Schritt ist zunächst auf die diese Untersuchung anleitende Unterscheidung von Progressivismus und Populismus einzugehen (Erster Teil). Beide Begriffe sind im täglichen Sprachgebrauch anders belegt als im wissenschaftlichen, so daß zunächst ihr historisches Umfeld — die Verwurzelung von Progressivismus und Populismus im politischen Prozeß der Vereinigten Staaten von Amerika Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts — verdeutlicht wird. Von diesen geographisch-geschichtlichen Besonderheiten ist in der Folge zu abstrahieren, um die kennzeichnenden Charakteristika zu aus: Pierre Schlag , The Problem of the Subject, 69 Texas Law Review 1627 (1991); ders., Normativity and the Politics of Form, 139 University of Pennsylvania Law Review 801 (1991); ders., ,Le Hors de Texte C'est Moi': The Politics of Form and the Domestication of Deconstruction, 11 Cardozo Law Review 1631 (1990). Vgl. zuletzt auch die Beiträge in Paul F. Campos / Pierre Schlag / Steven D. Smith , Against the Law, 1996.

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gewinnen und den Begriffen ihre Eigenschaft als abstrakte verfassungstheoretische Matrix zu verleihen. Auf Probleme (insbesondere des Progressivismus) wird danach abstrakt einzugehen sein, so daß die Schwierigkeiten einer einseitig oder zumindest überwiegend progressivistisch ausgerichteten Rechtsund Verfassungsordnung deutlich werden. Anschließend wird — in wiederum allgemeiner Weise — eine Standortbestimmung der deutschen Verfassungsrechtswissenschaft und ihrer Stellungnahmen zum Thema Verfassungsgerichtsbarkeit vorgenommen (Zweiter Teil). Dies dient einem mehrfachen Zweck. Zum einen verweist die Untersuchung auf die insgesamt unbefriedigenden Modi der Diskussion verfassungsgerichtlicher Legitimität, die einerseits mit der unübersichtlichen Materie, andererseits aber auch mit strukturellen theoretischen Defiziten zusammenhängen. Letztere spitzen sich in der Eigenart des formalistischen Diskurses (in formeller wie in materieller Hinsicht) zu. Zum anderen aber bezweckt die Standortbestimmung ebenso eine Selbstreflexion des deutschen Staatsrechts, im Verlaufe derer bestimmte progressivistische Prätentionen offenbar werden. Die allgemein angeklungene progressivistische Neigung, Recht und Politik scharf trennen zu wollen, um im Rahmen öffentlicher (staatlicher) Einheitsbildung und Läuterung gesellschaftliche Defizite in allen Bereichen — von nicht mehr überzeugender Integration bis zu konkreten Wohlfahrts- und Solidaritätsverlusten — abzugleichen, spiegelt sich im bundesverfassungsgerichtlichen Diskurs wider. Soweit sich dieser mit dem politischen Prozeß auseinandersetzt, wurzelt er im wesentlichen in pluralistischen Annahmen sowie verfassungsliberalen Einwürfen. Es ist zu zeigen, daß dieser Diskurs, der in sich theoretisch inkohärent ist, sich als progressivistische Annahmen begünstigend erweist (Dritter Teil). Um dies zu belegen, wird zunächst knapp in die Theorie des Pluralismus und des Neo-Pluralismus eingeführt und anschließend die Hinzufügung liberaler Elemente untersucht. Deutlich werden wird die staatsstärkende Tendenz, wobei jedoch zugleich das Augenmerk auf die für diese Arbeit wichtige anthropologische Grundierung gerichtet wird. Im folgenden ist ausführlich auf Theorien von Verfassungsgerichtsbarkeit einzugehen (Vierter Teil). Ausgangspunkt einer Diskussion muß der angenommene Gegensatz von Konstitutionalismus und Demokratie sein; hierbei wird herausgearbeitet, daß dieser in Deutschland und in den Vereinigten Staaten durchaus unterschiedlich verarbeitet wird. Ausführliche Hinweise auf die amerikanische Diskussion — auch im Theorienbereich — dienen dazu, die Problematik deutlich werden zu lassen, da die Debatte in den USA eindringlicher (negativ ausgedrückt: kruder) das Paradigma der Mehrheitlichkeit nutzbar macht. Dies hat unmittelbare Auswirkungen auf die Auffassungen zur Verfassungsgerichtsbarkeit. Es wird neben den Theorieaussagen zur funktionellen Legitimitätsebene auch zu prüfen sein, inwieweit die dargestellten

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Theorien mit übergreifenden Konzepten von Herrschaft, Macht, Partizipation und politischem Handeln einhergehen oder sich fruchtbar machen lassen. Hieran wird im folgenden Teil angeknüpft, wenn im Anschluß an den Neuen Institutionalismus ein Entwurf von politischer Identität und politischem Handeln skizziert wird (Fünfter Teil). Eine Untersuchung, deren (Teil-) Gegenstand der progressivistische (und damit auch: erzieherische) Aspekt von Verfassungsgerichtsbarkeit im politischen Prozeß ist und die eine politikermöglichende und insoweit auch identitätsstiflende Funktion von Verfassungsgerichtsbarkeit hervorhebt, kann nicht ohne ein eigenes Konzept von (politischer oder demokratischer) Identität auskommen. In Abgrenzung zu utilitaristischen oder tauschtheoretischen Modellen wird ein solches aus dem Rahmen des Neo-Institutionalismus gewonnen. Hieraus wird erkennbar, daß sich die vorliegende Arbeit keineswegs auf dem Boden des Populismus oder der Radikaldemokratie befindet. Es geht lediglich um ein Antippen der Waage, mithin um ein ausgeglicheneres Programm, als es ein einseitiger Progressivismus vorhalten kann. Dementsprechend wird Rationalität, Deliberation, Erziehung und Debatte keinesfalls eine Absage erteilt, sondern die Auffassung vertreten, daß ein Ausgleich zwischen Populismus und Progressivismus nur dadurch zu erreichen ist, daß neben der Verfassungsgerichtsbarkeit zusätzliche experimentelle politische Räume für die Bürger zur Verfügung gestellt werden. Daher werden auch notwendige Seitenblicke auf aktuelle Modelle einer civil society geworfen. Abschließend wird am Ausgangspunkt verfassungsgerichtlicher Kontrolle von Akten direkter Demokratie demonstriert, daß — wie auch in abstracto im Hinblick auf die theoretischen Modelle — das konkrete Nebeneinander von Progressivismus und Populismus im Verfassungsstaat möglich und notwendig ist (Sechster Teil). Populistische Gefahren, die verstärkt im Falle von direktdemokratischer Entscheidungsfindung drohen können, bedürfen des progressivistischen Ausgleichs genauso, wie experimentelle politische Räume gegenmehrheitlicher Kontrolle bedürfen. Letztere wird gewährleistet durch die Verfassungsgerichtsbarkeit, deren Begründung sich gerade aus ihrer NichtVerantwortlichkeit ergibt und die durch ein allgemein positives Verständnis eben jenes counter-majoritarianism von wachsendem Verantwortlichkeitsdruck entlastet würde. Auch die Wissenschaft bekäme die Hände frei für sinnvollere Aufgaben als diejenige, immer wieder demokratische Defizite der Verfassungsgerichtsbarkeit zu beklagen. In dem hier anvisierten Ausgleich realisiert sich nicht nur eine populistisch-progressivistische Koexistenz, sondern sinnvolle, gar notwendige Ergänzung. Erfahrungen direkter Demokratie sowie die Zweischneidigkeiten unbegrenzter demokratischer Verantwortlichkeit bestätigen diesen Befund. Die Verfassungstheorie sowie das Bundesverfassungsgericht sollten hierauf hinarbeiten.

Erster Teil

Populismus und Progressivismus als verfassungstheoretische Matrix

[PJrogressivism finds itself continually hoping for an active citizenry, but perpetually in fear that it will get what it wishes for. [...] It is the simultaneous trust of the democratic process in the abstract coupled with a distrust of the same process when goaded and controlled by ordinary citizens. J.M. Balkin 1

That is the most basic and telling definition of populism: a language whose speakers conceive of ordinary people as a noble assemblage not bounded narrowly by class, view their elite opponents as self-serving and undemocratic, and seek to mobilize the former against the latter. Michael Kazin 2

Verfassungsrecht und Verfassungstheorie operieren mit einer Reihe von durchaus sinnvollen Unterscheidungskriterien, die zusätzlich zum grundgesetzlichen Systemgerüst auch einordnende Aussagen machen können zur Natur des politischen Prozesses, zu Möglichkeiten und realem Umfang der Partizipation der Bürger an ihm, zur Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit usw. Zu nennen sind hier etwa gängige Matrizes wie Liberalismus, Pluralismus oder die rechts / links-Unterscheidung. Zugleich fallen aber auch Schwächen auf, die mit diesen Unterscheidungen oder Skalen einhergehen. Liberalismus etwa leidet zum einen daran, daß der Begriff selbst vage ist und in vielen verschiedenen Bedeutungsvarianten verwandt wird. Zum anderen ist er inzwischen in 1

J.M. Balkin , Populism and Progressivism as Constitutional Categories, 104 Yale Law Journal 1935 (1995), S. 1989. 2 Michael Kazin , The Populist Persuasion - An American History, 1995, S. 1 (Anmerkung von mir weggelassen). 3 Haltern

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1. Teil: Populismus und Progressivismus als Matrix

der Folge der Liberalismus / Kommunitarismus-Debatte mit so vielen Argumenten, Emotionen und Streitigkeiten belastet, daß er als erkenntnisleitender Maßstab für die hiesigen Zwecke kaum noch in Betracht kommt. Ähnliches gilt für das Programm des Pluralismus, das als solches nicht nur vielseitig und unklar ist, sondern, wie zu sehen sein wird, auch in sich widersprüchlich. Zudem wird es von staatlichen Institutionen, v.a. auch vom Bundesverfassungsgericht, in Anspruch genommen, um bestimmten Argumenten Nachdruck zu verleihen und damit Rechtfertigung und Legitimität zur Verfügung zu stellen. Es geht gerade darum, diese Argumentation zu durchleuchten; Pluralismus als Analyseparadigma zu wählen würde insoweit bedeuten, es auf sich selbst anzuwenden. Schließlich darf bezweifelt werden, daß es sich bei der rechts / links-Unterscheidung um eine Einteilung handelt, die den hiesigen Zwecken angemessen ist. Neben der Tatsache, daß diese Unterscheidung selbst unterminiert ist3 — was u.a. durch die kontinuierliche Annäherung der politischen Parteien auf der Suche nach Konsens ursächlich bedingt ist4 —, ist das rechts / links-Schema mit Überzeugungen, Ideologie, Tradition und insgesamt Moral beladen. Damit besteht nicht nur die Gefahr eines rein politischen Diskurses (und somit einer zu großen Nähe zur extremen „law is politics"-Bewegung), der allein dadurch sowohl in analytischer Kraft als auch in seiner Rezeptionsfahigkeit beschränkt wäre. Ebenso besteht die Gefahr eines nahe am Konflikt angesiedelten Diskurses, da, wie Niklas Luhmann an mehreren Stellen deutlich macht, moralische Kommunikation in der Nähe zu Konfrontation und Gewalt liegt.5 Aus diesem Grund soll vorliegend ein neues Analyseparadigma für die Untersuchung eingeführt werden. Die Unterscheidung zwischen Progressivismus

3 Vgl. etwa Ralf Dreier, Bemerkungen zum rechts/links-Schema, in: ders., Recht—Staat—Vernunft: Studien zur Rechtstheorie 2, 1991, S. 199 ff. 4 Vgl. etwa Niklas Luhmann, Die Unbeliebtheit der politischen Parteien, in: Siegfried Unseld (Hrsg.), Politik ohne Projekt? - Nachdenken über Deutschland, 1993, S. 43 ff; Ulrich R. Haltern, Integration als Mythos - Zur Überforderung des Bundesverfassungsgerichts, JöR N.F. Bd. 45 (1997), S. 31 ff (59 ff). 5

Hieraus zieht Luhmann die Konsequenz, daß vor Kommunikation im moralischen System zu warnen ist. Diese Aufgabe trägt er funktionell der Ethik (als Reflexionstheorie der Moral) an. Vgl. etwa Niklas Luhmann, The Morality of Risk and the Risk of Morality, 3 International Review of Sociology 87 (1987); ders ., The Code of the Moral, 14 Cardozo Law Review 995 (1993); ders., Paradigm Lost: Über die ethische Reflexion der Moral (Rede anläßlich der Verleihung des Hegel-Preises 1989), 1990, S. 7 ff; ders., Ethik als Reflexionstheorie der Moral, in: ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik, Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd. 3, 1989, S. 368 ff; ders., Soziologie der Moral, in: ders. / Stephan H. Pfurtner (Hrsg.), Theorietechnik und Moral, 1978, S. 8-116; ders., Soziale Systeme: Grundriß einer allgemeinen Theorie, 1984, S. 317 ff

1. Teil: Populismus und Progressivismus als Matrix

und Populismus6 bietet den Vorteil, ideologische Kommunikation zu vermeiden, wissenschaftlicher Definition zugänglich zu sein und die in Frage stehenden Probleme genauer als andere Unterscheidungen in den Blick nehmen zu können. Insbesondere steht die Populismus / Progressivismus-Unterscheidung quer zu deqenigen zwischen „rechts" und „links". Sowohl Populismus als auch Progressivismus existieren beide innerhalb der jeweiligen politischen Lager, womit diese beiden Sets von Unterscheidungen gewissermaßen ein Vierersystem bilden.7 Ein Blick in die Geschichte der Soziologie bestätigt diese Annahme. So sprechen im amerikanischen Neo-Konservativismus anzusiedelnde Kritiker der Studentenbewegung der sechziger und siebziger Jahre von Symptomen eines neuen „Linkspopulismus"; die britische neo-marxistische Soziologie hingegen bezeichnet das Herantreten an konservative Wählerpotentiale als neuen „Rechtspopulismus".8 Vorliegend werden Populismus und Progressivismus zwar neu definiert, doch schließt diese Neu-Definition insbesondere an Konnotationen der US-amerikanischen Geschichte an. Im folgenden soll so vorgegangen werden, daß zunächst knapp die geschichtliche Herkunft dieser beiden Kategorien geklärt wird (§ 1). Eine solche historische sowie geographische Situierung der Konzepte wird Begrenzungen mit sich bringen, die sich für den Gebrauch als hinderlich erweisen werden, weshalb im folgenden eine Abstrahierung vorzunehmen ist (§ 2). Schließlich wird auf gewichtige Probleme hingewiesen werden, die insbesondere mit der Konzeption des Progressivismus verknüpft sind (§ 3).

6

Die Populismus/Progressivismus-Unterscheidung orientiert sich überwiegend an der Arbeit von J.M. Βalkin, Populism and Progressivism as Constitutional Categories, 104 Yale Law Journal 1935 (1995). Ich habe bereits an anderer Stelle auf dieses Paradigma zurückgegriffen: vgl. Ulrich R. Haltern, High Time for a Check-Up: Populism, Progressivism, and Constitutional Review in Germany, Harvard Jean Monnet Working Paper No. 5/96, 1996; ders., Demokratische Verantwortlichkeit und Verfassungsgerichtsbarkeit - Nachbemerkungen zur Diskussion um den Kruzifix-Beschluß, Der Staat 35 (1996), S. 551 ff.; ders., Integration als Mythos — Zur Überforderung des Bundesverfassungsgerichts, JöR N.F. Bd. 45 (1997), S. 31 ff. 7 Vgl. auch J.M. Balkirt, Populism and Progressivism as Constitutional Categories, 104 Yale Law Journal 1935 (1995), S. 1944. 8

Vgl. Helmut Dubiel, Das Gespenst des Populismus, in: ders., Ungewißheit und Politik, 1994, S. 186 ff. (191 ff.).

36

1. Teil: Populismus und Progressivismus als Matrix

§ 1 Populismus und Progressivismus im Zusammenhang L Populismus Mit dem Begriff des Populismus verbinden US-amerikanische Historiker vor allem eine vornehmlich ländliche Protestbewegung gegen wirtschaftliche und gesellschaftliche Neuordnung, die die Phase der „reconstruction" nach Ende des Bürgerkrieges sowie die zunehmende Industrialisierung mit sich brachte. Obwohl die Ausprägungen des Populismus von Staat zu Staat unterschiedlich waren, können doch eine Vielzahl gemeinsamer Kennzeichen festgestellt werden. Populismus artikulierte insbesondere die Interessen der Farmer im mittleren Westen und Süden der USA. Das gemeinsame Feindbild bestand in der politischen Übermacht der Großstädte sowie im wachsenden Einfluß der Eisenbahngesellschaften, der Monopole, Banken und Trusts; bekämpft wurden ebenso exzessive Zwischenhändlerprofite und die deflationistische Währungspolitik der Regierung.9 Statt dessen wurden höhere Erzeugerpreise, billige Kredite und Eisenbahnfrachtsätze gefordert. Ein solcherart ökonomisches Programm verband sich mit der Forderung nach der „agrarischen Demokratie" im Sinne Jeffersons und Jacksons. Hierunter wurde unmittelbare, direkte, partizipatorische Demokratie verstanden, in der weitgehend unmediatisiert der Wille überschaubarer und relativ homogener Einheiten die ordnende Staatsmacht ersetzt. Wie Hans-Jürgen Puhle betont, handelt es sich hierbei um eine in den USA historisch einflußreiche „radikale" Grundströmung, die sich bis zu den Unabhängigkeitskriegen und dem Verfassungskonvent zurückverfolgen läßt und seitdem „gleichberechtigt neben den repräsentativen Komponenten im amerikanischen Verfassungs- und Regierungssystem einen der beiden kontinuierlichen Traditionsstränge der politischen Kultur des USA ausgemacht" hat.10 Eng verbunden hiermit war die Rhetorik vom einfachen kleinen Mann („common man"). Populismus stellt sich mithin als Bewegung dar, die ihren Hauptursprung im Protest der Kleinbauern im Süden und Westen (sowie, etwas später, der Industriearbeiter im Nordosten) gegen die Schattenseiten der Industrialisierung — uneingeschränkte Expansion, Korruption und moralische Skrupellosigkeit; niedrige Löhne, lange Arbeitszeiten, fehlender Rechtsschutz; Manipulationen (etwa seitens von Getreidespekulanten), Monopolismus (etwa seitens der Eisenbahngesellschaften) und Finanzdruck seitens der Banken — hatte. Dabei war der Populismus zugleich verwurzelt in lokalen Strukturen (Kirchen, Nachbarschaft, Berufsgruppen und Verwandtschaft), die in den USA als „self-government" und in Europa unter 9

Vgl. etwa Hans-Jürgen Puhle, Was ist Populismus?, in: Helmut Dubiel (Hrsg.), Populismus und Aufklärung, 1986, S. 12 ff. (16). 10

Ibid.

§ 1 Populismus und Progressivismus im Zusammenhang

37

dem Stichwort der Subsidiarität heute wieder zunehmende Beachtung finden. Populismus ist verwandt mit einer Vision, in der überschaubare Gemeinschaften ökonomische und politische Autonomie genießen.11 Die Bewegung wurde so stark, daß 1891/92 ein politischer Ableger, die People's Party oder Populist Party gegründet wurde, die zur ersten einflußreichen dritten Partei neben den Demokraten und den Republikanern wurde. Nach verlorenener Wahl 1892 führten die Populisten den Wahlkampf 1896 gemeinsam mit der Demokratischen Partei unter dem Präsidentschaftskandidaten William Jennings Bryan — auch diese Wahl aber ging verloren. Birnbaum führt dies darauf zurück, daß es sich eher um eine Protestideologie handelte, die ohne „ein ernsthaftes sozio-ökonomisches Programm zur Veränderung des amerikanischen Kapitalismus" antrat. 12 Danach verkümmerte der Populismus als Protestbewegung, was u.a. auf den Konjunkturaufschwung zwischen 1897 und 1920 und die damit einhergehende verringerte Protestbereitschaft der Farmer zurückgeht. Daneben scheiterte die People 's Party und mit ihr die populistische Bewegung an einer ambivalenten Haltung zur Industriegesellschaft, die sie teils mit religiöser Inbrunst und antimodernistischer Radikalität ablehnte, teils pragmatisch reformieren wollte.13

IL Progressivismus Die progressivistische Bewegung insbesondere zwischen Jahrhundertwende und 1917 war keine einheitliche, sondern eine sehr heterogene und in sich widersprüchliche Bewegung. Dennoch sind zumindest drei Leitideen auszumachen, die bei aller Heterogenität dem Progressive Movement gemeinsam unterlagen. Zum ersten wurde aus dem republikanischen Eibe der Gedanke übernommen, man müsse dem öffentlichen Interesse Vorrang gewähren und dem Jeffersonsc\\&n Prinzip der Chancengleichheit für alle endlich wieder Geltung verschaffen. Zum zweiten herrschte Einigkeit darüber, daß die laissez faire-Ideologie in Grenzen gehalten werden müsse und nicht ins Extrem getrieben werden dürfe; Regierung und Parlament hätten die Pflicht, Mißstände auszugleichen und Verbesserungen durchzuführen. Drittens schließlich teilten die Progressivisten die optimistische Überzeugung, Staat und Gesellschaft

11

Vgl. etwa Norman Birnbaum, Populismus, Reaganismus und die amerikanische Demokratie, in: Helmut Dubiel (Hrsg.), Populismus und Aufklärung, 1986, S. 106 ff (108 f.). 12

Ibid., S. 109 f.

13

Jürgen Heideking, Geschichte der USA, 1996, S. 225.

38

1. Teil: Populismus und Progressivismus als Matrix

könnten mit Hilfe von Wissenschaft und Technik effizienter, rationaler und gerechter gestaltet werden.14 Insbesondere der letzte Gesichtspunkt dürfte zur Benennung der Bewegung als „progressivism" beigetragen haben. Die angestrebten Reformen reflektierten in hohem Maße das Vertrauen der Progressivisten in Fortschritt — in das Vermögen der Menschheit, durch zielgerichtete Handlung das Umfeld und die Bedingungen des Lebens zu verbessern. Zwar ist Fortschrittsglaube und -hoffnung auch im späten 19. Jahrhundert spürbar, jedoch mit einem Unterton tiefen Pessimismus': „Unless this one great change is made, things will get worse." Progressivismus dagegen gründete auf einer weitergehenderen Annahme. Insbesondere, so die Hoffnung, würden die Reformen diejenigen schützen, die durch die Industrialisierung angeschlagen waren, sowie deren gesamtes Lebensumfeld humaner gestalten.15 Hierin zeigt sich eine gewisse Widersprüchlichkeit des Progressivismus, der — mit der großen Mehrheit der Amerikaner — den Aufstieg großer Handels- und Finanzunternehmen sowie den Umschwung von der Handfertigung auf die Fließbandfertigung akzeptiert hatte, auf der anderen Seite aber ebenso mit großer Empörung auf die u.U. nachteiligen Konsequenzen der Industrialisierung reagierte. Link und McCormick beurteilen dies wie folgt im Sinne einer „Ironie": „That the acceptance of industrialism and the outrage against it were intrinsic to early twentieth-century reform does not mean that progressivism was mindless or that it has to be considered indefinable. But it does suggest that there was a powerful irony in progressivism: reforms which gained support from a people angry with the oppressive aspects of industrialism also assisted the same persons to accommodate to it, albeit to an industrialism which was to some degree socially responsible."16

Der Fortschrittsglaube läßt sich, historisch situiert, leicht nachvollziehen. Es war die Zeit der umwälzenden Durchbrüche in den Naturwissenschaften und der Medizin; die ersten Automobile wurden in Fließbandfertigung hergestellt, und die Brüder Orville und Wilbur Wright führten erfolgreiche Flugversuche in North Carolina durch. Technik durchbrach die Grenzen traditionellen Könnens — dann erschien es logisch, daß auch die Sozialwissenschaften zu einer neuen, besseren Ordnung beitragen würden. Wissenschaftlichkeit war mithin Leitziel und Leitmethode des Progressivismus. Führende Reformer waren Spezialisten auf Gebieten neuer Disziplinen wie etwa Statistik, Wirtschaftswissenschaften, Soziologie oder Psychologie. Das Wissen um die Gesetze der Natur, so der verbreitete Glaube, werde es ermöglichen, Lösungen 14

Ibid., S. 245 f.

15

ArthurS. Link /Richard L. McCormick, Progressivism, 1983, S. 21.

16

Ibid.

§ 1 Populismus und Progressivismus im Zusammenhang

39

zur Verbesserung menschlichen Lebens zu entwickeln und anzuwenden; Erforschung von Fakten und Anwendung wissenschaftlichen Wissens durch Experten werde der Regierung ein fundiertes Aufgaben- und Reformprogramm zur Verfügung stellen können. Hieraus wird auch die soziale Struktur der progressivistischen Bewegung leicht einsichtig. Von seiner Zusammensetzung her handelte es sich im wesentlichen um eine Bewegung der alteingesessenen städtischen Mittel- und Oberschichten. Ingenieure, Verwaltungsfachleute, Ärzte, Anwälte, Richter, Professoren und Lehrer spielten eine führende Rolle. Dies allein dokumentiert die mit dem Reformschub verbundene Professionalisierung und Akademisierung der Gesellschaft, die in dieser Zeit zur Entstehung einer auf Expertenwissen basierenden new middle class führte. 17 Die wissenschaftliche Anschauung der Bewegung war trotz ihrer (zumindest vorgeblichen) Rationalität durchaus kompatibel mit einem progressiven Moralismus. In der Anfangsphase waren die amerikanischen Sozialwissenschaften durchsetzt mit ethischen Anliegen. Es war die essentielle Aufgabe von Wirtschaftswissenschaft, Psychologie, Statistik usw., Verbesserungen herbeizuführen. Diese moralischen Obertöne verbanden sich harmonisch mit dem evangelischen Protestantismus, der neben den Natur- und Sozialwissenschaften das zweite den Progressivismus prägende Wissens- und Glaubenssystem ausmachte. Sein Einfluß ist kaum zu überschätzen. So schreiben wiederum Link und McCormick: „Ever since the religious revivals from about 1820 to 1840, evangelical Protestantism had spurred reform in the United States. Basic to the reform mentality was an all-consuming urge to purge the world of sin, such as the sins of slavery and intemperance, against which nineteenth-century reformers had crusaded. Now the progressives carried the struggle into the modern citadels of sin..." 18

An anderer Stelle beschreiben sie, wie die Delegierten der Progressive Party auf ihrer Konvention 1912 den christlich-protestantischen Waffenruf sangen, „Onward, Christian Soldiers!" 19 Die Hoffnung auf mehr Demokratie bei progressivistischen Erfolgen erfüllte sich nicht. Soweit die Progressivsten auf kommunaler oder einzelstaatlicher Ebene an Einfluß gewannen, bedeutete dies keineswegs automatisch mehr Demokratie, sondern häufig „eine stärkere Kontrolle der Elite, aus der sich die ,Fachleute' vorwiegend rekrutierten, zu Lasten der unteren Schichten."20 Pro17

Jürgen Heideking, Geschichte der USA, 1996, S. 246.

18

ArthurS. Link /RichardL. McCormick, Progressivism, 1983, S. 23.

19

Ibid.

20

Jürgen Heideking, Geschichte der USA, 1996, S. 252.

40

1. Teil: Populismus und Progressivismus als Matrix

bleme ergaben sich auch daraus, daß die Reformer dazu neigten, die Wertvorstellungen der protestantischen Mittelschicht als vorbildlich und allgemeingültig anzusehen, so daß sie es häufig an Rücksicht auf Traditionen und Mentalitäten der Neueinwanderer fehlen ließen. Hiermit hängt auch zumindest teilweise die Bilanz zusammen, daß die Progressivisten die hochgesteckten Erwartungen nicht erfüllen konnten. Die Arbeiterschaft etwa ging insgesamt auf Distanz zur progressivistischen Bewegung und war weiterhin um eigene Wege bemüht. Zwar kümmerten sich die Progressivisten um die Belange der Arbeiter, aber „sie dachten und handelten doch ganz überwiegend aus einer bürgerlichen Perspektive und verabscheuten Klassenkampfideen." 21 Ein weiterer Grund war der Widerstand der Gerichte gegen den progressivistischen interventionistischen Impetus.22 Dennoch war der Progressivismus keineswegs folgenlos. Insbesondere führte er einen Bewußtseinswandel des Inhalts herbei, daß staatliche Intervention in wirtschaftliche und soziale Angelegenheiten nun nicht mehr unter allen Umständen ungerechtfertigt erschien. Auch brachte die Reformära zweifellos die Modernisierung des schwach bürokratisierten Staatswesens voran. Insgesamt kann der Progressivismus als ein Wegbereiter des „New Deals" der 30er Jahre gelten.

§ 2 Populismus und Progressivismus als verfassungstheoretische Kategorien Diese kurze historische Situierung von Populismus und Progressivismus deutet bereits zweierlei an. Zum einen werden beide Begriffe nicht ganz unverändert in die Terminologie der Verfassungstheorie übernommen werden können. Sie sind statt dessen insoweit zu abstrahieren, als ihre geschichtlichgeographische Kontextualisierung sich als hinderlich gegenüber einer Nutzung als sinnvolle Theoriekategorie erweist. Hierdurch verlieren beide nicht ihre typischen Inhalte. Diese werden vielmehr dadurch besonders sichtbar, daß unabhängig vom jeweiligen zeitlichen und räumlichen Zusammenhang die diesen Konzeptionen unterliegenden abstrakteren Bedeutungen klarer zutage treten und sich hierdurch auch als hilfreich für die Analyse zeitgenössischer 21 22

Ibid., S. 257.

Berühmt wurde die Entscheidung des Supreme Court im Fall Lochner v. New York, 198 U.S. 45 (1905). Der Supreme Court erklärte unter Berufung auf die due process-KlmsQÌ des 14. Amendments ein Gesetz des Staates New York für verfassungswidrig, das die Arbeitszeit von Angestellten in Bäckereien beschränkte. Das Gericht sah in dem Gesetz einen Eingriff in die Vertragsfreiheit. Ausführlich hierzu etwa Winfried Brugger, Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit in den USA, 1987, S. 54 ff., sowie auch noch unten 4. Teil, § 13 a.E.

§ 2 Verfassungstheoretische Kategorien

41

Verfassungskontexte zeigen können. In der Konsequenz werden beide Begriffe sowohl eingeengt als auch ausgeweitet werden müssen. Einerseits nämlich wird eine allzu starke Verklammerung mit der US-amerikanischen Geschichte abzuschütteln sein, wodurch sowohl Populismus als auch Progressivismus als sinnvolle theoretische und damit abstrakt erweiterte Kategorien entstehen. Andererseits ist bereits oben deutlich geworden, daß viele verschiedene Dinge sowohl unter Populismus als auch unter Progressivismus verstanden werden. Manche Historiker beschränken den Begriff „Populismus" auf die Populist Party 23; andere meinen eine politische Bewegung (unabhängig von der Populist Party), die schließlich in den großen Parteien aufging und sich in späteren Entwicklungen des New Deal widerspiegelte24; wieder andere unterscheiden zwischen Populismus im Süden und im mittleren Westen der Vereinigten Staaten25. Ebenso ist auch das Konzept des Progressivismus selbst in seinen Grundlagen umstritten.26 Zum anderen wird ebenso deutlich, daß der Alltagssprachgebrauch, insbesondere von „Populismus", für die nachfolgende Analyse keine Rolle spielt und sich statt dessen als hinderlich herausstellt. In der deutschen Sprache ist der Begriff „Populismus" negativ belegt und wird ganz überwiegend in einem pejorativen Sinne gebraucht. Populismus wird häufig synonym verwandt mit Opportunismus; populistische Politiker sind solche, die ideologie-, prinzipienund wertelos „ihre Fahne nach dem Wind hängen" und um des Machterhalts willen zur schnellen Abänderung ihrer politischen Meinung bereit sind, wobei sie dem Volk „nach dem Munde reden". Der anglo-amerikanische Begriff „populism" hält solche negativen Konnotationen nur am Rande bereit. Darüber, ob dies im anhaltenden Bewußtsein der Existenz der Populist Party und dementsprechend einer seriöseren Politisierung des Populismus-Begriffs begründet liegt, kann nur spekuliert werden. Jedoch ist es aufschlußreich, daß im Deutschen der Begriff so negativ belegt ist. Man mag mutmaßen, ob eine Pa23 Etwa Jeffrey Ostler , Prairie Populism: The Fate of Agrarian Radicalism in Kansas, Nebraska, and Iowa 1880-1892, 1993. 24

Etwa C. Vann Woodward , The Burdens of Southern History, 3. Aufl. 1993, S. 141 ff.; Norman Pollack , The Humane Economy: Populism, Capitalism, and Democracy, 1990; Michael Kazin , The Populist Persuasion: An American History, 1994; James R. Green , Grass-Roots Socialism: Radical Movements in the Southwest 18951943, 1978. 25

Etwa Steven Hahn, The Roots of Southern Populism: Yeoman Farmers and the Transformation of the Georgia Upcountry 1850-1890, 1983; Jeffrey Ostler , Prairie Populism: The Fate of Agrarian Radicalism in Kansas, Nebraska, and Iowa 1880-1892, 1993. 26

Vgl. z.B. Eldon J. Eisenach , The Lost Promise of Progressivism, 1994; Daniel T. Rodger s, In Search of Progressivism, 10 Revs, of American History 113 (1982), S. 123 ff.

1. Teil: Populismus und Progressivismus als Matrix

42

rallele zwischen dem Mißtrauen, das die Politik, unterstützt durch manche Auffassungen in der Rechtswissenschaft, gegenüber einer stärkeren und direkteren Partizipation des Volkes (des populus) am politischen Prozeß hegt, und jener negativen Belegung des Popuüsmusbegriflfs besteht. Die Forschung jedenfalls wendet sich langsam einer weniger pejorativen Nutzung von „Populismus" zu, insbesondere in sozialwissenschaftlichen Analysen, die den Begriff als wissenschaftliche Kategorie fruchtbar zu machen beginnen.27 Die Verwendung der Populismus/ Progressivismus-Unterscheidung — auch in abstrahierter Form — evoziert den Geist der beiden aufeinanderfolgenden US-amerikanischen Reformbewegungen. Wie bereits gesehen, war die eine eher ländlich, die andere eher urban gefärbt, und trotz der vielen Einzelheiten, die sie voneinander unterschieden, waren sie auch durch eine Reihe Gemeinsamkeiten verbunden. In der Tat wurden einige Reformprogramme, die von den Populisten des ausgehenden 19. Jahrhunderts befürwortet worden waren, von den Progressivisten des frühen 20. Jahrhunderts verwirklicht, wenn auch aus möglicherweise anderen Gründen — darunter etwa die Direktwahl von Senatoren, der achtstündige Arbeitstag, eine progressive Einkommensbesteuerung sowie schließlich die Währungsreform. 28 Die Differenzierung zwischen Progressivismus und Populismus stellt mithin keineswegs eine Unterscheidung dar, die zwei genaue Gegenteile einander gegenüberstellt. Anstatt in binären Schematismus zu verfallen, beschreibt sie statt dessen zwei miteinander verwandte Konzepte, die in vielen Punkten der Wunsch nach Reform eint. Es ist leicht, sie manchmal miteinander zu verwechseln. Vorliegend aber soll naturgemäß schwerpunktmäßig auf die Unterschiede zwischen beiden Konzepten abgestellt werden. Diese liegen vor allem dort, wo es um Auffassungen und Urteile hinsichtlich der kulturellen Bezüge, der privaten Seite des Bürgerdaseins und der Möglichkeit der aktiven Teilnahme am politischen Prozeß — also das, was in den USA „mass politics" genannt wird — geht. Die folgenden Ausführungen sollen ein Bild dessen vermitteln, was im Verlaufe der vorliegenden Arbeit unter den Begriffen Progressivismus und Populismus verstanden wird. Zugleich werden einige Themen vorgestellt, die spätere Analysen anleiten und informieren werden.

27 Helmut Dubiel, Das Gespenst des Populismus, in: ders., Ungewißheit und Politik, 1994, S. 186 ff., sowie die Beiträge in dems. (Hrsg.), Populismus und Aufklärung, 1986. Dubiel unterscheidet zwischen einer „theoretischen" und einer „sozialgeschichtlichen" Kategorie von Populismus (Das Gespenst des Populismus, S. 188). 2

.M. Balkin, Populism and Progressivism as Constitutional Categories,

104Y

§ 2 Verfassungstheoretische Kategorien

43

I. Populismus Populismus widmet sich insbesondere dem Ziel, die Interessen und Auffassungen von „normalen" Bürgern zu stützen und zu verteidigen. Er ist traditionell mißtrauisch gegenüber der Macht von großen Organisationen, seien diese nun öffentlicher oder privater Natur. 29 Eine ausgeprägte staatliche Bürokratie wird nicht mit mehr oder weniger Mißtrauen bedacht als privatwirtschaftliche Zusammenschlüsse. Darüber hinaus resultiert die Konzentration von Macht in der Hand von Personen oder Personengruppen über einen längeren Zeitraum hinweg nach populistischer Auffassung notwendigerweise in politischer und moralischer Korrumpierung. Dies zieht als Konsequenz zum einen eine gewisse populistische Präferenz nach sich für Rotation in bezug auf Positionen, die mit Macht und Autorität verbunden sind. Zum anderen befürwortet Populismus im allgemeinen eine direkte Bürgerbeteiligung an allen politischen und wirtschaftlichen Belangen, die das normale Bürgerleben betreffen. 30 Hieraus ergeben sich eine Reihe von Folgerungen. Populistische Sorge um Korrumpierung sowie der Fokus auf den direkten Einfluß von Bürgern auf Belange, die ihr tägliches Leben betreffen, führen gewissermaßen logisch zu einem natürlichen Mißtrauen gegenüber Eliten, mögen diese akademischer, gesellschaftlicher oder politischer Herkunft sein. Dabei richtet sich die Skepsis des Populismus vorwiegend gegen jene Art von (faktischer) Expertise, die als moralische oder politische daherkommt. Herrschaft als solche besitzt eine öffentliche und eine private Seite. Zum einen existiert der Staat, um den Einzelnen, seine Familie und seine ihn umgebende Gemeinschaft in die Lage zu versetzen, ein Leben in Würde und unbehelligt von der Macht öffentlicher und privater Organisationen zu führen. Dies scheint zunächst darauf hinzudeuten, daß Populismus Privatismus privilegiert, auch etwa die private Seite von Zusammenschlüssen. Jedoch besitzt er auch eine ebenso wichtige öffentliche Seite, die in seiner besonderen Konzeption von Selbstregierung und Selbstbestimmung liegt. Wie gesehen ermutigt Populismus die Bürger, aktiv am politischen Prozeß teilzunehmen, vor allem in den Fällen, in denen die zu fällenden Entscheidungen ihr tägliches Leben betreffen und die bestehenden Machtstrukturen sich mit ihren täglichen Wünschen, 29 Bereits hier sei erwähnt, daß es sich bei der vorliegend entworfenen Konzeption keineswegs lediglich um eine theoretische Kategorisierung handelt. Die vorgestellten Charakteristika beschreiben tatsächlich vorhandene und empirisch nachweisbare Präferenzen. So schreibt etwa Kazin: „[When Reagan left office,] opinion surveys still registered a mistrust of big business that almost equaled the contempt for big government." Michael Kazin , The Populist Persuasion - An American History, 1995, S. 270. 30

J.M. Balkin , Populism and Progressivism as Constitutional Categories, 104 Yale Law Journal 1935 (1995), S. 1945.

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1. Teil: Populismus und Progressivismus als Matrix

Handlungen und Enstcheidungen überschneiden oder berühren. Hier wird deutlich, daß die private und die öffentliche Seite des Populismus interagieren. Will man an dieser Stelle gegenüber einer prominenten Grundrechtstheorie abgrenzen, so bietet sich insbesondere die demokratisch-funktionale Grundrechtstheorie an. Diese nämlich versteht Grundrechte im Ausgangspunkt von ihrer öffentlichen und politischen Funktion her, wobei demokratiebezogene Grundrechte im Vordergrund — sowohl der Analyse als auch des privilegierten Schutzes — stehen. Deren Funktion besteht danach insbesondere in der Konstitution eines freien politischen Prozesses demokratischer Willensbildung, wodurch sowohl Grundrechte legitimiert als auch in ihrem Inhalt determiniert werden. Sie stellen Funktions- und Kompetenzbegründungsnormen zur freien Teilnahme der Grundrechtsträger am politischen Prozeß dar. 31 Damit ist zugleich ein bedeutender Unterschied zum hier vorgestellten Populismus diagnostiziert. Dieser nämlich legt Wert darauf, daß der Aspekt der Freiheit der individuellen Wahl hinsichtlich der Frage, ob man teilnehmen will oder nicht, keinesfalls zu kurz kommt. So schreibt Jack Balkin: „Thus, populism is based on a particular conception of self-rule and selfdetermination, one in which the active participation of the citizenry — when they choose to participate — is encouraged and facilitated. This interrelation between the public and private aspects of populism is crucial to understanding its distinctive character." 32

Hier ist die Verwobenheit von Öffentlichem und Privatem angelegt. Der Bürger, so das Bild des Populismus, will Teil der Herrschaftsstruktur sein, jedoch mit dem Hauptziel, Respekt für die eigene Lebensweise zu sichern. Aktive Partizipation wird hochgehalten, nicht aber das, was Balkin (übertrieben negativ) „Manipulation" durch einen vorgegebenen master plan nennt. Es kommt auf die Möglichkeit der Teilnahme an; der private Aspekt des populistischen Verständnisses aber drängt eher auf Freiheit von bürokratischem Planungshandeln oder dem zu großen Einfluß privater (korporativer) Macht. Damit sind gleich mehrere Abgrenzungen getroffen. So unterscheidet sich Populismus durch seine Berücksichtigung des Privaten von (Verfassungs-) Theo-

31 Vgl. zur demokratisch-funktionalen Grundrechtstheorie etwa Rudolf Smend, Bürger und Bourgeois im deutschen Staatsrecht, in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen, 1955, S. 313 ff. (314); Helmut Krüger, Staatslehre, 2. Aufl. 1966, S. 542; Hans H Klein, Die Grundrechte im demokratischen Staat, 1972, S. 27 ff.; Anklänge wohl auch bei Gunnar Folke Schuppert, Grundrechte und Demokratie, EuGRZ 1985, S. 525 ff. Zu weiteren Nachweisen und scharfer Kritik vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation, in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie. Studien zur Verfassungstheorie und zum Verfassungsrecht, 1991, S. 133 ff. Vgl. auch noch unten 4. Teil, §10111.1. 32

J.M. Balkin , Populism and Progressivism as Constitutional Categories, 104 Yale Law Journal 1935 (1995), S. 1945 f. (Hervorhebung im Original).

§ 2 Verfassungstheoretische Kategorien

45

rien, die sich auf ein Bild der Bevölkerung festlegen, das auf den Bürger als zoon politikon fokussiert. Neben der bereits erwähnten (deutschen) demokratisch-funktionalen Grundrechtstheorie ist dies etwa Richard Parkers (sich ebenfalls als „populistisch" bezeichnender) Entwurf eines energiegeladenen Volkes in Verbindung mit einem Staat, der diese Energien nicht nur fordert, sondern im weiteren auch respektiert. 33 Auf der anderen Seite steht der Populismus mithin auch zwischen den Versionen des Liberalismus, denen das Attribut „atomistisch" mitgegeben wird, und den hiergegen opponierenden Formen des Kommunitarismus. Gerade letztere tendieren, wie die demokratischfunktionale Grundrechtstheorie, dazu, den privaten Aspekt des staatsbürgerlichen Lebens zu vernachlässigen. Häufig etwa ist die Rede von einer „Pflicht zur Teilnahme am bürgerlichen und politischen Leben und zur Förderung der Wohlfahrt der politischen Gemeinschaft" 34; manche Autoren legen gar demokratische Agenden fest, die ganz und gar auf das Gemeinwesen fokussieren und private Aspekte — insbesondere die Rechte des Nichtaktivisten — außer acht lassen.35 Subtilere Theorien beschränken sich auf eine starke inhärente Kritik von Massenkultur.36 Die populistische Verwobenheit mit sowohl dem Öffentlichen als auch dem Privaten zieht Konsequenzen nach sich, die den weiteren Verlauf der Untersuchung nachhaltig prägen werden. Die Haltung, die der Populismus gegenüber politischer Partizipation, (politischen) Eliten und Kultur (sowohl demokratischer als auch Massenkultur) an den Tag legt, wird als Ausgangspunkt gewählt für die Kontrastierung sowohl mit progressivistischen Auffassungen als auch einer Praxis, die sich in vielen theoretischen Konzepten widerspiegelt. Populäre Auffassungen, durch die Linse des Populismus betrachtet, sind nicht etwa „unrein" und somit nicht etwas, das der Filterung bedarf. Sie brauchen nicht geläutert oder gemanagt zu werden durch einen weisen, wissenden Staat. Jeder Versuch staatlicherseits in diese Richtung wäre nach Auffassung des Populismus paternalistisch. Externe Läuterung (durch Experten, Bürokraten usw.) signalisiert nach Auffassung des Populismus mangelnden Respekt für populäre Meinungen und Massenkultur. Sie typisiert elitäre Geringschät33

Richard D. Parker , Here, The People Rule: A Constitutional Populist Manifesto, 1994. 34

James G. March / Johan P. Olsen, Democratic Governance, 1995, S. 153 f.

35

Vgl. etwa Barbers „Strong Democratic Program for the Revitalization of Citizenship": Benjamin R. Barber , Strong Democracy: Participatory Politics for a New Age, 1984, S. 267 ff. (Agenda auf S. 307). Differenziert hierzu neuestens Walter Reese-Schäfer, Grenzgötter der Moral — Der neuere europäisch-amerikanische Diskurs zur politischen Ethik, 1997, S. 362 ff. 36

Etwa Cass R. Sunstein, Democracy and the Problem of Free Speech, 1993.

46

1. Teil: Populismus und Progressivismus als Matrix

zung. Eine der Hauptaufgaben des Staates besteht statt dessen darin, dem Volk die Möglichkeit der Partizipation anzubieten, sowie — sollte das Volk diese Möglichkeit wahrnehmen wollen — darin, den dann geäußerten Willen nicht umleiten oder abschwächen zu wollen.37 Direkte Demokratie und direkte Teilnahme am politischen Prozeß sind die Wege, auf denen sich „Volksempfinden" und „Volkszorn" Geltung und Ausdruck verschaffen. Der Populismus glaubt, daß dies deshalb weder zu fürchten noch zu beschränken oder zu beeinflussen ist, da populäre Energie „the very lifeblood of democracy"38 sei. Die Probleme des Populismus scheinen auf der Hand zu liegen. Im Anschluß an seinen sozialhistorischen Kontext wird dem Populismus vorgeworfen, er sei anti-modern, bloß reaktiv, passiv und charakterisiere sich überwiegend durch eine Art „Opferstatus" gegenüber Prozessen ökonomischer, politischer und kultureller Modernisierung. 39 Als Antwort auf die zunehmende Ausdififerenzierung der Gesellschaft werde eine regressive Utopie beschworen, die auf die antikapitalistische Romantik des amerikanischen Agrarpopulismus zurückgehe. Helmut Dubiel buchstabiert diese Kritik für drei wichtige Funktionssysteme aus. In ökonomischen Zusammenhängen sei der Populismus noch in früh-kapitalistischen Deutungsmustern verfangen und verleihe der Angst vor anonymen Großstrukturen, vor allem vor moderner staatlicher Steuerung Ausdruck. In politischen Zusammenhängen werde Souveränitätsverlust eingeklagt, der in der modernen Massendemokratie zwangsläufig entstehe. In kulturellen Zusammenhängen schließlich wird ebenfalls eine Rückwendung geltend gemacht, vor allem in Bereichen, in denen der (säkularisierte) Staat administrativ und legislativ in Bereiche eingreift, die von besonderer Sensibilität für Werte sind.40 In einer Gesamtschau der zeitgenössischen Rezeption des Populismus schließt Dubiel·. „Populistische Bewegungen werden schließlich dadurch definiert, daß sie kein eigenes, theoretisch orientiertes, flächendeckendes Programm haben, sondern lediglich gruppen-, lokal- oder situationsspezifische Belange organisieren. Populistische Bewegungen — dies ist die abschließende definitorische und integrierende Formel — können nicht auf der Ebene zurechenbarer rationaler Interessen ... definiert werden."41 37 J.M. Balkin, Populism and Progressivism as Constitutional Categories, 104 Yale Law Journal 1935 (1995), S. 1946. 38

Ibid.

39

Helmut Dubiel, Das Gespenst des Populismus, in: ders., Ungewißheit und Politik, 1994, S. 190. 40 41

Ibid., S. 190 f.

Ibid., S. 191. Zur Vermeidung von Mißverständnissen sei hinzugefügt, daß dies nicht etwa Dubiels eigenes Urteil, sondern seine Zusammenfassung dessen ist, wie Po-

§ 2 Verfassungstheoretische Kategorien

47

So einleuchtend diese Kritik auf den ersten Blick sein mag, so wird sie sich doch auf den zweiten Blick als in mancher Hinsicht krude herausstellen. Insbesondere wird sich zeigen, daß die Ausgangsposition der Argumentation diejenige des Progressivismus ist. Dieser aber hat, neben seinen offensichtlichen Tugenden, auch eine Reihe von schwerwiegenden Schwächen und inhärenten Widersprüchen, und es bleibt zu sehen, ob nicht eine Lösung gefunden werden kann, die beide Konzeptionen in ihren wünschenswerten Aspekten zu verbinden vermag.

Π. Progressivismus Der Schwerpunkt des Progressivismus hingegen liegt auf „good government" und aufgeklärter Politik im öffentlichen Interesse. Zentral für das Bild des Progressivismus vom Gemeinwesen ist sein Vertrauen darin, daß der gut ausgebildete, zivilisierte und vernünftige Einzelne durchaus in der Lage ist festzustellen, was das beste für das Interesse der Gemeinschaft als ganzer ist. Gemeinsames Ideologiesystem der modernen demokratischen Gesellschaft ist der Glaube an Rationalität und Vernunft. Als Teil dieses Systems figurieren Diskussion, Dialog und Deliberation als Mittel zur Erkenntnis des allgemeinen Wohls und als Instrument, die anderen zu überzeugen, an exponierter Stelle. Herrschaft muß deshalb dergestalt strukturiert und institutionalisiert werden, daß rationale Deliberation ermöglicht und Konsens produziert wird, wenn es um bedeutende und wichtige politische Inhalte geht. Auch der Massenkultur und dem Volkswillen werden hierbei eine Rolle eingeräumt — jedoch lediglich nach einem ausreichenden Erziehungsprozeß, im Rahmen dessen die nicht-rationalen, vor allem uninformierten oder gar passionierten Volksgefühle umgeleitet, herausgefiltert oder zumindest abgeschwächt worden sind. Jene nämlich — etwa in der Gestalt des „Volkszorns" — führen aus progressivistischer Sicht aller Wahrscheinlichkeit nach zu hastigen und irrationalen Urteilen. Während der Populismus Machtkonzentration und pulismus überwiegend aufgefaßt wird. Er sieht seine eigene Aufgabe statt dessen darin, die Unterscheidung zwischen kognitiven und affektiven, zwischen rationalen und irrationalen Faktoren populärer Meinungsbildung und Handlungsweise zu durchbrechen oder ihr zumindest die Spitze zu nehmen — ein Unternehmen, das (in meiner Terminologie) Progressivismus-kritisch ausgerichtet ist und z.T. in die auch in dieser Untersuchung angezielte Richtung geht. Dubiels Analyse mag daran kranken, daß ihr ein kohärenter Gegenbegriff zu Populismus fehlt, wodurch einiges an analytischer Schärfe verlorengeht. Statt dessen sieht sich Dubiel gezwungen, auf Konzepte zurückzugreifen, die durch Überanspruchung an Differenzierungsschärfe verloren haben. So unterscheidet er zwischen einer „regressiven oder reaktionären", einer „liberalen" und einer „demokratischen" Lösung. Ibid., S. 206.

48

1. Teil: Populismus und Progressivismus als Matrix

-Zentralisation als eine der größten Bedrohungen empfindet, liegen die Gefahren für demokratische Herrschaft aus der Perspektive des Progressivismus in einer verengten Blickweise, in Ignoranz, in der Fixierung auf eigene Interessen, in uninformierter Selbstbezogenheit. Anders als Populismus ist Progressivismus daher von der Notwendigkeit einer zentralen Instanz überzeugt, die zur Lösung bestimmter Probleme im Gemeinwesen unverzichtbar ist. Hiermit wird auch das Verhältnis des Progressivismus zum Problemkomplex Expertenwissen deutlich. Expertise ist danach notwendig, um sinnvolle politische Entscheidungen treffen zu können. Dem einfachen Bürger fehlt solche Expertise; mithin wird er häufig dazu verführt, Entscheidungen zu treffen, die nicht im öffentlichen Interesse liegen. Die Nähebeziehung von Progressivismus und Expertenwissen ist der Grund dafür, daß Eliten sich häufig in progressivistischen Modellen zu Hause fühlen. Prägnant formuliert Balkin: ,3ecause of its respect for expertise, progressivism has always been quite comfortable with elite discourse, and progressivism is the natural home for reformers who are members of political, academic, and social elites."42

Was an dieser Stelle deutlich wird, ist die Tatsache, daß im Kern der Unterscheidung zwischen Progressivismus und Populismus unterschiedliche Auffassungen über demokratische und Massenkultur liegen.43 Dieser Diskussionsgegenstand ist bei weitem nicht neu. Er liegt vielen, wenn nicht allen Theorien demokratischer Herrschaft zugrunde. Spekulationen über das Demokratievermögen des Bürgers informieren — manchmal explizit, zumeist implizit — Modelle demokratischer Regierungsformen. Dies kann nicht überraschen, denn die Frage, inwieweit der allgemeinen Diskussion (und damit dem Einzelnen, seiner Informiertheit, seiner demokratischen Kultur und seinem Engagement) das Schicksal des Gemeinwesens anvertraut werden kann und soll, muß der Ausgangspunkt einer jeden Konzeptionalisierung von institutionali42

J.M. Balkin, Populism and Progressivism as Constitutional Categories, 104 Yale Law Journal 1935 (1995), S. 1947. An dieser Stelle sei noch angemerkt, daß das Verhältnis von Expertise und politischem System keineswegs statisch ist. Die Dynamik ist allerdings eine eher negative. Experten (und Expertise) werden Teil des politischen Systems. Zum einen werden sie dazu benutzt, politische Ansichten mit mehr Legitimation zu versehen; zum anderen wird sowohl den Akteuren (Experten) als auch ihrer Botschaft (Wissen) nunmehr mißtraut, da sie ja nun eine strategisch-politische Rolle spielen. Auch die Experten selbst empfinden sich nun weniger als Teil des Wissenschaftssystems (systemtheoretisch: mit dem Code wahr / unwahr, also auf der Suche nach der Wahrheit), sondern als Teil des politischen Systems (das nicht unter diesem Code operiert), da sie ja nun „Einfluß haben". Expertise als solche wird hierdurch als Institution unterminiert. Es handelt sich wohl um einen Fall von verlorener Unschuld. Vgl. hierzu auch James G. March / Johan P. Olsen, Rediscovering Institutions: The Organizational Basis of Politics, 1989, S. 30 ff. 3

J.M. Balkin , Populism and Progressivism as Constitutional Categories, 104 Yale Law Journal 1935 (1995), S. 194 f.

§ 2 Verfassungstheoretische Kategorien

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sierter Herrschaft sein.44 Auch der signifikante Graben, der sich zwischen Populismus und Progressivismus auftut, läßt sich möglicherweise anhand dieses Streites am deutlichsten sichtbar machen. In der Debatte darüber, was denn die „richtige" demokratische Kultur sei, vertritt der Progressivismus ein Ideal, in dem deliberative Demokratie gedeihen kann. Die Bürger lassen sich auf vernunftgeprägte Deliberation wichtiger Politikinhalte ein, und jeder hat das Recht und die Pflicht, in einem quasi ununterbrochenen Dialog diese Dinge rational zu diskutieren. Massenkultur jedoch entspricht, empirisch bewertet, diesem Ideal in keiner Weise. Ebensowenig entspricht der gesellschaftliche Diskurs dem progressivistisch angezielten Diskurs. Aus diesem Grund etabliert der Progressivismus eine Rangordnung zwischen dem Ideal demokratischer Kultur und der Realität der Massenkultur — letztere ist zumeist ein qualitativer Abstieg. Demgegenüber sieht der Populismus das Verhältnis zwischen demokratischer und Massenkultur als weit weniger gespalten. Nach diesem Verständnis ist demokratische Kultur genau diejenige Kultur, durch die sich Bürger Ausdruck verschaffen — eine Definition, die demokratische Kultur keineswegs auf (i.w.S.) politische Debatten beschränkt. Statt dessen umfaßt sie neben dem Politischen sämtliche Aspekte des täglichen Lebens. Das Attribut „demokratisch" der demokratischen Kultur wird somit nicht im Sinne von Diskursinhalten, sondern von Diskursteilnehmern verstanden und somit dahingehend redefiniert, daß jeder an ihr teilhaben kann. Der Populismus begreift Massenkultur mithin nicht als qualitativ minderwertig gegenüber demokratischer Kultur; ebensowenig stellt Massenkultur eine Ablenkung gegenüber den nüchternen deliberativen Prozessen demokratischer Kultur dar, die dem Progressivismus vorschweben. Massenkultur spielt nicht auf der Nebenbühne, sie ist die Hauptveranstaltung.45 Hierin liegt der entscheidende Unterschied zwischen der populistischen und der progressivistischen Auffassung von ernstzunehmender Kultur. Während der Progressivismus demokratische und Massenkultur trennt, tendiert Populismus dazu, die beiden zu vermengen oder als eins zu betrachten. Dies verleiht dem Begriff der demokratischen Kultur aus der Sicht des Populismus eine weit weniger glatte Oberfläche als seinem progressivistischen Gegenstück. So schreibt Jack Balkin:

44

Vgl. etwa die Beiträge in George E. Marcus / Russell L. Hanson (Hrsg.), Reconsidering the Democratic Public, 1993. Ob im Hinblick auf diese Aufgabe aber ein Rückschluß von der psychologischen Ebene individueller Einstellungen auf die soziale Ebene kollektiv geteilter Kulturen — etwa im Sinne der political culture- Forschung — sinnvoll ist, mag bezweifelt werden. Vgl. diesbezüglich unten, 5. Teil, § 171. J.M. Balkin , Populism and Progressivism as Constitutional Categories, 104 Yale Law Journal 1935 (1995), S. 194. 4 Haltern

50

1. Teil: Populismus und Progressivismus als Matrix „Moreover, populism accepts, as progressivism does not, that popular culture — which is also democratic culture — is by nature unkempt and unruly, occasionally raucous and even vulgar. It is by turns both eloquent and mawkish, noble and embarrassing, wise and foolish, resistant to blandishments and gullible in the extreme. It is imperfect in precisely the same sense that democracy itself is imperfect." 46

Nicht nur die Medientheorie hat erhellende und scharfe Kritik vorgebracht gegen die Konsumorientierung der modernen Massenkultur, die in starkem Maße geprägt ist durch Werbung, Kunst, Architektur, Computerprogramme usw., die mit dem Ziel der Konsumsteigerung produziert werden. Der Progressivismus absorbiert diese Kritik und macht sie sich dadurch zu eigen, daß er der Massenkultur im allgemeinen mißtrauisch gegenübersteht. Die Aufgabe des Staates wird u.a. darin gesehen, für eine Verbesserung der demokratischen Kultur zu sorgen.47 Insofern scheint der Progressivismus, zumindest was die Kritik des Konsumenten-Zentrismus angeht, dem Populismus etwas voraus zu haben. Dieser nämlich scheint diese Kritik zu ignorieren und sich damit einem Widerspruch auszusetzen. Dies jedoch ist keineswegs zwingend. Auch der Populismus ist durchaus in der Lage anzuerkennen, daß Massenkonsumorientierung negative Konsequenzen zeitigen kann und wird. Bereits oben wurde das Mißtrauen festgestellt, mit dem Populismus institutionalisierter Macht begegnet. Hierzu zählt nicht nur staatliche, sondern auch private Organisation, und Teil davon ist auch Medienmacht. Versuche von Eliten, die Massen durch mediale Beeinflussung zu manipulieren, fallen somit auch aus populistischer Sicht auf die Negativseite. Hinzu kommt, daß Populismus den „normalen" Bürger insoweit nicht als den rein passiven Empfanger von Werbespots und anderen Elementen der Massenkultur sieht. Dies würde sich aus populistischer Sicht als herabwürdigend darstellen, da es dem Bürger die Anerkenntnis von Intelligenz und Fähigkeiten verweigert. Vielmehr wird der Bürger als aktiver Interpret der Botschaften konzipiert, die ihn durch die Medienkanäle erreichen. Massenkultur in diesem Sinne ist lediglich das Rohmaterial, aus dem sich die Bürger ihr Weltbild zusammenstellen. Der Prozeß der Artikulation von Werten und Auffassungen ist von daher ein nicht nur rezeptiver, wie aber der Progressivismus z.T. nahelegt. Vielmehr wird Massenkultur durch den aktiven Bürger produziert und reproduziert, ohne daß seine Präferenzen, um die Diktion des Civic Republicanism zu verwenden, notwendigerweise exogen sind.

46 47

Ibid.

Auch dies ist selbstverständlich kein neues Thema. Vgl. etwa Owen Fiss, Why the State?, 100 Harvard Law Review 781 (1987); ders., Free Speech and Social Structure, 71 Iowa Law Review 1405 (1986).

§ 3 Problemfelder

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§ 3 Populismus und Progressivismus — Problemfelder Vorliegend werden weite Teile sowohl der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts als auch des rechtswissenschaftlichen Schrifttums, vor allem im Bereich des Verfassungsrechts, als überwiegend progressivistisch interpretiert. Jene Ausrichtung ist keineswegs von vornherein von Übel. Progressivismus, dies wurde bereits angedeutet, bringt eine Vielzahl von Tugenden in die öffentliche Sphäre ein. Gleichzeitig aber birgt eine zu einseitig progressivistische Herrschaft auch Gefahren — wie häufig, wenn Balancen gestört sind. Erwähnt wurde bereits, daß zu Beginn der Bundesrepublik eine primär progressivistisch ausgerichtete Herrschaft ihre Berechtigung hatte und möglicherweise aus Gründen der politischen Kultur notwendig war. 48 Ebenso hat Erwähnung gefunden, daß dies von Erfolg gekrönt war. Sich wandelnde Umstände jedoch können auch die anleitenden Konzeptionen zur Reform zwingen. Die Bundesrepublik hat solchen Wandel möglicherweise inzwischen durchgemacht. Insoweit ist zu fragen, ob nicht die selten bestrittene Tatsache, daß demokratisches und zugleich kritisches Bewußtsein heute im deutschen Demos zuverlässig verankert ist, dazu führen muß, auch herrschaftsanleitende Konzeptionen zu überdenken. Während eine stärker auf die Bundesrepublik bezogene verfassungsorientierte Analyse späteren Teilen der Arbeit vorbehalten bleibt, soll hier vorgreifend zumindest eine Skizze der problematischen Aspekte einer Verfassungsordnung vorgestellt werden, die sich überwiegend progressivistisch verhält. 49

48 Zuletzt ebenso Christian Rau, Selbst entwickelte Grenzen in der Rechtsprechung des United States Supreme Court und des Bundesverfassungsgerichts, 1996, S. 263: „Als Reaktion auf ein doppeltes historisches Trauma, das der sich unter beträchtlichem Druck der nationalsozialistischen Machthaber selbst abschaffenden Demokratie und das der Pervertierung des Rechts, hat man sich in Deutschland für eine besonders starke Verfassungsgerichtsbarkeit entschieden. Die Anhäufung der umfassenden Kompetenzen des Bundesverfassungsgerichts ist somit das Produkt eines demokratieskeptischen Verfassungsgebers. " 49 Dies kommt keineswegs einer uneingeschränkten Befürwortung des Populismus gleich. Vielmehr birgt auch der Populismus eine Vielzahl von Problemen, wie im weiteren verlauf der Arbeit deutlich werden wird. Jedoch sind diese dem rechtswissenschaftlichen Schrifttum sowie der Staatspraxis offensichtlicher (dazu sogleich). Der primäre Bezugspunkt Progressivismus dient insofern einem anzustrebenden Ausgleich beider Richtungen, der sich im Ergebnis konstruktiv und befruchtend auswirken könnte.

52

1. Teil: Populismus und Progressivismus als Matrix

L Das Problem der Desubjektivierung Mit dem Problem der Desubjektivisierung ist ein Prozeß gemeint, der die soziale und intellektuelle Position des Analysierenden — vor allem des Juristen — unsichtbar werden läßt und somit die scheinbare, aber täuschende Objektivität der Verfassungstheorie fördert. 50 Diese These läßt sich am besten auf dem Umweg über die Konnotationen des Populismus erläutern. Die Gefahren des Populismus — derer man sich in Deutschland historisch bewußt ist 51 — bestehen in der Möglichkeit von Grenzüberschreitungen, die dann etwa in Richtung Anti-Intellektualismus, Verfolgung von unpopulären Minderheiten, Faschismus, Glorifizierung des Mittelmäßigen oder romantische Verklärung der Weisheit und Tugenden der Massen deuten. Richard Hofstadter rückt die Populisten in seinem Pulitzer-Preis-gekrönten Werk „The Age of Reform" in die Nähe von McCarthyismus und portraitiert sie als Anti-Intellektuelle von beschränkter Imaginationskraft. 52 Damit ist auch deutlich, daß Juristen — typischerweise Teil der führenden Funktionseliten53 — mit der Grundrichtung des Populismus wenig gemeinsam haben. Insbesondere dessen Tendenz zum Anti-Intellektualismus und zur Skepsis gegenüber Eliten (und damit deren leistungsbezogenem Weitesystem) sorgt für eine quasi-natürliche Distanz zwischen der von Eliten betriebenen Verfassungstheorie und dem Populismus. 50 Ausführlicher hierzu unten 2. Teil. Es handelt sich um eine besondere Ausprägung des allgemeinen Prinzips, das Danilo Zolo als „epistemologische Komplexität" bezeichnet und das im wesentlichen die Kontextabhängigkeit jeden kognitiven Standpunktes umschreibt. Zwar kann das Subjekt sich kritisch reflektierend der Zirkularität von Beobachtung, Erkennen und Beschreibung bewußt werden, aber es kann sich nicht seinem eigenen historischen und sozialen Horizont entziehen, indem es sich von den Präjudizien der wissenschaftlichen Gemeinschaft, der Kultur oder der Zivilisation loslöst, denen es angehört und die seine Selbstwahrnehmung beeinflussen. Epistemologische Komplexität bezeichnet m.a.W. die Unmöglichkeit des objektiven Erkennens (weder des Selbst noch der Umwelt), weil das Subjekt im Erkenntnisvorgang die Umwelt verändert, indem es seine eigenen Präjudizien gerade in dem Augenblick auf sie überträgt, in welchem er mit ihr interagiert, um sie zum Subjekt seiner Erkenntnis zu machen. Danilo Zolo, Die demokratische Fürstenherrschaft - Für eine realistische Theorie der Politik, 1997, S. 26 ff. Desubjektivierung leugnet jene epistemologische Komplexität. 51

Bereits an anderer Stelle wurde bemerkt, daß das ausgeprägte deutsche Bewußtsein für populistische Gefahren in erstaunlichem Gegensatz zu dem mangelnden Bewußtsein für progressivistische Gefahren steht. Dies kann als „eine der vielen Irrationalitäten einer spezifisch deutschen Ausprägung des Progressivismus" bezeichnet werden. Vgl. Ulrich R. Haltern, Demokratische Verantwortlichkeit und Verfassungsgerichtsbarkeit, Der Staat 35 (1996), S. 551 ff. (578). 52 53

Richard Hofstadter,

The Age of Reform - From Bryan to F.D.R., 1955, S. 60 ff.

Vgl. etwa Ralf Dahrendorf, v.a. Kapitel 14 bis 18.

Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, 1965,

§ 3 Problemfelder

53

Dies unterscheidet Populismus und Progressivismus. Letzterer ist eine Art natürliches Zuhause für intellektuelle Eliten. Jack Balkin spricht von „natural affinities between progressivism and academic life". 54 Progressivismus beinhaltet rationalen Diskurs und betrachtet Eliten und Experten mit Wohlwollen; der Rechtsdiskurs kann als rational angesehen werden und wird von Eliten / Experten geführt. Populistische Verfassungstheorie findet sich somit in einer seltsam entfremdeten Situation: Der Rechtsdiskurs, an dem sie teilnimmt, ist nach wie vor ein solcher zwischen Eliten. Juristen, die populistische Verfassungstheorie betreiben, gehören nach wie vor zu dieser Elite, die in mancher Hinsicht Privilegien genießt und sich vom ,populus' unterscheidet. Demgegenüber verzeichnet ein progressivistischer Verfassungstheoretiker viel weniger Diskontinuität zwischen seinen Auffassungen (etwa von der normativ anzustrebenden Konstitution der Gesellschaft) und seinem sozialen Status. Expertise, Gelehrtheit und rationale Diskussion sind Werte, die sowohl im akademischen Leben als auch in progressivistischen Vorstellungen von der Gesellschaft einen singulären Platz einnehmen. An dieser Stelle verschwimmt die Grenzlinie zwischen subjektiven Wertauffassungen, sozialem Status und (progressivistischer) Verfassungstheorie; sie kann sogar unsichtbar werden, wenn der Inhalt aller drei Bereiche exakt übereinstimmt. Das informierte, deliberative, rational-vernünftige akademische Selbst scheint zugleich ein Idealbild des demokratischen Bürgers zu sein. Dann aber besteht zu einer kritischen Reflexion etwa des eigenen sozialen Status ebensowenig Anlaß wie dazu, diesen im Rahmen der Verfassungstheorie zu berücksichtigen. Vielmehr gewährt diese Perspektive (des Progressivismus) die Rechtfertigung dafür, das analysierende Selbst aus dem Prozeß der Verfassungsinterpretation herauszuhalten. Das Recht — auch in seiner „reflektierten" Form akademischer Kritik — wird objektiviert und nähert sich dem noch anzusprechenden Mythos der unbefleckten Wahrheit 55 an. Dieser Vorgang ist für den Analysierenden selbst kaum sichtbar: „[P]rogressivism tends to make the ideological effects of the academic's social situation invisible to herself." 56 54 J.M Balkin , Populism and Progressivism as Constitutional Categories, 104 Yale Law Journal 1935 (1995), S. 1950. 55 56

Vgl. sogleich 2. Teil.

J M. Balkin , Populism and Progressivism as Constitutional Categories, 104 Yale Law Journal 1935 (1995), S. 1954. Eine weitere Konsequenz dieses Ineinanderfallens von Grenzen ist eine Verabsolutierung von progressivistischen Wertvorstellungen, da es an einer Opposition fehlt, die sich im relevanten Diskurs eine Stimme verschaffen kann. (Dies hat u.a. damit zu tun, daß Populismus in den Verfassungsdiskurs nur mediatisiert über die Elite selbst einfließt.) Als Beispiel sei etwa Richard D. Parker, ,Here, the People Rule': A Constitutional Populist Manifesto, 1994 genannt, der eine Textanalyse von Thomas Manns Erzählung „Mario der Zauberer" als Ausgangspunkt für sein populistisches Manifest wählt. Balkin kritisiert dies nicht ohne eine gewisse Häme: ,,For me, it is particularly telling that Richard Parker chooses to introduce his

1. Teil: Populismus und Progressivismus als Matrix

54

Π. Progressivismus und Elitismus Die Kritik von Massenkultur, die positive Einstellung gegenüber Expertenwissen und Eliten sowie der rationale Ansatz rücken den Progressivismus in die Nähe des Elitismus. Keinesfalls ist es notwendigerweise so, daß Progressivisten sich durch Intoleranz gegenüber Massenkultur auszeichnen; vielmehr ist es genau die Toleranz gegenüber der Massenkultur, die den Progressivismus kennzeichnet. Aber gerade die Beurteilung von Massenkultur als etwas, das es zu tolerieren gilt, erlaubt es dem Progressivismus, sie als peripher für demokratische Kultur einzustufen. Wie gesehen ist demokratische Kultur statt dessen ein deliberativer, rationaler Dialog, der von populärer Emotion und Passion zu filtern ist. Darüber hinaus gilt es, eben jene demokratische Kultur zu verbessern und ihren deliberativen Charakter zu steigern. Dies ist im Wege eines Erziehungsprozesses zu erreichen, im Rahmen dessen eine Angleichung der Urteilskraft der Bürger an diejenige der gut ausgebildeten Eliten angestrebt wird. Von daher bestehen tiefe und beständige Verbindungen zwischen Progressivismus und Elitismus. Auch der Elitismus57 stützt Herrschaft auf eine gut ausgebildete Schicht, insbesondere in Form der politischen Führung und der Bürokratie. Grundlegend ist auch die Vorstellung eines im Regelfall spärlich informierten Bürgers, der Entscheidungen eher auf emotionaler als auf rationaler Basis trifft. Schließlich setzt Elitismus eine Schicht technisch ausgebildeter Experten und Manager voraus, jedenfalls in der technokratischen Version des kompetitiven Elitismus.58 Wie wiederum Balkin aufzeigt, spiegelt sich ein elitistisches Verständnis im Progressivismus sogar doppelt wider: ,,[I]ntellectual elites are valued double by progressivism: first because they possess the necessary information and expertise to formulate wise policy, but second because they are viewed by other progressives as the best educated and most committed to the values of rational inquiry and deliberation. Thus, progressivism inevitably recasts the norms of democratic deliberation in the image of of elite values and elite

Constitutional Populist Manifesto' through a close textual analysis of a short story by Thomas Mann. Parker offers this discussion with little recognition of the incongruity of this device. Yet the idea that the advantages of populism will be revealed to us by a Harvard Law professor discussing the structuralist oppositions at work in early twentieth-century German literature is emblematic of the peculiar position of the populist constitutional theorist." J.M. Balkin , Populism and Progressivism as Constitutional Categories, 104 Yale Law Journal 1935 (1995), S. 1952. 57 Die Verwendung des allgemeinen Labels „Elitismus" stellt eine Vereinfachung dar. Vorliegend wird exemplarisch Bezug genommen auf die zentralen Elemente der Demokratietheorien von Schumpeter und Weber. 58

Vgl. etwa David Held, Models of Democracy, 1987, S. 178 ff.

§3 Problemfelder

55

preoccupations, and inevitably judges the quality of popular participation by elite standards of education and taste."5

Balkins erster Punkt ist das nun mittlerweile vertraute Argument, daß das politische Denken von Eliten sich von demjenigen der normalen Bürger fundamental, möglicherweise unüberbrückbar unterscheidet. Empirische Forschung insbesondere seit Mitte der fünfziger Jahre (etwa durch Philip Converse) hat dieses Argument zu stützen gesucht60, und die Debatte kreist im Kern — häufig eher implizit als explizit — um diese Annahme. Balkins zweites Argument bezieht sich auf die selbstverstärkende Rückbezüglichkeit des Elitismus — ein Phänomen, das häufig in der demokratischen Debatte übersehen wird und dem Balkin mit der Forderung nach Resubjektivierung begegnet.

ΙΠ. Progressivismus und Civic Republicanism Bereits an dieser Stelle soll ein knapper Überblick über die Kernaussagen des Civic Republicanism gegeben werden. Civic Republicanism betrat die Bühne der Rechtstheorie mit dem Anliegen, Politik so umzugestalten, daß eine engagierte Bürgerschaft auf der Suche nach allgemeinem Einigsein in eine deliberative Debatte eintritt. 61 Das Versprechen war u.a. das einer ausgesprochen partizipatorischen Politik, die die Bürger in direktem Dialog und unmittelbarer Diskussion miteinbezieht.62 Diese Verfolgung eines Ideals deliberativer Politik hatte eine ausgeprägte normative Anziehungskraft. 63 Wie aber zu59

J.M. Balkin, Populism and Progressivism as Constitutional Categories, 104 Yale Law Journal 1935 (1995), S. 1980. 60

Vgl. insbesondere Philip Converse , The Nature of Belief Systems in Mass Politics, in: David E. Apter (Hrsg.), Ideology and Discontent, 1964, S. 206 ff. Eine kritische Analyse findet sich etwa bei Donald R. Kinder/Don Herzog, Democratic Discussion, in: George E. Marcus / Russell L. Hanson (Hrsg.), Reconsidering the Democratic Public, 1993, S. 347 ff. Vgl. hierzu auch noch ausführlicher unten 5. Teil, § 171. 61

Etwa Cass R. Sunstein, Beyond the Republican Revival, 97 Yale Law Journal 1539 (1988), S. 1541. Hierzu in deutscher Sprache zuletzt ausführlich Markus Schefer, Konkretisierung von Grundrechten durch den U.S.-Supreme Court, 1997, S. 310 ff. (zu Sunstein und Michelman), der zwar detailgenau die demokratischen Fundamente des Civic Republicanism beschreibt, jedoch das im folgenden darzustellende Spannungsverhältnis zwischen Deliberation und Partizipation und die diesem zugrundeliegende problematische Auffassung demokratischer Kultur aus dem Blick verliert. 62 Vgl. etwa Frank I. Michelman, The Supreme Court, 1985 Term — Foreword: Traces of Self-Government, 100 Harvard Law Review 4 ( 1986), S. 19. 63

Z.B. Richard H Fallon, Jr., What Is Republicanism, and Is It Worth Reviving?, 102 Harvard Law Review 1695 (1989), S. 1695.

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1. Teil: Populismus und Progressivismus als Matrix

nehmend erkannt wird, verbirgt sich hinter dem zivilrepublikanischen Konzept eine Spannung zwischen den demokratischen Ansprüchen und elitistisehen Tendenzen, die die Kohärenz des gesamten Programms in Frage stellen könnte.64 Ein wichtiger Ausgangspunkt des Civic Republicanism ist sein Verständnis des politischen Prozesses und, hiermit einhergehend, die Unterscheidung zwischen deliberativer und pluralistischer Demokratie.65 Nach der Auffassung von Vertretern des Civic Republicanism konzipiert letztere die Interessen und Präferenzen der Einzelnen als vorpolitische Variablen, d.h. als exogen und nicht durch den politischen Prozeß geprägt. Das Gemeinwohl definiert sich durch die Aggregierung der miteinander konkurrierenden Privatinteressen, so daß der politische Prozeß legitimerweise nichts anderes als ein Verhandlungsprozeß ist, der diese Interessen sammelt und registriert. 66 Da Präferenzen als exogen angesehen werden, kommt es lediglich darauf an, daß die Teilnehmer am politischen Prozeß ihre Interessen artikulieren (und systemgerecht registrieren), nicht aber evaluieren. Das pluralistische Modell verlangt mithin weder nach Deliberation noch notwendigerweise nach Partizipation, sondern definiert Politik allein als Forum, das offen ist für all diejenigen, die ihre Präferenzen in geltendes Recht umzusetzen versuchen.67 Demgegenüber betont der Civic Republicanism, daß ein Politikmodell, das lediglich auf Präferenzaggregation beruht, nicht zufriedenstellen kann. Der Einzelne wird statt dessen als sozial situiert oder konstruiert betrachtet68, so daß der politische Prozeß sich nicht nur mit einer Art Präferenz-Input begnügen darf, sondern auch die Auf64

Etwa Martha C. Nussbaum , Comments, 66 Chicago-Kent Law Review 213 (1990), S. 220 ff.; ebenso Note: Civic Republican Administrative Theory: Bureaucrats as Deliberative Democrats, 107 Harvard Law Review 1401 (1994); dagegen aber Amy Gutmann / Dennis Thompson , Democracy and Disagreement: Why Moral Conflict Cannot Be Avoided in Politics, and What Should Be Done About It, 1996, S. 132 ff. 65

Diese Gegenüberstellung ist den Civic Republicans und ihren Gegnern so vertraut, daß Pluralismus oft als „Nemesis" des Civic Republicanism bezeichnet wird. Während diese Dichotomie in der Theorie akzeptiert ist, wird sie in ihrer praktischen Realisierbarkeit häufig attackiert. Vgl. etwa Steven G. Gey, The Unfortunate Revival of Civic Republicanism, 141 University of Pennsylvania Law Review 801 (1993), etwa S. 807 (mit Fußnote 13). 66

Siehe zu all diesen Aussagen etwa Cass R. Sunstein, Interest Groups in American Public Law, 38 Stanford Law Review 29 (1985), etwa S. 32 f. 67 Dies ist eine recht grobkörnige Beschreibung des pluralistischen Politikmodells. Ausführlicher vgl. unten 3. Teil, § 8. 68 Etwa Frank /. Mi che Iman, The Supreme Court, 1985 Term — Foreword: Traces of Self-Goverament, 100 Harvard Law Review 4 (1986), S. 27 ff. Dies ist darüber hinaus auch eine der Erkenntnisse, die im Kern des Kommunitarismus liegen. Hierauf wird noch ausfuhrlicher zurückzukommen sein.

§ 3 Problemfelder

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gäbe zu übernehmen hat, die Interessen der Einzelnen zu formen und zu gestalten. Hieraus ergibt sich die Folgerung, daß Politik, nach zivilrepublikanischem Verständnis, sowohl unmittelbar als auch distanziert sein muß. „Unmittelbar" ist Politik insofern, als sie nicht etwa auf weit entfernte Akteure übertragen werden kann, sondern ein Projekt des Selbst ist. Distanziert hingegen ist Politik deshalb, weil nicht Macht, sondern Vernunft das zentrale Ordnungskriterium des politischen Prozesses ist und der Einzelne somit durch vernunftgeprägtes Überlegen und Abwägen Abstand von seinen primären Impulsen finden muß.69 Deliberation wird hierdurch zu einem Instrument, das die selbstbezogenen Einzelinteressen und insoweit auch ein lediglich lückenhaftes Verständnis des Gemeinwohls transzendiert. Deliberative Politik ist daher gegenüber pluralistischer Politik höher zu bewerten. Die dem Civic Republicanism innewohnende Spannung ist durch den Gegensatz „Partizipation / Deliberation" gekennzeichnet. Dem Pluralismus, nach dem Verständnis der Civic Republicans, ist der qualitative Wert von Partizipation gleichgültig. Demgegenüber hält der Civic Republicanism Partizipation ohne Deliberation nicht für effektiv oder wünschenswert, so daß Partizipation und Deliberation inhaltlich verbunden werden zu einer Einheit, die wiederum den Kern deliberativer Demokratie ausmacht. Bei pluralistischer Partizipation, die durch die Abwesenheit „kritischer Distanz" (Sunstein) geprägt ist, handelt es sich dann auch nicht um sinnvolle Partizipation. Dennoch verzichten Civic Republicans nicht gänzlich auf Elemente des politischen Prozesses im pluralistischen Sinne. Vielmehr schlagen sie einen Reformweg ein, der zu größerer Deliberation von Partizipation führen soll. Gerade hierin aber verbergen sich Widersprüche. Auf der einen Seite kompromittiert der deliberative Anspruch das Bekenntnis des Civic Republicanism zum Grundsatz der Partizipation, da weitreichende Uninformiertheit, wie in Massenpolitik feststellbar, kaum deliberativer Politik forderlich ist. Auf der anderen Seite aber wird auf massenpolitische Elemente nicht verzichtet — ein solcher Kompromiß im Namen weitgehender Partizipation aber unterminiert das deliberative Moment. Es hat insoweit den Anschein, als ob der Civic Republicanism eine der Demokratietheorie seit ihren Anfangen innewohnende Spannung neu benennt, nicht aber zu lösen vermag.70 Es mag hilfreich sein daraufhinzuweisen, daß dies eng mit 69

Vgl. etwa Cass R. Sunstein, Beyond the Republican Revival, 97 Yale Law Journal 1539 (1988), S. 1548 f. („critical distance"); ähnlich auch Frank I Michelman , Law's Republic, 97 Yale Law Journal 1493 (1988), S. 1502 in Fußnote 30, und S. 1528 in Fußnote 144, jeweils unter Berufung auf Seyla Benhabib. 70 Zu den Tendenzen einer zivilrepublikanischen deliberativen Theorie zum Ausschluß bestimmter Argumente und Gruppen vgl. auch ausführlicher Iris Marion Young , Communication and the Other: Beyond Deliberative Democracy, in: Seyla Benhabib (Hrsg.), Democracy and Difference — Contesting the Boundaries of the Political, 1996, S. 120ff. (122 ff ).

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1. Teil: Populismus und Progressivismus als Matrix

der Frage der Gemeinwohldefinition verknüpft ist. Unklar beim Studium der zivilrepublikanischen Literatur bleibt, ob Gemeinwohl primär substantiell oder primär prozedural definiert wird. Eine substantielle Definition impliziert, daß es eine richtige Antwort auf die Frage gibt, was das gemeine Wohl ausmacht, und daß Deliberation insofern von überragender Bedeutung ist, als dadurch eine Entscheidungsfindung auf höherem Niveau (und damit prinzipiell näher an der richtigen Antwort) garantiert ist. Partizipation muß dann nicht notwendigerweise weit verbreitet sein. Diejenigen, die von der Teilnahme am politischen Prozeß ausgeschlossen sind (etwa weil ihr Deliberationsniveau nicht den Ansprüchen des Civic Republicanism genügt), profitieren trotzdem, da sie teilhaben an einem substantiell besseren Ergebnis des politischen Prozesses. Im Gegensatz hierzu liegt der Schwerpunkt einer prozeduralen Sichtweise auf der Annahme, daß das Gemeinwohl etwas ist, das Individuen durch den Umgang mit anderen entdecken, wobei Partizipation mit dem Ziel des „selfgovernment" und der Selbstverwirklichung dann ein moralischer Imperativ wird. Aktives Engagement im politischen Prozeß trägt hiernach zur Selbstfindung bei und läßt das entstehende Recht das den Individuen jeweils eigene Recht werden. Hieraus wird etwa der folgende Schluß gezogen: , Jt appears then that the requirements of participation and deliberation are not only separable, but are also potentially opposed. Deliberation may provide the best substantive answer, but its demanding nature may deny too many people self-government. Alternatively, widespread participation may allow more self-realization, but the resulting process may be of such a low quality that substantively better judgments are passed over." 71

Die zwar unmittelbar einsichtige, sich in weiten Teilen auf Jürgen Habermas9 Diskursethik stützende, aber im ganzen wohl zu allgemein bleibende Therapie besteht in der Betonung von Übereinkunft und durch Dialog zu erzielenden Konsens — ein Motiv, das sowohl dem Konzept der Deliberation als auch der Partizipation innewohnt und z.T. als „Universalismus" bezeichnet wird. 72 So etwa schreibt einer der Hauptvertreter des Civic Republicanism, Cass Sunstein: „The republican commitment to universalism amounts to a belief in the possibility of mediating different approaches to politics, or different conceptions of the public 71

Note: Civic Republican Administrative Theory: Bureaucrats As Deliberative Democrats, 107 Harvard Law Review 1401 (1994), S. 1405. 72 Hierdurch wird auch deutlich, daß eine von Teilen des Civic Republicanism vorgenommene moralische Aufladung des Politikbegriffes keineswegs kongruent ist mit deliberativen Demokratiemodellen eines auf Universalismus abstellenden aristotelischen Essentialismus etwa im Sinne Martha Nussbaums; vgl. etwa Martha C. Nussbaum, Menschliches Tun und soziale Gerechtigkeit - Zur Verteidigung des aristotelischen Essentialismus, in: Micha Brumlik / Hauke Brunkhorst (Hrsg.), Gemeinschaft und Gerechtigkeit, 1993, S. 323 ff.

§ 3 Problemfelder

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good, through discussion and dialogue. The process of mediation is designed to produce substantively correct outcomes, understood as such through the ultimate criterion of agreement among political equals."73

Die epistemologische Prämisse hinter diesen Ausführungen ist die Annahme, daß Diskussion und Debatte beim Auffinden von Werten hilfreich sind, die anderen Werten überlegen sind. Damit weist der Civic Republicanism Werteskeptizismus und -relativismus zurück und verläßt sich statt dessen auf die einigende und befriedende Kraft der „praktischen Vernunft". 74 Es fallt insoweit nicht schwer, Parallelen zwischen Progressivismus und Civic Republicanism zu entdecken. Die wichtigste ist wohl das Mißtrauen gegenüber der Populärkultur, gepaart mit dem edukatorischen Ansinnen, diese Schwächen als solche oder zumindest in ihrem Effekt zu vermindern. In der Sprache des Civic Republicanism wird dieses Projekt als „instilling civic virtue" bezeichnet.75 Beide Theorien — Progressivismus und Civic Republicanism — teilen den Impetus, sich gegen die vorhandenen Präferenzen des Volkes und gegen die Populärkultur zu stellen, die gegenüber idealen Situationen des Dialogs, der Debatte und der Deliberation qualitativ deutlich abfallen. Aus der Sicht des Civic Republicanism ist der Ansatzpunkt wohl in der Annahme zu sehen, daß Individuen grundsätzlich sozial geprägt, ja „konstruiert" sind, daß sie also durch die Werte der sie umgebenden Gemeinschaft, in der sie leben, nachhaltig geformt sind. Dies nennt der Civic Republicanism „endogene Präferenzen". Die populären Präferenzen sind insbesondere endogen im Verhältnis zur Politik, woraus sich auch die zivilrepublikanische Lösung ergibt: eine verbesserte Politik bedingt eine bessere demokratische Kultur. Sowohl theoretischer Ausgangspunkt als auch Diagnose der Gegenwart und die Vorschläge zur einzuleitenden Therapie gleichen sich in Civic Republicanism und Progressivismus so sehr, daß die Frage legitim zu stellen ist, ob beide Theorien getrennte Systeme bilden. Ebenso könnte man von einer Systematik ausgehen, die Civic Republicanism lediglich als Ausprägung des (be-

73

Cass R. Sunstein , Beyond the Republican Revival, 97 Yale Law Journal 1539 (1988), S. 1554. 74

Cass R. Sunstein , Interest Groups in American Public Law, 38 Stanford Law Review 29 (1985), S. 31 f.: „Moreover, this conception [= Civic Republicanism] reflects a belief that debate and discussion can help to reveal that some values are superior to others. Denying that decisions about values are merely matters of taste, the republican view assumes that practical reason' can be used to settle social issues." (Anmerkung von mir weggelassen). 75 Auch der zeitgenössische Kommunitarismus teilt dieses Anliegen. Hier lautet das label „restoring personal responsibility". Kritisch hierzu etwa unten 5. Teil, S ism.

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1. Teil: Populismus und Progressivismus als Matrix

reits sehr viel länger und in vielen verschiedenen Facetten existierenden) Progressivismus begreift. Dies ist in der Tat Balkins Verständnis: ,,From this standpoint, civic republicanism is merely the latest episode in the progressive crusade to improve American democracy in the face of the woeful political culture the American public has created." 76

IV. Das Problem der Ideologiekritik Progressivmus geht von der Annahme aus, daß der Einzelne bestimmte objektive Interessen hat — etwa an demokratischer Herrschaft und demokratischer Deliberation —, die abseits seiner Interessen als Privatbürger existieren. Es ist Aufgabe des Staates und des Rechts, ihm die „richtigen" Präferenzen mitzugeben (nach dieser Auffassung sind Präferenzen ja, wie oben gesehen, endogen) mit dem Ziel, daß der Einzelne dieses objektive Interesse in rationaler Weise verfolgt. Progressivismus beurteilt die vorhandenen Präferenzen insofern als verzerrt. Als Ursache hierfür werden verschiedene Gründe genannt, darunter mangelhafte Information, verfälschte Konzeptionen des „richtigen", „wahren" Interesses, unangemessene Perspektive und in dieser Folge unangemessene Rezeption und Interpretation von Fakten aufgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Schicht usw. Hierbei handelt es sich um eine vertraute Version von Ideologiekritik. Danach sind fehlerhafte oder verzerrte Präferenzen oder Glaubensinhalte dafür verantwortlich, daß Einzelne gegen ihre eigenen Interessen handeln.77 Das Grundproblem jeder Ideologiekritik ist ihre Reflexivität. Während der Analysierende die Schwächen und Fehler der Auffassungen des Analysierten auf bestimmte Interessen, sozialen Status usw. zurückführt, unterliegt er selbst den gleichen Faktoren. Sozialer Status und Vorliebe für bestimmte Interessen etwa können die Ursache dafür sein, daß der Analysierende die Präferenzen des Analysierten als verzerrt oder schlicht „falsch" empfindet. 78 Soweit der Analysierende sich dieser Tatsache nicht bewußt ist, setzt sich die Analyse dem Vorwurf der Einseitigkeit aus — Maturana oder Luhmann würden tref-

76 J.M. Balkin, Populism and Progressivism as Constitutional Categories, 104 Yale Law Journal 1935 (1995), S. 1981. 77

Vgl. zu dieser Verbindung etwa Jon Elster, Sour Grapes: Studies in the Subversion of Rationality, 1983, S. 141 ff.; Michèle Barrett, The Politics of Truth: From Marx to Foucault, 1991, S. 4 f. 78

Diese Rückbezüglichkeit ist v.a. von Mannheim untersucht worden. Karl Mannheim, Ideologie und Utopie (1919), 7. Aufl. 1985.

§ 3 Problemfelder

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fend von einem „blinden Fleck" sprechen. Hier liegt das tiefere Problem einer demokratischen Theorie, die den „Normalbürger" für nicht ausreichend demokratiefahig hält und die Herrschaft oder zumindest Letztkontrolle von Herrschaft durch Eliten preist. 79 Wenn der Progressivismus Populär- und Massenkultur auf der Grundlage kritisiert, daß die Perspektive der Bürger durch kognitive Schwächen, engstirniges und kurzsichtiges Eigeninteresse oder vulgäre Selbstverwirklichung verzerrt ist, so lokalisiert er den Fehler ausschließlich im Gegenüber, im Anderen. Hier liegt zweifellos ein gravierender Defekt nicht nur des Elitismus, sondern ebenso des Progressivismus. Wie auch im Hinblick auf die anderen Einwände ist nicht etwa die einzig logische Konsequenz, nunmehr auf Populismus umzuschwenken. Jedoch mag Teil der Lösung sein, Populärkultur zumindest teilweise zur Überprüfung und Korrektur der eigenen Position — d.h. deijenigen des Analysierenden — nutzbar zu machen. Ein solcher reflexiver Ansatz könnte die Demokratietheorie dazu führen, populärkulturelle Werteverständnisse nicht als fehlerhaft, vulgär und verbesserungsbedürftig zu verwerfen, sondern statt dessen als legitimen Teil eines Konfliktes über die Natur des Gemeinwohls zu verstehen — eines Konfliktes, bei dem alle beteiligten Seiten durch bestimmte eigentümliche „blinde Flecke" behindert sind.

V. Das Problem der Politik-Zentriertheit Progressivismus tendiert dazu, besonderes Gewicht auf Themenbereiche des öffentlichen Lebens zu legen. Er erhebt den Anspruch, daß der Bürger über Probleme, die in die Sphäre des Öffentlichen fallen, informiert ist. In der Tat ist die Erfüllung dieses Anspruches eine der herausragenden Aufgaben, denen Progressivismus verschrieben ist: Erziehungsarbeit in Richtung Interesse / Informiertheit in öffentlichen Belangen.80 Dies ist per se kein schlechtes Ziel, sondern entspricht dem Idealbild einer vielen noch immer vorschwebenden Beispielsfunktion athenischer oder Genfer Demokratie. Problematisch jedoch werden diese Ansprüche deshalb, weil sie den legitimen Raum des Privaten entweder nicht zu sehen vermögen oder mißachten. Man wird zwar kaum 79 Vgl. bereits Walter Lippmann, Public Opinion, 1922; Philip Converse , The Nature of Belief Systems in Mass Politics, in: David E. Apter (Hrsg.), Ideology and Discontent, 1964, S. 206 ff.; neueren Datums etwa Russell W. Neumann, The Paradox of Mass Politics: Knowledge and Opinion in the American Electorate, 1986; Eric R.A.N. Smith, The Unchanging American Voter, 1989. 80

Solange dieses Ziel nicht erreicht ist, müssen Entscheidungen von solchen Menschen gefällt werden, die diesen Ansprüchen genügen — in der Regel sind dies neben Politikern professionelle Eliten wie etwa Juristen.

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1. Teil: Populismus und Progressivismus als Matrix

mehr auf Auffassungen treffen, die das Politische in ausschließlicher Weise dem Privaten überordnen. Die deutsche Geschichte hat diesbezüglich die Lehre nahegelegt, daß hier Mäßigung nottut. Dies aber bedeutet nicht, daß Öffentliches und Privates in gleichem Maße Legitimität und Ansehen beanspruchen können, oder daß als Ziel von Herrschaft allgemein ein privates erfülltes Leben angesehen wird. Die Anerkennung des Privaten findet allzu häufig auf einer Notwendigkeitsbasis statt: Die Welt der harschen Realitäten (Lebensunterhalt, Kinderfürsorge und -erziehung, das notwendige leibliche Wohl) zwingen den Einzelnen dazu, seine Aufmerksamkeit von den eigentlich primären Dingen des Lebens (nämlich den Problemen des öffentlichen Lebens) auf sekundäre zu lenken. 81 Impliziert in dieser Auffassung ist ein Element des Erlaubens und der Entschuldigung, die aber zugleich eine Rang- und Wertschätzung mit sich bringt. 82 In dieser qualitativen Abstufung liegt das erste Problem.

81 Als Beispiel sei etwa eine Passage bei James G. March / Johan P. Olsen, Democratic Governance, 1995, S. 72 genannt: „A civil citizen cannot be assumed. There is ample evidence that the burdens of democratic citizenship weigh heavily on some modern individuals, that genetics, education, socialization, and the structural demands of modern life do not reliably produce individuals who will defend and exercise the rights of citizenship or satisfy the responsibilities. In a society of conflicting interests, identities, values, and beliefs, citizenship rather easily becomes a minor identity rather than a dominant form of self-definition." Hinzugefügt sei, daß March und Olsen in ihrer brillanten Abhandlung — so wie in ihrem gesamten Projekt, das v.a. auch ihr früheres Buch, Rediscovering Institutions: The Organizational Form of Politics, New York et al. 1989, mit einschließt — meist auf vorbildliche Weise die Waage halten zwischen einer progressivistisch gefärbten Sorge um die Ausformung einer „zivilen" (civil, aber auch civic) Identität einerseits, sowie der (hier nunmehr eher populistischen) Suche nach adäquaten loci der Volkssouveränität andererseits (vgl. hierzu auch James G. March / Johan P. Olsen, Popular Sovereignty and the Search for Appropriate Institutions, Journal of Public Policy 1986, 341 ff.). Zu manchen übertriebenen zivil-republikanischen oder progressivistischen Tendenzen aber unten 5. und 6. Teil. 82 Wir können dieses Element der Entschuldigung, des Abgelenktsein-Dürfens als Zugeständnis an veränderte Rahmenbedingungen des „demokratischen" Lebens etwa seit der Athener Demokratie, aber auch seit den frühen Entstehungsbedingungen des Civic Republicanism betrachten. Nur vom Haushaltsvorstand wurde gefordert, daß dieser ein beträchtliches Maß an Zeit und Energie in die Geschicke des öffentlichen Lebens investierte. Dieser aber hatte dazu auch die erforderliche Zeit, war er doch von einer Schar von Dienern, Frauen, Handwerkern und sonstigen willig helfenden Händen umgeben, die ihm bei der Erfüllung der täglichen Aufgaben zur Seite standen oder ihm diese ganz abnahmen. Dies hat sich im Rahmen der Durchsetzung des Prinzips (politischer) Gleichheit geändert. Hier liegt eines der Gegenargumente gegen zeitgenössische Strömungen des Civic Republicanism begründet. Ist es wirklich möglich, eine politische Theorie (hier Civic Republicanism) von den diese Theorie früher stützenden Fakten der politischen Ökonomie (hierarchisch stratifizierte und politisch äußerst ungleiche Gesellschaft [etwa Sklavenhaltung in den Vereinigten Staaten]) abzukoppeln?

§ 3 Problemfelder

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Das zweite Problem stellt sich dann, wenn es um das Maß von öffentlicher Anteilnahme des Bürgers geht — im Sinne dessen, was der angloamerikanische Sprachraum als „public-spirited frame of mind" bezeichnen würde —, das notwendig ist, um den progressivistischen Anforderungen an Informiertheit und Interesse gerecht zu werden. Auf der Input-Seite fragt sich, wieviel Zeit und Energie in das Verstehen und die Lösung von Problemen öffentlicher Herrschaft durch jeden Einzelnen zu investieren ist. Auf der OutputSeite ist fraglich, wann ein zufriedenstellendes Niveau öffentlicher Informiertheit erreicht ist, das es rechtfertigt, den Bürger (als Einzelnen) und die Bürgerschaft (als Gesamtheit) als zur deliberativen Debatte ausreichend vorgebildet zu betrachten. Insbesondere der zweite Punkt stellt die Verbindung zum oben andiskutierten Elitismus her, bietet er doch eine nie versiegende Quelle der Rechtfertigung für eine Elite-gesteuerte, progressivistische Herrschaft. 83 Ein drittes Problem schließlich ergibt sich dann, wenn die progressivistische Lösung des Informationsdilemmas darin liegt, die gesetzgebenden Organe — und nicht das Volk — als das wahre Forum demokratischer Deliberation zu wählen.84 In diesem Fall nämlich deutet sich eine Art demokratische Arbeitsteilung an, die ausschließlich dem Parlament die Aufgabe des informierten, vernünftigen, deliberativen Dialogs anvertraut, während das Volk lediglich als uniforme und uninformierte Masse betrachtet wird, die nur in groben Zügen die ungefähre Richtung angibt, in die sich die Politik des Gemeinwesens bewegen soll. Mit anderen Worten: Das Parlament — im Zusammenspiel mit anderen staatlichen Organen — nimmt die öffentliche Seite demokratischer Herrschaft in Besitz, während die Rolle des Volkes auf die private Seite reduziert wird. An dieser Stelle deutet sich die logische Verknüpfung des Progressivismus mit dem Hegel sehen Modell einer klaren Trennung von Staat (als Sphäre des universellen Altruismus) und Gesellschaft (als Sphäre des Egoismus) an.85

83 Vgl. bereits Ulrich R. Haltern, Demokratische Verantwortlichkeit und Verfassungsgerichtsbarkeit - Nachbemerkungen zur Diskussion um das Kruzifix-Urteil, Der Staat 35 (1996), S. 551 ff. (578); ders., Integration als Mythos - Zur Überforderung des Bundesverfassungsgerichts, JöR N.F. Bd. 45 (1997), S. 31 ff. (74 f. und 80); ders., High Time for a Check-Up: Populism, Progressivism, and Constitutional Review, Harvard Jean Monnet Working Paper No. 5/96, 1996. 84 Eine Verbindung zwischen dieser Diagnose und der Herausdifferenzierung einer professionellen politischen Klasse stellt etwa Meyer her: Thomas Meyer, Erfahrungsverlust I. Die politische Klasse in der Demokratie, in: ders., Die Transformation des Politischen, 1994, S. 103 ff. (unter der Abschnittsüberschrift „Der Verfall der Lebenszentralität des Politischen"). 85 Hierzu vgl. auch unten 3. Teil, § 9 ΙΠ.3. sowie Ulrich R. Haltern, Integration als Mythos - Zur Überforderung des Bundesverfassungsgerichts, JöR N.F. Bd. 45 (1997), S. 31 ff., insbesondere 40 ff.

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1. Teil: Populismus und Progressivismus als Matrix

Progressivsmus ist keineswegs allein in seiner besonderen Fokussierung auf Angelegenheiten des öffentlichen Lebens. Daß Civic Republicanism diese Schwerpunktlegung teilt, wurde bereits oben angedeutet. Auch die erwähnte sog. demokratisch-funktionale Grundrechtstheorie privilegiert die Sphäre des Öffentlichen gegenüber dem Privaten, indem sie die demokratie-konstituierende Funktion der Grundrechte hervorhebt. 86 Der Vorwurf eines „politisch motivierten Dezisionismus" liegt insoweit nicht fern. 87 Die demokratisch-funktionale Grundrechtstheorie geht in der Tat sehr weit und wird, so wird zu Recht eingewandt werden, heute in reiner Form nicht mehr vertreten. Hierauf jedoch ist zu antworten, daß eine derart weit gefaßte Auffassung für das hier vorgebrachte Argument nicht notwendig ist. Nicht auf ein sich eindimensional durch die politisch-öffentliche Funktion der Grundrechte definiertes Verständnis kommt es vorliegend an. Vielmehr geht es um ein eher institutionelles Argument, das die Aufgaben zwischen dem Volk und seiner Repräsentation entlang der Linie des Politischen / Unpolitischen bzw. des Öffentlichen / Privaten verteilt. Hierfür ist die demokratisch-funktionale Grundrechtstheorie sogar ein vergleichsweise schlechtes Beispiel, versucht sie doch, das Politische an den Einzelnen heranzutragen (wobei dieses Projekt allerdings als nur eingeschränkt gelungen bezeichnet werden mag). Die Privilegierung der demokratischen Grundrechtsfunktion geht eine bemerkenswerte Symbiose ein zwischen der Mißachtung und Unterordnung des Privaten (ein Vorwurf, der auch in bestimmtem Maße den Progressivismus und den Civic Republicanism trifft) auf der einen Seite, und der Übertragung öffentlicher Anliegen auf das Volk über den Umweg der Grundrechtsinterpretation auf der anderen Seite. Die hier aufgezeigte Problematik teilt den ersten Punkt, nicht aber den zweiten. Vielmehr führt Progressivismus dazu, daß das Öffentliche aus der Gesellschaft (als nicht-staatlicher Sphäre) herausgehalten wird.

VI. Das Problem der inhärenten Widersprüchlichkeit Es ist bereits deutlich geworden, daß die Probleme, die ein progressivistisches Verständnis von menschlicher Interaktion, vom politischen Prozeß und von der Verfassungsordnung mit sich bringt, eng miteinander verschränkt sind. Diese Verschränkung kulminiert in der Tatsache, daß sich Progressivi-

86 87

Vgl. bereits oben bei Anm. 31.

So etwa Ernst-Wolfgang Böckenförde, Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation, in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie. Studien zur Verfassungstheorie und zum Verfassungsrecht, 1991, S. 115 ff. (135).

§ 3 Problemfelder

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sten mit einer inneren Zerrissenheit konfrontiert sehen, die sich zu einem Paradox auswächst. Auf der einen Seite wertschätzt der Progressivismus das Politische und Öffentliche, die Idee der demokratischen Ordnung eines Gemeinwesens und damit der Volksherrschaft. Damit einher geht die Auffassung, daß Demokratie dann am besten verwirklicht ist, wenn möglichst viele Menschen in möglichst rationaler und informierter Art und Weise am politischen Prozeß teilnehmen, ohne diesen ineffizient zu gestalten. Damit befürwortet der Progressivismus — auch historisch — die weitverbreitete Teilnahme der Bürger am politischen Prozeß. Konfrontiert mit ernüchternden empirischen Umfragen zur Informiertheit der Bürger 88 oder mit Lehren, die aus dem historischen Verhalten des Demos im Laufe der Geschichte gezogen werden89, sieht der Progressivismus den Staat in eine Erzieherrolle gedrängt. Die Informiertheit der Bürger zu gewährleisten, ihnen bei demokratischen Gehversuchen behilflich zu sein und sie dabei vor Stürzen zu bewahren wird dem Staat als Aufgabe angetragen. Es fallt ihm zu, das Volk mit demokratischer Energie zu erfüllen. Hier aber wird das Paradox offenbar. Auf der anderen Seite nämlich sehen Progressivisten insbesondere dann Anlaß zu Besorgnis, wenn das Volk voller Energie und Bereitschaft zu Engagement ist. „[Precisely at those moments when the citizenry is most eager and engaged, progressives are rarely pleased with the results."90 Der Grund hierfür liegt darin, daß in solchen Momenten Elemente wie „Volksempfinden" oder „Volkszorn" an die Oberfläche treten. Derartige Gruppengefühle aber sind, so die wohl generelle progressivistische Auffassung, schlecht informiert, äußerst grobkörnig, mitunter das Resultat von Manipulation oder fehlgerichteter Masseilpsychologie. Darüber hinaus tendieren sie zur Mißachtung von Minderheiten, zu Extremen und zu Heißspornig-

88

Dies ist das Maß, an dem etwa in den USA die „Reife" und Informiertheit des Volkes gemessen wird. Vgl. etwa die Ergebnisse der political cw/iwre-Forschung, z.B. Gabriel Abraham Almond / Sidney Verba , The Civic Culture: Political Attitudes and Democracy in Five Nations, 1963. Vgl. hierzu weiter (und kritisch) 5. Teil, § 171. 89 Es ist zu vermuten, daß dies zumindest subtil den ausgeprägten Progressivismus in der Bundesrepublik informiert: Lehren aus Weimar oder aus der Zeit des nationalsozialistischen Regimes werden für eine Art „Unmündigkeitsvermutung" in bezug auf das deutsche Volk herangezogen. Vgl. Ulrich R. Haltern, Demokratische Verantwortlichkeit und Verfassungsgerichtsbarkeit - Nachbemerkungen zur Diskussion um das Kruzifix-Urteil, Der Staat 35 (1996), S. 551 ff. (577 ff.). Kritisiert wird nicht, daß dies falsch oder nicht erfolgreich gewesen ist. Statt dessen wird ein offenes Vorverständnis eingefordert. Dies würde den Weg freimachen zu einer Analyse, die möglicherweise gewandelte Umstände überdenken könnte. 90

J.M. Balkin , Populism and Progressivism as Constitutional Categories, 104 Yale Law Journal 1935 (1995), S. 1989. 5 Haltern

66

1. Teil: Populismus und Progressivismus als Matrix

keit. All dies sind Dinge, die weder deliberativ noch rational noch durch Expertise oder auch nur halbwegs ausreichende Information gestützt sind. In dem Augenblick, wo der Progressivismus eines seiner Ziele erreicht — ein am politischen Prozeß aktiv teilnehmendes Volk —, erschrickt er. Er hofft ununterbrochen auf ein aktives Volk und furchtet sich gleichzeitig davor, daß sein Wunsch in Erfüllung geht. Dies ist das Hauptthema des Progressivismus: ein Nebeneinander von Vertrauen und Mißtrauen gegenüber dem demokratischen Prozeß und insbesondere gegenüber dem Volk. Einerseits traut er dem demokratischen Prozeß — in abstracto. Andererseits mißtraut er ihm, wenn dieser durch die „einfachen" Bürger gelenkt und kontrolliert wird. Balkin paraphrasiert dieses Motiv wie folgt: „[The progressive dream] is premised on disdain and disrespect for popular will and civic energy. It is a participation with only idealized participants, a democratic culture without a demos."

Zweiter Teil

Zur Standortbestimmung der deutschen Diskussion

Der Grundsatz des judicial self restraint, den sich das Bundesverfassungsgericht auferlegt, bedeutet nicht eine Verkürzung oder Abschwächung seiner Kompetenzen, sondern den Verzicht „Politik zu treiben", d.h. in den von der Verfassimg geschaffenen und begrenzten Raum freier politischer Gestaltung einzugreifen. BVerfG, Zweiter Senat, Urteil vom 31.7.1973 X

Daß die deutsche Staatsrechtslehre ein ausgewogenes Verhältnis zur Politik gefunden ... hätte, wird niemand behaupten wollen. ... [D]ie Beziehung des Rechtsstaatsgedankens zur Politik [ist] eine enge und überlegte — aber sie ist eindeutig negativ, mißtrauisch und ablehnend geblieben. Niklas Luhmann2

Auf dem durch die Unterscheidung zwischen Progressivismus und Populismus abgesteckten Feld kann nunmehr eine Standortbestimmung der deutschen Diskussion zur Stellung des Bundesverfassungsgerichts stattfinden. Hierbei wird erhellen, daß die Debatte im allgemeinen unbefriedigend bleibt, was zumindest zum Teil mit der streng durchgeführten Unterscheidung zwischen Recht und Politik bzw. Staat und Gesellschaft zusammenhängt. Diese zieht, wie zu zeigen sein wird, eine starke Neigung zum Progressivismus nach sich, sowohl was die formelle als auch die materielle Seite des Diskurses an-

1 2

BVerfGE 36, 1 (14).

Niklas Luhmann, Gesellschaftliche und politische Bedingungen des Rechtsstaats, in: Mehdi Tohidipur (Hrsg.), Der bürgerliche Rechtsstaat, Bd. 1, 1978, S. 101 ff. (104).

68

2. Teil: Standortbestimmung der deutschen Diskussion

geht. Auf beide wird nach einer allgemeinen Einführung (§ 4) einzugehen sein (§ 5). Darüber hinaus wirkt sich auch die häufig verschleierte politische Motivation mancher ins Grundsätzliche gehenden Kritik am Verfassungsgericht negativ auf die Qualität des Diskurses aus (§ 6). Schließlich sind diese Argumente zueinander ins Verhältnis zu setzen (§ 7).

§ 4 Grundlegendes zur deutschen Diskussion In den Artikeln 93 ff. spezifiziert das Grundgesetz in aller Deutlichkeit, welche Aufgaben und Befugnisse dem Bundesverfassungsgericht zukommen sollen. Dies ist nicht selbstverständlich. Die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika etwa beschränkt sich darauf, in Artide III lediglich Aussagen allgemeinster Art über die Existenz eines Supreme Court zu machen.3 Verfassungsrechtliche Entscheidungen darüber, ob dem Supreme Court das Recht zukommt, über die Verfassungsmäßigkeit von Entscheidungen des einfachen Gesetzgebers zu richten, und welche Konsequenzen eine NichtVereinbarkeit hätte, lassen sich aus Artide III nicht ableiten. Dies hat dazu geführt, daß sich der Supreme Court in einer grundlegenden Entscheidung aus dem Jahre 1803 (Mar bury v. Madison) seine richterliche Prüfungs- und Verwerfungskompetenz selbst zusprechen mußte.4 Diese Selbstermächtigung, die in unverkennba3

Die betreffenden Passagen der US-Verfassung lauten:

Article III Section 1. The judicial Power of the United States, shall be vested in one supreme Court, and in such inferior Courts as the Congress may from time to time ordain and establish. ... Section 2. [1] The judicial Power shall extend to all Cases, in Law and Equity, arising under this Constitution, the Laws of the United States, and Treaties made, or which shall be made, under their Authority; - to all Cases affecting Ambassadors, other public Ministers and Consuls; - to all Cases of admiralty and maritime Jurisdiction; - to Controversies to which the United States shall be a Party; - to Controversies between two and more States; - between a State and Citizens of another State; - between Citizens of different States; - between Citizens of the same State claiming Lands under the Grants of different States, and between a State, or the Citizens thereof, and foreign States, Citizens or Subjects. [2] In all Cases affecting Ambassadors, other public Ministers and Consuls, and those in which a State shall be a Party, the supreme Court shall have original Jurisdiction. In all other Cases before mentioned, the supreme Court shall have appellate Jurisdiction, both as to Law and Fact, with such Exceptions, and under such Regulations as the Congress shall make. 4 Marbury v. Madison , 5 U.S. (1 Cranch) 137 (1803). Diese Entscheidung hat im amerikanischen Raum eine unübersehbare Flut von Veröffentlichungen ausgelöst, die

§ 4 Grundlegendes zur deutschen Diskussion

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rer Weise jedem Beobachter das Problem der gerichtlichen KompetenzKompetenz5 vor Augen führte, hat eine im Hinblick auf Qualität und Quantität beispiellose Diskussion der judicial review in den USA ausgelöst. Dergleichen gab es in der nachkriegsdeutschen Verfassungsrechtswissenschaft nicht, da das Grundgesetz an eben jenen Kompetenzen des Bundesverfassungsgerichts keinerlei Zweifel ließ.6 Dennoch ist eine entsprechende Diskussion in eine auch nur einigermaßen repräsentative Bibliographie unmöglich erscheinen läßt. Dies ist nicht verwunderlich, handelt es sich doch bei Marbury v. Madison nunmehr um einen Teil US-amerikanischer verfassungsrechtlicher und -politischer Identität. Auch das deutsche Schrifttum hat die Entscheidung ausführlich gewürdigt: vgl. etwa Heinz Laufer, Verfassungsgerichtsbarkeit und politischer Prozeß, 1968, S. 1 ff; Fritz Scharpf Grenzen der richterlichen Verantwortung, 1965, S. 6 ff.; Ernst Wolf Verfassungsgerichtsbarkeit und Verfassungstreue in den Vereinigten Staaten, 1961, S. 26 ff.; zuletzt Ralf Alleweldt, Die Idee der gerichtlichen Überprüfung von Gesetzen in den Federalist Papers, ZaöRV 56 (1996), S. 205 ff., jeweils m.w.Nachw. 5 Hinsichtlich des Gebrauchs des Begriffs Kompetenz-Kompetenz ist Vorsicht geboten. Wie etwa die Maastricht-Entscheidung (BVerfGE 89, 155) belegt, wird der Terminus der „Kompetenz-Kompetenz" üblicherweise in bezug auf die Legislative verwendet, nicht aber hinsichtlich gerichtlicher Macht (vgl. Peter Lerche, „KompetenzKompetenz" und das Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, in: Festschrift für Heymanns Verlag, 1995, S. 409 ff.). Hintergrund dieser Differenz mag u.a. sein, daß gemäß der wohl nach wie vor herrschenden Auffassung deutscher Verfassungstheorie Gerichte das Recht anwenden, nicht aber erschaffen — dann ist es nur logisch, daß „Kompetenz-Kompetenz" lediglich in bezug auf die Legislative, nicht aber die Judikative Sinn macht. In diesem Sinne wird Kompetenz-Kompetenz als Chiffre für die Souveränität eines Gemeinwesens verwendet. Ein anderer Gebrauch von Kompetenz-Kompetenz (im Sinne von gerichtlicher Kompetenz-Kompetenz, judicial Kompetenz-Kompetenz) findet sich u.a. bei Alfred Rinken, Alternativkommentar zum Grundgesetz, vor Art. 93, Rdnr. 91, oder — mit Bezug auf die MaastrichtEntscheidung — bei J.H.H. Weiler, Der Staat ,über alles': Demos, Telos und das deutsche Maastricht-Urteil, JöR N.F. Bd. 44 (1996), S. 91 ff.; ders. / Ulrich R. Haltern, The Autonomy of the Community Legal Order — Through the Looking Glass, 37 Harvard International Law Journal 411 (1996), S. 423 ff. 6

Dies mag man angesichts des amerikanischen Ideenfeuerwerks mitunter bedauern. Die Debatte der Weimarer Republik hingegen kann auf eine Art Parallelentscheidung zu Marbury v. Madison verweisen. In seiner Entscheidung vom 4.11.1925 (RGZ 111, 320) setzte sich das Reichsgericht theoretisch mit der Frage auseinander, „ob und inwieweit die Gerichte überhaupt berechtigt und verpflichtet sind, die Rechtsgültigkeit eines an sich ordnungsgemäß verkündeten Reichsgesetzes nachzuprüfen" (RGZ 111, 320 [322]). Das Reichsgericht bejahte dies unter Hinweis auf die Gesetzesunterworfenheit des Richters nach Art. 102 WRV; danach sei nicht auszuschließen, „daß einem Reichsgesetz oder einzelnen seiner Bestimmungen vom Richter die Gültigkeit insoweit aberkannt werden kann, als sie mit anderen, vom Richter zu beachtenden Vorschriften, die ihnen vorgehen, in Widerspruch stehen" (ibid.). Dies erinnert stark an die Argumentation von Chief Justice Marshall in Marbury v. Madison. Dieser hatte argumentiert, daß in einem Falle, in dem sowohl ein einfaches Gesetz als auch die Verfassung einschlägig seien und sich beide widersprächen, entweder das Gesetz oder die Verfassung außer acht gelassen werden müsse. Nur die zweite Alternative komme in Betracht, wenn eine geschriebene Verfassung überhaupt Sinn machen solle. Zu RGZ

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2. Teil: Standortbestimmung der deutschen Diskussion

Deutschland notwendig und überfällig. Hierfür lassen sich vor allem zwei Gründe anführen. Der erste ist empirischer Natur und sollte durch einen kurzen Hinweis auf die Diskussion des sog. Kruzifix-Beschlusses 7 unmittelbar einsichtig werden. Es hat den Anschein, als ob die Theorie mit der Verfassungswirklichkeit nicht ganz Schritt gehalten und noch nicht in ausreichendem Maße verarbeitet hat, daß die Gesellschaft dabei ist, den Rechtsdiskurs des Bundesverfassungsgerichts (sowie der gesamten Staatsrechtswissenschaft) zu entmystifizieren und zu entprofessionalisieren. Eine soziologisch informierte Analyse würde die Geschehnisse als Anzeichen des Trends zu gesellschaftlicher Selbstregulierung und -Steuerung deuten. Dann muß es der Rechtswissenschaft ein Anliegen sein, sich nicht abzukoppeln und in Isolationismus zu flüchten, sondern sich der Aufgabe zu stellen, dem Rechnung zu tragen. Ob die Forderung nach einem Beitrag zur gesellschaftlichen Integration sinnvoll ist, mag jedoch bezweifelt werden. Auf diesen Punkt wird jedenfalls noch zurückzukommen sein, da hier auch ein häufig angenommenes Telos von Verfassungsgerichtsbarkeit und -rechtsprechung liegt. Ein zweiter Grund ist theoretischer Natur (soweit diese beiden Sphären, Empirie und Theorie, überhaupt trennbar sind) und stützt sich auf die Erkenntnisse, die Vertreter aus unterschiedlichen Disziplinen (zu nennen sind etwa Derrida , Foucault , Fish, Maturana, Varela, Rorty) insbesondere nach dem linguistic turn zur sprachanalytischen Philosophie zusammengetragen haben und die in der Rechtswissenschaft nicht ohne Auswirkung geblieben sind. Die Erkenntnis, daß Interpretation und Konstruktion unumgänglich sind, daß (Rechts-) Texte keine transzendentalen Objekte sind, haben in den USA die Jurisprudenz der 80er und 90er Jahre in allen ihren unterschiedlichen Ausprägungen nachhaltig beeinflußt. Die postmoderne law and literature-Bewegang etwa beruht gar auf den Fragen der Interpretation, und sogar Rechtswissenschaftler wie Owen Fiss, der sich in scharfem Gegensatz zu Stanley Fish begreift 8 und 111, 320 ist ebenfalls umfangreiche Literatur erschienen, vgl. nur etwa Carl Schmitt, Das Reichsgericht als Hüter der Verfassung, in: ders., Verfassungsrechtliche Aufsätze, S. 63 ff. (84 f., 89 ff); Hermann Heller, Rechtsstaat oder Diktatur, in: ders., Gesammelte Schriften Π, S. 443 ff. (449 f.); Walter Jellinek, Das Märchen von der Überprüfung verfassungswidriger Reichsgesetze durch das Reichsgericht, JW 34 (1925), S. 454 f.; weitere Nachweise etwa bei Ingwer Ebsen, Das Bundesverfassungsgericht als Element gesellschaftlicher Selbstregulierung, 1985, S. 110 Anm. 17; Helge Wendenburg, Die Debatte um die Verfassungsgerichtsbarkeit und der Methodenstreit der Staatsrechtslehre in der Weimarer Republik, 1984, S. 51 ff. 7 8

BVerfGE 93, 1.

Vgl. etwa Stanley Fish, Fiss v. Fish, in: ders., Doing What Comes Naturally: Change, Rhetoric, and the Practice of Theory in Literary and Legal Studies, 1989, S. 120 ff. Zu Fish und Fiss zuletzt in deutscher Sprache Markus Schefer, Konkretisierung von Grundrechten durch den U.S.-Supreme Court, 1997, S. 143 ff., wobei allerdings fraglich erscheint, ob Fiss Fishs Ansatz weiterführt (so aber ibid., S. 148). Fiss (vgl. nächste Anmerkung) gibt zwar zu, daß Normen sich mechanischer Anwendung

§ 4 Grundlegendes zur deutschen Diskussion

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der normativen Schule zugerechnet werden kann, haben eine „interpretative Wende" durchgemacht. 9 Auf einer anderen Ebene hat dies wohl auch Michael Stolleis im Sinn, wenn er meint: „[E]s gibt nur Texte, es gibt keine historische Realität jenseits von Sprache, alle menschliche Wirklichkeit ist nur, sofern sie Sprache ist." 1 0 Nicht einzugehen ist in diesem Zusammenhang auf den Streit, ob objektive Interpretation möglich ist oder nicht 1 1 ; ausreichend ist es festzustellen, daß Texte jeglicher Art der Interpretation bedürfen und die Möglichkeit, einen „objektiven Wortsinn" zu finden, durchaus berechtigten Zweifeln unterliegt. 12 Objektive Wahrheit, sofern sie nicht von vornherein bestritten wird, kann nur dadurch rhetorisch erreicht werden, daß man sie durch Theorien „sichert", die nur einen Bruchteil der wahrheitsfähigen Gegenstände betreffen. „Objektiv" wird insoweit als „intersubjektiv zwingend gewiß" begrif-

erwehren, und geht von einem Dialog zwischen Text und Interpretationsgemeinschaft aus, der erst die Bedeutung der Norm im eigentlichen Sinne erzeuge (hierin liegt die im Text erwähnte „interpretative Wende"). Jedoch sei der Auslegungsakt auch keineswegs willkürlicher Art, da sowohl die Leser eines Textes als auch der Text selbst bestimmte Interpretationsverengungen („constraints") mit sich brächten. Diese — in Form spezifischer institutioneller Rahmenbedingungen der betreffenden Auslegungsgemeinschaft — fügten sich zu die Interpretation disziplinierenden Regeln („disciplining rules"). Jedoch verlagert Fiss das Auslegungsproblem lediglich auf eine Sekundärebene, da, wie Fish ihm überzeugend entgegenhält (Fish, a.a.O.), jene disciplining rules keineswegs (quasi enumerativ) feststehen, sondern ihrerseits der Auslegung bedürfen, wofür nunmehr keine verläßlichen Regeln mehr zur Verfügung stehen. 9 Owen Fiss, Rechtsprofessor an der Yale Law School und einer der führenden Verfassungsrechtler der USA, ist hierfür zugleich ein hervorstechendes Beispiel, da sein „interpretive turn" recht früh, Anfang der 80er Jahre, stattfand. Sein einflußreicher Artikel erschien 1982: Owen Fiss, Objectivity and Interpretation, 34 Stanford Law Review 739 (1982). Vgl. hierzu neben Fish (Anm. 8) etwa Gary Minda, Postmodern Legal Movements: Law and Jurisprudence at Century's End, 1995, S. 54 ff. 10

Michael Stolleis, Einleitung, in: ders., Staat und Staatsräson in der frühen Neuzeit - Studien zur Geschichte des öffentlichen Rechts, 1990, S. 7 ff. (10). 11

Bejahend etwa Fiss, ibid., auf der Grundlage von „disciplining rules" der „interpretive community", ebenso Robert Borks „original intent" oder Dworkins „interpretive attitude". Hierzu wiederum Gary Minda, Postmodern Legal Movements: Law and Jurisprudence at Century's End, 1995, S. 54 ff. Zum Problemkreis neuestens Thomas Vesting , Soziale Geltungsansprüche in fragmentierten Öffentlichkeiten, AöR 122(1997), S. 337 ff. (342 ff.). 12 Auch in Deutschland werden zu diesem Problem wichtige Studien durchgeführt, die um Themen wie Verfassungssyntax, dogmatische Rhetorik usw. kreisen. Vgl. v.a. Waldemar Schreckenberger, Rhetorische Semiotik: Analyse von Texten und von rhetorischen Grundstrukturen der Argumentation des Bundesverfassungsgerichts, 1978; ders., Verfassungsgerichtsbarkeit als Konvergenz von Öffentlichkeit, in: Bert van Roermund (Hrsg.), Constitutional Review — Theoretical and Comparative Perspectives, 1993, S. 13 ff.

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2. Teil: Standortbestimmung der deutschen Diskussion

fen. 13 Daß jedenfalls der Inhalt einer Rechtsnorm in den seltensten Fällen in quasi algorithmischer Weise vorausbestimmt, wie die Norm auf einen bestimmten Fall anzuwenden ist, dürfte überwiegend anerkannt sein, so daß auch der liberale Philosoph Charles Larmore schreiben kann: „The application of legal norms in concreto generally involves extrapolition beyond the given."14 Dies ist auch im Falle bundesverfassungsgerichtlicher Kompetenzen leicht einsehbar. Der Streit über die Konsequenzen der Unvereinbarkeit eines Gesetzes mit dem Grundgesetz ist Anzeichen genug, daß auch lange Listen im Verfassungstext nicht dazu geeignet sind, Mehrdeutigkeiten auszuschließen.15 Noch wichtiger jedoch wird dies, wenn es um den Maßstab geht, den das Verfassungsgericht etwa bei der Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen anzuwenden hat. Gerade hier liegt der Anknüpfungspunkt für die deutsche Diskussion, ebenso wie ihre Wichtigkeit. Jede formale Kompetenz kann sowohl ausgehöhlt als auch erweitert werden durch die Wahl des Prüfungsmaßstabes. Ohne Zweifel ist die deutsche Literatur reich an Abhandlungen, die sich auf fundierte Weise mit Legitimation und Funktion der Verfassungsgerichtsbarkeit auseinandersetzen. Es soll an dieser Stelle ausreichen, auf die bedeutenden und neueren Abhandlungen Ingwer Ebsens, Alfred Rinkens, Karl-Heinz Ladeurs und Friedrich Wilhelm Dopatkas hinzuweisen. Auf sie wird noch zurückzukommen sein. Jedoch sind nicht ausschließlich sie es, die den Diskurs der Kritik der Verfassungsgerichtsbarkeit prägen. Man muß gar nicht den weiten Weg über Peter Häberles pluralistische Theorie der Verfassungsinter-

13 Dem kann auch nicht entgegnet werden, daß soziale Relationierung der Wahrheit einer Aussage nichts anhaben könne, weil diese durch Kriterien selbständig gesichert sei. Solche Kriterien müssen nämlich dogmatisch (und somit mit Hilfe jener rettenden Partialtheorien) begründet werden. Vgl. ausführlicher Niklas Luhmann, Gesellschaftliche Struktur und semantische Tradition, in: ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bd. 1, 1980, S. 9 ff. (58 ff.). 14 Charles Larmore , Law, Morality, and Autopoiesis in Niklas Luhmann: Comment Drucialla Cornell's Time, Deconstruction, and the Challenge to Legal Positivism: The Call for Judicial Responsibility, 13 Cardozo Law Review 1619 (1992), S. 1619 (Cornells Beitrag, der, sich auf Derrida beziehend, natürlich und nicht überraschend viel stärker in dieser Aussage ist, findet sich in 2 Yale Journal of Law and the Humanities 267 [1990]). 15

Dies dürfte spätestens seit der Maastricht-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 89, 155) offenbar geworden sein: Dort verschwamm die Grenze zwischen actio popularis und actio individualis, indem über Art. 38 Abs. 1 und 2 GG das Individuum im Rahmen der Zulässigkeit zum Hüter des Demokratieprinzips stilisiert wurde. Vgl. kritisch statt vieler Christian Tomuschat, Die Europäische Union unter der Aufsicht des Bundesverfassungsgerichts, EuGRZ 1993, S. 489 ff. (489 f.).

§5 Zur Inkohärenz der Kritik (1): Formalistischer Diskurs

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pretation mit der „offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten" wählen16, um feststellen zu können, daß nicht die erwähnten Grundsatzarbeiten aus den Tiefen der Verfassungstheorie die aktuelle Diskussion beeinflussen. Selbst wenn wir (noch) nicht auf die Teilnehmer pluralistischer Interpretation fokussieren, sondern uns auf die am professionalisierten Auslegungsprozeß unmittelbar Beteiligten beschränken, so fallt auf, daß der „alltägliche Rechtsdiskurs" sich von den Einsichten mancher fundierter Analyse unbeeindruckt zeigt. Umfangreiche Beiträge in Kommentaren zum Grundgesetz, Dissertations- und Habilitationsschriften sowie Monographien werden zwar — zumindest von einem ausgewählten Publikum — zur Kenntnis genommen, taugen jedoch nur in beschränktem Maße zu unmittelbarer „Anwendung" auf die gerade veröffentlichte und umstrittene Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. Grund hierfür mag sein, daß sich das häufig mitzuverarbeitende theoretische Rahmengerüst oder Vorverständnis nur selten in einem spontanen, kurzen und auf das aktuelle Ereignis reagierenden juristischen Zeitschriftenbeitrag mitteilen läßt. Neben diesen praktischen Schwierigkeiten spiegelt sich hier auch möglicherweise ein Verständnis von den Funktionen des Rechts und den Anliegen des dieses Recht Praktizierenden wider, das David Kennedy — zumeist in bezug auf das Völkerrecht — wiederholt als Widerwillen gegenüber der Theorie apostrophiert hat.17 Statt dessen lassen sich im Verfassungsrechtsdiskurs vielmehr immer wiederkehrende Argumentationsschemata lokalisieren, von denen eines als dasjenige identifizierbar ist, das im folgenden als „formalistischer Diskurs" bezeichnet werden wird.

§ 5 Zur Inkohärenz der Kritik (1): Formalistischer Diskurs Jener Diskurs 18 zeichnet sich durch zwei Charakteristika aus, die in ihrem Zusammenwirken einen noch immer bedeutenden Teil der deutschen Verfas-

16 Peter Häberle, Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, JZ 1975, S. 297 ff. 17

Etwa David Kennedy, A New Stream of International Legal Scholarship, 7 Wisconsin International Law Journal 1 (1988); ders., Primitive Legal Scholarship, 27 Harvard International Law Journal 1 (1986); ders., A Rotation in Contemporary Legal Scholarship, in: Christian Joerges / David Trubek (Hrsg.), Critical Legal Thought: An American-German Debate, 1989, S. 353 ff.; ders., The International Style in Postwar Law and Policy, 1994 Utah Law Review 7 ( 1994). 18 Vgl. bereits meine Kritik in Ulrich R. Haltern, Demokratische Verantwortlichkeit und Verfassungsgerichtsbarkeit: Nachbemerkungen zur Diskussion um den Kruzifix-Beschluß, Der Staat 35 (1996), S. 551 ff.; ders., Integration als Mythos - Zur Überforderung des Bundesverfassungsgerichts, JöR N.F. 45 (1997), S. 31 ff.; ders., High

2. Teil: Standortbestimmung der deutschen Diskussion

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sungsrechtswissenschaft, ja allgemeiner: der deutschen Rechtswissenschaft generell ausmachen. Seine beiden Seiten sind zum einen seine Form — Formalismus, überwiegend Passivkonstruktion, juristischer Text (sei es etwa der Gesetzestext, das diesen Text anwendende und nunmehr zu besprechende Urteil oder schließlich die Besprechung selbst) als transzendentes Subjekt mit gleichzeitiger Verdrängung des Autor-Subjektes aus dem Diskurs —, zum anderen sein Inhalt — mehr oder weniger strenge Unterscheidung zwischen Recht und Politik. In ihrer Komplementarität ordnen sie den formalistischen Diskurs einem Mythos zu, der das Recht als Teil einer „unbefleckten Wahrheit" begreift. 19

L Die Form des formalistischen Diskurses Die Form dieses Diskurses fällt insbesondere dann auf, wenn man sie mit den Diskursformen in anderen Rechtskreisen vergleicht. Als Beispiel sollen die Vereinigten Staaten dienen. Dort formulieren die Verfasser rechtsbezogener Aufsätze und Monographien ihre Beurteilung der Rechtslage grundsätzlich unter häufiger Zuhilfenahme der ersten Person Singular, wodurch sie unmißverständlich deutlich machen, daß es sich um ihre persönliche Auffassung handelt. Dies ist Standard bei allen vertretenen Schulen, auch den „traditionellen", normativen etc. Weit darüber hinausgehend haben sich Angehörige der critical legal studies-Bewegung und postmoderner Bewegungen u.a. zum Ziel gesetzt, gerade die Subjektivität des schreibenden Selbst deutlich zu machen und dem Leser immer wieder in Erinnerung zu rufen. Dies geschieht auf phantasievolle Weise. Zwei exponierte Vertreter der critical legal studies etwa — Peter Gabel und Duncan Kennedy — veröffentlichten 1984 einen (einflußreichen) Aufsatz in der Form eines Gespräches zwischen „Peter" und „Duncan", wobei, ähnlich dem Skript eines Theaterstückes, über jeder Aussage der Vorname des „Sprechenden" gedruckt war. 20 Ein Vertreter der postmodernen Schule — Jack Balkin — verlangt als Ausgangspunkt ernsthafter Analysen zunächst eine Selbstreflexion des Autors und erläutert den Hintergrund: Time for a Check-Up: Constitutional Review, Progressivism, and Populism in Germany, Harvard Jean Monnet Working Paper No. 5/96,1996. 19

Den Begriff vom „Mythos der unbefleckten Wahrheit" (myth of immaculate truth) verdanke ich dem grundlegenden Werk von James G. March / Johan P. Olsen, Democratic Governance, 1995. 20

Peter Gabel/Duncan Kennedy, Roll Over Beethoven, 36 Stanford Law Review 1 (1984).

§5 Zur Inkohärenz der Kritik (1): Formalistischer Diskurs

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„[As a constitutional theorist, it is an error] to speak as a representative of ,the people', rather than as a privileged academic who seeks to recognize the value of populism in her scholarship. Those who make this mistake will inevitably be faced with the rebuttal that they are not truly vulnerable to accusations that the cars they drive, the books they read, the circles in which they travel, the houses and neighborhoods in which they live, and the schools to which they send their children are inappropriate for those who profess solidarity with the great unwashed. Hence their populist and egalitarian rhetoric shows them to be at best fuzzy-headed dreamers and at worst moral and political hypocrites. ... A populist constitutional theory must not begin with an examination of the ordinary citizen but with the theorist herself: The constitutional theorist must consider how her own position as an academic distances her from the experiences and views to which she tries to give credence. She must understand how she is the bearer of a distinctive subculture that colors and even distorts her views about what is most important in life." 21

Diese Kritik spielt im Rahmen der Argumentationen seitens der (in den USA hoch differenzierten) feministischen Rechtsbewegung sowie der critical race theory eine bedeutende Rolle. Das analoge Argument lautet, daß jedem Versuch eines Weißen oder eines Mannes, die Perspektive von Minderheiten oder von Frauen zu verstehen, das Bewußtsein der Privilegien vorauszugehen hat, die die Tatsache, weiß oder ein Mann zu sein, mit sich bringt. Da beide Bewegungen in den Vereinigten Staaten zu den wichtigsten Rechtstheorien zu zählen sind, ist es nicht verwunderlich, daß das schreibende / analysierende Selbst zumindest als Vorverständnis zum juristischen Allgemeingut gehört. Ebenso ist es fast überflüssig zu erwähnen, daß dies in Deutschland anders ist. Feminismus hat sich als eigenständige Rechtstheorie noch nicht allgemein durchsetzen können, und angesichts der — im Vergleich zu den USA viel homogeneren — Zusammensetzung des deutschen Demos stößt auch die critical race theory im juristischen Raum weder auf Resonanz noch auf Interesse. Aus diesem Grund ist die Bedeutung, die der Einbringung des analyzing subjects zukommt, der deutschen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten (und allgemeiner: der Rechtsinterpreten) nicht in dem Maße bewußt, wie dies etwa in Übersee der Fall ist. In ähnlicher Weise befindet sich die Rezeption kommunitaristischer Thesen noch in den Anfängen, wie etwa deijenigen, daß Normen keineswegs universal (weil im universalen Charakter des Menschseins gegründet) sind, sondern daß sie immer nur partikular und eingebettet sind in das jeweils unterschiedliche gemeinsame Verständnis von spezifischen Gemeinschaften; damit fallt auch dies als Anreiz zur Einbringung des Selbst vorläufig aus.

21 Jack Balkin, Populism and Progressivism as Constitutional Categories, 104 Yale Law Journal 1935 (1995), S. 1953 (Anmerkungen von mir weggelassen).

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2. Teil: Standortbestimmung der deutschen Diskussion

Es bedarf nur wenig Erläuterung, daß die Form des deutschen Rechtsdiskurses sich vom zuvor skizzierten deutlich abhebt.22 Die erste Person Singular ist quasi tabu (die erste Person Plural, so scheint es eine unausgesprochene Konvention vorzuschreiben, ist als pluralis maiestatis für längst etablierte Autoren reserviert). Statt dessen wird sie durch häufige Verwendung des Passiv („Dadurch wird klargestellt, daß...") und des Gerundium („Die nunmehr zu analysierende Tendenz in der Rechtsprechung..."), durch Unausweichlichkeits-Semantiken („Es ist mithin festzustellen, daß...") und AutomatismusRhetorik („Es erhellt, daß..."; „Es wird mithin deutlich, daß..."), sowie durch die geradezu inflationäre Personalisierung von Dingen und Konzepten („Der Grundsatz der Glaubensfreiheit verlangt, daß..."; „Der Beitrag stellt klar, daß...") ersetzt. Allein durch diese rein grammatikalischen und stilistischen Mittel wird die Rolle des Analysierenden nicht nur marginalisiert, sondern gänzlich bestritten.23 Dabei handelt es sich keineswegs nur um eine rhetorische Frage. Vielmehr geht es um die „Identität" des Rechts selbst, mithin ein geradezu epistemologisches Problem. Die zumeist hochabstrakte (und ebenso hochfiktive) Sprache behandelt das Recht als entweder transzendentes Objekt oder sogar als transzendentes Subjekt. Das Recht — wie bereits in dem alten Begriff des corpus iuris impliziert — wird zum einen als Körper mit feststehenden Objekten, Normen, oder Prinzipien begriffen, der entdeckt und gefunden werden kann (Recht als transzendentes Objekt). Zum anderen wird das Recht in die Lage versetzt, ohne die Hilfe eines Akteurs bestimmte Dinge zu tun: es kann diesen oder jenen Vertrag für geschlossen erklären, weil alle rechtlichen Voraussetzungen vorliegen; es kann sogar Entscheidungen selbst fallen (wie in dem oben genannten Beispiel, nach dem der Grundsatz der Glaubensfreiheit eine bestimmte Entscheidung „verlangt") (Recht als transzendentes Subjekt). Der Grund dafür, daß jedes außerrechtliche Subjekt aus dem Rechtsdiskurs entfernt wird, ist schnell gefunden: kein Subjekt — keine Subjektivität. Das Recht wird als etwas Objektives begriffen, als etwas, das durch Vernunft, Logik und Rationalität gefunden werden kann — eben als Wissen, und die Suche 22 Der Leser wird schmunzelnd zur Kenntnis nehmen, daß die folgenden Ausführungen sich in ironischer Selbstreferenz auch auf die vorliegende Arbeit beziehen [,sie!], da sich auch diese einigermaßen streng an die nunmehr zu beschreibenden Konventionen hält [JI'C/]. 23 Ein weiteres Stilmittel, das in diesem Zusammenhang Erwähnung finden soll, ist die verbreitete Selbstzitierung in der dritten Person. Ein besonders eklatantes Beispiel solcher — allzu leicht durchschaubarer — Selbstverleugnung stellt die Fußnote 53 in einem Aufsatz Theodor Schillings dar (Theodor Schilling, Artikel 24 Absatz 1 des Grundgesetzes, Artikel 177 des EWG-Vertrags und die Einheit der Rechtsordnung, Der Staat 29 [1990], S. 161 ff. [171]): ^chilling (FN 38) stellt hier - zu eng - nur auf das Dürfen im ,Innenverhältnis' ab."

§ 5 Zur Inkohärenz der Kritik (1): Formalistischer Diskurs

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danach ist eine Wissenschaft. Nicht ohne Grund wird die Disziplin selbst als Rechtswissenschaft bezeichnet. Studenten lernen, ihre Klausuren und Hausarbeiten, in denen sie zu einem Sachverhalt Stellung nehmen, mit „Fallösung" zu überschreiben. Allerdings scheint es zunächst so, als ob der Einwand zutrifft, daß an manchen Stellen das Subjekt doch in das Recht einbricht. Zwei Beispiele mögen dies verdeutlichen. Zum einen tritt sowohl im Zivil- als auch im öffentlichen Recht der „billig und gerecht Denkende" auf den Plan.24 Dieser stellt jedoch — gleich den Äow/sschen, von allen konkreten Eigenschaften gereinigten Wesen hinter dem „Schleier des Nichtwissens" (veil of ignorance) im „Urzustand" (original position) — kein eigentliches Subjekt dar, sondern eher eine intellektuelle, metaphysische Konzeption. Vom funktionellen Standpunkt wird sie von Ebsen zu Recht charakterisiert als ein Konstrukt mit der „Aufgabe der Konsenserzielung unter der regulativen Idee praktischer Vernunft". 25 Es handelt sich damit im eigentlichen Sinne um ein Geschöpf des Rechts selbst, das noch dazu dessen Kennzeichen trägt: Vernunft und Rationalität. Das zweite Beispiel betrifft die Rechtsprechung im allgemeinen Sinn. Hier läßt sich gut vertreten, daß das Recht den Richter als autonomes Wesen voraussetzt. Gleichzeitig aber soll er lediglich Instrument im Prozeß der Rechtsfindung sein (ganz im Montesquieuschen Sinne „la bouche qui prononce les paroles de la loi" 26 ). Die Lösung dieser Paradoxie liegt im Konzept der Autonomie (oder im Sinne der modernen konzeptionellen Jurisprudenz: der relativen Autonomie27). Ist der Analysierende zugleich durch seinen freien, autonomen Willen gekennzeichnet (dies ist ja das Leitbild der Aufklärung und des Kantischen Individuums, das die objektive Welt durch Vernunft und freien Willen kontrolliert) und zum anderen dadurch, daß er ein Geschöpf des Rechtstextes mit all seinen begrenzenden und disziplinierenden Inhalten ist, so liegt die Antwort des Formalismus auf das Problem in der Neutralität und Objektivität des Interpretierenden. In Deutschland wird dies äußerlich auch dadurch unterstrichen, daß der Richter (als Persönlichkeit) hinter dem Gericht (als Institution) zurücktritt. 28 Nicht bestritten werden soll, daß es Ausnahmen 24 Im Zivilrecht ist dies etwa im Rahmen des § 138 BGB der Fall; im Verfassungsrecht etwa sei an Ehmkes „vernünftig und gerecht Denkende" erinnert: Horst Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, VVDStRL 20 (1963), S. 53 ff. (71 f.; 133). 25

Ingwer Ebsen, Das Bundesverfassungsgericht als Element gesellschaftlicher Selbstregulierung, 1985, S. 135 Anm. 147. 26

Montesquieu, De l'esprit des lois, Buch XI, Kap. 6.

27

Vgl. nur Gary Minda, Postmodern Legal Movements: Law and Jurisprudence at Century's End, 1995, etwa S. 42. 28

Dies ist in der Rechtshistorie eher negativ aufgenommen worden. Bader etwa, in Berufung auf Martin Beradt, warf dem deutschen Richter vor, er verstecke sich in bewußter und gewollter Anonymität hinter dem unpersönlichen Gericht; auch sei er

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2. Teil: Standortbestimmung der deutschen Diskussion

gibt und wohl auch in zunehmendem Maße geben wird. Die sog. „herrschende Meinung" mag als solche gezählt werden, auch wenn sie in primär anonymisierter Form auftritt, die weniger die Funktion erfüllt, dem Recht ein Subjekt an die Seite zu stellen als vielmehr Begründungsprobleme durch Autoritätsverweise abzuleiten. 29 Desweiteren mag gemutmaßt werden, ob sich der deutsche Rechtsdiskurs auf lange Sicht von Subjektivismus und Relativismus wird abschirmen können. 30 Die Subjektlosigkeit deutschen Rechts wird durch das Fehlen eines weiteren Charakterzuges ergänzt, der — ebenso wie Subjektivität — gleichfalls ein grundlegendes Wesensmerkmal des Menschseins an sich ausmacht, nämlich Geschichtlichkeit. Hierbei geht es nicht nur um die häufig behandelte Gegenüberstellung von common law und civil law, die letzterem aufgrund der Tatsache, daß es auf abstrakt und allgemein geltenden Gesetzen anstatt auf Präze-

unangenehm berührt, wenn von ihm als Person gesprochen werde. Er sei eben ein guter, typischer Beamter und braver Diener seines Staates. Er spiele in der Öffentlichkeit, in der Gesellschaft, im Staatsleben und der Politik eine zu bescheidene Rolle; er habe niemals politischen Einfluß erlangt und sei für die Justizverwaltung bequem gewesen; das Wort vom Berufsbanausentum fällt. Karl Siegfried Bader, Die deutschen Juristen, 1947, S. 16 ff. Vgl. hierzu Rudolf Wassermann, Der Richter im Grundgesetz, in: Werner Schmidt-Hieber / Rudolf Wassermann (Hrsg.), Justiz und Recht - Festschrift aus Anlaß des 10jährigen Bestehens der Deutschen Richterakademie in Trier, 1983, S. 19 ff. (23 ff). Wassermann ist der Auffassung, daß das Grundgesetz in Art. 92 das Richteramt personalisiert und damit eine Abkehr von der behördlichen Anonymität verfolgt und erreicht hat. Dies ist jedoch nur teilweise zutreffend, da wohl auch heute noch Gerichte, nicht Richter Klagen stattgeben und abweisen. Zwar hat das Extrem, von dem noch Bader sprechen konnte, eine Relativierung erfahren. Besonders deutlich wird dies im Hinblick auf das Bundesverfassungsgericht, das abweichende Meinungen zuläßt und zusammen mit den Urteilen veröffentlicht (hierzu instruktiv Rolf Lamprecht, Richter contra Richter, Abweichende Meinungen und ihre Bedeutung für die Rechtskultur, 1992). Ebenso trägt auch der Bestellungsmodus zum Verfassungsrichter dazu bei, das Amt zu personalisieren. Der Vergleich mit dem USamerikanischen Supreme Court jedoch macht deutlich, daß die deutsche Personalisierung als eher „zahm" anzusehen ist. Darüber hinaus ist es eine andere Frage, inwieweit das Zurücktreten der Person gegenüber der Institution im Rahmen der Rechtsprechung tatsächlich ein ausschließlich negativ zu beurteilendes Faktum ist. Prozeßtheorien und der Neue Institutionalismus würden sicherlich nicht leichten Herzens zustimmen. Vgl. nur Niklas Luhmann, Legitimation durch Verfahren (1969), 1983, etwa S. 85 f., 95 f.; James G. March / Johan Ρ. Olsen, Rediscovering Institutions: The Organizational Basis of Politics, 1989; dies., Democratic Governance, 1995. 29 30

Hierzu Uwe Wesel, „h.M.", Kursbuch 56 (1979), S. 88 ff.

Die Aufgabe solcher Isolation ist jedoch nicht zwangsläufig. Sicher wird man Niklas Luhmann nicht einen Objektivisten nennen können — und doch deutet sein Entwurf der Systemtheorie genau in die Gegenrichtung, nämlich auf die Entfernung des Subjektes auch aus anderen Systemen als dem Rechtssystem.

§ 5 Zur Inkohärenz der Kritik ( 1 ): Formalistischer Diskurs

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denzien beruht, bereits inhärent ein historisches Defizit anträgt. Vielmehr geht es auch um subtile Strategien, die zweifellos vorhandene Geschichtlichkeit zusätzlich zu verschleiern (bestreiten, wie die Subjekthaftigkeit, kann selbst der Formalismus sie nicht) sich bemühen. Als Beispiel sei die Zitierweise von Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts aufgeführt. Im Gegensatz etwa zu Entscheidungen des Supreme Court, die ausnahmslos unter Hinzufügung der Jahreszahl gelistet werden, in denen sie erlassen wurden, werden die deutschen Entscheidungen ohne Jahreszahl zitiert. 31 Hierdurch wird der geschichtliche Entstehungszusammenhang verschleiert: Alle Entscheidungen unterliegen vielmehr — historisch nicht mehr unmittelbar einordnungsfahig — einer Nivellierung, die das Verfassungsrecht (das ja unbestritten zum größten Teil durch Verfassungsrechtsprechung geprägt ist), in einen Zustand „permanenter Gegenwart"32 und somit allgemeiner Gültigkeit versetzt. Ein Seitenblick auf die neuere US-amerikanische Rechtsgeschichte offenbart interessante Parallelen zum deutschen Formalismus. Der Beginn der modernen amerikanischen Jurisprudenz kann bei Christopher Columbus Langdell , Dean der Harvard Law School, verortet werden, dessen Rechtsmethodologie ein Ausdruck des Vertrauens in die wissenschaftliche Methode war. Auch bei Langdell ist ebenso wie die Umgehung des Subjektes im Recht die Auffassung zufinden, daß das Recht als autonomes, transzendentes Objekt der Entdeckung mittels wissenschaftlicher Methoden harrt oder als transzendentes Subjekt gar selbst aktiv wird. Eine neuere Einschätzung des Langdell sehen Formalismus durch Gary Minda gibt folgende Beschreibung: „Langdell, the propounder of the law, never let the reader know that it was he, rather than the „law", who created the discourse and conducted the analysis. ... Legal conceptualists who followed Langdell's orthodoxy assumed either that law was a transcendental object possessing universal properties unaffected by analyzing subjects, or that law was itself a transcendental subject capable of rendering authoritative pronouncements. ... Langdellian rhetoric portrayed law as either a transcendental object or transcendental subject, but in either case the role of the analyzing subject was eclipsed. ... For conceptualists, the autonomy of law must be preserved in order to prevent external moral and political concerns from corrupting the universal principles, rules, and doctrines of law. Conceptualists believe that law's analysts can distinguish between questions of fact and value, the „is" and the „ought", law and politics. They attempt to identify legal norms within the self-contained logical systems of law and legal reasoning. ... In Langdell's world, law was a science with a 31

Die einzige mir bekannte Ausnahme ist das kürzlich erschienene Werk von Christian Rau, Selbst entwickelte Grenzen in der Rechtsprechung des United States Supreme Court und des Bundesverfassungsgerichts, 1996, in dem sowohl die Jahreszahl als auch der entscheidende Senat mitzitiert werden (jedoch nicht durchgängig). 32 Das Wort von der „permanenten Gegenwart" verdanke ich — in anderem Zusammenhang — Eric Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme: Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts (aus dem Englischen von Yvonne Badai), 1995, S. 17.

2. Teil: Standortbestimmung der deutschen Diskussion

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rational order that could be discovered by an autonomous subject who used the correct legal methodology. This depersonalization and deprivileging of the individual subject' remains a hallmark of both the conceptual and normative styles of legal modernism."33

Eine schärfere (und ironischere) Beurteilung erfahrt Langdell durch einen Hauptvertreter des postmodernen Bemühens um Erhellung der Rolle und des sublimen Einflusses des Subjekts im Rechtsdenken34, Pierre Schlag: ,Jn Langdell's universe, things happen, thoughts get thought, and the passive voice gets used a lot. ... It is as if Langdell had not only read, but decided to simulate the early Stanley Fish: Langdell's work reads like law's immaculate conception. When it is law that is produced, the ,1' is kept out of sight (and out of mind). Langdell's law poses as the discourse without an individual subject. ...[Occupying the center stage of Langdellian jurisprudence there is the intrinsic, essential order of law — the order of law that is busy being discovered by true science. ... [W]henever Chris [Schlag meint Christopher Langdell] addresses a matter of pedagogy in his preface, the ,1' is all over the place. And yet, quite mysteriously, as soon as the law makes its appearance in the preface, the ,1' vanishes. Chris disappears. Dean Langdell is removed. Even you, the reader, begin to experience a certain ego loss. Could it be God? Is it love? No, it's the law — law and science... Rather than understanding the effacement of the ,1' in the face of an awesome transcendental order of the object, however, we can now see it as the subordination of the individual subject to the law as a transcendental subject. And there is something to this notion because, in Langdell's discourse, law, like a subject, actually does things. At times, law is fully animated. In Langdellian thought Law, or rather Equity, does some amazing stuff — and, what's more, does it all itself. ... Note the metaphorical image of the law and its principles. They arrive. They are a growth. They are extending. Their growth can be traced. They are embodied. The law is rendered in animistic terms. It is personified. ... The transcendental subject is in charge of everything, including itself — its own identity, its own meaning, its own doctrinal elaboration. Now, in one sense, this is a very stable system. It is very stable because it is perfectly circular. That, of course, is also why it falls apart." 35

33 Gary Minda , Postmodern Legal Movements: Law and Jurisprudence at Century's End, 1995, S. 14, 15, 20,22, 23. 34

Nebenbei sei angemerkt, daß die Kritik der Entfernung des Subjekts aus dem Wissen und der Wissenschaft im allgemeinen keineswegs eine postmoderne „Erfindung" der letzten Jahre darstellt. Vgl. für eine frühe philosophische Kritik Michael Polanyi, Personal Knowledge: Towards a Post-Critical Philosophy, 1958. 35

Pierre Schlag, The Problem of the Subject, 69 Texas Law Review 1627 (1991), S. 1632-1634, 1646 f., 1653. Schlag attackiert Formalismus — und insbesondere dessen Subjektlosigkeit — auch energisch an anderer Stelle: etwa Pierre Schlag, Normativity and the Politics of Form, 139 U. Pa. L.Rev. 801 (1991); ders., ,Le Hors de Texte, C'est moi': The Politics of Form and the Domestication of Deconstruction, 11 Cardozo Law Review 1631 (1990). Vgl. auch J.M. Balkin , Understanding Legal Understanding: The Legal Subject and the Problem of Legal Coherence, 103 Yale Law Journal 105 (1993).

§ 5 Zur Inkohärenz der Kritik ( 1 ): Formalistischer Diskurs

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Aus diesen Charakterisierungen mag sich als Folgerung ergeben, daß, sobald die Transzendenz des Rechts als Objekt oder Subjekt einmal anerkannt ist, das Auftreten des individuellen Subjekts als potentielle Bedrohung erscheinen muß. In zeitgenössischen Überlegungen etwa transformiert das individuelle Subjekt häufig gleich zum „fehlgeleiteten Aktivisten", der das Recht dadurch kompromittiert, daß er ihm seine „persönlichen Werte aufdrängt". Das individuelle Subjekt findet sich in seiner Entfaltung stark eingeengt, fast unterdrückt — und genau an dieser Stelle konvergieren die vom Formalismus zelebrierten Werte der Universalität, Neutralität und Objektivität. 36

Π . Die Substanz des formalistischen Diskurses Dies ist die eine, „formale" Seite des Formalismus. 37 Seine substantielle Seite ist das Verständnis von der klaren Unterscheidbarkeit von rechtlichen und politischen Entscheidungen, von Recht und Politik, von Verfassungsgerichtsbarkeit als reiner Rechtskontrolle. Das Spannungsfeld zwischen „Recht und Politk" ist das seit langem führende Paradigma, unter dem Funktion und Legitimation der Verfassungsgerichtsbarkeit diskutiert wird. 3 8 Rechtsprechung

36

Pierre Schlag, The Problem of the Subject, 69 Texas Law Review 1627 (1991), S. 1636 m.w.Nachw. 37 Sie spielt als Diskursform auch in anderen (auch nicht-formalistischen) Richtungen des deutschen Rechtsdenkens eine Rolle, da es sich bei der Verschleierung des individuellen Subjekts um eine allgemein akzeptierte Konvention handelt. Dabei hat sie ein Eigenleben im folgenden Sinne entwickelt. Zum einen hat es zumindest den Anschein, De-Subjektiviening erstrecke sich nunmehr auf ausnahmslos alle Rechtsgebiete, so daß der Eindruck entsteht, Langdellscher Formalismus blühe ungehindert. Zum anderen aber hat diese Ausbreitung dazu geführt, daß die Form zunehmend oberflächlich geworden und ihres eigentlichen Sinnes (Objektivität, Neutralität, Universalität, Deduktion, Anwendung, Wissenschaft, Wissen, Wahrheit) zunehmend beraubt ist. In gewissem Sinne fehlt der Form die formale Substanz. Statt dessen hat sie sich in ein rein rhetorisches Skript entwickelt, eine Art Zugangscode zum System des Rechts, der eingehalten werden muß, wenn man Anerkennung finden möchte. Damit erfüllt der deutsche Formalismus wohl eine wichtige Funktion innerhalb des „wissenschaftlichen", universitären usw. Teils des Rechtssystems; seine Funktion, reine Wissenschaftlichkeit zu beanspruchen, ist jedoch längst relativiert. Autoren halten sich vielmehr daran, weil es sich um eine Zugangskonvention handelt. 38

Ein Blick in die Betitelung der diesbezüglichen Literatur reicht aus, um diese These zu belegen: Otto Bachof, Der Verfassungsrichter zwischen Recht und Politik, in: Summum ius, summa iniuria, 1963, S. 41 ff.; Ernst Benda, Das Bundesverfassungsgericht im Spannungsfeld von Recht und Politik, ZRP 1977, S. 1 ff.; Peter Häberle, Verfassungsgerichtsbarkeit zwischen Politik und Rechtswissenschaft, 1980; Karl Reinhard Hinkel, Verfassungsgerichtsbarkeit zwischen Recht und Politik: Eine historische Betrachtung, 1984; Martin Kriele, Recht und Politik in der Verfassungsrechtsprechung, 6 Haltern

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2. Teil: Standortbestimmung der deutschen Diskussion

als „Cognition der Entscheidungen, die in den anzuwendenden Rechtsnormen bereits vorgegeben sind" 39 , beruht auf der Unterscheidung von rechtlichen und politischen Entscheidungen: erstere sind aus vorgegebenen Normen ableitbar, letztere nicht.40 Es geht nun vorliegend nicht darum, diese Unterscheidung an sich zu verwerfen und in den Slogan des radical realism oder der frühen critical legal sfad/es-Bewegung einzustimmen, der die Identität von Recht und Politik aufgrund des gemeinsamen Nenners der Macht postulierte („law is politics"). Für den Augenblick sei gern zugestanden, daß zumindest einzelne Aspekte dieser Unterscheidung (wie etwa „gestalten" und „bewahren", „agieren" und „reagieren") durchaus sinnvoll und hilfreich sind. Vielmehr geht es um eine Kritik der Konsequenzen, die aus der angenommenen Existenz jener Unterscheidung zwischen Recht und Politik gezogen werden. Das Recht wird —wie auch schon im Hinblick auf die Form beobachtet wurde — als autonom begriffen. Es ist, um mit dem berühmten Federalist No. 78 zu sprechen, „neither force nor will", sondern „merely judgment". Im System der Demokratie bedeutet dies, daß demokratischer Konflikt und demokratisches Verhandeln nicht nur anerkannt, sondern in der Form des Pluralismus (heute als Neo-Pluralismus vor allem Fraenkelscher Prägung) als wünschenswert und notwendig angesehen werden. Obwohl das Recht etwa in den demokratischen Grundrechten41 die Voraussetzungen für demokratisches Handeln zur Verfügung stellt und es geradezu fordert, steht es abseits. Es entzieht sich — immer nach formalistischer Auffassung — Kategorien wie Konsens, Konkordanz, Konkurrenz oder Partizipation. Gerade die Tatsache, daß es nicht verhandelt werden kann, macht Recht zu Recht. Diese Eigenschaft steht ganz im Einklang mit der Form des formalistischen Diskurses, nach dem Recht als objektive Wissenschaft und transzendentes Objekt (oder sogar Subjekt) begriffen NJW 1976, S. 777 fr.; Gerhard Leibholz, Das Bundesverfassungsgericht im Schnittpunkt von Recht und Politik, DVB1. 1974, S. 396 ff.; Gerd Roellecke, Politik und Verfassungsgerichtsbarkeit, 1961; ders., Verfassungsgerichtsbarkeit, Gesetzgebung und politische Führung, in: Verfassungsgerichtsbarkeit, Gesetzgebung und politische Führung. Ein Cappenberger Gespräch, 1980, S. 24 ff.; Klaus Stern, Verfassungsgerichtsbarkeit zwischen Recht und Politik, in ders., Der Staat des Grundgesetzes. Ausgewählte Schriften und Vorträge (hrsgg. v. Helmut Siekmann), 1992, S. 344 ff.; neuere Kritik etwa bei Dieter Grimm, Politik und Recht, in: Eckart Klein (Hrsg.), Grundrechte, soziale Ordnung und Verfassungsgerichtsbarkeit, Festschrift für Ernst Benda zum 70. Geburtstag, 1995, S. 91 ff.; Thomas von Danwitz, Qualifizierte Mehrheiten für normverwerfende Entscheidungen des BVerfG?, JZ 1996, S. 481 ff. (etwa 483 f.). 39

Ingwer Ebsen, Das Bundesverfassungsgericht als Element gesellschaftlicher Selbstregulierung, 1985, S. 171. 40 41

Ibid., S. 107.

Vgl. für eine neuere Kategorisierung demokratischer Grundrechte Wolfram Höfling, Demokratische Grundrechte — Zu Bedeutungsgehalt und Erklärungswert einer dogmatischen Kategorie, Der Staat 33 (1994), S. 493 ff.

§5 Zur Inkohärenz der Kritik (1): Formalistischer Diskurs

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wird. Ebenso liegen auch die Objektivität und die Transzendenz des Rechts (in Abgrenzung von der Subjektivität der Politik) im Kern der Unterscheidung Recht / Politik. Bei dieser Wesensverschiedenheit aber bleibt es nicht, sondern es werden nunmehr quasi qualitative Urteile an die unterschiedlichen Merkmale geknüpft. Die Rechtswissenschaft verfugt über einen wissenschaftlichen Kanon der Interpretation, und selbst Autoren wie Jürgen Habermas sprechen in diesem Zusammenhang von einer im Vergleich zu politischen Diskursen höheren Rationalitätsvermutung juristischer Diskurse.42 Differenziertere Aussagen wie etwa diejenige, daß auch die Rationalität des Rechts eine beschränkte sei und die Politik ebenso spezifische Rationalitätsansprüche geltend machen könne43, sind eher selten. Dies trägt nicht nur dazu bei, daß sich das Recht gern von der Politik abgrenzt und daß Juristen diskursiv gern Distanz von der Politik suchen. Vielmehr wird zugleich ein Qualitätsverhältnis zwischen beiden etabliert, das eindeutig zuungunsten des politischen Systems ausfallt. Die häufig geforderte „kritische Distanz" des Rechts gegenüber der Politik erscheint in diesem Licht leicht als Euphemismus. So etwa definiert Ernst-Wolfgang Böckenförde zunächst die Juristische Methode", um dann die „Staatsrechtswissenschaft" von der Politikwissenschaft abzugrenzen: „[Gefordert ist die] Bindung an eine gesicherte juristische Methode, und zwar eine Methode, die nach rationalen, intersubjektiv vermittel- und nachprüfbaren, insofern objektiven Kriterien und Standards argumentiert und daher nicht subjektiver Beliebigkeit oder wahlweisen Vorverständnissen offensteht. ... Wenngleich das Staatsrecht in spezifischer Weise politisches Recht ist, gehört die Staatsrechtswissenschaft nicht zur Wissenschaft von der Politik, sondern ist eine juristische Wissenschaft. Ihre Aufgabe ist Arbeit am Recht, d.h. die Erkenntnis, Interpretation, systematische Aufbereitung und Durchleuchtung des geltenden Staatsrechts im Hinblick auf seine praktische, i.d.R. fallbezogene Anwendbarkeit und seine Fortbildung. Sie tut das auf der Grundlage und mit den Mitteln der juristischen Methode... Dadurch unterscheidet sich die Staatsrechtswissenschaft von der Beschreibung, Analyse und Kritik des politischen Prozesses und dem Aufgreifen politischer Gestaltungsfragen: dies gehört zur Aufgabe der Politikwissenschaft." 44

Bereits diese Abgrenzung zwischen Rechts- und Politikwissenschaft erscheint eigentümlich unberührt von der Verfassungswirklichkeit. 45 Im Lichte 42 Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung: Beiträge zur zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, 1992, etwa S. 323 f. 43

S. etwa Rainer Eckertz, Die Kompetenz des Bundesverfassungsgerichts und die Eigenheit des Politischen, Der Staat 17 (1978), S. 183 ff. 44

Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Eigenart des Staatsrechts und der Staatsrechtswissenschaft, in: ders., Staat, Verfassimg, Demokratie, 1991, S. 11 ff. (26 f. bzw. 18) (Hervorhebungen im Original). 45

Möglicherweise ist es gerade die praktische richterliche Tätigkeit am Bundesverfassungsgericht, die Böckenförde zu dieser Ansicht gelangen läßt (zum begrenzten

2. Teil: Standortbestimmung der deutschen Diskussion

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etwa der Entscheidungen zum Schwangerschaftsabbruch, zum Einsatz der Bundeswehr „out of area", zum Ehrschutz oder zur Verfassungsmäßigkeit des Anbringens von Kreuzen und Kruzifixen in staatlichen Pflichtschulen kann kaum bestritten werden, daß Verfassungsrechtsprechung in ganz konkreter Weise mit dem „Aufgreifen politischer Gestaltungsfragen" befaßt ist. Dies zu verneinen und damit implizit Folgenberücksichtigung aus dem juristischwissenschaftlichen Diskurs auszuschließen, attribuiert dem Recht eine eigentümliche Abgehobenheit, ja Unschuld. Es wird noch gezeigt werden, daß dieses Verständnis direkt mit der formalistischen Überzeugung zusammenhängt, daß das Recht wissenschaftlich zu begreifen und als solches „unbefleckt" ist. 4 6 Hieraus leitet sich nunmehr ein qualitatives Verhältnis zwischen Recht und Politik ab: ,,[D]ie Arbeit am Staatsrecht [aber darf] nicht selbst von politischen Interessen und Konstellationen überdeterminiert und funktionalisiert werden; sie muß juristisch und als solche integer bleiben...'"47 Die Systemgrenze zwischen Recht und Politik dient insofern, nach diesem Verständnis, der Bewahrung der Integrität des Rechts. Die Transzendenz des Rechts wird nunmehr in Abgrenzung behauptet, wobei als Unterscheidung das politische System dient. Dabei besteht die Gefahr, die Politik zum Gegenpol des Rechts zu stilisieren. Ist das Recht wissenschaftlich, so ist Politik unwissenschaftlich; ist das Recht rational, so ist Politik irrational 48 ; ist das Recht Wert von Meta-Diskursen für denjenigen, der das Recht unmittelbar praktiziert, vgl. etwa Stanley Fish, The Law Wishes to Have a Formal Existence, in: ders ., There's No Such Thing As Free Speech, and It's a Good Thing, Too, 1994, S. 141 ff.). Zu überlegen wäre, ob nicht zumindest Richter des Verfassungsgerichts — der Stelle also, an der (um eine systemtheoretische Formulierung aufzugreifen) Recht und Politik am offensichtlichsten strukturell gekoppelt sind — dazu berufen sind, die Systemgrenzen aufrechtzuerhalten. 46

So spricht etwa Schlag von der LangdelIschen „immaculate conception of law": Pierre Schlag, The Problem of the Subject, 69 Texas Law Review 1627 (1991), S. 1632 und 1646 ff. 47

Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Eigenart des Staatsrechts und der Staatsrechtswissenschaft, in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie, 1991, S. 11 ff. (19) (Hervorhebung von mir). 48

Das Verständnis von Politik als irrational ist nicht eine hier durchgeführte rhetorische Überhöhung. Es findet sich wörtlich u.a. im Statusbericht des Berichterstatters Gerhard Leibholz: „[Es besteht] in der idealtypischen Struktur zwischen dem Wesen des Politischen und dem Wesen des Rechts ein innerer Widerspruch ..., der sich nicht auflösen läßt [und der darauf beruht,] daß das Politische seinem Wesen nach immer etwas Dynamisch-Irrationales ist, das sich den dauernd verändernden Lebensverhältnissen anzupassen sucht, während umgekehrt das Recht seiner grundsätzlichen Wesensstruktur nach immer etwas Statisch-Rationales ist, das die vitalen politischen Kräfte zu bändigen sucht." Gerhard Leibholz, Bericht des Berichterstatters an das Plenum des Bundesverfassungsgerichts zur „Status'VFrage (1952), JöR N.F. Bd. 6 (1957),

§ 5 Zur Inkohärenz der Kritik (1): Formalistischer Diskurs

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„unbefleckt", so ist Politik „beschmutzt". Aus welchem Grund sollte das Recht ansonsten aufmerksam über seine Integrität gegenüber den Versuchungen der Politik wachen? Alfred Rinken macht darauf aufmerksam, daß die Dynamik dieser Denkfigur in der Konsequenz in eine „überzogene Entgegensetzung eines entpolitisierten Rechtsbegriffs, dem Recht als eine dem politischen Prozeß transzendente überlegene Verwirklichung des Gemeinwohls erscheint, und eines dämonisierten Politikbegriffs, der strukturell trotz aller expliziten Gegenwehr dem Freund-Feind-Schema Carl Schmitts verhaftet bleibt"49, mündet. Eine solche extreme Auffassung wird heute nicht mehr vertreten. Jedoch — und dies ist wohl auch Rinkens Sorge — ist zu befürchten, daß hier und da der Formalismus auf einem derartigen, jedoch unausgesprochenen (und möglicherweise auch unbewußten) Vorverständnis beruht. Dies mag vorliegend dahingestellt bleiben, da es sich hierbei um Spekulation handelt. Faßbarer hingegen — und für den analytischen Rahmen dieser Abhandlung von kaum zu überschätzender Bedeutung — ist die Entgegensetzung, die Rinken als „Dichotomie von politischem Staat und unpolitischer Privatrechtsgesellschaft" bezeichnet.50 Dazu ist zu bemerken, daß hierbei „politisch" nun gerade nicht mit „irrational" gleichzusetzen ist. Vielmehr trifft das Gegenteil zu. In Hegelscher Tradition wird der Bereich des Staates als Sphäre des universellen Altruismus und der Tugend gedacht, während die Gesellschaft als „privates" Gegenstück im Sinne einer Sphäre des Egoismus konzeptionalisiert wird. Winfried Brugger beobachtet aufmerksam, daß sich dieses Verständnis auch in der herrschenden Grundrechtsdogmatik widerspiegelt: „Private Beliebigkeit [wird] tendenziell dem gesellschaftlichen Bereich (grundrechtsdogmatisch formuliert: den Schutzbereichen der Grundrechte) zugeschlagen, [... während] die öffentliche Tugend und Gerechtigkeit ftlr die staatlichen Organe generell (grundrechtsdogmatisch also: für den die Grundrechtsschranken realisie-

S. 120 ff. (121 f.). Kritisch zu Leibholz etwa Ingwer Ebsen, Das Bundesverfassungsgericht als Element gesellschaftlicher Selbstregulierung, 1985, S. 146 f. Ebsen kritisiert, daß das Gegensatzpaar rational / irrational kaum in Leibholz' Gedankengang passe, weil dieser doch selbst anerkenne, daß das Recht das Resultat des politischen Prozesses sei; damit müsse Leibholz eigentlich sehen, daß das Recht ebensowenig Ausdruck einer sich über die Machtverhältnisse erhebenden Vernunft sei. Ebsen kommt zu dem Schluß, daß Leibholz' Unterscheidung im Grunde auf die Anerkennung eines rationalen, durch die sittliche Vernunft erkennbaren Naturrechts hinauslaufe (S. 147). Zumindest aber weiß sich Leibholz in der genannten Passage der Habermasschen „höheren Rationalitätsvermutung des Rechts" verwandt und kommt insoweit auch dem Glauben Böckenfördes an die Überlegenheit der Juristischen Methode" nahe. 49 Alfred Rinken, Alternativkommentar zum Grundgesetz, vor Art. 93, Rdnr. 89 (Hervorhebungen im Original). 50

Ibid.

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renden Gesetzgeber) oder aber zumindest doch für das Bundesverfassungsgericht als Hüter der Allgemeinverträglichkeit der Politik reserviert ist." 51

Dieses Vorverständnis gesellschaftlich-staatlicher Interaktion dürfte heute einen noch immer großen Teil verfassungsrechtlicher Dogmatik anleiten. Dieses Verständnis aber mag nicht nur, wie Rinken ausführt, auf „überholtem Gedankengut" basieren52, sondern zugleich die Sichtweise und damit die Spannbreite möglicher Lösungsansätze zur counter-majoritarian difficulty unnötig einschränken. Daher wird eines der Ziele dieser Untersuchung sein, Alternativen aufzuzeigen, die der traditionellen geläuterten staatlichen Sphäre (und hier insbesondere dem Bundesverfassungsgericht an der Spitze der Hierarchie staatlicher Tugend) Mitstreiter im Kampf um die Erkenntnis des öffentlichen Wohls — etwa in Gestalt der Zivilgesellschaft — an die Seite stellt. In bezug auf das Problem der Verfassungsgerichtsbarkeit ist das Verständnis von Recht und Politik als klar abgegrenzte Sphären von großer Bedeutung. Folgt man diesem Trennungsprogramm, so ergibt sich das folgende klassische Bild: Das Recht enthält objektive, rationale Vorgaben gegenüber der Politik. Angesichts der überlegenen Rationalität, die dem wissenschaftlichen, transzendenten Recht gegenüber dem politischen System zukommt, ist dies (vom wertenden Standpunkt aus) zu begrüßen. Verfassungsgerichtsbarkeit ist nun nichts anderes als das Schwert, das dem Recht gegenüber der Politik verliehen ist. Das Bundesverfassungsgericht setzt lediglich objektive Vorgaben um, die vor allem durch die Verfassung ausgesprochen werden. Es kann auch nichts Verwerfliches daran entdeckt werden, daß die Verfassung (mit all den Werten, die durch sie verkörpert werden: Rechtmäßigkeit, Menschlichkeit, Konsens, Individualität, Toleranz, Sicherheit, Liberalität, Gemeinschaftssinn, menschenrechtlicher Schutz, Vorhersagbarkeit, insgesamt: Tugend) als Rahmen für und Rammbock gegen das rauhe Tagesgeschäft der Politik wirkt. Die counter-majoritarian difficulty — das Prüfen und möglicherweise Verwerfen einer Entscheidung, die durch unmittelbar vom Volk gewählte Repräsentanten gefallt worden ist — taucht in dieser Version des Formalismus kaum auf. Hieraus lassen sich Ausführungen wie diejenige René Marcics erkären, der 1963 schrieb: „Das Verfassungsgericht ist Hüter der Verfassung, Wächter aller Rechtswege, Hirte der Rechtsgenossen, die einen Staatsverband bilden. Die Verfassungsgerichtsbarkeit ist Hut des Vorrangs der Verfassung, sie ist die Mitte des Gegenwartsstaates, weil sie die Haupt- und Grundwerte verwirklicht, denen die Menschen sich verschrieben haben: Menschenwürde, Freiheit, Gleichheit, Gemeinwohl, Herrschaft des Rechts, Vorherrschaft der Verfassung — und Friede, der bloß als Werk des 51

Winfried Brugger, Wertordnung und Rechtsdogmatik im amerikanischen Verfassungsrecht, ARSP Beiheft 37 (1990), S. 173 ff. (189). 52

Alfred Rinken, Alternativkommentar zum Grundgesetz, vor Art. 93, Rdnr. 89.

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Rechts gesichert ist. Sie ist, um William E. Gladstone als Zeugen anzuführen, ,die wunderbarste Tat, die zu irgendeiner Zeit menschlichen Hirnen entsprungen ist'." 53

Wenn die counter-majoritarian difficulty wahrgenommen wird, dann lediglich dergestalt, daß eine zu aufdringliche Verfassungsgerichtsbarkeit sowohl das politische System als auch die Öffentlichkeit derart in Rage versetzen könnte, daß hieraus positiv-verfassungsrechtliche Konsequenzen zu befürchten wären — etwa das Beschneiden der Kompetenzen des Bundesverfassungsgerichts in Art. 93 GG (i.V.m. dem BVerfGG). Als Therapie hierfür wird richterliche Zurückhaltung eingefordert, ein Konzept, das mit Alfred Rinken dem Gericht eine „opportunistisch-dezisionistische richterliche Kompetenz-Kompetenz" zuerkennt.54 Im Ergebnis also invisibilisiert der Formalismus die counter-majoritarian difficulty 55 und ist insoweit dafür verantwortlich zu machen, daß die Spannungen, die sich aus ungelösten, aufgrund der Invisibilisierung sogar teilweise undiskutierten Legitimationsfragen der Verfassungsgerichtsbarkeit ergeben, Gefahr laufen, sich möglicherweise unkanalisiert und unfundiert ihre Bahn zu brechen und in Richtung Konflikt zu steuern.56

HL Zur Komplementarität von Form und Substanz des formalistischen Diskurses Beide Seiten des formalistischen Diskurses in ihrer Gesamtheit — die formalen und die substantiellen Aspekte — fugen sich zusammen zu dem, was die Essenz dieser Konzeption ausmacht. Wie bereits gesehen, zielen beide Seiten auf Objektivität und Autonomie des Rechts. Das Verständnis von Recht 53

René Marcie, Verfassung und Verfassungsgericht, 1963, S. 212.

54

Alfred Rinken, Alternativkommentar zum Grundgesetz, vor Art. 93, Rdnr. 91.

55

Ähnlich auch Ingwer Ebsens ideologiekritischer Ansatz in Antwort auf den (von ihm so bezeichneten) aporetischen Ansatz: „Die Verfassungsgerichtsbarkeit wird somit der Frage nach der Legitimation für ihre Entscheidungen entzogen." Ingwer Ebsen, Das Bundesverfassungsgericht als Element gesellschaftlicher Selbstregulierung, 1985, S. 176. Ebsen stützt sich insoweit auf die Ideologiekritik von Otwin Massing (Recht als Korrelat der Macht? Überlegungen zu Status und Funktion der Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Gerd Schäfer / Carl Nedelmann [Hrsg.], Der CDU-Staat, Bd. 1, 1969) und von Jörg Berkemann (Gesetzesbindung und Fragen einer ideologie-kritischen Urteilskritik, in: Menschenwürde und freiheitliche Rechtsordnung, Festschrift für Willi Geiger zum 65. Geburtstag, 1974, S. 299 ff.). 56

Verwiesen sei nur auf die geradezu paradigmatische Diskussion der KruzifixEntscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 93, 1). Politiker gingen so weit, offenen Widerstand gegen das Urteil (und somit Verfassungsbruch) anzukündigen. Einer deliberativen Lösung der Legitimationsprobleme ist dies nicht förderlich.

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2. Teil: Standortbestimmung der deutschen Diskussion

als Wissenschaft wirkt nicht nur als Abgrenzung gegenüber anderen, quasi „verwandten" Systemen wie Politik oder dem moralischen System (das mit dem Recht seine Normativität teilt), sondern zeitigt ebenso intra-rechtliche Konzequenzen — man kann von einer Art Selbstverstärkung des wissenschaftlichen Diskurses sprechen. Ein Aspekt ist in der Parallelisierung von Recht und Wissenschaft zu finden, und damit auch von Attributen, die ohne weiteres der modernen Wissenschaft zugeordnet werden: etwa Verläßlichkeit, Vorhersagbarkeit und Kontrolle. Gleiches wird auf das Recht projiziert — eine Illusion, wie etwa Richard Posner meint: „P]t would be a mistake to conclude that ... law yield[s], on average, knowledge comparable in reliability to scientific knowledge. The methods by which scientific knowledge is created and, if not verified, at least temporarily supported and transformed into useful gadgetry are by and large not available to law, not yet anyway. ... [W]e shall not confuse law with science. Predicition and control are precisely what science gives us and philosophy, politics, and law do not — except (in the case of politics and law) with the aid of force." 57 Es ist ein Verdienst der Systemtheorie, auf die unterschiedlichen Codes hingewiesen zu haben, unter denen Systeme operieren. Das Rechtssystem etwa operiert unter der Unterscheidung legal / illegal. Demgegenüber benutzt das Wissenschaftssystem die Unterscheidung wahr / unwahr. 58 Nun geht es vorliegend nicht darum, auf die Ungereimtheiten aufmerksam zu machen, die sich dann ergeben können, wenn eine Unterscheidung durch die andere ersetzt wird (oder: wenn ein System vorgibt, unter einer anderen als der eigentlich benutzten Unterscheidung zu operieren). Vielmehr weist der wahr / unwahr57

Richard A. Posner, The Problems of Jurisprudence, 1990, S. 67. Posner macht den Vorschlag, „Wissenschaft" als solche dem juristischen Diskurs nicht ganz zu entfremden und das Recht dadurch ganz zu entmystifizieren. Seine Lösung ist eine ReDefinition von Wissenschaft für diese Zwecke: „If we redescribe ,science' as merely (but not trivially) the idea, practice, and ethics of systematic, disinterested inquiry — in essence, an attitude of respect for fact — we may seem to be setting before the lawyer, judge, and law professor an eminently attainable as well as highly worthwhile ideal. ... We can note the parallel between, on the one hand, the scientist's deduction of consequences from a scientific theory and attempt to discover those consequences in nature and, on the other hand, the judge's comparison of the implications of a legal doctrine with social reality." Ibid., S. 70 (Anmerkung von mir weggelassen). Weniger pragmatisch als bei Posner (der in seinem Zitat auf Richard Rorty verweist) geht es bei Luhmann zu, der den Wissensbegriff re-definiert und den Vorschlag macht, Wissen als „konstruierte, also dekonstruierbare Selbstbeschreibung der Gesellschaft" zu begreifen: Niklas Luhmann, Die Soziologie des Wissens: Probleme ihrer theoretischen Konstruktion, in: ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bd. 4, 1995, S. 151 ff. 58 Vgl. nur Niklas Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, 1990; Rudolf Stichweh, Wissenschaft, Universität, Professionen: Soziologische Analysen, 1994 (dort insbesondere „Differenzierung der Wissenschaft" [S. 15 ff.], „Die Autopoiesis der Wissenschaft" [S. 52 ff.], und „Selbstorganisation in der Entstehung des modernen Wissenschaftssystems" [S. 84 ff.]).

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Code der Wissenschaft darauf hin, was der formalistische Diskurs eigentlich anzielt, nämlich Wahrheit. Hier liegt das tiefere Verständnis vom Wesen des Rechts. Wenn, wie oben formuliert wurde, zwar demokratisches Handeln und Verhandeln anerkannt und (als Neo-Pluralismus) als notwendig postuliert wird, so kann sich dies notwendigerweise nicht auf das Recht beziehen. In seiner Transzendenz stellt es ein aliud gegenüber sozialen Phänomenen wie Konsens, Konkordanz oder Konkurrenz dar: Die Suche nach dem Recht ist zugleich die Suche nach der Wahrheit. Zwei fuhrende Theoretiker des Neuen Institutionalismus, James March und Johan Olsen, haben hierfür den Ausdruck „Mythos der unbefleckten Wahrheit" (myth of immaculate truth) geprägt.59 Hierbei sind drei Elemente von Bedeutung. „ Wahrheit' weist auf die transzendente Objektivität des Rechts hin. Recht als „Wissenschaft" impliziert zugleich die Vorstellung von Recht als „Wissen", als Expertise. Wissen ist Teil einer objektiven, auffindbaren Sphäre der Wahrheit. Die Suche danach obliegt Experten — eine mitschwingende Nuance des formalistischen Diskurses, die hellhörig werden läßt im Hinblick auf Elitetheorien der Demokratie. „Unbefleckt' hängt mit dem Mißtrauen zusammen, das bereits oben gegenüber dem politischen System ausgemacht wurde. Von verhandelbarer, unwissenschaftlicher, im pluralistischen Meinungskampf entstehender Politik ist das geltende Recht abgekoppelt. Natürlich wird nicht bestritten, daß demokratische Entscheidungen das Recht beeinflussen (etwa in der Form eines gesetzesverabschiedenden Bundestagsbeschlusses); worauf es aber ankommt ist, daß dies lediglich Vorfaktoren des Rechts sind, die es zwar inhaltlich determinieren, aber in der essentiellen Substanz und der juristischen Methode nicht berühren. Das Recht zeichnet sich so betrachtet durch eine merkwürdige Unschuld aus. Umgekehrt bedeutet „unbefleckt" auch, daß das Recht (und mit ihm die dieses Recht mit juristisch-wissenschaftlichen Mitteln Praktizierenden) im Grunde nicht für gesellschaftsreale Konsequenzen verantwortlich gemacht werden kann. Eine solche Auffassung findet sich in der amerikanischen Jurisprudenz etwa exemplifiziert durch Herbert Wechsler, der die akademische Welt mit einer scharfen Kritik der fuhrenden civil r/g/tfs-Entscheidungen des Warren Court überraschte, darunter v.a. der berühmten Entscheidung Brown v. Board of Education 60, in der der Supreme Court die Rassentrennung an amerikanischen Schulen beendet hatte.61 Unter .Mythos" schließlich soll im Sinne Roland Barthes ' eine Sprechweise verstanden werden, ein Kommunikationssystem, mithin eine Form. 62 Das Prinzip des Mythos ist es, Ge59

James G. March / Johan P. Olsen, Democratic Governance, 1995, S. 173 u.ö.

60

347 U.S. 483 (1954).

61

Herbert Wechsler , Towards Neutral Principles of Constitutional Law, 73 Harvard Law Review 1 (1959). 62

Roland Barthes, Myth Today, in: ders., Mythologies, 1972, S. 109 ff.

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schichte in Natur zu verwandeln.63 Dies geschieht, wie die Semiotik lehrt, dadurch, daß der Mythos mit der Aufgabe betraut ist, einer historisch bedingten Intention eine natürliche Rechtfertigung zu geben und damit Kontingenz unendlich erscheinen zu lassen. Barthes bezeichnet dies als Zaubertrick, der Realität umstülpe, da diese von Geschichte entleert und statt dessen mit Natur gefüllt werde.64 Anders ausgedrückt: Mythos (als entpolitisiertes Sprechen) streitet Dinge nicht ab; im Gegenteil liegt seine Funktion gerade in ihrer Thematisierung: er läutert sie, läßt sie unschuldig werden, gibt ihnen eine natürliche und unendliche Rechtfertigung und verleiht ihnen schließlich eine Klarheit, die nicht etwa diejenige einer Erklärung, sondern die einer Tatsachenfeststellung ist. 65 Auf diesem Hintergrund läßt sich auch die Attraktivität der starken Strömungen erklären, die von Ingwer Ebsen als „aporetische Ansätze" oder als „dualistische Ansätze" eingeordnet werden66 und die beide eine gewisse Autonomie der Verfassungsgerichtsbarkeit als Gegenspieler des politischen Prozesses behaupten. Diese beruht nicht nur auf dem Bewußtsein, daß die Prüfungsund Verwerfüngskompetenz von Verfassungsgerichten eine anti-majoritäre Note besitzt, sondern ebenso auf der Skepsis des Rechts gegenüber der Politik (dies ist eine einseitig vom Recht aus gesehene subjektive Einschätzung des politischen Prozesses — diese Perspektive wurde oben ausführlich erläutert) sowie auf der Skepsis der Politik gegenüber dem Recht. Den Blick hierauf sollte sich der Beobachter nicht dadurch verstellen lassen, daß das politische System häufig in „vorauseilendem Gehorsam" auf die Forderungen des Rechtssystems reagiert. 67 Die „Rechtsskepsis" der Politik wird dann klarer, wenn man sich verdeutlicht, daß sich das Recht formal und materiell als Expertenwissen stilisiert. Das Verhältnis zwischen Expertenwissen und Demokratie ist notwendigerweise gespannt. Im allgemeinen operiert Demokratie auf 63

Ibid., S. 129.

64

Ibid., S. 142.

65

Ibid., S. 143.

66

Ingwer Ebsen, Das Bundesverfassungsgericht als Element gesellschaftlicher Selbstregulierung, 1985, S. 142 ff., 179 ff. 67

Hierzu vgl. insbesondere Christine Landfried, Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber: Wirkungen der Verfassungsrechtsprechung auf parlamentarische Willensbildung und soziale Realität, 1984, etwa S. 47 ff., 125 ff.; dies., Constitutional Review and Legislation in the Federal Republic of Germany, in: dies. (Hrsg.), Constitutional Review and Legislation: An International Comparison, 1988, S. 147 ff.; dies., Germany, in: C. Neal Tate / Torbjörn Vallinder (Hrsg.), The Global Expansion of Judicial Power, 1995, S. 307 ff.; Jürgen Jekewitz, Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber - Zu den Vorwirkungen von Existenz und Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in den Bereich der Gesetzgebung, Der Staat 19 (1980), S. 354 ff.

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der Basis der folgenden Annahmen: (1) Jeder Bürger hat effektiven Zugang zu kohärenten Informationen über das Funktionieren des Staates; (2) es existieren Institutionen, die den freien Austausch von Informationen und Meinungen garantieren; (3) es existiert eine Kultur von Vertrauen in die Möglichkeit, sinnvollen Diskurs aufrechtzuerhalten. 68 Diese Annahmen werden unterminiert durch die Existenz von Expertenwissen. In der Tat reflektiert die zeitgenössische Behauptung, daß Laien die Komplexität von Fragen der politischen Planung und Entscheidung nicht verstehen können und daß Rechtfertigungen nur entwickelt und verstanden werden können von Experten sowie Institutionen, die sich gegen Nichtwissen abschirmen (wie Gerichte, militärische Generalstäbe, Universitäten usw.), die uralte geschichtliche Auffassung, daß sinnvolle Entscheidungen nur von Philosophen-Königen oder aufgeklärten Repräsentanten getroffen werden können.69 In der „Anwendung" dieser verbreiteten Annahme auf Recht und Gerichte lautet das Argument dann etwa so, wie es Ernst Fraenkel formuliert: „Die in Deutschland so erschreckend weit verbreitete Neigung, den Organen der Rechtspflege stets dann ,formalistisches' Rechtsdenken vorzuwerfen, wenn die gesetzestreue Anwendung des positiven Rechts zu Ergebnissen führt, die dem Laienverstand nicht ohne weiteres einleuchten, offenbart eine höchst bedenkliche Neigung, eine ,Kadi-Justiz' zu bejahen, die dem Rechtsdenken autokratischer Herrschaftssysteme konform ist." 70

Insoweit informiert diese Seite des Spannungsverhältnisses zwischen Recht und Politik nicht nur den formalistischen Diskurs, sondern trägt auch dazu bei, die Kluft zwischen Laien und Experten, Privatem und Öffentlichem, Individuum und Institution, Gesellschaft und Staat auf eine Art weiterzubehaupten und zu verstärken, die zwar einerseits zur vielgepriesenen funktionellen Ausdifferenzierung der Gesellschaft beiträgt, andererseits aber ebenso den Einzelnen in seinem demokratischen Vermögen entwertet. Schließlich ist aber ebenso darauf aufmerksam zu machen, daß der formalistische Diskurs ungewöhnlich stabilisierende, möglicherweise gar konflikt68

James G. March / Johan P. Olsen, Democratic Governance, 1995, S. 178.

69

Ibid. Hinzugefügt werden soll, daß sich heute Expertendiskurse nur schwer über die Grenzen eines bestimmten Funktionssystems hinaus erstrecken. Diesbezüglich hat wiederum vor allem die Systemtheorie unter dem Paradigma der Autopoiesis (vgl. nur Niklas Luhmann, Soziale Systeme, 1984; Gunther Teubner, Recht als autopoietisches System, 1989), aber nicht nur sie (Michael Walzer, Spheres of Justice, 1983) viel zur Erkenntnis beigetragen. Die relative Autonomie vieler sozialer Systeme fuhrt dazu, daß sich die einzelnen Expertendiskurse bei dem Versuch, sich auf andere Systeme auszudehnen, in einem ständigen Widerstreit befinden, der es wiederum dem Laien einfacher macht, Zugang zu finden. 70

Ernst Fraenkel, Strukturanalyse der modernen Demokratie (1969), in: ders., Deutschland und die westlichen Demokratien, 1991, S. 326 ff. (357).

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vermeidende Wirkungen zeitigt. Zum einen zivilisiert er die Diskussion und reduziert in erheblichem Maße das Potential für Konflikt, unauflösbare Konfrontation und Gewalt, indem er die Sprache des Konflikts durch die Sprache wissenschaftlicher Untersuchung ersetzt. Niklas Luhmann stellt eben diesen Effekt fest, wenn er vor Kommunikation im moralischen System warnt (und dieses Anliegen funktionell der Ethik anträgt).71 Es ist leicht, eine Parallele zum Verfassungsrecht zu ziehen. Wie bereits gesehen, verkörpert die Verfassung eine Vielzahl von (manchmal sogar widersprüchlichen) Werten. Viele von ihnen sind moralisch aufgeladen, so daß Verfassungskommunikation ständig Gefahr läuft, in die Nähe moralischer Kommunikation zu geraten. Diese wiederum führt leicht zu Überattribution. Eine weitere Parallele kann daran festgemacht werden, daß Verfassungsstreitigkeiten — ebenso wie moralische Kommunikation — dazu tendieren, über Konflikte als Totalität zu entscheiden. Mischurteile sind weder angebracht noch würden sie als solche wahrgenommen (was in bezug auf Verfassungsstreite immer wieder durch die Form der Medienverarbeitung oder der Reaktion des politischen Systems nachvollzogen werden kann). Eine Norm (im Rechtssystem) ist entweder verfassungsmäßig oder nicht; über einen Menschen wird (im moralischen System) ein Urteil entweder über Achtung oder Mißachtung gefallt. In dieser — im Grundsatz labilen — Situation ist es von Vorteil, wenn der Verfassungsdiskurs unter Vermeidung von moralischen Attributen statt dessen in der Form eines Experten- oder Wissenschaftsdiskurses geführt werden kann.72 Neben dieser Zivilisierungsfunktion gelingt es dem formalistischen Diskurs darüber hinaus, eine Verknüpfung mit dem Gerechtigkeitsideal herzustellen. Wissen und (in formalistischer Lesart) Recht geben vor, der Wahrheit zu die71

Vgl. etwa Niklas Luhmann, The Morality of Risk and the Risk of Morality, 3 International Review of Sociology 87 (1987); ders., The Code of the Moral, 14 Cardozo Law Review 995 (1993); ders., Paradigm Lost: Über die ethische Reflexion der Moral, 1990, S. 7 ff; ders., Ethik als Reflexionstheorie der Moral, in: ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bd. 3, 1993, S. 358 ff.; ders., Soziologie der Moral, in: ders. / Stephan H. Pfürtner (Hrsg.), Theorietechnik und Moral, 1978, S. 8 ff.; ders., Soziale Systeme: Grundriß einer allgemeinen Theorie, 1984, S. 317 ff. 72 Zu beachten ist allerdings, daß Experten- oder Wissenschaftsdiskurs allein keineswegs Wertfreiheit bedeutet. Wie etwa Walter Metzger (Academic Freedom in the Age of the University, 1961, S. 91 f.) lehrt, verschreibt sich dieser Diskurs Werten wie Toleranz und Ehrlichkeit, Öffentlichkeit, Individualität und Bereitschaft zur Zusammenarbeit, Universalismus und Neutralität. Immerhin aber ist jener Diskurs ideologiekritisch. An gleicher Stelle fordert Metzger, daß „Wissenschaft die Ideologie transzendieren" müsse und der Wissenschaftler „alles von sich weisen muß, was seine Leidenschaft fur die Wahrheit korrumpiert". Vgl. auch Anthony Kronman, Foreword: Legal Scholarship and Moral Education, 90 Yale Law Journal 955 (1981); ders., The Lost Lawyer: Failing Ideals of the Legal Profession, 1993; Sanford Levinson, Constitutional Faith, 1988 (v.a. Kap. 5: „The Law School, the Faith Community, and the Professing of Law").

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nen, nicht aber der Macht oder dem Mammon. Dadurch stellt das Recht eine Art Gegengewicht dar zur ungleichen und ungerechten Verteilung von monetären und sonstigen physischen Ressourcen.73 Auch Ingwer Ebsen weist darauf hin, daß die „rechtsdogmatische Perspektive" gegenüber der gesamtgesellschaftlichen den Vorteil hat, den Juristen gegenüber den Problemen sozialwissenschaftlicher Theoriekonstruktion abzuschütten. Komplexität wird etwa dadurch reduziert, daß die Verfassung einen archimedischen Punkt des staatlichen Legalitätssystems zur Verfügung stellt und die zu beantwortenden Fragen von recht einfacher Struktur sind: ,,[D]ie Welt reduziert sich auf die quaestio iuris (Was gilt?) und die quaestio facti (Sind die Tatbestandsvoraussetzungen einer ins Auge gefaßten Norm erfüllt oder nicht?)."74 Schließlich hat der formalistische Diskurs eine inner-rechtliche Funktion, indem er ein Dilemma verhindert, das der US-amerikanischen Forschung zur Zeit zu schaffen macht. Der zunehmend interdisziplinär geführte, zumindest aber in antagonistische Lager zergliederte Rechtsdiskurs erschwert es den Rechtswissenschaftlern, sich untereinander überhaupt noch verständlich zu machen. Die die einzelnen Schulen trennende unterschiedliche Sprache sowie ganz und gar andere Diskursformen (die nebenbei häufig im Dienste eines erneut einseitigen Wahrheitsanspruches stehen und als solche der eigenen postmodernen Ideologie widersprechen 75) verhindern einen sinnvollen Dialog und ein gegenseitiges Sich-Verstehen.76 Forderungen nach einer „gemeinsamen

73

James G. March /Johan P. Olsen, Democratic Governance, 1995, S. 178.

74

Ingwer Ebsen, Das Bundesverfassungsgericht als Element gesellschaftlicher Selbstregulierung, 1985, S. 213 f. 75

Gary Minda , Postmodern Legal Movements: Law and Jurisprudence at Century's End, 1995, S. 217: „There seems to be a common tendency within the new jurisprudential movements to privilege a particular perspective as ,truth' and thereby repeat the mistakes these movements identified in mainstream legal thought. Indeed, the tendency to privilege some view as the universal view for understanding the world may be a powerful tendency affecting all perspectives." 76

Martha Minow , Law Turning Outward, 73 Telos 79 (1986), etwa auf S. 95. Für feministische Rechtstheorie etwa, so Minow , gilt dies in dem Maße, in dem „in critiques of the ,male' point of view and in celebrations of the ,female', feminists run the risk of treating particular experiences as universal and ignoring differences of racial, class, religious, ethnic, national, and other situated experiences." (Martha Minow , Feminist Reasoning: Getting It and Losing It, 38 Journal of Legal Education 47 [1988], S. 48.) Für die critical legal 5fw